Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta: Zugleich ein Beitrag zum subjektiv-öffentlichen Recht im Gemeinschaftsrecht [1 ed.] 9783428532766, 9783428132768

Die Arbeit befasst sich mit den Grundsatznormen der Europäischen Grundrechtecharta, einer neuen Normkategorie, die es vo

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German Pages 426 Year 2010

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Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta: Zugleich ein Beitrag zum subjektiv-öffentlichen Recht im Gemeinschaftsrecht [1 ed.]
 9783428532766, 9783428132768

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Schriften zum Europäischen Recht Band 152

Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta Zugleich ein Beitrag zum subjektiv-öffentlichen Recht im Gemeinschaftsrecht

Von Holger M. Sagmeister

a Duncker & Humblot · Berlin

HOLGER M. SAGMEISTER

Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 152

Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta Zugleich ein Beitrag zum subjektiv-öffentlichen Recht im Gemeinschaftsrecht

Von Holger M. Sagmeister

a Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Regensburg hat diese Arbeit im Sommersemester 2009 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-13276-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern gewidmet

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2009 von der Juristischen Fakultät der Universität Regensburg als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur wurden bis Oktober 2009, teilweise auch darüber hinaus, berücksichtigt. Die Arbeit untersucht Wirkung und Rechtsfolge der sog. Grundsatznormen der Europäischen Grundrechtecharta. Mit nunmehriger Ratifizierung des Lissabonner Vertrages durch sämtliche Mitgliedstaaten der Europäischen Union wird diese Normkategorie künftig von herausragender Wichtigkeit sein. In der Dissertation wird zudem unter Fortschreibung der Ansichten von Masing und v. Danwitz die Geltung der Theorie von subjektiven Rechten – wenigstens bei europarechtlichen Sachverhalten – gänzlich in Frage gestellt. Mein herzlicher und aufrichtiger Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Thorsten Kingreen, der mich sowohl auf das Thema der Arbeit aufmerksam gemacht als auch während der Promotion stets mit vollen Kräften unterstützt hat, mir wertvolle Hinweise gab und jederzeit bereit war, über die zahlreichen Probleme, die in dieser Dissertation bearbeitet wurden, kontrovers zu diskutieren. So wurde die Zeit der Promotion für mich erst richtig wertvoll. Für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens danke ich Herrn Professor Dr. Rainer Arnold. Den Herren Prof. Dres. Siegfried Magiera, Detlef Merten, Matthias Niedobitek und Karl-Peter Sommermann danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die von ihnen herausgegebene Schriftenreihe. Des Weiteren möchte ich danken: den Herren Professoren Dr. Rainer Wernsmann und Dr. Markus Stoffels, an deren Lehrstuhl an der Universität Passau ich tätig war, für deren Unterstützung bei der Erstellung der Arbeit als auch für zahlreiche hilfreiche Anmerkungen; meinem Onkel OStR Frank Weber, der die Dissertation durch die Tiefen der neuen Rechtschreibung führte, für die Korrekturarbeiten; meinem Freund RegRat Ass. iur. Michael Pahlke, der die Mühe auf sich nahm, die Arbeit mehrmals zu lesen; schließlich auch Frau cand. iur. Stella Guadamillas Cortés, die mir, wo notwendig, bei spanischen Übersetzungen behilflich war. Bedanken möchte ich mich auch bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, ohne deren Förderung, ideell wie finanziell, die Promotion nur unter deutlich erschwerten Umständen möglich gewesen wäre. Gleiches gilt für die Stu-

8

Vorwort

dienstiftung des deutschen Volkes, an deren Programm ich ebenfalls teilhaben durfte. Von meinen Eltern habe ich stets uneingeschränkte Unterstützung erfahren. Sie haben mich seit Kindesbeinen an gefördert und waren auch sonst immer zur Stelle, wenn ich in Not war. Ihnen ist aus diesem Grund die vorliegende Arbeit gewidmet. Einen ähnlich großen Anteil am Gelingen dieser Arbeit hat meine liebe Frau Petra Sagmeister, die mir stets den Rücken freihielt, damit ich an der vorliegenden Schrift arbeiten konnte. Allen Dreien gebührt weit mehr Dank, als ich an dieser Stelle zum Ausdruck bringen kann. Passau, im Winter 2009/ 2010

Holger M. Sagmeister

Inhaltsübersicht Teil 1 Einführung

21

Entstehungsgeschichte der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

II. Darlegung der Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

I.

Teil 2 Grundlagen

31

Die Entwicklung der Grundsatznormen in den Konventen . . . . . . . . . . . . . . . .

31

II. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

III. Zum Verständnis grundlegender Begrifflichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

IV. Soziale Grundrechte in anderen Kodifikationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

I.

Teil 3 Theorie der Grundsatznormen I.

150

Semantische Untersuchung des Begriffs „Grundsatz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

II. Der Begriff des Grundsatzes in der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 III. Die Grundsatznormen im Gefüge einer europäischen Dogmatik . . . . . . . . . . . 181 Teil 4 Allgemeine Grundsatzlehren I.

308

Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308

II. Grundsatzberechtigte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 III. Grundsatzverpflichtete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 IV. Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 V. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

10

Inhaltsübersicht Teil 5 Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

I.

338

Notwendigkeit der Abgrenzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338

II. Abgrenzungsvorschläge im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 III. Eigener Vorschlag für die Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 V. Einordnung der einzelnen Chartaartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 VI. Kategorisierung der Grundsatznormen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 Teil 6 Zusammenfassung

382

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Sachwort- und Entscheidungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423

Inhaltsverzeichnis Teil 1 Einführung

21

Entstehungsgeschichte der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

II. Darlegung der Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Grundsatznormen der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bisherige Ansichten als Ausgangspunkt der Untersuchung . . . . . . . . . . . . .

25 25 28

I.

Teil 2 Grundlagen

31

Die Entwicklung der Grundsatznormen in den Konventen . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Über die Bedeutung der „travaux préparatoires“ der Charta . . . . . . . . . . . . 2. Die Behandlung der Grundsätze in den beiden Konventen . . . . . . . . . . . . . a) Der Charta-Konvent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Verfassungskonvent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31 31 35 35 41

II. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

III. Zum Verständnis grundlegender Begrifflichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Begriff des Grundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bisheriger Versuch einer Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abgrenzung zu den Grundfreiheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Grundfreiheiten als spezielle Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Unterschiede zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten . . . . . (1) Kreis der Berechtigten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kreis der Verpflichteten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Das Merkmal der Abhängigkeit als Abgrenzungskriterium (4) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Abgrenzung zu den grundfreiheitsähnlichen Rechten . . . . . . . . . . . . . . d) Abgrenzung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen rechtsstaatlichen Gehalts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Abgrenzung zu den Strukturprinzipien/Zielbestimmungen der Gemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Formale Definition der Grundrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49 49 50 53 53 55 55 56 57 59 59

I.

61 62 65 67

12

Inhaltsverzeichnis 2. Der Begriff des sozialen Grundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Begriff des Allgemeinen Rechtsgrundsatzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68 72

IV. Soziale Grundrechte in anderen Kodifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Bedeutung der rechtsvergleichenden Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Soziale Grundrechte in den Verfassungen der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . a) Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Soziale Dimension von Grundrechten im engeren Sinne . . . . . . . cc) Staatszielbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Soziale Grundrechte in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Bindungswirkung und Justiziabilität von Grundrechten in Frankreich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Justiziabilität sozialer Grundrechte in Frankreich . . . . . . . . . . (1) Conseil constitutionnel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Conseil d’Etat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Portugal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Soziale Grundrechte in Portugal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Bindungswirkung und Justiziabilität der Grundrechte in Portugal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Justiziabilität sozialer Grundrechte in Portugal . . . . . . . . . . . . d) Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Soziale Grundrechte in Spanien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Bindungswirkung und Justiziabiliät der Grundrechte in Spanien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Justiziabilität sozialer Grundrechte in Spanien. . . . . . . . . . . . . (1) Die sozialen Grundrechte der ersten und zweiten Gruppe . . (2) Die Grundrechte der dritten Gruppe und das Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Sonstige Mitgliedstaaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Irland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Soziale Rechte in europäischen Regelwerken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Europäische Menschenrechtskonvention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Soziale Rechte in der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Soziale Elemente in der Rechtsprechung des EGMR. . . . . . . . . . . b) Die Europäische Sozialcharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der EG-Vertrag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Soziale Gewährleistungen im EG-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74 74 77 77 77 80 83 87 87 88 91 92 93 95 95 96 97 100 100 101 103 103 105 109 110 114 118 119 119 119 122 125 127 128 128

Inhaltsverzeichnis bb) Justiziabilität sozialer Gewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Einklagbarkeit gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen vor dem EuGH im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Einklagbarkeit des umweltrechtlichen Vorsorgeprinzips und des Grundsatzes der Marktstabilisierung im Besonderen (a) van den Bergh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Pfizer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 129 130 137 138 141 147

Teil 3 Theorie der Grundsatznormen

150

Semantische Untersuchung des Begriffs „Grundsatz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines Sprachverständnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allgemeines juristisches Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Begriff der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abgrenzung zwischen Grundsätzen und Rechtsregeln. . . . . . . . . . . . . . c) Der Begriff des Grundsatzes in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

150 150 150 150 151 153 155

II. Der Begriff des Grundsatzes in der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Grundsätze als von den Grundrechten differierende Normkategorie 3. Die Grundsätze als besondere Normkategorie der Charta . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Verbindlichkeit der Grundsatznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Gewährleistungsgehalte der Grundsatznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Abwehrfunktion von Grundsatznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Leistungsfunktion von Grundsatznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Bestandsschutzgarantie der Grundsatznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Rückschrittsverbot als spezielle Ausformung der Abwehrfunktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Grundsatznormen als Rückschrittsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Mögliche Ansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156 156 157 161 162 165 165 170 172 174 174 176 176 178 180

III. Die Grundsatznormen im Gefüge einer europäischen Dogmatik . . . . . . . . . . . 1. Die Kriterien der Existenz und der Wirksamkeit eines Rechtssatzes . . . . 2. Die Verbindlichkeit einer Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unmittelbare Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Begriff der unmittelbaren Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Völkerrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Begriff der unmittelbaren Geltung im Gemeinschaftsrecht . .

181 181 182 185 185 185 187

I.

14

Inhaltsverzeichnis b) Die Grundsatznormen als unmittelbar geltendes Recht . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsfolgen (unmittelbar) geltender Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Rechtsfolgen (unmittelbar) geltender Normen im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Befolgungspflicht und Vorrang des Europarechts . . . . . . . . . . (2) Umsetzungs- und Förderpflichten als Eingriffsrechtfertigung (3) Die Kompetenzneutralität von Umsetzungs- und Förderpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Die Pflicht zur normkonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Rechtsfolgen der Grundsatznormen im Speziellen . . . . . . . . . (1) Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Vorschrift des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Einschränkung der Pflicht zur grundsatzkonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Der Begriff des Umsetzungsaktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Unmittelbare Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundsätzliches Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Allgemeine Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit . . . . . c) Die Gewährung subjektiver Rechte als zusätzliche Bedingung für die unmittelbare Anwendbarkeit einer Gemeinschaftsbestimmung? . . aa) Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Exkurs: Der Begriff des subjektiven Rechts, insbesondere in der deutschen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Bedeutung des subjektiven Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kriterien zur Bestimmung der Subjektivität einer Norm . . . . cc) Ansichten in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Subjektives Recht als Voraussetzung der (subjektiven) unmittelbaren Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) (Subjektives) Recht als Folge der unmittelbaren Anwendbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Einklagbarkeit einer unmittelbar anwendbaren Norm . . . . . . (3) Art und Weise der Umsetzung, insbesondere von Richtlinien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Grundsatznormen als unmittelbar anwendbares Recht . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Leistungsdimension der Grundsatznormen . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Grundsatz: Keine unmittelbare Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . (2) Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

194 197 198 198 199 200 202 204 204 205 205 208 208 209 209 209 211 213 218 218 221 221 226 228 229 236 244 245 246 260 264 265 267 267 271

Inhaltsverzeichnis

15

bb) Die Abwehrfunktion der Grundsatznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Begriff des Umsetzungsaktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Rechtsfolgen der Grundsatznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Im Abwehrbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Rechtsfolgen unmittelbar anwendbarer Normen im Allgemeinen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Rechtsfolgen der Grundsatznormen im Speziellen . . . . . . . . . bb) Rechtsfolgen der Grundsatznormen im Leistungsbereich . . . . . . . cc) Exkurs: Pflicht zur grundsatzkonformen Auslegung . . . . . . . . . . . dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das subjektive Recht im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Begriff des subjektiven Rechts im Sinne des Haftungsrechts . . . b) Grundsatznormen als subjektive Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273 282 286 286 286 286 290 291 292 295 295 295 301 306

Teil 4 Allgemeine Grundsatzlehren I.

308

Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308

II. Grundsatzberechtigte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 III. Grundsatzverpflichtete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Union und die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sonderfall: Das Vereinigte Königreich und Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die unmittelbare Drittwirkung der Grundsatznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

314 314 322 323

IV. Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 V. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schranken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schranken-Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Exkurs: Normenkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

329 329 333 335

VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Teil 5 Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen I.

338

Notwendigkeit der Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338

II. Abgrenzungsvorschläge im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 1. Vorgeschlagene Abgrenzungskriterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 2. Stellungnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344

16

Inhaltsverzeichnis

III. Eigener Vorschlag für die Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 V. Einordnung der einzelnen Chartaartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Garantien der Titel I–III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 2 und 3 Abs. 1 GRC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. 3 Abs. 2 GRC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Art. 4 und 5 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Art. 6, 7 und 9 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Art. 8 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Art. 10–13 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Art. 14 und 15 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Art. 16 und 17 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Art. 18 und 19 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Art. 20 und 21 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l) Art. 22 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . m) Art. 23 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . n) Art. 24 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . o) Art. 25 und 26 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . p) Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Garantien des Titels IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 27 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 28 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. 29 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Art. 30 und 31 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Art. 32 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Art. 33 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Art. 34 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Art. 35 S. 1 und 36 GRC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Art. 35 S. 2, 37 und 38 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Garantien des Titels V und VI. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 39 und 40 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 41 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Art. 42–46 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Art. 47–50 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

355 356 356 356 357 358 359 359 360 360 362 362 363 363 364 365 367 369 369 369 370 370 371 372 373 374 375 377 378 378 378 378 379 379 380 380

VI. Kategorisierung der Grundsatznormen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380

Inhaltsverzeichnis

17

Teil 6 Zusammenfassung

382

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Sachwort- und Entscheidungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423

Abkürzungsverzeichnis Im Nachfolgenden sind nur solche Abkürzungen aufgeführt, von deren Kenntnis nicht ausgegangen werden kann: ABl. AC All ER AöR ArbRB ARSP BayVBl. BGBl. BK BM BMJ BOE BReg. BT Bull. BV C. Const. CLR CMLRev. DÖV DV DVBl. EELR EHRLR ELRev. ESC EuGRZ EuR EuZW EVV EwiR EWS

Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften bzw. Amtsblatt der Europäischen Union Court of Appeal All English Reports Archiv des öffentlichen Rechts Der Arbeits-Rechts-Berater Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Bayerische Verwaltungsblätter Bundesgesetzblatt Bonner Kommentar Bundesministerium Bundesministerium der Justiz Boletin Oficial del Estado (span. Gesetzesblatt) Bundesregierung Bundestag Bulletin Bayerische Verfassung Corte Costituzionale Cambridge Law Review Common Market Law Review Die öffentliche Verwaltung Die Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt European Environmental Law Review (engl. Zeitschrift) European Human Rights Law Review (engl. Zeitschrift) European Law Review Europäische Sozialcharta Europäische Grundrechtezeitschrift Europarecht (dt. Zeitschrift) Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäischer Verfassungsvertrag Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (dt. Zeitschrift)

Abkürzungsverzeichnis FAZ FFJJ. FJ FS GA GASP GRC Hb. HbStR IGH JA JBl. JBöR JC JCMS JöR JuS JZ LOTC MDR MJ NJW NuR NVwZ NZS PJZS PrOVGE RabelsZ RDP RIW RTDEur RUDH Slg. STC TC VerwArch VSSR

19

Frankfurter Allgemeine Zeitung fundamentos juridicos (span. für Entscheidungsgründe) fundamentos juridico (span. für Entscheidungsgrund) Festschrift Generalanwalt Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Grundrechtecharta Handbuch Handbuch des Staatsrechts Internationaler Gerichtshof in Den Haag Juristische Arbeitsblätter (dt. Zeitschrift) Juristische Blätter (dt. Zeitschrift) Jahrbuch öffentliches Recht jurisprudencia constitucional (Rechtsprechungsübersicht des span. Verfassungsgerichts) Journal of Common Market Studies (engl. Zeitschrift) Jahrbuch für öffentliches Recht Juristische Schulung (dt. Zeitschrift) Juristenzeitung Ley Orgánica 2/1979 del Tribunal Constitucional v. 3. Oktober 1979 (span. Verfassungsgerichtsgesetz) Monatsschrift für Deutsches Recht Maastricht journal of European and comparative law (niederl. Zeitschrift) Neue Juristische Wochenzeitschrift Natur und Recht (dt. Zeitschrift) Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Sozialrecht Polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen Entscheidungen des Preußischen Oberverwaltungsgerichts Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Revue de Droit public (frz. Zeitschrift) Recht der Internationalen Wirtschaft (dt. Zeitschrift) Revue trimestrielle de droit européen (frz. Zeitschrift) Revue Universelle des Droits de l’Homme (frz. Zeitschrift) Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts erster Instanz Sentencias del Tribunal Constitucional (Urteile des spanischen Verfassungsgerichts) Tribunal Constitucional (span. Verfassungsgericht) Verwaltungsarchiv (dt. Zeitschrift) Vierteljahresschrift für Sozialrecht

20 VVDStRL WHI Paper WVK ZaöRV ZBR ZEuS ZÖR ZRP

Abkürzungsverzeichnis Veröffentlichungen der Vereinigungen der Deutschen Staatsrechtslehrer Paper des Walter-Hallstein-Instituts Berlin Wiener Konvention über das Recht der Verträge Zeitschrift für ausländisches und öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Beamtenrecht Zeitschrift für Europäische Studien Zeitschrift für öffentliches Recht Zeitschrift für Rechtspolitik

Teil 1

Einführung I. Entstehungsgeschichte der Charta Am 20. Januar 1999 gab der damalige Bundesaußenminister Joschka Fischer in einer Rede vor der französischen Nationalversammlung in Paris bekannt, dass die Bundesrepublik Deutschland in der Zeit ihrer EU-Ratspräsidentschaft die Initiative für die Ausarbeitung einer Europäischen Grundrechtecharta ergreifen wolle, um die Rechte der einzelnen Bürger zu stärken.1 Bereits bei den Sitzungen des Europäischen Rates zu Köln (3./4. Juni 1999)2 und in Tampere (15./16. Oktober 1999)3 wurden dann die Beschlüsse zur Einsetzung eines Konvents für den Entwurf einer Charta der Grundrechte mit dem Ziel der „Zusammenfassung und Sichtbarmachung“ der auf der Ebene der Union gegenwärtig geltenden Grundrechte gefasst.4 Nach neun Monaten intensiver Debatten im Konvent und breitgefächerter Anhörungen gesellschaftlicher Gruppen, der Beitrittsländer und maßgeblicher Institutionen billigte der Konvent5 unter Vorsitz des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog in einer feierlichen Abschlusssitzung am 2. Oktober 2000 den Entwurf der Charta.6 Am 7. Dezember 2000 wurde in Nizza schließlich die Charta durch die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Nicole Fontaine, den Präsidenten des Rates dem französischen Außenminister Hubert Védrine und den Präsidenten der Kommis1

Die Rede kann nachgelesen werden in Bull. BReg. 1999, 9 (12 f.). Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates zu Köln v. 3./4. Juni 1999, Bulletin EU 6-1999 I.18., Punkte 44, 45. 3 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Tampere v. 15./16. Oktober 1999, Bulletin EU 10-1999, Anlage. 4 Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Europäischen Grundrechtecharta statt vieler v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 85 ff.; de Bfflrca, ELRev. 2001, 126 ff.; Hummer, Status der EU-Grundrechtecharta, S. 37 ff.; Knecht, Charta der Grundrechte, S. 69 ff.; Pietsch, Schrankenregime, S. 19 ff.; Zimmermann, Charta der Grundrechte, S. 9 ff. 5 Lediglich zwei Mitglieder des Konvents stimmten nicht zu, vgl. CHARTE 4959/00 CONVENT 54 und CHARTE 4960/00 CONVENT 55. 6 Der Europäische Rat von Biarritz v. 13./14. Oktober 2000 nahm diesen Entwurf einstimmig an und übermittelte ihn dann dem Rat, dem Europäischen Parlament und der Kommission, vgl. Bulletin EU 10-2000, 1.2.1. 2

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Teil 1: Einführung

sion Romano Prodi im Namen ihrer jeweiligen Institutionen unterzeichnet7 und feierlich proklamiert.8 Am 29. Oktober 2004, nicht ganz vier Jahre später, einigten sich die Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten in Rom9 auf den durch einen Europäischen Konvent10 unter der Leitung des früheren französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing ausgearbeiteten „Vertrag über eine Verfassung für Europa“11, in dessen zweiten Teil die Europäische Grundrechtecharta mit einigen wenigen redaktionellen Anpassungen, aber ohne inhaltliche Änderungen,12 aufgenommen13 werden sollte. Der Ratifikationsprozess des Verfassungsvertrages kam jedoch durch dessen Ablehnung bei den Volksabstimmungen in Frankreich am 29. Mai 2005 und in den Niederlanden am 1. Juni 2005 zunächst ins Stocken und wurde schließlich beim Europäischen Rat in Brüssel am 21./22. Juni 2007 für gänzlich gescheitert erklärt.14 Mit den Vertrag von Lissabon15 vom 13. Dezember 2007, der in allen Mitgliedsstaaten mit Ausnahme von Irland ohne Volksabstimmung ratifiziert werden kann, soll ein Großteil der Inhalte des Verfassungsvertrags in die bisher bestehenden Verträge eingearbeitet werden.16 Etwas unerwartet haben nun jedoch die Iren dem Reformvertrag in einem Referendum am 12. Juni 2008 ihre Zustimmung verweigert. Trotz des irischen Neins haben sich die Mitgliedstaaten während des Europäi7

Näher dazu Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. VII. Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Nizza v. 7.–9. Dezember 2000, Bulletin EU 12-2000, I.3.2. Vgl. auch statt vieler Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 ff.; Hatje, EuR 2001, 143 (176); Hummer, Status der EU-Grundrechtscharta, S. 54 f.; Knecht, Charta der Grundrechte, S. 98 f.; Szczekalla, DVBl. 2001, 345 ff. 9 Vgl. dazu Bulletin EU 10-2004, 1.1.3. 10 Vgl. zur Einsetzung eines Verfassungskonvents die Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Laeken v. 14./15. Dezember 2001, Bulletin EU 12-2001, Anlage, I.27. Der Europäische Konvent arbeitete zwischen dem 28. Februar 2002 und dem 20. Juli 2003. Näheres zum Ablauf bei Große Hüttmann, in: Beckmann/Dieringer/Hufeld (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, S. 207 ff.; Pietsch, Schrankenregime, S. 29 ff. 11 ABl. EU C 310 v. 16. Dezember 2004. 12 Vgl. Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II CONV 354/02 S. 4. Vgl. auch Brecht, ZEuS 2005, 355 ff.; Pietsch, Schrankenregime, S. 30; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 262, 265. 13 Vgl. CONV 797/1/03, S. 48 ff. 14 Vgl. die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Brüssel v. 21./22. Juni 2007, Doc. 11177/1/07 REV 1 CONCL 2 S. 2 ff. Zu diesem Prozess vgl. Fischer, Vertrag von Lissabon, S. 75 ff.; Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, S. 12 ff. 15 ABl. EU C 306/01 = CIC 14/07 mit Schlussakte in ABl. EU C 306/02 = CIC 15/07, beide v. 13. Dezember 2007. 16 Zu dieser Entwicklung vgl. Streinz/Ohler/Herrmann, Vertrag von Lissabon, S. 16 ff. 8

I. Entstehungsgeschichte der Charta

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schen Rates von Brüssel (19./20. Juni 2008) dafür entschieden, am Vertrag von Lissabon festzuhalten. Den Iren wird Zeit eingeräumt, um einen Ausweg aus dem Abstimmungsdilemma zu finden. Währenddessen sollen die Ratifikationen weitergehen.17 Der Deutsche Bundestag hat ebenso wie der Bundesrat dem Vertrag bereits seine Zustimmung gegeben. Aufgrund der Bitte des Bundesverfassungsgerichts, dem der Vertrag zur Prüfung vorliegt, hat jedoch Bundespräsident Horst Köhler die Ratifikationsurkunde bislang noch nicht unterzeichnet. Der EU-Vertrag und der EG-Vertrag, der künftig „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (VAEU) heißen soll,18 bleiben als sog. „Grundlagenverträge“19 erhalten. Vom Anspruch, eine „Verfassung für Europa“ zu schaffen, wurde Abstand genommen.20 Die Grundrechtecharta wird zwar nicht in den Text dieser Grundlagenverträge aufgenommen, Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 des neuen EU-Vertrages (EUV n. F.) erklärt diese jedoch für rechtlich verbindlich und mit den Vertragsbestimmungen für gleichrangig.21 Das „Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich“22 nimmt letztere Staaten jedoch teilweise wieder von der Bindung an die Charta aus (vgl. Art. 1, 2 des Protokolls). Das Vereinigte Königreich und Polen wollen durch diesen Zusatz, dem Primärrechtsqualität zukommt (vgl. Art. 311 EGV), verhindern, dass die Charta zu einer Ausweitung ihrer gegenwärtigen Verpflichtungen führt. Soweit dies nicht der Fall ist bzw. die Charta lediglich Rechte widerspiegelt, die der EuGH auch schon bisher als Allgemeine Rechtsgrundsätze23 anerkannt hat, sind aber auch diese beiden Staaten an die Europäische Grundrechtecharta gebunden.24 Aus diesem Grund wird es künftig des Öfteren darauf ankommen, ob und inwieweit der EuGH einzelnen Chartabestimmungen neben deren Normierung in der Charta auch die Qualität als allgemeiner Rechtsgrundsatz zuerkennen wird (vgl. Art. 6 Abs. 3 EUV n. F.).25 Dieser teilweise Ausschluss von der Bindung an die Charta wird in Bezug auf Polen in der Schlussakte der Regierungskonferenz26 etwas über17

Vgl. hierzu die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Brüssel v. 19./20. Juni 2008, Doc. 11018/08 CONCL 2 S. 1. 18 Vgl. Art. 2 Nr. 1 des Vertrages von Lissabon. 19 Vgl. Art. 1 Abs. 3 EUV n. F. 20 Ausführlich zum Ganzen Terhechte, EuR 2008, 143 ff. 21 Vgl. zum Ganzen Pache/Rösch, NVwZ 2008, 473 f. 22 ABl. EU C 306/01 S. 156. 23 Zu diesem Begriff siehe unten Teil 2, III. 3. 24 So wohl auch Pache/Rösch, EuZW 2008, 519 (520); Streinz/Ohler/Herrmann, Vertrag von Lissabon, S. 103 f. 25 Siehe hierzu auch unten Teil 4, III. 2. 26 ABl. EU C 306/02 v. 13. Dezember 2007 S. 40 (Erklärung Nr. 62).

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Teil 1: Einführung

raschend wieder relativiert, wenn es dort heißt: „Polen erklärt, dass es in Anbetracht der Tradition der sozialen Bewegung der ‚Solidarnos´c´‘ und ihres bedeutenden Beitrags zur Erkämpfung von Sozial- und Arbeitnehmerrechten die im Recht der Europäischen Union niedergelegten Sozial- und Arbeitnehmerrechte und insbesondere die in Titel IV der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bekräftigten Sozial- und Arbeitnehmerrechte uneingeschränkt achtet.“ Die Wirkung dieser Erklärung ist bislang noch nicht diskutiert worden. Bei dieser Klausel handelt es sich aber wohl nicht um einen Bestandteil der Verträge. Hierfür hätte es deren Aufnahme in die Verträge selbst oder wenigstens deren Abfassung in Form eines Protokolls bedurft. Der Zusatz führt jedoch in entsprechender Anwendung des Art. 31 Abs. 2 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge dazu, dass die Protokollerklärung Polens dahingehend verstanden werden muss, dass Polen an die Rechte und Grundsätze des vierten Titels der Grundrechtecharta sehr wohl gebunden sein will.27 Dies überrascht, weil es sich bei den Garantien28 des Titels IV mehrheitlich um sehr progressive Vorschriften handelt. Gerade diese Bestimmungen waren es aber, die in den beiden Konventen am meisten Widerspruch hervorgerufen und das Vereinigte Königreich schließlich zu seinem „opt out“ veranlasst haben. Insgesamt ist diese teilweise Herausnahme des Vereinigten Königreichs und Polens von der Bindung an die Charta zu kritisieren, wird dadurch doch möglicherweise eine gemeinsame Entwicklung in der Europäischen Union gefährdet. Aber dies war eben der Preis, den man zahlen musste, damit die Grundlagenverträge und die Charta in Lissabon überhaupt angenommen werden konnten. Im Laufe der Arbeit wird sich im Übrigen zeigen, dass aufgrund der hier favorisierten Interpretation der Art. 51 Abs. 1 S. 1, 2 und 52 Abs. 5 GRC dieser teilweise Ausschluss von der Bindung an die Charta in der Praxis keine allzu große Rolle spielen wird.29 Der vorliegenden Abhandlung liegt die Europäische Grundrechtecharta30 in der Fassung des Vertrages von Lissabon zugrunde. Hinsichtlich der 27 Vgl. hierzu nun Lindner, EuR 2008, 786 ff. Zu den Rechtswirkungen von Erklärungen in den Schlussakten vgl. EuGH, Rs. C-192/99, Slg. 2001, I-1237 Rn. 23 f. (Manjit Kaur); Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 311 EGV Rn. 9; Booß, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 311 EGV Rn. 5; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 311 EGV Rn. 4. Dass es sich im vorliegenden Fall nur um eine einseitige Erklärung handelte, spielt keine Rolle, weil die Erklärung nicht von Art. 6 Abs. 1 des künftigen EU-Vertrages abweichen, sondern in Bezug auf den Titel IV der Charta diesen gerade bestätigen will. 28 Die Termini „Garantie“ und „Gewährleistung“ werden in der vorliegenden Arbeit als Oberbegriffe für die Grundrechte und Grundsätze verwendet. Eine Aussage über den subjektiven oder nur objektiven Gehalt der jeweiligen Vorschrift soll damit nicht verbunden sein. 29 Siehe unten Teil 4, III. 2.

II. Darlegung der Problematik

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Rechtsnormen außerhalb der Grundrechtecharta orientiert sich die vorliegende Darstellung jedoch am gegenwärtig noch anzuwendenden EU-/EGVertrag in der konsolidierten Fassung vom 29. Dezember 2006.31 Soweit notwendig, werden die Bestimmungen der künftig geltenden Grundlagenverträge in den Ausführungen jedoch mitberücksichtigt.

II. Darlegung der Problematik 1. Die Grundsatznormen der Grundrechtecharta Das Mandat des Grundrechtekonvents sah nach dem Beschluss des Europäischen Rates zu Köln32 vor, dass „bei der Ausarbeitung der Charta [. . .] [auch] wirtschaftliche und soziale Rechte zu berücksichtigen [seien], [so] wie sie in der Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer enthalten sind [. . .], soweit sie nicht nur Ziele für das Handeln der Union begründen[33]“. Trotz dieses Auftrags – oder vielleicht gerade deshalb – fand eine Normkategorie Aufnahme in die Grundrechtecharta, bezeichnet als „Grundsätze“34, mit der man die Problematik um die Kodifizierung35 sozialer Grundrechte36 zu entschärfen versuchte. Erst mit der Einführung einer Differenzierung zwischen herkömmlichen Grundrechten auf der einen und diesen Grundsätzen auf der anderen Seite konnten sich die Mitgliedstaaten auf einen kompromissfähigen Entwurf der Charta einigen,37 der für alle akzeptabel schien.38 Der Europäische Kon30 ABl. EU C 303/01 (Charta) mit C 303/02 (Erläuterungen), beide v. 14. Dezember 2007. 31 ABl. EU C 321E v. 20. Dezember 2006. 32 Anhang IV der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates zu Köln v. 3./4. Juni 1999, Bulletin EU 6-1999, Anhang IV, I.64. 33 Hervorhebung durch den Verfasser. 34 Nicht zu verwechseln mit den sog. Allgemeinen Rechtsgrundsätzen i. S. des Art. 6 Abs. 2 EUV. Auf diese Verwechslungsgefahr weist bereits Baroness Scotland of Asthal hin, vgl. Arbeitspapier 16 der Arbeitsgruppe II. Näher zum Ganzen unten Teil 2, III. 3. 35 Vgl. hinsichtlich der Schwierigkeiten um die Kodifizierung sozialer Grundrechte im Charta-Konvent: CHARTE 3416/00 CONVENT 34 und für die Diskussionen darüber die Protokolle der elften Sitzung des Konvents am 5./6. Juni 2000, abgedruckt bei Bernsdorf/Borowsky, Sitzungsprotokolle, S. 250–259. Vgl. auch CHARTE 4133/00 CONVENT und zum ganzen Barriga, Entstehungen, S. 154 f.; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 10–13, 33–34; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 6 ff. Näheres dazu unten Teil 2, I. 2. 36 Zu diesem Begriff näher unten Teil 2, III. 2. 37 Vgl. hinsichtlich der Schwierigkeiten um die horizontalen Bestimmungen im Verfassungskonvent die Arbeitpapiere 4, 16 und 23 der Arbeitsgruppe II und den

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Teil 1: Einführung

vent hat diese Unterscheidung aufrechterhalten; mit der Bestimmung des damaligen Art. II-112 Abs. 5 EVV39 erfolgte eine inhaltliche Präzisierung.40 Absatz 7 der Präambel der Grundrechtecharta spricht nun (in der Fassung des Vertrages von Lissabon) von der „Anerkennung der nachstehend aufgeführten Rechte, Freiheiten[41] und Grundsätze“.42 Deutlich wird diese Gegenüberstellung von Grundrechten und Grundsätzen auch in Art. 51 Abs. 1 GRC, wenn es dort heißt: „Dementsprechend achten sie [die Union und die Mitgliedstaaten][43] die Rechte, halten [. . .] sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend [. . .].“ Für das Verständnis dieser Grundsatznormen besonders bedeutsam ist jedoch Art. 52 Abs. 5 GRC, der, wie eben erwähnt, erst durch den Europäischen Konvent nachträglich in die Charta eingefügt wurde. Dieser stellt fest: „Die Bestimmungen dieser Charta, in denen Grundsätze festgelegt sind, können durch Akte der Gesetzgebung und der Ausführung der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie durch Akte der Mitgliedstaaten zur Durchführung des Rechts der Union in Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten umgesetzt werden. Sie können vor Gericht nur bei der Auslegung dieser Akte und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit herangezogen werden.“

Trotz dieses Versuches einer Präzisierung44 ist die Bedeutung der Grundsatznormen im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC nicht hinreichend geklärt.45 Abschlussbericht CONV 354/02 S. 8. Vgl. auch Braibant, in: BM für Arbeit und Sozialordnung, Soziale Grundrechte, S. 259 (261). 38 Dass der Entwurf letztlich doch nicht für alle akzeptabel war, zeigen die opt outs des Vereinigten Königreichs und Polens. Siehe dazu oben Teil 1 I. 39 Nun Art. 52 Abs. 5 GRC. 40 Eine inhaltliche Änderung war damit aber nicht gewollt, vgl. Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II – CONV 354/02 S. 4, 8. Vgl. auch Brecht, ZEuS 2005, 355 (368 f.); Pietsch, Schrankenregime, S. 30; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 262, 265. 41 Wenn zum Teil von Rechten und Freiheiten gesprochen wird, wird mit diesem Doppelbegriff lediglich die französischen Tradition berücksichtigt, da dort der Begriff des (subjektiven) Rechts einen engeren Anwendungsbereich aufweist und Freiheitsrechte nicht umfasst. Mit Freiheiten in diesem Sinne sind auch nur „Rechte“ („rights“/„droits“) gemeint, vgl. dazu Jarass, Die EU-Grundrechte, § 7 Rn. 1; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 25; Sonnenberger/Autexier, Einführung in das französische Recht, S. 78. 42 Ähnlich auch Art. 6 Abs. 1 EUV in der Fassung des Vertrages von Lissabon. 43 Einfügung des Verfassers. Zur Frage der Bindung an die Grundrechtecharta siehe ausführlich unten Teil 4, III. 44 Art. II-112 Abs. 5 EVV (jetzt Art. 52 Abs. 5 GRC) sollte eigentlich die durch den Charta-Konvent noch nicht gelösten Unklarheiten endgültig beseitigen, vgl. Arbeitspapiere 4 und 16 der Arbeitsgruppe II. 45 So auch Folz, in: Vedder/Heinschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. II-112 Rn. 13 f.; Kühling, in: Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (603 mit Fn. 84); Tettinger, NJW 2001, 1010 (1014 f.). Kritisch deshalb Baroness

II. Darlegung der Problematik

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Es stellen sich zahlreiche Fragen hinsichtlich Normativität, rechtlicher Wirkung und Abgrenzung zu den Grundrechten46, auf die Antworten gefunden werden müssen. Die Stellung der Grundsätze im Rahmen der europäischen (Grund-)Rechtsdogmatik47 ist alles in allem mehr als unklar. Werden diese Unklarheiten nicht beseitigt, könnte dies nicht nur die Bedeutung einzelner Chartanormen relativieren, sondern möglicherweise auch die legitimations- sowie identitäts- bzw. integrationsstiftende Funktion48 der gesamten Europäischen Grundrechtecharta gefährden.49 Zudem würde auch nur eine Grundrechtecharta mit klaren Rechten und Pflichten auf Akzeptanz bei den Bürgern stoßen. Eine solche wäre aber erforderlich, wenn die Charta einen notwendigen Beitrag für die künftige Entwicklung der Union leisten soll, einer Union, welche sich seit geraumer Zeit langsam aber stetig von rein wirtschaftlichen Zielsetzungen zu verabschieden und zu einem umfassenderen „Europa der Bürger“50 zu wandeln scheint.51 Scotland of Asthal in den Arbeitspapieren 4 und 16 der Arbeitsgruppe II des Verfassungskonvents. 46 Die Abgrenzung zwischen Grundrechten und Grundsätzen wurde von den beiden Konventen dem EuGH überlassen, vgl. den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II CONV 354/02 S. 8. Ausdrücklich als Grundsätze eingestuft wurden in den Erläuterungen zur Charta nur Art. 25, 26 und 37 GRC, vgl. ABl. EU C 303/02 v. 14. Dezember 2007 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5 GRC). Vgl. dazu auch Ladenburger, in Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 10; Pietsch, ZRP 2003, 1 (3); Rengeling/ Szczekalla, Grundrechte, S. 263 f. 47 Dazu näher unten Teil 1, II. 2. 48 So auch Walter, DVBl. 2000, 1 (4 ff.) unter Hinweis auf Smends Integrationslehre (Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 119 ff., 136 ff.). Vgl. auch Leinen/ Schönlau, in: Kaufmann (Hrsg.) Grundrechtecharta, S. 79 (86 f.); Nicolaysen, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 1 Rn. 73; Vigo, in: Kaufmann (Hrsg.), Grundrechtecharta, S. 91 (96 ff.). Vgl. auch die Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates zu Köln v. 3./4. Juni 1999, Bulletin EU 6-1999 I.64. (Anhang 4). Vgl. zum Ganzen auch Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (574 f.); ders., in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 8 f. 49 Kritisch dagegen zu einer solche identitäts- bzw. integrationsstiftenden Funktion Baer, ZRP 2000, 361; Knöll, NJW 2000, 1845 (1848); ders., NVwZ 2001, 392 (394); Tettinger, NJW 2001, 1010; Zuleeg, EuGRZ 2000, 511 (514). Vgl. dazu auch Pinto, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, A XI Rn. 4. 50 Vgl. dazu die Ausführungen von GA Jacobs in seinem Schlussantrag in der Verb. Rs. C-92/92 und C-326/92, Slg. 1993, I-5145, 5163 (Phil Collins). Vgl. auch die Erklärung zur Zukunft der Europäischen Union des Europäischen Rates in Laeken Bulletin EU 12-2001, 1.1.4. Zu diesem Aspekt auch v. Bogdandy, JZ 2001, 157 (168 f.); Everling, in v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 847 (889); Hummer, Status der EU-Grundrechtecharta, S. 108 ff.; Pernice, Zur Finalität Europas, WHI – Paper 06/05. Vertiefend Rosas/Antola, A Citizens’ Europe. Kritisch dagegen (die Charta sei ein „verlockender Käse in einer Mausefalle“) Bonde/Krarup, in: Kaufmann (Hrsg.), Grundrechtecharta, S. 25 (27). Zur Wichtigkeit dieses Aspekts im Charta-Konvent vgl. auch die Aussage von Martin (MdEP, A), nach-

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Teil 1: Einführung

2. Bisherige Ansichten als Ausgangspunkt der Untersuchung Durchkämmt man die Fachliteratur nach ersten Stellungnahmen zu diesen Grundsatznormen, überrascht es, mit welch großer Übereinstimmung im deutschsprachigen Schrifttum kommentiert wird, trotz der Komplexität dieser neuen Normkategorie. Die große Mehrheit ordnet die Grundsatznormen in Anlehnung an die Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes als rein objektiv-rechtliche Pflichten ein, die für die Union und die Mitgliedstaaten zwar bindend, für den Einzelnen aber nicht gerichtlich einklagbar seien.52 Stellvertretend sei Jarass zitiert: „Ein wesentliches Kennzeichen der Grundsätze besteht [. . .] darin, dass sie keine subjektiven Rechte53 gewähren; sie enthalten bloße (verbindliche) Verfassungsaufträge.“54 Dieser weiter: „Grundsätze können im Rahmen von Rechtsmitteln nicht eingesetzt werden, soweit es auf den subjektiv-rechtlichen Charakter der herangezogenen Normen ankommt, wie das bei der Klagebefugnis regelmäßig der Fall ist. [. . .].[55] Auch Schadensersatzansprüche bei Verletzung eines Grundsatzes können nicht entstezulesen im Protokoll zur elften Sitzung des Konvents vom 5./6. Juni 2000 bei Bernsdorf/Borowsky, Sitzungsprotokolle, S. 259. Vgl. dazu auch Bères, in: Kaufmann (Hrsg.), Grundrechtecharta, S. 17 f. 51 Gemeint ist vor allem die Entwicklung der Rechtsprechung auf dem Gebiet der Unionsbürgerschaft, vgl. EuGH, Rs. C-274/96, Slg. 1998, I-7637 (Bickel und Franz), über Rs. C-85/96, Slg. 1998, I-2691 (Martinez Sala) und Rs. C-184/99, Slg. 2001, I-6193 (Grzelczyk) bis hin zur Rs. C-209/03, Slg. 2005, I-2119 (Bidar). Vgl. dazu Bode, EuZW 2005, 279 ff.; Del Conte, Diritto pubblico comparato ed europeo 2005, 1463 ff.; Wollenschläger, NVwZ 2005, 1023 ff. Vgl. aber auch die Entscheidung des EuGH in der Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6279 (Carpenter) auf dem Gebiet der Dienstleistungsfreiheit; dazu Spaventa, CMLRev. 2004, 743 ff. 52 Vgl. statt vieler v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 137, 149; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45 ff.; Calliess, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 22 Rn. 22 f.; Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (565 f.); Jarass, Die EU-Grundrechte, § 7 II; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EGV/EUV, Art. 52 GRC Rn. 13 ff.; Kühling, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (603); Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 80 ff., 86; Nowak, in: Heselhaus/Nowak, Hb. Grundrechte, § 60 Rn. 2; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 58 f. 53 Hervorhebung auch im Original. 54 Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 22 (Hervorhebung im Original). So auch Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 136 ff., der bei „besonders schwerwiegenden Verstößen“ die subjektive Rechtsqualität dann aber ausnahmsweise doch bejahen will (ebd., S. 139). 55 Zwar meint Jarass (ebd., § 7 Rn. 37) weiter, dass Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC darauf hinweise, dass zumindest im Rahmen einer objektiven Rechtsmäßigkeitskontrolle die Einhaltung von Grundsätzen zu überprüfen sei, bezieht und beschränkt sich hier jedoch ausdrücklich auf Inzidentkontrollen bzw. Vorabentscheidungsverfahren. Ausführlich dazu Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 136 ff. So auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 15.

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hen, wenn und weil sie ein Recht voraussetzen.“56 Ausdrücklich nunmehr auch Folz: „Art. II-112 Abs. V EVV[57] stellt im Einklang mit Art. II-111 EVV[58] klar, dass ein Teil der in der Charta gewährten Rechte keine subjektiven Rechte auf Abwehr hoheitlicher Eingriffe beinhaltet.“59 Schmittmann, der bisher die einzige Monographie zu den Grundsatznormen vorgelegt hat, schreibt: „Grundsätze können [. . .] im Rahmen der Rechtmäßigkeitsüberprüfung von Umsetzungsakten angewandt werden, sie sind jedoch nicht dazu geeignet eine Rechtmäßigkeitsüberprüfung selbstständig zu initiieren.“ Es ist zu vermuten, dass sich dieses Verständnis an der Dogmatik des deutschen Rechts orientiert. Ausländische Autoren stehen ihren deutschen Kollegen im Hinblick auf diese herkunftsbezogene Interpretation der Grundsatznormen jedoch in nichts nach. Auch sie versuchen, die Grundsätze ausschließlich aus der Sicht ihrer eigenen Verfassung heraus zu erklären. So verwundert es wenig, dass beispielsweise Braibant die Meinung vertritt, die Grundsätze normierten ein sog. Rückschrittsverbot. Demnach dürfe der europäische Gesetzgeber einen einmal erreichten Sozialstandard, der in den Schutzbereich einer Grundsatznorm fällt, künftig nicht mehr unterschreiten.60 Insoweit wären die Grundsätze entgegen der deutschen Auffassung auch einklagbar („justiciabilité normative“).61 Braibant ließ sich bei Zuerkennung einer solchen „stand-stillWirkung“ offensichtlich durch den in der französischen Verfassungslehre bekannten „effet-cliquet“ inspirieren.62 Die französischen Autoren stimmen mit ihrem deutschen Kollegen aber zumindest darin überein, dass sich aus den Grundsätzen keine direkten Ansprüche auf Leistung ableiten ließen, weil es sich bei diesen um sog. unvollständige Normen (sog. „théorie de la norme imparfaite“) handle, die ohne eine Konkretisierung durch den einfachen Gesetzgeber insoweit von der Verwaltung und den Gerichten nicht angewendet werden könnten.63 Wie sehr sich das Schrifttum bei der Interpretation der 56 Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 36. Vgl. auch Ladenburger, in: Tettinger/ Stern, Charta, Art. 52 Rn. 86; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 137. 57 Nun Art. 52 Abs. 5 GRC. 58 Nun Art. 51 GRC. 59 Folz, in: Vedder/Heinschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. II-112 Rn. 13. 60 Vgl. Braibant, Charte, S. 46, 84 f., 252 f. Vgl. auch Burgorgue-Larsen, in: ders./Levade/Picod (Hrsg.), Charte, Art. II-112 EVV Rn. 50 ff.; de Schutter, in: ders./Nihoul (Hrsg.), Droits, S. 111 f. Vgl. auch Braibant, CHARTE 4322/00 S. 3. 61 Vgl. Braibant, Charte, S. 46, 84 f., 252 f.; ders., in: BM für Arbeit und Sozialordnung (u. a.), Soziale Grundrechte, S. 259 (261). Vgl. auch Turpin, RTDEur 2003, 615 (627 f.). Ähnlich der Spanier Rodriguez-Bereijo in dessen Änderungsvorschlag Nr. 26 in CHARTE 4372/00 CONVENT 39 v. 16. Juni 2000. 62 Ähnlich Sólyom, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, A XV Rn. 59, der sich seinerseits jedoch auf die ungarische Verfassung stützt. Ausführlich zum Ganzen unten Teil 2, IV. 2. b) cc).

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Teil 1: Einführung

Grundsatznormen von der jeweils eigenen Rechtsordnung leiten lässt, zeigt auch der Vorschlag von Cruz Villalón zur Abgrenzung der Grundsätze von den Grundrechten: „Als Auslegungsdirektive könnte daraus zu folgern sein, dass immer dann von einem ‚Grundsatz‘ im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC auszugehen ist, sobald eine Bestimmung der Charta eine Bestimmung in Kapitel 3 des Titels I der spanischen Verfassung entspricht.“64 Eine solche, an der eigenen Rechtsordnung ausgerichteten Argumentation fiel im Übrigen bereits bei den Debatten in den beiden Konventen auf.65 Im Folgenden sollen diese Ansichten als Ausgangspunkt für eine nähere Untersuchung der sog. Grundsätze dienen. Ziel ist es, eine belastbare Theorie zu dieser Normkategorie zu entwickeln, die Wortlaut und Systematik der Charta beachtet, den Willen der Mitglieder der beiden Konvente in ausreichendem Maße berücksichtigt und – wohl am wichtigsten – sich ohne Bruch in die bestehende Systematik des Europarechts – und nicht in die der nationalen Verfassungen! – einfügt. Erst im fünften Teil dieser Abhandlung soll die Frage geklärt werden, anhand welcher Kriterien sich die Bestimmungen der Grundrechtecharta in die Kategorien Grundrechte – Grundsätze einordnen lassen. Es wird jedoch nicht zu vermeiden sein, immer wieder auch bereits in den beiden folgenden Abschnitten auf einzelne Unterscheidungsmerkmale eingehen zu müssen, lassen sich doch die normativen Eigenschaften der Grundsätze oftmals nicht anders als durch Gegenüberstellung mit den Merkmalen der weitaus besser untersuchten Grundrechte herausarbeiten. Kurz zusammengefasst soll sich die vorliegende Arbeit daher im Wesentlichen mit folgenden Problemen befassen: (1) Welche normativen Eigenschaften besitzen die sog. Grundsätze der Charta? (Teil 3) (2) Welche Rechtsfolgen sind an diese Eigenschaften und damit an die Einordnung einer Norm als Grundsatz geknüpft? (Teil 3) (3) Existiert auch für die Grundsatznormen eine „Allgemeine Grundsatzlehre“ und wenn ja, wie sieht diese aus? (Teil 4) (4) Anhand welcher Kriterien lassen sich die Grundrechte in der Charta von den Grundsätzen unterscheiden? (Teil 5) Im Teil 2 sollen nun aber zunächst die Grundlagen erarbeitet werden, die für die Beantwortung dieser vier Fragen notwendig sind. 63

Vgl. Braibant, Regards sur l’Actualité Nº 264, août 2000, 1 (13); ders., in: BM für Arbeit und Sozialordnung (u. a.), Soziale Grundrechte, S. 259 (261). Ausführlich zum Ganzen unten Teil 2, IV. 2. b) bb) und cc). 64 Cruz Villalón, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, A XIII Rn. 50. 65 Ausführlich dazu sogleich unten Teil 2, I. 2. Instruktiv Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 49 ff.

Teil 2

Grundlagen I. Die Entwicklung der Grundsatznormen in den Konventen Um die Grundsätze im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC besser einordnen zu können, erscheint es erforderlich, kurz darzustellen, wie und warum es zur Entwicklung dieser Normkategorie überhaupt gekommen ist. Vorab muss jedoch geklärt werden, inwieweit der historische Ablauf in den beiden Konventen, die Materialien und die Erläuterungen zur Charta – die sog. „travaux préparatoires“ – für die Auslegung der Europäischen Grundrechtecharta und damit auch der Grundsatznormen (sog. historisch-genetische Auslegung) eine Rolle spielen. 1. Über die Bedeutung der „travaux préparatoires“ der Charta Wie bei nahezu allen internationalen Dokumenten1 lässt sich auch bei der Europäischen Grundrechtecharta an der rechtlichen Bedeutung der sog. „travaux préparatoires“ zweifeln.2 Bei der Charta gilt dies eigentlich noch umso mehr, da, sollte sie einmal Verbindlichkeit erlangen, die Auslegungshoheit ausschließlich beim EuGH liegen und deshalb die Relevanz der Vorarbeiten im Lichte des EU-Rechts und weniger anhand des herkömmlichen Völkerrechts zu beurteilen sein wird. Traditionell spielten aber bislang die travaux préparatoires3 in der Rechtsprechung der europäischen Gerichte nur eine 1 Noch nicht endgültig geklärt ist die Frage, wie sich die Auslegung im Europarecht zu der im Völkerrecht verhält. Zum ganzen Buck, Auslegungsmethoden, S. 130 ff. 2 Vgl. Art. 32 WVK, welcher den vorbereitenden Arbeiten oder den Umständen des Vertragsschlusses in der Regel lediglich bestätigende Wirkung zugesteht (sog. „ergänzendes Auslegungsmittel“). Nach Ress, in Bieber/Ress (Hrsg.), Die Auslegung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, S. 49 (51 f.) sind die in der WVK verankerten Auslegungsregeln „weitgehend“ als Völkergewohnheitsrecht anzusehen. Dazu näher Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 11 Rn. 18; Shaw, International Law, S. 841 ff. 3 Allgemein zu den Auslegungsmethoden im Europarecht Anweiler, Auslegungsmethoden; Buck, Auslegungsmethoden; Grundmann, Die Auslegung; Müller/Christensen, Juristische Methodik II – Europarecht.

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Teil 2: Grundlagen

sehr untergeordnete Rolle.4 Argumente, meistens von Mitgliedsstaaten vorgebracht, die sich auf Protokolle, gemeinsame Erklärungen5 oder sonstige Vorarbeiten der Gremien oder Organe der Europäischen Union stützten, welche die jeweilige Norm entwickelt oder erlassen hatten, waren selten erfolgreich.6 Und das aus gutem Grund, liefen doch die Verhandlungen zu den Gesetzesvorhaben im Allgemeinen geheim ab. Zudem wurden die Vorarbeiten nur selten7 publiziert. All dies hat der Union schließlich den Vorwurf eingebracht, sie leide an einem Transparenz-8 und Demokratiedefizit9. Der Zugang zu Dokumenten ist in den letzten Jahren deutlich verbessert geworden. In Art. 255 EGV wurde sogar ein Grundrecht auf Dokumenteneinsicht verankert (vgl. nunmehr auch Art. 42 GRC). Obwohl zwar nach wie vor zahlreiche Verhandlungen oder Treffen, vor allem zwischen Parlament und Rat, hinter verschlossenen Türen stattfinden10, werden jedoch mit Verbindlichwerden der Europäischen Grundrechtecharta aller Voraussicht nach zumindest deren Vorarbeiten in der Rechtsprechung des EuGH eine nicht ganz unerhebliche Bedeutung erlangen. Zum einen hat nämlich gerade die Konventsmethode11 im Vorfeld zu einer Einbindung aller rele4

Vgl. v. Arnim, Standort der EU-Grundrechtecharta, S. 156 ff. m. w. N.; Buck, Auslegungsmethoden, S. 141; Constantinesco, Recht der EG/1, S. 820 f.; Pernice/ Meyer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 220 EGV Rn. 53; Weatherhill/ Beaumont, EU-Law, S. 186 ff.; Zuleeg, EuR 1969, 97 (107). Anders beim Sekundärrecht, zu dessen Auslegung der EuGH häufiger auf die historische Auslegung zurückgreift, vgl. Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 552 ff. und Grundmann, Auslegungsmethoden, S. 257 ff. 5 Speziell zu sog. Gemeinsamen Erklärungen Herdegen, ZHR 1991, 52 (57 ff.) und Booß, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 311 EGV Rn. 5; Kokott, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 311 EGV Rn. 7; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 311 EGV Rn. 3. A. A. Geiger, EUV/EGV, Art. 311 EGV Rn. 4, der den Erklärungen bindende Wirkung für die Auslegung zuschreibt. 6 Ausnahmen waren beispielsweise EuGH, Rs. C-6/60, Slg. 1960, S. 1163 (1194) (Humblet), Rs. C-106/96, Slg. I-1989, 1279 ff. und Rs. C-12/99, Slg. 2001, I-1252 (1266 f.) (Kaur). 7 Bezüglich der Gründungsverträge wurde das Material nach Ablauf einer dreißigjährigen Sperrzeit wissenschaftlich gesichtet und zusammengestellt, vgl. Schulze/ Hoeren (Hrsg.), Dokumente/1. 8 Ausführlich hierzu Craig/de Burca, EU-Law, S. 562 ff. m. w. N. 9 Ausführlich hierzu Calliess, in: Göttinger Online Beiträge zum Europarecht Nr. 14; Craig/de Burca, EU-Law, S. 133 ff. m. w. N.; Haltern, Europarecht, S. 133 ff. 10 Vgl. beispielsweise den auch heute noch gültigen Art. 6 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Rates vom 22. März 2004, in dem es heißt: „Unbeschadet der Artikel 8 und 9 sowie der Bestimmungen über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten unterliegen die Beratungen des Rates der Geheimhaltungspflicht, es sei denn, dass der Rat anders entscheidet.“ 11 Zur Konventsmethode näher v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 99 ff.; Burr, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, B I Rn. 6 ff. m. w. N.; Klinger,

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vanten Interessengruppen und damit zu einer deutlich verbesserten Transparenz geführt. Auch sind nahezu die gesamten „travaux préparatoires“ aus den beiden Konventen12 frei zugänglich.13 Zum anderen bestimmt Art. 52 Abs. 7 GRC14, dass „die [zu den „travaux préparatoires“ zu zählenden] Erläuterungen15, die als Anleitung für die Auslegung der Charta der Grundrechte verfasst wurden, von den Gerichten der Union und der Mitgliedsstaaten gebührend zu berücksichtigen sind“. Zwar weist bereits der Wortlaut16 darauf hin, dass es sich bei Art. 52 Abs. 7 GRC nicht um die Anordnung einer strikten Einhaltung der Erläuterungen handelt,17 jedoch dürfte mit der Vorschrift eine gewisse Begründungslast18 für denjenigen entstanden sein, der von den Erläuterungen abweichen möchte. Diese Begründungslast wird zunehmen, je klarer und detaillierter die Erläuterungen auf eine bestimmte Frage eingehen. Art. 52 Abs. 7 GRC begründet daher zwar eine Berücksichtigungspflicht, aber keine Befolgungspflicht. Der Konvent; Leinen/Schönlau, in: Kaufmann (Hrsg.), Grundrechtecharta, S. 79 (85 ff.) und Vigo, in: Kaufmann (Hrsg.), Grundrechtecharta, S. 91 (99 ff.). 12 Dokumente des Grundrechtekonvents sind unter http://www.europarl.eu/char ter/default_de.htm zu finden, die des Verfassungskonvents unter http://europeanconvention.eu.int/bienvenue.asp?lang=DE und schließlich die der Regierungskonferenz unter http://europa.eu.int/scadplus/cig2004/negociations1_de.htm (jeweils zuletzt aufgerufen am 1. September 2008). 13 Vgl. hierzu Meyer/Engels, in: BT, Die Charta der Grundrechte, S. 7 (11 f.). 14 Ein ähnlicher Wortlaut findet sich bereits im 5ten Absatz der Präambel, welchem neben Art. 52 Abs. 7 GRC aber keine eigenständige Bedeutung zukommt. Zum ganzen Turpin, RTDEur 2003, 615 (632); Wendel, Auslegung der Verfassung, WHI – Paper 04/05, S. 17. Die Erläuterungen zur Charta in der Fassung des Herzog-Konvents sollten dagegen keine Rechtwirkungen entfalten, vgl. CHARTE 4473/00 CONVENT 49. 15 Abgedruckt in ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007. 16 Auch die Einleitung zu den Erläuterungen spricht lediglich von einem „nützlichen Interpretationswerkzeug“, dem kein rechtlicher Status zukomme. Ausführlich Wendel, Auslegung der Verfassung, WHI – Paper 04/05, S. 12 ff. Ähnlich die Wertung im Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II – CONV 354/02 S. 10. Deutlich gegen eine Rechtsverbindlichkeit der Erläuterungen Stellung bezogen wurde in der 17. Sitzung des Charta-Konvents, vgl. die Protokolle vom 25./26. September 2000, abgeruckt bei Bernsdorf/Borowsky, Sitzungsprotokolle, S. 377 ff. 17 Für scheinbar verbindlich erachten die Erläuterungen dagegen v. Arnim, Standort der EU-Grundrechtecharta, S. 161; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Präambel Grundrechtecharta, Rn. 18 und Obwexer, Europa-Blätter 2004, 172 ff. Wie hier Dorf, JZ 2005, 126 (130); Jarass, EU-Grundrechte, § 2 Rn. 29; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 29 f. 18 So auch Borowsky, in Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 47b. Ähnlich wohl, aber kompliziert beschrieben, Wendel, Auslegung der Verfassung, WHI – Paper 04/05, S. 20 f. („Einbeziehungsklausel mit Verdeutlichungsfunktion“).

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Der EuGH wird folglich nicht umhin kommen, neben den herkömmlichen Methoden auch die durch das Präsidium des Verfassungskonvents19 formulierten Erläuterungen zur Auslegung der Charta heranzuziehen. Der Einfluss dieser Erläuterungen wird sich letztlich aber in Grenzen halten. Erstens sind die Erläuterungen meistens sehr knapp gehalten, sodass sie nur auf die wenigsten Fragen adäquate Antworten bieten werden. Zweitens muss man beachten, dass auch nach Ratifizierung der Grundlagenverträge der „dynamisch-evolutive Charakter“20 des Gemeinschaftsrechts erhalten bleiben muss, sodass eine zu unflexible, auf den historischen Willen gestützte Auslegung strukturell dem europäischen Integrationsgedanken nicht gerecht werden würde; dessen Fortentwicklung wäre gleichsam „eingefroren“21. Daran anknüpfend würde drittens und letztens eine zu starre Befolgung der Erläuterungen in einen unauflöslichen Widerspruch zu Art. 52 Abs. 3 GRC22 treten. Dieser bestimmt, dass die mit der EMRK kongruenten Charta-Grundrechte „die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird“. Bei Art. 52 Abs. 3 GRC handelt es sich daher um eine „dynamische Verweisungsklausel“23 auf die EMRK, insbesondere auf die Rechtsprechung des EGMR, an dessen Auslegung der besagten Grundrechte24 man sich künftig zu orientieren haben wird.25 Da aber auch der EGMR eine dynamisch-teleologische Auslegung favorisiert26, wäre Abs. 3 des Art. 52 GRC nach nur kurzer Zeit mit 19 Die Erläuterungen zur Grundrechtecharta wurden bereits im Charta-Konvent formuliert (vgl. CHARTE 4471/00 COR 1 CONVENT 48 und CHARTE 4473/00 CONVENT 49), jedoch waren sie dort von nur untergeordneter Bedeutung. Erst im Rahmen des Verfassungskonvents (vgl. CONV 828/1/03 REV 1) fanden sie nach einer Überarbeitung durch den damaligen Kommissar für Justiz und Inneres Vitorino (vgl. Arbeitspapier 27 der Arbeitsgruppe II) eine nicht zu unterschätzende Aufwertung, die sich vor allem in der Aufnahme des Art. II-112 Abs. 7 EVV und in der Änderung des 5ten Absatzes der Präambel widerspiegelt. Vgl. zur Entstehungsgeschichte Barriga, Entstehung, S. 65 ff.; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 47 ff.; Knecht, ZEuS 2005, 355 (374 ff., 387 f.); Turpin, RTDEur 2003, 615 (632); Wendel, Auslegung der Verfassung, WHI – Paper 04/05, S. 13 ff. 20 Vgl. dazu Buck, Auslegungsmethoden, S. 141; Wendel, Auslegung der Verfassung, WHI – Paper 04/05, S. 18. 21 Wendel, Auslegung der Verfassung, WHI – Paper 04/05, S. 19. 22 Mit Vorbehalten ließe sich auch Art. 52 Abs. 4 GRC heranziehen. 23 So Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 37. 24 In den Erläuterungen zu Art. 52 Abs. 3 GRC sind diejenigen Bestimmungen der Charta aufgelistet, die mit denen aus der EMRK übereinstimmen. Vgl. ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 33 f. 25 Vgl. die Erläuterungen zu Art. 52 Abs. 3 GRC, ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 33 f. 26 EGMR v. 23. März 1995 (Loizidou v. Türkei I), Nr. 40/1993/435/514 = Serie A Nr. 310. Vgl. nur Peters, EMRK, S. 18 ff. m. w. N.; Grabenwarter, EMRK, § 5 Rn. 13.

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Abs. 7 unvereinbar, müsste die Europäische Grundrechtecharta zwingend unter Bezugnahme der Erläuterungen mit dem dort aufgeführten Rechtsprechungsstand interpretiert werden. Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass der EuGH bei Auslegungsfragen bezüglich der Charta künftig die Erläuterungen zwar zu Hilfe nehmen, sich sicherlich aber nicht immer an deren genauen Wortlaut gebunden fühlen wird. Im Umkehrschluss zu Art. 52 Abs. 7 GRC kann darüber hinaus gefolgert werden, dass den übrigen Vorarbeiten zu den beiden Konventen wie Protokollen, Berichten oder Beiträgen nur eine äußerst untergeordnete Rolle bei der Interpretation der Charta zukommen wird, zumal die Erläuterungen die wesentlichen Ergebnisse der beiden Konvente ohnehin wiedergibt. Trotzdem sollen im Folgenden die Geschehnisse in den beiden Konventen27 hinsichtlich der Thematik „soziale Grundrechte“28 kurz geschildert werden, um zu zeigen, wie die Kategorie der sog. Grundsätze entstanden und vor allem warum sie in die Charta eingeführt worden ist. Dies kann möglicherweise wichtige Argumente für einen teleologischen Ansatz zu dieser Normgruppe liefern. 2. Die Behandlung der Grundsätze in den beiden Konventen a) Der Charta-Konvent Ausgangspunkt der sog. Grundsätze im Sinne des heutigen Art. 52 Abs. 5 GRC war ein Vorschlag des Präsidiums des Charta-Konvents vom 16. Mai 2000.29 In einem eigenständigen Art. 31 der Grundrechtecharta wollte man eine allgemeine Bestimmung zu den sozialen Rechten verankern, welche folgenden Wortlaut haben sollte: „Die Organe und Einrichtungen der Union und die Mitgliedsstaaten, wenn sie im Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts tätig werden, sowie die auf Gemeinschaftsebene und im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten handelnden Sozialpartner achten die Rechte und bringen die Grundsätze30 zur Anwendung, die in dieser Charta für den Sozialbereich aufgeführt sind.“ 27 Ausführlich zu den Arbeiten im Charta-Konvent Barriga, Entstehung; Bernsdorff/Borowsky, Sitzungsprotokolle; Kaufmann (Hrsg.), Grundrechtecharta; Knecht, Charta der Grundrechte, S. 69 ff. 28 Zum Begriff siehe unten Teil 2, III. 3. 29 Vgl. CHARTE 4316/00 CONVENT 34. In CHARTE 4383/00 CONVENT 41 wurde später vorgeschlagen, diesen Art. 31 als Abs. 2 in den Artikel über den Anwendungsbereich der Charta (damals Art. 46 der Charta) einzufügen. Dazu BenoîtRohmer, Le Dalloz 2001, 1483 (1485); Jacqué, RUDH 2000, 3 (5). 30 Hervorhebung durch den Verfasser.

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In der elften Sitzung des Charta-Konvents am 5./6. Juni 200031 wurde dieser Vorschlag des Präsidiums im Rahmen einer allgemeinen Aussprache ausführlich diskutiert.32 Bei der genauen Formulierung einzelner Gewährleistungen kam es im Laufe des Konvents immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Beteiligten. Die Verankerung sozialer Grundrechte33 im Chartatext gestaltete sich als äußerst schwierig. Dies bestätigen übereinstimmend verschiedene Konventsmitglieder ebenso wie externe Beobachter. Roman Herzog beispielsweise sprach von einem „verminten Gebiet“34, die französische Vertreterin Dutheil de la Rochère bezeichnete die Debatten als „bataille dure“35. Braibant, Stellvertreter Herzogs und persönlicher Beauftragter des französischen Präsidenten,36 weist darauf hin, dass die „affrontements sur les droits sociaux“37 die Arbeit des Konvents beherrscht hätten. Neben dieser inhaltlichen Kontroverse fällt auf – dies wurde bereits erwähnt und darauf wird auch nochmals zurückzukommen sein38 –, dass sich die Konventsmitglieder bei ihrer Argumentation fast ausschließlich39 auf ihr jeweils eigenes nationales Verfassungsrecht gestützt haben. Viele Probleme der Charta müssen unter diesen Blickwinkel der unterschiedlichen Verfassungstraditionen der Konventsmitglieder gesehen werden.40 In Bezug auf die Verankerung sozialer Rechte wurden im ChartaKonvent im Wesentlichen drei verschiedene Ansichten vertreten:41 Auf der einen Seite standen vor allem die Vertreter Großbritanniens42, angeführt durch Lord Goldsmith, die, nicht selten unterstützt durch ihren 31 Nachzulesen bei Borowsky/Bernsdorff, Sitzungsprotokolle, S. 250–259. Interessant auch die Darstellung von van den Burg, in: Kaufmann (Hrsg.), Grundrechtecharta, S. 35 ff. Vgl. auch die Darstellung bei Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 49 ff. 32 Eine Fortsetzung der Diskussion erfolgte im Rahmen der 13. Sitzung des Charta-Konvents vom 28.–30. Juni 2000, nachzulesen bei Borowsky/Bernsdorff, Sitzungsprotokolle, S. 294–299. 33 Zu diesem Begriff näher Teil 2, III. 34 Herzog, Bitburger Gespräche 2001, 7 (9). 35 Dutheil de la Rochère, Revue du Marché commun et de l’Union européenne 2000, 674 (676). 36 Vgl. Borowsky/Bernsdorff, Sitzungsprotokolle, S. 47. 37 Braibant, CHARTE 4959/00, S. 15. 38 Siehe oben Teil 1, II. 2. und unten Teil 5, II. 1. 39 Sicherlich haben auch parteipolitische Aspekte eine gewisse Rolle gespielt, vgl. Borowsky/Bernsdorff, Sitzungsprotokolle, S. 49. 40 Instruktiv zum Ganzen Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 15 ff., 49 ff. 41 Näher Bernsdorff, VSSR 2001, 1 (2 ff.); Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 15 f., 43 ff.; Orth, Grundrecht auf Umweltschutz, S. 86 ff.; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Vor Kap. IV Rn. 4 ff. 42 Einen interessanten Einblick in die Beweggründe der Briten gewährt Duff, in: Kaufmann (Hrsg.), Grundrechtecharta, S. 51 ff. Ausführlich zum Ganzen Hupka, Konventsentwurf.

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deutschen Kollegen Friedrich43, eine „Minimallösung“ zu den sozialen Grundrechten befürworteten. Nach deren Auffassung sollte eine künftige Grundrechtecharta in strikter Beachtung des Mandates von Köln44 lediglich die wenigen, schon bestehenden sozialen Rechte widerspiegeln. Progressive Gewährleistungen sollten keine Aufnahme in die Charta finden, und wenn, dann nur in Form von reinen, nicht bindenden Zielbestimmungen.45 Zum einen befürchtete man nämlich, dass es durch die Ausweitung der Sozial- und Umweltstandards zu massiven finanziellen Belastungen der nationalen Haushalte kommen würde, welche von den Mitgliedstaaten kaum mehr gestemmt werden könnten. Außerdem, so wurde argumentiert, würde den europäischen Staaten durch die Einführung solch neuer Standards der Verlust ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit drohen.46 Zum anderen sah man aber auch die nationale Souveränität der Gefahr einer weiteren, schleichenden Kompetenzübertragung auf Europa ausgesetzt. Zu einer solchen Kompetenzübertragung gleichsam „durch die Hintertür“47 könnte es – wie schon so oft geschehen48 – vor allem durch einen „judicial activism“49 seitens des EuGH zu der in Art. 31 des Präsidiumsentwurfs aufgeführten, noch völlig ungeklärten Normkategorie der sog. „Grundsätze“ kommen. Generell versuchten die britischen Vertreter die Aufnahme allzu sozialistischer Ideen in die Europäische Grundrechtecharta zu verhindern.50 43

Vgl. Mommbaur/Friedrich, CHARTE 4372/00, S. 364. Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates zu Köln v. 3./4. Juni 1999, Bulletin EU 6 – 1999 I.18., Punkte 44, 45. 45 Durch den während des Europäischen Rates in Brüssel vom 21./22. Juni 2007 ausgehandelten „Kompromiss“ erreichten die Briten nunmehr die völlige Nichtgeltung der Europäischen Grundrechtecharta zu ihren Lasten, vgl. die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Brüssel Doc. 11177/07 S. 17. Vgl. hierzu auch Teil 4 III. 2. 46 Auf die Minderung der Wettbewerbsfähigkeit stellt ausdrücklich auch die schwedische Europaabgeordnete Cederschiöld ab, nachzulesen bei Borowsky/Bernsdorff, Sitzungsprotokolle, S. 297. 47 So auch die Befürchtung der Deutschen Länder, vorgetragen von Gnauck, nachzulesen bei Borowsky/Bernsdorff, Sitzungsprotokolle, S. 256. Dazu näher Knöll, NJW 2000, 1845 ff. 48 Begonnen hat diese sog. „effet utile“-Rechtsprechung des EuGH mit den Entscheidungen in der Rs. C-26/62, Slg. 1963, 1 ff. (Van Gend & Loos) und Rs. C-6/64, Slg. 1964, 1251 ff. (Costa/ENEL). 49 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 30a. Vgl. auch Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 13. Intressant in diesem Zusammenhang der Beitrag von Herzog/Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ v. 8. September 2008, S. 8. 50 Vgl. dazu Duff, in: Kaufmann (Hrsg.), Grundrechtecharta, S. 51 (54) und Bères, in: Kaufmann (Hrsg.), Grundrechtecharta, S. 17 (19 ff.). 44

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Eine dieser minimalistischen Auffassung der Briten genau entgegengesetzte Ansicht vertraten dagegen die Franzosen. Vor allem Braibant setzte sich vehement für eine „Maximallösung“ ein.51 Die Grundrechtecharta müsse, um die Erwartungen der Bürger Europas52 zu erfüllen, einen „Mehrwert“ an sozialen Rechten im Verhältnis zu den bisher vorliegenden europäischen Rechtstexten aufweisen. Die Charta dürfe kein Rückschritt bedeuten. Vor allem müssten nationale Sozialstandards vor Eingriffen seitens der Europäischen Union geschützt werden.53 Dabei orientierten sich die französischen Konventsmitglieder immer wieder an der eigenen französischen Verfassung, in der sowohl ein Recht auf Arbeit als auch ein Recht auf eine angemessene Wohnung verankert sei.54 Die Angst der Deutschen55 und der Briten, dass es sich bei diesen Garantien um einklagbare Leistungsrechte handelte, war für die Franzosen – darauf wird noch näher einzugehen sein56 – aufgrund deren Verständnis von der Wirkungsweise sozialer Grundrechte nicht nachvollziehbar. Braibant stellte mehrfach klar, dass das Recht auf einen Arbeitsplatz keinesfalls dahingehend zu verstehen sei, dass man einen Arbeitsplatz einklagen könne. Auch das Recht auf eine angemessene Wohnung entfalte keine individuell einklagbare leistungsrechtliche Dimension57. Bei sozialen Gewährleistungen handle es sich vielmehr um Rechte, „qui ne sont en réalité que des principes qu’il s’agit de mettre en œuvre“, um Rechte also, die nichts anderes als Prinzipien oder Grundsätze seien, welche der Umsetzung bedürfen.58 Diese Prinzipien könnten aber sehr wohl staatlichen Maßnahmen entgegengehalten werden, die diesen widersprächen („action qui irait à son encontre“59). Zudem stellte Braibant klar – ihm folgend das spanische Konventsmitglied Bereijo, der Vertreter Portugals Moura und der niederländische Europaparlamentariar van den Burg –, dass 51 Vgl. Bernsdorff, VSSR 2001, 1 (2); Braibant, RUDH 2000, 1 (68); Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 53 f. 52 Nach Ansicht der deutschen Europaabgeordneten Kaufmann seien soziale Grundrechte in der Charta unverzichtbar, quasi „Lackmustest der Akzeptanz“. Nachzulesen bei Borowsky/Bernsdorff, Sitzungsprotokolle, S. 259. Hinsichtlich der eine europäische Identität stiftendenden Wirkung der Grundrechtecharta, vgl. Vigo, in: Kaufmann (Hrsg.), Grundrechtecharta, 91 (96 ff.). 53 Vgl. dazu Barriga, Entstehung, S. 154. 54 Vgl. Braibant, CHARTE 4322/00, S. 5; ders., RUDH 2000, 1 (48, 67 f.). 55 Vgl. Gnauck, CHARTE 4310/00, S. 4 f.; ders., CHARTE 4430/00, S. 3 f. 56 Siehe unten Teil 2, IV. 2. b) cc). 57 Die Termini „Dimension“, „Funktion“ und „Gehalt“ werden im Folgenden synonym verwendet, um die möglichen Rechtsfolgen von Grundrechten und Grundsätzen zu beschreiben. 58 Braibant, CHARTE 4322/00 S. 5; ders., CHARTE 4280/00, S. 2; ders., Regards sur l’Actualité Nº 264, août 2000, S. 13. Vgl. sehr ausführlich dazu Geesmann, Soziale Rechte, S. 53 ff. 59 Braibant, CHARTE 4322/00, S. 3.

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die sozialen Rechte keine mindere Rechtsqualität aufweisen dürften als die übrigen Freiheits- und Gleichheitsrechte und deshalb auch justiziabel60 sein müssten. Alles andere wäre mit der Universalität der Menschenrechte nicht vereinbar.61 Die Mehrheit der Konventsmitglieder vertrat demgegenüber eine in der jeweils einen oder andern Nuance voneinander abweichende vermittelnde Ansicht. Erst mit dieser Kompromisslösung war es möglich, bei dem hart umkämpften Thema der sozialen Grundrechte überhaupt zu einem Ergebnis zu gelangen,62 welches den unterschiedlichen Verfassungstraditionen auf diesem Gebiet wenigsten einigermaßen gerecht wurde.63 Ausgangspunkt dieses Kompromisses war die Auffassung, und diese wurde im Großen und Ganzen von allen Mitgliedern des Konvents geteilt, dass das Mandat von Köln64 verbindlich sei. Darauf aufbauend schlussfolgerte die Mehrheit im Konvent, dass zwar einerseits – wie von Braibant und anderen gefordert – die Charta einen „Mehrwert“ haben müsse; wesentliche soziale Grundrechte seien deshalb als zwingende Normen aufzunehmen. Andererseits aber, so stimmte man überein, wäre es unredlich, wenn die Charta in ausufernder Weise Gewährleistungen enthielte, die vor allem aus finanziellen und wettbewerbsrelevanten Gründen später nicht eingehalten werden könnten.65 Herzog wies zudem darauf hin, dass die Meinungsverschiedenheiten häufig nur auf einem falschen Verständnis der Verfassungstradition der anderen Seite basierten. Die Franzosen beispielsweise könnten deshalb um jeden 60 Der Vorsitzende Herzog wies ausdrücklich darauf hin, dass der Terminus „Justiziabilität“ von den Mitgliedern des Konvents nicht einheitlich gebraucht wird, nachzulesen bei Borowsky/Bernsdorff, Sitzungsprotokolle, S. 255. 61 Zur Kritik der Relativierung sozialer Grundrechte vgl. Ashiagbor, EHRLR 2004, 62 ff.; Berramdane, rev.-dr. UE 2003, 613; de Bfflrca, in: de Witte (Hrsg.), Ten Reflections, S. 11 (22 f.). Dagegen Lord Goldsmith, CMLRev. 2001, 1201 (1212). 62 Die Frage um die sozialen Grundrechte war „Scheidepunkt“ des gesamten Konvents, so ausdrücklich auch das italienische Konventsmitglied Rodotà, nachzulesen bei Borowsky/Bernsdorff, Sitzungsprotokolle, S. 257. Näher Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 10–13, 33–34; Benoît-Rohmer, Le Dalloz 2001, 1483 (1485); Jacqué, RUDH 2000, 3 (5); Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 7 f.; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Vor Kap. IV Rn. 1, 4. 63 Den Ausgleich zwischen den verschiedenen Verfassungstraditionen auf dem Gebiet der sozialen Grundrechte als Argument für den gefundenen Kompromiss nennt auch Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 7 f. Vgl. dazu auch CHARTE 4133/00. 64 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates zu Köln vom 3./4. Juni 1999, Bulletin EU 6 – 1999 I.18., Punkte 44, 45. 65 Vgl. hierzu auch Magiera, DÖV 2000, 1017 (1024); Tettinger, NJW 2001, 1010 (1014).

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Preis soziale Grundrechte fordern, weil sie keine66 Verfassungsgerichtsbarkeit besäßen, die „das dann praktizieren“ müsse.67 In der Sache selbst sei man – dies zeigen auch die obigen Ausführungen Braibants – gar nicht so weit entfernt. Obgleich hinsichtlich der Frage der Verbindlichkeit sozialer Grundrechte im Konvent am Ende also noch eine Einigung erzielt werden konnte68, blieben die konkreten Rechtsfolgen sozialer Gewährleistungen – also ob subjektives, justiziables Recht oder bloße objektive Umsetzungspflicht – im Einzelnen umstritten. Eine Bestimmung wie die des vom Konventspräsidium vorgeschlagenen Art. 31, der eine Unterscheidung zwischen den klassischen Grundrechten auf der einen und den sozialen Grundrechten auf der anderen Seite ausschließlich für das Kapitel über den Sozialbereich treffen sollte, war aufgrund des heftigen politischen Widerstands nicht haltbar. Da man zudem der Gefahr eines schleichenden Kompetenztransfers auf Europa durch Einfügung einer „Kompetenzsicherungsklausel“69 in den damaligen Art. 51 Abs. 2 der Charta70 begegnete, brachte Art. 31 keinen zusätzlichen Nutzen und man einigte sich auf dessen Streichung. Als Relikt dieses Art. 31 blieb in Absatz fünf der Präambel und in Art. 51 Abs. 1 der Charta, heute Art. 51 Abs. 1 GRC, die bloße Erwähnung der Kategorie „Grundsätze“ neben den „Rechten“ übrig. Nach Abschluss des Charta-Konvents war damit weiterhin unklar, ob diese sog. Grundsätze im Ergebnis nun doch „andere“71 („weniger einschneidende“) Rechtswirkungen haben (sollen) als die herkömmlichen Freiheits- und Gleichheitsrechte. Zudem war im Konvent offengelassen worden, welche Chartanormen Rechte und welche Grundsätze sind.72 66

Ausführlich hierzu unten Teil 2, IV. 2. b) cc). Vgl. auch Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 159 f. 67 Vgl. Herzog, Bitburger Gespräche, S. 7 (9). 68 Auch wenn die Briten einer verbindlichen Grundrechtecharta auch in der Folgezeit äußerst kritisch gegenüberstanden. Diese Haltung führte schließlich während des Europäischen Rates von Brüssel vom 21./22. Juni 2007 zur Vereinbarung der Nichtgeltung der Charta zu Lasten Großbritanniens. Siehe hierzu unten Teil 4, III. 2. 69 Vgl. die Erstfassung dieser Klausel CHARTE 4123/1/00 Rev 1 Convent 5. Dazu Barriga, Entstehung, S. 155. 70 Heute Art. 51 Abs. 2 GRC. 71 Angelehnt an die etwas verwirrende Aussage des spanischen Konventsmitglieds Rodriguez Bereijo, „eine Unterscheidung in ‚harte‘ und ‚weiche‘ soziale Rechte dürfe es nicht geben. Es könne lediglich Rechte geben, die ‚anders wirkten‘,“ nachzulesen bei Borowsky/Bernsdorff, Sitzungsprotokolle, S. 254. 72 Obwohl der Konventsvorsitzende Herzog es als äußerst wichtig ansah, die genaue Einordnung der jeweiligen Chartabestimmung im Text kenntlich zu machen. Nachzulesen bei Borowsky/Bernsdorff, Sitzungsprotokolle, S. 253, 259.

I. Die Entwicklung der Grundsatznormen in den Konventen

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b) Der Verfassungskonvent Diese beiden73 Fragen sollten zwei Jahre später nochmals die Arbeitsgruppe II des Verfassungskonvents beschäftigen.74 Ausgangspunkt war, dass in der Folgezeit des Charta-Konvents vor allem Juristen, die dem linken Spektrum zuzurechnen sind, die Bedeutung einer Unterscheidung zwischen Grundrechten und Grundsätzen negierten75 oder so doch zumindest nivellierten. Demgegenüber hatten die (überwiegend britischen) Charta-Skeptiker, ermutigt durch eine kritische Stellungnahme des Rechtsberaters des Rates der EU Jean-Claude Piris,76 großes Interesse daran, an der im Charta-Konvent getroffenen Unterscheidung zwischen Grundrechten und Grundsätzen festzuhalten. Darüber hinaus wollten sie aber auch die Rechtsunsicherheit, die aus einer fehlenden ausdrücklichen Zuordnung der ChartaArtikel zu einer der beiden Kategorien und einer ungenügenden Normierung ihrer Rechtsfolgen herrührte, durch eine klarstellende Bestimmung beseitigt wissen. Besonders die britische Regierungsvertreterin Baroness Scotland of Asthal wies immer wieder auf die Probleme hin, die durch die lückenhafte Regelung des damals noch einzig77 die Grundsätze erwähnenden Art. 51 Abs. 1 GRC entstehen könnten:78 „The problem is essentially one of ambiguity and the absence of legal certainty. And the more status the Charter is given, the more important it is to be clear about what such provisions actually mean. We should not open Europe to the accusation that it is misleading its citizens.“79 Ohne eine rechtliche Klarstellung dieser sog. Grundsätze sei eine Einigung über die Einfügung der Charta in die Verträge mit den Briten nicht zu erzielen.80 73 Mehr als nur zwei verbleibende Fragen erkennend und insgesamt die Ergebnisse des Charta-Konvents kritisierend Baroness Scotland of Asthal in den Arbeitspapieren 4 und 16 der Arbeitsgruppe II. 74 Vgl. zur Einsetzung eines Verfassungskonvents die Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates in Laeken vom 14./15. Dezember 2001, Bulletin EU 12 – 2001, Anlage, I.27. Der Europäische Konvent arbeitete zwischen dem 28. Februar 2002 und dem 20. Juli 2003. Näheres zum Ablauf bei Große Hüttmann, in: Beckmann/Dieringer/Hufeld (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, S. 207 ff.; Pietsch, Schrankenregime, S. 29 ff. Vgl. zum Arbeitsauftrag für die Arbeitsgruppe II (Charta) CONV 72/02 S. 1 ff. 75 Vgl. Dutheil de la Rochère, Revue du Marché commun et de l’Union européenne 2000, 674 (677). Vgl. auch Bernsdorff, VSSR 2001, 1 (17 f.); Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 9. 76 Vgl. Arbeitspapier 13 der Arbeitsgruppe II, S. 22 ff. 77 Neben Absatz fünf der Charta-Präambel. 78 Vgl. die Arbeitspapiere 4 und 16 der Arbeitsgruppe II. Sowie Turpin, RTDEur 2003, 615 (624 ff.). 79 Arbeitspapier 16 der Arbeitsgruppe II, S. 2. 80 Vgl. Arbeitspapier 4 und 16 der Arbeitsgruppe II.

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Teil 2: Grundlagen

Als Lösung schlug die britische Regierungsvertreterin vor, die Grundsätze lediglich als eine Art Richtschnur für die Gesetzgebung anzusehen.81 Außerdem sollten alle Charta-Artikel, die keine Entsprechung im EG-Vertrag oder der Europäischen Menschrechtskonvention haben und auch keine allgemeinen Rechtsgrundsätze darstellen, als Grundsätze eingestuft82 und als solche im Text auch gekennzeichnet werden.83 Diese sehr weitgehenden Vorstellungen, nahezu kongruent mit den Forderungen, die von den Briten bereits im Charta-Konvent geäußert worden waren, konnten sich politisch jedoch nicht durchsetzen. Vor allem der Vorsitzende der Arbeitsgruppe II Vitorino bestand – unter Beachtung des bereits gefundenen Kompromisses im Charta-Konvent84 – erfolgreich darauf, dass die Grundsätze auch als Maßstab bei einer Rechtmäßigkeitskontrolle heranzuziehen sind.85 Daran war insbesondere auch den skandinavischen Ländern gelegen. Mit der Kodifizierung der Grundsatznormen sollte verhindert werden, dass die Union unter dem Deckmantel binnenmarktsfördernder Maßnahmen die Herunterharmonisierung nationaler Standards betreibt und damit die sozialen Errungenschaften dieser Länder aushöhlt.86 Letztlich einigte man sich auf die Aufnahme einer rein klarstellenden87 Bestimmung in Absatz 5 des Art. 52 GRC. Auf eine explizite Zuordnung der Charta-Normen zu den beiden Kategorien konnte man sich dagegen nicht verständigen; diese wurde deshalb (überwiegend88) der Rechtsprechung89 überlassen.

II. Methode Bislang wurde dargelegt, mit welchen Problemen sich die vorliegende Arbeit beschäftigen will.90 Nun soll versucht werden, die aufgeworfenen 81

Vgl. Arbeitspapier 16 der Arbeitsgruppe II, S. 4. Vgl. Arbeitspapier 16 der Arbeitsgruppe II, S. 4. Vgl. dazu auch Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 10. 83 Vgl. Arbeitspapier 16 der Arbeitsgruppe II, S. 5. 84 Dass die Grundsätze selbst auch zwingende Bestimmungen darstellen, siehe unten Teil 3, II. 4. Vgl. auch den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II CON 354/02, S. 8. 85 Vgl. Arbeitspapier 23 der Arbeitsgruppe II, S. 4 f. 86 Vgl. hierzu Braibant, in: BM für Arbeit und Sozialordnung, Soziale Grundrechte, S. 259 (261). 87 So der Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II CON 354/02, S. 8. Vgl. auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45; Brecht, ZEuS 2005, 355 (369). 88 Ausdrücklich ordnen die Erläuterungen nur die Art. 25, 26, 37 GRC als Grundsätze ein, vgl. ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007, S. 35. 89 Vgl. den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II CONV 354/02, S. 8. 90 Siehe oben Teil 1, II. 2. 82

II. Methode

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Fragen anhand der juristischen Methodenlehre91 – verstanden als „systematisch reflektierende Gesamtkonzeption juristischer Arbeitsweisen“92 – auch zu beantworten. Ziel dieser Dissertation ist es, die Grundsatznormen der Europäischen Grundrechtecharta in das bestehende normative System unter möglichst weitgehender Beachtung der bislang entwickelten Rechtsdogmatik einzuordnen. Unter Rechtsdogmatik93 versteht man dabei die begrifflichsystematische Analyse94 des bestehenden Rechts zur Schaffung eines widerspruchfreien und kohärenten Gefüges von Grundsätzen, Regeln und Begriffen mit möglichst weitreichender Erklärungskraft.95 Zu Beginn einer rechtsdogmatischen Abhandlung über ein europarechtliches Thema sollte man sich zunächst darüber klar werden, welches (grundrechts-)dogmatische und methodologische Konzept der nachfolgenden Argumentation zugrunde zulegen ist. Etwa die deutsche Grundrechtsdogmatik?96 Oder vielleicht eine Theorie der Grundrechte, gewonnen aus einer rechtsvergleichenden Zusammenschau der verschiedenen Grundrechtskonzeptionen in den 27 Mitgliedsstaaten? Oder doch97 ein eigenständiger europäischer Entwurf der Grundrechte?98 91

Vgl. dazu statt vieler Larenz/Canaris, Methodenlehre in der Rechtswissenschaft; Müller/Christensen, Juristische Methodik II – Europarecht; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen. 92 So Müller/Christensen, Juristische Methodik I – Grundlagen, Öffentliches Recht, S. 33, 470 ff. 93 Ausführlich zum Begriff der Rechtsdogmatik Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 22 ff. m. w. N. in Fn. 5. 94 Angelehnt an Kühling, in: Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (597); Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 782; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 309. Nach Alexy erfasse diese Definition den Begriff der Rechtsdogmatik nur unvollständig. Neben einer analytischen Komponente gäbe es auch noch eine empirische und eine normative zu beachten, vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 22 ff. Für die folgende Untersuchung reicht die hier verwendete Definition jedoch aus. 95 Angelehnt an Haltern, Europarecht, S. 7 f. und Brohm, VVDStRL 30, 1972, S. 245 f. Der Definitionsversuch zeigt, dass der Verfasser im Gegensatz beispielsweise zu Luhmann eine eher positive Einstellung zur Dogmatik vertritt, vgl. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 15 ff. 96 Vgl. zur deutschen Grundrechtsdogmatik statt vieler Isensee/Kirchhof, HbStR V; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Vorb. Vor Art. 1 Rn. 1 ff.; Stern, Staatsrecht III/1, §§ 63 ff. Vertiefend Alexy, Theorie der Grundrechte; Böckenförde, NJW 1974, 1529 ff.; ders., Zur Lage der Grundrechtsdogmatik. 97 Die Antwort auf diese Frage scheint für den unberührten Leser festzustehen. Jedoch hätte die weit überwiegende Anzahl der Mitglieder der beiden Konvente – wie gerade ausführlich geschildert – wohl eine falsche Antwort gegeben, stützten sich die meisten Delegierten bei ihrer Argumentation doch fast ausschließlich auf das jeweils eigene nationale Verfassungsrecht. 98 Vgl. zur europäischen Grundrechtsdogmatik statt vieler Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14; Kingreen, in: Calliess/

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Teil 2: Grundlagen

Die deutsche Grundrechtslehre hat seit Beginn des 20sten Jahrhunderts99 eine präzise und umfangreiche Ausarbeitung erfahren100 und ist so zum Vorbild101 vieler europäischer Verfassungsordnungen geworden.102 Im Gegensatz dazu gibt es aber in Europa auch Länder, die eine (ganz) andere Vorstellung von Grundrechten und Grundrechtskonzepten haben.103 So ist beispielsweise die britische Grundrechtsdogmatik – sofern man von einer solchen überhaupt sprechen kann104 – von der deutschen völlig verschieden. Im Vereinigten Königreich gilt vorrangig der Grundsatz der sog. „Parliamentary Sovereignty“105, wonach „The Queen in Parliament“ berechtigt ist, „to make or unmake any law whatsoever on any[106] matter; and further, that no person or body is recognised by the law of England as having a right to override or set aside the legislation of Parliament.“107 Zwar haben sich selbst in Großbritannien im Laufe der Zeit sowohl durch Einzelgesetzgebung108 als auch Ruffert (Hrsg.), EGV/EUV, Art. 51 GRC Rn. 19; Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 4. Vertiefend Bleckmann, Theorie der Grundrechte; Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte in der EU; Kühling, in: Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 ff. 99 Vgl. zur Entwicklung der Grundrechtstheorie in der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts Grimm, in: Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte, S. 234 ff. 100 Hervorzuheben ist zu Beginn vor allem das Werk von Jellinek, Subjektive öffentliche Rechte. Bereits 1905 verweist Jellinek auf Arbeiten zu diesem Thema aus dem Jahre 1852. Damit gibt es in Deutschland eine zumindest 150jährige Tradition der Grundrechtsdogmatik. 101 Hoffmann-Riem gibt in EuGRZ 2002, 473 ff. (482) aber auch zu bedenken, dass selbst die deutsche Grundrechtsordnung immer noch von anderen Ordnungen lernen könne. 102 Ähnlich Stern, Staatsrecht III/1, § 62 I 4 S. 224. 103 So Cirkel, Gemeinschaftsgrundrechte, S. 23 m. w. N.; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 171. Vgl. auch Dauses, JöR 1982, S. 1 (2) m. w. N. Ausführlich zu ausgewählten Grundrechtskonzeptionen in Europa unten Teil 2, IV. 104 Neben den wenig schriftlich niedergelegten Gewährleistungen stützt sich der Grundrechtsschutz in Großbritannien im Wesentlichen auf einfache Grundsätze wie beispielweise den, dass alles erlaubt sei, was nicht verboten ist. Vgl. Alder, Constitutional Law, S. 423; Stern, Staatsrecht III/1, § 62 I 4 S. 223. 105 In neuerer Zeit bestätigt durch Lord Reid in der Entscheidung Madzimbamuto v Lardner-Burke [1969] 1 AC 645. Vgl. Alder, Constitutional Law, S. 171 ff. 106 Im Jahre 1648 soll laut einer Anekdote Henry Herbert, der 2te Earl of Pembroke, als Mitglied des House of Lords bezüglich der „Parliamentary Supremacy“ gesagt haben: „Parliament can do anything but make a man a woman and a woman a man.“ 107 So Dicey in seiner berühmten, im Jahre 1885 erstmals veröffentlichen Schrift „An Introduction to the Study of the Law of the Constitution“. Vgl. Dicey, Introduction, S. 38 ff. 108 Im Wesentlichen die Habeas Corpus Akte 1679 (vgl. 31 Cha. 2 c. 2) und die Bill of Rights 1689 (vgl. 1 Will. & Mar. sess. 2 c. 2). Nicht vergessen werden darf

II. Methode

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Rechtsprechung des House of Lords109 einzelne „fundamental rights“ herausgebildet, die zugleich auch vom Parlament110 zu beachten sind, jedoch bleiben diese Gewährleistungen in Quantität wie Qualität in erheblichem Maße hinter dem Standard der kontinentaleuropäischen Staaten zurück. Mit Verabschiedung des Human Rights Acts vom 9. November 1998111, welches vorsieht, dass wesentliche Vorschriften der EMRK in die Rechtsordnung des Vereinigten Königreichs inkorporiert werden, war zwar beabsichtigt, diesen Rückstand im Grundrechtsschutz zu verringern. Dieses Gesetz bricht jedoch gerade nicht mit dem Prinzip der „Parliamentary Sovereignty“, was Section 4 dieses Gesetzes zeigt.112 Aufgrund der Unterschiedlichkeit im Grundrechtsverständnis der verschiedenen Mitgliedstaaten – Großbritannien ist zugegebenermaßen ein extremes, aber für die Darstellung der bestehenden, teilweise eben großen Unterschiede ein geeignetes Beispiel113 – kann man nicht einfach auf ein dogmatisches Konzept einer nationalen Verfassungsrechtsordnung zurückgreifen, um eine Theorie der europäischen Grundrechte zu entwickeln. Eine solche Theorie kann auch nicht aus den teilweise völlig inkompatiblen Grundrechtslehren verschiedener Rechtsordnungen zusammengesetzt werden.114 Sie bedarf vielmehr einer eigenen, europäischen Definition, einer „definitio iuris communis europaei“.115 Ähnlich urteilte der EuGH auch in der Rs. Internationale Handelsgesellschaft116, obgleich er dort mit der einheitlichen Geltung und Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts argumentierte. In der Rs. Liselotte Hauer117 wurde der EuGH noch deutlicher: aber auch die Magna Charta aus dem Jahre 1215, ein Zugeständnis König John Lacklands gegenüber der englischen Nobilität. 109 Vgl. nur aus neuerer Zeit R v Secretary of State ex parte Brind [1990] 1 All ER 469 at 477 (Lord Donaldson); A-G v Guardian Newspaper (No. 2) [1998] 3 All ER 545 at 660 (Lord Goff). 110 Seit Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts auch die Parlamente von Schottland, Wales und Nordirland. 111 In Kraft seit dem 2. Oktober 2000 (vgl. 1998 c 42). Dazu näher Greer, ELRev. 1999, 3 ff. 112 Vgl. dazu Lord Irvine of Lairg, Human Rights – Essays, S. 111 (113). 113 Ausführlich zu den Grundrechtskonzeptionen ausgewählter Mitgliedstaaten unten Teil 2, IV. 114 Im Hinblick auf Art. 52 Abs. 4 GRC (dazu sogleich) fragt sich Borowsky sogar, wie bei den divergierenden Traditionen und schwerwiegenden Wertkonflikten überhaupt eine harmonische Auslegung denkbar sein soll, vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 44. 115 Vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Vor Kapitel VII Rn. 7. Ähnlich Ruffert, Subjektive Rechte, S. 74. 116 EuGH, Rs. C-11/70, Slg. 1970, 1125 Rn 3 (Internationale Handelsgesellschaft). 117 EuGH, Rs. C-44/79, Slg. 1979, 3727 Rn. 14 (Liselotte Hauer).

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Teil 2: Grundlagen

„(. . .) die Frage einer etwaigen Verletzung der Grundrechte (. . .) [kann] nicht anders als im Rahmen des Gemeinschaftsrechts118 selbst beurteilt werden. Die Aufstellung besonderer, von der (. . .) Verfassungsordnung eines bestimmten Mitgliedsstaats abhängiger Beurteilungskriterien [wozu auch dogmatische Argumente zu zählen sind]119 würde die materielle Einheit und die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigen und hätte daher unausweichlich die Störung der Einheit des gemeinsamen Marktes und eine Gefährdung des Zusammenhalts der Gemeinschaft zur Folge.“ An dieser „europäischen“ Sichtweise werden künftig auch die Abs. 3 und 4 des Art. 52 GRC120 nichts ändern.121 Diese Vorschriften bestimmen, dass, soweit in der Charta Grundrechte122 anerkannt werden, die denen in der Europäischen Menschenrechtskonvention entsprechen oder sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, im Einklang mit der EMRK oder diesen Überlieferungen ausgelegt werden sollen. Hierbei handelt es sich jedoch lediglich um die Übernahme der Regelung des Art. 6 Abs. 2 EUV123 und die Kodifizierung der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zu den Grundrechten als Allgemeine Rechtsgrundsätze.124 Der Begriff der Allgemeinen Rechtsgrundsätze125 bezeichnet die den nationalen Verfassungen oder der EMRK gemeinsamen Wertvorstellungen, welche der EuGH durch eine Art „wertenden Verfassungsvergleich“ erhält und als ungeschriebenen Bestandteil des Gemeinschaftsrechts betrachtet. Die nationalen Bestimmungen oder die Bestimmungen der EMRK stellen jedoch keine Rechtsquellen dar, die strikt einzuhalten wären. Vielmehr dienen diese lediglich als Rechtserkenntnisquellen zur Gewinnung originär europäischer Grundrechte.126 Der EuGH geht dabei weder von einem Mini118

Hervorhebung durch den Verfasser. Hinzufügung durch den Verfasser. 120 Vgl. auch Absatz fünf der Chartapräambel. Hierzu Meyer, in: ders. (Hrsg.), Charta, Präambel Rn. 12. 121 So auch Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 66, 78; Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (566 f.). 122 Für die Grundsätze muss a fortiori das Gleiche gelten. A. A. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 44b; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 71. 123 Nunmehr Art. 6 Abs. 3 EUV i. d. F. des Lissabonner Vertrages. 124 So auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art 52 Rn. 44a; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 66. Vgl. zur Rechtsprechung des EuGH, Rs. C-11/70, Slg. 1970, 1125 (Internationale Handelsgesellschaft) und Rs. C-4/73, Slg. 1974, 491 (Nold). 125 Vgl. zum Begriff des Allgemeinen Rechtsgrundsatzes auch unten Teil 2, III. 3. 126 Vgl. Walter, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 1 Rn. 24 f. 119

II. Methode

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mal- noch von einem Maximalstandard hinsichtlich der Schutzintensität eines Grundrechts aus.127 Vielmehr sucht er nach der jeweils besten Lösung.128 In der Entscheidung AM & S Europe129 hat der EuGH beispielsweise den Umgang eines Anwalts mit seinem Mandanten als geschützt angesehen, obwohl in der EMRK eine vergleichbare Gewährleistung gänzlich fehlt.130 Mit Verbindlichwerden der Grundrechtecharta und damit der Abs. 3 und 4 des Art. 52 GRC wird die bereits bestehende Bedeutung der verschiedenen nationalen Verfassungen und der EMRK nur nochmals betont. In der Sache selbst und der Rechtsprechung des EuGH wird sich jedoch nichts ändern. Etwas anderes würde die Leistung der Charta als europäische Kodifikation schmälern oder sogar zunichte machen.131 Die oben aufgeworfene, zugegeben rhetorisch formulierte Frage nach dem Konzept zur Lösung eines gemeinschaftsrechtlichen Problems, ist damit wie folgt zu beantworten: Eine europarechtliche Problematik – wie beispielsweise die des richtigen Verständnisses der Grundsatznormen der Europäischen Grundrechtecharta – ist stets und ausschließlich im Rahmen der Dogmatik und anhand der Methodik des Europarechts zu bearbeiten und auch zu lösen. Inwieweit ein bestimmtes europäisches Konzept aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts132 die Anpassung mitgliedstaatlicher Dogmatik fordert, ist im Wesentlichen eine Frage des nationalen Rechts und soll hier deshalb nur am Rande interessieren. Nun fehlt es dem Europarecht jedoch an einem kohärenten, abgeschlossenen dogmatischen System der Gemeinschaftsgrundrechte. Aufgrund seiner begrenzten Kompetenz hat der EuGH nämlich bislang nur punktuell und selektiv zu einzelnen grundrechtsrelevanten Fragen Stellung beziehen können.133 Die europäische Grundrechtslehre beschränkt sich deshalb auf wenige, rudimentäre Konzepte wie beispielweise der Lehre von der unmit127

Ausführlich zu diesem Aspekt Craig/de Bfflrca, EU-Law, S. 388 f. Vgl. Zweigert, RabelsZ 1964, 601 (611). 129 EuGH, Rs. C-155/79, Slg. 1982, 1575 (AM & S Europe). 130 Gleiches gilt für die in der EMRK nicht gewährleistete Berufsfreiheit. 131 So auch Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 78. Eine deutlich stärkere Bindung an die EMRK und die Rspr. des EGMR vertritt Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 37. 132 Vgl. zum Anwendungsvorrang EuGH, Rs. C-6/64, Slg. 1964, 1251 (Costa v. ENEL); Rs. C-11/70, Slg. 1970, 125 (Internationale Handelsgesellschaft). Vgl. auch Dannecker, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 38 Rn. 21 ff.; Oppermann, Europarecht, § 7 Rn. 2 ff., 12 f.; Streinz, Europarecht, Rn. 201 ff. Zum Ganzen ausführlich Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 81 ff. m. w. N. Einen Geltungsvorrang des Gemeinschaftsrechts wird heute kaum mehr vertreten. 133 So auch Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 22; Schütz/Bruha/König, Casebook Europarecht, S. 868. 128

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Teil 2: Grundlagen

telbaren Geltung und der unmittelbaren Anwendbarkeit134 von Normen. Deshalb hat der EuGH einige Elemente der deutschen Grundrechtstheorie ins Europarecht übernommen. Als Beispiele seien hier nur das Verhältnismäßigkeitsprinzip135 und (teilweise) die Schutzbereichs- und Schrankensystematik136 genannt. Neben dem deutschen Recht hatte aber auch das französische (Verwaltungs-)Recht maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts und insbesondere auf die Gemeinschaftsgrundrechte. Beispielweise diente der objektiv-rechtlich ausgestaltete „recours pour excès de pouvoir“ als Vorbild137 für die Klagegründe der Nichtigkeitsklage des Art. 230 EGV und ist damit – wegen Fehlens einer Europäischen Grundrechtsbeschwerde – Maßstab bei etwaigen Grundrechtsklagen.138 Die Übernahme von Teilen nationaler Grundrechtsentwürfen widerspricht im Übrigen auch nicht der obigen Darstellung einer originär gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsdogmatik. Schließlich hat der EuGH das Recht – aufgrund Art. 52 Abs. 4 GRC womöglich sogar die Pflicht –, sich von den Lösungen, die mitgliedsstaatliche Rechtsordnungen für bestimmte (Grundrechts-)Konflikte bereithalten, inspirieren zu lassen. Das Gesamtkonzept ist und bleibt gleichwohl ein europäisches. Daran ändert sich auch nichts, obgleich die Charta teilweise auf einzelstaatliche Vorschriften und Gepflogenheiten verweist. Diese Formel ist ausschließlich der Kompetenzverteilung zwischen Union und den Mitgliedstaaten bei einigen Materien geschuldet.139 Um es also nochmals auf den Punkt zu bringen: Die vorliegende Arbeit sucht die Antworten auf die oben aufgeworfenen Fragen innerhalb einer eigenständigen europäischen Dogmatik des Rechts. Die Verpflichtung, eine 134 Vgl. Haltern, Europarecht, S. 314 ff. Ausführlich dazu unten Teil 3, III. 3. und 4. 135 Als eines der ersten Urteile gilt die Rs. C-18/63, Slg. 1964, 175 (Schmitz-Wollast). Die herausragende Stellung dieses Allgemeinen Rechtsgrundsatzes hat zu dessen Normierung in Art. 5 Abs. 3 EGV geführt. Der EuGH prüft die Verhältnismäßigkeit anders als im deutschen Recht überlich jedoch nur zweistufig. Vgl. hierzu Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 491 ff. 136 Gleichwohl hinkt die Schrankenkonzeption des EuGH immer noch deutlich hinter der detaillierten und stringenten Grundrechtssystematik des BVerfG hinterher. Der EuGH trennt beispielsweise systematisch kaum zwischen Schranken und Schranken-Schranken. Vgl. nur die Entscheidungen des EuGH in der Rs. C-265/87, Slg. 1989, 2237 (Schräder) und Rs. C-44/79, Slg. 1979, 3727 (Liselotte Hauer). 137 Ausführlich dazu Becker, Einfluß des französischen Verwaltungsrechts, S. 65 ff., 77 ff., 116 ff. Vgl. auch v. Danwitz, DÖV 1996, S. 481 (484). 138 Einen mit der deutschen Verfassungsbeschwerde vergleichbaren Rechtsbehelf gibt es im Gemeinschaftsrecht nicht. Ausführlich dazu Teil 2, IV. 3. d) bb) (1). Vgl. auch Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 149 ff. 139 Zum Problem des Ausgestaltungs- und Regelungsvorbehalts in Art. 52 Abs. 6 GRC siehe unten Teil 4, I.

III. Zum Verständnis grundlegender Begrifflichkeiten

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Lösung anhand europäischer Konzepte herbeizuführen, schließt jedoch nicht aus, dass nationale Lehren nicht auch einmal auf die europäische Ebene übertragen werden und dort als Vorbild dienen können. Eine solche Übertragung soll aber weder generell noch automatisch stattfinden, sondern eben nur dann, wenn erstens das nationale Recht für den konkreten Bereich eine überzeugende Lösung anbietet und zweitens diese jeweilige nationale Lösung sich in das bereits existierende, aber sich auch immer noch entwickelnde System, bestehend aus einer wertenden Zusammenschau vieler einzelner nationaler Theorien gemischt mit originär europäischen Strukturen einpasst. Überdies sind nationale Anschauungen vielfach Ausgangspunkt auf dem Weg eines europäischen Konzepts, woraus sich die Befassung mit ausgewählten mitgliedstaatlichen Grundrechtssystemen im Anschluss an den nachfolgenden Abschnitt III. rechtfertigt. Der einseitigen Argumentation in rein nationalen Kategorien unter Missachtung entgegenstehender Lehren anderer Staaten soll hier jedoch ausdrücklich eine Absage erteilt werden.

III. Zum Verständnis grundlegender Begrifflichkeiten Zum Ende dieses einführenden Teils soll nun im Folgenden – gleichsam vor die Klammer gezogen – noch kurz auf einige Begrifflichkeiten eingegangen werden, denen im Fortgang der Arbeit grundlegende Bedeutung für die Argumentation und die Einordnung der Grundsatznormen zukommen wird. Die Klassifizierung der Grundsatznormen wird leichter fallen, wenn man mit den bereits existierenden Normkategorien vertraut ist. 1. Der Begriff des Grundrechts Einer der zentralen Begriffe der vorliegenden Arbeit ist der der Grundrechte. Dies liegt vor allem daran, dass die hier zu besprechenden Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta zusammen mit den herkömmlichen Grundrechten normiert sind. Daraus lässt sich zum einen folgern, dass Grundrechte und Grundsätze über gewisse Gemeinsamkeiten verfügen,140 die beide von anderen Normkategorien wie beispielsweise den Grundfreiheiten unterscheidbar machen. Hierbei erscheint insbesondere deren einheitlicher Anwendungsbereich (vgl. Art. 51 Abs. 1 GRC) interessant. Zudem dürfte die Stellung der Grundrechte im Normgefüge des Europarechts auch für die Einordnung der Grundsatznormen nicht ganz ohne Einfluss sein. 140

So auch Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 3.

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Teil 2: Grundlagen

Zum anderen enthält die Charta nun aber nicht nur – wie man vielleicht erwarten könnte – eine, sondern eben zwei Gruppen von Normen. Damit drängt sich dann aber die Frage auf, worin sich Grundsätze und Grundrechte trotz vorhandener Übereinstimmungen unterscheiden. Um diese Merkmale herausarbeiten zu können, ist ein gewisses Grundverständnis von den Grundrechten zwingend erforderlich. Zudem dürfte eine konstruktive Definition der Grundrechte eine dogmatische Grundlegung der Grundsatznormen deutlich erleichtern. a) Bisheriger Versuch einer Definition Eine Definition des Begriffs „Grundrecht“141 hält nun jedoch weder der EU/EG-Vertrag142 noch die Grundrechtecharta bereit.143 Auch der EuGH hat bisher keine Abgrenzungskriterien entwickelt, durch die sich einzelne Gewährleistungen des Primärrechts eindeutig der Kategorie der Grundrechte zuordnen ließen. Der EuGH verwendet noch nicht einmal eine einheitliche Terminologie.144 Beispielsweise sprach er bezüglich des Anspruchs auf rechtliches Gehör145, nunmehr normiert in Art. 41 Abs. 2 lit. a GRC, lange Zeit nicht von einem Grundrecht, sondern von einem „allgemeinen Rechtsgrundsatz“ (rechtsstaatlichen Gehalts).146 Erst in den letzten Jahren bezeichnete er diesen Anspruch mitunter auch als Grundrecht.147 141

Vgl. zu der für die vorliegende Arbeit nicht relevanten Unterscheidung zwischen den Begriffen „Grundrecht“ und „Menschenrecht“ Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 4 Rn. 28 ff.; Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 42 ff., 70 ff. 142 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Grundrechte der Europäischen Union. Die Darstellung orientiert sich dabei sowohl am gegenwärtig noch anzuwendenden EU/EG-Vertrag, als auch an dem wahrscheinlich künftig geltenden Unionsvertrag. Vgl. schon oben Teil 1, I. mit Fn. 30, 31. 143 Vgl. Ehlers, in: ders. (Hrsg.): Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 2; Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 4 Rn. 5. 144 Vgl. Cirkel, Bindung der Mitgliedsstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 23 f.; Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 4 Rn. 7, 21, 23; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 171; Wetter, Grundrechtscharta des EuGH, S. 28. Vgl. auch statt vieler die Urteile des EuGH in der Rs. C-29/69, Slg. 1969, 419 (Stauder) („Grundrecht der Person“), in der Rs. C-259/85, Slg. 1987, 4393 (Kommission/Frankreich) („fundamentaler Grundsatz“) oder in der Rs. C-10/78, Slg. 1978, 1915 (Belbouab) („persönliches Grundrecht“). 145 Dies trifft aber auf nahezu alle Verfahrensgrundrechte zu, vgl. Jürgensen/ Schlünder, AöR 1996, 200 (205 ff.). 146 Grundlegend das Urteil des EuGH in der Rs. C-32/62, Slg. 1963, 107 (Alvis). Vgl. auch die Entscheidung des EuGH in der Rs. C-36 (u. a.)/59, Slg. 1960, 885 (920) (Präsident Ruhrkohle). Vgl. dazu Jürgensen/Schlünder, AöR 1996, S. 200 (205); Nehl, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 54 Rn. 1.

III. Zum Verständnis grundlegender Begrifflichkeiten

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Im Gegensatz dazu hat die Literatur vielfach148 versucht, den Begriff der Grundrechte zu präzisieren. Einige (deutsche) Europarechtler orientieren sich dabei sehr stark an der Grundrechtsdefinition des deutschen Verfassungsrechts.149 Pache beispielsweise beschreibt die Grundrechte als subjektive, unmittelbar geltende Rechte des Einzelnen gegenüber den drei Staatsgewalten.150 Ähnlich begreift Jarass die Grundrechte als „grundlegende“ subjektive und einklagbare Rechte des Primärrechts.151 Dabei drängt sich jedoch sogleich die Frage auf, ob (zumindest)152 das Kriterium der Klagbarkeit wirklich eine notwendige Voraussetzung für die Qualifizierung einer Norm als Grundrecht ist oder lediglich unmittelbare Folge einer bereits als Grundrecht identifizierten Norm.153 Unabhängig davon sind die meisten Definitionsversuche – ebenso wie die beiden vorstehenden – nach hier vertretender Ansicht schon aus einem anderen Grunde wenig hilfreich. Neben den Grundrechten statuieren nämlich auch zahlreiche andere Vorschriften wie beispielsweise die Wettbewerbsbestimmungen154, die Grundfreiheiten155 oder sonstige grundrechts- und grundfrei147 Vgl. nur das Urteil des EuGH in der Rs. C-204 (u. a.)/00, Slg. 2004, I-123 Rn. 64 (Aalborg Portland). 148 Vgl. zu den Funktionen der Grundrechte als wenig hilfreiches Abgrenzungskriterium Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 4 Rn. 12 ff.; Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 49 ff. 149 Pieroth/Schlink definieren die Grundrechte als subjektive, den Staat verpflichtende Rechte des Einzelnen mit Verfassungsrang. Sie dürften damit für die nationale Rechtsordnung zwar eine etwas vereinfachende, aber doch griffige Formel gefunden haben, vgl. Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 45. Vertiefend zum Grundrechtsbegriff im deutschen Verfassungsrecht vgl. statt vieler Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 406 ff.; Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 4 Rn. 8 ff.; Stern, Staatsrecht III/1, §§ 64 ff.; ders., in: Isensee/Kirchhoff (Hrsg.), HbStR V, §§ 111 ff. 150 Vgl. Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 4 Rn. 17. 151 Jarass, Die EU-Grundrechte, § 7 Rn. 3. Ähnlich Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 2; ders., DVBl. 2004, 1441 (1445 f.). 152 Vgl. hinsichtlich des Kriteriums der Subjektivität unten Teil 3, III. 4 c) und 5. 153 Interessant hierzu Eilmansberger, Subjektive Rechte, S. 225, der das Kriterium der Klagbarkeit zugleich als Entstehungsmodus und Durchsetzungform der unmittelbaren Anwendbarkeit begreifen will. 154 Vor allem die Art. 81 und 82 EGV. Vgl. dazu die grundlegenden Urteile des EuGH in den Rs. C-127/73, Slg. 1974, 51 Rn. 15, 17 (BRT-I) und Rs. C-453/99, Slg 2001, I-6297, Rn. 23 ff. (Courage/Crehan). 155 Zur Abgrenzung der Grundrechte zu den Grundfreiheiten sogleich unter Teil 2, III. 1. b). Vgl. zu den subjektiv-rechtlichen Charakter der Grundfreiheiten Ehlers, in: ders. (Hrsg.): Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 8; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263 (266 f.); Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 4 Rn. 37. Ausführlich dazu Gebauer, Grundfreiheiten als Ge-

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Teil 2: Grundlagen

heitsähnlichen156 Gewährleistungen subjektive und einklagbare Rechte. Aus diesem Grund fehlt157 den hier aufgeführten Definitionen ein notwendiges Kriterium158, um die Grundrechte eindeutig von anderen subjektiven159 Rechten des europäischen Primärrechts abgrenzen zu können. An dem gleichen Fehler leidet auch der Ansatz Quasdorfs. Nach dessen Auffassung sei jede „Norm, die auf der höchsten Stufe der Normenhierarchie steht, ein subjektives Recht beinhaltet, nicht nur Träger hoheitlicher Gewalt begünstigt, nicht nur Privatpersonen verpflichtet und welche nicht nur einen Sekundäranspruch darstellt“ als Grundrecht zu bezeichnen.160 Zudem fällt auf, dass dieser Versuch einer Beschreibung der Grundrechte auch in Konflikt mit Art. 41 Abs. 3 GRC treten könnte, der den europäischen Staatshaftungsanspruch als Verfahrensgrundrecht formuliert. Quasdorfs Verdienst ist es jedoch, dass er daran erinnert, dass Grundrechte primär Ansprüche des Bürgers gegen den Staat sind und im Allgemeinen nicht wie beispielsweise die Art. 81 und 82 EGV oder Art. 77 Abs. 1 EGV Verpflichtungen des Einzelnen statuieren. Sehr interessant und vielversprechend161 erscheint dagegen der Versuch einer negativen162 Definition der Gemeinschaftsgrundrechte durch Rengeling163. Diesem zufolge seien Grundrechte Normen des europäischen Primärrechts, die nicht Grundfreiheiten, allgemeine Rechtsgrundsätze rechtsstaatlichen Inhalts oder Strukturprinzipien der Europäischen Union sind.164 Aktualisiert und geringfügig präzisiert erhält man eine (vorläufige) Formel der Grundrechte, mit der im Folgenden erst einmal weitergearbeitet werden kann: Grundrechte165 sind (subjektive) Normen des europäischen Primärmeinschaftsgrundrechte, S. 53 ff. Vgl. auch die grundlegenden Urteile des EuGH in der Rs. C-48/75, Slg. 1976, 497 ff. Rn. 19–23 (Royer), in der Rs. C-2/74 Slg. 1974, 631 ff., Rn. 29–31 (Reyners) und in der Rs. C-33/74, Slg. 1974, 1299 ff. Rn 24, 26 (van Binsbergen). 156 Zu diesen Begriffen sogleich unten Teil 2, III. 1. c). 157 Definiendum und Definiens sind deshalb entgegen den Regeln der Aussagenlogik nicht äquivalent, vgl. dazu Schneider, Logik für Juristen, S. 49. 158 Sog. differentia specifica, vgl. Schneider, Logik für Juristen, S. 43 ff. 159 Vgl. zu den subjektiv-öffentlichen Rechten im EG-Recht Gebauer, Grundfreiheiten als Gemeinschaftsgrundrechte, S. 53 ff.; Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263 ff. 160 Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 68. 161 Kritisch dagegen Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 53. 162 Eine negative Definition verstößt eigentlich gegen die Regeln der Aussagelogik, da die Gefahr besteht, dass Definiendum und Definiens nicht übereinstimmen, vgl. dazu Schneider, Logik für Juristen, S. 47 f. Gleichwohl soll dieser Ansatz zunächst gewählt werden. 163 So ähnlich bereits Hummer, in: Schwind (Hrsg.), Aktuelle Fragen zum Europarecht, S. 60 (61 ff.). 164 Vgl. Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 171 ff.

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rechts, die nicht Grundfreiheiten, grundfreiheitsähnliche Rechte166, (objektive)167 Grundsätze (z. B. rechtsstaatlichen Inhalts168), Grundsätze im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC und Strukturprinzipien/Zielbestimmungen der Europäischen Union169 sind und im Allgemeinen Ansprüche gegen den Staat, nicht aber überwiegend Verpflichtungen des Einzelnen zum Gegenstand haben. b) Abgrenzung zu den Grundfreiheiten aa) Die Grundfreiheiten als spezielle Grundrechte Die vorstehende Definition von den Grundrechten könnte nun vereinfacht werden, wenn es sich auch bei den Grundfreiheiten um Grundrechte handelte,170 so wie dies Teile der Literatur171 annehmen. Eine solche Gleichsetzung wäre aber nur dann vertretbar, wenn sich Grundrechte und Grundfreiheiten nicht derart unterscheiden, dass eine weiterhin differenzierte Behandlung angezeigt wäre: Die wohl bedeutendste Gemeinsamkeit zwischen diesen beiden Normgruppen dürfte darin bestehen, dass sowohl die Grundrechte als auch die Grundfreiheiten subjektive Rechte zugunsten des Einzelnen statuieren.172 165 Einen Überblick über die geschriebenen Grundrechte und „grundrechtsgleichen“ Rechte im EUV/EGV gewähren v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 45 ff.; Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 235 f. Vgl. auch Hummer, in: Schwind (Hrsg.), Aktuelle Fragen zum Europarecht, S. 61 ff.; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263 ff.; Schilling, EuGRZ 2000, 3 ff. 166 Zum Begriff siehe unten Teil 2, III. 1. c). 167 Mit der Einfügung des Wortes „objektiv“ greift der Verfasser die Kritik Quasdorfs an dem Entwurf Rengelings auf, dass der EuGH gerade aus dem (objektiv wirkenden) Rechtsstaatsprinzip subjektive Gewährleistungen wie z. B. das Rechts auf effektiven Rechtsschutz oder den Anspruch auf rechtliches Gehör abgeleitet hat, vgl. Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 53. Vgl. auch das grundlegende Urteil des EuGH in der Rs. C-222/84, Slg. 1986, 1651 ff. (Johnston). 168 Als weitere Beispiele seien aber auch das Vorsorgeprinzip oder das Verursacherprinzip in Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV genannt. Besonders bedeutsam ist des Weiteren das Subsidiaritätsprinzip. 169 Vgl. vor allem Art. 2 f. EGV. Vgl. dazu unten Teil 2, III. 1. e). 170 Umfassend dazu Gebauer, Grundfreiheiten als Gemeinschaftsgrundrechte; Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 4 Rn. 37 ff.; Rengeling/ Szczekalla, Grundrechte, S. 80 ff. 171 Vgl. Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 52; Schweitzer/Hummer, Europarecht, 5. Aufl., S. 241 f. Ähnlich Ehlers, in: ders. (Hrsg.): Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 15. Tendenziell der EuGH selbst in Rs. C-222/85, Slg. 1987, 4097 (Unectef). 172 Vgl. hinsichtlich der Grundfreiheiten Ehlers, in: ders. (Hrsg.): Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 8; Gebauer, Grundfreiheiten als Ge-

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Des Weiteren scheint die Charta selbst in ihrem Art. 15 Abs. 2 die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit – welche daneben in den Art. 39, 43 und 49 EGV zugleich173 als Grundfreiheiten normiert sind – als Grundrechte einzuordnen.174 Ferner bezeichnete der EuGH in zahlreichen Entscheidungen175 die Grundfreiheiten selbst ausdrücklich als Grundrechte. So zum Beispiel in der Rs. Heylens176, als er im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit den freien Zugang zur Beschäftigung ein Grundrecht nennt, das jedem Bürger der Gemeinschaft individuell vom Vertrag verliehen werde. Neben dieser formellen Gleichsetzung hat der EuGH aber auch materiell die Grundfreiheiten immer mehr zu grundrechtsähnlichen Positionen ausgebaut, indem er diese nicht bloß als Diskriminierungsverbote verstand, sondern schrittweise zu umfassenden Beschränkungsverboten177 weiterentwickelt hat.178 Gleichermaßen entspricht die Rechtfertigung von Eingriffen meinschaftsgrundrechte, S. 53 ff.; Kingreen/Störmer, EuR 1998, S. 263 (266 f.); Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 4 Rn. 37. Vgl. auch die grundlegenden Urteile des EuGH in der Rs. C-48/75, Slg. 1976, 497 ff. Rn. 19–23 (Royer) und in der Rs. C-33/74, Slg. 1974, 1299 ff. Rn. 24, 26 (van Binsbergen). Vgl. hinsichtlich der Grundrechte Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 2; Jarass, Die EU-Grundrechte, § 7 Rn. 3; Gebauer, Grundfreiheiten als Gemeinschaftsgrundrechte, S. 158 ff. Teilweise a. A., weil v. a. den objektiven Gehalt der Grundrechte betonend, Schilling, EuGRZ 2000, 3 (27 f.). Vgl. auch die grundlegenden Urteile des EuGH in der Rs. 29/69, Slg. 1969, 419 ff. (Stauder) und in der Rs. C-4/73, Slg. 1974, 491 ff. (Nold). 173 Eine vergleichbare Doppelung der Gewährleistungen kann beispielsweise auch bei den Unionsbürgerrechten beobachtet werden (vgl. Art. 12 EGV einerseits und Art. 45 Abs. 1 GRC andererseits). Vgl. dazu Ehlers, in: ders. (Hrsg.): Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 20; Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (567 f.); Kingreen, EuGRZ 2004, 579 (571 f.). 174 Vgl. die Erläuterungen zur Grundrechtecharta, abgedruckt in ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007, S. 23 (zu Art. 15 GRC). 175 Grundlegend das Urteil des EuGH in der Rs. C-36/75, Slg. 1975, 1219 (Rutili). Vgl. zu dieser Entscheidung Bleckmann, EuGRZ 1976, 265 ff. Vgl. ebenso Generalanwalt Lenz in der Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, 5007 f. (Bosman). Vgl. allgemein zu dieser Rechtsprechung Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 80 ff. m. w. N. 176 Vgl. das Urteil des EuGH in der Rs. C-222/86, Slg. 1987, 4097 Rn. 14 (Unectef/Heylens). 177 Vgl. vertiefend zur Dogmatik der Grundfreiheiten statt vieler Ehlers, in: ders. (Hrsg.): Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 17 ff.; Jarass, EuR 1995, S. 202 ff.; ders., EuR 2000, S. 705 ff. Krit. zum Ganzen Kingreen, Grundfreiheiten; ders., in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 631 (658 ff.). 178 Vgl. die grundlegenden Urteile des EuGH in der Rs. C-120/78, Slg. 1979, 649 ff. (Cassis) und in der Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 Rn. 96 (Bosman). Vgl.

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in die Grundfreiheiten179 der von Eingriffen in die Grundrechte180. Beide Normkategorien können aus Gründen des Gemeinwohls beschränkt werden. Die Schranke eines möglichen Eingriffs bestimmt sich dabei jeweils nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit181. Trotz dieser Übereinstimmungen stellt sich die Frage, ob zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten nicht doch erhebliche Unterschiede bestehen,182 die eine einheitliche Betrachtung dieser beiden Normgruppen unmöglich machen. bb) Unterschiede zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten (1) Kreis der Berechtigten Als Unterschied wird genannt183, dass die Grundfreiheiten184 an der Staatszugehörigkeit zu einem Mitgliedsstaat anknüpften – für die drei Personalgrundfreiheiten sei dies sogar ausdrücklich in den Art. 39, 43 und 49 EGV geregelt –, wogegen die Gemeinschaftsgrundrechte185 auch Drittstaatsangehörige berechtigen würden. zu diesem Argument auch v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 50 f.; Gebauer, Grundfreiheiten als Grundrechte, S. 271 ff.; Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 4 Rn. 38, 51. 179 Vgl. die grundlegenden Urteile des EuGH in der Rs. C-120/78, Slg. 1979, 649 ff. (Cassis) und in der Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 Rn. 37 (Gebhard). 180 Vgl. die grundlegenden Urteile des EuGH in der Rs. C-4/73, Slg. 1974, 491 Rn. 14 (Nold) und in der Rs. C-265/87 Slg. 1989, 2237 Rn. 44, 79 (Schräder). 181 Grundlegend das Urteil des EuGH in der Rs. C-32/62, Slg. 1963, 107 (Alvis). Vgl. auch EuGH, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 (Gebhard). 182 So statt vieler Beutler, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 42; Gebauer, Grundfreiheiten als Gemeinschaftsgrundrechte, S. 356 f.; Hummer, in: Schwind (Hrsg.), Aktuelle Fragen zum Europarecht, S. 60 (73 f.); Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 4 Rn. 59; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 76. 183 Vgl. zu diesem Argument von Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 51; Gebauer, Grundfreiheiten als Grundrechte, S. 301 ff. 184 Vgl. statt vieler Ehlers, in: ders. (Hrsg.): Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 37 ff.; Gebauer, Grundfreiheiten als Grundrechte, S. 301 f.; Jarass, EuR 1995, 202 (208 f.); Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263 (274 f.). 185 Vgl. dazu das Urteil des EuGH in der Rs. C-100/88, Slg. 1989, 4285 Rn. 13 ff. (Oyowe und Traore). Vgl. daneben auch statt vieler Beutler, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 71 m. w. N.; Lippert, in: Göttinger Online Beiträge zum Europarecht Nr. 21, S. 11 ff.; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 51 ff.; ders./Störmer, EuR 1998, 263 (276); Kühling, in: v. Bogdandy (Hrsg.), S. 583 (611); Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 192 ff.; Wolfgang, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Anh. zu Art. 6 EUV Rn. 21.

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Dieses rein formale Argument vermag jedoch nur wenig zu überzeugen. Zum einen werden nämlich von der Warenverkehrsfreiheit auch Waren – sofern sie sich im freien Verkehr eines Mitgliedsstaates befinden186 – und von der Kapitalverkehrsfreiheit auch Kapital aus dritten Ländern erfasst.187 Weil eben nicht die Person, der die Ware oder das Kapital privatrechtlich zuzurechnen ist, Träger dieser Grundfreiheiten ist, sondern die Ware bzw. das Kapital selbst, kommt es auf die Staatsangehörigkeit nicht an.188 Zum anderen gibt es aber auch Grundrechte, auf die sich Drittstaatsangehörige nicht berufen können, weil diese entweder ausschließlich Unionsbürger begünstigen wie die Art. 39, 40 und 46 GRC oder nur Personen, die einen Wohnsitz in einem der Mitgliedsstaaten haben wie die Art. 42 ff. GRC.189 Der Kreis der jeweils Berechtigten fordert demnach jedenfalls keine Differenzierung zwischen den Grundrechten und den Grundfreiheiten. (2) Kreis der Verpflichteten Weiter wird vorgebracht190, dass die Grundfreiheiten vorrangig die Mitgliedstaaten verpflichteten. Adressat der Gemeinschaftsgrundrechte sei dagegen primär die Gemeinschaft. Indes steht seit der grundlegenden Entscheidung des EuGH in der Rs. Rewe-Zentrale/Landwirtschaftskammer Rheinland191 fest, dass auch die Union selbst an die Grundfreiheiten gebunden ist.192 Darüber hinaus überzeugt das Argument deshalb nicht, weil andererseits auch die Mitgliedsstaaten die Grundrechte der EU zu beachten 186

Vgl. Art. 23 Abs. 2, 24 EGV. Vgl. Art. 23 Abs. 1 EGV einerseits und Art. 56 EGV andererseits. 188 Wie hier auch Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 41; Jarass, EuR 1995, 202 (208); ders., EuR 2000, 705 (708); Streinz, Europarecht, Rn. 785 f. A. A. – nur Unionsbürger könnten sich auf die Warenverkehrsfreiheit berufen – Kingreen, Grundfreiheiten, S. 79 und ders./Störmer, EuR 1998, 263 (274 f.) mit dem Argument, dass nur so die Regelung in Art. 310 EGV, wonach die Warenverkehrsfreiheit auch Gegenstand eines Assoziierungsabkommens sein könne, Sinn mache. 189 Ausführlich dazu v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 164 ff. 190 Vgl. zu diesem Argument v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 51; Crones, Grundrechtlicher Schutz, S. 23 f.; Gebauer, Grundfreiheiten als Grundrechte, S. 286 ff.; Hummer, in: Schwind (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Europarechts, S. 60 (84); Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 85 f. 191 EuGH, Rs. C-37/83, Slg, 1984, 1229 Rn. 18. Vgl. auch das Urteil des EuGH in der Rs. C-114/96, Slg. 1997, I-3629 Rn. 27 (Kieffer und Thill). 192 Vgl. dazu statt vieler Beutler, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 6 EUV Rn. 42 m. w. N.; Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 44; Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 28 Rn. 45 m. w. N.; Jarass, EuR 1995, 202 (211); Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263 (277 f.); Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 86 f.; Schwemer, 187

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haben, sobald eine nationale Regelung in den „Anwendungsbereich“193 des Europarechts fällt.194 Auf Einzelheiten soll an dieser Stelle verzichtet werden. Auf diese Problematik wird bei der Erörterung der allgemeinen Grundsatzlehren zurückzukommen sein.195 Mit dem Argument des unterschiedlichen Adressatenkreises lässt sich jedenfalls auch die Aufrechterhaltung der bisherigen Trennung zwischen Grundrechten und Grundfreiheiten nicht rechtfertigen. (3) Das Merkmal der Abhängigkeit als Abgrenzungskriterium Jedoch fehlt den Grundrechten im Vergleich zu den Grundfreiheiten zumindest196 eine Eigenschaft, welche die genaue Differenzierung dieser beiden Normgruppen erforderlich macht. Grundfreiheiten finden immer schon dann Anwendung, wenn lediglich deren Tatbestand erfüllt ist. Die Mitgliedstaaten haben also die Grundfreiheiten auch und gerade in Rechtsgebieten zu beachten, in denen der Gemeinschaft keinerlei Kompetenz zukommt.197 Im Gegensatz dazu kann man sich auf Gemeinschaftsgrundrechte erst dann berufen, wenn neben dem Betroffensein des jeweiligen Schutzbereichs zusätzlich auch das Handeln oder Unterlassen, welches überprüft werden soll, in den Anwendungsbereich des EU-Rechts fällt. Grundrechte können sich nicht selbst aktivieren, sondern benötigen dazu immer andere europarechtBindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten, S. 45; Streinz, Europarecht, Rn. 836. 193 Dies hat der EuGH beispielsweise verneint in der Verb. Rs. C-60, 61/84, Slg. 1985, 2605 Rn. 26 (Cinéthèque) und in der Rs. C-12/86, Slg. 1987, 3719 Rn. 28 (Demirel). Der EuGH hat also nicht die Kompetenz, nationales Recht ohne jeglichen Bezug zum Europarecht auf die Vereinbarkeit hin mit den Grundrechten der EU zu überprüfen. Vgl. näher zur Entwicklung der Rechtsprechung Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (520 ff., 529) und Weiler/Lockhardt, CMLRev. 1995, 51 (59 ff.). 194 Vgl. die grundlegenden Urteile des EuGH in der Rs. C-5/88, Slg. 1989, 2609 Rn. 19 (Wachauf) und in der Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925 Rn. 42 (ERT). Vgl. dazu auch statt vieler Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 33 ff.; Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 6 Rn. 30; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 142 ff.; Kühling, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (607). Zum Anwendungsbereich der Grundrechtecharta siehe unten Teil 4, III. 1. 195 Siehe dazu unten Teil 4, III. 1. 196 Vgl. zu einem funktionalen Abgrenzungskriterium Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (574 ff.). Dieser unterscheidet zwischen dem Zweck der transnationalen Integration bei den Grundfreiheiten und dem der supranationalen Legitimation bei den Grundrechten. Kingreen liefert damit die theoretische Begründung für das in dieser Arbeit aufgezeigte Differenzierungskriterium. Vgl. auch Hummer, in: Schwind (Hrsg.), Aktuelle Probleme, S. 74. 197 EuGH, Rs. C-285/98, Slg. 2000, I-69 Rn. 15 ff. (Kreil) mit Anm. Stein, EuZW 2000, 213 f.

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liche Bestimmungen – beispielsweise auch die Grundfreiheiten.198 Die Gemeinschaftsgrundrechte sind also von „Aktivierungsvorschriften“ abhängig. Grundfreiheiten dagegen schaffen sich ihre Anwendbarkeit selbst, sind damit gleichsam autonom. Dieses Differenzierungskriterium der (Nicht-)Abhängigkeit findet sich auch in Art. 51 Abs. 1 GRC. Dort wird der Anwendungsbereich der EUGrundrechte auf die „Durchführung des Rechts der Union“199 beschränkt. Die Grundfreiheiten bzw. grundfreiheitsähnlichen Rechte200 müssen demgegenüber auch bei „Durchführung des nationalen Rechts“ beachtet werden.201 Letzteres bestätigte der EuGH ausdrücklich in der Rs. Casagrande, als er urteilte, dass die Grundfreiheiten unabhängig von der Kompetenz bezüglich der jeweiligen Materie Auswirkungen auf jede Politik – also auch auf die rein mitgliedstaatlich determinierte – haben könne.202 Dass nun einige Grundfreiheiten und grundfreiheitsähnlichen Rechte203 Aufnahme in die Grundrechtecharta gefunden haben, ändert an dem hier dargelegten Verständnis nichts. Die Konformitätsklausel des Art. 52 Abs. 2 GRC bestimmt nämlich, dass diejenigen Normen der Grundrechtecharta, die Grundfreiheiten oder grundfreiheitsähnlichen Rechten nachgebildet sind, durch die Aufnahme in die Grundrechtecharta inhaltlich keine Änderungen erfahren haben.204 Mit ihrer Normierung in der Grundrechtecharta sollte vielmehr lediglich deren „Grundrechtsähnlichkeit“ dokumentiert werden. Nach allgemeiner Ansicht handelt es sich bei den Gewährleistungen der Art 15 Abs. 2 und 45 Abs. 1 GRC demzufolge nicht um Grundrechte, sondern um Grundfreiheiten oder grundfreiheitsähnlichen Rechte205.206 198

So auch Skouris, DÖV 2006, 88 (95 f.). Zur Auslegung des Art. 51 Abs. 1 GRC ausführlich unten Teil 4, III. 1. 200 Zum Begriff des grundfreiheitsähnlichen Rechts sogleich Teil 2, III. 1. c). 201 Vgl. statt vieler Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (574); Streinz, Europarecht, Rn. 792. 202 EuGH, Rs. C-9/74, Slg. 1974, 773 Rn. 5 f. (Casagrande). 203 Primär geht es um Art. 15 Abs. 2 GRC (= Art. 39, 43, 49 EGV) und Art. 45 Abs. 1 GRC (= Art. 18 EGV). Bei Art. 21 Abs. 2 GRC (= Art. 12 EGV) handelt es sich nach hier vertretener Auffassung aufgrund dessen Abhängigkeit von einer anderen europarechtlichen Bestimmung um ein originäres Grundrecht und nicht um eine Grundfreiheit oder ein grundfreiheitsähnliches Recht. A. A. Kingreen, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 12. Vgl. dazu unten Teil 5, V. 204 Vgl. die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 33 (zu Art. 52 Abs. 2 GRC). Vgl. auch den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II CONV 354/02 S. 6. Dies entspricht auch der ganz h. M. im Schrifttum, vgl. statt vieler Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 24 ff.; v. Danwitz, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45 ff.; Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (572); ders., Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 10 ff.; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 2. 205 Siehe unten Teil 5, V. 1. h) und 3. c). 199

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(4) Ergebnis Mit dem Kriterium der Abhängigkeit lassen sich die Grundrechte eindeutig von den Grundfreiheiten und grundfreiheitsähnlichen Rechten abgrenzen. Aufgrund der unterschiedlichen Anwendbarkeit der beiden Normgruppen in den Mitgliedstaaten müssen diese auch zwingend voneinander abgegrenzt werden. Eine einheitliche Behandlung von Grundrechten und Grundfreiheiten und damit eine Vereinfachung der obigen Ausgangsdefinition ist insoweit also nicht möglich. c) Abgrenzung zu den grundfreiheitsähnlichen Rechten An dieser Stelle sei noch kurz auf den in der vorliegenden Arbeit immer wieder verwendeten Begriff der grundfreiheitsähnlichen Rechte eingegangen. Nach hier vertretener Auffassung soll der Terminus „Grundfreiheit“ ausschließlich für die sechs traditionellen Marktfreiheiten reserviert bleiben, also für die Warenverkehrsfreiheit, die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Dienst- und Niederlassungsfreiheit und die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit. Daneben gibt es jedoch eine ganze Reihe207 anderer Normen im EG-Vertrag und in der Grundrechtecharta, bei denen es sich zwar nicht um Grundfreiheiten im eigentlichen Sinne handelt, die aber aufgrund ihrer Struktur als grundfreiheitsähnlich bezeichnet werden können. Diese Ähnlichkeit ergibt sich zum einen daraus, dass auch diese Rechte in den Mitgliedstaaten allgemeine Anwendung finden, ohne dafür – wie die Grundrechte – andere, sie erst aktivierende Vorschriften zu benötigen. Zum ande206 Diese Interpretation des Art. 52 Abs. 2 GRC ist jedoch nicht ganz unproblematisch. Wie die Arbeitspapiere im Verfassungskonvent zeigen (vgl. CONV 116/02 S. 11 f. und WD 09 S. 2 ff. der Arbeitsgruppe II des Verfassungskonvents; ebenso deren Abschlussbericht CONV 354/02 S. 6) sind die Konventsmitglieder offensichtlich davon ausgegangen, dass die Bestimmungen der Charta im allgemeinen mit denen der Verträge übereinstimmen oder eher sogar restriktiver sind (vgl. dazu auch Vranes, Horizontale Bestimmungen, S. 9). Was ist nun aber, wenn eine Chartanorm eindeutig weiter reicht als die korrespondierende Gewährleistung in den Verträgen? Als Beispiel sei Art. 41 Abs. 4 GRC genannt, der im Gegensatz zu Art. 21 Abs. 3 EGV auch Nicht-Unionsbürger schützend erfasst. Führte Art. 52 Abs. 2 GRC nun eine komplette Kongruenz von Chartanorm und Verfassungsbestimmung herbei, müsste der durch Art. 41 Abs. 4 GRC erweiterte Schutzbereich wieder auf die Reichweite des Art. 21 Abs. 3 EGV abgesenkt werden. Eine solche Interpretation würde aber die generelle Frage nach der Sinnhaftigkeit so mancher Chartabestimmungen aufwerfen. Nach der hier vertretenen Auffassung solle deshalb auch bei Art. 52 Abs. 2 GRC die Regelung des Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC analog herangezogen werden. 207 Vgl. dazu ausführlich Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263 (265 ff., 269 f.).

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ren fördern diese vergleichbar mit den traditionellen Grundfreiheiten die zwischenstaatliche Integration; ihnen kommt dadurch eine gewisse ökonomische Binnenmarktsrelevanz zu. Als Beispiele für grundfreiheitsähnliche Rechte sind in erster Linie die Art. 23 f., 25 ff. und 90 EGV zu nennen, welche die fiskalischen Handelshemmnisse in der Gemeinschaft zu beseitigen versuchen. Aber auch Bestimmungen wie die Art. 31 und 34 Abs. 3 EGV leisten ihren Beitrag zu einem funktionierenden Binnenmarkt. Besonders interessant, aber auch umstritten, ist die Einordnung des Allgemeinen Diskriminierungsverbots (Art. 12 EGV = Art. 21 Abs. 2 GRC), des Rechts auf Freizügigkeit (Art. 18 Abs. 1 EGV = Art. 45 Abs. 1 GRC) und des Diskriminierungsverbots aus Art. 141 Abs. 1 EGV (= teilw. Art. 23 Abs. 1 GRC). Mit dem gerade eben entwickelten Abgrenzungskriterium der Abhängigkeit lassen sich aber auch bei der Klassifizierung dieser Vorschriften sachgerechte Ergebnisse erzielen. Sowohl das Recht auf Freizügigkeit208 aus Art. 18 Abs. 1 EGV als auch das Diskriminierungsverbot209 aus Art. 141 EGV richten sich (vorrangig) an die Mitgliedstaaten, die diese Gewährleistungen beachten müssen, unabhängig davon, ob das jeweilige nationale Verhalten in die Zuständigkeit der EG fällt.210 Die beiden genannten Rechte sind daher grundfreiheitsähnlich211. Im Gegensatz dazu entfaltet das Allgemeine Diskriminierungsverbot nur im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, welcher auch durch die Grundfreiheiten oder das Recht auf Freizügigkeit eröffnet worden sein kann,212 seine Wirkung. Dieser Zusammenhang wird meist dadurch etwas 208 EuGH, Rs. C-413/99, Slg. 2002, I-7091 Rn. 84 (Baumbast). Vgl. dazu auch Kadelbach, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 21 Rn. 38 ff. m. w. N. 209 Vgl. Beutler, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 34; Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 141 EGV Rn. 5; Langenfeld/Jansen, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 119 EGV Rn. 22. Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rn. 6; Streinz, Europarecht, Rn. 1097 f. 210 EuGH, Rs. C-285/98 Slg. 2000, I-69 (Tanja Kreil). Falsch entschieden hat der EuGH dagegen die Rs. C-186/01, Slg. 2003, I-2479 (Dory). Vgl. dazu Voland, NVwZ 2003, 1341. 211 Der EuGH bezeichnet das Recht aus Art. 141 EGV trotzdem immer wieder auch als Grundrecht, vgl. Rs. C-149/77, Slg. 1978, 1365 (Defrenne III). Ebenso ungenau Schweitzer/Hummer, Europarecht, 5. Aufl., S. 241. Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 42 GRC Rn. 1 bezeichnet Art. 45 Abs. 1 GRC als Grundrecht. Wie hier dagegen Beutler, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 34. Zwischen Gemeinschafts- und Vertragsgrundrechten unterscheidet Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 4 Rn. 80. Siehe auch unten Teil 5, V. 212 Vgl. die Urteile des EuGH, Rs. C-274/96, Slg. 1998, I-7637 (Bickel und Franz), über Rs. C-85/96, Slg. 1998, I-2691 (Martinez Sala) und Rs. C-184/99, Slg.

III. Zum Verständnis grundlegender Begrifflichkeiten

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verstellt, dass Art. 12 EGV in der Regel nicht alleine, sondern mit Art. 18 Abs. 1 EGV gebraucht wird. Das Allgemeine Diskriminierungsverbot ist demnach von anderen gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen abhängig, die ihm erst zur Anwendung verhelfen müssen. Bei Art. 12 EGV (= Art. 21 Abs. 2 GRC) handelt es sich daher um ein Grundrecht und nicht um ein grundfreiheitsähnliches Recht.213 d) Abgrenzung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen rechtsstaatlichen Gehalts Des Weiteren sind die Grundrechte von den allgemeinen Rechtsgrundsätzen rechtsstaatlichen Gehalts214 abzugrenzen215, die nun teilweise in Art. 52 Abs. 1 GRC aufgelistet sind und Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips als Verfassungs- und Strukturprinzip216 darstellen. Zu erwähnen sind hier beispielsweise217 der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung218, die Wesensgehaltsgarantie219, das Verhältnismäßigkeitsprinzip220, das Rückwirkungsverbot221 oder der Bestimmtheitsgrundsatz222. Diese Grundsätze sind ebenso wie die Grundrechte verbindlicher Prüfungsmaßstab für die Rechtsakte der Europäischen Union. Sie unterscheiden223 sich von letzteren aber dahingehend, dass sie kein bestimmtes Sub2001, I-6193 (Grzelczyk) bis hin zur Rs. C-209/03, Slg. 2005, I-2119 (Bidar). Vgl. dazu Bode, EuZW 2005, 279; Del Conte, Diritto pubblico comparato ed europeo 2005, 1463 ff.; Wollenschläger, NVwZ 2005, 1023 ff. 213 A. A. wohl Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rn. 2. 214 Die Terminologie ist unterschiedlich. Vielfach ist auch von den „rechtsstaatlichen Grundsätzen“ oder einfach vom „Rechtsstaatsprinzip“ die Rede. 215 Vgl. dazu Hummer, in: Schwind (Hrsg.), Aktuelle Fragen zum Europarecht, S. 60 (69 ff.); Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 4 Rn. 60 ff.; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 172 f. 216 Dazu sogleich unten Teil 2, III. 1. e). 217 Ausführlich zu alledem Beutler, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 6 EUV Rn. 35 m. w. N.; Hilf/Schorkopf, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 6 EUV Rn. 27 m. w. N.; Rengeling, EuR 1984, 331 (334 ff.); Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 102 ff. 218 EuGH, Rs. C-294/83, Slg. 1986, 1339 Rn. 23 (Les Verts). Vgl. auch Grabitz, NJW 1989, 1776 (1778); Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 461 ff. 219 EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 5068 Rn. 78 (Bananenmarkt II). 220 EuGH, Rs. C-265/87, Slg. 1989, 2237 ff. (Schräder). Vgl. auch v. Danwitz, EWS 2003, 393 ff.; Pache, NVwZ 1999, 1033 ff. 221 EuGH, Rs. C-98/78, Slg. 1979, 69 (Racke) und Rs. C-337/88, Slg. 1990, I-1 (SAFA). Ausführlich dazu Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 465 ff.; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht/II, S. 1037 ff., 1082 ff. 222 EuGH, Rs. C-143/93, Slg. 1996, I-431 Rn. 27 (van Es Douane Agenten).

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jekt oder Objekt zu schützen versuchen, sondern sich in dem Aufstellen allgemeiner Regeln224 erschöpfen, die sowohl beim Gesetzeserlass als auch beim Gesetzesvollzug zu beachten sind.225 Gleiches gilt beispielsweise auch für das Subsidiaritätsprinzip, bei dem es sich jedoch nicht um eine Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips, sondern um einen kompetenzrechtlichen Grundsatz handelt.226 e) Abgrenzung zu den Strukturprinzipien/Zielbestimmungen der Gemeinschaft Zuletzt müssen auch die Strukturprinzipien227 und Zielbestimmungen228 der Gemeinschaft von grundrechtlichen Gewährleistungen unterschieden werden. Bei den Strukturprinzipien sind vor allem die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit aus Art. 6 Abs. 1 EUV zu erwähnen, die neben ihrem verfassungspolitischen Charakter auch bei der Auslegung von Rechtsakten oder bei der Rechtfertigung von Eingriffen eine Rolle spielen können.229 Darüber hinaus bedarf es aber nur sehr selten 223 Auf das „deutsche“ Unterscheidungskriterium „subjektives vs. objektives Recht“ wird an dieser Stelle bewusst verzichtet. Vgl. dazu ausführlich Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 4 Rn. 62. 224 Hier zu verstehen im Sinne von Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71 ff., 76. So auch Alexy selbst in ders., Theorie der Grundrechte, S. 100 Fn. 84. 225 Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 289 weisen zu Recht darauf hin, dass sich bestimmte rechtsstaatliche Grundsätze im Laufe der Zeit zu Grundrechten verdichtet haben (z. B. der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, das Recht auf effektiven Rechtsschutz) und deshalb in der Charta zu Recht als Grundrechte eingeordnet worden sind (vgl. Art. 41 Abs. 2 lit. b, 47 GRC). Vgl. dazu auch Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 102 m. w. N. 226 Vgl. Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 190 ff. Vgl. dagegen zur Wirkweise des umweltrechtlichen Vorsorgeprinzips aus Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV unten Teil 2, IV. 3. d) bb) (2). 227 Die Terminologie ist hier uneinheitlich, vgl. nur Bitterlich, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 1 („Verfassungsprinzipien“); Calliess, in: ders./ Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 1 („Verfassungsprinzipien“); Hilf/ Schorkopf, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 5, 8 („Verfassungsstrukturklausel“); Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 4 ff. („Grundsätze“). 228 Nicht selten wird auch von den Aufgaben der Gemeinschaft gesprochen, vgl. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 3 ff.; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 1. 229 Vgl. Kingreen/Puttler, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV Rn. 1 ff.; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 174 f. m. w. N. A. A. scheinbar Hilf/ Schorkopf, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 14, nach deren Ansicht Grundsätze generell nicht subsumtionsfähig wären und deshalb – so kann man daraus folgern – auch bei der Auslegung nur eine geringe Rolle spielen könnten.

III. Zum Verständnis grundlegender Begrifflichkeiten

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eines direkten Rückgriffs auf diese recht allgemein gehaltenen Strukturprinzipien. In den Verträgen finden sich nämlich vielfach deutlich konkretere Bestimmungen wie beispielsweise die Grundrechte oder die eben erläuterten allgemeinen Grundsätze rechtsstaatlichen Gehalts, auf welche vorrangig abzustellen ist.230 Die Zielbestimmungen der Gemeinschaft sind mehrheitlich in den Art. 2 ff. EGV normiert, finden sich daneben aber in konkretisierter Gestalt auch über den gesamten EG-Vertrag verstreut (z. B. Art. 33, 153 Abs. 1, 174 Abs. 1 EGV)231. Gemeinsam ist diesen Vorschriften ihre finale Ausrichtung, verbunden mit einem meist sehr weiten Ermessensspielraum232 zugunsten der Gemeinschaftsorgane und/oder233 der Mitgliedstaaten.234 Die verschiedenen Zielbestimmungen sind gegeneinander abzuwägen;235 keinem Ziel darf der Vorrang eingeräumt werden, sofern ein Ausgleich möglich ist.236 Vertragsziele können ebenso wie Strukturprinzipien zur Aus230 Vgl. zu den Konkretisierungen der Strukturprinzipien Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 10 ff. m. w. N.; Stumpf, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 15. 231 Ausführlich Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 4. Zu Art. 33 und 174 EGV siehe auch unten Teil 2, IV. 3. d) bb) (2). 232 Im Folgenden werden die Begriffe „Ermessensspielraum“ und „Gestaltungsspielraum“ als Synonyme verwendet, da auch die Gemeinschaftsgerichte und die meisten Gerichte der Mitgliedstaaten entgegen der deutschen Lehre nicht zwischen diesen beiden Termini unterscheiden, vgl. nur EuGH, Rs. C-265/85, Slg. 1987, 1155 (van den Bergh) und EuG, Rs. T-13/99, Slg. 2002, II-3318 (Pfizer). Vgl. auch Bleckmann, Europarecht, Rn. 862; Herdegen, Europarecht, § 11 Rn. 47. Siehe hierzu auch unten Teil 3, III. 4. e) aa) (1) mit Fn. 882. 233 Aus Art. 2 EGV ergibt sich genau genommen keine unmittelbare Verpflichtung der Mitgliedstaaten. Letztere sind jedoch nach Art. 10 EGV dazu verpflichtet, die Gemeinschaft bei der Verfolgung ihrer Ziele zu unterstützen und alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele gefährden könnten, vgl. EuGH, Rs. C-265/95, Slg. 1997, I-6959 Rn. 9 (Kommission/Frankreich); v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 8; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 5; Ukrow, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, 2. Aufl., Art. 2 EGV Rn. 27; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 10 ff. (mit Hinweis auf Art. 4 EGV). 234 EuGH, Rs. C-139/79, Slg. 1980, 3393 Rn. 23 (Maizena/Rat). Vgl. Lenz, in: ders./Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 7, Art. 3 EGV Rn. 7 ff.; Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 10 m. w. N.; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 5, 23. 235 EuGH, Rs. C-44/94, Slg. 1995, I-3115 Rn. 37 (National Federation of Fishermen’s Organisations). Vgl. Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 22 ff.; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 12 f. m. w. N. 236 EuGH, Rs. C-29/77, Slg. 1977, 135 Rn. 29 ff. (Roquette Frères). Vgl. Lenz, in: ders./Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 7; Ukrow, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 2 Rn. 28.

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legung237 von Rechtsakten oder zur Rechtfertigung von Eingriffen in andere Rechtsgüter (vgl. auch Art. 52 Abs. 1 GRC)238 herangezogen werden.239 Trotz ihrer Verbindlichkeit240 vermag sich jedoch der Einzelne auf bloße Zielbestimmungen im Allgemeinen nicht zu berufen.241 Diese sind nämlich so unbestimmt und offen formuliert242, dass aus ihnen nur selten243 ein justiziabler Gehalt hergeleitet werden kann. Gemeinschaftsziele sind – so die passende Beschreibung von Ukrow – „zwar pflichtenaktivierend, aber (. . .) anspruchsresistent“.244 So wenig wie Zielbestimmungen Ansprüche auf gemeinschaftsrechtliches Tätigwerden begründen können, so selten werden sie aufgrund ihrer „Komplexität und Heterogenität“245 zur Rechtswidrigkeit gemeinschaftsrechtlichen Handelns führen,246 obwohl ihnen aufgrund ihrer Normativität grundsätzlich Maßstabsfunktion zu237

EuGH, Rs. C-85/76, Slg. 1979, 461 Rn. 125 (Hoffmann-La Roche). Vgl. dazu Lenz, in: ders./Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 8, Art. 3 Rn. 19; Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 3 Rn. 3.; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 9, 18 ff. m. w. N. 238 Vgl. Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 285. 239 Zu den weiteren Rechtswirkungen von Zielbestimmungen vgl. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 8 ff. m. w. N.; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 7 ff. m. w. N. 240 Ganz h. M., vgl. statt vieler EuGH, Rs. C-6/72, Slg. 1973, 215, 245 (Europemballage); v. Bogdandy, in: v. Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 8 m. w. N.; Lenz, in: ders./Borchardt, EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 7 f.; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 8 m. w. N. A. A. nur EuGH, Rs. C-149/96, Slg. 1999, I-8395 Rn. 86 (Portugal/Rat) („nur programmatischer Charakter“). Manche Zielbestimmungen (z. B. die aus Art. 136 Abs. 1 EGV haben dagegen nach h. M. nur programmatischen Charakter, vgl. Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 136 EGV Rn. 31 m. w. N. 241 H.M., vgl. statt vieler EuGH, Rs. C-339/89, Slg. 1991, I-107 Rn. 9 (Alsthom Atlantique); Rs. C-126/86, Slg. 1987, 3712 Rn. 11 (Giménez Zaera). Vgl. auch Calliess, in: Hiebaum/Koller (Hrsg.), Politische Ziele, S. 85 (94); Lenz, in: ders./Borchardt EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 8; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 9. 242 Vgl. Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 6; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 7. 243 Zu den Ausnahmen vgl. Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 5; Ukrow, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 2 EGV Rn. 27. Eine solche Ausnahme wird vor allem bei schweren und evidenten Zielverletzung angenommen, vgl. Calliess, in: Hiebaum/Koller (Hrsg.), Politische Ziele, S. 85 (94). 244 Ukrow, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 2 EGV Rn. 27. Vgl. ferner Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 6 („kein Zielerfüllungsanspruch“). 245 v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 10. 246 EuGH, Rs. C-126/86, Slg. 1987, 3697 Rn. 11 (Giménez Zaera); v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 10; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 8.

III. Zum Verständnis grundlegender Begrifflichkeiten

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kommt.247 Bei den Zielbestimmungen handelt es sich also um zwar unmittelbar geltendes248, aber anders als bei den Gemeinschaftsgrundrechten eben nicht um unmittelbar anwendbares249 Recht.250 Wenngleich auch der EuGH von einer solchen „Justiziabilitätsschwäche“251 der Vertragsziele ausgeht, hat er diese doch in einigen Fällen als Rechtmäßigkeitsmaßstab bei der Überprüfung von Sekundärrechtsakten herangezogen.252 Dabei handelte es sich jedoch meist um speziellere Zielbestimmungen aus den Kapiteln der einzelnen Politiken mit entsprechendem Konkretisierungsgrad.253 Nichtsdestotrotz wird sich auch in diesen Fällen – und soweit ersichtlich ist dies bislang auch noch nicht vorgekommen – die Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsmaßnahmen schon aufgrund des oben beschriebenen weiten Ermessensspielraums der handelnden Organe kaum alleine auf einen Verstoß gegen Zielbestimmungen stützen lassen.254 f) Formale Definition der Grundrechte Bislang wurde versucht, den Grundrechtsbegriff ausschließlich materiell zu definieren. Es ließe sich jedoch auch daran denken, nach Ratifizierung des Vertrags von Lissabon die Grundrechtsqualität einer Norm nach formalen Kriterien zu bestimmen255, so wie es beispielsweise im deutschen Ver247 EuGH, Rs. C-1/69, Slg. 1969, 277, 284 (Italien/Kommission); v. Bodandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 8, 12; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 8. 248 Zum Begriff siehe ausführlich unten Teil 3, III. 3. a) bb). 249 Zum Begriff siehe ausführlich unten Teil 3, III. 3. a). 250 Vgl. Calliess, in: Hiebaum/Koller (Hrsg.), Politische Ziele, S. 85 (94); Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 5 m. w. N.; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 9 f.; Ukrow, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, 2. Aufl., Art. 2 EGV Rn. 27; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 7. 251 Ukrow, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 2 EGV Rn. 27. 252 EuGH, Rs. C-29/77, Slg. 1977, 1835 Rn. 29 ff. (Roquette Frères); Rs. C-265/85, Slg. 1987, 1155 (van den Bergh). Im Hinblick auf Art. 33 EGV siehe ausführlich unten Teil 2, IV. 3. d) bb) (2) (a). 253 EuGH, Rs. 1/69, Slg. 1969, 277 Rn. 4/5 (Italien/Kommission); Rs. C-29/77, Slg. 1977, 1835 Rn. 29 ff. (Roquette Frères); Rs. C-265/85, Slg. 1987, 1155 (van den Bergh). Vgl. auch v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 8, 10; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV Art. 2 EGV Rn. 5; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 8. Gegenbeispiel bei EuGH, Rs. C-13/83, Slg. 1985, 1513 Rn. 53 (Gemeinsame Verkehrspolitik). 254 Vgl. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 10 m. w. N.; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 EGV Rn. 11. Instruktiv Calliess, in: Hiebaum/Koller (Hrsg.), Politische Ziele, S. 85 (111). 255 Einen solchen Ansatz diskutiert Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 44 f.

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Teil 2: Grundlagen

fassungsrecht der Fall ist.256 Man könnte beispielsweise nur diejenigen Vorschriften des europäischen Primärrechts als Grundrechte bezeichnen, die in der Europäischen Grundrechtecharta aufgelistet sind. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV n. F. stützt diese Sichtweise, indem dieser zusagt, dass „die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze [anerkennt], die in der Charta der Grundrechte257 (. . .) niedergelegt sind“. Eine formale Definition der Grundrechte wäre jedoch letztlich nur dann hilfreich, wenn sie abschließend sämtliche Grundrechte des Gemeinschaftsrechts erfasste. Hierbei ergeben sich zwei Probleme: Erstens zeigt bereits die gerade eben diskutierte Vorschrift des Art. 52 Abs. 2 GRC, dass auch außerhalb der Charta Grundrechte bzw. grundrechtsgleiche Rechte existieren wie beispielsweise das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV (künftig Art. 18 VAEU) oder die Unionsbürgerrechte der Art. 19 ff. EGV (künftig Art. 19 ff. VAEU).258 Die Grundrechtecharta wäre insoweit nicht abschließend, eine formale Definition der Grundrechte damit hinfällig. Dieses Problem könnte jedoch möglicherweise dadurch gelöst werden, dass die formale Formel leicht abändert wird, und zwar in der Art, dass nur diejenigen Vorschriften des europäischen Primärrechts als Grundrechte zu bezeichnen wären, die zumindest auch in der Europäischen Grundrechtecharta aufgeführt sind. Zweitens und weitaus problematischer für eine einheitliche formelle Definition der Gemeinschaftsgrundrechte dürfte wohl der künftige Art. 6 Abs. 3 EUV sein, der die Kategorie der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze aufrechterhält. Unter Berufung auf diese Vorschrift könnte der EuGH auch weiterhin neue Grundrechte entwickeln,259 die bislang noch nicht in der Charta gewährleistet werden. Letztere wäre dann aber wiederum nicht abschließend. Ob Art. 6 Abs. 3 EUV n. F. wirklich eine derart weitreichende Wirkung zuerkannt werden soll, ist mittlerweile umstritten. Zunehmend wird kritisiert, dass eine solche Möglichkeit der Schaffung neuer Grundrechtsgarantien durch den EuGH die über mehrere Jahre hinweg ausgearbeitete und von fast260 allen Mitgliedstaaten akzeptierte Grund256 Vgl. zur formellen Definition der Grundrechte Bleckmann, Staatsrecht II, § 5 Rn. 1; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 277; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 50 f.; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Vor Art. 1 Rn. 17; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 149. 257 Hervorhebung durch den Verfasser. 258 Siehe zu deren Einordnung als Grundrechte oben Teil 2, III. 1. b) bb) (1). 259 So auch Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (569). Weitergehend in der Wirkung des Art. 6 Abs. 3 EUV n. F. Callewaert, EuGRZ 2003, 198 (200); Scheuing, EuR 2005, 162 (189 f.); Triantafyllou, La Constitution de l’Union européenne, S. 63 (alle noch zu Art. I-9 Abs. 3 EVV). 260 Durch den Kompromiss von Brüssel gilt die Charta nicht für Großbritannien und nur eingeschränkt für Polen. Siehe oben Teil 1, I. und unten Teil 4, III. 2.

III. Zum Verständnis grundlegender Begrifflichkeiten

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rechtecharta entwerten und deshalb dem Demokratieprinzip zuwiderlaufen würde.261 Zudem sei Art. 6 Abs. 3 EUV n. F. wegen der Art. 52 Abs. 3 und 4 GRC ohnehin überflüssig,262 der Vorschrift käme deshalb nur die Bedeutung eines „deklaratorischen Bekenntnisses zu den Wurzeln“263 zu. Obwohl die geäußerten Bedenken verständlich sind, wird verkannt, dass Art. 6 Abs. 3 EUV n. F. in den Entwurf für eine Verfassung für Europa aufgenommen bzw. trotz geäußerter Kritik im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union übernommen worden ist. Da dies – wie die Arbeiten im Verfassungskonvent264 zeigen – auch nicht irrtümlich geschah, muss Art. 6 Abs. 3 EUV n. F. – wenn auch als missglückt265 – hingenommen werden.266 Selbst wenn man dies anders sähe, scheitert eine rein formale Definition der Gemeinschaftsgrundrechte daran, dass die Grundrechtecharta eben nicht nur Grundrechte, sondern auch – wie gerade gezeigt – Grundfreiheiten und grundfreiheitsähnliche Rechte und – nicht zu vergessen – die Grundsätze im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC enthält. g) Ergebnis Zusammenfassend bleibt es also bei folgender (vorläufiger) Definition der Grundrechte, mit der im Folgenden weitergearbeitet werden soll: Grundrechte sind (subjektive) Normen des europäischen Primärrechts, die nicht Grundfreiheiten, grundfreiheitsähnliche Rechte, (objektive) Grundsätze (z. B. rechtsstaatlichen Inhalts267), Grundsätze i. S. d. Art. 52 Abs. 5 GRC und Strukturprinzipien/Zielbestimmungen der Europäischen Union sind und im Allgemeinen Ansprüche gegen den Staat, nicht aber überwiegend Verpflichtungen des Einzelnen formulieren. Zur Veranschaulichung soll folgendes Schema dienen: 261

Vgl. Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (568 f.); Schmitz, EuR 2004, 691 (697). Kritisch auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, Art. I-9 Rn. 12. 262 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, Art. I-9 Rn. 12; ders., EuGRZ 2004, 570 (571); Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (155). 263 Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (571). 264 Vgl. den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II – CONV 354/02 S. 9 und CONV 528/03 S. 13. 265 Kritisch auch Cremer, NVwZ 2003, 1452 (1457) und Pietsch, ZRP 2003, 1 (4). 266 Vgl. Dutheil de la Rochère, CMLRev. 2004, 345 (354). Ähnlich UerpmannWittzack, DÖV 2005, 152 (155). 267 Als weitere Beispiele seien das Vorsorgeprinzip oder das Verursacherprinzip in Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV genannt. Besonders bedeutsam ist auch das Subsidiaritätsprinzip.

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Teil 2: Grundlagen

Normen des europäischen Primärrechts

„Pflichten des Bürgers“

„Rechte des Bürgers“

„Pflichten der Union“

(z. B. Art. 81, 82 EGV)

Grundrechte

? Grundsätze i. S. d. Art. 52 Abs. 5 GRC

Grundfreiheiten grundfreiheitsähnliche Rechte Grundsätze (v. a. rechtsstaatliche)

allgemeine Strukturprinzipien/ Zielbestimmungen

?

Schema 1: Die Normen des europäischen Primärrechts

2. Der Begriff des sozialen Grundrechts Im engen Zusammenhang mit den Grundsatznormen der Grundrechtecharta steht der Terminus des sozialen Grundrechts. Wie oben kurz dargestellt268 sah bereits das Mandat des Grundrechtekonvents nach dem Beschluss des Europäischen Rates zu Köln269 vor, dass „bei der Ausarbeitung der Charta [. . .] [auch] wirtschaftliche und soziale Rechte270 zu berücksichtigen“ seien. Der Begriff des „sozialen Rechts“ wurde in die Grundrechtecharta selbst dann zwar nicht übernommen, findet demgegenüber aber sowohl in den Erläuterungen zur Charta271 als auch in der europarechtlichen Literatur272 recht häufige Verwendung. Kodifiziert wurden also lediglich die hier vor allem interessierende Kategorie der Grundsatznormen. Da die 268

Siehe oben Teil 1, II. 1. Anhang IV der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates zu Köln v. 3./4. Juni 1999, Bulletin EU 6-1999, Anhang IV, I.64. 270 Hervorhebung durch den Verfasser. 271 Dort v. a. im Zusammenhang mit der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer. 272 Vgl. statt vieler Hirsch, in: Blank (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Grundrechtecharta, S. 11 ff.; Meyer/Engels, ZRP 2000, 369 ff.; Petersen, Schutz sozialer Grundrechte in der EU, S. 3 ff.; Winner, Soziale Dimension, S. 127 ff. Interessant ist die unterschiedliche Verwendung dieses Begriffs in den verschiedenen Aufsätzen in BM für Arbeit und Sozialordnung u. a. (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Europäischen Union. 269

III. Zum Verständnis grundlegender Begrifflichkeiten

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Literatur den Begriff des sozialen (Grund-)Rechts aber als Oberbegriff für die Grundsatznormen der Europäischen Grundrechtecharta gebraucht bzw. letztere immer wieder als Paradebeispiel für die Normierung sozialer Grundrechte anführt, soll der Begriff der sozialen Grundrechte hier kurz erläutert werden. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei terminologischen Fragen stets nur um solche der Zweckmäßigkeit handelt.273 Der Begriff der sozialen Grundrechte wird nicht einheitlich verwendet.274 Dies liegt zum einen daran, dass dieser Terminus verschiedenen Deutungen zugänglich ist. Zum anderen hängt dessen Verständnis auch ganz entscheidend vom Rechtskreis ab, welchem der jeweilige Autor entstammt. Der Begriff „soziales Grundrecht“ besteht aus dem Adjektiv „sozial“ und dem Nomen „Grundrecht“. Was unter einem Grundrecht (im Sinne des Gemeinschaftsrechts) zu verstehen ist, wurde vorstehend ausführlich erläutert. Zu klären bliebe folglich nur, welche inhaltlichen Maßstäbe ein herkömmliches zu einem sozialen Grundrecht werden lassen: Historisch-politisch argumentiert könnten als soziale Grundrechte all diejenigen Gewährleistungen verstanden werden, die in der Vergangenheit275 vom Staat gewährt worden sind, um traditionelle Forderungen vor allem der Arbeiterbewegung zu befriedigen wie beispielsweise das Recht auf Bildung oder auf Nichtdiskriminierung oder aber auch das Recht auf Koalitionsfreiheit oder betriebliche Mitbestimmung.276 Als Anhaltspunkt könnten hierbei die Garantien dienen, die in der Präambel der französischen Verfassung von 1946 aufgelistet sind.277 Von einem solch weiten Verständnis gehen beispielsweise die französische und italienische Lehre aus.278 273

Allg. Meinung, vgl. statt vieler Felber/Budin, Terminologie, S. 35. Ein guter und knapper Überblick findet sich bei Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 6 EUV Rn. 183 ff. (zum Europarecht); Murswiek, HbStR V, § 112 Rn. 13 m. w. N. (zum deutschen Recht) und Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (343 ff. m. w. N.) (zu Deutschland, Portugal, Spanien und Italien). Ausführlich zum Ganzen Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 19 ff. Instruktiv auch Marauhn, in: Matscher (Hrsg.), Erweitertes Grundrechtsverständnis, S. 247 (251 ff.). 275 Zur historischen Betrachtung vgl. Böckenförde, in: ders./Jekewitz/Ramm (Hrsg.), Soziale Grundrechte, S. 7 ff.; Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 25 ff. m. w. N. 276 Ein solch weites Verständnis findet sich auch vielfach in der Literatur. Vgl. beispielsweise Badura, in: Der Staat 1975, S. 17 (27, 31); Funk, in: Duschanek/ Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, S. 39 (43 ff.); Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, S. 115, 793. Diese sehen auch traditionelle Grundrechte (mit Abwehrcharakter) wie die Berufsfreiheit, das Eigentumsgrundrecht oder den Gleichheitssatz von Begriff des sozialen Grundrechts erfasst. So auch Meyer/Engels, ZRP 2000, 368 (369). 277 Vgl. dazu ausführlich unten Teil 2, IV. 2. b) aa). Vgl. zum Ganzen Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 25 ff. 274

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Teil 2: Grundlagen

Im Gegensatz dazu sollen nach einem engeren, normtheoretischen Verständnis nur solche Grundrechte als sozial bezeichnet werden, die nicht den bestehenden status quo bewahren – wie Abwehrrechte oder Schutz- und Organisationspflichten –, sondern auf dessen Erweiterung gerichtet sind.279 Etwas prägnanter, aber in der Sache identisch definiert Alexy soziale Grundrechte als „Leistungsrechte im engeren Sinne“280. Ähnlich knapp hält es Isensee, nach dem ausschließlich solche Bestimmungen als soziale Grundrechte einzuordnen seien, die ein (subjektives) „Recht auf ein bestimmtes Lebensgut“ garantierten.281 Häufig diskutiert werden in diesem Zusammenhang das Recht auf Arbeit und das Recht auf eine angemessene Wohnung. Andere in der Literatur sehen den Schwerpunkt von sozialen Grundrechten zwar ebenfalls im Leistungsbereich, wollen die Bedeutung des Wortes „Grundrecht“ hierbei aber weiter fassen und darunter nicht nur subjektive Rechte, sondern auch bloße Gesetzgebungsaufträge oder Staatszielbestimmungen begreifen.282 Daneben existieren zahlreiche weitere Versuche einer Definition des sozialen Grundrechtebegriffs, die hier jedoch nicht alle erwähnt werden können und auch nicht müssen.283 Für die vorliegende Dissertation ist nämlich 278

Vgl. Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 21 ff. m. w. N. (zu Frankreich); Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (343 f. m. w. N.) (zu Italien). 279 Vgl. Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 790 ff. Wie unklar die Terminologie hier ist, zeigt, dass es sich nach Auffassung Rengelings und Szczekallas beispielsweise beim Recht auf das Existenzminimum nicht um ein Leistungsrecht im engeren Sinne handle, sondern um eine aus der Menschenwürde herrührende Schutzpflicht. Vertiefend zum Ganzen Arango, Begriff des sozialen Grundrechts, S. 43 f. 280 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 454 ff. Im engeren Sinne deshalb, weil die Leistungsrechte im weiteren Sinne eben auch die Schutz- und Organisationspflichten umfassten, vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 402 ff. und unten Teil 3, II. 5. a). Ähnlich auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 6 EUV Rn. 187 f.; Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (343 m. w. N.); Wipfelder, ZRP 1986, 140 (147). 281 Isensee, in: Der Staat 1980, S. 367 (373). Vgl. auch Lücke, AöR 1982, 15 (17). Zustimmend Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 6 EUV Rn. 187. 282 So beispielsweise Böckenförde, in: ders./Jekewitz/Ramm (Hrsg.), Soziale Grundrechte, S. 7 (14); Lange, in: Böckenförde/Jekewitz/Ramm (Hrsg.), Soziale Grundrechte, S. 49; Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (343 f.); Ramm, in: Böckenförde/Jekewitz/ders. (Hrsg.), Soziale Grundrechte, S. 18 (30). Vgl. dazu auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 457 m. w. N.; Badura, in: Der Staat 1975, S. 17 (27); Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 27 f. 283 Ein guter und knapper Überblick findet sich bei Lange, in: Böckenförde/Jekewitz/Ramm (Hrsg.), Soziale Grundrechte, S. 49; Murswiek, HbStR V, § 112 Rn. 13; Winner, Soziale Dimension, S. 127 ff. Ausführlich Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 19 ff. Instruktiv auch Marauhn, in: Matscher (Hrsg.), Erweitertes Grundrechtsverständnis, S. 247 (251 ff.).

III. Zum Verständnis grundlegender Begrifflichkeiten

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in erster Linie entscheidend, was die Delegierten der beiden Konvente284 unter diesem Terminus verstanden haben. Grundlage der Konventsarbeiten war das bereits oben zitierte Mandat von Köln, nach welchem zwar soziale Rechte Aufnahme in die Charta finden sollten, aber eben nur soweit sie nicht lediglich Ziele für das Handeln der Union begründeten.285 Dem offensichtlich folgend interpretierte man zumindest zu Beginn der Chartaarbeiten den Begriff des sozialen Rechts eng, im Sinne der oben erörterten normtheoretischen Definition (vermischt mit einigen sozio-kulturellen Elementen), wenn es in CHARTE 3133/00 CONTRIB 28 heißt:286 „Unter sozialen Grundrechten werden hier die Rechte verstanden, die dem einzelnen Bürger zukommen und die er nur in seiner Verbindung zu anderen Menschen als Mitglied einer Gruppe wahrnehmen kann und die nur verwirklicht werden können, wenn die staatliche Gemeinschaft Leistungen zur Sicherung der Lebensgestaltung des einzelnen Bürgers erbringt. (. . .) Es handelt sich also um Grundrechte als Leistungs- oder Teilhaberechte.“

Letztlich dürfte der Begriff des sozialen Grundrechts in Zusammenhang mit der Charta jedoch deutlich weiter zu verstehen sein. Diese Überzeugung stützt sich darauf, dass – wie die Diskussionen vor allem im späteren Verfassungskonvent287 und die Charta-Erläuterungen288 zeigen – die Differenzierung zwischen den Grundrechten und den hier zu untersuchenden Grundsätzen ausschließlich deshalb vorgenommen worden ist, um damit die Problematik der Normierung sozialer Grundrechte in den Griff zu bekommen.289 Aus diesem Grund ist der Terminus „soziales Grund-Recht“ wohl auch nicht in einem engeren Sinne, als subjektiv-rechtliche Gewährleistung zu deuten, sondern als Oberbegriff, der auch die sog. Grundsatznormen mit umfasst. Mit anderen Worten, die Mitglieder der beiden Konvente scheinen all diejenigen Normen als soziale Grundrechte eingeordnet zu haben, die immer auch, aber nicht zwingend nur290 einen leistungsrechtlichen Charak284 Vgl. die Diskussion um den damaligen Art. 31 GRC in CHARTE 4316/00 CONVENT 34 und CHARTE 4383/00 CONVENT 41 (dort Art. 46 Abs. 2 GRC), nachzulesen bei Borowsky/Bernsdorff, Sitzungsprotokolle, S. 250–259. Vgl. auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 10 ff. Vgl. bezüglich des Verfassungskonvents den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II CONV 354/02 S. 8. 285 Siehe dazu schon oben Teil 1, II. 1. Vgl. auch Anhang IV der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates zu Köln v. 3./4. Juni 1999, Bulletin EU 6-1999, Anhang IV, I.64. 286 Vgl. CHARTE 3133/00 CONTRIB 28 S. 8 unter Hinweis auf Wipfelder, ZRP 1986, 140. 287 Siehe oben Teil 2, I. 2. b). 288 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5 GRC). 289 So auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 10, Art. 52 Rn. 45. Vgl. auch Burgorgue-Larsen, in: ders./Levade/Picod (Hrsg.), Charte, Art. II-112 EVV Rn. 43 f. Ähnlich Bernsdorff, VSSR 2001, 1 (17 f.).

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Teil 2: Grundlagen

ter aufweisen, ohne stets Recht im technischen Sinne und auf sozio-kulturelle Gewährleistungen beschränkt sein zu müssen.291 Folglich wird man auch die Garantie292 eines hohen Umweltschutzes (Art. 37 GRC) als soziales Grundrecht im Sinne der Grundrechtecharta begreifen müssen.293 Dieses weite Verständnis vom Begriff der sozialen Grundrechte wird auch dieser Arbeit zugrunde gelegt. Obwohl der Terminus aufgrund seiner Weite sehr ungenau ist, wird er sich als Obergriff für die Kennzeichnung des Problemkreises der Abgrenzung zwischen Grundrechten und Grundsätzen als nützlich erweisen. Im nachfolgenden Abschnitt IV wird deshalb auch nicht alleine nach der Kodifizierung von Grundsätzen in den Verfassungen ausgewählter Mitgliedstaaten, sondern weiter und umfassender nach der dortigen Kodifizierung sozialer Grundrechte gefragt. 3. Der Begriff des Allgemeinen Rechtsgrundsatzes Mit den in dieser Arbeit zu untersuchenden Grundsätzen nicht verwechselt werden dürfen die Allgemeinen Rechtsgrundsätze294 im Sinne des Art. 6 Abs. 2 EUV.295 Beide haben miteinander nichts zu tun. Bei letzteren handelt es sich um einen Rechtsquellentypus, der ursprünglich dem Völkerrecht entstammt296 und vom EuGH297 in Anlehnung an Art. 288 Abs. 2 290 Vgl. nur die Bestimmung des Art. 32 GRC (Verbot der Kinderarbeit). Vgl. dazu die Erläuterungen zur Charta in ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 26 (zu Art. 32 GRC). 291 So auch Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 30 ff., 41 f.; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 115, 793. Ähnlich Hilpold, ZÖR 2004, 351 (352 f.). 292 Siehe zur Verwendung der Begriffe „Garantie“ und „Gewährleistung“ oben Teil 1, Fn. 28. 293 Nach traditionellem deutschen Verständnis ist der Umweltschutz, ob als Staatsziel oder als subjektives Grundrecht, nicht den sozialen Grundrechten, sondern den Schutzpflichten zuzuordnen, vgl. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HbStR V, § 111 Rn. 36. Wie hier aber Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 30 ff.; Iliopoulos-Strangas, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, A IV Rn. 36. Aus diesem Grund passt die Bezeichnung „Solidarität“ für Titel IV der Charta nicht ganz. A. A. Kingreen, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 6 EUV Rn. 185, sich aber auf die enge, normtheoretische Definition des Begriffs der sozialen Grundrechte beziehend. 294 Vgl. ausführlich zur Entwicklung dieses Begriffs Jacoby, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 209 ff. 295 Darauf wies bereits Baroness Scotland of Asthal mehrmals hin, vgl. Arbeitspapier 16 der Arbeitsgruppe II. 296 Vgl. Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut. Vgl. ferner Graf Vitzthum, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, § 1 Rn. 142 ff.; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, S. 230 ff. 297 EuGH, Rs. C-44/79, Slg. 1979, 3727 Rn. 15 (Hauer) und Rs. C-222/84, Slg. 1986, 1651 Rn. 18 (Johnston).

III. Zum Verständnis grundlegender Begrifflichkeiten

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EGV und Art. 188 Abs. 2 EAV entwickelt worden ist, um allgemeine Rechtsfragen, auf die sich im Gemeinschaftsrecht keine Antworten finden lassen, lösen zu können.298 Herkömmlicherweise werden als Allgemeine Rechtsgrundsätze diejenigen nationalen Normen und Normen der EMRK bezeichnet, die von grundlegender Natur und zumindest den meisten mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gemeinsam sind. Man erhält sie durch sog. „wertenden Verfassungsvergleich“.299 Die nationalen Bestimmungen oder die Bestimmungen der EMRK stellen dabei jedoch keine Rechtsquellen dar. Der EuGH lehnt eine förmliche Bindung der Gemeinschaftsrechtsordnung beispielsweise an die EMRK ausdrücklich ab.300 Vielmehr dienen diese Vorschriften lediglich als Rechtserkenntnis- und Legitimationsquelle zur Gewinnung originär europäischer Gewährleistungen.301 Hauptanwendungsfälle der Allgemeinen Rechtsgrundsätze durch den EuGH sind die allgemeinen Grundsätze rechtsstaatlichen Gehalts und die Gemeinschaftsgrundrechte.302 Daneben gibt es im Europarecht auch noch die sog. allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, die nun wiederum von den gerade erörterten Allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu unterscheiden sind und wie diese ebenfalls nichts mit den Grundsätzen im Sinne von Art. 52 Abs. 5 GRC zu tun haben. Die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts gehen anders als die Allgemeinen Rechtsgrundsätze nicht aus den nationalen Rechtsordnungen hervor, sondern sind eigenständige Schöpfungen des Europarechts zur Lösung spezifisch europarechtlicher Probleme.303 Als Beispiel sei der Grundsatz des Vorrangs des Europarechts genannt.304

298 Vgl. Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 96 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 412 ff.; Wetter, Grundrechtscharta des EuGH, S. 25 ff. Grundlegend Bleckmann, in: ders. (Hrsg.), Studien zum EG-Recht, S. 83 ff. 299 Vgl. dazu Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 39 m. w. N. Vgl. auch den GA Slynn in dessen Schlussantrag in der Rs. C-155/79 Slg. 1982, 1575, 1649 f., 1658 (AM & S). 300 So ausdrücklich das EuG, Rs. T-112/98, Slg. 2001, II-729 (Mannesmann-Röhrenwerke AG). Vgl. dazu Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 33, Art. 52 GRCh. Rn. 19 ff.; Ehlers, Jura 2002, 468 (470). 301 Vgl. Walter, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 1 Rn. 24 f. 302 Vgl. Wetter, Grundrechtscharta des EuGH, S. 28 f. Ausführlich Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 102. 303 Vgl. Lecheler, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 145 ff.; Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 96. 304 EuGH, Rs. C-6/64, Slg. 1964, 1251, 1269 ff. (Costa/ENEL). Vgl. hierzu Lecheler, Neue allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 11.

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Teil 2: Grundlagen

IV. Soziale Grundrechte in anderen Kodifikationen Zum Abschluss dieses ersten Teils soll schließlich der Frage nachgegangen werden, in welcher Art und Weise soziale Grundrechte im hier verstandenen Sinne305 Aufnahme in andere Kodifikationen gefunden haben. Die nachfolgende Untersuchung beschränkt sich dabei auf die Verfassungen ausgewählter Mitgliedstaaten, die Europäische Menschenrechtskonvention, die Europäische Sozialcharta und den EG-Vertrag. 1. Die Bedeutung der rechtsvergleichenden Auslegung Die Frage der Normierung sozialer Grundrechte in anderen Kodifikationen erscheint für die Auslegung der Grundsätze im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC deshalb relevant, weil – wie oben bereits erläutert306 – die meisten Mitglieder der beiden Konvente bei den Beratungen nur ihre eigene Rechtsordnung vor Augen hatten und diese regelmäßig für die Argumentation herangezogen haben. Nicht selten wurde die eigene Ansicht mit nationalen Kategorien zu begründen versucht oder Formulierungen vorgeschlagen, die am nationalen Verfassungsrecht ausgerichtet waren.307 Das deutsche Konventsmitglied Meyer beispielsweise empfahl die Einführung eines Grundsatzes „Solidarität“, wahlweise in der Präambel oder in einem separaten Artikel. Zur Rechtfertigung verwies er auf das im deutschen Grundgesetz verankerte Sozialstaatsprinzip, dem der Gedanke der Solidarität „immanent“308 sei. Meyer stützte sich bei seiner Argumentation aber nicht nur auf das deutsche Grundgesetz. Darüber hinaus nahm er mehrfach Bezug auf die Landesverfassungen der deutschen Länder, deren Vorschriften den nicht-deutschen Konventsmitgliedern wahrscheinlich noch unbekannter waren als die des deutschen Grundgesetzes. Weil diese Landesverfassungen soziale Grundrechte wie „das Recht auf Arbeit“ oder „das Recht auf eine Wohnung“ enthielten,309 solle Gleiches – so Meyer – daher auch in der Europäischen Grundrechtecharta gewährleistet sein.310 Nicht anders argumentierten die Konventsmitglieder anderer Länder.311 Der französische 305

Siehe oben Teil 2, III. 2. Siehe oben Teil 1, II. 2. 307 Sehr interessant und umfassend die Darstellung bei Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 49 ff., sich jedoch auf die deutsch-französischen Debatten beschränkend. 308 Meyer, CHARTE 4271/00, S. 3 f. 309 Vgl. z. B. aus der Verfassung des Freistaates Bayern Art. 116 und 106 Abs. 1 BV. 310 Vgl. Meyer, CHARTE 4372/00, S. 33, 183. 311 Siehe dazu schon oben Teil 1, II. 2. Ausführlich zum Ganzen Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 53 ff. 306

IV. Soziale Grundrechte in anderen Kodifikationen

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Vertreter Braibant befürwortete zum Beispiel die umfassende Normierung sozialer Grundrechte in der Charta, weil diese eben auch in Frankreich Verfassungsrang hätten.312 Indes, so Braibant, handle es sich bei sozialen Grundrechten um Rechte, „(. . .) qui ne sont en réalité que des principes qu’il s’agit de mettre en œuvre (. . .)“, also um Rechte, die nichts anderes als Prinzipien oder Grundsätze seien, welche der Umsetzung bedürfen.313 Das Recht auf eine Wohnung beispielsweise sehe der Conseil constitutionnel als ein „objectif à caractère constitutionnel ou à valeur constitutionnelle“ an, also als ein „Ziel“ von Verfassungsrang, welches der Gesetzgeber zu beachten habe, aber nur hinsichtlich dieses Ziels gebunden sei, nicht hinsichtlich der Art und Weise der Umsetzung („obligation de résultat“).314 Die Ausrichtung an der eigenen Rechtsordnung führte unter anderem dazu, dass einige Begrifflichkeiten – so zum Beispiel der Terminus „Justiziabilität“ – von den Konventsmitgliedern unterschiedlich verstanden wurden, je nach dem aus welchem Rechtskreis die Abgeordneten kamen. Auf entsprechende Missverständnisse wies mehrfach auch der Vorsitzende des Chartakonvents Herzog hin.315 Neben dem, dass sich die meisten Konventsmitglieder bei der Ausarbeitung der Europäischen Grundrechtecharta offensichtlich auf das eigene, nationale Verfassungsrecht gestützt haben und schon alleine aus diesem Grund die Befassung mit den bedeutendsten europäischen Kodifikationen lohnt, verpflichtet die Charta selbst zur gebührenden Berücksichtigung ausländischer Rechtstraditionen. Eine solche Verpflichtung wird in der Charta mittelbar angeordnet, indem über Art. 52 Abs. 7 GRC die Erläuterungen zur Charta gebührend zu berücksichtigen sind und dort zu lesen ist, dass die Regelung des Art. 52 Abs. 5 GRC insbesondere auch mit dem Ansatz der Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten zu „Grundsätzen“, insbesondere im Bereich des Sozialrechts, in Einklang stünden.316 Diesem Verständnis steht auch nicht entgegen, dass die Absätze zwei bis vier des Art. 52 GRC angesichts des Wortlauts317 sich wohl nicht auf die hier zu untersuchenden Grundsätze beziehen.318 Diese Absätze sagen – ebenso wie der 312

Vgl. Braibant, CHARTE 4322/00, S. 5. Vgl. auch ders., RUDH 2000, 1 (68). Braibant, Regards sur l’Actualité Nº 264, août 2000, S. 13. Ausführlich zum Ganzen sogleich Teil 2, IV. 2. b). 314 Braibant, RUDH 2000, S. 48, 68; ders., Regards sur l’Actualité, Nº 264 août 2000, S. 28, 65. 315 Vgl. Borowsky/Bernsdorff, Sitzungsprotokolle, S. 255. Siehe dazu schon oben Teil 2, I. 2. a). 316 Vgl. die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5 GRC). 317 Zu weiteren Argumenten ausführlich unten Teil 4, V. 1. 318 H.M., vgl. statt vieler Barriga, Entstehung, S. 157; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 25, 44b; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), 313

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Teil 2: Grundlagen

fünfte Absatz der Präambel – nämlich nur, dass die in der Charta anerkannten Rechte so zu interpretieren sind wie sie in anderen Teilen der Verfassung (Abs. 2) oder in der EMRK (Abs. 3) geregelt werden oder sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Abs. 4) ergeben. Nicht ausgeschlossen wird damit aber, dass auch die Grundsätze in Anlehnung an diese Kodifikationen ausgelegt werden können, vorausgesetzt natürlich, dass sich dort überhaupt Anhaltspunkte für die Interpretation der Grundsatznormen finden.319 Diese Sichtweise wird durch die Rechtsprechung des EuGH bestätigt, in der seit der Entscheidung Stauder320 die Methode des „wertenden Verfassungsvergleichs“321 als spezielle Ausformung der rechtsvergleichenden Auslegung322 einen festen Platz hat. Der EuGH ebenso wie das Schrifttum wird deshalb nicht umhinkommen, der unterschiedlichen Normierung sozialer Grundrechte in den Mitgliedstaaten und in anderen europäischen Kodifikationen bei der Interpretation der Grundsätze im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC ausreichend Beachtung zu schenken. Eine strikte Ausrichtung an diesen Kodifikationen ist damit aber nicht gefordert.323 Eine solche würde gerade der eigenständigen Stellung des Europarechts – wie oben bereits ausführlich dargelegt324 – widersprechen.

Charta, Art. 52 Rn. 46 ff., 71. Ausführlich zu diesen Bestimmungen v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 377 ff. m. w. N.; Griller, in: Duschanek/ders. (Hrsg.), Grundrechte für Europa, S. 131 (145 ff. m. w. N.). Instruktiv auch Dorf, JZ 2005, 126 (128). Zurückhaltender Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 27 mit Fn. 62, der offensichtlich der Meinung ist, dass Art. 52 Abs. 2 GRC durchaus auch auf mit den Grundsatznormen vergleichbaren Bestimmungen verweisen würde. Ähnlich Bühler, Einschränkung, S. 279 f. Vgl. auch den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II CONV 354/02 S. 6 ff., der die hier vertretene Ansicht stützt. Ausführlich zum Ganzen unten Teil 4, V. 1. 319 So in etwa auch Weber, in: Stern/Tettinger (Hrsg.), Charta, B V Rn. 14 m. w. N. 320 EuGH, Rs. C-29/69, Slg. 1969, S. 419 (421) (Stauder). 321 Vgl. dazu Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 360 ff. Vgl. die Normierung in Art. 6 Abs. 2 EUV. 322 Vgl. dazu Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 277 ff. m. w. N.; Häberle, JZ 1989, 913 ff. 323 Inwieweit eine stärkere Berücksichtigung dieser Kodifikationen durch Art. 53 GRC gefordert ist, um ein möglichst hohes Schutzniveau zu erreichen, ist noch nicht abzusehen, spielt für die vorliegende Untersuchung aber auch keine große Rolle. Vgl. dazu Weber, in: Stern/Tettinger (Hrsg.), Charta, B V Rn. 20 f. m. w. N. 324 Siehe oben Teil 2, II.

IV. Soziale Grundrechte in anderen Kodifikationen

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2. Soziale Grundrechte in den Verfassungen der Mitgliedstaaten Die folgende Darstellung325 beschränkt sich auf diejenigen nationalen Verfassungsordnungen, die in den beiden Konventen im Rahmen der Diskussion um die Kodifizierung sozialer Garantien am häufigsten rechtsvergleichend herangezogen wurden. Ziel dieses Überblicks ist es nicht, die Problematik der sozialen Bestimmungen in den einzelnen Mitgliedstaaten erschöpfend zu erörtern. Vielmehr soll lediglich untersucht werden, in welcher Art und Weise soziale Grundrechte in den verschiedenen Rechtsordnungen unter verfahrensrechtlichen, regelungstechnischen und normtheoretischen Gesichtspunkten gewährleistet sind. Daraus werden Hinweise erwartet, die bei der Interpretation der Grundsatznormen der Grundrechtecharta hilfreich sein dürften. Der Begriff des sozialen Grundrechts ist weiterhin in einem umfassenden Sinne zu verstehen,326 selbst wenn dieser in dem jeweiligen Mitgliedstaat enger ausgelegt werden sollte. a) Bundesrepublik Deutschland aa) Überblick Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gibt es im Wesentlichen zwei verschiedene Normgruppen, die im Zusammenhang mit der Normierung sozialer Gewährleistungen von Bedeutung sind.327 Zum einen sind dies die Grundrechte im eigentlichen, engeren Sinne. Als Grundrechte werden nach dem formalen deutschen Verständnis ausschließlich solche subjektiven Rechte des Einzelnen gegen den Staat verstanden, die im ersten Abschnitt des Grundgesetzes (Art. 1–19 GG) niedergelegt sind.328 Nur diese Garantien (zusammen mit den grundrechtsähnlichen Rechten)329 sind es, 325 Übersetzungen der Verfassungen einzelner Länder sind der Textsammlung Kimmel/Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten entnommen. Sonstige Übersetzungen (z. B. von Urteilen, Anmerkungen, Literaturauszügen) stammen vom Verfasser, wenn nicht anders kenntlich gemacht. Eine nahezu umfassende rechtsvergleichende Studie findet sich bei Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), La Protection des droits sociaux fondamentaux. 326 Siehe dazu oben Teil 2, III. 2. 327 Vgl. dazu CHARTE 4133/00 S. 15 f. 328 Vgl. zur formellen Definition der Grundrechte Bleckmann, Staatsrecht II, § 5 Rn. 1; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 277; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 60 ff.; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Vor Art. 1 Rn. 17; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 149. 329 Zum Begriff des grundrechtsähnlichen Rechts vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG a. E. Vgl. auch Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 51; Starck, in: v. Mangoldt/

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die der Bürger im Wege der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht geltend machen kann (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG).330 Aber auch auf der Ebene des Verwaltungsrechts vermag der Einzelne ausschließlich subjektive öffentliche Rechte331 (also Grundrechte, grundrechtsgleiche Rechte oder subjektive Rechte des einfachen Rechts) einzuklagen (vgl. § 42 Abs. 2 VwGO).332 Anders als beispielsweise in Frankreich333 dient der öffentliche Rechtsschutz in Deutschland primär dem Individualinteresse.334 Einen allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch gibt es nicht.335 Grundrechte stellen in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat dar. Manche Grundrechte des Grundgesetzes weisen jedoch zudem eine leistungsrechtliche Dimension auf,336 die der Einzelne auch gerichtlich geltend machen kann (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a bzw. Art. 19 Abs. 4 GG).337 Innerhalb dieser leistungsrechtlichen Dimension lassen sich insbesondere338 Klein/ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 149; Sturm, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 88 m. w. N. 330 Vgl. Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 104 ff.; Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 550. 331 Ottmar Bühlers umfassende Definition des subjektiven öffentlichen Rechts lautete: „Subjektives öffentliches Recht ist diejenige rechtliche Stellung des Untertanen zum Staat, in der er auf Grund eines Rechtsgeschäftes oder eines zwingenden, zum Schutz seiner Individualinteressen erlassenen Rechtssatzes, auf den er sich der Verwaltung gegenüber soll berufen können, vom Staat etwas verlangen kann oder ihm gegenüber etwas tun darf. Vgl. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 224. Ausführlich zum Ganzen unten Teil 3, III. 4. c) aa). 332 Vgl. statt vieler Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 14 Rn. 53 ff.; Kopp/ Schenke, VwGO, § 42 Rn. 59 f. m. w. N. 333 Dazu sogleich unten Teil 2, IV. 2. b). 334 Dies ist nicht ganz unstreitig. Mitunter habe die Verfassungsbeschwerde auch „die Funktion, das objektive Verfassungsrecht zu wahren und seiner Auslegung und Fortbildung zu diesen“, vgl. BVerfGE 33, 247 (259); 98, 219 (243 m. w. N.). Vgl. dazu auch Masing, Mobilisierung der Bürger, S. 105; Sturm, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 77 m. w. N.; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 93 Rn. 172 m. w. N. 335 BVerfG, NJW 2001, 3534. 336 Zu den verschiedenen Dimensionen der Grundrechte vgl. ausführlich Pieroth/ Schlink, Staatsrecht II, Rn. 57 ff. m. w. N.; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Vor Art. 1 Rn. 27 ff., insb. 39 ff. m. w. N.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 167 ff. m. w. N. Vgl. auch G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87, 94 ff. Ausführlich dazu unten Teil 3, II. 5) a. 337 Streitig ist, ob sich die Einklagbarkeit der Grundrechte aus diesen selbst heraus oder erst aus den genannten Vorschriften ergibt, vgl. dazu BVerfGE 49, 252 (257); Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 19 Rn. 361 f.; W. Krebs, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 19 Rn. 47; Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 169 m. w. N. 338 Mittlerweile ist auch die Bedeutung der Grundrechte für Verfahren und Organisation allgemein anerkannt, vgl. BVerfGE 53, 30 (55) (Mühlheim-Kärlich); Hufen,

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Ansprüche auf Schutz, auf Teilhabe oder auf eine Leistung im engeren Sinne339 unterscheiden.340 Die umfassende Justiziabilität der Grundrechte (bzw. auf der Ebene des Verwaltungsrechts die der subjektiven öffentlichen Rechte) geht mitunter sogar soweit, dass ein Einzelner gegen den Gesetzgeber im Wege der Normerlassklage den Erlass eines formellen Gesetzes341 (bzw. auf der Ebene des Verwaltungsrechts gegen den jeweiligen Normgeber den Erlass einer Verordnung oder Satzung)342 durchsetzen kann.343 Die zweite Normkategorie, die im Rahmen der Thematik der sozialen Grundrechte eine Rolle spielt, ist die der Staatszielbestimmungen.344 Bei diesen handelt es sich lediglich um objektivrechtliche Pflichten des Staates, die der Bürger deshalb – jedenfalls im Prinzip – nicht einzuklagen imstande ist.345

Staatsrecht II, § 5 Rn. 1, 11 ff., 16 ff. P. Häberle, VVDStRL 30, 1972, S. 82 ff. bezeichnet diese Dimension von Grundrechten in Anlehnung an die Statuslehre Jellinks „status activus processualis“. Ob man diese Dimension tatsächlich dem „status activus“ oder dem „status positivus“ zuordnen soll, kann letztlich dahinstehen. Vgl. hierzu Denninger, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbStR V, § 113. 339 Der Terminus Leistungsrecht i. e. S. wird hier und im Folgenden als konkreter Anspruch auf Etwas verstanden (z. B. auf eine Geldzahlung). Der Terminus Leistung i. w. S. umfasst dagegen neben dem Leistungsrecht i. e. S. insbesondere auch Schutzrechte, Verfahrensrechte oder Teilhaberechte. Zu dieser Unterscheidung vgl. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 395 ff. m. w. N.; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 60 m. w. N. Vgl. zum Ganzen G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87, 94 ff. 340 Zu Einzelheiten vgl. Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 60 ff. m. w. N.; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Vor Art. 1 Rn. 27 ff., insb. 39 ff. m. w. N.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 167 ff. m. w. N. Vgl. auch G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87, 94 ff. 341 Vgl. zur Normerlassklage von formellen Gesetzen BVerfGE 56, 54 (70 ff.) (anders noch BVerfGE 1, 97 [100 f.]); Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, Rn. 495 ff.; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 150 f.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 50a. 342 Vgl. zur Normerlassklagen von nur materiellen Gesetzen Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 20 m. w. N.; Kopp/Schenke, VwGO, § 47 Rn. 13 f. m. w. N.; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 1081 ff. 343 Einzelheiten sind umstritten. Ausführlich zum Ganzen Dietlein, Schutzpflichten, S. 175 ff. m. w. N.; Szczekalla, Schutzpflichten, S. 113 f.; Klein, NJW 1989, 1638 f.; Möstl, DÖV 1998, 1029. 344 Vgl. zur Definition der Staatszielbestimmungen Scheuner, FS Forsthoff, S. 325 ff. Vgl. auch den Bericht der Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge“ von 1983, S. 19 f. Ausführlich zum Ganzen Sommermann, Staatszielbestimmungen, S. 348 ff. Die Terminologie ist uneinheitlich. 345 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 50 m. w. N.; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 112 f. m. w. N.; Neumann, DVBl. 1997, 92 ff.; Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 32 ff. m. w. N.

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bb) Soziale Dimension von Grundrechten im engeren Sinne Unter dem Begriff des sozialen Grundrechts können insbesondere346 folgende echte Grundrechte des Grundgesetzes subsumiert werden: – das Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 Abs. 1, 2 GG (z. B. Schutz von Ansprüchen347, die „auf nicht unerheblicher Eigenleistung beruhen und der Existenzsicherung348 dienen“349); – die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG (z. B. das derivative Teilhaberecht auf Zugang zu einer Arbeitsvermittlung350 oder einer Hochschule351; Art. 12 Abs. 1 GG gewährt jedoch kein Recht auf Bereitstellung eines Arbeitsplatzes352); – das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (z. B. Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit durch Verpflichtung zum Umweltschutz353); – die Würde des Menschen und das Recht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und 1 Abs. 1 i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG (z. B. das Recht auf das physische354 und wirtschaftliche355 Existenzmini346 Ausführlich dazu Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 235 ff.; Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte im Grundgesetz, S. 33 ff. Zu den grundrechtlichen Schutzpflichten ausführlich Szczekalla, Schutzpflichten, S. 103 ff. m. w. N. 347 Vgl. die Aufzählung bei Jarass, in: ders./Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 14 Rn. 11 ff. m. w. N.; Wendt, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 14 Rn. 34 m. w. N. 348 Warum es auf die Existenzsicherung ankommen soll, ist nicht recht ersichtlich. So auch Jarass, NZS 1997, 546 f. 349 BVerfGE 74, 203 (213); 100, 1 (33). Vgl. zum Ganzen Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 243. 350 Vgl. Umbach, in: ders./Clemens (Hrsg.), GG, Art. 12 Rn. 60. 351 BVerfGE 33, 303 ff. (numerus clausus). Vgl. auch Tettinger/Mann, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 12 Rn. 11 m. w. N. 352 Allg. Meinung, vgl. BVerfGE 84, 133 (146 f.). Vgl. auch Tettinger/Mann, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 12 Rn. 13. 353 BVerfGE 49, 89 (141) (Kalkar I); 53, 30 (57) (Mülheim-Kärlich); BVerwGE, 101, 1 (10). Vgl. auch Lorenz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbStR VI, § 128 Rn. 54; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 95 m. w. N. Streitig ist, ob ein Anspruch auf medizinische Versorgung besteht, vgl. dazu Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 241 f. m. w. N. 354 BVerfGE 82, 60 (80); BVerwGE 1, 159 (161 f.); 52, 339, (346). So auch Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 2 Rn. 58; Kunig, in: v. Münch/ders. (Hrsg.), GG, Art. 2 Rn. 60. A. A. noch BVerfGE 1, 97 (104 f.); diese erste Entscheidung war – so ausdrücklich auch das BVerfG selbst – jedoch der allgemeinen Notlage der damaligen Zeit geschuldet. Ausführlich zum Ganzen Martinez Soria, JZ 2005, 644 ff.; Wallerath, JZ 2008, 157 ff. 355 BVerfGE 45, 187 (228). Vgl. auch Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 36.

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mum; das Recht auf die lebensnotwendige medizinische Grundversorgung356); – die Gleichheitsrechte (z. B. aus Art. 3 Abs. 1–3, 6 Abs. 5357 GG358) schützen auch auf dem Gebiet des Sozialrechts vor grundlosen Ungleichbehandlungen und gewähren immer auch ein derivatives Recht auf Teilhabe;359 auch bei der Förderpflicht aus Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG handelt es sich um ein Grundrecht360. Um es nochmals deutlich zu machen: Bei all diesen Garantien handelt es sich um Grundrechte im engeren Sinne. Sie verleihen dem Einzelnen subjektive Rechte auf Abwehr, Schutz, Teilhabe oder Leistung i. e. S., welche dieser auch einzuklagen berechtigt ist. Trotz der Kategorisierung als echte Grundrechte wird der Bürger mit diesen Gewährleistungen zumindest im Leistungsbereich vor Gericht nur selten Erfolg haben.361 Dies lässt sich damit begründen, dass das BVerfG bei Klagen beispielsweise auf Schutz dem Gesetzgeber in aller Regel362 einen sehr weiten Gestaltungsspielraum einräumt, über das Wie363, teilweise sogar über das Ob364 einer Umsetzung.365 Die staatliche Schutzpflicht sei nur dann verletzt, „wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat oder die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig 356 So auch Wiedemann, in: Umbach/Clemens (Hrsg.), GG, Art. 2 Rn. 376. A. A., nur ein derivatives Teilhaberecht gewähren will Kunig, in: v. Münch/ders. (Hrsg.), GG, Art. 2 Rn. 60; Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 2 Rn. 225 m. w. N.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), GG, Art. 2 Rn. 194. 357 BVerfGE 26, 44 (61 f.). Vgl. auch Jarass, in: ders./Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 6 Rn. 53 ff. m. w. N. 358 Ausführlich dazu Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte im Grundgesetz, S. 68 ff. 359 Vgl. Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 96 ff. 360 BVerfGE 89 276 (285 ff.). So auch Jarass, in: ders./Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 3 Rn. 90 ff. m. w. N. A. A. Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 3 Rn. 66. 361 Dies zeigt auch die Statistik. Nur ca. 3% der eingelegten Verfassungsbeschwerden sind letztlich erfolgreich. Vgl. hierzu http://www.bundesverfassungs gericht.de/organisation/gb2007/A-IV-2.html (zuletzt aufgerufen am 1. September 2008). 362 Das Recht auf das wirtschaftliche Existenzminimum (siehe oben bei Fn. 355) ist eines der wenigen Ausnahmen, bei dem dem einzelnen Bürger ein Anspruch auf eine konkrete Leistung gewährt wird. 363 BVerfGE 49, 89 (126 ff.) (Kalkar I); 56, 54, 78. Vgl. auch BVerfG, NJW 1998, 3264 (3265). 364 BVerfGE 46, 160 (164) (Schleyer). 365 Vgl. zum Ganzen Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HbStR V, § 111 Rn. 162 ff. m. w. N.; Jaeckel, Schutzpflichten, S. 92 ff. m. w. N.; Jarass, in: ders./ Pieroth (Hrsg.), GG, Vorb. vor Art. 1 Rn. 6, 52 m. w. N.; Murswiek, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HbStR V, § 112 Rn. 108.

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unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen, oder erheblich dahinter zurückbleiben“.366 Ähnliches gilt, wenn der Gesetzgeber vorhandene Leistungen oder Schutzvorkehrungen wieder beseitigen will. Auch hier verhindert das jeweilige Grundrecht nicht die Absenkung des bestehenden Leistungsniveaus etwa in Form einer stand-still-Klausel, sondern legt dem Gesetzgeber eine bloße Rechtfertigungspflicht367 auf, der dieser im Rahmen der ihm zugedachten weiten Einschätzungsprärogative zu genügen hat.368 Demzufolge ist es in der Bundesrepublik mit entsprechender Begründung grundsätzlich zulässig, beispielsweise geschaffene Lehrkapazitäten oder Studienplätze wieder abzubauen.369 Dort wo kein Anspruch auf eine konkrete Leistung besteht, existiert umgekehrt – jedenfalls nach deutschem Verständnis – auch kein Anspruch auf Erhalt des einmal erreichten Sozialniveaus, sofern ein gewisser Mindeststandard erhalten bleibt und der Anspruch des Bürgers auf Schutz seines Vertrauens370 beachtet wird.371 Sozialleistungen, die auf nicht unerhebliche Beiträge des Einzelnen beruhen, genießen darüber hinaus den erweiterten Bestandsschutz nach Art. 14 GG.372 Lediglich derivative Teilhaberechte weisen regelmäßig einen so konkreten Regelungsgehalt auf – der diskriminierten Person muss Teilhabe an bereits vorhanden Ressourcen gewährt werden –, dass die Erfolgsaussichten bei der Geltendmachung dieser Normkategorie deutlich höher sind.373 366

BVerfGE 92, 26 (46). Dies ist nicht ganz unumstritten. Manche gehen sogar davon aus, dass der Gesetzgeber ohne besonderer Begründungspflicht das vorhandene Sozialniveau wieder absenken könne, vgl. Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 576; Simon, FS Redeker, S. 159 (163). So wie hier dagegen Bierweiler, Soziale Rechte, S. 232 f. m. w. N.; Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 245. Vgl. zum Ganzen Neumann, DVBl. 1997, 92 (97 f.). 368 BVerfGE 82, 60 (80); BSGE 15, 71 (76). Siehe auch die in Fn. 367 Genannten. 369 OVG Berlin, NVwZ 1996, 1239. 370 Zum Anspruch des Einzelnen auf Kontinuität und Vertrauensschutz im Sozialrecht instruktiv Schlenker, Soziales Rückschrittsverbot, S. 193 ff. 371 Ganz h. M., vgl. BVerfGE 39, 302 (AOK); BSGE 15, 71 (76); 24, 285 (289); Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 576; Neumann, DVBl. 1997, 92 (97); Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 116. A.A. Kittner, in: Wassermann (Hrsg.), AK GG, 2. Aufl. 1989, Art. 20 Abs. 1–3, IV, Rn. 29. Vgl. dazu auch Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 231 ff. m. w. N.; Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte, S. 21 ff. m. w. N. Umfassend Schlenker, Soziales Rückschrittsverbot. Bei den Staatszielen Umweltschutz/Tierschutz wird dagegen überwiegend ein Rückschrittsverbot bejaht, vgl. Epiney, in: v. Mangoldt/Klein (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 68 m. w. N.; Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 44; Schultze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 44 ff., 71 m. w. N. Ähnlich Sommermann, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 27 m. w. N. A. A. Kloepfer, in: BK, Art. 20a Rn. 47, der nur einen Minimalstandard als geschützt ansieht. 372 BVerfGE 69, 272; 74, 203 (213); 100, 1 (33). Vgl. zum Ganzen Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 242 ff. 373 BVerfGE 33, 303 ff. (numerus clausus). 367

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Zur Veranschaulichung der Wirkweise von sozialen Grundrechten in Deutschland sei als Beispiel die Garantie des Art. 6 Abs. 4 GG genannt. Bei diesem Anspruch der Mutter auf Schutz und Fürsorge handelt es sich um ein echtes Grundrecht oder genauer, um ein grundrechtliches Leistungsrecht.374 Indes verpflichtet auch diese Norm nicht zu einer konkrete Schutzmaßnahme oder Leistung,375 sodass es dem Gesetzgeber überlassen bleibt, wie er diesen Schutz- und Fürsorgeauftrag konkret erfüllt.376 Es verwundert deshalb nicht, dass zumindest der leistungsrechtlichen Dimension dieser Bestimmung aufgrund des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers in der Praxis keine allzu große Bedeutung beigemessen wird.377 Erst wenn der Gesetzgeber die Grenze seiner Gestaltungsfreiheit überschreitet und einer Mutter den verfassungsrechtlich gebotenen Mindestschutz verweigert (z. B. ein wirksamer Kündigungsschutz und ein Beschäftigungsverbot während der Schwangerschaft), verdichtet sich Art. 6 Abs. 4 GG zu einem Anspruch mit konkretem und damit klagbarem Inhalt.378 cc) Staatszielbestimmungen Wie bereit festgestellt, ist die zweite Normkategorie, die im Rahmen der Thematik der sozialen Grundrechte eine Rolle spielt, die der Staatszielbestimmungen379. Für die vorliegende Arbeit von Interesse sind vor allem das Staatsziel des Umwelt- und Tierschutzes aus Art. 20a GG und das Sozialstaatsprinzip380 aus381 Art. 20 Abs. 1 GG. Auf diese beiden Verfassungsziele soll sich die folgende Darstellung beschränken. 374 BVerwGE 47, 23 (27); BAGE 69, 1 (11). Vgl auch Coester-Waltjen, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 6 Rn. 105; Gröschner, in: Dreier (Hrsg.), Art. 20 (Sozialstaat) Rn. 60; Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 6 Rn. 281 m. w. N. 375 BVerfGE 82, 60 (283). 376 BVerfGE 37, 121 (127). Vgl. dazu auch Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 237 f. m. w. N. 377 So auch Murswiek, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbStR V, § 112 Rn. 56; Zacher, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbStR VI, § 134 Rn. 118 m. w. N. 378 BVerwGE 54, 124 (130); BAGE 69, 1 (11). Vgl. auch Pieroth, in: Jarass/ders. (Hrsg.), GG, Art. 6 Rn. 49 f. 379 Vgl. zur Definition der Staatszielbestimmungen Scheuing, FS Forsthoff, S. 325 ff. Vgl. auch den Bericht der Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge“ von 1983, S. 19 f. Ausführlich zum Ganzen Sommermann, Staatszielbestimmungen, S. 348 ff. 380 Dass das Adjektiv „sozial“ in Art. 20 Abs. 1 GG eine Staatszielbestimmung statuieren sollte, die gleichwertig neben den Staatszielbestimmungen „Rechtsstaat“ und „Demokratie“ stehen wird, war anfänglich stark umstritten, vgl. zur Historie Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte, S. 7 ff. m. w. N.

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Teil 2: Grundlagen

Aus normtheoretischer Sicht stellen Staatszielbestimmungen nicht nur unverbindliche Programmsätze382 dar, sondern statuieren verbindliche383 Verpflichtungen des Staates, welche aufgrund ihrer Unbestimmtheit jedoch der Konkretisierung – vorrangig,384 aber nicht nur – durch den Gesetzgeber bedürfen. Die Verbindlichkeit der Staatszielbestimmungen bezieht sich deshalb im Allgemeinen auf die Verwirklichung eines bestimmten Ziels, während die Wahl des Mittels der zur Umsetzung verpflichteten staatlichen Stelle vorbehalten bleibt.385 Im Rahmen der Gesetzgebung können Staatszielbestimmungen auch zur Rechtfertigung für den Eingriff in Grundrechte herangezogen werden,386 stellen aber selbst keine Eingriffsberechtigung dar.387 Daneben haben sie eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Auslegung einfachgesetzlicher oder anderer grundgesetzlicher Normen durch Exekutive und Judikative.388 Zudem wird in den Staatszielen Umweltschutz/Tierschutz aus Art. 20a GG im Gegensatz zum Sozialstaatsprinzip389 ein absolutes Rückschrittsverbot gesehen, welches zwar nicht die Rücknahme von Einzelmaßnahmen, aber die Absenkung des Gesamtumweltschutz-/Tierschutzniveaus verbiete.390 Staatszielbestimmungen begründen im Allgemeinen jedoch keine subjektiven Rechte.391 Dies ergibt 381 Das Sozialstaatsprinzip wird überdies in Art. 23 Abs. 1 und 28 Abs. 1 GG genannt. 382 So aber noch Grewe, DRZ 1949, 349 (351). Ähnlich Forsthoff, in: ders. (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, S. 165 (192). 383 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Herzog, in: Mauz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 20 VIII Rn. 6; Schnapp, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 35; Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 35 m. w. N. 384 BVerfGE 1, 97 (105). Vgl. auch Jarass, in: ders./Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 1 f.; Schnapp, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 19; Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 46 ff. 385 Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 46 ff.; Sommermann, Staatszielbestimmungen, S. 377. 386 BVerwG, DVBl. 2000, 1277. Vgl. statt vieler Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 577; Jarass, in: ders./Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 15 m. w. N. Ausführlich dazu Sommermann, Staatszielbestimmungen, S. 421 ff. 387 BVerfGE 59, 231. Vgl. Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HbStR III, § 57 Rn. 127; Papier, in: v. Maydell/Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, S. 114 (116 m. w. N.); Sommermann, Staatszielbestimmungen, S. 422 f. A. A. Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 234 m. w. N. 388 BVerfGE 59, 231, (262 f.). Vgl. auch statt vieler Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 22. 389 Siehe dazu oben Teil 2, IV. 2. a) bb). 390 Vgl. Epiney, in: v. Mangoldt/Klein (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 68 m. w. N.; Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 44; Schultze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 44 ff., 71 m. w. N. Ähnlich Sommermann, in: v. Münch/ Kunig (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 27 m. w. N. A. A. Kloepfer, in: BK, Art. 20a Rn. 47, der nur einen Minimalstandard als geschützt ansieht.

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sich zum einen aus deren systematischen Stellung hinter dem Grundrechtskatalog.392 Zum anderen sind Staatszielbestimmungen auch viel zu unbestimmt, als dass aus diesen konkrete Ansprüche zugunsten der Bürger abgeleitet werden könnten.393 Infolgedessen kann sich der Bürger394 im Grundsatz weder vor dem Bundesverfassungsgericht noch vor den einfachen Gerichten auf Staatszielbestimmungen berufen. Von diesem Grundsatz gibt es jedoch zwei wichtige Ausnahmen, die nicht unerwähnt bleiben sollen: Erstens können Staatszielbestimmungen dann vor Gericht Prüfungsmaßstab sein, wenn ein Bürger nicht auf eine Leistung klagt, sondern lediglich eine gegen ihn gerichtete hoheitliche Maßnahme angreift. Seit der ElfesEntscheidung des BVerfG395 liegt nämlich jedenfalls ein Verstoß gegen die allgemeine Handlungsfreiheit vor, wenn die Staatsgewalt objektives Verfassungsrecht – also auch Staatszielbestimmungen396 – missachtet.397 Zweitens werden ausnahmsweise Staatszielbestimmungen zusammen mit Grundrechten (v. a. Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 2 S. 2 GG)398 herangezogen, um subjektive Rechte auf bestimmte Leistungen (z. B. das Recht auf das wirtschaftliche Existenzminimum)399 zu begründen. Vereinzelt wird sogar vertreten,400 391 Allg. Meinung. Vgl. BVerfGE 27, 253 (283); BSGE, 10, 97 (100). Vgl. ebenso statt vieler Herzog, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 20 VIII Rn. 28, 49 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 68; Schnapp, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 19. Vgl. bzgl. Art. 20a BT-Drs. 12/6000 S. 67. 392 Vgl. Herzog, in: Mauz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 20 VIII Rn. 28; Schnapp, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 19. 393 BVerfGE 65, 182 (193); 94, 241 (263 m. w. N.). Vgl. auch Jarass, in: ders./ Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 113 m. w. N. Infolgedessen kann aus dem Sozialstaatsprinzip auch keine Bestandsgarantie abgeleitet werden. Siehe dazu schon oben Teil 2, IV. 2. a) bb) und Fn. 367. 394 Die Einhaltung von Staatszielbestimmungen durch den Gesetzgeber kann mit Hilfe objektiver Verfahrensarten natürlich jederzeit überprüft werden. Der einzelne Bürger ist in solchen Verfahren jedoch nicht antragsberechtigt. 395 BVerfGE 6, 32 (41) (Elfes). Neuerdings wird auf die explizite Nennung eines Grundrechts häufig verzichtet, vgl. BVerfGE 102, 347 (361). 396 Von besonderer Bedeutung ist das Rechtsstaatsprinzip mit seinen zahlreichen Unterprinzipien (z. B. dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dem Bestimmtheitsgebot oder dem Rückwirkungsverbot). 397 Vgl. Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 93 ff.; Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 50 ff. m. w. N. Vgl. Schultze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 46. 398 Vgl. dazu Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 573 ff.; Herzog, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 20 VIII Rn. 28, 49 ff.; Jarass, in: ders./Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 124 m. w. N. 399 Siehe dazu oben Teil 2, IV. 2. a) bb) mit Fn. 355. 400 Vgl. Papier, in: v. Maydell/Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, S. 114 (117 Rn. 8 f.), ebenfalls unter Bezugnahme auf BVerfGE 1, 97, 105. In diese Richtung auch Bierweiler, Soziale Rechte, S. 234. A. A. (mittlerweile ganz h. M.), vgl.

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Teil 2: Grundlagen

dass sich diese Ansprüche bereits direkt aus den eigentlich objektiv-rechtlichen Staatszielbestimmungen – also ohne zusätzlichen Bezug zu subjektiven Gewährleistungen – ergeben würden. Selbst das BVerfG hat beispielsweise in seiner Entscheidung zur Hinterbliebenenrente401 offensichtlich nicht ausgeschlossen, dass sich unter Umständen unmittelbar aus dem Sozialstaatsprinzip subjektive Rechte ableiten lassen, wenn es urteilte: „Wenn auch die Wendung vom ‚sozialen Bundesstaat‘ nicht in den Grundrechten, sondern in Art. 20 des Grundgesetzes (. . .) steht, so enthält sie doch ein Bekenntnis zum Sozialstaat (. . .). Das Wesentliche zur Verwirklichung des Sozialstaates aber kann nur der Gesetzgeber tun; (. . .). (. . .) [N]ur wenn der Gesetzgeber diese Pflicht willkürlich, d.h. ohne sachlichen Grund versäumte, könnte möglicherweise dem Einzelnen hieraus ein mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbarer Anspruch erwachsen.“ Ähnlich äußerte sich das BVerfG in einer späteren Entscheidung:402 „Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes enthält infolge seiner Weite und Unbestimmtheit regelmäßig keine unmittelbaren Handlungsanweisungen, die durch die Gerichte ohne gesetzliche Grundlage in einfaches Recht umgesetzt werden könnten. Insoweit ist es richterlicher Inhaltsbestimmung weniger zugänglich als die Grundrechte (. . .); es zu verwirklichen ist in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers.“ Im Umkehrschluss lässt sich daraus folgern, dass das BVerfG die Begründung subjektiver Rechte direkt aus den Sozialstaatsprinzip dann für möglich hält, wenn die jeweilige Gewährleistung für den Gesetzesanwender bestimmt genug ist. Zudem wird in der Literatur403 argumentiert, dass, wenn aus dem objektiv-rechtlichen Rechtsstaatsprinzip der subjektivrechtliche Justizgewährungsanspruch abgeleitet werden könne,404 es nicht einzusehen sei, warum nicht unter bestimmten Umständen und in engen Grenzen auch aus dem Sozialstaatsprinzip konkrete Ansprüche ableitbar sein sollten. Dürig405 schrieb bereits 1953: „Will sich die objektive verfassungsrechtliche Entscheidung für den Sozialstaat nicht selbst wieder in ihrem materiellen Mindestgehalt aufheben, dann muß der Pflicht des Staates zur Schaffung des Existenzminimums ipso iure ein öffentlicher status positivus socialis des Einzelnen auf das Existenzminimum korrespondieren, geDegenhart, Staatsrecht I, Rn. 573 ff.; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 113, 124 m. w. N. Herzog, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 20 VIII Rn. 28 lehnt die Ableitung subjektiver Rechte aus dem Sozialstaatsprinzip sogar strikt ab. 401 BVerfGE 1, 97 (105). 402 BVerfGE 65, 182 (193). Vgl. auch BVerfGE 93, 241 (263 m. w. N.). 403 Vgl. Dürig, JZ 1953, 193 (197 f.); Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte, S. 29 m. w. N.; Werner, AöR 1956, 84 (88). 404 So noch BVerfGE 54, 277 (291); BVerfGE 85, 337 (345). Vgl. auch SchmidtAßmann, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 19 IV Rn. 16 ff.; Papier, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HbStR VI, § 153 Rn. 1. 405 Dürig, JZ 1953, 193 (197 f.).

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nauso wie etwa der Entscheidung für den bürgerlichen Rechtsstaat seinerzeit ipso iure ein öffentlicher Status auf ‚Justizgewährung‘ (. . .) entsprechen mußte“. Aus rechtsdogmatischer Sicht wurde Dürigs Argument mittlerweile durch das BVerfG etwas entschärft, indem es den Allgemeinen Justizgewährungsanspruch zwar aus dem Rechtsstaatsprinzip, aber eben nur in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG406 oder Art. 103 Abs. 1 GG407 herleitet. Auch bei dem Anspruch auf das physische Existenzminimum stützt sich das BVerfG nun primär auf Art. 1 Abs. 1 GG und zieht das Sozialstaatsprinzip nur noch als begleitende Rechtsgrundlage heran.408 Letztendlich bleibt Folgendes zu sagen: Das Sozialstaatsprinzip ist wie jedes Rechtsprinzip normativ so wenig bestimmt, dass eine Ableitung konkreter Rechtsfolgen enge Grenzen gesetzt sind. Das was Kunig über das Rechtsstaatsprinzip gesagt hat, gilt erst recht auch für das Sozialstaatsprinzip: „Jedes [. . .] Grundrecht[. . .] ist an Klarheit dem [. . .][P]rinzip überlegen und diszipliniert durch einen spezifischen Normtext die Auslegungsarbeit.“409 Aus diesem Grund scheint es verständlich, wenn das BVerfG konkrete Ansprüche – unabhängig vom Erfordernis des subjektiven Rechts – nicht alleine aus dem Sozialstaatsprinzip, sondern eben nur in Verbindung mit einem (etwas konkreteren) Grundrecht herleiten will.410 b) Frankreich aa) Soziale Grundrechte in Frankreich411 Die französische Verfassung von 1958 enthält nur sehr wenige Grundrechte412 und gar keine sozialen Rechte im hier verstandenen Sinne. Allen406 So ausdrücklich in den neueren Entscheidungen BVerfGE 97, 169 (185); 107, 395 (404, 407). Vgl. auch Jarass, in: ders./Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 91. 407 BVerfGE 108, 341. 408 BVerfGE 82, 60, (80); 99, 246. Mittlerweile ganz h. M., siehe die in Fn. 400 f. Genannten. Dürig selbst akzeptiert in JZ 1953, 193 (198) den Lösungsweg über die subjektiven Grundrechte. Man komme so oder so zum selben Ergebnis. 409 Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 460. Vgl. dazu auch Neumann, DVBl. 1997, 92 (93). 410 Ganz h. M. Ausführlich dazu Neumann, DVBl. 1997, 92 ff. m. w. N. 411 Einen hervorragenden Überblick bieten Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 61 ff.; Itin, Grundrechte in Frankreich; Savoie, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und USA, S. 203 ff. Artikel ohne nähere Bezeichnung sind im Folgenden solche der französischen Verfassung. 412 Z. B. das Gleichheitsprinzip und die Religionsfreiheit in Art. 1, das Recht von Männern und Frauen auf gleichen Zugang zu Wahlämtern in Art. 3 Abs. 5, die freie Bildung und Betätigung von Parteien und politischen Gruppierungen in Art. 4 und das Recht auf Freiheit in Art. 66.

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Teil 2: Grundlagen

falls die Bezeichnung Frankreichs als „République sociale“ in Art. 1 erinnert an das deutsche Sozialstaatsprinzip, hat aber nach allgemeiner Ansicht in der französischen Literatur keine weitergehende Bedeutung.413 Jedoch verweist die Präambel der Verfassung von 1958 auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, auf die Präambel der Verfassung von 1946 und auf die Umweltcharta von 2004, die dadurch in das gegenwärtige französische Verfassungsrecht inkorporiert werden und somit Verfassungsrang genießen.414 Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 enthält ausschließlich traditionelle Freiheitsrechte und ist deshalb für die hier vorliegende Arbeit nur von geringer Bedeutung. Weitaus interessanter ist dagegen die Präambel der Verfassung von 1946 – auf die sich die folgende Untersuchung auch beschränken soll –, verweist sie doch bereits in ihrem Absatz zwei auf die „nachstehenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Grundsätze415“. Entgegen dieser Ankündigung werden die in den Absätzen drei bis dreizehn niedergelegten Gewährleistungen dort jedoch nicht mehr als „Grundsätze“, sondern als „Rechte“ bezeichnet. Als Beispiele seien genannt: das Recht, eine Beschäftigung zu erhalten (Absatz fünf), das „Gewerkschafts“- und Streikrecht (Absätze sechs und sieben), das Recht auf gleichen Zugang zu Unterricht, zur Berufsausbildung und Bildung (Absatz dreizehn). Beim Absatz elf handelt es sich geradezu um ein Paradefall eines sozialen Grundrechts: „Sie [die Nation]416 gewährleistet allen, insbesondere dem Kind, der Mutter und den alten Arbeitern Schutz ihrer Gesundheit, materielle Sicherheit, Ruhe und Freizeit. Jeder Mensch, der wegen seines Alters, seines körperlichen oder geistigen Zustands oder wegen der wirtschaftlichen Lage arbeitsunfähig ist, hat das Recht, von der Gemeinschaft angemessene Mittel für seinen Unterhalt zu erhalten.“ bb) Die Bindungswirkung und Justiziabilität von Grundrechten in Frankreich Die Verfassung der IV. Republik war von dem Grundprinzip beherrscht, dass keine verfassungsrechtliche Institution die Autorität des französischen 413 Was wohl daran liegt, dass die Präambel der Verfassung von 1946 auf die Präambel der Verfassung von 1958 verweist, die soziale Grundrechte weitaus detaillierter regelt als dies mit der alleinigen Bezeichnung Frankreichs als „République sociale“ überhaupt möglich ist. Vgl. dazu Braibant, in: Mathieu/Verpeaux (Hrsg.), La République en droit francais, S. 189. Mathieu, in: ders./Verpeaux (Hrsg.), a. a. O., würde dagegen dem Begriff der „République sociale“ mehr Bedeutung zumessen. 414 Vgl. CHARTE 4133/00 S. 19. Vgl. auch Itin, Grundrechte in Frankreich, S. 17. 415 Hervorhebung durch den Verfasser. 416 Einfügung durch den Verfasser.

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Parlaments und damit auch nicht die durch dieses einmal erlassenen Gesetze in Frage stellen konnte („souveraineté parlementaire“)417. Ebenso wenig war es den Gerichten möglich, den Gesetzgeber zur Einhaltung der Verfassung zu verpflichten.418 Die Gesetze hatten einen sog. „caractère sacré“.419 Von diesem Prinzip wurde auch zugunsten der Grundrechte keine Ausnahme gemacht.420 Die Nationalversammlung und der Senat waren zwar formell an die Grundrechte – auch an soziale Garantien – gebunden, in der Praxis konnte deren Einhaltung vor Gericht aber nicht eingeklagt werden.421 Mit der Verfassung von 1958422 und der Schaffung des sog. Verfassungsrats (Conseil constitutionnel) sollte die Bedeutung grundrechtlicher Gewährleistungen zunehmen. Zunächst sah sich der Conseil constitutionnel gemäß Art. 37 Abs. 2 und Art. 41 Abs. 2 aber nur für kompetenzrechtliche Streitigkeiten zwischen Parlament und Regierung zuständig.423 Zwar konnten nach Art. 61 Abs. 2 einzelne Antragsberechtigte424 den Conseil constitutionnel anrufen, um die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzesvorhabens zu überprüfen, jedoch wurde auch diese Möglichkeit entgegen dem Wortlaut des Art. 61 Abs. 1 („conformité à la Constitution“) auf die formelle Kontrolle beschränkt.425 Der Conseil constitutionnel selbst war damals der Auffassung, es sei nicht seine Aufgabe, die Einhaltung der Menschenrechtserklärung von 1789 oder der Präambel der Verfassung von 1948 zu überwachen, sondern er habe lediglich den Gesetzgeber in seine institutionellen Schranken zu weisen.426 Erst mit einer Grundsatzentscheidung vom 16. Juli 1971427 vollzog der Conseil constitutionnel eine radikale Wende und misst fortan428 Gesetzesvorhaben an der Gesamtheit aller Verfassungsnormen („bloc de constitutionalité“), mitunter also auch an den Grundrechten. Mit diesem Urteil erfuhr 417

Diese Konzeption geht auf Rousseau zurück, vgl. Bauer, Grundrechtsschutz in Frankreich, S. 31 ff. 418 Eine verfassungsgerichtliche Rechtsprechung fehlte damals gänzlich. 419 Vgl. Turpin, Contentieux constitutionnel, S. 29. 420 Vgl. dazu Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 77. 421 Vgl. Hamon, Les juges de la loi, S. 137. 422 Artikel ohne nähere Bezeichnung sind solche der Verfassung von 1958. 423 Vgl. Rousseau, Droit du Contentieux Constitutionnel, S. 26, 37, 40 f. 424 Der Präsident, der Premierminister, der Präsident der Nationalversammlung oder des Senats, 60 Abgeordnete der Nationalversammlung oder 60 Senatoren. 425 Vgl. Rousseau, Droit du Contentieux Constitutionnel, S. 137 ff. („constitutionnalité/régularité externe“). 426 Vgl. Rousseau, Droit du Contentieux Constitutionnel, S. 27 f. 427 C.C. 71-44 DC v. 16. Juli 1971 in Rec. 1971, S. 29. 428 Guter Überblick bei Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 82 ff.

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das Prinzip der „souveraineté parlementaire“ eine wesentliche Durchbrechung. Nichtsdestotrotz existiert in Frankreich bislang kein umfassender Grundrechtsschutz. Zum einen beschränkt sich die Überprüfungsmöglichkeit des Conseil constitutionnel nämlich auf Gesetzgebungsvorhaben.429 Weder kann ein erst einmal in Kraft getretenes Gesetz nachträglich angefochten werden,430 noch kann der Conseil constitutionnel nach überwiegender, aber nicht ganz unumstrittener Ansicht den Gesetzgeber zum Erlass eines Gesetzes zwingen.431 Zum anderen ist der Kreis der Antragsberechtigten wie bereits geschildert äußerst limitiert und umfasst gerade nicht den einzelnen Bürger (vgl. Art. 62 Abs. 2).432 Das gegenwärtige französische Verfassungsrecht kennt also kein mit der Verfassungsbeschwerde des Art. 93 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 a GG vergleichbares Rechtsmittel. Aus diesem Grund scheint es angezeigt, sich im Folgenden kurz mit der Rechtsprechung des sog. Staatsrats (Conseil d’Etat) zu befassen, welcher im Gegensatz zum Conseil constitutionnel auch von Bürgern angerufen werden kann. Zudem sind vor dem obersten französischen Verwaltungsgericht über das Verfahren des „recours de pleine juridiction“ bzw. „recours de plein contentieux“ Leistungsansprüche gegen den Staat einklagbar.433 Ähnlich wie im deutschen Recht die Verwaltungsgerichte kann jedoch auch der Conseil d’Etat ein Gesetz nicht wegen Verstoßes gegen die Grundrechte verwerfen. Dies ist – wie bereits dargestellt – ausschließlich dem Conseil constitutionnel vorbehalten, eben beschränkt auf noch nicht in Kraft getretene Gesetzesvorhaben. Bei einmal erlassenen Gesetzen bleibt es im gegenwärtigen französischen Recht also beim Grundsatz der „loi sacré“.434 Dies geht sogar soweit, dass sich der Conseil d’Etat weigert, auf Gesetz gestütztes Verwaltungshandeln zu überprüfen, weil er sonst gleichsam durch die Hintertür über die Rechtmäßigkeit eines Gesetzgebungsaktes urteilen müsste (sog. „theorie de la loi-écran“). Möglich bleibt jedoch eine verfassungskonforme Auslegung. Grundrechtliche Gewährleistungen werden also erst dann relevant, wenn der Conseil d’Etat über die Rechtmäßigkeit von Verwaltungshandeln urteilt, bei dem es an einer gesetzlichen Ermächtigung fehlt oder diese sich direkt aus der Verfassung ergibt.435 429 Vgl. Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 18; Rousseau, Droit du contentieux constitutionnel, S. 185, 220. 430 Vgl. zu den wenigen Ausnahmen Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 84 ff. 431 Ausführlich dazu siehe unten Teil 2, IV. 2. b) cc) (1). Vgl. Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 78 ff. 432 Vgl. Fromont, DÖV 1999, 493 (495); Grewe, EuGRZ 2002, 209 (212). 433 Vgl. de Laubadère/Venezia/Gaudemet, Droit administratif I, Rn. 455, 617. 434 Vgl. Chapus, Droit Administratif Général I, Rn. 96 ff.; Autexier/Sonnenberger, Einführung in das französische Recht, S. 64 f. 435 Vgl. Chapus, Droit Administratif Général I, Rn. 69 f.

IV. Soziale Grundrechte in anderen Kodifikationen

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Abschließend sei noch kurz angemerkt, dass weder das französische Verfassungs- noch das französische Verwaltungsrecht436 eine Theorie der subjektiven Rechte kennt.437 Selbst Grundrechte sind in Frankreich lediglich rein objektiver Natur,438 die als allgemeine Rechtsgrundsätze („les principes généraux“) Teil des gerichtlichen Prüfungsmaßstabs sind.439 Bei dem der deutschen Anfechtungsklage ähnelnden „recours pour excès de pouvoir“ spielen subjektive Rechte gar keine, bei dem „contentieux de pleine jurisdiction“ – vergleichbar mit der deutschen Leistungsklage – nur eine sehr eingeschränkte Rolle.440 Ausreichend ist ein sog. „interêt pour agir“ bei der Anfechtungs- bzw. ein „interêt legitim“ bei der Leistungsklage.441 Der einzelne Bürger wird in Frankreich anders als in Deutschland gleichsam zur Durchsetzung des objektiven Rechts mobilisiert.442 Dies führt im Einzelfall dazu, dass beispielsweise ein Bürger, der Hotelier ist, sogar gegen die zeitliche Festsetzung der Schuldferien vorgehen kann.443 In Deutschland wäre dies unvorstellbar. cc) Die Justiziabilität sozialer Grundrechte in Frankreich Nachdem nun kurz beschrieben wurde, wie in Frankreich der Grundrechtsschutz im Allgemeinen ausgestaltet ist, soll nachfolgend die Justiziabilität sozialer Grundrechte im Besonderen dargestellt werden. Hier muss zwischen den Verfahren vor dem Conseil constitutionnel und den Verfahren vor dem Conseil d’Etat differenziert werden: 436 Zu den Verfahrensarten in Frankreich vgl. Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 21. 437 Dies beklagte bereits 1886 O. Mayer, Theorie des französischen Verwaltungsrechts, S. 157 f. Vgl. zum Ganzen Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 57 ff.; Koch, Verwaltungsrechtsschutz in Frankreich, S. 224; Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 87. 438 Vgl. Halfmann, VerwArch 2000, 74 (80); Koch, Verwaltungsrechtsschutz in Frankreich, S. 223 m. w. N. 439 Vgl. Koch, Verwaltungsrechtsschutz in Frankreich, S. 55 f.; Savoie, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 203 (218 ff.). 440 Vgl. ausführlich zum Ganzen Koch, Verwaltungsrechtsschutz in Frankreich, S. 108 f., 141 ff., 223 ff. Vgl. auch Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 64 f. 441 Vgl. Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 59 ff.; Halfmann, VerwArch 2000, 74 (79 f. m. w. N.); Koch, Verwaltungsrechtschutz in Frankreich, S. 224. 442 Ausführlich zu diesem Gedanken Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 83 ff. 443 C. E. v. 28. Mai 1971, Damasio, Rec. S. 391. Vgl. dazu Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 60.

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(1) Conseil constitutionnel Vor dem Conseil constitutionnel fanden soziale Grundrechte – beispielsweise das Recht auf einen Arbeitsplatz („le droit d’obtenir un emploi“ gemäß dem fünften Absatz der Präambel von 1946) oder das Recht bzw. das Ziel auf eine angemessene Wohnung („objectif de disposer d’un logement décent“444) – bislang überwiegend in ihrer abwehrrechtlichen Funktion oder zur Rechtfertigung von Beschränkungen herkömmlicher Freiheitsrechte Verwendung.445 Als Beispiel sei hier ein Urteil des Conseil constitutionnel aus dem Jahr 1998 geschildert:446 Gegenstand des Verfahrens war ein Gesetzesvorhaben, welches für bestimmte Unternehmen die wöchentliche Arbeitszeit von 39 Stunden auf 35 Stunden verringern sollte. Die Antragsteller rügten eine Verletzung der „liberté d’entreprendre“, denn Unternehmer wären mit solch einem Gesetz gezwungen, ihre Arbeitnehmer vier Stunden pro Woche weniger zu beschäftigen und das, obwohl aufgrund der guten Auftragslage die Beibehaltung der Arbeitszeit dringend erforderlich gewesen wäre. Der Conseil constitutionnel verneinte die Verfassungswidrigkeit des Gesetzesvorhaben mit der Begründung, dieses sei durch beschäftigungspolitische Erfordernisse (welche im Recht des Einzelnen auf einen Arbeitsplatz ihre verfassungsrechtliche Verankerung erfahren) gerechtfertigt. Neben dieser vor allem eingriffsrechtfertigenden Funktion der sozialen Grundrechte entschied der Conseil constitutionnel in einem Urteil aus dem Jahre 1995447, dass ein einmal geschaffener sozialer Standard zwar modifiziert, geändert oder auch teilweise wieder abgeschafft werden dürfe. Jedoch fände diese Änderungskompetenz seine Grenze dort, wo ein Ziel von Verfassungsrang – in der damaligen Entscheidung war dies das Recht auf eine angemessene Wohnung – durch die Rücknahme eines Gesetzes ohne jegli444 Dieses Recht bzw. Ziel, das nicht ausdrücklich in der Präambel der Verfassung von 1946 aufgeführt ist, leitet der Conseil constitutionnel aus der Zusammenschau mehrerer Absätze der Präambel ab, wenn er schreibt: „(. . .) il résulte de ces principes que la possibilité pour toute personne de disposer d’un logement décent est un objectif de valeur constitutionnelle“, vgl. C.C. 94-359 DC v. 19. Januar 1995 in AJDA 1995, 455 ff. 445 C.C. 82-141 DC v. 27. Juli 1982; C.C. 83-156 DC v. 28. Mai 1983 in Rec. 1983, 41 ff.; C.C. 85-200 DC v. 16. Januar 1986 in Rec. 1986, 9 ff. Vgl. Borgetto, in: Conac/Berranger (Hrsg.), Le Préambule de la Constitution de 1946, S. 127 (142 ff.). 446 C.C. 98-401 DC v. 10. Juni 1998 in Rec. 1998, 258 ff. Vgl. dazu ausführlich Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 94 ff. Sehr interessant ist auch die Entscheidung C.C. 2001-455 DC v. 12. Januar 2002 in Rec. 2002, 1053 ff., weil dort der Conseil constitutionnel ein Gesetzgebungsvorhaben für nicht mehr mit dem Recht auf einen Arbeitsplatz rechtfertigbar und damit für verfassungswidrig erklärt hatte. 447 C.C. 94-359 DC v. 19. Januar 1995 in AJDA 1995, 455.

IV. Soziale Grundrechte in anderen Kodifikationen

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che einfach-gesetzliche Umsetzung bliebe.448 Die sozialen Grundrechte entfalten nach dieser Auffassung also auch eine Art verfassungsrechtlichen Bestandsschutz („effet-cliquet“)449. Übrig bleibt die Frage nach der Leistungsdimension sozialer Grundrechte. Soweit ersichtlich stellte sich dieses Problem vor dem Conseil constitutionnel bislang noch nicht. Die Möglichkeit einer Normerlassklage wird von der überwiegenden Mehrheit im Schrifttum450 abgelehnt, weil eine solche den Grundsatz des „loi sacré“451 endgültig aushebeln würde. Dagegen vertritt ein Teil der französischen Literatur die Auffassung,452 der Gesetzgeber, der das von Verfassungs wegen vorgeschriebene Ergebnis („obligation de résultat“)453 einer Umsetzung sozialer Grundrechte bzw. Ziele („objectif“) nicht erreiche, sich einer Sanktion durch den Verfassungsrat ausgesetzt sehen müsse.454 Selbst wenn man dieser Ansicht folgen und damit eine Normerlassklage vor dem Conseil constitutionnel grundsätzlich für zulässig halten würde455 – unter Berücksichtigung des weiten Ermessens des Gesetzgebers und der Unbestimmtheit der meisten Zielbestimmungen –,456 ist nochmals in Erinnerung zu rufen, dass jedenfalls der einzelne Bürger aufgrund fehlender Antragsberechtigung ohnehin eine solche Klage nicht erheben könnte. (2) Conseil d’Etat Möglicherweise spielt die Leistungsdimension sozialer Grundrechte jedoch vor dem Conseil d’Etat eine Rolle, vor dem auch der Einzelne 448

So auch Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 120 m. w. N. A.A. scheinbar Jorion, AJDA 1995, 456 (462); Rousseau, RDP 1996, 11 (62). 449 Vgl. Rousseau, RDP 1996, 11 (62). 450 Vgl. statt vieler Borgetto, in: Conac/Berranger (Hrsg.), Le Préambule de la Constitution de 1946, S. 127 (147) m. w. N.; Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 101 ff., 117 f., 127 f. 451 Vgl. Chapus, Droit Administratif Général I, Rn. 96 ff.; Autexier/Sonnenberger, Einführung in das französische Recht, S. 64 f. 452 Vgl. de Villiers/Renoux, Code Constitutionnel, S. 195; Rousseau, RDP 1996, 11 (62). 453 Vgl. Braibant, RUDH 2000, 1 (48, 68); ders.; Regards sur l’Actualité, Nº 26 août 2000, 1 (28, 65). 454 Vgl. Braibant, ebd. 455 Dies wird teilweise bereits aus rein verfassungsprozessualen Gesichtspunkten abgelehnt, vgl. Borgetto, in: Conac/Berranger (Hrsg.), Le Préambule de la Constitution de 1946, S. 127 (146); Jorion, AJDA 1995, 456 (462); Szczekalla, Schutzpflichten, S. 921 f. 456 Umfassend zu all diesen Problemen Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 127 ff.

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Teil 2: Grundlagen

klageberechtigt wäre. Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist der 1968 entschiedene Fall Tallagrand:457 Nach dem Algerienkrieg (1954–1962) erklärte die ehemalige französische Kolonie Algerien ihre Unabhängigkeit von Frankreich (Vertrag von Evian). Im Zuge dessen kam es nahezu täglich zu Übergriffen auf noch in Algerien lebende französische Staatsbürger. Gleiches widerfuhr auch Herrn Tallagrand. Aus diesem Grund verließ dieser Algerien und lies sein ganzes Hab und Gut dort zurück. Er verklagte im Wege des „plein contentieux“ den französischen Staat auf Schadensersatz für den Verlust seines Eigentums, gestützt unmittelbar auf Absatz zwölf der Präambel der Verfassung von 1946, der folgenden Wortlaut hat: „Die Nation verkündet die Solidarität und Gleichheit aller Franzosen hinsichtlich der Lasten, die aus nationalen Notständen erwachsen.“ Nach Ansicht Tallagrands habe es sich beim Algerienkrieg um einen nationalen Notstand gehandelt, der in Verbindung mit Algeriens späterer Unabhängigkeitserklärung erst die Übergriffe auf sein Eigentum ermöglichte. Absatz zwölf der Präambel der Verfassung von 1946 sei deshalb erfüllt und gewähre ihm einen direkten Anspruch auf Schadensersatz. Der Conseil d’Etat lehnte eine Entschädigung jedoch ab und begründete dies damit, dass Absatz zwölf der Präambel ohne einfach-gesetzliche Umsetzung (sog. „mise en œuvre“) kein unmittelbares Recht auf Entschädigung verleihe. Über den tieferen Grund dieser Entscheidung wurde in der Folgezeit viel spekuliert. Die Mehrheit der Autoren458 rechtfertigen das Urteil459 mit dem unbestimmten Wortlaut der diskutierten Anspruchsgrundlage. Nach der sog. Theorie der unvollständigen Norm („théorie de la norme imparfaite“) können sehr weit gefasste verfassungsrechtliche Bestimmungen ohne eine Konkretisierung durch den einfachen Gesetzgeber von der Verwaltung und den Gerichten nicht angewendet werden.460 Die Achtung des Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzips erfordert es nämlich, dass sich Richter 457 C. E. v. 29. November 1968 in Rec. Lebon 1968, 368. Der Sachverhalt ist entnommen aus Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 151. 458 Vgl. statt vieler Braibant/Stirn, Le droit administratif francais, S. 212; de Laubadère/Venezia/Gaudemet, Droit Administratif Général I, Rn. 823. 459 Dagegen kann die mangelnde Justiziabilität mancher völkerrechtlicher Verträge (z. B. die Bestimmungen des New Yorker Übereinkommens über die Rechte des Kindes v. 26. Juli 1990 oder des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte v. 16. Dezember 1966) mit der fehlenden unmittelbaren Geltung dieser Bestimmungen in Frankreich erklärt werden. Ausführlich dazu unten Teil 3, III. 3. a) aa). A. A. offensichtlich Capitant, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, A II Rn. 36 mit Fn. 46. 460 C. E. v. 8. Dezember 1978 in Rec. Lebon 1978, S. 493 f. und C. E. v. 26. September 1986, AJDA 1986, 54. So auch Borgetto, in: Conac/Berranger (Hrsg.), Le Préambule de la Constitution de 1946, S. 540. Vgl. auch Capitant, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), Charta, A II Rn. 36 m. w. N.

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grundsätzlich nicht an die Stelle des demokratisch legimitierten Gesetzgebers setzen.461 Ein „gouvernement des juges“462 ist von den meisten Verfassungen nicht gewollt; so auch nicht von der französischen. Die Entscheidung Tallagrand kann auf die anderen sozialen Grundrechte der Präambel der Verfassung von 1946 übertragen werden und zwar auch dahingehend, als dass selbst bei einfach-gesetzlicher Umsetzung von sozialen Grundrechten eine Klage auf ein Mehr an Leistung bzw. Schutz nicht möglich ist.463 c) Portugal aa) Soziale Grundrechte in Portugal In der noch recht jungen portugiesischen Verfassung sind im dritten Abschnitt464 des ersten Teils weitreichende soziale Grundrechte normiert, überschrieben mit dem Titel „wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und Pflichten“ („Direitos e deveres económicos, sociais e culturais“). Als Beispiele465 seien das Recht auf Arbeit in Art. 58466 oder das Recht auf eine angemessene Wohnung in Art. 65 genannt. Ähnlich wie in der Europäischen Grundrechtecharta werden aber auch Verbraucherrechte (Art. 60) oder Rechte behinderter (Art. 71) oder alter Menschen (Art. 72) gewährleistet. Zudem ist beispielsweise in Art. 64 ein Grundrecht auf Gesundheitsschutz und in Art. 66 eine Art Grundrecht auf Umweltschutz verankert. Daneben findet sich in Art. 2 i. V. m. Art. 9 lit. d – ähnlich dem deutschen Sozialstaatsprinzip – ein Bekenntnis zu einem sozialen Staat („Estado social“) als eines der vier tragenden „princípios políticos fundamentais“ der portugiesischen Republik (neben der nationalen Souveränität, dem Rechtsstaat und der Demokratie).

461 Vgl. auch Borgetto, in: Conac/Berranger (Hrsg.), Le Préambule de la Constitution de 1946, S. 545. 462 Instruktiv Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 134, 158 f. 463 So auch Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 158. 464 Vereinzelt finden sich solche auch in anderen Abschnitten, vgl. z. B. das in Art. 53 normierte Recht auf einen sicheren Arbeitsplatz. 465 Vgl. auch die Auflistung in CHARTE 4133/00 S. 26 f.; Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (349); Winner, Soziale Dimension, S. 108. 466 Artikel ohne nähere Bezeichnung sind im Folgenden solche der portugiesischen Verfassung in der revidierten Fassung von 2005.

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bb) Die Bindungswirkung und Justiziabilität der Grundrechte in Portugal Die überwiegende Mehrzahl der in der portugiesischen Verfassung verankerten traditionellen Grundrechte findet sich im zweiten Abschnitt des ersten Teils (Art. 24–57).467 Nur auf diese oder mit diesen vergleichbaren468 Gewährleistungen bezieht sich gemäß Art. 17 „das System der Rechte, Freiheiten und Garantien“469 und damit auch das Schema der Art. 18 ff. Art. 18 Abs. 1 beispielsweise erklärt die Grundrechte des zweiten Titels für unmittelbar anwendbar und verpflichtet alle öffentlich-rechtlichen wie privatrechtlichen Einrichtungen zu deren Einhaltung. Nach Art. 22 gelten ausschließlich für diese Garantien die staatshaftungsrechtlichen Vorschriften. Es sind auch nur die klassischen Grundrechte, die in Portugal durch den einzelnen Bürger vollumfänglich eingeklagt werden können.470 Ein mit der deutschen Verfassungsbeschwerde vergleichbaren Rechtsbehelf sieht die portugiesische Verfassung zwar nicht vor, anstelle dessen steht jedoch gemäß Art. 268 Abs. 4 jedem, er sich in seinen geschützten Rechten oder Interessen (!) verletzt glaubt, ein umfassender verwaltungsgerichtlicher471 Rechtsschutz offen. Dabei ist es im Gegensatz zum deutschen Recht auch den einfachen Gerichten möglich, über die Verfassungsmäßigkeit formeller Gesetze zu urteilen und diese gegebenenfalls zu verwerfen (Art. 204). Gegen eine solche Entscheidung kann die unterlegene Partei dann nach Art. 280 Abs. 1 lit. a Revision zum Verfassungsgericht einlegen.472 Daneben vermag ein kleiner Kreis von Antragsberechtigten die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes im Wege der abstrakten Normenkontrolle zu überprüfen (Art. 278, 281) oder die Verfassungswidrigkeit eines Unterlassen, insbesondere des Gesetzgebers, feststellen zu lassen (Art. 283). Zudem besteht in den gesetzlich vorgesehenen Fällen für jedermann die Möglichkeit, eine Popularklage zu erheben (Art 52 Abs. 3).473 Das Verfassungsgericht kann jedoch in keinem dieser Verfahren anstelle der jeweiligen Institution den begehrten Akt selbst setzen (Art. 283 Abs. 2). 467 Vereinzelt sind aber auch außerhalb dieses Abschnitts Grundrechte zu finden, z. B. die Gleichheitsrechte in Art. 13. 468 Bedeutendstes Beispiel für ein solches Grundrecht ist wohl das Recht auf Eigentum in Art. 62. 469 Der zweite Abschnitt des ersten Teils ist wortgleich überschrieben („Direitos, liberdades e garantias“). 470 Vgl. CHARTE 4133/00, S. 27. Vgl. auch Gomes Canotilho, Direito Constitucional, S. 658 f.; Miranda, Manual IV, S. 238 f. 471 In Drittwirkungsfällen gilt Ähnliches natürlich auch für den Zivilrechtsweg. 472 Ausführlich dazu Thomashausen, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 591 (639 f.); Miranda, Manual IV, S. 239. 473 Vgl. dazu auch unten Teil 2, IV. 2. c) bb).

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cc) Die Justiziabilität sozialer Grundrechte in Portugal Aus dem portugiesischen Sozialstaatsprinzip (Art. 2 i. V. m. 9 lit. d) ergeben sich – insoweit besteht Vergleichbarkeit mit dem deutschen Sozialstaatsprinzip – nach allgemeiner Ansicht keine unmittelbaren Ansprüche.474 Es handelt sich hierbei lediglich um ein „grundlegendes objektives juristisches Prinzip“ („Princípio jurídico fundamental objectivo“), aus welchem im Normalfall keine individuellen Rechte ableitbar sind.475 Das Sozialstaatsprinzip dient jedoch zur Rechtfertigung von Eingriffen in herkömmliche Grundrechte476, weist einen gewissen abwehrrechtlichen Charakter auf und ist als verbindliches Auslegungselement477 zu beachten.478 Nur in Einzelfällen gewährt es ähnlich wie sein deutsches Pendant einen direkten Anspruch – beispielsweise auf das notwendige Existenzminimum –, ohne dass es dafür jedoch der zusätzlichen Heranziehung eines echten Grundrechts bedarf.479 Eine weitaus größere Bedeutung als dem Sozialstaatsprinzip kommt in der portugiesischen Verfassungsordnung den im dritten Titel des ersten Teils normierten sozialen Grundrechten zu. Obgleich die Art. 58–79 überwiegend als Rechte formuliert sind („têm o direito“), werden sie im Umkehrschluss zu Art. 17480 für im Grundsatz nicht unmittelbar anwendbar gehalten.481 Die sozialen Garantien bedürfen aufgrund ihrer Unbestimmtheit auch in Portugal nach ganz herrschender Auffassung der Umsetzung durch den einfachen Gesetzgeber, für den diese Gewährleistungen verbindliche Handlungsaufträge darstellen.482 Missachtet der Gesetzgeber die Umset474 Vgl. Häußling, soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassung, S. 74 f. m. w. N. 475 Vgl. nur Gomes Canotilho, Direito Constitucional, S. 470 ff. m. w. N. 476 Vgl. Gomes Canotilho, Direito Constitucional, S. 475, 544. 477 Vgl. Gomes Canotilho, Direito Constitucional, S. 470, 545; ders./Vital Moreira, Fondamentos, S. 131. 478 Daneben dient es auch als Schranke einer Verfassungsänderung, vgl. dazu Gomes Canotilho, Direito Constitucional, S. 473. 479 Vgl. Gomes Canotilho, Direito Constitucional, S. 473. 480 Gleiches lässt sich auch Art. 9 lit. a und b entnehmen. Während die sozialen Rahmenbedingungen lediglich zu fördern sind, sind die Grundrechte und Grundfreiheiten zu achten. Der Wortlaut erinnert sehr stark an Art. 51 Abs. 1 GRC. 481 Vgl. CHARTE 4133/00, S. 26 f.; Häußling, Soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassung, S. 82 ff. m. w. N.; Sommermann, Staatszielbestimmungen, S. 339 f.; Thomashausen, EuGRZ 1981, 1 (9); Winner, Soziale Dimension, S. 108. Vereinzelt wird jedoch versucht, den Wortlaut der Gewährleistungen ernst zunehmen und subjektive Gehalte aus diesen herzuleiten. Vgl. dazu Gomes Canotilho, Direito Constitucional, S. 443 f., 509 ff. 482 AcTC 39/84 v. 11.04.1984, ATC Bd. 3 (1984), S. 95 (120); 330/89 v. 11. April 1989, BMJ 386, 180 (188). Vgl. Gomes Canotilho, Direito Constitucional,

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zungspflicht (z. B. auf Errichtung eines nationalen Gesundheitswesens,483 Art. 62 Abs. 2 lit. a), kann auf Antrag eines kleinen Kreises von Berechtigten die Verfassungswidrigkeit dieses Unterlassens nach Art. 283 festgestellt werden.484 Auch wenn die sozialen Grundrechte damit auf den ersten Blick für den einzelnen Bürger ohne jegliche direkte Wirkung erscheinen, ist dem in Wirklichkeit nicht so.485 Erstens verfügen zahlreiche soziale Garantien der portugiesischen Verfassung nicht nur über eine leistungsrechtliche, sondern auch über eine abwehrrechtliche Dimension,486 auf die sich im Allgemeinen487 auch der Einzelne vor Gericht erfolgreich berufen kann (vgl. Art. 277 Abs. 1 i. V. m. 204, wonach jeder Rechtssatz verfassungswidrig ist, der gegen irgendeine Vorschrift der Verfassung verstößt und insoweit auch nicht von den Gerichten angewendet werden darf).488 Eine vorherige Konkretisierung durch den Gesetzgeber ist in diesem Fall gerade nicht erforderlich. So verpflichtet beispielsweise das Recht auf eine angemessene Wohnung aus Art. 65 den Staat nicht bloß zur Bereitstellung einer angemessenen Unterkunft, sondern verbietet darüber hinaus jegliche Eingriffe in die Wohnung eines Bürgers (z. B. in Form von Durchsuchungen oder Lauschangriffen).489 Zweitens können soziale Grundrechte selbst hinsichtlich ihrer Leistungsdimension einklagbar sein, wenn sie in Verbindung mit den Gleichheitsrechten490 entweder S. 543 ff.; ders./Vital Moreira, Fundamentos, S. 127 ff.; Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (360 m. w. N.). 483 AcTC 182/89 v. 1. Februar 1989, DR I, n.º 51 v. 2. März 1989. 484 Siehe dazu oben Teil 2, IV. 2. c) bb). Ausführlich zum Ganzen Häußling, Soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassung, S. 120 ff. Vgl. auch Gomes Canotilho, Direito Constitucional, S. 543 ff.; Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (360 m. w. N.). 485 Interessanterweise werden die sozialen Garantien in Portugal als echte Grundrechte begriffen, vgl. nur AcTC 39/84, DR I, n.º 104 v. 5. Mai 1984, S. 1455. Vgl. auch Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (350); Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 65; Sommermann, Staatszielbestimmungen, S. 340. 486 AcTC 39/84 v. 11. April 1984, ATC Bd. 3 (1984), S. 95 (106). Ausführlich dazu Gomes Canotilho/Vital Moreira, Fundamentos, S. 127; Häußling, Soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassung, S. 80 f. 487 Art. 57 Abs. 3 (Recht der Tarifautonomie) steht dagegen beispielsweise ausdrücklich unter dem Vorbehalt des Gesetzes (vgl. 57 Abs. 4) und ist daher auch in der abwehrrechtlichen Dimension nicht unmittelbar anwendbar. 488 Allgemeine Meinung. Vgl. dazu auch AcTC 39/84 v. 11. April 1984, ATC Bd. 3 (1984), 95; Polakiewicz, ZaöRV 1994, 349 (355); Sommermann, Staatszielbestimmungen, S. 340 m. w. N. 489 Vgl. dazu die grundlegende Entscheidung des Tribunal Constitucional AcTC 101/92 v. 17. März 1992, DR II, n.º 189 v. 18. August 1992. 490 Ausführlich Thomashausen, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 591 (612).

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bloß auf Teilhabe gerichtet sind oder lediglich einen Mindeststandard einfordern, den der Gesetzgeber bei einer Umsetzung ohnehin hätte gewähren müssen.491 Eine Besonderheit des portugiesischen Verfassungsrechts stellt drittens die Möglichkeit der Erhebung einer Popularklage gemäß Art. 52 Abs. 3 dar „zum Zwecke der Verhütung, der Beendigung oder der Verfolgung von Vergehen gegen die öffentliche Gesundheit, die Verbraucherrechte, die Lebensqualität, den Umweltschutz und die nationalen Kulturgüter“. Die hier aufgelisteten sozialen Grundrechte sind aufgrund dieser Sonderregelung als sehr weitgehend justiziabel anzusehen.492 Schließlich – viertens – erlangt die Kategorie der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte und Pflichten in Portugal auch dahingehend Bedeutung, als dass sie die Rücknahme eines einmal durch ihre gesetzliche Umsetzung erreichten Standards verbieten.493 Die aus den sozialen Grundrechten hergeleiteten Verfassungsaufträge verwandeln sich also nach ihrer Umsetzung in das negative Recht auf Nichtbeseitigung der errungenen rechtlichen Positionen (sog. „proibição de retrocesso social“, d.h. Verbot des sozialen Rückschritts).494 Richtungsweisend war insoweit die Entscheidung des Tribunal Constitucional vom 11. April 1984, in der das Gericht ein Gesetz, das den nationalen Gesundheitsdienst in großen Teilen wieder abschaffen sollte, wegen Verstoßes gegen Art. 64 für verfassungswidrig erklärte.495 In neueren Entscheidungen stützt sich das Verfassungsgericht hinsichtlich des Rückschrittverbots nicht mehr so sehr auf die sozialen Grundrechte direkt als auf das Prinzip des Vertrauensschutzes, welches im Bereich der sozialen Grundrechte durch den „Grundsatz des Schutzes des Vertrauens und der Sicherheit der Bürger im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich“ eine besondere Ausprägung erfahren hat.496 Zudem gesteht es dem Parlament („Assembleia da Repfflblica“) aufgrund dessen demokratischer Legitimation neuerdings einen etwas größeren Gestaltungsspielsraum zu und geht von der zwar immer noch sehr restriktiven, aber immerhin nunmehr grundsätzlich bestehenden Möglichkeit der Selbstreversibilität des 491 Vgl. Gomes Canotilho, Direito Constitucional, S. 544 m. w. N.; Häußling, soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassung, S. 114 m. w. N. 492 Ausführlich Häußling, Soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassungs, S. 115 ff. m. w. N. 493 Vgl. Gomes Canotilho, Direito Constitucional, S. 468 f., 541 f. m. w. N.; Miranda, Manual IV, S. 351; Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (368 f. m. w. N.). 494 Vgl. Gomes Canotilho/Vital Moreira, Fundamentos, S. 131. Ausführlich zum Ganzen Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (368 ff. m. w. N.). 495 AcTC 39/84, DR I, n.º 104 v. 5. Mai 1984, S. 1455. 496 AcTC 101/92 v. 17. März 1992, DR II, n.º 189 v. 18. August 1992, S. 7686. Vgl. auch Gomes Canotilho, Direito Constitucional, S. 469.

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Gesetzgebers aus.497 Im Gegensatz zum Minimalschutz des „effet-cliquet“ in Frankreich, wirken die sozialen Grundrechte in Portugal also als eine Art „stand-still“-Klausel, gegen deren Verstoß sich der Einzelne gerichtlich wehren kann.498 d) Spanien aa) Soziale Grundrechte in Spanien499 In der spanischen Verfassung sind ebenso wie in der portugiesischen Verfassung soziale Grundrechte in recht umfangreicher Weise kodifiziert. Bereits im Kapitel zwei des ersten Titels, überschrieben mit „Rechte und Freiheiten“ („Derechos y libertades“), werden in Art. 27 Abs. 1 in zehn Absätzen die Leitlinien des spanischen Bildungssystems aufgelistet, in einem Nebeneinander von Teilhabe- und Leistungsrechten auf der einen (z. B. das Recht auf Erziehung und Bildung in Art. 27 Abs. 1 S. 1) und Abwehrrechten auf der anderen Seite (z. B. die Freiheit des Unterrichts in Art. 27 Abs. 1 S. 2).500 Des Weiteren enthält Art. 35 Abs. 1 das schon aus anderen Verfassungen her bekannte Recht auf Arbeit.501 Die überwiegende Anzahl an sozialen Gewährleistungen sind jedoch im dritten Kapitel des ersten Titels aufgeführt, überschrieben mit „Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik“ („Principios rectores de la política social y económica“). Im dortigen Art. 41 wird beispielsweise ein öffentliches System der sozialen Sicherheit, in Art. 43 das Recht auf Schutz der Gesundheit garantiert. Art. 45 enthält eine Art Umweltschutzgrundrecht. In Art. 47 folgt dann das auch bereits in der französischen und portugiesischen Verfassung verankerte Recht auf eine würdige und angemessene Wohnung.502 497 AcTC 352/91 v. 4. Juli 1991, DR II, n.º 290 v. 17. Dezember 1991, S. 12938 (12940). 498 Umfassend dazu Häußling, Soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassung, S. 125 ff.; Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (368 ff. m. w. N.). 499 Artikel ohne nähere Bezeichnung sind im Folgenden solche der spanischen Verfassung. 500 Vgl. dazu Adomeit/Frühbeck, Einführung in das spanische Recht, 3. Aufl. 2007, S. 20 f. m. w. N. 501 Zu diesen zwei Garantien vgl. näher Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (353 m. w. N.). Instruktiv auch dessen Beschreibung von der Justiziabilität des in Art. 25 Abs. 2 S. 3 normierten Rechts der Strafgefangenen auf Arbeit, vgl. ebd., 340 (353, 355 ff. m. w. N.). 502 Vgl. auch die Aufzählung in Adomeit/Frühbeck, Einführung in das spanische Recht, 3. Aufl. 2007, S. 26 ff. m. w. N.; Polakiewicz, ZaöRV 1994, S. 340 (351).

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Neben diesen einzelnen Grundrechtsgewährleistungen findet sich in Art. 1 Abs. 1 der spanischen Verfassung insbesondere auch das Bekenntnis zu einem sozialen Staat. Dieses Staatsziel, angelehnt an die deutsche Sozialstaatsklausel,503 wird durch Art. 9 Abs. 2 weiter konkretisiert.504 bb) Die Bindungswirkung und Justiziabiliät der Grundrechte in Spanien Der Grundrechtskatalog innerhalb des ersten Titels der spanischen Verfassung, überschrieben mit „Grundrechte und Grundpflichten“ („De los derechos y deberes fundamentales“), ist wie gerade schon angedeutet dreigeteilt. Bei dieser Dreiteilung handelt es sich nicht bloß um eine inhaltlich und thematisch verfeinerte Gliederung der Grundrechte, sondern um die Folge der durch Art. 53 formell angeordneten unterschiedlichen Wirkungen grundrechtlicher Gewährleistungen hinsichtlich Bindung und Justiziabilität. Die Differenzierung nach materiellen Kriterien tritt demgegenüber in den Hintergrund. Auch wenn die sozialen Grundrechte in ihrer Mehrzahl in der dritten Gruppe zu finden sind, so ist dies jedoch – wie gezeigt505 – nicht immer der Fall. Umgekehrt gehören klassische Grundrechte (wie z. B. das Eigentumsgrundrecht in Art. 33) nicht ausnahmslos der ersten Gruppe an. Die erste Gruppe umfasst das Gleichheitsrecht des Art. 14 und die Grundrechte im ersten Abschnitt des zweiten Kapitels (Art. 15–29), wenig aussagekräftig überschrieben mit „Grundrechte und öffentliche Freiheiten“ („De los derechos fundamentales y de las libertades pfflblicas“). Die zweite Gruppe bilden die Grundrechte des zweiten Abschnitts des zweiten Kapitels (Art. 30–38 mit dem Titel „Rechte und Pflichten der Bürger“ [„De los derechos y deberes de los ciudadanos“]). Die dritte Gruppe besteht aus den überwiegend sozialen Grundrechten des dritten Kapitels.506 Je nach dem welcher Kategorie ein Grundrecht zuzuordnen ist, bestimmen die Absätze eins bis drei des Art. 53 die normative Wirkung der jeweiligen Gewährleistung:507 Art. 53 Abs. 1 ordnet an, dass die in Kapitel zwei 503 Vgl. CHARTE 4133/00, S. 17. Vgl. auch Álvarez Conde, Curso de Derecho Constitucional I, S. 111; Díez-Picazo/Ponthoreau, Constitutional Protection of Social Rights, S. 20. 504 STC 83/1984 v. 24. Juli 1984, FJ 3. Vertiefend Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte im Grundgesetz, S. 130 f. m. w. N. Vgl. auch Adomeit/ Frühbeck, Einführung in das spanische Recht, 3. Aufl. 2007, S. 26 f. mit den Hinweis auch auf Art. 40. 505 Siehe oben Teil 2, IV. 2. d) aa). 506 Zum Ganzen ausführlich Martínez Soria, Die Garantie des Rechtsschutzes in Spanien, S. 348 ff. m. w. N.; Sommermann, Schutz der Grundrechte in Spanien, S. 142.

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des ersten Titels anerkannten Rechte und Freiheiten (also die Grundrechte der ersten und zweiten Gruppe) die öffentliche Gewalt binden. Die Einhaltung dieser Garantien ist von einigen wenigen Antragsberechtigten im Wege einer abstrakten Normenkontrolle („recurso de inconstitucionalidad“) durch das Verfassungsgericht nachprüfbar (vgl. Art. 161 Abs. 1 lit. a). Darüber hinaus vermag der Einzelne die Grundrechte der ersten Gruppe gemäß Art. 53 Abs. 2 sowohl in einem beschleunigten Verfahren vor den ordentlichen Gerichten508 (gemeint ist hier entgegen dem deutschen Verständnis in erster Linie die Verwaltungsgerichtsbarkeit)509 als auch durch Erhebung einer Verfassungsbeschwerde („recurso de amparo“, vgl. Art. 161 Abs. 1 lit. b) geltend zu machen.510 Nicht mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden können in Spanien – ähnlich wie in Frankreich – jedoch Gesetze im formellen Sinn.511 Letztere können aber im Rahmen einer abstrakten oder konkreten Normenkontrolle Prüfungsgegenstand sein. Art. 53 Abs. 3 weist schließlich „die Anerkennung, die Achtung und den Schutz der in Kapitel drei anerkannten Grundsätze der positiven Gesetzgebung, der Rechtsprechung und dem Handeln der öffentlichen Gewalt“ zu. Daraus ergibt sich folgende Abstufung hinsichtlich der Normativität der einzelnen Grundrechte:512 Die Grundrechte der ersten Gruppe binden die öffentliche Gewalt und sind unmittelbar anwendbar. Jedermann kann sich sowohl vor dem Verfassungsgericht als auch in einem beschleunigten Verfahren vor den ordentlichen Gerichten auf sie berufen. Auch die Grundrechte der zweiten Gruppe verpflichten die öffentliche Gewalt und sind zu Gunsten des Einzelnen unmittelbar anwendbar. Sie kann der Bürger vor den ordentlichen Gerichten aber nur in einem normalen Verfahren geltend machen. Die 507 Vgl. zum Ganzen Garrido Falla, in: ders. (Hrsg.), Comentarios, Art. 53 S. 178 f.; Martínez Soria, Die Garantie des Rechtsschutzes in Spanien, S. 348 ff. m. w. N. 508 Ausführlich zu dieser Verfahrensart Martínez Soria, Die Garantie des Rechtsschutzes in Spanien, S. 352 ff. 509 Vgl. Martínez Soria, Die Garantie des Rechtsschutzes in Spanien, S. 355; Sommermann, Schutz der Grundrechte in Spanien, S. 143. 510 Ein zusätzlicher Schutz dieser Grundrechte der ersten Gruppe besteht darin, dass Ausführungsgesetze als sog. Organgesetze nach Art. 81 Abs. 1 verabschiedet werden müssen. Diese besonderen Gesetze können nur mit absoluter Mehrheit des Kongresses verabschiedet, geändert oder aufgehoben werden. Vgl. zum Ganzen Martínez Soria, Die Garantie des Rechtsschutzes in Spanien, S. 349 m. w. N. 511 STC 206/1990 v. 1. Dezember 1990, FJ. 5. Vgl. Martínez Soria, Die Garantie des Rechtsschutzes in Spanien S. 374 m. w. N.; Prats-Canut, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 651 (705); Sommermann, Schutz der Grundrechte in Spanien, S. 320. 512 Vgl. zum Ganzen Martínez Soria, Die Garantie des Rechtsschutzes in Spanien, S. 348 ff. m. w. N.; Prats-Canut, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 651 (671).

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Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde („recurso de amparo“) oder eines beschleunigten Verfahrens vor den ordentlichen Gerichten besteht bei den Grundrechten der zweiten Gruppe nicht.513 Sie können jedoch unter Umständen im Rahmen eines konkreten (Art. 163) oder abstrakten (Art. 161 Abs. 1 lit. a; keine Antragsbefugnis des einzelnen Bürgers) Normenkontrollverfahrens Prüfungsmaßstab vor dem Verfassungsgericht sein.514 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sowohl den Grundrechten der ersten Gruppe als auch denen der zweiten Gruppe eine umfassende Bindungswirkung zukommt. Die Grundrechte beider Kategorien sind justiziabel, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Auf die Bedeutung der sozialen Gewährleistungen, insbesondere der der dritten Gruppe, soll erst im Folgenden ausführlich eingegangen werden. cc) Die Justiziabilität sozialer Grundrechte in Spanien (1) Die sozialen Grundrechte der ersten und zweiten Gruppe Die starke Stellung der Grundrechte der ersten und zweiten Kategorie müsste nun eigentlich dazu führen, dass sowohl das Recht auf Erziehung aus Art. 27 (Gruppe eins) als auch das Recht auf Arbeit aus Art. 35 (Gruppe zwei) – beides traditionelle soziale Grundrechte – in sehr weitgehender Form justiziabel sind. Dem ist jedoch in Wirklichkeit nicht so.515 Obgleich das spanische Verfassungsgericht das Recht auf Arbeit als „echtes“ Grundrecht anerkennt,516 verneint es in ständiger Rechtsprechung einen darauf gestützten Anspruch auf Schaffung neuer Arbeitsplätze.517 Art. 35 garantiere nur dann ein individuelles Recht auf Einstellung, wenn eine Stelle frei ist 513

Vgl. CHARTE 4133/00 S. 18; Díez-Picazo/Ponthoreau, Constitutional Protection of Social Rights, S. 21 f.; Martínez Soria, Die Garantie des Rechtsschutzes in Spanien, S. 349; Prats-Canut, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 651 (671). 514 Zu den verschiedenen Verfahrensarten kurz und knapp Adomeit/Frühbeck, Einführung in das spanische Recht, 3. Aufl. 2007, S. 36. 515 Instruktiv die Beschreibung von Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (355 ff.) über die Justiziabilität des Rechts der Strafgefangenen auf Arbeit gemäß Art. 25 Abs. 2 S. 3. Ein solches Recht bestünde laut spanischem Verfassungsgericht (STC 172/1989 v. 19. Oktober 1989, FJ 2 f.) nur innerhalb der bestehenden Möglichkeiten der Gefängnisorganisation. Das Recht könne man nur insoweit einklagen, als man geltend macht, die Gefängnisverwaltung habe zur Verfügung stehende Arbeitsplätze unter Missachtung des gesetzlich festgelegten Vorrangs willkürlich oder in diskriminierender Weise verteilt. 516 STC 22/1981 v. 2. Juli 1981, FJ 8. 517 STC 22/1981 v. 2. Juli 1981, FJ 8. Ausführlich dazu Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte im Grundgesetz, S. 159 ff. m. w. N. Vgl. auch Ado-

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und der jeweilige Bewerber über die entsprechende Eignung verfügt.518 Darüber hinaus sei das Recht auf Arbeit als Auftrag an die öffentliche Gewalt zu verstehen, stets das wirtschaftspolitische Ziel der Vollbeschäftigung im Auge zu behalten. Insoweit weist Art. 35 einen kollektiven Gehalt auf,519 welcher jedoch zu seiner Klagbarkeit regelmäßig einer vorherigen Umsetzung durch den einfachen Gesetzgeber bedarf.520 Das Recht auf Arbeit wird also hinsichtlich seiner für die vorliegende Arbeit interessantesten Gewährleistung sehr restriktiv ausgelegt und lediglich als derivatives Teilhaberecht begriffen. Art. 37 umfasst – so jedenfalls die Interpretation der ganz überwiegenden Auffassung – neben dem Recht zu arbeiten des Weiteren ein Recht auf „Beständigkeit und Stabilität in der Beschäftigung“.521 In dieser abwehrrechtlichen Dimension schützt es beispielsweise Arbeitnehmer vor Kündigungen, die ohne sachlichen Grund ausgesprochen werden. Nur selten kann aus Art. 35 direkt ein Anspruch auf Leistung abgeleitet werden, so z. B. hinsichtlich des Rechts auf einen Mindestlohn.522 Ähnliches gilt auch für das Recht auf Erziehung aus Art. 27.523 Zwar stelle dieses nach Ansicht des Verfassungsgerichts mitunter ein echtes Leistungsrecht dar,524 beinhalte aber beispielsweise keinen Anspruch auf Teilnahme am Schulunterricht an einer konkreten Schule.525 Zudem sei der Umfang dieses Leistungsrechts von vornherein auf die zur Verfügung stehenden öffentlichen Mittel526 (sog. Vorbehalt des Möglichen) und bereits vorhandene Einrichtungen beschränkt.527 meit/Frühbeck, Einführung in das spanische Recht, 3. Aufl. 2007, S. 25; Díez-Picazo/Ponthoreau, Constitutional Protection of Social Rights, S. 24. 518 Vgl. Sommermann, Schutz der Grundrechte in Spanien, S. 179 m. w. N. 519 STC 22/1981 v. 2. Juli 1981, FJ 8. 520 Vgl. Sommermann, Schutz der Grundrechte in Spanien, S. 179 m. w. N. 521 Vgl. Adomeit/Frühbeck, Einführung in das spanische Recht, 2. Aufl. 2001 S. 31 f.; Sommermann, Schutz der Grundrechte in Spanien, S. 342. 522 Vgl. Adomeit/Frühbeck, Einführung in das spanische Recht, 3. Aufl. 2007, S. 25; Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte im Grundgesetz, S. 129, 164. 523 Ausführlich dazu Adomeit/Frühbeck, Einführung in das spanische Recht, 2. Aufl. 2001, S. 24 ff. 524 STC 86/1985 v. 10. Juli 1985, FJ 3; STC 129/1989 v. 17. Juli 1989, FJ 5. Vgl. auch Fernández-Miranda y Campoamor, Derecho a la educación, S. 18, 33 f. 525 Vgl. dazu Díez-Picazo/Ponthoreau, Constitutional Protection of Social Rights, S. 23 m. w. N. 526 Ausführlich Fernández-Miranda y Campoamor, Derecho a la educación, S. 36. 527 STC 86/1985 v. 10. Juli 1985, FJ 3; STC 129/1989 v. 17. Juli 1989, FJ 5. Vgl. auch Fernández-Miranda y Campoamor, Derecho a la educación, S. 18, 36, 53.

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Zu dieser restriktiven Interpretation der in den ersten beiden Grundrechtskategorien eingeordneten sozialen Grundrechte kommt hinzu, dass weder das spanische Verfassungs- noch das spanische Verwaltungsprozessrecht die Möglichkeit einer Klage auf Leistung vorsieht. Erst Recht sind der spanischen Rechtsordnung Normerlassklagen fremd.528 Nur indirekt, über eine Art Feststellungsklage, kann nach einem recht komplizierten Vorverfahren ein Einzelner gegen ein rechtswidriges Unterlassen der Verwaltung – nicht der Gesetzgebung! – vorgehen.529 Rein formell sind die Grundrechte der ersten beiden Gruppen also recht umfassend geschützt. Weil die Grundrechte mit sozialen Einschlag jedoch sehr restriktiv interpretiert werden und zudem nur unzureichende Klagemöglichkeiten auf Leistung existieren, ist die tatsächliche Wirkung der Art. 27 und 35 eher auf ihre abwehrrechtliche Funktion beschränkt. (2) Die Grundrechte der dritten Gruppe und das Sozialstaatsprinzip Im Umkehrschluss zu Art. 53 Abs. 1, der die öffentliche Gewalt nur zur Beachtung der Grundrechte der ersten und zweiten Gruppe zu verpflichten scheint, könnte eine Bindungswirkung der Grundrechte der dritten Gruppe zu verneinen und jene als bloß unverbindliche Programmsätze aufzufassen sein.530 Eine solche Interpretation würde jedoch zum einen Art. 9 Abs. 1 zuwiderlaufen,531 der die öffentliche Gewalt an die gesamte Verfassung und damit auch an die sozialen Grundrechte der dritten Gruppe bindet.532 Zum anderen bestimmt Art. 53 Abs. 3 selbst, dass „die Anerkennung, die Achtung und der Schutz der im dritten Kapitel anerkannten Grundsätze der positiven Gesetzgebung, der Rechtsprechung und dem Handeln der öffentlichen Gewalt zugrunde liegt533 (‚informará‘)“. Da das Verb „informar“ 528 Ausführlich Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte im Grundgesetz, S. 199 ff., insbesondere auch dazu, wie das Verfassungsgericht legislatives Unterlassen trotz eigentlich fehlender Sanktionsmöglichkeiten entgegenzutreten versucht. Vgl. auch STC 216/1991 v. 14. November 1991. Zum Ganzen auch Martínez Soria, Die Garantie des Rechtsschutzes in Spanien, S. 374; Sommermann, Schutz der Grundrechte in Spanien, S. 183 m. w. N. 529 Vgl. Martínez Soria, Die Garantie des Rechtschutzes in Spanien, S. 12 ff. m. w. N.; Sommermann, Schutz der Grundrechte in Spanien, 183 m. w. N. 530 So Garrido Falla, in: ders. (Hrsg.), Comentarios, Art. 53 S. 882 (896). So scheinbar auch Prats-Canut, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 651 (671). 531 Vgl. Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte im Grundgesetz, S. 196 f. m. w. N. 532 Etwas widersprüchlich Prats-Canut, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 651 (671 vs. 678). 533 Hervorhebung durch den Verfasser.

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auch mit „zu berücksichtigen haben“ oder „zu beachten haben“ übersetzt werden kann, dürfte die Formulierung „zugrunde liegen“ wohl eher im Sinne von „zugrunde liegen müssen“ als von „zugrunde liegen können“ zu verstehen sein. Die öffentliche Gewalt ist demzufolge nicht nur an die Grundrechte der ersten beiden Gruppen gebunden, sondern auch an die sozialen Grundrechte der dritten Kategorie.534 Im Gegensatz zu den Grundrechten der ersten beiden Gruppen sind die der dritten Kategorie – wie schon in Frankreich und Portugal – jedoch im Allgemeinen nicht unmittelbar anwendbar. Sie müssen – vergleichbar mit dem deutschen Staatszielbestimmungen535 – vielmehr durch den einfachen Gesetzgeber erst umgesetzt werden, bevor sich der Bürger vor den ordentlichen Gerichten auf diese zu stützen vermag (vgl. Art. 53 Abs. 3 S. 2).536 Das spanische Verfassungsgericht bezeichnet die Leitprinzipien der Sozialund Wirtschaftspolitik regelmäßig als verbindliche „Verfassungsaufträge“ („mandatos constitucionales“).537 Der Grund für diese Umsetzungsbedürftigkeit und der daraus folgenden Nichteinklagbarkeit liegt aber nicht darin begründet, dass die Grundrechte der dritten Gruppe nicht auf die Erweiterung der rechtlichen Befugnisse des Einzelnen gerichtet wären,538 es sich bei diesen also nicht um Rechte handeln würde, die dem einzelnen Individuum gebührten. Die überwiegende Anzahl an sozialen Gewährleistungen sind in der spanischen Verfassung explizit als „Recht auf“ oder „Recht zu“ („el derecho“) formuliert. Zudem spielt die Unterscheidung zwischen subjektiven Rechten und rein objektiven Prinzipien in Spanien – anders als in 534 So auch die ganz überwiegende Ansicht in Spanien. Vgl. STC 126/1994 v. 25. April 1994. Vgl. auch CHARTE 4133/00, S. 19; Amoros Dorda, in: Alzaga Villaamil (Hrsg.), Leyes Políticas IV, Einführung S. 1 (9); Cruz Villalón, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), Charta, A XIII Rn. 51; Díez-Picazo/Ponthoreau, Constitutional Protection of Social Rights, S. 22. Ausführlich zum Ganzen Polakiewicz, ZaöRV 1994, S. 340 (352 m. w. N., 355). 535 Vgl. Amoros Dorda, in: Alzaga Villaamil (Hrsg.), Leyes Políticas IV, Principios S. 1 (8); Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte im Grundgesetz, S. 166; Sommermann, Staatszielbestimmungen, S. 341. 536 Vgl. B. Echeverría Mayo, in: Alzaga Villaamil (Hrsg.), Leyes Politicias IV, S. 52 f.; Polakiewicz, ZaöRV 1994, S. 340 (351 f. m. w. N.); Sommermann, Schutz der Grundrechte in Spanien, S. 187. Nach Umsetzung können diese Bestimmungen dann aber gerichtlich geltend gemacht werden, vgl. Polakiewicz, ebd., 340 (352). 537 STC 210/1990 v. 20. Dezember 1990. 538 So auch CHARTE 4133/00, S. 19; Adomeit/Frühbeck, Einführung in das spanische Recht, 3. Aufl. 2007, S. 26. Auch wenn den Grundrechten der dritten Gruppe in der spanischen Verfassungsliteratur vielfach die Subjektivität abgesprochen wird, ist zu berücksichtigen, dass der Begriff des subjektiven Rechts in den meisten Ländern eher als Synonym für „nicht unmittelbar anwendbar“ verwendet wird, als dass eine bestimmte Gewährleistung den einzelnen Bürger als Individuum nicht zustehen soll.

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Deutschland – ohnehin nur eine äußerst untergeordnete Rolle. Das spanische Verfassungs- ebenso wie das spanische Verwaltungsprozessrecht lässt für die Zulässigkeit einer Klage jedes nachvollziehbare Interesse539 genügen und fordert gerade nicht die Geltendmachung einer subjektiven Rechtsverletzung.540 Die Rechte der dritten Gruppe können deshalb ohne Weiteres ein solch legitimes Interesse begründen und die Zulässigkeit einer Klage eröffnen.541 Art. 53 Abs. 3 S. 2 ist also lediglich deklaratorisch zu verstehen. Die Grundrechte der dritten Gruppe können durch den Einzelnen vor den ordentlichen Gerichten542 deshalb nicht eingeklagt werden, weil ihr Gehalt viel zu unbestimmt ist,543 als dass Gerichte aus diesen ohne vorherige Umsetzung konkrete Ansprüche zugunsten des Bürgers ableiten könnten. Von diesem Grundsatz der Umsetzungsbedürftigkeit der sozialen Grundrechte gibt es – ähnlich wie im französischen und portugiesischen Verfassungsrecht – wiederum einige Ausnahmen: Eine Umsetzung ist zum einen dann nicht erforderlich, wenn ein Akt der öffentlichen Gewalt lediglich hinsichtlich der Vereinbarkeit mit den Grundrechten der dritten Gruppe überprüft werden soll.544 Beispielsweise wurde ein Gesetz, das Familien steuerlich stärker belastet als Alleinstehende, für mit Art. 39 unvereinbar angesehen und deshalb für verfassungswidrig erklärt.545 Das Gleiche gilt, wenn die sozialen Grundrechte einen gewissen Mindeststandard vorschreiben, den der Gesetzgeber bei einer Umsetzung sowieso nicht unterschreiten dürfte.546 Des Weiteren wird diskutiert547, ob den sozialen Grundrechten – insbeson539

STC 71/1991 v. 8. April 1991, FFJJ 3 bis 5. Ausreichend ist jedes „direkte, persönliche und legitime Interesse“. Vgl. dazu Martínez Soria, Die Garantie des Rechtsschutzes in Spanien, S. 138 ff., 376 f. m. w. N.; Sommermann, Schutz der Grundrechte in Spanien, S. 291 f. Vgl. Art. 46 Abs. 1 LOTC. 540 Vgl. zum Ganzen sehr ausführlich Martínez Soria, Die Garantie des Rechtsschutzes in Spanien, S. 138 ff. 541 Vgl. zum Ganzen Garrido Falla, in: ders. (Hrsg.), Comentarios, Art. 53, S. 177; Martínez Soria, Die Garantie des Rechtsschutzes in Spanien, S. 350 m. w. N. 542 Die Möglichkeit der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gestützt auf die Grundrechte der dritten Gruppe besteht dagegen schon aus formalen Gründen nicht. Zulässig ist aber eine konkrete Normenkontrolle (vgl. Art. 163). 543 Ausführlich Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte im Grundgesetz, S. 178 f. (zu Art. 41). 544 Vgl. zur abwehrrechtlichen Dimension der sozialen Grundrechte Díez-Picazo/ Ponthoreau, Constitutional Protection of Social Rights, S. 22; Sommermann, Schutz der Grundrechte in Spanien, S. 184; Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (352 m. w. N.). 545 STC 45/1989 v. 20. Februar 1989, FJ 7. 546 STC 103/1983 v. 22. November 1983, FJ 4. 547 Ausführlich dazu und in der Sache bejahend Borrajo Dacruz, La Seguridad Social en el marco jurídíco constitucional, S. 87 (100 f.) und López Guerra, in: Esteban (Hrsg.), Régimen constitucional I, S. 313 (346 f.).

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dere Art. 41 – ein Rücknahmeverbot innewohnt, welches verhindert, dass ein einmal durch Umsetzung erreichter sozialer Standard ganz oder teilweise wieder abgeschafft wird (sog. „irregresividad de la Seguridad Social“). Anders als in Portugal, wo das „proibição de retrocesso social“ eine größere Rolle in der verfassungsrechtlichen Diskussion einnimmt, sind in Spanien die Stimmen hierzu vereinzelt548 geblieben.549 Selbst wenn man ein solches Rücknahmeverbot annehmen würde, müsste – so das spanische Verfassungsgericht – dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Sozialrechts ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt werden.550 Schließlich sind die Grundrechte der dritten Gruppe bei der Auslegung von Gesetzen551 zu berücksichtigen oder können als Rechtfertigungsgrund für den Eingriff in herkömmliche Grundrechte herangezogen werden.552 Als klagbare Leistungsrechte – unter Beachtung der oben beschriebenen prozessualen Schwierigkeit – können die Gewährleistungen der dritten Gruppe dann Bedeutung erlangen, wenn sie – dies ist aus dem deutschen Verfassungsrecht her bekannt – in Zusammenhang mit den Grundrechten der ersten beiden Gruppen gebraucht werden553 (z. B. als derivatives Recht auf Teilhabe in Verbindung mit dem Gleichheitsrecht aus Art. 14 oder als Anspruch auf eine medizinische Grundversorgung nach Art. 15 i. V. m. Art. 43).554 Die Wirkungsweise der Grundrechte der dritten Gruppe kann nahezu eins zu eins auf das in Art. 1 Abs. 1 verankerte Sozialstaatsprinzip übertragen werden.555 Auch dieses ist im Allgemeinen nicht unmittelbar anwendbar; aus ihm lassen sich keine konkreten Ansprüche ableiten.556 Ingesamt 548 Zu den Entscheidungen, in denen ein Rückschrittsverbot angenommen wurde vgl. Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (374 f. m. w. N.). 549 Vgl. Vida Soria, in: Alzaga Villaamil (Hrsg.), Leyes Políticas IV, Art. 41 S. 87 (97) m. w. N.; Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (372 f. m. w. N.). Zurückhaltend STC 134/1987 v. 21. Juli 1987, FJ. 4. 550 STC 103/1983 v. 22 November 1983, FJ 4. Zum Ganzen sehr ausführlich Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (372 ff. m. w. N.). 551 STC 184/1990 v. 15. November 1990 und 222/1992 v. 11. Dezember 1992. Vgl. auch Díez-Picazo/Ponthoreau, Constitutional Protection of Social Rights, S. 22.; Martínez Soria, Die Garantie des Rechtsschutzes in Spanien, S. 350 m. w. N. 552 STC 89/1994 v. 17. März 1994. 553 So ausdrücklich STC 45/1989 v. 20. Februar 1989, FJ 4. Vgl. Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (361); Sommermann, Schutz der Grundrechte in Spanien, S. 185 f. In Frankreich ist diese Konzeption dagegen unbekannt, vgl. Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 281. Vgl. dazu ausführlich unten Teil 3, II. 5 d. 554 Vgl. Borrajo Dacruz, in: Alzaga Villaamil (Hrsg.), Leyes Políticas IV, Art. 43 S. 147 (191) m. w. N. 555 Ausführlich dazu Álvarez Conde, Curso de Derecho Constitucional I, S. 114; Garrorena Morales, El Estado español como Estado social y democrático de Derecho, S. 102 f.; Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte im Grundgesetz, 135 f. m. w. N.

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kommt dem Sozialstaatsprinzip in der Rechtsprechung des Tribunal Constitucional ohnehin nur eine untergeordnete Bedeutung zu,557 da die in der spanischen Verfassung so zahlreich normierten sozialen Grundrechte als Konkretisierung des Prinzips des sozialen Staates letzterem regelmäßig vorgehen.558 e) Sonstige Mitgliedstaaten Wollte man an dieser Stelle einen umfassenden Rechtsvergleich hinsichtlich des Schutzes sozialer Grundrechte in den 27 EU-Mitgliedstaaten vorlegen, müssten im Folgenden weitere 23 Verfassungen untersucht werden. Dies wäre zwar nicht uninteressant, würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Abgesehen davon ist eine solch ausführliche Darstellung für die dogmatische Grundlegung der Grundsätze im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC nicht erforderlich. In den übrigen 23 Verfassungen werden soziale Garantien nämlich in ähnlicher Weise gewährleistet wie in den vier bisher analysierten Verfassungsordnungen. Insbesondere die Verfassungen osteuropäischer Staaten wie Polen, Ungarn oder der Tschechischen Republik sind ähnlich strukturiert wie die Verfassungen westeuropäischer Länder,559 was darauf zurückzuführen ist, dass sich die ehemaligen Ostblockstaaten560 bei der Kodifizierung der eigenen Verfassung erkennbar an ihren westeuropäischen Nachbarn orientiert haben. Vor allem die Verfassungskodifikationen südeuropäischer Länder wie Spanien oder Portugal dienten als Vorbild, da in diesen soziale Grundrechte wie gesehen in recht umfangreichem Maße Aufnahme gefunden haben. Auf die Be556 Vgl. Díez-Picazo/Ponthoreau, Constitutional Protection of Social Rights, S. 20; Garrorena Morales, El Estado español como Estado social y democrático de Derecho, S. 104 ff. 557 STC 6/1981 v. 16. März 1981, FJ 5; STC 83/1984 v. 24. Juli 1984, FJ 3. Vgl. auch Álvarez Conde, Curso de Derecho Constitucional I, S. 120; Garrorena Morales, El Estado español como Estado social y democrático de Derecho, S. 49, 76 ff. 558 Ausführlich zum Sozialstaatsprinzip García Pelayo, Las transformaciones del Estado contemporáneo, S. 23 f. 559 Vgl. Sólyom, in: Frowein/Marauhn (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, S. 213 (217). 560 Einen kurzen Überblick über die Kodifizierung sozialer Grundrechte in osteuropäischen Verfassungen bietet CHARTE 4133/00 S. 35 ff. Vgl. zum Ganzen auch Sólyom, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, A XV; Tröster, in: BM für Arbeit und Sozialordnung u. a. (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 159 ff.; Winner, Soziale Dimension, S. 110 ff. Generell zum Grundrechtsschutz in Ungarn und Tschechien Arnold/Kovarik, Die Konzeption des Grundrechtschutzes in der Tschechischen Republik, und Arnold/Salát/Molnár, Grundrechte in der Verfassungsrechtsprechung Ungarns.

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schreibung weiterer Verfassungsordnungen kann deshalb im Grundsatz verzichtet werden.561 Auf die Verfassungen zweier Länder – Italiens und Irlands – soll im Folgenden dennoch kurz eingegangen werden. Dies deshalb, weil die dortige Normierung sozialer Grundrechte erstens für andere Kodifikationen ebenfalls Vorbildfunktion hatte und zweitens für die Interpretation der Grundsätze der Europäischen Grundrechtecharta ebenfalls sehr aufschlussreich erscheint.562 Die Verfassung Irlands wird zudem stellvertretend für die Common-Law-Rechtsordnungen erläutert. Auf die Darstellung der Verfassungsordnung des Vereinigten Königreichs wird bewusst verzichtet. Jene erscheint für das Verständnis der Grundsätze im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC wenig hilfreich. Zum einen existiert im Vereinigten Königreich keine geschriebene Verfassung im Sinne kontinentaleuropäischer Staaten, zum anderen spielen dort soziale Garantien auch nach Erlass des Human Rights Acts so gut wie keine Rolle.563 aa) Italien Die italienische Konzeption der Grundrechte begreift den Bürger sowohl als Individuum als auch – und das ist neu gegenüber den anderen europäischen Verfassungen – in dessen Rolle als ein in einer Gemeinschaft lebendes Wesen. Diesen Dualismus zwischen der liberal inspirierten, individualistischen Sichtweise („principio personalistico“) und dem Solidaritätsgedanken („principio solidaritistico“) beschreibt Art. 2564 der italienischen Verfassung: „Die Republik anerkennt und gewährleistet die unverletzlichen Rechte des Menschen, sei es als Einzelperson, sei es innerhalb der sozialen Gemeinschaften, in denen sich seine Persönlichkeit entfaltet; (. . .).“565 Die italienische Verfassung enthält in ihrem Teil 1 – vereinzelt auch schon in der mit dem Titel „Grundprinzipien“ („Principi fondamentali“) überschriebenen Einleitung – deshalb auch eine recht umfangreiche Auflistung sozia561 Einen kurzen Überblick auch über die Verfassung nordeuropäischer Länder bietet CHARTE 4133/00. Vgl. auch Winner, Soziale Dimension, S. 96 ff. m. w. N. 562 Den innovativen Charakter der italienischen Verfassung stellt heraus Mangiameli, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, A VII Rn. 2 ff. 563 Einen kurzen Überblick geben CHARTE 4133/00 S. 30 f.; Winner, Soziale Dimension, S. 103. Vgl. auch Trautwein, Bürgerliche Freiheiten und soziale Grundrechte in England; Kingston/Imrie, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 715 ff. 564 Artikel sind im Folgenden solche der italienischen Verfassung. 565 Vgl. zum Ganzen Biscaretti, Diritto costituzionale, S. 790; Kindler, Einführung in das italienische Recht, S. 23; Mangiameli, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, A VII Rn. 11 f. m. w. N.; Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (346).

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ler Gewährleistungen.566 Dabei sind die sozialen Garantien („diritti sociali“) nicht – so wie beispielsweise in der spanischen Verfassung – in einem einzigen Kapitel zusammengefasst und einem eigenen Normenregime unterworfen, sondern über den gesamten Grundrechtskatalog hinweg verstreut:567 In Art. 4 Abs. 1 findet sich z. B. das Recht auf Arbeit, verstanden als Recht zu arbeiten und nicht willkürlich wieder entlassen zu werden.568 Art. 32 regelt das Recht auf Gesundheitsschutz und gewährt für Bedürftige einen Anspruch auf kostenlose Behandlung. Art. 34 ordnet an, dass die mindestens achtjährige Teilnahme am Grundschulunterricht obligatorisch und unentgeltlich ist. Art. 36 garantiert einen gesetzlichen Mindestlohn, Art. 38 das Recht auf Unterhalt und Sozialfürsorge für arbeitsunfähige Bürger, die nicht über die lebensnotwendigen Mittel verfügen. Darüber hinaus569 hat das italienische Verfassungsgericht (Corte costituzionale) weitere soziale Grundrechte entwickelt wie beispielsweise das Recht auf eine angemessene Wohnung570 oder das Recht auf eine gesunde Umwelt (aus der Zusammenschau des Rechts auf Gesundheit aus Art. 32 und dem Schutz der Landschaft aus Art. 9)571. Die italienische Grundrechtsdogmatik unterscheidet zwei Arten572 von Grundrechtsgewährleistungen, die beide nach Art. 2 in gleicher Weise die öffentliche Gewalt verpflichten:573 Die sog. unbedingten Grundrechte, die unmittelbar anwendbar sind und keiner Umsetzung durch den einfachen Gesetzgeber bedürfen und die sog. bedingten Grundrechte, die im Allgemeinen nicht unmittelbar anwendbar sind und deshalb das Tätigwerden der Legislative beispielsweise auf Schaffung entsprechender Einrichtungen erfordern.574 Die Verpflichtung zur Umsetzung der bedingten Grundrechte („diritti costituzionali condizionati“) steht unter dem Vorbehalt des finanziell 566

Vgl. Biscaretti, Diritto costituzionale S. 736, 789. Vgl. Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (346). 568 C. Cost. 45/1965 und 97/1987. 569 Zu den „klassischen“ sozialen Rechten wie dem Streikrecht, der Arbeitnehmermitbestimmung o. ä., vgl. Luther, JBöR 1995, S. 475 (486 ff.). 570 C. Cost. 252/1983 und 404/1988. Vgl. Mangiameli, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, A VII Rn. 32 m. w. N.; de Vergiottini, in: Matscher (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa, S. 330. 571 C. Cost. 455/1990. Vgl. CHARTE 4133/00 S. 22 m. w. N.; Cuocolo, Principi di Diritto Costituzionale, S. 387 f.; Monaco, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 363 (388 f.). 572 Vgl. CHARTE 4133/02 S. 22; Díez-Picazo/Ponthoreau, Constitutional Protection of Social Rights, S. 11; Winner, Soziale Dimension, S. 109 f. 573 C. Cost. 225 und 226/1974. Vgl. Monaco, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 363 (376 m. w. N., 402 ff.). 574 C. Cost. 455/1990. Vgl. dazu auch Biscaretti, Diritto costituzionale S. 836; Paladin, Diritto Costituzionale S. 157. 567

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Teil 2: Grundlagen

Möglichen und wird durch das Prinzip der finanziellen Balance („principio di equilibrio finanziario“) beschränkt.575 Gleichwohl handelt es sich auch bei den bedingten Grundrechten um echte Grundrechte. Dies bestätigt der Corte costituzionale, wenn er ausführt: „[. . .][das Recht auf medizinische Behandlung]576 ist jeder Person wie ein Verfassungsrecht garantiert, allerdings in der Ausgestaltung, die der einfache Gesetzgeber ihm gibt [. . .], welcher an die objektiven Schranken mit dem Blick auf die jeweils verfügbaren organisatorischen und finanziellen Ressourcen bei seiner Gesetzgebung gebunden ist.“577 Ob ein Grundrecht als bedingt oder unbedingt einzustufen ist, hängt ähnlich wie schon in der französischen, portugiesischen oder spanischen Verfassung davon ab, ob die jeweilige Norm ohne gesetzliche Ausgestaltung konkret genug ist, dass die Gerichte ihre Entscheidungen auf diese stützen können.578 Aus der Reihe der sozialen Grundrechte sieht der Corte costituzionale beispielsweise das Recht auf bezahlten Jahresurlaub oder den Anspruch auf einen angemessenen Mindestlohn für unbedingt und damit unmittelbar anwendbar an. Dass die Abgrenzung nicht immer klar ist, zeigt das Recht auf soziale Sicherheit aus Art. 38, welches als unbedingt eingestuft wird, obwohl es eigentlich das Tätigwerden des Gesetzgebers erfordert.579 Manche Grundrechte weisen einen hybriden Charakter auf. Das Recht auf Gesundheit beispielsweise ist insoweit ein unbedingtes, durchsetzbares Recht, als es den Schutz der psychischen und physischen Integrität garantiert, aber ein bedingtes, soweit es ein Teilhaberecht am Gesundheitssystem darstellt.580 Das Recht auf eine angemessene Wohnung wird nur als ein bedingtes verstanden.581 575

Interessant ist das Urteil 173/1986 des Corte costituzionale, in welchem das Gericht dem Gesetzgeber hinsichtlich der Deckelung der Rentenbezüge ein rechtlich nicht überprüfbaren Beurteilungsspielraum zugestand zur Sanierung und Neuordnung der Sozialleistungen im Lichte der sozialen Solidarität. Ausführlich zum Ganzen Mangiameli, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, A VII Rn. 54 ff. m. w. N.; Pinelli, in: Ruggeri (Hrsg.), La motivazione delle decisioni della Corte constituzionale, S. 548 ff. Vgl. auch Biscaretti, Diritto costituzionale, S. 896; Luther, JBöR 1995, 45 (490 f.). 576 Einfügung durch den Verfasser. 577 C. Cost. 455/1990. 578 Vgl. Díez-Picazo/Ponthoreau, The Constitutional Protection of Social Rights, S. 10 f.; de Vergiottini, in: Matscher (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa, S. 237. 579 Vgl. CHARTE 3133/02 S. 23. 580 C. Cost. 455/1990. Vgl. Cuocolo, Principi di Diritto Costituzionale, S. 384; Díez-Picazo/Ponthoreau, The Constitutional Protection of Social Rights, S. 11; Paladin, Diritto Costituzionale, S. 675 ff. 581 Vgl. de Vergiottini, in: Matscher (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa, S. 332.

IV. Soziale Grundrechte in anderen Kodifikationen

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Die Unterscheidung zwischen bedingten und unbedingten Grundrechten bezieht sich allerdings nicht auf deren Justiziabilität. Unterlässt der Gesetzgeber die Konkretisierung eines bedingten Grundrechts, besteht im italienischen Verfassungsprozessrecht keine Möglichkeit, diesen zu einer gesetzlichen Ausgestaltung zu zwingen.582 Aber auch die unbedingten Grundrechte können mangels Existenz eines entsprechenden Rechtsbehelfs vor dem Corte costituzionale durch den einzelnen Bürger nicht direkt eingeklagt werden.583 Nur inzident, via Vorlage eines Gerichts („giudizio in via incidentale“) im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle (vgl. Art. 134 Abs. 1) spielen bedingte wie unbedingte Grundrechte vor dem Verfassungsgericht als Maßstab für die Überprüfung der Rechtsmäßigkeit von Normen584 oder bei der Auslegung hoheitlicher Maßnahmen585 eine, und zwar annähernd586 gleiche Rolle. Einen Bestandsschutz entfalten die Grundrechte nach italienischer Verfassungslehre nicht. Zum Teil erlaubt der Corte costituzionale dem Gesetzgeber sogar, bei finanziellen Krisen oder sozialen Schwierigkeiten kurzfristig gewisse Standards zu unterschreiten. Beispielsweise akzeptierte das Gericht eine über mehrere Jahre andauernde Deckelung der Rentenbezüge aus finanziellen Gründen.587 Das Gericht hat Gesetze andererseits aber dann doch für verfassungswidrig erklärt, wenn diese den bisherigen Schutz komplett abzuschaffen versuchten. So ist ein Gesetz aufgehoben worden, welches entgegen Art. 38 Abs. 3 eine Behindertenunterstützung ersatzlos hätte streichen wollen.588 Dem Gesetzgeber wird vom Corte costituzionale in diesen Fällen im Allgemeinen ein sehr weiter Ermessensspielraum eingeräumt. 582

Trotzdem hat der Corte costituzionale des öfteren (nicht nur auf dem Gebiet der sozialen Grundrechte) im Wege „additiver Grundsatzurteile“ Einzelentscheidungen getroffen oder die einfachen Gerichte aufgefordert, Einzelentscheidungen zu treffen, wenn der Gesetzgeber seinen Umsetzungspflichten nicht nachgekommen ist, vgl. C. Cost. 497/1988, 277/1991 und 240/1994. Vgl. Mangiameli, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), Charta, A VII Rn. 59 ff. m. w. N.; Monaco, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 363 (411). 583 Vgl. CHARTE 4133/00 S. 23; Monaco, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und des USA, 363 (423 m. w. N.); Biscaretti, Diritto costituzionale, S. 634; Cuocolo, Principi di Diritto Costituzionale, S. 747. 584 C. Cost. 1/1956. Vgl. Biscaretti, Diritto costituzionale, S. 628; Polakiewiczs, ZaöRV 1994, 340 (354, 358 f., 364). 585 Vgl. Biscaretti, Diritto costituzionale, S. 628; Kindler, Einführung in das italienische Recht, S. 46; Monaco, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, 363 (425 f.); Winner, Soziale Dimension, S. 110. 586 Vgl. jedoch hinsichtlich der Einschränkungen bei den sozialen Grundrechten aufgrund der angespannten Haushaltssituation in Italien oben Fn. 575. 587 C. Cost. 173/1986. Instruktiv Mangiameli, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, A VII Rn. 55 f. 588 C. Cost. 106/1992. Vgl. dazu auch Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (368).

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Teil 2: Grundlagen

Vor den ordentlichen Gerichten und den Verwaltungsgerichten sind bedingte wie unbedingte Grundrechte in Bezug auf ihre abwehrrechtliche Funktion ebenfalls in gleicher Weise durch den Einzelnen einklagbar. Im Gegensatz zu den unbedingten Grundrechten können die bedingten jedoch vor den einfachen Gerichten nicht hinsichtlich einer möglichen leistungsrechtlichen Dimension geltend gemacht werden (man spricht insoweit von „diritti pubblici di prestazione“).589 Der Corte costituzionale nimmt also eine Unterscheidung anhand der Normfunktion vor und begründet dies mit den erheblichen Gefahren für die Finanzlage der öffentlichen Kassen, welcher man sich gegenübersähe, wären unbedingte Grundrechte in ihrer Leistungsdimension einklagbar.590 Bei den unbedingten Grundrechten begegnet das italienische Verfassungsgericht drohenden finanziellen Belastungen mit einem oftmals sehr weiten Ermessensspielraum zugunsten des Gesetzgebers.591 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass sich in Italien herkömmliche Grundrechte und soziale Garantien nur anhand ihrer Umsetzungsbedürftigkeit abgrenzen lassen. Auf die Einordnung als subjektives Recht im Sinne des deutschen Verständnisses kommt es ersichtlich nicht an. Zwar wird in Verfahren vor den ordentlichen Gerichten oder den Verwaltungsgerichten zwischen Rechten („diritti soggettivi“) und rechtmäßigen Interessen („interessi legittimi“) differenziert (vgl. Art. 24 Abs. 1, 113 Abs. 1), doch hat diese Differenzierung mit der aus dem deutschen öffentlichen Recht her bekannten Unterscheidung zwischen subjektivem Recht und objektivem Prinzip nichts zu tun, sondern stellt ein italienisches Spezifikum zur Abgrenzung der Rechtswege dar.592 Die Geltendmachung eines subjektiven Rechts im Sinne des deutschen Verständnisses ist in Italien nicht erforderlich.593 bb) Irland In der irischen Verfassung von 1937 spiegelt sich deutlich die religiöse und damit auch christlich-soziale Verwurzelung des irischen Volkes wider. Dies wird besonders bei den Grundrechten („fundamental rights“) deutlich: 589 Vgl. Cuocolo, Principi di Diritto Costituzionale, S. 372; Paladin, Diritto Costituzionale, S. 675. 590 C. Cost. 455/1990. Ausführlich zum Ganzen Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (358 f. m. w. N.). 591 C. Cost. 28/1984; 1107/1988. Vgl. Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (364 ff. m. w. N.). 592 Zum Ganzen Biscaretti, Diritto costituzionale S. 132; Monaco, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 363 (427 ff.). 593 Vgl. Biscaretti, Diritto costituzionale S. 132 ff.; Karwiese, Kontrolle der Verwaltung nach italienischem Recht, S. 54.

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Gemäß Art. 41.1.1594 anerkennt der Staat die Familie als die „natürliche und ursprüngliche Grundeinheit der Gesellschaft (. . .)“. Deren Schutz wird garantiert (Art. 41.1.2). Nach Art. 41.2.2 bemüht sich der Staat sicherzustellen, dass Mütter nicht aus wirtschaftlicher Notwendigkeit gezwungen werden, zum Schaden ihrer häuslichen Pflichten Arbeit aufzunehmen.595 Art. 42.1 weist das Erziehungsrecht den Eltern zu; Art. 42.4 enthält einen Anspruch auf kostenlose Volksschulbildung. Seit der Entscheidung Ryan596 des irischen Obergerichts („High Court“) werden weitere soziale Grundrechte direkt aus der Generalklausel des Art. 40.3.1597 abgeleitet, so beispielsweise598 das Recht auf Arbeit599 oder das Recht auf staatliche Gesundheitsfürsorge600. Darüber hinaus sind unter dem Titel „Leitsätze der Sozialpolitik“ („directive principles of social policy“) in Art. 45 soziale Zielbestimmungen verankert wie z. B. das Recht auf angemessene Entlohnung (Art. 45.2.a) oder die Verpflichtung, für den Unterhalt der Kranken, Witwen, Waisen und Alten zu sorgen (Art. 45.4). Sowohl die Grundrechte als auch die Leitsätze des Art. 45 sind für den Gesetzgeber („Oireachtas“) gleichsam verbindlich. Demgegenüber unterscheidet die irische Verfassung hinsichtlich der Justiziabilität klar zwischen den Grundrechten auf der einen und den genannten Leitsätzen auf der anderen Seite. Die Leitsätze der Sozialpolitik sind als reine Gesetzgebungsaufträge601 ausgestaltet.602 Gemäß Art. 45 stellen sie lediglich eine allgemeine Richtschnur für das Parlament dar und liegen damit außerhalb der Zuständigkeit der Gerichte. Sie können im Grundsatz deshalb weder zur Auslegung einfacher Gesetze herangezogen werden noch weisen sie eine abwehrrechtliche Dimension auf, anhand derer Gesetze zu überprüfen wä594 Artikel ohne nähere Bezeichnung sind im Folgenden solche der irischen Verfassung. 595 Aus dieser Vorschrift wird ein Anspruch auf finanzielle Unterstützung hergeleitet, sofern ein entsprechender Bedarf besteht. 596 Ryan v. A. G. [1965] I. R. 294 (313) (Kenny J.). Das Urteil von Kenny J., wurde vom Supreme Court (O’Dálaigh CJ.; ebd. 335, 344) ausdrücklich bestätigt. Vgl. dazu Casey, Constitutional Law in Ireland, S. 394 ff.; Doolan, Constitutional Law in Ireland, S. 152, 156. 597 Gemäß dieser Vorschrift verbürgt sich der Staat, „die persönlichen Rechte der Bürger zu achten und sie (. . .) zu verteidigen und zu schützen“. 598 Vgl. die Auflistung bei Casey, Constitutional Law in Ireland, S. 395; Grehan, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 259 (294). 599 Murphy v. Stewart [1973] I. R. 97. Das Recht auf Arbeit wird in Irland in etwa so verstanden wie Art. 12 GG in Deutschland. 600 McGee v. A. G. [1974] I. R. 284 (315) (Walsh J.). 601 Vgl. zum Begriff Sommermann, Staatszielbestimmungen, S. 362 ff. m. w. N. 602 Vgl. zum Ganzen Grehan, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 259 (275, 310); Sommermann, Staatszielbestimmungen, S. 337.

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ren.603 Trotz dieser eindeutigen Formulierung misst die Rechtsprechung seit der Entscheidung Murtagh Properties v Cleary604 den Leitsätzen bei der Auslegung von Gesetzen eine gewisse Relevanz bei. Zudem können aus Art. 45 in Zusammenschau mit Art. 40.3.1 justiziable Grundrechte (sozialen Gehalts) abgeleitet werden, die in der irischen Verfassung keine ausdrückliche Normierung erfahren haben.605 Im Gegensatz dazu sind Gesetze, die gegen Grundrechte verstoßen, ungültig (vgl. Art. 15.4.2).606 Die Grundrechte sind unmittelbar anwendbar und durch den Einzelnen vollumfänglich einklagbar607 mit der Folge, dass die zahlreichen sozialen Gewährleistungen, die in Irland als Grundrechte ausgestaltet sind, recht weitgehend vor Gericht geltend gemacht werden können.608 Dies führte zum Teil sogar soweit, dass Gerichte gestützt auf Art. 42 den Behörden ein bestimmtes Schüler/Lehrer-Verhältnis an Sonderschulen vorgeschrieben609 oder die Regierung angewiesen haben, für benachteiligte Jugendliche Erziehungsanstalten zu errichten.610 Diese weitgehende Einklagbarkeit sozialer Gewährleistungen zeigt, dass die unterschiedliche Justiziabilität von Grundrechten und Leitsätzen ausschließlich auf die formale Einordnung der jeweiligen Bestimmung zurückzuführen ist, nicht aber damit begründet werden kann, 603

Eine ähnliche Wirkung wird den sozialen Grundrechten in der Verfassung der Tschechischen Republik beigemessen. Art. 41 Abs. 1 der tschechischen Charta der Grundrechte und -freiheiten bestimmt, dass die dort aufgelisteten sozialen Gewährleistungen „nur in Grenzen der diese Bestimmungen durchführenden Gesetze gefordert werden können“. Das tschechische Verfassungsgericht („Ústavní soud“) folgert daraus (Rs. Pl. US 14/02), dass Gesetze nicht anhand dieser Garantien überprüft oder ausgelegt werden können, obgleich die sozialen Grundrechte in Tschechien als Rechte ausgestaltet sind. Im Gegensatz dazu schreibt das ungarische Verfassungsgericht („Magyar Köztársaság Alkotmánybírósága“) – ähnlich wie das deutsche Grundgesetz – den sozialen Grundrechten aber eine abwehrrechtliche Funktion zu, welche von jedermann vor Gericht geltend gemacht werden kann, vgl. nur Rs. 28/1994.(V.20.)AB (in Deutschland möglich über den Umweg der Elfes-Konstruktion, siehe dazu schon oben Teil 2, IV. 2. a) cc). 604 Murtagh Properties v. Cleary [1972] I. R. 330 (Kenny J.). 605 Murtagh Properties v. Cleary [1972] I. R. 330 (Kenny J.); A. G. v. Paperlink Ltd. [1984] I.L.R.M. 373 (Costello J.). Ausführlich dazu Casey, Constitutional Law in Ireland, S. 395 f., 404 ff. 606 Landers v. A. G. I. L. T. R. [1976] 1 (Finlay J.). Vgl. Grehan, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 259 (309 f.). 607 Byrne v. Ireland and the A. G. [1972] I. R. 241 (Kenny J.); A. G. (S. P. U. C.) v. Open Door Counselling Ltd. [1988] I. R. 593, 624 f. (Finlay C.J.). Vgl. Casey, Constitutional Law in Ireland, S. 386 f.; Grehan, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 259 (268). 608 Zu den Einschränkungen vgl. aber Casey, Constitutional Law in Ireland, S. 346 ff.; Doolan, Constitutional Law in Ireland, S. 161 f. 609 O’Donoghue v. Minister of Education [1996] I. R. 69 (O’Hanlon J.). 610 TD v. Minister of Education [2000] I. R. 62 (HC), zum Teil aufgehoben durch die Entscheidung des Supreme Courts TD v. Minister of Education [2001] I. R. 259.

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dass die Grundrechte als subjektive Normen, die Leitprinzipien dagegen als bloße objektive Verpflichtungen verstanden werden müssen. Das irische Rechtssystem ist eine Differenzierung zwischen subjektivem und objektivem Recht fremd. Jedes formelle Gesetz kann vor dem High Court bzw. Supreme Court611 mit dem Argument angefochten werden, dass dieses gegen eine Vorschrift der Verfassung verstößt (vgl. Art. 15 Abs. 4 Nr. 2, aufgrund des Art. 45 mit Ausnahme der eben dargestellten Leitsätze). Dazu braucht der Kläger im Rahmen der Klagebefugnis lediglich geltend zu machen, dass er an dem Verfahren ein berechtigtes Interesse hat.612 Dieses Interesse wird nur sehr selten verneint.613 Beispielsweise wurde die Klagebefugnis eines Professors für mittelalterliche Geschichte, der eine einstweilige Verfügung zur Unterbrechung von Bauarbeiten am Ort einer Wikinger Siedlung beantragt hatte, mit der Begründung der beruflichen Besorgnis des Klägers und der besonderen Bedeutung des Falles für ausreichend gehalten.614 Auf die Klassifizierung einer Norm als subjektives oder objektives Recht kommt es bei der Klagebefugnis also nicht an. Die sehr weitreichende Klagbarkeit sozialer Gewährleistungen ist auch in Irland nicht ohne Kritik geblieben. In einem Grundsatzurteil hat der Supreme Court ausführlich zur Frage Stellung genommen, inwieweit die Judikative in den Aufgabenbereich der Exekutive und Legislative hineinurteilen und diese zur Umsetzung sozialer Standards zwingen darf.615 Zwei der Einwände, die das oberste irische Gericht gegen einen „judicial activism“ angeführt hat, erscheinen auch für die vorliegende Abhandlung von Interesse: Erstens sei die übermäßige Klagbarkeit sozialer Leistungsansprüche im Hinblick auf die verfassungsmäßig garantierte Gewaltenteilung („separation of 611 Gemäß Art. 34.3.2 und 34.4.3/4 ist dem High Court sowie dem Supreme Court die Befugnis übertragen, im Rahmen eines anhängigen Verfahrens die Vereinbarkeit von Parlamentsgesetzen mit der Verfassung zu überprüfen. Vgl. zum Ganzen Grehan, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 259 (315, 340 ff.). 612 East Donegal Co-operative Livestock Mart Ltd v. A. G. [1970] I. R. 317 (Walsh J.) und Society for the Protection of Unborn Children (Ire.) Ltd v. Grogan [1989] I. R. 734 (Walsh J.). Vgl. zum Ganzen Doolan, Constitutional Law in Ireland, S. 124 ff.; Kelly/Hogan/Whyte, Irish Constitution, S. 440 ff. 613 Deutlich enger dagegen Cahill v. Sutton [1980] I. R. 269 (Henchy J.), wo ausgeführt wurde, dass der Bürger kein Recht einer dritten Partei („constitutional jus tertii“) geltend machen kann. Ausführlich zu dieser Entscheidung Kelly/Hogan/ Whyte, Irish Constitution, S. 438 ff.; Casey, Constitutional Law, S. 358 ff. Vieles ist hier vom Einzelfall abhängig, vgl. Madigan v. A. G. [1986] I. L. R. M. 136; Norris v. A. G. [1984] I. R. 36. 614 Martin v. Corporation of Dublin (Costello J.) (unveröffentlicht), zitiert nach Grehan, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte in Europa und den USA, S. 259 (346 f.). 615 TD v. Minister of Education [2001] I. R. 259 (Hardiman J.). Vgl. zum Ganzen ausführlich Hogan, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, A VI Rn. 41 ff. m. w. N.

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powers“) problematisch. Zweitens fehle den Gerichten sowohl die demokratische Legitimation wie auch die besondere Qualifikation, politische Fragestellungen – um solche handle es sich bei der Umsetzung sozialer Gewährleistungen – zu entscheiden. Auf diese Argumente wird noch zurückzukommen sein. f) Ergebnis Aus der vorstehenden Darstellung kann ein gewisser Grundkonsens über die Behandlung sozialer Gewährleistungen in Europa abgeleitet werden, der neben anderen Kriterien als Ausgangspunkt für die noch zu leistende Aufarbeitung der Grundsatznormen dienen soll. Im Umgang mit sozialen Garantien lassen sich quer durch alle Länder – unter Vernachlässigung der Einzelheiten – folgende Gemeinsamkeiten erkennen: (1) Alle Länder mit Ausnahme Deutschlands verfügen über ein mehr oder minder objektiv-rechtliches Klagesystem, in dem für das Beschreiten des Klageweges regelmäßig das Vorbringen eines berechtigten Interesses seitens des Klägers erforderlich, aber auch ausreichend ist. Popularklagen werden ebenso wie Normerlassklagen im Allgemeinen für unzulässig gehalten. In Deutschland kommt ein Verletztenklagesystem zur Anwendung, welches durch die Elfes-Konstruktion des Bundesverfassungsgerichts eine wesentliche Durchbrechung erfahren hat. (2) In nahezu allen Ländern können soziale Garantien als Prüfungsmaßstab für die Rechtmäßigkeitskontrolle herangezogen werden (in Deutschland wird dies oftmals erst durch die Elfes-Konstruktion ermöglicht). Nach anfänglicher Weigerung hat selbst der französische Conseil constitutionnel seine starre Haltung aufgegeben und überprüft nun wenigstens ex ante Parlamentsvorhaben an Hand der Grundrechte und damit auch an Hand sozialer Gewährleistungen. Nur in der irischen Verfassung findet sich eine Normkategorie, die sich ausschließlich an das Parlament richtet und deshalb vom Bürger nicht, auch nicht inzident, eingeklagt werden kann. (3) Im Leistungsbereich (Schutzansprüche bzw. Leistungsrechte i. e. S.) sind soziale Garantien in den meisten Ländern Europas nur äußerst selten justiziabel. Dies wird in Deutschland durch die Einordnung der jeweiligen Norm als rein objektive Bestimmung oder in Frankreich (in erster Linie) durch Fehlen eines entsprechenden leistungsrechtlichen Rechtsbehelfs erreicht. Generell räumen die nationalen Verfassungsgerichte dem Gesetzgeber bei der Umsetzung von sozialen Garantien regelmäßig einen sehr weiten Ermessensspielraum ein, der nur bei Missachtung des Mindeststandards als überschritten gilt. Letztlich erscheint das Kriterium der Umsetzungsbedürftigkeit als das entscheidende Argument für

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die im Allgemeinen fehlende Justiziabilität sozialer Leistungsrechte in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. (4) In Frankreich, Portugal und teilweise auch in Spanien kommt sozialen Garantien über die herkömmlichen Funktionen von Grundrechten hinaus auch die Wirkung eines Rückschrittsverbots zu. Dagegen wird in Deutschland eine Theorie des absoluten oder relativen Bestandsschutzes überwiegend abgelehnt, in anderen Mitgliedstaaten überhaupt nur selten diskutiert. (5) Anders als in der Grundrechtecharta werden in fast allen Verfassungen der Mitgliedstaaten die sozialen Gewährleistungen ausdrücklich von herkömmlichen Grundrechten unterschieden und meist auch bereits mit einer konkreten Rechtsfolgenregelung versehen. 3. Soziale Rechte in europäischen Regelwerken Soziale Grundrechte sind nicht nur in den meisten nationalen Verfassungen, sondern auch in einigen europäischen Regelwerken normiert. Vier dieser Regelwerke, nämlich die Europäische Menschrechtskonvention616, die Europäische Sozialcharta617, die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer618 und der Vertrag der Europäische Gemeinschaften sollen zum Abschluss dieses Kapitels noch Erwähnung finden, wird auf diese doch bereits im Mandat zu Köln619 und/oder in den Erläuterungen zur Charta620 Bezug genommen.621 a) Die Europäische Menschenrechtskonvention aa) Soziale Rechte in der EMRK Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde am 4. November 1950 in Rom von den Mitgliedern des Europarates unterzeichnet und trat 616 In der Fassung der Bekanntmachung v. 17. Mai 2002, zuletzt geändert durch Protokoll Nr. 14 v. 13. Mai 2004 (BGBl. 2006 II S. 138). 617 In der Fassung v. 18. Oktober 1961 (BGBl. 1964 II S. 1262), zuletzt geändert durch Änderungsbekanntmachung v. 3. September 2001 (BGBl. II 2001 S. 970). 618 Dok. KOM (89) 248 endg. 619 Anhang IV der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates zu Köln vom 3./4. Juni 1999, Bulletin EU 6-1999, Anhang IV, I.64. 620 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 17 ff. 621 Unberücksichtigt bleiben soll deshalb die Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten des Europäischen Parlaments von 1989, auf die im Mandat zu Köln und in den Erläuterungen zur Charta nicht Bezug genommen wurde.

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am 3. September 1953 in Kraft. Ziel war es, neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen622 eine weitere Menschenrechtskonvention speziell für die europäischen Staaten zu schaffen.623 Die Stellung der EMRK in der Rechtsordnung der Unterzeichnerstaaten ist sehr unterschiedlich. In der Bundesrepublik kommt der EMRK und deren 14 Zusatzprotokollen der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu.624 In Deutschland kann man sich deshalb direkt auf die EMRK (in Form des Transformationsgesetzes) stützen. Das BVerfG hat überdies die deutschen Fachgerichte dazu verpflichtet, stets auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen, ohne sie jedoch schematisch anwenden zu müssen.625 Eine Verfassungsbeschwerde wegen Nichteinhaltung der EMRK ist grundsätzlich nicht möglich.626 Das BVerfG hat jedoch im Görgülü-Beschluss627 klargestellt, dass der Beschwerdeführer sehr wohl im Wege der Verfassungsbeschwerde die Missachtung der eben beschriebenen Berücksichtigungspflicht als Verstoß gegen das in seinem Schutzbereich jeweils berührte Grundrecht in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip rügen könne.628 Die EMRK zeigt damit zumindest mittelbar Wirkung vor dem BVerfG. Nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs kann der Einzelne darüber hinaus direkt Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg einlegen (vgl. Art. 34, 35629).630 Die Europäische Union bzw. die Europäische Gemeinschaft gehörten bislang nicht zu den „Unterzeichnerstaaten“ der EMRK.631 In Art. 6 Abs. 2 EUV n. F. ist der Beitritt nun aber vorgesehen. Gleichwohl kam der EMRK in der Rechtsprechung des EuGH schon bislang ein hoher Stellenwert 622

UN-Resolution 217 A (III) v. 10. Dezember 1948. Vgl. zum Ganzen ausführlich Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 4 ff.; Oppermann, Europarecht, § 2 Rn. 22 ff. 624 Allg. Meinung, vgl. statt vieler BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (120); Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 6; Grabenwarter, EMRK, § 3 Rn. 5 ff. 625 BVerfGE 111, 307. Vgl. dazu auch Grabenwarter, EMRK, § 3 Rn. 8; Klein, JZ 2004, 1176 f.; Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 2 Rn. 10; Oppermann, Europarecht, § 2 Rn. 25. 626 St. Rspr. des BVerfG, vgl. BVerfGE 10, 271; 74, 102 (128). 627 BVerfGE 111, 307. 628 Vgl. Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 6; Grabenwarter, EMRK, § 3 Rn. 8; Klein, JZ 2004, 1176 f. m. w. N. 629 Artikel ohne Zusatz sind im Folgenden solche der EMRK. 630 Vgl. dazu Ehlers, in: ders (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 63. 631 Dies hätte einer Änderung des EU- bzw. EG-Vertrages bedurft, vgl. EuGH, Gutachten 2/94, 1996, I-1759 ff. 623

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zu.632 Seit dem Urteil Nold 633 stützt der EuGH die Herleitung der Grundrechte nämlich regelmäßig auch auf die EMRK (vgl. Art. 6 Abs. 2 EUV n. F.). Außerdem scheint sich der EuGH mittlerweile an die Rechtsprechung des EGMR gebunden zu fühlen.634 In neueren Entscheidungen verweist der EuGH oftmals nur noch auf die jeweilige Vorschrift in der EMRK und die diesbezügliche Rechtsprechung des EGMR.635 Diese Orientierung an der EMRK und dem EGMR wird sich mit Wirksamwerden der Grundrechtecharta wohl sogar noch verstärken, weil Garantien der Grundrechtecharta, die mit Gewährleistungen der EMRK übereinstimmen, gemäß Art. 52 Abs. 3 GRC die gleiche Bedeutung und Tragweite zuerkannt, also parallel ausgelegt werden sollen.636 Die EMRK sollte sich ursprünglich auf traditionelle bürgerliche und politische Menschenrechte beschränken. Auf die Aufnahme sozialer Rechte war bewusst verzichtet worden.637 Diese wollte man gesondert, in einer 1961 auch dann tatsächlich verabschiedeten Europäischen Sozialcharta zusammenfassen. Auf letztere wird sogleich noch näher einzugehen sein.638 Nur ausnahmsweise enthält die EMRK leistungsrechtliche Garantien wie beispielsweise den Anspruch auf Prozesskostenhilfe.639 Mit der Zeit hat der EGMR von dieser historischen Betrachtungsweise der EMRK jedoch Abstand genommen und zahlreiche Gewährleistungen auch als positive Leistungsverpflichtungen interpretiert.640 Bereits 1979 stellte der EGMR im Urteil Airey fest, dass Menschrechte nicht ohne eine soziale Komponente ge632 EuGH, Rs. C-222/84, Slg. 1986, 1651 (Johnston), Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689 (Familiapress). 633 EuGH, Rs. C-4/73, Slg. 1974, 491 (Nold). 634 EuGH, Rs. C-7/98, Slg. 2000, I-1935 (Krombach), Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689 (Familiapress). 635 EuGH, Rs. C-7/98, Slg. 2000, I-1935 (Krombach), Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689 (Familiapress). 636 Vgl. hierzu ausführlich Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 31. Nicht ausgeschlossen ist dagegen ein weitergehender Schutz durch das Unionsrecht. 637 Vgl. Dröge/Marauhn, in: BM für Arbeit und Sozialordnung u. a. (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 77 (85 ff.); Oppermann, Europarecht, § 2 Rn. 50. 638 Siehe unten Teil 2, IV. 3. b). 639 EGMR v. 9. Oktober 1979 (Airey), Nr. 6289/73 = Serie A Nr. 32 = EuGRZ 1979, 626 ff. Vgl. auch Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 83. 640 Dabei handelt es sich überwiegend um Schutzpflichten, vgl. EGMR v. 13. Juni 1979 (Marckx), Nr. 6833/74 = Serie A Nr. 31, § 31 = EuGRZ 1979, 454 ff.; v. 26. Mai 1994 (Keegan/Irland), Nr. 16969/90, Serie A Nr. 290, § 49 = EuGRZ 1995, 113 ff.; Frowein, in: ders/Peukert, EMRK, Art. 2 Rn. 7. Zum Ganzen vgl. Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 83 f.; Dröge/Marauhn, in: BM für Arbeit und Sozialordnung u. a. (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 77

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dacht werden könnten: „Whilst the Convention sets forth what are essentially civil und political rights, many of them have implications of a social and economic nature. The Court therefore considers, like the Commission, that the mere fact that an interpretation of the Convention may extend into the sphere of social and economic rights should not be a decisive factor against such an interpretation; there is no water-tight division separating that sphere from the field covered by the convention.“641 Allerdings lässt sich die EMRK nicht generell zur Begründung sozialer Ansprüche heranziehen. Dies bestätigt der EGMR, wenn er sagt: „(. . .) that the Convention does not guarantee, as such, socio-economic rights, including the right to charge-free dwelling, the right to work, the right to free medical assistance or the right to claim financial assistance from a state to maintain a certain level of living“.642 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die EMRK zwar soziale Aspekte als Annex der kodifizierten bürgerlichen und politischen Rechte mitberücksichtigt, sie aber im Allgemeinen keine eigenständigen sozialen Grundrechte im hier verstandenen Sinne enthält. Aus diesem Grund wird die EMRK für die Interpretation der Grundsatznormen auch nur begrenzt, primär bei der Abgrenzung zu den Grundrechten, eine Rolle spielen. Im Folgenden soll es deshalb genügen, einige wenige Urteile des EGMR zu schildern, in denen die soziale Seite der in der EMRK normierten Rechte besonders hervorgetreten ist. bb) Soziale Elemente in der Rechtsprechung des EGMR Entscheidungen mit teilweise sozialem Inhalt sind hauptsächlich zu Art. 2 (Recht auf Leben), Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls (Schutz des Eigentums) und Art. 2 des 1. ZP (Recht auf Bildung) ergangen.643 Aus dem Recht auf Leben und dem Verbot unmenschlicher Behandlung leitet der EGMR insbesondere die Pflicht des Staates ab, den Einzelnen vor Eingriffen Dritter zu schützten.644 Insoweit bestünde auch eine Pflicht zum (85 ff. m. w. N.); Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 16 m. w. N.; Oppermann, Europarecht, § 2 Rn. 50. 641 EGMR v. 9. Oktober 1979 (Airey), Nr. 6289/73 = Serie A Nr. 32, § 26 = EuGRZ 1979, 626 ff. 642 EGMR v. 28. Oktober 1999 (Pancenko/Lettland), Nr. 40772/98, § 2. 643 Vgl. hierzu Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 85 ff.; Dröge/Marauhn, in: BM für Arbeit und Sozialordnung u. a. (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 77 (86 ff. m. w. N.). Ausführlich zum Ganzen Schmidt, Europäische Menschenrechtskonvention und Sozialrecht.

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Schutz vor Umweltschäden.645 Ob sich aus Art. 2 überdies ein Anspruch auf das zum Leben absolut Notwendige ergibt, ist äußerst umstritten und wird vom EGMR bisher verneint.646 Ebenso wird überwiegend abgelehnt, aus Art. 2 einen Anspruch auf das für das Leben erforderliche Mindestmaß an medizinischer Versorgung herzuleiten. Nur in den wenigen Ausnahmefällen, in denen der EGMR die Abschiebung eines Schwerkrankens in ein Land, in dem er keine medizinische Hilfe erwarten durfte, für rechtswidrig erklärt hat, könnte man Ansätze für die Akzeptanz eines Anspruchs auf ein Minimum an medizinischer Versorgung sehen.647 Art. 8 EMRK enthält das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, das nach Ansicht des EGMR den Staat unter anderem dazu verpflichtet, die Familie vor Eingriffen Dritter zu schützen und die innerstaatliche Rechtsordnung so auszugestalten, dass es den Betroffenen möglich ist, ein normales Familienleben zu führen.648 Eine Pflicht zur Gewährung bestimmter Leistungen der Familienförderung ist mit Art. 8 EMRK jedoch nicht verbunden.649 Zum Privatleben gehöre nach Ansicht des EGMR auch ein gewisser Schutz vor körperlicher Unversehrtheit. Insoweit sei Art. 8 EMRK betroffen, wenn die Bewohner eines Gebietes giftigen Abgasen einer Fabrik ausgesetzt sind.650 Gleiches gilt, wenn eine Person direkt und 644 Vgl. Frowein, in: ders./Peukert, EMRK, Art. 2 Rn. 7; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 2 Rn. 2, 7 ff.; Oppermann, Europarecht, § 2 Rn. 35. 645 EGMR v. 9. Dezember 1994 (López Ostra/Spanien), Nr. 16798/90, Serie A Nr. 303-C, §§ 44–48 (jedoch zu Art. 8). Vgl. auch Dröge/Marauhn, in: BM für Arbeit und Sozialordnung u. a. (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 77 (90 m. w. N.); Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 2 Rn. 7d. Vgl. auch Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 7. 646 EGMR v. 3. Mai 2005 (Vasilenkov/Ukraine), Nr. 19872/02, § 18. Dafür Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 90 f. m. w. N., die sich u. a. auf EKMR v. 1. September 1999 (Z/Vereinigtes Königreich), Nr. 29392/95, § 93 stützt. Vgl. auch Dröge/Marauhn, in: BM für Arbeit und Sozialordnung u. a. (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 77 (89 f. m. w. N.). A. A. (gegen eine soziale Auslegung des Art. 2) Warbrick, ICLQ 1983, 82 (101). Vgl. auch EGMR v. 15. Februar 2000 (S.C.C./Schweden), Nr. 46553/99; EKMR v. 29. Mai 1998 (Karara/Finnland), Nr. 40900/98. 647 EGMR v. 2. Mai 1997 (D/Vereinigtes Königreich), Nr. 30240/96, §§ 46–54. Ebenso Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 92 m. w. N., auch zur Gegenauffassung. 648 EGMR v. 26 März 1985 (X und Y/Niederlande), Nr. 8978/80 = Serie A Nr. 91, § 23 = EuGRZ 1985, 297 ff.; v. 13. Juni 1979 (Marckx) Nr. 6833/74 = Serie A Nr. 31 Rn. 31 = EuGRZ 1979, 454 ff. 649 EGMR v. 3. März 1986 (Andersson/Schweden), Nr. 11776/85. 650 EGMR v. 19. Februar 1998 (Guerra), Nr. 116/1996/735/932, Rn. 57; v. 9. Dezember 1994 (López Ostra/Spanien), Nr. 16798/90, Serie A Nr. 303-C, Rn. 44–48. Vgl. zum Ganzen Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 7.

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erheblich durch Lärm beeinträchtigt wird.651 Der EGMR neigt in diesen Fällen dazu, sich eher auf Art. 8 als – was näher liegen würde – auf Art. 2 zu stützen. Im Rahmen des Eigentumsrechts (Art. 1 des 1. ZP) geht es im Hinblick auf den Schutz sozialer Garantien bislang überwiegend um Fälle, in denen gegen die Abschaffung oder Absenkung sozialrechtlicher Leistungen geklagt wurde. Wie schon aus dem deutschen Verfassungsrecht her bekannt, genießen sozialrechtliche Ansprüche einen gewissen materiellen Bestandschutz, wenn diese unmittelbar auf Beitragszahlungen des Anspruchsinhabers zurückzuführen sind.652 Das Kriterium der Beitragsbezogenheit wurde vom EGMR im Fall Gaygusuz653 scheinbar teilweise aufgegeben. In der späteren Rs. Poirrez654, in der ein Drittstaatsangehöriger geklagt hat, weil er aufgrund seiner Nationalität keine Invalidenrente erhielt, bestätigt das Gericht seine Auffassung, als es urteilte: „In that connection, the Court considers that the fact that, in that case [Gaygusuz]655, the applicant had paid contributions and was thus entitled to emergency assistance [. . .] does not mean, by converse implication, that a non-contributory social benefit such as the AAH does not also give rise to a pecuniary right for the purposes of Article 1 of Protocol No. 1.“ Einzelheiten zu dieser Rechtsprechung sind äußerst umstritten und sollen nicht weiter interessieren.656 Wichtig zu wissen ist nur, dass über das Eigentumsrecht zwar ein gewisser Bestandsschutz bei sozialrechtlichen Leistungsansprüchen besteht. Aus Art. 1 des 1. ZP ergibt sich aber kein Recht auf Unterstützung als solches.657 Zudem gewährt 651 EGMR v. 8. Juli 2003 (Hatton/Vereinigtes Königreich wg. Flughafen Heathrow), Nr. 36022/97 = NVwZ 2004, 1465. Vgl. Grabenwarter, EMRK, § 22 Rn. 56; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 8 Rn. 17. 652 EKMR v. 16. Dezember 1974 (Müller/Österreich), Nr. 5849/72, D.R. 1, §§ 30–32; EGMR v. 16. September 1996 (Gaygusuz/Österreich), Nr. 17371/90, § 41 = JZ 1997, 405 ff. Vgl. Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 86 f.; Dröge/Marauhn, in: BM für Arbeit und Sozialordnung u. a. (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 77 (91 ff. m. w. N.); Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 1 des 1. ZP Rn. 9a; Peukert, in: Frowein/ders., EMRK, Art. 1 des 1. ZP, Rn. 10. Zum Ganzen ausführlich Schmidt, Europäische Menschenrechtskonvention und Sozialrecht, S. 69 ff. 653 EGMR v. 16. September 1996 (Gaygusuz/Österreich), Nr. 17371/90, § 41= JZ 1997, 405 ff. 654 EGMR v. 30. September 2003 (Poirrez), 40892/98, § 37. 655 Klarstellung durch den Verfasser. 656 Ausführlich zum Ganzen Schmidt, Europäische Menschenrechtskonvention und Sozialrecht, S. 69 ff. m. w. N. 657 EKMR, v. 16. Dezember 1974 (Müller/Österreich), Nr. 5849/72, D.R. 1, §§ 30–32; EGMR v. 28. Oktober 1999 (Pancenko/Lettland), Nr. 40772/98, § 2; v. 8 Dezember 2005 (Dumanovski), Nr. 13898/02, § 52; v. 12 Oktober 2004 (Asmundsson) Nr. 60669/00, § 39. Vgl. auch Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 88 ff. Vgl.

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der EGMR den Staaten einen erheblichen Ermessensspielraum, sozialpolitische Entscheidungen zu überdenken, die auch zu Leistungskürzungen führen können.658 Das Eigentumsrecht schützt insoweit nur vor erheblichen nachträglichen Abzügen ohne ausreichender Begründung.659 Das Recht auf Bildung aus Art. 2 S. 1 des 1. ZP wird sehr restriktiv interpretiert. Es garantiert lediglich den diskriminierungsfreien Zugang zu vorhandenen staatlichen oder privaten Bildungseinrichtungen, sofern die Zugangsvoraussetzungen erfüllt und entsprechende Kapazitäten vorhanden sind. Ein Anspruch auf Schaffungen neuer Einrichtungen lässt sich aus Art. 2 S. 1 des 1. ZP aber nicht ableiten.660 b) Die Europäische Sozialcharta Die gerade eben schon angesprochene Europäische Sozialcharta, die am 18. Oktober 1961661 in Turin von den Mitgliedern des Europarates ratifiziert wurde und am 26. Februar 1965 in Kraft trat, wird gerne als „soziales Gegenstück“ zur Europäischen Menschenrechtskonvention bezeichnet.662 Sie enthält umfangreiche verbindliche663 (vgl. Art. 20664) soziale Gewährleistungen wie beispielsweise das Recht auf Arbeit (Art. 1), das Recht auf eine gerechte Entlohnung (Art. 4), das Recht auf Gesundheitsschutz zum Ganzen Dröge/Marauhn, in: BM für Arbeit und Sozialordnung u. a. (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 77 (91 ff. m. w. N.). 658 Vgl. Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 87 f.; Peukert, in: Frowein/ders., EMRK, Art. 1 des 1. ZP Rn. 10, 48 ff. 659 Vgl. Wegener, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 5 Rn. 15 f. 660 Allg. Meinung, vgl. EGMR v. 23. Juni 1968 (Belg. Sprachenfall), Serie A Nr. 6 = EuGRZ 1975, 298; v. 10. November 2005 (Leyla Sahin/Türkei), Nr. 44774/98 = EuGRZ 2006, 28. Vgl. Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 2 Rn. 15 m. w. N.; Frowein, in: ders/Peukert, EMRK, Art. 2 des 1. ZP Rn. 2; Mayer-Ladewig, EMRK, Art. 2 des 1. ZP Rn. 4; Oppermann, Europarecht, § 2 Rn. 51. Zum Ganzen vgl. Delbrück, GYIL 1992, 92 ff. 661 Mit der revidierten, von der Bundesrepublik Deutschland erst am 29. Juni 2007 unterzeichneten, aber bisher noch nicht ratifizierten Fassung v. 3. Mai 1996 wurde die Europäische Sozialcharta auf einen neuen Stand gebracht. 662 CHARTE 4133/00 S. 11. Vgl. auch Winner, Soziale Dimension, S. 116; Lörcher, in: BM für Arbeit und Sozialordnung u. a. (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 99 ff. 663 Die Verbindlichkeit der Gewährleistungen des zweiten Teils reicht nur soweit, wie der jeweilige Staat die Verbindlichkeit der einzelnen Normen aus Teil II auch anerkannt hat, vgl. Art. 20 Nr. 1 lit. a. 664 Artikel ohne Zusatz sind im Folgenden solche der Europäischen Sozialcharta in der Fassung v. 18. Oktober 1961 (BGBl. 1964 II S. 1262), zuletzt geändert durch Änderungsbekanntmachung v. 3. September 2001 (BGBl. II 2001 S. 970).

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(Art. 11) oder das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 12 ff.). Die Europäische Sozialcharta stellt damit eine der bedeutendsten völkerrechtlichen Vereinbarungen auf dem Gebiet der sozialen Grundrechte dar. Weil es sich bei der Europäischen Sozialcharta aber eben um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, kommt ihr in den meisten665 Unterzeichnerstaaten666 – die Frage der innerstaatlicher Wirkung völkerrechtlicher Vereinbarungen bestimmt sich ausschließlich nach nationalem Recht667 – keine unmittelbare Geltung668 zu. Im Gegensatz zur EMRK, die nach ihrer Umsetzung669 in der innerstaatlichen Rechtsordnung justiziable Rechte zugunsten des Einzelnen begründet, ist aber auch das bei der Europäischen Sozialcharta nicht der Fall, da sich diese von vornherein nur an die Vertragsstaaten richtet.670 Unmittelbar anwendbare671 Gewährleistungen lassen sich aus ihr daher grundsätzlich672 nicht ableiten.673 Die niedergelegten Garantien sind vielmehr alleine als Gesetzgebungsaufträge zu begreifen.674 665 In monistisch orientierten Rechtssystemen (wie z. B. in der Schweiz, in Frankreich oder in Liechtenstein) gilt das Völkerrecht als Teil der nationalen Rechtsordnung. Einer weiteren Umsetzung bedarf es daher nicht. Siehe ausführlich unten Teil 3, III. 3. a) aa). 666 In der BRD ist die Frage der innerstaatlichen Geltung völkerrechtlicher Bestimmungen in den Art. 25, 59 Abs. 2 GG geregelt. Vgl. dazu BVerfGE 73, 339 (375) (Solange II); Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 25 Rn. 1 ff., Art. 59 Rn. 16 ff.; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 59 Rn. 46 ff. 667 Vgl. Doehring, Völkerrecht, Rn. 704; Kunig, in: Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, § 2 Rn. 33 f.; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 59 Rn. 47; Shaw, International Law, S. 120 ff. 668 Zum Begriff näher unten Teil 3, III. 3. a). 669 Die Frage, ob in der BRD die Vollzugs- oder Transformationstheorie gilt, soll hier dahinstehen. Vgl. dazu Doehring, Völkerrecht, Rn. 710; Jarass, in: ders./ Pieroth, GG, Art. 25 Rn. 1a. 670 Vgl. Anhang Teil III der ESC. So auch die ganz h. M. Wie hier auch GA Lenz in seinem Schlussantrag in der Rs. C-236/87, Slg. 1988, 5125 Rn. 28 (Bergemann); BVerfGE 58, 233 (253); BVerwGE 91, 327; Fischer/Köck/Karollus, Europarecht, Rn. 546 ff. Vgl. auch BT-Drucks. IV/2117, S. 1 (28). A. A. VG Frankfurt a. M., NVwZ-RR 1999, 325 (330); Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 255 f. Zu Recht kritisch zum Urteil des VG Frankfurt a. M. Gundel, ZBR 1999, 103 f. 671 Zum Begriff siehe unten Teil 3, III. 4. a). 672 Einzelne Normen wie Art. 6 Abs. 4 und 18 Abs. 4 werden teilweise als unmittelbar anwendbar betrachtet, vgl. dazu instruktiv Gori, in: de Bfflrca/de Witte (Hrsg.), Social Rights in Europe, S. 69 (76 ff.); Neubeck, Europäische Sozialcharta, S. 167 ff., 180. 673 Einzig in der Schweiz scheint der ESC eine etwas größere Relevanz beigemessen zu werden, vgl. BGer, X. AG/A. und Mitbeteiligte, BGE 111 II 245 E. 4a. 674 Zum Ganzen ausführlich Fischer/Köck/Karollus, Europarecht, Rn. 546 ff.; Öhlinger, in: Matscher (Hrsg.), Die Durchsetzung wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte, S. 335 (338 ff. m. w. N.).

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Die EU selbst ist nicht Vertragspartei der Europäischen Sozialcharta. Gleichwohl wird in der Präambel zum EU-Vertrag und in Art. 136 Abs. 1 EGV auf jene Bezug genommen. Aber auch hierbei handelt es sich lediglich um die Normierung rein programmatischer Zielsetzungen, denen keine Justiziabilität zukommen soll.675 Die Kommission nutzt diese Zielsetzungen jedoch als Rechtfertigungsgrundlage für die von ihr vorgeschlagenen Richtlinien auf dem Gebiet des Sozialrechts.676 Daneben dient die Europäische Sozialcharta dem EuGH als Rechtserkenntnisquelle bei der Herleitung Allgemeiner Rechtsgrundsätze.677 Auch mit der Ratifikation des Lissabonner Vertrages wird sich am Status der Europäischen Sozialcharta nichts ändern. Aufgrund der zahlreichen Überschneidungen von Grundrechtecharta und Sozialcharta dürfte die Bedeutung der letzteren in Zukunft aber zunehmen. Insbesondere bei der Auslegung der Grundsatznormen wird der Europäischen Sozialcharta künftig wohl eine wichtige Rolle spielen. c) Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer Die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer wurde am 9. Dezember 1989 von allen damaligen EG-Mitgliedstaaten mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs unterzeichnet.678 Sie enthält zahlreiche soziale Gewährleistungen zugunsten von Arbeitnehmern wie beispielsweise das Recht auf ein gerechtes Entgelt (Nr. 5), das Recht auf unentgeltliche Nutzung von Arbeitsvermittlungsdiensten (Nr. 6), das Recht auf Urlaub (Nr. 8) oder das Recht auf Integration behinderter Menschen (Nr. 26). Bei der Gemeinschaftscharta handelt es sich jedoch weder um einen verbindlichen Rechtsakt der EG, noch um einen völkerrechtlichen Vertrag. Vielmehr ist sie als bloße feierliche Erklärung der Staats- und Regierungschefs einzustufen, also als eine reine politische Absichtserklärung, die keine rechtliche Verpflichtung zur Folge hat.679 675 EuGH, Rs. C-149/77, Slg. 1978, 1365 Rn. 19/23 (Defrenne III). Vgl. statt vieler Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 136 EGV Rn. 28. 676 Aus der ESC ergibt sich jedoch keine Kompetenz der EU/EG zum Erlass von Richtlinien. 677 EuGH, Rs. C-36/75, Slg. 1975, 1219 (Rutili); Rs. C-149/77, Slg. 1978, 1365 Rn. 26/29 (Defrenne III). Vgl. auch GA Tizzano in dessen Schlussantrag in der Rs. C-173/99, Slg. 2001, I-488, Rn. 26 ff. (BECTU). Vgl. zum Ganzen Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 103 m. w. N. 678 Vgl. Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 100 m. w. N. 679 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Eichenhofer, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 136 EGV Rn. 23; Langer, in: v. d. Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Vorb. zu Art. 136 f. EGV Rn. 24. Die Erklärung ist noch nicht einmal im Amtsblatt veröffentlicht. Vgl. dazu die Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Bulletin EG 12-1989, Nr. 1.1.10.

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In der Präambel des EU-Vertrags und in Art. 136 Abs. 1 EG-Vertrag wird aber ebenso wie auf die Europäische Sozialcharta auch auf die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer Bezug genommen. Aus diesem Grund kommt letzterer im Rahmen des EU-/EGRechts in etwa die gleiche Bedeutung zu wie die Europäischen Sozialcharta: sie dient der Kommission als Rechtfertigungsgrundlage und dem EuGH als Rechtserkenntnisquelle.680 d) Der EG-Vertrag aa) Soziale Gewährleistungen im EG-Vertrag Im EG-Vertrag sind nur sehr wenige soziale Grundrechte im hier verstandenen Sinne681 verankert. Lässt man die Grundfreiheiten und grundfreiheitsähnlichen Rechte682, aus denen zum Teil ebenfalls soziale Gewährleistungen abgeleitet werden können,683 einmal außen vor, finden sich im EGVertrag684 soziale Gehalte praktisch nur in Gestalt von Zielbestimmungen685: Art. 2 EGV nennt beispielsweise die Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus oder die Durchsetzung eines hohen Maßes an sozialen Schutz als Aufgaben der Europäischen Gemeinschaft. Art. 3 Abs. 1 EGV zählt als Tätigkeitsgebiete der EG die Umweltpolitik (lit. l), das Erreichen eines hohen Gesundheitsschutzniveaus (lit. p) oder die Verbesserung des Verbraucherschutzes (lit. t) auf. Art. 6 EGV verpflichtet daneben zur Berücksichtigung des Umweltschutzes bei der Festlegung und Durchführung sämtlicher Gemeinschaftspolitiken.686 Anzumerken ist, dass die Gemeinschaft viele dieser Ziele gar nicht erfüllen kann, weil ihr dazu die notwendigen Kompetenzen fehlen.687 Die EG 680

Vgl. zum Ganzen CHARTE 4133/00 S. 12 f.; Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 103 m. w. N.; Winner, Soziale Dimension, S. 118. 681 Zum Begriff siehe oben Teil 2, III. 2. 682 Zum Begriff siehe oben Teil 2, III. 1. c). 683 Vgl. nur EuGH, Rs. C-76/72, Slg. 1973, 457 (Michel S.); Rs. C-85/96, Slg. 1998, I-2691 (Martínez Sala); Rs. C-184/99, Slg. 2001, I-6193 (Grzelczyk); Rs. C-209/03, Slg. 2005, I-2119 (Bidar). Vgl. dazu Bode, EuZW 2005, 279 ff.; Schulte, in: BM für Arbeit und Sozialordnung u. a. (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 25 (31 ff.); Wollenschläger, NVwZ 2005, 1023 ff. Vgl. auch Art. 7 ff. VO 1612/68. 684 Gleiches gilt für den EU-Vertrag, vgl. nur Art. 2 EUV. 685 Zum Begriff siehe ausführlich oben Teil 2, III. 1. e). Vgl. zum Ganzen Zuleeg, EuGRZ 1992, 329 ff. 686 Welche Qualität der Querschnittsklausel in Art. 6 EGV zukommt ist noch nicht völlig geklärt. Vgl. zum Ganzen Breier, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 6 EGV Rn. 7 ff. m. w. N.

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verfügt gerade nicht über die sog. Kompetenz-Kompetenz688, sodass sie nur auf den Gebieten tätig werden kann, die ihr durch Einzelermächtigung zugewiesen worden sind (Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, vgl. Art. 5 Abs. 1 EGV)689. In den Kapiteln der Politiken mit sozialem Einschlag sind aber nur wenige Befugnisse der Gemeinschaft normiert (vgl. Art. 127 ff., 136 ff., 149 ff., 152 ff., 174 ff. EGV).690 Werden die Grundrechte gelegentlich als „negative Kompetenznormen“ bezeichnet,691 weil sie die Handlungsmöglichkeiten des Staates auf grundrechtskonforme Alternativen beschränken, könnte man auf der Ebene der EG aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung hinsichtlich der Kompetenznormen umgekehrt auch von negativen Grundrechtsnormen sprechen, weil durch die partiell fehlenden Befugnisse der EG die Gehalte mancher Grundrechte zum Teil erheblich entwertet werden. Auf die fehlende Parallelität von Zielbestimmungen bzw. Verpflichtungen der Europäischen Gemeinschaft und den Kompetenzvorschriften wird noch zurückzukommen sein.692 bb) Justiziabilität sozialer Gewährleistungen Würde man alle Normierungen sozialen Gehalts des EG-Vertrages hinsichtlich ihrer Justiziabilität im Detail untersuchen, würde dies den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Etwas vereinfacht – im Großen und Ganzen aber zutreffend – lassen sich die meisten dieser Vorschriften wie oben bereits angedeutet als Zielbestimmungen einordnen, die für die EG zwar verbindlich, für den Einzelnen aber aufgrund deren Unbestimmtheit nicht unmittelbar anwendbar und damit nicht einklagbar sind.693 Die Wirkweise zweier Vorschriften soll im Folgenden jedoch etwas genauer betrachtet werden. Dies ist deshalb erforderlich, weil die Erläuterungen zur Grundrechtecharta auf jene ausdrücklich als Vergleichsmaßstab für 687

Vgl. Oppermann, Europarecht, § 6 Rn. 62. Zum Begriff vgl. BVerfGE 89, 155 ff. (Maastricht). Vgl. auch Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 166; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 184 f. 689 EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759 Rn. 23 f. (EMRK). Vgl. Haratsch/ Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 166 ff.; Oppermann, Europarecht, § 6 Rn. 62 f.; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 184 f. 690 Vgl. ausführlich zum Ganzen Schulte, in: BM für Arbeit und Sozialordnung u. a. (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 25 (34 ff.); Winner, Soziale Dimension, S. 80 ff. 691 Grundlegend Ehmke, VVDStRL 20, 1963, S. 53 (89 ff.). Vgl. auch Pieroth/ Schlink, Staatsrecht II, Rn. 73 ff.; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 154 f.; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 22 ff. Krit. zu diesem Konzept Wernsmann, Verhaltungslenkung in einem rationalen Steuersystem, S. 470. 692 Siehe unten Teil 3, III. 3. c) aa) (3). 693 Ausführlich zum Ganzen oben Teil 2, III. 1. e). 688

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die Auslegung der Grundsätze im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC verweisen.694 Zum einen ist dies das umweltrechtliche Vorsorgeprinzip aus Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV, zum anderen der agrarrechtliche Grundsatz der Marktstabilisierung aus Art. 33 Abs. 1 lit. c EGV. Bei letztem handelt es sich zwar nicht um eine soziale Normierung im hier verstandenen Sinne, da die Erläuterungen zur Charta aber auch diese Regelung vergleichend heranziehen, soll sie im Folgenden nicht unerwähnt bleiben. Zunächst ist jedoch kurz darzustellen, inwieweit sich der einzelne Bürger im Rahmen des Rechtsschutzsystems der EG überhaupt auf Normen des Gemeinschaftsrechts berufen kann. (1) Die Einklagbarkeit gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen vor dem EuGH im Allgemeinen Will der einzelne Bürger gegen eine Maßnahme oder ein Unterlassen der Europäischen Gemeinschaft vorgehen, hält der EG-Vertrag dafür zwei695 verschiedene Klagearten bereit: die Nichtigkeitsklage (Art. 230 EGV696) für die Anfechtungssituation und die Untätigkeitsklage (Art. 232 EGV) für die Leistungssituation.697 Für den Schutz individueller Interessen spielt in der Praxis zwar das Vorlageverfahren nach Art. 234 EGV eine weitaus bedeutsamere Rolle als die beiden erstgenannten Klagearten, die Richtervorlage ist jedoch im Zusammenhang mit dem Rechtsschutz vor den nationalen Gerichten698 694

ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35. Daneben besteht in den Grenzen des Art. 241 EGV die Möglichkeit einer Inzidentkontrolle, auf die im Folgenden jedoch nicht eingegangen werden soll. Vgl. zur Inzidentkontrolle EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425 Rn. 30 (Jégo-Quéré). Ausführlich zur prozessualen Durchsetzung der Gemeinschaftsgrundrechte Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 8. 696 Der Vertrag von Lissabon ändert an der gegenwärtigen Rechtslage nur wenig. Art. 230 Abs. 4 EGV wird vielmehr nur umformuliert, sodass die Vorschrift künftig die ständige Rechtsprechung des EuGH wiedergibt, vgl. CIG 14/07 S. 143. So wie hier auch Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 7 Rn. 55 ff. m. w. N. (noch zu Art III-365 Abs. 4 EVV). Gegen die untergesetzlichen Verordnungen – Verordnungen ist hier i. S. des Vertrages von Lissabon zu verstehen – ist künftig eine Klage jedoch unter erleichterten Umständen möglich. Vgl. zum letzteren Cremer, EuGRZ 2004, 577 ff.; Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 9 m. w. N.; Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 8 Rn. 62 ff.; Streinz/Ohler/Herrmann, Vertrag von Lissabon, S. 103. Ausführlich zu den Änderungen des europäischen Prozessrechts durch den Vertrag von Lissabon Fredriksen, ZEuS 2005, 99 (109 ff.) (noch zu Art. III-365 Abs. 4 EVV). 697 Aufgrund ihrer Spezialität bleibt die Schadensersatzklage (Art. 235 i. V. m. Art. 288 Abs. 2 EGV) an dieser Stelle unberücksichtigt. Auf sie wird später noch einzugehen sein. Siehe unten Teil 3, III. 5. a). 698 Zum Verhältnis des Gemeinschaftsrechtsschutzes zum nationalen Rechtsschutz vgl. ausführlich Fredriksen, ZEuS 2005, 99 (102 f.). 695

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zu sehen und deshalb hier nur von geringem Interesse.699 Eine mit der deutschen Verfassungsbeschwerde vergleichbare Grundrechtsbeschwerde existiert auf der Ebene der Union nicht.700 Auch im europäischen Prozessrecht wird zwischen der Zulässigkeit und der Begründetheit einer Klage unterschieden: Erhebt ein Privatmann Nichtigkeitsklage, ist diese gemäß Art. 234 Abs. 4 EGV nur dann zulässig, wenn er durch den jeweilige Rechtsakt des Gemeinschaftsrechts701 – unerheblich ob Entscheidung702, Richtlinie703 oder Verordnung704 – oder durch 699 Das Vorlageverfahren hilft dem Einzelnen im Übrigen ohnehin dann nicht, wenn er sich direkt gegen eine Maßnahme der Union wehren will/muss, vgl. EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425 (Jégo-Quéré). 700 Eine Grundrechteklage wurde in den beiden Konventen zwar diskutiert, letztendlich aber nicht in die Charta aufgenommen. Hierfür hatte der Chartakonvent auch gar kein Mandat, vgl. v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 485 ff.; Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 8 ff.; Streinz/Ohler/Herrmann, Vertrag von Lissabon, S. 103 m. w. N.; Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 8 Rn. 21 ff. Vgl. auch CONV 402/02. 701 Zur erleichterten Klagemöglichkeit gegen untergesetzliche Verordnungen durch den Vertrag von Lissabon Cremer, EuGRZ 2004, 577 ff.; Pache, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 8 Rn. 62 ff.; ders., in: Vedder/Heintschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. III-365 Rn. 39 ff.; Streinz/Ohler/Herrmann, Vertrag von Lissabon, S. 93 f. 702 EuGH, Rs. C-60/81, Slg. 1981, 2639 Rn. 9 (IBM/Kommission). 703 EuGH, Rs. C-10/95 (Asocarne II), Slg. 1995, I-4149 Rn. 28 ff.; EuG, Rs. T-135/96, Slg. 1998, II-2335 Rn. 68 f. (UEAPM/Rat). A. A. noch EuGH, Rs. C-298/98, Slg. 1993, I-3605 Rn. 23 f. (Gibraltar/Rat); EuG, Verb. Rs. T-172 u. 175–177/98, Slg. 2000, II-2487. Einzelheiten sind hier nach wie vor umstritten, vgl. dazu Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 230 EGV Rn. 38 ff. m. w. N.; Thiel, Europäisches Prozessrecht, § 7 Rn. 51 ff. m. w. N. So wie hier Bieber/Epiney/Haag, Europarecht, § 9 Rn. 42; Cremer, a. a. O., Rn. 42 ff.; Haratsch/ Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 451; Lengauer, Nichtigkeitsklage, S. 93 f.; Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 378 ff. Noch weitgehender GA Lenz in Rs. C-298/98, Slg. 1993, I-3640 (Gibraltar). Krit. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hb. Rechtsschutz, § 7 Rn. 50. Vgl. nun auch die entsprechende Klarstellung des § 230 Abs. 4 EGV durch den Vertrag von Lissabon CIG 14/07 S. 143. Vgl. zum letzteren auch (noch zu Art. III-365 Abs. 4 EVV) Cremer, EuGRZ 2004, 578; Pache, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. III-365 Rn. 32; Thiel, Europäisches Prozessrecht, § 7 Rn. 55 ff. m. w. N. 704 EuGH, Rs. C-309/89, Slg. 1994, I-1853 (Codorniu); Verb. Rs. 239, 275/82, Slg. 1984, 1005 Rn. 11(Allied Corporation/Rat) und Rs. 53/83, Slg. 1985, 1621 Rn. 4 (Allied Corporation/Rat II); EuG, Verb. Rs. T-481, 484/93, Slg. 1995, II-2941 (Vereniging van Exporteurs in Levende/Kommission); EuG, Rs. T-47/95, Slg. 1997, I-481 (Terre Rouge Consultant). A.A noch EuGH, Verb. Rs. 16 f./62, Slg. 1962, 963, 978 (Conféderation Nationale). Vgl. zum Ganzen Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 230 Rn. 30 ff. m. w. N.; Thiel, Europäisches Prozessrecht, § 7 Rn. 38 ff. m. w. N. Vgl. nun auch die entsprechende Klarstellung des § 230 Abs. 4 EGV durch den Vertrag von Lissabon CIG 14/07 S. 143. Vgl. zum letzteren auch (noch zu Art. III-365 Abs. 4 EVV) Cremer, EuGRZ 2004, 578; Thiel, Europäi-

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die Ablehnung, einen solchen Rechtsakt zu erlassen, unmittelbar und individuell betroffen ist.705 Das Kriterium der Unmittelbarkeit will verhindern, dass ein Einzelner Klage erhebt, obgleich er (noch) nicht beschwert ist, weil ein notwendiger Umsetzungs-, Durchführungs- oder Anwendungsakt bislang noch nicht erlassen worden ist.706 Zudem sorgt dieses Kriterium für eine sachgerechte Verteilung des Rechtschutzes zwischen den Gemeinschaftsgerichten einerseits und den Gerichten der Mitgliedstaaten andererseits.707 Die Gemeinschaftsgerichte sollen nur dort Rechtsschutz gewähren, wo die Gemeinschaft auch für die konkrete Betroffenheit des Klägers verantwortlich ist. Verlangt die EG-Maßnahme eine weitere Umsetzung,708 wird die Verantwortung auf die Mitgliedstaaten übergewälzt, vor deren Gerichten der Einzelne dann Rechtsschutz zu suchen hat.709 Das nationale Gericht wird ggf.710 die Sache dem EuGH zur Entscheidung vorlegen, bei vermuteter Gemeinschaftsrechtswidrigkeit eines Gemeinschaftsrechtsaktes muss711 es vorlegen (vgl. Art. 234 EGV). Das Kriterium der Unmittelbarkeit spielte in der Rechtsprechung des EuGH bislang nur eine sehr untergeordnete Rolle und soll auch hier im Folgenden nicht weiter interessieren.712 sches Prozessrecht, § 7 Rn. 55 ff. m. w. N. A. A. jedoch Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hb. Rechtsschutz, § 7 Rn. 49, der aber wohl so zu verstehen ist, dass die Anfechtbarkeit von Verordnungen zwar nicht am Klagegegenstand, im allgemeinen dann aber an der individuellen Betroffenheit scheitern wird. So auch EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425 Rn. 30 (Jégo-Quéré). Wie hier Arnull, CMLRev. 2001, 51 f.; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 450; Pache, in. Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte § 8 Rn. 46 ff.; Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 370 ff. 705 Zum Ganzen vgl. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 230 Rn. 29 ff. m. w. N.; Thiel, Europäisches Prozessrecht, § 7 Rn. 30 ff. 706 EuGH, Rs. C-386/96, Slg. 1998, I-2309 Rn. 43 (Dreyfus/Kommission); Rs. C-11/82, Slg. 1985, 207 Rn. 7 (Piraiki-Patraiki); Bieber/Epiney/Haag, Europarecht, § 9 Rn. 43. Der Terminus „Durchführung“ wird in dieser Arbeit meist als Oberbegriff, der Terminus „Umsetzung“ in Bezug auf Einzelbestimmungen verwendet. Die Begriffe „Anwendungs-“,„Ausführungs-“ und „Vollzugsakt“ werden demgegenüber in der Regel im Zusammenhang mit Exekutivakten gebraucht. Diese Einordnung ist jedoch nicht zwingend. In der Charta und den Erläuterungen werden die Termini oftmals als Synonyme verwendet. Siehe hierzu auch unten Teil 3, III. 4. d) cc). 707 So auch Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 344; Thiel, Europäisches Prozessrecht, § 7 Rn. 71. 708 EuGH, Rs. C-386/96, Slg. 1998, I-2309 Rn. 43 (Dreyfus/Kommission). Ausführlich zum Ganzen, auch zu den Ausnahmen, Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 454; Herdegen, Europarecht, § 10 Rn. 17; Streinz, Europarecht, Rn. 604 f.; Thiel, Europäisches Prozessrecht, § 7 Rn 73 m. w. N. 709 Vgl. Thiel, Europäisches Prozessrecht, § 7 Rn 72. 710 Vgl. hierzu grundlegend EuGH, Rs. C-283/81, Slg. 1982, 3415 (CILFIT). 711 Vgl. hierzu grundlegend EuGH, Rs. C-314/85, Slg. 1987, 4199 (Foto Frost).

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Wesentlich problematischer ist, wie das zweite Kriterium, das der individuellen Betroffenheit, verstanden werden muss. Auf den ersten Blick erinnert jenes ein wenig an die Klagebefugnis im deutschen Verwaltungsprozessrecht. Der EuGH hat in ständiger Rechtsprechung den Terminus der individuellen Betroffenheit jedoch nicht subjektiv ausgelegt entsprechend dem deutschen Verständnis, sondern sich für eine objektive Interpretation – in Anlehnung an das französische Verwaltungsverfahrensrecht713 – entschieden. Für die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage ist die Behauptung einer möglichen subjektiven Rechtsverletzung also weder erforderlich noch hinreichend.714 Nach der sog. Plaumann-Formel muss ein Privater, soll dessen Klage zulässig sein, vielmehr nachweisen, dass „der jeweilige Rechtsakt ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschafen oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie einen Adressanten“715. Der Kläger muss aus der Masse der Betroffenen aufgrund seiner Situation also derart herausragen, dass er „greifbar“716 ist. Es reicht nicht aus, wenn zum Zeitpunkt der Klage nur eine geringe Anzahl von Betroffenen existiert.717 Die angegriffene Regelung muss vielmehr eine solche sein, dass von ihr – abgesehen von Ausnahmen718 – künftig keine weiteren Personen 712 Ausführlich zum Ganzen Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 230 EGV Rn. 46 ff. Zur Änderung durch den Vertrag von Lissabon vgl. CIG 14/07 S. 143. Zum letzteren vgl. auch Pache, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. III-365 Rn. 27 ff. m. w. N. (noch zu Art. III-365 EVV). 713 Insbesondere an die Klageart des „recours pour excès de pouvoir“, siehe oben Teil 2, IV. 2. b) bb). Vgl. auch Fredriksen, ZEuS 2005, 99 (109); Pechstein, EU-/ EG-Prozessrecht, Rn. 385 f. 714 Ganz h. M. Vgl. statt vieler EuG, Rs. T-13/94, Slg. 1994, II-431 Rn. 15 (Century Oil Hellas); Bleckmann, Europarecht, Rn. 889; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 453. Nicht richtig Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 86 mit Fn. 260. Unklar Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 36 f. Instruktiv zum Ganzen Fredriksen, ZEuS 2005, 99 (129 f.); Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 384 ff. 715 EuGH, Rs. C-25/62, Slg. 1963, 211, 238 f. (Plaumann). Vgl. auch EuGH, Rs. C-309/89, Slg. 1994, I-1853 (Codorniu). 716 Usher, ELRev. 2003, 575 (577). 717 EuGH, Rs. C-231/82, Slg. 1983, 2559 Rn. 10 (Spijker). Vgl. auch Haratsch/ Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 456. 718 Ausführlich zu den einzelnen Fallgruppen Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 345 ff. m. w. N. Sehr interessant ist die Entscheidung des EuGH in der Rs. C-309/89, Slg. 1994, I-1853 (Codorniu). Dort hatte der Gerichtshof eine Nichtigkeitsklage aus Gründen des Eingriffs in ein „wohlerworbenes und grundrechtlich geschütztes“ Markenrecht für zulässig gehalten. Dabei dürfte es sich jedoch um eine Einzelfallentscheidung handeln. In späteren Urteilen hat der EuGH die Zulässigkeit von Klagen abgelehnt, auch wenn dadurch dem Rechtssuchenden im Ergebnis ein effektiver Rechtsschutz verweigert wurde, vgl. EuGH, Rs. 321/95, Slg. 1998, I-1651

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mehr betroffen sein können, dass also die Zahl und Identität der Personen, auf die die Vorschrift Anwendung findet, bereits zum Zeitpunkt des Erlasses feststeht (sog. closed-class-Kriterium719).720 Hier ist vieles umstritten.721 Auf Einzelheiten soll verzichtet werden.722 Entscheidend ist nur, dass der EuGH jedenfalls nicht verlangt, dass der Kläger eine subjektive Rechtsverletzung vorträgt.723 Das Merkmal der Individualität bezieht sich anders als die Klagebefugnis nach deutschem Recht nicht auf den Prüfungsmaßstab, also auf die Norm, auf die sich der Einzelne zu berufen beabsichtigt, sondern auf den Prüfungsgegenstand, also die Maßnahme, die angegriffen wird.724 Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Begriff der „Betroffenheit“ in Art. 230 Abs. 4 EGV. Dieses Kriterium verpflichtet lediglich dazu, dass der Kläger – in Anlehnung an die französische Konzeption – irgendein Interesse geltend machen muss.725 Jedes726 rechtliche wie tatsächliche Interesse genügt.727 Ausgeschlossen bleibt – wie in den meisten Ländern der EG – eine Popularklage.728 Auch im Rahmen der Begründetheit kommt es nicht auf die Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechts an.729 Vielmehr zeigt Art. 230 Abs. 3 Rn. 32 ff. (Greenpeace); Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425 Rn. 30 (Jégo-Quéré). Instruktiv hierzu Böcker, Wirksame Rechtsbehelfe, S. 66 ff. m. w. N.; Haltern, Europarecht, S. 273 ff. 719 Zum Begriff vgl. Craig/de Bfflrca, EU-Law, S. 512 f. 720 Vgl. Bieber/Epiney/Haag, Europarecht, § 9 Rn. 44; Haltern, Europarecht, S. 273 ff.; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 456. 721 Zur Kritik an der Rechtsprechung des EuGH vgl. Calliess, NJW 2002, 3577 (3579 ff.); Fredriksen, ZEuS 2005, 99 (103 ff.); Wegener, ZEuS 1998, 183 (195 ff.). 722 Ausführlich zum Ganzen Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art., 230 EGV Rn. 45 ff. m. w. N.; Craig/de Bfflrca, EU-Law, S. 509 ff. m. w. N.; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 7 Rn. 92 ff. m. w. N. 723 Vgl. Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 115; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 7 Rn. 69. Schlicht falsch Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 138. 724 Dies verkennt offensichtlich Ruffert, CMLRev. 1997, 307 (326 f.). Siehe hierzu auch unten Teil 3, III. 4. c) dd (2). 725 Vgl. Bleckmann, Europarecht, Rn. 889; Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hb. Rechtsschutz, § 7 Rn. 57; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 453; Lengauer, Nichtigkeitsklage, S. 96; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 7 Rn. 69 f. An einem Interesse fehlte es GA Reischl in EuGH, Rs. 64/80, Slg. 1981, 693 (709) (Giufrida und Campogrande/EG). 726 Einzelheiten sind umstritten, vgl. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hb. Rechtsschutz, § 7 Rn. 57. 727 Vgl. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hb. Rechtsschutz, § 7 Rn. 57. So auch Bleckmann, Europarecht, Rn. 889; Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 384 ff. Ausführlich zum Ganzen Teil 3, III. 4. c) dd) (2). 728 Vgl. v. Burchard, EuR 1991, 140 (146 f.); Classen, in: Schulze/Zuleeg, Hb. Europarecht, § 4 Rn. 26; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 7 Rn. 70.

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EGV, dass der EuGH, ist die Klage einmal zulässig, den Rechtsakt im Sinne eines objektiven Beanstandungsverfahrens hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem gesamten730 Gemeinschaftsrecht überprüft.731 Die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte sog. Elfes-Doktrin732 ist dem EG-Recht wie den meisten Rechtsordnungen der anderen Mitgliedstaaten fremd – und aufgrund der überwiegend objektiv-rechtlichen Ausgestaltung der Rechtsschutzverfahren in Europa in aller Regel auch entbehrlich. Einzige Voraussetzung, damit eine Bestimmung des EG-Rechts im Rahmen der Nichtigkeitsklage Prüfungsmaßstab sein kann, ist, dass diese unmittelbar anwendbar und deshalb so hinreichend genau gefasst ist, dass die Gerichte mit der Vorschrift arbeiten können.733 Ein Verstoß gegen unwesentliche Formvorschriften führt jedoch nicht zur Rechtswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme.734 Was die Zulässigkeit und Begründetheit der Untätigkeitsklage (Art. 232 EGV735) betrifft, kommen im Wesentlichen die gleichen Normen736 wie bei der Nichtigkeitsklage zum Tragen,737 lediglich angepasst an die Leistungs729 Ganz h. M. Vgl. statt vieler Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 466; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 7 Rn. 18. 730 Eigentlich nennt Art. 230 Abs. 2 EGV nach französischem Vorbild abschließend alle Anfechtungsgründe („cas d’ouverture“), vgl. dazu Oppermann, Europarecht, § 9 Rn. 36. Der EuGH legt Art. 230 Abs. 2 EGV jedoch weit aus und überprüft den angegriffenen Rechtsakt hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem gesamten EG-Recht. Der Maßstab „Verletzung des Vertrags“ hat somit Auffangcharakter, vgl. EuGH, Rs. C-1986, 1339, 1366 (Les Verts). So auch Classen, in: Schulze/Zuleeg (Hrsg.), Hb. Europarecht, § 4 Rn. 33, 36; Burgi, in. Rengeling/Middeke/Gellermann, Hb. Rechtsschutz, § 7 Rn. 91 ff., 99; Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 230 EGV Rn. 81. 731 Vgl. Bieber/Epiney/Haag, Europarecht, § 9 Rn. 52. 732 BVerfGE 6, 32 (Elfes). 733 Siehe dazu unten Teil 3, III. 4. c) dd) (2). Instruktiv zur Unterscheidung der unmittelbaren Betroffenheit i. S. des Art. 230 Abs. 4 EGV und der unmittelbaren Anwendbarkeit von Gemeinschaftsbestimmungen v. Burchard, EuR 1991, 140 (167). 734 EuGH, Rs. C-117/81, Slg. 1983, 2191 Rn. 7 (Geist); Rs. C-34/77, Slg. 1978, 1109 Rn. 37 (Oslizlok). Vgl. auch Bieber/Epiney/Haag, Europarecht, § 9 Rn. 52) m. w. N.; Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Hb. Rechtsschutz, § 7 Rn. 96 ff. m. w. N.; Classen, in: Schulze/Zuleeg (Hrsg.), Hb. Europarecht, § 4 Rn. 35 m. w. N.; Oppermann, Europarecht, § 9 Rn. 38. 735 Die Untätigkeitsklage erfährt durch den Vertrag von Lissabon keine hier interessierende Änderung, vgl. CIG 14/07, S. 144. 736 Zum Begriff der Norm siehe unten Teil 3, I. 2. a). 737 Der Autor vertritt gleichwohl die Auffassung, dass es sich bei der Untätigkeitsklage um einen von der Nichtigkeitsklage separaten Rechtsbehelf handelt (Begründung folgt im Text). So wie hier Borchardt, in: Lenz/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 232 EGV Rn. 2; Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 8 Rn. 3. A. A. (Unterfall der Nichtigkeitsklage) EuGH, Rs. C-68/95,

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situation (vgl. Art. 232 Abs. 3 i. V. m. 230 Abs. 4 EGV).738 Im Gegensatz zur Nichtigkeitsklage (vgl. Art. 230 Abs. 4 EGV) ist bei der durch einen Bürger erhobenen Untätigkeitsklage als zulässiger Klagegegenstand jedoch nur ein solcher Gemeinschaftsakt denkbar, der an den jeweiligen Kläger „gerichtet“ werden kann (vgl. Art. 232 Abs. 3 letzter HS EGV).739 Da weder Verordnungen noch Richtlinien einen bestimmten Adressaten aufweisen, lässt sich aus der Formulierung des Art. 232 Abs. 3 EGV schließen, dass das Gemeinschaftsrecht dem Einzelnen die Möglichkeit einer Normerlassklage740 nicht zugestehen will. Ein privater Kläger kann folglich nur eine an ihn gerichtete Entscheidung begehren.741 Die Übereinstimmungen mit dem französischen Verfassungs- und Verwaltungsprozessrecht fällt auch hier auf.742 Denkbar ist jedoch, dass ein Betroffener vor den nationalen Gerichten eine Normerlassklage anstrengt, wenn der nationaler Normgeber unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht743 den Erlass einer Vorschrift unterlassen hat und das nationale Verfahrensrecht eine solche Klageart vorsieht. Slg. 1996, I-6065, 6105 (T. Port); EuG, Rs. T-17/96, Slg. 1999, II-1757, 1770 f. (TF 1); Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, 1. Aufl., Art. 232 EGV Rn. 1. 738 Ausführlich zum Ganzen Borchardt, in: Lenz/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 232 EGV Rn. 4 ff.; Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 8; Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 232 EGV Rn. 2 ff. m. w. N. 739 Hat der Antragsteller einen negativen Bescheid erhalten, ist nicht die Untätigkeitsklage statthaft, sondern – entgegen dem deutschen Verständnis – die Nichtigkeitsklage. Ganz h. M., vgl. statt vieler Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 574 m. w. N. 740 Der Begriff der Normerlassklage wird hier und im Folgenden für eine Klage auf Erlass einer abstrakt-generellen Regelung (vgl. Art. 249 a Abs. 3 EGV i. F. Vertrag von Lissabon) verwendet. 741 Ganz h. M., vgl. statt vieler EuGH, Rs. C-90/78, Slg. 1979, 1081 Rn. 14 (Granaria); Bleckmann, Europarecht, Rn. 908 ff., 911; Burgi, in: Rengeling/Middeke/ Gellermann (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 8 Rn. 26; Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 232 Rn. 6; Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 232 EGV Rn. 18; Pechstein, EU-/EG Prozessrecht, Rn. 618; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 8 Rn. 29 m. w. N. Etwas weiter die Auffassung von EuG, Rs. T-191/00, Slg. 2001, II-1961 Rn. 20 (Edlinger/Kommission); Rs. T-12/94, Slg. 1994, II-431 Rn. 12 f. (Century Oils Hellas); Borchardt, in: Lenz/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 232 Rn. 9; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 58. Da sich das Problem der Scheinverordnungen/-richtlinien bzw. der „hybriden“ Verordnungen/Richtlinien (vgl. zum Begriff Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 450) bei der Untätigkeitsklage im Allgemeinen jedoch nicht stellt, kommen beide Ansichten in der Praxis stets zum selben Ergebnis. Schlicht falsch Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 139. 742 Siehe dazu oben Teil 2, IV. 2. b) bb). Vgl. auch Fredriksen, ZEuS 2005, 99 (109). 743 Meist wird sich der Einzelne dann aber bereits auf die unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsbestimmungen berufen können. Überhaupt sind hier nur sehr

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Gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen dürfen gegenüber nationalen Vorschriften nämlich nicht benachteiligt werden (sog. Diskriminierungsverbot)744. Ob das nationale Verfahrensrecht eine solche Klagemöglichkeit sogar zur Verfügung stellen muss, ist bisher noch nicht geklärt, dürfte aber zu vereinen sein. Die Grundsätze der Factortame-Rechtsprechung745 sind auf diesen Fall wohl nicht übertragbar. Selbst wenn das nationale Verfahrensrecht eine Normerlassklage bereithält, kann ein Einzelner vor den nationalen Gerichten jedenfalls nicht die Umsetzung einer Richtlinie einklagen (auch nicht nach Ablauf der Umsetzungsfrist). Die Umsetzungspflicht richtet sich ausschließlich an die Mitgliedstaaten. Die Umsetzungsverpflichtung ist somit nicht unmittelbar anwendbar, weshalb sich der Einzelnen auf diese nicht berufen kann.746 (2) Die Einklagbarkeit des umweltrechtlichen Vorsorgeprinzips und des Grundsatzes der Marktstabilisierung im Besonderen Nachdem gezeigt werden konnte, dass es sich bei der Nichtigkeitsklage wie auch bei der Untätigkeitsklage selbst dann um objektive Beanstandungsverfahren747 handelt, wenn diese von nicht-privilegierten Klägern erhoben werden, soll nun im Folgenden als Beispiel für die Wirkweise sozialer Garantien bzw. Zielbestimmungen im Gemeinschaftsrecht etwas näher auf das umweltrechtliche Vorsorgeprinzip (Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV) sowie auf den Grundsatz der Markstabilisierung (Art. 33 Abs. 1 lit. c. EGV) eingegangen werden. Sowohl der Grundsatz der Marktstabilisierung als auch das Vorsorgeprinzip werden in den Erläuterungen zur Charta als Vergleichsmaßstab für die Interpretation der sog. Grundsätze im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC herangezogen,748 obgleich es sich – das ist interessant – zumindest bei ersterem749 eindeutig um eine bloße Zielbestimmung hanwenige Fälle denkbar, bspw. wenn Gemeinschaftsrecht rechtswidrig vollzogen wird, weil hierfür eine nationale Rechtsgrundlage fehlt (z. B. Eingriffsbefugnisse). 744 EuGH, Verb. Rs. C-205–215/82, Slg. 1983, 2633 (Deutsche Milchkontor I). Vgl. zum Ganzen auch Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 303 f.; Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, Rn. 718. 745 EuGH, Rs. C-213/89, Slg. 1990, I-2433 (Factortame). Interessant in diesem Zusammenhang die Entscheidung BVerwG, NVwZ 2007, 1311. 746 Die Nichtumsetzung einer Richtlinie wird in der Regel jedoch eine Schadensersatzpflicht auslösen, vgl. EuGH, Rs. C-6, 9/90, Slg. 1991, I-5357 (Francovich); Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 87 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 461 ff. 747 Instruktiv Fredriksen, ZEuS 2005, 99 (109); Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 384 ff., 628. 748 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5 GRC). 749 Zur normativen Qualität des Vorsorgeprinzips siehe ausführlich unten Teil 2, IV. 3. d) bb) (2) (b).

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delt.750 Nach dem Mandat von Köln sollten solche reinen Zielbestimmungen aber gerade nicht Aufnahme in die Grundrechtecharta finden.751 Die Erläuterungen verweisen insbesondere auf zwei Urteile, in denen vom EuGH bzw. EuG ausführlich zur Justiziabilität des Grundsatzes der Marktstabilisierung bzw. des Vorsorgeprinzips Stellung genommen wurde: Dies waren die Entscheidungen van den Bergh des EuGH752 (zum Grundsatz der Marktstabilisierung) und Pfizer des EuG753 (zum umweltrechtlichen Vorsorgeprinzip). Die Erläuterungen zur Charta müssen – wie gesehen – bei der Auslegung der Charta zwar nicht zwingend befolgt werden, sie sind aber zumindest gebührend zu berücksichtigen (vgl. Art. 52 Abs. 7 GRC).754 (a) van den Bergh755 In diesem Verfahren erhob das niederländische Unternehmen van den Bergh, das Margarine und andere Speisefette herstellt, Klage auf Ersatz des Schadens, der dem Unternehmen infolge einer Ende 1984 beschlossenen und durch die VO 2956/84 umgesetzten „Weihnachtsbutteraktion“ entstanden sei. Aufgrund dieser Verordnung wurden zu den Weihnachtsfeiertagen des Jahres 1984 200.000 Tonnen Butter verbilligt auf den Markt gebracht mit dem Ziel, die damals recht umfangreichen Butterbestände in der Gemeinschaft zu verringern. Die Kläger machten geltend, dass diese Aktion eine erhebliche Störung des Marktes der Nahrungsfette hervorgerufen habe und infolgedessen deren eigener Absatz spürbar zurückgegangen sei. Die Kläger rügten insbesondere den Verstoß gegen den Grundsatz der Marktstabilisierung756 aus Art. 33 Abs. 1 lit. c EGV757. Der EuGH wies die Klage ab. Jedoch begründete er dies nicht – wie es nach den obigen Ausführungen zur Wirkweise von Zielbestimmungen758 zu 750 EuGH, Rs. C-63–69/72, Slg. 1973, 1129 Rn. 12 f. (Wehrhahn). Vgl. auch Busse, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 1, 13 m. w. N.; Thiele, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 8. 751 Anhang IV der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates zu Köln vom 3./4. Juni 1999, Bulletin EU 6-1999, Anhang IV, I.64. Siehe dazu schon oben Teil 1, II. 1. 752 EuGH, Rs. C-265/85, Slg. 1987, 1155 (van den Bergh). 753 EuG, Rs. T-13/99, Slg. 2002, II-3318 (Pfizer). 754 Ausführlich dazu oben Teil 2, I. 1. 755 EuGH, Rs. C-265/85, Slg. 1987, 1155 (van den Bergh). 756 Zu diesem Prinzip vgl. Busse, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 13 ff.; Hix, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 13 f. m. w. N.; Priebe, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 14 ff. 757 Damals Art. 39 EWG. 758 Siehe dazu oben Teil 2, III. 1. e).

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erwarten gewesen wäre – damit, dass es sich beim Grundsatz der Marktstabilisierung bloß um ein objektives Vertragsziel759 handelt, auf welches sich der Einzelne eigentlich nicht zu stützen vermag.760 Im Gegensatz761 zu den meisten anderen Zielbestimmungen des EG-Vertrags hält der Europäische Gerichtshof nämlich den Grundsatz der Marktstabilisierung, der den zuständigen Unionsorganen aufträgt, Angebot und Nachfrage landwirtschaftlicher Güter im Gleichgewicht zu halten sowie eine auch nur kurzzeitige Überoder Untervorsorgung zu vermeiden,762 für justiziabel.763 Der EuGH wies die Klage also nicht deshalb ab, weil ein Einzelner die Beachtung des Ziels der Marktstabilisierung nicht einklagen kann, sondern weil die Weihnachtsbutteraktion nach Auffassung des Gerichtshofs keine wirkliche und nachhaltige Störung des Margarinemarktes hervorgerufen habe. Im Gegenteil, die Kommission habe – so der EuGH – bei Ihrem Handeln den Grundsatz der Marktstabilisierung im Auge gehabt, wurde mit dem verbilligten Absatz doch bezweckt, die Lagerbestände an Butter nach einem solchen Verkauf wieder neu auffüllen zu können. Erst durch diese Maßnahme sei in der Folgezeit ein stabiler Preis für Butter zu gewährleisten gewesen. Im Hinblick auf die Justiziabilität der Zielbestimmungen aus Art. 33 EGV ist folgende Passage des Urteils besonders beachtenswert: „(. . .) die Gemeinschaftsorgane [müssen]764 bei der Verfolgung der verschiedenen in Art. 33 EGV niedergelegten Ziele ständig auf einen Ausgleich hinwirken, den etwaige Zielkonflikte, die sich aus einer isolierten Betrachtungsweise ergeben, erfordern können.“765 Weiter führte der Gerichtshof aus: „Auch wenn es sich 759 EuGH, Rs. C-63–69/72, Slg. 1973, 1129 Rn. 12 f. (Wehrhahn). Vgl. auch Busse, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 13 m. w. N.; Thiele, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 8. 760 Ausführlich zur Justiziabilität von Zielbestimmungen siehe oben Teil 2, III. 1. e). 761 Der Differenzierung zwischen allgemeinen und speziellen Zielbestimmungen misst im Hinblick auf deren Justiziabilität auch Calliess, in: Hiebaum/Koller (Hrsg.), Politische Ziele, S. 85 (111), Bedeutung bei. 762 EuGH, Rs. C-331/88, Slg. 1990, I-4023 Rn. 26 f. (Fedesa). Vgl. auch Kopp, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 17; Priebe, in; Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 14 f. m. w. N. 763 EuGH, Rs. C-114/76, Slg. 1977, 1211 Rn. 6 (Bela-Mühle); Rs. C-27/95, Slg. 1997, I-1847 Rn. 21 (Woodspring). Ausführlich zum Ganzen Busse, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 8 a. E.; Hix, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 7 m. w. N.; Kopp, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 11 m. w. N. Zurückhaltender Priebe, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 2, aber auch Rn. 6. 764 Einfügung und Hervorhebung durch den Verfasser. 765 EuGH, Rs. C-265/85, Slg. 1987, 1155 Rn. 20 (van den Bergh). Vgl. dazu auch EuGH, Rs. C-5/73, Slg. 1973, 1091 Rn. 24 (Balkan-Import-Export). Vgl. auch Hix, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 7.

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mit diesem Erfordernis des Ausgleichs nicht verträgt, eines dieser Ziele in einer Weise isoliert zu verfolgen, die die Verwirklichung anderer Ziele unmöglich macht, können die Gemeinschaftsorgane doch dem einen oder anderen unter ihnen zeitweilig den Vorrang einräumen, sofern766 die wirtschaftlichen Gegebenheiten und Umstände, die den Gegenstand der Beschlussfassung bilden, dies gebieten.“767 Der EuGH gewährt den Gemeinschaftsorganen bei der Verfolgung der verbindlichen Ziele des Art. 33 EGV demzufolge zwar einen sehr weiten Ermessensspielsraum.768 Gleichwohl unterliegen die Grenzen dieses Ermessens der Kontrolle durch den Gerichtshof.769 Die Einhaltung dieser Grenzen kann auch der einzelne Bürger überprüfen lassen.770 Aufgrund der Komplexität und teilweisen Gegenläufigkeit der verschiedenen agrarrechtlichen Grundsätze ist deren Bedeutung als Prüfungsmaßstab gemeinschaftsrechtlicher Handlungen bislang aber gering geblieben.771 Auch wenn der EuGH die Grundsätze des Art. 33 EGV wiederholt als Maßstab für eine Überprüfung herangezogen hat, ist ein Verstoß gegen diese Zielbestimmungen nur selten festgestellt worden.772 Aufgrund dessen erübrigt sich in der Praxis zumeist die weitere Überlegung, ob die Ziele des Art. 33 EGV auch Schutznormen im Sinne des Art. 288 Abs. 2 EGV darstellen.773 In den wenigen Fällen, in denen diese Frage relevant geworden wäre, konnte der EuGH eine Stellungnahme vermeiden, weil er stets vor766

Hervorhebung durch den Verfasser. EuGH, Rs. C-265/85, Slg. 1987, 1155 Rn. 20 (van den Bergh). 768 EuGH, Rs. C-280/93, Slg.1994, I-4973 Rn. 47 (Deutschland/Rat). Vgl. auch Busse, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 2 ff. m. w. N.; Hix, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 7 m. w. N.; Kopp, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 11; Priebe, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 33 EGV Rn. 1. Zum Terminus „Ermessens- und Gestaltungsspielraum im EG-Recht siehe oben Fn. 232. 769 EuGH, Rs. C-114/76, Slg. 1977, 1211, 1221 (Bela-Mühle). Ausführlich zum Ganzen Busse, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 8; Hix, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 7 m. w. N.; Priebe, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 6. 770 EuGH, Rs. C-114/76, Slg. 1977, 1211 Rn. 6 (Bela-Mühle); Rs. C-27/95, Slg. 1997, I-1847 Rn. 21 (Woodspring). Vgl. Hix, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 7 m. w. N.; Kopp, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 11. A. A. Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 60. Zurückhaltend auch Priebe, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 8. 771 Vgl. jedoch die Heranziehung der Ziele des Art. 33 in EuGH, Rs. C-114/76, Slg. 1977, 1211 Rn. 6 (Bela-Mühle); Rs. C-27/95, Slg. 1997, I-1847 Rn. 21 (Woodspring). 772 Vgl. nur EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4973 (Deutschland/Rat). Vgl. dazu Priebe, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 6 m. w. N. 773 Verneinend Priebe, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 6. 767

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neweg das Vorliegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes verneinte.774 Der Gerichtshof hat jedoch von Privaten erhobene Nichtigkeitsklagen, die sich auf den Grundsatz der Marktstabilisierung gestützt hatten, wiederholt unter Hinweis auf die Möglichkeit, eine Schadensersatzklage zu erheben, als unzulässig abgewiesen.775 Dies zeigt, dass der EuGH offensichtlich davon ausgeht, dass die Verletzung des Prinzips der Marktstabilisierung dem Einzelnen zum Schadensersatz berechtigen kann.776 Auf diese Problematik wird nochmals zurückzukommen sein.777 Neben ihrer abwehrrechtlichen Funktion werden die agrarrechtlichen Grundsätze des Art. 33 EGV regelmäßig auch zur Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Maßnahmen herangezogen.778 Ein justiziabler Anspruch auf Erlass bestimmter Maßnahmen lässt sich aus den Zielen der gemeinsamen Agrarpolitik wegen deren Unbestimmtheit und grundsätzlicher Umsetzungsbedürftigkeit dagegen nicht herleiten.779 Insoweit besteht auch kein Anspruch auf Schadensersatz bei rechtswidrigem Nichthandeln der Gemeinschaft. (b) Pfizer Das zweite Urteil, auf das die Erläuterungen zur Charta Bezug nehmen, ist das des Gerichts erster Instanz in der Rs. Pfizer780. In diesem Verfahren klagte das Pharmaunternehmen Pfizer gegen eine Verordnung, die die Beimengung des Antibiotikums Virginiamycin, dessen einziger Hersteller Pfizer war, als Zusatzstoff in der Tiernahrung fortan untersagte. Begründet wurde das Verbot damit, dass Virginiamycin in Verdacht stand, Resistenzen zu begünstigen und dadurch die Gesundheit von Menschen zu gefährden. 774

EuGH, Rs. C-83/76, Slg. 1978, 1209 (Magermilchpulver). Zum Ganzen siehe ausführlich unten Teil 3, III. 5. a). 775 Vgl. nur EuGH, Rs. C-97/85, Slg. 1987, 2265 Rn. 7 (Union Deutsche Lebensmittelwerke). Vgl. auch EuGH, Rs. C-27/85, Slg.1987, 1129 (Vandemoortele). 776 So auch Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 753 unter Berufung auf EuGH, Verb. Rs. C-56–60/74, Slg. 1976, 711 Rn. 12 (Kampffmeyer II). A. A. GA Capotorti in dessen Schlussantrag zu EuGH, Rs. C-83/76, Slg. 1978, 1209 auf S. 1230 f. (Magermilchpulver); Priebe, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 6. 777 Siehe dazu unten Teil 3, III. 5. b). 778 EuGH, Rs. C-147/81, Slg. 1982, 1389 (Merkur). Vgl. Busse, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 8; Priebe, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 6 m. w. N. 779 Ganz h. M., vgl. statt vieler Busse, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 8; Priebe, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 6 EGV m. w. N. 780 EuG, Rs. T-13/99, Slg. 2002, II-3318 (Pfizer).

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Gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse gab es zum Zeitpunkt des Verbotes jedoch (noch) nicht. Die Kläger machten mehrere Klagegründe geltend, insbesondere einen Verstoß gegen den Grundsatz der Vorsorge781 aus Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV782. Das EuG stellte zunächst klar, dass der Vorsorgegrundsatz aus Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV nicht nur auf dem Gebiet des Umweltschutzes im engeren Sinne – also beschränkt auf den Schutz der Tier- und Pflanzenwelt – gilt, sondern auch auf andere Gefährdungen783, insbesondere auf solche der menschlichen Gesundheit anwendbar ist.784 Anschließend bestätigte das Gericht seine ständige Rechtsprechung, nach der die Gemeinschaftsorgane, wenn wissenschaftliche Ungewissheiten bezüglich der Existenz oder des Umfangs von Risiken für die menschliche Gesundheit bestehen, gemäß dem Vorsorgegrundsatz Schutzmaßnahmen treffen können, ohne abwarten zu müssen, bis das tatsächliche Vorliegen und die Schwere dieser Risiken in vollem Umfang nachgewiesen ist.785 Unter dem Vorsorgegrundsatz versteht man also einerseits die Verpflichtung, noch nicht abschließend bewertbare Gefährdungen gleichermaßen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bzw. der Prüfung des Untermaßverbots – sofern man von der Akzeptanz des letzteren im Gemeinschaftsrecht überhaupt ausgehen kann786 – berücksichtigen zu müssen und andererseits auch die Erlaubnis, nach 781

Zu diesem Prinzip vgl. EuGH, Rs. C-157/96, Slg. 1998, I-2211 Rn. 62 ff. (National Farmers’ Union); Rs. C-318/98, Slg. 2000, I-4785 (Fornasar); Breier, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 15 m. w. N.; Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), Art. 174 EGV Rn. 24 ff. m. w. N.; Frenz, Europäisches Umweltrecht, Rn. 136 ff. m. w. N.; Kahl, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 64 f., 67 f.; Schröder, in: Rengeling (Hrsg.), Hb. Umweltrecht I, § 9 Rn. 32 ff. m. w. N. Vgl. auch KOM (2001) endg. S. 1 ff. 782 Damals Art. 130r Abs. 2 EGV. 783 Der Vorsorgegrundsatz gilt z. B. auch im Hinblick auf die Gefährdung natürlicher Ressourcen durch Verschwendung (vgl. Art. 174 Abs. 1 EGV). Im Übrigen ist die Existenz des Vorsorgegrundsatzes im Kern zumindest implizit vom EuGH als allgemein geltend anerkannt worden, vgl. EuGH, Rs. C-331/88, Slg. 1990, I-4023 (Fedesa); Rs. C-405/92, Slg. 1993, I-6133 (Mondiet). Vgl. dazu Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 39 m. w. N. 784 Dies ergibt sich insbesondere aus der Aufzählung in Art. 174 Abs. 1 EGV. Vgl. EuG, Rs. T-13/99, Slg. 2002, II-3318 Rn. 114 (Pfizer) mit Verweis auf EuGH, Rs. C-180/96, Slg. 1998, I-2265, Rn. 100 (BSE); Rs. C-157/96, Slg. 1998, I-2211, Rn. 64 (NFU). Vgl. auch EuGH, Rs. C-146/91, Slg. 1994, I-4199, Rn. 61 (KYDEP). Vgl. dazu Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 39 m. w. N. 785 Vgl. auch EuGH, Rs. C-180/96, Slg. 1998, I-2265, Rn. 99 (BSE); Rs. C-157/96, Slg. 1998, I-2211, Rn. 63 (NFU). 786 In der Sache nach um die Prüfung des Untermaßverbotes handelte es sich in dem Fall EuGH, Rs. C-265/95, Slg. 1997, I-6959 Rn. 39 (Kommission/Frankreich), auch wenn der EuGH den Begriff des Untermaßverbotes nicht erwähnte.

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einer entsprechenden Risikoanalyse787 präventive Schutzmaßnahmen ergreifen zu dürfen.788 Das Vorsorgeprinzip stellt sich insoweit als Optimierungsgebot789 dar, potentiellen Gefahren so früh wie möglich entgegenzutreten, um einen künftigen Schadenseintritt, der gegenwärtig nicht ausgeschlossen werden kann, zu verhindern.790 Die Möglichkeit, Präventivmaßnahmen zu erlassen, stehen den Gemeinschaftsorganen jedoch nicht grenzenlos offen. Das EuG stellt klar: „Aus der (. . .) Rechtsprechung geht jedoch auch hervor, dass eine vorbeugende Maßnahme nicht mit einer rein hypothetischen Betrachtung des Risikos begründet werden darf, die auf wissenschaftlich noch nicht verifizierte bloße Vermutungen gestützt ist.“791 Weiter heißt es: „Vielmehr ergibt sich aus dem Vorsorgegrundsatz (. . .), dass eine vorbeugende Maßnahme792 nur dann getroffen werden kann, wenn das Risiko, ohne dass seine Existenz und sein Umfang durch zwingende wissenschaftliche Daten in vollem Umfang nachgewiesen worden sind, auf der Grundlage der zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Maßnahme verfügbaren wissenschaftlichen Daten gleichwohl hinreichend dokumentiert erscheint.“793 Die Beweislast für eine solche Bewertung legte das Gericht den Gemeinschaftsorganen auf.794 Das Vorsorgeprin787

Vgl. dazu ausführlich KOM (2001), 1 endg. S. 1 ff. Die Bedeutung des Vorsorgegrundsatzes ist noch nicht vollends geklärt. Einzelheiten sollen hier jedoch nicht weiter interessieren. Vgl. EuGH, Rs. C-157/96, Slg. 1998, I-2211 Rn. 62 ff. (National Farmers’ Union); Rs. C-180/96, Slg. 1998, I-2265, Rn. 98 ff. (Vereinigtes Königreich/Kommission). Vgl. zum Ganzen Frenz, Europäisches Umweltrecht, Rn. 47 ff.; Schröder, in: Rengeling (Hrsg.), Hb. Umweltrecht, § 9 Rn. 32 ff. m. w. N. 789 EuGH, Rs. C-2884/95, Slg. 1998, I-4301 Rn. 36 (Safety Hi-Tech). Vgl. Calliess, in: Hiebaum/Koller (Hrsg.), Politische Ziele, S. 85 (96 ff. m. w. N.); Kahl, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 64; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 31 m. w. N.; Frenz, Europäisches Umweltrecht, Rn. 137 ff.; Schröder, in: Rengeling (Hrsg.), Hb. Umweltrecht, § 9 Rn. 44. 790 In der Literatur ist nach wie vor umstritten, ob es sich bei den beiden Begriffen des Vorsorgegrundsatzes und des Vorbeugegrundsatzes um einen bloßen Pleonasmus handelt oder um zwei inhaltsverschiedene Prinzipien. Für ersteres Frenz, Europäisches Umweltrecht, Rn. 141; Jahns-Böhm, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 18; Oppermann, Europarecht, § 29 Rn. 8 f. Für letzteres Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 27 f. m. w. N.; Schröder, in: Rengeling (Hrsg.), Hb. Umweltrecht, § 9 Rn. 32 f. m. w. N. Pragmatisch Breier, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 15. 791 EuG, Rs. T-13/99, Slg. 2002, II-3318 Rn. 143 (Pfizer) m. w. N. 792 Hervorhebung durch den Verfasser. Dieser Ausschnitt aus dem Urteil zeigt, dass auch das EuG nicht zwischen Vorsorgegrundsatz und Vorbeugungsgrundsatz unterscheidet. Ähnlich auch EuGH, Rs. C-318/98, Slg. 2000, I-4787 Rn. 37 (Fornasar). Siehe Fn. 790. 793 EuG, Rs. T-13/99, Slg. 2002, II-3318 Rn. 144 (Pfizer). 794 EuG, Rs. T-13/99, Slg. 2002, II-3318 Rn. 165 (Pfizer). 788

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Teil 2: Grundlagen

zip wirkt insoweit also als ein verbindlicher795 Maßstab bei der Überprüfung von Maßnahmen der Risikovorsorge, dessen Einhaltung auch der Einzelne einklagen kann.796 In der Sache selbst hat das Gericht erster Instanz die Klage von Pfizer letztlich jedoch abgewiesen. Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung bestünden ausreichende Gründe dafür, dass der Zusatz von Virginiamycin in der Tiernahrung eine Gefahr für die menschliche Gesundheit darstellen könnte. Bei der Beurteilung der Gefahr und des Risikos gestand das Gericht – wie schon der EuGH in der obigen Entscheidung im Hinblick auf die Verfolgung der agrarrechtlichen Ziele des Art. 33 EGV797 – den Unionsorganen einen weiten Ermessensspielraum zu. Die Kontrolle der materiellen Rechtmäßigkeit solcher Maßnahmen sei auf die Prüfung der Frage beschränkt, ob die Gemeinschaftsorgane bei der Ermessensausübung „einen offensichtlichen Fehler oder einen Ermessensmissbrauch begangen oder die Grenzen ihres Ermessens offensichtlich überschritten haben“.798 Die Gemeinschaftsorgane müssten jedoch dartun, dass „die angefochtene Verordnung aufgrund einer wissenschaftlichen Risikobewertung erlassen wurde, die unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls so erschöpfend wie möglich war, und dass sie aufgrund dieser Bewertung über ausreichende wissenschaftliche Hinweise verfügten, um auf einer objektiven wissenschaftlichen Grundlage zu dem Schluss gelangen zu können, dass (. . .) ein Risiko für die menschliche Gesundheit (. . .) [besteht]799“. 795 EuGH, Rs. C-284/95, Slg. 1998, I-4301 Rn. 36 (Safety Hi-Tech). Vgl. Calliess, in: Hiebaum/Koller (Hrsg.), Politische Ziele, S. 85 (96); Kahl, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 41; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 30; Schröder, in: Rengeling (Hrsg.), Hb. Umweltrecht, § 9 Rn. 43 ff. 796 So wie hier GA Cosmas in dessen Schlussantrag zu EuGH, Rs. C-318/98, Slg 2000 I-4485, 4488 Rn. 54 ff. (Fornasar); Dolye/Carney, EELR 1999, 44; Frenz, Europäisches Umweltrecht, Rn. 138; Jahns-Böhm, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 17 m. w. N.; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 32 m. w. N. Einschränkend Schröder, in: Rengeling (Hrsg.), Hb. Umweltrecht, § 9 Rn. 44. A. A. Breier, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 12, der die umweltrechtlichen Handlungsgrundsätze lediglich als rechtlichen Orientierungsrahmen einordnen will. Etwas widersprüchlich Kahl, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 64 einerseits und Rn. 65 anderseits. 797 Siehe oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (2) (a) mit Fn. 768. 798 EuG, Rs. T-13/99, Slg. 2002, II-3318 Rn. 166 (Pfizer). Vgl. auch EuGH, Rs. C-285/95, Slg. 1998, I-4301 (Safety Hi-Tech); Rs. C-318/98, Slg. 2000, I-4785 Rn. 46 (Fornasar). Vgl. dazu Breier, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 15; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 32. 799 Einfügung durch den Verfasser.

IV. Soziale Grundrechte in anderen Kodifikationen

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Auch wenn sich folglich der Einzelne grundsätzlich auf das Prinzip der Vorsorge berufen kann wie beispielsweise im vorliegenden Fall das Unternehmen Pfizer, werden die Gerichte eine Maßnahme der Risikovorsorge nur ausnahmsweise wegen Verstoßes gegen dieses Prinzip für rechtswidrig erklären. Dies liegt jedoch nicht an der normativen Qualität des Vorsorgegrundsatzes800, sondern daran, dass dieser die Abwägung ungewisser, weil teilweise in der Zukunft liegender oder gegenwärtig noch nicht hinreichend bewertbarer Gefahren verlangt, die ohne hinreichend weiten Ermessensspielraum von den zuständigen Organen nicht sinnvoll vorgenommen werden könnte.801 Ob das Vorsorgeprinzip über dessen Maßstabsfunktion hinaus auch eine Schutznorm im Sinne des Art. 288 Abs. 2 EGV darstellt, scheint noch nicht endgültig geklärt. Richtigerweise kommt es bei Beantwortung dieser Frage jedoch nicht auf die Einordnung des Vorsorgeprinzips selbst an. Vielmehr ist entscheidend, ob das Rechtsgut, das durch die Vorsorgehandlung verletzt worden ist, ein subjektives Recht im Sinne des europäischen Staatshaftungsrechts802 vermittelt. Zur Veranschaulichung ein Beispiel: Wäre das Antibiotikum Virginiamycin vom Markt genommen worden, obwohl es überhaupt keine belastbaren Anhaltspunkte dafür gegeben hätte, dass der Stoff eine Gefahr für die menschliche Gesundheit darstellt, wäre – sofern man von einem hinreichend qualifizierten Verstoß803 ausginge – das Unternehmen Pfizer 800

Calliess vergleicht die rechtlichen Wirkungen des Vorsorgegrundsatzes mit denen der Staatszielbestimmungen des GG, vgl. Calliess, in: Hiebaum/Koller (Hrsg.), Politische Ziele, S. 85 (106 ff., 111). Diesem Vergleich ist grundsätzlich zustimmen. Es muss jedoch ergänzt werden, dass es im Gemeinschaftsrecht anders als im subjektiv-rechtlich ausgerichteten deutschen öffentlichen Recht in der Regel nicht auf die Unterscheidung zwischen objektiven Pflichten und subjektiven Rechten ankommt, mit der Folge, dass die Grundsätze des Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV im Gemeinschaftsrecht zumindest theoretisch weitgehender justiziabel sind als sie es im deutschen Rechtssystem wären. Vgl. auch Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 32 unter Hinweis auf das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 GG (!). 801 So auch Calliess, in: Hiebaum/Koller (Hrsg.), Politische Ziele, S. 85 (97). Dies scheint Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 61, zu übersehen. 802 Vgl. zu diesem Aspekt der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft EuGH, Verb. Rs. C-5, 7, 13–24/66, Slg. 1967, 331, 354 f. (Kampffmeyer); Verb. Rs. C-83, 94/76 u. a., Slg. 1978, 1209 Rn. 5 (Magermilchpulver); Ruffert, in: Calliess/ ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 18. Vgl. zu diesem Aspekt der gemeinschaftsrechtlichen Haftung der Mitgliedstaaten EuGH, Verb. Rs. C-6, 9/90, Slg. 1991, I-5357 Rn. 31 ff. (Frankcovich); Verb. Rs. C-46, 48/93, Slg. 1996, I-1029 Rn. 17 (Brasserie und Factortame); Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 54 ff. Ausführlich zum Ganzen unten Teil 3, III. 5. a). 803 An das Vorliegen dieser Anspruchsvoraussetzung stellt der EuGH hohe, manchmal zu hohe, Anforderungen. Vgl. nur EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239 Rn. 30 ff. (Köbler).

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Teil 2: Grundlagen

wegen Verstoßes gegen den Vorsorgegrundsatz (i. V. m. dem Eigentumsgrundrecht und dem Grundrecht auf Unternehmensfreiheit, vgl. Art. 17, 16 GRC) für den entgangenen Gewinn zu entschädigen gewesen (vgl. auch Art. 41 Abs. 3 GRC).804 Neben der abwehrrechtlichen Funktion wird das Prinzip der Vorsorge regelmäßig auch zur Rechtfertigung805 von Eingriffen in andere Rechtsgüter (so wie auch im vorliegenden Fall) sowie zur Auslegung806 sekundärrechtlicher Bestimmungen herangezogen. Darüber hinaus wird diskutiert, ob der Vorsorgegrundsatz (vor allem im Hinblick auf den Umweltschutz) auch ein Rückschrittsverbot normiert, welches verbietet, den einmal erreichten Schutzstandard künftig wieder zu unterschreiten.807 Auf diese Frage wird in Zusammenhang mit der Wirkung der Grundsatznormen der Grundrechtecharta noch ausführlich einzugehen sein.808 Schließlich kann das Vorsorgeprinzip anders als das Prinzip der Marktstabilisierung auch in der leistungsrechtlichen Konstellation zum Tragen kommen. Man stelle sich den hier besprochenen Fall nur leicht abgeändert vor: Obwohl die Verwendung von Virginiamycin als Zusatz im Tierfutter im konkreten Verdacht steht, die Bildung von Resistenzen zu begünstigen und damit die Gesundheit vieler Menschen zu gefährden, weigerten sich die zuständigen Organe trotz nachdrücklicher Empfehlung seitens der Wissenschaft, das Medikament vom Markt zu nehmen. Gestützt auf den Vorsorgegrundsatz könnte nun auch ein Einzelner die Rücknahme der Zulassung dieses Medikaments verlangen. Im Normalfall werden entsprechende Leistungsklagen – wenn es nicht schon wie in der Fallabwandlung am prozessualem Vehikel für das Klagebegehren fehlt809 – in aller Regel jedoch aufgrund des auch in dieser Konstellation bestehenden weiten Ermessensspiel804

So auch Doyle/Carney, EELR 1999, 44 (46). EuGH, Rs. C-2/90, Slg. 1992, I-4431 Rn. 34 (Kommission/Belgien). Vgl. auch Calliess, in: Hiebaum/Koller (Hrsg.), Politische Ziele, S. 85 (96 f.); Kahl, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 65 m. w. N.; Nettesheim, in: Grabitz/ Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 34; Schröder, in: Rengeling (Hrsg.), Hb. Umweltrecht, § 9 Rn. 45. Vgl. zum Ganzen auch Scheuing, EuR 2002, 619 (626 m. w. N.). 806 EuGH, Rs. C-180/96, Slg. 1998, I-2265 Rn. 100 (Vereinigtes Königreich/ Kommission); Rs. C-9/00, Slg. 2002, I-3533 Rn. 23 (Palin Granit). Vgl. Calliess, in: Hiebaum/Koller (Hrsg.), Politische Ziele, S. 85 (96); Kahl, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 65; Schröder, in: Rengeling (Hrsg.), Hb. Umweltrecht, § 9 Rn. 45. Vgl. zum Ganzen auch Scheuing, EuR 2002, 619 (626 m. w. N.). 807 So Doyle/Carney, EELR 1999, 44 (46). 808 Siehe unten Teil 3, II. 5. d). 809 Der Einzelne kann nach Art. 232 Abs. 3 EGV gerade nicht den Erlass einer Verordnung, die hier erforderlich wäre, einklagen. Siehe dazu oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (1). 805

IV. Soziale Grundrechte in anderen Kodifikationen

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raum unbegründet sein und sich lediglich auf evidente Verstöße beschränken.810 Zudem wird nur in solchen Fällen ein klagbarer Anspruch bestehen, in denen ein konkret definierbares Rechtsgut bedroht ist.811 Insoweit das Vorsorgeprinzip im Leistungsbereich einklagbar ist, wird bei rechtswidrigem Nichthandeln – sofern man im Einzelfall von einem entsprechend qualifizierten Verstoß ausgehen kann – dem Geschädigten auch der entstandene Schaden zu ersetzen sein.812 e) Ergebnis Weder der Europäischen Sozialcharta noch der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer kommt in der EG eine unmittelbare rechtliche Wirkung zu. Etwas anderes folgt auch nicht aus Art. 136 Abs. 1 EGV.813 Art. 136 Abs. 1 EGV enthält – dies kann aus dessen Entstehungsgeschichte und präambelhaften Formulierung abgeleitet werden – lediglich rein programmatische Zielsetzungen.814 Für die nachfolgende dogmatische Grundlegung der Grundsatznormen der Europäischen Grundrechtecharta sind die beiden erstgenannten Kodifikationen deshalb nur von untergeordneter Bedeutung. Gegenteiliges wird für die sozialen Gewährleistungen815 des EG-Vertrags gelten, auch wenn es sich bei diesen mehrheitlich um bloße – aber immerhin verbindliche – Zielbestimmungen handelt.816 Insbesondere aus den beiden vorstehenden Urteilen van den Berg817 und Pfizer818 ergibt sich in etwa folgendes Bild von der Justiziabilität sozialer Bestimmungen des EG-Vertrages. Dieses deckt sich weitgehend mit den oben 810

So wie hier Kahl, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 64. Z. B. Klage auf Schutz der Umwelt ohne Gefährdung der menschlichen Gesundheit. Weiter jedoch Doyle/Carney, EELR 1999, 44 (46). 812 So auch Doyle/Carney, EELR 1999, 44 (46). 813 Jedoch entfalten die Ziele des Art. 136 Abs. 1 EGV eine gewisse mittelbare Wirkung und zwar insoweit, als dass der EuGH diese zur Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen sowie zur Rechtfertigung von Maßnahmen der EG heranzieht, vgl. EuGH, Rs. C-43/75, Slg. 1976, 455 Rn. 15 (Defrenne II). Vgl. zum Ganzen Langenfeld, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 136 EGV Rn. 4; Rebhahn, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 136 Rn. 6. 814 Ganz h. M., vgl. nur EuGH, Rs. C-149/77, Slg. 1978, 1365 Rn. 19, 23 (Defrenne III); Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 136 EGV Rn. 31 m. w. N.; Langenfeld, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 136 EGV Rn. 2 m. w. N. In sich widersprüchlich Rebhahn, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 136 EGV Rn. 6. 815 Zum weiten Verständnis des Begriffs des sozialen Grundrechts in der vorliegenden Arbeit siehe Teil 2, III. 2. 816 Siehe dazu oben Teil 2, IV. 3. d) aa). 817 EuGH, Rs. C-265/85, Slg. 1987, 1155 (van den Bergh). 818 EuG, Rs. T-13/99, Slg. 2002, II-3318 (Pfizer). 811

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Teil 2: Grundlagen

gewonnenen Erkenntnissen über die rechtliche Behandlung sozialer Garantien in den einzelnen Mitgliedstaaten:819 (1) Sowohl bei der Nichtigkeitsklage als auch bei der Untätigkeitsklage handelt es sich um objektive Beanstandungsverfahren. Auf die Geltendmachung subjektiver Rechtsverletzungen kommt es nicht an. Das Merkmal der individuellen Betroffenheit bezieht sich anders als die Klagebefugnis nach deutschem Recht auf den Prüfungsgegenstand und nicht auf den Prüfungsmaßstab. Für die Betroffenheit reicht es aus, wenn der Kläger irgendein Interesse vorbringen kann. Popularklagen sind folglich auch im Gemeinschaftsrecht ausgeschlossen. Normerlassklagen kennt das europäische Verfahrensrecht nicht.820 (2) Entscheidende Voraussetzung, damit eine Gemeinschaftsbestimmung Prüfungsmaßstab im Rahmen einer Rechtmäßigkeitskontrolle sein kann, ist neben deren Verbindlichkeit, dass die Vorschrift hinreichend klar gefasst ist, sodass die Gerichte diese Norm unmittelbar anwenden können. Gleiches gilt für die Leistungsdimension gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen (insbesondere bei Klagen auf Erlass von Schutzmaßnahmen821). (3) Die allgemeinen Zielbestimmungen aus Art. 2 ff. EGV (und somit auch die allgemeinen Zielbestimmungen mit sozialem Gehalt) sind grundsätzlich nicht unmittelbar anwendbar und deshalb auch durch den Einzelnen nicht einklagbar.822 Etwas anderes gilt für die Zielbestimmungen, die einen konkreten bzw. konkreteren Normbereich aufweisen. Auf diese kann sich zumindest in der Abwehrdimension auch der einzelne Bürger berufen (z. B. die Ziele des Art. 33 EGV).823 Ansprüche auf Leistung lassen sich jedoch auch aus diesen spezielleren Zielbestimmungen nicht herleiten.824 (4) Für soziale Gewährleistungen, die nicht nur als bloße Zielbestimmungen, sondern als objektive Verpflichtungen oder sogar als subjektive 819

Siehe dazu oben Teil 2, IV. 2. f). Daran ändert auch der Vertrag von Lissabon nichts, vgl. Pache, in: Vedder/ Heintschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. III-367 Rn. 23. Denkbar ist jedoch, dass ein Betroffener vor den nationalen Gerichten eine Normerlassklage anstrengt, wenn der nationale Normgeber unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht den Erlass einer Vorschrift unterlassen hat und das nationale Verfahrensrecht eine solche Klageart vorsieht. Siehe zum Ganzen schon oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (1). 821 Zur Frage der Existenz von Schutzpflichten im Gemeinschaftsrecht siehe ausführlich unten Teil 4, III. 3. 822 Siehe dazu oben Teil 2, IV. 1. e). 823 Vgl. dazu nochmals Calliess, in: Hiebaum/Koller (Hrsg.), Politische Ziele, S. 85 (111). 824 Siehe dazu oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (2) (a). 820

IV. Soziale Grundrechte in anderen Kodifikationen

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Rechte formuliert sind, gilt das eben unter (3) Gesagte erst recht. Darüber hinaus sind diese Gewährleistungen (z. B. der Vorsorgegrundsatz aus Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV) aber auch in der Leistungssituation unmittelbar anwendbar und damit vor Gericht einklagbar. (5) Der EuGH räumt den zuständigen Organen sowohl beim Erlass einer Maßnahme (also bei der Frage des rechtlichen Könnens) als auch bei der Entscheidung über das Untätigbleiben (also bei der Frage des rechtlichen Sollens) einen im Einzelfall mehr oder minder großen Ermessensspielraum ein. Die Einhaltung dieses Spielraums ist durch den Gerichtshof bzw. das Gericht erster Instanz überprüfbar. Auch der Bürger kann eine Überprüfung verlangen.825 (6) Ob die Verletzung einer gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung zu Haftungsansprüchen des Geschädigten führt, kann nicht pauschal beantwortet werden, sondern hängt von der jeweiligen Vorschrift ab. Festzuhalten bleibt jedoch, dass auch der Verstoß gegen bloße Zielbestimmungen – wenn auch nur in Ausnahmefällen – zu einer Entschädigungspflicht führen kann.826

825 Vorausgesetzt natürlich, dem Einzelnen steht ein zulässiger Rechtsbehelf zur Verfügung. Hierbei wird es sich aufgrund der hohen Hürde des Art. 230 Abs. 4 EGV meist um Vorlageverfahren nach Art. 234 EGV handeln. 826 Siehe dazu oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (2) (a) und (b); Teil 3, III. 5. a).

Teil 3

Theorie der Grundsatznormen I. Semantische Untersuchung des Begriffs „Grundsatz“ Zunächst ist der Frage nachzugehen, inwieweit bereits der Begriff „Grundsatz“ vorgibt, welche Qualität dieser Normkategorie zukommt. 1. Allgemeines Sprachverständnis Entsprechend dem allgemeinen Sprachverständnis steht der Terminus „Grundsatz“ – das Wort „Prinzip“ wird im Folgendem als Synonym verwendet1 – für eine allgemein anerkannte Wahrheit, die als Ausgangpunkt weitergehender Überlegungen dient.2 Eine solche Definition hilft für eine Unterscheidung zwischen Grundrechten und Grundsätzen im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC jedoch kaum weiter, weil ohne Zweifel auch Grundrechte allgemein anerkannte Wahrheiten verkörpern, wie beispielsweise, dass der Mensch Würde besitzt oder dass er frei ist. 2. Allgemeines juristisches Verständnis Juristen verwenden den Begriff des Grundsatzes teilweise auch in einem etwas anderen Zusammenhang, insbesondere in Abgrenzung zu Rechtsregeln. a) Der Begriff der Norm Beide, Grundsätze wie Rechtsregeln, entstammen dem gemeinsamen Oberbegriff3 der Norm.4 Was genau unter einer Norm zu verstehen ist, ist 1 Vgl. zur Synonymität von „Rechtsgrundsatz“ und „Rechtsprinzip“ Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 756; Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, § 25 Rn. 8. 2 In Anlehnung an Hornby, Oxford Advanced Learners Dictionary, „principle“. 3 Die Terminologie ist hier sehr uneinheitlich. Esser beispielsweise stellt nicht Rechtsgrundsätze und Rechtsregeln gegenüber, sondern Grundsätze und Normen, vgl. Esser, Grundsatz und Norm, S. 51 f. 4 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 72; Penski, JZ 1989, 105 (106); Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 92 f.

I. Semantische Untersuchung des Begriffs „Grundsatz“

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umstritten:5 Kelsen beispielsweise definiert eine Norm als einen Akt, „mit dem ein Verhalten geboten oder erlaubt [. . .] wird“6. Luhmann umschreibt die Norm als eine „kontrafaktische stabilisierte Verhaltenserwartung“7, Geiger8 dagegen als ein Verhaltensmodell, das entweder realisiert wird oder bei Nichtrealisierung eine soziale Reaktion zur Folge hat. Ein geltungstheoretisches Verständnis legt dagegen Ross9 zugrunde, wenn er eine Norm versteht als „directive which corresponds to certain social facts in such a way that the pattern of behaviour expressed in the norm (1) is in general followed by members of the society; and (2) is felt by them as binding (valid)“. Die hier angedeuteten Probleme einer Definition sollen jedoch nicht weiter beschäftigen, ist doch eine vertiefte Auseinandersetzung nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Als Ausgangspunkt für die weitere Erörterung genügt vielmehr ein einfacher semantischer Normbegriff, der zwischen Norm und Normsatz unterscheidet.10 Eine Norm ist dabei die Bedeutung eines deontischen Normsatzes oder eines imperativischen oder indikativischen Normsatzes, welcher in einen deontischen umformuliert werden könnte. Sätze sind deontisch, wenn sie Ausdrücke wie „dürfen“, „verboten“ oder „sollen“ enthalten und daher Erlaubnisse, Verbote oder Gebote statuieren.11 Normen sind damit eindeutig von rein beschreibenden Aussagen zu unterscheiden. Letztere nennen nur Zustände oder kennzeichnen Werte, drücken jedoch keine Verpflichtung aus.12 Daran anknüpfend sind Rechtsnormen solche Normen, die vom Staat gesetzt und durchgesetzt werden.13 b) Abgrenzung zwischen Grundsätzen und Rechtsregeln In der Rechtswissenschaft wird der Begriff des Grundsatzes überwiegend14 in Abgrenzung zum Terminus der Rechtsregel diskutiert.15 Manche 5

Ausführlich Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 40 ff. m. w. N. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 5. 7 Luhmann, Rechtssoziologie I, S. 43. 8 Vgl. Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 61 f., 68 ff. 9 Ross, Directives and Norms, S. 93. 10 Vgl. auch Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 92. 11 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 42 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 123 f.; Weinberger, Logik, Semantik, Hermeneutik, S. 20, 108. Ähnlich auch Ross, Directives and Norms, S. 34; Dworkin, Taking rights seriously, S. 55. 12 Vgl. Penski, JZ 1989, 105 (106); Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 109a f.; Weinberger/Weinberger, Logik, Semantik, Hermeneutik, S. 19 f. 13 Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 99a f. m. w. N. Hier ist vieles streitig. Vgl. für eine umfassende Analyse der verwendeten Terminologie Wright, Norm and Action, S. 1 ff. 14 Ausführlich Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 72 ff.; Kahl, Umweltprinzip, S. 69 ff. 6

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

ziehen den unterschiedlichen Geltungsgrund als Differenzierungskriterium zwischen diesen beiden Normkategorien heran. Dworkin16 beispielsweise beschreibt Prinzipien17 als Maßstäbe, die befolgt werden, „not because it will advance or secure an economic, political, or social situation deemed desirable, but because it is a requirement of justice or fairness or some other dimension of morality“. Ähnlich vertritt dies Wolff18, wenn er Rechtsgrundsätze als nicht willkürlich gesetzt, sondern mit „objektiver Erkenntnisgewissheit aus dem Rechtsprinzip“ abgeleitet ansieht. Grundsätze stellen demnach Konkretisierungen eines obersten Rechtsgesetzes19 in Anwendung auf allgemeine soziale Gegebenheiten dar, in welcher sie als Gründe oder Maßstäbe für Rechtsregeln diesen gerade vorgeschaltet sind.20 Nach Ansicht Alexys21 handle es sich bei Rechtsgrundsätzen dagegen um Optimierungsgebote, also um Normen, die eine möglichst weitgehende Verwirklichung anordnen. Rechtsregel könnten demgegenüber lediglich erfüllt oder nicht erfüllt werden. Als Beispiel für eine Rechtsregel ist das Petitionsrecht aus Art. 21 EGV zu nennen, welches schrankenlos Geltung beansprucht. Im Gegensatz dazu wären nach der nicht unumstrittenen These Alexys alle übrigen Gemeinschaftsgrundrechte als Grundsätze einzuordnen.22 Die überwiegende Ansicht23 unterscheidet die beiden Normkategorien dagegen anhand des Grades ihrer Abstraktheit. Rechtsregeln seien durch einen konkreten Aussagegehalt gekennzeichnet, wogegen Rechtsgrundsätze einen hohen Grad an Allgemeinheit und Unbestimmtheit aufwiesen. An diesen letzten Gesichtspunkt anknüpfend will Penski24 in Anlehnung an Larenz25 15 Andere stellen dagegen Grundsatz und Norm gegeneinander, vgl. Esser, Grundsatz und Norm, S. 51 f. Vgl. hierzu auch Alexy, Theorie der Grundrechte, Fn. 10 auf S. 42 m. w. N. 16 Dworkin, Taking rights seriously, S. 22 (S. 55 in der deutschen Ausgabe). 17 Zur Gleichstellung von Grundsätzen und Prinzipen s. gerade eben bei Rn. 892. 18 Wolff/Bachhof, Verwaltungsrecht I, § 25 I a. 19 Vgl. Wolff, in: Bachhof/Drath/Gönnenwein/Walz (Hrsg.), GS Jellinek, S. 33 (37 ff.). 20 Vgl. Esser, Grundsatz und Norm, S. 51; Larenz, Methodenlehre, S. 207, 410, 458. 21 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff. 22 Alexy bezog seine Untersuchungen ausschließlich auf die deutschen Grundrechte. Seine Theorie kann aber auch auf die europäischen Grundrechte übertragen werden. A. A. Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 54 f. 23 Vgl. Wolff, in: Bachhof/Drath/Gönnenwein/Walz (Hrsg.), GS Jellinek, S. 33 (44, 50); ders./Bachhof, Verwaltungsrecht I, § 25 I a. Ähnlich Esser, Grundsatz und Norm, S. 50 ff., 73 ff., der aber auf die „Bestimmbarkeit der Anwendungsfälle“ abstellt. 24 Vgl. Penski, JZ 1989, 105 (106 f.). 25 Larenz, Richtiges Recht, S. 23 f.; ders., Rechtsprinzipien in der Methodenlehre, S. 490, 548.

I. Semantische Untersuchung des Begriffs „Grundsatz“

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ein eher normstrukturelles Kriterium zur Unterscheidung heranziehen. Penski differenziert danach, ob eine Norm die Verwirklichung eines Ziels fordert – dann Grundsatz – oder ein bestimmtes Verhalten verlangt – dann Regel. Der Unterschied zwischen beiden Normgruppen liege letztlich in der Art und dem Umfang des geforderten Verhaltens. Larenz selbst ist der Auffassung, „Rechtsprinzipien [entbehrten] noch des rechtssatzmäßigen Charakters“.26 Bei diesen fehle es an der Verknüpfung eines näher umrissenen Tatbestandes mit einer bestimmten Rechtsfolge. Vielmehr gäben sie lediglich eine Richtung vor. Penski27 folgert daraus, dass Rechtsgrundsätze im Gegensatz zu Rechtsregeln nur aufgrund „konkretisierender Normierung durch Setzung oder Übung“ Inkorporation in die Rechtsordnung und damit Geltung erlangen könnten.28 Insgesamt lässt sich festhalten, dass das normtheoretische Verständnis des Terminus Grundsatz nach wie vor umstritten ist und lange noch nicht geklärt scheint.29 c) Der Begriff des Grundsatzes in der Rechtsprechung des EuGH Ein ebenso uneinheitliches Bild vom Begriff des Grundsatzes ergibt sich nach einer Untersuchung der Rechtsprechung des EuGH. Nicht nur, dass man nach einer Definition vergeblich sucht, der EuGH verwendet den Terminus scheinbar ohne jeglichen systematischen Zusammenhang und ohne Differenzierung, um welche Normkategorie es sich bei der jeweiligen Vorschrift handelt. Beispielsweise spricht das oberste Gericht der Union hinsichtlich des Allgemeinen Gleichheitssatzes seit jeher nicht von einem Gemeinschaftsgrundrecht, sondern ausdrücklich von einem „Grundprinzip“.30 Dabei gebraucht es den Ausdruck Grundprinzip nicht als Synonym für den Rechtsquellentypus der Allgemeinen Rechtsgrundsätze31. Vielmehr betont der EuGH den Ursprung des Allgemeinen Diskriminierungsverbots aus dem Gemeinschaftsrecht selbst kommend, abgeleitet aus Art. 34 Abs. 2 UAbs. 2 EGV.32 26

Larenz, Richtiges Recht, S. 23 f.; ders., Rechtsprinzipien in der Methodenlehre, S. 490, 548. 27 Vgl. Penski, JZ 1989, 106 (106 ff.). 28 So offensichtlich auch Hilf/Schorkopf, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 14. 29 Interessant ist auch die Verwendung des Begriffs „Grundsatznorm“ durch Murswiek, ZRP 1988, 14 (18 f.) als Alternative zum Terminus „Staatszielbestimmung“. 30 EuGH, Verb. Rs. C-117/76 und 16/77, Slg. 1977, 1753 Rn. 7 (Ruckdeschel). 31 Der Begriff des Allgemeinen Rechtsgrundsatzes wurde bereits oben von den Grundsätzen i. S. d. Art. 52 Abs. 5 GRC unterschieden. Ausführlich zur Begriffsbestimmung der Allgemeinen Rechtsgrundsätze Wetter, Grundrechtscharta des EuGH, S. 27 f. 32 EuGH, Verb. Rs. C-117/76 und 16/77, Slg. 1977, 1753 Rn. 7 (Ruckdeschel).

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

Die ganz überwiegende Literatur33 stört sich dagegen nicht an der vom EuGH verwendeten Terminologie34 und ordnet den Allgemeinen Gleichheitssatz wie selbstverständlich als subjektiv-rechtliche Grundrechtsgewährleistung ein. Ein ähnlicher Begriffswirrwarr fällt beispielsweise auch bei dem aus dem objektiven Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten35 (subjektiven) Grundssatz des rechtlichen Gehörs auf. Manchmal spricht der EuGH hierbei von einem „allgemein anerkannten Rechtssatz“36, ein anderes mal von einem „fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“37, nicht selten aber auch lediglich von einem „Anspruch“38 auf rechtliches Gehör. Bis in die Mitte der Achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hielt sich die bis dahin allgemein anerkannte Differenzierung zwischen Grundrechten auf der einen und rechtsstaatlichen Grundsätzen auf der anderen Seite, wobei letzteren die Grundrechtsqualität abgesprochen39, bestenfalls als grundrechtsähnlich bezeichnet wurden.40 Erst mit der Entscheidung Krombach41 dürfte der EuGH endgültig geklärt haben, dass auch die rechtsstaatlichen Grundsätze subjektiven Gehalts als Grundrechte (im engeren Sinne) einzustufen sind.42 Ein geradezu inflationärer Gebrauch des Begriffs „Grundsatz“ wird durch den EuGH bei rein objektiv rechtlichen Bestimmungen praktiziert. Zu nennen sind hier als Beispiel der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz,43 das Subsidiaritätsprinzip44 oder auch die umweltrechtlichen Prinzipien des Art. 174 33 Vgl. statt vieler Kischel, EuGRZ 1977, 1 (3 f.); Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rn. 11 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 773. 34 Auch sonst verwendet der EuGH hinsichtlich des Allgemeinen Gleichheitssatz keine einheitliche Terminologie, vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 24 Rn. 7; Rossi, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 20 GRC Rn. 3. 35 Vgl. Schütz/Bruha/König, Casebook Europarecht, S. 880 f. 36 EuGH, Rs. C-32/62, Slg. 1963, 107, 123 f. (Alvis). 37 EuGH, Rs. C-40/85, Slg. 1986, 2321 (Belgien/Kommission). 38 EuGH, Rs. 113/77, Slg. 1979, 1185, 1262 (NTN Toyo Bearing). 39 So ausdrücklich Hummer, in: Schwind (Hrsg.), Aktuelle Fragen zum Europarecht, S. 60 (71). Vgl. auch Schütz/Bruha/König, Casebook Europarecht, S. 880 f. Auffallend ist zudem, dass die meisten Lehrbücher immer noch die Verfahrens„grundrechte“ in einem eigenen Kapitel behandeln, streng getrennt von den übrigen „herkömmlichen“ Grundrechten. 40 Vgl. Everling, EuR 1982, 301 (309 f.). 41 EuGH, Rs. C-7/98, Slg. 2000, I-1935 Rn. 25 (Krombach). 42 So nun wohl h. M., vgl. statt vieler Gundel, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 19 Rn. 9 ff.; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 606; Schweitzer/Hummer, Europarecht, 5. Aufl., Rn. 805; Streinz, Europarecht, Rn. 773, 776; Zimmerling, in: Lenz/Borchard (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 40 ff. 43 Grundlegend EuGH, Rs. C-18/63, Slg. 1964, 175, 204 (Schmitz-Wollast). 44 EuGH, Rs. C-377/87, Slg. 2001, I-7079 Rn. 33 ff. (Biopatentrichtlinie).

I. Semantische Untersuchung des Begriffs „Grundsatz“

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Abs. 2 UAbs. 2 S. 1 EGV (z. B. der Vorsorgegrundsatz oder das Verursacherprinzip)45. Gleichwohl hält der Gerichtshof – hierauf wurde bereits ausführlich eingegangen46 – diese (objektiv-rechtlichen) Gewährleistungen für nicht weniger einklagbar als subjektiv-rechtliche Garantien. Schließlich verwendet der EuGH den Begriff des Grundsatzes ebenso wie der EU-Vertrag selbst (vgl. Art. 6 Abs. 2 EUV) auch in Zusammenhang mit den wesentlichen Strukturprinzipien der Europäischen Union, wie dem Demokratieoder dem Rechtsstaatsprinzip.47 3. Ergebnis Die bisherigen Erörterungen haben gezeigt, dass der Begriff des Grundsatzes sowohl im Alltag als auch als Fachterminus völlig unsystematisch verwendet wird; viele Definitionen werden diskutiert. Unstreitig dürfte jedoch sein, dass die Grundsätze im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC sich jedenfalls nicht hinsichtlich ihres Geltungsgrundes von den Grundrechten differenzieren lassen, da eben auch letztere oberste Rechtsprinzipien verkörpern. Der von Dworkin propagierte Ansatz ist deshalb zumindest für die vorliegende Arbeit wenig hilfreich. Gleiches gilt für Alexys Theorie von den Grundrechten, mag man diese auch ansonsten für überzeugend halten.48 Zum einen ordnet Alexy die Grundrechte selbst als Prinzipien ein, versteht den Begriff des Prinzips folglich als Oberbegriff für und nicht als Abgrenzung zu den Grundrechten. Zum anderen schadet, dass der Terminus Grundsatz im Allgemeinen nicht in der Bedeutung benutzt wird, die Alexy diesem Begriff beimisst. Als Beispiel sei das Verhältnismäßigkeitsprinzip genannt. Gebräuchlich ist auch der Terminus Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, obgleich es sich gemäß der Theorie von Alexy dabei nicht um ein Prinzip, sondern um eine Rechtsregel handelt, da das Übermaßverbot durch den Staat stets und ohne Möglichkeit der Abweichung zu beachten ist.49 Von größeren Nutzen scheinen die normtheoretischen Überlegungen zu sein, die die hier zu untersuchenden Grundsatznormen von den übrigen Rechtsnormen entweder anhand des Abstraktionsgrades oder – wie Penski und Larenz – anhand der Umsetzungsbedürftigkeit unterscheiden. Auch wenn man diese Ansätze in Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC wiederzuerkennen glaubt, verhindert letztlich der recht unbedachte Gebrauch des Begriffs „Grundsatz“ durch Rechtsprechung und Literatur, dass dieser Terminologie in Art. 51 Abs. 1 45

Vgl. EuGH, Rs. C-284/95, Slg. 1998, I-4301 (Safety Hi-Tech). Siehe oben Teil 2, III. 1. e). 47 EuGH, Rs. C-138/79, Slg. 1980, 3333 Rn. 33 (Isoglucose I) hinsichtlich des Demokratieprinzips. 48 Wie hier auch Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (565). 49 So auch Alexy selbst in Theorie der Grundrechte, S. 100 Fn. 84. 46

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

und Art. 52 Abs. 5 GRC eine entscheidende Aussagekraft beigemessen werden kann. Durch die Verwendung des recht offenen Terminus Grundsatz wird gerade nicht zwingend vorgegeben, ob es sich bei der in der Charta genannten Normkategorie um verbindliche oder unverbindliche Bestimmungen handelt, mit oder ohne subjektiven Charakter, deren Einhaltung der Bürger einklagen oder nicht einklagen kann. Darüber hinaus lässt die Bedeutungsvielfalt dieses Ausdrucks vermuten, dass dieser Terminus auch innerhalb der Charta nicht einheitlich gebraucht wird.

II. Der Begriff des Grundsatzes in der Charta 1. Überblick Der Terminus Grundsatz taucht in der Europäischen Grundrechtecharta an verschiedenen Stellen auf. In Absatz 2 der Präambel ist von den Grundsätzen der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit die Rede. Hierbei handelt es sich um Verfassungsprinzipien, die bereits aus Art. 6 Abs. 1 EUV bekannt sind.50 In Absatz 5 ist das Subsidiaritätsprinzip genannt (vgl. auch Art. 51 Abs. 1 GRC), ein kompetenzrechtlicher Grundsatz, dessen Einhaltung trotz objektiv rechtlicher Normqualität auch der Einzelne verlangen kann.51 In Absatz 7 wird schließlich zugesichert, dass die Union „die nachstehend aufgeführten Rechte, Freiheiten und Grundsätze an[erkennt]“. Der Begriff „Grundsatz“ ist hier erstmals im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC zu versehen. Schon bei der Präambel bestätigt sich also die gerade eben geäußerte Vermutung, dass auch in der Charta der Terminus Grundsatz nicht einheitlich verwendet wird. Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind ausschließlich die Grundsatznormen im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC. Für ihre Auslegung sind vor allem die Art. 51 Abs. 1 und 52 Abs. 5 GRC bedeutsam. Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC verspricht, dass die Union und die Mitgliedstaaten (im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts)52 die „Rechte“ „achten“, sich an die „Grundsätze“ „halten“ und diese53 „fördern“. Art. 52 Abs. 5 GRC, dessen 50 Vgl. Meyer, in: ders. (Hrsg.), Charta, Präambel Rn. 34; Stern/Tettinger, in: dies. (Hrsg.), Charta, Präambel A Rn. 31. Ausführlich Bogdandy, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 149 (156 ff.). Siehe dazu auch oben Teil 2, III. 1. e). 51 EuGH, Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453 Rn. 177 ff. (Britisch American Tobacco). 52 Zur eingeschränkten Anwendbarkeit der Charta auf Maßnahmen der Mitgliedstaaten und damit auch zur eingeschränkten Bedeutung der Grundsatznormen siehe ausführlich unten Teil 4, III. 1. und 2. 53 Auf was sich das „deren“ in Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC bezieht ist nicht ganz klar. Dazu unten Teil 3, II. 5. a).

II. Der Begriff des Grundsatzes in der Charta

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Wortlaut bereits oben wiedergegeben wurde,54 verpflichtet im Wesentlichen zur Umsetzung der Grundsatznormen und schränkt gleichzeitig deren Klagbarkeit ein. Im folgenden Abschnitt sollen zunächst vier grundlegende Fragen zu den Grundsatznormen beantwortet werden. Die Antworten, die sich alleine aus der Charta ergeben müssten, sollen anschließend als Ausgangspunkt für die weitere Untersuchungen dienen. Die Fragen sind folgende: (1) Sind die Grundsätze verschieden zu den Grundrechten? (dazu 2.) (2) Ist die Normkategorie der Grundsätze auf die Charta begrenzt? (dazu 3.) (3) Sind die Grundsatznormen verbindlich? (dazu 4.) (4) Welche Gewährleistungsgehalte weisen die Grundsatznormen auf? (dazu 5.) 2. Die Grundsätze als von den Grundrechten differierende Normkategorie Die Präambel verwendet in ihrem Absatz 7 die drei Begriffe „Rechte“, „Freiheiten“ und „Grundsätze“. Wie bereits dargelegt,55 ist die gesonderte Erwähnung der Freiheiten neben den Rechten ausschließlich der französischen Rechtstradition geschuldet, in der seit jeher der Begriff des Rechts einen engeren Anwendungsbereich aufweist als beispielsweise der Begriff des subjektiven Rechts im deutschen Recht und die Freiheitsrechte nicht umfasst.56 Wenn nun aber die Freiheiten als Unterfall der Grundrechte eigens aufgeführt sind, wäre es durchaus denkbar, dass es sich bei den erwähnten Grundsätzen auch nur um spezielle Grundrechte handelt. Alleine aus der Präambel lässt sich daher die Frage nicht beantworten, ob die hier zu untersuchenden Grundsatznormen überhaupt eine von den Grundrechten differierende Normkategorie darstellen. Gleichwohl muss Tettinger57 sicherlich zugestimmt werden, dass bereits Absatz 7 der Präambel einer allzu starken Nivellierung von Grundrechten und Grundsätzen entgegenzuwirken versuchen scheint.58 Mehr Aufschluss über das Verhältnis zwischen Rechten und Grundsätzen bringt Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC. Diese Vorschrift verzichtet im Unterschied 54

Siehe oben Teil 1, II. 1. Siehe oben Teil 1, Fn. 41. 56 Vgl. Jarass, Die EU-Grundrechte, § 7 Rn. 1; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 25; Sonnenberger/Autexier, Einführung in das französische Recht, S. 78. 57 Vgl. Tettinger, NJW 2001, 1010 (1011). Vgl. auch Meyer, in: ders. (Hrsg.), Charta, Präambel Rn. 51; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Präambel Rn. 17. 58 Vgl. nun auch Art. 6 Abs. 1 EUV in der Fassung des Vertrages von Lissabon. 55

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

zum 7. Absatz der Präambel auf die Erwähnung des Begriffs der Freiheiten. Die Grundsätze sind dagegen weiterhin neben den Rechten genannt. Zudem fällt auf, dass den beiden Normkategorien unterschiedliche Verben beigeordnet sind. Während Rechte „geachtet“ werden, „hält“ man sich an Grundsätze. Ob sich das Verb „fördern“ nur auf die Grundsätze oder auch auf die Grundrechte bezieht, ist nicht ganz klar. Auf diese Frage wird sogleich noch näher einzugehen sein. Aus dieser Gegenüberstellung von Grundrechten und Grundsätze lässt sich jedenfalls folgern, dass den Grundsätzen im Gegensatz zu den Freiheiten eine eigenständige Bedeutung zukommt. Zumindest in einer Hinsicht müssen sich Grundrechte und Grundsätze also unterscheiden.59 Die Erläuterungen der Charta zu Art. 52 Abs. 560 stützen dieses Verständnis. Auch die Diskussionen um die sozialen Grundrechte61 in den beiden Konventen zeigen, dass die Differenzierung zwischen Rechten und Grundsätzen bewusst vorgenommen worden ist.62 Mit Aufnahme des Art. 52 Abs. 5 in die Charta wird nunmehr ausdrücklich klargestellt, dass es sich bei den Grundsätzen gerade nicht um (herkömmliche) Grundrechte handelt. Obgleich dies fast im gesamten Schrifttum so gesehen wird,63 enthält ein Satz in den Erläuterungen der Charta zu Art. 52 Abs. 5 eine hierzu scheinbar gegensätzliche Aussage. Nach dieser könnten manche Charta-Artikel sowohl Elemente eines Rechts als auch eines Grundsatzes enthalten. Das sei z. B. bei den Artikel 23, 33 und 34 GRC der Fall.64 Daraus folgern nun manche, dass einige Gewährleistungen der Charta als Grundrechte wie auch als Grundsätze einzustufen wären. Borowsky65 beispielsweise scheint der 59 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45a; Folz, in: Vedder/Heinschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. II-112 Rn. 12 ff. A. A. (noch vor Aufnahme des Art. 52 Abs. 5 GRC) Dutheil de la Rochère, Revue du Marché commun et de l’Union européenne 2000, 674 (677). 60 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5 GRC). 61 Siehe zum Begriff des sozialen Grundrechts oben Teil 2, III. 2. 62 Ausführlich dazu oben Teil 2, I. 2. Vgl. auch das Arbeitspapier 23 der Arbeitsgruppe II S. 4, in dem bestätigt wird, dass „the proposal of a new Article 52 (5) confirms the distinction between rights and principles which has been an important element (. . .)“. Vgl. ebenso den Abschlussbericht CONV 354/02 der Arbeitsgruppe II S. 8. Vgl. auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 33. 63 Vgl. statt vieler Folz, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. II-112 Rn. 13; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 13 ff.; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 101; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 72 ff. A. A. (noch vor Aufnahme des Art. 52 Abs. 5 GRC) Engels, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Unteilbarkeit auf Europäisch, S. 7 (9); Dutheil de la Rochère, Revue du Marché commun et de l’Union européenne 2000, 674 (677). 64 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5 GRC). 65 Vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45d. Vgl. auch Prechal, Liber Amicorum Kellermann, S. 177 (184).

II. Der Begriff des Grundsatzes in der Charta

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Auffassung zu sein, dass ähnlich wie im deutschen Verfassungsrecht die Grundrechte der Charta (insbesondere das Grundrecht der Menschenwürde aus Art. 1 GRC) nicht nur einen subjektiven Gehalt aufwiesen, sondern zugleich über eine objektive Dimension verfügten und insoweit auch als Grundsätze zu begreifen wären. Demgegenüber versteht Jarass die Bemerkung in den Erläuterungen dahingehend, dass manche Chartagewährleistungen möglicherweise66 in einen Kernbereich, der ein Recht enthält, und einen Randbereich, der lediglich einen Grundsatz vermittelt, aufgespaltet werden müssten.67 Beiden Ansichten kann jedoch nicht zugestimmt werden. Borowsky verkennt die eigenständige Bedeutung der Grundsatznormen in der Charta. Bei einem Grundsatz handelt es sich nicht bloß um das objektive Gegenstück eines subjektiven Grundrechts im Sinne der Lüth-Rechtsprechung des BVerfG68, sondern um zwei voneinander verschiedenen Normkategorien mit unterschiedlichen Rechtsfolgen.69 Eine einzelne Norm70 kann nicht zugleich die Rechtsfolgen eines Grundsatzes und die eines Grundrechts auslösen.71 Eine dahingehende Doppelqualifikation von Chartabestimmungen ist aus logischen Gründen nicht möglich. Die Regelung des Art. 52 Abs. 5 GRC gilt entweder (bei Grundsätzen) oder sie gilt eben nicht (bei Grundrechten). Demgegenüber ist Jarass’ Vorschlag abzulehnen, weil die Aufspaltung einer Norm in Kern- und Randbereich die Unterscheidung zwischen Grundrechten und Grundsätzen weiter erschweren und einer Nivellierung beider Normkategorien Tür und Tor öffnen würde.72 Der Satz in den Erläuterungen ist anders zu verstehen. Es muss zwischen „Artikel“ und „Normsatz“73 differenziert werden.74 Im Gegensatz zu einem 66 Jarass denkt diese Möglichkeit nur an, lehnt sie aber letztlich wohl selbst ab, vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 28 a. E. 67 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 28. 68 BVerfGE 7, 198 (Lüth). Vgl. dazu auch Hufen, Staatsrecht II, § 5 Rn. 3 m. w. N.; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 76 ff. m. w. N. 69 So auch Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 28; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 17; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 101; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 72 f. 70 Zum Begriff siehe oben Teil 3, I. 2. a). 71 A. A. wohl auch Prechal, in: Liber amicorum Kellermann, S. 177 (183 f.). 72 So auch Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 72 f. 73 Siehe zum Begriff des Normsatzes oben Teil 3, I. 2. a). 74 Nicht richtig Schmittmann, Rechte und Grundsätze, der lediglich zwischen Absätzen bzw. Sätzen unterscheiden will. Es ist jedoch prinzipiell möglich, dass ein Satz mehrere Normsätze enthält, die im Hinblick auf die Einordnung als Grundrecht und Grundsatz unterschiedlich bewertet werden müssen. Vgl. hierzu Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC („Recht auf Schutz vor Entlassung aus einem mit der Mutterschaft zusammenhängen Grund“). In dieser Variante enthält Art. 33 Abs. 2 GRC nach hier

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

einzelnen Normsatz, der nicht gleichzeitig dem Regelungsregime zweier Normkategorien unterfallen kann, ist dies bei einem Charta-Artikel mit mehreren eigenständigen Gewährleistungen sehr wohl möglich.75 Als Beispiel sei Art. 34 GRC genannt: Nach dessen Abs. 3 „[. . .] anerkennt und achtet die Union das Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für eine Wohnung [. . .][für alle]76, die nicht über ausreichende Mittel verfügen [. . .]“. Dieser Absatz 3 des Art. 34 zielt überwiegend auf Schutz und Leistung ab und ist insoweit als Grundsatz im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC einzustufen.77 Demgegenüber beinhaltet Art. 34 Abs. 2 einen Anspruch auf diskriminierungsfreien Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und den sozialen Vergünstigungen und enthält damit ein Grundrecht in Form eines derivativen Teilhaberechts.78 Art. 34 Abs. 2 GRC gewährt im Übrigen nicht mehr als ohnehin bereits jetzt über den Unionsbürgerstatus79 oder die Grundfreiheiten80 verlangt werden kann.81 Wiederum einen bloßen Grundsatz enthält Art. 34 Abs. 1 GRC.82 Diese Vorvertretener Auffassung ein Grundrecht, nämlich eines auf Nichtdiskriminierung aus Gründen des Geschlechts (vgl. schon Art. 21 Abs. 1 GRC). Siehe unten Teil 5, V. 2. f). 75 So auch Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 28; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EVU/EGV, Art. 52 GRC Rn. 17; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 101. 76 Einfügung durch den Verfasser. 77 Ganz h. M., vgl. statt vieler Folz, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. II-95 Rn. 9; Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 29, § 32 Rn. 2, 21; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EVU/EGV, Art. 34 GRC Rn. 4; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 101 mit Fn. 283; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 121. Zur näheren Begründung dieser Einordnung siehe unten Teil 5, V. 2. g). 78 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EVU/EGV, Art. 34 Rn. 4, 8 f.; Nußberger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 34 Rn. 104, 117; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 120 f. A. A. Folz, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. II-95 Rn. 8, der jedoch übersieht, dass Art. 34 Abs. 2 GRC einen Wohnsitzwechsel fordert, so dass diese Garantie nicht auf rein inländische Sachverhalte anzuwenden ist (dies ergibt sich auch aus Art. 51 Abs. 1 GRC). 79 EuGH, Rs. C-85/96, Slg. 1998, I-2691 (Martinez Sala); Rs. C-184/99, Slg. 2001, I-6193 (Grzelczyk); Rs. C-209/03, Slg. 2005, I-2119 (Bidar). Vgl. dazu Bode, EuZW 2005, 279 ff. 80 Vgl. dazu die Rspr. des EuGH zu Art. 7 der VO 1612/48. Zum Ganzen vgl. Nußberger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 34 Rn. 121 ff. m. w. N. 81 Vgl. dazu Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EVU/EGV, Art. 34 Rn. 8 f.; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 34 GRC Rn. 2 mit Fn. 4 unter Hinweis auf die VO (EWG) Nr. 1612/68 des Rates v. 15. Oktober 1968 und die VO (EWG) Nr. 1408/71 des Rates v. 14. Juni 1971. 82 So die ganz h. M., vgl. statt vieler Folz, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. II-95 Rn. 6; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EVU/EGV, Art. 34 GRC Rn. 4, Art. 52 Rn. 28; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.),

II. Der Begriff des Grundsatzes in der Charta

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schrift garantiert den Zugang zu und damit Teilhabe an den Leistungen der sozialen Sicherheit. Sie soll jedoch – dies stellen die Erläuterungen zur Charta ausdrücklich klar83 – keine neuen Ansprüche vermitteln. Die Einordnung als Grundsatz sichert diesen Willen der Konventsmitglieder ab.84 Art. 34 enthält also tatsächlich Grundrechte und Grundsätze, so wie es in den Erläuterungen der Charta zu Art. 52 Abs. 5 GRC ausgesagt wird. Einzelnen Gewährleistungen innerhalb des Art. 34 können aber jeweils nur einer Normkategorie zugeordnet werden. Gleiches gilt für die Art. 23 und 33 GRC, die in den Erläuterungen als Beispiele für Mischartikel genannt werden, lässt sich aber beispielsweise auch auf die Art. 24 und 32 GRC übertragen. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesen Artikeln erfolgt im fünften Teil der Abhandlung. 3. Die Grundsätze als besondere Normkategorie der Charta Bevor mit einer genaueren Untersuchung der Grundsatznormen begonnen werden kann, muss – um sozusagen das Terrain der nachfolgenden Arbeiten abzustecken – zunächst die Frage geklärt werden, ob es sich bei den Grundsätzen um ein spezifisches Problem der Grundrechtecharta handelt oder ob diese Normkategorie beispielsweise auch im EG-Vertrag zu finden ist. Einen ersten Hinweis zur Beantwortung dieser Frage erhält man bereits im siebten Absatz der Präambel. Dort ist die Rede von den „nachstehend aufgeführten85 Rechte[n], Freiheiten und Grundsätze[n][, die die Union anerkennt]“86. Die Problematik der sog. Grundsätze scheint sich also auf die Europäische Grundrechtecharta zu begrenzen. Diese Ansicht wird durch Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRC bestätigt, dessen Anordnungen sich ausdrücklich auf „[d]ie Bestimmungen dieser Charta“ beziehen. Etwas anderes lässt sich auch nicht aus den Erläuterungen der Charta zu Art. 52 Abs. 5 folgern,87 die als Vergleichsmaßstab für die Grundsatznormen sowohl das VorsorCharta, Art. 52 Rn. 101 mit Fn. 283; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 120. A. A. (für ein Grundrecht) Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 179 ff. m. w. N.; Krieger, in: Marauhn/Grote (Hrsg.), Kap. 6 Rn. 95, 102. Unschlüssig Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 29, § 32 Rn. 2. Die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 27 (zu Art. 34 Abs. 1) sprechen in Zusammenhang mit Art. 34 Abs. 1 GRC von einem Grundsatz. Siehe zum Ganzen auch unten Teil 5, V. 2. g). 83 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 27 (zu Art. 34 Abs. 1 GRC). 84 Ausführlich zum Ganzen unten Teil 3, II. 5. a) und c). 85 Hervorhebung durch den Verfasser. 86 Hinzufügungen und Umstellungen durch den Verfasser. Vgl. nun auch Art. 6 Abs. 1 EUV in der Fassung des Vertrags von Lissabon. 87 ABl. EU C 303 vom 14. Dezember 2007 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5 GRC).

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

geprinzip aus Art. 174 Abs. 2 EGV als auch die Grundsätze des Agrarrechts aus Art. 33 EGV heranziehen. Selbst wenn es sich bei den Grundsatznormen wie hier vertreten um eine spezielle Normkategorie der Charta handelt, heißt dies nämlich nicht, dass der EG-Vertrag nicht Bestimmungen enthalten könnte, die diesen Grundsätzen sehr stark gleichen oder eventuell sogar als Vorlage für die Grundsätze gedient haben (vgl. auch Art. 52 Abs. 2 GRC).88 Bestimmungen des EG-Vertrages mit ähnlicher Wirkweise werden im Folgenden deshalb vergleichend herangezogen, die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit beziehen sich jedoch einzig auf die Grundsätze der Charta und können auf andere Normgruppen nicht unbesehen übertragen werden. 4. Die Verbindlichkeit der Grundsatznormen Eine weitere Frage, die sich in Zusammenhang mit den Grundsatznormen stellt, ist die nach deren Verbindlichkeit. Handelt es sich bei den Grundsatznormen um rechtsverbindliche Verpflichtungen, die stets zu berücksichtigen sind, oder um bloß unverbindliche Progammsätze, also rein politisch zu verstehende Absichtserklärungen, die zwar beachtet werden können, aber eben nicht zwingend beachtet werden müssen? Für Letzteres lässt sich auf den ersten Blick die Regelung des Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRC anführen, nach der die Grundsätze umgesetzt werden „können“, eine Umsetzung also scheinbar nicht verpflichtend ist. Für eine bloß unverbindliche Umsetzungsempfehlung spricht auch Satz 2 des Art. 52 Abs. 5. Gemäß dieser Bestimmung „können“ die Grundätze bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Umsetzungsakte herangezogen werden, „müssen“ es aber dem Schein nach nicht.89 Die Verwendung des Hilfsverbs „können“ anstelle von „sollen“ oder „müssen“ in Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRC ist jedoch anhand der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift leicht erklärbar.90 Die ursprüngliche englische Fassung lautete: „[. . .] the principles shall be implemented.“ Die britischen Konventsmitglieder befürchteten, dass die Formulierung als deontischer Normsatz91 trotz der ausdrücklichen 88

Siehe hierzu auch unten Teil 4, V. 1. Aus diesem Grund meint auch Winkler, Grundrechte, S. 185, dass die Grundsatzbestimmungen der GRC nicht als Handlungsaufträge (insbesondere Rechtsetzungsaufträge), sondern nur als Handlungsgrenzen zu verstehen seien. Sie könnten, müssten aber nicht umgesetzt werden. Für einen rein programmatischen Charakter der Grundsatznormen anscheinend auch Becker, in: ders./Maydell/Nußberger (Hrsg.): Die Implementierung internationaler Sozialstandards, S. 139 (162 mit Fn. 158). 90 Vgl. dazu auch Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 94. Vgl. dazu auch die Arbeitspapiere 23 und 26 der Arbeitsgruppe II. 89

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Regelung in Art. 52 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 GRC möglicherweise eine Umsetzungspflicht der Union zu Lasten der mitgliedstaatlichen Kompetenzen begründen hätte können. Sie wünschten aus diesem Grund eine Klarstellung. Darüber hinaus passt das Hilfsverb „können“ ohnehin besser, weil damit nochmals hervorgehoben wird, dass die Verpflichteten auf dem Gebiet der sozialen Grundrechte über einen weiten Ermessensspielraum verfügen, diese also nicht nur über das „Wie“, sondern auch über das „Ob“ der Umsetzung von Grundsätzen bestimmen können. Zudem betont die aktuelle Fassung des Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC, dass die Umsetzung von Grundsätzen nur eine Dimension dieser Normgruppe ist. Daneben können die Grundsatznormen gemäß Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC eben auch bei der Auslegung und Entscheidung über die Rechtsmäßigkeit von Umsetzungsakten herangezogen werden, was auf eine Art Abwehrdimension hindeutet.92 In Satz 2 des Art. 52 Abs. 5 GRC wurde das Hilfsverb „können“ offensichtlich deshalb gewählt, um klarzustellen, dass die Grundsatznormen nur in dieser Konstellation einklagbar sein sollen, sie aber keine Ansprüche auf ein Tätigwerden vermitteln. „Können“ ist hier folglich nicht als „nicht müssen“ im Sinne von normativer Unverbindlichkeit zu verstehen, sondern tatsächlich als „nicht können“ im Sinne einer Einschränkung der Justiziabilität. Dies kann man auch daran erkennen, dass in der englischen Fassung die Formulierung mit „shall“ beibehalten worden ist. Dass es sich bei den Grundsätzen um verbindliche Bestimmungen handelt, lässt sich überdies auch positiv begründen. Gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC „achten [die Union und die Mitgliedstaaten bei Durchführung des Unionsrechts] die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze[93] und fördern sie [. . .]. Das Verb „halten an“ bringt klar zum Ausdruck, dass die Grundsatznormen nicht bloß als unverbindliche Programmsätze, sondern ebenso wie die Grundrechte als verbindliche Chartabestimmungen einzustufen sind. Dem Verb „sich halten an“ wird kein anderer Aussagegehalt zuzumessen sein als dem Verb „achten“ in Bezug auf die Grundrechte. Beide Verben haben in der deutschen Sprache in etwa die gleiche Bedeutung. Entsprechendes gilt für die anderen Sprachfassungen. Im Französischen ist von „respectent les droits, observent les principes“ die Rede, im Englischen von „respect the rights and observe the principles.“ Dass mit den Verben „achten“ und „halten an“ keine unterschiedliche Aussage verbunden sein dürfte, zeigt auch Absatz 7 der Präambel. Dort wird das Verb „anerkennen“ für beide Normkategorien, Grundrechte wie Grundsätze, gebraucht. Die Verben 91 Im Englischen bedeutet „shall“ soviel wie „müssen, wenn man kann“, vgl. Hornby, Oxford Advanced Learners Dictionary, „shall“. 92 Vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45a; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 19 und Art. 52 Rn. 94, 100. 93 Hervorhebung durch den Verfasser.

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„achten“, „halten an“ und „anerkennen“ haben in der Charta also offensichtlich völlig beliebig Verwendung gefunden. Auch geben die Erläuterungen zur Charta keine Erklärung für eine bestimmte Zuordnung der Verben zu einer der Normkategorien.94 Schließlich ergibt sich die Verbindlichkeit der Grundsatznormen aus der Entstehungsgeschichte der Charta. Wie eingangs schon erwähnt,95 sollten nach dem Mandat von Köln bloße Zielbestimmungen keine Aufnahme in die Europäische Grundrechtecharta finden.96 Bei den Zielbestimmungen des EG-Vertrages handelt es sich – wie oben ausführlich dargestellt97 – durchweg um verbindliche Normen, deren Einhaltung zum Teil sogar durch den Einzelnen eingeklagt werden kann. Wenn nun aber schon Zielbestimmungen nicht kodifiziert werden sollten, um nicht die Bedeutung der Charta zu relativieren, hätte man im Umkehrrschluss erst recht nicht gewollt, wenn die Charta unverbindliche Vorschriften enthielte. Die Grundsatznormen stellen also verbindliche Garantien98 dar, die die Union und die Mitgliedstaaten bei Durchführung von Unionsrecht stets99 zu berücksichtigen haben.100 Die Grundsatznormen bedürfen also zwar möglicherweise der Konkretisierung, aber nicht der Normativierung.101 Dies gilt selbstverständlich nur dann, wenn – wovon der Verfasser ausgeht – der Vertrag von Lissabon ratifiziert wird und damit die Charta aufgrund der Verweisung in Art. 6 Abs. 1 EUV n. F. in Kraft treten kann.102

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Ähnlich Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 19 mit Fn. 30. 95 Siehe oben Teil 1, II. 1. 96 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates zu Köln v. 3./4. Juni 1999, Bulletin EU 6-1999 I.18., Punkte 44, 45. 97 Siehe oben Teil 2, III. 1. e). 98 Nochmals zur Erinnerung: Die Termini „Garantie“ und „Gewährleistung“ werden in der vorliegenden Arbeit als Oberbegriffe für die Grundrechte und Grundsätze verwendet. Eine Aussage über den subjektiven oder nur objektiven Gehalt der jeweiligen Vorschrift soll damit nicht verbunden sein. 99 Zur eingeschränkten Anwendbarkeit der Charta auf Maßnahmen der Mitgliedstaaten und damit auch zur eingeschränkten Bedeutung der Grundsatznormen in den Mitgliedstaaten siehe ausführlich unten Teil 4, III. 1. und 2. 100 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45a; Jarass, Die EU-Grundrechte, § 7 Rn. 30, 35; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 51 GRC Rn. 14; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Abs. 5 Rn. 94. Vgl. auch den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II CONV 354/02 S. 8. 101 In Anlehnung an Kahl, Umweltprinzip, S. 73 (noch vor Entstehung der Charta). 102 Siehe dazu schon oben Teil 1, I.

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5. Die Gewährleistungsgehalte der Grundsatznormen a) Vorüberlegungen Deutsche Verfassungsrechtler haben sich seit Georg Jellinek103 ausführlichst mit den verschiedenen Gehalten von Grundrechten beschäftigt und so über die Jahrzehnte eine heute umfassende Dogmatik der Grundrechte des Grundgesetzes entwickelt.104 Wie oben bereits kurz angedeutet,105 sind Grundrechte in erster Linie Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat (sog. status negativus). Sie wirken also gleichsam als Schutzschilder („shields“/„boucliers“) gegen staatliche Eingriffe; der gegenwärtige Status quo soll erhalten bleiben. Daneben weisen einzelne grundrechtliche Gewährleistungen106 aber auch eine leistungsrechtliche Dimension auf (sog. status positivus). Innerhalb der Gruppe der Leistungsgrundrechte (im weiteren Sinne) lassen sich insbesondere107 Schutzrechte108, originäre und derivative Teilhaberechte sowie Leistungsrechte (im engeren Sinne) unterscheiden.109 Schutzrechte verlangen staatliches Eingreifen gegen schädigende 103

Vgl. G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87, 94 ff. Zu Einzelheiten vgl. Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 12 ff.; Hufen, Staatsrecht II, § 5 Rn. 1 ff.; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 57 ff. m. w. N.; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Vor Art. 1 Rn. 27 ff., insb. 39 ff. m. w. N.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 167 ff. m. w. N. Vgl. auch G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87, 94 ff. 105 Siehe oben Teil 2, III. 1. a). 106 Vgl. die Auflistung bei Szczekalla, Schutzpflichten, S. 103 ff. 107 Mittlerweile ist auch die Bedeutung der Grundrechte für Verfahren und Organisation allgemein anerkannt, vgl. BVerfGE 53, 30 (55) (Mühlheim-Kärlich); Hufen, Staatsrecht II, § 5 Rn. 1, 11 ff., 16 ff. P. Häberle, VVDStRL 30, 1972, S. 82 ff. bezeichnet diese Dimension von Grundrechten in Anlehnung an die Statuslehre Jellineks als „status activus processualis“. Ob man diese verfahrens-/organisationsrechtlichen Garantien tatsächlich dem „status activus“ oder besser doch dem „status positivus“ zuordnen soll, kann hier dahinstehen. Vgl. zum Ganzen Denninger, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbStR V, § 113. 108 Viele im Schrifttum betonen primär die objektiv-rechtliche Funktion von Schutzrechten, vgl. statt vieler Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 20 ff.; Hufen, Staatsrecht II, § 5 Rn. 5 ff.; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Vor Art. 1 Rn. 32 ff. Diese objektiven Schutzpflichten vermitteln nach allgemeiner Ansicht aber auch subjektive Rechte zugunsten des Einzelnen, vgl. Jaeckel, Schutzpflichten, S. 58 ff. m. w. N.; Szczekalla, Schutzpflichten, S. 217 ff. m. w. N. Aufgrund des dem jeweils verpflichteten Organs zuerkannten weiten Ermessensspielraums sind subjektive Schutzpflichten bislang aber eher selten gerichtlich erfolgreich durchgesetzt worden, siehe dazu die Auflistung der Fälle bei Hufen, Staatsrecht II, § 5 Rn. 6. 109 Diese Einteilung ist neuerdings nicht mehr ganz unstreitig. Beispielsweise vertritt Poscher die Ansicht, dass sich insbesondere die Schutzrechte bereits aus der abwehrrechtlichen Dimension der Grundrechte herleiten ließen. Poscher beseitigt da104

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Handlungen Dritter, originäre Teilhaberechte gehen auf Schaffung, derivative auf diskriminierungsfreien Zugang zu öffentlichen Einrichtungen. Unter Leistungsrechten im engeren Sinne110 versteht man dagegen einen Anspruch auf konkrete, staatliche Hilfen wie beispielsweise Zahlung eines Existenzminimums oder die Bereitstellung einer angemessenen Unterkunft für Obdachlose.111 In diesen leistungsrechtlichen Konstellationen kann man sich die Grundrechte als Schwerter („swords“/„épées“) vorstellen, mit deren Hilfe der Staat zum Tätigwerden gezwungen werden kann, der gegenwärtige Status quo also verändert werden soll. Als dritten Status, also dritten Zustand des Bürgers gegenüber den Staat, hat Georg Jellinek den des aktiven Bürgers (sog. status activus) ausgemacht, worunter man das Recht „des Einzelnen versteht, „seine Freiheit im und für den Staat [zu betätigen]“112. Neben dieser subjektiven Dimension weisen Grundrechte nach ganz überwiegender Ansicht auch eine objektive Seite auf.113 Grundrechte stellen Wertentscheidungen des Verfassungsgebers dar,114 welche bei der Auslegung im Privatrecht zu beachten sind (sog. Ausstrahlungswirkung der Grundrechte).115 Darüber hinaus könnten – so jedenfalls die Auffassung vieler116 – aus einzelnen Grundrechten auch sog. Institutsgarantien bzw. inmit – zumindest teilweise – die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Abwehr- und Leistungsrechten, vgl. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 109 ff., 160 ff., 183 ff. u. a. Krit. dazu Hufen, Staatsrecht II, § 5 Rn. 4. 110 Zu dieser Unterscheidung vgl. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 395 ff. m. w. N.; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 60 m. w. N. Vgl. zum Ganzen G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87, 94 ff. 111 Auch dies ist nicht ganz unstrittig. Nach Auffassung Rengelings und Szczekallas handle es sich beim Recht auf das Existenzminimum nicht um ein Leistungsrecht im engeren Sinne, sondern um eine aus der Menschenwürde herrührende Schutzpflicht. Vgl. Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 790 ff. 112 Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 65. 113 BVerfGE 6, 55 (72 ff.); 7, 198 (205) (Lüth). Instruktiv zur Bedeutung der objektiven Dimension der Grundrechte Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 16 ff., 25 ff. m. w. N.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 178 ff. 114 Vielfach werden die Schutzpflichten auch aus der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte abgeleitet, vgl. statt vieler Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HbStR V, § 111 Rn. 80 ff. m. w. N.; Szczekalla, Schutzpflichten, S. 99 ff. m. w. N. 115 BVerfGE 7, 198 (Lüth). Vgl. Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 18; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 76 ff.; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Vor. Art. 1 Rn. 32 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 170. 116 Vgl. statt vieler Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 4; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 70 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 174. Die Einrichtungsgarantien gehen auf Carl Schmitt zurück, vgl. C. Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 140 ff.; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 170 ff.

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stitutionelle Garantien abgeleitet werden. Ob dieser Funktion neben der Einordnung der Grundrechte als Abwehr- und Leistungsrechte heute noch eine eigenständige Bedeutung zukommt, darf jedoch bezweifelt werden.117 Wenn überhaupt wird diese Dimension der Grundrechte nur noch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung relevant, wenn es um die Frage geht, ob eine staatliche Maßnahme den Kern einer grundrechtlichen Gewährleistung verletzt. So ist es dem Gesetzgeber sicherlich verwehrt, das Privateigentum komplett abzuschaffen.118 Eine mit der deutschen Grundrechtslehre vergleichbar detailliert ausgearbeitete Grundrechtsdogmatik des Gemeinschaftsrechts existiert wie bereits oben festgestellt119 bislang (noch) nicht.120 Aufgrund seiner begrenzten Kompetenz kann der EuGH nämlich nur punktuell und selektiv zu einzelnen grundrechtsrelevanten Fragen Stellung beziehen.121 Die Unterscheidung zwischen Abwehr- und Leistungsrechten ist aber auch dem EuGH nicht fremd. So entschied der Gerichtshof in der Rs. Kommission/Frankreich122, dass der eigentlich abwehrrechtlich ausgerichtete Schutzbereich der Grundfreiheiten auch eine leistungsrechtliche Komponente enthalte, der die mitgliedstaatlichen Stellen dazu verpflichte, gegen Maßnahmen privater Seite vorzugehen, die den freien Wahrenverkehr beeinträchtigen. Diese Rechtsprechung dürfte auf die Grundrechte übertragbar sein.123 Obgleich sich der EuGH zu dieser Frage noch nicht explizit äußern konnte, weisen 117 Kritisch auch Hufen, Staatsrecht II, § 5 Rn. 18, der zu Recht immer nur einen einzelnen Grundrechtsträger, nicht aber die Institution als solches schützen will. Ähnlich Pieroth/Kingreen, KritV 2002, 219 (224 ff.). Vgl. auch Jarass, in: ders./ Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 4. Zum Ganzen und in der Sache ähnlich Waechter, DV 1996, 74 (62). 118 BVerfGE 58, 137 (Pflichtexemplare); 58, 300 (339) (Nassauskiesung). Vgl. Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 14 Rn. 91 f.; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 14 Rn. 4. In diesem Fall würde zugleich gegen die Wesensgehaltsgarantie aus Art. 19 Abs. 2 GG verstoßen werden. 119 Siehe oben Teil 2, II. 120 Vgl. Kühling, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (597 ff.), der recht anschaulich die Grundrechtsdogmatik des Gemeinschaftsrecht als noch „in den Kinderschuhen“ steckend beschreibt. 121 So auch Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 22; Schütz/Bruha/König, Casebook Europarecht, S. 868. 122 EuGH, Rs. C-265/95, Slg. 1997, I-6959 Rn. 30 (Kommission/Frankreich); Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 Rn. 17 ff., 74 (Schmidberger). 123 Mittlerweile ganz h. M., vgl. statt vieler Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 22 ff. m. w. N.; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 589; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 19 ff. m. w. N.; Kühling, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (600 ff.); Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 5 Rn. 7 ff. m. w. N. Vgl. zum Ganzen ausführlich Suerbaum, EuR 2003, 390 ff. Kritisch Nicolaysen, EuR 2003, 719 (723 f.).

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neuere Entscheidungen124 darauf hin, dass er der Schutzdimension von Grundrechten aufgeschlossen gegenübersteht.125 Generell wird man sagen können, dass der Teil der deutschen Grundrechtsdogmatik, der sich mit den Funktionen der Grundrechte beschäftigt, sich nahezu vollständig auf die grundrechtlichen Gewährleistungen des Unionsrechts sinngemäß anwenden lässt. Zum einen beschäftigt sich die Lehre von den Grundrechtsfunktionen nämlich lediglich mit der Beschreibung grundrechtlicher Inhalte. Eine solche Theorie der Kategorisierung und Qualifizierung von Normen ist jedoch von der konkreten Ausgestaltung der jeweiligen Verfassung unabhängig, kann also auf die Grundrechte anderer Kodifikationen ohne Weiteres übertragen werden. Zum anderen kennen auch die allermeisten anderen Mitgliedstaaten eine solche funktionale Unterteilung der Grundrechte, sodass der EuGH aufgrund seiner Rechtsprechung zu den Allgemeinen Rechtsgrundsätzen, insbesondere zur Methode des wertenden Verfassungsvergleichs, nicht umhinkommen wird, diesen Teil der Grundrechtsdogmatik zu übernehmen.126 Selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht mittlerweile davon aus, dass Grundrechte nicht nur einen abwehrrechtliche, sondern auch eine leistungsrechtliche Komponente aufweisen.127 In der Europäische Grundrechtecharta ist diese Zweidimensionalität128 der Grundrechte nun in Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC kodifiziert worden, wenn es in dort heißt: „[Die Union und die Mitgliedstaaten bei Durchführung von Unionsrecht] achten [. . .] die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern[129] sie deren Anwendung entsprechend [. . .].“ Einige wenige im Schrifttum vertreten zwar die Auffassung, dass sich das Possessivpronomen „deren“ und damit auch das Verb „fördern“ nicht auf die Gruppe der „Rechte“ beziehe,130 doch handelt es sich hierbei um einen rein forma124 EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 Rn. 35 (Omega); Rs. C-288/89, Slg. 1991, I-4007 Rn. 22 f. (Gauda); Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689 Rn. 18 (Familiapress). 125 Zwar ist Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 25, Recht zu geben, dass diese Entscheidungen genaugenommen nicht die Frage zum Gegenstand hatten, ob eine Schutzpflicht bestand, sondern ob der jeweilige Mitgliedstaat schützend tätig werden durfte. Gleichwohl deuten diese Entscheidungen an, dass auch der EuGH die leistungsrechtliche Dimension von Grundrechten, wenn er denn einmal Gelegenheit dazu hat, anerkennen wird. 126 So auch in etwa Kühling, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (600). 127 EGMR v. 8. Juli 2003 (Flughafen Heathrow), Nr. 36022/97 = EuGRZ 2005, 584. Vgl. Jaeckel, Schutzpflichten, S. 124 ff.; Szczekalla, Schutzpflichten, S. 712 ff. 128 Man könnte auch von Dreidimensionalität sprechen, wenn man die Unionsbürgerrechte als separate Gruppe von Grundrechten begreifen will. 129 Hervorhebungen jeweils durch den Verfasser.

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len Streit. Es entspricht nämlich unabhängig vom konkreten Verständnis des Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC allgemeiner Meinung, dass zahlreiche Grundrechte der Charta aufgrund der Beschreibung ihres Normbereichs eine leistungsrechtliche Dimension ansprechen.131 Beispielsweise heißt es in Art. 1 GRC im Hinblick auf die Würde des Menschen: „Sie ist zu achten und zu schützen132“. Auch in Art. 6 GRC lässt sich eine Schutzdimension erkennen: „Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit133“. Darüber hinaus kann man Art. 14 Abs. 2 GRC als originäres Teilhaberecht auf Einrichtung eines unentgeltlichen Pflichtschulunterrichts begreifen.134 Art. 14 Abs. 1 GRC enthält ein derivatives Teilhaberecht auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung135 und in Art. 41 GRC hat mit dem Recht auf eine gute Verwaltung eine recht fortschrittliche verfahrensrechtliche Garantie Aufnahme in die Charta gefunden.136 Bei dem Anspruch auf Prozesskostenhilfe in Art. 47 Abs. 3 GRC handelt es sich um einen Leistungsanspruch im engeren Sinne.137 In Art. 9 GRC wird – wenn man so will – die Institutsgarantie der Ehe bzw. in Art. 12 GRC die institutionellen Garantien von Gewerkschaften und Parteien angedeutet. Weniger wichtig ist im Europarecht die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Gehalten der Grundrechte, weil, wie bereits ausführlich darge130 Vgl. Braibant, Charte, S. 252. So wie hier Jarass, EU-Grundrechte, § 5 Rn. 10; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 51 GRC Rn. 19; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 18. 131 Vgl. die in der vorstehenden Fn. 130 Genannten. 132 Hervorhebung durch den Verfasser. 133 Hervorhebung durch den Verfasser. 134 So wie hier Kempen, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 14 Rn. 14 f. m. w. N.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 14 GRC Rn. 3, Art. 51 Rn. 24. A. A., nur ein derivatives Teilhaberecht gewähren will Jarass, EUGrundrechte, § 19 Rn. 3. Gleiches dürfte für Art. 29 GRC (Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst) gelten. Vgl. zu letzterem und so wie hier Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 51 GRC Rn. 24. Nach h. M. vermittelt Art. 29 GRC dagegen nur ein derivatives Teilhaberecht, vgl. Jarass, EUGrundrechte, § 30 Rn. 2; Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 29 Rn. 4 m. w. N.; Lang, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 29 Rn. 5; Riedel, in: Meyer (Hrg.), Charta, Art. 29 Rn. 7. Siehe hierzu auch unten Teil 5, V. 135 So wie hier Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 14 Rn. 13; Kempen, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 14 Rn. 15; Jarass, EU-Grundrechte, § 19 Rn. 3. Zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen siehe ausführlich unten Teil 5, II. und III. 136 Vgl. Goerlich, DÖV 2006, 313; Kahl, VerwArch 2004, 1 ff. Zu den anderen Verfahrensgrundrechten vgl. Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 27. 137 Vgl. Blanke, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 47 GRC Rn. 19; Jarass, EU-Grundrechte, § 36 Rn. 1; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 51 Rn. 24.

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legt,138 das Europäische Verfahrensrecht im Gegensatz zum deutschen Verfahrensrecht rein objektiv ausgestaltet ist.139 Auf letzteres wird im Folgenden Abschnitt noch mehrfach zurückzukommen sein. Für die vorliegende Arbeit besonders interessant ist nun natürlich, welche Funktionen die sog. Grundsätze aufweisen. Dabei soll der Terminus „Funktion“ in Zusammenhang mit den Grundsatznormen vorerst nicht als Synonym für den Jellinek’schen Status-Begriff verstanden werden, also nicht im Sinne einer Beschreibung des Verhältnisses zwischen Bürger und Staat aus der Warte des Bürgers, sondern als bloße Kategorisierung staatlicher Verpflichtungen aus der Sicht des Staates selbst. Fragen wie die nach der Einklagbarkeit der Chartanormen durch den Einzelnen bleiben im Folgenden noch ausgeblendet. b) Die Abwehrfunktion von Grundsatznormen In Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC sichern die Union und die Mitgliedstaaten140 nicht nur zu, die Grundrechte zu „achten“, sondern sie versprechen auch, sich an die Grundsätze zu „halten“ und diese zu „fördern“. Aus der Gegenüberstellung der Verben „sich halten an“ und „fördern“ sowie aus dem Vergleich mit dem Verb „achten“ zu Bezug auf die Grundrechte lässt sich schließen, dass auch die Grundsatznormen der Charta über eine gewisse abwehrrechtliche Dimension verfügen.141 Dem Verb „sich halten an“ ist, wie bereits festgestellt,142 kein anderer Aussagegehalt zuzumessen als dem Verb „achten“, mit dem die Abwehrfunktion der Grundrechte beschrieben wird.143 138

Siehe oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (1). Gleichwohl treffen viele im Schrifttum in Anlehnung an die deutsche Dogmatik diese Unterscheidung vgl. Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 28; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 589; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 205 ff. Dogmatisch ist dies nicht falsch, aber eben von geringerer Bedeutung als im deutschen Verfassungsrecht. 140 Zur eingeschränkten Anwendbarkeit der Charta auf Maßnahmen der Mitgliedstaaten und damit auch zur eingeschränkten Bedeutung der Grundsatznormen siehe ausführlich unten Teil 4, III. 1. und 2. 141 Ganz h. M., vgl. statt vieler Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45a m. w. N.; Braibant, Charta, S. 46, 84 f., 252 f.; Burgorgue-Larsen, in: ders./ Levade/Picod (Hrsg.), Charte, Art. II-112 Rn. 42 ff.; Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 37; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 15; Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 7 Rn. 91; Turpin, RTDEur 2003, 615 (627 f.). 142 Siehe oben Teil 3, II. 4. 143 Ähnlich auch Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 19 mit Fn. 30. 139

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Dass die Grundsatznormen eine abwehrrechtliche Komponente aufweisen, ergibt sich im Übrigen auch aus Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC. Nach dieser Vorschrift können die Grundsätze vor Gericht bei der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit von Umsetzungsakten herangezogen werden. Insoweit stellten die Grundsätze also – neben anderen Gemeinschaftsbestimmungen – den Prüfungsmaßstab für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieser Akte dar und bezeugen somit deren abwehrrechtlichen Charakter.144 Zum gleichen Ergebnis kommt man, wenn man direkt den Normbereich einiger Grundsätze untersucht. Art. 37 GRC beispielsweise, der sowohl in den Erläuterungen zur Charta145 als auch von der ganz überwiegenden Ansicht im Schrifttum146 als Grundsatz eingestuft wird,147 lehnt sich an die Art. 2, 6 und 174 EGV an.148 Diese Bestimmungen besitzen jedoch auch schon nach geltendem Recht eine abwehrechtliche Seite, die die Union beim Erlass von Maßnahmen stets zu berücksichtigen hat.149 Die Erläuterungen der Charta zu Art. 52 Abs. 5 übertragen diese Wirkweise auf sämtliche Grundsatznormen, indem sie als Vergleichsmaßstab für deren Interpretation die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte zum umweltrechtlichen Vorsorgeprinzip des Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV heranziehen und damit unter anderem auf die abwehrrechtliche Funktion dieser Vorschrift Bezug nehmen.150 Daraus lässt sich zwar nicht folgern, dass tatsächlich jeder Grundsatz der Charta zur Eingriffsabwehr taugt. Vielmehr muss genau ermittelt werden, welcher konkrete Aussagegehalt jeder einzelnen Grundsatznorm zukommt. Doch wird sich bei den meisten Grundsatzbestimmungen wohl zumindest auch eine solche abwehrrechtliche Dimension feststellen lassen.151

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Instruktiv Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45a m. w. N. ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5). 146 Vgl. statt vieler Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 37 GRC Rn. 1, 3; Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 24, § 32 Rn. 3; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 97; Rest, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 37 Rn. 17. 147 Siehe zur Einordnung der verschiedenen Chartabestimmungen unten Teil 5, V. 148 Vgl. die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 27 (zu Art. 37). Vgl. auch Calliess, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 37 GRC Rn. 1 f.; Jarass, EU-Grundrechte, § 34 Rn. 1 f.; Rest, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 37 Rn. 1. 149 Ganz h. M., vgl. statt vieler EuGH, Rs. C-17/90, Slg. 1991, I-5253 Rn. 11 (Pinaud Wieger); Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EGV Rn. 5 ff.; 9, 24 m. w. N.; Jahns-Böhm, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EGV Rn. 22 f.; Kahl, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EGV Rn. 28. 150 Siehe dazu ausführlich oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (2) (b). 151 Ganz h. M., siehe die in Fn. 141 Genannten. 145

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

c) Die Leistungsfunktion von Grundsatznormen Kernelement der Grundsatznormen ist jedoch deren Leistungsfunktion. Das ergibt sich eindeutig aus Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC, wonach die Union und die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, unter Beachtung ihrer Zuständigkeiten152 die Grundsätze zu achten und zu „fördern“.153 In Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRC wird diese Förderpflicht wiederholt. Zwar ist letztere Vorschrift nicht als deontischer Normsatz formuliert, wie aber bereits oben erläutert154 kann dieser Umstand damit erklärt werden, dass die britischen Konventsmitglieder andernfalls einen Kompetenzkonflikt befürchteten, der mit der nunmehr geltenden Fassung vermieden werden sollte. Des Weiteren lässt sich die leistungsrechtliche Seite der Grundsätze auch dem jeweiligen Normbereich dieser Bestimmungen selbst entnehmen. Beispielsweise verlangt Art. 37 GRC nicht nur die Einhaltung des gegenwärtig bestehenden Umweltschutzniveaus, sondern fordert darüber hinaus auch eine stetige Verbesserung des Umweltschutzes. Die Union und die Mitgliedstaaten haben also nicht nur den Status quo zu sichern (abwehrrechtliche Komponente), sondern immer auch neue Maßnahmen zum Schutze der Umwelt zu ergreifen, um so einen möglichst weitgehenden Umweltschutz in Europa zu erreichen (leistungsrechtliche Komponente). Grundsatznormen zielen insoweit auf ein Tätigwerden der zuständigen Organe ab. Nicht gefolgt werden kann dagegen dem Teil des Schrifttums, der die Ansicht vertritt, dass den Grundsatznormen, die mit „die Union achtet und anerkennt“ eingeleitet werden, ausschließlich eine abwehrrechtliche Dimension zukomme.155 Erstens vermögen Verben wie „achten“ und „anerkennen“ nicht nur die abwehrrechtliche Seite einer Vorschrift zu beschreiben. Auch ein Rechtssatz mit leistungsrechtlichem Inhalt kann beachtet oder anerkannt werden, und zwar insofern, als die versprochene Leistung am Ende tatsächlich gewährt wird. Dies zeigt recht deutlich Art. 26 GRC, der von den Erläuterungen der Charta156 und der ganz überwiegenden Meinung im Schrifttum157 als Grundsatz eingeordnet wird. Gemäß diesem Grundsatz anerkennt 152 Zur eingeschränkten Anwendbarkeit der Charta auf Maßnahmen der Mitgliedstaaten und damit auch zur eingeschränkten Bedeutung der Grundsatznormen siehe ausführlich unten Teil 4, III. 1. und 2. 153 Vgl. statt vieler Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 34, 52 Rn. 45a; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 51 Rn. 29; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 17. 154 Siehe dazu oben Teil 3, II. 4. 155 Vgl. Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 100. 156 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5). 157 Ganz h. M., vgl. statt vieler Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 29; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 Rn. 100; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 Rn. 16.

II. Der Begriff des Grundsatzes in der Charta

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und achtet die Union „den Anspruch158 von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft“. Man wird nun aber doch nicht sagen können, dass mit dieser Garantie ausschließlich nur ein möglicherweise bestehender Anspruch des Einzelnen gegen einen Mitgliedstaat geschützt werden soll. Vielmehr dürfte diese Gewährleistung dahingehend zu verstehen sein, dass die Union diesem Anspruch selbst gerecht werden will, indem sie sich ebenfalls zur Förderung der Gleichberechtigung und Integration behinderter Menschen verpflichtet sieht.159 Entscheidendes Argument dafür, dass jede Grundsatznorm zumindest auch eine leistungsrechtliche Komponente aufweisen muss, ist zweitens jedoch das Folgende: Erst die leistungsrechtliche Seite der Grundsätze war der Anlass dafür, diese Bestimmungen nicht als „echte“ Grundrechte einzuordnen, weil man – dies zeigen die Diskussionen in den beiden Konventen160 – aufgrund der (vermuteten) umfassenden Einklagbarkeit der Grundrechte Belastungen für die öffentlichen Haushalte und Gefahren für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft befürchtete.161 Aus diesem Grund konnte man sich erst dann auf die gegenwärtige Fassung der Grundrechtecharta verständigen, als man als „Klarstellung“162 die Regelung des Art. 52 Abs. 5 in die Charta einfügte.163 Gewährleistungen, denen überhaupt keine leistungsrechtliche Dimension zukäme, hätte man nun aber gar nicht fürchten müssen. Letztere hätten weder die Staatsfinanzen noch die heimische Wirtschaft in Gefahr bringen können. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass – dies deutet Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC eben an – all die Garantien, die letztlich als Grundsätze eingeordnet werden (müssen),164 zumindest auch eine leistungsrechtliche Komponente aufweisen.165 Nebenbei sei noch Folgendes angemerkt: Die Angst vor der leistungsrechtlichen Dimension der Grundsatznormen erscheint nach hier vertretener Ansicht ohnehin übertrieben. Wie oben bereits festgestellt,166 sind auf der 158

Hervorhebung durch den Verfasser. So auch Jarass, EU-Grundrechte, § 28 Rn. 10; Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 26 Rn. 12. So wohl auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 26 GRC Rn. 1 ff. 160 Siehe dazu oben Teil 2, I. 2. 161 Vgl. dazu Prechal, Liber Amicorum Kellermann, S. 177 (178 f.). 162 Vgl. dazu Arbeitspapiere 4 und 16 der Arbeitsgruppe II. 163 Vgl. Dutheil de la Rochère, CMLRev. 2004, 345 (352); Prechal, Liber Amicorum Kellermann, S. 177 (178). 164 Zur Einordnung der Chartabestimmungen siehe unten Teil 5, V. 165 So wohl auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 34; Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 22, 26, 30 ff.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 51 GRC Rn. 29. Siehe hierzu ausführlich unten Teil 5, III. 166 Siehe oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (1). 159

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

Ebene der Union Klagen auf Normerlass unbekannt. Auch lassen sich originäre Normerlassklagen in den Mitgliedstaaten – unabhängig von Art. 52 Abs. 5 GRC – nicht auf Gewährleistungen der Grundrechtecharta stützen, weil die Charta gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC nur bei Durchführung von Unionsrecht anwendbar ist. Aufgrund dieses Zusammenspiels von Europäischem Prozessrecht und Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC hätte ein einklagbarer Leistungsgehalt von Grundsatznormen folglich von vornherein nur ihm Rahmen der Auslegung bereits bestehender Gesetze oder bei Nichteinhaltung konkreter Vorgaben der Union durch die Mitgliedstaaten eine Rolle spielen können. Mit Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC wurde nun auch diese, bislang verbliebene Lücke geschlossen.167 d) Die Bestandsschutzgarantie der Grundsatznormen aa) Das Rückschrittsverbot als spezielle Ausformung der Abwehrfunktion Neben diesen beiden herkömmlichen Funktionen komme den Grundsatznormen – so jedenfalls die Meinung einiger namhafter Autoren168 – eine weitere Funktion zu. Die Grundsätze normierten ein Rückschrittsverbot, welches verhindere, dass der einmal erreichte Standard ohne Weiteres wieder zurückgängig gemacht werden kann. Bei einem Rückschrittsverbot handelt es sich um eine Dimension, die zwischen der abwehrrechtlichen und leistungsrechtlichen Dimension einer Norm liegt. Das Verbot untersagt den Eingriff in den bestehenden Status quo (abwehrrechtliche Komponente), welcher zuvor durch Umsetzungs- oder Fördermaßnahmen erst einmal geschaffen worden sein musste (leistungsrechtliche Komponente). Auffällig ist, dass diejenigen, die die These von den Grundsatznormen als Rückschrittsverbote vertreten, überwiegend aus Frankreich, Spanien oder Portugal stammen, aus Ländern also, in deren Verfassungen169 Bestandsschutzgarantien in der ein oder anderen Ausgestaltung zu finden sind.170 Aber auch in der Bundesrepublik wird bei einigen Gewährleistungen des Grundgesetzes ein Rückschrittsverbot diskutiert. Während die Mehrheit in Deutschland bei sozialen Grundrechten und dem Sozialstaatsprinzip171 eine 167

Siehe zu diesem Problem auch unten Teil 4, III. 1. und 2. Vgl. Braibant, Charte, S. 46, 84 f., 252 f.; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45c; Burgorgue-Larsen, in: ders./Levade/Picod (Hrsg.), Charte, Art. II-112 Rn. 50 ff.; Meyer/Engels, ZRP 2000, 368 (371); de Schutter, in: ders./ Nihoul (Hrsg.), Droits, S. 112; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 828. 169 Siehe dazu ausführlich oben Teil 2, IV. 2. 170 Vgl. dazu instruktiv Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (368 ff. m. w. N.). 168

II. Der Begriff des Grundsatzes in der Charta

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solche Rechtsfolge ablehnt, wird sie beim Staatsziel Umweltschutz/Tierschutz aus Art. 20a GG172 dagegen weitgehend bejaht.173 Bevor man sich mit dieser angeblich zusätzlichen Funktion der Grundsatznormen näher beschäftigen kann, muss zunächst jedoch geklärt werden, worin sich ein solches Rückschrittsverbot von den herkömmlichen Funktionen einer Norm überhaupt unterscheiden würde. Eine erste Antwort auf diese Frage gibt bereits die Bezeichnung dieser denkbaren Funktion als „Rückschritts- bzw. Rücknahmeverbot“. Zurücknehmen lassen sich nur Maßnahmen, die man selbst erlassen hat. Die Normierung von Rücknahmeverboten träfe daher ausschließlich den jeweiligen Normgeber. Hätte man nur verhindern wollen, dass die Union mitgliedstaatliche Standards einschränkt oder beseitigt – dies war wohl einer der Hauptgründe für die Aufnahme sozialer Garantien in die Charta174 –, hätte die Kodifizierung sozialer Garantien mit rein abwehrrechtlichem Gehalt genügt. Die zusätzliche Funktion von Normen als Rückschrittsverbote käme also erst und nur dann zum Tragen, wenn die Union oder die Mitgliedstaaten eigene Umsetzungsakte erlassen haben und diese dann später wieder aufheben wollen. In Bezug auf die Mitgliedstaaten ist die Bedeutung von möglichen Rückschrittsverboten jedoch generell eher gering. Dies hat strukturelle Gründe. Die Grundrechtecharta muss von den Mitgliedstaaten lediglich bei der Durchführung von Gemeinschaftsrecht beachtet werden (vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC). Was genau unter „Durchführung von Unionsrecht“ zu verstehen ist, darauf wird noch später näher einzugehen sein.175 An dieser Stelle genügt es zu wissen, dass die Mehrzahl der Fälle solche der Umsetzung von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten sein werden. Fördert ein Mitgliedstaat beispielsweise die Umwelt, ohne durch eine Verordnung oder Richtlinie der Union dazu verpflichtet zu sein, setzt er nicht Gemeinschaftsrecht um, sondern wird aus eigenem Antrieb tätig. Die Rücknahme einer solchen 171

Ganz h. M., vgl. BVerfGE 39, 302 (AOK); BSGE 15, 71 (76); 24, 285 (289); Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 576; Neumann, DVBl. 1997, 92 (97); Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 116. A.A. Kittner, in: Wassermann (Hrsg.), AK GG, 2. Aufl. 1989, Art. 20 Abs. 1–3, IV, Rn. 29. Vgl. dazu auch Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 231 ff. m. w. N.; Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte, S. 21 ff. m. w. N. Umfassend Schlenker, Soziales Rückschrittsverbot. 172 Vgl. Epiney, in: v. Mangoldt/Klein (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 68 m. w. N.; Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 44; Schultze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 44 ff., 71 m. w. N. Ähnlich Sommermann, in: v. Münch/ Kunig (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 27 m. w. N. A. A. Kloepfer, in: BK, Art. 20a Rn. 47, der nur einen Minimalstandard als geschützt ansieht. 173 Siehe hierzu bereits oben Teil 2, IV. 2. a) cc). 174 Siehe hierzu bereits oben Teil 2, I. 2. 175 Siehe dazu unten Teil 4, III. 1.

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

Fördermaßnahme richtet sich deshalb nicht nach dem Unions-, sondern nach dem nationalen Verfassungsrecht. Eine mögliche Interpretation der Grundsatznormen zusätzlich als Rückschritts- bzw. Rücknahmeverbote wäre aufgrund fehlender Anwendbarkeit der Charta in diesen Konstellationen deshalb bedeutungslos. Das Gleiche dürfte gelten, wenn ein Mitgliedstaat nur die Durchführung von Gemeinschaftsrecht als Anlass nutzt, um ein Mehr an Schutz durchzusetzen und damit den jeweiligen Grundsatz stärker fördert als von der Union gefordert. Gemeinschaftsrechtliche Rückschrittsverbote wären von den Mitgliedstaaten also überhaupt erst dann zu beachten, wenn ein Land einen Umsetzungsakt aufhebt, obgleich es durch Richtlinien zur Umsetzung oder durch Verordnung zur Anwendung176 verpflichtet gewesen wäre. In diesem Fall würde der jeweilige Mitgliedstaat aber nicht nur gegen ein eventuelles Rückschrittsverbot, sondern bereits gegen Sekundärrecht verstoßen. Auf den Bestandsschutz als besondere Funktion der Grundsatznormen käme es also nur an, wenn es darum ginge, dass die Union selbst vorgenommene Umsetzungs- und Fördermaßnahmen wieder rückgängig machen will. Beispielweise wäre eine derartige Rechtsfolge zu diskutieren, wenn die Union Grenzwerte, die sie selbst gesetzt hat (z. B. die Grenzwerte bei der Feinstaubbelastung), zum Nachteil der Umwelt wieder abschwächen oder ganz aufheben wollte. Insoweit müsste geklärt werden, ob einer solchen Teilrücknahme nicht Art. 37 GRC entgegenstünde. bb) Die Grundsatznormen als Rückschrittsverbote (1) Mögliche Ansichten Auf die Frage, ob die Grundsätze der Charta ein Rückschrittsverbot enthalten, sind theoretisch drei verschiedene Antworten denkbar:177 Erstens könnte man vertreten, dass die Grundsatznormen einen sog. absoluten Bestandsschutz vorsehen. Hier ließe sich nochmals zwischen zwei Varianten unterscheiden. Zum einen könnte sich der Bestandsschutz auf jede einzelne Maßnahme beziehen (im Folgenden als absolutes Rückschritts- bzw. Rücknahmeverbot im engeren Sinne bezeichnet). Danach wäre jede Handlung verboten, die sich nachteilig auf das jeweilige Schutzgut auswirkt. Zum anderen könnte aber auch nur der Standard als gesichert angesehen werden, 176 Eine Verordnung braucht nicht umgesetzt, sondern muss nur angewendet werden, vgl. EuGH, Rs. C-34/73, Slg. 1973, 971 Rn. 8, 10 f., 15 (Variola). Vgl. auch Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 120 f.; Hetmeier, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 Rn. 8 m. w. N. 177 Umfassend zum Ganzen (bezogen auf das deutsche Recht) Schlenker, Soziales Rückschrittsverbot, S. 71 ff., 91 ff. m. w. N. Zum ausländischen Recht vgl. Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (368 ff. m. w. N.).

II. Der Begriff des Grundsatzes in der Charta

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der sich aus der Gesamtschau aller Einzelmaßnahmen als gegenwärtig178 durchschnittlich geschützt ergibt (im Folgenden absolutes Rückschrittsbzw. Rücknahmeverbot im weiteren Sinne genannt). Bei dieser zweiten Variante verstieße man gegen die entsprechende Grundsatznorm nur dann, wenn das mittlere Schutzniveau unterschritten werden würde. Die Rücknahme einzelner Fördermaßnahmen könnte durch den Erlass anderer Schutzmaßnahmen somit ausgeglichen werden.179 Zweitens wäre es möglich, die These von einem solchen Rückschrittsverbot komplett abzulehnen. In Deutschland180 wird diese Ansicht meist in Bezug auf soziale Gewährleistungen vertreten, mit der Begründung, dass dort, wo kein Anspruch auf eine konkrete Leistung besteht, auch kein Anspruch auf Erhalt eines einmal erreichten Sozialstandards verlangt werden könne. Eine Rücknahme wäre nur dann nicht möglich, wenn ein gewisser Mindeststandard unterschritten oder gegen den Anspruch des Bürgers auf Schutz seines Vertrauens181 verstoßen werden würde. Diese Argumentation übertragen Jarass und Ladenburger auf die Grundrechtecharta.182 Die dritte Option, eine Art Mittelweg wäre, die Grundsatznormen als relative Bestandsschutzgarantien zu begreifen. Danach könnten Fördermaßnahmen grundsätzlich zurückgenommen werden, sofern nur das jeweilige zuständige Organ nachvollziehbare Gründe für die Notwendigkeit der Rücknahme vortragen könnte, die einer Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten. Diejenigen, die den Grundsatznormen der Charta zusätzlich die Funktion 178 Bei dieser Variante lässt sich nochmals zwischen zwei Unterformen differenzieren: Zum einen bestünde die Möglichkeit, den Standard, der nicht unterschritten werden darf, auf einem bestimmten Niveau festzusetzen (z. B. das Schutzniveau, das man zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der Grundrechtecharta vorfand). Zum anderen könnte man aber auch das bisher jeweils höchsten Schutzniveau als Vergleichsmaßstab heranziehen. Vgl. dazu die in nachfolgender Fn. 179 Genannten. 179 Dies vertreten manche in Bezug auf die Staatsziele Umweltschutz/Tierschutz aus Art. 20a GG, vgl. Epiney, in: v. Mangoldt/Klein (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 68 m. w. N.; Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 44; Schultze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 44 ff., 71 m. w. N. A. A. Kloepfer, in: BK, Art. 20a Rn. 47, der nur einen Mindeststandard als geschützt ansieht. 180 In Deutschland ganz h. M., vgl. BVerfGE 39, 302 (AOK); BSGE 15, 71 (76); 24, 285 (289); Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 576; Neumann, DVBl. 1997, 92 (97); Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 116. A.A. Kittner, in: Wassermann (Hrsg.), AK GG, 2. Aufl. 1989, Art. 20 Abs. 1–3, IV, Rn. 29. Vgl. dazu auch Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 231 ff. m. w. N.; Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte, S. 21 ff. m. w. N. Umfassend Schlenker, Soziales Rückschrittsverbot. 181 Zum Anspruch des Einzelnen auf Kontinuität und Vertrauensschutz im Sozialrecht instruktiv Schlenker, Soziales Rückschrittsverbot, S. 193 ff. 182 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 35 und Ladenburger, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 100 mit Fn. 281.

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

eines Rückschrittsverbotes zuerkennen wollen, legen ihrer Argumentation meist dieses Verständnis einer Bestandsschutzgarantie zugrunde.183 (2) Stellungnahme Die mögliche Interpretation der Grundsatznormen als Bestimmungen, die einen absoluten Bestandsschutz gewährleisten, wird vorliegend abgelehnt. Beide Varianten eines absoluten Rückschrittsverbots würden zum einen künftige Parlamente in unverhältnismäßiger Weise binden und wären damit schon unter demokratischen Gesichtspunkten äußerst problematisch. Außerdem könnten sich ökonomische wie demographische Rahmenbedingung verändern, mit der Folge, dass zumindest kurzfristig Standards gesenkt werden können müssen. Ebenso sollte es erlaubt sein, Fehlentwicklungen innerhalb der sozialen Sicherungssysteme beheben und die Sozialpolitik neu ausrichten zu können.184 Ein absolutes Verbot, das sich in vielen Fällen schon faktisch nicht absolut einhalten ließe, wäre aber nur wenig wert.185 Darüber hinaus würde die Annahme eines absoluten Rückschrittsverbotes, unabhängig welche Variante man verträte, auch einen falschen Anreiz schaffen, die Grundsatznormen nur sehr zurückhaltend umzusetzen, wenn man die Fördermaßnahmen später nicht oder nur noch unter erschwerten Umständen wieder zurücknehmen könnte. Gerade eine solche Wirkung wäre aber mit Sinn und Zweck der Grundsatznormen, die für eine stetige Verbesserung der Schutzstandards sorgen sollen, nur schwer vereinbar. Ein absolutes Rückschrittsverbot im engeren Sinne, welches die Möglichkeit einer flexiblen Anpassung auf neue Gegebenheiten komplett verhindert, wird – soweit dies überblickt werden kann – deshalb auch von niemanden (mehr)186 vertreten. Aber auch das absolute Rückschrittsverbot im weiteren Sinne, das in Deutschland zum Teil im Zusammenhang mit Art. 20a GG diskutiert wird, ist, neben dem, dass auch dieses die eben geschilderten Nachteile aufweist, wenig praxistauglich. Man müsste nämlich bei der Rücknahme einer Einzelmaßnahme, und nur eine solche läge den Gerichten im Allgemeinen zur 183 Vgl. Braibant, Charte, S. 46, 84 f., 252 f.; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45c; Burgorgue-Larsen, in: ders./Levade/Picod (Hrsg.), Charte, Art. II-112 Rn. 50 ff.; Funk, in: Duschanek/Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, S. 39 (53); Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 827 f.; de Schutter, in: ders./ Nihoul (Hrsg.), Droits, S. 112. So wohl auch Bühler, Einschränkung, S. 392 f. m. w. N., die das Rüschrittsverbot jedoch auf Art. 53 GRC stützen will. 184 Vgl. zum Ganzen Schlenker, Soziales Rückschrittsverbot, S. 29 ff. 185 Vgl. zu dieser Argumentation Kant, Über den Gemeinspruch, S. 3 ff. 186 In Portugal wurde dies jedoch zeitweilig vertreten, vgl. AcTC 39/84, DR I, n.º 104 v. 5. Mai 1984, S. 1455. Vgl. auch Gomes Canotilho/Vital Moreira, Fundamentos, S. 131. Siehe zum Ganzen oben Teil 2, IV. 2. c) cc).

II. Der Begriff des Grundsatzes in der Charta

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Prüfung vor, regelmäßig das mittlere Schutzniveau in der Europäischen Union ermitteln, was erstens kaum möglich und zweitens wenn dann mit erheblichen Kosten verbunden wäre. Eine Entscheidung zwischen Ansicht zwei, die eine Bestandsgarantie generell ablehnt, und Ansicht drei, nach der die Grundsatznormen zumindest ein relatives Rückschrittsverbot enthielten, fällt dagegen deutlich schwerer. Für beide Sichtweisen finden sich weder in der Charta noch in den Erläuterungen Anhaltspunkte.187 Die Befürworter der jeweiligen Auffassung stützen sich vielmehr einzig auf ihr Verständnis von vergleichbaren Vorschriften des eigenen, nationalen Verfassungsrechts.188 Es wird deshalb letztlich beim EuGH liegen, sich für eine der beiden Meinungen zu entscheiden. Für den Verfasser ist die Ansicht, die den Grundsatznormen die Wirkung eines relativen Bestandschutzes zuerkennen will, jedoch überzeugender. Richtig ist zwar, dass gemäß Art. 52 Abs. 5 GRC der Einzelne nicht die Umsetzung der Grundsätze verlangen kann. Die Folgerung daraus, dass man deshalb auch nicht gegen die Rücknahme der jeweiligen Umsetzung vorgehen könne, ist jedoch alles andere als zwingend. Es darf nämlich nicht vergessen werden, dass, obgleich die Förderung der Grundsatznormen nicht einklagbar ist, die Union und die Mitgliedstaaten gemäß den Art. 51 Abs. 1 S. 2 und Art. 52 Abs. 5 GRC gleichwohl an das Gebot der Umsetzung gebunden sind. Macht man sich dies klar, leuchtet es nicht ein, warum die Rücknahme einer Fördermaßnahme, diese steht ja konträr zum Umsetzungsgebot, nicht wenigstens entsprechend gerechtfertigt werden muss. Nochmals: Bei den Grundsätzen handelt es sich nicht nur um unverbindliche Programmsätze, sondern um Verpflichtungen, die möglichst weitgehend zu erfüllen sind.189 Im Gegensatz zur rein leistungsrechtlichen Dimension sind die Union und die Mitgliedstaaten in der Konstellation einer beabsichtigten Rücknahme von Umsetzungsmaßnahmen im Übrigen bereits tätig geworden, so dass ein justiziabler Verfahrensgegenstand vorliegt, die Judikative also nur über das Ja oder Nein der Rücknahme, nicht aber über den Erlass einer Gesetzesmaßnahme befinden muss. Nur Letzteres wäre im Hinblick auf das Demokratieprinzip und den Gewaltenteilungsgrundsatz problematisch. Letztlich führt dieses Verständnis 187

A. A. Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 9 Rn. 14; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 46c f., die aus der Formel „nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ eine relative Bestandsschutzgarantie ableiten wollen. Siehe hierzu unten Teil 4, I. 188 Vgl. hierzu auch Geesmann, Soziale Rechte, S. 281 ff. Teilweise wird auch mit der Auslegung des Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 EGV durch den EuGH argumentiert. Ob sich hieraus tatsächlich Argumente für die eine oder andere Richtung ableiten lassen, erscheint fraglich. Vgl. hierzu Doyle/Carney, EELR 1999, 44 (46), die im Rahmen des Art. 174 EGV von einem relativen Rückschrittsverbot ausgehen. 189 Siehe hierzu oben Teil 3, II. 4.

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

von den Grundsatznormen dazu, dass auch die Aufhebung einer Maßnahme stets auf ihre Verhältnismäßigkeit hin überprüft werden muss. Insoweit kommt den Grundsatznormen eine erweiterte Abwehrfunktion zu.190 Akzeptiert man die Idee eines den Grundsatznormen immanenten Rückschrittsverbots, sollten für die Rechtfertigung einer Rücknahme gleichwohl nicht allzu hohe Hürden aufgestellt, der Union und den Mitgliedstaaten vielmehr ein Gestaltungsspielraum eingeräumt werden. Dies hat der EuGH in ähnlichen Fällen bislang immer und nach vorliegender Ansicht auch zu Recht gemacht.191 Selbst nachvollziehbare fiskalische Gründe müssen im Einzelfall – diesmal in bewusster Abkehr von der bishrigen Rechtsprechung192 – die Rücknahme von Fördermaßnahmen rechtfertigen können.193 Die allzu strenge Auslegung eines Rückschrittsverbots führte andersfalls dazu, dass die Union und die Mitgliedstaaten die Grundsatznormen nur widerwillig und sehr zurückhaltend umsetzen würden, im Wissen, dass eine Rücknahme nur unter Beachtung sehr strenger Voraussetzung möglich sein werde. Dies liefe aber gerade dem Sinn und Zweck des Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC zuwider. 6. Ergebnis Die oben gestellten vier Fragen lassen sich somit wie folgt beantworten: (1) Die Grundsätze stellen in Abgrenzung zu den herkömmlichen Grundrechten eine eigenständige Normkategorie dar. (2) Bei den Grundsatznormen handelt es sich um eine spezielle Normkategorie der Grundrechtecharta. Die Art. 51 Abs. 1 S. 2 und 52 Abs. 5 GRC können auf Bestimmungen außerhalb der Charta, die den Grundsätzen möglicherweise ähneln, nicht unbesehen übertragen werden. (3) Die Grundsatznormen sind für die Union und für die Mitgliedstaaten bei Durchführung von Unionsrecht verbindlich. 190 Zum Ganzen instruktiv Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45a ff. m. w. N. Ähnlich für Art. 20a GG Sommermann, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 27 m. w. N. 191 Vgl. die Ausführungen zum Vorsorgeprinzip aus Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV und zum Grundsatz der Marktstabilisierung aus Art. 33 Abs. 1 lit. c EGV, siehe oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (2). 192 Bislang ist es st. Rspr., dass haushaltspolitische Gründe die Verpflichtung zur Beachtung des EG-Rechts nicht relativieren können, vgl. nur EuGH, Rs. C-30/72, Slg. 1973, 161 Rn. 11 (Kommission/Italien). 193 Dies wird beispielsweise auch in Deutschland zu Art. 20a GG vertreten, vgl. nur Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 20a Rn. 49. Vgl. auch die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 174 EGV, siehe dazu Teil 2, IV. 2. a) cc).

III. Die Grundsatznormen im Gefüge einer europäischen Dogmatik

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(4) Schwerpunktmäßig zielen die Grundsatznormen der Charta auf Förderung und Umsetzung ab und weisen insoweit zwingend eine leistungsrechtliche Dimension auf. Darüber hinaus kommt ihnen regelmäßig aber auch eine abwehrrechtliche Funktion zu. Grundsatznormen enthalten nach hier vertretener Ansicht zudem ein relatives Rückschrittsverbot. Hat die Union erst einmal Umsetzungsmaßnahmen erlassen, kann sie diese nur unter Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wieder zurücknehmen.

III. Die Grundsatznormen im Gefüge einer europäischen Dogmatik Ließen sich die vorstehenden Fragen noch mehr oder weniger alleine mit Hilfe der Grundrechtecharta beantworten, sollen die Grundsatznormen nun in diesem Kapitel – wie im ersten Teil dieser Arbeit bereits angekündigt – etwas eingehender untersucht und anhand der Kriterien und Prinzipien beurteilt werden, die die Dogmatik des Europarechts gegenwärtig bereithält. Entscheidende Frage wird sein, welche normativen Eigenschaften diesen sog. Grundsätzen zugeschrieben werden können und welche Rechtsfolgen das EG-Recht an diese Eigenschaften knüpft. Die Untersuchung erfolgt dabei in drei Schritten: (1) Zunächst gilt es, Kriterien und Prinzipien zu finden, anhand derer im Europarecht Normen qualifiziert werden. (2) Anschließend wird versucht, die Kategorie der Grundsatznormen mittels der gefundenen Kriterien und Prinzipien zu klassifizieren und einzuordnen. (3) Schließlich sollen die konkreten Rechtsfolgen der Grundsatznormen (auf gemeinschaftsrechtlicher wie auf mitgliedstaatlicher Ebene) ermittelt werden. 1. Die Kriterien der Existenz und der Wirksamkeit eines Rechtssatzes Lediglich aus Gründen der Vollständigkeit sei an dieser Stelle kurz194 auf die normtheoretischen Kriterien der Existenz und Wirksamkeit eines (deontischen)195 Rechtssatzes eingegangen. Schließlich hat die weitere Befassung mit den Grundsatznormen nur dann eine Berechtigung, wenn diese im 194 Ausführlich zum Ganzen Klein, Unmittelbare Geltung, S. 8 f.; Schliesky, DVBl. 2003, 631 (635). 195 Zum Begriff siehe oben Teil 3, I. 2. a).

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

Rechtssinne überhaupt existieren und wirksam sind. Die rechtliche Existenz eines Rechtssatzes tritt mit seiner Verkündung ein.196 Erst ab diesem Zeitpunkt lässt sich der jeweiligen Norm ein Sollensgebot entnehmen. Ob dieses Sollensgebot wirksam ist, hängt im Weiteren davon ab, dass es zum einen nicht gegen höherrangiges oder spezielleres gleichrangiges Recht verstößt – das Gebot also gültig ist – und zum anderen bereits in Kraft gesetzt197 wurde. Bei den Grundsatznormen handelt es sich um sowohl existierende als auch um gültige Vorschriften. Mit der feierlichen Proklamierung der Europäischen Grundrechtecharta erlangten sie ihre Existenz; an deren Gültigkeit bestehen aufgrund der geplanten primärrechtlichen Einordnung der Charta keine Zweifel. Da jedoch der Vertrag von Lissabon noch nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden ist,198 fehlt es der Grundrechtecharta und damit auch den Grundsätzen – jedenfalls bislang – an der rechtlichen Wirksamkeit. Bei der nachfolgenden Untersuchung wird unterstellt, dass die Grundlagenverträge in naher Zukunft in Kraft treten werden. 2. Die Verbindlichkeit einer Norm Wahrscheinlich das wichtigste Kriterium, mit dem sich eine Norm199 qualifizieren lässt, ist das der Verbindlichkeit.200 Auch wenn bereits oben dargelegt201 wurde, dass es sich bei den Grundsatznormen nach ganz herrschender Ansicht202 nicht nur um unverbindliche Programmsätze, sondern 196 Die Begrifflichkeiten werden durch Art. 254 EGV vorgegeben. Vgl. auch EuGH, Rs. C-249/85, Slg. 1987, 2345 Rn. 15 ff. (Margarinefabrik). 197 Die Begrifflichkeiten werden durch Art. 254 EGV vorgegeben. Vgl. dazu GA Jacobs in dessen Schlussantrag in der Rs. C-129/96, Slg. 1997, I-7411, 7416 Rn. 13, 7410 Rn. 30 (Wallonie). 198 Siehe dazu oben Teil 1, I. 199 Wie bereits ausführlich dargestellt, liegt der vorliegenden Arbeit ein rein semantischer Normbegriff zugrunde, wonach es sich bei einer Norm um einen deontischen Satz handelt, der Erlaubnisse, Verbote oder Gebote statuiert. Ausführlich dazu oben Teil 3, I. 2. a). 200 Nach anderer Auffassung ist der Begriff der Norm dagegen von vornherein auf verbindliche Rechtsakte beschränkt (sog. geltungstheoretisches Verständnis), vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 253 ff.; Ross, Directives and Norms, S. 93. So wie hier dagegen Alexy, Theorie der Grundrechte, mit dem Argument: „Wenn ein Interesse besteht, von der Geltung oder der Existenz einer Norm zu sprechen, (. . .), dann besteht auch ein Interesse, von der Nicht-Geltung und der Nicht-Existenz einer Norm zu sprechen. Dann aber darf der Begriff der Norm nicht so definiert werden, dass er Geltung oder Existenz schon voraussetzt.“ 201 Siehe oben Teil 3, II. 4. 202 Vgl. statt vieler Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45a; Jarass, Die EU-Grundrechte, § 7 Rn. 30, 35; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 52 GRC Rn. 14.

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um rechtlich verpflichtende Bestimmungen handelt,203 soll das normative Kriterium der Verbindlichkeit an dieser Stelle noch einmal kurz aufgegriffen werden, um alle wesentlichen Kriterien, anhand derer Normen bewertet werden können, im Zusammenhang genannt und definiert zu haben. Normen können also verbindlich oder unverbindlich sein.204 Im Völkerrecht werden nicht-ratifizierte Abkommen, rein empfehlende Resolutionen der UN-Generalversammlung oder Entschließungen internationaler Konferenzen oder Internationaler Organisationen, denen es an Bindungswirkung fehlt, oftmals auch als „soft-law“ bezeichnet.205 Der gleiche Begriff hat sich auch im Europarecht für unverbindliche Rechtsakte der Unionsorgane wie beispielsweise Empfehlungen und Stellungnahmen206 oder den beihilferelevanten Gemeinschaftsrahmen207 durchgesetzt.208 Ebenfalls um „soft law“ handelt es sich beispielsweise bei der oben kurz dargestellten Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer. Trotz grundsätzlich fehlender Verbindlichkeit kommt manchen dieser Handlungsformen in bestimmten Fällen durchaus eine gewisse rechtliche Relevanz zu. Beispielsweise müssen nach Ansicht des EuGH209 Empfehlungen zwar nicht befolgt, aber doch zumindest berücksichtigt werden. Daneben können Stellungnahmen als Prozessvoraussetzung von Bedeutung sein210 und Gemeinschaftsrahmen werden nicht selten zu einem verbindlichen Gemeinschaftskodex weiterentwickelt.211 Im Allgemeinen bleibt es jedoch dabei: Soft-Law-Bestimmungen sind für ihre Adressaten nicht verbindlich, auf deren Befolgung kann nicht geklagt werden; wird gegen eine solche Norm verstoßen, liegt 203

Aufgrund eines Kompromisses auf dem Europäischen Rat von Brüssel v. 21./22. Juni 2007 wurde die Verbindlichkeit der Charta für Großbritannien ausgeschlossen, siehe dazu schon oben Teil 1, I. 204 Daneben gibt es auch Mischkategorien, gleichsam semi-verbindliche Normen, wie beispielsweise die Richtlinien i. S. des Art. 249 Abs. 3 EGV, die nur hinsichtlich des Ziels verbindlich sind, nicht aber hinsichtlich der Art und Weise ihrer Umsetzung. 205 Vgl. Doehring, Völkerrecht, § 13 V; Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 20 Rn. 20 f.; Hillgenberg, ZEuS 1998, 81 ff.; Shaw, International Law, S. 111 f. 206 EuGH, Verb. Rs. C-1/57 und 14/57, Slg. 1957, 213, 236 (Société des usines à tubes). 207 EuGH, Rs. C-310/85, Slg. 1987, 901 (Deufil) mit Schlussantrag von GA Darmon S. 914. 208 Obwohl der Terminus „soft-law“ etwas ungenau ist, wird er im Folgenden aufgrund seiner allgemeinen Akzeptanz auch in dieser Arbeit verwendet. Zum Ganzen instruktiv Senden, Soft Law in European Community Law. 209 EuGH, Rs. C-322/88, Slg. 1989, 4407 Rn. 18 (Grimaldi). 210 Vgl. Art. 226 Abs. 1 und 227 Abs. 4 EGV. 211 EuGH, Rs. C-313/90, Slg. 1993, I-1125 (CIRFS) mit Schlussantrag von GA Lenz S. 1153 ff.

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kein sanktionsfähiges Verhalten vor.212 Im Gegensatz dazu sind verbindliche Vereinbarungen von den Vertragsparteien einzuhalten, Adressaten verbindlicher Normen haben diese zu beachten, sich nach ihnen zu richten. Dies gilt auf der völkerrechtlichen Ebene213 wie auch im innerstaatlichen Bereich. Ob ein Rechtssatz nun als verbindlich oder unverbindlich einzustufen ist, bestimmt sich nicht nach dessen Bezeichnung, sondern ist durch Auslegung zu ermitteln.214 Eine Vorschrift ist dann verbindlich, wenn der Normgeber215 mit deren Erlass dem Normadressaten eine Verpflichtung auferlegen wollte, die jener zwingend einzuhalten hat und nicht diesem überlassen bleiben soll, ob er die Norm befolgen will oder nicht. Die Charta ist – darüber besteht wohl kein Streit mehr – insoweit als verbindlich einzustufen. Von der Frage nach der Verbindlichkeit streng zu trennen sind die sich daran anschließenden und erst im Folgenden zu erörternden Fragen nach der Durchsetzbarkeit von Normen und Haftung bei deren Nichtbefolgung. Nicht jede verbindliche Norm ist nämlich vor Gericht in gleicher Weise justiziabel bzw. ermöglicht bei ihrer Nichtbeachtung die Geltendmachung eines Schadensersatz- oder Entschädigungsanspruchs. Um diese Rechtsfolgen auszulösen, muss eine Vorschrift bestimmte weitere Eigenschaften aufweisen: Im Europarecht ist vor allem an die Kriterien der unmittelbaren Geltung und der unmittelbaren Anwendbarkeit zu denken. Teilweise verwendet der EuGH auch den Terminus der unmittelbaren Wirksamkeit.216 Selbst der Begriff des subjektiven Rechts spielt im Europarecht eine gewisse Rolle, wenn auch nicht die, die diesem in der deutschen Rechtsordnung zukommt. Die Grundsätze im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC sind nun anhand dieser und ähnlicher Kriterien weiter zu untersuchen. 212 Vgl. Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 170. A. A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 466 ff. 213 Es gilt der lateinische Satz „Pacta sunt servanda“, vgl. Art. 26 WVK. 214 Vgl. Shaw, International Law, S. 112. 215 Bei völkerrechtlichen Verträgen sind die Normgeber die Vertragsparteien selbst. 216 In der Rechtsprechung der EuGH werden die Begriffe unmittelbare Geltung, unmittelbare Anwendbarkeit und unmittelbare Wirkung nicht einheitlich verwendet. Dies liegt vor allem an den unterschiedlichen Sprachfassungen der Urteile und der verschiedenen Fassungen des Art. 249 Abs. 2 EGV. Im Englischen ist die Rede von „direct effect“, „direct applicability“ oder „immediate effect“, seltener von „domestic effect“, im Französischen von „effet direct“, „applicabilité directe“ oder „effet immédiat“. Vgl. zu den begrifflichen Schwierigkeiten ausführlich Eilmansberger, Subjektes Recht, S. 86 Fn. 277; Klein, Unmittelbare Geltung, S. 3 ff.; Reiling, Individuelle Rechte, S. 278 ff. Die hier gewählte Terminologie dürfte mittlerweile herrschend sein. Vgl. ausführlich Craig/de Bfflrca, EU-Law, S. 268 ff.; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 68 ff.; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 126 ff.; Winter, CMLRev. 1972, 425 (435 f.). Siehe dazu ausführlich unten Teil 3, III. 3. a) bb) und 4. a).

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3. Unmittelbare Geltung Nachdem geklärt worden ist, dass es sich bei den Charta-Grundsätzen um verbindliche Bestimmungen handelt, soll nun im Folgenden der Frage nachgegangen werden, ob diesen Grundsatznormen auch unmittelbare Geltung217 zukommt. a) Der Begriff der unmittelbaren Geltung aa) Völkerrechtliche Grundlagen Der Begriff der unmittelbaren Geltung hat seinen Ursprung im Völkerrecht. Das Völkerrecht regelt die Beziehungen zwischen verschiedenen Völkerrechtssubjekten. Primär bezieht es sich auf Staaten. Individuen kommt dagegen nach klassischer Lehre keine Völkerrechtssubjektivität zu.218 Sie sind vielmehr nur durch das Medium Staat mit dem Völkerrecht verbunden, ohne selbst Subjekt sein zu können. Der einzelne Mensch kann sich deshalb nicht direkt auf völkerrechtliche Bestimmungen berufen, es sei denn, eine Norm des Völkerrechts sieht dies ausnahmsweise vor. Als bekanntestes Beispiel219 ist hier für Art. 34 EMRK zu nennen, der den Einzelnen berechtigt, nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs Individualbeschwerde zum EGMR zu erheben. Wenn sich der Einzelne nun aber nicht direkt auf völkerrechtliche Vorschriften zu stützen vermag, stellt sich die Frage, ob dann nicht die völkerrechtlichen Bestimmungen ihrerseits innerstaatliche Wirkung220 entfalten. Die Lehre vom Monismus221 bejaht dies. Nach ihr sei die gesamte Rechtsordnung als Einheit zu begreifen mit der Folge, dass das Völkerrecht innerhalb eines jeden Staates unmittelbar gelte, ohne dass es dafür einer Anordnung durch den jeweiligen Staat bedürfe. Demgegenüber vertritt die Lehre vom Dualismus222, die sich weitgehend mit der gegenwärtigen Staatenpraxis deckt und auch der herrschenden Meinung entspricht223, dass Völker217 Es sei nochmals daran erinnert, dass Normen der Charta selbstverständlich erst dann unmittelbar gelten können, wenn die Europäische Grundrechtecharta in Kraft getreten ist. Siehe dazu oben Teil 1, I. 218 Wohl h. M., vgl. Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 7 Rn. 1 f.; Shaw, International Law, S. 232 f. m. w. N. A. A. Herdegen, Europarecht, § 12 Rn. 1 ff., nach dessen Auffassung Individuen durchaus Völkerrechtssubjekt sein könnten. 219 Weitere Beispiele bei Shaw, International Law, S. 233. 220 Zum Begriff siehe unten Teil 3, III. 3. a) bb). 221 Vgl. als wichtigsten Vertreter Kelsen, Theorie des Völkerrechts, S. 249 ff. 222 Vgl. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 9 f. Vgl. auch Doehring, Völkerrecht, Rn. 701 ff. m. w. N.; Shaw, International Law, S. 120 ff. m. w. N.

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recht und nationales Recht zwei voneinander getrennte Rechtsmaterien seien, die sich im Grundsatz nicht überschneiden könnten. Aus diesem Grund bleibe es den jeweiligen Staaten – oder auch der EG als supranationaler Organisation – überlassen, die Art und Weise der Geltung völkerrechtlicher Normen in ihrem Hoheitsgebiet zu regeln. Die Staaten sind also zwar auf völkerrechtlicher Ebene zur Einhaltung des Völkerrechts verpflichtet und wären gut beraten, das innerstaatliche Recht an das Völkerrecht auch anzupassen, doch wie oder sogar ob sie das tun, ist ihre Sache. Staaten, die ein Gesetz erlassen oder aufrechterhalten, das dem Völkerrecht widerspricht, haften den anderen Völkerrechtsubjekten zwar nach den Vorschriften des Völkervertragsrechts oder den Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit, doch führt der bloße Verstoß gegen Völkerrecht nicht automatisch zur Unanwendbarkeit der innerstaatlichen Norm. Über die Nichtigkeit oder Unanwendbarkeit eines nationalen Gesetzes bestimmt nach der Lehre vom Dualismus ausschließlich die nationale Rechtsordnung.224 Manche Länder wie beispielsweise die USA, Frankreich oder die Schweiz225 haben sich in ihren Verfassungen dafür entschieden, generell die unmittelbar innerstaatliche Geltung völkerrechtlicher Bestimmungen anzuordnen. Auch wenn sich eine solche Konstruktion am Gedanken des Monismus zu orientieren scheint, ist sie doch in Wirklichkeit eine Betätigung der dualistischen Lehre, da eben auch in diesen Ländern das Völkerrecht nicht automatisch innerstaatliche Wirkung226 entfaltet, sondern ausschließlich aufgrund des Anwendungsbefehls in der jeweiligen Verfassung.227 Im deutschen Grundgesetz findet sich mit Art. 25 GG eine ähnliche Bestimmung. Doch im Gegensatz zu der in den drei eben genannten Ländern gewählten Lösung beschränkt sich die in Art. 25 GG getroffene Anordnung der unmittelbaren Geltung allein auf die allgemeinen Regeln des Völkerrechts.228 Völkervertragsrecht bedarf, um innerstaatliche Geltung zu erlangen, dagegen gemäß Art. 59 Abs. 2 GG – eine ähnliche Differenzierung findet sich 223 So auch die Einschätzung bei Doehring, Völkerrecht, Rn. 702. A. A. Kunig, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, § 2 Rn. 35 f. 224 So auch BVerfGE 73, 339 (375) (Solange II). Zum Ganzen sehr instruktiv Doehring, Völkerrecht, Rn. 701 ff.; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 25 Rn. 1 ff. m. w. N. 225 Vgl. Art. VI § 2 der US-Verfassung, Art. 55 der französischen Verfassung und Art. 184 Abs. 2 der Schweizer Bundesverfassung. 226 Zum Begriff siehe unten Teil 3, III. 3. a) bb). 227 So auch das Verständnis des BVerfG in BVerfGE 73, 339 (375) (Solange II). Vgl. auch Schweitzer, Staatsrecht III, Rn. 419. Anders beispielsweise das Schweizer Bundesgericht selbst BGE 94 I 669, S. 672 E. 2. (1968) (Frigerio). 228 BVerfGE 23, 288 (317); 96, 68 (86). Vgl. Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 25 Rn. 7 f.

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auch im englischen Verfassungsrecht229 – einer vorherigen Umsetzung230 durch den zuständigen Gesetzgeber. bb) Der Begriff der unmittelbaren Geltung im Gemeinschaftsrecht Der ursprünglich rein völkerrechtlich determinierte Begriff der unmittelbaren Geltung wird nun auch im Gemeinschaftsrecht relevant. Dies verwundert wenig, hat doch das Gemeinschaftsrecht seinen Ausgangspunkt im Völkerrecht. Allerdings – und dies ist wichtig zu erkennen – wird der Terminus „unmittelbare Geltung“ sowohl vom EuGH als auch von der europarechtlichen Literatur nicht immer in Übereinstimmung mit dessen völkerrechtlicher Bedeutung verwendet.231 Generell werden die Begriffe „unmittelbare Geltung“, „unmittelbare Wirkung“ und „unmittelbare Anwendbarkeit“232 im Gemeinschaftsrecht sehr unterschiedlich gebraucht, was auf die verschiedenen Sprachfassungen233 der EuGH-Urteile und des Art. 249 Abs. 2 EGV zurückzuführen ist.234 Um dieses Begriffswirrwarr nicht weiter zu verstärken, soll der Terminus „unmittelbaren Geltung“ im Folgenden ausschließlich im Sinne seiner völkerrechtlichen Bedeutung zu verstehen sein.235 In der Rs.236 229

Vgl. Shaw, International Law, S. 128 ff. Die Frage, ob in der BRD die Vollzugs- oder Transformationstheorie gilt, soll hier dahinstehen. Vgl. dazu Doehring, Völkerrecht, Rn. 708 ff.; Jarass, in: ders./ Pieroth, GG, Art. 25 Rn. 1 ff.; Kunig, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, § 2 Rn. 57 ff.; Schweitzer, Staatsrecht III, Rn. 420 ff. 231 Darauf machen ausdrücklich Haag, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die EU, 6.3.1., aufmerksam. So auch Klein, Unmittelbare Geltung, S. 9 f. 232 Ausführlich dazu unten Teil 3, III. 4. a). 233 Auch im Englischen existiert eine Vielfalt an Termini. Siehe hierzu bereits oben Teil 3, III. 3. a) mit Fn. 216. 234 Während beispielsweise Haag, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die EU, 6.3.1., die Begriffe „unmittelbaren Geltung“ und „unmittelbare Anwendbarkeit“ nur in Zusammenhang mit Verordnungen gebrauchen will, schlägt Jarass, NJW 1990, 2420 (2421) eine synonyme Verwendung aller drei Termini vor. Reiling, Individuelle Rechte, S. 278 ff., will dagegen den Begriff „unmittelbare Wirkung“ ausschließlich für staatsgerichtete Entscheidungen und Richtlinien verwenden. 235 Ähnlich Bleckmann, Europarecht, Rn. 1152 ff.; Craig/de Bfflrca, EU-Law, S. 268 ff.; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 68 ff.; Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, Rn. 166; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 126 ff.; Winter, CMLRev. 1972, 425 (435 f.). Mit Einschränkungen auch Reiling, Individuelle Rechte, S. 278 ff. 236 Wenig Berücksichtigung in der Literatur fand die bereits zwei Jahre vor der Rs. Van Gend & Loos getroffene Entscheidung des EuGH in der Rs. Humblet, in welcher der EuGH in bemerkenswerter Weise bereits zu Fragen Stellung genommen hatte, die erst wenige Jahre später richtig relevant werden sollten (wie beispielsweise hinsichtlich der Rechte Einzelner in der Gemeinschaftsrechtsordnung oder dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts). Vgl. EuGH, Rs. C-6/60, 230

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van Gend & Loos237 hatte der EuGH dann auch die Frage zu beantworten, ob Vorschriften des EG-Vertrages238 ebenso wie herkömmliche völkerrechtliche Bestimmungen einer Umsetzung durch die mitgliedstaatlichen Parlamente bedürfen oder ohne einer solchen direkt und unmittelbar in den einzelnen Mitgliedstaaten Geltung239 entfalten. Wie der Gerichtshof entschieden hat, ist bekannt: Die Europäische Gemeinschaft stelle eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts dar, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrecht eingeschränkt haben; eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen seien.240 Aufgrund dieser „supranationalen“241 Natur der Europäischen Gemeinschaften gelten Bestimmungen des europäischen Primärrechts242 in den Mitgliedstaaten im Allgemeinen243 unmittelbar. Einer innerstaatlichen Umsetzung244 bedarf es regelmäßig nicht.245 Slg. 1960, 1163, 1185 ff. (Humblet). Ausführlich dazu Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 59 f. m. w. N. 237 EuGH, Rs. C-26/62, Slg. 1963, 1 (Van Gend & Loos). 238 Damals handelte es sich um Art. 12 EWGV (= Art. 25 EGV). 239 In der van Gend & Loos-Entscheidung sprach der EuGH anstatt von „unmittelbarer Geltung“ von „unmittelbarer Wirkung“. Bevor eine Norm jedoch überhaupt innerstaatlich wirken kann, muss sie in dem jeweiligen Mitgliedstaaten erst einmal gelten. Ausführlich dazu sogleich. 240 Vgl. zum Ganzen ausführlich Haltern, Europarecht, S. 317 ff. 241 Vgl. zum Begriff ausführlich Oppermann, Europarecht, § 6 Rn. 6. 242 Eigentlich handelt es sich beim EG-Vertrag um Völkerrecht. Über diese Qualifizierung hinaus stellt der EG-Vertrag aber eben auch die Gründungsakte der Europäischen Gemeinschaft dar. Vgl. zum Ganzen Oppermann, Europarecht, § 6 Rn. 52 ff., § 7 Rn. 2 f. 243 Ausgenommen sind jedoch die Vorschriften, die sich ausschließlich an die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaften richten und somit nur inter- bzw. intraorganschaftliche Beziehungen regeln. Darüber hinaus gelten selbstverständlich auch die durch die EG abgeschlossene völkerrechtlichen Verträge in der Gemeinschaftsrechtsordnung und in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht automatisch, sondern erst aufgrund des in Art. 300 Abs. 7 EGV normierten Anwendungsbefehls. A. A. – unter Verkennung der Wirkung des Art. 300 Abs. 7 EGV – jedoch die ganz h. M., vgl. EuGH, Rs. C-104/81, Slg. 1982, 3641 Rn. 13 ff. (Kupferberg); Bleckmann, Europarecht, Rn. 642 ff.; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 71 f.; Klein, Unmittelbare Geltung, S. 14 m. w. N. Ähnlich wie hier nur Haag, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/ Streil, Die EU, 6.3.1.; Oppermann, Europarecht, § 7 Rn. 19 ff., § 30 Rn. 33. Zum Ganzen siehe unten Teil 3, III. 3. b). 244 Genaugenommen kommt aber auch das primäre Gemeinschaftsrecht – im Gegensatz zum sekundären Gemeinschaftsrecht – nicht ganz ohne einen „Umsetzungsakt“ aus. Der EG-Vertrag und dessen Änderungen bedürfen nämlich selbstverständlich der Ratifikation durch die Mitgliedstaaten (vgl. Art. 313 EGV). Instruktiv hierzu Schweitzer, Staatsrecht III, Rn. 515 ff., 526. 245 So ausdrücklich auch später der EuGH, Rs. C-106/77, Slg. 1978, 629 (Simmenthal): „Unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts bedeutet, dass seine Bestim-

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Gleiches gilt für das europäische Sekundärrecht. Während dies hinsichtlich der Verordnungen ausdrücklich in Art. 249 Abs. 2 EGV geregelt ist, ergibt sich die unmittelbare Geltung von Entscheidungen und Richtlinien wiederum aus dem Gedanken der Supranationalität.246 Bei Entscheidungen, die an Einzelpersonen gerichtet und für diese verbindlich sind, leuchtet das ein.247 Sind dagegen ausschließlich die Mitgliedstaaten Adressaten einer Entscheidung (sog. staatsgerichtete Entscheidungen), ist deren unmittelbare Geltung nicht ohne Weiteres erkennbar. Erst Recht lässt der Wortlaut des Art. 249 Abs. 3 EGV in Bezug auf Richtlinien ein solches Verständnis eigentlich nur schwerlich zu. Begründen lässt sich die unmittelbare Geltung jeglichen Sekundärrechts jedoch damit, dass das Gemeinschaftsrecht eben nicht als herkömmliches Völkerrecht, sondern als eigenständige (supranationale) Rechtsordnung zu begreifen ist, die unmittelbar in den einzelnen Mitgliedstaaten Wirkungen erzeugt. Der EuGH hat diese Interpretation seiner van Gend & Loos-Rechtsprechung in Bezug auf staatsgerichtete Entscheidungen später in der Rs. Grad248 bestätigt. Dort urteilte er, dass sich der Einzelne unter bestimmten Voraussetzungen, die im Folgenden noch näher darzustellen sein werden, direkt auf Entscheidungen der Unionsorgane berufen könne, selbst wenn diese Entscheidungen ausschließlich an die Mitgliedstaaten adressiert sind. Daraus lässt sich folgern, dass es sich auch bei solchen Entscheidungen um in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht handelt muss.249 Der Einzelne vermag sich nämlich nur dann vor mitgliedstaatlichen Gerichten auf eine Vorschrift zu stützen, wenn diese auch in dem jeweiligen Staat gilt.250 Ausländisches Recht oder Völkerrecht, mungen ihre volle Wirkung einheitlich in sämtlichen Mitgliedstaaten vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an und während der gesamten Dauer ihrer Gültigkeit entfalten müssen.“ Vgl. auch EuGH, Rs. C-28/67, Slg. 1968, 215, 232 (Molkerei-Zentrale). 246 So auch Klein, Unmittelbare Geltung, S. 19; Langenfeld, DÖV 1992, 955 (956); Winter, CMLRev. 1972, 425 (438). A. A. bzgl. Richtlinien Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, Rn. 274. 247 So auch Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 71, 167; Streinz, Europarecht, Rn. 468. 248 EuGH, Rs. C-9/70, Slg. 1970, 825 (Grad). Vgl. auch EuGH, Rs. C-249/85, Slg. 1987, 2345 Rn. 15 ff. (Margarinefabrik). 249 Ausführlich dazu Mager, EuR 2001, 661 ff. Instruktiv Bleckmann, Europarecht, Rn. 1189 ff.; Klein, Unmittelbare Geltung, S. 19; Winter, CMLRev. 1972, 425 (438). Vgl. auch GA Roemer in dessen Schlussantrag in der Rs. C-9/79, Slg. 1970, 850 (Grad). Etwas zurückhaltender Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 71, 167. Andere verneinen dagegen die unmittelbare Geltung staatsgerichteter Entscheidungen und Richtlinien und sprechen stattdessen in diesen Fällen von „unmittelbarer Wirkung“, vgl. Reiling, Individuelle Rechte, S. 278 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 444, 448; Jarass, NJW 1990, 2420 (2421). 250 Es sei nochmals daran erinnert, dass der Begriff „Geltung“ hier im völkerrechtlichen Sinne verwendet wird.

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das in dem jeweiligen Staat nicht gilt, brauchen und dürfen die nationalen Behörden und Gerichte nicht anwenden.251 Das gleiche Verständnis ist auch bei Richtlinien zugrunde zulegen.252 Deren unmittelbare Geltung253 ist zumindest für den Zeitraum nach Ablauf der Umsetzungsfrist seit langem anerkannt.254 Mit seinem Urteil in der Rs. Wallonie255 hat der EuGH die unmittelbare Geltung aber auch für den Zeitraum vor Ablauf der Umsetzungsfrist entsprechend dem Gedanken der Supranationalität des Gemeinschaftsrechts256 bestätigt. Nach Auffassung des Gerichtshofs verbiete257 eine Richtlinie bereits vor Fristablauf den Erlass 251 Dies sieht nur die Lehre vom Monismus (mit Vorrang des Völkerrechts) anders, siehe hierzu Teil 3, III. 3. a) aa). 252 Dies ist nach wie vor äußerst umstritten. Wie hier Bleckmann, Europarecht, Rn. 1189 ff.; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ders. (Hrsg.), Rechtsschutz, § 33 Rn. 54 (teilweise etwas anders bei § 33 Rn. 24); Klein, Unmittelbare Geltung, S. 12 m. w. N.; Koller, EG-Richtlinien vor Ablauf der Umsetzungsfrist, S. 26 f. m. w. N.; Schliesky, DVBl. 2003, 631 (635 ff.); Winter, CMLRev. 1972, 425 (438). A. A. GA Reischl in dessen Schlussantrag in der Rs. C-148/78, Slg. 1979, 1650 (Ratti); Di Fabio, NJW 1990, 947 (953); Everling, FS Carstens I, S. 95 (107); Reiling, Individuelle Rechte, S. 282 m. w. N.; Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 106; Streinz, Europarecht, Rn. 444. 253 Diejenigen, die die unmittelbare Geltung von Richtlinien und staatsgerichteten Entscheidungen ablehnen, sprechen auch hier nicht von unmittelbarer Geltung, sondern von unmittelbarer Wirkung. Vgl. Reiling, Individuelle Rechte, S. 282 m. w. N.; Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, Rn. 274 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 444. 254 EuGH, Rs. C-14/83, Slg. 1984, 1891 (Von Colson). Die unmittelbare Geltung von Richtlinien und die dadurch ausgelöste Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung darf nicht mit der Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen verwechselt werden. Siehe dazu ausführlich unten Teil 3, III. 4. a). 255 EuGH, Rs. C-129/96, Slg. 1997, I-7411 (Wallonie). Vgl. nun auch EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 Rn. 115, 124 (Adeneler). 256 Das Argument der Supranationalität des Gemeinschaftsrechts auch für entscheidend hält Grabitz, EuR 1971, 1 (5). 257 Der Einzelne kann sich vor Ablauf der Umsetzungspflicht jedoch weder auf die Richtlinie direkt berufen, noch werden in diesem Stadium die nationalen Behörden oder Gerichte durch das Gemeinschaftsrecht dazu verpflichtet, innerstaatliches Recht richtlinienkonform auszulegen. Vgl. GA Jacobs in dessen Schlussantrag in der Rs. C- 156/91, Slg. 1992, I-5567 Rn. 17 ff. (Hansa Fleisch); Koller, EG-Richtlinien vor Ablauf der Umsetzungsfrist, S. 132 ff. m. w. N.; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ders. (Hrsg.), Rechtsschutz, § 33 Rn. 51 ff. A. A. (für eine direkte Wirkung auch schon vor Ablauf der Umsetzungspflicht) dagegen Gassner, NVwZ 1998, 1148 (1151). A. A. (für eine Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung vor Ablauf der Umsetzungspflicht) GA Kokott in deren Schlussantrag in der Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057, Rn. 49 ff. (Adeneler); Lenz, DVBl. 1990, 908; Ress, DÖV 1994, 493 ff. Entgegen anderslautender Anmerkungen im Schrifttum kann dagegen dem Urteil des EuGH in der Rs. C-152/84, Slg. 1986, 723 Rn. 46 (Marshall) keine dahingehende Bedeutung beigemessen werden. Vgl. zum Ganzen

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solcher nationaler Maßnahmen258, die ihre fristgemäße Umsetzung unmöglich machen würden.259 Auf dieses Frustrationsverbot260, welches jeder Richtlinie immanent ist, kann sich auch der Einzelne berufen.261 Insoweit steht aber mit der eben dargestellter Argumentation zugleich fest, dass diesem Frustrationsverbot und damit Richtlinien generell in den Mitgliedstaaten unmittelbare Geltung zukommt,262 weil nur eine unmittelbar geltende Richtlinie den notwendigen Inhalt des jeweiligen Frustrationsverbots vorgeben kann.263 Dass die übrigen rechtlichen Folgen einer Richtlinie im Allgemeinen erst nach Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber ausgelöst werden,264 hat nichts mit dem Begriff der unmittelbaren Geltung zu tun, Haltern, Europarecht, S. 362 ff.; Koller, EG-Richtlinien vor Ablauf der Umsetzungsfrist, S. 11 ff. m. w. N. Eine Wirkung über das Frustrationsverbot hinaus lehnte der EuGH nunmehr ausdrücklich in der Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 Rn. 121 ff. (Adeneler) ab. 258 Dazu zählen auch Gerichtsurteile, vgl. EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 Rn. 121 ff. (Adeneler). Vgl. zum Ganzen instruktiv Haltern, Europarecht, S. 362 ff. m. w. N. 259 Mittlerweile ganz h.M., vgl. Oppermann, Europarecht, § 6 Rn. 91 m. w. N.; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 131. Vgl. auch BVerwGE 112, 140 (156). Krit. Gronen, Vorwirkung von EG-Richtlinien, S. 49 ff., 73 f. 260 Umstritten ist, ob ab Richtlinienerlass über dieses Frustrationsverbot hinaus nicht auch eine generelle Sperrwirkung angenommen werden muss. Im Ergebnis ist diese Auffassung wohl nicht mit Art. 249 Abs. 3 EGV zu vereinbaren. So nun ausdrücklich auch der EuGH in der Rs. C-138/05, Slg. 2006, I-8339 Rn. 39 ff. (Stichting). Wie hier Hartley, EC-Law, S. 204 f. A. A. GA Mancini in dessen Schlussantrag in der Rs. C-30/85, Slg. 1987, 2489 Rn. 7 (Teuting); GA Sharpston in deren Schlussantrag in der Rs. C-138/05, Slg. 2006, I-8339 Rn. 86 (Sichting); Langeheine, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 100 EGV Rn. 69. Ausführlich zum Ganzen Koller, EG-Richtlinien vor Ablauf der Umsetzungsfrist, S. 15 ff., 41 ff. m. w. N. 261 EuGH, Rs. C-129/96, Slg. 1997, I-7411 (Wallonie). 262 So ausdrücklich auch Klamert, CMLRev. 2006, 1251 (1271); Prechal, Directives, 2. Aufl., S. 92 f.; Schliesky, DVBl. 2003, 631 (635 ff.). Vgl. Bleckmann, Europarecht, Rn. 1189 ff.; Klein, Unmittelbare Geltung, S. 12 m. w. N.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 Rn. 47; Winter, CMLRev. 1972, 425 (438). A. A. wohl noch h. M., vgl. statt vieler Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, Rn. 274; Streinz, Europarecht, Rn. 444. Ausführlich zum Ganzen und sehr lehrreich Prechal, Directives, 2. Aufl., S. 92 ff. m. w. N. 263 Der EuGH stützt das Frustrationsverbot regelmäßig auf Art. 249 Abs. 3 i. V. m. 10 Abs. 2 EGV, vgl. nur EuGH, Rs. C-129/69, Slg. 1997, I-7411 Rn. 45 (Wallonie). 264 Mit der Entscheidung in der Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 Rn. 67 ff. (Mangold) scheint der EuGH nunmehr die Auffassung zu vertreten, dass eine unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien auch bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist und auch im Verhältnis zwischen Privaten in Betracht käme. Dieses Urteil ist aber sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung äußerst fragwürdig und bisher alleine geblieben. Es soll daher im Folgenden unberücksichtigt bleiben. Vgl. ähnlich Hetmeier, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 12.

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sondern betrifft ausschließlich die Frage nach der noch zu behandelnden unmittelbaren Wirkung einer Vorschrift, die selbstverständlich unter einer Bedingung, beispielsweise der Umsetzung oder des Ablaufs der Umsetzungsfrist, stehen kann.265 Zusammenfassend lässt sich damit festhalten: Der Terminus „unmittelbaren Geltung“ kennzeichnet das Problem, ob eine bestimmte Norm direkt – also ohne weiteren Zwischenschritt – innerstaatliche Rechtswirkungen erzeugen kann oder einer vorherigen Umsetzung durch den jeweiligen nationalen Gesetzgeber bedarf266, oder um es etwas präziser mit den Worten von Jan A. Winter267 zu formulieren: „(. . .) as to how (. . .) Law is incorportated into municipal law so as to become the ‚law of the land‘.“268 Während völkerrechtlichen Bestimmungen in den einzelnen nationalen Rechtsordnungen im Allgemeinen nur dann Geltung zukommt, wenn dies durch den jeweiligen nationalen Gesetzgeber angeordnet worden ist, ist für gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen eine solche Anordnung nicht erforderlich; bei Verordnungen ist eine innerstaatliche Umsetzung sogar untersagt.269 In völkerrechtlichen Kategorien ausgedrückt kommt der Gemeinschaftsrechtsordnung also eine gleichsam monistische Wirkung zu, Folge des supranationalen Verständnisses des Gemeinschaftsrechts.270 Weil der Begriff „unmittelbare Geltung“ aber eben einzig die Eigenschaft einer Norm beschreibt, ohne Zwischenakt Teil einer Rechtsordnung zu werden, die von der Rechtsordnung verschieden ist, aus welcher die Norm hervorgegangen ist, ist die (unmittelbare) Geltung einer Norm in der Rechtsordnung, in der sie erlassen worden ist, völlig unproblematisch. Vorschriften des Gemeinschaftsrechts gelten demnach ganz selbstverständlich auf der Ebene der Europäischen Union und müssen von Rat und Parlament, Kommission und Gerichtshof im Allgemeinen und von Anfang an beachtet werden. 265 Die hier vertretene Auffassung weicht damit bewusst – wenn auch nur marginal – von der Definition des Begriffs „unmittelbare Geltung“ aus der SimmenthalEntscheidung (EuGH, Rs. C-106/77, Slg. 1978, 629) ab. Der Unterschied liegt darin, dass eine Norm selbst dann als in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltend begriffen wird, wenn sie nicht sogleich mit ihrem Inkrafttreten, sondern erst später volle Wirksamkeit entfaltet (wie Richtlinien nach Ablauf der Umsetzungsfrist). Vgl. dazu Dannecker, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.) Rechtsschutz, § 38 Rn. 22. 266 Bei Normen, die von vornherein vom nationalen Gesetzgeber erlassen worden sind, stellt sich das Problem damit logischerweise erst gar nicht. 267 Winter, CMLRev. 1972, 425 ff. 268 Dashwood, JCMS 1978, 229 (230), bezeichnet die unmittelbare Geltung als „a certain method of incorporating Community Law into the national legal order.“ 269 EuGH, Rs. C-34/73, Slg. 1973, 981 Rn. 8, 10 f., 15 (Variola). 270 So auch Klein, Unmittelbare Geltung, S. 10; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 68. Die Gründungsvorgänge der Europäischen Gemeinschaften und der Union sind dagegen nach allgemeinem Völkerrecht und damit aus der Sicht des Dualismus zu erklären. Ausführlich zum Ganzen Bleckmann, Europarecht, Rn. 1087 ff.

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Abzugrenzen ist die Frage der unmittelbaren Geltung einer Norm von der ihrer unmittelbaren Wirkung und unmittelbaren Anwendbarkeit. Diese notwendige Unterscheidung wird vor allem im deutschen Schrifttum271 häufig vernachlässigt.272 Im Gegensatz zum Prinzip der unmittelbaren Geltung beschreibt der Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit nicht die Eigenschaft eines Rechtssatzes, ohne weiteren Umsetzungsakt Teil der innerstaatlichen Rechtsordnung zu werden, sondern befasst sich mit der Frage, ob eine Norm auch ohne gesetzliche Konkretisierung Rechte und Pflichten des Einzelnen zu begründen vermag, die vor Behörden oder Gerichten eingefordert werden können.273 Der Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit beschäftigt sich – um es wiederum mit dem Worten von Jan A. Winter274 zu sagen – also mit dem Problem der „(. . .) conditions under which Community norms thus incorportated into the municipal legal order are susceptible of being invoked before national courts by private individuals.“ Die Geltung einer Norm ist somit notwendige Voraussetzung für eine potentielle (unmittelbare) Anwendbarkeit derselben oder anders formuliert: die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit ist der der (unmittelbaren) Geltung nachgeschaltet. Bei der Feststellung der unmittelbaren Anwendbarkeit handelt es sich zudem um ein inhaltlich-strukturelles und nicht wie im Fall der unmittelbaren Geltung um ein bloß formales Kriterium.275 Sowohl in der Rechtsprechung des EuGH als auch in der europarechtlichen Literatur taucht neben den Begriffen „unmittelbaren Geltung“ und „unmittelbaren Anwendbarkeit“ sehr häufig noch ein dritter Terminus auf, nämlich der der unmittelbaren Wirkung. Auch dieser Begriff wird nicht selten mit den beiden anderen vermengt und als deren Synonym gebraucht.276 Im weiteren Fortgang der Arbeit wird der Terminus „unmittelbare Wir271 Vgl. Jarass, NJW 1990, 2420 (2421); Schweitzer, Staatsrecht III, Rn. 515 ff.; ders./Hummer, Europarecht, S. 103, 106; Streinz, Europarecht, Rn. 444. 272 Teilweise verwendet der EuGH jedoch auch selbst die Begriffe ohne jeglicher Differenzierung. Sehr genau unterscheiden dagegen Haag, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die EU, 6.3.1.; Klein, Unmittelbare Geltung, S. 4 m. w. N.; Schütz/ Bruha/König, Casebook, S. 68; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 126 f. m. w. N. 273 Vgl. zum Ganzen Bleckmann, Europarecht, Rn. 1152 ff.; Haltern, Europarecht, S. 314 f.; Prechal, CMLRev. 2000, 1047 ff.; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 68; Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, Rn. 168 ff. Ausführlich dazu unten Teil 3, III. 4. a). 274 Winter, CMLRev. 1972, 425 (435 f.). 275 So auch Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 72. 276 So schon EuGH, Rs. C-26/62, Slg. 1963, 1 ff. (Van Gend & Loos). Vgl. auch v. Danwitz, Europäische Integration, S. 104 ff.; Jarass, NJW 1990, 2420 (2421); Koller, EG-Richtlinien vor Ablauf der Umsetzungsfrist, S. 9 ff. Manche wollen den Begriff der unmittelbaren Wirkung dagegen für Richtlinien und staatsgerichtete Entscheidungen reservieren. Vgl. Reiling, Individuelle Rechte, S. 282 m. w. N.; Schweitzer/Hummer, Europarecht, S. 106; Streinz, Europarecht, Rn. 444. Jedoch verwendete

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kung“ seinem Wortlaut gemäß jedoch bereits dann Verwendung finden, wenn ausgedrückt werden soll, dass eine Norm Rechtswirkungen erzeugt, gleichgültig welcher Art.277 Dies ist im Allgemeinen278 dann der Fall, wenn einem Rechtssatz entsprechend der obigen Definition innerstaatliche Geltung zukommt. Nicht notwendig ist dagegen, dass dieser einen vollzugsfähigen (sog. „self-executing“) Inhalt aufweist, also unmittelbar anwendbar ist.279 Die Frage nach der unmittelbaren Wirkung einer Norm ist damit der Frage nach der unmittelbaren Geltung nach- und der nach der unmittelbaren Anwendbarkeit vorgeschaltet.280 Besonders schön lässt sich die Systematik dieser Begriffe am Beispiel der Richtlinien veranschaulichen. Bei Richtlinienbestimmungen handelt es sich gemäß dem obigen Verständnis ab deren Erlass um in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltende Vorschriften. Nach281 Ablauf der Umsetzungsfrist erzeugt jede Richtlinie zumindest die Wirkung einer Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung. Nur wenn der Inhalt der jeweiligen Richtlinie bestimmte zusätzliche Merkmale aufweist, die noch genauer zu untersuchen sein werden, ist diese auch unmittelbar anwendbar, sodass auch der Einzelne sich auf diese zu stützen vermag. b) Die Grundsatznormen als unmittelbar geltendes Recht Nach dieser kurzen Einführung in die Terminologie des Europarechts stellt sich nun die Frage, ob auch die Grundsätze im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC, vorausgesetzt die Europäische Grundrechtecharta tritt tatsächlich einmal in Kraft, in den Mitgliedstaaten282 unmittelbar gelten. Für deren Geltung auf der Ebene der Gemeinschaft bestehen wie eben erläutert keine Zweifel. der EuGH auch bei Bestimmungen des EG-Vertrages diesen Begriff. Vgl. schon EuGH, Rs. C-26/62, Slg. 1963, 1 ff. (Van Gend & Loos). 277 In Ansätzen bereits Craig/de Bfflrca, EU-Law, S. 269 f.; Langenfeld, DÖV 1992, 955 (957). 278 Zu den Ausnahmen sogleich unter Teil 3, III. 3. b). 279 Ausführlich dazu unten Teil 3, III. 4. a). 280 Anders Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, Rn. 179, nach deren Auffassung die unmittelbare Wirkung der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit nachgeschaltet sei. 281 Vor Ablauf der Umsetzungsfrist erzeugt jede Richtlinie die Wirkung eines Frustrationsverbot (unmittelbare Wirkung), auf welches sich der Einzelne auch zu stützen vermag, dieses also auch unmittelbar anwendbar ist. Zum Ganzen siehe gerade eben bei Rn. 1146. 282 Die Geltung der Grundrechtecharta ist aufgrund eines „Kompromisses“ während des Europäischen Rates von Brüssel v. 21./22. Juni 2007 für Großbritannien (teilweise auch für Polen) ausgeschlossen worden, vgl. die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Brüssel Doc. 11177/07 S. 17. Siehe dazu ausführlich oben Teil 1, I. und Teil 4, III. 2.

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Handelte es sich bei der Grundrechtecharta um gemeinschaftsrechtliches Sekundärrecht, wäre die Frage alleine schon aufgrund des gerade beschriebenen Prinzips der Supranationalität zu bejahen.283 Jedoch ist die Charta, obgleich sie entsprechend des Brüsseler-Kompromisses284 nicht Aufnahme in die Verträge gefunden hat, nicht dem sekundären, sondern dem primären Gemeinschaftsrecht zuzuordnen. Diese Einordnung folgt erstens aus dem Sinn und Zweck der Charta. Um nämlich überhaupt als Maßstab für die Überprüfung von Handlungen/Unterlassungen der Union (und teilweise285 auch solcher der Mitgliedstaaten, vgl. Art. 51 Abs. 1 GRC) Anwendung finden zu können, muss die Charta dem Sekundärrecht vorgehen und damit primärrechtlicher Natur sein. Zweitens haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten aber auch ausdrücklich darauf verständigt,286 die Charta, wenn sie aufgrund des Widerstands Großbritanniens schon nicht Teil des EG-Vertrages werden konnte, durch den Verweis in Art. 6 Abs. 1 EUV n. F. wenigstens in den Rang verbindlichen Primärrechts zu erheben. Nun gelten nach allgemeiner Ansicht aber nicht nur sekundärrechtliche Bestimmungen, sondern selbstverständlich auch die Vorschriften287 des europäischen Primärrechts288 in den einzelnen Mitgliedstaaten unmittelbar. Von diesem Grundsatz gibt es jedoch eine wesentliche Ausnahme:289 Keine Geltung in den Mitgliedstaaten besitzen solche primärrechtlichen Nor283 Ausnahmsweise entfalten auch sekundärrechtliche Bestimmungen keine Geltung in den Mitgliedstaaten, wenn sie ausschließlich inter- bzw. intraorganschaftliche Beziehungen regeln. 284 Vgl. die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Brüssel v. 21./22. Juni 2007 Doc. 11177/07 S. 17. 285 Siehe ausführlich oben Teil 4, III. 1. 286 Vgl. die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Brüssel v. 21./22. Juni 2007 Doc. 11177/07 S. 17. 287 Als wichtigste Beispiele seien hier die Grundfreiheiten und die Grundrechte als Allgemeine Rechtsgrundsätze genannt. Vgl. daneben auch EuGH, Rs. C-28/67, Slg. 1968, 215, 232 (Molkerei-Zentrale). Zum Ganzen vgl. Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 69 f. m. w. N. 288 Genaugenommen ist der Grundsatz der unmittelbaren Geltung des primären Gemeinschaftsrechts nicht ganz richtig. Im Gegensatz zum sekundären Gemeinschaftsrecht bedarf das europäische Primärrecht nämlich regelmäßig der Ratifikation durch die Mitgliedstaaten (vgl. nur Art. 313 EGV). Noch weiter geht das deutsche Bundesverfassungsgericht. Nach diesem gelte sowohl das europäische Primär- als auch das europäische Sekundärrecht in der Bundesrepublik Deutschland nur aufgrund eines in dem jeweiligen Zustimmungsgesetz enthaltenen Anwendungsbefehls, vgl. BVerfGE 73, 339 (375) (Solange II). Dem Bundesverfassungsgericht ausdrücklich und zu Recht widersprechend Jarass, in: ders./Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 23 Rn. 32 m. w. N.; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 20 Abs. 3 Rn. 255. 289 Zum Ganzen Jarass, NJW 1990, 2420.

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men290, die sich ausschließlich an die Organe oder Einrichtungen der Europäischen Gemeinschaften richten.291 Diese Vorschriften bedürfen auch gar keiner innerstaatlichen Geltung, regeln sie doch nur inter- bzw. intraorganschaftliche Beziehungen, denen in den nationalen Rechtordnungen ohnehin keinerlei Bedeutung zukäme. Eine Art Sonderstellung zwischen primären und sekundären Gemeinschaftsrecht nehmen die durch die Gemeinschaft abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge ein, weshalb sie an dieser Stelle kurz Erwähnung finden sollen. Internationale Vereinbarungen der Gemeinschaft sind dem Sekundärrecht über-, dem Primärrecht aber untergeordnet.292 Anders als den eben genannten organisationsrechtlichen Normen des Primärrechts kommt ihnen in den Mitgliedstaaten zwar Geltung zu, jedoch im Unterschied zu gemeinschaftlichen Primär- oder Sekundärrecht nicht schon unmittelbar kraft Supranationalität, sondern erst aufgrund des in Art. 300 Abs. 7 EGV normierten Anwendungsbefehls.293 Die Europäische Grundrechtecharta ist indes weder als ein von der Gemeinschaft abgeschlossener völkerrechtlicher Vertrag, noch als primärrechtliches Organisationsrecht zu qualifizieren. Als „gewöhnliches“ Primärrecht besitzt sie in Folge der „monistischen Konzeption“ des Gemeinschaftsrechts damit aber auch unmittelbare Geltung in den einzelnen Mitgliedstaaten; einer weiteren Transformation ins nationale Recht oder eines sonstigen Umsetzungsaktes bedarf es nicht. Dass dies jedenfalls auf die in der Charta normierten Grundrechte so zutrifft, dürfte der ganz herrschenden Meinung entsprechen,294 vor allem auch deshalb, weil der EuGH den Grundrechten 290 Darunter fallen viele Bestimmungen des fünften Teils des EG-Vertrags („Organe der Gemeinschaft“), z. B. Art. 197, 199 und 210 EGV. Auch sekundäres Gemeinschaftsrecht, welches ausschließlich inter- bzw. intraorganschaftliche Beziehungen regelt, hat ebenfalls keine Geltung in den Mitgliedstaaten. 291 Diejenigen, die die Lehre vom Monismus in Reinform vertreten, müssen dagegen auch bei diesen Vorschriften von einer innerstaatlichen Geltung ausgehen. 292 EuGH, Rs. C-21–24/72, Slg. 1972, 1219, 1230 (International Fruit Company III). Vgl. auch Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 63. 293 A. A. ganz h. M., vgl. EuGH, Rs. C-104/81, Slg. 1982, 3641 Rn. 13 ff. (Kupferberg); Rs. C-12/86, Slg. 1987, 3719 (Demirel); Bleckmann, Europarecht, Rn. 642 ff.; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 71 f.; Klein, Unmittelbare Geltung, S. 14 m. w. N. Die hier vertretene Ansicht lehnt die herrschende Meinung lediglich aus rein dogmatischen Gründen ab. Beide Auffassungen kommen in der Praxis stets zum gleichen Ergebnis. Wie hier wohl nur Haag, in: Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die EU, 6.3.1.; Oppermann, Europarecht, § 7 Rn. 19 ff., § 30 Rn. 33. Andernfalls wäre kaum zu erklären, warum Gemeinschaftsrecht hinsichtlich des Völkergewohnheitsrechts lediglich konform auszulegen ist, nicht aber direkt durchschlägt, vgl. EuGH, Rs. C-284/95, Slg. 1998, I-4301 (Safety Hi-Tech). 294 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 3 Rn. 6 m. w. N.

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in Form der allgemeinen Rechtsgrundsätze ebenfalls unmittelbare Geltung zuspricht.295 Allerdings könnte bei den ebenfalls in der Charta enthaltenen Grundsätzen anders zu entscheiden sein, verpflichtet Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRC doch ausdrücklich zunächst zu deren Umsetzung. Aus der Zusammenschau mit Satz 2 des Art. 52 Abs. 5 GRC lässt sich jedoch folgern, dass der Terminus „Umsetzung“ in diesem Zusammenhang nicht als Synonym für den völkerrechtlichen Begriff der „Transformation“ zu verstehen ist, sondern lediglich im Sinne einer Verpflichtung zur Konkretisierung der aufgeführten Grundsätze.296 Diese Interpretation ergibt sich zum einen daraus, dass andernfalls die Union in Satz 1 dieses Absatzes überflüssigerweise als Adressat genannt wäre. Die Union verfügt nämlich überhaupt nicht über die Kompetenz zur innerstaatlichen Transformation. Zum anderen bestimmt Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC, dass die Umsetzungsakte297 ab dem Zeitpunkt ihres Erlasses anhand der Grundsätze ausgelegt werden müssen bzw. deren Rechtmäßigkeit an jenen zu messen ist. Wenn nun aber die Grundsatznormen als Maßstab für die Rechtmäßigkeit von Umsetzungsakten von den Behörden und Gerichten herangezogen werden müssen, müssen diese bereits Teil der nationalen Rechtsordnung sein und damit in den Mitgliedstaaten unmittelbar gelten.298 Die Umsetzungsakte im Sinne des Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRC sorgen folglich nicht für die Inkorporation der Grundsatznormen in die nationalen Rechtsordnungen, sondern präzisieren lediglich die in weiten Teilen doch sehr unbestimmten, unmittelbar geltenden Grundsätze.299 c) Rechtsfolgen (unmittelbar) geltender Grundsätze Bei den Grundsätzen im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC handelt es sich also um in der Union und den Mitgliedstaaten (unmittelbar) geltendes Recht. Im Folgenden soll nun untersucht werden, welche Rechtsfolgen das Gemeinschaftsrecht an eine solche Einordnung knüpft. Inwieweit sind die Union und die Mitgliedstaaten an die Grundsatznormen gebunden? Kann sich auch der Einzelne auf diese berufen und bei deren Verletzung ggf. Schadensersatz verlangen?

295 EuGH, Rs. C-5/88, Slg. 1989, 2609 Rn. 19 (Wachauf). Vgl. zum Ganzen auch Jarass, EU-Grundrechte, § 3 Rn. 6; Ruffert, EuGRZ 1995, 518 ff. 296 Siehe dazu unten Teil 3, III. 3. c) bb) (1). 297 Zum Begriff des Umsetzungsaktes sogleich unter Teil 3, III. 4. d) cc). 298 A. A. offensichtlich unter Verkennung der Begrifflichkeiten Jarass, EU-Grundrechte, § 3 Rn. 6. 299 Siehe dazu unten Teil 3, III. 4. d) cc).

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aa) Die Rechtsfolgen (unmittelbar) geltender Normen im Allgemeinen (1) Befolgungspflicht und Vorrang des Europarechts Wie ausführlich erläutert, sind sämtliche (unmittelbar) geltende Normen des EG-Rechts ab dem Zeitpunkt ihres In-Kraft-Tretens sowohl Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung als auch Teil der Rechtsordnungen aller 27 Mitgliedstaaten. Infolgedessen sind diese Normen von allen Gemeinschaftsorganen (einschließlich der Gemeinschaftsgerichte) sowie der Legislative, Exekutive und Judikative der Mitgliedstaaten zu beachten und einzuhalten. Darüber hinaus kommt ihnen aufgrund ihrer Qualifizierung als Gemeinschaftsrecht – so das Diktum des EuGH in der Rs. Costa v ENEL300 – Anwendungsvorrang301 vor jeder Vorschrift des nationalen Rechts zu. Das heißt jedoch nicht, dass nationale Gewährleistungen bei der Durchführung von Gemeinschaftsrecht überhaupt nicht zu berücksichtigen wären. Räumt nämlich das EG-Recht den Mitgliedstaaten Ermessen ein, können innerstaatliche Garantien (z. B. nationale Grundrechte302) diesen Ermessensspielraum beschränken. Dies gilt nur dann nicht, wenn die gemeinschaftsrechtliche Bestimmung eine abschließende Regelung anstrebt, um ein einheitliches Schutzniveau in allen Mitgliedstaaten herzustellen. Als Beispiel seien hier Richtlinien genannt, die – was selten der Fall ist – eine Vollharmonisierung auf einem bestimmten Gebiet intendieren.303 Die Verpflichtung, sich an gemeinschaftsrechtliche Normen zu halten, führt nun bei den Gesetzgebungsorganen (egal ob auf Unionsebene oder auf Ebene der Mitgliedstaaten) dazu, dass Gesetze304 nicht gegen diese Nor300 EuGH, Rs. C-6/64, Slg. 1964, 1251 (Costa v. ENEL). Vgl. auch EuGH, Rs. C-11/70, Slg. 1970, 125 (Internationale Handelsgesellschaft). 301 Mittlerweile ganz h. M. Ein Geltungsvorrang wird heute nicht mehr angenommen. Vgl. Dannecker, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 38 Rn. 21 ff.; Oppermann, Europarecht, § 7 Rn. 2 ff., Rn. 11 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 201. Zum Ganzen ausführlich Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 81 ff. m. w. N. 302 Vgl. dazu ausführlich unten Teil 4, III. 1. Die nationalen Grundrechte stehen grundsätzlich neben denen des Gemeinschaftsrechts, vgl. Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 34; Kühling, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (608 f.); Nowak, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 6 Rn. 38; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 190. So ist wohl auch das BVerfG zu verstehen, vgl. BVerfG, NJW 1990, 974 f. Wenige wollen dagegen ausschließlich die europäischen Grundrechte anwenden, vgl. Wetter, Grundrechtecharta des EuGH, S. 95. Diese Ansicht vertritt auch Nicolaysen, EuR 1989, 215 (220 f.) und stützt sich dabei ebenfalls auf BVerfG, NJW 1990, 974 f. 303 EuGH, Rs. C-5/77, Slg. 1977, 1555 Rn. 33/35 (Tedeschi/Denkavit). 304 Im Gemeinschaftsrecht Verordnungen und Richtlinien. Vgl. zu den atypischen Rechtssetzungsakten („Akte sui generis“) Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 175 ff.

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men305 verstoßen dürfen (abwehrrechtliche Dimension) oder Rechtsakte erlassen werden müssen, die diese Normen umsetzen (leistungsrechtliche Dimension)306. Nicht wenige Vorschriften weisen beide Wirkdimensionen auf. Art. 28 EGV beispielsweise statuiert neben dem Verbot, auf den freien Warenverkehr beschränkend einzuwirken307, zugleich auch das Gebot, Eingriffe Dritter in die Warenverkehrsfreiheit zu unterbinden.308 Eng damit zusammen hängt die Zielbestimmung des Art. 14 EGV. Diese verpflichtet309 die Gemeinschaftsorgane, ihre Befugnisse zur Rechtsangleichung aus Art. 94 und 95 EGV wahrzunehmen, um mit Hilfe von Harmonisierungsvorschriften Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit entgegenzuwirken, die vor allem auf das unterschiedliche Gebrauchmachen von den Derogationsmöglichkeiten des Art. 30 EGV zurückzuführen sind.310 (2) Umsetzungs- und Förderpflichten als Eingriffsrechtfertigung Solche Umsetzungs- und Förderpflichten, wie sie Art. 14 oder Art. 28 EGV statuieren, stellen aus einem anderen Blickwinkel betrachtet natürlich auch entsprechende Umsetzungs- und Förderrechte der Union und der Mitgliedstaaten dar. Aus diesem Grund finden einzelne Garantien oder Zielbestimmungen nicht nur als Maßstab für die Rechtmäßigkeitkontrolle gesetzgeberischen Handelns oder Unterlassens Anwendung, sondern können auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung als Interessen des Gemeinwohls herangezogen werden, um Gesetzesvorhaben zu rechtfertigen. Dies ist ständige Rechtsprechung311 des EuGH und nunmehr auch in 305

Im Gemeinschaftsrecht muss sich das Sekundärrecht am Primärrecht messen lassen. Zum Verhältnis von Verordnungen und Richtlinien vgl. Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 63 ff. 306 Der Begriff der leistungsrechtlichen Dimension ist hier weit zu verstehen i. S. einer Gewährung von Anspruchs- oder Schutzgewähr-, Teilhabe- oder Verfahrensrechten. Erfasst werden aber auch reine Umsetzungs- oder Förderpflichten, die die Union zu beachten, auf die der Einzelne aber keinen direkten Anspruch hat. 307 EuGH, Rs. C-8/74, Slg. 1974, 837 (Dassonville). 308 EuGH, Rs. C-265/95, Slg. 1997, I-6959, Rn. 28 ff. (Kommission/Frankreich). 309 Art. 14 EGV (i. V. m. Art. 3 Abs. 1 lit. c EGV) setzt als geltendes Gemeinschaftsrecht verbindliche Ziele, die stets auch bei der Auslegung des EG-Vertrags zu berücksichtigen sind, direkt aber nicht eingeklagt werden können, vgl. EuGH, Rs. 378/97, Slg. 1999, I-2607 (Wijsenbeek). Ausführlich dazu Lenz, in: ders./Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 14 Rn. 6 ff. 310 EuGH, Rs. C-37/83, Slg. 1984, 1229 (Rewe-Zentrale); Rs. C-5/77, Slg. 1977, 1555 Rn. 33/35 (Tedeschi/Denkavit). 311 So schon EuGH, Rs. C-44/79, Slg. 1979, 3727 Rn. 22 (Liselotte Hauer). Vgl. zum Ganzen Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 196 f.; Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 7 Rn. 41 ff.

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Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRC verankert,312 in dem es heißt: „(. . .) Einschränkungen [dürfen] nur vorgenommen werden, wenn sie (. . .) den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.“ Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 3 GRC) beispielsweise ermöglicht also nicht nur die Nichtigerklärung von Verordnungen oder Richtlinien, die gegen dieses Grundrecht verstoßen. Daneben dient es auch der Rechtfertigung von Eingriffen in andere Rechtsgüter (z. B. in die Berufsfreiheit oder die Eigentumsfreiheit, Art. 15 ff. GRC), die mit der Intention vorgenommen worden werden, die Gesundheit von Bürgern zu schützen.313 (3) Die Kompetenzneutralität von Umsetzungs- und Förderpflichten Im Zusammenhang mit der Verbindlichkeit von Umsetzungs- und Förderpflichten und deren Relevanz für die Rechtfertigungsprüfung ist allerdings auch Folgendes zu beachten: Aus der bloßen Verpflichtung von Gesetzgebungsorganen, bestimmte Ziele zu fördern314 oder zugunsten bestimmter Rechtsgüter Schutzmaßnahmen zu ergreifen, kann für sich alleine noch nicht die Befugnis hergeleitet werden, entsprechende Rechtsakte auch tatsächlich erlassen zu dürfen.315 Letzteres ist nämlich ausschließlich Frage der Kompetenz.316 Aus diesem Grund trennt Art. 5 EGV streng317 zwischen Auf312 Vgl. dazu v. Danwitz, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 36 ff.; Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn 41 ff.; Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 7 Rn. 64 ff. 313 Z. B. die Feinstaubrichtlinie 1999/30/EG. 314 Vgl. dazu vor allem die Art. 2 f. EGV. Für den Binnenmarkt besonders wichtig ist Art. 14 EGV. 315 Einen Grundsatz der Parallelität von Kompetenzen und Grundrechtschutz gibt es gerade nicht. Vgl. dazu Pernice, DVBl. 2000, 847 (852). Zum Ganzen Heselhaus, in: ders./Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 3 Rn. 16 f. 316 Es gilt das Prinzip der begrenzten Ermächtigung („compétences d’attribution“), vgl. EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759 Rn. 23 f. (EMRK). Vgl. zum Ganzen auch BVerfGE 89, 155 (192 ff.) (Maastricht); Bleckmann, Europarecht, Rn. 380 ff.; Oppermann, Europarecht, § 6 Rn. 63 f.; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 184 f., 187. 317 Der EuGH weicht diese klare Trennung teilweise durch seine „impliedpowers“- und „effet-utile“-Rechtsprechung wieder auf. Vgl. EuGH, Rs. C-8/55, Slg. 1956, 297, 312 (Fédéchar); Rs. C-22/70, Slg. 1971, 263 (AETR). Ebenfalls durchbrochen wird dieses Trennungsprinzip durch Art. 308 EGV. Vgl. zum Ganzen Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 5 Rn. 13 ff.; Heselhaus, in: ders./

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gabennormen einerseits und Kompetenznormen andererseits.318 Dass die bloße Zuerkennung von Rechten oder Ansprüchen auf gesetzgeberisches Tätigwerden keine Auswirkung auf die Kompetenzverteilung hat, wird für Garantien der Grundrechtecharta319 nochmals ausdrücklich in Art. 51 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 GRC klargestellt.320 Wie bereits erläutert,321 wollte man damit der Gefahr einer weiteren, schleichenden Kompetenzübertragung auf Europa entgegentreten und einen „judicial activism“322 seitens des EuGH verhindern. Die Union und die Mitgliedstaaten werden beispielsweise durch Art. 3 GRC deshalb zwar verpflichtet, die Gesundheit ihrer Bürger zu schützen. Für den Erlass entsprechender Schutz- bzw. Harmonisierungsmaßnahmen (z. B. eines Tabakwerbeverbots) fehlt es der Union jedoch an der dazu notwendigen Kompetenz (vgl. Art. 152 Abs. 4 lit. c EGV).323 Gewährleistungen können allenfalls als sog. „negative Kompetenzvorschriften“324 den Erlass bestimmter Maßnahmen, welche aus Kompetenzgründen eigentlich zulässig wären, verhindern; nie können durch diese aber neue Befugnisse geschaffen werden. Mit der Normierung von Garantien und Gewährleistungen geht also keine automatische Änderung in der Kompetenzordnung einher. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet bedeutet das natürlich auch, dass die Union unabhängig von der noch zu besprechenden Vorschrift des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC nicht gerichtlich zur Vornahme von positiven Handlungen gezwungen werden kann, wenn ihr für die in Frage stehende, aus einer Gewährleistung Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 3 Rn. 18 ff.; Oppermann, Europarecht, § 6 Rn. 64 ff. m. w. N. 318 Vgl. Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 5 Rn. 8 ff.; Heselhaus, in: ders./Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 3 Rn. 9 ff.; Langguth, in: Lenz/ Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 5 Rn. 10 ff. 319 Hinsichtlich der Grundrechte und Grundsätze, für die der Union eigentlich keine Kompetenz zukommt, vgl. v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 145 f. m. w. N.; Calliess, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20 Rn. 19 ff. 320 Ausführlich Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 37 ff.; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 52 ff. 321 Siehe oben Teil 2, I. 2. b). 322 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 30a. Vgl. zudem Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 13. Intressant in diesem Zusammenhang ist auch der Beitrag von Herzog/Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ v. 8. September 2008, S. 8. 323 EuGH, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8599 (Tabakwerberichtlinie). 324 Dieser Aspekt von Gewährleistungen wird immer nur in Zusammenhang mit Grundrechten beschrieben, gilt aber allgemein. Grundlegend Ehmke, VVDStRL 20, 1963, 53 (89 ff.). Vgl. Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 73 f.; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 154 f.; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 22 ff.

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möglicherweise resultierende Handlungsverpflichtung an der dazu notwendigen Kompetenz fehlt.325 (4) Die Pflicht zur normkonformen Auslegung Bei Behörden und Gerichten führt die Verpflichtung zur Beachtung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen primär dazu, dass sämtliche Normen des EG-Rechts im Rahmen der Auslegung zu berücksichtigen sind. Auf der Ebene der Mitgliedstaaten gilt der Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen326, auf der Ebene der Union der der primärrechtskonformen Auslegung327. Diese Pflicht zur „normkonformen“328 Auslegung fließt dabei direkt aus der (unmittelbaren) Geltung der jeweiligen Vorschrift des Gemeinschaftsrechts. Deren unmittelbare Anwendbarkeit ist – so der EuGH ausdrücklich in der Rs. von Colson329 – hierfür nicht erforderlich. Dies lässt sich damit erklären, dass bei dieser Art der Auslegung ein bereits konkret formuliertes Recht durch eine gemeinschaftsrechtliche Bestimmung inhaltlich lediglich geringfügig modifiziert wird, um ein mit dieser Bestimmung konformes Ergebnis zu erhalten. Dafür muss aber lediglich die Schutzrichtung dieser Bestimmung erkennbar sein; nicht erforderlich ist dagegen, dass deren Schutzbereich in allen Einzelheiten bereits feststeht. Auf die unmittelbare Anwendbarkeit330 einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts – darauf wird im Anschluss an dieses Kapitel sehr ausführlich einzugehen sein – kommt es demgegenüber erst dann an, wenn danach gefragt wird, ob sich der einzelne Bürger vor Behörden oder Gerichten auf diese gemeinschaftsrechtliche Bestimmung auch direkt berufen331 kann. 325 Vgl. dazu auch Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 272 f. Ausführlich zur fehlenden Parallelität zwischen Gewährleistungen und Kompetenzen Philippi, Charta der Grundrechte, S. 31 ff. 326 EuGH, Rs. C-322/88, Slg. 1989, 4407 Rn. 18 (Grimaldi); Rs. C-456/98, Slg. 2000, I-4941 (Centrosteel); Rs. C160/01, Slg. 2003, I4791, Rn. 34 (Mau). Zum Ganzen Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 113 ff.; Oppermann, Europarecht, § 8 Rn. 27 m. w. N. 327 EuGH, Rs. C-314/89, Slg. 1991, I-1647 (Rauh). Zum Ganzen Oppermann, Europarecht, § 8 Rn. 18 ff.; Schröder, JuS 2004, 180 ff. 328 Der Begriff der normkonformen Auslegung wird im Folgenden als Oberbegriff für die gemeinschaftskonforme und die primärrechtskonforme Auslegung verwendet. 329 EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 (von Colson). Vgl. auch Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ders. (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 33 Rn. 43 ff. 330 Zum Begriff siehe oben Teil 3, III. 3. a) bb). 331 Mit dem Verb „berufen auf“ soll nicht ausgedrückt werden, dass sich eine Partei vor Behörde oder Gericht ausdrücklich auf die jeweilige Gemeinschaftsbestimmung stützen, also die rechtlichen Argumente vorbringen muss, sondern nur, dass die Norm zugunsten des Einzelnen direkte Anwendung findet. Vgl. dazu

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Die Geltung einer Norm ist nun zwar notwendige, aber nicht immer hinreichende Voraussetzung, damit nachrangiges Recht unter Beachtung dieser einen Norm auszulegen ist. Selbstverständlich kann eine Bestimmung nur dann Maßstab eines Auslegungsvorgangs sein, wenn deren Tatbestandsmerkmale auch alle erfüllt sind. Die hier dargestellte Problematik ist vor allem bei Richtlinien interessant und relevant. Wie oben ausführlich erläutert,332 handelt es sich bei Richtlinienbestimmungen ab dem Zeitpunkt ihres Erlasses um geltendes Gemeinschaftsrecht.333 Schon alleine aufgrund dieser Einordnung müsste nach dem bisherigen Gesagten nationales Recht eigentlich stets konform hierzu ausgelegt werden.334 Die Mitgliedstaaten sind nun aber vor Ablauf der Umsetzungspflicht – das Frustrationsverbot sei an dieser Stelle einmal außer Acht gelassen335 – gerade nicht verpflichtet, die jeweilige Richtlinie zu berücksichtigen oder gar umzusetzen. Aus diesem Grund müssen auch nationale Behörden oder Gerichte bis zu diesem Zeitpunkt innerstaatliches Recht nicht entsprechend der jeweiligen Richtlinie auslegen,336 können337 dies aber natürlich tun, wenn nationales Recht dem nicht entgegensteht oder dies sogar fordert.338 EuGH, Verb. Rs. C-87–89/90, Slg. 1991, I-3757 (Verholen). Siehe ausführlich hierzu unten Teil 3, III. 4. a) aa). 332 Siehe oben Teil 3, III. 3. a) bb). 333 A. A. GA Reischl in dessen Schlussantrag in der Rs. C-148/78, Slg. 1979, 1650 (Ratti); Di Fabio, NJW 1990, 947 (953); Everling, FS Carstens I, S. 95 (107); Reiling, Individuelle Rechte, S. 282 m. w. N.; Schweitzer/Hummer, Europarecht, 5. Aufl., S. 106; Streinz, Europarecht, Rn. 444. 334 So auch Arnull, ELRev. 1988, 42 (45); Lenz, DVBl. 1990, 903 (908); Ress, DÖV 1994, 489 (492 f.). Vgl. auch GA Darmon in dessen Schlussantrag in der Rs. C-87/90, Slg. 1991, I-3757 (Verholen). Diese Ansichten dürften aber wohl auf eine Fehlinterpretation des Urteils des EuGH in der Rs. C-80/86, Slg. 1987, 3969, 3987 (Kolpinghuis Nijmegen) zurückzuführen sein. Auf dieser Linie nun aber auch die Entscheidung des EuGH in der Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 Rn. 67 ff. (Mangold), die aber sowohl im Ergebnis als auch in ihrer Begründung äußerst fragwürdig ist. Vgl. hierzu auch Hetmeier, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 12. 335 Ausführlich dazu oben Teil 3, III. 3. a) bb). 336 So auch Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 110 m. w. N.; Hetmeier, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 240 EGV Rn. 12. Vgl. auch GA Jacobs in dessen Schlussantrag in der Rs. C-316/04, Slg. 2005, I-9759 Rn. 54 ff. (Stichting). 337 Ob das jeweilige nationale Recht eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung auferlegen kann, ist umstritten. Manche bejahen dies, wenn eine Umsetzung vor Ablauf der Umsetzungsfrist erfolgt ist. Vgl. Jarass, EuR 1991, 211 (220); Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507 (2508); Müller-Graff, NJW 1993, 13 (21 f.). Vgl. auch GA Jacobs in dessen Schlussantrag in der Rs. C-156/91, Slg. 1992, I-5567 Rn. 23 ff. (Hansa Fleisch). Vgl. auch BGH, NJW 1998, 2208 (2211). Andere lehnen eine richtlinienkonforme Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist dagegen gänzlich ab, vgl. Hilf, EuR 1993, 1 (15); Ehricke, EuZW 1999, 553, (554 ff.). Vgl. zum Ganzen Koller, EG-Richtlinien vor Ablauf der Umsetzungsfrist, S. 99 ff. m. w. N.

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Richtlinien sind also wie folgt zu begreifen: Ab dem Zeitpunkt ihres Erlasses werden sie Teil der nationalen Rechtsordnungen und sind damit als in allen Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht anzusehen.339 Im Zeitraum zwischen Erlass und Ablauf der Umsetzungsfrist verharren Richtlinienbestimmungen jedoch in einer Art Wartestellung, ohne dass sie dabei irgendwelche Rechtswirkungen hervorriefen – ausgenommen die Anordnung eines Frustrationsverbots.340 Erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist – erst dann nämlich ist das letzte Tatbestandsmerkmal erfüllt – entsteht (zumindest341) die gemeinschaftsrechtliche Pflicht342 zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts. bb) Die Rechtsfolgen der Grundsatznormen im Speziellen Für die vorliegende Arbeit besonders interessant sind nun natürlich die Rechtsfolgen der Grundsatznormen. Die nachfolgende Erörterung beschränkt sich dabei auf diejenigen rechtlichen Folgen, die sich direkt aus der Einordnung der Grundsätze als (unmittelbar) geltendes Recht ergeben. (1) Ausgangspunkt Ausgangspunkt der sich anschließenden Überlegungen soll sein, dass die Grundsatznormen im Wesentlichen die gleichen Rechtsfolgen auslösen wie alle anderen (unmittelbar) geltenden Gemeinschaftsbestimmungen auch.343 Dementsprechend sind sie von sämtlichen Unionsorganen (einschließlich der Gemeinschaftsgerichte) sowie von Legislative, Exekutive und Judikative der Mitgliedstaaten zu beachten und einzuhalten. Gesetze dürfen nicht gegen sie verstoßen bzw. es müssen Rechtsakte erlassen werden, die die 338 Eine Mindermeinung lehnt eine richtlinienkonforme Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist gänzlich ab, vgl. die in der vorstehenden Fn. 337 Genannten. Damit dürfte diese Ansicht aber ein wenig über das Ziel hinausschießen. 339 A. A. GA Reischl in dessen Schlussantrag in der Rs. C-148/78, Slg. 1979, 1650 (Ratti); Di Fabio, NJW 1990, 947 (953); Everling, FS Carstens I, S. 95 (107); Reiling, Individuelle Rechte, S. 282 m. w. N.; Schweitzer/Hummer, Europarecht, 5. Aufl., S. 106; Streinz, Europarecht, Rn. 444. Siehe dazu oben Teil 3, III. 3. a) bb). 340 Vgl. GA Jacobs in dessen Schlussantrag in der Rs. C-156/91, Slg. 1992, I-5567 Rn. 17 ff. (Hansa Fleisch); Koller, EG-Richtlinien vor Ablauf der Umsetzungsfrist, S. 132 ff. m. w. N.; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ders. (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 33 Rn. 51 ff. 341 Zur unmittelbaren Anwendbarkeit siehe unten Teil 3, III. 4. a). 342 Ob sich daneben eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung aus dem nationalen Recht ergibt, kann nur für jede einzelne Rechtsordnung separat entschieden werden und soll deshalb hier dahinstehen. 343 Siehe dazu ausführlich oben Teil 3, III. 3. c) aa).

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Grundsätze umsetzen (vgl. Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRC)344. Ebenso wie herkömmliche Grundrechte oder einfache Zielbestimmungen können auch die Grundsätze zur Rechtfertigung von Eingriffen in andere Gewährleistungen herangezogen werden.345 Mit ihrer Normierung sollte jedoch – wie oben346 bereits allgemein festgestellt – keine Kompetenzübertragung auf Europa einhergehen (vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 GRC). (2) Die Vorschrift des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC Für die Grundsatznormen ordnet nun Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC aber möglicherweise eine Abweichung von diesen üblichen Rechtsfolgen (unmittelbar) geltender Rechte und Pflichten an. Diese Vorschrift scheint vorzugeben, dass die Grundsätze vor Gericht nur noch bei der Auslegung oder der Entscheidung347 über die Rechtmäßigkeit von Umsetzungsakten herangezogen werden können. Die zweite Alternative des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC, welche sich auf die Rechtmäßigkeitskontrolle von Umsetzungsakten bezieht, soll im Folgenden noch ausgeklammert bleiben. Ob nämlich eine höherrangige gemeinschaftsrechtliche Bestimmung Beurteilungsmaßstab bei einer Rechtmäßigkeitsprüfung sein kann, ergibt sich nicht schon alleine aufgrund deren bloßen Geltung. Vielmehr muss die Bestimmung so konkret gefasst sein, dass die Gerichte Rechtsakte oder sonstige Maßnahmen auch an dieser messen können. Letzteres ist aber Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Norm. Darauf wird erst im Anschluss an diesen Abschnitt einzugehen sein.348 (a) Die Einschränkung der Pflicht zur grundsatzkonformen Auslegung Demgegenüber hängt – wie bereits ausführlich dargestellt349 – die für Behörden und Gerichte grundsätzlich bestehende Verpflichtung, sämtliche350 Normen des EG-Rechts bei der Auslegung zu berücksichtigen, nicht am 344 Das Hilfsverb „können“ in Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRC ist als „müssen“ zu lesen. Siehe dazu ausführlich Teil 3, II. 4. 345 Vgl. dazu Bühler, Einschränkung, S. 386 f.; Geesmann, Soziale Grundrechte, 283 ff. 346 Siehe oben Teil 3, III. 3. c) aa) (3) und bb) (1). 347 Hervorhebungen durch den Verfasser. 348 Zum Begriff siehe oben Teil 3, III. 3. a) bb) und unten 4. a). 349 Siehe oben Teil 3, III. 3. c) aa) (4). 350 Im Allgemeinen wird es sich um höherrangige Normen handeln. Denkbar ist aber auch eine widerspruchsfreie Auslegung des Primärrechts. Beispielsweise berücksichtigt der EuGH in stetiger Rechtsprechung die Grundrechte im Rahmen der Derogationsvorschriften der Grundfreiheiten, vgl. EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997,

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Kriterium der unmittelbaren Anwendbarkeit. Hierfür reicht vielmehr die bloße Geltung der jeweiligen Gemeinschaftsnorm aus.351 Klagt also beispielsweise jemand vor Gericht auf eine bestimmte Leistung, wären deshalb bei der Auslegung der betreffenden Anspruchsgrundlage die Grundsatznormen der Charta eigentlich (in der Regel wohl anspruchserweiternd) zu beachten – deren Anwendbarkeit im konkreten Fall natürlich vorausgesetzt.352 Diese Wirkungsweise lässt sich sehr schön anhand der Entscheidung des EuGH in der Rs. Michel S353 veranschaulichen. Michel S war ein italienischer Staatsangehöriger, dessen Vater in Belgien als Gastarbeiter beschäftigt war.354 Die ganze Familie lebte in Belgien. Aufgrund seiner geistigen Behinderung fiel es Michel S sehr schwer, einen geeigneten Ausbildungsplatz für sich zu finden. Aus diesem Grund beantragte er vom belgischen Staat eine Vergünstigung, die vornehmlich „die Herstellung oder Verbesserung der Beschäftigungseignung von Behinderten“ zum Ziel hatte und Belgiern in einer vergleichbaren Situation gewährt worden wäre. Die Fördermaßnahme wurde jedoch unter Berufung auf die Staatsangehörigkeit von Michel S abgelehnt. Im Laufe des Verfahrens wurde die Sache schließlich auch dem EuGH vorgelegt. Dieser entschied, dass Michel S zwar kein Anspruch aus Art. 7 der damals relevanten Verordnung 1612/68 zustehe, da diese Norm nur Vergünstigungen für den Gastarbeiter selbst, nicht aber für dessen Angehörigen erfasse.355 Jedoch sei Art. 12 dieser Verordnung mit Rücksicht auf deren fünften Begründungserwägung, die bestimmt, dass das Recht auf Freizügigkeit in Freiheit und Menschenwürde wahrgenommen werden können müsse, entsprechend weit auszulegen. Mit In-Kraft-Treten der Charta könnte der EuGH seine Argumentation in vergleichbaren Fällen nun prinzipiell auch mit dem Hinweis auf die Grundsatznorm des Art. 26 GRC356 untermauern und müsste nicht mehr Rekurs auf die doch etwas wagen Begründungserwägungen nehmen.357 Art. 26 GRC, der Maßnahmen zur Förderung der I-3689 Rn. 18 (Familiapress); Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (Schmidberger). Siehe unten Teil 4, III. 1. 351 EuGH, Rs. C-14/83, Slg. 1984, 1891 (Von Colson). 352 Siehe dazu unten Teil 4, III. 1. 353 EuGH, Rs. C-76/72, Slg. 1973, 457. 354 Dass der Vater zum Zeitpunkt der Klage bereits verstorben war, soll hier nicht weiter interessieren. 355 So auch EuGH, Rs. C-316/85, Slg. 1987, 2811 (Lebon). 356 Bei dieser Gewährleistung handelt es sich nach ganz herrschender Meinung um einen Grundsatz. Vgl. die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 25 (zu Art. 26 GRC). Vgl. auch Jarass, EU-Grundrechte, § 28 Rn. 9 ff. Ausführlich dazu unten Teil 5, V. 1. o). 357 Heute könnte sich Michel S wohl auch direkt auf Art. 12 EGV berufen, vgl. EuGH, Rs. C-456/02, Slg. I-7573 (Trojani).

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Integration behinderter Menschen vorschreibt, führte bei der Anwendung des Art. 12 der VO 1612/68 also zu einer entsprechend weiten Auslegung und damit zu einer Bejahung des Anspruchs des Michel S. Durch die Aufnahme des Art. 52 Abs. 5 S. 2 in die Europäische Grundrechtecharta scheint eine derartige grundsatzkonforme Auslegung nun jedoch gerade nicht mehr möglich. Grundsatznormen sollen entgegen der oben dargestellten358 allgemeinen Regel offensichtlich nur noch eingeschränkt, bei der Auslegung von Umsetzungsakten Anwendung finden. Insoweit würde es sich bei der Vorschrift des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC nicht – wie die Materialien359 des Verfassungskonvents vermuten lassen – um eine rein deklaratorische Bestimmung handeln. Vielmehr wäre eine Rechtsfolge angeordnet, die der allgemeinen Dogmatik des Gemeinschaftsrechts widerspräche. Die Regelung des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC wäre somit – jedenfalls was der Beschränkung der Verpflichtung zur grundsatzkonformen Auslegung betrifft360 – eine konstitutive. Dass der Verfassungskonvent möglicherweise eine Normierung getroffen hat, die sich bewusst über die Leitentscheidung des EuGH in der Rs. von Colson361 hinwegsetzt und selbst bei den Zielbestimmungen der Art. 2 und 3 EGV Anwendung findet, könnte damit erklärt werden, dass der EuGH von der Methode der Auslegung regelmäßig einen sehr weitgehenden, vielleicht zu weitgehenden Gebrauch macht. In vielen Entscheidungen forderte der Gerichtshof beispielsweise zu einer richtlinienkonformen Auslegung auf, obwohl ein dafür erforderlicher Auslegungsspielraum eigentlich überhaupt nicht mehr gegeben war.362 Diesem nicht nur im Richtlinienrecht sichtbaren „judicial activism“ standen die Mitglieder der beiden Konvente 358

Siehe oben Teil 3, III. 3. c) aa) (4). Vgl. den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II CONV 354/02 S. 4, 8. Vgl. auch Brecht, ZEuS 2005, 355 (368 f.); Pietsch, Schrankenregime, S. 30; Rengeling/ Szczekalla, Grundrechte, S. 262, 265. 360 Hinsichtlich der Einschränkung der Rechtmäßigkeitskontrolle siehe unten Teil 3, III. 4. d) cc). 361 EuGH, Rs. C-14/83, Slg. 1984, 1891 (Von Colson). 362 EuGH, Verb. Rs. C-397–403/01, Slg. 2004, I-8835 Rn. 116 f. (Pfeifer); Rs. C-240–244/98, Slg. 2000, I-4941 Rn. 30 ff. (Océano); Rs. C-456/98, Slg. 2000, I-6007 Rn. 31 ff. (Centrosteel). Vgl. zum Ganzen instruktiv Craig/de Bfflrca, EULaw, S. 292 ff. m. w. N.; Herdegen, Europarecht, § 9 Rn. 40 ff. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass der EuGH auch Entscheidungen nationaler Gerichte akzeptiert, die eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts wegen fehlenden Auslegungsspielraums abgelehnt haben, vgl. EuGH, Rs. C-334/92, Slg. 1993, I-6911 Rn. 22 (Wagner Miret). In der Entscheidung Pupino urteilte der EuGH sogar ausdrücklich: (. . .) der Grundsatz der gemeinschaftskonformen Auslegung darf nicht zu einer Auslegung contra legem des nationalen Rechts führen (. . .).“, vgl. EuGH, Rs. C-105/03, Slg. 2005, I-5258 Rn. 47. 359

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von Anfang an sehr kritisch gegenüber.363 Art. 52 Abs. 5 GRC könnte also als Ausdruck der Sorge zu werten sein, der EuGH werde der Union im Wege der Auslegung einzelner Grundsatznormen neue, recht weitreichende und vor allem kostspielige Handlungsverpflichtungen auferlegen.364 (b) Der Begriff des Umsetzungsaktes Wie weit die Einschränkung der Verpflichtung zur grundsatzkonformen Auslegung nun aber wirlich reicht, hängt entscheidend davon ab, wie der Begriff des Umsetzungsaktes in Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC zu verstehen ist. Da diese Frage aber nicht nur bei der Auslegung, sondern weit mehr noch bei der Rechtmäßigkeitskontrolle eine Rolle spielt, soll darauf erst im folgenden Kapitel eine Antwort gegeben werden.365 Erst wenn man weiß, wie der Begriff des Umsetzungsaktes zu interpretieren ist, kann die Frage geklärt werden, ob Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC tatsächlich eine konstitutive Regelung trifft. d) Ergebnis Die im vorstehenden Abschnitt erarbeiteten Ergebnisse gilt es nochmals zusammenzufassen: (1) Der Terminus „unmittelbare Geltung“ kennzeichnet das Problem, ob eine Norm direkt – also ohne weiteren Zwischenschritt – innerstaatliche Rechtswirkungen erzeugen kann. Infolge des Prinzips der Supranationalität kommt sämtlichen Gemeinschaftsrecht ab dessen In-Kraft-Treten nach hier vertretener Ansicht unmittelbare Geltung in den Mitgliedstaaten zu. Dies gilt auch für Richtlinien. (2) Der Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit befasst sich demgegenüber mit der Frage, ob eine unmittelbar geltende Norm ohne gesetzliche Konkretisierung Rechte und Pflichten des Einzelnen zu begründen vermag, die vor Behörden oder Gerichten eingefordert werden können. Die unmittelbare Anwendbarkeit ist der Frage nach der unmittelbaren Geltung einer Norm somit nachgeschaltet. (3) Der Begriff der unmittelbaren Wirkung von EG-Normen wird in der vorliegenden Arbeit verwendet, wenn ausgedrückt werden soll, dass eine Norm Rechtswirkungen erzeugt. Dies ist in der Regel bereits dann der Fall, wenn ein Rechtssatz entsprechend der obigen Definition innerstaat363 364 365

Siehe ausführlich dazu oben Teil 2, I. 2. So auch Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 279. Siehe dazu unten Teil 3, III. 4. e) cc).

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lich Geltung beansprucht. Nicht notwendig ist dagegen, dass die jeweilige Bestimmung einen vollzugsfähigen (sog. „self-executing“) Inhalt aufweist, also unmittelbar anwendbar ist. Die Frage nach der unmittelbaren Wirkung einer Norm ist also der Frage nach der unmittelbaren Geltung nach-, der nach der unmittelbaren Anwendbarkeit vorgeschaltet. (4) Bei den Grundatznormen handelt es sich ab In-Kraft-Treten der Charta um unmittelbar geltendes Unionsrecht. Aus diesem Grund sind die Grundsatznormen ab diesem Zeitpunkt auch von sämtlichen Organen der Union und den Mitgliedstaaten bei Durchführung von Unionsrecht einzuhalten und zu befolgen. Die Grundsatznormen können als Einriffsrechtfertigung dienen (vgl. auch Art. 52 Abs. 1 GRC366). Sie vermögen jedoch nicht die Kompetenz zugunsten der Union zu verschieben (vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 GRC). Aufgrund der unmittelbaren Geltung der Grundsatznormen besteht im Prinzip auch die Pflicht, das gesamte Unionsrecht und die mitgliedstaatlichen Durchführungsakten konform zu diesen Grundsätzen auszulegen. Ob diese Verpflichtung in Bezug auf die Grundsatznormen tatsächlich besteht, hängt entscheidend von dem Begriff des Umsetzungsaktes in Art. 52 Abs. 5 GRC ab, auf welchen nun im folgenden Abschnitt näher eingegangen werden soll. 4. Unmittelbare Anwendbarkeit a) Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit aa) Grundsätzliches Verständnis Bei der normativen Eigenschaft der unmittelbaren Anwendbarkeit handelt es sich um einen weiteren zentralen Baustein der supranationalen Gemeinschaftsrechtsordnung.367 Als unmittelbar anwendbar werden – wie oben bereits kurz angesprochen368 – solche Vorschriften des EG-Rechts bezeichnet,369 auf die sich der einzelne Bürger vor Behörden370 oder Gerichten di366

Vgl. zum Verständnis des Art. 52 Abs. 1 GRC unten Teil 4, V. Zu den völkerrechtlichen Wurzeln dieser Kategorie vgl. Bleckmann, Europarecht, Rn. 1152 ff.; Haltern, Europarecht, S. 314 ff.; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 72 f. 368 Siehe oben Teil 3, III. 3. a) bb). 369 Es sei nochmals daran erinnert, dass die Terminologie unmittelbare Geltung, unmittelbare Wirkung und unmittelbare Anwendbarkeit sehr uneinheitlich verwendet wird. Vgl. dazu Klein, Unmittelbare Geltung, S. 3 ff. m. w. N. Siehe dazu ausführlich oben Teil 3, III. 3. a) bb). 370 Dass die unmittelbare Anwendbarkeit von Normen auch von der Verwaltung zu beachten ist (sog. administrative direct effect), wurde vom EuGH in mehreren 367

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rekt berufen kann.371 Nicht selten findet sich auch die Formulierung, dass unmittelbar anwendbare Bestimmungen solche Normen seien, die dem Einzelnen Rechte und Pflichten verleihen.372 Der EuGH selbst vermengt beide Ansätze im Allgemeinen zu einer einheitlichen Definition,373 ohne sich jedoch offensichtlich bewusst zu sein, dass sich die Entwürfe in einem kleinen, aber entscheidenden Punkt, auf welchen noch einzugehen sein wird, unterscheiden.374 Ohnehin ist jeder dieser Versuche einer Beschreibung der unmittelbaren Anwendbarkeit von Normen sprachlich etwas unsauber. Zum einen sind die Verben „stützen auf“ oder „berufen auf“ irreführend. Man stützt bzw. beruft sich nämlich bereits dann auf eine Vorschrift, wenn nur deren Heranziehung bei der Auslegung gefordert wird. Darüber hinaus erwecken diese Verben den Eindruck, dass der einzelne Bürger die unmittelbare Anwendbarkeit von Normen stets aktiv vorzubringen hat. Tatsächlich aber müssen die drei Staatsgewalten unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht immer schon von sich aus beachten,375 sofern dies bei vergleichbaren nationalen Vorschriften ebenfalls gilt.376 Überdies ist bei beiden Ansätzen wesentlicher Bestandteil, dass sich ein Einzelner auf ein Recht oder eine Norm beruft. Jedoch können sich prinzipiell auch öffentlich-rechtliche Einrichtungen auf unmittelbar anwendbare GemeinschaftsbestimmunUrteilen ausdrücklich bestätigt, vgl. EuGH, Rs. C-103/88, Slg. 1989, 1839 (Costanzo) und Rs. C-431/92, Slg. 1995, I-2189 (Großkrotzenburg). Vgl. zum Ganzen Prechal, CMLRev. 2000, 1047 (1049). 371 Vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 407, 445; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 127; Winter, CMLRev. 1972, 425 (435 f.). Van Gerven bezeichnet dies als „objective direct effect“, in CMLRev. 2000, 501. Vgl. zum Ganzen Bleckmann, Europarecht, Rn. 1152 ff.; Craig/de Bfflrca, EU-Law, S. 268 ff. 372 Vgl. Calliess, NVwZ 1996, 339 (340 f.); Ehlers, DVBl. 2004, 1441 (1445); Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 68. Von van Gerven als „subjective direct effect“ bezeichnet, in CMLRev. 2000, 501. 373 So schon EuGH, Rs. C-26/62, Slg. 1963, 1 ff. (van Gend & Loos). Ebenso Haltern, Europarecht, S. 314 f. 374 So auch Bleckmann, Europarecht, Rn. 1152 ff.; Craig/de Bfflrca, EU-Law, S. 269; Prechal, CMLRev. 2000, 1047 (1050 f.). Ausführlich dazu unten Teil 3, III. 4. c). 375 EuGH, Verb. Rs. C-430 f./93, Slg. 1995, I-4705, Rn. 13 (van Schijndel und van Veen); Rs. C-72/95, Slg. 1996, I-5403 Rn. 57 (Kraaijeveld). Diese Fälle lassen sich nur sehr schwer auf die BRD übertragen, weil hierzulande die Gerichte und die Verwaltungsbehörden das Recht zu kennen und anzuwenden haben, vgl. EuGH, Rs. C-2/06, noch nicht amtlich veröffentlicht, (Kemptner). Vgl. auch Jarass, Grundfragen, S. 81 m. w. N.; Nettesheim, in: v. Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 164; Papier, DVBl. 1993, 809 (813); Streinz, Europarecht, Rn. 445; Prechal, CMLRev. 2000, 1047 (1049 f.). A. A. noch FG München, EuZW 1990, 582. 376 EuGH, Rs. C-430/93, Slg. 1995, I-4705 Rn. 20 f. (van Schijndel/Stichting). Vgl. Jarass/Beljin, Casebook, S. 128, 223 f. m. w. N.

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gen stützen.377 Dieses Verständnis von unmittelbarer Anwendbarkeit ist auch den nachfolgenden Erörterungen zugrundegelegt.378 bb) Theoretische Grundlagen Die Rechtsprechung von der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts hat ebenso wie die von der unmittelbaren Geltung ihren Ursprung379 in der Entscheidung van Gend & Loos380. Dort urteilte der EuGH, dass der EG-Vertrag, selbst wenn er dies nicht ausdrücklich bestimmt, aufgrund von eindeutigen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten oder der Organe der Gemeinschaft auch zugunsten Einzelner Rechte entstehen lässt, auf welche sich diese vor Gericht berufen können. In der Rs. van Duyn381 hat der EuGH die normstrukturelle Kategorie der unmittelbaren Anwendbarkeit weiter präzesiert und insbesondere auf das Sekundärrecht ausgeweitet.382 All diese Entscheidungen stützen sich auf eine Mehrzahl von Argumenten. Erstens begreift der EuGH den einzelnen Bürger, anders als im allgemeinen Völkerrecht üblich,383 nicht nur als bloßes Objekt der Gemeinschaftsrechtsordnung, sondern als Subjekt, dem Verpflichtungen auferlegt, aber eben auch Rechte verliehen werden.384 Ohne dass man sich mit der dogmatischen Figur der Supranationalität des Gemeinschaftsrechts näher auseinanderzusetzen braucht, genügt bereits ein kurzer Blick in die 377 EuGH, Verb. Rs. C-231/87 u. 129/88, Slg. 1989, 3233 (Fiorenzuola d’Arda). Vgl. Jarass, Grundfragen, S. 81. 378 Entspricht wohl auch der ganz h. M., vgl. statt vieler Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 98 m. w. N.; Streinz, Europarecht, Rn. 445. 379 Wenig Berücksichtigung in der Literatur fand die bereits zwei Jahre vor der Rs. van Gend & Loos getroffene Entscheidung des EuGH in der Rs. Humblet, in welcher der EuGH in bemerkenswerter Weise bereits zu Fragen Stellung genommen hatte, die erst wenige Jahre später richtig relevant werden sollten (wie beispielsweise hinsichtlich der Rechte Einzelner in der Gemeinschaftsrechtsordnung oder dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts). Vgl. EuGH, Rs. C-6/60, Slg. 1960, 1163, 1185 ff. (Humblet). Ausführlich dazu Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 59 f. m. w. N. 380 EuGH, Rs. C-26/62, Slg. 1963, 1 (van Gend & Loos). 381 EuGH, Rs. C-41/74, Slg. 1974, 1337 (van Duyn). 382 Zuvor hat der EuGH in der Rs. Grad bereits die unmittelbare Anwendbarkeit von Entscheidungen anerkannt, vgl. EuGH, Rs. C-9/70, Slg, 1970, 825 (Grad). Vgl. zum Ganzen Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 45. 383 Siehe oben Teil 3, III. 3. a) aa). 384 EuGH, Rs. C-26/62, Slg. 1963, 1 (van Gend & Loos); Rs. C-106/77, Slg. 1978, 629 Rn. 17 ff. (Simmenthal II). Vgl. auch v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 105, 107 ff.; Haltern, Europarecht, S. 324 ff. So schon oben Teil 3, III. 3. b).

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Art. 230 Abs. 4 und 234 EGV, um zu erkennen, dass dem Einzelnen die Berufung auf Normen des EG-Rechts möglich sein muss.385 Die Eröffnung dieser Rechtsschutzmöglichkeiten wäre nämlich völlig sinnlos, wenn nicht die Unionsbürger unter bestimmten, noch näher zu untersuchenden Umständen, die Einhaltung des europäischen Primär- und Sekundärrechts verlangen könnten. Zweitens argumentiert der Gerichtshof regelmäßig mit der Effektivität des Gemeinschaftsrechts (effet utile-Prinzip).386 Könnte sich die betroffene Person vor Gericht nicht auf das ihr günstige EG-Recht berufen, würde sich damit die „praktische Wirksamkeit“387 der jeweiligen gemeinschaftlichen Maßnahme abschwächen, was sich negativ auf die europäische Integration auswirke. Zugleich nutzt man das „Überwachungs- und Durchsetzungspotiential“388 des Einzelnen, um die Einhaltung bzw. Umsetzung des Gemeinschaftsrechts zu fördern. So urteilte der EuGH bereits in der Entscheidung van Gend & Loos: „Die Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Einzelnen stellt eine wirksame Kontrolle dar, welche die durch die Kommission und die Mitgliedstaaten gemäß Art. 226 und Art. 227[389] ausgeübte Kontrolle ergänzt.“390 Der Einzelne fungiert insoweit als eine Art Treuhänder des Gemeinschaftsinteresses,391 der, zunächst aus eigenem Interesse tätig werdend, im Dienste der Allgemeinheit die wirksame Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts vorantreibt.392 Erst durch diese Konstruktion wird es möglich, das in der Europäischen Gemeinschaft existierende strukturelle Vollzugsdefizit, welches primär auf das schwache Instrumentarium der Art. 226 f. EGV zurückzuführen ist, auszugleichen.393 Als weiteres Argument für die Begründung der unmittelbaren Anwendbarkeit zieht der EuGH – vor allem in Bezug auf umsetzungsbedürftige sekundärrechtliche Bestimmungen – eine Art Sanktionsgedanken 385 So auch Classen, VerwArch 1997, 645 (649); Haltern, Europarecht, S. 314 f. Das Vorhandensein von Rechtsschutzmöglichkeiten zugunsten Einzelner ist zwar notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung, um eine supranationale Rechtsordnung bejahen zu können, wie gerade Art. 34 EMRK zeigt. 386 EuGH, Rs. C-26/62, Slg. 1963, 1 (van Gend & Loos); Rs. C-41/74, Slg. 1974, 1337 (van Duyn). Vgl. dazu auch Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 40 ff.; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 75. 387 EuGH, Rs. 148/78, Slg. 1979, 1629 (Ratti). 388 Hansmann, NVwZ 1995, 320 (321). 389 Im Original Art. 169 und Art. 170 EWGV. 390 EuGH, Rs. C-26/62, Slg. 1963, 1 (van Gend & Loos). 391 Vgl. v. Danwitz, DÖV 1996, 481 (489 f.); Haltern, Europarecht, S. 316 f.; Ruffert, DVBl. 1998, 69 (70); Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 75 m. w. N. Ausführlich zum Ganzen Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 42 ff., der von einem „status procuratoris“ (S. 17, 225) spricht. A. A. dagegen Classen, VerwArch 1997, 645 (677). 392 Vgl. Schmidt-Aßmann, DVBl. 1993, 924 (934). 393 Vgl. zum Ganzen Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 19 ff., 42 ff.

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(sog. estoppal-Prinzip) heran.394 Der Gerichtshof will verhindern, dass ein vertragsbrüchiger Staat im Verhältnis zum rechtsunterworfenen Bürger von der Nichterfüllung seiner Umsetzungspflichten auch noch profitiert. So entschied er in der Rs. Becker: „Daher kann ein Mitgliedstaat, der die in der Richtlinie vorgeschriebenen Durchführungsmaßnahmen nicht fristgerecht erlassen hat, den Einzelnen nicht entgegenhalten, dass er die aus dieser Richtlinie erwachsenen Verpflichtungen nicht erfüllt hat.“395 Noch deutlicher wurde der EuGH in der Rs. Foster: „(. . .) Rechtsbürger [können] (. . .) sich gegenüber dem Staat auf eine Richtlinie (. . .) berufen, (. . .) [es] muß nämlich verhindert werden, daß der Staat aus seiner Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts Nutzen ziehen kann.“396 Nach dieser kurzen Erläuterung des Begriffs der unmittelbaren Anwendbarkeit und dessen wichtigsten Begründungslinien, ist nun im Folgenden der Frage nachzugehen, welche Voraussetzungen vorliegen müssen, damit eine Bestimmung des Gemeinschaftsrechts unmittelbar anwendbar ist. b) Allgemeine Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit Über die Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht äußerte sich der EuGH wiederum zum ersten Mal in der Entscheidung van Gend & Loos397. Gegenstand des damaligen Vorlageverfahrens war die Auslegung des Art. 12 EWGV (heute Art. 25 EGV). Da diese Norm ausschließlich an die Mitgliedstaaten adressiert ist, ging man eigentlich davon aus, dass sich der Kläger des Ausgangsverfahrens nicht auf diese Vorschrift berufen könnte. So merkte Generalanwalt Römer in seinem Schlussantrag398 an: „Nach all diesen Untersuchungen (. . .) komme ich zu folgendem Ergebnis, dass Artikel 12 in gleicher Weise rechtlich zu qualifizieren ist wie die anderen Vorschriften über die Zollunion. Für sie alle hat 394

Vgl. BVerfGE 75, 223 (235 ff.); Craig/de Bfflrca, EU-Law, 3. Aufl., S. 206; Hailbronner, JZ 1992, 285; Magiera, DÖV 1998, 180; Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 47. A. A. Classen, VerwArch 1997, 645 (651) und Ruthig, BayVBl. 1997, 289 (290 f.), die die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien alleine mit der in Art. 249 Abs. 3 EGV normierten Verbindlichkeit begründen wollen (also mit dem effet utile-Prinzip), unter Berufung auf EuGH, Rs. C-152/84, Slg. 1986, 723 Rn. 48 (Marshall I). Dagegen instruktiv Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 141. Eindeutig auch EuGH, Rs. C-188/89, Slg. 1990, I-3348 Rn. 17 (Foster). 395 EuGH, Rs. C-8/81, Slg. 1982, 53 Rn. 24 (Becker). 396 EuGH, Rs. C-188/89, Slg. 1990, I-3348 Rn. 17 (Foster). Vgl. dazu Haltern, Europarecht, S. 344 f.; Haneklaus, DVBl. 1993, 129 (131); Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 45 f. m. w. N. 397 EuGH, Rs. C-26/62, Slg. 1963, 1 (van Gend & Loos). 398 Schlussantrag von GA Römer in der Rs. C-26/62, Slg. 1963, 25 (49) (van Gend & Loos).

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Art. 11 [aufgehoben durch den Vertrag von Amsterdam]399 grundsätzliche Bedeutung, der ausdrücklich von ‚Verpflichtungen auf dem Gebiet der Zölle‘ spricht, was eine unmittelbare interne Wirkung (. . .) ausschließt (. . .).“ Der EuGH hat sich dieser Meinung bekanntlich nicht angeschlossen. Er ignorierte vielmehr die objektive Formulierung des Art. 12 EWGV und führte anstelle dessen die Kategorie der unmittelbaren Anwendbarkeit ein, als er urteilte: „Der Wortlaut von Art. 12 enthält ein klares und uneingeschränktes Verbot, eine Verpflichtung, nicht zu einem Tun, sondern zu einem Unterlassen. Diese Verpflichtung ist im Übrigen auch durch keinen Vorbehalt der Staaten eingeschränkt, der ihre Erfüllung von einem internen Rechtsetzungsakt abhängig machen würde. Das Verbot des Art. 12 eignet sich seinem Wesen nach vorzüglich dazu, unmittelbare Wirkungen[400] in den Rechtsbeziehungen zwischen Mitgliedstaaten und den ihrem Recht unterworfenen Einzelnen zu erzeugen.“ Die Voraussetzungen für die unmittelbaren Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht, die der EuGH in diesem ersten Urteil aufstellte, sind also folgende: (1) Das Verbot ist klar und uneingeschränkt, (2) es handelt sich um eine Pflicht zu einem Unterlassen und (3) die Verpflichtung ist durch keinen Vorbehalt der Staaten eingeschränkt, der ihre Erfüllung von einem internen Rechtssetzungsakt abhängig macht. Aus heutiger Sicht etwas überraschend erscheint die zweite Voraussetzung. Der EuGH beschränkte die unmittelbare Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht in dieser ersten Entscheidung scheinbar auf reine Abwehrkonstellationen; um es mit der Statuslehre G. Jellineks401 zu formulieren, auf den sog. status negativus. Dies ist höchstwahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass in dieser Zeit aufgrund kaum existierender Handlungspflichten primär die Verletzung von Verboten wie den Grundfreiheiten drohte, eine Ausdehnung der unmittelbaren Anwendbarkeit auf Leistungsgebote also gar nicht erforderlich war. Eine noch größere Rolle dürfte aber gespielt haben, dass das Urteil van Gend & Loos mit dessen Aussagen zur unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit, der Andeutung402 des Vorrangs des Ge399

Anmerkung des Verfassers. Der EuGH spricht hier zu Recht von unmittelbarer Wirkung, weil es ihm auf die rechtlichen Wirkungen einer unmittelbaren anwendbaren Norm ankommt. Ansonsten ist der EuGH, was die Terminologie betrifft, aber meist auch sehr ungenau. Zum Ganzen siehe oben Teil 3, III. 3. a) bb). 401 Vgl. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87, 94 ff. 402 Der Vorrang des Art. 12 EWGV vor der jeweiligen nationalen Vorschrift ergab sich in der Entscheidung van Gend & Loos bereits aus dem niederländischen Verfassungsrecht. Art. 66 der niederländischen Verfassung statuiert nämlich ein mo400

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meinschaftsrechts und der Subjektivierung des Einzelnen mehr als genug Sprengkraft in sich trug, sodass der Gerichtshof gut daran tat, den Mitgliedstaaten nicht auch noch Leistungspflichten aufzuerlegen.403 Unter dem Gesichtspunkt mitgliedstaatlicher Souveränität wäre eine solche Intervention des EuGH nämlich noch wesentlich heikler gewesen als die „bloße“ Entscheidung, dass eine nationale Vorschrift, die gegen Gemeinschaftsrecht verstößt, nicht mehr angewendet werden darf. Mit der Beschränkung auf Unterlassenspflichten war die Entscheidung van Gend & Loos für die Mitgliedstaaten sicherlich leichter zu akzeptieren.404 Diese Zurückhaltung hatte jedoch nicht allzu lange Bestand. Bereits drei Jahre später revidierte der Gerichtshof jene zweite Voraussetzung der unmittelbaren Anwendbarkeit. In der Rs. Lütticke405, in der es um die europarechtswidrige Erhebung einer Umsatzausgleichssteuer ging, urteilte der EuGH, dass auch positive Handlungspflichten406 unmittelbar anwendbar sein können. Nach einigen weiteren Entscheidungen407, auf die hier im Denistisch orientiertes Rechtssystem. Vgl. dazu GA Römer Schlussantrag in der Rs. C-26/62, Slg. 1963, 25 (41) (van Gend & Loos). Erst in der Rs. Costa/ENEL (Rs. C-6/64, Slg. 1964, 1251) nahm der EuGH zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts ausdrücklich Stellung. In der Rs. IN.CO.GE (Rs. C-10/97, Slg. 1998, I-6307, Rn. 21) äußerte sich der Gerichtshof dann schließlich im Sinne eines Anwendungsvorrangs. Vgl. dazu ausführlich Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 79 ff. 403 Anders als beispielsweise das deutsche BVerfG gewährt der EuGH den Mitgliedstaaten im Normalfall nicht die Möglichkeit, diskriminierende Gesetze abzuändern, sondern er beseitigt die Diskriminierung selbst, indem er die in Frage stehende Leistung zugunsten der klagenden Partei angleicht. Vgl. nur EuGH, Rs. C-33/89, Slg. 1990, I-2591, Rn. 17 ff. (Kowalska). Eine künftige Änderung der Rechtslage ist damit jedoch nicht ausgeschlossen, vgl. EuGH, Rs. C-200/91, Slg. 1994, I-4389, Rn. 30 ff. (Coloroll Pension). 404 Zum Ganzen instruktiv Haltern, Europarecht, S. 327, der jedoch verkennen dürfte, dass der EuGH in den beiden Entscheidungen van Gend & Loos und Lütticke die Mitgliedstaaten nie zum Erlass von Legislativakten gezwungen, sondern nur die unmittelbare Anwendung von Primärrechtsbestimmungen gefordert hat. 405 EuGH, Rs. C-57/65, Slg. 1966, 258 (Lütticke). 406 Der damalige Art. 95 Abs. 3 EWGV verpflichtete die Mitgliedstaaten bis zum 1. Januar 1962 diskriminierende Besteuerungen aufzuheben, statuierte also zu deren Lasten eine Handlungspflicht. In Wahrheit hätte der EuGH im Fall Lütticke seine Van Gend & Loos-Rechtsprechung jedoch nicht unbedingt ändern müssen, wäre es doch ein Leichtes gewesen, die Handlungspflicht in eine Unterlassenspflicht diskriminierender Besteuerung umzudeuten. Ähnlich Bleckmann, Europarecht, Rn. 1176. 407 Bedeutend ist hier vor allem die Entscheidung Defrenne II (Rs. C-43/75, Slg. 1976, 455 Rn. 38 f.), in der entschieden wurde, dass primäres Gemeinschaftsrecht unter Umständen auch Private verpflichtet kann (sog. horizontale Wirkung). Jedoch lässt sich dies nicht verallgemeinern, sondern muss für jede einzelne Norm einzeln entschieden werden. Hinsichtlich der horizontalen Wirkung der Grundfreiheiten, vgl. EuGH Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139 (Angonese). Kritisch Streinz/Leible, EuZW 2000, 459.

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

tail jedoch nicht einzugehen werden braucht, ergeben sich zusammenfassend folgende Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit des primären Gemeinschaftsrechts: Die jeweilige Vorschrift muss (1) hinreichend klar und genau, (2) vollständig und inhaltlich unbedingt sein sowie (3) eine Handlungs- oder Unterlassenspflicht begründen, die keine dazwischengeschalteten Ausführungsakte der Mitgliedstaaten oder der Gemeinschaftsorgane bzw. keiner weiteren Ermessensausübung bedarf. Etwas verkürzt, aber in der Sache korrekt, könnte man auch sagen, dass eine Gemeinschaftsrechtsbestimmung dann unmittelbar anwendbar ist, wenn keine weitere Konkretisierung durch die Verwaltung oder Gesetzgebung erforderlich ist und sie deshalb durch die Gerichte ohne Weiteres zur Lösung eines konkreten Sachverhalts herangezogen werden kann.408 Die bisherigen Ausführungen haben sich ausschließlich auf die unmittelbare Anwendbarkeit von primären Gemeinschaftsrecht bezogen. Jedoch gelten die gleichen Voraussetzungen im Wesentlichen auch für Vorschriften des Sekundärrechts.409 Wegen ihrer herausgehobenen Stellung in der Rechtsprechung des EuGH und weil es sich bei ihnen sicherlich um die komplexeste Normkategorie des Sekundärrechts handelt, sei im Folgenden auch, aber auch nur, kurz auf die Richtlinien eingegangen.410 In der Rs. van Duyn411 entschied der Gerichtshof, dass prinzipiell auch Richtlinien unmittelbar anwendbar sein können. Dies erfordert, dass (1) der Mitgliedstaat seiner Pflicht zur Umsetzung innerhalb der eingeräumten Frist nicht nachgekommen412 und (2) die Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau gefasst ist.413 Ob darüber hinaus die jeweilige Richtlinie gegenüber dem Staat auch ein subjektives Recht gewähren muss oder ob ein solches aus der unmittelbaren Anwendbarkeit selbst folgt, wird gesondert im Anschluss an diesen Abschnitt näher behandelt werden. Nicht unmittelbar anwendbar sind jedenfalls Richtlinien, die Pflichten eines Einzelnen zugunsten des Staates begründen (sog. umgekehrt vertikale Wirkung).414 Damit in engem Zusam408 Ausführlich zu den Voraussetzungen „hinreichend bestimmt“ und „unbedingt“ Bleckmann, Europarecht, Rn. 1177 ff. 409 Vgl. dazu Classen, VerwArch 1997, 645 (651 f. m. w. N.). 410 Verordnungen und Entscheidungen werfen deutlich geringere Probleme auf. Sie sind unmittelbar anwendbar, wenn sie klar und eindeutig formuliert sind und den mit ihrer Anwendung betrauten Stellen keinerlei Ermessensspielraum lassen. Vgl. bzgl. Verordnungen EuGH, Rs. C-34/73, Slg. 1973, 981 (Variola) und Rs. C-9/73, Slg. 1973, 1135 (Schlüter), bzgl. Entscheidungen Rs. C-9/70, Slg. 1970, 825 (Grad). 411 EuGH, Rs. C-41/74, Slg. 1974, 1337 Rn. 12 (Van Duyn). 412 EuGH, Rs. C-148/78, Slg. 1979, 1629 (Ratti). 413 EuGH, Rs. C-8/81, Slg. 1982, 53 Rn. 25 (Becker).

III. Die Grundsatznormen im Gefüge einer europäischen Dogmatik

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menhang steht die Frage, ob Richtlinien auch im Verhältnis Privater untereinander unmittelbar anwendbar sein können (sog. horizontale Wirkung). In der Rs. Marshall I 415 hat dies der EuGH ausdrücklich verneint. Für die Richtigkeit dieser Entscheidung sprechen mehrere Gründe. Erstens bestimmt Art. 249 Abs. 3 EGV, dass Richtlinien sich ausschließlich an die Mitgliedstaaten richten, sie folglich zumindest solange nicht zum Nachteil Einzelner herangezogen werden können, bis sie im nationalen Recht umgesetzt worden sind.416 Wären Richtlinien allgemein auch im Verhältnis zwischen Privaten unmittelbar anwendbar, würde zweitens die in Art. 249 Abs. 3 getroffene Unterscheidung zwischen Verordnungen und Richtlinien verwischt werden.417 Drittens greift auch das oben erläuterte Sanktionsargument nicht in horizontalen Konstellationen. Der bei einer unmittelbaren Wirkung belastete Einzelne hat die Nichtumsetzung der jeweiligen Richtlinie gerade nicht zu verantworten. Darüber hinaus dürften – viertens – Vertrauensschutzgründe für diese Entscheidung eine gewisse Rolle gespielt haben, da von einem Einzelnen nicht verlangt werden kann, neben dem bestehenden Recht auch noch alle nicht umgesetzten Richtlinien im Auge haben zu müssen.418 Aufgrund der gegenwärtigen Ausgestaltung des Art. 254 EGV spielt dieses letzte Argument heute aber wohl kaum mehr eine große Rolle.419 Die Entscheidung Marshall I wurde vom EuGH in den Folgejahren mehrmals bestätigt.420 Ungeachtet dessen gab es hin und wieder auch Urteile, die diese doch eigentlich klare und eindeutige Rechtsprechung gegen die horizontale Wirkung von Richtlinien scheinbar ignoriert haben. Hier sind in erster Linie421 die Entscheidungen CIA Security422, Unilever423 und 414 EuGH, Rs. C-80/86, Slg. 1987, 3969 (Kolpinhuis Nijmegen); EuGH, Rs. C-188/89, Slg. 1990, I-3348 Rn. 17 (Foster). Vgl. dazu auch Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 141. 415 EuGH, Rs. C-152/84, Slg. 1986, 723 (Marshall I). 416 Vgl. Classen, VerwArch 1997, 645 (651 f.); Ruthig, BayVBl. 1997, 289 (290 f.). 417 Vgl. den Schlussantrag von AG Slynn in der Rs. C-152/84, Slg. 1986, 723, 734 (Marshall I). Vgl. zum Ganzen auch Craig/de Bfflrca, EU-Law, S. 283 f. 418 Vgl. den Schlussantrag von AG Slynn in der Rs. C-152/84, Slg. 1986, 723, 734 (Marshall I); Schlussantrag von AG Lenz in der Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325, 3338 ff. (Faccini Dori). Vgl. zum Ganzen auch Craig/de Bfflrca, EU-Law, S. 283; Haltern, Europarecht, S. 348 f. 419 Zu weiteren Argumenten vgl. Haltern, Europarecht, S. 350 f. 420 EuGH, Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 Rn. 19 ff. (Faccini Dori); Rs. C-397/01, Slg. 2004, I-8835 Rn. 105 (Pfeiffer). Krit. Thüsing/Heßeler, EwiR 2004, 1147. 421 Zum Ganzen ausführlich und mit weiteren Urteilen, vgl. Craig/de Bfflrca, EULaw, S. 296 ff. m. w. N. 422 EuGH, Rs. C-194/94, Slg. 1996, I-2201 Rn. 40 ff. (CIA Security). 423 EuGH, Rs. C-443/98, Slg. 2000, I-7735 Rn. 45 ff. (Unilever).

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

Wells424 zu nennen, in denen der Gerichtshof die Berufung auf Richtlinien ausnahmsweise auch zu Lasten Privater zuließ. Nach wie vor umstritten ist, wie sich diese Entscheidungen mit dem Grundsatzurteil Marshall I vereinbaren lassen. Bisher wurden viele Erklärungsversuche angeboten,425 die allesamt jedoch nur wenig überzeugen konnten. Im Folgenden soll auf diese Problematik nicht weiter eingegangen werden, würde eine genauere Auseinandersetzung im Hinblick auf den Gegenstand der vorliegenden Arbeit doch zu weit führen. Jedoch dürfte diese Rechtsprechung des EuGH am besten damit zu erklären sein, dass Richtlinien auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts auch zu Lasten Privater unmittelbar anwendbar sein können – sofern die übrigen Voraussetzungen vorliegen und nicht der Staat der Begünstigte ist (sog. umgekehrt vertikale Drittwirkung)426, wogegen die Richtlinien, die ausschließlich privatrechtliche Sachverhalte regeln, grundsätzlich427 keine horizontale Wirkung entfalten.428 c) Die Gewährung subjektiver Rechte als zusätzliche Bedingung für die unmittelbare Anwendbarkeit einer Gemeinschaftsbestimmung? aa) Vorüberlegungen Wie oben bereits kurz angedeutet, wird der Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit nicht einheitlich verstanden.429 Ein Teil der Literatur bezeichnet all diejenigen Gemeinschaftsbestimmungen als unmittelbar anwendbar, auf die sich der einzelne Bürger vor Behörden oder Gerichten berufen 424

EuGH, Rs. C-201/02, Slg. 2004, I-723 Rn. 56 ff. (Wells). Vgl. nur Craig/de Bfflrca, EU-Law, S. 299 ff.; Dougan, CLJ 2000, 586; Gundel, EuZW 2001, 143 ff.; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 64 ff.; Hetmeier, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 Rn. 14; Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 83 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 446 ff. 426 EuGH, Rs. C-80/86, Slg. 1987, 3969 (Kolpinhuis Nijmegen). Siehe gerade eben bei Fn. 414. 427 Teilweise wird die Entscheidung des EuGH in der Rs. C-144/04, Slg. 2006 (Mangold) als Anerkennung einer generellen unmittelbaren horizontalen Wirkung von Richtlinien gedeutet. Vgl. dazu Bauer/Arnold, NJW 2006, 6 ff. Ein solches Verständnis dürfte jedoch auf der Fehlinterpretation beruhen, in dieser Rechtssache wäre die Antidiskriminierungsrichtlinie und nicht ein inhaltsgleiches Grundrecht entscheidungserheblich gewesen. Vgl. dazu auch Laber/Goetzmann, ArbRB 2006, 51 ff. 428 So schon der Verfasser in JuS 2007, 841 (847). Nicht entscheidend soll sein, wie das nationale Recht die jeweilige Maßnahme qualifiziert, vgl. beispielsweise EuGH, Rs. C-397/01, Slg. 2004, I-8835 Rn. 105 (Pfeifer). Krit. Craig/de Bfflrca, EU-Law, 299 f. Vgl. auch Jarass, DVBl. 1995, 954 (957). 429 Siehe oben Teil 3, III. 4. a) aa). 425

III. Die Grundsatznormen im Gefüge einer europäischen Dogmatik

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kann.430 Der andere Teil im Schrifttum hält dagegen nur solche Vorschriften für unmittelbar anwendbar, die auch431 dem Einzelnen Rechte und Pflichten verleihen.432 Obwohl sich beide Ansätze sehr stark ähneln und im Normalfall zum gleichen Ergebnis führen, unterscheiden sich die Definitionen doch in einem ganz entscheidenden Punkt. Es geht um die prinzipielle Frage, ob das Gemeinschaftsrecht sich des Einzelnen nur bedient, um die eigene Durchsetzung sicherzustellen oder ob es den Bürger neben der Anerkennung als Individuum, auch als ein solches ernst nehmen und diesen deshalb auch nur als Individuum berechtigen will. Hierbei prallen zwei grundlegend unterschiedliche Rechtsmodelle aufeinander.433 Auf der einen Seite das französische Konzept434, nach welchem mitunter auch dem Einzelnen die Aufgabe zukommt, die öffentliche Gewalt zu überwachen. Der Bürger ist gleichsam Sachwalter der Allgemeinheit,435 der mit Hilfe eines objektiv ausgestalteten Klagesystems – die praktisch bedeutsamste Verfahrensart ist, wie bereits geschildert wurde, der „recours pour excés de pouvoir“ – über die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung436 Aufsicht führt.437 Das individuelle Interesse des Klägers an der Rechtsverfolgung tritt demgegebenüber in den Hintergrund. Auf der anderen Seite steht die deutsche Konstruktion, nach der der Einzelne als Subjekt wahrgenommen wird, er aber – als Konsequenz – auch nur seine eigenen Rechte einklagen kann. Solch eigene Rechte entstehen nach deutschem Verständnis jedoch nicht schon dann, wenn sich der Staat bloß zu einem Tun oder Unterlassen verpflichtet. Ein subjektiv öffentliches Recht setzt vielmehr voraus, dass die jeweilige Pflicht zumindest auch im Interesse des Einzelnen besteht.438 Der Bürger ist also gerade nicht dazu berufen, die Anliegen der Allgemeinheit bewahren oder durchsetzen zu helfen. 430 Vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 407, 445; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 127; Winter, CMLRev. 1972, 425 (435 f.). Vgl. zum Ganzen Bleckmann, Europarecht, Rn. 1152 ff.; Craig/de Bfflrca, EU-Law, S. 268 ff. 431 Daneben muss die Vorschrift selbstverständlich auch hinreichend klar und bestimmt formuliert sein, andernfalls wäre sie für Behörden und Gerichte ohnehin nicht justiziabel. 432 Vgl. Calliess, NVwZ 1996, 339 (340 f.); Ehlers, DVBl. 2004, 1441 (1445); Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 68; Triantafyllou, DÖV 1997, 192 ff. 433 Vgl. ausführlich dazu Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 176 ff. m. w. N. 434 Vgl. dazu schon oben Teil 2, IV. 2. b) bb) und cc). 435 Ähnlich, nur etwas blumiger formuliert, de Laubadère/Venezia/Gaudemet, Droit administratif I, Rn. 625 ff. 436 Zur eingeschränkten Überprüfbarkeit von Gesetzen in Frankreich siehe bereits oben Teil 2, IV. 2. b) bb). 437 Vgl. Laubadère/Venezia/Gaudemet, Droit administratif I, Rn. 625 ff. 438 Vgl. zum Ganzen Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 495 ff. Ausführlich zum deutschen Verständnis des Begriffs des subjektiven öffentlichen Rechts sogleich Teil 3, III. 4. c) bb).

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Es geht – um das Vorstehende auf die Problematik der Definition der unmittelbaren Anwendbarkeit zu übertragen – also um die Frage, ob eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts lediglich die oben dargestellten allgemeinen Voraussetzungen der hinreichenden Bestimmtheit und Unbedingtheit aufzuweisen braucht, um unmittelbar anwendbar zu sein, oder ob es hierfür erforderlich ist, dass die jeweilige Norm dem Einzelnen zusätzlich439 ein subjektives Recht verleiht. Oder als Frage formuliert: Ist die Gewährung eines subjektiven Rechts Folge der unmittelbaren Anwendbarkeit oder deren Voraussetzung? Die erste Auffassung wird teilweise als broad440 oder objective441 view bezeichnet, weil es nach dieser für die unmittelbare Anwendbarkeit einer Gemeinschaftsbestimmung ausschließlich auf die oben genannten formal-objektiven Voraussetzungen ankommt. Im Gegensatz dazu wird der zweite Ansatz als narrow442 oder subjective443 view umschrieben, da dieser Ansatz über rein formale Elemente hinaus eben auch subjektive Voraussetzungen für die unmittelbare Anwendbarkeit von Vorschriften des EG-Rechts fordert.444 In dem Zusammenhang dürfte es vielleicht interessieren, worauf diese beiden unterschiedlichen Sichtweisen zurückzuführen sind. Mit dem Urteil in der Rs. van Gend & Loos445 schien es nämlich zunächst so, dass sich der EuGH eindeutig für einen objektiven Ansatz ausgesprochen hat446 und damit die Gewährung subjektiver Rechte nicht Voraussetzung, sondern wenn überhaupt Rechtsfolge einer unmittelbar anwendbaren Norm ist, wenn es im fünften Leitsatz dieser Entscheidung heißt: „[. . .] Art. 12 [heute Art. 25 EGV]447 [ist] dahin auszulegen, dass er unmittelbare Wirkungen erzeugt und individuelle Rechte begründet448, welche die staatlichen Gerichte zu beachten haben.“ Etwas anderes könnte man jedoch meinen, wenn man das Urteil Becker449 heranzieht. Dort ist zu lesen: „Demnach können sich die Einzelnen in Ermangelung von fristgemäß erlassenen Durchführungsmaßnahmen auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt 439 Daneben muss die Vorschrift selbstverständlich auch hinreichend klar und bestimmt formuliert sein, andernfalls wäre sie für die Behörden und Gerichte ohnehin nicht justiziabel. 440 Vgl. Craig/de Bfflrca, EU-Law, S. 269 ff. 441 Vgl. van Gerven, CMLRev. 2000, 501. 442 Vgl. Craig/de Bfflrca, EU-Law, S. 269 ff. 443 Vgl. van Gerven, CMLRev. 2000, 501. 444 Zum Ganzen instruktiv Prechal, Directives, 2. Aufl., S. 99 ff. m. w. N. 445 EuGH, Rs. C-26/62, Slg. 1963, 1 (van Gend & Loos). 446 So auch die Meinung von Craig/de Bfflrca, EU-Law, S. 269 f. 447 Klarstellung durch den Verfasser. 448 Hervorhebung durch den Verfasser. 449 EuGH, Rs. C-8/81, Slg. 1982, 53 Rn. 25 (Becker).

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und hinreichend genau erscheinen, gegenüber allen innerstaatlichen, nicht richtlinienkonformen Vorschriften berufen; Einzelne können sich auf diese Bestimmungen auch berufen, soweit diese Rechte festlegen, die dem Staat gegenüber geltend gemacht werden können.“450 Diesen zweiten Teil des ersten Leitsatzes, der zugegebenermaßen mehrere Interpretationen erlaubt, sehen nun manche im Schrifttum als Beleg dafür an, dass formale Voraussetzungen allein nicht genügten, damit eine Gemeinschaftsnorm von den nationalen Behörden und Gerichten als unmittelbar anwendbar zu beachten sei.451 Ob dieses Verständnis wirklich zutrifft, soll im Folgenden genauer untersucht werden. bb) Exkurs: Der Begriff des subjektiven Rechts, insbesondere in der deutschen Rechtsordnung (1) Die Bedeutung des subjektiven Rechts Bevor man sich jedoch näher mit der Stichhaltigkeit eines solchen subjektiven Ansatzes der unmittelbaren Anwendbarkeit auseinandersetzen kann, ist zunächst zu klären, was unter einem subjektiven Recht überhaupt zu verstehen ist.452 In einigen Ländern wie Großbritannien453, Frankreich oder Italien spielt diese Normkategorie wie oben bereits ausführlich geschildert454 keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle. In Frankreich, um nochmals darauf zurückzukommen, ist die Klageart des „recours pour excès de pouvoir“ – vergleichbar mit der Anfechtungsklage in der VwGO – als rein objektives Beanstandungsverfahren ausgestaltet, für deren Zulässigkeit der Kläger lediglich ein sog. „intérêt pour agir“, vorzubringen braucht. Hebt sich der Kläger durch ein hinreichend dargelegtes Interesse, wozu auch ein rein ideeles oder moralisches zählt, von der Allgemeinheit ab, so kann er in jeder Hinsicht die Rechtmäßigkeit eines Rechtsaktes überprüfen lassen.455 Nur im Rahmen des „contentieux de pleine jurisdiction“ hat die 450

Hervorhebung durch den Verfasser. Vgl. Calliess, NVwZ 1996, 339 ff.; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 137. 452 Ausführlich zum Ganzen Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 55 ff., 89 ff. m. w. N.; Reiling, Individuelle Rechte, S. 47 ff. Hinsichtlich der geschichtlichen Entwicklung des subjektiven Rechts vgl. Bauer, Geschichtliche Grundlagen; Pasemann, Die Entwicklung subjektiv öffentlicher Rechte. 453 R. v Inland Revenue Commissioners, ex p. National Federation of the SelfEmployed and Small Business Ltd., [1982] A. C. 617. Vgl. auch Wahl, in: Schoch/ Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 22 ff. m. w. N. 454 Siehe oben Teil 2, IV. 2. b) bb) und e) aa). 455 Vgl. Vedel/Delvolvé, Droit administratif II, S. 262 ff.; Skouris, Verletzten- und Interessentenklagen, S. 144 f. 451

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Kategorie des subjektiven Rechts eine gewisse Relevanz456, ohne dass damit das objektive französische Konzept des Verwaltungsrechtsschutzes aber in irgendeiner Weise in Frage gestellt werden würde.457 Im Gegensatz dazu kommt dem subjektiven öffentlichen Recht in Deutschland eine geradezu entscheidende Bedeutung zu.458 Dies war jedoch nicht immer so. Beispielsweise orientierte sich die preußische Gesetzgebung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an einem objektiv-rechtlichen Modell des Verwaltungsrechtsschutzes, das vor allem von Rudolph von Gneist459 und Otto Mayer460 propagiert worden war. Aus diesem Grund war in den preußischen Gebieten461 die Zulässigkeit von Klagen anders als in den meisten süddeutschen Ländern462 zu dieser Zeit noch nicht durch das Erfordernis der Geltendmachung subjektiver Rechte beschränkt.463 Letztlich setzte sich dieses objektiv-rechtliche Konzept aber nicht durch. Bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts begann man auch in 456

Hierbei wird eine „situation juridique individuelle subjective“ verlangt und meint damit im Wesentlichen nur die Geltendmachung von vertraglichen Forderungen oder Schadensersatzansprüchen. Vgl. Laubadère/Venezia/Gaudemet, Droit administratif I, Rn. 617. 457 Ausführlich zum Ganzen oben Teil 2, IV. 2. b) bb). 458 Nichtsdestotrotz erfährt auch das subjektiv-rechtlich ausgerichtete deutsche Öffentlichen Recht an manchen Stellen Durchbrechungen, vgl. beispielsweise zur Elfes-Konstruktion BVerfGE 6, 32 (Elfes). Siehe dazu schon oben Teil 2, IV. 2. a) bb) und cc). Nicht nur dem subjektiven Rechtsschutz dient auch das Normenkontrollverfahren des § 47 VwGO. Ausführlich zum Ganzen Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 93 ff., 103, 117 ff.; Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 16. 459 Vgl. v. Gneist, Der Rechtsstaat, 270 f. Ausführlich zur Bedeutung v. Gneists für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Preußen Ule, VerwArch 1996, 535 ff. Kritisch Pasemann, Die Entwicklung subjektiver öffentlicher Rechte, S. 44 m. w. N. 460 Vgl. O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I, S. 132. 461 Bei den praktisch wichtigen Klagen gegen polizeiliche Verfügungen wurde jedoch 1883 mit § 127 Abs. 3 LVG ein subjektives Klageerfordernis eingeführt. Zuvor hatte sich bereits das Preußische Oberverwaltungsgericht entgegen dem Gesetzeswortlaut allgemein für einen subjektiv-rechtlichen Verwaltungsrechtsschutz ausgesprochen, vgl. PrOVGE 2, 351 (353); 9, 400 (401). Vgl. dazu auch Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 294. Vgl. zum Ganzen Pasemann, Die Entwicklung subjektiv öffentlicher Rechte, S. 87 ff.; Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/ Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 11 ff. m. w. N. 462 Die Gesetzgebung der süddeutschen Länder wurde maßgeblich von Sarwey beeinflusst, der einen am Individualinteresse orientierten Verwaltungsrechtsschutz forderte, vgl. Sarwey, Das öffentliche Recht, S. 73 f., 289, 405 ff. Vgl. ausführlich zur Entwicklung in Bayern und Württemberg Pasemann, Die Entwicklung subjektiver öffentlicher Rechte, S. 118 ff., 129 ff. 463 Ausführlich zur Geschichte der subjektiven Rechte in Deutschland Bauer, Geschichtliche Grundlagen; Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 55 ff., 77 ff.; Pasemann, Die Entwicklung subjektiver öffentlicher Rechte.

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Preußen auf einen subjektiv-rechtlich ausgerichteten Verwaltungsrechtsschutz umzuschwenken.464 In der Zeit der Weimarer Republik erfuhr die Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, die sich mittlerweile auf breiter Front durchgesetzt hat, keine nennenswerten Veränderungen oder Neuerungen mehr.465 Mit Art. 19 Abs. 4 GG hat der Parlamentarische Rat diesen Forschungsstand aufgegriffen und sich auch für ein System des Individualrechtsschutzes entschieden.466 Infolgedessen ist nach dem gegenwärtig in Deutschland geltenden Verwaltungsprozessrecht für den Erfolg einer von Bürgern eingereichten Klage stets467 eine – wenn man es so bezeichnen will – „doppelte Subjektivität“ erforderlich.468 Im Rahmen der Zulässigkeit muss der jeweilige Kläger die mögliche Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechts vorbringen (vgl. § 42 Abs. 2 VwGO). Darüber hinaus bedarf es in der Begründetheit der zusätzlichen Feststellung, dass der Kläger durch das Verhalten der öffentlichen Hand auch tatsächlich in einem seiner Rechte verletzt worden ist (vgl. § 113 Abs. 1, 5 VwGO). Ähnliches469 gilt bei der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (vgl. Art. 93 464 PrOVGE 2, 351 (353); 9, 400 (401). Vgl. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 289 f. Vgl. zum Ganzen Pasemann, Die Entwicklung subjektiver öffentlicher Rechte, S. 98 ff. 465 Vgl. Bauer, Geschichtliche Grundlagen, 84 ff., 94 ff.; Masing, Die Mobilisierung des Bürgers, S. 88 f.; Pasemann, Die Entwicklung subjektiver öffentlicher Rechte, S. 149 ff. 466 Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 19 IV Rn. 8; Schenke, in: BK, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 25; Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/ Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 14 ff. Nicht ausgeschlossen ist durch Art. 19 Abs. 4 GG jedoch, dass der Verwaltungsrechtsschutz auch objektive Elemente enthält, vgl. BVerfGE 22, 106 (110 f.); Schenke, in: BK, Art. 19 Abs. 4 Rn. 154; Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 16. 467 Eine Sonderstellung kommt dem Normenkontrollantrag des § 47 VwGO zu. Bei diesem wird nur in der Zulässigkeit die Geltendmachung einer möglichen subjektiven Rechtsverletzung gefordert. In der Begründetheit überprüft das jeweilige Oberverwaltungsgericht bzw. der zuständige Verwaltungsgerichtshof die Norm umfassend auf ihre Vereinbarkeit mit jeglichem subjektiven wie objektiven Recht. Vgl. nur Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 19 Rn. 19 ff., § 30 Rn. 1; Kopp/Schenke, VwGO, § 47 Rn. 46 ff., 112 ff. (a. A. scheinbar nur Ronellenfitsch, NVwZ 1999, 588, der im Rahmen des § 47 VwGO § 113 Abs. 1 VwGO analog anwenden will). 468 Vgl. Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 1. 469 Eine Verfassungsbeschwerde ist nur dann zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, durch einen Akt der öffentlichen Gewalt in einem seiner Grundrechte verletzt worden zu sein, vgl. § 90 Abs. 1 BVerfGG. Instruktiv zum Verhältnis von Grundrechten und subjektiven öffentlichen Rechten Wahl, in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 49 ff.

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG). Im Gegensatz zum französischen System besteht in Deutschland zugunsten des einzelnen Bürgers also kein allgemeiner Gesetzesvollziehungsanspruch.470 Durch diese Regelungen in der VwGO sollen Popular- wie Interessentenklagen gerade verhindert werden.471 Was versteht man nun konkret unter einem subjektiven öffentlichen Recht? Die entscheidenden472 Arbeiten zur Beantwortung dieser Frage leistete Ende des 19. Jahrhunderts Georg Jellinek.473 Im Gegensatz zu Otto Mayer und Rudolph von Gneist vertrat Jellinek die Auffassung, dass nicht mit einer jeden Verpflichtung des Staates immer zugleich auch eine Berechtigung des Bürgers einhergehen müsse.474 Dem Einzelnen sei lediglich die Geltendmachung seiner eigenen Rechte erlaubt. Inspiriert durch den Begriff des Anspruchs im Zivilrecht475 definiert Jellinek das subjektive öffentliche Recht als die von verbindlichen Rechtsnormen verliehene „Fähigkeit, [diese]476 Rechtsnormen im individuellen Interesse in Bewegung zu setzen.“477 Der Begriff des subjektiven öffentlichen Rechts besteht also aus zwei478 Komponenten:479 Erstens muss die betreffende Vorschrift dem Schutz indi470 BVerwGE 17, 87 (91). Vgl. auch Bühler, GS W. Jellinek, S. 269 (283); Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 19 IV Rn. 122 m. w. N. 471 Vgl. Skouris, Verletzten- und Interessentenklagen, S. 81. 472 G. Jellinek konnte sich dabei aber auf umfassende Vorarbeiten, beispielsweise durch F. F. Mayer oder K. v. Gerber stützen. Ausführlich dazu Pasemann, Die Entwicklung subjektiver öffentlicher Rechte, S. 71 ff.; Masing, Mobilisierung des Bürger, S. 55 ff., 69 ff. 473 Ausführlich zur historischen Entwicklung des subjektiv öffentlichen Rechts Bauer, Geschichtliche Grundlagen, S. 69 ff.; Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 62 ff.; Scherzberg, DVBl. 1988, 129 ff. 474 Vgl. G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 195 ff. 475 Vorherrschend war im Privatrecht damals wie heute die sog. Kombinationstheorie, welche das von v. Savigny propagierte Verständnis des subjektiven Rechts als individuelle Willensmacht mit v. Jherings Definition als rechtlich geschütztes Interesse verband. Vgl. v. Jhering, Geist des römischen Rechts III, S. 327 ff.; v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts I, S. 331 ff. Vgl. zum Ganzen Bauer, Geschichtliche Grundlagen, 73 ff.; Klöver, Klagefähige Individualrechtspositionen, S. 10 f. 476 Einfügung durch den Verfasser. 477 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 51. 478 Dass die jeweilige Norm verbindlich sein muss, ist selbstverständlich und soll hier als mögliche dritte Voraussetzung nicht näher behandelt werden. Vgl. dazu aber Bühler, GS W. Jellinek, S. 269 (274 ff.); Klöver, Klagefähige Individualrechtspositionen, S. 13 ff.; Ruffert, DVBl. 1998, 69. 479 Wird deshalb in Anlehnung an des Zivilrecht auch im Öffentlichen Recht als Kombinationstheorie bezeichnet. Vgl. dazu Bachof, in: GS W. Jellinek, S. 287 ff.; Bauer, AöR 1988, 582 ff.; Maurer, Verwaltungsrecht, § 8 Rn. 1 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Art. 19 Abs. 4 Rn. 116 ff.

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vidueller Interessen dienen und zweitens dem Einzelnen auch die Rechtsmacht einräumen, den Gewährleistungsgehalt durchsetzen zu können. Vor allem das erste Element sei – so Jellinek – für die Einordnung als subjektives Recht bestimmend.480 Jedoch erkannte auch er, dass vereinzelt Bürgern durch Gesetze Befugnisse zuerkannt werden, obgleich diese Gesetze nicht zur Wahrung individueller Interessen erlassen worden sind. Jellinek bezeichnete solche Befugnisse als bloß formelle subjektive Rechte.481 Auf diese Kategorie wird später nochmals zurückzukommen sein.482 Im Allgemeinen kann der Einzelne sich jedoch ausschließlich auf ihn zugeordnete Rechte berufen. Nicht geltend machen kann er dagegen, jedenfalls nach diesem subjektiven Verständnis, Rechte anderer und sich schon gar nicht zum Sachwalter der Gemeinwohlbelange machen.483 Ottmar Bühler griff die Jellinek’sche Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht auf, entwickelte sie in Teilbereichen weiter und brachte sie schließlich – aus heutiger Sicht besonders bedeutsam – in der damals noch jungen Bundesrepublik in die Diskussion um die Schaffung einer Verwaltungsrechtsordnung ein.484 Getragen von der Vertrautheit seit der Kaiserzeit und aufgrund der Normierung des Art. 19 Abs. 4 GG485 wurde das subjektive Recht so konstitutiver Bestandteil des deutschen Verwaltungsrechtsschutzes (vgl. nunmehr auch §§ 42 Abs. 2, 113 Abs. 1, 5 VwGO).486 Das Verständnis des subjektiven öffentlichen Rechts blieb dabei seit Jellinek im Wesentlichen unverändert. Man definiert es folglich auch heute noch als die kraft 480

Vgl. G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 70 f. Heute bezeichnet der Begriff „formelles subjektives Recht“ dagegen einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, der zu Zeiten Jellineks noch weitgehend unbekannt war. In Ansätzen ist jener jedoch bereits bei Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 158 ff., 161 zu finden. Vgl. dazu auch Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 497a f. 482 Siehe unten Teil 3, III. 4. c) dd) (2). 483 Vgl. Wahl, in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 47. 484 Vgl. Bühler, GS W. Jellinek, S. 269 ff.; ders., Die subjektiven öffentlichen Rechte. 485 Zur Bedeutung des Art. 19 Abs. 4 GG für die Ausarbeitung eines Verwaltungsrechtsschutzes instruktiv BVerwGE 19, 209 (271). Vgl. auch Ehlers, VerwArch 1993, 139 (149). 486 Diese Normen gelten nach ganz herrschender Ansicht analog auch für die allgemeine Leistungsklage und die Fortsetzungsfeststellungsklage. Bei der allgemeinen Festsetzungsklage ist deren Anwendung dagegen umstritten. Wegen der Merkmale „Rechtsverhältnis“ und „Feststellungsinteresse“ dürfte eine von manchen zusätzlich geforderte Klagebefugnis jedoch entbehrlich sein. Wie hier Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 18 Rn. 17; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 410; Wahl/Schütz, in: Schoch/Schmid-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, § 42 Abs. 2 Rn. 23 ff. m. w. N. A. A. BVerwGE 74, 1 (4); Kopp/Schenke, VwGO, § 42 Rn. 63 m. w. N. 481

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öffentlichen Rechts zuerkannte Rechtsmacht, vom Staat zur Verfolgung eigener Interessen ein bestimmtes Verhalten verlangen zu können.487 Dieses für das subjektive Recht konstitutive Element der Rechtsmacht ist insbesondere in der Berechtigung zu sehen, normative Konfliktentscheidung eigenverantwortlich zu lösen.488 Davon streng unterschieden werden muss die Frage nach der Justiziabilität subjektiver Rechtspositionen. Die Einklagbarkeit ist anders als die materielle Rechtsmacht nicht Voraussetzung, sondern Folge der Einordnung einer Norm als subjektives Recht.489 Der Rechtsschutz stellt lediglich die rechtstechnische Mittel zur Durchsetzung eines subjektiven Rechts zur Verfügung, beschreibt aber nicht den Inhalt des letzteren.490 Aufgrund der individuellen Zuordnung muss ein Recht, soll es nicht ohne Wirkung bleiben, jedoch regelmäßig vor Gericht durchsetzbar sein.491 Insbesondere auf europarechtlicher Ebene wird dem nicht immer ausreichend Rechnung getragen, wie man an den teilweise überzogenen Zulässigkeitsvoraussetzungen bei der Nichtigkeitsklage sehen kann.492 (2) Kriterien zur Bestimmung der Subjektivität einer Norm Ob eine Norm Individualinteressen dient, bestimmt493 sich im deutschen Recht nach der von Bühler begründeten Schutznormtheorie.494 Diese ver487 OLG Karlsruhe, NVwZ 2001, 712 ff. Vgl. statt vieler Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 8 Rn. 2; Schmitt Glaeser/Horn, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 157. Grundlegend Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 226 ff. 488 Wahl, in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 45, 48. 489 Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 143; Scherzberg, DVBl. 1988, 129 (132); Wahl, in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 45. Die ältere Lehre sah dies teilweise anders, vgl. Bauer, Geschichtliche Grundlagen, S. 78 ff. m. w. N. 490 Instruktiv Wahl, in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 45; Scherzberg, DVBl. 1988, 129 (132). 491 Fraglich ist, ob sich diese Einklagbarkeit bereits aus dem jeweiligen Recht bzw. Grundrecht selbst oder erst aus den prozessualen Grundrechten wie Art. 19 Abs. 4 GG, 47 Abs. 1 GRC ergibt. Vgl. hierzu BVerfGE 60, 253 (298); 101, 106 (122); Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 375; Papier, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR VI, § 154 Rn. 15. Nach hier vertretener Ansicht folgt die Einklagbarkeit eines Grundrechts aus diesem selbst und wird durch das jeweilige Verfahrensgrundrecht höchstens verstärkt, wogegen die Justiziabilität eines subjektiven Rechts erst durch das Verfahrensgrundrecht auf die Ebene des Verfassungsrechts gehoben und damit ausreichend geschützt wird. 492 EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677 (Unión de Pequeños Agricultores). Vgl. zum Ganzen Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 458 ff. 493 Daneben gibt es zahlreiche konkurrierende Auffassungen zur Bestimmung subjektiver öffentlicher Rechte, die sich bisher aber allesamt nicht durchsetzen konnten. Vgl. dazu ausführlich Bauer, AöR 1988, 582 (592 ff.); Klöver, Klagefähige

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sucht die Subjektivierung öffentlich-rechtlicher Vorschriften durch deren Schutzrichtung zu ermitteln. Dabei genügt es, wenn der jeweilige Rechtssatz zumindest auch495 die Interessen der Bürger im Auge hat. Nicht erforderlich ist dagegen, dass dieser auf den Schutz ausschließlich privater Belange abzielt. Ob Vorschriften des objektiven Rechts nun erlassen worden sind, um im Sinne der Schutznormtheorie Individualinteressen zu dienen oder nicht, ist letztlich eine Frage, die nur mit Hilfe der Auslegung beantwortet werden kann. Während es für die sog. ältere Schutznormtheorie496 primär auf den Willen des historischen Gesetzgebers ankommt, versteht sich die neuere Schutznormtheorie497 als eine „Sammelbezeichnung für einen Kanon von Methoden und Regeln, nach denen der subjektiv-rechtliche Gehalt eines Rechtssatzes erschlossen werden soll.“498 Jedenfalls keine subjektiven Rechte hergeleitet werden können aus bloßen Rechtsreflexen oder rein faktischen Begünstigungen.499 Ein Rechtsreflex beruht auf Normen, die „ausschließlich dem öffentlichen Interesse dienen und lediglich rein tatsächlich in einer Art Nebenwirkung auch dem Individualinteresse zugute kommen, ohne dass die jeweilige Norm in ihrer Zielsetzung diese Nebenwirkung mit umfasst“500. Aus diesem Grund hat beispielsweise ein Bürger in Deutschland keinen Anspruch auf Einschreiten der Aufsichtsbehörden bei rechtswidrigen Handeln seiner Gemeinde. Beim gemeindlichen Aufsichtsrecht handelt es sich nach deutschem Verständnis nämlich um ein rein objektives Kontrollverfahren, das ausschließlich im Interesse der Allgemeinheit eingerichtet ist.501 Individualrechtspositionen, S. 37 ff. m. w. N.; Masing, Mobilisierung des Bürger, S. 111 ff. 494 BVerwGE 1, 83; 66, 307, 308 ff.; 107, 215, 220; Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 14 Rn. 71 ff.; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 497 ff. Grundlegend Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 224. 495 Vgl. BVerwGE 1, 83; 27, 31 f. Vgl. auch Kopp/Schenke, VwGO, § 42 Rn. 83 m. w. N.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 8 Rn. 1 ff.; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 496. So schon Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 53, 69. 496 Grundlegend Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 44 f. Vgl. auch Gassner, DÖV 1981, 615 (618); Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 110; Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 95. 497 Ausführlich zum Ganzen Bauer, AöR 1988, 582 (591 f. m. w. N.); Kopp/ Schenke, VwGO, § 42 Rn. 83 m. w. N.; Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 95. 498 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 128. 499 BVerwGE 39, 235 (237); 52, 122, (128); Schmitt Glaeser/Horn, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 158; Kopp/Schenke, VwGO, § 42 Rn. 87; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 8 Rn. 8. 500 OVG Münster, MDR 1965, 162. 501 Vgl. nur Kopp/Schenke, VwGO, § 42 Rn. 87 m. w. N.; Mauerer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 23 Rn. 22.

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Auch das sog. Vorsorgeprinzip502, das zahlreichen Regelungen im Umweltrecht zugrunde liegt, ist nach deutschem Verständnis nur Teil des objektiven Rechts und damit zugunsten Einzelner im Allgemeinen nicht justiziabel. Deshalb kann beispielsweise die Einhaltung der das Vorsorgeprinzip konkretisierenden Emissionswerte vor Gericht vom Bürger nicht eingeklagt werden.503 Dass vorstehend das deutsche Verständnis vom subjektiven öffentlichen Recht dargestellt worden ist, müsste eigentlich irritieren, widerspricht es doch den obigen Ausführungen zur Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts.504 Jedoch darf nicht vergessen werden, dass das subjektive Recht im Wesentlichen eine Schöpfung der deutschen Rechtsordnung ist.505 Die vorliegenden Erläuterungen sollten daher lediglich als Ausgangspunkt für die nachfolgende Untersuchung dienen, ob der EuGH im Rahmen seiner Rechtsprechung zur unmittelbaren Anwendbarkeit zusätzlich zu den objektiven Voraussetzungen ein subjektives Element fordert und wenn ja, ob bzw. wie sich dieses vom subjektiven öffentlichen Recht im Sinne der Jellinek’schen Lehre unterscheidet. Letztendlich interessiert also wiederum nur, welchen Stellenwert der EuGH dem Recht des Einzelnen506 innerhalb der Dogmatik des Gemeinschaftsrechts beimisst. cc) Ansichten in der Literatur In der Literatur ist sehr streitig, ob die unmittelbare Anwendbarkeit einer Gemeinschaftsrechtsbestimmung ein subjektives Recht voraussetzt. Dabei ist nicht nur die Tragweite der Aussage des EuGH in der Becker-Rechtspre502 BVerwGE 61, 256 (267 f.); 65, 313 (320). Vgl. auch Kloepfer, Umweltrecht, § 14 Rn. 206; Wahl/Schütz, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, § 42 Abs. 2 Rn. 151, Fn. 504 m. w. N. Für Einzelheiten vgl. instruktiv Klöver, Klagefähige Individualrechtspositionen, S. 23 ff. m. w. N. 503 Vgl. Classen, NJW 1995, 2457 (2458); Jarass, NVwZ 1986, 161 (169); Klöver, Klagefähige Individualrechtspositionen, S. 25 f. m. w. N. Etwas einschränkend dagegen BVerwGE 72, 300 (315 ff.). Gleiches gilt für das öffentliche Auftragsrecht, welches allein die sparsame Verwendung öffentlicher Gelder sicherstellen, nicht aber die Interessen der Anbieter schützen will. 504 Siehe oben Teil 2, II. 505 Daneben darf nicht vergessen werden, dass sich überwiegend deutsche Autoren mit dem Problem der unmittelbaren Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht befasst haben, die aber wohl wesentlich vom deutschen Verständnis des subjektiven öffentlichen Rechts beeinflusst worden sein dürften. 506 Es sei hier auf die unterschiedliche Terminologie hingewiesen. Der EuGH spricht in der Regel bloß von Rechten oder Rechten des Einzelnen, verwendet aber nur sehr selten den Begriff des subjektiven Rechts. Vgl. Jarass/Beljin, Casebook, S. 72 m. w. N. Ausführlich zur Problematik der Terminologie des EuGH Prechal, Directives, 2. Aufl., S. 97 f.

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chung507 nach wie vor ungeklärt. Es lassen sich im Wesentlichen zwei verschiedene Argumentationslinien (mit zahlreichen Einzelmeinungen innerhalb einer Linie)508 ausmachen: (1) Subjektives Recht als Voraussetzung der (subjektiven) unmittelbaren Anwendbarkeit Die Mehrheit im Schrifttum vertritt die Auffassung, eine gemeinschaftsrechtliche Norm sei nur dann unmittelbar anwendbar, wenn diese dem Einzelnen ein subjektives Recht verleihe (sog. „subjective view“509).510 Diese Ansicht darf nicht mit der allgemein anerkannten Aussage511 verwechselt werden, dass eine nicht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzte Richtlinie, die den Bürger belastet (meistens findet sich die zweideutige Formulierung „den Bürger nicht begünstigt“),512 nicht unmittelbar anwendbar sein kann; die Annahme der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Richtlinie zum Nachteil des Einzelnen verbietet sich schon aufgrund des vom EuGH häufig bemühten Sanktionsgedanken (sog. estoppel principle).513 Es fällt im Übrigen auf, dass die Frage noch einer subjektiven Komponente als Voraussetzung für die unmittelbare Anwendbarkeit einer Vorschrift des Gemeinschafts507

EuGH, Rs. C-8/81, Slg. 1982, 53 (Becker). Innerhalb dieser beiden Ansichten weichen die Einzelmeinungen mehr oder minder stark voneinander ab. Manche Auffassungen vermengen Elemente beider Richtungen. Im Folgenden sollen nur die jeweils bedeutendsten Argumentationslinien aufgezeigt werden. 509 Siehe dazu schon oben Teil 3, III. 4. c) aa). Vgl. zu den Begrifflichkeiten auch Bleckmann, Europarecht, Rn. 1153; Craig/de Bfflrca, EU-Law, S. 269 ff.; van Gerven, CMLRev. 2000, 501. 510 Vgl. Ehlers, DVBl. 2004, 1441 (1445 m. w. N.); Erbguth/Stollmann, DVBl. 1997, 453 (454); Gellermann, DÖV 1996, 433 (436 f. m. w. N.); Jarass/Beljin, Casebook, S. 72 f.; Pernice, NVwZ 1990, 414 (424 f.); Stern, JuS 1998, 769 (771); Winter, NVwZ 1999, 467 (468). Etwas unklar Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 339, 345. Eine Differenzierung zwischen unmittelbarer Anwendbarkeit einerseits (kein subjektives Recht erforderlich) und Richtlinienumsetzung andererseits (subjektives Recht erforderlich) nimmt Ruffert, DVBl. 1998, 68 (72) vor. Ähnlich Pasemann, Subjektive öffentliche Rechte, 262 ff. 511 Vgl. statt vieler EuGH, Rs. C-148/78, Slg. 1979, 1629 (Ratti); Rs. C-8/81, Slg. 1982, 53 Rn. 24 (Becker); Rs. C-80/86, Slg. 1987, 3969 Rn. 10 (Kolpinghuis Nijmegen); Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 342; Streinz, Europarecht, Rn. 446; Stüber, Jura 2001, 798 (800); Oppermann, Europarecht, § 6 Rn. 92. 512 In diesem Sinne dürften entgegen weit verbreiteter Auffassung die Ausführungen von Haneklaus, DVBl. 1993, 129 (132) und Papier, DVBl. 1993, 809 zu verstehen sein. Ähnlich Bleckmann, Europarecht, Rn. 1192. 513 Zum Sanktionsgedanken vgl. statt vieler BVerfGE 75, 223 (235) (Kloppenburg); Haltern, Europarecht, S. 343 ff.; Magiera, DÖV 1998, 173 (180). Vgl. auch Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 78. 508

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rechts fast ausschließlich in Zusammenhang mit Richtlinien diskutiert wird. Diese Problematik stellt sich jedoch in gleicher Weise bei primärrechtlichen wie den sonstigen sekundärrechtlichen514 Bestimmungen.515 Es ließe sich nämlich nicht rechtfertigen, warum einige Vorschriften des EG-Rechts nur unter erschwerten, weil zusätzlichen, subjektiv-rechtlichen Bedingungen justiziabel sein sollten. Ob nun eine Norm des Gemeinschaftsrechts ein subjektives Recht gewährt, bestimme sich – so die Vertreter des „narrow view“ – ausschließlich nach dem Gemeinschaftsrecht.516 Ähnlich wie im deutschen Verwaltungsrecht wäre zur Auslegung der jeweiligen Vorschrift eine Art Schutznormtheorie heranzuziehen, die, das zeige die Rechtsprechung zum Haftungsrecht517, auch dem EuGH bekannt sei.518 Teilweise will man zudem die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 230 Abs. 4 EGV fruchtbar machen, um die Frage zu klären, ob sich der Einzelne auf eine Vorschrift des Gemeinschaftsrecht stützen kann.519 Gleichwohl erkennt die überwiegende Mehrheit dieser engen Auffassung an, dass der EuGH deutlich schneller ein 514 Auch Verordnungen sind nicht zwangsläufig unmittelbar anwendbar, vgl. EuGH, Rs. C-41/74, Slg. 1974, 1337 Rn. 12 (van Duyn). Vgl. dazu auch Haltern, Europarecht, S. 340 f. 515 In diesem Sinne Bleckmann, Europarecht, Rn. 1189; Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 74; v. Danwitz, DÖV 1996, 481; Hilson/Downes, ELRev. 1999, 121; Prechal, Directives, 1. Aufl., S. 266; Stüber, Jura 2001, 798. A. A. offensichtlich Schütz/Bruha/König, Casebook, die eine Unterscheidung zwischen der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien (S. 137) und der von sonstigen Gemeinschaftsrecht treffen (S. 76). Wenig konsequent auch Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 36 ff. vs. 71; Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, Rn. 177 ff. vs. 275 f.; Stern, JuS 1998, 769 (771). 516 Vgl. Jarass/Beljin, Casebook, S. 178 m. w. N.; Hölscheidt, EuR 2001, 376 (386 m. w. N.); Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 387 ff.; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 185. Differenzierend Frenz, Europäisches Umweltrecht, § 6 Rn. 194; Triantafyllou, DÖV 1997, 192 (194). Vgl. zum Ganzen Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 105 ff. m. w. N. 517 Zur Haftung der Gemeinschaft vgl. EuGH, Verb. Rs. 5, 6, 13–24/66, Slg. 1967, 331, 355 (Kampffmeyer); v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 68 ff.; Gellermann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 20 m. w. N. Zur Haftung der Mitgliedstaaten vgl. EuGH, Rs. C-6, 9/90, Slg. 1991, I-5357 (Francovich); Verb. Rs. C-46, 48/93, Slg. 1996, I-1029 (Brasserie/Factortame); v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), a. a. O., Rn. 130; Gellermann, in: Streinz (Hrsg.), a. a. O., Rn. 43 f. 518 Vgl. Ehlers, DVBl. 2004, 1441 (1445); Pernice, NVwZ 1990, 414 (424 f.); Schoch, NVwZ 1999, 457 (465); Stern, JuS 1998, 769 (771). Triantafyllou, DÖV 1997, 192 (196) spricht vom Erfordernis der tatsächlichen und rechtlichen (!) Betroffenheit. 519 So Jarass/Beljin, Casebook, S. 205 ff.; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 178 f.; Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 390. Ähnlich Triantafyllou, DÖV 1997, 192 (198 ff.).

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Recht gewährt sieht, als es nach dem strengeren, deutschen Maßstab der Fall wäre.520 Ein solches für die unmittelbare Anwendbarkeit einer Vorschrift des EG-Rechts erforderliche subjektive Recht sei schon dann zu bejahen, wenn die jeweilige Bestimmung bloß die Interessen des Einzelnen fördern oder begünstigen will521 oder – noch weiter – der Bürger sogar nur faktisch522 begünstigt wird.523 Für die Begründung eines individuellen Rechts wird von den Vertretern des „narrow view“ überwiegend zumindest der Schutz eines personenbezogenen Gutes gefordert, dies dann aber auch meist für ausreichend gehalten, selbst wenn der personelle Bezug nur ein mittelbarer ist.524 Ob dieser personelle Bezug besteht, ergebe sich aus einer Gesamtschau des Rechtsaktes. Insbesondere die Begründungserwägungen des jeweiligen Rechtsaktes spielten eine entscheidende Rolle.525 Beispielsweise meint Jarass: „EG-Normen enthalten subjektive Rechte, wenn sie [. . .] Einzelnen besondere Vergünstigungen526 gewähren. Dabei kommt es allein auf das tatsächliche Gewähren an. Eine (besondere) gesetzgeberische Absicht der Drittbegünstigung ist nicht erforderlich.“527 Manche sprechen insoweit noch nicht einmal mehr vor einem Recht, das die jeweilige Gemeinschaftsbestimmung verleihen müsse, sondern von einem bloßen subjektiven Interesse. Hilson und Downes sind der Auffassung „that rights/immunities are not a necessary precondition for direct effect[;][. . .] certain types of interest will suffice.“528 520

Vgl. Calliess, NVwZ 1996, 339 (340 f.); Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 77; Ehlers, DVBl. 2004, 1441 (1445); Jarass/Beljin, Casebook, S. 72 f.; Schoch, NVwZ 1999, 457 (465); Winter, NVwZ 1999, 467 (468). 521 Vgl. Classen, VerwArch 1997, 645 (667 f.); Hilson/Downes, ELRev. 1999, 121 (138); Hölscheidt, EuR 2001, 376 (388); Huber, BayVBl. 2001, 577 (579); Kahl, Umweltprinzip, S. 145 ff.; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 146 ff. m. w. N.; Stern, JuS 1998, 771; Winter, NVwZ 1999, 470, 473. 522 Für eine rechtliche und tatsächliche Betroffenheit Jarass/Beljin, Casebook, S. 181; Triantafyllou, DÖV 1997, 192 (196). 523 Vgl. Calliess, NVwZ 1996, 339 (341); Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 77 ff.; Wegener, Recht des Einzelnen, S. 185, 281 ff. Zum Ganzen instruktiv Calliess, NJW 2002, 3578 f.; Jarass/Beljin, Casebook, S. 180 ff. Differenzierend Ruffert, DVBl. 1998, 69 ff. 524 Vgl. Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 35. Von einer funktionellen Subjektivierung sprechen Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 370 ff.; Ruffert, DVBl. 1998, 69 (71), wobei letzterer dem „broad view“ zuzurechnen ist. 525 EuGH, Rs. C-253/00, Slg. 2002, I-729 Rn. 29. Vgl. Jarass/Beljin, Casebook, S. 73 m. w. N. 526 Hervorhebung durch den Verfasser. 527 Jarass, Grundfragen, S. 59. 528 Hilson/Downes, ELRev. 1999, 121 (138).

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Diese neueren Meinungen, die sich innerhalb der Vertreterschaft des „narrow view“ gegen die frühere Auffassung529, das Gemeinschaftsrecht übernehme nahezu eins zu eins die deutsche Schutznormlehre, durchgesetzt haben dürften, stützen sich vor allem auf die Rechtsprechung des EuGH zur Umsetzung einiger umweltrechtlicher Richtlinien (z. B. die Richtlinie zum Schutz des Grundwassers gegen Verschmutzung durch gefährliche Stoffe530, die Richtlinien über Grenzwerte für Schwefeldioxid, Schwebestaub und Blei in der Luft531 und die Richtlinie über Qualitätsanforderungen an Oberflächenwasser für die Trinkwassergewinnung532). Insbesondere im Verfahren zur Oberflächenwasser-Richtlinie sei der EuGH deutlich geworden. Dort urteilte der Gerichtshof unter Ablehnung der Auffassung des Generalanwalts533, der für die Begründung von Rechten das bloße Interesse „größerer öffentlicher Kreise“ nicht für ausreichend erachtete, dass „immer dann, wenn die mangelnde Befolgung der durch die Richtlinie vorgeschriebenen Maßnahmen die Gesundheit von Menschen gefährden könnte, die Betroffenen die Möglichkeit haben müssen, sich auf zwingende Vorschriften zu berufen, um ihre Rechte geltend machen zu können.“534 In späteren Entscheidungen rechtfertigte der EuGH die Notwendigkeit einer unmittelbaren Anwendbarkeit nicht nur mit dem Interesse des Einzelnen an der eigenen Gesundheit, sondern beispielsweise auch mit dem Schutz des Bieters vor der Willkür des öffentlichen Auftraggebers535 oder dem Schutz des Verbrauchers bei Pauschalreisen536. Nach Ansicht der Mehrheit des „narrow view“ zeigten diese Urteile zweierlei: Erstens werde sich die strenge deutsche Schutznormtheorie bei europäischen Sachverhalten nicht aufrecht halten lassen. Bloße Grenzwerte zum Schutz der allgemeinen Volksgesundheit verleihen nach klassischem Verständnis der Schutznormtheorie gerade kein subjektives Recht, da es an einem klar abgrenzbaren Kreis von potentiellen Klägern fehlt.537 Aus diesem Grund müsse die Theorie zur Bestimmung 529 So wohl nur noch Ehlers, DVBl. 2004, 1441 (1445); Schoch, NVwZ 1999, 457 (465); Stern, JuS 1998, 769 (771); Triantafyllou, DÖV 1007, 192 (196). 530 RiLi 80/68/EWG des Rates v. 17. Dezember 1979, ABl. 1980, L 20. Dazu EuGH, Rs. C-131/88, Slg. 1991, I-825 ff. (Grundwasser). 531 RiLi 80/779/EGW des Rates v. 3. Dezember 1982, ABl. 1982, L 378 und RiLi 80/779/EWG des Rates v. 15. Juli 1980, ABl. 1980 L 229. Dazu EuGH, Rs. C-361/88, Slg. 1991 I-2567 (Schwefeldioxid/Schwebestaub); Rs. C-59/89, Slg. 1991, I-2607 (Blei). 532 RiLi 75/440/EWG des Rates v. 16. Juni 1075, ABl. 1975 L 194. Dazu EuGH, Rs. C-58/89, Slg. 1991, I-4983 (Oberflächenwasser), 533 Schlussantrag von GA Jacobs in der Rs. C-58/89, Slg. 1991, I-4983 (Oberflächenwasser), Rn. 33 ff. 534 EuGH, Rs. C-58/89, Slg. 1991, I-4983 Rn. 16 (Oberflächenwasser), 535 EuGH, Rs. C-433/93, Slg. 1995, I-2303 Rn. 19 (Vergaberichtlinien). 536 EuGH, Rs. C-178/94, Slg. 1996, I-4845 Rn. 35 f. (Dillenkofer).

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des Schutzbereichs entsprechend angepasst werden, wobei die Weite des Anpassungsbedürfnisses innerhalb des „narrow view“ sehr umstritten ist. Zweitens könne sich ein Bürger aber auch nur dann auf eine Gemeinschaftsnorm vor den mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichten berufen, wenn diese Norm dem Einzelnen ein Recht gewährt. In prozessualer Hinsicht538, also bei der Frage der Klagebefugnis, fordern die Vertreter des „narrow view“ neben der subjektiven unmittelbaren Anwendbarkeit der streitentscheidenden Bestimmung auch eine Betroffenheit des Klägers.539 Selbst auf eine subjektiv unmittelbar anwendbare Norm des EG-Rechts könne sich nur derjenige berufen, der ein konkretes Interesse vorzuweisen vermag. Obgleich beispielsweise die Trinkwasserrichtlinie (subjektiv) unmittelbar anwendbar ist, kann ein Verstoß gegen sie nur derjenige geltend machen, der verschmutztes Wasser selbst bezieht oder sonst ein nachvollziehbares Interesse daran hat, dass die Trinkwasserrichtlinie eingehalten wird.540 Betroffener ist nach Ansicht Scherzbergs541 derjenige, der tatsächliche oder auch potentielle Auswirkungen auf die ihm rechtlich zugeordneten Güter einschließlich seines Vermögens aufzeigen kann. Ähnlich fordert Calliess542 für die Klagebefugnis, dass in personeller Hinsicht die – im Ergebnis weit zu verstehende – faktische Betroffenheit des einzelnen hinreichend sei; der Kläger sei individuell berechtigt, wenn er infolge der Missachtung der einschlägigen Rechtsnormen tatsächliche Nachteile in seinem geschützten Individualinteressen zu gewähren habe. Auch wenn viele Vertreter des „narrow view“ (wie beispielsweise vorstehend Scherzberg und Calliess)543 von einer rein faktischen Betroffenheit sprechen, meinen sie in Wirklichkeit eine faktische und rechtliche Betroffenheit. Aufgrund der These des „narrow 537

So auch v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 237; Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 123 (177). Vgl. für Deutschland BVerwG, NVwZ 1988, 534 (Trinkwasserschutz). Vgl. überdies Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 14 Rn. 80 m. w. N.; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 531c. 538 Zwischen subjektiver unmittelbarer Anwendbarkeit und Klagebefugnis wird innerhalb des „narrow view“ meistens nicht klar differenziert, vgl. nur Hilson/ Downes, ELRev. 1999, 121 (131 ff.). Anders Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 178 ff. 539 Das sehen auch die Vertreter des „broad view“ so. Siehe dazu unten Teil 3, III. 4. c) cc) (2). 540 Vgl. dazu Krämer/Winter, in: Schule/Zuleeg (Hrsg.), Hb. Europarecht, § 26 Rn. 83 ff. 541 Vgl. Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 36 m. w. N.; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 184 ff. 542 Vgl. Calliess, NJW 2002, 3577 (3578). 543 Vgl. auch Krämer/Winter, in: Schulze/Zuleeg (Hrsg.), Hb. Europarecht, § 26 Rn. 83 ff.

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view“, für die unmittelbare Anwendbarkeit einer Norm sei ein subjektives Element erforderlich, kann ein bloß faktisches Betroffensein schon denklogisch nicht ausreichen, sondern setzt selbstverständlich stets ein faktisches Betroffensein des Klägers in seinen rechtlich geschützten Gütern voraus.544 Einzelheiten sind auch innerhalb des „narrow view“ umstritten. Einig sind sich die verschiedenen Auffassungen des „narrow view“ jedoch darin, dass bloße Verpflichtungen des Staates, bei denen es keinen Begünstigten gibt, nicht unmittelbar anwendbar sein könnten.545 Dies ergäbe sich eindeutig aus der Entscheidung Enichem Base546.547 In diesem Verfahren ging es um das Versäumnis einer Gemeinde, gemäß der Richtlinie 75/442548 eine Maßnahme an die Kommission zu melden. Der EuGH urteilte: „Aus dem Vorstehenden folgt, daß die genannte Bestimmung [die Meldeverpflichtung]549 die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission betrifft, nicht aber ein Recht für den einzelnen schafft, das verletzt sein könnte, wenn ein Mitgliedstaat gegen die Verpflichtung verstößt, die Kommission vorab von seinen Regelungsentwürfen zu unterrichten.“550 Eine ähnliche Begründung enthält die Entscheidung Lemmens.551 Herr Lemmens war wegen Trunkenheit am Steuer angeklagt. Im Strafverfahren brachte er zu seiner Verteidigung vor, dass die bei ihm vorgenommene Messung seines Alkoholspiegels nicht verwertet werden dürfte, weil das bei seiner Festnahme verwendete Alkoholmessgerät unter Missachtung der in Artikel 8 der Richtlinie 83/189 (über das Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften)552 auf den Markt ge544

Scherzberg und Calliess stellen dies in Nebensätzen dann auch immer klar. Deutlicher dagegen Triantafyllou, DÖV 1997, 192 (196), der ausdrücklich vom Erfordernis der tatsächlichen und rechtlichen (!) Betroffenheit spricht. Ebenso Zuleeg, in: Schulze/ders. (Hrsg.), Hb. Europarecht, § 8 Rn. 49. Vgl. zum Ganzen auch Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 178 ff., 225 ff.; Winter, NVwZ 1999, 467 (470). 545 Vgl. Jarass, Grundfragen, S. 82; ders./Beljin, Casebook, S. 179 m. w. N. In diese Richtung auch BVerfG, ZuR 2001, 403, welches den Bestimmungen der Vogelschutz- und FFH-Richtlinie die individualschützende Wirkung absprach, weil nach den maßgeblichen Erwägungsgründen den Richtlinien nicht der Zweck des Schutzes der menschlichen Gesundheit zukomme. Zur Gegenauffassung siehe unten Teil 3, III. 4. c) cc) (2). 546 EuGH, Rs. C-380/87, Slg. 1989, 2491, Rn. 23 (Enichem Base). Vgl. auch EuGH, Rs. C-236/92, Slg. 1994, I-483 (Comitato di Coordinamento). 547 So ausdrücklich Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ders. (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 36 Rn. 19. 548 Richtlinie 75/442 des Rates v. 15. Juli 1975 über Abfälle ABl. L 194, S. 47. 549 Einfügung durch den Verfasser. 550 EuGH, Rs. C-380/87, Slg. 1989, 2491, Rn. 23 (Enichem Base). 551 EuGH, Rs. C-226/97, Slg. 1998, I-3711 (Lemmens). 552 Richtlinie 83/189/EWG des Rates v. 28. März 1983 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften ABl. L 109, S. 8.

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bracht worden war. Der EuGH ließ auch in diesem Fall die Berufung auf die Richtlinie nicht zu, worin manche die Bestätigung sehen, dass auch der Gerichtshof für die unmittelbare Anwendbarkeit einer Gemeinschaftsrechtsbestimmung eine individuelle Betroffenheit fordert.553 Schließlich muss noch die Rs. Großkrotzenburg erwähnt werden. In dieser Entscheidung, die die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung nach der UVP-Richtlinie554 beim Bau eines Wärmekraftwerks zum Gegenstand hatte, habe sich der EuGH, so die Vertreter des „narrow view“555, offensichtlich zu ihrem Standpunkt bekannt. In diesem Urteil stellte der Gerichthof klar, dass die unmittelbare Anwendbarkeit mit der „[. . .] in der Rechtsprechung des Gerichtshofes anerkannten Möglichkeit für den einzelnen, sich gegenüber dem Staat unmittelbar auf unbedingte sowie hinreichend klare und genaue Vorschriften einer nicht umgesetzten Richtlinie zu berufen, nichts zu tun [hat].“556 Hieraus ergebe sich eindeutig, dass der EuGH zwischen einer objektiven und einer subjektiven unmittelbaren Anwendbarkeit unterscheide. Für die objektive unmittelbare Anwendbarkeit einer Gemeinschaftsbestimmung sei lediglich Voraussetzung, dass die jeweilige Norm hinreichend genau und unbedingt ist.557 Ist dies der Fall, müssten die Behörden und Gerichte die jeweilige Bestimmung von sich aus befolgen. Für die hier aber allein interessierende Frage, ob sich auch ein Einzelner auf eine Vorschrift des EG-Rechts stützen kann – also für die Frage der subjektive unmittelbare Anwendbarkeit –, sei offensichtlich zusätzlich die Gewährung eines subjektiven Rechts (oder nach der weiteren Auffassung die Gewährung eines subjektiven Interesses) erforderlich. Aus der objektiven unmittelbaren Anwendbarkeit könne die subjektive unmittelbare Anwendbarkeit – also ein subjektives Recht – folgen, müsse es aber nicht.558 553 So z. B. van Gerven, CMLRev. 2000, 501 (508). Wenig aussagekräftig halten diese Entscheidung dagegen Abele, EuZW 1998, 571 f.; Streinz, JuS 1999, 599 f. 554 Richtlinie 85/337/EWG des Rates v. 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten ABl. L 175, S. 40. 555 Vgl. Biervert, in: Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 239 EGV Rn. 31; Freytag/Iven, NuR 1995, 109 (116); Gellermann, DÖV 1996, 433 (436 f.); ders., NuR 1996, 548 (556); Jarass/Beljin, Casebook, S. 61, 79, 165 f.; Schoch, NVwZ 1999, 463 m. w. N. 556 EuGH, Rs. C-431/92, Slg. 1995, I-2189 Rn. 26 (Großkrotzenburg). 557 Dies war früher nicht unumstritten. Wie sich aus dem Vorbringen der deutschen Seite in dem Verfahren Großkrotzenburg erkennen lässt, wurde damals mehrheitlich vertreten, dass eine Gemeinschaftsbestimmung nur dann (objektiv) unmittelbar anwendbar sein könnte, wenn diese ein subjektives Recht gewähre. Vgl. hierzu auch Erbguth/Stollmann, DVBl. 1997, 453 (455). 558 Vgl. Jarass/Beljin, Casebook, S. 61, 79; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ ders. (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 33 Rn. 30 f.; Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers

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(2) (Subjektives) Recht als Folge der unmittelbaren Anwendbarkeit Im Gegensatz zur vorstehenden Auffassung vertritt der andere Teil im Schrifttum die Ansicht, dass über die oben genannten Voraussetzungen der hinreichenden Bestimmtheit und Unbedingtheit hinaus für die unmittelbare Anwendbarkeit einer Gemeinschaftsnorm ein zusätzliches, irgendwie geartetes subjektives Element nicht erforderlich sei (sog. „objective/broad view“559).560 Ein subjektives Recht wäre nicht (notwendige) Bedingung, sondern zwingende Folge der unmittelbaren Anwendbarkeit.561 Bezeichnend seien insoweit Entscheidungen wie van Gend & Loos562 oder Salgoil563. In dem letzten Verfahren beispielsweise urteilte der EuGH, dass „das Verbot des Art. 31 [EGV][. . .]564 sich seinem Wesen nach vorzüglich dazu [eignet], unmittelbare Wirkungen [. . .] zu erzeugen. Art. 31 begründet daher individuelle Rechte, [. . .].“ Umstritten ist innerhalb der Vertreterschaft des „broad view“ jedoch, ob es sich bei dem Recht, das aus der unmittelbaren Anwendbarkeit folgt, um ein rein prozessuales565 oder auch um ein solches mit materiellem Inhalt handelt.566 Hierauf wird noch zurückzukommen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 35 m. w. N.; Stüber, Jura 2001, 798 (800 m. w. N.); Triantafyllou, DÖV 1997, 192 (195). 559 Siehe dazu schon oben Teil 3, III. 4. c) aa). Vgl. zu den Begrifflichkeiten auch Bleckmann, Europarecht, Rn. 1153; Craig/de Bfflrca, EU-Law, S. 268 ff.; van Gerven, CMLRev. 2000, 501. 560 Vgl. Bleckmann, Europarecht, Rn. 1197; v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 232 ff., 365; Everling, NVwZ 1993, 209 (215); Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 56 f. m. w. N.; Langenfeld, DÖV 1992, 955 (957); Magiera, in: Schulze/Zuleeg (Hrsg.), Hb. Europarecht, § 13 Rn. 64; Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 46 ff.; Lenz/Tynes/Young, ELRev. 2000, 509 (512); Prechal, Directives, 1. Aufl., S. 266 ff.; 2. Aufl., S. 99 ff. m. w. N.; Ress, GS Arens, S. 351 (356 f.). Differenzierend zwischen Umsetzungsverpflichtung (subjektives Recht erforderlich) und unmittelbare Anwendbarkeit (kein subjektives Recht erforderlich) Classen, VerwArch 1997, 645 (654); Ruffert, DVBl. 1998, 69 (72). Übersicht über den „broad view“ in anderen Mitgliedstaaten bei Prechal, CMLRev. 2000, 1047 (1055 f.). 561 Vgl. Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), Art. 249 EGV Rn. 38 m. w. N.; ders., DVBl. 1998, 69 (73 f.); ders., CMLRev. 1997, 307 (315); Schroeder, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 Rn. 51 m. w. N. A. A. Streinz, Europarecht, Rn. 407, 445, 451, nach dessen Ansicht aus der (subjektiven) unmittelbaren Anwendbarkeit ein Recht folgen kann, aber nicht folgen muss. 562 EuGH, Rs. C-26/62, Slg. 1963, 1 (Van Gend & Loos). 563 EuGH, Rs. C-13/68, Slg. 1968, 453, 461 (Salgoil). 564 Hinzufügung durch den Verfasser. 565 So Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 128. 566 So wohl v. Danwitz, DVBl. 1996, 481 (488 f.); ders., Verwaltungsrechtliches System, S. 244 ff. (v. a. im Hinblick auf die Umsetzung, um nicht gegen das Diskriminierungsverbot zu verstoßen); Ress, GS Arens, 351 (367).

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sein.567 Die Vertreter des „broad view“ unterscheiden also nicht zwischen subjektiver und objektiver unmittelbarer Anwendbarkeit, sondern kennen nur die unmittelbare Anwendbarkeit als solche, die zugleich und zumindest immer auch ein Recht des Einzelnen nach sich zieht, sich auf die unmittelbar anwendbare Norm vor Behörden und Gerichten berufen zu können. Prozessual reiche für die Geltendmachung einer (objektiv) unmittelbar anwendbaren Norm ein rein faktisches Interesses aus.568 Das Einräumen von Popularklagemöglichkeiten werde aber nicht verlangt. Der „broad view“ begründet seine Ansicht primär damit, dass das EGRecht den Einzelnen mobilisieren wolle, gegen Gemeinschaftsrechtsverstöße vorzugehen, um dadurch eine möglichst weitgehende, eigene Durchsetzung zu erreichen. Der Bürger sei Sachverwalter der Allgemeinheit, dessen Individualinteresse nur als Antrieb für sein Tätigwerden genutzt werde.569 Schon die Idee der Effektivität („effet utile“) stehe also einer Beschränkung des Einzelnen, nur subjektive Rechte geltend machen zu dürfen, entgegen. So urteilte der EuGH bereits in der Rs. van Duyn:570 „Mit der den Richtlinien durch Art. 189 [nunmehr Art. 249]571 zuerkannten verbindlichen Wirkung wäre es unvereinbar, grundsätzlich auszuschließen, dass betroffene Personen sich auf die durch die Richtlinien auferlegte Verpflichtung berufen können. Insbesondere in den Fällen, in denen etwa die Gemeinschaftsbehörden die Mitgliedstaaten durch Richtlinien zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, würde die nützliche Wirkung („effet utile“) einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn die Einzelnen sich vor Gericht hierauf nicht berufen und [!]572 die staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen könnten.“ Auffallend ist, dass im letzten Satz der EuGH das Berufungsrecht des Einzelnen und die (objektive) Pflicht der staatlichen Organe, die Richtlinien zu beachten, auf eine Stufe stellte. Eine Differenzierung zwischen beiden Formen der unmittelbaren Anwendbarkeit erfolgte nicht, obgleich der EuGH auch schon in diesem Fall von den „betroffenen Personen“ sprach. 567

Siehe unten Teil 3, III. 4. c) dd) (2). Obgleich v. Danwitz in Zusammenhang mit dem EG-Recht von einem „allgemeinen Vollziehungsanspruch“ spricht, stellt auch er diesen Anspruch unter die (prozessuale) Bedingung der Geltendmachung eines Interesses (in Anlehnung an das „interêt pour agir“ des frz. Verwaltungsrechts), vgl. v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 365. 569 Ausführlich zum Ganzen v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 236 ff. m. w. N.; Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 42 ff. m. w. N. 570 EuGH, Rs. C-41/74, Slg. 1974, 1337 (van Duyn). Vgl. dazu auch Haltern, Europarecht, S. 341 f. 571 Hinzufügung durch den Verfasser. 572 Hervorhebung durch den Verfasser. 568

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Dass der EuGH jedenfalls nicht der strengen deutschen Schutznormtheorie folge, ergebe sich – so die Vertreter des „broad view“ – eindeutig aus der Entscheidung Verholen573. In diesem Verfahren klagte ein Ehemann auf Basis der Richtlinie 79/7 gegen die Diskriminierung seiner Ehefrau bei der Altersrente. Das Ausgangsgericht legte dem EuGH die Frage vor, ob sich eine Person auch dann auf eine Richtlinie berufen könne, wenn diese Person zwar nicht in deren persönlichen Anwendungsbereich fällt, aber trotzdem ein unmittelbares Interesse daran hat, dass das Diskriminierungsverbot zugunsten der geschützten Person beachtet wird. Der EuGH stellte diesbezüglich fest, dass das Recht, sich auf die Richtlinie zu berufen, nicht auf diejenigen beschränkt sei, die in den persönlichen Geltungsbereich der Richtlinie fallen. Es könne nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass andere ein unmittelbares Interesse daran haben, dass das Diskriminierungsverbot zugunsten der geschützten Person beachtet wird. Der Einzelne kann – dies dürfte mittlerweile auch die Ansicht der Mehrheit des „narrow view“ sein574 – folglich im EG-Recht fremde Rechte geltend machen, um eigene Interessen zu befriedigen. Die Schutznormtheorie deutscher Prägung würde dies nicht zulassen.575 Aber auch eine Anpassung der Schutznormtheorie bzw. deren Anwendung auf bloße Individualinteressen sei nach Auffassung der Vertreter des „broad view“ nicht möglich. Die unmittelbare Anwendbarkeit einer Norm habe ausschließlich objektive Voraussetzungen. Die Rechtsprechung zur individuellen Betroffenheit im Sinne des Art. 230 Abs. 4 EGV könne für die Untersuchung der unmittelbarer Anwendbarkeit nicht fruchtbar gemacht werden, weil unmittelbare Anwendbarkeit und individuellen Betroffenheit im Sinne der Plaumann-Formel576 zwei verschiedene Aspekte bezeichneten.577 Die Problematik der unmittelbaren Anwendbarkeit beziehe sich auf den Prüfungsmaßstab, also auf die Norm, auf die sich der Einzelne zu beru573

EuGH, Rs. C-87–89/90, Slg. 1991, I-3757 (Verholen). Gegen eine Verallgemeinerung dieses Falles Classen, VerwArch 1997, 645 (663). 574 Vgl. Stüber, Jura 2001, 798 (801 m. w. N.). 575 So auch Stüber, Jura 2001, 798 (801 m. w. N.). A. A. Ehlers, DVBl. 2004, 1441 (1445 m. w. N.). Zu Recht führt v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 237, aus, dass allgemeine Regelungsziele wie der Schutz der menschlichen Gesundheit oder das Funktionieren des Gemeinsames Marktes Gemeinwohlbelange par exellence darstellten, die einem individualisierbaren und von der Allgemeinheit rechtlich zu unterscheidenden Personenkreis nicht zugeordnet werden können, die Schutznormtheorie folglich für die Bestimmung eines Rechts des Einzelnen ungeeignet sei. Ähnlich Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 123 (177). 576 Siehe dazu oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (1). 577 Anders v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 240 f., der in beiden Systemen die Individualisierbarkeit als vergleichbares Kriterium erkennen will.

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fen beabsichtigt, wogegen die individuelle Betroffenheit den Prüfungsgegenstand578, also die Maßnahme, die angegriffen wird, betrifft.579 Zudem lässt sich die hohe Zulässigkeitshürde, die durch Art. 230 Abs. 4 EGV gesetzt wird und auf den ersten Blick im Widerspruch zur sehr weitgehenden Klagemöglichkeit vor den mitgliedstaatlichen Gerichten zu stehen scheint,580 mit dem Ziel der effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts erklären. Die Regelung des Art. 230 Abs. 4 soll nämlich verhindern, dass Maßnahmen des Gemeinschaftsrechts, denen von Natur aus eine integrative Wirkung zukommt, allzu leicht angegriffen werden können und so die Ergebnisse meist zäher Verhandlungen zunichte machen.581 Überdies kann die strenge Regelung des Art. 230 Abs. 4 EGV mit dem Gedanken der Subsidiarität gerechtfertigt werden. Der Einzelne soll soweit wie möglich zunächst mitgliedstaatliche Gerichte anrufen, die dann nach entsprechender Vorprüfung dem EuGH konkrete, bereits aufbereitete Fragen vorlegen können (vgl. Art. 234 EGV). Eine entsprechende Argumentation findet man auch bei der Verfassungsbeschwerde in Deutschland im Verhältnis zur konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG.582 Auch die Rechtsprechung des EuGH zum Haftungsrecht sei nach Ansicht der „broad view“ kein geeignetes Argument für ein strenges Verständnis der Figur der unmittelbaren Anwendbarkeit. Es sei nämlich – darauf wird noch ausführlich einzugehen sein583 – ein entscheidender Unterschied, ob man den Einzelnen nur als Mittel zur Durchsetzung des objektives Rechts nutzt oder diesem wegen Verstoßes gegen objektives Recht auch (individuellen) Schadensersatz gewährt. Bei der unmittelbaren Anwendbarkeit handle es sich also – nach Auffassung des „broad view“ – um die bloße Fähigkeit, objektive Rechtsnormen stets auch im individuellen Interesse in Bewegung zu setzten. Aus der unmittelbaren Anwendbarkeit folge eine Art Berufungsrecht, welches v. Danwitz mit dem Begriff der „invocabilité“ auf den Punkt zu bringen versucht.584 Bezeichnet sei insoweit die Entscheidung Cos578 Vgl. dazu auch Krämer/Winter, in: Schulze/Zuleeg (Hrsg.), Hb. Europarecht, § 26 Rn. 75. 579 Dies verkennt offensichtlich Ruffert, CMLRev. 1997, 307 (326 f.). 580 Diese Diskrepanz spricht an v. Danwitz, DÖV 1996, 481 (486 f.); Halfmann, VerwArch 2000, 74 (91). 581 Instruktiv dazu v. Danwitz, DÖV 1996, 481 (486 f.).; ders., Verwaltungsrechtliches System, S. 241 ff. 582 BVerfGE 71, 305 (336); 102, 197 (207). Vgl. Pieroth, in: Jarass/ders., GG, Art. 93 Rn. 57; ders./Schlink, Staatsrecht II, Rn. 1156. S. schon oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (1). 583 Siehe dazu unten Teil 3, III. 5. 584 v. Danwitz, DÖV 1996, 481 (484); ders., Verwaltungsrechtliches System, S. 232 ff.

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tanzo585, in der der EuGH entschied, dass „in all den Fällen, in denen Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau erscheinen, sich die einzelnen vor einem nationalen Gericht gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen [können]586, wenn der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in nationales Recht umgesetzt hat.“ Ein subjektives Element werde vom EuGH also offensichtlich nicht gefordert.587 Entscheidungen, die das Gegenteil anzudeuten scheinen, seien – so die Vertreter des „broad view“ – anders zu verstehen: In der Rs. Enichem Base588 habe der EuGH erst gar nicht die Frage beantworten müssen, ob sich ein Einzelner auf die Richtlinie 75/442 direkt berufen kann. Vielmehr widersprach der Gerichtshof bereits der Ansicht der Kläger, die Richtlinie würde die von diesen behauptete Rechtsfolge vorsehen. Die Kläger wollten ein Verbot aufgehoben haben, welches der Bürgermeister ihrer Gemeinde unter Verstoß gegen die Meldepflicht der Richtlinie erlassen hatte. Der EuGH bestätigte zwar die Verletzung der Meldepflicht, stellte jedoch zugleich fest, dass „weder dem Wortlaut noch dem Zweck dieser Bestimmung zu entnehmen sei, daß allein die Nichteinhaltung der den Mitgliedstaaten obliegenden Verpflichtung zur vorherigen Unterrichtung der Kommission zur Rechtswidrigkeit der in dieser Weise erlassenen Regelungen führt.“ Die Richtlinie statuierte also zwar eine Verpflichtung zur Meldung bestimmter Maßnahmen; zu den Rechtsfolgen der Nichteinhaltung dieser Meldepflicht schwieg sie jedoch.589 Ein ähnliches Problem stellte sich in der Rs. Lemmens590. Der Gerichtshof hatte in diesem Fall die Berufung auf die Melderichtlinie abgelehnt, weil die Missachtung der Meldepflicht nicht dazu führen würde – so die Auffassung des EuGH –, dass die Messung des Alkoholspiegels und damit der Beweis für die Trunkenheitsfahrt im Prozess gegen Herrn Lemmens nicht hätten verwertet werden dürfen.591 In beiden Fällen lag das Problem also nicht in der unmittelbaren Anwendbarkeit von Normen des Gemeinschaftsrechts, sondern in der Frage der Rechtsfolge bei Missachten von Richtlinienvorgaben.592 Der EuGH selbst bestätigte dieses 585

EuGH, Rs. C-103/88, Slg. 1989, 1839 (Costanzo). Einfügung durch den Verfasser. 587 Vgl. auch EuGH, Rs. C-236/92, Slg. 1994, I-483 (Comitato di Coordinamento). 588 EuGH, Rs. C-380/87, Slg. 1989, 2491, Rn. 23 (Enichem Base). 589 Instruktiv dazu Ruffert, CMLRev. 1997, 307 (318). 590 EuGH, Rs. C-226/97, Slg. 1998, I-3711 (Lemmens). 591 So auch Prechal, CMLRev. 2000, 1047 (1056 mit Fn. 48); Ruffert, CMLRev. 1997, 307 (317). Für wenig aussagekräftig halten diese Entscheidung Abele, EuZW 1998, 571 f.; Streinz, JuS 1999, 599 f. 592 Gleiches gilt für die Entscheidungen des EuGH, Rs. C-343/92, Slg. 1884, I-571 Rn. 39 ff., insb. 42 (Roks) und Verb. Rs. C-48, 106 f./88, Slg. 1989, 1963, 586

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Verständnis in der Entscheidung CIA Security.593 In diesem Verfahren verklagte das belgische Sicherungsunternehmen CIA Security zwei seiner Konkurrenten wegen Verstößen gegen das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb. CIA Security warf den Unternehmen Signalson und Securitel vor, von diesen insbesondere durch die Behauptung verleumdet worden zu sein, dass ein von CIA Security vermarktetes System zum Schutz vor Einbrüchen nicht die Anforderungen der belgischen Rechtsvorschriften an Sicherungssysteme erfüllte. CIA Security gab zwar zu, dass sie keine Erlaubnis für den Vertrieb dieser Sicherungssysteme beantragt und erhalten hatte. Jedoch machte es geltend, dass das belgische Gesetz gegen Art. 28 EGV verstieße und zudem auch nicht der Kommission angezeigt worden war, was nach der Richtlinie 83/189 erforderlich gewesen wäre. Der EuGH stellte in diesem Verfahren abermals klar, dass „nach ständiger Rechtsprechung [unter ausdrücklichen Hinweis auf die Becker-Rechtsprechung!]594 in allen Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, diese Bestimmungen gegenüber allen nicht richtlinienkonformen nationalen Vorschriften herangezogen werden können.“ Bei den Artikeln 8 und 9 der Richtlinie 83/189 handle es sich nach Auffassung des EuGH um solche unmittelbar anwendbaren Bestimmungen, die anders als die Bestimmungen der Richtlinie in der Entscheidung Enichem Base nicht allein den Zweck haben, die Kommission zu informieren, sondern „[. . .] gerade das weitergehende Ziel [verfolgen], die Handelsschranken zu beseitigen [. . .], der Kommission [. . .] die nötige Zeit zu verschaffen, um zu reagieren und eine Änderung vorzuschlagen, die es erlaubt, die Einschränkungen des freien Warenverkehrs zu vermindern, die sich aus der geplanten Maßnahme ergeben [. . .].“595 Der Verstoß gegen die Mitteilungspflicht aus der Richtlinie 83/189 hatte im Gegensatz zu der aus der Richtlinie 75/442 im Fall Enichem Base deshalb die Nichtigkeit der nicht gemeldeten Maßnahme zur Folge.596 Die Richtlinie sah anders als im Fall Enichem Base also die vom Kläger behauptete Rechtsfolge vor. Erst als diese Frage geklärt war, musste sich der EuGH mit der weiteren Frage beschäftigen (dies war im Fall Enichem Base überhaupt nicht mehr nötig)597, ob das Unternehmen sich auch auf diese ihr nützlichen Rechtsfolge berufen kann (zu Lasten der beiden Konkurrenten). Auf das Problem der horizontalen Drittwirkung von RichtRn. 17 (J.E.G Achterberg), die zum Teil auch als Beweis für das Erfordernis eines subjektiven Elements bei der unmittelbaren Anwendbarkeit vorgebracht werden. 593 EuGH, C-194/94, Slg. 1996, I-2201, Rn. 49 f. (CIA Security). 594 Hervorhebung durch den Verfasser. 595 EuGH, C-194/94, Slg. 1996, I-2201, Rn. 50 (CIA Security). 596 Vgl. dazu auch Classen, VerwArch 1997, 645 (665). 597 Dies verkennt Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ders. (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 36 Rn. 19.

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linien soll an dieser Stelle nun aber nicht näher eingegangen werden.598 Es reicht zu wissen, dass der EuGH die unmittelbare Anwendbarkeit der streitentscheidenden Artikel der Richtlinie im Fall CIA Security bejahte. Weitergehende, subjektive Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit habe der EuGH nach Ansicht der Vertreter des „broad view“ in anderen Entscheidungen ebenfalls nicht gefordert. In vielen Urteilen hat der EuGH auf die Schutzrichtung der jeweiligen Richtlinie überhaupt keinen Bezug genommen. Bezeichnet sei hier neben dem eben genannten Urteil CIA Security auch das Urteil in der Rs. Kraaijeveld599. In diesem Verfahren griff der Kläger einen Beschluss des Provinzialausschusses von Süd-Holland an, welcher den von einem Gemeinderat erlassenen Flächennutzungsplan im Rahmen einer Deichverstärkung genehmigt hatte. Dieser Flächennutzungsplan würde, so argumentierte Herr Kraaijeveld, gegen die UVPRichtlinie 85/338600 verstoßen. Der Kläger machte eigene wirtschaftliche Interessen geltend; die UVP-Richtlinie schützt aber eigentlich ausschließlich die Umwelt als Ganzes. Der EuGH erkannte gleichwohl auf die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie. Abermals wiederholte der Gerichtshof den stereotyp klingenden Satz, dass es „mit der den Richtlinien durch Artikel 249 EGV zuerkannten verbindlichen Wirkung unvereinbar wäre, grundsätzlich auszuschließen, dass sich betroffene Personen auf die durch eine Richtlinie auferlegte Verpflichtung berufen könnten. Insbesondere in den Fällen, in denen die Gemeinschaftsbehörden die Mitgliedstaaten durch eine Richtlinie zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, würde die praktische Wirksamkeit einer solchen Maßnahme abgeschwächt, wenn die Bürger sich vor Gericht hierauf nicht berufen und die nationalen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen könnten, um zu prüfen, ob der nationale Gesetzgeber im Rahmen der ihm vorbehaltenen Befugnis, Form und Mittel für die Umsetzung der Richtlinie zu wählen, innerhalb des in der Richtlinie vorgesehenen Ermessensspielraums geblieben ist.“601 In diesem Verfahren prüfte der EuGH im Hinblick auf die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit ausschließlich die allgemeinen Voraussetzungen der Bestimmtheit und Unbedingtheit; mit keinem Wort problematisierte der Gerichtshof die sich eigentlich aufdrängende Frage, ob die UVP-Richtlinie Rechte oder Interessen des Einzelnen schützt, obgleich diese einzig auf den Schutz der Umwelt abzielt. 598

Siehe dazu oben Teil 3, III. 3. a) bb). EuGH, Rs. C-72/95,Slg. 1996, I-5431 (Kraaijeveld). Siehe auch EuGH, Rs. C-287/9, Slg. 2000, I-6917 (Linster). Vgl. auch GA Mischo in dessen Schlussantrag in der Rs. C-365/98, Slg. 2000, I-4619 Rn. 65 (Brinkmann II). 600 RiLi 5/337/EWG des Rates v. 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten ABl. L 175, S. 40. 601 EuGH, Rs. C-72/95, Slg. 1996, I-5431 Rn. 56 (Kraaijeveld). 599

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Wenn nun aber die UVP-Richtlinie ohnehin (subjektiv) unmittelbar anwendbar ist,602 stellt sich doch die Frage, warum der EuGH in der Rs. Großkrotzenburg überhaupt eine Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Anwendbarkeit getroffen haben sollte, so wie von den Vertretern des „narrow view“ behauptet.603 Eine subjektiv unmittelbar anwendbare Norm ist schließlich erst recht objektiv unmittelbar anwendbar. Die Feststellungen des EuGH in der Rs. Großkrotzenburg erklären sich vielmehr erst aus dem Vorbringen der deutschen Regierung in dem Verfahren. Diese hat ihren Antrag, die Klage als unzulässig abzuweisen, insbesondere darauf gestützt, dass unbedingte und hinreichend bestimmte Richtlinienvorschriften nur vor nationalen Gerichten von individuellen Rechtssubjekten geltend gemacht werden, nicht aber die Grundlage für ein Vertragsverletzungsverfahren bilden könnten. Ausgangspunkt der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinienvorschriften sei – so damals die deutsche Regierung – nämlich die Erwägung gewesen, dass ein Mitgliedstaat sich gegenüber Staatsbürgern, die womöglich ein Recht aus einer Richtlinie ableiten wollten, sich nicht auf eine fehlende oder fehlerhafte Durchführung dieser Richtlinie berufen können sollte; die Kategorie der unmittelbaren Anwendbarkeit beziehe sich somit ausschließlich auf Fälle, in denen Rechte der Bürger gegenüber dem Staat auf dem Spiel stünden. Ist es dagegen nicht dieser Personenkreis, der sich auf die Vorschriften berufen will, so könne nicht von den Behörden verlangt werden, die jeweilige Bestimmung anzuwenden. Nur aufgrund dieser Argumentation war es nötig, dass der EuGH klarstellte, dass die unmittelbare Anwendbarkeit einer Bestimmung des EGRechts auch dann relevant werden kann, wenn am Verfahren kein Bürger beteiligt ist. Das Gericht folgte deshalb der Ansicht der Kommission, die vorbrachte, dass, würde die unmittelbare Richtlinie nur dann unmittelbare Wirkung haben, wenn sie rein tatsächlich von einem individuellen Rechtsinhaber in Anspruch genommen werde, dies die Pflicht der Behörden, unbedingte und hinreichend genaue Richtlinienvorschriften einzuhalten, aufweichen und der Kommission ihre Aufgabe aus Artikel 211 EGV erschweren würde. Die Möglichkeit des Einzelnen, sich auf derartige Richtlinienvorschriften zu berufen, sei also nicht Voraussetzung für die Anerkennung der unmittelbaren Wirkung dieser Vorschriften, sondern lediglich deren Folge.604 602

Vgl. dazu auch EuGH, Rs. C-202/02, Slg. 2004, I-723 (Wells) und Rs. C-287/98, Slg. 2000, I-9265 (Linster). 603 Diese Unterscheidung zieht Ruffert, CMLRev. 1997, 307 (320 f.), zu Recht sogar ganz in Zweifel. 604 Vgl. GA Elmer in dessen Schlussantrag in der Rs. C-431/92, Slg. 1995, I-2189 Rn. 10 ff. (Großkrotzenburg). Vgl. auch BVerwGE 100, 238 (241 f.).

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Schon in der Rs. Costanzo605 nahm Generalanwalt Lenz606 zu diesem Problem Stellung und lehnte die unmittelbare Wirkung einer Richtlinie ohne Beteiligung eines Privaten mit der Begründung ab, dass die Verwaltung kein Vorlagerecht nach Art. 234 EGV habe, sodass ihr die Möglichkeit fehlte, „den Gerichtshof anzurufen und die direkte Anwendbarkeit der fraglichen Richtlinienbestimmung feststellen zu lassen. Sie handelt, wenn sie unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmungen anwendet und entgegenstehendes innerstaatliches Recht außer acht lässt, auf eigenes Risiko, ohne die Rückendeckung des Gerichtshofes.“ Dazu sei sie nach Auffassung des Generalanwalt zwar berechtigt, verpflichtet dazu sei sie aber nicht, denn der Vertrag stelle ihr für dieses Handeln nicht den notwendigen Rechtsschutz zur Verfügung. Der EuGH folgte den Ausführungen des Generalanwalts Lenz nicht. Der Gerichtshof stellte lediglich fest, dass sich die Einzelnen in all den Fällen, in denen Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, vor einem nationalen Gericht gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen können, wenn der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in nationales Recht umgesetzt hat.607 Die objektive unmittelbare Anwendbarkeit kennzeichnet folglich lediglich das Problem des Verpflichtungsadressaten.608 Eine Norm kann somit auch unabhängig der Beteiligung Privater an einem Verfahren unmittelbar anwendbar sein. Im englischen Sprachraum hat sich hierfür der Begriff des „administrative direct effect“ eingebürgert.609 Aus der objektiven unmittelbaren Anwendbarkeit folgt folglich stets die subjektive unmittelbare Anwendbarkeit, ohne dass es dafür einer zusätzlichen Voraussetzung bedürfte. dd) Stellungnahme Dem sog. „narrow view“, der für die unmittelbare Anwendbarkeit einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts ein subjektives Element als zusätzliche Voraussetzung fordert, kann nicht zugestimmt werden. Wie die vorstehenden Ausführungen zeigen, kann sich diese enge Auffassung lediglich auf Entscheidungen stützen, die nach genauerem Hinsehen eher auf ein weites Verständnis des Begriffs der unmittelbaren Anwendbarkeit durch den EuGH schließen lassen. Aus diesem Grund wird vorliegend der Ansatz des „broad 605

EuGH, Rs. C-103/88, Slg. 1989, 1839 (Costanzo). Schlussantrag in der Rs. C-103/88, Slg. 1989, 1839, Rn. 36 (Costanzo). 607 Vgl. den Schlussantrag von GA Elmer in der Rs. C-431/92, Slg. 1995, I-2189 Rn. 10 ff. (Großkrotzenburg). 608 So auch Prechal, CMLRev. 2000, 1047 (1049). 609 Vgl. Prechal, CMLRev. 2000, 1047 (1049); de Witte, in: Craig/de Burca (Hrsg.), The Evolution of EU Law, S. 188. 606

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view“ vertreten. Aber auch letzterem kann nicht in jeder Einzelheit beigepflichtet werden. Ein („echtes“) subjektives Recht ist nämlich auch nicht zwingende Folge der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Norm. Vielmehr kann mit der rein objektiv rechtlich zu bestimmenden, unmittelbaren Anwendbarkeit einer Norm des Gemeinschaftsrecht ein („echtes“) subjektives Recht einhergehen, muss es aber nicht.610 Die Rechtsprechung des EuGH, innerhalb der man die einheitliche Verwendung von Terminologie vermisst,611 kann am besten dadurch erklärt werden, dass man folgende drei Problemfelder strikt auseinander hält:612 (1) Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit [dazu (1)]; (2) Einklagbarkeit einer unmittelbar anwendbaren Norm [dazu (2)]; (3) Art und Weise der Umsetzung, insbesondere von Richtlinien [dazu (3)]. (1) Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit Der Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit soll vorliegend seinem Wortlaut gemäß so verstanden werden, dass er lediglich kennzeichnet, ob eine Norm des Gemeinschaftsrechts so klar, bestimmt und unbedingt ist, dass diese von den Behörden und Gerichten unmittelbar, also ohne notwendigen Zwischenakt durch den Gesetzgeber, Anwendung finden kann. Unerheblich ist, ob Private beteiligt sind oder es sich um ein rein objektives Verfahren handelt.613 Wenn man so will, kann man insoweit auch von objektiver unmittelbarer Anwendbarkeit sprechen. Ein subjektives Element – dies dürfte mittlerweile der ganz herrschenden Meinung im Schrifttum614 sowie der Entscheidung des EuGH in der Rs. Großkotzenburg615 entsprechen – ist für diese objektive unmittelbare Anwendbarkeit nicht erforderlich. Ob die Kriterien für eine unmittelbare Anwendbarkeit erfüllt sind, bestimmt sich nach Gemeinschaftsrecht.616 610 So wie hier Prechal, Directives, 2. Aufl., S. 101 ff. m. w. N. Ähnlich, obwohl dem „narrow view“ anhängend, Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 78 f. m. w. N. 611 Vgl. zur Problematik der Terminologie in diesem Zusammenhang ausführlich Prechal, Directives, 2. Aufl., S. 101 f. m. w. N. 612 Ähnlich auch Triantafyllou, DÖV 1997, 192 (195), der im Ergebnis aber dem „narrow view“ folgt. Vgl. auch Huber, BayVBl. 2001, 577 (579); Ruffert, DVBl. 1998, 69 ff. 613 Siehe dazu schon oben Teil 3, III. 4. c) cc). 614 Vgl. statt vieler Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 345; Reiling, Individuelle Rechte, S. 286; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ders. (Hrsg.), Hb. Rechtschutz, § 33 Rn. 30 m. w. N.; Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, Rn. 168 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 445. 615 EuGH, Rs. C-431/92, Slg. 1995, I-2189 (Großkrotzenburg).

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(2) Einklagbarkeit einer unmittelbar anwendbaren Norm Vom Begriff der (objektiven) unmittelbaren Anwendbarkeit ist die Frage zu unterscheiden, inwieweit sich ein Einzelner vor mitgliedstaatlichen Behörden oder Gerichten auf diese unmittelbar anwendbaren Vorschriften des EG-Rechts auch berufen kann. Das ist jedoch zunächst einmal nicht eine Frage des Gemeinschaftsrechts, sondern betrifft einzig das Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten, die das EG-Recht im Grundsatz autonom zu vollziehen haben.617 Die Mitgliedstaaten sind deshalb prinzipiell darin frei, welche Hürden sie für die Zulässigkeit einer Klage setzen wollen: Sie können ein System von Verletztenklagen, von Interessentenklagen oder aber auch von Popularklagen schaffen.618 Ein Mischsystem, wie es Art. 230 Abs. 4 EGV619 vorsieht, wäre ebenfalls denkbar. Es ist somit zunächst nicht zu beanstanden, dass § 42 Abs. 2 VwGO als Klagebefugnis die Geltendmachung einer subjektiven Rechtsverletzung fordert. Ob ein subjektives Recht vorliegt, bestimmt sich gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten dabei nach der deutschen Schutznormtheorie.620 Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten wird durch zwei Prinzipien begrenzt:621 Zum einen dürfen nationale Sachverhalte nicht günstigeren Verfahrensregelungen unterliegen als Sachverhalte mit Gemeinschaftsbezug 616

Wohl ganz h. M., vgl. zum Ganzen Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 14 Rn. 80; Jarass/Beljin, Casebook, S. 178 m. w. N.; Kopp/Schenke, VwGO, § 42 Rn. 153. 617 EuGH, Rs. C-33/76, Slg. 1976, 1989 (Rewe-Zentralfinanz); Rs. C-265/78, Slg. 1980, 617 Rn. 10 (Ferwerda). Vgl. auch Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 78; van Gerven, CMLRev. 2000, 501 (502); Stüber, Jura 2001, 798 (800). Allgemein zum Ganzen Haltern, Europarecht, S. 390 ff. m. w. N.; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 294 f. m. w. N. 618 Instruktiv zum Ganzen Skouris, Verletztenklagen und Interessentenklagen, insb. S. 149 f. 619 Ausführlich zu Art. 230 Abs. 4 EGV siehe oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (1). 620 Str., so wie hier Frenz, Europäisches Umweltrecht, S. 68 Rn. 194 m. w. N.; Triantafyllou, DÖV 1997, 192 (194), wobei zuzugeben ist, dass das Gemeinschaftsrecht Anforderungen an das Ergebnis dieser Prüfung und damit Mindeststandards für den Rechtsschutz statuiert (vgl. Ehlers, DVBl. 2004, 1441 (1446)). A. A. wohl h. M., vgl. statt vieler Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ders. (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 36 Rn. 14; Klöver, Klagefähige Individualrechtspositionen, S. 82 f.; Kopp/ Schenke, VwGO, § 42 Rn. 153; Ruthig, BayVBl. 1997, 289 (290 ff.); Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 531b. Ob dagegen eine Norm unmittelbar anwendbar ist, bestimmt sich nach dem Gemeinschaftsrecht, siehe dazu schon oben Teil 3, III. 4. c) dd) (1). Vgl. zum Ganzen Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 105 ff. m. w. N. Instruktiv auch Huber, BayVBl. 2001, 577 (579). 621 EuGH, Rs. C-33/76, Slg. 1976, 1989 Rn. 5 (Rewe-Zentralfinanz). Vgl. ausführlich Haltern, Europarecht, S. 390; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 294 ff. m. w. N.; Streinz, Europarecht, Rn. 552 ff.

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(sog. Äquivalenzgebot). Dieser Grundsatz der Nichtdiskriminierung spielte bislang in der Rechtsprechung des EuGH nur eine äußerst untergeordnete Rolle und soll deshalb auch im Folgenden vernachlässigt werden.622 Zum anderen muss das nationale Verfahrensrecht gewährleisten, dass das EGRecht effektiv durchgesetzt wird (sog. Effektivitätsgebot); oder, um es mit den Worten des EuGH zu sagen, dass „die vom innerstaatlichen Recht gesetzten Verfahrensregeln und Fristen die Ausübung der Rechte, [die sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergeben und]623 die die nationalen Gerichte zu schützen haben, nicht praktisch unmöglich [gemacht] oder übermäßig erschwert wird.“624 Sowohl mit dem Äquivalenz- als auch mit dem Effizienzgebot soll im Ergebnis eine möglichst weitgehende Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts erreicht werden.625 Da außer für bestimmte Teilbereiche kein einheitliches Gemeinschaftsverfahrensrecht existiert, ist die EG darauf angewiesen, dass die Mitgliedstaaten die Vorschriften des EG-Rechts nach ihrem eigenen, nationalen Verfahrensrecht unter Beachtung der eben genannten Grundsätze vollziehen. In diesem Zusammenhang hat der EuGH bereits etliche nationale Verfahrensregelungen beanstandet. Als bisher bedeutsamste Entscheidung auf dem Gebiet des mitgliedstaatlichen Verwaltungsvollzugs gilt wohl das Urteil in der Rs. Factortame I, in welchem der EuGH vom Vereinigten Königreich sogar die Schaffung eines vorläufigen Rechtsschutzes (jedenfalls für die Fälle mit Gemeinschaftsbezug) verlangt hat.626 Das Effektivitätsgebot ist es nun auch, welches anordnet, dass jedwede (objektiv) unmittelbar anwendbare Bestimmung des EG-Rechts grundsätzlich durch den Einzelnen eingeklagt werden können muss. Das Gemeinschaftsrecht selbst differenziert nämlich nicht – auf die etwas abweichende Systematik des Haftungsrechts wird noch ausführlich einzugehen sein627 – zwischen objektiven und subjektiven Normen. Es will in Anlehnung an die französische Konzeption628 die möglichst effektive Durchsetzung des ge622

Vgl. dazu statt vieler Craig/de Burca, EU-Law, S. 325 ff.; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 303 f. 623 Hinzufügung durch den Verfasser. 624 EuGH, Rs. C-265/78, Slg. 1980, 617 Rn. 10 (Ferwerda). Vgl. auch EuGH, Rs. C-33/76, Slg. 1976, 1989 (Rewe-Zentralfinanz); Verb. Rs. C-46/93 und 48/93, Slg. 1996, I-1029 Rn. 67 (Brasserie/Factortame III). 625 Vgl. Magiera, in: Schulze/Zuleeg (Hrsg.), Hb. Europarecht, § 13 Rn. 35. 626 EuGH, Rs. C-213/89, Slg. 1990, I-2433 (Factortame I). Gegen die Pflicht zur Schaffung neuer Rechtsbehelfe zunächst noch EuGH, Rs. C-158/80, Slg. 1981, 1805 Rn. 44 (Rewe-Handelsgesellschaft Nord). 627 Siehe unten Teil 3, III. 5. 628 Vgl. dazu auch Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 123 (178), jedoch mit dem Zusatz: „Eine solchermaßen weitgehende Einwirkung auf das deutsche Recht wird man dem Gerichtshof wohl nicht

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samten (!) EG-Rechts. Der Bürger wird nicht nur zur Durchsetzung seiner eigenen Rechte, sondern auch zur Durchsetzung aller sonstigen Verpflichtungen der EG und der Mitgliedstaaten mobilisiert.629 Zugegeben, das oben genannte Prinzip der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten wird damit deutlich eingeschränkt, wenn nicht sogar ins Gegenteil verkehrt. Eine weitergehende Dogmatik des subjektiven Rechts über die des „effet utile“630 hinaus kennt das Gemeinschaftsrecht aber nicht.631 Für die unmittelbare Anwendbarkeit kommt es deshalb nicht darauf an, ob die jeweilige Norm des EG-Rechts einen subjektives Bezug aufweist oder nicht. Die Kategorie der subjektiven unmittelbaren Anwendbarkeit ist eine reine Erfindung deutscher Autoren, um die Rechtsprechung des EuGH mit dem deutschen Verständnis von Rechten in Einklang bringen zu können.632 Das Gemeinschaftsrecht trifft auch keine Entscheidung darüber, ob aus der (objektiven) unmittelbaren Anwendbarkeit ein subjektives Recht folgt bzw. folgen muss.633 Ohnehin wäre für viele Mitgliedstaaten, in denen sich im Gegensatz zur Bundesrepublik ein Interessentenklagesystem etabliert hat, die Kategorisierung einer Norm als subjektives Recht weitgehend unnütz.634 In Großbritannien beispielsweise – wie auch in den meisten anderen Ländern – liegt bei einem rechtswidrigen Tun der Focus mehr auf den dem jeweiligen Kläger in konkretem Fall zur Verfügung stehenden Rechtsohne weiteres unterstellen können.“ Man kann darauf nur erwidern: „Aber warum denn nicht?“ 629 Instruktiv zum Ganzen Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 46 f. Vgl. auch Halfmann, VerwArch 2000, 74 (82 f.); Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 14 Rn. 80; Ruffert, DVBl. 1998, 69 (71). A. A. Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ ders. (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 36 Rn. 17 ff. Krit. Fichtner, Rechte des Einzelnen, S. 185 ff. 630 Andere nennen zusätzlich den Sanktionsgedanken als Rechtfertigung für eine unmittelbare Anwendbarkeit. Das sog. „estoppal argument“ kann jedoch wenn überhaupt nur bei Richtlinien als zusätzliche Begründung für deren unmittelbare Anwendbarkeit herangezogen werden. Eine Verallgemeinerung ist nicht möglich. Vgl. Klein, Unmittelbare Geltung, S. 20 f.; Schoißwohl, Staatshaftung, S. 233 m. w. N.; Ruffert, DVBl. 1998, 69 (71). v. Danwitz argumentiert zusätzlich noch mit dem Integrationsgedanken, vgl. v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 241 f. 631 Vgl. v. Danwitz, DÖV 1996, 480 (482); Halfmann, VerwArch 2000, 74 (83 m. w. N.); Prechal, Directives, 2. Aufl. S. 102 ff.; Schoch, NVwZ 1999, 457 (463 m. w. N.); Stern, JuS 1998, 769 (770 f.). 632 So auch Ruffert, DVBl. 1998, 69 (71 m. w. N.). 633 Anders Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 123 (179 f.), der meint, dass das Europarecht über die Begründung einer materiellen Position als subjektives Recht entscheidet, die das deutsche Verfahrensrecht zu beachten habe. Ebenso Klöver, Klagefähige Individualrechtspositionen, S. 82 f.; Ruthig, BayVBl. 1997, 289 (290 ff.). 634 Ähnlich Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 78.

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behelfen als auf den Rechten selbst; es gilt der Grundsatz „ubi remedium, ibi ius:635 where there’s a remedy there’s right.“636 Wenn der EuGH also von „Rechten“ spricht, muss berücksichtigt werden, dass dieser mit dem Terminus „Recht“ im Allgemeinen keine besondere Aussage verbinden will.637 Für deutsche Juristen638, die dem subjektiven öffentlichen Recht seit jeher639 eine zentrale Stellung zuerkennen, ist diese Erkenntnis erst einmal mehr als gewöhnungsbedürftig. Diese Verpflichtung zur möglichst effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts hat nun aber nicht die Konsequenz, dass für gemeinschaftsrechtliche Sachverhalte ein Popularklageverfahren eingerichtet werden müsste.640 Zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Gerichtsbarkeit können641 die einzelnen Mitgliedstaaten gewisse Zugangsvoraussetzungen für die Erhebung einer Klage schaffen, welche die Berufung auf gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen aber eben nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen.642 Die meisten Mitgliedstaaten sehen in ihren nationalen Verfahrensordnungen entsprechende Zugangshürden vor. In der Bundesrepublik hat man mit § 42 Abs. 2 VwGO ein Verletztenklagesystem errichtet mit der Folge, dass ein Kläger die Gerichte nur dann in Anspruch nehmen darf, wenn er die Verletzung eines subjektiven Rechts vorbringen kann. Genau an dieser Stelle setzt nun die Rechtsprechung des 635 Vgl. dazu ausführlich Eilmansberger, Rechtsfolgen und subjektives Recht, S. 63 f. 636 Grundlegend Dicey, Introduction to the Law of the Constitution, S. 194 ff. Vgl. dazu auch Prechal, Directives, 2. Aufl., S. 104 m. w. N.; Sommermann, Staatszielbestimmungen, S. 47 mit Fn. 124. 637 Instruktiv dazu Prechal, Directives, 2. Aufl., S. 104 ff. m. w. N. Dies verkennt Klöver, Klagefähige Individualrechtspositionen, S. 135 ff. 638 Auch in Italien kommt dem Begriff des subjektiven Rechts ebenfalls eine besondere Bedeutung zu, wenn auch eine andere wie in Deutschland, siehe dazu schon oben Teil 2, IV. 2. e) aa). 639 Zu der geschichtlichen Entwicklung siehe oben Teil 3, III. 4. c) bb) (1). 640 Allg. Meinung, vgl. Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ders. (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 36 Rn. 21 m. w. N.; Jarass, Grundfragen, S. 59; Ruffert, DVBl. 1998, 69 (73); Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 38 m. w. N.; Stüber, Jura 2001, 798 (801). Entgegen weit verbreiteter Meinung vertritt auch v. Danwitz nichts anderes, der zwar von einem „allgemeinen Normvollziehungsanspruch“ spricht, daneben aber prozessual stets auch die Geltendmachung eines eigenen, nachvollziehbaren Interesses fordert, vgl. v. Danwitz, DÖV 1996, 481 (489); ders., Verwaltungsrechtliches System, S. 365. 641 Notwendig ist dies aber nicht. Die Mitgliedstaaten können selbstverständlich auch ein Popularklageverfahren für gemeinschaftsrechtliche Sachverhalte installieren. Vgl. dazu Triantafyllou, DÖV 1997, 192 (193 f.). 642 EuGH, Rs. C-265/78, Slg. 1980, 617 Rn. 10 (Ferwerda). Vgl. auch EuGH, Rs. C-33/76, Slg. 1976, 1989 (Rewe-Zentralfinanz); Verb. Rs. C-46/93 und 48/93, Slg. 1996, I-1029 Rn. 67 (Brasserie/Factortame III).

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EuGH an. Wie die Entscheidungen Verholen643 und Costanzo644 oder die Urteile zu den Umweltrichtlinien645 zeigen,646 hält der EuGH die Zulässigkeitsvoraussetzungen der VwGO für zu streng und lehnt ein Verletztenklagesystem als für die effektive Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts hinderlich ab. Wenn die Vertreter des „narrow view“ ein individuelles Element in der Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Anwendbarkeit zu erkennen meinen, bezieht sich dieses nicht auf die materielle Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Norm, sondern vielmehr alleine auf das prozessuale Problem, inwieweit sich der Einzelne im konkreten Fall auf solche Bestimmungen berufen können muss.647 Wie eben gerade schon angesprochen,648 ist in einigen Mitgliedstaaten eine solche Unterscheidung zwischen materiellen Recht und Prozessrecht unüblich. Lord Brown-Wilkinson stellte in der Entscheidung Kingdom of Spain v. Christe & Others649 für sein eigenes Land lehrreich fest: „[. . .] in England in the programatic way in which English law has developed, a man’s legal rights are in fact those which are protected by a cause of action. It is not in accordance (. . .) with the principles of English law to analyse rights as being something separate from the remedy given to the individuals.“ Um dieses rechtliche Verständnis entsprechend zu berücksichtigen, kann man auch die materielle Kategorie der unmittelbaren Anwendbarkeit, also die Justiziabilität einer Norm,650 und die prozessuale Möglichkeit, sich auf diese Normen zu stützen, miteinander verbinden und einheitlich von einem Berufungsrecht sprechen.651 Wichtig zu beachten ist nur – und darin unterscheidet sich der vorliegende Ansatz von dem der Mehrheit652 des „broad view“ –, dass sich aus der (objektiven) unmittelbaren Anwendbarkeit zwar zwingend ein Berufungsrecht ergibt, es sich bei die643

EuGH, Verb. Rs. C-87–89/90, Slg. 1991, I-3757 (Verholen). EuGH, Rs. C-103/88, Slg. 1989, 1839 (Costanzo). 645 Siehe dazu oben Teil 3, III. 4. c) cc) (1). 646 Siehe dazu die obigen Ausführungen zum „broad view“ Teil 3, III. 4. c) cc) (2). 647 So auch Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 78 m. w. N.; Erichsen, in: ders./Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 43; Kopp/Schenke, VwGO, § 42 Rn. 154; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 185; Winter, DVBl. 1991, 657 (662 Rn. 45). 648 Siehe gerade eben bei Rn. 1527. 649 Brown-Wilkinson in Kingdom of Spain v. Christe, Manson & Woods Ltd. [1986] 1 W.L.R. 1120, 1129. 650 So Schroeder, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 Rn. 51 m. w. N. 651 Vgl. auch v. Danwitz, DÖV 1996, 481 (482 ff.); Kokott, DV 1998, 335 (356); Ruffert, CMLRev. 1997, 307 (335); Prechal, CMLRev. 2000, 1047 (1056 f.). 652 Ein Teil des „broad view“ geht ebenfalls von einem rein prozessualen Berufungsrecht aus, siehe die in der vorstehenden Fn. 651 Genannten (mit Einschränkungen bei v. Danwitz und Ruffert). 644

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sem Berufungsrecht jedoch nicht um ein materielles Recht, sondern lediglich um die prozessuale Berechtigung handelt,653 jede Gemeinschaftsnorm, sofern diese hinreichend klar und bestimmt ist, im eigenen Interesse vor Behörden und Gerichten geltend machen zu können.654 Ein materielles (echtes subjektives) Recht kann, muss aber nicht immer aus einer unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsbestimmungen folgen.655 Unter materiellen Recht wird vorliegend dabei eine Position verstanden, bei deren Verletzung ein Schadensersatzanspruch zugesprochen werden kann.656 Das prozessuale Berufungsrecht ist demnach lediglich das Spiegelbild der (objektiven) Verpflichtung von Behörden bzw. Gerichten, unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsbestimmung stets sowohl im Rahmen der Zulässigkeit, also der Begründetheit657 heranziehen zu müssen.658 Die unmittelbare Anwendbarkeit einer Norm zielt also auf einen möglichst umfassenden Primärrechtsschutz ab. Sie sagt dagegen nichts darüber aus, ob die jeweils unmittelbar anwendbare Vorschrift des Gemeinschaftsrechts dem Einzelnen auch ein subjektives Recht verleiht, bei dessen Verletzung im Wege des Sekundärrechtsschutzes Ersatzansprüche geltend gemacht werden können. Die Kategorie der unmittelbaren Anwendbarkeit und die des subjektiven Rechts im Sinne des Haftungsrechts sind nicht deckungsgleich.659 Die unmittelbare Anwend653 Vgl. Craig/de Burca, EU-Law, S. 270; v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 236 f.; ders., DÖV 1996, 481 (484); Prechal, CMLRev. 2000, 1047 (1056 f.); ders., Directives, 2. Aufl., S. 125. 654 So ausdrücklich auch Craig/de Burca, EU-Law, S. 270 f.; Prechal, Directives, 2. Aufl., S. 100, 125 m. w. N.; Ruffert, CMLRev. 307 (315). 655 So offensichtlich Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 78 f. m. w. N.; Prechal, CMLRev. 2000, 1047 (1050); Streinz, Europarecht, Rn. 445. 656 Ähnlich wohl Prechal, Directives, 2. Aufl., S. 106 ff. m. w. N. 657 § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 VwGO ist aus diesem Grund einschränkend auszulegen, vgl. dazu Kokott, DV 1998, 335 (350 m. w. N.); Wahl/Schütz, in: Schoch/ Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, § 42 Abs. 2 Rn. 39. 658 Die Auswirkung auf die Begründetheit problematisieren bspw. v. Danwitz, DÖV 1996, 481 (488); Halfmann, VerwArch 2000, 74 (87 m. w. N.); Ruffert, DVBl. 1998, 74; ders., Subjektive Rechte, S. 297. 659 So wie hier Gratias, Staatshaftung, S. 97 m. w. N., 134; Kokott, DV 1998, 335 (353 f.); Prechal, Directives, 2. Aufl., S. 108, 283 f.; Schoißwohl, Staatshaftung, S. 232 ff. m. w. N. Ähnlich wohl Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 Rn. 56 a. E. A. A. GA Tesauro in dessen Schlussantrag zur Rs. C-46/93, Slg. 1996, I-1029, 1098 Rn. 56, 1107 Rn. 75, 77 (Brasserie/Factortame); v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 Rn. 131; Böhm, in: Schulze/ Zuleeg (Hrsg.), Hb. Europarecht, § 12 Rn. 118; Gellermann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 Rn. 43 f.; Kopp/Schenke, VwGO, § 42 Rn. 153. Die Mehrheit im Schrifttum sieht deshalb keinen Unterschied zwischen dem subjektiven Recht im Sinne des Haftungsrechts und der Kategorie der unmittelbaren Anwendbarkeit, weil diese schon für die unmittelbare Anwendbarkeit ein subjektives Element fordern.

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barkeit ist weder Voraussetzung noch Folge eines subjektiven Rechtes nach haftungsrechtlichem Verständnis.660 Das Problem um die Rechte des Einzelnen verlagert sich demzufolge von der materiellen Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Gemeinschaftsnorm auf die prozessuale Ebene, welche Anforderungen ein Mitgliedstaat an die Klagebefugnis des Klägers stellen darf, damit eine Vorschrift des EG-Rechts als noch effektiv durchführbar eingestuft werden kann.661 Eine endgültige Stellungnahme des EuGH hierzu steht noch aus. Die Vertreter des „narrow view“662 verlangen – so gesehen sind sie konsequent – das Vorbringen eines rechtlichen wie tatsächlichen Interesses663. Das rechtliche Interesse beziehe sich auf die im jeweiligen Fall beeinträchtigte Rechtsposition und somit auf den Prüfungsmaßstab der Klage. Es sei danach zu fragen, ob die streitentscheidende Norm des EG-Rechts (z. B. eine Richtlinie) abstrakt die Interessen des Einzelnen bewahren wolle oder wenigsten tatsächlich bewahre,664 die Norm also zumindest auch dem Schutz von Individualgütern wie Leben oder Gesundheit diene.665 Insoweit handle es sich um eine etwas abgespeckte Prüfung der Klagebefugnis nach deutschem Vorbild.666 Das tatsächliche Interesse beziehe sich dagegen auf 660 EuGH, Rs. C-6, 9/90, Slg. 1991, I-5357 Rn. 40 (Francovich). Siehe zum Ganzen auch unten Teil 3, III. 5. a). 661 So in der Systematik wohl auch Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ders. (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 36 Rn. 15 ff.; Prechal, CMLRev. 2000, 1047 (1056 f.). 662 Vgl. Calliess, NJW 2002, 3577 (3578); Classen, in: Schulze/Zuleeg (Hrsg.), Hb. Europarecht, § 4 Rn. 120; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ders. (Hrsg.), Hb. Rechtschutz, § 36 Rn. 17 ff.; Jarass, Grundfragen, S. 59 f.; Stüber, Jura 2001, 798 (800); Zuleeg, in: Schulze/ders. (Hrsg.), Hb. Europarecht, § 8 Rn. 49. Wohl auch Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 123 (179). Etwas unklar Ruffert, DVBl. 1998, 69 (73 f.), der aber wohl auch ein rechtliches Betroffensein bei der Klagebefugnis fordert. 663 Manche Autoren verlangen nach wie vor die Geltendmachung eines subjektiven Rechts, vgl. Ehlers, DVBl. 2004, 1441 (1445); Pernice, NVwZ 1990, 414 (424 f.); Schoch, NVwZ 1999, 457 (465); Stern, JuS 1998, 769 (771). Triantafyllou, DÖV 1997, 192 (196) spricht vom Erfordernis der tatsächlichen und rechtlichen Betroffenheit und fordert damit ebenfalls eine mögliche Rechtsverletzung. 664 Vgl. Calliess, NVwZ 1996, 339 (341); Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 77 ff.; Jarass, Grundfragen, S. 59 f.; Wegener, Recht des Einzelnen, S. 185, 281 ff. Zum Ganzen instruktiv Calliess, NJW 2002, 3578 f.; Jarass/Beljin, Casebook, S. 180 ff. 665 Vgl. Calliess, NJW 2002, 3577 (3578 f.); Jarass, NJW 1991, 2667; Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 35 f. 666 Kadelbach geht über diese Aussagen (teilweise) sogar noch hinaus, wenn er aus der unmittelbaren Anwendbarkeit in Anlehnung an die Rechtsprechung zur Staatshaftung eine frei schwebende Interessenklage auf unionsrechtlicher Basis befürwortet, vgl. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 387 ff., 390. Dagegen zu Recht Huber, BayVBl. 2001, 577 (581), mit dem Argument, dass das Gemein-

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die angegriffene Maßnahme des Mitgliedstaates (z. B. ein Umsetzungsakt) und daher auf den Prüfungsgegenstand. Es müsse ermittelt werden, ob der Kläger ein konkretes Interesse am Verfahren vortragen kann. Demgegenüber reicht, damit die Klage zulässig ist,667 für die Verfechter eines „broad view“ in Anlehnung an die französische Konzeption die Geltendmachung eines rein faktischen Interesses aus. Aus den Entscheidungen Verholen668 und Costanzo669 oder den Urteilen zu den Umweltrichtlinien670 lässt sich ableiten, dass der EuGH jedwedes671 nachvollziehbare, tatsächliche Interesse eines Einzelnen für ausreichend erachtet, damit dieser sich auf eine unmittelbar anwendbare Vorschrift des Gemeinschaftsrechts zu stützen vermag. Das in dieser Arbeit vertretene Verständnis von der unmittelbaren Anwendbarkeit führt also im Ergebnis zur Einklagbarkeit des gesamten objektiven Rechts, sofern der Kläger ein irgendwie geartetes Interesse am Verfahren vorweisen kann. Hier fällt nun tatsächlich eine Parallele zur Rechtsprechung des EuGH zu Art. 234 Abs. 4 EGV auf, zwar nicht in Bezug auf die Individualisierbarkeit der klagenden Partei, aber in Bezug auf deren „Betroffensein“. Auch bei der Nichtigkeits- oder Untätigkeitsklage vor dem EuGH handelt es sich – dies konnte oben gezeigt werden672 – um objektive Verfahren, bei denen der Bürger – sofern er die Hürde des Art. 230 Abs. 4 EGV erst einmal genommen hat – jede unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsnorm (als Prüfungsmaßstab) geltend machen kann. Im Rahmen des Art. 234 Abs. 4 EGV genügt dem EuGH ebenfalls das bloße Vorbringen rein wirtschaftlicher Interessen, in Anlehnung an das „interet pour agir“673 des französischen schaftsrecht durch die Mitgliedstaaten vollzogen wird. Kadelbach kann gleichwohl nicht gänzlich zu den Vertretern des „broad view“ gezählt werden, weil er die Zulässigkeit solcher Klagen nur dann bejahen will, wenn der Kläger ein subjektives Interesse geltend machen kann. Ein bloß wirtschaftliches oder sogar nur ideelles Interesse solle nicht genügen, vgl. Kadelbach, a. a. O., S. 78 ff. m. w. N. Instruktiv dazu auch Prechal, CMLRev. 2000, 1047 (1054). 667 Vgl. v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 365; Halfmann, VerwArch2000, 74 (82 f.); Krämer/Winter, in: Schulze/Zuleeg (Hrsg.), Hb. Europarecht, § 26 Rn. 83 ff.; Prechal, CMLRev. 2000, 1047 (1056 f.). 668 EuGH, Verb. Rs. C-87–89/90, Slg. 1991, I-3757 (Verholen). 669 EuGH, Rs. C-103/88, Slg. 1989, 1839 (Costanzo). 670 EuGH, Rs. C-131/88, Slg. 1991, I-825 ff. (Grundwasser); Rs. C-361/88, Slg. 1991 I-2567 (Schwefeldioxid/Schwebestaub); Rs. C-59/89, Slg. 1991, I-2607 (Blei); Rs. C-58/89, Slg. 1991, I-4983 (Oberflächenwasser). 671 A. A. Kadelbach, Verwaltungsrecht, S. 79 f., der rein faktische Nachteile bzw. wirtschaftliche oder ideelle Interessen ausdrücklich nicht ausreichen lassen will. 672 EuGH, Rs. C-358/89 Slg. 1991, I-2501 Rn. 16 f. (Extramet). Siehe zum Ganzen oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (1). 673 Instruktiv der Überblick bei Ruffert, CMLRev. 1997, 307 (326). Vgl. auch Prechal, Directives, 2. Aufl., S. 104 f.; Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungs-

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Verwaltungsrechts.674 Demzufolge dürfte ein rein tatsächliches Betroffensein durch die angegriffene Maßnahme auch bei der Frage der Klageberechtigung vor mitgliedstaatlichen Gerichten ausreichend sein.675 Gellermann676 meint dagegen, dass die zur Klage berechtigte Position nur solchen Marktbürgern zuerkannt werden solle, die gerade in ihren normgeschützten Interessen betroffen sind. Eine Regelung des Verbraucherschutzes könne also nur durch Verbraucher geltend gemacht werden. Eine solche Einschränkung widerspräche jedoch dem „effet-utile“-Prinzip. Gemäß dem Grundsatz einer möglichst weitgehenden Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts interessiert es nicht, welches Interesse der Kläger an der Rechtsverfolgung vorträgt, sofern diese Interesse nicht gerade mit dem Regelungszweck der streitentscheidenden Norm unvereinbar ist. Der EuGH wird wohl keine Einwände haben, wenn ein Unternehmer sich in einem Wettbewerbsverfahren beispielsweise auf verbraucherrechtliche Vorschriften stützt, damit der beklagte Konkurrent mit dessen verbraucherschädlichen Verhalten nicht weitere Marktanteile gewinnt. Rechtliche Probleme gegen eine solch weite Auslegung der Klagebefugnis ergeben sich entgegen teilweise anderslautender Bedenken677 nicht. Dem Einzelnen wird nämlich nur die Möglichkeit eingeräumt, gegen rechtswidrige Akte der Union oder seines eigenen Staates vorzugehen. Ein rechtlich schützenswertes Interesse an der Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen Zustands gibt es – bis auf die wenigen Fälle eines gerechtfertigten Vertrauens des Begünstigten am Bestand des rechtswidrigen Zustands – nicht.678 Auch der Einwand, der Gerichtsschutz käme zum Erliegen, wenn recht unter europäischem Einfluß, S. 123 (178 m. w. N.). Zum Ganzen siehe oben Teil 2, IV. 2. b) bb). 674 Triantafyllou, DÖV 1997, 198 ff. stellt dagegen unter Hinweis auf die Entscheidung Codorniu des EuGH (Rs. C-309/89, Slg. 1994, I-1853) auf eine rechtliche und tatsächliche Rechtsverletzung ab. Ähnlich Jarass/Beljin, Casebook, S. 205 ff. Bei der Entscheidung Codorniu dürfte es sich jedoch um einen Sonderfall handeln, der seitdem von der Rechsprechung nicht mehr aufgegriffen wurde. Ähnlich wie hier Albors-Llorens, Private Parties in EC-Law, S. 223 f.; Craig/de Burca, EU-Law, 3. Aufl, S. 496 ff. m. w. N. 675 So auch v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 365; Halfmann, VerwArch 2000, 74 (85 f). Wohl aber nicht Ruffert, DVBl. 1998, 69 (73 f.). 676 Vgl. Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ders. (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 36 Rn. 21. Ähnlich Kopp/Schenke, VwGO, § 42 Rn. 153; Stüber, Jura 2001, 798 (802). 677 Vgl. Ehlers, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, S. 48 f., 51. Vgl. zum Ganzen Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 47, 81 m. w. N. 678 Ausführlich dazu Classen, Europäisierung des Verwaltungsrechts, S. 81 m. w. N.

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sämtliche unmittelbar anwendbare Vorschriften von jedermann gerichtlich eingeklagt werden könnten,679 überzeugt wenig. In den Mitgliedstaaten, in denen Interessentenklagen zulässig sind, sehen sich die Gerichte keiner wesentlich größeren Anzahl an Verfahren gegenüber als in den wenigen Mitgliedstaaten mit Verletztenklagesystem; der Rechtsschutz ist auch in Frankreich, Portugal oder Irland680 bislang nicht zum Erliegen gekommen.681 Man kann zudem nicht erwarten, dass sich die Union für eine Komplettübernahme der deutschen Rechtskonzeption entscheidet.682 Deutsche Juristen sollten einsehen, dass eine Dogmatik des subjektiven öffentlichen Rechts nicht unverzichtbare Bedingung für eine funktionierende Rechtsordnung darstellt.683 Das hier vertretende Verständnis deckt sich weitgehend mit der Prüfung der Klagebefugnis in den meisten Mitgliedstaaten.684 Inwieweit als Konsequenz daraus § 42 Abs. 2 VwGO (bzw. § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 VwGO)685 an europäische Verhältnisse anzupassen ist, ist nach wie vor äußerst umstritten.686 Manche begreifen das prozessuale Berufungsrecht als echtes subjektives Recht687 oder wollen dieses im Rah679

Vgl. Ehlers, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, S. 51. Siehe zu diesen Ländern bereits oben Teil 2, IV. 2. 681 Instruktiv zu diesem Punkt Doolan, Constitutional Law in Ireland, S. 124 ff. m. w. N. 682 Classen merkt zu Recht an, dass in durchaus bemerkenswertem Umfang andere Elemente des deutschen Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrechts Eingang in das Gemeinschaftsrecht gefunden haben, vgl. Classen, NJW 1995, 2457 (2462 f.). 683 Die Bedeutung des deutschen Rechts überschätzen nicht nur deutsche Juristen, sondern wie man an J. Rousseau sehen kann offensichtlich auch französische Rechtsgelehrte, vgl. J. Rousseau, in: Ouevres complètes, S. 310 (316): „Ainsi le droit public, que les Allemands étudient avec tant de soin, est encore plus important qu’ils ne pensent, et n’est pas seulement le droit public germanique, mais, à certains égards, celui de toute l’Europe.“ [Dass also das öffentliche Recht, das die Deutschen studieren, noch weit wichtiger wäre, als sie glauben, denn es sei nicht allein das germanische öffentliche Recht, sondern in gewissem Sinne das von ganz Europa.] 684 Vgl. die Übersichten bei Ruffert, CMLRev. 1997, 307 (326 m. w. N.) und Prechal, Directives, 2. Aufl. S. 102 ff. Siehe auch oben Teil 2, IV. 2. f. Ausführlich zum Ganzen Skouris, Verletztenklagen und Interessentenklagen. 685 Ohne eine gleichzeitige Anpassung des § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 VwGO hätte eine gemeinschaftskonforme Auslegung des § 42 Abs. 2 VwGO wenig Sinn. So ausdrücklich und zu Recht auch Kokott, DV 1998, 335 (350). 686 Ausführlich Halfmann, VerwArch 2000, 74 (86 ff. m. w. N.); Kokott, DV 1998, 335 (348); Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 39; Stüber, Jura 2001, 798 (802). 687 Die Vertreter des „narrow view“ tun sich insoweit leicht, ein subjektives Recht anzunehmen, weil sie schon für die Entstehung eines prozessualen Berufungsrechts ein subjektives Element verlangen. 680

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men des § 42 Abs. 2 wenigstens einem „echten“ subjektiven Recht gleichstellen (sog. materiell-rechtliche Lösung).688 Schon G. Jellinek689 habe rein formale Rechte – wenn auch widerwillig – als subjektive öffentliche Rechte anerkannt.690 Ob es sich um ein subjektives Recht handelt, bestimme sich nicht nach der deutschen Schutznormtheorie, sondern nach dem Gemeinschaftsrecht.691 Die unmittelbare Anwendbarkeit einer Norm und damit deren Einklagbarkeit ziehe notwendigerweise die Einordnung als subjektives Recht nach sich.692 Zudem gebiete das Gebot der Nichtdiskriminierung,693 einklagbare gemeinschaftsrechtliche Positionen innerhalb der subjektiv-rechtlich ausgerichteten deutschen Rechtsordnung auch als subjektives Recht zu verstehen. Andere, überwiegend Vertreter des „broad view“, sehen nur die Möglichkeit, unmittelbar anwendbare Vorschriften 688 So Classen, VerwArch 1997, 645 (678); Ruthig, BayVBl. 1997, 289 (292 ff.); Ehlers, DVBl. 2004, 1441 (1446); Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 531b; Kopp/Schenke, VwGO, § 42 Rn. 153; Huber, BayVBl. 2001, 581 f.; Stüber, Jura 2001, 798 (803). Ähnlich v. Danwitz, DÖV 1996, 480 (488 ff.); Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 39 m. w. N. Wenn man mit Calliess, NVwZ 2006, 1 (4); Kopp/Schenke, VwGO, § 42 Rn. 153 f. oder Ruthig, BayVBl. 1997, 289 (296) im Verstoß gegen umweltrechtliche Grenzwerte die Verletzung von Grundrechten sieht, ist die Annahme einer subjektiven Rechtsverletzung zwar konsequent, gleichwohl würde man damit eine Unterscheidbarkeit zwischen objektivem und subjektivem Recht aufgeben. Wenn nicht bei umweltrechtlichen Grenzwerten, die gerade nicht auf den Schutz eines individualisierbaren und von der Allgemeinheit abgrenzbaren Personenkreises abzielen, wann kann man denn dann von rein objektiven Rechtssätzen sprechen? So wie hier v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 237. 689 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 70 f. Siehe dazu schon oben Teil 3, III. 4. c) bb) (1). 690 Diejenige, die die Rechtsmacht, eine Norm einklagen zu können, für ausreichend erachten, die Norm als subjektives öffentliches Recht einzuordnen (gemäß dem Grundsatz ubi remedium, ibi ius, vgl. dazu Eilmansberger, Rechtsfolgen und subjektives Recht, S. 639) wenden § 42 Abs. 2 VwGO zurecht direkt an. So wohl Frenz, DVBl. 1995, 408 f.; Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 39 m. w. N. Gleichwohl würde damit dem Berufungsrecht aber auch zugleich eine Relevanz bei Haftungsprozessen zuerkannt, die das Unionsrecht so nicht fordert. 691 Vgl. Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ders. (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 36 Rn. 14; Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 14 Rn. 80; Klöver, Klagefähige Individualrechtspositionen, S. 82 f.; Kopp/Schenke, VwGO, § 42 Rn. 153; Ruthig, BayVBl. 1997, 289 (290 ff.); Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 531b. 692 So Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 531b; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 113 f. Differenzierend Ruffert, DVBl. 1998, 69 (74). 693 Vgl. Classen, VerwArch 1997, 645 (678); v. Danwitz, DÖV 1996, 480 (488 ff.); Ehlers, Europäisierung des Verwaltungsprozeßrechts, S. 63; Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 39 m. w. N. Stüber, Jura 2001, 798 (802 f.) befürwortet die materielle Lösung, um einen schweren Buch mit der deutschen Systematik zu verhindern.

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des Gemeinschaftsrechts, die nicht zugleich auch ein subjektives Recht aufweisen, als „andere gesetzliche Bestimmung“ im Sinne des § 42 Abs. 2 a. A. VwGO zu behandeln (sog. prozessuale Lösung).694 Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dieser Problematik soll an dieser Stelle ausbleiben, handelt es sich hierbei doch um eine rein nationale Fragestellung, die nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist.695 Generell werden sich die deutschen Verwaltungsrechtler jedoch schwer tun, rein prozessuale Berufungsrechte als echte subjektive Rechte im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO einzustufen.696 Die Verletzung von bloßen Berufungsrechten führt anders als die Verletzung echter subjektiver Rechte eben nicht notwendigerweise zu Haftungsansprüchen gegen den Staat.697 Beim subjektives Recht im Sinne des Haftungsrechts – darauf wird noch näher einzugehen sein698 – lehnt sich der EuGH anders als bei der Kategorie der unmittelbaren Anwendbarkeit nämlich tatsächlich an der deutschen Schutznormtheorie an. Bei der Einordnung rein prozessualer Berufungsrechte als echte subjektive öffentliche Rechte würde die Bundesrepublik also mehr tun als das Europarecht von ihr fordert. Geht es darum, den einzelnen im Interesse der effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts für eine weitreichende Verwaltungskontrolle zu instrumentalisieren, dann ist es ausreichend, dam Kläger ein bloß formales Initiativrecht einzuräumen.699 In den Fällen, in denen bereits das Gemeinschaftsrecht ein subjektives Recht im Sinne der Francovich-Rechtsprechung vorgibt, führen beide Ansätze im Übrigen zum gleichen Ergebnis.700 Folgte man der prozessualen Lösung müsste als Konsequenz auch § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 VwGO gemein694

Vgl. Everling, RIW 1992, 384 f.; Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 193 ff.; Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 128. Ähnlich Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 14 Rn. 80; Schwarze, NVwZ 2000, 241 (248). 695 Vgl. zum Ganzen Calliess, NJW 2002, 3577 (3579); Gellermann, in: Rengeling/Middeke/ders. (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 36 Rn. 23; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 531b m. w. N. 696 Vgl. Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 531c, der offensichtlich versucht, unbedingt die deutsche Schutznormtheorie in Fällen mit Gemeinschaftsbezug aufrecht zu erhalten. Krit. auch Reiling, Individuelle Rechte, S. 458 f. 697 Vgl. Classen, Europäisierung des Verwaltungsrechts, S. 79; v. Danwitz, DÖV 1996, 480 (484, 488); Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 128. A. A. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 378 mit Fn. 441; Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 39. 698 Siehe unten Teil 3, III. 5. 699 So auch Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 128. 700 Es handelt sich in der Praxis deshalb meist nur um eine rein akademische Frage. Ähnlich Jarass/Beljin, Casebook, S. 179, 182; Kokott, DV 1998, 335 (351).

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schaftskonform ausgelegt und dort auf eine subjektive Rechtsverletzung verzichtet werden.701 Zum Ende dieses Abschnitts soll der Unterschied zwischen „narrow view“ und „broad view“ nun an folgendem Beispielsfall veranschaulicht werden: Die Naturschutzorganisation WWF klagt auf Nichtigerklärung eines Erlasses, durch den ein regionaler Jagdkalender festgesetzt worden ist. Der Umweltverband macht geltend, dass die Terminierung gegen Art. 5, 7 und 9 der Vogelschutzrichtlinie 79/409 verstieße. Der beanstandete Jagdkalender erlaube die Jagd bestimmter Vogelarten, die nicht zu den in Anhang II der Richtlinie aufgezählten Arten gehörten, ohne dass im vorliegenden Fall eine Berufung auf die Abweichungsbefugnis des Art. 9 der Richtlinie möglich sei, da die besonderen und zwingenden Gründe, die eine solche Abweichung rechtfertigten, nicht vorlägen. In den Begründungserwägungen zur Richtlinie heißt es in Bezug auf das Regelungsziel nur, dass durch die Richtlinie der Rückgang der Vogelbestände eingedämmt werden solle. Der Rückgang der Vogelbestände stelle eine ernsthafte Gefahr für die Erhaltung der natürlichen Umwelt dar, weil dadurch insbesondere das biologische Gleichgewicht bedroht sei. Kann sich die Organisation WWF im vorliegenden Verfahren auf die Vorschriften der Richtlinie stützen?

Für die Beantwortung dieser Frage ist entscheidend, ob die Art. 5, 7 und 9 der Vogelschutzrichtlinie zugunsten von WWF unmittelbar anwendbar sind. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Normen hinreichend bestimmt und unbedingt gefasst sind. Die Vogelschutzrichtlinie regelt im Wesentlichen den Schutz wildlebender Vogelarten und ihrer Lebensräume in der Europäischen Union. Sie schreibt die Einschränkung und Kontrolle der Jagd sowie die Einrichtung von Schutzgebieten als eine wesentliche Maßnahme zur Erhaltung, Wiederherstellung bzw. Neuschaffung der Lebensräume wildlebender Vogelarten vor. Die Richtlinie hat weder unmittelbar noch mittelbar den Schutz des Menschen zum Ziel. Die Vertreter des „narrow view“ müssten aus diesem Grund die (subjektive) unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie ablehnen.702 Demzufolge wäre die Klage des WWF703 unzulässig, weil die Organisation kein rechtliches Interesse am Vogelschutz geltend machen könnte. Die Anhänger des „broad view“ kä701 So wie hier Kokott, DV 1998, 335 (350 m. w. N.); Wahl/Schütz, in: Schoch/ Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, § 42 Abs. 2 Rn. 39. Krit. Stüber, Jura 2001, 798 (802 f.). 702 So auch Freytag/Iven, NuR 1995, 108 (116) (zur FFH-Richtlinie); Gellermann, NuR 1996, 548 (556) (zur FFH-Richtlinie); Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 80 m. w. N.; Kahl, Umweltprinzip, S. 147; Stüber, Jura 2001, 798 (802). A. A. (für unmittelbare Anwendbarkeit, obgleich wohl dem „narrow view“ anhängend) BVerwG, NuR 1998, 261 (264 f.); BVerwG, NVwZ 1998, 961 (966); Jarass, NuR 1999, 481 (482) m. w. N. 703 Auf das Sonderproblem, ob ein Verband altruistische Interessen geltend machen kann, soll im Folgenden nicht näher eingegangen werden, vgl. dazu Hufen,

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men dagegen aufgrund der alleinigen objektiven Voraussetzungen zu einer unmittelbaren Anwendbarkeit der Art. 5, 7 und 9 der Richtlinie und würden das allgemeine Interesse des WWF am Tierschutz für dessen Klagebefugnis ausreichen lassen. Die hier vertretende Ansicht, die im Großen und Ganzen dem „broad view“ folgt, würde dem lediglich hinzufügen, dass aus der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie nicht automatisch ein echtes subjektives Recht folgt, dessen Verletzung einen Entschädigungsanspruch zugunsten des WWF nach sich ziehen würde. Die subjektiv-rechtliche Qualität dieser Richtlinienbestimmungen müsste separat geprüft und am Ende wohl abgelehnt werden. Dieser Beispielsfall entspricht weitgehend der Konstellation in der Rs. Associazione Italiana per il World Wildlife Fund704. Der EuGH ging in diesem Verfahren mit keinem Wort auf eine etwaige zusätzliche subjektive Voraussetzung für die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinienbestimmungen ein, sondern stellte wie schon so häufig nur fest: „In den Fällen, in denen die Gemeinschaftsbehörden die Mitgliedstaaten durch Richtlinie zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, würde deren praktische Wirksamkeit abgeschwächt, wenn die einzelnen sich vor Gericht nicht auf sie berufen und die staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen könnten. [. . .]. So können sich die einzelnen in all den Fällen, in denen Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, vor einem nationalen Gericht gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in nationales Recht umgesetzt hat.“ An diesem Fall kann man – dies ist jedenfalls die Überzeugung des Verfassers – klar erkennen, dass es sich bei der unmittelbaren Anwendbarkeit um eine rein objektive Kategorie handelt, an der sich stets ein prozessuales Berufungsrecht anschließt. Ein darüber hinausgehendes subjektives Element ist nur für die Frage der Zulässigkeit einer Klage relevant; ein tatsächliches Interesse des Klägers am Verfahren reicht hierfür jedoch aus. Des Weiteren zeigt dieser Fall sehr deutlich, dass der EuGH bei der Frage der Justiziabilität einer Bestimmung weder in irgendeiner Art und Weise die deutsche Schutznormtheorie übernommen hat, noch dass die Schutznormtheorie bei europäischen Sachverhalten durch bloß geringfügige Veränderungen aufrecht erhalten werden kann.705 Verwaltungsprozessrecht, § 14 Rn. 93 m. w. N.; Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 121 ff. 704 EuGH, Rs. C-118/94, Slg. 1996, I-1223 (World Wildlife Fund). 705 So auch Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 237; Zuleeg, in: Schulze/ ders. (Hrsg.), Hb. Europarecht, § 8 Rn. 49. Für eine sehr weitgehende Einschränkung der deutschen Schutznormtheorie auch Krämer/Winter, in: Schulze/Zuleeg (Hrsg.), Hb. Europarecht, § 26 Rn. 83 ff. (faktische Betroffenheit ausreichend),

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

(3) Art und Weise der Umsetzung, insbesondere von Richtlinien Das dritte und hier letzte zu erörternde Problemfeld, das sich in Zusammenhang mit der unmittelbaren Anwendbarkeit von Gemeinschaftsbestimmungen auftut, ist das der korrekten Umsetzung von Vorschriften des EGRechts in die jeweilige nationale Rechtsordnung. Die Befürworter des „narrow view“706 vertreten konsequenterweise die Ansicht, dass nur die Vorschriften, die auch subjektive Rechte707 zugunsten des Einzelnen enthalten, als einklagbare Positionen ins nationale Recht übertragen werden müssten. Der EuGH habe nämlich lediglich gefordert „dass – soweit die Richtlinie Ansprüche des einzelnen begründen soll – die Begünstigten in der Lagen [sein müssen]708, von allen ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und diese gegebenenfalls vor den nationalen Gerichten geltend zu machen.“709 Die Anhänger des „broad view“710 sind demgegenüber der Auffassung, dass bei sämtlichen umsetzungsbedürftigen Normen des EG-Rechts, insbesondere also auch bei Richtlinienbestimmungen, stets, aber eben auch nur die Justiziabilität im nationalen Rechtssystem sichergestellt werden müsse. Eine Implementierung als subjektive Rechte sei nur dann erforderlich, wenn auch das Gemeinschaftsrecht bei Verletzung der jeweiligen Bestimmung einen Haftungsanspruch gewähren würde.711 Die Vertreter des „broad view“ rechtfertigen ihre Ansicht erneut mit dem Gebot der möglichst effektiven Durchsetzung des EG-Rechts; eine Umsetzung über ein formales Initiativrecht hinaus werde von dem Effektivitätsgrundsatz aber nicht verlangt. Ruffert dagegen schlägt eine differenzierende Sichtweise vor. Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, denen unmittelbare Anwendbarkeit zukommt, seien in den nationalen Rechtsordnungen stets als subjektive Rechte zu behandeln, wogegen dies bei nicht unmittelbar anwendbaren Vorschriften nur dann der wohl aber noch zum „narrow view“ tendierend. A. A. für weitgehende Aufrechterhaltung der deutschen Schutznormtheorie Ehlers, DVBl. 2004, 1441 (1445 f.); Ruthig, BayVBl. 1997, 289 (298). 706 Vgl. Jarass, Grundfragen, S. 59 f.; Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 38 f. Ausführlich zum Ganzen (mit Fallgruppen) Ruthig, BayVBl. 1997, 289 (293 ff.). 707 Nach einer etwas weiteren Auffassung reicht es schon aus, wenn nur subjektive Interessen betroffen sind. Siehe zum Ganzen schon oben Teil 3, III. 4. c) cc) (1). 708 Hinzufügung durch den Verfasser. 709 EuGH, Rs. C-361/88, Slg. 1991 I-2567 Rn. 16 (Schwefeldioxid). Vgl. auch EuGH, C-59/89, Slg. 1991, I-2607, Rn. 19 (Blei); Rs. C-298/95, Slg. 1996, I-6747 Rn. 16 (Muschelgewässer). 710 Vgl. Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vor § 42 Abs. 2 Rn. 128. 711 Siehe dazu ausführlich unten Teil 3, III. 5.

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Fall sei, wenn die jeweils noch umzusetzende Norm auch tatsächlich dem Einzelnen ein subjektives Recht gewähren wolle. Nach Auffassung Rufferts müsse also zwischen zwei verschiedenen Arten von subjektiven Rechten unterschieden werden.712 Im Gegensatz dazu geht v. Danwitz über die schon recht weite Auffassung des „broad view“ noch einen Schritt hinaus und sieht es als zwingend an, dass umsetzungsbedürftige Rechtssätze ungeachtet ihres Inhalts in der Bundesrepublik stets mit echten subjektiven Rechten gleichgesetzt werden müssten. Er begründet dies mit dem Gebot der Nichtdiskriminierung.713 Auch an dieser Stelle kann dem „narrow view“ nicht gefolgt werden. Gleiches gilt für die differenzierende Ansicht Rufferts, die bei der Frage der korrekten Umsetzung von EG-Recht weitgehend dem „narrow view“ entspricht. Beide Auffassungen unterschätzen offensichtlich die Bedeutung des „effet-utile“-Prinzips. Dieses verpflichtet selbstverständlich auch dazu, bei Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, die aufgrund ihrer Unbestimmtheit oder Unbedingtheit nicht unmittelbar anwendbar sind, nach Implementierung ins nationale Recht weitgehende Justiziabilität herzustellen. Bei dem Vorschlag Rufferts kommt noch hinzu, dass dessen Differenzierung die schon jetzt recht undurchsichtige Materie der Rechte des Einzelnen noch weiter verkomplizieren würde. Zudem ist nicht überzeugend, warum die Einklagbarkeit unmittelbar anwendbarer Vorschriften vor bzw. nach deren Umsetzung in die Rechtsordnung des jeweiligen Mitgliedstaates anderen Bedingungen unterliegen solle.714 Insoweit ist der konventionelle Ansatz des „narrow view“ sogar noch konsequenter, weil dieser sowohl für die unmittelbare Anwendbarkeit als auch für die Umsetzung stets ein subjektives Recht bzw. subjektives Interesse verlangt.715 Beide Auffassungen – Vertreter des „narrow view“ wie Ruffert – bleiben schließlich die Antwort auf die Frage schuldig, was die Mehrheit der Mitgliedstaaten, die über ein Interessentenklagesystem verfügen, überhaupt mit einem subjektiven Recht anfangen sollten. Müssen Länder wie Frankreich, Portugal oder Irland rein objek712 Vgl. Ruffert, CMLRev. 1997, 307 (322 m. w. N.); ders., DVBl. 1998, 69 (72). Ebenso Pasemann, Subjektive öffentliche Rechte, S. 262 ff. m. w. N. Ähnlich Winter, NVwZ 1999, 467 (469). 713 Vgl. v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 235 ff., 244 ff.; ders., DÖV 1996, 481 (489). 714 Ruffert dagegen behauptet, dass beide Ansätze zum gleichen Ergebnis kämen, vgl. Ruffert, DVBl. 1998, 69 (73 f.). So wie hier dagegen Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 51 ff., 370; Reiling, Individuelle Rechte, S. 329 m. w. N.; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 139. 715 Vgl. Claasen, VerwArch 1997, 645 (653); Nettesheim, Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 170; Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 37; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 129 ff.

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tives Richtlinienrecht nun ignorieren, obgleich nach ihrem nationalen Verfahrensrecht solches justiziabel wäre?716 Wäre die Antwort hierauf „Ja“, führte die Ansicht des „narrow view“ zu einer ungünstigeren Vollziehung des Gemeinschaftsrechts im Gegensatz zu der des nationalen Rechts und würde damit das Äquivalenzprinzip missachten; lautete die Antwort „Nein“, so käme man zu einer ungleichen Vollziehung in den verschiedenen Mitgliedstaaten. Letzteres würde aber gegen den Grundsatz der Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung verstoßen.717 Beide Antworten können also nicht befriedigen. Aber auch eine so weitgehende Auffassung, wie sie v. Danwitz vertritt, muss abgelehnt werden. Der Grundsatz des „effet utile“ will lediglich, dass das Gemeinschaftsrecht effektiv durchgeführt werden kann. Eine überobligationsmäßige Umsetzung, also eine Umsetzung von Gemeinschaftsrecht als echtes subjektives Recht, obwohl das Gemeinschaftsrecht selbst dies nicht vorsieht, kann nicht verlangt werden.718 Das Äquivalenzgebot steht dem nicht entgegen, weil dieses nicht die inhaltliche, sondern nur die rechtsfolgenbezogene Gleichbehandlung fordert, vergleichbares nationales Recht also nur nicht weitgehender justiziabel sein darf als Normen des EGRechts.719 Sieht das Gemeinschaftsrecht ein subjektives Recht im Sinne des Haftungsrechts vor, dann muss selbstverständlich auch in der nationalen Rechtsordnung die betreffende Vorschrift als subjektives Recht übernommen werden. Die Qualifizierung als subjektives Recht stört in diesem Fall nicht, weil in Bezug auf einen Haftungsanspruch alle Mitgliedstaaten, auch die, die ansonsten ein Interessentenklagesystem vertreten, einheitlich vom Erfordernis einer subjektiven Rechtsverletzung ausgehen.720 Hierauf wird noch ausführlich zurückzukommen sein.721 Die Mitgliedstaaten sind also dazu verpflichtet, für eine möglichst weitgehende Durchsetzung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen zu sorgen. Die Art und Weise der Umsetzung bleibt jedoch den Mitgliedstaaten über716 So dürfte wohl Triantafyllou, DÖV 1997, 192 (195) zu verstehen sein. Zur Umsetzung von Richtlinien in Frankreich ausführlich Heim, EG-Richtlinien, S. 117 ff. Zum Ganzen auch Classen, Europäisierung des Verwaltungsrechts, S. 79 f. 717 Zu diesem Grundsatz vgl. EuGH, Rs. C-205–215/82, Slg. 1983, 2633. 2665 Rn. 17 (Deutsche Milchkontor). Vgl. dazu auch v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 118 ff.; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 299. 718 So wie hier Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vor § 42 Abs. 2 Rn. 128. 719 A. A. v. Danwitz, DÖV 1996, 481 (488 f.). In diesem Punkt v. Danwitz folgend Classen, Europäisierung des Verwaltungsrechts, S. 79 f.; Stüber, Jura 2001, 798 (802 f.). 720 Vgl. dazu ausführlich Nacimiento, Staatshaftung, S. 87 f., 102 ff. 721 Siehe unten Teil 3, III. 5.

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lassen.722 Der EuGH verlangt lediglich, dass es dem Einzelnen mit Hilfe von zwingenden Vorschriften möglich sein muss, seine Rechte „vor den nationalen Gerichten geltend zu machen.“723 Eine Normierung als bloße Verwaltungsvorschriften genügt dem nicht.724 In der Bundesrepublik heißt das, dass EG-Bestimmungen zumindest als reine prozessuale Berufungsrechte ausgestaltet sein müssen.725 Die Normierung materieller, subjektiver Rechte ist nicht erforderlich, aber zulässig.726 Wichtig ist nur, dass derjenige, der ein tatsächliches Interesse am Verfahren hat, nicht an der Klagebefugnis des § 42 Abs. 2 VwGO scheitert.727 Hier dürfte der oben schon dargestellten Meinung, die Positionen des Gemeinschafsrechts seien „andere Bestimmungen“ im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO, zum zweiten Mal der Vorzug zu geben sein.728 In Ausnahmefällen bedarf es aber noch nicht einmal der Einräumung von rein formalen Initiativrechten. Richtlinien beispielsweise729, die keine konkrete Rechtsfolge anordnen, sondern lediglich einen allgemeinen Rahmen abstecken wollen, müssen nicht bzw. können gar nicht in der nationalen 722

Vgl. Ruthig, BayVBl. 1997, 289 (290); Stüber, Jura 2001, 798 (802). Manche behaupten sogar, dass Normen des Gemeinschaftsrechts nicht notwendigerweise innerhalb eines gerichtlichen Verfahrens geltend gemacht werden können müssen, sofern es sich bei dem zur Verfügung gestellten Verfahren im Ergebnis um eine wirksame Durchsetzungsmöglichkeit handelt, vgl. Hailbronner, RIW 1992, 553 (561 ff.); Schwarze, in: ders (Hrsg.), Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 123 (181 f. m. w. N.); Schmidt-Aßmann, DVBl. 1993, 924 (934). A. A. Reiling, Individuelle Rechte, S. 329 f. m. w. N. 724 EuGH, Rs. C-361/88, Slg. 1991, I-2567 (Schwefeldioxid). Vgl. auch Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 143 ff.; Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 123 (129). Interessant ist, dass der EuGH, Rs. C-252/85, Slg. 1988, 2243, 2263 (Kommission/Frankreich) auch bei der Vogelschutzrichtlinie die Umsetzung durch einen förmliches Gesetz verlangt hat, obgleich bei dieser keine materiellen subjektiven Rechte betroffen sind. 725 So wie hier Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vor § 42 Abs. 2 Rn. 128. 726 Heim befürwortet die Gleichstellung mit subjektiven Rechten, weil die Zuerkennung einer Klagebefugnis ohne gleichzeitige Gewährung subjektiver Rechte zwar der Konzeption des EuGH entsprechen, aber Friktionen beim auf den Individualrechtschutz fixierten deutschen Verfahrensrecht mit sich bringen würde, vgl. Heim, Richtlinien, S. 172 f. m. w. N. 727 Ähnlich, aber das Interesse bereits in den materiellen Begriff des Rechts packend, Reiling, Individuelle Rechte, S. 330 m. w. N. 728 Der Vorteil von Rufferts differenzierender Ansicht liegt darin, dass man bei umgesetzten Gemeinschaftsbestimmungen nicht weiter die gemeinschaftsrechtliche Herkunft im Auge haben muss. Da die meisten Gemeinschafsbestimmungen aber ohnehin subjektive Rechte im Sinne des Haftungsrechts enthalten, ist der Vorteil für die „Ruffert’sche These“ gegenüber der in dieser Arbeit vertretenen Auffassung marginal. Vgl. Ruffert, DVBl. 1998, 69 (74 f.). 729 Gilt auch für andere Vorschriften des Gemeinschaftsrechts. 723

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Rechtsordnung als Berufungsrechte ausgestaltet werden. Solchen Vorschriften fehlt schlicht der normative Inhalt. Unter diesem Blickwinkel ist auch die Einschränkung des EuGH in der oben zitierten Passage der Schwefeldioxid-Entscheidung730 zu sehen, die Umsetzung habe nur dann in klagbare Ansprüche zu erfolgen, wenn die jeweilige Richtlinie „Ansprüche des Einzelnen“ begründen solle. Hier sei auch nochmals an die Entscheidung Enichem Base731 erinnert. Der Kläger im damaligen Verfahren konnte sich deshalb nicht auf die Richtlinie 75/442 stützen, weil diese bei einem Verstoß gegen die Informationsverpflichtung keine konkrete Rechtsfolge anordnete. Auch Italien war damals nicht gehalten, bei seiner Umsetzung eine Sanktion und damit ein Initiativrecht festzusetzen. Erst die Richtlinie 83/189 sah eine Rechtsfolge vor, auf die sich die Kläger in der Rs. CIA Security732 dann auch berufen konnten. Schließlich soll nochmals betont werden, dass der EuGH den Begriff des Rechts nicht immer im Sinne des deutschen Verständnisses verwendet, sondern den Terminus eher als Synonym für die Durchsetzbarkeit eines Rechtssatzes begreift.733 ee) Zwischenergebnis (1) Unter dem Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit versteht man die Verpflichtung der Gerichte oder der Verwaltung, eine Bestimmung des Gemeinschaftsrechts als Rechtmäßigkeitsmaßstab anzuwenden. (2) Die Kategorie der unmittelbaren Anwendbarkeit hat ausschließlich objektive Voraussetzungen. Damit eine Vorschrift unmittelbar anwendbar sein kann, muss sie hinreichend klar und genau, vollständig und inhaltlich unbedingt sein sowie eine Handlungs- oder Unterlassenspflicht begründen, die keine dazwischengeschalteten Ausführungsakte der Mitgliedstaaten oder der Gemeinschaftsorgane bzw. keiner weiteren Ermessensausübung bedarf. Auf den Schutz individueller Rechte oder Interessen kommt es nicht an. Dies liegt daran, dass der Bürger im EG-Recht zur Durchsetzung des objektiven Rechts instrumentalisiert wird, um eine möglichst weitgehende Effektivität des Gemeinschaftsrechts zu erreichen. (3) Die Verfahrensautonomie liegt prinzipiell bei den Mitgliedstaaten. Jedoch schränkt das sog. Effektvitätsgebot die Möglichkeit der Mitglied730 EuGH, Rs. C-361/88, Slg. 1991 I-2567 Rn. 16 (Schwefeldioxid/Schwebestaub), siehe oben Teil 3, IV. 4. c) dd) (2). 731 EuGH, Rs. C-380/87, Slg. 1989, 2491 (Enichem Base). 732 EuGH, Rs. C-194/94, Slg. 1996, I-2201, Rn. 49 f. (CIA Security). Zum Ganzen siehe oben Teil 3, III. 4. c) cc) (2). 733 Siehe dazu schon oben Teil 3, III. 4. c) cc) (2).

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staaten ein, den Zugang zu den Gerichten zu begrenzen. Aus diesem Grund ist die Klagebefugnis stets bereits dann zu bejahen, wenn der Kläger ein nachvollziehbares Interesse am Verfahen vorbringen kann. Aus einer unmittelbar anwendbaren Norm des Gemeinschaftsrechts folgt daher – jedenfalls praktisch – ein prozessuales Berufungsrecht (die sog. „invocabilité“), sich bei entsprechendem Interesse vor Behörden und Gerichten auf die jeweilige Norm stützen zu können. (4) Gemeinschatsrechtspositionen sind als „andere gesetzliche Bestimmungen“ im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO zu behandeln (sog. prozessuale Lösung). (5) Noch nicht unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht muss ins nationale Recht so umgesetzt werden, dass der Einzelne dieses vor den nationalen Gerichten geltend machen kann. d) Grundsatznormen als unmittelbar anwendbares Recht Es stellt sich nun die weitere Frage, ob auch die Grundsatznormen der Grundrechtecharta unmittelbar anwendbar sind. Die ganz herrschende Meinung734 lehnt eine unmittelbare Anwendbarkeit dieser Normgruppe und damit auch deren Einklagbarkeit ab. Den Grundsätzen fehle es zum einen an der erforderlichen Bestimmt- und Unbedingtheit.735 Die Schutzbereiche der Grundsatznormen seien sehr offen formuliert, bedürften folglich zunächst der Konkretisierung.736 Art. 52 Abs. 5 GRC stelle das ausdrücklich nochmals klar, ohne dass dieser Vorschrift aber eine konstitutive Bedeutung zukäme.737 734 Vgl. statt vieler Calliess, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20 Rn. 22; Folz, in: Vedder/Heinschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. II-112 Rn. 13; Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 22 f., 36 f.; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 95; Schmitz, EuR 2004, 691 (703). Zweifelnd an der Nichtjustiziabilität mancher sozialer Grundrechte dagegen Ashiagbor, EHRLR 2004, 62 (71), ohne jedoch konkret auf einzelne Artikel einzugehen. Ähnlich Hipold, ZÖR 2004, 351 (359). Einschränkend bei Grundsätzen, die Abwehrrechte vermitteln, Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Vor. Kap IV Rn. 37. Ausführlich zu den ganzen Meinungen Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 74 ff. Siehe auch oben Teil 1, II. 2. 735 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 26; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 95; Heringa/Verhey, MJ 2001, 1 (14). Ladenburger geht zum Teil aber auch von einer „objektiven unmittelbaren Wirkung“ aus, vgl. Ladenburger, ebd. 736 Vgl. Benoît-Rohmer, Le Dalloz 2001, 183 (185); Ladenburger, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 81; Schmitz, JZ 2001, 833 (841). 737 Vgl. Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II – CONV 354/02 S. 4, 8. Vgl. auch Brecht, ZEuS 2005, 355 (368 f.); Pietsch, Schrankenregime, S. 30; Rengeling/ Szczekalla, Grundrechte, S. 262, 265.

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Zum anderen handle es sich bei den Grundsätzen lediglich um rein objektivrechtlich wirkende, nur die Unionsorgane bzw. Mitgliedstaaten verpflichtende738 Zielbestimmungen;739 anders als die herkömmlichen Grundrechte wiesen die Grundsätze keine subjektive Rechtsqualität auf.740 Letztere wäre aber notwendig, damit der Einzelne sich auf diese Bestimmungen im Rahmen der Klagebefugnis stützen könnte.741 Dass es den Grundsatznormen an der Subjektivität fehle, lasse sich daran erkennen, dass die Charta in den Art. 51 Abs. 1 und 52 Abs. 5 GRC ausdrücklich zwischen Grund-„Rechten“ und Grund-„Sätzen“ unterscheide.742 Auf die fehlende Justiziabilität dieser Gewährleistungen deute zudem Art. 47 Abs. 1 GRC hin, der die Rechtsschutzgarantie ausschließlich auf Rechte und Freiheiten, nicht aber auf die Grundsätze erstrecke.743 Bei den objektiv-rechtlich Grundsatznormen gäbe es daher keine klageberechtigten Rechtsinhaber, sondern allenfalls Begünstigte.744 Schmitz745 geht über die fehlende Subjektivität der Grundsätze sogar noch hinaus, wenn er meint: „In Grundsätze kann man nicht eingreifen, Grundsätze haben keine Schranken und Grundsätze werden auch nicht erfüllt. Sie werden vielmehr im Wege der Beurteilung und Abwägung konkretisiert.“746 Trotz 738 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 23; Calliess, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20 Rn. 22. 739 Vgl. Bühler, Einschränkung, S. 385; Calliess, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20 Rn. 22; Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 22; Turpin, RTDEur 2003, 627; Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 60 Rn. 15 f. m. w. N. (zu Art. 37 GRC); Schmitz, JZ 2001, 833 (841). Manche Autoren scheinen sogar eine Dreiteilung vorzunehmen: Grundrechte, Grundsätze und die Art. 36–38 GRC als bloße Zielbestimmung, vgl. Schmitz, JZ 2001, 833 (841); Winkler, Grundrechte, S. 52 f. 740 Vgl. Barriga, Entstehung, S. 129 ff.; Bühler, Einschränkung, S. 396; Calliess, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20 Rn. 22; Grabenwarter, EUGRZ 2004, 563 (565); Jarass, EG-Grundrechte, § 7 Rn. 22; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EGV/EUV, Art. 52 GRC Rn. 14; Rengeling/ Szczekalla, Grundrechte, S. 124. 741 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 36; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 86; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 137 m. w. N. 742 Vgl. auch die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5 GRC) oder den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II – CONV 354/02 S. 4, 8. Vgl. dazu auch Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 83. 743 Vgl. Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 137; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 86. 744 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 22; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 58. 745 Schmitz, JZ 2001, 833 (841) (Hervorhebungen weggelassen). 746 Ähnlich Zulegg, nach dessen Ansicht die Grundsätze deshalb ihren passenderen Platz auch bei der Schrankenbestimmung in Art. 52 Abs. 1 GRG gehabt hätten,

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dieses Befundes deuten manche Autoren747 an, dass sie zumindest eine „objektive Justiziabilität“ der Grundsatznormen für möglich halten. Grundsätze könnten etwa bei Vorabscheidungsverfahren (Art. 234 EGV) oder bei der Nichtigkeitsklage (Art. 230 EGV) im Wege der Inzidentkontrolle zum Tragen kommen. Entsprechend den obigen Ausführungen zum Begriff und den Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit kann diese pauschale Einschätzung der herrschenden Meinung nicht geteilt werden. Es ist vielmehr zwischen den verschiedenen Dimensionen der Grundsatznormen zu differenzieren: aa) Die Leistungsdimension der Grundsatznormen (1) Grundsatz: Keine unmittelbare Anwendbarkeit Nicht unmittelbar anwendbar sind die Grundsätze in ihrer Leistungsdimension. Aus den Grundsatznormen lassen sich keine gerichtlich durchsetzbaren Ansprüche auf fördernde Maßnahmen des Gesetzgebers oder der Verwaltung ableiten.748 Normerlassklagen sind dem Gemeinschaftsrecht – dies konnte bereits oben nachgewiesen werden749 – ohnehin fremd. In der Leistungskonstellation fehlt es den Grundsatznormen tatsächlich an der erforderlichen Bestimmtheit. Aus normstruktureller Sicht sind die Grundsätze zu weit und ungenau, eröffnen den jeweils Verpflichteten einen viel zu großen Ermessensspielraum750, als dass die Gerichte aus jenen konkrete Handlungsanweisungen für Verwaltung oder Gesetzgebung ableiten könnten. Selbst bezüglich eines bestimmten Mindeststandards scheinen die Grundsatznormen keine Vorgaben zu machen.751 Als Beispiel seien die „Rechte“ vgl. Zuleeg, EuGRZ 2000, 511 (515). Ebenso Bühler, Einschränkung, S. 386 ff. m. w. N. 747 Vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45c; Jarass, EUGrundrechte, § 7 Rn. 37; Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (565); Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 15; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 Rn. 89; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 136 ff. 748 Vgl. statt vieler Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45c; Folz, in: Vedder/Heinschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. II-112 Rn. 12 EVV. 749 Siehe dazu schon oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (1). 750 So wie hier Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 31; Ladenburger, in. Tettinger/ Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 98. Zum Begriff des Ermessens im Gemeinschaftsrecht siehe oben Fn. 232, 882. Vgl. auch Bleckmann, Europarecht, Rn. 862; v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 184 ff.; Herdegen, Europarecht, § 11 Rn. 47. 751 A. A. wohl auch nicht Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 35. Zum Zusammenhang zwischen Mindestschutz und unmittelbarer Anwendbarkeit einer Norm vgl. EuGH, Rs. C-397–403/01, Slg. 2004, I-8835 Rn. 105 (Pfeiffer).

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der älteren Menschen oder der Behinderten aus Art. 25 und 26 GRC oder die Verpflichtung zum Umweltschutz aus Art. 37 GRC genannt, die die Erläuterungen zur Charta als Grundsatznormen anführen.752 Keine dieser drei Garantien bestimmt oder legt konkret dar, in welcher Art und Weise deren Durchführung oder Umsetzung erfolgen soll. Diese Gewährleistungen sind – wenigstens was ihre Leistungsdimension betrifft – somit nicht justiziabel. Daran ändert sich im Übrigen auch nichts, wenn man mit Ladenburger zu Recht die Union und die Mitgliedstaaten zum Erlass ausfüllender und konkretisierender Regelungen für verpflichtet hält.753 Das „Ob“ der Umsetzung ist zwar ausreichend klar und bestimmt, dem Gemeinschaftsrecht ist jedoch eine Art „Verbescheidungsklage“, wie es sie im deutschen Verwaltungsrecht gibt,754 unbekannt. Dies ist auch der Grund dafür, warum ein Einzelner nicht auf Erlass einer Richtlinie klagen kann.755 Eine Vorschrift ist nur dann unmittelbar anwendbar, wenn über das „Ob“ hinaus auch das „Wie“ der Umsetzung in ausreichendem Maße vorgegeben ist.756 An den Gewährleistungen der Art. 25 und 26 GRC sieht man nebenbei auch, dass Vorschriften als Grundsätze qualifiziert werden können, obgleich in deren Schutzbereichen von „Ansprüchen“ oder „Rechten“ die Rede ist. Die Konventsmitglieder nahmen es, hierauf wurde bereits mehrfach hingewiesen,757 mit der Terminologie nicht allzu genau. Dass die Grundsatznormen im Leistungsbereich einer vorherigen Umsetzung bedürfen, stellt überdies Art. 52 Abs. 5 GRC ausdrücklich klar.758 Das Hilfsverb „können“ in Abs. 5 S. 1 ist – wie bereits oben geklärt werden konnte759 – als „müssen“ zu lesen. Darüber hinaus steht dieses Verständnis von der Nichteinklagbarkeit der Grundsatznormen mit dem Willen der Mehrheit der Mitglieder in den beiden Konventen im Einklang. Bei 752 Vgl. die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35. Zur Frage der Abgrenzung zwischen Rechten und Grundsätzen ausführlich Teil 5, II. und III. 753 Vgl. Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 83. Siehe dazu auch schon Teil 3, II. 3. und 5. c). 754 Vgl. Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 26 Rn. 24; Kopp/Schenke, VwGO, § 42 Rn. 8; § 113 Rn. 201. 755 Als Sanktion stehen Vertragsverletzungsverfahren (Art. 226 ff. EGV), Zwangsgelder (vgl. EuGH, RS. C-387/97, Slg. 2000, I-5047 [Kommission/Griechenland]), unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie oder ein Amtshaftungsanspruch (vgl. EuGH, Rs. C-6, 9/90, Slg. 1991, I-5357 [Francovich]) zur Verfügung. Vgl. statt vieler Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 Rn. 136 f.; Schroeder, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 Rn. 79. 756 A. A. wohl auch nicht Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 32. 757 Siehe oben Teil 3, II. 4. 758 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 22; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 14. 759 Siehe oben Teil 3, II. 4.

III. Die Grundsatznormen im Gefüge einer europäischen Dogmatik

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den sozialen Grundrechten sah man nämlich die Gefahr, dass deren Justiziabilität die öffentlichen Haushalte finanziell schwer belasten könnte.760 In Zeiten knapper Ressourcen wollte man nicht das Risiko eingehen, dass Bürger gestützt auf die Grundsätze Leistungen einfordern könnten, die kaum zu bezahlen wären. Aus Vorsichtsgründen, insbesondere in Kenntnis der Neigung des EuGH zu einem „judicial activism“761, nahm man deshalb den besagten Art. 52 Abs. 5 GRC in die Charta auf. Die Nichteinklagbarkeit der Grundsätze gilt deshalb – anders als manche Autoren meinen762 – nicht nur für den Bürger. Auch die Mitgliedstaaten können sich nicht auf den Leistungsbereich der Grundsatznormen berufen, um im Wege eines „objektiven Verfahrens“ gegen Versäumnisse der Union vorzugehen. Den Grundsatznormen fehlt in der Leistungsdimension jegliche Durchsetzbarkeit. Dies deckt sich im Großen und Ganzen mit der Stellung von Leistungsrechten in den meisten Mitgliedstaaten. Deren Justiziabilität wird beinahe unisono verneint.763 In der Bundesrepublik begründet man dies mit der objektiv-rechtlichen Qualität der betreffenden Bestimmungen, in Frankreich hat man hierfür eigens eine Theorie der unvollständigen Norm („théorie de la norme imparfaite“) entwickelt. Im Übrigen, hieran sei nochmals erinnert, fehlt es in Frankreich in vielen Fällen bereits an einem prozessualem Vehikel für die Durchsetzung von Leistungsgehalten.764 Ähnliches gilt in den anderen Mitgliedstaaten.765 Eine Justiziabilität der Grundsatznormen wird auch nicht dadurch erreicht, dass man die – wie behauptet wird766 – objektiv-rechtlichen Grundsätze zusammen mit einzelnen Grundrechten heranzieht, um so ersteren eine subjektiv-rechtliche Dimension zu verschaffen.767 Eine solche Kons760 Vgl. de Bfflrca, in: de Witte (Hrsg.), Ten Reflections, S. 11 (22 f.); Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 26; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 7; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Vor Kap. IV Rn. 37. Vgl. hierzu auch Schmitz, JZ 2001, 833 (840 m. w. N.). 761 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 30a. Siehe hierzu auch oben Teil 2, I. 2. b). 762 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 37; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 15; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 Rn. 89; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 136 ff. 763 Siehe dazu ausführlich oben Teil 2, IV. 2. f). Für einen kurzen Überblick vgl. Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 ff. 764 Herzog hat demnach Recht, wenn er in Bezug auf Frankreich sagt: „Die französische Verfassung hat keine Gerichtsbarkeit, die sich mit sozialen Grundrechten beschäftigen muss.“, vgl. Bitburger Gespräche, S. 7 (9). 765 Für Einzelheiten siehe oben Teil 2, IV. 2. f). 766 Siehe oben Teil 1, II. 2. 767 So wie hier Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 281 m. w. N. A. A. Orth, Grundrecht auf Umweltschutz, S. 277 f.; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 37 Rn. 13; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 139.

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truktion ist aus dem deutschen Verfassungsrecht her bekannt, wenn es beispielsweise um die Herleitung des Rechts auf ein Existenzminimum geht (gefolgert aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip).768 Weder der EuGH noch die Verfassungsgerichte anderer Länder769 haben sich diese Form der Begründung subjektiver Rechte jedoch bislang zu eigen gemacht. Aber nicht nur deshalb ist eine Übertragung dieses Konstrukts auf die Grundsatznormen abzulehnen. Die Grundsätze sind derart unbestimmt formuliert, dass eine Justiziabilität generell nicht in Frage kommt. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn man im Einzelfall Grundrechtsgehalte in den Schutzbereich von Grundsätzen miteinbezieht. Die Verpflichtung zum Umweltschutz aus Art. 37 GRC würde also nicht deshalb einklagbar werden, nur weil Art. 37 GRC plötzlich mit Art. 2 GRC, dem Recht auf Leben, zitiert wird.770 Sollte ein Unterlassen der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Umweltschutzes Menschenleben gefährden, würde der EuGH wohl direkt auf Art. 2 GRC Bezug nehmen, ohne dass es des Umwegs über Art. 37 GRC überhaupt bedarf. Darüber hinaus ist von dieser Form der Verbindung von Grundrechts- und Grundsatzgehalten aber auch deshalb abzuraten, weil eine solche Konstruktion der klaren Aussage des Art. 52 Abs. 5 GRC widerspräche. Die Nichteinhaltung des Art. 52 Abs. 5 GRC käme einer Missachtung des ausdrücklichen Willens der Mitglieder der beiden Konvente gleich und würde damit das Misstrauen, das manche Mitgliedstaaten gegenüber den EuGH hegen,771 noch weiter verstärken. Zudem gebietet das Demokratieprinzip sowie der Grundsatz der Gewaltenteilung, dass die unbestimmten Grundsatznormen zunächst einmal durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber und nicht durch die Judikative konkretisiert werden.772 Erst nach einer Umsetzung, bei der ggf. justizi768 BVerfGE 82, 60 (80). Vgl. auch Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 573 ff.; Herzog, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG, Art. 20 VIII Rn. 28, 49 ff.; Jarass, in: ders./Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 124 m. w. N. Siehe dazu auch oben Teil 2, IV. 2. a) bb). 769 Ein ähnliche Konstruktion findet man in Irland zur Herleitung nicht ausdrücklich normierter Grundrechte, vgl. Murtagh Properties v. Cleary [1972] I. R. 330 (Kenny J.); A. G. v. Paperlink Ltd. [1984] I.L.R.M. 373 (Costello J.). Ausführlich dazu Casey, Constitutional Law in Ireland, S. 395 f., 404 ff. Auch in Spanien werden in bewusster Anlehnung an das deutsche Recht Garantien der „dritten“ Gruppe der Verfassung mit denen der ersten Gruppe verbunden, um justiziable Rechte zu erhalten, vgl. STC 45/1989 v. 20. Februar 1989, FJ 4. Ausführlich dazu Polakiewicz, ZaöRV 1994, 340 (361); Sommermann, Schutz der Grundrechte in Spanien, S. 185 f. 770 A. A. Orth, Grundrechte auf Umweltschutz, S. 277 f. 771 Vgl. nur die Ausführungen des Konventsmitglieds Gnauck, nachzulesen bei Bernsdorff/Borowsky, Sitzungsprotokolle, S. 256. Vgl. auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 30a. 772 Vgl. Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 156 f.; Ladenburger, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 85. Nicht unproblematisch ist deshalb die Ent-

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able Vorschriften entstehen, sind dann die Gerichte dazu berufen, ihrer Aufgabe entsprechend die Einhaltung dieser Durchführungsakte zu überwachen. (2) Ausnahme Nach vorliegender Ansicht muss jedoch eine Einschränkung von der generellen Nichteinklagbarkeit der Grundsatznormen in ihrer Leistungsdimension gemacht werden: Die Grundsätze sind ausnahmsweise unmittelbar anwendbar und damit justiziabel, wenn und soweit sie einen Anspruch auf Teilhabe gewähren. Art. 52 Abs. 5 GRC ist in solchen Fällen teleologisch zu reduzieren. Ein derivatives Teilhaberecht deckt sich nämlich weitgehend mit dem allgemeinen Recht auf Gleichbehandlung.773 Es wäre nun aber widersprüchlich, würde man die Gleichheitsrechte aus Art. 20, 21 und 23 Abs. 1 GRC für einklagbar halten, nicht aber deren spezielle Ausprägungen in manchen Grundsatznormen. Die unterschiedlichen Rechtsfolgen lassen sich auch nicht damit rechtfertigen, dass es sich bei den Grundsatznormen um rein objektive Verpflichtungen der Union und der Mitgliedstaaten handle. Wie oben ausführlich darzulegen versucht wurde, differenziert das Gemeinschaftsrecht zumindest bei der Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit nicht zwischen subjektiven und objektiven Recht. Zudem, selbst wenn man der Ansicht des „narrow view“ folgen sollte, werden sich dessen Vertreter schwer tun, zu begründen, warum beispielsweise den Art. 25 und 26 GRC, die von der ganz herrschenden Meinung als Grundsätze eingeordnet werden,774 der nach deren Auffassung erforderliche subjektive Einschlag fehlen solle, obgleich die besagten Vorschriften die von ihnen Begünstigten, nämlich alte und behinderte Menschen, klar erkennen lassen. Mehr als das Erkennenkönnen der jeweils scheidung des EuGH in der Rs. C-237/07, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht (Janecek), nach der die Stadt München zum Erlass eines Luftreinhalteplans gezwungen werden kann. Vgl. hierzu Couzinet, DVBl. 2008, 754, der der h. M. folgt und damit für die Kategorie der unmittelbaren Anwendbarkeit eine subjektive Rechtsverletzung verlangt. 773 EuGH, Verb. Rs. C-16, 117/76, Slg. 1977, 1753 Rn. 11 ff. (Ruckdeschel). Vgl. auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 51 GRC Rn. 27 m. w. N.; Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 5 Rn. 28. Vgl. (zum deutsche Recht) BVerfGE 33, 303 (338 ff.) (numerus clausus); Hufen, Staatsrecht II, Rn. 10; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 862. 774 Vgl. die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35. Vgl. auch Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 29; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 25 GRC Rn 1; Art. 26 GRC Rn. 4. Vgl. auch Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 100, nach dessen Ansicht diese Bestimmungen eine „besondere Kategorie“ bildeten.

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Begünstigten verlangt, wie gesehen,775 auch der überwiegende Teil der Befürworter des „narrow view“ nämlich nicht. Bei manch einer Richtlinie, die der EuGH für unmittelbar anwendbar gehalten hat,776 hat man deren Profiteure bei weitem weniger gut ausmachen können. Auch sonst sind derivative Teilhaberechte bei weitem unproblematischer. Teilhaberechte sind hinreichend genau und bestimmt, fordern sie doch nur den diskriminierungsfreien Zugang zu bereits vorhandenen Kapazitäten.777 Einer weiteren Konkretisierung bedarf es nicht. Ein Konflikt mit den Grundsätzen der Gewaltenteilung oder der Demokratie ist deshalb nicht zu befürchten. Weil derivative Teilhaberechte eben auch nur die bloße Teilhabe, nicht aber die Schaffung neuer Kapazitäten fordern, sind mit diesen auch kaum finanzielle Mehrbelastungen verbunden. Die hier vorgetragenen Argumente sind im Übrigen der Grund dafür, warum derivative Teilhaberechte – dies zeigte der obige Überblick778 – im Allgemeinen auch in den Mitgliedsstaaten weitgehend justiziabel sind. Zur Veranschaulichung des Vorstehenden sei wiederum Art. 25 GRC779 angeführt. Das „Recht“ älterer Menschen sieht vor, dass die Union und die Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen, damit alte Menschen ein würdiges und unabhängiges Leben führen können. Aufgrund der Unbestimmtheit dieser Vorgaben, ist Art. 25 GRC im Leistungsbereich im Grundsatz nicht unmittelbar anwendbar. Sofern man vom Schutzbereich dieser Grundsatznorm aber auch das Recht auf diskriminierungsfreie Teilhabe an bestimmten Einrichtungen umfasst sieht – was sich durch die Einordnung dieser Norm in den Titel III „Gleichheit“ aufdrängt780 –, ergänzt Art. 25 GRC insoweit das grundrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung aus Art. 21 GRC. In diesem Teilbereich (Schutz vor Altersdiskriminierung) ist Art. 25 GRC dann 775

Siehe dazu oben Teil 3, III. 4. c) cc) (1). EuGH, Rs. C-131/88, Slg. 1991, I-825 ff. (Grundwasser); Rs. C-361/88, Slg. 1991 I-2567 (Schwefeldioxid/Schwebestaub); Rs. C-59/89, Slg. 1991, I-2607 (Blei); Rs. C-58/89, Slg. 1991, I-4983 (Oberflächenwasser). 777 Siehe die Nachweise in Fn. 773. 778 Ausführlich dazu oben Teil 2, IV. 2. 779 Gleiches gilt für Art. 26 GRC (Rechte behinderter Menschen). Ein ähnliches Problem stellt sich bei Art. 24 Abs. 1 S. 1 GRC (Rechte des Kindes), bei dem aus diesem Grund sogar umstritten ist, ob es sich dabei um ein Grundrecht (so Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 24 GRC Rn. 3) oder nur um einen Grundsatz (so Ennuschat, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 24 Rn. 6; Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 29; § 27 Rn. 3 mit Fn. 4) handelt. Dazu ausführlich unten Teil 5, V. 1. n). 780 So beispielsweise auch Bühler, Einschränkungen, S. 388 f.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 25 GRC Rn. 1; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 25 Rn. 3. A. A. (gar kein Teilhaberecht gewährend) Jarass, EUGrundrechte, § 27 Rn. 3 mit Fn. 4. 776

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aber auch als unmittelbar anwendbar und damit justiziabel zu werten.781 Alle sonstigen Leistungspflichten, die sich aus Art. 25 GRC ergeben, bleiben dagegen ausfüllungsbedürftig und erfordern die vorherige Umsetzung durch die Legislative. Daran anknüpfend liegt wohl schon gar keine Grundsatznorm vor, wenn der komplette Leistungsbereich eines Rechtssatzes hinreichend klar und bestimmt formuliert ist.782 Die Vorschrift ist als Grundrecht einzuordnen. Ein Beispiel hierfür wäre das Recht eines jeden Kindes auf Teilnahme an einem unentgeltlichen Pflichtschulunterricht aus Art. 14 Abs. 2 GRC.783 Diese Gewährleistung verpflichtet die Union und die Mitgliedstaaten, Schulen zu errichten, Lehrpläne aufzustellen und jedem Kind kostenlos eine gewisse schulische Grundausbildung zukommen zu lassen. Auch wenn Einzelheiten dieser Vorschrift noch nicht geklärt sind, ist aus dieser Norm doch ein für die unmittelbare Anwendbarkeit ausreichendes Mindestmaß an Handlungsanweisungen ablesbar, welche die Exekutive einzuhalten haben und die Vorschrift justiziabel machen. bb) Die Abwehrfunktion der Grundsatznormen Anders als im Leistungsbereich sind die Grundsatznormen in ihrer Abwehrfunktion nach hier vertretener Ansicht unmittelbar anwendbar und damit justiziabel.784 Die gegenteilige Auffassung der herrschenden Meinung785 kann nicht überzeugen. Gegen die Einklagbarkeit der sog. Grundsätze werden im Wesentlichen zwei Argumente vorgebracht:786 erstens die fehlende subjektive Rechtsqualität und zweitens deren Ungenauigkeit und Unbestimmtheit. Was die erste Behauptung betrifft, bei den Grundsatz781 A. A. ausdrücklich Bühler, Einschränkungen, S. 388 f., mit dem Argument, dass diese und ähnliche Vorschriften lediglich Gewährleistungen der nicht verbindlichen Europäischen Sozialcharta nachbildeten. Dass der Grundrechtecharta jedoch eine andere rechtliche Qualität zukommt als der Europäischen Sozialcharta, bei der es sich nur um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, übersieht Bühler offensichtlich. 782 Ähnlich Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 98. Zur Abgrenzung zwischen Grundrechten und Grundsätzen ausführlich unten Teil 5, III. 783 Ganz herrschende Meinung vgl. statt vieler nur Jarass, in: EU-Grundrechte, § 7 Rn. 29; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 14 GRC Rn. 3. 784 Eine Differenzierung zwischen den Leistungsgehalten einer Norm hält auch der EuGH für möglich, vgl. nur (in Zusammenhang mit Richtlinien) EuGH, Rs. C-435/97, Slg. 1999, I-5613 Rn. 70 f. (WWF). So auch Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 59; Prechal, CMLRev. 2000, 1047 (1062 ff.). 785 Ausführlich zur h. M. siehe oben Teil 1, II. 2. 786 Vgl. zum Ganzen Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 80 ff. m. w. N.

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

normen handle es sich lediglich um rein objektiv-rechtliche Verpflichtungen, gilt das oben Ausgeführte auch hier.787 Wie bereits detailliert dargelegt,788 ist nach Auffassung der Mehrheit789 des „narrow view“ das nach deren Ansicht für die unmittelbare Anwendbarkeit einer Vorschrift erforderliche subjektive Element schon dann zu bejahen, wenn die jeweilige Bestimmung bloß die Interessen des Einzelnen fördern oder begünstigen will790 oder – noch weiter – der Bürger sogar nur faktisch791 begünstigt wird.792 Man erinnere sich an das Zitat von Jarass793: „EG-Normen enthalten subjektive Rechte, wenn sie [. . .] Einzelnen besondere Vergünstigungen gewähren. Dabei kommt es allein auf das tatsächliche Gewähren an. Eine (besondere) gesetzgeberische Absicht der Drittbegünstigung ist nicht erforderlich.“ Dagegen schreibt Jarass794 im Zusammenhang mit den Grundsatznormen: „Daher gibt es bei den Grundsätzen keine Rechtsinhaber, allenfalls Begünstigte.“ Will sich Jarass nicht widersprechen, kann er aus diesen seinen beiden Aussagen nur folgern, dass auch die Grundsatznormen subjektive Rechte vermitteln. Die Grundsätze lassen nämlich den Einzelnen klar als den von ihnen Begünstigten erkennen. Eine andere Einschätzung wäre nur bei Art. 37 GRC, der Verpflichtung zum Umweltschutz, denkbar, da ein Bürger eigentlich nie der Betroffene eines ausschließlich die Umwelt berührenden Eingriffs sein kann. Für die in dieser Arbeit vertretenen Auffassung des „broad view“795 stellt Art. 37 GRC dagegen kein Problem dar, kommt es nach dieser Ansicht für die unmittelbare Anwendbarkeit einer 787

Siehe oben Teil 3, III. 4. d). Siehe oben Teil 3, III. 4. c) cc) (1). 789 Manche Autoren fordern nach wie vor die Geltendmachung eines subjektiven Rechts, vgl. Ehlers, DVBl. 2004, 1441 (1445); Pernice, NVwZ 1990, 414 (424 f.); Schoch, NVwZ 1999, 457 (465); Stern, JuS 1998, 769 (771). Triantafyllou, DÖV 1997, 192 (196) spricht vom Erfordernis der tatsächlichen und rechtlichen Betroffenheit und fordert damit ebenfalls eine mögliche Rechtsverletzung. 790 Vgl. Classen, VerwArch 1997, 645 (667 f.); Hilson/Downes, ELRev. 1999, 121 (138); Hölscheidt, EuR 2001, 376 (388); Huber, BayVBl. 2001, 577 (579); Kahl, Umweltprinzip, S. 145 ff.; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 146 ff. m. w. N.; Stern, JuS 1998, 769 (771); Winter, NVwZ 1999, 470 (473). 791 Für eine rechtliche und tatsächliche Betroffenheit Jarass/Beljin, Casebook, S. 181; Triantafyllou, DÖV 1997, 192 (196). 792 Vgl. Calliess, NVwZ 1996, 339 (341); Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 77 ff.; Wegener, Recht des Einzelnen, S. 185, 281 ff. Zum Ganzen instruktiv Calliess, NJW 2002, 3578 f.; Jarass/Beljin, Casebook, S. 180 ff. Differenzierend Ruffert, DVBl. 1998, 69 ff. 793 Jarass, Grundfragen, S. 59. Siehe schon oben Teil 3, III. 4. c) cc) (1). 794 Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 22. So auch Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 58. 795 Ausführlich hierzu oben Teil 3, III. 4. c) cc) (2) und dd). 788

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Bestimmung des Gemeinschaftsrechts gerade nicht auf einen subjektiven Einschlag an.796 Aber auch die zweite Aussage, die Grundsatznormen wären im Abwehrbereich nicht hinreichend klar und bestimmt, kann man nicht gelten lassen. Zwar ist einzuräumen, dass die Grundsätze generell sehr offen formuliert sind. Dasselbe trifft aber üblicherweise auch auf die Grundrechte zu.797 Nur weil ein Schutzbereich der Auslegung bedarf, heißt das noch nicht, dass dieser nicht präzise genug gefasst ist.798 Dass die Grundsatznormen in ihrer Abwehrfunktion unmittelbar anwendbar und damit einklagbar sein sollen, liegt ohnehin weniger am Konkretisierungsgrad der Grundsätze als am Wesen der Abwehrfunktion an sich. Die abwehrrechtliche Dimension einer Norm ist nämlich ungleich schneller justiziabel als die leistungsrechtliche. Dies lässt sich damit begründen, dass in der Abwehrsituation lediglich danach gefragt wird, ob der Eingriff in den Schutzbereich einer Garantie gerechtfertigt werden kann. Es handelt sich hierbei mehr oder weniger ausschließlich799 um ein Problem der Verhältnismäßigkeit der jeweiligen Maßnahme (vgl. auch Art. 52 Abs. 1 GRC).800 Die Antwort auf die Frage kann nur auf „Ja“ oder „Nein“ lauten, „Ja, die Maßnahme ist verhältnismäßig und damit gerechtfertigt“ oder „Nein, sie ist es nicht.“ Ganz anders verhält es sich in der Leistungssituation, wenn interessiert, welche Maßnahme die Legislative oder Exekutive ergreifen muss, um ihrer Leistungspflicht nachgekommen zu sein. Die Rechtswidrigkeit eines Unterlassens kann jedoch bei weitem schwieriger festgestellt werden als bei einer Handlung, die ein vorgegebenes Verbot missachtet. In der Leistungssituation bestehen meist zahlreiche Möglichkeiten, die jeweilige Verpflichtung umzu796 So wie hier GA Colomer in dessen Schlussantrag zur Rs. C-176/02, Slg. 2005, I-7879 (Kommission/Rat). 797 So wie hier Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 83. Der EuGH verzichtet zudem gerne auf eine genaue Definition des Schutzbereichs, vgl. hierzu EuGH, Rs. C-265/87, Slg. 1989, 2237, Rn. 15 (Schräder); Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 7 Rn. 1 ff. m. w. N.; Streinz, Europarecht, Rn. 770. 798 Vgl. Bleckmann, Europarecht, Rn. 1181; Jarass, Grundfragen, S. 74 f.; Schoißwohl, Staatshaftung, S. 108. 799 Ggf. spielt auch die Wesensgehaltsgarantie noch eine gewisse Rolle (vgl. Art. 52 Abs. 1 GRC), vgl. EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4973 Rn. 87 (Bananenmarkt II). Ausführlich zum Ganzen Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 52 GRC Rn. 64; Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 7 Rn. 29 ff. m. w. N. 800 Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der EG vgl. EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4973 Rn. 81 ff. (Bananenmarkt II); Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 64 ff.; Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 886 ff. m. w. N.; Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 7 Rn. 41 ff. m. w. N.

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setzen. Zur Veranschaulichung sei nochmals Rekurs auf Art. 37 GRC genommen. Art. 37 GRC ordnet an, dass die Union und die Mitgliedstaaten ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen haben. Daraus ergibt sich erstens das Gebot, den gegenwärtigen Standard beim Umweltschutz stetig zu erhöhen bzw. zu verbessern.801 Es sind unzählige Maßnahmen denkbar. Art. 37 GRC gibt keine konkreten Handlungsanweisungen vor. Die Norm ist im Leistungsbereich zu unbestimmt, um auch nur konkrete Mindestschutzmaßnahmen aus ihr ableiten zu können. An welcher Stelle sollte mit dem Umweltschutz begonnen werden? Hier lässt insbesondere Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRC der Union und den Mitgliedstaaten einen so großen Ermessensspielraum, dass eine unmittelbare Anwendbarkeit der Grundsatznormen im Leistungsbereich nicht in Frage kommt. Im Gegensatz dazu verlangt Art. 37 GRC zweitens aber auch, dass sich der gegenwärtige Standard beim Umweltschutz nicht absenkt bzw. verschlechtert.802 Art. 37 GRC weist insoweit eine abwehrrechtliche Dimension auf, an der sich jede Maßnahme der Union messen lassen muss. Erlässt beispielsweise die EG eine Richtlinie, die es erlaubt, dass Kraftwerke ihr Abwasser ungefiltert in Flüsse und Meere ableiten, hat diese Regelung nur dann Bestand, wenn die Union für diese Art der Entsorgung ausreichende Rechtfertigungsgründe vortragen kann. Andernfalls ist die Maßnahme rechtswidrig. In der Abwehrdimension sind die Grundsatznormen zwar einer Konkretisierung fähig, bedürfen einer solchen aber nicht, um unmittelbar anwendbar zu sein. Entsprechend der oben803 skizzierten Rechtsprechung zum Vorsorgegrundsatz und zum Prinzip der Marktstabilisierung ist der Union und den Mitgliedstaaten im Abwehrbereich aber ein weiter Ermessensspielraum zuzuerkennen.804 Bei den Grundsatznormen handelt es sich also um eine Art Optimierungsgebote, im Leistungsbereich für eine stetige Verbesserung des Schutzstandards zu sorgen und im Abwehrbereich das Absenken des beste801 Ähnlich wie hier GA Colomer in dessen Schlussantrag zur Rs. C-176/02, Slg. 2005, I-7879 (Kommission/Rat). Vgl. auch Rest, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 37 Rn. 24 f. Krit. Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 37 GRC Rn. 7 f. 802 Ähnlich wie hier GA Colomer in dessen Schlussantrag zur Rs. C-176/02, Slg. 2005, I-7879 (Kommission/Rat). Vgl. auch Rest, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 37 Rn. 24 f. Krit. Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 37 GRC Rn. 7 f. 803 Siehe oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (2). 804 So auch Jarass, EU-Grundrecht, § 7 Rn. 31 f.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 14. Siehe hierzu oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (2) (a) und (b). Vgl. auch Kahl, Umweltprinzip, S. 109 ff. und 117 ff., der zwar zu Recht den Spielraum der Verwaltung und des Gesetzgebers anerkennt, nicht aber jedes Argument zählen lassen will. Eine stärkere Kontrolldichte wäre nach seiner Einschätzung wünschenswert.

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henden Status quo zu verhindern.805 Nur in der letzteren Funktion sind die Grundsatznormen aber justiziabel.806 Es ist jedoch nicht nur dieses normstrukturelle Argument, welches für eine unmittelbare Anwendbarkeit der Grundsätze in der abwehrechtlichen Situation spricht. Weil Abwehrgehalte keiner Konkretisierung bedürfen, bekommt man bei diesen auch kein Problem mit dem Demokratieprinzip oder dem Prinzip der Gewaltenteilung.807 Zudem, Abwehrrechte verpflichten lediglich zum Erhalt des status quo, führen aber nie zu einem Anspruch auf ein Mehr an Leistung. Aus diesem Grund sind Abwehrrecht aus finanzieller Sicht wesentlich unproblematischer als Leistungsrechte. Deshalb stand auch die leistungsrechtliche und nicht die abwehrrechtliche Dimension sozialer Grundrechte im Zentrum der Diskussionen in den beiden Konventen.808 Zwar kann sicherlich auch das Verbot von lukrativen, aber grundsatzwidrigen Eingriffen zu einer finanziellen Belastung führen. Dies ist aber zum einen nicht in dem Maße der Fall wie bei originären Leistungsrechten. Zum anderen lässt sich dem auch das vom EuGH809 immer wieder zur Begründung von Entscheidungen herangezogene Missbrauchsargument entgegenhalten, dass der Staat nicht auch noch von seinem rechtswidrigen Handeln profitieren dürfe. Des Weiteren lassen sich rechtsvergleichende Argumente für die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundsatznormen in deren Abwehrbereich heranziehen.810 Wie der obige Überblick811 über die Justiziabilität sozialer 805 So wie hier wohl Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Vor Kap. IV. Rn. 37 (will die Grundsätze mit überwiegend abwehrrechtlichem Gehalt aus dem Anwendungsbereich des Art. 52 Abs. 5 GRC herausnehmen) und Sólyom, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, A XV Rn. 60 (unter Hinweis auf das ungarische Recht). Ähnlich Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45a, der aber auch nur eine objektive bzw. inzidente Justiziabilität für möglich hält, vgl. ebd., Rn. 45c. Vgl. auch Kahl, Umweltprinzip, S. 216 f. Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (565) versteht die Grundsatznormen demgegenüber ausdrücklich nicht als Optimierungsgebote. Ablehnend auch (aufgrund der rein objektiv-rechtlichen Qualität der Grundsatznormen) Bühler, Einschränkung, S. 395 f. 806 An der gänzlichen Nichtjustiziabilität der Grundsatznormen zweifeln ebenfalls Ashiagbor, EHRLR 2004, 62 (71); Hipold, ZÖR 2004, 351 (359). 807 Vgl. hierzu Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 156 f. 808 Siehe dazu schon oben Teil 2, I. 2. So wie hier Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 56 f. 809 Zum Sanktionsgedanken vgl. statt vieler BVerfGE 75, 223 (235) (Kloppenburg); Haltern, Europarecht, S. 343 ff.; Magiera, DÖV 1998, 180 m. w. N. Vgl. auch Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 78. 810 Ähnlich Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 85, der dann aber behauptet, dass die Charta ein Weniger an Durchsetzungsfähigkeit als vergleichbare Institute in den Mitgliedstaaten wolle. So wie hier wohl Weber, DVBl. 2003, 220 (223 mit Fn. 42). A. A. Winkler, Grundrechte, S. 51 m. w. N.

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Grundrechte in den für diese Frage bedeutenderen Mitgliedstaaten gezeigt hat, stellt die abwehrrechtliche Seite von solchen Garantien im Allgemeinen kein Problem dar.812 Selbst in der deutschen Rechtsordnung mit der strengen Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Recht erhalten die eigentlich objektiv-rechtlichen Staatszielbestimmungen (v. a. das Sozialstaatsprinzip und das Staatsziel des Umweltschutzes) aufgrund der ElfesRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts813 eine abwehrrechtliche Bedeutung, die der Einzelne über Art. 2 Abs. 1 GG geltend machen kann. Auch in den allermeisten anderen Ländern werden abwehrrechtliche Dimensionen grundsätzlich für justiziabel gehalten.814 Eine bemerkenswerte Vorschrift enthält insoweit die ungarische Verfassung. Deren Art. 18 sieht ähnlich wie Art. 37 GRC vor: „Die Republik Ungarn erkennt das Recht[815] eines jeden auf eine gesunde Umwelt an und bringt es zur Geltung.“816 Nach der Rechtsprechung des ungarischen Verfassungsgerichts817 hat diese Vorschrift die Wirkung, dass der Staat das rechtlich zugesicherte Niveau des Umweltschutzes nur unter den Voraussetzungen mindern könne, die für die Beschränkung eines subjektiven Rechts gelten. Die Umweltschutzgarantie sei zwar kein subjektives Recht, aber auch nicht nur ein bloßes Staatsziel. Dem „Recht“ auf Umweltschutz komme eine abwehrrechtliche Funktion zu.818 811 Siehe oben Teil 2, IV. 2. f). Nicht gesagt werden soll aber, dass alle Mitgliedstaaten über ein annähernd identisches Geflecht an sozialen Grundrechten verfügen. Vgl. hierzu Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Vor Kap. IV Rn. 17 ff. m. w. N. Einen kurzen Überblick bieten Butt/Kübert/Schultz, Soziale Grundrechte, S. 29, 40 ff. 812 Strenger einzig nur die irische Verfassung mit deren Art. 45. Aber auch diese Vorschrift wurde durch die Entscheidung Murtagh Properties v Cleary [1972] I. R. 330 (Kenny J.) wieder etwas relativiert. Siehe zum Ganzen oben Teil 2, IV. 2. e) bb). In Spanien wird demgegenüber sogar versucht, solche Garantien auch im Leistungsbereich einklagbar zu machen, vgl. dazu instruktiv López-Jurado, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), Charta, Art. 37 Anm. 1 Rn. 11 ff. m. w. N. Vgl. auch Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 6 ff. m. w. N. 813 BVerfGE 6, 32 (Elfes). Vgl. hierzu auch Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 531c. 814 Siehe dazu ausführlich oben Teil 2, IV. 2. f). 815 Der Begriff „Recht“ wird in Ungarn nicht immer entsprechend dem deutschen Verständnis verwendet, obgleich das ungarische Recht sich nicht selten am deutschen Recht orientiert. Vgl. hierzu Sólyom, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, A XV Fn. 74. 816 Übersetzung nach Kimmel/Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten. 817 Vgl. die Entscheidung des ungarischen Verfassungsgerichts 28/1994.(V.20.) AB. 818 Vgl. zum Ganzen Sólyom, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, A XV Rn. 58 f. m. w. N.

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Besonders interessant an dieser Stelle ist schließlich (wiederum) die französische Position. Dies deshalb, weil der französische Vertreter im Konvent Braibant bekanntermaßen819 entscheidend an den Grundsatznormen mitgearbeitet hat. In Frankreich existieren vergleichbare Garantien eben auch und ganz überwiegend mit entsprechender abwehrrechtlicher Funktion.820 Nach Ansicht Braibants821 hätten Grundsätze die Wirkung einer „justiciabilité normative“. Braibant versteht die Grundsatznormen als Abwehrrechte gegen gemeinschaftsrechtliche Eingriffe in nationale Sozialstandards bzw. als eine Art „stand still-Klausel“, die die Abschaffung der einmal durch die Union geschaffenen Standards ohne Rechtfertigung verhindern sollen.822 Als Beispiel führt er den Fall an, dass mitgliedstaatliche Wohnungsbeihilfen von der Union aus wettbewerbsrechtlichen Gründen untersagt werden würden. De Schutter bringt die Wirkungsweise der Grundsatznormen auf den Punkt: Grundsatznormen seien zwar keine „Schwerter“ („epes“), sehr wohl aber Schutzschilde („boucliers“).823 Eine andere Interpretation der Grundsätze im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC ergibt sich auch nicht aufgrund der Dogmatik des gegenwärtigen EGRechts. In den Erläuterungen zur Charta824 werden als Vergleichsmaßstab für die Auslegung der Grundsatznormen das Prinzip der Marktstabilisierung und der Vorsorgegrundsatz angeführt. Diese Vorschriften vermitteln – so zu Recht die Ansicht in den Erläuterungen825 – keinen (Art. 33 Abs. 1 lit. c GRC) oder nur unter sehr engen Voraussetzungen (Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 GRC) einen direkten Anspruch auf Erlass positiver Maßnahmen. Im Abwehrbereich hat der EuGH diese Prinzipien aber sehr wohl als Prüfungs819

Siehe oben Teil 2, I. 2. a). C.C. 82-141 DC v. 27. Juli 1982; C.C. 83-156 DC v. 28. Mai 1983 in Rec. 1983, 41 ff.; C.C. 85-200 DC v. 16. Januar 1986 in Rec. 1986, 9 ff. Vgl. Borgetto, in: Conac/Berranger (Hrsg.), Le Préambule de la Constitution de 1946, S. 127 (142 ff.). Vgl. auch Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 120 m. w. N.; Rousseau, RDP 1996, 11 (62). 821 Vgl. Braibant, Charte, S. 46, 84 f., 252 f. Ähnlich Burgorgue-Larsen, in: ders./Levade/Picod (Hrsg.), Charta, Art. II-112 Rn. 42 ff.; de Schutter, in: ders./ Nihoul (Hrsg.), Droits, S. 111 ff. m. w. N. 822 Vgl. Braibant, Charte, S. 46 f., 252 f. Vgl. auch de Schutter, in: ders./Nihoul (Hrsg.), Droits, S. 111 ff. m. w. N.; Sólyom, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, A XV Rn. 60. Ausführlich zum Ganzen oben Teil 3, II. 5 d) bb) (1). 823 De Schutter, RUDH 2000, 33 (35). Vgl. ders., in: ders./Nihoul (Hrsg.), Droits, S. 112 f. Ähnlich Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45c m. w. N., der jedoch die Einklagbarkeit durch den einzelnen Bürger verneint. 824 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35. 825 Eine darüber hinausgehende Aussage über die abwehrrechtliche Dimension der Grundsatznormen kann den Erläuterungen nicht entnommen werden. Ähnlich wie hier Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 87. 820

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maßstab angesehen. Wie oben ausführlich dargestellt,826 hat der Gerichtshof diesen und vergleichbaren Vorschriften eine weitgehende abwehrrechtliche Justiziabilität zuerkannt.827 Dass die Kläger in der Mehrzahl der Fälle keinen Erfolg mit ihren Klagen gehabt haben, liegt an dem weiten Ermessen, das der EuGH den zuständigen Organen in diesen und ähnlichen Konstellationen gewährt. Ein solch weiter Ermessensspielraum ist der Union und den Mitgliedstaaten, das wurde bereits angedeutet,828 auch bei den Grundsatznormen einzuräumen. Das letzte und vielleicht sogar entscheidende Argument für die Justiziabiliät der Grundsatznormen im Abwehrbereich liefert die Charta selbst,829 lautet Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC doch wie folgt: „Sie [die Grundsätze] können vor Gericht nur bei der Auslegung dieser Akte [– gemeint sind die Umsetzungsakte –] und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit herangezogen werden.“830 Wenn nun aber die Grundsätze bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit von Rechtsakten – zum Begriff der Umsetzungsakte sogleich831 – herangezogen werden können, kann dies nichts anderes bedeuten, als dass Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC selbst die Grundsatznormen in ihrer abwehrrechtlichen Dimension für unmittelbar anwendbar und damit justiziabel hält.832 Gegenargumente für die hier vorgeschlagene Interpretation der Grundsatznormen findet man im Schrifttum kaum. Lediglich Ladenburger833 merkt kritisch an, dass bei einem weitem Verständnis der Grundsatznormen mit teilweiser Einklagbarkeit sich die Differenzierung zwischen Grundrechten und Grundsätzen weitgehend aufheben würde. Worin der Nachteil einer reduzierten, aber zweifelsohne immer noch vorhandenen Unterscheidbarkeit und Unterscheidungsnotwendigkeit zwischen Grund826 Siehe oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (2). Ähnlich wie hier Vranes, Horizontale Bestimmungen, S. 12. 827 Ähnlich wohl Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45b. 828 Siehe gerade eben bei Fn. 826. 829 Dass Art. 52 Abs. 1 GRC keine Beschränkbarkeit der Grundsatznormen vorsieht, spricht weder für noch gegen die hier vertretene Ansicht (anders wohl Winkler, Grundrechte, S. 53 f.), da nämlich auch bei einer rein „objektiven“ Justiziabiliät die Grundsätze beschränkbar sein müssten. A. A. Bühler, Einschränkung, S. 387; Schmitz, JZ 2001, 833 (841). Siehe dazu näher unten Teil 4, V. 830 Hinzufügungen durch den Verfasser. 831 Siehe unten Teil 3, III. 4. d) cc). 832 Ähnlich Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 85, der dann aber meint, die Grundsatznormen sollten lediglich objektiv justiziabel sein. Ebenso Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45b. 833 Vgl. Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 87. Nunmehr auch Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 136 f. (unter Bezugnahme auf Ladenburger).

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rechten und Grundsätzen liegen soll, bleibt Ladenburger schuldig. Mit der in dieser Dissertation herausgearbeiteten Theorie der Grundsatznormen ist einerseits das Interesse der Mitgliedstaaten (v. a. dem Großbritanniens) berücksichtigt, die nicht wollten, dass der EuGH ihnen neue Verpflichtungen auferlegen kann, die ihr System der sozialen Sicherheit veränderten. Andererseits werden aber auch die Forderungen (v. a. der skandinavischen Länder) erfüllt, die sichergestellt haben wollten, dass ihre hohen nationalen Sozialstandards durch die Grundrechtecharta nicht herunterharmonisiert werden würden.834 Die Interpretation der Grundsatznormen als (lediglich) justiziable Abwehrrechte berücksichtigt sowohl die geäußerten Ängste vor einer Einklagbarkeit sozialer Gewährleistungen als auch die Hoffungen progressiver und integrativer Kräfte, soziale Garantien mit mehr als nur programmatischer Bedeutung in die Grundrechtecharta aufzunehmen.835 Die hier befürwortete Ansicht hat zudem den Vorteil, dass die Charta, so wie es ihr Name eigentlich auch vermuten lässt, ausschließlich (zumindest im Abwehrbereich) justiziable Bestimmungen enthält. Darüber hinaus wirkt die in dieser Arbeit favorisierte Theorie der teilweisen Justiziabilität der Grundsatznormen gegenüber dem EuGH sogar kompetenzbegrenzend. Dadurch, dass die beiden Konvente auf die genaue Einteilung der Chartabestimmungen verzichtet836, diese Aufgabe vielmehr dem EuGH überlassen haben,837 hat es paradoxerweise dieser, dessen „judicial activism“838 man eigentlich verhindern wollte, in der Hand, alleine durch die Einordnung einer Chartabestimmung in eine der beiden Normkategorien auch über deren Einklagbarkeit bestimmen zu können.839 Mit Zuerkennung einer (Teil-)Justiziabilität der Grundsatznormen im Abwehrbereich käme der Einordnungsentscheidung des Gerichtshofs eine nicht mehr derart alles 834 Vgl. Barriga, Entstehung, S. 127, 154; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Art. 52 Rn. 45a; Braibant, in: BM für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), S. 259 (261); Mayer/Engels, ZRP 2000, 368 (371). 835 Ähnlich Ashiagbor, EHRLR 2004, 62 (71); Braibant, Charte, S. 252 f.; ders., in: BM für Arbeit und Sozialordnung u. a. (Hrsg.), S. 259 (261); Engels/Meyer, ZRP 2000, 368 (370). 836 Vgl. den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II Charta CONV 354/02 S. 8. 837 Diese Gefahr erkennt auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 16; Schmitz, EuR 2004, 691 (703 f.). 838 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 30a. Vgl. zudem Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 13. Intressant in diesem Zusammenhang ist auch der Beitrag von Herzog/Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ v. 8. September 2008, S. 8. 839 So wie hier Vranes, Horizontale Bestimmungen, S. 12. Dass dem EuGH die Entscheidung über die Einordnung der einzelnen Chartanormen überlassen worden ist, sehen auch kritisch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45; Dutheil de la Rochère, CMLRev. 2004, 345 (352); Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 13.

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entscheidende Bedeutung zu, weil eben auch die Grundsatznormen in ihrer abwehrrechtlichen Dimension vom Einzelnen vor Gericht geltend gemacht werden könnten. Die Folgen einer fehlerhaften oder willkürlichen Klassifizierung von Chartabestimmungen wären damit abgemindert. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Grundrechten und Grundsätzen bliebe gleichwohl, und das soll nochmals betont werden, bestehen: die Nichteinklagbarkeit der Grundsatznormen in ihrer Leistungsdimension. Die hier vertretene Theorie hält also an einer Differenzierung zwischen Grundrechten und Grundsätzen gerade dort, wo eine solche Unterscheidung notwendig ist und von den Mitgliedern der beiden Konvente auch gewollt war, fest. Ansonsten wird jedoch eine weitgehende Annäherung der beiden Normgruppen befürwortet.840 Schließlich bleibt noch folgende kritische Bemerkung zu machen: Die gegenwärtige Fassung der Grundrechtecharta mit der Klarstellung in Art. 52 Abs. 5 GRC geht überwiegend auf das Betreiben Großbritanniens zurück.841 Die meisten anderen Mitgliedstaaten waren durchaus mit der ersten Fassung der Charta zufrieden. Es ist nun ein wenig sonderbar, dass gerade das Land, das eine scharfe Gegenüberstellung von Grundrechten und Grundsätzen forderte, aufgrund eines Zusatzes zum Lissabonner Vertrag842 von der Bindung an die Grundrechtecharta ausgenommen wird.843 cc) Der Begriff des Umsetzungsaktes Nach hier vertretener Ansicht gibt Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC also selbst vor, dass den Grundsatznormen im Abwehrbereich Maßstabsfunktion zukommen muss. Der Umfang dieser Maßstabfunktion hängt, dies wurde bereits angedeutet,844 entscheided davon ab, wie der Begriff des Umsetzungsaktes in Art. 52 Abs. 5 zu verstehen ist. Zwei Möglichkeiten der Interpretation sind denkbar: Legte man Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC eng am Wortlaut aus, ließen sich nur solche Maßnahmen unter den Begriff des Umsetzungsaktes subsumieren, die die Grundsatznormen präzisieren und etwa in Form 840

Ähnlich de Bfflrca, in: de Witte (Hrsg.), Ten Reflections, S. 11 (22 f.). Vgl. die Arbeitsdokumente 4 und 16 der Arbeitsgruppe II Charta. So wie hier Dutheil de la Rochère, CMLRev. 2004, 345 (352); Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 76. Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Vor Kap. IV Rn. 37 macht dagegen nahezu alle nordeuropäischen Länder für die Aufnahme des Art. 52 Abs. 5 GRC verantwortlich, übersieht dabei aber, dass es den skandinavischen Ländern vor allem um den Erhalt ihres hohen Sozialniveaus ging. So wie hier ausdrücklich Braibant, in: BM für Arbeit und Sozialordnung u. a. (Hrsg.), S. 259 (261). 842 ABl. EU C 306/01 v. 17. Dezember 2007 S. 156. 843 Siehe unten Teil 4, III. 2. 844 Siehe oben Teil 3, III. 3. c) bb) (2) (b). 841

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von subjektiven Rechten konkretisieren (sollen).845 Es könnten somit lediglich die Rechtsakte der Union und der Mitgliedstaaten an den Grundsätzen gemessen werden, die ihren Ursprung in den Grundsätzen selbst haben, für deren Erlass die Grundsätze also Anlass gewesen sind.846 Eine Überprüfung, ob auch alle übrigen Sekundärrechtsakte mit den Grundsatznormen übereinstimmen, wäre nicht möglich. So dürften die Verpflichtungen zum Umwelt- oder Verbraucherschutz beispielsweise nicht in der Landwirtschaftspolitik oder die soziale Gewährleistungen nicht in der Wettbewerbspolitik als Rechtmäßigkeitsmaßstab herangezogen werden. Ein derartig enges Verständnis würde die rechtliche Bedeutung der Grundsätze minimieren, wenn nicht gar völlig beseitigen. Welche Norm verstößt schon gegen den Grundsatz, den diese gerade umsetzen soll? Aus diesem Grund befürwortet selbst der britische Vertreter im Chartakonvent Lord Goldsmith eine weite Auslegung des Begriffs des Umsetzungsakts, wenn er meint, „that the Union shoult not violate [. . .][a] principle by a side wind in some other legislation within its competence.“847 Dieser Ansicht, die auch mittlerweile der herrschenden Meinung im Schrifttum848 entspricht, ist zu folgen. Verstünde man den Begriff des Umsetzungsaktes so eng wie eben aufgezeigt, hätte eine Normkategorie Aufnahme in die Charta gefunden, die entgegen dem ausdrücklichen Mandat von Köln849 in ihrer rechtlichen Relevanz noch hinter der einfacher Zielbestimmungen zurückbleiben würde. Darüber hinaus träte eine restriktive 845 Auf eine andere Interpretation deuten auch nicht die englische oder französische Sprachfassungen der Charta hin. Entgegen der Ansicht von Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 32 und Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 91 mit Fn. 263 versteht der Verfasser nicht, worin der Unterschied in den Formulierungen von „dieser Akte“ – „such acts“ – „tels actes“ (Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRC) oder „können umgesetzt werden“ – „may be implemented“ – „peuvent être mises en œuvre“ (Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC) bestehen soll. 846 Vgl. Vranes, Horizontale Bestimmungen, S. 12. 847 Lord Goldsmith, in: Heusel (Hrsg.), Grundrechtecharta, S. 35 (40). 848 So auch Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 33; Ladenburger, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 90 ff. m. w. N.; Lenaerts/van Nuffel, Constitutional Law, Rn. 17-086 m. w. N.; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 48. Im Ergebnis ebenso, aber mit etwas anderer Begründung Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45a, c, der meint, dass es im Abwehrbereich schon „rechtslogisch [. . .] keine legislativen oder exekutiven Durchführungsmaßnahmen der Union“ gebe, sodass diese Dimension von Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC gar nicht erfasst werde. Ähnlich Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 264 m. w. N.; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 Rn. 13. Generell krit. zu Art. 52 Abs. 5 GRC Dutheil de la Rochère, CMLRev. 2004, 345 (352); Prechal, Liber amicorum Kellermann, S. 177 (178 ff.). 849 Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates zu Köln v. 3./4. Juni 1999, Bulletin EU 6-1999 I.18., Punkte 44, 45.

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Auslegung des Begriffs des Umsetzungsaktes in Widerspruch zur ausdrücklichen Pflicht der Union und der Mitgliedstaaten in Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC, sich an die Grundsätze halten und diese fördern zu müssen.850 Dazu käme, dass die Grundsätze die ihnen zugedachte Aufgabe, ein Aushöhlen nationaler Sozialstandards zu verhindern, gar nicht erfüllen könnten, wäre nicht das gesamte Sekundärrecht und damit auch die, die Schutzbereiche von Grundsätzen nur beschränkenden Maßnahmen vom Begriff des Umsetzungsakts umfasst.851 Der Terminus „Grundsatz“ deutet zudem gerade darauf hin, dass es sich bei dieser Normkategorie um Regelungen handelt, die einen allgemeinen Maßstab setzen bzw. eine allgemeine Richtschnur (auch für die Auslegung) geben und nicht nur auf einem partiellen Gebiet wirken sollen.852 Ein enges Verständnis vom Begriff des Umsetzungsaktes würde außerdem zu Auslegungsproblemen führen.853 Wann genau läge ein Umsetzungsakt eines Grundsatzes vor? Müsste der Umsetzungsakt ausdrücklich als solcher gekennzeichnet sein?854 Oder reichte eine stillschweigende Umsetzung aus? Wenn letzteres gelte, wo wäre dann die Grenze zu den herkömmlichen, eingreifenden Sekundärrechtsakten zu ziehen? Das entscheidende Argument für eine weite Auslegung des Begriffs des Umsetzungsaktes dürfte jedoch ein vergleichendes sein.855 In den Erläuterungen zur Charta856 sind das Vorsorgeprinzip aus Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV sowie der Grundsatz der Marktstabilisierung aus Art. 33 Abs. 1 lit. c EGV als Vergleichsmaßstab für die Grundsatznormen genannt.857 Insbesondere das Vorsorgeprinzip weist aber, darauf wurde ausführlich eingegangen, eine abwehrrechtliche Seite auf, die die Gemeinschaftsgerichte nicht nur auf den Bereich des Tier- und Umweltschutzes beschränkt, sondern auf sämtliche Gefährdungslagen858 angewendet haben.859 Eine enge Auslegung des Be850 So auch Schmittmann, Rechte und Grundsätzen, S. 47. Vgl. auch die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35. 851 So auch Riedel, in: Meyer (Hrg.), Charta, Vor Kap IV Rn. 37; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 91. 852 Ähnlich Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 47; Vranes, Horizontale Bestimmungen, S. 12. Krit. zu Art. 52 Abs. 5 GRC daher Prechal, Liber amicorum Kellermann, S. 177 (178). 853 Ähnlich Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 91. 854 Hierzu ausführlich Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 45 ff. 855 Ähnlich Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 91; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 47 f. 856 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35. 857 Siehe hierzu schon oben ausführlich Teil 2, IV. 3. d) bb) (2). 858 Der Vorsorgegrundsatz gilt z. B. auch im Hinblick auf die Gefährdung natürlicher Ressourcen durch Verschwendung (vgl. Art. 174 Abs. 1 EGV). Im Übrigen ist die Existenz des Vorsorgegrundsatzes im Kern zumindest implizit vom EuGH als allgemein geltend anerkannt worden, vgl. EuGH, Rs. C-331/88, Slg. 1990, I-4023 (Fedesa); Rs. C-405/92, Slg. 1993, I-6133 (Mondiet). Vgl. dazu Nettesheim, in:

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griffs des Umsetzungsaktes in Art. 52 Abs. 5 GRC würde dieser Rechtsprechung zur allgemein abwehrrechtlichen Relevanz des Vorsorgegrundsatzes zuwiderlaufen.860 Überdies käme man zu dem eigenartigen Ergebnis, dass Grundsatznormen der Charta, die mit Querschnittbestimmungen aus den anderen Teilen des Unionsvertrages oder Grundlagenvertrages übereinstimmen, im Gegensatz zu ihrer dortigen Kodifizierung einen deutlich eingeschränkteren Anwendungsbereich aufwiesen.861 Als Beispiel hierfür lässt sich wiederum die Verpflichtung zum Umweltschutz aus Art. 37 GRC anführen, die inhaltlich mit den Gewährleistungen in Art. 11 und 191 VAEU862 identisch ist.863 Ein Auseinanderfallen des Schutzbereichs, je nach dem in welchem Teil des Primärrechts die jeweilige Gewährleistung verankert ist, erscheint jedoch wenig sinnvoll. Gegen ein solches Verständnis dürfte auch Art. 52 Abs. 2 GRC sprechen, der, wenn er sich auch nicht wörtlich auf die Grundsätze erstreckt, doch wenigstens entsprechend auf diese angewendet werden kann.864 Ginge man von einer restriktiven Auslegung des Begriffs des Umsetzungsaktes aus, würde Art. 52 Abs. 5 GRC im Übrigen eine konstitutive Bedeutung erhalten. Dies war – darauf weisen die Erläuterungen sowie die Vorarbeiten zur Charta ausdrücklich hin865 – aber gerade nicht gewollt.866

Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 39 m. w. N. Zum Ganzen siehe bereits oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (2) (b). 859 Dies ergibt sich insbesondere aus der Aufzählung in Art. 174 Abs. 1 EGV. Vgl. EuG, Rs. T-13/99, Slg. 2002, II-3318 Rn. 114 (Pfizer) mit Verweis auf EuGH, Rs. C-180/96, Slg. 1998, I-2265, Rn. 100 (BSE); Rs. C-157/96, Slg. 1998, I-2211, Rn. 64 (NFU). Vgl. auch EuGH, Rs. C-146/91, Slg. 1994, I-4199, Rn. 61 (KYDEP). Vgl. dazu Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rn. 39 m. w. N. Interessant auch Orth, Grundrecht auf Umweltschutz, S. 48 f. 860 Ähnlich Prechal, Liber amicorum Kellermann, S. 177 (179 f. m. w. N.) unter Hinweis auf EuGH, Rs. C-25/02, Slg. 2003, I-8349 Rn. 26. 861 Bei den Grundrechten verbietet das bereits Art. 52 Abs. 2 GRC. Diese Norm beschreibt wohl nur einen allgemeinen Rechtsgedanken, der auch auf die Grundsatznormen übertragen werden kann. 862 Art. 191 VAEU entspricht weitgehend dem Art. 174 EGV. 863 Vgl. im Detail Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 47 f. Vgl. auch die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 27. 864 Zur Anwendbarkeit der Art. 52 Abs. 1–4 GRC auf die Grundsätze siehe unten Teil 4, V. 1. 865 Vgl. den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II – CONV 354/02 S. 4, 8. Vgl. auch Brecht, ZEuS 2005, 355 (368 f.); Pietsch, Schrankenregime, S. 30; Rengeling/ Szczekalla, Grundrechte, S. 262, 265. Siehe dazu schon oben Teil 1, II. 1. mit Fn. 40. 866 Vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 43; Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 33.

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dd) Zwischenergebnis (1) Die Grundsätze sind in ihrer abwehrrechtlichen Dimension unmittelbar anwendbar und damit auch zugunsten des Einzelnen justiziabel. (2) Im Gegensatz dazu kann aus den Grundsatznormen ein Anspruch auf Leistung nicht abgeleitet werden (mit Ausnahme bei derivativen Teilhaberechten). (3) Der Begriff des Umsetzungsaktes in Art. 52 Abs. 5 GRC ist weit zu verstehen und umfasst alle Rechtsakte und Maßnahmen, die den Schutzbereich eines Grundsatzes nur berühren oder in diesen eingreifen. Rechtsakte, durch die bestehende Standards abgesenkt werden, fallen ebenfalls unter diesen Begriff. e) Rechtsfolgen der Grundsatznormen Bereits im Zusammenhang mit der Erörterung der Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit wurden die rechtlichen Folgen dieser möglichen Eigenschaft einer Norm mehrfach angedeutet. Im Folgenden soll nun auf die Rechtsfolgen unmittelbar anwendbarer Bestimmungen etwas näher, insbesondere in Bezug auf die Grundsatznormen, eingegangen werden. aa) Im Abwehrbereich (1) Rechtsfolgen unmittelbar anwendbarer Normen im Allgemeinen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, die unmittelbar anwendbar sind, können, weil subsumtionsfähig, und müssen, weil verbindlich, von sämtlichen nationalen wie supranationalen Stellen eingehalten und befolgt werden. Dies hat von Amts wegen zu geschehen. Dass sich ein Einzelner ausdrücklich auf die jeweilige Bestimmung beruft, ist nicht erforderlich.867 Entgegenstehendes nationales Recht darf nicht angewendet werden (sog. Anwendungsvorrang).868 Unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht 867

EuGH, Verb. Rs. C-430 f./93, Slg. 1995, I-4705, Rn. 13 (van Schijndel und van Veen); Rs. C-72/95, Slg. 1996, I-5403 Rn. 57 (Kraaijeveld). Vgl. auch Jarass, Grundfragen, S. 81 m. w. N.; Nettesheim, in: v. Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 164; Papier, DVBl. 1993, 809 (813); Streinz, Europarecht, Rn. 445; Schroeder, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 51; Prechal, CMLRev. 2000, 1047 (1049 f.). A. A. noch FG München, EuZW 1990, 582. Siehe dazu schon oben Teil 3, III. 4. a) aa).

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stellt damit immer auch einen relevanten Prüfungsmaßstab für die Frage der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Mitgliedstaaten dar.869 Ähnliches gilt im Verhältnis von höherangigem zu niederrangigem EG-Recht, nur dass der EuGH in diesem Fall sogar von einem Geltungsvorrang des höherrangigen Gemeinschaftsrechts ausgeht (vgl. Art. 234 Abs. 1 lit. b EGV).870 Darüber hinaus ist daran zu erinnern, dass bei Gemeinschaftsrechtsakten das Verwerfungsmonopol ausschließlich bei den Gemeinschaftsgerichten liegt.871 Vor dem EuG bzw. dem EuGH kann sich der Einzelne direkt auf unmittelbar anwendbare Vorschriften stützen, um Maßnahmen des Gemeinschaftsrechts aufheben zu lassen. Im Rahmen der Zulässigkeit muss der Bürger „lediglich“ darlegen können, dass die angegriffene Maßnahme ihn unmittelbar und individuell betrifft. Auf die Verletzung eines subjektiven Rechts kommt es nicht an. Für ein Betroffensein reicht es aus, wenn der Bürger ein irgendwie geartetes, nachvollziehbares Interesse am Verfahren darlegen kann.872 Vor den mitgliedstaatlichen Gerichten und Behörden873 vermittelt eine unmittelbar anwendbare Norm des EG-Rechts ein prozessuales Berufungsrecht (sog. invocabilité), die jeweilige Gewährleistung stets auch in eigenem Interesse geltend machen zu können. Eine Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver unmittelbarer Anwendbarkeit kennt das 868 Anwendungs- statt Geltungsvorrang, so ausdrücklich EuGH, Verb. Rs. C-10–22/97, Slg. 1998, 6307 Rn. 20 (IN.CO.GE). Vgl. statt vieler Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 99 m. w. N.; Streinz, Europarecht, Rn. 222; Schroeder, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 45. Zum Ganzen instruktiv Jarass, Grundfragen, S. 98 ff. 869 Für nicht unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht gilt dies gerade nicht. Ganz h. M., so wie hier statt vieler, Jarass, Grundfragen, S. 104 f. m. w. N.; Scherzberg, Jura 1993, 225 (229 m. w. N.). Wenig überzeugend Dendrinos, Rechtsprobleme, S. 291; Timmermans, CMLRev. 1979, 533 (544 ff.); Weber, Rechtsfragen, S. 74 f., 103 ff. 870 Vgl. Wernsmann/Behrmann, Jura 2006, 181 (183 f.). 871 EuGH, Rs. C-314/85, Slg. 1987, 4199 Rn. 16 f. (Foto Frost); Rs. C-143/88 u. 92/89, Slg. 1991, 415 Rn. 17 (Zuckerfabrik). Vgl. auch Dörr/Lenz, Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 19. 872 Ausführlich zum Ganzen bereits oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (1). 873 Immer noch scheint die Frage ungeklärt, ob eine Behörde gemeinschaftsrechtswidriges nationales Recht von sich aus unangewendet lassen darf. Nach Auffassung des Verfassers ist dies zu bejahen, wenn die Behörde von der Gemeinschaftswidrigkeit überzeugt ist. Bei bloßen Zweifeln sollte der Weg über die Gerichte vorgezogen werden, da die Behörde selbst nicht nach Art. 234 EGV vorlageberechtigt ist. Einzelheiten sollen hier nicht weiter interessieren. Ausführlich zu diesem Problem EuGH, Rs. C-106/77, Slg. 1978, 629 (Simmenthal); Jarass, Grundfragen, S. 102 ff.; Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 103 f. m. w. N.

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EG-Recht nicht.874 Unabhängig davon käme man in Deutschland über die Elfes-Konstruktion zu ähnlichen Ergebnissen.875 Nimmt man das alles zusammen, lässt sich die unmittelbare Anwendbarkeit einer Norm mit Prechal besser folgendermaßen beschreiben: „(. . .) direct effect is the obligation of a court or another authority to apply the relevant provisions of Community law, either as a norm which governs the case or as a standard for legal review“.876 Folgt man dieser Definition, verlangt das Gemeinschaftsrecht von der Bundesrepublik, dass jene zumindest bei Sachverhalten mit Gemeinschaftsbezug von ihrem bisherigen System des subjektiven Rechts Abstand nimmt und auf diese Fälle ein allgemeines Interessentenklagesystem anwendet. Im Gegenzug zu der sehr weitreichenden Einklagbarkeit gemeinschaftsrechtlicher Positionen akzeptiert der EuGH jedoch, dass die Gerichte – wiederum in Anlehnung an die französische Rechtstradition877 – administratives Handeln teilweise von der gerichtlichen Nachprüfung ausnehmen (können).878 In Deutschland wird eine solch reduzierte gerichtliche Kontrolldichte bislang als mit Art. 19 Abs. 4 und Art. 1 Abs. 3 GG (und deren einfachgesetzlichen Ausformungen in §§ 40 VwVfG, 114 VwGO) unvereinbar abgelehnt.879 Verwaltungshandeln ist nach diesen Vorschriften grundsätzlich in jeder rechtlichen wie tatsächlichen Hinsicht zu überprüfen.880 Ein freies Ermessen der Verwaltung gibt 874 Vgl. Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 38; Schroeder, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 249 EGV Rn. 51. Ausführlich zum Ganzen oben Teil 3, III. 4. c) dd) und ee). 875 Siehe hierzu bereits oben Teil 2, IV. 2. a) cc). Vgl. auch Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 531c. 876 Prechal, Directives, 1. Aufl., S. 276. 877 In Frankreich wird der Entscheidungsfreiraum der Verwaltung nur auf Ermessensmissbrauch („détournement de pouvoir“) hin überprüft, vgl. Bleckmann, Europarecht, Rn. 862, 870; Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 175 f.; Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 230 EGV Rn. 79; Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 556; Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 230 EGV Rn. 65; ders., in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 123 (197 ff.). 878 Siehe die in der vorstehenden Fn. 877 Genannten. Aufgrund des Grundsatzes der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten können die einzelnen Länder beim mitgliedstaatlichen Vollzug natürlich strengere Maßstäbe setzen, vgl. Kadelbach, Verwaltungsrecht, S. 453. Eine stärke Überprüfung auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene, insbesondere bei Ermessensentscheidungen, wünschen sich beispielsweise Bleckmann, FS Kutscher, S. 25 (28) und Kahl, Umweltprinzip, S. 117 f. 879 Instruktiv zum deutschen Verständnis Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 123 (197 ff.). Vgl. statt vieler BVerfGE 78, 214 (226); Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 19 Rn. 63 m. w. N.; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 735 ff. Ausführlich zum Ganzen Pache, Tatbestandliche Abwägung, S. 27 ff.

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es nach deutschem Verständnis nicht. Diese enge Auffassung hat in anderen Mitgliedstaaten sowie im Gemeinschaftsrecht keine Entsprechung.881 Traditionell unterscheidet das EuG bzw. der EuGH nicht zwischen Ermessensund Beurteilungsspielraum.882 Im Umkehrschluss zu Art. 229883 und 230 Abs. 2884 EGV werden Entscheidungsfreiräume der Verwaltung weitgehend respektiert. Bei Ermessensentscheidungen findet nur eine Evidenzkontrolle statt, ob also die Entscheidung nicht offensichtlich rechtswidrig ist.885 Ein stärkeres Gewicht kommt der Einhaltung von Form- und Verfahrensvorschriften zu.886 Auf Einzelheiten kann hier nicht näher eingegangen werden.887 Auf eine umfassende Prüfung von Verwaltungshandeln sollte jedoch dann nicht verzichtet werden, wenn ein Bürger durch eine Maßnahme erheblich in seinen Grundrechten betroffen ist.888 880 Sehr weitgehend BVerfGE 83, 130 (145 ff., 148) (Mutzenbacher). Vgl. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 123 (197 ff.). 881 So wie hier Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 556 f.; Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 123 (198 f.). Vgl. hierzu auch sehr instruktiv Sendler, NJW 1994, 1518 ff. A. A. wohl Zuleeg, in: Schulze/ ders. (Hrsg.), Hb. Europarecht, § 8 Rn. 30; Kadelbach, Verwaltungsrecht, S. 453 f. 882 EuGH, Verb. Rs. C-279 f., 285 f./84, Slg. 1987, 1069 (Rau); Rs. C-255/84, Slg. 1987, 1861 (Nachi Fujikoshi). Vgl. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 7 Rn. 103 m. w. N.; Ehricke, in: Streinz (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 230 EGV Rn. 79 m. w. N.; Kadelbach, Verwaltungsrecht, S. 453; Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 556 f. m. w. N. Siehe hierzu bereits oben Fn. 232, 882 und unten Teil 4, V. 2. mit Fn. 172. 883 Vgl. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 7 Rn. 105; Dörr/Lenz, Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 189; Pache, DVBl. 1998, 380 (382). 884 Art. 230 Abs. 2 EGV schränkt die Relevanz von Fehlern bei der Ermessensausübung ausdrücklich auf die Missbrauchsfälle ein. 885 EuGH, Rs. C-150/94, Slg. 1998 I-7235 Rn. 54 (Vereinigtes Königreich/Rat); EuG, Rs. T-54/99, Slg. 2002, II-313 Rn. 58 (max.mobil). Vgl. Burgi, in: Rengeling/ Middeke/Gellermann (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 7 Rn. 104; Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 178 f.; Dörr/Lenz, Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 189 f.; Pache, DVBl. 1998, 380 (386); Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, S. 123 (199). 886 EuGH, Rs. C-42/84, Slg. 1985, 2545, 2575 (Remia); Rs. C-7/95, Slg. 1998, I-3111, 3150 (John Deere). Vgl. hierzu Booß, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 230 EGV Rn. 127; Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Hb. Rechtsschutz, § 7 Rn. 106 m. w. N.; Dörr/Lenz, Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 190 m. w. N. 887 Ausführlich zum Ganzen Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 165 ff.; Herdegen/Richter, in: Frowein (Hrsg.), Kontrolldichte, S. 209 ff.; Pache, DVBl. 1998, 380 ff.; Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, S. 123 (197 ff.). 888 So auch Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Verwaltungsrecht, S. 123 (201).

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(2) Rechtsfolgen der Grundsatznormen im Speziellen Das eben Erörterte kann auf die abwehrrechtliche Dimension der Grundsatznormen entsprechend übertragen werden. Union wie Mitgliedstaaten haben die Grundsätze zu achten und sich an diese zu halten (vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC). Maßnahmen dürfen nicht gegen die Grundsatznormen verstoßen.889 Dies gilt auch für solche Rechtsakte, die bereits vor In-KraftTreten der Grundrechtecharta erlassen worden sind.890 Die Grundsätze sind Prüfungsmaßstab für die Frage der Gemeinschaftskonformität von legislativen wie exekutiven Akten der Union und der Mitgliedsstaaten.891 Sie sollen die Union insbesondere davon abhalten, in die mitgliedstaatlichen Sozialstandards einzugreifen und diese abzusenken.892 Darüber hinaus kann sich auch der Einzelne auf die Grundsätze stützen. Ebenso wie herkömmliche Grundrechte vermitteln die unmittelbar anwendbaren Grundsatznormen ein prozessuales Berufungsrecht, die jeweilige Garantie vor Behörden und Gerichten im eigenen Interesse geltend machen zu können. Im Abwehrbereich sind die Grundsatznormen insoweit mit unmittelbar anwendbaren Richtlinienbestimmungen893 vergleichbar. Schließlich, hierauf wurde bereits eingegangen,894 enthalten die Grundsätze auch eine Art relatives Rückschrittsverbot. Die Grundsatznormen sind auf eine stetige Verbesserung angelegt. Werden Umsetzungsmaßnahmen wieder zurückgenommen und verschlechtert sich dadurch das bestehende Schutzniveau, bedarf dies der Rechtfertigung.895 Der Union und den Mit889

So wie hier Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45a; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 85, 95. 890 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 34. 891 So auch Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 37; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 15; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 85; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 57, 136, allesamt aber nur eine rein objektive Normenkontrolle befürwortend. Siehe dazu schon oben Teil 3, III. 4. d) bb) mit Fn. 805. 892 So wie hier Barriga, Entstehung, S. 127, 154; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45a; Braibant, in: BM für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), S. 259 (261); Mayer/Engels, ZRP 2000, 368 (371). 893 Im Unterschied zu den Richtlinienbestimmungen handelt es sich bei den Grundsatznormen aber um Primärrecht. Siehe hierzu schon oben Teil 3, III. 3. b). 894 Siehe oben Teil 3, II. 5. d) bb) (2). 895 So wie hier Braibant, Charte, S. 46, 84 f., 252 f.; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45c; Burgorgue-Larsen, in: ders./Levade/Picod (Hrsg.), Charte, Art. II-112 Rn. 50 ff.; Funk, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 39 (53); Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 827; de Schutter, in: ders./Nihoul (Hrsg.), Droits, S. 112. So wohl auch Bühler, Einschränkung, S. 392 f. m. w. N., die das Rückschrittsverbot jedoch auf Art. 53 GRC stützt. A. A. Jarass, EU-Grund-

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gliedstaaten ist jedoch auch diesbezüglich ein weiter Ermessensspielraum einzuräumen.896 bb) Rechtsfolgen der Grundsatznormen im Leistungsbereich Im Leistungsbereich sind die Grundsatznormen dagegen nicht unmittelbar anwendbar. Konkrete Ansprüche lassen sich aus den Grundsätzen vor deren Umsetzung daher nicht ableiten.897 Im Leistungsbereich bleibt es damit bei den Rechtsfolgen, die sich bereits aus der unmittelbaren Geltung dieser Normkategorie ergeben.898 Erst wenn die Grundsätze konkretisiert worden sind, erhält man gegebenenfalls unmittelbar anwendbare Gewährleistungen, auf die sich dann auch der Einzelne zu stützen vermag. Die Umsetzung der Grundsätze ist überwiegend Aufgabe der Legislative.899 Die Union wird meist Richtlinien erlassen, die die Mitgliedstaaten weiter auszufüllen haben. Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRC eröffnet darüber hinaus aber ausdrücklich auch die Möglichkeit einer Umsetzung durch die Exekutive; hier dürfte insbesondere der Erlass von Ausführungsbestimmungen gemeint sein.900 Eine Ausgestaltung durch die Judikative kommt dagegen wegen Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC nicht in Betracht.901 Auf die Auslegungsalternative (Art. 52 Abs. 5 S. 2 Alt. 2 GRC) wird sogleich noch näher einzugehen sein. Nicht selten ist im Schrifttum902 zu lesen, dass die Grundsatznormen zwingend in Form von subjektiven Rechten konkretisiert werden müssten. Dies ist jedoch – wie oben bereits ausführlich dargelegt wurde903 – nicht richtig. Die meisten Mitgliedstaaten kennen das Institut des subjektivenrechte, § 7 Rn. 35, der nur einen Mindestschutz gewährleistet sehen will, den es nach vorliegender Ansicht bei Grundsätzen aber gerade nicht gibt. 896 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 31 f.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 14; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 827; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 59. Siehe hierzu schon oben Teil 3, III. 4. d) bb) und 4. e) aa) (1). 897 Ganz h. M., vgl. statt vieler Folz, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. II-112 Rn. 12; Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 22. Vgl. die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35. 898 Siehe dazu oben Teil 3, III. 3. c) bb). 899 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 33; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 14. Ausführlich zum Ganzen Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 49 ff. 900 Vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45a; Jarass, EUGrundrechte, § 7 Rn. 33. 901 So wie hier auch Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 51, 53. 902 Vgl. Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 88; Stüber, Jura 2001, 798 (802 f.). Etwas zurückhaltender formuliert es Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 38. Vgl. hierzu auch Masing, Mobilisierung des Bürgers, S. 35 ff. 903 Siehe oben Teil 3, III. 4. c) dd) (3).

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öffentlichen Rechts nicht oder knüpfen jedenfalls daran keine bestimmten Rechtsfolgen. Die Charta verlangt deshalb lediglich die Umsetzung der Grundsätze in Gestalt von unmittelbar anwendbaren Vorschriften, also Vorschriften, die justiziabel sind. Beim „Ob“ und „Wie“ der Umsetzung ist den handelnden Organen wiederum ein weites Ermessen einzuräumen.904 Auch wenn die Art. 51 Abs. 1 S. 2 und 52 Abs. 5 S. 1 GRC die Union und die Mitgliedstaaten zu einer Umsetzung verpflichten,905 kann jedoch bei Unterlassen der Umsetzung nicht auf Erlass von unmittelbar anwendbaren Bestimmungen geklagt werden.906 Dem steht die strukturelle Unbestimmtheit der Grundsätze sowie Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC entgegen. Auch im Leistungsbereich können die Grundsatznormen folglich mit Richtlinienbestimmungen907 verglichen werden, diesmal mit solchen, die nicht unmittelbar anwendbar sind. cc) Exkurs: Pflicht zur grundsatzkonformen Auslegung Weil der Begriff des Umsetzungsaktes noch nicht geklärt gewesen war, musste oben908 offen gelassen werden, inwieweit die Grundsatznormen zu einer grundsatzkonformen Auslegung verpflichten. Nun lässt sich auch diese Frage beantworten. Aufgrund des hier vertretenen, weiten Verständnisses des Begriffs des Umsetzungsaktes müssen die Grundsatznormen bei der Auslegung sämtlicher Rechtsakte berücksichtigt werden, also selbst bei solchen, die den Schutzbereich eines Grundsatzes nur berühren bzw. lediglich einschränkend wirken.909 Art. 52 Abs. 5 GRC bestätigt damit im We904 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 32; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 14. 905 Ganz h. M., wie hier Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 32; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 14; Ladenburger, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 93. Dagegen meint Winkler, Grundrechte, S. 185, dass die Grundsatzbestimmungen der GRC nicht als Handlungsaufträge (insbesondere Rechtsetzungsaufträge), sondern nur als Handlungsgrenzen zu verstehen wären. Sie könnten, müssten aber nicht umgesetzt werden. 906 Ganz h. M., vgl. statt vieler Folz, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. II-112 Rn. 13; Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 279; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 87. Etwas unklar Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 32. Vgl. auch die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35. 907 Im Unterschied zu den Richtlinienbestimmungen handelt es sich bei den Grundsatznormen aber um Primärrecht, siehe hierzu schon oben Teil 3, III. 3. b). 908 Siehe oben Teil 3, III. 3. c) bb) (2) (b). 909 Vgl. hierzu Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 55, der zu Recht auch Primärvorschriften grundsatzkonform auslegen will. Nach hier vertretenem Verständnis ist dies jedoch weniger eine Frage der Auslegung als eine solche der praktischen Konkordanz. Hierauf wird noch einzugehen sein. Siehe unten Teil 4, V. 3.

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sentlichen die Leitentscheidung des EuGH in der Rs. Von Colson,910 in der der Gerichtshof aus Gründen des effet-utile eine möglichst weitgehende (in jenem Fall richtlinienkonforme) Auslegung gefordert hat.911 Entsprechend den bisherigen Ausführungen ist die Verpflichtung zu einer anspruchsverkürzenden grundsatzkonformen Auslegung nicht weiter überraschend. Wenn eine Norm, die gegen einen Grundsatz verstößt, für nichtig erklärt werden kann, kann diese natürlich erst recht bzw., falls der Wortlaut es zulässt, muss sogar grundsatzkonform ausgelegt werden. Bei der anspruchserweiternden Auslegung bedarf die Aussage der Von-Colson-Entscheidung demgegenüber einer Einschränkung. Die Ableitung eines Anspruch direkt aus den Grundsatznormen – dies stellt Art. 52 Abs. 5 GRC ausdrücklich klar – ist nicht möglich. Existiert dagegen bereits eine mehr oder weniger passende Norm, könnte bei Übertragung der bisherigen Rechtsprechung des EuGH912 diese Vorschrift gegebenenfalls grundsatzkonform und somit anspruchserweiternd ausgelegt werden, sodass am Ende die Leistung doch zu gewähren wäre. Dem stünde auch der Wortlaut des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC nicht entgegen, wenn man wie hier den Begriff des Umsetzungsaktes etwas weiter fasst. An den Aussagen der Von ColsonRechtsprechung ist deshalb auch in Bezug auf die Grundsatznormen prinzipiell festzuhalten. Aus der Entstehungsgeschichte des Art. 52 Abs. 5 GRC913, aus Sinn und Zweck dieser Norm sowie aus den Erläuterungen zur Charta914 dürfte sich aber ableiten lassen, dass von der anspruchserweiternden Auslegungswirkung der Grundsätze nur sehr restriktiv Gebrauch gemacht werden sollte. Die Konventsmitglieder wollten mit Art. 52 Abs. 5 GRC gerade verhindern, dass den Mitgliedstaaten ohne entsprechende Umsetzungsakte Leistungsverpflichtungen auferlegt werden (können). Aus diesem Grund dürfen nach vorliegender Ansicht existierende Vorschriften nicht derart weit interpretiert werden, dass man den dann gewährten Anspruch in der jeweiligen Rechtsgrundlage nicht mehr zu erkennen vermag. Das Auslegungsergebnis muss zumindest in der Rechtsgrundlage selbst angedeutet sein. Andernfalls könnte man die Nichteinklagbarkeit der Grundsatznormen im Leistungsbereich durch eine vermehrt extensive Auslegungstätigkeit umgehen. 910

EuGH, Rs. C-14/83, Slg. 1984, 1891 (Von Colson). Im EG-Recht gilt ganz allgemein der Grundsatz der primärrechtskonformen Auslegung, vgl. statt vieler EuGH, Rs. C-374/87, Slg. 1989, 3283 (Orkem); Rs. C-246/80, Slg. 1981, 2311 (Broekmeulen). Vgl. auch Pernice/Mayer, in: Grabitz/ Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 220 EGV Rn. 49 m. w. N.; Weber, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, B V Rn. 5 m. w. N. 912 Vgl. die in der vorstehenden Fn. 911 Genannten. 913 Siehe dazu oben Teil 2, I. 2. b). 914 Abl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35. 911

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Als Beispiel hierfür sei nochmals die Entscheidung in der Rs. Michel S915 angeführt. In diesem Fall, der bereits oben916 ausführlich geschildert wurde, hat der EuGH dem behinderten Sohn eines italienischen Gastarbeiters917 Fördermaßnahmen zur „Herstellung oder Verbesserung der Beschäftigungseignung“ bewilligt, gestützt auf Art. 12 der Verordnung 1612/68918 und den dazugehördenen Begründungserwägungen.919 Es stellt sich die Frage, ob dieses Ergebnis nunmehr auch durch einer grundsatzkonforme Auslegung des Art. 12 der Verordnung 1612/68 i. V. m. Art. 26 GRC920 (Rechte behinderter Menschen) erreicht werden könnte. Art. 12 der Verordnung lautet folgendermaßen: „Die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, können, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Die Mitgliedstaaten fördern die Bemühungen, durch die diesen Kindern ermöglicht werden soll, unter den besten Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen.“ Satz 1 dieses Artikels bezieht sich auf den allgemeinen Unterricht sowie auf die Lehrlings- und Berufsausbildung. Von einer Verpflichtung zur Förderung behinderter Jugendlicher ist nicht die Rede. In dem Begriffspaar „beste Voraussetzungen“ im zweiten Absatz klingt eine solche Förderpflicht für besonders schwache Jugendliche jedoch an. Eine weite Auslegung des Art. 12 der Verordnung 1612/68 und damit die Zuerkennung eines Anspruchs zugunsten des Michel S wäre deshalb heute auch über Art. 26 GRC möglich. Würde in Art. 12 der Verordnung jedoch der zweite Satz fehlen, wäre ein entsprechender Förderanspruch vom Wortlaut der Vorschrift dagegen nicht mehr gedeckt. Über die Hürde der Wortlautgrenze könnte künftig auch Art. 26 GRC nicht hinweghelfen. Eine anspruchserweiternde Auslegung soll nur dann erlaubt sein, wenn sich dafür im Wortlaut der Vorschrift eine Andeutung findet. Ein anderes, weites Verständ915

EuGH, Rs. C-76/72, Slg. 1973, 457. Siehe oben Teil 3, III. 3. c) bb) (2) (a). 917 Dass der Vater zum Zeitpunkt der Klage bereits tot war, soll hier nicht weiter interessieren. 918 Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 v. 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft Abl. EG Nr. L 257 v. 19. Oktober 1968 S. 2 ff. 919 Heute könnte sich Michel S wohl auch direkt auf Art. 12 EGV berufen, vgl. EuGH, Rs. C-456/02, Slg. I-7573 (Trojani), da belgischen Jugendlichen in vergleichbarer Lage stets eine entsprechende Förderung zuteil wurde. 920 Bei dieser Gewährleistung handelt es sich nach ganz herrschender Meinung um einen Grundsatz. Vgl. die Erläuterungen zur Charta Abl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 25 (zu Art. 26 GRC). Vgl. auch Jarass, EU-Grundrechte, § 28 Rn. 9 ff. Ausführlich dazu unten Teil 5, V. 1. o). 916

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nis von grundsatzkonformer Auslegung widerspräche Sinn und Zweck des Art. 52 Abs. 5 GRC. Insoweit enthält Art. 52 Abs. 5 GRC eine Restriktion, um einer extensiven Auslegungstätigkeit durch den EuGH – den bereits mehrfach erwähnten „judicial activism“921 – entgegenzuwirken. dd) Zwischenergebnis (1) Unmittelbar anwendbare Bestimmungen des Gemeinschaftsrecht sind in der Bundesrepublik vollumfänglich justiziabel. Deren Einhaltung kann also auch vom Einzelnen eingefordert werden, falls dieser ein entsprechendes Interesse vortragen kann. (2) Aus diesem Grund sind auch die Grundsatznormen in ihrer abwehrrechtlicher Dimension vollumfänglich justiziabel. Die Einhaltung der Grundsätze kann vom Bürger eingeklagt werden. Insoweit besteht eine Ähnlichkeit mit unmittelbar anwendbaren Richtlinienbestimmungen. (3) Im Leistungsbereich sind die Grundsatznormen dagegen nicht justziabel. Aus ihnen lassen sich keine konkreten Ansprüche auf Leistung ableiten (mit Ausnahme von derivaten Teilhaberechten). Auch kann deren Umsetzung nicht verlangt werden. Grundsatznormen sind in ihrer leistungsrechtlichen Dimension daher mit nicht unmittelbar anwendbaren Richtlinienbestimmung vergleichbar. (4) Neben der Maßstabsfunktion kommt den Grundsatznormen auch eine Auslegungsfunktion zu. Es besteht die Verpflichtung sowohl das Gemeinschaftsrecht als auch sämtliche mitgliedstaatlichen Durchführungsakte grundsatzkonform auszulegen. Infolge der grundsatzkonformen Auslegung darf es aber nicht dazu kommen, dass eine Leistung gewährt wird, die nicht zumindest bereits in der, der Auslegung zugrundeliegenden Vorschrift angedeutet ist. (5) Den Gesetzgebern muss bei Umsetzung von Grundsatznormen ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt werden. 5. Das subjektive Recht im Gemeinschaftsrecht a) Der Begriff des subjektiven Rechts im Sinne des Haftungsrechts Die letzte wesentliche Eigenschaft, mit der eine Norm des Gemeinschaftsrechts beschrieben werden kann, ist nun dann doch die der Subjek921 Vgl. hierzu die Beispiele der effet-utile-Rechtsprechung des EuGH in Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 220 EGV Rn. 46 m. w. N.

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

tivität. Die Kategorie des subjektiven Rechts nimmt nach vorliegender Auffassung im EG-Recht aber bei weitem nicht die Stellung ein wie ihr beispielsweise in der deutschen Rechtsordnung zukommt. Die Qualifizierung einer Norm als subjektives Recht spielt lediglich für die Begründung eines Haftungsanspruchs sowie bei der Rechtsschutzgarantie eine gewisse Rolle. So heißt es in Art. 47 Abs. 1 GRC: „Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.“ Rein objektive Prinzipien werden vom Schutzbereich des Art. 47 GRC demnach nicht erfasst.922 Dies lässt sich damit erklären, dass anders als beim bloßen Eingriff in die Rechtsgüter der Allgemeinheit bei der Verletzung individueller Rechtspositionen dem Einzelnen schon aus logischen Gründen der Rechtsweg offen stehen muss. Die Rechtsschutzgarantie stellt lediglich eine rechtsstaatlich zwingende formell-verfahrensrechtliche Ergänzung der Anerkennung materieller Individualrechtspositionen dar, ergibt sich also bereits aus dem jeweiligen subjektiven Recht selbst,923 gemäß dem Grundsatz „Ubi ius, ibi remedium.“924 Auf dieses feinsinnige Zusammenspiel zwischen Recht und Klagbarkeit kommt es auf europäischer Ebene jedoch nicht an. Ausgerichtet auf das Ziel einer möglichst effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts vertritt der EuGH nämlich – dies konnte oben gezeigt werden925 – eine weite Auffassung von Justiziabilität und lässt, obgleich dies von Art. 47 GRC nicht gefordert wird, auch die Einklagbarkeit rein objektiv-rechtlicher Positionen zu. Art. 47 GRC garantiert folglich nur einen Mindestschutz, der meist durch die weitaus strengere effet-utile-Rechtsprechung des EuGH überlagert und verdrängt wird.926 Wesentlich bedeutsamer für den Begriff des subjektiven Rechts im Gemeinschaftsrecht ist daher die Judikatur des EuGH zum Haftungsrecht927. 922 Ganz h. M., vgl. statt vieler Alber, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 47 Rn. 14 ff.; Blanke, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 47 GRC Rn. 6; Jarass, EU-Grundrechte, § 40 Rn. 7 ff. 923 So fast wörtlich BVerfGE 88, 118 (123). 924 Vgl. hierzu BVerfGE 24, 367 (401); 88, 118 (123); Denninger, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HbStR V, § 113 Rn. 8; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 19 Rn. 11; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art 19 IV Rn. 35. Für die EUGrundrechte ähnlich Alber, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 47 Rn. 16. 925 Siehe oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (1) und Teil 3, III. 4. c) dd). 926 Zum Verhältnis von Effektivitätsgrundsatz und Anspruch auf effektiven Rechtsschutz vgl. jüngst EuGH, Rs. C-432/05 (Unibet), noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht. In anderen Situationen kommt dem Recht auf effektiven Rechtsschutz selbstverständlich nach wie vor eine zentrale Bedeutung zu, vgl. grundlegend hierzu EuGH, Rs. C-222/84, Slg. 1986, 1651 (Johnston).

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Sowohl für die Haftung der Gemeinschaft928 (vgl. nunmehr Art. 41 Abs. 3 GRC) als auch für die der Mitgliedstaaten929 fordert der EuGH neben anderen Voraussetzungen930 die Verletzung einer Norm, die dem Einzelnen Rechte verleiht.931 Die jeweilige Vorschrift des primären oder sekundären Gemeinschaftsrecht, deren Inhalt bestimmt genug sein muss,932 darf nicht nur zum Schutz der Allgemeinheit, sondern muss zumindest auch zum Schutz des Bürgers erlassen worden sein.933 Hiervon – dies wurde oben bereits angesprochen934 – ist die Kategorie der unmittelbaren Anwendbarkeit streng zu unterscheiden; diese ist weder notwendige, noch hinreichende Bedingung für die Begründung eines Haftungsanspruchs.935 Die Kategorie der 927 Und dem dazugehörenden Vehikel der Schadensersatzklage nach Art. 235 i. V. m. 288 Abs. 2 EGV als selbständiger prozessualer Rechtsbehelf. Vgl. Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 235 EGV Rn. 6. 928 Für die Haftung der Gemeinschaftsorgane EuGH, Rs. C-5/71, Slg. 1974, 975 Rn. 11 (Schöppenstedt); Verb. Rs. C-56–60/74, Slg. 1976, 711 Rn. 13 (Kampffmeyer); Gellermann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 20; Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 16 m. w. N.; Schoißwohl, Staatshaftung, S. 230 ff. 929 Für die Haftung der Mitgliedstaaten EuGH, Verb, Rs. C-6, 9/90, Slg. 1991, I-5357 Rn. 40 (Francovich); Verb. Rs. C-178 f., 188 ff./94, Slg. 1996, I-4845 Rn. 30 ff. (Dillenkofer); v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 130; Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 55. 930 Neben der Verletzung eines subjektiven Rechts muss der Verstoß auch hinreichend qualifiziert sein und ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen Rechtsverletzung und Schaden bestehen. Vgl. statt vieler EuGH, Verb. Rs. C-6, 9/90, Slg. 1991, I-5357 (Francovich); Verb. Rs. C-46, 48/93, Slg. 1996, I-1029 Rn. 51 (Brasserie/Factortame); Gellermann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 40 ff.; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 547. 931 Teilweise wird behauptet, der EuGH stelle geringere Anforderungen an die mitgliedstaatliche Haftung als an die Haftung der Gemeinschaftsorgane, um die Nichtumsetzung von Gemeinschaftsrecht zu sanktionieren. So Gratias, Staatshaftung, S. 101 f. m. w. N.; Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 Rn. 55 mit Fn. 196 m. w. N. A. A. wohl EuGH, Verb. Rs. C-46, 48/93, Slg. 1996, I-1029 Rn. 40 f. (Brasserie); v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 130 m. w. N. 932 EuGH, Verb. Rs. C-6, 9/90, Slg. 1991, I-5357 Rn. 40 (Francovich); Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 (Faccini Dori); Diehr, Staatshaftung, S. 98 ff.; Haltern, Europarecht, S. 403; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 555. 933 Vgl. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 69 f., 131; Gellermann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 20; Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 752; Prechal, Directives, 2. Aufl., S. 283 f.; Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 18 m. w. N. 934 Siehe oben Teil 3, III. 4. c) dd) (2). 935 So wie hier EuGH, Verb. Rs. C-6, 9/90, Slg. 1991, I-5357 Rn. 26 ff. (Francovich); Gratias, Staatshaftung, S. 97 m. w. N., 134; Halfmann, VerwArch 2000, 74 (82); Kokott, DV 1998, 335 (353 f.); Pasemann, Subjektive öffentliche Rechte,

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unmittelbaren Anwendbarkeit betrifft die Justiziabilität einer Norm und gehört damit zu den Regelungen des Primärrechtsschutzes, wogegen das Kriterium der subjektiven Rechtsverletzung als zusätzliche Voraussetzung einer Haftung auf der Ebene des Sekundärrechtsschutzes die Anzahl der Haftungsgläubiger begrenzen soll. Unmittelbare Anwendbarkeit ist also eine rein formale, die des subjektiven Rechts dagegen eine materielle Frage.936 Die Zuerkennung eines Schadensersatzes macht der EuGH zulässigerweise von der Verletzung einer subjektiven, dem Kläger zugeordneten Rechtsposition abhängig. Auf der Stufe des Sekundärrechtsschutzes geht es nämlich nicht mehr nur um die effektive Durchführung des Gemeinschaftsrechts, die der EuGH mit der Kategorie der unmittelbaren Anwendbarkeit zu fördern versucht, sondern um einen Ausgleich für die Verletzung individueller Rechtspositionen.937 Die Haftung kommt also immer erst in einem Stadium zum Tragen, in welchem – etwas salopp formuliert – das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Eine solche Differenzierung zwischen Primärund Sekundäransprüche ist im Übrigen nichts Ungewöhnliches. Auch in Frankreich, das einem objektiven Rechtsschutzmodell folgt, wird im Rahmen des Haftungsanspruchs die Verletzung einer individuellen Rechtsposition gefordert. Ähnliches gilt in den anderen Mitgliedstaaten.938 S. 278 m. w. N.; Prechal, Directives, 2. Aufl., S. 108, 283 f.; Schoißwohl, Staatshaftung, S. 232 ff. m. w. N. Ähnlich wohl Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 Rn. 56 a. E. A. A. GA Tesauro in dessen Schlussantrag zur Rs. C-46/93, Slg. 1996, I-1029, 1098 Rn. 56, 1107 Rn. 75, 77 (Brasserie/Factortame); v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 Rn. 131; Böhm, in: Schulze/ Zuleeg (Hrsg.), Hb. Europarecht, § 12 Rn. 118; Gellermann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 Rn. 43 f.; Kopp/Schenke, VwGO, § 42 Rn. 153; Strickrodt, Staatshaftung, S. 99 m. w. N. Die Mehrheit im Schrifttum sieht deshalb keinen Unterschied zwischen dem subjektiven Recht im Sinne des Haftungsrechts und der Kategorie der unmittelbaren Anwendbarkeit, weil diese schon für die unmittelbare Anwendbarkeit ein subjektives Element fordern. 936 Vgl. hierzu auch Prechal, Directives, 2. Aufl., S. 312. 937 Instruktiv zum Ganzen Prechal, Directives, 2. Aufl., S. 312; Schoißwohl, Staatshaftung, S. 232 ff. m. w. N.; Strickrodt, Staatshaftung, S. 96 ff. Ähnlich Schütz/Bruha/König, Casebook, S. 88. Letztere sind jedoch der Meinung, dass im Falle der Haftung die integrative Funktion des Gemeinschaftsrechts (mit den Prinzipien der Einheitlichkeit und Effektivität) und die individualrechtsschützende Funktion zusammenkommen. Vgl. hierzu auch Grzeszick, EuR 1998, 417 (417, 420 m. w. N.); Hidien, Staatshaftung, S. 14 f.; Masing, Mobilisierung des Bürger, S. 48 f.; Scherzberg, Jura 1993, 225 (230 m. w. N.). Zu Recht kritisch gegenüber dieser Kumulierung von Begründungsansätzen v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 313 f. 938 Teilweise wird Schadensersatz nur unter sehr strengen Voraussetzungen gewährt, vgl. die rechtsvergleichenden Ausführungen in Nacimiento, Staatshaftung, S. 84 ff. m. w. N.; Schoißwohl, Staatshaftung, S. 156 ff. m. w. N. So wie hier auch Diehr, Staatshaftung, S. 93; Grzeszick, EuR 1998, 417 (424).

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Bei der Beurteilung der Schutznormqualität einer Bestimmung des EGRechts stellt der EuGH keine allzu großen Anforderungen.939 Es reicht aus, wenn die jeweilige Vorschrift den Bürger begünstigen soll, die Norm also zumindest auch die Interessen des Einzelnen im Auge hat.940 Hier dürften nun die Kriterien anzuwenden sein, die der narrow view bereits bei der Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Norm heranzieht.941 Die Subjektivität einer Gemeinschaftsbestimmung wurde vom EuGH bislang nur sehr selten verneint.942 Eine dieser wenigen Entscheidungen war die Rs. Peter Paul943, der folgender Sachverhalt zugrunde lag: Herr Paul verklagte die Bundesrepublik Deutschland wegen verspäteter Umsetzung der Richtlinie 94/19 sowie unzulänglicher Bankenaufsicht durch das Bundesaufsichtsamt für Kreditwesen. Paul war Kunde der BVH-Bank mit einer Einlage in Höhe von ca. 150.000 Euro. Die Bank war nicht Mitglied eines Einlagensicherungssystems. Nach deren Insolvenz forderte Paul von der BRD Schadensersatz mit dem Argument, dass, wenn die BRD die besagte Richtlinie fristgerecht umgesetzt hätte, die BVH-Bank erstens einem Einlagensicherungssystem mit einer Mindestsicherung von 20.000 Euro hätte angehören und zweitens die Bankenaufsicht gegen die BVH zu einem Zeitpunkt hätte einschreiten müssen, in der er selbst noch keine Einlagen bei der Bank getätigt hatte. Das zuständige Landgericht Bonn verurteilte die BRD zur Zahlung von 20.000 Euro (zzgl. Zinsen) mit der Begründung, dass Paul, wäre die Richt939 EuGH, Verb. Rs. C-56–60/74, Slg. 1976, 711 Rn. 13 ff. (Kampffmeyer). Vgl. auch v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 69 ff.; Gellermann, in: Streinz (Hrg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 20 m. w. N.; Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 18 m. w. N. 940 Vgl. Galetta/Grzeszick, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 41 Rn. 66; Jarass, Grundfragen, S. 119; Prechal, Directives, 2. Aufl. S. 284; Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 18 m. w. N. Eine Auflistung der vom EuGH anerkannten Schutznormen enthält Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 752 ff. Instruktiv auch der Meinungsüberblick bei Strickrodt, Staatshaftung, S. 97 f. 941 Eine rein faktische Begünstigung dürfte wohl nicht ausreichen. Dazu sogleich bei Fn. 948. 942 Ein Haftungsanspruch lässt sich beispielsweise nicht auf Art. 253 EGV (EuGH, Rs. C-106/81, Slg. 1982, 2885 Rn. 14 [Kind]), die Kompetenzvorschriften (EuGH, Verb. Rs. C-178 f., 188 ff./94, Slg. 1996, I-4845 Rn. 34 ff., 38 [Dillenkofer]; Rs. C-282/90, Slg. 1992, I-1937 Rn. 30 ff. [Vreugdenhil]), auf Vorschriften der WTO (EuG, Rs. T-18/99, Slg. 2001, II-913 Rn. 46 ff. [Cordis]; Rs. T-52/99, Slg. 2001, II-981 Rn. [T. Port]) oder Art. 32 IV, 37 EGV (EuG, Rs. T-571/93, Slg. 1995, II-2379 Rn. 41 [Lefebre]) stützen. Vgl. zum Ganzen v. Bogdandy, in: Grabitz/ Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 131 m. w. N.; Pasemann, Subjektive öffentliche Rechte, S. 277 m. w. N.; Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art, 288 EGV Rn. 18. 943 EuGH, Rs. C-222/02, Slg. 2004, I-9425 (Peter Paul).

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linie 94/19 fristgerecht umgesetzt worden, aufgrund der dann existierenden Einlagensicherung von seinem eingelegten Kapital zumindest 20.000 Euro wiederbekommen hätte. Die Klage in Höhe des übrigen Betrages wies das LG dagegen ab, da die Bankenaufsicht nach § 6 Abs. 4 KWG im rein öffentlichen Interesse tätig werde, so dass es an der für einen Haftungsanspruch notwendigen Voraussetzung der Verletzung eines subjektiven Rechts fehle. In der Revision legte der BGH dem EuGH insbesondere die Frage vor, ob eine Regelung wie die des § 6 Abs. 4 KWG gemeinschaftskonform sei. Der EuGH billigte die Entscheidung des LG. Die besagte Richtlinie enthält im Wesentlichen zwei verschiedene Arten von Regelungen, die den Schutz von Bankeinlagen gewährleisten sollen.944 Zum einen werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, zugunsten der Bankkunden ein Einlagensicherungssystem mit einer Mindestdeckungssumme von 20.000 Euro zu errichten, an dem sich alle Banken zu beteiligen haben. Mit dieser Verpflichtung korrespondiert ein subjektives Recht, dessen Verletzung bei nicht fristgerechter Umsetzung der Richtlinie zu einem Haftungsanspruch in Höhe dieser Mindestdeckungssumme gegen die BRD führt. Zum anderen legt die Richtlinie den Mitgliedstaaten aber auch bestimmte Kontrollpflichten auf. Aus diesen Kontrollpflichten könne aber – so der EuGH – nicht abgeleitet werden, dass diese Rechte zugunsten des Einzelnen begründen, mit der Folge eines möglichen Haftungsanspruchs, falls Einlagen von Kunden aufgrund einer unzureichenden Bankenaufsicht nicht mehr verfügbar wären. Die Aufsicht von Banken sei eine komplexe Aufgabe, bei der eine Vielzahl von Interessen – insbesondere die Stabilität der Finanzsysteme – zu berücksichtigen seien, die der Einordnung dieser Aufsichtspflichten als subjektive Rechte entgegenstünden. Zur Begründung nahm der Gerichtshof insbesondere Rekurs auf den 24. Erwägungsgrund der Richtlinie 94/19, in welchem es heißt: „Die Mitgliedstaaten oder ihre zuständigen Behörden können aufgrund dieser Richtlinie den Einlegern gegenüber nicht haftbar gemacht werden, wenn sie für die Einrichtung bzw. die amtliche Anerkennung eines oder mehrerer Systeme Sorge getragen haben, (. . .).“945 Kurzum: Die für einen Haftungsanspruch notwendige subjektive Rechtsverletzung besteht im vorliegenden Fall lediglich in der verspäteten Einführung eines Einlagensicherungssystems. Mängel bei der Überwachung von Banken sind dagegen rein objektiv-rechtlicher Natur, führen also nicht zu einem Entschädigungsanspruch,946 weil die Verpflichtung zur 944

Ausführlich zu dieser Richtlinie Gratias, Staatshaftung, S. 145 ff. EuGH, Rs. C-222/02, Slg. 2004, I-9425 (Peter Paul). 946 Nach hier vertretener Ansicht sind die Aufsichtspflichten demgegenüber unmittelbar anwendbar und damit justiziabel, sofern man in diesen Fällen nicht von einer unmittelbaren Drittwirkung zu Lasten Dritter ausgeht. So wie hier Gratias, Staatshaftung, S. 150 m. w. N. 945

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Bankenaufsicht den Einzelnen zwar möglicherweise faktisch begünstigt, aber rechtlich nicht begünstigen soll. Eine rein tatsächliche Besserstellung reicht für die Begründung eines Haftungsanspruchs aber – dies zeigt der vorliegenden Fall947 – nicht aus.948 b) Grundsatznormen als subjektive Rechte Stellen nun auch die Grundsatznormen subjektive Rechtspositionen dar, bei deren Verletzung der Einzelne Schadensersatz verlangen kann? Dies wird von der ganz herrschenden Meinung949 verneint mit dem Argument, dass die Grundsatznormen schon aufgrund ihres Wortlauts und ihrer systematischen Stellung in der Charta (vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC) von den subjektiv-rechtlichen Grundrechten abgegrenzt werden müssten. Aufgrund ihrer rein objektiv-rechtlichen Qualität könnten die Grundsatznormen nicht Grundlage eines Haftungsanspruchs sein. Warum aus der Gegenüberstellung von Grundrechten und Grundsätzen, die auch der Verfasser anerkennt,950 zwingend eine Nicht-Subjektivität der Grundsatznormen folgen muss, wird von der herrschenden Meinung jedoch nicht weiter begründet. 947

Dass eine gute Bankenaufsicht das Insolvenzrisiko und damit das Risiko des Bankkunden auf Verlust seiner Einlagen mindert und letzteren folglich begünstigt, dürfte unbestritten sein. Gleichwohl ließ der EuGH dies für die Zuerkennung eines subjektiven Rechts nicht ausreichen, wenn er entschied: „Zwar erlegen [. . .] die betreffenden Richtlinien den nationalen Behörden bestimmte Aufsichtspflichten gegenüber den Kreditinstituten auf, doch ergibt sich weder daraus noch aus dem Umstand, dass die genannten Richtlinien auch den Schutz der Einleger bezwecken, zwingend, dass sie Rechte zugunsten der Einleger für den Fall schaffen sollen, dass ihre Einlagen aufgrund einer unzureichenden Aufsicht der zuständigen nationalen Behörden nicht verfügbar sind.“ Nicht vernachlässigt werden darf bei dieser doch sehr strengen Auslegung durch den EuGH, dass die 24. Begründungserwägung eine Haftung der Mitgliedstaaten ausdrücklich ausschließt bzw. die Richtlinie als abschließenden Schutz der Bankkunden die Einlagensicherung vorsieht. Vgl. EuGH, Rs. C-222/02, Slg. 2004, I-9425 Rn. 42 ff. (Peter Paul). 948 So wie hier wohl EuGH, Verb. Rs. C-6, 9/90, Slg. 1991, I-5357 (Francovich); Verb. Rs. C-46, 48/93, Slg. 1996, I-1029 Rn. 51 (Brasserie/Factortame); Gellermann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 288 EGV Rn. 43 f.; Pasemann, Subjektive öffentliche Rechte, S. 275 ff.; Schoißwohl, Staatshaftung, S. 231. A. A. Diehr, Staatshaftung, S. 94 ff.; Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 753 mit Hinweis auf EuGH, Verb. Rs. C-5, 7, 13–24/66, Slg. 1967, 331, 354 f. (Kampffmeyer I), der jedoch nicht erwähnt, dass der EuGH in diesem Fall weiter ausführte: „[. . .] hindert das doch nicht, dass diese Rechtsvorschriften zum Schutz ihrer Interessen bestimmt sein können und im vorliegenden Fall auch sind.“ Unklar Jarass/Beljin, Casebook, S. 78 f. 949 Vgl. statt vieler Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 36; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 86; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 137; Winkler, Grundrechte, S. 185 f. 950 Siehe hierzu schon oben Teil 3, II. 2.

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

Unabhängig von der Frage, ob auch die Grundsatznormen eine subjektive Dimension aufweisen, lässt sich ein Haftungsanspruch jedenfalls nicht auf die Verletzung der leistungsrechtlichen Inhalte der Grundsätze stützen. Dies verbietet schon Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC, wonach die Grundsatznormen nur bei der Auslegung von Umsetzungsakten oder der Entscheidung über deren Rechtmäßigkeit herangezogen werden dürfen. Ließe man einen Haftungsanspruch wegen fehlender Umsetzung von Grundsatznormen durchgehen, würde man die Nichteinklagbarkeit der Grundsätze im Leistungsbereich auf primärrechtlicher Ebene durch Zuerkennen eines Haftungsanspruch auf sekundärrechtlicher Ebene unterlaufen.951 Zudem sind die Leistungsgehalte der Grundsatznormen – wie oben bereits dargelegt – ohnehin viel zu unbestimmt, als dass sie für einen Haftungsanspruch genügen könnten.952 Eine Ausnahme hiervon gilt wiederum dann, wenn und soweit Grundsatznormen in ihrer leistungsrechtlichen Dimension lediglich derivative Teilhabe an bereits vorhandenen Einrichtungen gewähren.953 Wird auf primärrechtlicher Ebene gegen dieses Teilhaberecht verstoßen, kann der Einzelne auf sekundärrechtlicher Ebene – konsequenterweise – den ihm dadurch entstandenen Schaden auch ersetzt verlangen. Im Gegensatz dazu steht Art. 52 Abs. 5 GRC einem Haftungsanspruch wegen Verletzung der Grundsatznormen im Abwehrbereich nicht entgegen, da in diesem Fall gerade über die Rechtmäßigkeit eines Umsetzungsaktes (vgl. Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC) – der Begriff des Umsetzungsaktes ist, daran sei nochmals erinnert,954 weit zu verstehen – befunden werden muss. Art. 52 Abs. 5 GRC schließt die Möglichkeit eines Haftungsanspruchs gerade nicht ausdrücklich aus, obgleich ein solcher Ausschluss ohne Probleme in die Charta hätte aufgenommen werden können. Ferner ist der abwehrrechtliche Schutzbereich der Grundsatznormen bestimmt genug, um hieraus ein subjektives Recht ableiten zu können. Für die abwehrrechtliche Seite der Grundsatznormen wird man also nicht umhinkommen, die Frage beant951 Auf nicht unmittelbar anwendbare Richtlinien ist dieses Argument nicht übertragbar, weil anders als bei der Nichtumsetzung von Richtlinien Art. 52 Abs. 5 GRC den Mitgliedstaaten den Spielraum schaffen soll, bestimmte Grundsätze erst einmal nicht oder jedenfalls nicht so wie vom Bürger gewünscht umzusetzen. 952 Etwas anderes gilt bei Richtlinien. Werden Richtlinien nicht umgesetzt, kann dies – sofern die Voraussetzungen der Francovich-Rechtsprechung gegeben sind – sehr wohl zu einem Haftungsanspruch des durch die Richtlinie begünstigten Bürgers gegen den jeweiligen Mitgliedstaat führen. Der Unterschied zwischen Grundsätzen und Richtlinien erklärt sich daraus, dass im Falle der Nichtumsetzung einer Richtlinie bereits eine Bestimmung, nämlich die Richtlinie selbst, existiert, aus der die Gerichte Begünstigte, Inhalt und Ausmaß der Entschädigung ableiten können. Bei unterlassener Umsetzung eines Grundsatzes ist dies gerade nicht möglich. 953 Siehe oben Teil 3, III. 4. d) bb). 954 Siehe oben Teil 3, III. 4. d) cc).

III. Die Grundsatznormen im Gefüge einer europäischen Dogmatik

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worten zu müssen, ob die Grundsätze der Grundrechtecharta eine gewisse subjektive Dimension aufweisen. Es muss daher geklärt werden, ob die Grundsatznormen zumindest auch den einzelnen Bürger begünstigen (sollen), man also bei Kodifizierung der Grundsätze ebenso den Schutz privater Interessen im Blick hatte. Bei dem Grundsatz auf Umweltschutz aus Art. 37 GRC955 ist dies – wie oben schon kurz angemerkt956 – wohl zu verneinen, weil ein Bürger nie der Betroffene eines ausschließlich die Umwelt berührenden Eingriffs sein kann, Art. 37 GRC demnach nicht den Bürger, sondern nur die Umwelt insgesamt „begünstigen“ will.957 Diese Einordnung ist für den Einzelnen auch nicht von Nachteil, da, wird bei einer umweltrechtlichen Maßnahme das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder das Eigentum eines Bürgers verletzt, der Betroffene ohnehin seinen Schadensersatzanspruch auf die Art. 2, 3 und 17 GRC stützen könnte. Bei allen anderen Grundsatznormen der Charta lassen sich dagegen nach vorliegender Ansicht die Begünstigten der jeweiligen Bestimmungen klar identifizieren. So sind es bei Art. 25 GRC beispielweise die älteren958, bei Art. 26 GRC die behinderten Menschen.959 Die begünstigende Wirkung der Grundsatznormen wird teilweise noch nicht einmal von denen960 geleugnet, die den Grundsätzen aber gleichwohl die Geeignetheit absprechen, Haftungsansprüchen auslösen zu können. Es stehen im Wesentlichen zwei Argumente gegeneinander: Einerseits deutet der Terminus „Grundsatz“, insbesondere im Vergleich zum Terminus 955 Bei der Gewährleistung des Art. 37 GRC handelt es sich nach ganz herrschender Meinung um einen Grundsatz, vgl. die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5). Vgl. auch Calliess, in: ders./ Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 37 GRC Rn. 1, 3; Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 24, § 32 Rn. 3; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 97; Rest, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 37 Rn. 17. 956 Siehe oben Teil 3, III. 4. d) bb). 957 Orth, Grundrecht auf Umweltschutz, S. 279 ff. sieht jedoch durchaus die Möglichkeit, das Art. 37 GRC in Zukunft bei Weiterentwicklung des „Umweltgemeinschaftsrechts“ im Wege richterlicher Rechtsfortbildung eine subjektiv-rechtliche Komponente erhält. 958 Dagegen sind für Becker, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Die Implementierung internationaler Sozialstandards, S. 139 (164) die Begünstigten des Art. 25 GRC nicht ganz klar, weil nicht nur alte, sondern ältere Menschen geschützt werden. 959 Bei diesen Gewährleistungen handelt es sich nach ganz herrschender Meinung um einen Grundsatz, vgl. die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5). Vgl. auch statt vieler Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 29; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 Rn. 100; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 Rn. 16. 960 So ausdrücklich beispielsweise Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 22, 36.

304

Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

„Grundrecht“, tatsächlich darauf hin, dass es sich bei den Grundsatznormen anders als bei den herkömmlichen Grundrechten nicht um subjektive Rechte im Sinne des Haftungsrechts handelt. Art. 47 GRC scheint diese Sichtweise zu bestätigen, indem die Vorschrift die Grundsätze unerwähnt lässt. Andererseits machen die Erläuterungen zur Charta961, die aufgrund des Art. 52 Abs. 7 GRC auch gebührend berücksichtigt werden müssen,962 aber klar, dass die Grundsatznormen in ihrer rechtlichen Wirkung weitgehend mit dem agrarrechtlichen Grundsatz der Marktstabilisierung aus Art. 33 Abs. 1 lit. c EGV und dem umweltrechtlichen Vorsorgeprinzip aus Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV übereinstimmen. Wie oben bereits ausführlich behandelt,963 hält der EuGH Schadensersatzklagen gestützt auf diese beiden Prinzipien jedoch grundsätzlich für möglich und erkennt damit eine gewisse subjektiv-rechtliche Dimension dieser Vorschriften an.964 Beispielhaft hierfür ist die Entscheidung Kampffmeyer II965. Dort prüfte sowohl der EuGH als auch der Generalanwalt im Rahmen einer Haftungsklage sehr ausführlich den möglichen Verstoß gegen Art. 33 Abs. 1 lit. c EGV, lehnten den Anspruch aufgrund eines weiten Ermessensspielraums der handelnden Organe im Ergebnis aber ab. Wäre der EuGH und der Generalanwalt der Auffassung gewesen, eine Missachtung des Art. 33 EGV würde unter keinen Umständen zu einem Schadensersatzanspruch berechtigen, hätten sie wohl kaum solch ausführliche Anmerkungen zur Rechtswidrigkeit der besagten Maßnahme gemacht.966 Zudem hat der Gerichtshof von Privaten erhobene Nichtigkeitsklagen, die sich auf den Grundsatz der Marktstabilisierung gestützt hatten, wiederholt unter Hinweis auf die Möglichkeit, eine Schadensersatzklage zu erheben, als unzulässig abgewiesen.967 Dies zeigt, dass der EuGH offensichtlich davon ausgeht, dass die Verletzung des Prinzips 961

ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5). Siehe hierzu oben Teil 2, I. 1. 963 Siehe oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (2) (a) und (b). 964 So wie hier auch Doyle/Carney, EELR 1999, 44 (46); Pechstein, EU-/EGProzessrecht, Rn. 753. A. A. GA Capotorti in dessen Schlussantrag zu EuGH, Rs. C-83/76, Slg. 1978, 1209 auf S. 1230 f. (Magermilchpulver); Priebe, in: Grabitz/ Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 6. A. A. auch Orth, Grundrecht auf Umweltschutz, S. 48 f., obgleich zugebend, dass „eine Tendenz zu einer generellen Stärkung der Rechte des einzelnen Bürgers zu beobachten ist.“ 965 EuGH, Verb. Rs. C-56–60/74, Slg. 1976, 711 Rn. 12 (Kampffmeyer II) mit Schlussantrag von GA Reischl. Vgl. auch EuGH, Rs. C-63–69/72, Slg. 1973, 1129 (Werhahn). 966 In der Entscheidung EuGH, Rs. C-83/76, Slg. 1978, 1209 (Magermilchpulver) hat der EuGH zwar einen Verstoß gegen Art. 33 Abs. 1 lit. c EGV angenommen, diesen aber als nicht hinreichend genug qualifiziert angesehen, um einen Haftungsanspruch zusprechen zu können. 967 Vgl. nur EuGH, Rs. C-97/85, Slg. 1987, 2265 Rn. 7 (Union Deutsche Lebensmittelwerke); Rs. C-27/85, Slg.1987, 1129 (Vandemoortele). 962

III. Die Grundsatznormen im Gefüge einer europäischen Dogmatik

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der Marktstabilisierung den Einzelnen zum Schadensersatz berechtigen kann.968 Diese Rechtsprechung und die Tatsache, dass sich bei allen Normen der Charta (mit Ausnahme der Verpflichtung zum Umweltschutz aus Art. 37 GRC) die jeweils Begünstigen eindeutig erkennen lassen, drängt dazu,969 auch die sog. Grundsätze der Grundrechtecharta als subjektive Rechte im Sinne des europäischen Haftungsrechts einzustufen.970 Das Wortlautargument der herrschenden Meinung vermag nicht zu überzeugen, zumal die Verletzung einiger sehr bedeutenden Grundsatzbestimmungen (z. B. des Grundsatzes auf effektiven Rechtsschutz oder des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes)971 unzweifelhaft zum Schadensersatz berechtigt. Dass Art. 47 GRC die Grundsatznormen nicht erwähnt, taugt ebenso wenig als Argument gegen die hier vertretene Ansicht. Hätte man das Recht auf effektiven Rechtsschutz auf die Grundsätze erstreckt, hätte dies möglicherweise dahingehend missverstanden werden können, dass unter bestimmten Umständen die Umsetzung von Grundsätzen doch eingeklagt werden kann. Eine solche Regelung wäre in einen nur schwer aufzulösenden Widerspruch zu Art. 52 Abs. 5 GRC getreten. Im Übrigen wird die Garantie des Art. 47 GRC ohnehin mehr oder weniger von der Rechtsprechung des EuGH zur möglichst effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts verdrängt,972 so dass man gut daran tat, auf eine Erweiterung des Art. 47 GRC um die Grundsätze zu verzichten und es bei der klarstellenden Reglung des Art. 52 Abs. 5 GRC zu belassen. Die hier bevorzugte Deutung der Grundsätze beachtet nicht nur – wie von Art. 52 Abs. 7 GRC vorgegeben – die Ausführungen der Erläuterungen zur Charta, sie erkennt gleichzeitig auch die Bedenken von Mitgliedstaaten wie Großbritannien und Deutschland an, die einer umfassenden 968 So auch Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 753 unter Berufung auf EuGH, Verb. Rs. C-56–60/74, Slg. 1976, 711 Rn. 12 (Kampffmeyer II). A. A. GA Capotorti in dessen Schlussantrag zu EuGH, Rs. C-83/76, Slg. 1978, 1209 auf S. 1230 f. (Magermilchpulver); Priebe, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 EGV Rn. 6. Gleichwohl muss zuzugeben werden, dass sich der EuGH bislang noch nicht ausdrücklich zur subjektiv rechtlichen Qualität des Grundsatzes der Marktstabilisierung und des Vorsorgeprinzips bekannt hat. 969 Manche würde möglicherweise zusätzlich den effet-utile-Gedanken heranziehen, um die Subjektivität der Grundsatznormen zu rechtfertigen. Gegen diese Kumulierung von Begründungsansätzen aber zu Recht v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 313 f. 970 Interessanterweise bezeichnet selbst Lord Goldsmith die Grundsatznormen als eine neue Form von Rechten, vgl. Lord Goldsmith, CMLRev. 2001, 265 (276 f.). 971 Zu den Begrifflichkeiten siehe oben Teil 2, III. 1. c). 972 Siehe oben Teil 3, III. 4. c) dd) (2).

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Teil 3: Theorie der Grundsatznormen

primär- wie sekundärrechtlichen Justiziabilität der Grundsatznormen von Anfang an ablehnend gegenüberstanden.973 Die in diesem Kapitel herausgearbeitete Theorie einer geteilten Normativität der Grundsatznormen minimiert einerseits die rechtliche Relevanz wie auch – damit unmittelbar zusammenhängend – die fiskale Gefahr leistungsrechtlicher Inhalte dieser Normgruppe, maximiert aber auch andererseits deren Bedeutung als Abwehrrechte und stellt sie in ihrer Wirkung insoweit herkömmlichen Grundrechten gleich. So erhält man eine Grundrechtecharta, die unter Berücksichtigung des Mandates von Köln974 auf die Normierung von reinen Zielbestimmungen verzichtet und ausschließlich975 subjektive Gewährleistungen garantiert. 6. Ergebnis Die Grundsatznormen können nach alledem folgendermaßen beschrieben werden: Grundsätze sind ausschließlich in der Grundrechtecharta anzutreffende (verbindliche) subjektiv-rechtliche Normen des europäischen Primärrechts, denen unmittelbare Geltung und in ihrer abwehrrechtlichen Dimension auch unmittelbare Anwendbarkeit zukommt. Missachten die Union oder die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich der Charta den abwehrrechtlichen Gehalt einer Grundsatznorm (mit Ausnahme der Verpflichtung zum Umweltschutz aus Art. 37 GRC), kann sich hieraus – sofern die anderen Voraussetzungen erfüllt sind – ein Haftungsanspruch ergeben. Im Abwehrbereich sind die Grundsatznormen mit herkömmlichen Grundrechten demzufolge weitgehend vergleichbar, aber eben nicht identisch (im weiteren Verlauf der Arbeit als Ähnlichkeitsthese bezeichnet). Im Leistungsbereich, in welchem der Schwerpunkt der Grundsätze zu sehen ist, sind diese dagegen nicht justiziabel; ein Haftungsanspruch wegen fehlender Umsetzung der Grundsätze ist nicht möglich (mit Ausnahme bei derivativen Teilhabegarantien). Insoweit besteht eine Parallele zu den speziellen Zielbestimmungen des EG-Vertrags (z. B. dem agrarrechtlichen Grundsatz der Marktstabilisierung oder – mit Einschränkungen – auch dem umweltrechtlichen Vorsorgeprinzip). Die Grundsatznormen lassen sich in das Normengefüge des europäischen Primärrechts damit wie folgt einordnen:

973

Zu den Diskussionen in den beiden Konventen siehe oben Teil 2, I. 2. Anhang IV der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates zu Köln v. 3./4. Juni 1999, Bulletin EU 6-1999, Anhang IV, I.64. 975 Mit Ausnahme des Art. 45 Abs. 2 GRC, siehe hierzu unten Teil 5, V. 3. c). 974

III. Die Grundsatznormen im Gefüge einer europäischen Dogmatik

307

Normen des europäischen Primärrechts verbindlich unmittelbar geltend

„Rechte des Bürgers“ a)

„Pflichten des Bürgers“

„Pflichten der Union“

(z. B. Art. 81, 82 EGV)

unmittelbar anwendbar

subjektives Recht b)

Grundrechte Grundfreiheiten grundfreiheitsähnliche Rechte Grundsätze (z. B. rechtsstaatliche, Art. 33 lit. c, 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV)

nicht unmittelbar anwendbar

kein subjektives Recht b)

objektiv rechtliche Grundsätze, z. B.: • Art. 253 EGV • Kompetenznormen • der Grundsatz des Art. 37 GRC

kein subjektives Recht b)

allgemeine Strukturprinzipien/ Zielbestimmungen

Grundsätze i. S. d. Art. 52 Abs. 5 GRC a) Rechte im weiteren Sinne, d. h. auch rein prozessuale Berufungsrechte. b) Recht im Sinne der Haftungsvorschriften.

Schema 2: Die Grundsatznormen im Normengefüge des europäischen Primärrechts

Teil 4

Allgemeine Grundsatzlehren In diesem Teil 4 wird auf einige wenige allgemeine Fragen zur Dogmatik der Grundsatznormen eingegangen. In Anlehnung an die Terminologie bei den Grundrechten ist dieses Kapitel mit „Allgemeine Grundsatzlehren“ überschrieben. Es werden nur solche Aspekte angesprochen, die im Bezug auf die Grundsatznormen besonders interessant und relevant erscheinen, beispielsweise weil sich die Grundsätze insoweit von den anderen Normkategorien1 unterscheiden. Ansonsten sei auf die zahlreichen Ausführungen zur Dogmatik der Grundrechte verwiesen,2 welche sich nach hier vertretener Ansicht größtenteils auf die Grundsatznormen übertragen lassen. Wie im vorstehenden Kapitel gezeigt, sind die Grundsätze nämlich mit den herkömmlichen Grundrechten in vielerlei Hinsicht vergleichbar (sog. Ähnlichkeitsthese).3 Im Folgenden wird im Wesentlichen der dreistufige Prüfungsaufbau aus dem deutschen Verfassungsrecht übernommen, weil sich dieser bewährt und in keinem anderen Staat – soweit bekannt – bislang eine sinnvolle Alternative hierzu entwickelt worden ist. Ein Widerspruch zur obigen Forderung4 nach einer eigenständigen Dogmatik des Europarechts besteht damit nicht. Ob der EuGH in Zukunft tatsächlich diesen strengen Prüfungsaufbau wählen wird, bleibt abzuwarten.

I. Sachlicher Schutzbereich In der Europäischen Grundrechtecharta sind 52 Artikel mit einer deutlich größeren Anzahl an verschiedenen Schutzbereichen zusammengefasst. Der 1

Zu den verschiedenen Normkategorien siehe ausführlich oben Teil 2, III. 1. Vgl. statt vieler Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte; Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte; Stieglitz, Allgemeine Lehren; Winkler, Grundrechte. 3 Dagegen bedarf nach Jarass’ Auffassung, die Stufenprüfung von Schutzbereich, Beeinträchtigung und Rechtfertigung bei den Grundsatznormen deutlicher Modifikationen. Diese Ansicht erklärt sich daraus, dass Jarass die Grundsatznormen als rein objektive Bestimmungen einstuft, auf die sich der Einzelnen nicht oder nur eingeschränkt stützen könne, vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 40. Ähnlich Winkler, Grundrechte, S. 58. 4 Siehe oben Teil 2, II. 2

I. Sachlicher Schutzbereich

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EuGH hat sich bislang wenig Mühe gemacht, die einzelnen Schutzbereiche – bis dato betraf dies nur die Grundrechte – zu definieren, klar voneinander abzugrenzen und schließlich die in Frage stehenden Handlungen oder Unterlassungen der Union oder der Mitgliedstaaten unter die jeweiligen Schutzbereiche zu subsumieren.5 Dieser Pragmatismus lässt sich damit erklären, dass der Gerichtshof unabhängig von der Frage, welcher Schutzbereich im konkreten Fall betroffen ist, die angegriffenen Maßnahmen ohnehin meist nur am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz misst.6 In Zukunft wird der EuGH deutlich genauer die einzelnen Schutzbereiche der Charta abstecken müssen, weil die Charta eben nicht nur herkömmliche Grundrechte, sondern auch Grundsätze enthält, und an der Einordnung der jeweiligen Bestimmung unterschiedliche Rechtsfolgen geknüpft sind. Obgleich nach hier vertretenem Verständnis die beiden Normkategorien in ihrer abwehrrechtlichen Dimension weitgehend ähnlich ausgestaltet und mit vergleichbarer Durchsetzungsfähigkeit ausgestattet sind, bleibt aufgrund des Art. 52 Abs. 5 GRC eine Differenzierung zwischen beiden Normgruppen verpflichtend. Ein Sonderproblem stellt die bei einigen Chartabestimmungen anzutreffende Formulierung dar, die jeweilige Garantie werde „nach den einzelstaatlichen Gesetzen“7 oder „nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“8 gewährleistet. Art. 52 Abs. 6 GRC betont nochmals die Bedeutung dieser Ausgestaltungs- oder Regelungsvorbehalte.9 Eine solche Formulierung findet sich sowohl bei den 5 Vgl. statt vieler EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (Schmidberger) vs. EuGH, Rs. C-274/99, Slg. 2001, I-1611 (Connolly). Vgl. zur Auslegung der Schutzbereiche Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn, 9 ff. m. w. N.; Stieglitz, Allgemeine Lehren, S. 112 ff. m. w. N.; Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 7 Rn. 1 ff. 6 EuGH, Rs. C-18/63, Slg. 1964, 175 (Schmitz-Wollast); Rs. C-265/87, Slg. 1989, 2237 (Schräder). Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 8; Kühling/Lieth, EuR 2003, 371 ff.; Stieglitz, Allgemeine Lehren, S. 112 ff., 118 ff.; Szczekalla, in: Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 7 Rn. 2. 7 Vgl. Art. 9, 10, 14 Abs. 3 und 35 GRC. 8 Vgl. Art. 16, 27, 28, 30, 34 Abs. 1 und 3 GRC. 9 Vgl. zur Terminologie bei Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 29; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 49. Art. 52 Abs. 6 GRC selbst kommt aber wohl nur eine deklaratorische Bedeutung zu, was sich an dem Zusatz „wie es in dieser Charta bestimmt ist“ ergibt. So wie hier ganz h. M., vgl. statt vieler Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 46; Burgorgue-Larsen, in: ders./Levade/Picod (Hrsg.), Charte, Art II-112 Rn. 38; Eisner, Schrankenregelung, S. 155; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 103; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 13. A. A. nur Dorf, JZ 2005, 126 (130).

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Teil 4: Allgemeine Grundsatzlehren

echten Grundrechten als auch bei den Grundsätzen.10 Jene taugt folglich nicht als Abgrenzungskriterium zwischen den beiden Normkategorien.11 Die „Gepflogenheits-Formel“ führt dazu, dass nationale Standards künftig auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene grundrechtlich geschützt werden.12 Veranschaulichen lässt sich dies anhand des Grundrechts auf Ehe und Familie aus Art. 9 GRC. Da der Union auf diesem Gebiet keine Kompetenz zukommt,13 bestimmt sich der Inhalt dieser Garantie nach den einzelstaatlichen Gesetzen. Sinn der Ausgestaltungsvorbehalte ist es, dass einzelstaatlich geschützte Institute wie Ehe und Familie nicht durch Gemeinschaftsrecht ausgehöhlt werden können.14 Die „Gepflogenheits-Formel“ wirkt sich damit bereits auf den Schutzbereich der jeweiligen Chartabestimmung aus.15 Des Weiteren stellt der Vorbehalt aber wohl auch eine zusätzliche Schranke dar, die neben16 die allgemeine Schrankenbestimmung des Art. 52 10 Vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 46b; Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 29. 11 A. A. scheinbar Lord Goldsmith, CMLRev. 2001, 1201 (1213), der jedoch mit seiner Ansicht in Widerspruch zu Art. 16 GRC gerät, den er selbst als Grundrecht einordnet. 12 So auch Dorf, JZ 2005, 126 (130). 13 Vgl. v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 379; Bernsdorff, VSSR 2001, 1 (18); Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 46b; Bühler, Einschränkung, S. 396 f.; Kokott, in: Mertens/Papier (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 22 Rn. 30; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 102. 14 A. A. wohl Kokott, in: Merten/Papier (Hrsg.), Hb. Grundechte I, § 22 Rn. 30, nach deren Ansicht die „Gepflogenheits-Formel“ lediglich deklaratorischen Charakter zukomme, weil die Union für diese Gesetzesmaterien ohnehin über keine Kompetenz verfüge. Dabei dürfte Kokott übersehen, dass diese Art von Chartagewährleistungen gerade vor Rechtsakten schützen solle, für die der Gemeinschaft eine Kompetenz zukommt, die sich aber gleichwohl negativ auf nationale Grundrechtsstandards (z. B. Ehe und Familie) auswirken. Beispielsweise wird das Streikrecht nationale staatlich garantiert. Wegen Art. 28 GRC müssen es nun auch die Gemeinschaftsorgane beachten. Insoweit problematisch sind deshalb die Entscheidungen des EuGH in der Rs. C-438/05, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht (Vinking) und Rs. C-341/05, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht (Laval). Ähnlich unbedeutend halten Gewährleistungen mit Regelungsvorbehalt Pache, EuR 2001, 475 (481); Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 27 Rn. 28. 15 So auch Dorf, JZ 2005, 126 (130); Eisner, Schrankenregelung, S. 134; Große Wentrup, Europäische Grundrechtecharta, S. 90 ff.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 49. A. A. wohl v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 378 f. und Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 107. Letzterer will die Auswirkungen auf den Schutzbereich deshalb verneinen, um einen von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat differierenden Grundrechtsstandard zu verhindern. Ähnlich Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 29. Differenzierend wohl Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, S. 257 ff., der die Gepflogenheitsformel zwar bei Art. 9 GRC, aber nicht bei Art. 16 GRC als eine Ausgestaltung des Schutzbereichs interpretiert.

I. Sachlicher Schutzbereich

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Abs. 1 GRC tritt (sog. vertikale Schranke)17.18 Die Institute Ehe und Familie, um bei dem Beispiel zu bleiben, verdienen auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene nämlich selbstverständlich keinen stärkeren Schutz als auf mitgliedstaatlicher Ebene, von der sie kommen, sodass die jeweiligen nationalen Schranken als zusätzliche Rechtfertigungsmöglichkeit dienen (können).19 Folge eines Ausgestaltungs- und Regelungsvorbehalts wäre es demnach eigentlich, dass die Union stets auch einzelstaatliche Besonderheiten zu beachten hätte, die von Land zu Land variieren können und sich meist im steten Wandel befinden.20 Ein einheitlicher Grundrechtsschutz für die gesamte Union würde damit unmöglich werden.21 Erst wenn ein Mindestschutz in nahezu allen Mitgliedstaaten anerkannt wäre, ergäbe sich auch für diese Chartabestimmungen nach Art 52 Abs. 4 GRC ein einheitlicher Grundrechtsstandard. Die Bedeutung des Ausgestaltungs- und Regelungsvorbehalts ist bislang noch nicht völlig geklärt.22 Es bleibt abzuwarten, ob 16 So wie hier Brecht, ZEuS 2005, 355 (369 f.); Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 29 m. w. N.; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 111; Röder, Gesetzesvorbehalt, S. 102 m. w. N. Krit. Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (3). A. A. (Art. 52 Abs. 1 subsidiär zu den anderen Absätzen des Art. 52 GRC) Barriga, Entstehung, S. 157; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 13 m. w. N.; Bühler, Einschränkungen, S. 262 f., 391; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 8; Triantafyllou, CMLRev. 2002, 53 (56). 17 Vgl. Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 9 Rn. 17, Art. 16 Rn. 15; Calliess, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20 Rn. 18; Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 29 m. w. N.; Schwier, Der Schutz der unternehmerischen Freiheit, S. 257 f. Siehe hierzu auch unten Teil 4, V. 1. und 2. 18 So wohl auch EuGH, Rs. C-341/05, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 92 (Laval); Rs. C-438/05, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 44 (Viking), jeweils mit Hinweis auf die Beschränkbarkeit im nationalen Recht. Vgl. auch Bühler, Einschränkungen, S. 373 f.; Dorf, JZ 2005, 126 (130); Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 108. A. A. Eisner, Schrankenregelung, S. 135, nach deren Auffassung sich die „GepflogenheitsFormal“ ausschließlich auf den Schutzbereich einer Chartabestimmung beziehe. 19 Noch nicht ganz geklärt ist, ob der Regelungsvorbehalt auch auf die nationalen Schranken-Schranken verweist, oder sich diese ausschließlich aus Art. 52 Abs. 1 GRC ergeben. Vgl. hierzu Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 16, 46c; Bühler, Einschränkungen, S. 373 f. 20 Deshalb will Schmitz diese Gewährleistungen lediglich als „normative Hülle“ begreifen, vgl. Schmitz, JZ 2001, 833 (841). A. A. wohl Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 49. 21 So auch Calliess, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20 Rn. 18; Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 29; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 104 ff. m. w. N.; Magiera, DÖV 2000, 1017 (1026). 22 Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Art. 52 Rn. 106 will einen differierenden Grundrechtsschutz dadurch vermeiden, dass er den Regelungsvorbehalt nur als Verpflichtung zu einer verstärkten rechtsvergleichenden Auslegung versteht.

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Teil 4: Allgemeine Grundsatzlehren

der EuGH einen von Mitgliedstaaten zu Mitgliedstaat differierenden Grundrechtsstandard tatsächlich akzeptiert und damit sein, von ihm selbst aufgestelltes Gebot von der materiellen Einheit und Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts aus der Entscheidung Hauer23 für diesen Fall relativiert.24 Die Darstellung des Schutzbereichs einer jeden einzelnen Chartabestimmung kann an dieser Stelle nicht geleistet werden; eine solche ist für die vorliegende Arbeit auch nicht notwendig. Die genaue Abgrenzung zwischen Grundrechten und Grundsätzen erfolgt (erst) im fünften Kaptitel.

II. Grundsatzberechtigte Nach hier vertretenem Verständnis kann man im Zusammenhang mit den Grundsatznormen analog zu den Grundrechten von Grundsatzberechtigten sprechen und muss nicht auf den Begriff des Begünstigten ausweichen (mit Ausnahme beim tatsächlich rein objektiv rechtlichen Art. 37 GRC)25.26 Grundsatzberechtigt sind alle natürlichen Personen,27 sofern der Anwendungsbereich der Grundsatzbestimmung nicht ausdrücklich eingegrenzt ist.28 Grundsatzberechtigt sind auch Gesellschaften, falls der jeweilige Grundsatz auf diese wesensmäßig angewendet werden kann.29 Einzelheiten Ähnlich Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 29 f., der in den Fällen des Regelungsvorbehalts Eingriffe für leichter rechtfertigbar hält. Triantafyllou, CMLRev. 2001, 53 (61), sind in der Formulierung dagegen eine Relativierung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts. 23 EuGH, Rs. C-44/79, Slg. 1979, 3727 Rn. 14 (Liselotte Hauer). Siehe hierzu auch oben Teil 2, II. 24 Insoweit auch problematisch Art. 53 GRC a. E. Vgl. hierzu Seidel, EuZW 2003, 97. 25 Siehe hierzu oben Teil 3, III. 5. b). 26 A. A. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 22, 40. 27 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 29; Jarass, EU-Grundrechte, § 4 Rn. 22; Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 6 Rn. 5 ff. 28 Beispielsweise sind manche Rechte nur den Unionsbürgern vorbehalten (z. B. Art. 15 Abs. 2, 39 ff. GRC) oder berechtigen ausschließlich Arbeitnehmer (z. B. Art. 27 ff. GRC), Arbeitgeber (Art. 28) oder Kinder, ältere bzw. behinderte Menschen (z. B. Art. 24 ff., 32 GRC). Vgl. zum Ganzen Ladenburger, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 2. 29 In der Rechtsprechung findet sich diese Formulierung bislang nicht. Im Ergebnis aber ähnlich EuGH, Verb. Rs. C-46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859 (Hoechst); Verb. Rs. C-97–99/87, Slg. 1989, 3165 (Dow Chemical). So wie hier Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 30; Jarass, EU-Grundrechte, § 4 Rn. 27 ff.; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 204.

II. Grundsatzberechtigte

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sollen hier nicht weiter interessieren.30 Zu einer möglichen Grundrechtsbzw. Grundsatzfähigkeit von juristischen Personen des öffentlichen Rechts hat der EuGH bislang noch nicht Stellung genommen. In vielen Mitgliedstaaten der Europäischen Union wird eine solche bejaht,31 in manchen Ländern wie beispielweise in der Bundesrepublik aber verneint. Der EGMR lehnt eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts ab, was aufgrund der ausdrücklichen Regelung des Art. 34 EMRK nicht wundert.32 Ohne hier auf die Frage der Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts vertieft33 eingehen zu können, wird man eine solche entgegen der ganz herrschenden Meinung im deutschen Schrifttum über die reinen Verfahrensrechte hinaus34 wohl aber annehmen müssen.35 Das gegen eine Grundrechtsfähigkeit vorgebrachte Konfusionsargument trägt im Verhältnis zwischen EU und nationalen Einrichtungen nämlich nicht.36 Die Europäische Gemeinschaft muss ihre Maßnahmen auch gegenüber den Mitgliedstaaten legitimieren. Zudem scheint die Aussage des Art. 48 EGV, wonach sich juristische Personen des öffentlichen Rechts auf die Grundfreiheiten stützen können, auf die Gemeinschaftsgrundrechte übertragbar zu sein. 30 Ausführlich zum Ganzen v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 164 ff. m. w. N.; Zimmerling, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Anh. zu Art. 6 EUV Rn. 31 ff. m. w. N. 31 Vgl. zu den rechtsvergleichenden Aspekten Crones, Grundrechtlicher Schutz, S. 67 ff. m. w. N.; Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 142 f. mit Fn. 516 ff. 32 EGMR v. 7. Januar 1991 (Stadtverwaltung Madrid), Nr. 15090/89. Vgl. hierzu auch Peukert, in: Frowein/ders. (Hrsg.), EMRK, Art. 25 a. F. Rn. 16; Stieglitz, Allgemeine Lehren, S. 39 f. m. w. N. Ausführlich hierzu v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 222 f. m. w. N. 33 Ausführlich hierzu v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 221 ff. m. w. N.; Crones, Grundrechtlicher Schutz; Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 142 ff. 34 Dass sich juristische Personen des öffentlichen Rechts auf die Verfahrensgrundrechte stützen können, ist nahezu unstreitig, vgl. statt vieler EuGH, Rs. C-377/99, Slg. 2002, I-7421 (Deutschland/Kommission); Rs. C-301/87, Slg. 19990, I-307 (Frankreich/Kommission); v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 225 f.; Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 6 Rn. 23; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 205. 35 So wie hier Crones, Grundrechtlicher Schutz, S. 144 ff., 173 m. w. N.; Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 142 ff. m. w. N. Offengelassen von Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 4. A. A. h. M., vgl. Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 30; Jarass, EU-Grundrechte, § 4 Rn. 32 ff.; Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 6 Rn. 23 m. w. N.; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 205; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 201. 36 Ähnlich Crones, Grundrechtlicher Schutz, S. 173. A. A. Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 190, 205.

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Teil 4: Allgemeine Grundsatzlehren

Selbst wenn man dies anders sähe, könnte sich die juristische Person des öffentlichen Rechts nach hier vertretenem dogmatischen Verständnis gemeinschaftsrechtlich determinierter subjektiver Rechte jedenfalls deshalb auf die Grundsatznormen berufen, weil es sich bei den Grundsatznormen selbstverständlich auch um objektives Recht handelt, welches die jeweilige juristische Person des öffentlichen Rechts bei Geltendmachung durchsetzen hilft (effet utile-Gedanke). Derjenige, der sich auf eine Rechtsnorm stützt, muss, wie im vorherigen Kapitel gezeigt werden konnte, im Gemeinschaftsrecht nicht notwendig auch Rechtsinhaber sein.37 Konkret heißt das, dass beispielsweise eine Gemeinde gestützt auf den Umweltschutzgrundsatz aus Art. 37 GRC gegen eine für sie nachteilige Richtlinie oder Verordnung vorgehen kann. Eine Geltendmachung scheidet nur dann aus, wenn Berechtigter und Verpflichteter ein und dieselbe juristische Person wären.38 Das hier vertretene Verständnis mag zwar auf den ersten Blick gewöhnungsbedürftig erscheinen, doch ist sie konsistent mit der Auffassung der Gemeinschaftsgerichte, die erstens den regionalen Gebietskörperschaften eine Klagebefugnis im Rahmen der Nichtigkeitsklage nach § 230 Abs. 4 EGV zubilligen,39 und sodann zweitens erlauben, dass die Antragsteller jeglichen Nichtigkeitsgrund und damit auch den Verstoß gegen Grundrechte (und künftig Grundsätze) vorbringen können.40 Der Rechtsschutz vor dem mitgliedstaatlichen Gerichten darf nicht weniger effektiv ausgestaltet sein.41

III. Grundsatzverpflichtete 1. Die Union und die Mitgliedstaaten Nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC gilt die Charta – und damit auch die Grundsätze – für die Union und die Mitgliedstaaten, letztere ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Einige Bestimmungen der Charta richten sich gemäß deren Wortlaut jedoch nur gegen die Union alleine (z. B. Art. 25, 26, Art. 37 und 38 GRC). Ob aus diesen Formulierun37

EuGH, Rs. C-87–89/90, Slg. 1991, I-3757 (Verholen). Siehe hierzu schon oben Teil 3, III. 4. c) cc) (2) und dd) (2). 38 So wie hier auch Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 142 f. 39 EuGH, Rs. C-222/83, Slg. 1984, 2889 Rn. 9 (Differdange); EuG, Verb. Rs. T-132, 143/96, Slg. 1999, II-3663 Rn. 91 (Freistaat Sachen/Kommission). Vgl. hierzu Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 428 ff. m. w. N.; v. Schwanenflug/ Strohmayr, NVwZ 2006, 395 (398). 40 Siehe hierzu ausführlich oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (1). 41 Im Gegenteil: Der EuGH ist bei Zugangshindernissen zu mitgliedstaatlichen Gerichten deutlicher strenger als bei Einschränkungen der Zulässigkeit bei der Nichtigkeitsklage. Ausführlich hierzu oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (1).

III. Grundsatzverpflichtete

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gen eine Einschränkung des Adressatenkreises abgeleitet werden kann, soll erst im nächsten Kapitel geklärt werden, wenn es konkret um die Abgrenzung zwischen Grundrechten und Grundsätzen geht. Aus Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC lässt sich jedoch zunächst einmal entnehmen, dass auch die Mitgliedstaaten an die Grundsätze gebunden sind. Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC bestätigt diese Sichtweise, wird dort doch die Möglichkeit der Umsetzung der Grundsatznormen auch durch die Mitgliedstaaten beschrieben und damit indirekt deren Adressatenstellung anerkannt.42 Anders als bei der Grundrechts-/Grundsatzbindung der Union, ist jedoch nach wie vor umstritten, in welchen Fällen die Gewährleistungen der Charta von den Mitgliedstaaten zu beachten sind. Die bisherigen Äußerungen zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten lassen sich auf die Grundsatznormen der Charta übertragen. Es müssen im Wesentlichen zwei Fallgruppen unterschieden werden:43 Weitgehend44 akzeptiert45 ist die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte bei der Durchführung von Gemeinschaftsrecht – auch „agency-situation“46 genannt –, beispielsweise47 beim Vollzug von Verordnungen48 oder Entscheidungen49. Gleiches soll nach herrschender Meinung 42 Wie hier Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 34; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 58. A. A. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 51 GRC Rn. 3, Art. 52 GRC Rn. 16, der die Auffassung vertritt, Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC regle nur den Anwendungsbereich der Grundrechte, wogegen der Anwendungsbereich der Grundsätze sich direkt aus der konkreten Chartabestimmung ergäbe. Aus diesem Grund handle es sich auch bei all den Normen der Charta, die sich ausschließlich an die Union richten, um Grundsätze. Vgl. zu dieser Ansicht ausführlich unten Teil 5, II. 43 Grundlegend Temple Lang, LIEI 1991, 23 (28 f.). Ausführlich Cirkel, Bindung der Mitgliedstaaten, S. 49 ff.; Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 6 Rn. 30 ff.; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 142 ff.; Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (520 ff.); Scheuing, EuR 2005, 162 ff. 44 A. A. Di Fabio, JZ 2000, 737 (741), der eine solch weitreichende Bindung an die europäischen Grundrechte als „fatal“ bezeichnet. Einschränkend auch Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (529), welcher dem EuGH eine Überprüfungsmöglichkeit nur in evidenten Fällen zugestehen will. 45 Vgl. das grundlegende Urteil des EuGH in der Rs. C-5/88, Slg. 1989, 2609 Rn. 19 (Wachauf). Vgl. statt vieler Beutler, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EU Rn. 68 f.; Chalmen/Hadjiemmanuil (u. a.), European Law, S. 263 ff.; Huber, EuR 2008, 190 (192); Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EU Rn. 9; Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, nach Art. 6 EUV, Rn. 31 f. m. w. N.; Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (527 ff.); Wolffgang, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Anh. zu Art. 6 EUV Rn. 17 f. 46 Weiler, in: Neuwahl/Rosas (Hrsg.), The European Union and Human Rights, S. 51 (67 ff.). 47 Vgl. Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten, S. 17 ff.; Cirkel, Bindung der Mitgliedsstaaten, S. 78 ff. 48 EuGH, Rs. C-5/88, Slg. 1989, 2609 Rn. 19 (Wachauf).

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Teil 4: Allgemeine Grundsatzlehren

auch bei der Umsetzung von Richtlinien50 gelten.51 Nach Auffassung eines Teils der Literatur52 sei dagegen der nationale Gesetzgeber im Falle der Richtlinien frei. Bei Richtlinien mit Umsetzungsspielraum wären die Mitgliedstaaten nur an die nationalen Grundrechte gebunden; bei solchen ohne Umsetzungsspielraum könne maximal die Richtlinie selbst vom EuGH für grundrechtswidrig erklärt53 werden. Hinsichtlich dieser letzten Fallkonstellation (Richtlinie ohne Umsetzungsspielraum) ist der vorstehenden Auffassung rechtzugeben. Ist nämlich eine solche Richtlinie europarechtskonform, so gilt gleiches natürlich auch für den durch die Richtlinie determinierten Umsetzungsakt. Die Überprüfung des Umsetzungsaktes anhand der europäischen Grundrechte erübrigt sich, die Überprüfung anhand der nationalen Grundrechte scheitert am Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts.54 Ist die Richtlinie dagegen europarechtswidrig, ist sie vom EuGH für nichtig zu erklären. Übrig bleibt ein nicht mehr durch Europarecht vorgeschriebener Umsetzungsakt, der nur noch an den nationalen Grundrechten zu messen ist.55 Hinsichtlich der ersten Fallkonstellation (Richtlinie mit Umsetzungsspielraum) kann dieser Ansicht dagegen nicht gefolgt werden.56 Zum einen ist nämlich zu beachten, dass der nationale Gesetzgeber gerade durch die 49

EuGH, Rs. C-46/87 und 227/88, Slg. 1989, 2859 Rn. 33 (Hoechst). Es scheint allg. Meinung zu sein, dass zumindest bei unmittelbar anwendbaren Richtlinien dasselbe zu gelten hat wie bei Verordnungen. Vgl. statt vieler Jürgensen/Schlünder, AöR 1996, 200 (208 ff.); Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263 (279 f.); Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 190; Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (528). 51 EuGH, Verb. Rs. C-74, 129/95, Slg. 1996, I-6609 Rn. 23 f., 31 (Strafverfahren gegen X). 52 Vgl. Burgi, NJW 2003, 2486 (2490); Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV Rn. 57 ff.; 3. Aufl., Art. 51 GRC Rn. 12; ders./ Störmer, EuR 1998, 263 (279 ff.); Peters, Elemente einer Theorie, S. 405 m. w. N.; Schneider, AöR 1994, 294 (298); Zimmerling, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/ EGV, Anh. zu Art. 6 Rn. 32. Vgl. auch Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 12. Krit. auch Bienert, Kontrolle mitgliedstaatlichen Handels, S. 112 ff. 53 Vgl. das grundlegende Urteil des EuGH in der Rs. C-314/85, Slg. 1987, 4199 Rn. 15 ff. (Foto Frost). 54 So auch Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 6 Rn. 37. Vgl. auch Burgi, NJW 2003, 2486 (2490); Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 160, 162; Zimmerling, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Anh. zu Art. 6 Rn. 32. 55 Vgl. auch Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz, S. 189; Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 6 Rn. 38. 56 So wie hier Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 6 Rn. 38. Vgl. auch Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 33 f.; Kühling, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (608 f.); Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (528); Temple Lang, LIEI 1991, 23. 50

III. Grundsatzverpflichtete

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Richtlinie dazu veranlasst57 bzw. bestimmt worden ist, einen Umsetzungsakt zu erlassen. Das nationale Gesetz hat also seinen Ursprung im Europarecht, weshalb schon alleine aus diesem Grund diese Konstellation vertretbar unter den Begriff des Anwendungsbereichs des Europarechts subsumiert und damit die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der EU bejaht werden könnte. Zum anderen muss man aber auch Folgendes bedenken: Unabhängig von der Frage, ob der nationale Gesetzgeber die Grundrechte der EU zu beachten hat, ist dieser zumindest – und dies dürfte unstreitig sein – an die jeweilige Richtlinie gebunden. Es besteht die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung.58 Nun darf aber – und dies steht wiederum außer Frage – die Richtlinie selbst natürlich nicht gegen die europäischen Grundrechte verstoßen bzw. kann als Sekundärrechtsakt59 von deren Beachtung auch nicht befreien. Wenn das nationale Gesetz nun aber die Richtlinie zu beachten hat und die Richtlinie die Grundrechte der EU, dann muss sich letztendlich das nationale Gesetz auch an die europäischen Grundrechte halten. Ein rechtskonformer Umsetzungsakt kann eben nicht weiter reichen als dessen die Grundrechte beachtende Rechtsgrundlage. Die Mitgliedsstaaten sind im Rahmen der Umsetzung von Richtlinien (mit Umsetzungsspielraum) daher sowohl60 an die europäischen als auch61 an die 57 In dieser Konstellation ist der Mitgliedstaat gleichsam „gemeinschaftsrechtlicher Erfüllungsgehilfe“, vgl. dazu Riegel, NJW 1974, 1585 (1589). Wie hier auch Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz, S. 182; Kühling, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (609); Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 6 Rn. 37. 58 Vgl. das grundlegende Urteil des EuGH in der Rs. C-14/83, Slg. 1984, 1891 ff. (von Colson). Vgl. dazu auch dazu Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 6 Rn. 37 mit Fn. 111. Vgl. hierzu aber auch Kingreen, in Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 51 GRC Rn. 12. 59 Aufgrund der Regel „Lex superior derogat legi inferiori“, vgl. dazu Zippelius, Methodenlehre, S. 39 f. 60 Nur weil ein nationaler Grundrechtsschutz besteht, ist die Anwendung der europäischen Grundrechte nicht automatisch abzulehnen. So dürfte auch Pieroth/ Schlink, Staatsrecht II, Rn. 191 zu verstehen sein. Wie hier auch Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 33 f.; Kühling, in: v. Bogdandy (Hrsg.), S. 583 (608 f.); Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 6 Rn. 38; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 190; Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (528); Temple Lang, LIEI 1991, 23 ff. A. A. (nur nationale Grundrechte sind anwendbar) die in Fn. 58 Genannten. A. A. auch GA Gulmann in der Rs. C-2/92, Slg. 1994, I-955 Rn. 33 (Bostock). 61 Vgl. dazu Pernice, NJW 1990, 2409 (2417); Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 190; ders./Szczekalla, Grundrechte, S. 160; Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (523 ff.). So dürfte auch das BVerfG zu verstehen sein, vgl. BVerfG, NJW 1990, 974 f. Wenige wollen dagegen ausschließlich die europäischen Grundrechte anwenden, vgl. Wetter, Grundrechtecharta des EuGH, S. 95. Dieser letzten Ansicht scheint auch Nicolaysen, EuR 1989, 215 (220 f.), zu sein, ebenfalls unter Berufung auf BVerfG, NJW 1990, 974 f. Vgl. nun auch Calliess, JZ 2009, 113 ff.

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Teil 4: Allgemeine Grundsatzlehren

nationalen Grundrechte gebunden. Ihr grundsätzlich bestehender Gestaltungsspielraum schrumpft um die nicht grundrechtskonformen Konkretisierungs- und Auslegungsvarianten.62 Mehr Streit besteht dagegen bei der zweiten Fallgruppe. Der EuGH vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass die Mitgliedstaaten die Grundrechte der EU auch im Rahmen der Rechtfertigung63 von Eingriffen in die Grundfreiheiten64 beachten müssten.65 Weite Teile der Literatur stimmen dem zu.66 Einige Autoren67 lehnen dagegen auch in dieser Konstellation eine Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten ab. Dies wird damit begründet, dass die Art. 30, 39 Abs. 3, 46 Abs. 2, 55 und 58 Abs. 1 Lit. b EGV das Europarecht derogierten und die genaue Ausgestaltung der Rechtfertigung damit den Mitgliedstaaten zur eigenständigen Verantwortung überließen. Dieses Argument ist jedoch zirkulär, ist es doch gerade die zu prüfende Frage, ob dieser Bereich der Eingriffsrechtfertigung nicht mehr europarechtlich determiniert wird. Zunächst ist zuzugeben, dass allgemeine Argumente wie der Vorrang des Gemeinschaftsrechts oder des effektiven Rechtsschutzes für die Lösung der vorliegenden Frage wenig überzeugend sind.68 Des Weiteren taugt auch nicht der sowohl von der herrschenden als auch der Mindermeinung immer wieder angestellte Vergleich mit der Konstellation 62

So mit Recht Huber, EuR 2008, 190 (192). Nicht gefolgt werden kann dagegen der Ansicht des EuGH in der Rs. C-71/02, Slg. 2004, I-3025, Rn. 48 ff. (Herbert Karner), nach welcher die Mitgliedstaaten selbst dann an die Grundrechte der EU gebunden wären, wenn die in Frage stehende nationale Regelung lediglich eine Verkaufsmodalität im Sinne der Keck-Rechtsprechung darstellt, die nicht von Art. 28 EGV erfasst wird. Kritisch zu diesem Urteil auch Schaller, JZ 2005, 193 ff. und Scheuing, EuR 2005, 162 (173 ff.). Wahrscheinlich ist dieses Urteil letztlich aber nur der speziellen Rechtssituation in Österreich geschuldet. 64 Oder der grundfreiheitsähnlichen Rechte, vgl. dazu v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 255 f. 65 EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925 Rn. 43 (ERT) und Rs. C-368/95, Slg. 1997, 3689 Rn. 24 ff. (Familiapress). 66 Vgl. auch Cirkel, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 141 ff.; Jürgensen/Schlünder, AöR 1996, 200 (213 ff.); Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 166 ff. m. w. N. 67 Vgl. Coppel/O’Neill, CMLRev. 1992, 669 (672); Gellermann, DVBl. 2000, 509 (516 f.); Huber, EuR 2008, 190 (194 ff. m. w. N.); Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV Rn. 61 f.; 3. Aufl., Art. 51 GRC Rn. 16 f.; ders./Störmer, EuR 1998, 263 (281 ff.); Ritgen, ZRP 2000, 371 (373); Störmer, AöR 1998, 541 (567). Zurückhaltend auch Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (529) und Schilling, EuGRZ 2000, 3 (34). 68 Vgl. dazu ausführlich Kühling, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (609); Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (523); Wetter, Grundrechtecharta des EuGH, S. 93 ff. 63

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bei der Umsetzung von Richtlinien. Wie gerade erörtert, liegt es an der Sekundärrechtsqualität der Richtlinie, dass diese von der Bindung an die Grundrechte der EU nicht befreien kann. Demgegenüber bestünde im Rahmen des Art. 30 EGV sehr Wohl die Möglichkeit einer Derogation. Zwei Argumente dürften am Ende jedoch ausschlaggebend sein. Erstens muss man sich bewusst machen, dass es sich bei der Rechtfertigung um die zweite Stufe der Grundfreiheitsprüfung handelt, also einem Bereich, welcher dem Europarecht zuzuordnen ist.69 Wenn nun die Art. 30 EGV etc. den Mitgliedstaaten ausnahmsweise erlauben, in die Grundfreiheiten einzugreifen, überzeugt es nicht, die Mitgliedstaaten darüber hinaus auch noch von der Einhaltung der EU-Grundrechte zu entbinden. Zudem, der EuGH als Organ des Gemeinschaftsrechts wird wohl keine Rechtfertigungsargumente akzeptieren (können), die klar gegen die europäischen Grundrechte verstoßen.70 Zweitens erfordert nach hier vertretener Auffassung auch das Argument der Waffengleichheit eine Bindung der Mitgliedstaaten an die europäischen Grundrechte im Rahmen der Rechtfertigung von Grundfreiheitseingriffen. In den Entscheidungen Schmidberger71 und Omega72 erlaubte der EuGH Eingriffe in die Warenverkehrs- bzw. Dienstleistungsfreiheit mit dem Argument des Schutzes der Meinungs- und Versammlungsfreiheit bzw. der Würde des Menschen. Wenn die Mitgliedstaaten bei der Rechtfertigung von Eingriffen in die Grundfreiheiten nun aber den Schutz von Grundrechten der EU als Rechtfertigungsgrund heranziehen können, ist nicht einzusehen, warum umgekehrt dieser Schutz den Bürgern (und damit zu Lasten der Mitgliedstaaten) verweigert werden soll. Demzufolge haben die Mitgliedstaaten auch bei der Rechtfertigung von Eingriffen in die Grundfreiheiten die europäischen Grundrechte zu beachten.73 Den Kritikern dieser Ansicht ist jedoch dahingehend Recht zu geben, dass aufgrund der extensiven Rechtsprechung des EuGH die Gefahr besteht, dass die Gemeinschaftsgrundrechte irgendwann einmal auf sämtliche mitgliedstaatlichen Akte angewendet werden, obgleich der jeweilige Akt eigentlich gar nicht in den Anwendungsbereich des Europarechts fällt. Dies ist nach vorliegender Ansicht je69 Vgl. statt vieler v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 254 m. w. N.; Cirkel, Die Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 103; Epiney, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 30 EGV Rn. 29. A. A. Jacobs, ELRev. 2001, 331 (337 f.) und die in Fn. 67 Genannten. 70 Das Argument geht auf Weiler, in: Liber Amicorium Pierre Pescatore, S. 821 ff. zurück. Vgl. auch Ruffert, EuGRZ 1995, S. 518 (529). A. A. Kingreen, in Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 51 GRC Rn. 16 f. 71 EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 Rn. 70 ff. (Schmidberger). 72 EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (Omega). 73 EuGH, Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6279 (Carpenter).

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doch nicht ein Problem des Anwendungsbereichs der Grundrechte, sondern das der mittlerweile doch recht weiten, wahrscheinlich zu weiten Auslegung des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten und – neuerdings – des Art. 12 i. V. m. Art. 18 Abs. 1 EGV.74 Insoweit ist dort und nicht bei Art. 51 Abs. 1 GRC korrigierend einzugreifen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht nach möglichem Inkrafttreten der Europäischen Grundrechtecharta. Zwar erweckt Art. 51 Abs. 1 GRC75 durch die Formulierung „ausschließlich bei Durchführung des Rechts der Union“76 zugegebenermaßen den Eindruck77, die Mitgliedstaaten nur noch in der sog. „agency-situation“ an die europäischen Grundrechte binden zu wollen. Doch war damit – wie78 sich aus dem Geschehen im Charta-Kon74

Vgl. bspw. EuGH, Rs. C-168/91, Slg. 1993, I-1191 (Konstantinidis), insb. den Schlussantrag von GA Jacobs, I-1198 ff. Krit. zu Recht Haltern, Europarecht, S. 535 ff. Dies übersieht Huber, EuR 2008, 190 (193 f.). 75 Umfassend v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 256 ff.; Cremer, NVwZ 2003, 1452 ff.; Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte, § 6 Rn. 44 f.; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 35 f. 76 In der englischen Fassung heißt es „only when they are implementing Union law“, in der frz. Fassung „lorsqu’ils mettent en œuvre le droit de l’Union.“ 77 So auch Calliess, EuZW 2001, 261 (266); Eeckhout, CMLRev. 2002, 945 (958); Huber, EuR 2008, 190 (197); Ruffert, EuR 2004, 165 (176). Positiver sieht es dagegen Dutheil de la Rochère, Revue du Marché commun et de l’Union européenne 2000, 674 (678). 78 Wenig nachvollziehbar Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 2 ff. und de Bfflrca, ELR 2001, 126 (136 f.). De Bfflrca geht lediglich auf die verschiedenen im Charta-Konvent vorgebrachten Vorschläge zur Formulierung des Art. 51 Abs. 1 GRC ein. Die Darstellung der Intensionen, die hinter der jeweiligen Formulierung standen, bleibt sie schuldig. Dies holt Borowsky nach, zieht jedoch offensichtlich die falschen Schlussfolgerungen aus der eigenen Beschreibung des Geschehensablaufs im Konvent. In Rn. 3 bestätigt er, dass die ursprüngliche Formulierung des Art. 51 Abs. 1 GRC (damals noch Art. H.1) „(. . .) sowie an die Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts“ auf „nahezu einhellige Zustimmung“ bei den Konventsmitgliedern traf (vgl. auch Bernsdorff/Borowsky, Sitzungsprotokolle, S. 169). Erst als das Präsidium einen sehr weitgehenden Vorschlag einbrachte (noch deutlich über den heutigen Stand der Rechtsprechung hinausgehend), hagelte es Kritik, weil man einen „Grundrechtsaktivismus“ des EuGH [so vollkommen richtig gesehen von Ruffert, EuR 2004, 165 (178)] befürchtete, wie die deutschen Mitglieder Gnauck und Friedrich deutlich zu erkennen gaben (vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 6). Nach mehrmaligem Hin- und Her einigte man sich schließlich auf die heute Fassung des Art. 51 Abs. 1 GRC. Eine generelle Kritik an der Wachauf- und ERT-Rechtsprechung des EuGH kam im Charta-Konvent aber nie auf, sodass das Geschehen dort den Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 GRC nicht zu stützen vermag (vgl. auch die doch sehr deutliche Diskussion in der Sitzung von 28. – 30.6.2000, nachzulesen bei Bernsdorff/Borowsky, Sitzungsprotokolle, S. 295). Wie hier v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 261 ff., insb. mit Fn. 1123; Barringa, Entstehungen, S. 151 ff.; Cremer, NVwZ 2003, 1452 (1454); Scheuing, EuR 2005, 162 (183).

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vent79 und noch eindeutiger aus den Erläuterungen80 zur Charta ableiten lässt – keine Änderung der bisherigen Rechtsprechung gewollt.81 Vielmehr sollte lediglich einem noch größeren „Grundrechtsaktivismus“ des EuGH wie beispielsweise im Fall Carpenter82 ein Riegel vorgeschoben werden.83 Da die Erläuterungen gemäß Art. 52 Abs. 7 GRC84 bei der Auslegung der Grundrechtecharta auch gebührend berücksichtigt85 werden müssen, wird Art. 51 Abs. 1 GRC am status quo der Bindung der Mitgliedstaaten an die europäischen Grundrechte (und damit künftig auch an die Grundsätze) letztlich nichts ändern.86 Dies zeigt auch die erst kürzlich ergangene Entscheidung des EuGH in der Rs. Viking87. Dort hatte der Gerichtshof in einem Fall, in dem es um den Eingriff in die Niederlassungsfreiheit durch einen Streik ging, Rekurs auf Art. 28 GRC genommen und damit indirekt seine bisherige Rechtsprechung bestätigt.

79 Umfassend Barriga, Entstehung, S. 151 ff. Nachzulesen auch bei Bernsdorff/ Borowsky, Sitzungsprotokolle, S. 169, 233 f., 294 f., 359 f. und Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 2 ff. 80 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 32 (zu Art. 51 Abs. 1 GRC). 81 So die h. M., vgl. statt vieler v. Arnim, Standort der EU-Grundrechtecharta, S. 256 ff. m. w. N.; Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten, S. 79 f.; Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 35; Griller, in: Duschanek/ders. (Hrsg.), Grundrechte für Europa, S. 131 (139); Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 6 Rn. 48 m. w. N.; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 35 f. m. w. N. A. A. dagegen Cremer, NVwZ 2003, 1452 (1455 ff.); Lord Goldsmith, in: Heusel (Hrsg.), Grundrechtecharta, S. 35 (37); Huber, EuR 2008, 190 (197); Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (576); Ruffert, EuR 2004, 165 (177). 82 EuGH, Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6279 (Carpenter). 83 Völlig richtig gesehen von Ruffert, EuR 2004, 165 (178). 84 Vgl. zu den anderen Lösungen (z. B. über Art. 53 GRC) Cremer, NVwZ 2003, 1452 (1457); Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 6 Rn. 47 f.; Ruffert, EuR 2004, 165 (177 mit Fn. 75). Sehr ausführlich Scheuing, EuR 2005, 162 (188 ff.). 85 Siehe oben Teil 2, I. 1. 86 So die h. M., vgl. statt vieler Beutler, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 116; Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten, S. 42 ff. m. w. N.; Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 35 m. w. N.; Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (564 f.); Griller, in: Duschanek/ders. (Hrsg.), Grundrechte für Europa, S. 131 (139 f.); Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte, § 6 Rn. 48; v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 265. A. A. dagegen Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 29; Cremer, NVwZ 2003, 1452 (1454) [noch vor Verankerung des Art. 52 Abs. 7 GRC]; Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (576); ders., in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EU Rn. 61 mit Fn. 165. 87 EuGH, Rs. C-438/05, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht (Viking).

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Teil 4: Allgemeine Grundsatzlehren

2. Sonderfall: Das Vereinigte Königreich und Polen Wie schon zu Beginn der Arbeit kurz angesprochen,88 sind von dieser Bindung an die Grundrechtecharta das Vereinigte Königreich und Polen aufgrund eines Protokolls zum Lissabonner Vertrag89 teilweise wieder ausgenommen. Das Vereinigte Königreich und Polen wollen mit diesem Zusatz, dem Primärrechtsqualität zukommt (vgl. Art. 311 EGV), verhindern, dass die Charta zu einer Ausweitung ihrer gegenwärtigen Verpflichtungen führt. Für die hier vor allem interessierenden Grundsatznormen ist dieser teilweise Ausschluss jedoch nicht von allzu großer Bedeutung. Die Gemeinschaftsgrundrechte richten sich ebenso wie die Grundsatznormen nämlich primär an die Unionsorgane. Auf Handlungen der Mitgliedstaaten finden sie nur Anwendung, wenn Unionsrecht „durchgeführt“ wird (vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC).90 Aber auch im Falle der Durchführung von Unionsrecht ändert das Protokoll wenig. Die leistungsrechtliche Dimension der Grundsatznormen kann aufgrund des Art. 52 Abs. 5 GRC ohnehin nicht direkt eingeklagt werden. Eine Kompetenzerweiterung verhindert darüber hinaus bereits Art. 51 Abs. 2 GRC.91 Wie die Entscheidungen Schmidberger92 und Omega93 zeigen, wirken die Gewährleistungen der Charta in erster Linie zugunsten der Mitgliedstaaten, beispielsweise als Rechtfertigung für einen Eingriff in die Grundfreiheiten. In dieser Konstellation können auch das Vereinigte Königreich und Polen sich weiterhin auf die Garantien der Charta – und damit auch auf die Grundsatznormen – stützen. Der europäischen Grundrechtecharta kommt eben in erster Linie die Funktion einer rechtsstaatlichen Legitimation supranationaler Rechtssetzungstätigkeit (und der darauf basierenden Vollzugstätigkeit) zu.94 Die Ausschlussklauseln sind für das Vereinigte Königreich und Polen also nur dann von Vorteil, wenn gemeinschaftsrechtlich determinierte Ansprüche aufgrund der Grundrechte oder Grundsätze extensiv ausgelegt werden müssten und infolgedessen die gegenwärtigen Verpflichtungen beider Länder erweiterten. Mit der Opt-Out-Klausel sollen offensichtlich Entscheidungen wie beispielsweise solchen in der Rs. Maruko95 entgegengewirkt wer88

Siehe oben Teil 1, I. Vgl. das „Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich“ in ABl. EU C 306/01 S. 156. 90 Siehe gerade eben Teil 4, III. 1. Vgl. auch Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 10, 18. 91 Siehe zu diesem Problem auch oben Teil 3, III. 3. c) aa) (3). 92 EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 Rn. 70 ff. (Schmidberger). 93 EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (Omega). 94 Vgl. zum Ganzen auch Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (574 f.); ders., in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 8 f. 89

III. Grundsatzverpflichtete

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den. Dort hat sich der EuGH insbesondere auf das Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung (Art. 21 Abs. 1 GRC) bezogen, um die Zuerkennung einer „Witwenrente“ für einen gleichgeschlechtlichen Ehepartner dogmatisch abzusichern. Was Polen betrifft, wird der teilweise Ausschluss von der Bindung an die Grundrechtecharta in der Schlussakte der Regierungskonferenz96 – daran sei nochmals erinnert97 – etwas überraschend wieder relativiert. Infolge dieser Erklärung sind die Garantien des vierten Titels der Grundrechtecharta, bei denen es sich meist um Grundsatznormen handeln dürfte,98 für Polen doch wieder bindend.99 Ingesamt bleibt also festzuhalten, dass der Opt-OutKlausel im Protokoll zum Lissabonner Vertrag nur eine geringe Bedeutung zukommen wird, zumal das Vereinigte Königreich und Polen auch weiterhin an die Grundrechte als Allgemeine Rechtsgrundsätze gebunden sein werden (vgl. Art. 6 Abs. 3 EUV n. F.).100 3. Die unmittelbare Drittwirkung der Grundsatznormen Eine weitere Frage der Grundrechts- bzw. Grundsatzbindung ist die nach der unmittelbaren Drittwirkung. Ein Teil der Literatur ist der Auffassung, dass bestimmte Garantien der Charta auch Private binden würden.101 Bereits aus Absatz sechs der Präambel glauben manche, einen Hinweis für die unmittelbare Drittwirkung der Charta herauslesen zu können.102 Meist wird 95 EuGH, Rs. C-267/06, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht. Für die Entscheidung hätte es die Heranziehung der Charta eigentlich gar nicht bedurft, weil sich der Anspruch auf Witwenrente bereits aus der RiLi 2000/78/EG ergibt. Zu dem dogmatisch ähnlich gelagerten Fall Michel S., EuGH, Rs. C-76/72, Slg. 1973, 457, siehe oben Teil 3, III. 3. c) bb) (2) (a) und 4. e) cc). 96 ABl. EU C 306/02 v. 13. Dezember 2007 S. 40 (Erklärung Nr. 62). 97 Siehe hierzu bereits Teil 1, I. 98 Vgl. hierzu ausführlich Teil 5, V. 2. 99 Siehe hierzu schon oben Teil 2, III. 1. f). 100 Vgl. hierzu auch Folz, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. I-9 EVV Rn. 7 m. w. N.; Schwarze, EUR 2003, 535 (541). Krit. Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (571); ders., in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, Art. I-9 Rn. 12. 101 Vgl. Beutler, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 66; Hirsch, in: Bank (Hrsg.), Soziale Grundrechte, S. 18; Mahlmann, ZEuS 2000, 419 (438); Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, nach Art. 6 EUV Rn. 33; Wetter, Grundrechtscharta des EuGH, S. 100 ff. Vgl. auch Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Vor Kap III Rn. 17, Art. 24 Rn. 21 f. und Schmitz, JZ 2001, 833 (840), die einzelne Vorschriften als unmittelbar drittwirkend einstufen. 102 Sie stützen sich dabei auf den Halbsatz „Pflichten [. . .] gegenüber den Mitmenschen“, vgl. Meyer, in: ders. (Hrsg.), Charta, Präambel, Rn. 50; Streinz, in: ders. (Hrsg.), Charta, Präambel Rn. 16. A. A. Stern/Tettinger, in: dies. (Hrsg.), Charta,

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Teil 4: Allgemeine Grundsatzlehren

die unmittelbare Drittwirkung jedoch direkt bei der jeweiligen Chartabestimmung angedeutet gesehen, wie beispielsweise bei Art. 3 Abs. 2 (medizinische Gebote bzw. Verbote), Art. 5 Abs. 3 (Verbot des Menschenhandels), Art. 23 (Gleichheit von Frauen und Männern), Art. 24 Abs. 2, 3 (Rechte des Kindes), Art. 32 UAbs. 1 S. 1 (Verbot der Kinderarbeit) und einige Garantien des Arbeitslebens (z. B. Art. 27, 28, 30–32).103 Auffällig ist, dass die Drittwirkungsproblematik überwiegend im Zusammenhang mit progressiveren Gewährleistungen diskutiert wird, obgleich an dieser Stelle noch offen bleiben soll, ob es sich hierbei um Grundsätze oder Grundrechte handelt.104 Der EuGH hat sich zur Frage der unmittelbaren Drittwirkung von grundrechtlichen bzw. grundrechtsähnlichen Verpflichtungen bislang kaum geäußert.105 Nur vereinzelt hat er die Bindung Privater bejaht, beispielsweise106 bei Art. 141 Abs. 1 EGV107.108 Eine Übertragung der Defrenne-Rechtsprechung109 auf die Grundrechtecharta ist jedoch abzulehnen.110 Zum einen Präambel A, Rn. 47, die in diesen Halbsatz lediglich als Hinweis für die mittelbare Drittwirkung von Chartagewährleistungen verstehen wollen. 103 Des Weiteren werden genannt: Art. 4 (Folterverbot), Art. 5 Abs. 1, 2 (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit), Art. 21 (Diskriminierungsverbot). Vgl. hierzu v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 271; Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 6 Rn. 59 m. w. N.; Tettinger, NJW 2001, 1010 (1011). 104 Siehe zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen unten Teil 5, V. Jarass, EU-Grundrechte, § 4 Rn. 19 Fn. 61, ist dagegen offensichtlich der Meinung, dass die Grundsatznormen generell keine Drittwirkung entfalten können. 105 Vgl. Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13 Rn. 32; Mahlmann, ZEuS 2000, 419 (438); Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 199. 106 Nicht vergleichbar ist die hier erörterte Frage der unmittelbaren Drittwirkung von Gemeinschaftsgrundrechten mit der Frage der Geltung und Anwendbarkeit von sonstigem Primär- und Sekundärrecht, wie z. B. Art. 81 ff. EGV, die sich ausdrücklich an Private richten. Vgl. hierzu auch Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 183. 107 Vgl. hierzu Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 176 ff. m. w. N. 108 Viele Autoren ziehen die Angonese-Rechtsprechung (EuGH, Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139) als Argument für eine unmittelbare Drittwirkung der Gemeinschaftsgrundrechte heran, vgl. z. B. Mahlmann, ZEuS 2000, 419 (438); Rengeling/ Szczekalla, Grundrechte, S. 174 ff. m. w. N.; 219 ff. Dabei wird übersehen, dass sich die Grundfreiheiten anders als die Grundrechte ihre eigene unmittelbare Anwendbarkeit schaffen [siehe oben Teil 2, III. 1. b) bb) (3)]. Die Gewährleistungen der Charta können demgegenüber, wenn überhaupt, nur bei Durchführung von Unionsrecht unmittelbare Drittwirkung entfalten (vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC). 109 EuGH, Rs. C-43/75, Slg. 1976, 455 (Defrenne II); Rs. C-149/77, Slg. 1978, 1365 (Defrenne III). 110 So auch Jarass, EU-Grundrechte, § 4 Rn. 17; Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 6 Rn. 57. A. A. offensichtlich Beutler, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 66.

III. Grundsatzverpflichtete

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werden in Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC nur die Union und die Mitgliedstaaten als Adressaten der Grundrechte und Grundsätze genannt.111 Eine unmittelbare Drittwirkung der Chartagarantien war auch nie Gegenstand der Diskussionen in den beiden Konventen.112 Überdies113 hat der EGMR, dessen Rechtsprechung für die Auslegung der Grundrechtecharta über Art. 52 Abs. 3 GRC künftig besonderes Gewicht erhalten wird, bisher eine unmittelbare Drittwirkung von Grundrechten abgelehnt.114 Zum anderen, und das ist wohl das entscheidende Argument, wirkt die Grundrechtecharta anders als beispielsweise ein nationaler Grundrechtskatalog nicht universell im jeweiligen Mitgliedstaat, sondern gilt nur bei Durchführung von Unionsrecht (vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC).115 Würde man dies anders sehen und die Gewährleistungen der Charta auch auf rein inländische Sachverhalte anwenden wollen, würde man die Charta entgegen dem ausdrücklichen Willen der Konventsmitglieder auf Vorgänge ausweiten, für die der Union keine Kompetenz zukommt (vgl. Art. 51 Abs. 1, 2 GRC).116 Außerdem könnte die Bindung des einzelnen Bürgers an die Grundrechte/Grundsätze nicht weiter reichen als die der Mitgliedstaaten. Selbst wenn man folglich z. B. bei Art. 24 Abs. 2, 3 GRC private Einrichtungen verpflichtet sehen wollte, wären die Einrichtung nur dann an Art. 24 GRC gebunden, wenn sie Unionsrecht durchführten. Dies wird jenen aber schon aus strukturellen Gründen schwer fallen. Wann wird ein Einzelner schon Unionsrecht durchoder ausführen? Ganz undenkbar ist dies jedoch nicht. In der Entscheidung 111

Dagegen wird eingewendet, dass es sich bei Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC lediglich um eine Generalnorm handle, die von spezielleren Chartabestimmungen, die die unmittelbare Drittwirkung anordnen, verdrängt werde. Vgl. v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 271 m. w. N.; Zimmerling, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EUV/EGV, Anh. zu Art. 6 EUV Rn. 37. So wie hier Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 51 GRC Rn. 18. 112 Vgl. v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 270; Borowsky, in Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 31. Im Gegenteil, bei der Diskussion um die horizontalen Bestimmungen wollte man zunächst die Sozialpartner als Verpflichtete der Charta mit aufnehmen (Art. 44 Abs. 2 GRC a. F.). Insbesondere um die Gefahr einer drittverpflichtenden Wirkung der Charta zu vermeiden, hat man auf diesen Zusatz schließlich verzichtet, vgl. hierzu Bernsdorff/Borowsky, Sitzungsprotokolle, S. 297 f. 113 Vgl. den Überblick bei Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 178 ff. m. w. N. Ausnahmsweise kann ein Grundrecht auch unmittelbare Drittwirkung entfalten, z. B. Art. 9 Abs. 3 GG in Deutschland. 114 Vgl. Grabenwarter, EMRK, § 19 Rn. 14; Meyer-Ladewig, in: ders. (Hrsg.), EMRK, Art. 1 Rn. 7; Peters, EMRK, § 2 IV 1; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 180 ff. 115 So wie hier auch Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 12 m. w. N.; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 182. 116 Vgl. auch Erläuterungen zur Grundrechtecharta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 32.

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Teil 4: Allgemeine Grundsatzlehren

Angonese117 hat der EuGH die Bindung Privater an die Arbeitnehmerfreizügigkeit bejaht. Es wäre deshalb vorstellbar, dass der Einzelne beim Eingriff in die Grundfreiheiten auch die Gemeinschaftsgrundrechte im Auge haben muss. Jedoch sollte nicht über die bereits schon an sich bedenkliche118 Angonese-Rechtsprechung eine Bindung Privater an die Grundrechte und Grundsätze der Charta konstruiert werden.119 Wie bereits mehrmals darauf hingewiesen wurde,120 kommt der Grundrechtecharta primär eine Legitimationsfunktion supranationaler Rechtsetzungstätigkeit (und der darauf basierenden Vollzugstätigkeit) zu. Ein Einzelner wird jedoch im Allgemeinen weder rechtssetzend noch rechtsvollziehend tätig, so dass es einer Grundrechtsbindung nicht bedarf. Im Gegenteil: Der Grundsatz der Privatautonomie schafft gerade den Freiraum, Grundrechte nicht einhalten zu müssen. Eine gleichsam rechtssetzende Tätigkeit wird man mit dem EuGH nur bei großen Vereinigungen und Verbänden annehmen können, vor deren kollektiven Regelungen auch der Einzelne geschützt werden muss.121 Eine ganz andere Frage ist dagegen, ob die Gewährleistungen der Charta mittelbare Drittwirkung entfalten können.122 Zudem dürfte außer Frage 117 EuGH, Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139 (Angonese). Vgl. ausführlich zur Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten Preedy, Bindung Privater, S. 25 ff. m. w. N. 118 Krit. zu dieser Rechtsprechung auch Andresen, DVBl. 2002, 685 ff.; Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 45 f. m. w. N.; Ganten, Drittwirkung der Grundfreiheiten, S. 33 ff.; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 220 ff. m. w. N.; Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 ff. m. w. N. Die allgemeinen Wettbewerbsregeln für ausreichend erachten Jaensch, Drittwirkung der Grundfreiheiten, 112, 180 f.; Kluth, AöR 1997, 557 (582). Instruktiv Röthel, EuR 2001, 908 ff. A. A. Förster, unmittelbare Drittwirkung, S. 194 f., nach dem die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten nur konsequent und folgerichtig sei. 119 So wie hier die ganz h. M., vgl. statt vieler Bleckmann, Europarecht, Rn. 757; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Art. 51 GRC Rn. 31; Ehlers, in: ders. Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 37; Kingreen in Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 51 GRC Rn. 18; Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 200; Stieglitz, Allgemeine Lehren, S. 174. Offen lassend Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 6 Rn. 57, 59. A. A. Beutler, in: von der Groeben/ Schwarze (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 66; Hirsch, in: Bank (Hrsg.), Soziale Grundrechte, S. 18; Mahlmann, ZEuS 2000, 419 (438); Pernice/Mayer, in: Grabitz/ Hilf (Hrsg.), EUV/EGV, nach Art. 6 EUV Rn. 33; Wetter, Grundrechtscharta des EuGH, S. 100 ff. A. A. (einzelne Vorschriften nur unmittelbar drittwirkend) Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Vor Kap III Rn. 17; Art. 24 Rn. 21 f.; Schmitz, JZ 2001, 833 (840). 120 Siehe gerade eben bei Fn. 119. 121 EuGH, Rs. C-36/74, Slg. 1974, 1405 (Walrave und Koch); Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 (Bosman). So wie hier Jarass, EU-Grundrechte, § 4 Rn. 18; Mahlmann, ZEuS 2000, 419 (438).

IV. Eingriff

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stehen, dass Chartagewährleistungen, insbesondere die Grundsatznormen, Schutzpflichten der Union und der Mitgliedstaaten – letztere bei Durchführung von Unionsrecht – begründen, mit der Folge, dass Private durch gesetzliche Verbote und effektive Sanktionen vor Diskriminierung, Ausbeutung und ähnlichen Gefährdungen geschützt werden müssen.123

IV. Eingriff Ein Eingriff in einen Grundsatz liegt vor, wenn – analog zu den Grundrechten124 – der Schutzbereich einer Grundsatznorm verkürzt wird, wenn also eine Tätigkeit, die in den Schutzbereich einer Grundsatznorm fällt, erschwert oder gänzlich verhindert wird.125 Ein Eingriff durch Unterlassen ist – sofern man in Fällen des Unterlassens überhaupt von einem Eingriff sprechen kann126 – bei Grundsatznormen nicht möglich, weil Grundsätze weder der Union noch den Mitgliedstaaten konkrete, einklagbare Handlungspflichten auferlegen, die verletzt werden könnten (vgl. Art. 52 Abs. 5 GRC).127 Ein Eingriff in den Schutzbereich einer Grundsatznorm wäre jedoch beispielsweise dann zu bejahen, wenn das gegenwärtig existierende Schutzniveau abgesenkt würde (sog. relatives Rückschrittsverbot)128 oder 122

So die ganz h. L., vgl. statt vieler Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 31; Meyer, in: ders. (Hrsg.), Charta, Präambel Rn. 50; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 220 ff. m. w. N.; Stern/Tettinger, in: dies. (Hrsg.), Charta, Präambel A Rn. 47; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Präambel, Rn. 16. Auch hierzu hat sich der EuGH bislang noch nicht geäußert. Ladenburger weist zu Recht darauf hin, dass die Ausstrahlungswirkung nur bei Durchführung von Unionsrecht gilt, vgl. Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 14. 123 Vgl. hierzu auch EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 Rn. 70 ff. (Schmidberger). So wie hier v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 273 f. m. w. N.; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 31; Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 37; Jarass, EU-Grundrechte, § 4 Rn. 19; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 221 f.; Stieglitz, Allgemeine Lehren, S. 174. 124 Der EuGH hat sich bislang mit dem Eingriffsbegriff nicht näher auseinandergesetzt. Bereits die Terminologie ist nicht einheitlich. Gelegentlich spricht der Gerichtshof tatsächlich von einem „Eingriff“, weit häufiger aber von einer „Beeinträchtigung“. Vgl. hierzu EuGH, Rs. C-44/79, Slg. 1979, 3727 (Hauer) vs. Verb. Rs. C-46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859 (Hoechst). Vgl. auch Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 15 ff.; Schütz/Bruha/Koenig, Europarecht, S. 885; Streinz, Europarecht, Rn. 770. 125 Vgl. Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 7 Rn. 19. 126 Vgl. hierzu Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 16; Szczekalla, in: Heselhaus/ Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 7 Rn. 19. 127 Siehe hierzu oben Teil 3, III. 4. d) aa). Vgl. auch die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35.

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Teil 4: Allgemeine Grundsatzlehren

wenn Gerichte oder Behörden ihrer Pflicht zur grundsatzkonformen Auslegung nicht nachkämen.129 Manche in der Literatur sind demgegenüber der Ansicht, dass in Grundsatznormen schon aus normstrukturellen Gründen nicht eingegriffen werden könnte.130 Schmitz führt hierzu aus:131 „In Grundsätze kann man nicht eingreifen, Grundsätze haben keine Schranken und Grundsätze werden auch nicht erfüllt. Sie werden vielmehr im Wege der Beurteilung und Abwägung konkretisiert.“ Wenn dem so wäre, stellte sich jedoch die Frage, wie Grundsatznormen dann überhaupt Prüfungsgegenstand im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens sein könnten, so wie es Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC vorsieht. Auch eine, sich aus den Grundsatznormen ergebende Verpflichtung zur Abwägung setzt erst einmal voraus, dass der Abwägungsgegenstand, in diesem Fall die Grundsätze, durch eine bestimmte Maßnahme betroffen ist. Außerdem haben die Gemeinschaftsgerichte bei ihren Entscheidungen zum Grundsatz der Marktstabilisierung aus Art. 33 Abs. 1 lit. c EGV oder dem Vorsorgeprinzip aus Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV, welche in den Erläuterungen zur Charta als Vergleichsmaßstab für die Grundsatznormen genannt werden,132 ein „Prüfungsschema“ angewendet, dass mit dem dreistufigen Prüfungsaufbau bei den Grundrechten durchaus vergleichbar ist.133 Anstatt von Eingriff oder Beeinträchtigung spricht der EuGH im Zusammenhang mit dem Grundsatz auf Marktstabilisierung von „Störung“134, beim Vorsorgeprinzip von „Anwendung – Umfang – Grenzen“135. Im Übrigen unterscheiden sich die Grundsatznormen in ihrer abwehrrechtlichen Dimension nach hier vertretener Ansicht ohnehin kaum von herkömmlichen Grundrechten.136 Es ist deshalb Rengeling und Szczekalla Recht zu geben, wenn sie meinen, dass im Zusammenhang mit den Grundsatznormen nicht ohne Not von einem bekannten und bewährten137 Prüfungsschema abge128

Siehe hierzu oben Teil 3, II. 5. d). Vgl. die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35. 129 Siehe hierzu oben Teil 3, III. 4. e) cc). 130 Vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 17; Bühler, Einschränkung, S. 387; Schmitz, JZ 2001, 833 (841); Winkler, Grundrechte, S. 53 f. 131 Schmitz, JZ 2001, 833 (841). Hervorhebungen des Autors wurden weggelassen. 132 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35. 133 Vgl. EuGH, Rs. C-265/85, Slg. 1987, 1155 (van den Bergh); EuG, Rs. T-13/99, Slg. 2002, II-3318 (Pfizer). 134 EuGH, Rs. C-265/85, Slg. 1987, 1155 Rn. 22 (van den Bergh). 135 EuG, Rs. T-13/99, Slg. 2002, II-3318 Schlüsselwörter Nr. 4, Rn. 6 (Pfizer). 136 So auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45a; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 100; Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 7 Rn. 96. 137 Der EuGH hat zu solchen dogmatischen Erwägungen bislang noch kaum Stellung genommen. Dies wurde in der Literatur vielfach kritisiert. Vgl. statt vieler Eh-

V. Rechtfertigung

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wichen werden sollte.138 Anstelle des Begriffs „Eingriff“ schlagen beide lediglich die Verwendung des Terminus „Beeinträchtigung“ vor, weil es den Grundsatznormen im Gegensatz zu den Grundrechten an einem klar umrissenen Schutzbereich fehle, man deshalb bei den Grundsatznormen nur schwer von einem Eingriff im herkömmlichen Sinne sprechen könne. Hierbei handelt es sich aber nur um einen Vorschlag zur Terminologie;139 in der Sache halten Rengeling und Szczekalla am traditionellen dreistufigen Prüfungsschema fest, und das zu Recht.140

V. Rechtfertigung Nicht jeder Eingriff in eine Grundsatznorm führt sogleich zu deren Verletzung. Eine Rechtfertigung ist denkbar. 1. Schranken Ebenso wie die echten Grundrechte sind selbstverständlich auch oder sogar erst recht die Grundsatznormen nicht schrankenlos gewährleistet. Dies wird in der Literatur mit Hinweis auf den Wortlaut des Art. 52 Abs. 1 GRC teilweise anders gesehen.141 Die Art. 52 Abs. 1 bis Abs. 4 GRC bezögen sich ausschließlich auf Rechte und Freiheiten. Die Grundsätze würden von den dort genannten Schranken nicht erfasst. Sie bedürften auch gar keiner Schranken. Grundsatznormen wären nämlich zuvörderst auf Konkretisierung durch den Gesetzgeber angelegt.142 Gegen dieses Verständnis lassen sich jedoch zwei gewichtige Argumente anführen: Erstens, zwar lers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 44 ff. m. w. N.; Kühling, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (596 ff.). 138 Vgl. Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 265 f. 139 Instruktiv zu diesen terminologischen Fragen Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 15 ff. m. w. N., der den Terminus „Beeinträchtigung“ als Oberbegriff versteht, unter dem er Eingriffe, relative Benachteiligungen und das Unterlassen von Leistung bzw. Schutz zusammenfasst. 140 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 265 f. Vgl. auch Szczekalla, in Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 7 Rn. 97. Ähnlich wohl Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 100, für die Chartabestimmungen, die mit der Formel „Die Union anerkennt und achtet“ eingeleitet werden. 141 Ebenso wenig werden die Grundsätze in Absatz 6 der Präambel erwähnt, bei dem es sich nach Auffassung eines Teils der Literatur um eine allgemeine Schrankenregelung handeln solle, vgl. Meyer, in: ders. (Hrsg.), Charta, Präambel Rn. 50; Stern/Tettinger, in: dies. (Hrsg.), Charta, Präambel A Rn. 47. 142 Vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 17; Bühler, Einschränkung, S. 387; Schmitz, JZ 2001, 833 (841); Winkler, Grundrechte, S. 53 f.

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Teil 4: Allgemeine Grundsatzlehren

ist zuzugeben, dass der Schwerpunkt der Grundsatznormen im Leistungsbereich liegt. Der Union und die Mitgliedstaaten (im Anwendungsbereich des Unionsrechts) kommt primär die Aufgabe zu, die Grundsätze umzusetzen und diese zu fördern (vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC).143 Wie oben aber gezeigt werden konnte,144 weisen nahezu alle Grundsatznormen auch abwehrrechtliche Gehalte auf, die – sonst würde es zum Widerspruch mit den bewusst und gewollt durchsetzungsfähigeren Grundrechten kommen – eben nicht schrankenlos garantiert und damit absolut geschützt sein können.145 Zweitens spricht vieles dafür, dass die beiden Konvente die allgemeine Schranke des Art. 52 Abs. 1 GRC nur etwas nachlässig formuliert haben. Zum einen wurde offensichtlich nicht bedacht, dass einige wenige Gewährleistungen überhaupt nicht beschränkt werden können. Es ist hierbei an Art. 1 (Menschenwürde), Art. 2 Abs. 2 (Verbot der Todesstrafe), Art. 4 (Folterverbot) oder Art. 5 (Verbot der Sklaverei und Zwangarbeit; Menschenhandel) zu denken.146 Aber auch das Petitionsrecht aus Art. 44 GRC ist beispielweise einer Beschränkung nicht zugänglich, sondern kann höchstens eine Ausgestaltung erfahren.147 Zum anderen hat man versäumt, die Grundsatznormen wenigstens als Schranken-Schranken in Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRC aufzunehmen. Bislang heißt es dort lediglich: „Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie notwendig sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.“ Im Umkehrschluss hieraus könnte man meinen, die Grundsatznormen dürften noch nicht einmal als Rechtfertigung für einen Eingriff in herkömmliche Grundrechte herangezogen werden. Dieser Auslegung widerspricht die 143

Siehe oben Teil 3, II. 5. c). Siehe oben Teil 3, II. 5. b). 145 Die Grundsatznormen waren in erster Linie gedacht, um die Absenkung nationaler Sozialstandards zu verhindern. Siehe hierzu oben Teil 2, I. 2. Vgl. auch Barriga, Entstehung, S. 127, 154. Dies erkennt auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45a, der daraus aber für die Systematik der Schrankenregelungen die falschen Schlussfolgerungen zieht. So wie hier Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 265; Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 7 Rn. 90. 146 Vgl. hierzu auch die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 17 f. Vgl. auch die Diskussionen im Chartakonvent, nachzulesen bei Bernsdorff/Borowsky, Sitzungsprotokolle, S. 233 ff. Vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 14; Bühler, Einschränkung, S. 362 ff.; Eisner, Schrankenregelung, S. 212 ff. Ausführlich zum Ganzen v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 451 ff. m. w. N. 147 Vgl. hierzu auch Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 45. 144

V. Rechtfertigung

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ganz herrschende Meinung jedoch zu Recht.148 Aufgrund dieser Ungenauigkeiten bei der Kodifizierung des allgemeinen Schrankenvorbehalts würde es wenig überraschen, wenn auch die Erwähnung der Grundsatznormen in Art. 52 Abs. 1 GRC übersehen worden wäre. Dies ließe sich im Übrigen leicht damit erklären, dass Art. 52 Abs. 1 GRC in der Fassung des Grundrechtekonvents wohl noch für alle Normen der Charta gegolten hatte,149 man nach Änderung durch den Verfassungskonvent und Aufnahme des Art. 52 Abs. 5 GRC aber vergaß, Art. 52 Abs. 1 GRC entsprechend anzupassen.150 Wie auch immer, zumindest die durch Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC zugelassene (Teil-)Justiziabilität der Grundsatznormen151 erfordert eine Einschränkbarkeit der Grundsatznormen. Jede Gewährleistung – mit ganz wenigen Ausnahmen von absolut geschützten Gütern152 – muss nämlich beschränkbar sein.153 Etwas anderes kann auch nicht für die Grundsatznormen gelten.154 Ist die Schranke nicht ausdrücklich geregelt, besteht sie in den anderen Grundrechten und Grundsätzen der Charta bzw. in den allgemeinen Zielbestimmungen der Gemeinschaft.155 Dem deutschen Verfassungsrechtler ist 148

Vgl. Bühler, Einschränkung, S. 386 f. m. w. N.; Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 283; Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 36; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 14. Siehe hierzu auch oben Teil 3, III. 3. c) bb) (1). 149 In diese Richtung gingen auch die Diskussionen im Chartakonvent, vgl. Barriga, Entstehung, S. 157 ff.; Bernsdorff/Borowsky, Sitzungsprotokolle, S. 233 f., 299 ff. Ähnlich Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 3, der zugibt, dass man sich bei der Erarbeitung der Generalklausel sowohl an die Schranken der EMRK als auch an die der Sozialcharta orientiert hat. Gerade die Garantien der Sozialcharta wurden jedoch vielfach als Grundsätze in die Charta übernommen. Ähnlich wie hier Dutheil de la Rochère, CMLRev. 2004, 345 (352). 150 Vgl. ausführlich zur Historie der allgemeinen Schrankenbestimmung Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 1 ff. m. w. N. 151 Siehe ausführlich hierzu oben Teil 3, III. 4. e) aa) (2). 152 Vgl. hierzu auch die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 17 f. Vgl. auch die Diskussionen im Chartakonvent, nachzulesen bei Bernsdorff/Borowsky, Sitzungsprotokolle, S. 233 ff. So wie hier Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 14; Bühler, Einschränkung, S. 362 ff.; Eisner, Schrankenregelung, S. 212 ff. 153 So auch EuGH, Rs. C-5/88, Slg. 1989, 2609 Rn. 18 (Wachauf); Verb. Rs. C-46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859 Rn. 19 (Hoechst). So wie hier Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 45; Szczekalla, in Heselhaus/Nowak, Hb. Grundrechte, § 7 Rn. 40, 94. 154 So wie hier wohl auch Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 265 f.; Szczekalla, in Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 7 Rn. 97. 155 So die bisherige Rechtsprechung des EuGH zur Beschränkbarkeit von Gewährleistungen, vgl. EuGH, Rs. C-5/88, Slg. 1989, 2609 Rn. 18 (Wachauf); Verb. Rs. C-46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859 Rn. 19 (Hoechst). Ähnlich wie hier Bühler,

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Teil 4: Allgemeine Grundsatzlehren

diese Regelungssystematik unter dem Begriff der verfassungsimmanenten Schranken geläufig.156 Aus Art. 52 Abs. 1 GRC den Schluss zu ziehen, die Grundsatznormen wären schrankenlos gewährleistet, ist folglich nicht zulässig. Man könnte aber auch Art. 52 Abs. 1 GRC erweiternd auslegen und die Grundsatznormen von dieser allgemeinen Schrankenbestimmungen mit umfasst sehen oder Art. 52 Abs. 5 GRC als Schranke der Grundsatznormen verstehen. Nach hier vertretener Ansicht sollte man Art. 52 Abs. 1 GRC analog auch auf die Grundsatznormen anwenden (ggf. mit kleineren Modifikationen aufgrund der Eigenart dieser neuen Normkategorie)157. Die spezielleren Schranken des Art. 52 Abs. 2 bis 4 GRC sind auf die Grundsatznormen wohl nicht übertragbar, nicht wegen des Wortlauts158, sondern weil weder in der EMRK noch im EG-Vertrag Garantien verankert sind, die den in der Charta normierten Grundsätzen entsprechen.159 Die Grundsätze sind – wie bereits begründet wurde160 – eine spezielle Normkategorie der Charta. Im EG-Vertrag finden sich dagegen nur Ziel- oder Querschnittsbestimmungen.161 Diese Argumentation dürfte auch in Bezug auf Art. 52 Abs. 4 GRC gelten. Dies soll jedoch nicht heißen, dass Interpretationsansätze für die Grundsatznormen, die sich im EG-Vertrag oder in den Verfassungen der Mitgliedstaaten finden, zur Interpretation der Grundsatznormen nicht vergleichend herangezogen werden könnten.162 Im Gegenteil, die Einschränkung, S. 453 ff. A. A. (immanente Schranken bei der Charta seien nicht zulässig) Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 22. 156 Vgl. Hufen, Grundrechte, § 9 Rn. 30 ff.; Kokott, in: Merten/Papier (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 22 Rn. 43 ff.; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 325 ff. m. w. N. 157 Die Wesensgehaltstheorie ist auf die Grundsatznormen wohl nicht anwendbar, siehe hierzu sogleich unten Teil 4, V. 2. 158 Ebenso Bühler, Einschränkung, S. 279 f. A. A. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 25, 44b; Dorf, JZ 2005, 126 (128); Ladenburger, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 46 ff., 71. 159 Zurückhaltender Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 27 mit Fn. 62, der offensichtlich der Meinung ist, dass Art. 52 Abs. 2 GRC durchaus auch auf mit den Grundsatznormen vergleichbaren Bestimmungen verweisen würde. Ebenso Bühler, Einschränkung, S. 279 f. A. A. (Art. 52 Abs. 2–4 GRC erfassten ausschließlich „echte“ Rechte) Barriga, Entstehung, S. 157; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 25, 44b; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 46 ff., 71. Ausführlich zu diesen Bestimmungen v. Arnim, Standort der Grundrechtecharta, S. 377 ff. m. w. N.; Griller, in: Duschanek/ders. (Hrsg.), Grundrechte für Europa, S. 131 (145 ff. m. w. N.). Instruktiv auch Dorf, JZ 2005, 126 (128). So wie hier Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 85 ff. m. w. N. Vgl. auch den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II CONV 354/02 S. 6 ff., der die hier vertretene Ansicht stützt. 160 Siehe oben Teil 3, II. 3. 161 So Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 86 f. 162 Ähnlich wie hier Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 86 f.

V. Rechtfertigung

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Erläuterungen zur Charta nennen als Vergleichsmaßstab für die Grundsatznormen ausdrücklich das Vorsorgeprinzip aus Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV und den Grundsatz der Marktstabilisierung aus Art. 33 Abs. 1 lit. c EGV. Zudem verweisen die Erläuterungen in diesem Zusammenhang auch auf die „Ansätze“ in den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten.163 Die Schranke des Art. 52 Abs. 6 GRC ist – wie vorstehend bereits angesprochen164 – auf Grundrechte und Grundsätze gleichermaßen anwendbar.165 2. Schranken-Schranken Die Einschränkbarkeit der Grundsatznormen ist ihrerseits nicht grenzenlos möglich. Als weitaus166 bedeutendste Schranken-Schranke muss stets das Verhältnismäßigkeitsprinzip beachtet werden.167 Ein Durchführungsakt168 kann aber nur dann rechtswidrig und damit unwirksam sein, wenn infolge der Unwirksamkeit der Grundsatz nicht noch stärker beeinträchtigt wird.169 Die Wesensgehaltstheorie ist auf die Grundsatznormen wohl nicht anwendbar, da die Grundsätze nicht so genau gefasst sind, als dass sich aus diesen ein minimales Schutzniveau ableiten ließe, welches als Kern eines Grundsatzes gelten könnte.170 Wichtig zu erwähnen bleibt schließlich, dass die Gewährleistungen der Charta nicht zu einer Kompetenzausweitung führen (dürfen) (vgl. Art. 51 Abs. 2 GRC).171 In Anlehnung an die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte zum Grundsatz der Marktstabilisierung aus Art. 33 Abs. 1 lit. c EGV und zum Vorsorgeprinzip aus Art. 174 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EGV ist auch bei den 163

ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35. Siehe oben Teil 4, I. 165 So auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 17; Jarass, EUGrundrechte, § 6 Rn. 29. 166 Teilweise prüft der EuGH das Verhältnismäßigkeitsprinzip völlig losgelöst vom konkreten Grundrechtseingriff, vgl. EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4973 (Bananenmarkt II). Instruktiv zum Ganzen Schütz/Bruha/Koenig, Casebook, S. 891 f. 167 EuGH, Rs. C-5/88, Slg. 1989, 2609 Rn. 18 (Wachauf); Verb. Rs. C-46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859 Rn. 19 (Hoechst). Vgl. hierzu auch statt vieler Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 22c; Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 50 m. w. N.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Charta, Art. 52 GRC Rn. 65 ff. m. w. N. 168 Zur weiten Auslegung des Begriffs des Durchführungsaktes siehe oben Teil 3, III. 4. d) cc). 169 Völlig richtig Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 35. 170 Siehe hierzu bereits oben Teil 3, III. 4. d) aa) (1). 171 Vgl. hierzu Jarass, EU-Grundrechte, § 4 Rn. 6 f. Siehe auch oben Teil 3, III. 3. c) bb) (1). 164

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Grundsatznormen dem Gemeinschaftsgesetzgeber ein weiter Einschätzungsspielraum einzuräumen.172 Der EuGH formulierte in diesem Zusammenhang in der Rs. van den Berg: „Nach ständiger Rechtsprechung kommt es für die Frage, ob eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, darauf an, ob die gewählten Mittel zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet sind und das hierzu Erforderliche nicht übersteigen. Wie der Gerichtshof [. . .] festgestellt hat, kann zwar die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme dadurch beeinträchtigt werden, dass sie für das vom zuständigen Organ verfolgte Ziel offensichtlich ungeeignet[173] ist, doch ist den Gemeinschaftsorganen mit Rücksicht auf die ihnen im Vertrag zugewiesenen Verantwortung [. . .] ein weites Ermessen zuzugestehen.“174 Diese geringe Kontrolldichte – wie gesehen prüft der EuGH meist nur, ob die Maßnahme „nicht offensichtlich unverhältnismäßig“175 ist – wird im Schrifttum heftig kritisiert.176 Diese Kritik ist, was die Grundrechte betrifft, auch berechtigt. „Le substantiel et le procédural sont les deux versants de la protection des droits fondamentaux“,177 die Grundrechte sind also nur so viel wert, wie sie im Bedarfsfall in einem geordneten Verfahren zur Durchsetzung gebracht werden können.178 Durch die Sichtbarmachung der Grundrechte in der Charta erhoffen sich manche deshalb auch eine dahingehende Rechtsprechungsänderung seitens des EuGH.179 Bei den Grundsatznormen sollte man mit der Forderung nach einer verstärkten Prüfung dagegen vorsichtig sein. Zum einen dürfen die Gestaltungsspielsräume des Gemeinschaftsgesetzgebers nicht über Gebühr verkürzt werden (ins172 So wie hier Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 14; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 139. Siehe hierzu auch oben Teil 2, IV. 3. d) bb) (2) (b). Ausführlich zum Ganzen Bühler, Einschränkung, S. 194 ff. m. w. N.; Kühling, in: v. Bogdandy: Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (631 f. m. w. N.). Siehe hierzu schon oben Teil 3, III. 4. e) aa) (1) mit und bei Fn. 750. 173 Hervorhebung durch den Verfasser. 174 EuGH, Rs. C-265/85, Slg. 1987, 1155 Rn. 31 (van den Bergh). 175 EuGH, Rs. C-306/93, Slg. 1994, I-5555 Rn. 20 ff. (SMW Winzersekt); Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4973 (Bananenmarkt II). Instruktiv zum Ganzen Bühler, Einschränkung, S 194 ff. m. w. N.; Schütz/Bruha/Koenig, Casebook, S. 891 f. 176 Vgl. Bühler, Einschränkung, S. 203 ff.; Frenz, EuR 2002, 603 (612); Nettesheim, EuZW 1995, 106 f.; Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 7 Rn. 121 ff. Etwas vorsichtiger Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 50 m. w. N. A. A. v. Bogdandy, JZ 2001, 157 (161 ff.). Vgl. auch Kühling, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (621 ff.). 177 Thulkens, RUDH 2000, 50 (51). 178 Ausführlich zum Ganzen Bühler, Einschränkung, S. 432 f.; Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 7 Rn. 116 ff. 179 Vgl. Bühler, Einschränkung, S. 433 m. w. N.

V. Rechtfertigung

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besondere bei den weniger klar formulierten Garantien wie dem Umweltschutz, Verbraucherschutz oder den Rechten für ältere oder behinderte Menschen). Zum anderen war die geringe Kontrolldichte bei den Grundsatznormen Konsens in den beiden Konventen. Dies zeigen die Erläuterungen zur Charta unter ausdrücklichem Hinweis auf die eben genannte Rechtsprechung.180 Dem Status der Grundrechtecharta angemessen und dem Gerechtigkeitsinteresse des Bürgers förderlich wäre es jedoch, wenn der EuGH die von ihm bislang praktizierte bloße Evidenzkontrolle wenigstens durch eine Vertretbarkeitskontrolle ersetzen würde.181 3. Exkurs: Normenkollisionen Zu einer Normenkollision kann es kommen, wenn bei einem Sachverhalt gleichzeitig mehrere Garantien einschlägig sind, die jedoch ein, voneinander jeweils differierendes Ergebnis fordern.182 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob manchen und wenn ja welchen Gewährleistungen der Charta bzw. des europäischen Primärrechts im Rahmen einer Abwägung der Vorrang eingeräumt werden muss. Es handelt sich hierbei um das Problem des Verhältnisses der Grundsatznormen untereinander bzw. das der Grundsatznormen zu den Grundrechten bzw. Grundfreiheiten. Die Rechtsprechung zur Problematik der Normenkollision ist bislang recht dünn.183 Mit In-Kraft-Treten der Grundrechtecharta dürfte dieses Problem in seiner Bedeutung zunehmen, da nunmehr sämtliche Garantien in schriftlicher Form vorliegen.184 Die Frage des Vorrangs lässt sich nach hier vertretener Ansicht nicht abstrakt beantworten, sondern hängt immer vom konkreten Einzelfall ab. Es kann jedoch nicht geleugnet werden, dass der EuGH bislang meist den Grundfreiheiten den Vorrang vor den Grundrechten185 und den geschriebenen Grundrechten den Vorrang vor den unge180

ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35. Instruktiv hierzu Kadelbach/Petersen, EuGRZ 2003, 693 (698). 182 Ausführlich hierzu Frenz, EWS 2005, 15 ff.; Müller-Graf, in: Schwarze (Hrsg.), Europäische Verfassung, S. 19 ff.; Schindler, Kollision; Schütz/Bruha/Koenig, Casebook, S. 900 ff. 183 Instruktiv die Zusammenfassung bei Schütz/Bruha/Koenig, Casebook, S. 900 ff. 184 So auch Müller-Graff, in: Schwarze (Hrsg.), Europäische Verfassung, S. 19 (20, 40 f.). Zweifelnd dagegen Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten, S. 136 f. 185 EuGH, Rs. C-45/90, Slg. 1992, I-3423 (Paletta I); Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 Rn. 79 f. (Bosman). Dann aber EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (Schmidberger); Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (Omega). Nun aber wieder problematisch EuGH, Rs. C-341/05, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, 181

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schriebenen Grundrechten186 zugebilligt hat. Infolge dieser Rechtsprechung würde es deshalb nicht weiter verwundern, wenn der Gerichtshof die als weniger durchsetzungsfähig normierten Grundsatznormen (vgl. Art. 52 Abs. 5 GRC) als nachrangig gegenüber den Grundfreiheiten und Grundrechten einstufen würde. Wünschenswert wäre es demgegenüber, wenn der EuGH künftig versuchte, im Wege der praktischen Konkordanz für einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Bestimmungen zu sorgen, sodass jede einzelne Gewährleistung weitestgehend beachtet werden würde und keine gänzlich zurücktreten müsste (sog. Abwägungslösung).187 Dies gilt sowohl im Verhältnis zwischen den Grundsatznormen und den echten Grundrechten bzw. Grundfreiheiten als auch im Verhältnis der Grundsatznormen untereinander. Eine Verbindung zwischen Grundsätzen und Grundrechten wie nach deutschem Vorbild (z. B. die Herleitung des Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip), um so ersteren eine subjektivrechtliche Dimension zu verschaffen, ist – darauf wurde bereits ausführlich eingegangen188 – nicht möglich. Die Verbindung von verschiedenen Kategorien von Gewährleistungen ist dem Gemeinschaftsrecht genauso wie dem Recht der meisten Mitgliedstaaten und der EMRK unbekannt.189 Ebenfalls schon besprochen wurde das Problem der möglichen Doppelqualifikation von Grundsatznormen.190

Rn. 92 (Laval); Rs. C-438/05, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 44 (Viking). So wie hier Frenz, EuR 2002, 603 (615, 617 f.); Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten, S. 124; Schütz/Bruha/ Koenig, Casebook, S. 902; Suerbaum, EuR 2003, 390 (396). Krit. auch Gramlich, DÖV 1996, 801 (809 f.); Quasdorf, Dogmatik der Grundrechte, S. 228. Von einem Generalvorrang des nationalen Würdeverständnisses geht dagegen aus Bröhmer, EuZW 2004, 755 (757 f.). 186 EuGH, Rs. C-237/85, Slg. 1986, 2101 Rn. 20 (Rummler); Rs. C-360/90, Slg. 1992, I-3589 (Bötel). So wie hier auch Schütz/Bruha/Koenig, Casebook, S. 901. 187 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 35; Stieglitz, Allgemeine Lehren, S. 208; Schindler, Kollision, S. 145 f.; Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten, S. 135. Krit. dagegen Müller-Graf, in: Schwarze (Hrsg.), Europäische Verfassung, S. 19 (38 f.). Ähnlich auch Skouris, DÖV 2006, 89 (95 f.). A. A. Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 62, der jedoch die Antwort schuldig bleibt, was von den Grundsatznormen übrig bliebe, wenn man sie stets als nachrangig gegenüber den echten Grundrechten einstufen würde. 188 Siehe oben Teil 3, III. 4. d) aa) (1). 189 So wie hier Geesmann, Soziale Grundrechte, S. 281. A. A. Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 37 Rn. 13; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 139. 190 Siehe oben Teil 3, II. 2.

VI. Ergebnis

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VI. Ergebnis (1) Die Grundrechtecharta und damit auch die Grundsatznormen binden sowohl die Union als auch die Mitgliedstaaten, letztere aber nur bei Sachverhalten im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. Ein Handeln oder Unterlassen fällt dann in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, wenn EG-Recht vollzogen wird oder Mitgliedstaaten in Grundfreiheiten eingreifen. Mit der Formulierung des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC war eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte nicht gewollt. (2) Die Gewährleistungen der Grundrechtecharta entfalten keine unmittelbare Drittwirkung. Eine mittelbare Drittwirkung ist dagegen möglich. Zudem begründen die Grundrechte ebenso wie die Grundsätze Schutzpflichten, mit der Folge, dass Private durch gesetzliche Verbote und effektive Sanktionen vor Diskriminierung, Ausbeutung und ähnlichen Gefährdungen geschützt werden müssen. (3) Die nicht auszuschließende Verletzung der Grundsatznormen ist nach dem Schema „Schutzbereich, Eingriff/Beieinträchtigung und Rechtfertigung“ zu prüfen. (4) Treffen in einer Konstellation mehrere Gewährleistungen aufeinander, so muss versucht werden, im Wege praktischer Konkordanz für einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Vorschriften zu sorgen. Jede einzelne Garantie soll weitestgehend beachtet werden, keine Bestimmung soll gänzlich zurücktreten müssen (sog. Abwägungslösung). (5) Die Grundrechtecharta enthält entweder Grundrechte oder Grundsätze. Eine Doppelqualifizierung von Normen ist nicht denkbar. Ebenfalls ausgeschlossen ist, dass die Grundsätze in Verbindung mit Grundrechten zu dann auch im Leistungsbereich einklagbaren Bestimmungen werden.

Teil 5

Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen Im Folgenden bleibt die letzte und vielleicht wichtigste Frage zu den Grundsatznormen zu beantworten. Es ist die nach den Kriterien zur Abgrenzung der Grundsätze von den Grundrechten und Einordnung der einzelnen Chartaartikel in eine der beiden Normkategorien. Nach einer kurzen Erläuterung zur Notwendigkeit dieser Differenzierung sollen zunächst die bisher vom Schrifttum vorgetragenen Abgrenzungskriterien dargelegt und auf deren Tauglichkeit hin untersucht werden. Sodann wird ein eigener Vorschlag zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen vorgestellt, an Hand dessen schließlich die Zuordnung einer jeden einzelnen Garantie zu einer der beiden Normgruppen erfolgen soll.

I. Notwendigkeit der Abgrenzung Wie man sogleich sehen wird,1 herrscht im Schrifttum bislang alles andere als Klarheit über die Frage, welche Bestimmungen der Charta Grundrechte und welche Grundsätze sind. Dies dürfte für die ganz herrschende Meinung in der Literatur ein sehr unbefriedigender Zustand sein, weil entgegen der hier vertretenen Ansicht sich nach deren Auffassung die Grundsätze von den Grundrechten in ihren Rechtsfolgen erheblich voneinander unterscheiden.2 Die Einordnung einer Gewährleistung in eine der beiden Normtypen bestimmt demnach weitgehend über die Tragweite der jeweiligen Vorschrift.3 Die Unsicherheit in der Kategorisierung führt zu einer Relativierung der gesamten Grundrechtecharta, weil – wie Kingreen zu Recht meint4 – die Gefahr besteht, dass insbesondere die etwas „unbequemeren“ 1

Siehe dazu sogleich Teil 5, II. 1. Siehe dazu oben Teil 1, II. 2. Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Rechten und Grundsätzen betont auch der Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II CONV 354/02 S. 8. 3 Vgl. statt vieler Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (565); Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 25; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 13 ff. m. w. N. 4 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 16. 2

I. Notwendigkeit der Abgrenzung

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Garantien, wie beispielsweise die aus der Gruppe der sozialen Grundrechte, vorschnell als Grundsätze eingestuft und damit „entschärft“ werden. Mit der in dieser Arbeit entwickelten These der Ähnlichkeit von Grundrechten und Grundsätzen5 ist die Problematik um das Auffinden eines geeigneten Abgrenzungskriteriums wegen Art. 52 Abs. 5 GRC zwar nicht vom Tisch, aber nicht mehr derart dringend. Eine ausdrückliche Zuordnung der einzelnen Artikel zu einer der beiden Normkategorien wird in der Charta nicht vorgenommen.6 Auch die Erläuterungen zur Charta, denen wegen Art. 52 Abs. 7 GRC große Bedeutung für die Auslegung zukommt,7 nehmen zur Frage der Qualifizierung nur bedingt Stellung. Als Beispiele für Grundsatznormen werden dort ausdrücklich die Art. 25, 26 und 37 genannt.8 „Sowohl Elemente eines Rechts als auch eines Grundsatzes“ enthielten die Art. 23, 33 und 34 GRC.9 Wie bereits erläutert, kann dieser Hinweis nur so verstanden werden, dass zwar bei mehreren Gewährleistungen innerhalb eines Artikels die Garantien möglicherweise verschiedene Normkategorien zuzuordnen sind, dass aber eine einzelne Garantie nicht gleichzeitig Grundsatz und Grundrecht sein kann.10 In den Erläuterungen zur Charta werden bei den Einzelkommentierungen weitere Gewährleistungen als Grundsätze bezeichnet: Art. 3 Abs. 2, 14 Abs. 2, 23, 26, 34 Abs. 1, 35, 36, 37, 38 und 50 GRC.11 Da aber hiernach eben auch die Art. 3 Abs. 2 und 14 Abs. 2 GRC unter die Kategorie der Grundsätze fallen würden, obwohl es sich bei diesen Bestimmungen wohl eher um Grundrechte handelt,12 erscheint die bloße Bezeichnung einer Norm als 5

Siehe oben Teil 3, III. 6. Vgl. statt vieler Brecht, ZEuS 2005, 355 (369); Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (565); Heringa/Verhey, MJ 2001, 14 ff.; Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 22, 25; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 96. 7 Siehe oben Teil 2, I. 1. 8 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 32. 9 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 32. 10 Siehe hierzu ausführlich oben Teil 3, II. 2. 11 Art. 41, 47 Abs. 1, 3 GRC sprechen von Allgemeinen Rechtsgrundsätzen, also von Grundrechten. Vgl. die Erläuterungen zur Grundrechtecharta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 28 f. Vgl. hierzu auch Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 Rn. 97. 12 Ähnlich wohl (zu Art. 3 Abs. 2 GRC) Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 3 GRC Rn. 3; Jarass, EU-Grundrechte, § 9 Rn. 17; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 403. Offengelassen von Höfling, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 3 Rn. 16 m. w. N. Für den Grundsatzstatus dagegen Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 3 Rn. 40, 52 Rn. 45d. (Zu Art. 14 Abs. 2 GRC) Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 14 GRC Rn. 3; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. II-74, Rn. 5; Kempen, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), Charta, Art. 14 Rn. 16. A. A. Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 14 Rn. 14 (unter Verkennung, dass der Terminus „Prinzip“ ein Synonym für 6

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

Grundsatz in den Einzelkommentierungen der Charta – anders als bei den Erläuterungen zu Art. 52 Abs. 5 GRC (!) – für die endgültige Einordnung einer Norm als nicht zwingend.13 Offensichtlich ist dies bei Art. 50 GRC, da dem ne bis in idem-„Grundsatz“ schon alleine aufgrund des Art. 52 Abs. 3 GRC i. V. m. Art. 4 ZP VII EMRK Grundrechtsqualität zukommen muss.14 Weitere konkrete Anhaltspunkte für die Einordnung von Chartaartikeln finden sich weder in den Erläuterungen zur Charta noch in der Charta selbst. Dieses Versäumnis lässt sich damit erklären, dass man sich in den beiden Konventen auf eine ausdrückliche Zuordnung der Bestimmungen zu einer der beiden Normgruppen nicht einigen konnte.15 Diese Aufgabe wurde vielmehr dem EuGH überlassen.16 Letzteres, dies wurde bereits angemerkt,17 erscheint unter dem Blickwinkel, dass die Grundsatznormen als eigenständige Kategorie nur deshalb Aufnahme in die Charta gefunden haben, um auf dem Gebiet der von diesen gewährleisteten Schutzbereichen einem „judicial activism“ des EuGH entgegenzutreten,18 mehr als widersprüchlich.

II. Abgrenzungsvorschläge im Schrifttum 1. Vorgeschlagene Abgrenzungskriterien Da sowohl die Charta als auch die Erläuterungen zur Charta zur Frage der Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen weitgehend schweigen, muss die Antwort durch Auslegung gefunden werden. Die folgende Darstelden Begriff „Grundsatz“ ist, siehe oben Teil 3, I.). Unentschlossen Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 97 mit Fn. 272 und 273. Ausführlich zum Ganzen unten Teil 5, V. 13 So wie hier auch Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 183. 14 Ganz h. M., vgl. statt vieler Alber, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 50 Rn. 3; Blanke, in: Callies/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 50 GRC Rn. 2; Eser, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 50 Rn. 1. Zuzugeben ist, dass in den Erläuterungen zu Art. 50 GRC nur einmal von „Grundsatz“, aber viermal von „Regel“ und einmal von „Recht“ die Rede ist. Aus diesem Grunde könnte man bereits meinen, dass die Bezeichnung als Grundsatz ohnehin nur ein Versehen ist. 15 Vgl. hierzu Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 24. 16 Vg. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 GRC Rn. 45d; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 96; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 263. Vgl. auch den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II CONV 354/02 S. 8. 17 Siehe oben Teil 2, I. 2. 18 Vgl. hierzu Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 30a; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 13.

II. Abgrenzungsvorschläge im Schrifttum

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lung beschränkt sich auf die Erörterung derjenigen Ansichten, die bis dato nicht nur eine punktuelle, sondern eine systematische Unterscheidung der beiden Normkategorien versucht haben.19 Jarass schlägt zwei Kriterien vor, anhand derer die Einordnung der verschiedenen Charta-Artikel vorgenommen werden sollte.20 Zum einen ist es die Bestimmtheit der Norm. Ein Recht könne nur dann vorliegen, wenn die jeweilige Vorschrift den „Begünstigten“21 erkennen lasse. Jarass zieht hierbei einen Vergleich zur Rechtsprechung des EuGH zum Haftungsanspruch. Auch dort werde gefordert, dass der Inhalt eines Rechts auf Grundlage der jeweiligen Vorschrift bestimmt werden können müsse.22 Zum anderen stützt sich Jarass aber auch auf die Erwägung, dass Gewährleistungen, die möglicherweise zu einer gewichtigen finanziellen Belastung führen könnten, eher als Grundsätze eingestuft werden sollten.23 Hierbei denkt er in erster Linie an die Gruppe der sozialen Grundrechte.24 Unter Heranziehung dieser teils normstrukturellen, teils teleologischen Kriterien ordnet Jarass folgende Gewährleistungen den Grundsätzen zu: Art. 22, 23 Abs. 2, 24 Abs. 1 S. 1, 25–27, 30, 31, 33 Abs. 1, 34 Abs. 1 und 3, 35–38, 45 Abs. 2 GRC. Die Einordnung der Art. 10 Abs. 2 und 18 GRC lässt Jarass offen. Borowsky hält für die Kategorisierung der einzelnen Chartaartikel demgegenüber die Erläuterungen zur Charta für entscheidend und favorisiert damit eine historisch-genetische Auslegung.25 Die herausgehobene Stellung der Erläuterung bei der richtigen Zuordnung der Charta-Artikel zeige sich neben dem Art. 52 Abs. 7 GRC daran, dass einige Delegationen vergeblich versuchten haben, eine Klarstellung in den Erläuterungen – beispielsweise bei Art. 21 GRC – zu erreichen.26 Aus diesem Grund will er folgerichtig auch die Art. 3 Abs. 2 und 14 Abs. 2 GRC den Grundsatznormen zuordnen, da die Ausführungen zu den Einzelartikeln in den Erläuterungen diese Be19 Auch der französische Verfassungsgerichtshof hat in seinem Urteil v. 24. November 2004 zur Frage der Einteilung der Chartabestimmungen Stellung genommen. Zu den Grundsätzen zählte er insbesondere die Art. 15, 25, 34, 37 und 38 GRC. Eine Begründung für diese Einschätzung blieb der Conseil constitutionnel aber mehr oder weniger schuldig. Vgl. C.C. v. 24. November 2004, 04-505 DC. 20 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 26. 21 Gemeint war wohl „Berechtigter“. 22 Ähnlich Heringa/Verhey, MJ 2001, 11 (14); Weber, DVBl. 2003, 220 (223). 23 Ähnlich Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 96. Krit. ggü. diesem Argument Hipold, ZÖR 2004, 351 (353). 24 Vgl. hierzu auch Ashiagbor, EHRLR 2004, 62 (71). 25 Vgl. Borowsky, in Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45d. 26 Vgl. hierzu auch die Doc. CIG 43/03 PREDID 7 v. 4. November 2003 S. 2 und CIG 75/04 PREDSID 17 v. 13. Mai 2004 S. 6. Vgl. auch Brecht, ZEuS 2005, 355 (374 ff.).

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

wertung fordere. Darüber hinaus handle es sich bei der Würde des Menschen (Art. 1 GRC) sowohl um ein Grundrecht als auch einen „fundamentalen Grundsatz“27. Ansonsten ist Borowsky mit der Einordnung einer Charta-Bestimmung als Grundsatz jedoch sehr zurückhaltend. Um der Bedeutung der Charta, die auf umfassenden Rechtsschutz und Subjektivierung angelegt sei, gerecht zu werden, müsse bei Zweifeln von einem Grundrecht ausgegangen werden. Borowsky klassifiziert demnach lediglich folgende Artikel der Charta als Grundsätze: Art. 1, 3 Abs. 2, 14 Abs. 2, 23, 25, 26, 33–38 GRC. Ladenburger und Schmittmann ziehen im Gegensatz zu den ersten beiden Ansichten eine ganze Reihe von Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen heran.28 Zunächst einmal schieden all diejenigen Bestimmungen der Charta als Grundsätze aus, die mit Gewährleistungen des EU- bzw. EG-Vertrags oder der EMRK übereinstimmen, sofern es sich dabei um Rechte handelt (vgl. Art. 52 Abs. 2 und 3 GRC).29 „Alles, was ‚Recht‘ in anderen Teilen der Verfassung sei, sei jedenfalls nicht ‚Grundsatz‘.“30 Bei den übrigen, von diesen Verweisnormen nicht erfassten Bestimmungen der Charta, seien nur solche als Grundsätze einzustufen, denen anders als den echten Grundrechten lediglich eine rein objektiv-rechtliche Dimension zukäme.31 Ob eine Norm lediglich objektiv-rechtliche Wirkung entfalte, müsse anhand des Wortlauts, der Systematik, der Entstehungsgeschichte32, des Adressatenkreis, des Kreises der Berechtigten bzw. Begünstigen der jeweiligen Vorschrift und weiteren Kriterien abgeleitet werden. Ladenburger will in Anlehnung an die deutsche Schutznormtheorie zudem fragen, ob eine Charta-Bestimmung zumindest auch im Interesse 27

Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 1 Rn. 32 ff., 52 Rn. 45d. Vgl. Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 98 m. w. N.; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 81 ff. m. w. N. 29 Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 46 ff., 71; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 85 ff. m. w. N. Vgl. auch den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II CONV 354/02 S. 7 f., der Schmittmanns Ansicht stützt. Ebenso Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 25, 44b. Zurückhaltender Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 27 mit Fn. 62, der offensichtlich der Meinung ist, dass Art. 52 Abs. 2 GRC durchaus auch auf mit den Grundsatznormen vergleichbaren Bestimmungen verweisen würde. Ähnlich Bühler, Einschränkung, S. 279 f. Instruktiv zu diesen Vorschriften Dorf, JZ 2005, 126 (128). 30 Vgl. Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 82. 31 H. L., vgl. statt vieler Bühler, Einschränkung, S. 385; Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (565); Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 22, 25 ff. m. w. N.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 13; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 81 ff. m. w. N.; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 263 f. Siehe auch oben Teil 1, II. 2. 32 So auch Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rn. 58. 28

II. Abgrenzungsvorschläge im Schrifttum

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Einzelner besteht, dann Grundrecht, oder bloß objektive Gemeinwohlinteressen verfolgt, dann Grundsatz. Von Ladenburger und Schmittmann in die Erwägung um die Abgrenzung der beiden Normkategorien werden ebenfalls die Kriterien miteinbezogen, die bereits Jarass als entscheidend ansieht: die Bestimmtheit der jeweiligen Norm und die mögliche finanzielle Belastung bei Einklagbarkeit. Ganz interessant ist insoweit das von Ladenburger diskutierte Kriterium der Ausfüllungsbedürftigkeit der jeweiligen Bestimmung. Ein Charta-Norm, die so unbestimmt formuliert ist, dass den Gerichten ohne gesetzlichen Umsetzungsakt es nicht möglich sei, einen subjektiven Kern zu identifizieren und diesen individuellen Klägern zuzuordnen, müsste als Grundsatz eingestuft werden. Die Art. 25, 26, 34 Abs. 1 und 3 und 36 GRC, die mit der Formel „die Union anerkennt und achtet“ eingeleitet werden, ordnet Ladenburger aufgrund der Erläuterungen zur Charta gleichfalls den Grundsätzen zu. Diese Garantien begründeten jedoch keine positive Handlungspflichten; die in Art. 51 Abs. 1 allgemein statuierte Förderpflicht träfe auf diese deshalb nicht zu.33 Ingesamt befürworten Ladenburger und Schmittmann wie schon Borowsky ein eher enges Verständnis von den Grundsatzbestimmungen, das über die in den Erläuterungen bereits ausdrücklich aus Grundsätze bezeichneten Bestimmungen hinaus nur noch wenige weitere Garantien vorsieht. Nach deren Ansicht wären dies:34 Art. 22, 23 Abs. 2, 25–27, 34 Abs. 1 und 3, 35 S. 2, 36–38 GRC. Weder den Grundsätzen noch den Grundrechten ordnet Schmittmann die Art. 12 Abs. 2 und 45 Abs. 2 GRC zu.35 Einen ganz anderen Ansatz versucht Kingreen.36 Entscheidend37 für die Einordnung der einzelnen Charta-Gewährleistungen in eine der beiden Normgruppen sei nach dessen Auffassung der Kreis der durch die jeweilige Norm Verpflichteten. Als Grundsatz zu qualifizieren seien all die Bestimmungen, die abweichend von Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC nur an die Union adressiert sind. Diese Artikel knüpften nämlich an Rechte an, die zumindest überwiegend bereits durch das mitgliedstaatliche Recht geschützt würden, auf eine Bindung der Mitgliedstaaten an die inhaltsgleichen Garantien der Charta also verzichtet werden könne. Die Charta setze also insoweit Rechte voraus, begründe sie aber nicht. Wären die Mitgliedstaaten an diese Nor33

Vgl. Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 100. Vgl. Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 133, 129 f. Ladenburger äußert sich nicht konkret zu den einzelnen Charta-Artikel, dürfte aber seinen Ausführungen zufolge mit Schmittmanns Einordnung zufrieden sein. 35 Ladenburger äußert sich zu diesen beiden Bestimmungen nicht. 36 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 16. 37 Daneben meint aber auch Kingreen, dass in der Mehrzahl der Fälle bereits der Wortlaut Aufschluss über die konkrete Einordnung der jeweiligen Vorschrift gebe, vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 16. 34

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

men grundrechtlich gebunden, würden durch die Charta Gemeinwohlgüter zu Individualrechten bzw. einfache subjektiv-öffentliche Rechte des nationalen Rechts zu europäischen Verfassungsrechten befördert. Mit dem Ausschluss der Bindungswirkung werde also die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten geachtet, selbst über den „normhierarchischen Status“ und die Reichweite subjektiv-öffentlicher Rechte zu bestimmen.38 Dies habe gleichzeitig auch Auswirkung auf die Union. Jene müsse diese Garantien zwar achten, dürfe also die Garantien, die ihren Ursprung im mitgliedstaatlichem Recht haben, nicht unterlaufen, sie wird aber aus Rücksicht auf die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten nicht zur Adressatin von Rechten. Auf dieser Überlegung basierend ordnet Kingreen folgende Normen den Grundsätzen zu: Art. 22, 25, 26, 34 Abs. 1 und 3, 35 S. 2, 36 und 37 GRC. Nach diesem kurzen Überblick über die verschiedenen, in der Literatur vorgeschlagenen Abgrenzungskriterien sieht man, wie uneins das Schrifttum bei der Einordnung der einzelnen Charta-Bestimmungen in die Kategorien Grundrechte und Grundsätze ist. 2. Stellungnahme Die vorstehenden Abgrenzungsversuche überzeugen nach Ansicht des Verfassers nicht. Kingreens Vorschlag, die Grundsätze von den Grundrechten anhand des Adressatenkreises zu unterscheiden, kommt zwar das Verdienst zu, den ursprünglichen Sinn und Zweck der Aufnahme dieser chartaeigenen Normkategorie nochmals herauszustellen. Jener bestand darin, eine Herunterharmonisierung nationaler Sozialstandards durch die Union unter dem Deckmantel der Liberalisierung der Märkte zu verhindern. Normen, die vor einem Absenken des nationalen Schutzniveaus schützen sollen, brauchen sich selbstverständlich nicht an die Mitgliedstaaten zu richten, da von dieser Seite keine Gefahr droht. Die Kategorie der Grundsatznormen hat sich seit Beginn des ersten Chartakonvents jedoch verselbstständigt. Man wollte nunmehr nicht nur verhindern, dass die Union nationale Sozialstandards untergräbt, sondern insbesondere auch vermeiden, dass durch Klagen Einzelner auf Leistung erhebliche finanzielle Risiken auf die Union und die Mitgliedstaaten zukämen.39 Gegen die Ansicht Kingreens sprechen jedoch nicht in erster Linie teleologische Argumente, sondern systematische. Zum einen verträgt sich diese Auffassung nicht mit den Erläuterungen zur Charta, die in Art. 23 und 33 GRC Grundsätze sehen wollen, obgleich 38

Ähnlich Lord Goldsmith, in: Heusel (Hrsg.), Grundrechtecharta, S. 35 (40). Instruktiv hierzu Prechal, in: Amicorum Kellermann, S. 177 (178, 184). Vgl. auch die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5 GRC). 39

II. Abgrenzungsvorschläge im Schrifttum

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der Adressat dieser Bestimmungen nicht nur die Union ist. Den Erläuterungen kommt aufgrund des Art. 52 Abs. 7 GRC auch eine entscheidende Bedeutung für die Auslegung der Charta zu. Wie oben ausführlich erläutert,40 ergibt sich aus dieser Vorschrift zwar keine Befolgungs-, aber eine Berücksichtigungspflicht, die zu einer Begründungslast für denjenigen führt, der von den Erläuterungen abweichen möchte. Gewährleistungen der Charta, die in den Erläuterungen zu Art. 52 Abs. 5 GRC und somit bewusst als Grundsätze bezeichnet werden, wird man somit kaum als Grundrechte einstufen können. Im Übrigen richten sich die Mehrzahl der Unionsbürgerrechte im fünften Titel auch meist nur an die Union. Trotzdem werden diese Bestimmungen von der ganz herrschenden Meinung nicht den Grundsätzen zugeordnet.41 Zum anderen bindet Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC ausdrücklich auch die Mitgliedstaaten an die Grundsätze. Verstünde man nun aber nur solche Garantien als Grundsätze, die sich ausschließlich an die Union richten, wäre Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC im Hinblick auf die Grundsätze völlig überflüssig. Ein Auslegung, die eine solch zentrale Norm teilweise inhaltsleer werden lässt, bedarf der Überprüfung. Im Übrigen stellt sich die Frage, ob die Einschränkung des Verpflichtetenkreises bei einigen Chartabestimmungen tatsächlich bedeutet, dass die Mitgliedstaaten an diese Garantien nicht gebunden sind. Dürfen die Mitgliedstaaten bei Umsetzung von Unionsrecht also Umweltschäden in Kauf nehmen, oder entgegen den Art. 25 und 26 GRC alte und behinderte Menschen benachteiligen? Ohne hier auf jede einzelne Gewährleistung eingehen zu können, wird man die Formulierung „die Union anerkennt und achtet“ eher als „im Unionsrecht wird anerkannt“ verstehen dürfen. Da die Charta für die Mitgliedstaten ohnehin nur bei Durchführung von Unionsrecht gilt, werden sich die meisten Gewährleistungen – sicherlich nicht alle – deshalb zumindest mittelbar auch an die Mitgliedstaaten richten.42 Erlässt die Union beispielsweise eine Richtlinie zur Förderung der Umwelt, müssen die Mitgliedstaaten die Richtlinie umsetzen, und zwar unter Beachtung des Art. 37 GRC. Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC dürfte diese Sichtweise stützen. Teilweise scheint die Begrenzung des Adressankreises auf die Union auch nur der Tradition geschuldet, weil ähnliche Gewährleistungen im EG-Vertrag entsprechend formuliert waren (z. B. Art. 174 EGV und Art. 37 GRC). Gleichwohl ist man bislang davon ausgegangen, dass auch die Mitgliedstaaten diese Bestimmungen – zumindest 40

Siehe oben Teil 2, I. 1. Vgl. hierzu auch Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 51 Rn. 7. 42 So wie hier wohl auch Huber, EuR 2008, 190 (192). Ähnlich Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 94. 41

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

indirekt über die Verpflichtung zur normkonformen Auslegung43 – zu beachten hatten.44 Im Übrigen scheint die Charta in diesem Punkt ohnehin etwas ungenau zu sein. Absatz 7 der Präambel erwähnt als Verpflichtete der Charta nämlich generell nur die Union, obgleich nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC selbstverständlich auch die Mitgliedstaaten an die Gewährleistungen der Charta gebunden sind. Aber auch die anderen Abgrenzungsversuche von Jarass, Borowsky, Ladenburger oder Schmittmann überzeugen nicht. Sie sind meist sehr unbestimmt; an einem klaren und einfachen Abgrenzungskriterium fehlt es bislang. Das von Jarass vorgeschlagene Kriterium des finanziellen Risikos ist zu unpräzise, lädt vielmehr zu einer willkürlichen Einordnung der ChartaBestimmungen ein. Ebenso wenig hilfreich ist der Wortlaut der Charta.45 In Art. 25 und 26 GRC ist nämlich ausdrücklich von „Recht“ bzw. „Anspruch“ die Rede, obgleich diese Gewährleistungen in den Erläuterungen zur Charta (zu Art. 52 Abs. 5 GRC) als Grundsätze bezeichnet werden. Lediglich Schmitz46, der ebenso wie die meisten anderen im Schrifttum den Wortlaut als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal ansieht, ist insoweit konsequent und will auch diese Gewährleistungen entgegen den Erläuterungen als Grundrechte verstehen. Damit gerät jener aber in einen unauflöslichen Konflikt mit Art. 52 Abs. 7 GRC. Besser ist es wohl, den Wortlaut der Charta, dies wurde oben bereits in Bezug auf die Verwendung der Verben „achten“ und „halten an“ in Art. 51 Abs. 1 GRC konstatiert,47 als nicht verlässlich einzustufen. Die Verwendung der Termini „Recht“ oder „Anspruch“ spricht demzufolge nicht zwingend für die Einordnung einer Norm als Grundrecht. Dies erkennt auch Schmittmann48 und will deshalb nicht einzelne Begriffe zur Abgrenzung heranziehen, sondern die komplette Satzstruktur. Grundsätze seien nach dessen Ansicht solche Bestimmungen, deren „Bezugsperson [. . .] kein Begünstigter oder Grundrechtsträ43

Zu diesen Terminus siehe oben Teil 3, III. 3. c) aa) (4). So ausdrücklich EuGH, Rs. C127/02, Slg. 2004, I-7405 Rn. 44 (Waddenvereniging). Vgl. auch EuGH, Rs. C-6/04, Slg. 2005, I-9017 Rn. 54 (Kommission/UK). Vgl. für eine solche Konstellation auch BVerwGE 128, 1, Leitsatz 8. Die Mitgliedstaaten können den Umweltschutz aber ihrerseits auch als Rechtfertigung für den Eingriff in eine andere Gewährleistung heranziehen, vgl. EuGH, Rs. C-513/99, Slg. 2002, I-7213 Rn. 57 (Concordia Bus Finland); Rs. C-2/90, Slg. 1992, I-4431 Rn. 29 ff. (Wallonia Waste). Vgl. zum Ganzen Herdegen, Europarecht, § 26 Rn. 5 f. 45 So wie hier Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 22, 25. A. A. Heringa/Verhey, MJ 2001, 11 (14). 46 Vgl. Schmitz, EuR 2004, 691 (704). 47 Siehe oben Teil 3, II. 4. 48 Vgl. Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 91, 94 f. Ähnlich Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (565). 44

II. Abgrenzungsvorschläge im Schrifttum

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ger ist“49. Eine solche „objektive Formulierung“ findet sich jedoch auch bei zahlreichen Charta-Artikeln, die eindeutig dem Grundrechtelager zuzurechnen sind: Art. 10 Abs. 2, 13, 14 Abs. 3, 16, etc. GRC.50 51 Gleichfalls ungeeignet zur Abgrenzung ist – hierauf wurde bereits eingegangen52 – die Formel „einzelstaatliche Gepflogenheiten“, weil auch Grundrechte wie Art. 16 GRC entsprechend gefasst sind.53 Die Erläuterungen zur Charta, die Borowsky als entscheidend für die Qualifizierung einer Chartabestimmung ansieht, helfen als Abgrenzungskriterium ebenfalls nur begrenzt weiter. Sehr überzeugend und aufgrund des Art. 52 Abs. 7 GRC wohl auch kaum in Frage gestellt werden kann die in den Erläuterungen zu Art. 52 Abs. 5 GRC vorgenommene Klassifizierung einiger weniger Gewährleistungen. Es kann davon ausgegangen werden, dass bei der Kommentierung des Art. 52 Abs. 5 GRC die Bezeichnung einer Norm als Grundsatz bewusst vorgenommen wurde. Bei den Einzelkommentierungen dürfte dies nicht unbedingt mehr so gewesen sein; man kann im Falle der Einzelkommentierungen nicht mit Sicherheit sagen, ob der Terminus „Grundsatz“ tatsächlich im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC gebraucht worden ist. Dagegen spricht, dass beispielsweise die Art. 3 Abs. 2 und 14 Abs. 2 GRC als Grundsätze eingeordnet werden, obgleich es sich bei diesen Bestimmungen wohl um Grundrechte handeln dürfte. Bei Art. 3 Abs. 2 GRC lässt sich diese Ansicht, die sich mit der herrschenden Meinung deckt,54 damit begründen, dass bis auf lit. a des Absatzes 2 alle Gewährleistungen als Verbote und damit hinreichend bestimmt formuliert sind und dies als klarer Hinweis für ein Grundrecht zu werten ist.55 Für das Gebot aus lit. a des Art. 3 Abs. 2 GRC wird man keine andere Einordnung 49

Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 94. Schmittmann hält im Übrigen seine eigene Theorie nicht konsequent ein, wenn er Art. 3 Abs. 2 GRC trotz dessen objektiver Formulierung als Grundrecht einstuft. 51 Im Übrigen sind die Art. 37 und 38 GRC genauso formuliert wie Art. 141 EGV, den der EuGH seit der Entscheidung in der Rs. C-43/75, Slg. 1976, 455 (Defrenne II) als unmittelbar anwendbares Recht versteht. 52 Siehe oben Teil 4, I. 53 A. A. wohl Lord Goldsmith, CMLRev. 2001, 1201 (1213), der jedoch mit seiner Ansicht in Widerspruch zu Art. 16 GRC gerät, den er selbst als Grundrecht einordnet. 54 Wie hier Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 3 GRC Rn. 3; Jarass, EU-Grundrechte, § 9 Rn. 17; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 403. Offengelassen von Höfling, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 3 Rn. 16 m. w. N. Für den Grundsatzstatus dagegen Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 3 Rn. 40, 52 Rn. 45d. Unentschlossen Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 97 mit Fn. 272 und 273. Ausführlich zum Ganzen unten Teil 5, V. 1. e). 55 Ähnlich Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Art. 52 Rn. 98, jedoch offenlassend, was er unter „individualbezogenen Verbotssätzen“ meint. 50

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

treffen können,56 zumal sich dieses Gebot sehr leicht in ein Verbot umformulieren lässt.57 Ebenfalls eindeutig formuliert ist das Recht auf Unentgeltlichkeit des Pflichtschulunterrichts aus Art. 14 Abs. 2 GRC, sodass man auch in diesem Fall von einem Grundrecht ausgehen kann.58 Ohnehin ist die Schutzintensität dieser letzten Garantie – dies zeigen die Chartaerläuterungen59 – eher gering. Privatschulen werden vor ihr ebenso wenig erfasst wie besondere Unterrichtsformen. Auch verhindert die Vorschrift wohl nicht, dass für Unterrichtsmaterialien eine Gegenleistung verlangt werden kann.60 Dass die Erläuterungen zur Charta bei den Einzelkommentierungen nicht konsequent sind, zeigt sich im Übrigen daran, dass einerseits Art. 25 GRC nicht als Grundsatz bezeichnet wird (anders als bei der Kommentierung zu Art. 52 Abs. 5 GRC)61, andererseits aber Art. 50 GRC als ein solcher gekennzeichnet ist. Letzteren muss jedoch schon alleine aufgrund des Art. 52 Abs. 3 GRC i. V. m. Art. 4 ZP VII EMRK Grundrechtsqualität zukommen.62 Auf den nach hier vertretener Ansicht entscheidenden Grund für die Einordnung der Art. 3 Abs. 2, 14 Abs. 2 und 50 GRC als Grundrechte wird sogleich erläutert.63 Schließlich ist auch Borowskys Ansicht, Art. 1 GRC sei als Grundsatz zu verstehen, ausdrücklich zu widersprechen. Diese Einschätzung ist mit der herausgehobenen Stellung des Menschenwürdegehalts in der Charta nicht vereinbar.64 Außerdem, hierauf wurde bereits eingegangen,65 verbietet sich eine dahingehende Doppelqualifikation schon aus logischen Gründen.66 Die 56 Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 97 mit Fn. 272 ist dagegen der Ansicht, nicht jeder Buchstabe des Absatzes 2 müssen notwendigerweise ein Grundsatz sein. 57 Siehe hierzu unten Teil 5, V. 1. c). 58 Wie hier Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 14 GRC Rn. 3; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. II-74, Rn. 5; Kempen, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 14 Rn. 16. A. A. Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 14 Rn. 14 (unter Verkennung, dass der Terminus „Prinzip“ ein Synonym für den Begriff „Grundsatz“ ist). 59 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 22. 60 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 14 Rn. 3. 61 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 25 vs. S. 35. 62 Ganz h. M., vgl. statt vieler Alber, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 50 Rn. 3; Blanke, in: Callies/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 50 GRC Rn. 2; Eser, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 50 Rn. 1. Zuzugeben ist, dass in den Erläuterungen zu Art. 50 GRC nur einmal von „Grundsatz“, aber viermal von „Regel“ und einmal von „Recht“ die Rede ist. Aus diesem Grunde könnte man bereits meinen, dass die Bezeichnung als Grundsatz ohnehin nur ein Versehen ist. 63 Siehe unten Teil 5, II. 2. 64 So wie hier Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 1 GRC Rn. 10 ff. m. w. N.; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 99 f. 65 Siehe oben Teil 3, II. 2.

II. Abgrenzungsvorschläge im Schrifttum

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Regelung des Art. 52 Abs. 5 GRC gilt entweder (bei Grundsätzen) oder sie gilt eben nicht (bei Grundrechten). Etwas völlig anderes ist es, wenn der Menschenwürde neben ihrem Status als echtes Grundrecht auch ein objektiv-rechtlicher Fundamentalcharakter zugedacht wird.67 Insoweit zutreffend68 sind folglich die Ausführungen in den Erläuterungen der Charta zu Art. 1: „Die Würde des Menschen ist nicht nur ein Grundrecht an sich, sondern bildet das eigentliche Fundament der Grundrechte.“69 Davon streng zu unterscheiden ist jedoch, und dies verkennt offensichtlich Borowsky70, die Einordnung als Grundsatz im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC mit der damit verbundenen eingeschränkten Justiziabilität. Dem insbesondere von Ladenburger und Schmittmann herausgestellten Kriterium der Nicht-Subjektivität der Grundsatznormen kann entsprechend den bisherigen Ausführungen in dieser Arbeit keine entscheidende Bedeutung beigemessen werden. Das EG-Recht knüpft nur sehr eingeschränkt an die Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Bestimmungen an. Außerdem handelt es sich nach hier vertretener Ansicht entgegen der ganz herrschenden Meinung bei den Grundsatznormen (mit Ausnahme des Grundsatzes auf Umweltschutzes aus Art. 37 GRC) ohnehin um subjektive Gewährleistungen, weil selbst diese Gewährleistungen (zumindest indirekt) die von ihnen jeweils Begünstigten erkennen lassen.71 Mehr fordert aber auch das Gemeinschaftsrecht nicht für ein sog. „Recht des Einzelnen“, welches der Bürger vor mitgliedstaatlichen Gerichten effektiv durchzusetzen vermag.72 66

A. A. wohl auch Prechal, in: Liber amicorum Kellermann, S. 177 (183 f.). Vgl. statt vieler Höfling, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 1 Rn. 14 m. w. N.; Rixen, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 9 Rn. 7 ff. m. w. N.; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 1 GRC Rn. 4. 68 Andererseits kann man sich auch an dieser Stelle fragen, ob die Ausführungen zur Doppelbedeutung des Menschenwürde-Satzes nicht bloß wieder einen Versuch darstellt, die deutsche Grundrechtsdogmatik auf gemeinschaftsrechtliche Gewährleistungen zu übertragen. Es ist nämlich alles andere als klar, warum im objektivrechtlich orientieren Gemeinschaftsrecht es eine zusätzliche Funktion der Grundrechte als „objektive Werturteile“ überhaupt bedarf. Etwas anderes gilt für das subjektiv-rechtlich ausgerichtete deutsche Verfassungsrecht. Vgl. zum Letzteren grundlegend BVerfGE 7, 198 (Lüth). Aus diesem Grund hat sich der EuGH in der Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (Omega) wohl auch nicht mit solch feinsinnigen Differenzierungen aufgehalten. Vgl. auch EuGH, Rs. C- 377/98, Slg. 2001, I-7079 Rn. 70 ff. (Biopatentrichtlinie). 69 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 17 (zu Art. 1 GRC). 70 Borowsky sieht Art. 1 GRC offensichtlich als einen Grundsatz im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC an, vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45d. 71 So wie hier scheinbar und auch nur teilweise Schmitz, JZ 2001, 833 (841). Siehe oben Teil 3, III. 5. b). 72 Siehe hierzu ausführlich oben Teil 3, III. 5. e) und 6. 67

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

Einige der im Schrifttum vorgeschlagenen Abgrenzungskriterien sind dagegen recht interessant. Man wird aufgrund des Art. 52 Abs. 7 GRC tatsächlich davon ausgehen müssen, dass, wie gerade eben erklärt, die in den Erläuterungen zu Art. 52 Abs. 5 GRC (!) als Grundsätze bezeichneten Garantien auch wirklich Grundsätze zum Inhalt haben. Außerdem ist die Ansicht Schmittmanns überzeugend, dass alle Gewährleistungen, die bereits im EU- bzw. EG-Vertrag oder in der EMRK als Rechte garantiert sind, auch in der Charta als Grundrechte eingestuft werden müssen (vgl. Art. 52 Abs. 2, 3 GRC).73 Diese beiden (historisch-genetischen bzw. systematischen) Kriterien eignen sich also durchaus zur Unterscheidung der einzelnen Charta-Bestimmungen.74 Sie versagen jedoch bei all denjenigen Normen, für die sich weder aus den Erläuterungen (und damit aus Art. 52 Abs. 7 GRC) noch aus den Art. 52 Abs. 2 und 3 GRC konkrete Anhaltspunkte zu deren Einordnung entnehmen lassen. Aus diesem Grund soll im Folgenden ein einfaches Abgrenzungskriterium gefunden werden, welches ohne größere Probleme die Klassifizierung einer jeden Chartagewährleistung ermöglicht.

III. Eigener Vorschlag für die Abgrenzung Für das Auffinden eines einfachen, aber zugleich verlässlichen Abgrenzungskriteriums ist es zunächst erforderlich, sich wieder an den Anfang dieser Arbeit zurückzuerinnern. Warum haben die Mitglieder der beiden Konvente eine zweite, von den Grundrechten separate Normkategorie in die Charta aufgenommen? Sie taten das nicht, weil es sich bei dieser Art von Garantien um objektive Gewährleistungen handelt oder weil man generell das Entstehen neuer Rechte verhindern wollte.75 Sie haben die Kategorie der Grundsatznormen deshalb in die Charta eingefügt, weil sie befürchteten, dass eine Kodifizierung der sog. sozialen Grundrechte76 als echte und damit voll einklagbare Grundrechte sowohl zu einem schleichenden Kompetenzzuwachs zugunsten der Union77 als auch zu einer massiven finanziellen Belastung der mitgliedstaatlichen Haushalte führen könnte.78 73

Vgl. Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 85 ff. Wohl auch ganz h. L., vgl. statt vieler Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 98 m. w. N.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 18. 75 So aber Prechal, in: Amicorum Kellermann, S. 177 (178, 184). 76 Zu diesem Terminus siehe oben Teil 2, III. 2. 77 Vgl. hierzu auch Orth, Grundrecht auf Umwelt, S. 86 ff. m. w. N.; Rengeling/ Szczekalla, Grundrechte, S. 263 f.; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Vor Kap. IV Rn. 9 f. 78 Siehe hierzu ausführlich oben Teil 2, I. 2. a). 74

III. Eigener Vorschlag für die Abgrenzung

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Anders als jedoch Jarass79 vorschlägt, soll nicht dieses teleologische Argument als Abgrenzung dienen, wäre es doch viel zu bestimmt, um eine eindeutige Zuordnung zu erreichen.80 Vielmehr ist weiter danach zu fragen, welche Eigenschaft der sog. sozialen Grundrechte konkret dieses fiskalische Risiko auslöst. Worin liegt der normstrukturelle Unterschied zwischen den herkömmlichen Grundrechten der Charta und den neuen Grundsätzen? Im Arbeitspapier 23 der Arbeitsgruppe II wird hierauf eine erste Antwort zu geben: „Principles are different from subjective rights in that they may call for implementation through legislative or executive acts; (. . .).“81 In Art. 51 Abs. 1 S. 2 und Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRC wurde dieser Gedanke von der Umsetzungsbedürftigkeit der Grundsatznormen sogar kodifiziert. Als wesentliches Element der Grundsatznormen wird dort das Gebot ihrer Umsetzung und Förderung festgeschrieben. Eine Klage auf Leistung soll gerade ausgeschlossen sein. Dies wird in den Erläuterungen nochmals ausdrücklich betont.82 Anders als bei den herkömmlichen Grundrechten liegt bei den Grundsatznormen, dies wurde bereits mehrfach angedeutet, der Schwerpunkt also in der Leistungsfunktion.83 Gerade die Leistungsfunktion einer Norm ist es nämlich, die enorme Kosten für die Allgemeinheit verursachen kann.84 Dazu kommt, dass Gewährleistungen, die eine Leistungspflicht anordnen (auf Schutz oder Leistung im engeren Sinne)85, in aller Regel sehr unbestimmt formuliert sind. Es wird sich im Allgemeinen kein Regelungsminimum ausmachen lassen, welches der Gesetzgeber als Minimalanforderung zu erfüllen hat. Man wird also gerade nicht sagen können, welcher minimaler Schutz gewährt werden muss, um nicht gegen den jeweiligen Grundsatz zu verstoßen.86 Ein solches Mindestschutzniveau findet sich beispielsweise weder beim Umweltschutz87, 79

Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 26. Ähnlich krit. zu diesem Argument Hipold, ZÖR 2004, 351 (353). 81 Vgl. das Arbeitspapier 23 der Arbeitsgruppe II v. 4. Oktober 2002. 82 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5 GRC). 83 So auch Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 40. 84 Krit. zu diesem Argument Hipold, ZÖR 2004, 351 (353); Oberschneider, Soziale Grundrechte, S. 192 f. 85 Siehe zu den Begrifflichkeiten oben Teil 2, II. 5. a). 86 Siehe hierzu bereits oben Teil 3, III. 4. d) aa) (1). A. A. offensichtlich Orth, Grundrecht auf Umweltschutz, S. 278 ff., nach der Art. 37 GRC grundsätzlich das Potential besitze, eine subjektive Gewährleistung zu enthalten. 87 Etwas anderes gilt, wenn durch Umweltgefahren Menschenleben gefährdet wären. Dann ergäbe sich der Anspruch auf Schutz aber nicht aus Art. 37 GRC, sondern aus Art. 3 Abs. 1 GRC. Vgl. zum Parallelproblem bei der EMRK EGMR v. 9. Dezember 1994 (López Ostra/Spanien), Nr. 16798/90, Serie A Nr. 303-C, §§ 44–48 (jedoch zu Art. 8 EMRK). Vgl. auch Dröge/Marauhn, in: BM für Arbeit und Sozialordnung u. a. (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 77 (90 m. w. N.); Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 2 Rn. 7d. Vgl. auch Calliess, in: 80

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

noch bei der Förderung alter und behinderter Menschen.88 Diese Unbestimmtheit einer Norm zusammen mit einem möglicherweise recht entscheidungsfreundlichen Gericht birgt neben der Leistungsdimension selbst erhebliche finanzielle Risiken in sich, die die Mitglieder der beiden Konvente durch Einfügung des Art. 52 Abs. 5 in die Charta ausschließen wollten. Hätte man, um ein Beispiel zu geben, die Verpflichtung zum Umweltschutz aus Art. 37 GRC als echtes Grundrecht ausgestaltet, hätte die Gefahr bestanden, dass ein Einzelner mit seiner Klage auf Erlass von konkreten Schutzmaßnahmen vor dem EuGH durchgedrungen wäre. Dies hätte erhebliche Auswirkung auf die gesamte Gemeinschaft zur Folge haben können.89 Es sollte in diesen Fällen aber dem zuständigen Normgeber überlassen bleiben, ob, und wenn ja, welche Förder- bzw. Durchführungsmaßnahmen er für nötig erachtet. Dies fordert auch der Gewaltenteilungsgrundsatz und das Demokratieprinzip. Die Gesetzgebungsorgane und nicht die Gerichte sind dazu berufen, Normen, die der Ausgestaltung bedürfen, zu konkretisieren. Ganz anders ist dies bei Bestimmungen, die vornehmlich als Abwehrrechte gedacht sind. In der abwehrrechtlichen Situation ist der Gesetzgeber bereits tätig geworden. Das Abwehrrecht hilft nur, einen bereits erlassenen Rechtssatz wieder zu beseitigen, den bestehenden Status quo also bloß zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Die Gefahr großer Verwerfungen und finanziellen Belastungen besteht in diesen Fällen kaum, sodass es sich bei solchen Gewährleistungen (der Charta) stets um Grundrechte handeln wird.90 Reine Abwehrrechte sind zwar ebenfalls der Ausders./Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 3 GRC Rn. 11; Höfling, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 2 Rn. 32 ff. m. w. N.; Art. 3 Rn. 14; Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 7. 88 Beide Gewährleistungen werden in den Erläuterungen zur Charta ausdrücklich als Grundsätze bezeichnet, vgl. ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2008 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5 GRC). Die ganz h. L. stimmt dem zu, vgl. statt vieler (zu Art. 25 f. GRC) Bühler, Einschränkungen, S. 388 f.; Jarass, EU-Grundrechte, § 27 Rn. 3; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 25 GRC Rn. 1; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 25 Rn. 3 (zu Art. 37 GRC) Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 37 GRC Rn. 1, 3; Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 24, § 32 Rn. 3; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 97; Rest, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 37 Rn. 17. 89 In diesem Zusammenhang ist das erst kürzlich ergangene Urteil des EuGH in der Rs. C-237/07 (Janecek), noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, sehr interessant. Der EuGH forderte die Einklagbarkeit eines umweltrechtlichen Aktionsplans. Daraus ergebe sich jedoch nicht, dass es zu keinerlei Überschreitungen mehr kommen dürfe. Vielmehr folge aus dem Aufbau der RiLi 96/62/EG nur, dass die Mitgliedstaaten Maßnahmen zu ergreifen haben, die geeignet sind, die Gefahr einer Überschreitung und ihre Dauer unter Berücksichtigung aller zur gegebenen Zeit vorliegenden Umstände und der betroffenen Interessen auf ein Minimum zu reduzieren (Rn. 44, 45). Die Auswirkungen dieser doch sehr exzessiven Rechtsprechung ist noch nicht absehbar.

III. Eigener Vorschlag für die Abgrenzung

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gestaltung durch den Gesetzgeber fähig, aber anders als die Grundsatznormen einer solchen Ausgestaltung nicht bedürftig. Nimmt man den Willen der Konventsmitglieder – und durch die Unterzeichnung des Lissabonner Vertrages auch den der Regierungschefs der einzelnen Mitgliedstaaten – ernst, sollten also all diejenigen Vorschriften der Charta, deren Schwerpunkt im Leistungsbereich liegt, als Grundsätze eingestuft werden. Hierbei ist jedoch eine Einschränkung zu machen. Hat eine Garantie ihren Schwerpunkt zwar in der leistungsrechtlichen Dimension, ist die Norm aber gleichwohl hinreichend bestimmt, handelt es sich bei dieser Gewährleistung nicht um einen Grundsatz, sondern um ein echtes Grundrecht. Insoweit werden die Mitglieder der beiden Konvente nur beim Wort genommen. Haben diese eine Garantie hinreichend konkret formuliert, sodass die Gerichte daraus konkrete Maßnahmen ableiten können, ohne dass es dafür eines vorherigen Umsetzungsaktes bedarf, haben sich die Konventsmitglieder mit der Formulierung selbst für ein justiziables Recht entschieden und müssen sich daran festgehalten lassen. Ein Einzelner sollte in diesen (wenigen) Fällen deshalb auch auf Leistung klagen können. Zum einen ist bei solchen, klar formulierten Garantien das finanzielle Risiko nicht mehr derart unüberschaubar, ist die Norm doch hinreichend bestimmt. Zum anderen bestehen aber auch keine Bedenken wegen des Gewaltenteilungs- oder Demokratieprinzips, weil die Konventsmitglieder (und mit Ratifikation die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge)91 die Verpflichtung zur Leistung gebilligt haben. Als Beispiel sei hier nochmals das bereits mehrfach angesprochene Recht auf unentgeltlichen Pflichtschulunterricht aus Art. 14 Abs. 2 GRC zu nennen. Diese Gewährleistung hat ihren Schwerpunkt im Leistungsbereich (auf unentgeltlichen Zugang zum Pflichtschulunterricht). Der Gewährleistungsinhalt ist hier jedoch sehr klar festgelegt. Die Mitgliedstaaten müssen jedem Kind die unentgeltliche Teilnahme am Pflichtschulunterricht ermöglichen.92 Aus diesem Grund handelt es sich bei Art. 14 Abs. 2 GRC um ein Grundrecht und nicht um einen Grundsatz.93 90 A. A. ganz h. L., vgl. statt vieler Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 100; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 264 f. (vor allem im Hinblick auf die Art. 25 f. GRC). 91 Zum Stand der Ratifikationen siehe oben Teil 1, I. 92 Der Schutzbereich dieser Garantie ist, wie gesehen, ansonsten ohnehin sehr eingeschränkt, sodass beispielsweise eine Gebühr für die Unterrichtsmaterialien von ihr wohl nicht verhindert wird. Siehe hierzu bereits oben Teil 3, II. 5. a). So wie hier auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 14 GRC Rn. 3. 93 So auch die ganz h. L., vgl. statt vieler Jarass, EU-Grundrechte, § 19 Rn. 3; Kempen, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 14 Rn. 16; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 14 GRC Rn. 3. A. A. Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 14 Rn. 14. Siehe auch unten Teil 3, III. 4. d) aa) (2).

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

Darüber hinaus ist eine Garantie mit Schwerpunkt im Leistungsbereich auch dann hinreichend konkret gefasst, wenn sie nur ein derivatives Teilhaberecht gewährt. In diesem Fall wird nur der Schutz vor Diskriminierung geschuldet, der auch bereits über das allgemeine Diskriminierungsverbot einklagbar wäre.94 Es sind demnach folgende drei Fragen zu beantworten, um die Qualität einer Norm der Europäischen Grundrechtecharta bestimmen zu können: (1) Welches ist der Inhalt der einzelnen Norm? (2) Liegt der Schwerpunkt der Norm im Leistungsbereich? (3) Ist die leistungsrechtliche Dimension ausnahmsweise hinreichend konkret formuliert und damit der Umsetzung nicht bedürftig? Bestehen Zweifel bei der Einordnung einer Charta-Bestimmung, sollte mit Borowsky und Ladenburger in diesem Fall von einem echten Grundrecht ausgegangen werden.95 Da auch Grundrechte im Leistungsbereich nur sehr eingeschränkt justiziabel96 und die Grundsatznormen nach hier vertretener Theorie im Abwehrbereich voll einklagbar sind, ist die Problematik der Qualifizierung der einzelnen Gewährleistungen ohnehin deutlich entschärft. Als Gegenprobe für die Richtigkeit einer Einordnung können hilfsweise die Erläuterungen zur Charta zu Art. 52 Abs. 5 GRC und die Verweisungsvorschriften der Art. 52 Abs. 2 und 3 GRC herangezogen werden. Hierbei wird sich keine Abweichung in der Klassifizierung der einzelnen Charta-Bestimmungen zum gerade herausgearbeiteten funktionalen Schwerpunkt-Kriterium feststellen lassen. Vorteil des hier vertretenen Abgrenzungskriteriums ist jedoch, dass es sich auf sämtliche Normen der Charta anwenden lässt. Die Abgrenzung nach dem Schwerpunkt hat, und das soll nicht verheimlicht werden, jedoch auch einen Nachteil. Eine Einordnung einer Gewährleistung hängt davon ab, wie man den Schutzinhalt der jeweiligen Norm auslegt. Es können sich dabei vereinzelt Unterschiede in der Qualifizierung ergeben, je nachdem, ob man die jeweilige Garantie nur als derivatives Teilhaberecht oder als umfassendes Leistungsrecht verstehen will. Diese „Untersicherheit“ stört jedoch deshalb wenig, weil derjenige, der „lediglich“ ein derivatives Teilhaberecht gewährleistet sieht, mit seiner Einordnung auch nicht die finanziellen Gefahren eines originären Teilhaberechts auslöst. Die hier vertretene Argumentation ist folglich teleologisch konsistent und konsequent. 94

Siehe oben Teil 3, III. 4. d) aa) (2). Vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45d; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 99. 96 Siehe hierzu oben Teil 3, III. 4. d) bb). 95

V. Einordnung der einzelnen Chartaartikel

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IV. Ergebnis Für diesen fünften Teil lässt sich bislang Folgendes festhalten: (1) Eine genaue Differenzierung zwischen Grundrechten und Grundsätzen ist deshalb erforderlich, weil an die Einordnung unterschiedliche Rechtsfolgen geknüpft werden. Die genaue Qualifizierung einer Norm ist zwar durch die hier vertretene Ähnlichkeitsthese von Grundrechten und Grundsätzen nicht mehr derart entscheidend, bleibt aber gleichwohl wichtig. (2) Der Wortlaut der Charta ist für die Klassifizierung der einzelnen Gewährleistungen unbrauchbar. (3) Die Aussagen der Erläuterungen zur Charta über die Einordnung der einzelnen Garantien sind lediglich bei der Kommentierung von Art. 52 Abs. 5 GRC verlässlich. Werden Bestimmungen der Charta in den Einzelkommentierungen als Grundrechte oder Grundsätze bezeichnet, ist dies für die Klassifizierung einer Vorschrift aufgrund der terminologischen Ungenauigkeit der Erläuterungen nur von geringem Wert. (4) Charta-Bestimmungen, die Grundrechten im EU-/EG-Vertrag oder in der EMRK entsprechen, müssen auch im Rahmen der Charta als Grundrechte eingestuft werden. (5) Entscheidendes Kriterium zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen ist ein funktionales: Liegt der Schwerpunkt einer Garantie im Abwehrbereich, handelt es sich um ein Grundrecht; liegt er im Leistungsbereich, handelt es sich um einen Grundsatz. Nur wenn eine Gewährleistung mit leistungsrechtlichem Schwerpunkt so eindeutig gefasst ist, dass hieraus konkrete Maßnahmen abgeleitet werden können, liegt ausnahmsweise doch ein echtes Grundrecht vor. In diesem Fall ist die Gewährleistung zwar einer Umsetzung fähig, aber nicht bedürftig.

V. Einordnung der einzelnen Chartaartikel Im Folgenden soll jede einzelne Gewährleistung der Charta mit Hilfe des gerade eben herausgearbeiteten funktionalen Schwerpunkte-Kriteriums in eine der beiden Normgruppen Grundrechte oder Grundsätze eingeordnet werden. An dieser Stelle ist nochmals darauf hinzuweisen, dass die Klassifizierung einer Norm variieren kann, je nachdem welchen konkreten Aussagegehalt man der jeweiligen Garantie zumisst. Auf unproblematische Artikel wird nur kurz eingegangen. Dagegen erfolgt in strittigen Fällen eine Überprüfung der hier befürworteten Zuordnung stets auch anhand herkömmlicher Auslegungsmethoden. Ein besonderes Augenmerk soll in die-

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

sem Fall auf das ebenso überzeugende97 systematische Abgrenzungskriterium aus Art. 52 Abs. 2, 3 GRC und die Erläuterungen zur Charta zu Art. 52 Abs. 5 GRC gelegt werden. Vergleichbare Gewährleistungen werden, sofern möglich, zusammen dargestellt. 1. Garantien der Titel I–III a) Art. 1 GRC Die Garantie der Menschenwürde weist sowohl einen abwehrrechtlichen als auch einen leistungsrechtlichen Gehalt auf („zu achten und zu schützen“). Der Schwerpunkt des Art. 1 GRC liegt jedoch in der Abwehr von die Menschenwürde verletzenden Maßnahmen. Aus diesem Grund handelt es sich bei Art. 1 GRC um ein Grundrecht.98 Die bisherige Rechtsprechung99 und die Erläuterungen zur Charta100 stützen diese Einordnung. Etwas völlig anderes ist es, wenn der Menschenwürde neben ihrem Status als echtes Grundrecht auch ein objektiv-rechtlicher Fundamentalcharakter zugedacht wird.101 b) Art. 2 und 3 Abs. 1 GRC Analog zu Art. 1 GRC sollen die Art. 2 und 3 Abs. 1 GRC primär Eingriffe auf das Leben und die körperliche Unversehrtheit durch die Union oder die Mitgliedstaaten (bei Ausführung von Unionsrecht) verhindern. Deshalb sind diese Garantien, obgleich sich im Einzelfall aus ihnen auch ein Anspruch auf Schutz ableiten lässt,102 als Grundrechte einzustufen.103 97

Siehe hierzu bereits oben Teil 5, II. 2. Ganz h. M., vgl. statt vieler Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 1 GRC Rn. 10; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 99 f.; Winkler, Grundrechte, S. 361 f. Borowsky will dagegen in Art. 1 GRC auch einen Grundsatz erkennen, vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45d. 99 EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (Omega); Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 Rn. 70 ff. (Biopatent-RiLi). 100 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 17 (zu Art. 1 GRC). 101 Vgl. statt vieler Höfling, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 1 Rn. 14 m. w. N.; Rixen, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 9 Rn. 7 ff. m. w. N.; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 1 GRC Rn. 4. Siehe hierzu ausführlich bereits oben Teil 5, II. 2. 102 Zum parallelen Problem bei der EMRK EGMR v. 9. Dezember 1994 (López Ostra/Spanien), Nr. 16798/90, Serie A Nr. 303-C, §§ 44–48 (jedoch zu Art. 8 EMRK). Vgl. auch Dröge/Marauhn, in: BM für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, S. 77 (90 m. w. N.); Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 2 Rn. 7d. Vgl. auch Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 98

V. Einordnung der einzelnen Chartaartikel

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c) Art. 3 Abs. 2 GRC Wie bereits mehrfach angesprochen,104 ist die Einordnung des Art. 3 Abs. 2 GRC im Schrifttum umstritten.105 Unter Berufung auf die Erläuterungen, die im Zusammenhang mit den Garantien des Art. 3 Abs. 2 von Grundsätzen sprechen,106 ist es vor allem Borowsky107, der diesen Absatz den Grundsatznormen zuordnen will. Gemäß des hier vertretenen funktionalen Schwerpunkt-Kriteriums müssen dagegen zumindest die Verbote der lit. b–d des Art. 3 Abs. 2 GRC als Grundrechte begriffen werden. Sie sind primär auf Abwehr ausgerichtet und überdies so bestimmt, dass den zuständigen Normgebern, sollte es noch keine entsprechenden einfach-gesetzlichen Verbote geben, bei der Art und Weise der Umsetzung kaum Spielraum bleibt. Problematischer ist die Einordnung des Art. 3 Abs. 2 lit. a GRC. Litera a enthält anders als die übrigen Buchstaben des Abs. 2 kein Verbot, sondern ein Gebot, dass ein medizinischer Eingriff beim Menschen stets die Einwilligung des Betroffenen nach vorheriger Aufklärung entsprechend den „gesetzlich“ festgelegten Einzelheiten bedarf. Da sich dieses Gebot der Aufklärung bei Einholung einer Einwilligung aber sehr einfach in ein Verbot umformulieren lässt – kein ärztlicher Einriff ohne Einwilligung des Betroffenen und vorheriger Aufklärung108 –, besteht kein allzu großer Unterschied zu den Gewährleistungen der Buchstaben b bis d des Abs. 2. Etwas Art. 3 GRC Rn. 11; Höfling, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 2 Rn. 32 ff. m. w. N.; Art. 3 Rn. 14; Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 7; Winkler, Grundrechte, S. 366, 378. 103 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 2 Rn. 1, Art. 3 Rn. 1; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 2 Rn 1 ff., Art. 3 Rn. 1 ff. m. w. N. Vgl. auch die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 17 f. (zu Art. 2 und 3 Abs. 1 GRC). Vgl. auch Art. 2 Abs. 1, 2 EMRK. 104 Siehe oben Teil 5, II. 2. mit Fn. 54 f. 105 Von einem Grundrecht gehen aus Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 3 GRC Rn. 3; ders., in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20 Rn. 6; Jarass, EU-Grundrechte, § 9 Rn. 17; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 403. Für die etwas fragliche Einordnung als Schrankenbestimmung Rixen, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 11 Rn. 30. Die konkrete Einordnung offengelassen hat Höfling, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 3 Rn. 16 m. w. N. Für den Grundsatzstatus dagegen Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 3 Rn. 40; 52 Rn. 45d. Unentschlossen Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 97 mit Fn. 272 und 273, der sich vorstellen kann, dass die verschiedenen Buchstaben in Abs. 2 unterschiedlichen Normgruppen zugeordnet werden. Unklar Schmitz, JZ 2001, 833 (840). 106 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 18 (zu Art. 3 Abs. 2 GRC). 107 Vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 3 Rn. 40, 45d. 108 Ähnlich Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 3 GRC Rn. 2; Winkler, Grundrechte, S. 377.

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

anderes ergibt sich auch nicht durch den Hinweis auf die „gesetzlich festgelegten Einzelheiten“. Wie man an der Formel „einzelstaatliche Gepflogenheiten“ sieht,109 sind solche Einschübe für die Einordnung einer Vorschrift ohne Belang. Der Hinweis auf gesetzliche Regelungen wird auch bei Art. 8 Abs. 2 (Datenschutz) oder Art. 17 Abs. 1 (Eigentum) nicht zum Anlass genommen, deren Klassifizierung als Grundrechte in Frage zu stellen. Ohnehin fällt auf, dass Art. 3 Abs. 2 lit. a GRC ähnlich formuliert ist wie Art. 8 Abs. 2 S. 1 GRC, von dem jedoch die ganz herrschende Meinung110 – hierzu sogleich – von einem echten Grundrecht ausgeht. Art. 3 Abs. 2 GRC ist deshalb ebenfalls den Grundrechten zuzuordnen.111 d) Art. 4 und 5 GRC Die in diesen beiden Artikeln enthaltenen Gewährleistungen stellen spezielle Ausprägungen des Rechts auf menschwürdige Behandlung dar. Schon aus diesen Grund ließen sich die Garantien als Grundrechte einstufen.112 Nach hier vertretener Ansicht ergibt sich deren Grundrechtsqualität jedoch auch daraus, dass diese als Verbote113 formuliert sind, ihr Schwerpunkt daher im Abwehrbereich liegt. An dieser Einschätzung ändert nichts, dass insbesondere Art. 5 Abs. 3 GRC aufgrund der fehlenden unmittelbaren Drittwirkung der Charta114 zunächst der Umsetzung durch den zuständigen Gesetzgeber bedarf, um für Private verbindlich zu sein. Die Verbote sind nämlich derart konkret gefasst, dass ebenso wie schon bei Art. 3 Abs. 2 GRC für die Ausgestaltung kaum Spielraum bleibt. Im Übrigen wäre eine unterschiedliche Zuordnung der Art. 5 Abs. 1 und 5 Abs. 3 GRC trotz ähnlicher Formulierung nicht zu rechtfertigen. Art. 5 Abs. 1 GRC ist aber wegen Art. 52 Abs. 3 GRC i. V. m. Art. 4 Abs. 1 EMRK zwingend als Grundrecht zu verstehen. 109

Siehe hierzu ausführlich oben Teil 4, I. Zu Art. 8 GRC sogleich unten Teil 5, V. 1. f). 111 Siehe Literatur in Rn. 2161. 112 Ganz h. M., vgl. statt vieler Bungenberg, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 13 Rn. 42, 48; Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 4 GRC Rn. 2, Art. 5 GRC Rn. 20 f.; Jarass, EU-Grundrechte, § 10 Rn. 17; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 129 f.; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 4 GRC Rn. 1, Art. 5 GRC Rn. 1 ff. A. A. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 5 Rn. 25 (a. A. dann aber wohl wieder bei Art. 52 Rn. 45d); Höflich, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), Charta, Art. 5 Rn. 16; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 420. Vgl. auch Art. 3, 4 EMRK. Unklar Schmitz, JZ 2001, 833 (840). Vgl. die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 18 f. (zu Art. 4 und 5 GRC). 113 Auch Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Art. 52 Rn. 98, ordnet „individualbezogene Verbotssätze“ stets als echte Grundrechte ein. 114 Siehe hierzu oben Teil 4, III. 3. 110

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e) Art. 6, 7 und 9 GRC Bei diesen drei Artikeln handelt es sich um traditionelle Grundrechte mit überwiegend115 abwehrrechtlicher Funktion.116 Die Formel „einzelstaatliche Gesetze“ bei Art. 9 GRC kann hieran nichts ändern.117 Im Übrigen entsprechen die Art. 6, 7 und 9 GRC den Art. 5, 8 und 12 EMRK, sodass sich die Einordnung bereits mit Art. 52 Abs. 3 GRC begründen lässt.118 f) Art. 8 GRC Etwas problematischer erscheint die Einordnung des Art. 8 GRC. In dessen Abs. 1 ist die Rede von einem Recht auf Schutz, in Abs. 2 S. 2 von einem Anspruch auf Auskunft und Berichtigung. Abs. 3 sieht die Einrichtung einer unabhängigen Stelle zur Überwachung der Einhaltung dieser Vorschriften vor. Bei Art. 8 Abs. 1 GRC handelt es sich jedoch trotz der schutzrechtlichen Formulierung in erster Linie um ein Abwehrrecht.119 Aus diesem Grund stellen Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 GRC nach hier vertretener Schwerpunkttheorie echte Grundrechte dar.120 Art. 8 Abs. 2 S. 2 GRC gewährt dagegen tatsächlich einen leistungsrechtlichen Anspruch. Dieser ist jedoch so konkret gefasst, dass auch das „Recht“ auf Auskunft und Berichtigung als echtes Grundrecht einzuordnen ist.121 Diese Einschätzung lässt sich überdies damit begründen, dass die Absätze 1 und 2 des Art. 8 GRC im We115

Bei Art. 6 GRC dürfte mit dem Recht auf Sicherheit ebenfalls eine leistungsrechtliche Komponente verbunden sein, für die jedoch nichts anderes gilt als für die aus Art. 2 und 3 Abs. 1 GRC. Vgl. hierzu Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 6 GRC Rn. 11 m. w. N. Zurückhaltender Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 6 GRC Rn. 6. 116 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 GRC Rn. 3, Art. 7 GRC Rn. 1, Art. 9 GRC Rn. 1; Tettinger, in: ders./Stern (Hrsg.), Charta, Art. 6 Rn. 6, Art. 7 Rn. 5, Art. 9 Rn. 26. 117 Ausführlich hierzu bereits oben Teil 4, I. 118 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 33 f. (zu Art. 52 Abs. 3 GRC). 119 So wohl auch Jarass, EU-Grundrechte, § 13 Rn. 7, der jedoch in Art. 8 GRC zu Recht auch einen Anspruch auf Schutz personenbezogener Daten vor Privaten normiert sieht (§ 13 Rn. 15). 120 Ganz h. M., vgl. statt vieler Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 8 Rn. 12; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 8 GRC Rn. 3; Schorkopf, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 15 Rn. 41; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 8 GRC Rn. 1 f. 121 Ganz h. M., vgl. statt vieler Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 8 Rn. 23; Jarass, EU-Grundrecht, § 13 Rn. 13; Johlen, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 8 Rn. 59 ff.; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 100.

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

sentlichen nur die Rechtsprechung des EuGH122 zum Datenschutzrecht sichtbar machen, diese Garantien also bereits vor Verkündung der Charta als allgemeine Rechtsgrundsätze gegolten haben dürften.123 Aber auch Art. 8 Abs. 3 GRC ist als Grundrecht zu begreifen.124 Dieser ist Anhängsel der Absätze 1 und 2. Es handelt es sich hierbei zwar um eine originäre Einrichtungsgarantie (Datenschutzstelle oder Datenschutzbeauftragter), die jedoch im Kern ebenfalls genau bestimmt ist. Die konkrete Ausgestaltung kann auch bei Grundrechten dem Gesetzgeber überlassen sein.125 Man wird Abs. 3 so verstehen dürfen, dass Betroffene aufgrund dieser Bestimmung ein Recht haben, Beschwerden an diese Stellen zu richten (vergleichbar mit dem Petitionsrecht).126 g) Art. 10–13 GRC Bei den Art. 10, 11, 12 und 13 GRC handelt es sich um bekannte abwehrrechtliche Garantien. Deren Einordnung als Grundrechte ist unstrittig.127 Für Art. 10 Abs. 2 GRC als eine spezielle Ausformung des Rechts auf Gewissensfreiheit kann nichts anderes gelten.128 h) Art. 14 und 15 GRC Die Art. 14 und 15 GRC enthalten mit Ausnahme des Art. 15 Abs. 2 GRC ausschließlich Grundrechte. Bei Art. 15 Abs. 2 GRC wird man dage122 EuGH, Rs. C-465/00, Slg. 2003, I-4989 Rn. 70 ff. (Österreichischer Rundfunk); Rs. C-101/01, Slg. 2003, I-12971 Rn. 81, 88 m. w. N. (Bodil Lindqvist). 123 So wie hier Jarass, EU-Grundrechte, § 13 Rn. 1; Schorkopf, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 15 Rn. 40 ff.; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 8 GRC Rn. 3. 124 Wie hier Jarass, EU-Grundrechte, § 13 Rn. 14. Für eine eher organisationsrechtliche Regelung aber Johlen, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 8 Rn. 62, und Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (4). 125 Vgl. hierzu instruktiv Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 98. 126 So ausdrücklich auch Jarass, EU-Grundrechte, § 13 Rn. 14. 127 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 13 Rn. 12 f.; Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 11 GRC Rn. 2; Jarass, EU-Grundrechte, § 17 Rn. 2; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 10 GRC 1, 7. Schmittmann will dagegen Art. 12 Abs. 2 GRC als Strukturbestimmung einordnen, vgl. Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 101, 130. 128 Ganz h. M., vgl. statt vieler Jarass, EU-Grundrechte, § 15 Rn. 21; Muckel, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 10 Rn. 11; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 101; Waldhoff/Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 10 GRC Rn. 15. A. A. Winkler, Grundrechte, S. 411. Dieser Garantie wird jedoch wenig Bedeutung zukommen, weil es der Union insoweit an einer Kompetenz fehlt.

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gen wegen Art. 52 Abs. 2 GRC von einer Grundfreiheit auszugehen haben.129 Art. 14 Abs. 1 – etwas weiter als Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls der EMRK – garantiert primär130 das Recht, nicht von Bildung ferngehalten zu werden bzw. ein derivatives Teilhaberecht auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung.131 Zur Einordnung des Art. 14 Abs. 2 wurde bereits mehrfach Stellung genommen.132 Aufgrund dessen präziser Formulierung ist diese Garantie, auch wenn Leistungsrecht, als Grundrecht zu qualifizieren.133 Bei Art. 14 Abs. 3 GRC handelt es sich um ein herkömmliches Abwehrrecht, das in ähnlicher Weise bereits in Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls der EMRK garantiert ist.134 Ebenfalls um ein Abwehrrecht und demnach nach hier vertretener Schwerpunkt-Theorie um ein Grundrecht handelt es sich beim Recht zu arbeiten aus Art. 15 Abs. 1 GRC.135 Ein Recht auf Arbeit ergibt sich aus dieser Vorschrift jedoch nicht.136 Art. 15 Abs. 3 GRC enthält schließlich ein Diskriminierungsverbot Drittstaatsangehöriger bei Arbeitsbedingungen.137 129 Ganz h. M., vgl. statt vieler Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 15 Rn. 20; Blanke, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Chart, Art. 15 Rn. 50 ff. m. w. N.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 15 Rn. 27. 130 So wie hier Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 14 Rn. 13 m. w. N.; Winner, Soziale Dimension, S. 190. Vgl. auch die Erläuterungen zur Charta ABl. EU v. 14. Dezember 2007 S. 22 (zu Art. 14 Abs. 1 GRC). A. A. primär Teilhaberecht Jarass, EU-Grundrechte, § 19 Rn. 3; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 14 GRC Rn. 6. 131 Ganz h. M., vgl. statt vieler Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 14 Rn. 11; Günther, Bildung, S. 229; Kempen, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 15 f. m. w. N.; Jarass, EU-Grundrechte, § 19 Rn. 3. 132 Siehe hierzu oben Teil 3, III. 4. d) aa) (2). 133 Wohl h. M., vgl. Günther, Bildung, S. 242 f. m. w. N.; Jarass, EU-Grundrechte, § 19 Rn. 3; Kempen, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 14 Rn. 16; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 14 Rn. 3, 5; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 102. A. A. Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 14 Rn. 14; Winkler, Grundrechte, S. 419. Unklar Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 596 f.; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 14 GRC Rn. 7. 134 Vgl. Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 14 Rn. 18 ff. m. w. N.; Günther, Bildung, S. 261 ff. m. w. N.; Kempen, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 14 Rn. 18; Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 14 Rn. 12; Winner, Soziale Dimension, S. 189. Vgl. auch die Erläuterungen der Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 22 (zu Art. 14 Abs. 3 GRC). Für einen Grundsatz dagegen Oberschneider, Soziale Grundrechte, S. 179; Winkler, Grundrechte, S. 411. 135 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Blanke, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 15 Rn. 19; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 610; Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 15 GRC Rn. 5. 136 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 15 Rn. 15; Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 15 Rn. 6 m. w. N. 137 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 15 Rn. 21; Blanke, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 15 Rn. 21.

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

i) Art. 16 und 17 GRC Die Art. 16 und 17 GRC haben traditionelle, abwehrrechtliche Garantien zum Gegenstand. Sie sind deshalb als Grundrechte zu klassifizieren.138 Die unternehmerische Freiheit und das Eigentumsrecht waren auch schon bislang vom EuGH als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannt.139 Die Formel „nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ steht der Einordnung des Art. 16 GRC als Grundrecht nicht entgegen.140 j) Art. 18 und 19 GRC In den Art. 18 und 19 GRC sind zwei Grundrechte zugunsten von Drittstaatsangehörigen normiert. Während sich die Einordnung des Art. 19 GRC aus dessen abwehrrechtlichem Charakter ergibt,141 begründet sich die Zuordnung des leistungsrechtlichen Art. 18 (Recht auf Asyl) aus dessen Bestimmtheit.142 Art. 18 GRC verpflichtet die Union im Wesentlichen nämlich lediglich zur Einhaltung der Genfer Konvention.143 Ob sich hieraus ein Recht auf Asyl oder nur ein Recht „im“ Asyl ableiten lässt, soll an dieser Stelle nicht weiter interessieren.144 138 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Nowak, in: Heselhaus/ders. (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 31 Rn. 21, § 32 Rn. 10. 139 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 23 m. w. N. zur Rechtsprechung des EuGH (zu Art. 16 und 17 GRC). 140 Siehe hierzu ausführlich bereits oben Teil 4, I. 141 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 19 Rn. 13; Rossi, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 19 GRC Rn. 1. Vgl. auch Art. 3 EMRK und Art. 4 des Zusatzprotokolls Nr. 4 zur EMRK. Vgl. ebenso die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 24 (zu Art. 19 GRC). 142 Ganz h. M., vgl. statt vieler Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 18 Rn. 1, 11; Jarass, EU-Grundrechte, § 23 Rn. 2; Rossi, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 18 GRC Rn. 2; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 105. Unklar Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (5); Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 18 Rn. 5. 143 So wie hier Jochum, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 18 Rn. 24 ff.; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 653; Rossi, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 18 GRC Rn. 5. Vgl. auch die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 24 (zu Art. 18 GRC). 144 Vgl. hierzu ausführlich Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 18 Rn. 11; Jochum, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Art. 18 Rn. 23 ff. m. w. N.; Wollenschläger, in: Heselhaus/Nowak, Hb. Grundrechte, § 16 Rn. 33 ff. Vereinzelt wird sogar ein echtes Recht auf Asyl angenommen, vgl. Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 657 m. w. N.

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k) Art. 20 und 21 GRC Die Diskriminierungsverbote aus Art. 20 und 21 GRC stellen nach ganz allgemeiner Meinung Grundrechte dar.145 Dies gilt auch für das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit,146 welches an Art. 12 EGV angelehnt ist.147 l) Art. 22 GRC Art. 22 GRC soll primär sicherstellen, dass die kulturelle, religiöse und sprachliche Vielfalt in der Union gewahrt bleibt. Es geht nicht um die Förderung der drei genannten Bereiche oder Schutz von Minderheiten vor Eingriffen Dritter,148 sondern um die Erhaltung und Anerkennung des gegenwärtigen Status quo durch die Union. Die Gewährleistung setzt damit, wie zu Recht gesagt wird,149 ein notwendiges Gegengewicht zu den Unitarisierungstendenzen der europäischen Integration. So lässt sich auch erklären, dass die Norm ausschließlich die Union verpflichtet, nicht aber die Mitgliedstaaten. Der Schwerpunkt dieser Garantie liegt demnach im Abwehrbereich. Bei Art. 22 GRC handelt es sich deshalb nicht, wie viele meinen150, um einen bloßen Grundsatz, sondern um ein echtes Grundrecht.151 Es gibt keinen Grund, Art. 22 GRC als Grundsatz einzustufen. Von dieser Garantie geht weder eine große finanzielle Gefahr für die öffentlichen 145 Vgl. statt aller Jarass, EU-Grundrechte, § 24 Rn. 2, § 25 Rn. 2; Sachs, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 20 Rn. 15, Art. 21 Rn. 19. 146 So wie hier scheinbar auch Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 21 Rn. 42 f.; Jarass, EU-Grundrechte, § 25 Rn. 26; Winkler, Grundrechte, S. 457 ff. 147 Vgl. hierzu schon oben Teil 2, III. 1. c). 148 So wie hier Kaiser, Minderheitenschutz, S. 114; Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 22 Rn. 17; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 783, gehen anscheinend davon aus, dass sich aus dieser Bestimmung einklagbare Schutzansprüche ableiten lassen. Insoweit wäre die Einordnung als Grundsatz dann auch richtig. Nach hier vertretener Ansicht geht die Gefahr für die Vielfalt aber primär von der Union selbst und nicht von privaten Dritten aus. Art. 22 GRC sichert nach hier vertretener Ansicht lediglich den gegenwärtigen Zustand. 149 Vgl. hierzu Ennuschat, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 22 Rn. 4; Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Art. 22 Rn. 14; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 22 GRC Rn. 4. 150 Ganz h. M., vgl. statt vieler Ennuschat, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 22 Rn. 6; Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 22 Rn. 16 f.; Jarass, EUGrundrechte, § 26 Rn. 48; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 22 GRC Rn. 2; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 107 f.; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 22 GRC Rn. 5. 151 So wie hier wohl nur Kaiser, Minderheitenschutz, S. 118; Mahlmann, ZEuS 2000, 419 (430). Teilweise auch Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 783 f.

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

Haushalte aus, noch führt sie zu einer Verschiebung nationaler Kompetenzen hin zur EU.152 Im Gegenteil: Art. 22 GRC soll einer solchen Entwicklung gerade entgegenwirken und die nationale Identität der Mitgliedstaaten stärken. Da Art. 22 GRC anders als der bisherige Art. 6 Abs. 3 EUV auf einzelne Schutzgüter abstellt, an deren Bewahrung auch der Einzelne Interesse hat, wäre eine andere Zuordnung als zu den Grundrechten schwer nachzuvollziehen. Die Diskussionen im ersten Konvent dürften diese Einschätzung stützen.153 Art. 41 Abs. 4 GRC ist lex specialis zu Art. 22 GRC. An Art. 22 GRC sieht man im Übrigen sehr schön, dass die Qualifizierung einer Charta-Bestimmung aufgrund der hier vertretenen Ähnlichkeitsthese von Grundrechten und Grundsätzen bei Weitem keine so große Rolle mehr spielt. Selbst wenn man diese Garantie nämlich als Grundsatz verstehen würde, wäre sie nach der in dieser Arbeit vorgetragenen Theorie im Abwehrbereich vollumfänglich einklagbar.154 m) Art. 23 GRC Art. 23 GRC enthält zwei Gewährleistungen. Abs. 1 verlangt die Sicherstellung der Gleichheit von Frauen und Männern in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts. Spezifische Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht sind nach Abs. 2 aber erlaubt. In den Erläuterungen zur Charta wird Art. 23 als eine Norm mit Mischcharakter bezeichnet.155 Damit kann nur gemeint sein, dass verschiedene Garantien dieses Artikels unterschiedlichen Normgruppen zugeordnet werden können.156 Bei Art. 23 Abs. 1 GRC handelt es sich um eine spezielle Ausformung des Verbots der Geschlechterdiskriminierung. Daher teilt diese Vorschrift mit den Art. 20 und 21 GRC die Einordnung als Grundrecht. Dafür spricht auch, dass der EuGH den ähnlich formulierten Art. 141 Abs. 1 EGV ebenfalls als subjektives Recht157 einstuft.158 An dieser Einordnung 152 Eine Kompetenzverschiebung wird auch durch Art. 51 Abs. 2 GRC verhindert. Siehe hierzu Teil 3, III. 3. c) bb) (1). 153 Vgl. hierzu ausführlich Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 22 Rn. 7 ff., 16. 154 Ähnlich Heselhaus, in: ders./Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 46 Rn. 76. 155 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. (zu Art. 23 GRC). 156 Siehe hierzu ausführlich oben Teil 3, II. 2. 157 Genauer gesagt als ein grundfreiheitsähnliches Recht, siehe hierzu oben Teil 2, III. 1. c). 158 Ganz h. M., vgl. statt vieler Nußberger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 23 Rn. 60; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 109. A. A. (bloßer Grundsatz) Winner, Soziale Dimension, S. 198 f. Wenig hilfreich sind die Erläuterungen

V. Einordnung der einzelnen Chartaartikel

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änderte sich im Übrigen selbst dann nichts, wenn man Art. 23 Abs. 1 GRC, wie manche es tun,159 als Gebot begreifen würde, aktiv für eine entsprechende Gleichstellung sorgen zu müssen.160 Trotz des dann leistungsrechtlichen Charakters der Norm bliebe diese hinreichend bestimmt, fordert sie doch „lediglich“ die Gleichstellung der Geschlechter. Der Schwerpunkt des Abs. 2 liegt auf einem Tätigwerden der Normadressaten. Gegebenenfalls soll das unterrepräsentierte Geschlecht durch entsprechende Vergünstigungen gefördert werden. Bei Art. 23 Abs. 2 GRC muss man deshalb von einem Grundsatz im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC ausgehen.161 Da das Ob und das Wie der Vergünstigung völlig unbestimmt ist, besteht auch nicht die Möglichkeit einer Umqualifizierung gemäß dem dritten Schritt der hier vorgeschlagenen Prüfungsabfolge zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen.162 n) Art. 24 GRC Art. 24 GRC weist fünf eigenständige Gewährleistungen auf.163 Nach Art. 24 Abs. 1 S. 1 GRC haben Kinder Anspruch auf Schutz und Fürsorge. In Art. 24 Abs. 1 S. 2 GRC wird das bereits in Art. 11 Abs. 1 GRC verankerte Recht, stets seine Meinung frei äußern zu können, speziell für Kinder wiederholt. Deren Meinung soll dann auch, dies sieht Art. 24 Abs. 1 S. 3 GRC vor, in Angelegenheiten, die Kinder betreffen, berücksichtigt werden. Gemäß Art. 24 Abs. 2 GRC hat bei sämtlichen Maßnahmen, die zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 25 (zu Art. 23 GRC), da diese sowohl auf die rein objektiv-rechtlichen Zielbestimmungen der Art. 2 und 3 Abs. 2 EGV als auch auf die subjektiv-rechtliche Garantie des Art. 141 Abs. 1 EGV verweisen. 159 So Nußberger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 23 Rn. 60; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 109. 160 Dies nicht ganz sicher, ablehnend bspw. Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 23 Rn. 18 und wohl auch Odendahl, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 44 Rn. 101. 161 So wie hier ganz h. M., vgl. statt vieler Jarass, EU-Grundrechte, § 26 Rn. 3; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 109. Unklar Nußberger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 23 Rn. 97. Heringa/Verhey, MJ 2001, 28 will in Abs. 2 dagegen lediglich eine Schranke des Art. 23 Abs. 1 GRC sehen. Dagegen spricht jedoch, dass die Erläutungen selbst von einem Grundsatz i. S. d. Art 52 Abs. 5 GRC sprechen. Zum anderen birgt Abs. 2 die Gefahr in sich, dass er als echtes Leistungsrecht verstanden werden könnte (z. B. Klage auf Quote). Gerade dies soll durch die Einordnung als Grundsatz aber verhindert werden. Vgl. zu den verschiedenen Möglichkeiten der Vergünstigung Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 741. 162 Siehe oben Teil 5, III. 163 Dies ist nicht ganz sicher. Manche sehen Abs. 1 als einheitliches Grundrecht. Vgl. hierzu ausführlich Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 109 f.

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

sich auf Kinder auswirken können, deren Wohl vorrangige Erwägung zu sein. Art. 24 Abs. 3 GRC enthält schließlich den Anspruch eines jeden Kindes auf regelmäßige persönliche Beziehung zu beiden Elternteilen. Die Einordnung dieser fünf verschiedenen Garantien stellt auch die hier vertretene Schwerpunkt-Theorie vor gewisse Probleme, da Art. 24 GRC insgesamt sehr unpräzise gefasst ist, man folglich kaum sagen kann, welche Aussagen genau getroffen werden.164 Nimmt man Art. 24 Abs. 1 S. 1 GRC wörtlich, liegt der Schwerpunkt der Norm auf dem Schutz und der Fürsorge für das Kind und damit im Leistungsbereich. Konkrete Verpflichtungen lassen sich aus dieser Vorschrift aber nicht ableiten. Aus diesem Grund handelt es sich hierbei um einen bloßen Grundsatz.165 Die Erläuterungen zur Charta stützen diese Einordnung, da jene nur auf umsetzungsbedürftige völkerrechtliche Bestimmungen verweisen.166 Art. 24 Abs. 1 S. 2 als bloße Wiederholung des Art. 11 Abs. 1 GRC vermittelt dagegen ein echtes Grundrecht.167 Art. 24 Abs. 1 S. 3 und Abs. 2 GRC sind sich sehr ähnlich. Beim Art. 24 Abs. 1 S. 3 GRC muss die Meinung der Kinder berücksichtigt werden, bei Art. 24 Abs. 2 GRC soll das Kindeswohl vorrangige Erwägung sein. Interpretiert man beide Aussagen lediglich als Verpflichtung, die entsprechenden Interessen bei Entscheidungen, die Auswirkungen auf Kinder haben, miteinbeziehen zu müssen, können diese Garantien den Grundrechten zugeordnet werden.168 Eine unmittelbare Drittwirkung lässt sich aufgrund der oben genannten Gründe jedoch keiner der Vorschriften entnehmen.169 Sollte man in diesen beiden Bestimmungen dagegen originäre Leistungsrechte erblicken, müssten die Art. 24 Abs. 1 S. 3 und Abs. 2 GRC 164 So auch Ennuschat, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 24 Rn. 5, Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 24 Rn. 15. 165 So wie hier Ennuschat, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 24 Rn. 5 f.; Jarass, EU-Grundrechte, § 27 Rn. 4. A. A. (für ein Grundrecht) Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 24 Rn. 3; Marauhn, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 41 Rn. 16. Vgl. auch Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 110. 166 Vgl. die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 25 (zu Art. 24 GRC). 167 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 24 Rn. 19; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 24 GRC Rn. 4; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 110 f. 168 H.M., vgl. statt vieler Jarass, EU-Grundrechte, § 27 Rn. 4, 19; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 111; Winner, Soziale Dimension, S. 201. Wohl auch Marauhn, in: Heselhaus/Nowak, Hb. Grundrechte, § 41 Rn. 17. 169 Siehe oben Teil 4, III. 3. So wie hier Ennuschat, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 24 Rn. 7; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 24 GRC Rn. 8. A. A. (für unmittelbare Drittwirkung) Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 24 Rn. 21; Schmitz, JZ 2001, 833 (840); Winner, Soziale Dimension, S. 201.

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aufgrund der dann unbestimmten Formulierung mit Art. 24 Abs. 1 S. 1 GRC die Einordnung als Grundsatz teilen. Art. 24 Abs. 3 GRC ist demgegenüber so klar gefasst, dass dieser trotz leistungsrechtlichem Schwerpunkt170 als Recht verstanden werden kann.171 Für diese Einordnung spricht zudem, dass der EGMR dem Art. 8 EMRK ein mit Art. 24 Abs. 3 GRC vergleichbares Umgangsrecht entnimmt.172 Diese Rechtsprechung ist bei der Auslegung der Charta wegen Art. 52 Abs. 3 GRC miteinzubeziehen. o) Art. 25 und 26 GRC Nach Art. 25 und 26 GRC anerkennt und achtet die Union bestimmte Gewährleistungen von alten und behinderten Menschen. In den Erläuterungen zur Charta ist Art. 25 GRG als Beispiel für einen Grundsatz aufgeführt.173 Aufgrund der ähnlichen Formulierung geht die ganz überwiegende Mehrheit im Schrifttum davon aus, dass Art. 26 GRC ebenfalls einen Grundsatz darstellt. Dieser Klassifizierung der Art. 25 und 26 GRC ist im Ergebnis zuzustimmen.174 Jedoch ergibt sich deren Einordnung als Grundsätze primär daraus, dass diese beiden Garantien entgegen der weit verbreiteten Ansicht in der Lehre175 nicht nur auf Abwehr, sondern auch auf Schutz und Förderung 170 Jarass sieht dagegen den Schwerpunkt des Art. 24 Abs. 3 GRC im Abwehrbereich und kann bereits deshalb ein einklagbares Recht bejahen, vgl. Jarass, EUGrundrechte, § 27 Rn. 29. 171 Ganz h. M., vgl. statt vieler Jarass, EU-Grundrechte, § 27 Rn. 4, 29; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 111; Winner, Soziale Dimension, S. 201. 172 EGMR v. 11. Juli 2000 (Ciliz), Nr. 29192/95; v. 13. Juli 2000 (Elsholz), Nr. 25735/94. Vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 8 Rn. 9 m. w. N.; Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 9. 173 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2008 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5 GRC). 174 Ganz h. M., vgl. statt vieler Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (565); Jarass, EU-Grundrechte, § 28 Rn. 2, 10; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 25 GRC Rn. 1, Art. 26 GRC Rn, 4; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 100; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 112. A. A. Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 26 Rn. 9, 14; Schmitz, EuR 2004, 691 (704) Winner, Soziale Dimension, S. 203 f. Wohl auch Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 25 GRC Rn. 3, Art. 26 GRC Rn. 3. 175 H.M., vgl. statt vieler Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 25 Rn. 8, 9, Art. 26 Rn. 14; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 100; Mann, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 25 Rn. 19; Marauhn, in: Heselhaus/ Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 42 Rn. 16, 22 f. Letzterer begründet seine Auffassung damit, dass man mit den Art. 25 und 26 GRC keine einklagbaren Leistungsrechte schaffen wollte. Dieses teleologische Argument sollte jedoch nicht schon zu einer Einschränkung des Schutzbereichs einer Norm führen, sondern erst auf der nächsten Stufe über die Einordnung der Norm – ob Grundrecht oder Grundsatz –

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der genannten Interessen angelegt sind.176 Die Art. 25 und 26 GRC gehen über ein bloßes Verbot, nationale Sozialstandards auszuhöhlen, weit hinaus. Aus den Vorschriften lassen sich vielmehr „Ansprüche“ auf Herstellung eines würdigen und unabhängigen Lebens für alte Menschen bzw. auf Herstellung der Eigenständigkeit von Behinderten herleiten. Es wird versprochen, dass Hürden, die den Zutritt dieser beiden Gruppen zu einem normalen Leben in der Gesellschaft erschweren oder gar verhindern, abgebaut werden. Für ein leistungsrechtliches Verständnis dieser Normen spricht auch, dass gemäß den Erläuterungen zur Charta sich die Art. 25 und 26 GRC insbesondere auf die Art. 14 ESC und Art. 23 rev. ESC stützen. Letztere sind jedoch als Umsetzung- und Förderverpflichtungen formuliert. Dagegen trägt das Argument nicht, die beiden Vorschriften räumten kein Recht bzw. Anspruch ein, sondern setzten ein Recht bzw. einen Anspruch voraus, das von der Union lediglich anzuerkennen und zu achten sei, insoweit also ein bloßes Abwehrrecht normiert werde.177 Aus der Formulierung „anerkennt und achtet“ kann nämlich gerade nicht die Beschränkung des Schutzbereichs auf den Erhalt des gegenwärtigen Status quo geschlossen werden. Ein Anspruch wird dann anerkannt und geachtet, wenn dieser erfüllt, bei einem Anspruch auf Leistung also die Leistung gewährt wird.178 Im Übrigen sollte – hierauf wurde bereits mehrfach eingegangen179 – dem Wortlaut der Charta nicht allzu großes Gewicht beigemessen, sondern, wenn überhaupt, die Formulierung „anerkannt und achtet“ als bloßer Hinweis verstanden werden, dass es der Union für eine aktive Umsetzung dieser Gewährleistungen an einer entsprechenden Kompetenz fehlt.180 Der Schwerpunkt der Art. 25 und 26 GRC liegt also im Leistungsbereich. Die beiden Rechtssätze sind geradezu ein Paradebeispiel für Verpflichtunentscheiden. Eine Einklagbarkeit ist wegen des Art. 52 Abs. 5 GRC nämlich auch bei den Grundsatznormen ausgeschlossen. 176 So wie hier in der Tendenz wohl nur Jarass, EU-Grundrechte, § 28 Rn. 2, 10; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 25 GRC Rn. 3, Art. 26 GRC Rn. 2; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 767 f. 177 Vgl. hierzu Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 25 Rn. 8; Mann, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 26 Rn. 16, Art. 25 Rn. 19, 21; Marauhn, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 42 Rn. 16; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 112; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 26 GRC Rn. 3; Winner, Soziale Dimension, S. 203, 205. 178 Ähnlich Marauhn, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 42 Rn. 16. S. bereits oben Teil 3, II. 5. c). 179 Siehe oben Teil 3, II. 4. 180 So wie hier Bühler, Einschränkungen, S. 380 f.; Calliess, EuZW 2001, 261 (265). Unbrauchbar sind folglich die Versuche, aus diesen Termini Bedeutungsunterschiede herauslesen zu wollen. So aber Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Vor Kap. III Rn. 13, Art. 25 Rn. 8 f.; Mann, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 25 Rn. 19.

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gen, die, um einklagbar zu sein, zunächst der Umsetzung durch die zuständigen Gesetzgeber bedürfen. Beide Garantien sind viel zu unbestimmt, als dass man herauslesen könnte, welche Mindestmaßnahmen für die Integration alter und behinderter Menschen getroffen werden müssten (z. B. behindertengerechter Ausbau von öffentlichen Gebäuden, Quoten für die Einstellung von alten und behinderten Menschen, o. ä.). Genau aus diesem Grund sind die Art. 25 und 26 GRC als Grundsätze einzuordnen. p) Zwischenergebnis Nach Untersuchung der ersten drei Titel der Grundrechtecharta ergibt sich folgendes Bild von der Klassifizierung der bislang geprüften Gewährleistungen: In den ersten beiden Titeln, die überschrieben sind mit „Würde des Menschen“ und „Freiheiten“, findet sich erwartungsgemäß kein einziger Grundsatz. Im Titel 3 „Gleichheit“ müssen nach der hier vertretenen Schwerpunkte-Theorie die Art. 23 Abs. 2, 24 Abs. 1 S. 1, 25 und 26 GRC als Grundsatznormen verstanden werden. Bei Art. 22 GRC handelt es sich entgegen der ganz herrschender Meinung nicht um einen Grundsatz, sondern um ein Grundrecht.

2. Garantien des Titels IV a) Art. 27 GRC Art. 27 GRC sieht eine Pflicht zur rechtzeitigen Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vor. Die Vorschrift spezifiziert jedoch in keiner Weise, in welchen Fällen unterrichtet und angehört werden muss oder in welcher Art und Weise die Unterrichtung und Anhörung ablaufen soll. Es ist noch nicht einmal klar, ob diese Garantie nur das Kollektiv der Arbeitnehmerschaft oder auch den einzelnen Arbeitnehmer schützt.181 Art. 27 GRC ist also zu unbestimmt, als dass aus ihm ohne vorherige Umsetzung konkrete Rechte abgeleitet werden könnten. Die Norm ist vielmehr auf Konkretisierung und damit auf Tätigwerden der Gesetzgeber angelegt. Der Verweis in den Erläuterungen zur Charta auf den „beachtlichen Besitzstand“182 der Union dürfte die hier vertretene Ansicht stützen, lassen sich doch die bereits in Kraft befindlichen Richtlinien insoweit als Umsetzungsakte eines erst jetzt kodifizierten Grundsat181 Vgl. hierzu Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 27 Rn. 29. Instruktiv zum Ganzen auch Vitorino, Revue du droit de l’Union européene 2001, 27 (54 f.). 182 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 26 (zu Art. 27 GRC).

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zes183 ansehen.184 Der Terminus „Recht“ in der Überschrift des Art. 27 GRC steht der Einordnung als Grundsatz aus dem bereits mehrfach genannten Grund185 terminologischer Ungenauigkeit der gesamten Charta nicht entgegen.186 b) Art. 28 GRC Art. 28 GRC vermittelt ein echtes Grundrecht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen.187 Dies folgt sowohl aus der primär abwehrrechtlichen Funktion dieser Gewährleistung, als auch daraus, dass der EGMR188 ebenso wie der EuGH189 zumindest zum Teil190 ein entsprechendes Grundrecht auf Kollektivmaßnahmen anerkennen. Das Recht, sich zu Kollektiven zusammenzuschließen, wird dagegen bereits durch Art. 12 Abs. 1 GRC geschützt. c) Art. 29 GRC Art. 29 GRC enthält ein „Recht“ auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst. Umstritten ist, welcher konkrete Aussagegehalt 183 Für einen Grundsatz wohl die h. M., vgl. statt vieler Jarass, EU-Grundrechte, § 29 Rn. 2; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 113 f.; Winner, Soziale Dimension, S. 158. Unklar Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 27 GRC Rn. 11; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 27 Rn. 29. A. A. (für ein Grundrecht) Hilbrandt, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 35 Rn. 23; Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rn. 58; Lang, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 27 Rn. 7. 184 So auch Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 113. In Ansätzen ähnlich Jarass, EU-Grundrechte, § 29 Rn. 2. 185 Siehe oben Teil 3, II. 4. und Teil 5, IV. 186 So auch Jarass, EU-Grundrechte, § 29 Rn. 2; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 113. 187 Nahezu allg. Meinung, vgl. statt vieler Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (10); Jarass, EU-Grundrechte, § 29 Rn. 9 f.; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 28 Rn. 1; Rixen, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 28 Rn. 22; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 114 f.; Winner, Soziale Dimension, S. 160 f. Unklar Funk, in: Duschanek/Griller (Hrsg.), in: Grundrechte für Europa, S. 39 (46). A. A. (Grundsatz) Oberschneider, Soziale Grundrechte, S. 164. Ausführlich zum Ganzen Sagan, Das Gemeinschaftsgrundrecht auf Kollektivmaßnahmen. 188 EGMR v. 6. Februar 1976 (Dahlström), Nr. 5589/72. Vgl. hierzu Frowein/ Peukert, EMRK, Art. 11 Rn. 11 ff. 189 So nun auch ausdrücklich der EuGH, Rs. C-438/05, LS 2 (International Transport), noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht. 190 Ausführlicher hierzu Hilbrandt, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 35 Rn. 30 ff.; Jarass, EU-Grundrechte, § 29 Rn. 10.

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dieser Vorschrift zukommt. Während manche in Art. 29 GRC lediglich ein Abwehrrecht erkennen wollen – die Union darf nichts unternehmen, was einen bestehenden unentgeltlichen Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst gefährden könnte –,191 verstehen andere Art. 29 GRC als ein derivatives Recht auf unentgeltliche Teilhabe an einem bereits existierenden Arbeitsvermittlungsdienst.192 Der Verfasser hält es entgegen der ganz herrschenden Meinung im Schrifttum193 sogar für möglich, dass der Vorschrift darüber hinaus sogar ein originäres Leistungsrecht auf Schaffung eines Arbeitsvermittlungsdiensts entnommen werden kann.194 Unabhängig davon, welchen konkreten Inhalt der EuGH Art. 29 GRC am Ende zumisst, ist die Garantie als echtes Grundrecht zu qualifizieren. Diejenigen, die den Schwerpunkt des Art. 29 GRC nicht ohnehin schon in seiner Abwehrfunktion sehen, kommen zu dieser Einordnung jedenfalls aufgrund der hinreichend bestimmten Formulierung.195 Ganz gleich, welche Auslegungsvariante man wählt, man erhält immer einen Schutzbereich, der auch ohne vorherige Konkretisierung durch die Gesetzgeber justiziabel ist.196 d) Art. 30 und 31 GRC Art. 30 GRC verspricht einen „Anspruch“ auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, Art. 31 GRC ein „Recht“ auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen (Abs. 1) sowie auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit, wöchentliche Ruhezeiten und bezahlten Jahresurlaub (Abs. 2). Alle drei Gewährleistungsarten sind darauf ausgelegt, dass entweder entsprechende Schutzprogramme bereits umgesetzt sind („nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“) oder in Zukunft umgesetzt werden. Für sich gesehen sind die Normen nicht justiziabel. 191 So etwa Meyer/Engels, Charta der Grundrechte, S. 26; Winner, Soziale Dimension, S. 162. 192 So Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (10); Jarass, EU-Grundrechte, § 30 Rn. 2; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 29 Rn. 7. 193 Vgl. statt vieler Losch/Radau, NVwZ 2003, 1440 (1444); Mann, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), Charta, Art. 29 Rn. 5; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 29 Rn. 7. 194 Winner, Soziale Dimension, S. 162 hält dagegen eine rein objektiv-rechtliche Einrichtungsgarantie für gewährt. Unschlüssig Streinz, in: ders (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 29 GRC Rn. 3. 195 Wie hier Jarass, EU-Grundrechte, § 30 Rn. 2; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 29 Rn. 1; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 115. Unklar Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 29 GRC Rn. 8. 196 H. M., vgl. statt vieler Jarass, EU-Grundrechte § 30 Rn. 2; Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rn. 58; Rengeling/ Szczekalla, Grundrechte, S. 814 f.; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 29 Rn. 1.

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Wann ist eine Entlassung ungerecht? Was muss unter gesunden, sicheren und würdigen Arbeitsbedingungen verstanden werden? Art. 31 Abs. 2 GRC enthält ebenfalls keinerlei Zeitvorgaben. Ein Tätigwerden der Legislative ist also unabdingbar. Der Schwerpunkt dieser Bestimmungen liegt daher im Leistungsbereich.197 Jarass198 dagegen schlägt vor, die Vorschriften jeweils in einen subjektiven Kern und einen objektiven Restgehalt aufzuspalten. Ein solches Vermischen von Normgehalten ist jedoch – wie bereits mehrfach ausgeführt wurde199 – abzulehnen. Ohnehin ist nicht ersichtlich, worin der Mehrwert einer solchen Aufspaltung bestehen soll. Hält man die Art. 30 und 31 GRC für zu unbestimmt und deshalb für konkretisierungsbedürftig, so wie der Verfasser meint, müssen konsequenterweise die drei Garantien den Grundsätzen zugeordnet werden.200 Diejenigen, die diese Vorschriften dagegen für ausreichend bestimmt und zumindest im Kern für justiziabel erachten, sollten sich dann auch für die Einordnung als Rechte entscheiden.201 Eine Durchbrechung der hier vertretenen Schwerpunkte-Theorie wäre damit nicht verbunden, erlaubt diese doch gerade bei bestimmbaren Regelungsminima die Klassifizierung der ansonsten unbestimmten Normen als Grundrechte.202 e) Art. 32 GRC Bei dem Verbot von Kinderarbeit aus Art. 32 S. 1 GRC203 handelt es sich ebenso wie bei dem Beschäftigungsverbot204 von noch schulpflichtigen 197 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 30 Rn. 11, 25; Winner, Soziale Dimension, S. 165. 198 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 30 Rn. 11, 25. Ähnlich Winner, Soziale Dimension, S. 165, 168. 199 Siehe hierzu ausführlich oben Teil 2, II. 2. 200 So wie hier im Wesentlichen auch Jarass, EU-Grundrechte, § 30 Rn. 11, 25; Winner, Soziale Dimension, S. 165, 168. Der EuGH sprach in Bezug auf das „Recht“ auf bezahlten Jahresurlaub von einem „besonders wichtigen Grundsatz des Sozialrechts der Gemeinschaft“, EuGH, Rs. C-173/99, Slg. 2001, I-4881 Rn. 37, 39, 43 (BECTU). GA Tizzano ordnete das Recht auf bezahlten Jahresurlaub im vorstehenden Fall dagegen ausdrücklich den Grundrechten zu, Schlussantrag Rn. 22 ff., 29. Vgl. zu dieser Rspr. ausführlich Hilbrandt, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 36 Rn. 23 ff., 43 ff. m. w. N. Vgl. auch GA Tizzano in dessen Schlussantrag in der Rs. C-133/00, Slg. 2001, I-7031 Rn. 27 ff., 31 ff. (Bowden). 201 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 GRC Rn. 16 f.; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Vor Kap. IV Rn. 33; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 115 ff. Wohl auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45d. 202 Siehe oben Teil 5, III. 203 Wohl h. M., vgl. statt vieler Jarass, EU-Grundrechte, § 30 Rn. 40; Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rn. 58; Ren-

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Jugendlichen aus Art. 32 S. 2 GRC205 aufgrund der klaren Formulierung206 um Grundrechte. Dagegen wird man Art. 32 S. 3 GRC, der Mindestarbeitsbedingungen für Jugendliche vorschreibt, analog zu den Art. 30 und 31 GRC den Grundsätzen zuordnen müssen.207 f) Art. 33 GRC Ebenfalls einen Mischartikel stellt Art. 33 GRC dar.208 Darauf machen bereits die Erläuterungen zur Charta aufmerksam.209 In Art. 33 Abs. 1 GRC wird der rechtliche, wirtschaftliche und soziale Schutz der Familie gewährleistet. Die Norm vermittelt eine leistungsrechtliche Garantie, die jeglicher Bestimmtheit entbehrt. Daher muss insoweit von einem Grundsatz ausgegangen werden.210 Die wesentlichen (abwehrrechtlichen) Garantien zum Schutz der Familie enthält bereits Art. 9 GRC. Bei dem Anspruch auf Schutz vor Entlassung aus einem mit der Mutterschaft zusammenhängenden geling/Szczekalla, Grundrechte, S. 812 f.; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 117; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 32 GRC Rn. 4. A. A. Barriga, Entstehung, S. 125; Nußberger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 32 Rn. 31; Winner, Soziale Dimension, S. 169. Unklar Marauhn, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 41 Rn. 19. 204 Im Schrifttum wird vielfach verkannt, dass sich auch bei Art. 32 S. 2 GRC um einen deontischen Normsatz handelt, so bspw. Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 32 Rn. 10; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 32 GRC Rn. 4; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 117. Wie hier wohl Krebber, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 32 GRC Rn. 2 f.; Nußberger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 32 Rn. 31. 205 Wohl h. M., vgl. statt vieler Jarass, EU-Grundrechte, § 30 Rn. 40; Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rn. 58; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 812; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 117. A. A. Winner, Soziale Dimension, S. 169. Unklar Marauhn, in: Heselhaus/ Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrehte, § 41 Rn. 19. 206 Vgl. zu der Bestimmtheit von Verboten oben Teil 5, V. 1. c). 207 Umstritten, für einen Grundsatz sind Nußberger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 32 Rn. 31; Winner, Soziale Dimension, S. 169. Für ein Grundrecht dagegen Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (565); Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rn. 58; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 117. Für ein Grundrecht auch Jarass, EU-Grundrechte, § 30 Rn. 40, der Art. 32 S. 3 GRC für ausreichend präzise hält. 208 A. A. Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 118 f.; Tettinger, in: ders./ Stern (Hrsg.), Charta, Art. 33 Rn. 14. Beide gehen von einem einheitlichen Grundrecht aus. 209 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35 (zu Art. 52 GRC). 210 Strittig, so wie hier Jarass, EU-Grundrechte, § 31 Rn. 2. A. A. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 GRC Rn. 2; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Vor Kap. IV Rn. 33. Schwankend Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 118.

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

Grund (Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC) handelt es sich indes um ein echtes Grundrecht, praktisch211 kongruent zum Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts aus Art. 21 Abs. 1 GRC.212 In Art. 33 Abs. 2 Var. 2 und 3 GRC finden sich mit den Ansprüchen auf Mutterschafts- bzw. Elternurlaub demgegenüber wiederum bloße Grundsätze, analog zur Einordnung des Art. 31 Abs. 2 GRC.213 Art. 33 Abs. 2 Var. 3 GRC ist im Übrigen nicht deshalb hinreichend bestimmt, wenn und weil wesentliche Tatbestandsmerkmale (erst) durch das Sekundärrecht verständlich werden.214 Die vorhandenen Sekundärrechtsakte sind vielmehr als Konkretisierungen eines erst nachträglich kodifizierten Grundsatzes zu verstehen. g) Art. 34 GRC Art. 34 GRC wird in den Erläuterungen zur Charta als weiteres und letztes Beispiel für einen Mischartikel aufgeführt.215 Zu dieser Vorschrift wurde bereits ausführlich Stellung genommen.216 Gemäß Art. 34 Abs. 3 GRC anerkennt und achtet die Union das Recht auf soziale Unterstützung und Unterstützung für eine Wohnung für alle, die nicht über ausreichende Mittel verfügen. Diese Gewährleistung zielt primär auf Schutz und Leistung ab, hat ihren Schwerpunkt daher im Leistungsbereich. Sie ist folglich den Grundsätzen zuzuordnen.217 Demgegenüber beinhaltet Art. 34 Abs. 2 einen Anspruch auf diskriminierungsfreien Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und den sozialen Vergünstigungen und enthält damit ein Grundrecht in Form eines derivativen Teilhaberechts.218 Nicht ganz klar ist 211 Fraglich ist, ob sich auf Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC auch Männer berufen können, vgl. hierzu Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 33 Rn. 13. 212 Wohl allg. Meinung, vgl. statt vieler Jarass, EU-Grundrechte, § 31 Rn. 11; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 GRC Rn. 5; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Vor Kap IV Rn. 33. 213 A. A. Jarass, EU-Grundrechte, § 31 Rn. 11; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 GRC Rn. 5, 9; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 119. 214 So aber Jarass, EU-Grundrechte, § 31 Rn. 17 und Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 33 GRC Rn. 9. 215 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 35 (zu Art. 52 Abs. 5 GRC). 216 Siehe oben Teil 3, II. 2. 217 Ganz h. M., vgl. statt vieler Folz, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. II-95 Rn. 9; Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 29, § 32 Rn. 2, 21; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EVU/EGV, Art. 34 GRC Rn. 4; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 101 mit Fn. 283; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 121. Vgl. auch die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 27 (zu Art. 34 Abs. 3 GRC). 218 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 34 Rn. 4, 8 f.; Nußberger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 34 Rn. 104, 117; Schmittmann,

V. Einordnung der einzelnen Chartaartikel

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der Aussagegehalt des Art. 34 Abs. 1 GRC. Nach einer Ansicht im Schrifttum vermittle diese Vorschrift ein Grundrecht, weil sie rein auf die Bewahrung des Status quo („die Union anerkennt und achtet das Recht auf Zugang[219]“), nicht aber auf Erweiterung oder Schaffung neuer Sicherungssysteme gerichtet sei.220 Wenn dem so wäre, wäre die Qualifizierung als Grundrecht auch nach der hier vertretenen Schwerpunkte-Theorie richtig. Die wohl herrschende Meinung stuft Art. 34 Abs. 1 GRC dagegen als Grundsatz ein,221 da dort nicht nur der Schutz vor Absenkung des gegenwärtigen sozialen Standards durch die Union, sondern auch der Zugang zu und damit Teilhabe an den Leistungen der sozialen Sicherheit garantiert werde. Für eine Einklagbarkeit sei eine Konkretisierung durch die Gesetzgeber erforderlich, weil erst diese entscheiden müssten, unter welchen Voraussetzungen Leistungen der sozialen Sicherheit gewährt werden. Dem ist zuzustimmen. Für die Einordnung als Grundsatz spricht auch222, dass die Erläuterungen zur Charta in Bezug auf Art. 34 Abs. 1 GRC von einem Grundsatz sprechen.223 Zudem wird in den Erläuterungen ausdrücklich klargestellt, dass durch diese Bestimmung keine neuen Ansprüche begründet werden sollen.224 Die Klassifizierung als Grundsatz sichert diesen Willen der Konventsmitglieder ab.225 h) Art. 35 S. 1 und 36 GRC In Art. 35 S. 1 GRC wird das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und ärztliche Versorgung garantiert, in Art. 36 GRC der Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse anerkannt und geachRechte und Grundsätze, S. 120 f. A. A. Folz, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. II-95 Rn. 8, der jedoch übersieht, dass Art. 34 Abs. 2 GRC einen Wohnsitzwechsel fordert, so dass diese Garantie nicht auf rein inländische Sachverhalte anzuwenden ist (dies ergibt sich auch aus Art. 51 Abs. 1 GRC). 219 Hervorhebung durch den Verfasser. 220 So Bierweiler, Soziale Sicherheit, S. 179 ff. m. w. N. Ebenso Krieger, in: Marauhn/Grote (Hrsg.), EMRK/GG, Kap. 6 Rn. 95, 102 und teilweise auch Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 29, § 32 Rn. 2. 221 H.M., vgl. statt vieler Folz, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg (Hrsg.), EVV, Art. II-95 Rn. 6; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EVU/EGV, Art. 34 GRC Rn. 4, Art. 52 Rn. 28; Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 101 mit Fn. 283; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 120. 222 Die Bezeichnung einer Vorschrift als Grundsatz oder Grundrecht in den Erläuterungen zur Charta (bei den Einzelkommentierungen) führt jedoch nicht zwingend zu einer entsprechenden Einordnung der jeweiligen Bestimmung in eine der beiden Normgruppen. Siehe oben Teil 5, I. 223 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 27 (zu Art. 34 Abs. 1 GRC). 224 Ebd. 225 Vgl. hierzu ausführlich Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 34 Rn. 7 ff.

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

tet. Die beiden Vorschriften sind ähnlich formuliert wie Art. 34 Abs. 1 GRC. Insoweit dürfte das Gleiche gelten wie dort. Würde man diesen Gewährleistungen ausschließlich einen rein abwehrrechtlichen Charakter zumessen, wie es manche tun,226 wäre die Einordnung als Grundrechte auch nach der hier vertretenen Schwerpunkte-Theorie konsequent.227 Weil die Art. 35 S. 1 und 36 GRC aber wohl primär auf Zugang und damit auf Leistung gerichtet sind – von den Gesetzgebern also in erster Linie gefordert wird, den Zugang zu diesen Leistungen zu ermöglichen –, ist es überzeugender, diese Garantien als Grundsätze zu begreifen,228 die, um justiziabel zu sein, zunächst der Umsetzung bedürfen. Überdies sind die beiden Normen zu unbestimmt.229 Es ist völlig offen, wer unter welchen Voraussetzungen Zugang zu welchen Leistungen und Einrichtungen erhalten soll. Was ist unter den Begriffen „Gesundheitsvorsorge“, „ärztliche Versorgung“ oder „Dienstleistungen“ von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zu verstehen?230 Ein Anspruch auf ärztliche Grundversorgung ist, anders als manche im Schrifttum meinen,231 nicht selbstverständlich. International konnte man sich bislang noch nicht auf ein solches Recht einigen, geschweige denn auf einen Anspruch auf Gesundheitsvorsorge. Auch der Rechtsprechung des EGMR ist kein Recht auf Behandlung bei Krankheit zu entnehmen, soweit der Zustand des Betroffenen nicht die Schwelle des Art. 3 EMRK überschreitet.232 Dies mag man für unbefriedigend halten, sollte bei der Aus226 So Nußberger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 35 Rn. 33; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 35 Rn. 9; Sander, ZEuS 2005, 253 (266 ff.); Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 122; Wichard, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ EGV, Art. 35 GRC Rn. 3; Winner, Soziale Dimension, S. 179 f., alle aber nur in Bezug auf Art. 35 S. 1 GRC. 227 Als zusätzliches Argument wird die Entstehungsgeschichte des Art. 35 S. 1 GRC angeführt. Jedoch ist dem Verfasser nicht klar, wie aus dem Vergleich des gegenwärtigen Wortlauts mit der Erstfassung des Art. 35 S. 1 GRC ein Argument zugunsten einer Grundrechtseinordnung gewonnen werden kann, macht man sich klar, dass die Formulierung der Erstfassung und damit die Formulierung als Grundrecht gerade nicht verabschiedet worden ist. Die Erstfassung lautete folgendermaßen: „Jede Person muss die Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge in Anspruch nehmen können und im Falle der Erkrankung Zugang zu ärztlichen Versorgung haben.“ Vgl. CHARTE CONVENT 19 v. 29. März 2000. Vgl. hierzu ausführlich Barriga, Entstehung, S. 129 f.; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 35 Rn. 8. 228 So wie hier Jarass, EU-Grundrechte, § 33 Rn. 2, 10. 229 So wie hier Jarass, EU-Grundrechte, § 33 Rn. 2, 10. Vgl. in Bezug auf Art. 36 GRC auch Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 123. 230 Vgl. hierzu ausführlich Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 35 Rn. 9 f. 231 So z. B. Rengeling/Szczekalla, Grundrechte, S. 835; Sander, ZEuS 2005, 253 (268); Winner, Soziale Dimension, S. 179 f. 232 Instruktiv hierzu Bungenberg, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 61 Rn. 27 f. m. w. N. Ausführlich zum Ganzen oben Teil 2, IV. 3. a).

V. Einordnung der einzelnen Chartaartikel

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legung der Grundrechtecharta aber schon alleine wegen des Art. 52 Abs. 3 GRC nicht unberücksichtigt bleiben. Die hier vertretene Ansicht wird durch die Erläuterungen zur Charta gestützt, die die Art. 35 und 36 GRC – und bei Art. 35 GRC beide Sätze – als Grundsätze bezeichnen. Ferner wird in den Erläuterungen zu Art. 36 GRC ausdrücklich festgestellt, dass diese Norm kein neues Recht enthalte.233 Durch diese Bestimmungen sollten also gerade keine einklagbareren Ansprüche auf Gesundheitsvorsorge bzw. ärztliche Versorgung oder auf Zugang zu den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse geschaffen werden. i) Art. 35 S. 2, 37 und 38 GRC Bei den Art. 35 S. 2, 37 und 38 GRC handelt es sich geradezu um Musterfälle von Grundsatznormen im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC.234 Diese Vorschriften sind auf stetige Verbesserung des Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutzes angelegt. Deren Schwerpunkt liegt also im Leistungsbereich. In jedem der drei Felder wird sich nur sehr schwer ein minimales Gesundheits-, Umwelt- oder Verbraucherschutzniveau ausmachen lassen, welches zwingend einzuhalten wäre. Dies gilt erst recht, wenn man bedenkt, dass – aber selbst das ist wie eben erläutert nicht unumstritten235 – sich die existenznotwendige Vorsorgung bzw. der Schutz vor lebensbedrohlichen Gefahren bereits aus Art. 2 GRC ergibt. Bei den Art. 35 S. 2, 37 und 38 GRC haben zunächst die Gesetzgeber das Wort. Erst wenn diese tätig geworden sind und Umsetzungs- oder Fördermaßnahmen erlassen haben, ist der EuGH bereit – dann aber auch ohne größere Zurückhaltung236 –, einklagbare Rechtspositionen anzunehmen.

233

ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 27 (zu Art. 35 und 36 GRC). Allg. Meinung, vgl. statt vieler Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (10); Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rn. 58; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 122, 123 f.; Schmitz, EuR 2004, 691 (703). Vgl. auch ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 27 f., 35 (zu Art. 35 S. 2, 37, 38 GRC). 235 Siehe vorstehend Teil 5, V. 2. h). 236 Vgl. hierzu die erst kürzlich erlassene Entscheidung des EuGH in der Rs. C-237/07 (Janecek), noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht. Vgl. auch Krämer, in: Schulze/Zuleeg (Hrsg.), Hb. Europarecht, § 26 Rn. 81 ff. 234

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

j) Zwischenergebnis Im Titel IV der Charta finden sich eine ganze Reihe von Grundsatznormen. Unter Anwendung der hier vertretenen Schwerpunkt-Theorie sind dies: Art. 27, 30, 31, 32 Abs. 2, 33 Abs. 1, Abs. 2 Var. 2 und 3, 34 Abs. 1 und 3, 35–38 GRC. Rechte enthalten dagegen die Art. 28, 29, 32 Abs. 1, 33 Abs. 2 Var. 1 und 34 Abs. 2 GRC. 3. Garantien des Titels V und VI a) Art. 39 und 40 GRC Die Wahlrechtsvorschriften in Art. 39 und 40 GRC werden allgemein als Grundrechte eingestuft.237 Dies gibt bereits Art. 52 Abs. 2 GRC vor. b) Art. 41 GRC Art. 41 GRC enthält verschiedene Abwehr- und Leistungsrechte. Als Leistungsrechte einzuordnen sind das Recht auf zügige Durchführung des Verwaltungsverfahrens (Art. 41 Abs. 1 Var. 3 GRC), das Recht auf Akteneinsicht (Art. 41 Abs. 2 lit. b GRC), das Recht auf Schadensersatz (Art. 41 Abs. 3 GRC) und schließlich das Recht, sich in einer der Vertragssprachen an die Organe der Union wenden zu können und in dieser Sprache auch eine Antwort zu erhalten (Art. 41 Abs. 4 GRC). Bei all diesen Gewährleistungen handelt es sich im Wesentlichen um Rechte, die bereits gegenwärtig entweder in den Verträgen garantiert (vgl. Art. 21 Abs. 3, 253, 288 Abs. 2 EGV) oder vom EuGH als Allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannt sind.238 Es wird ein Mindestmaß an „guter Verwaltung“ versprochen. Art. 41 GRC räumt demnach ausschließlich Grundrechte ein,239 die zwar der Konkretisierung durch Gesetzgeber und Rechtsprechung fähig, aber nicht unbedingt bedürftig sind.240 237 Allg. Meinung, vgl. statt vieler Jarass, EU-Grundrechte, § 35 Rn. 2, 24; Magiera, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 39 Rn. 1; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 125. 238 Vgl. hierzu ausführlich die Erläuterungen zur Charta ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 28 (zu Art. 41 GRC mit vielen Rechtsprechungszitaten). Vgl. auch K.-D. Classen, Gute Verwaltung, S. 235 ff. m. w. N.; Grzeszick, EuR 2006, 161 (164 f.); Heselhaus, in: ders./Nowak (Hrsg.), Hb. Grundrechte, § 57 Rn. 34 ff. 239 Ganz h. M., vgl. statt vieler Galetta/Grzeszick, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 41 Rn. 8; Jarass, EU-Grundrechte, § 36 Rn. 3 f.; Magiera, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 41 Rn. 8; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 125 f. 240 Vgl. hierzu K.-D. Classen, Gute Verwaltung, S. 403 ff. m. w. N.; Pfeffer, Recht auf gute Verwaltung, S. 88 f.

V. Einordnung der einzelnen Chartaartikel

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c) Art. 42–46 GRC In den Art. 42 bis 46 GRC sind fast ausschließlich traditionelle Unionsbürgerrechte verankert, nahezu wortgetreu übernommen aus dem EU-/EUVertrag.241 Der Schwerpunkt der meisten Garantien liegt im Abwehrbereich. Lediglich durch Art. 42 (Recht auf Zugang zu Dokumenten) und Art. 46 (Recht auf diplomatischen Schutz) GRC werden Leistungsrechte vermittelt, die aber so klar formuliert sind, dass für deren Justiziabilität keine Umsetzung erforderlich ist.242 Bei Art. 45 Abs. 1 GRC handelt es sich wegen Art. 52 Abs. 2 GRC um ein grundfreiheitsähnliches Recht, auszulegen wie dessen Pendant Art. 18 EGV.243 Einzig Art. 45 Abs. 2 GRC enthält einen Grundsatz.244 Dort ist bestimmt, dass Staatsangehörigen von Drittländern Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit gewährt werden kann. Ein Recht geht damit nicht einher. Art. 45 Abs. 2 GRC weicht von Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC ab, indem er der Union ein Wahlrecht in Bezug auf die Umsetzung einräumt und nicht wie sonst, zu einer Umsetzung des jeweiligen Grundsatzes verpflichtet. Die Vorschrift erhält deshalb erst dann rechtliche Relevanz, wenn die Union von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht und entsprechende Regelungen zugunsten von Drittstaatsangehörigen erlassen hat. d) Art. 47–50 GRC Die Art. 47 bis 50 GRC sind primär abwehrrechtlich konzipiert und daher als Grundrechte einzuordnen.245 Dies folgt im Übrigen auch daraus (vgl. Art. 52 Abs. 3 GRC), dass sich die Art. 47 bis 50 GRC weitgehend mit Garantien der EMRK decken.246 Als einzige Gewährleistung des sechsten Titels der Charta sieht Art. 47 Abs. 3 GRC ein Leistungsrecht (im en241

ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 29 f. Allg. Meinung, vgl. statt vieler Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 45d; Jarass, EU-Grundrechte, § 37 Rn. 2, 16, 27; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 52 Rn. 16 f. 243 Vgl. hierzu schon oben Teil 2, III. 1. c). A. A. Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 45 GRC Rn. 1. 244 Wohl h. M., vgl. Hilson, ELRev. 2004, 636 (644); Jarass, EU-Grundrechte, § 39 Rn. 17; Magiera, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 45 Rn. 20; Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 45 GRC Rn. 2. A. A. Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 126 f., der in Art. 45 Abs. 2 GRC weder ein Recht noch eine Bestimmung erblicken, sondern diese Bestimmung nur als „politisches Signal“ verstehen will. Ähnlich Barriga, Entstehung, S. 142. 245 H.M., vgl. statt vieler Eser, in: Meyer (Hrsg.), Charta, Art. 47 Rn. 1; Jarass, EU-Grundrechte, § 40 Rn. 2. 246 ABl. EU C 303 v. 14. Dezember 2007 S. 29 ff. (zu Art. 47 ff. GRC). 242

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Teil 5: Kriterien zur Abgrenzung von Grundrechten und Grundsätzen

geren Sinne) vor. Da der Anspruch auf Prozesskostenhilfe jedoch bestimmt genug ist, wird man auch bei dieser Norm von einem Grundrecht auszugehen haben.247 e) Zwischenergebnis In den Titeln V und VI der Grundrechtecharta finden sich mit Ausnahme des Art. 45 Abs. 2 GRC ausschließlich Grundrechte. Bei Art. 45 Abs. 2 GRC handelt es sich um einen speziellen Grundsatz. 4. Ergebnis Unter die Kategorie der Grundsätze fallen damit folgende Gewährleistungen der Charta: Art. 23 Abs. 2, 24 Abs. 1 S. 1, 25–27, 30, 31, 32 Abs. 2, 33 Abs. 1, Abs. 2 Var. 2 und 3, 34 Abs. 1 und 3, 35–38 GRC.

VI. Kategorisierung der Grundsatznormen Im Schrifttum werden die einzelnen Grundsatznormen zum Teil weiter in einzelne Unterkategorien gegliedert. Häufig stößt man im Zusammenhang mit den Art. 35 S. 2, 37 und 38 GRC auf die Bezeichnung als Unionszielbestimmungen oder Grundsätze mit Querschnittsauftrag.248 Andere Grundsätze werden dagegen als Grundsätze mit Subjektivierungsauftrag spezifiziert.249 Auf eine weitere Unterteilung der Grundsatznormen soll in dieser Arbeit jedoch verzichtet werden. Eine solche wäre nur dann sinnvoll, wenn die Charta an die verschiedenen Grundsatzkategorien unterschiedliche Rechtsfolgen knüpfen würde. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die hier gefundenen Grundsatznormen unterliegen allesamt dem Normenregime der Art. 52 Abs. 1 S. 2, 52 Abs. 5 S. 1, 2 GRC. Eine Ausnahme hiervon gilt – und das auch nur teilweise – für Art. 45 Abs. 2 GRC. Dieser Grundsatz lässt der Union ein Wahlrecht, Drittstaatsangehörigen Freizügigkeit und 247

Ganz h. M., vgl. statt vieler Blanke, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 47 GRC Rn. 19; Jarass, EU-Grundrechte, § 40 Rn. 48 f. Vgl. auch EGMR v. 9. Oktober 1979 (Airey), Serie A, Band 32 S. 11. 248 Vgl. Calliess, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20 Rn. 13; Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 132; Schmitz, EuR 2004, 691 (703). Für eine weitere Untergruppe vgl. Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Charta, Art. 52 Rn. 100, der die Grundsätze, die mit „die Union anerkennt und achtet“ beginnen, als spezielle Kategorie begreifen will. 249 Vgl. Schmittmann, Rechte und Grundsätze, S. 131 ff. Vgl. auch Jarass, EUGrundrechte, § 7 Rn. 38

VI. Kategorisierung der Grundsatznormen

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Aufenthaltsfreiheit zuzugestehen oder dies nicht zu tun, und weicht damit von Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC ab, der die Union und die Mitgliedstaaten (bei Durchführung von Unionsrecht) eigentlich dazu verpflichtet, sich an sämtliche Grundsätze zu halten und diese zu fördern. Art. 37 GRC vermittelt – daran sei nochmals erinnert250 – anders als die anderen Grundsätze kein subjektives Recht im Sinne des Haftungsrechts. Gleiches gilt für all die Grundsatznormen, die ausschließlich auf Leistung gerichtet sind. Ein Haftungsanspruch wird insoweit schon durch Art. 52 Abs. 5 GRC verhindert.

250

Siehe oben Teil 3, III. 5.

Teil 6

Zusammenfassung Zu Beginn der Arbeit wurden vier Fragen aufgeworfen. Diese lassen sich nun wie folgt beantworten: (1) Welche normativen Eigenschaften besitzen die sog. Grundsätze der Grundrechtecharta? [Teil 3] Grundsätze sind ausschließlich in der Grundrechtecharta vorkommende verbindliche Normen des europäischen Primärrechts, denen unmittelbare Geltung und in ihrer abwehrrechtlichen Dimension auch unmittelbare Anwendbarkeit zukommt. In dieser abwehrrechtlichen Dimension vermitteln die Grundsatznormen (mit Ausnahme der Verpflichtung zum Umweltschutz aus Art. 37 GRC) darüber hinaus auch ein subjektives Recht im Sinne des Haftungsrechts. Grundsätze und Grundrechte sind sich im Abwehrbereich also weitgehend ähnlich (sog. Ähnlichkeitsthese). (2) Welche Rechtsfolgen sind an diese Eigenschaften und damit an die Einordnung einer Norm als Grundsatz geknüpft? [Teil 3] Bei den Grundsatznormen handelt es sich ab In-Kraft-Treten der Charta um unmittelbar geltendes Unionsrecht. Aus diesem Grund sind die Grundsatznormen ab diesem Zeitpunkt auch von sämtlichen Organen der Union und den Mitgliedstaaten bei Durchführung von Unionsrecht einzuhalten und zu befolgen. Die Grundsatznormen können als Einriffsrechtfertigung dienen (vgl. Art. 52 Abs. 1 GRC). Sie vermögen jedoch nicht die Kompetenz zugunsten der Union zu verschieben (vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 GRC). Aufgrund ihrer unmittelbaren Geltung besteht auch die Pflicht, das gesamte Unionsrecht und die mitgliedstaatlichen Durchführungsakte konform zu diesen Grundsätzen auszulegen. Im Leistungsbereich sollte hiervon nur restriktiv Gebrauch gemacht werden; der durch Auslegung erreichte Anspruchsinhalt muss im Umsetzungsakt zumindest bereits angedeutet sein (sog. Andeutungstheorie). Aufgrund ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit sind die Grundsatznormen im Abwehrbereich zudem vollumfänglich justiziabel und damit – voraus-

Teil 6: Zusammenfassung

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gesetzt die sonstigen prozessualen Voraussetzungen sind erfüllt – auch durch den Einzelnen einklagbar. Überdies ist der Union und den Mitgliedstaaten verboten, ohne ausreichende Rechtfertigungsgründe einmal erlassene Umsetzungsakte wieder zurückzunehmen und damit den erreichten Schutzstandard abzusenken (sog. Rückschrittsverbot). Die Einhaltung dieses Verbots kann durch den Bürger eingefordet werden. Missachten die Union oder die Mitgliedstaaten den abwehrrechtlichen Gehalt einer Grundsatznorm (mit Ausnahme der Verpflichtung zum Umweltschutz aus Art. 37 GRC), kann sich hieraus auch ein Haftungsanspruch ergeben. Den Gesetzgebern muss bei Umsetzung, der Verwaltung bei Vollzug von Grundsatznormen ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt werden. Im Leistungsbereich, in welchem der Schwerpunkt der Grundsätze zu sehen ist, sind die Grundsatznormen dagegen im Allgemeinen nicht unmittelbar anwendbar und damit auch nicht einklagbar. Ein Haftungsanspruch wegen fehlender Umsetzung/Vollziehung der Grundsätze ist schon wegen Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC nicht möglich. Insoweit besteht eine Parallele zu den speziellen Zielbestimmungen des EG-Vertrags (z. B. zum agrarrechtlichen Grundsatz der Marktstabilisierung aus Art. 33 Abs. 1 lit. c oder – mit Einschränkungen – dem umweltrechtlichen Vorsorgeprinzip aus Art. 174 Abs. 2 Uabs. 1 S. 2 EGV). Eine Ausnahme hiervon gilt nur bei solchen Grundsatznormen, wenn und soweit diese in ihrer leistungsrechtlichen Dimension lediglich derivate Teilhabe an bereits vorhandenen Einrichtungen gewähren. In diesem Fall kann der Einzelne gestützt auf diese Grundsätze auf diskriminierungsfreien Zugang und bei Verstößen auf Ersatz entstandener Schäden klagen. Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC ist insoweit teleologisch zu reduzieren. (3) Gibt es für die Grundsatznormen auch eine „Allgemeine Grundsatzlehre“ und wenn ja, wie sieht diese aus? [Teil 4] Die Allgemeinen Grundrechtslehren können auf die Grundsatznormen weitgehend übertragen werden. Dies ist eine Folge der hier vertretenen Ähnlichkeitsthese von Grundrechten und Grundsätzen. (4) Anhand welchen Kriteriums lassen sich die Grundrechte in der Charta von den Grundsätzen unterscheiden? [Teil 5] Für die Einordnung der Chartabestimmung in eine der beiden Kategorien sind folgende drei Fragen zu beantworten: 1. Welches ist der Inhalt der einzelnen Norm? 2. Liegt der Schwerpunkt der Norm im Leistungsbereich?

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3. Ist die leistungsrechtliche Dimension ausnahmsweise hinreichend konkret formuliert und damit der Umsetzung nicht bedürftig? Ein Grundsatz liegt dann vor, wenn Frage (2) mit Ja und Frage (3) mit Nein beantwortet wird. Nach dieser Schwerpunkt-Theorie handelt es sich bei folgenden Gewährleistungen der Charta um Grundsätze: Art. 23 Abs. 2, 24 Abs. 1 S. 1, 25–27, 30, 31, 32 Abs. 2, 33 Abs. 1, Abs. 2 Var. 2 und 3, 34 Abs. 1 und 3, 35–38 GRC. Neben der Klärung dieser vier Hauptfragen wurden in der Arbeit zu einigen weiteren wichtigen Problemen Stellung genommen: (1) Eine europarechtliche Fragestellung ist stets und ausschließlich im Rahmen der Dogmatik und anhand der Methodik des Europarechts zu bearbeiten und zu lösen [Teil 2, II.]. (2) Die Gemeinschaftsgrundrechte unterscheiden sich von den Grundfreiheiten dahingehend, dass Grundfreiheiten immer schon Anwendung finden, wenn lediglich deren Tatbestand erfüllt ist. Im Gegensatz dazu kann man sich auf Gemeinschaftsgrundrechte erst dann berufen, wenn neben dem Betroffensein des jeweiligen Schutzbereichs zusätzlich auch das Handeln oder Unterlassen, welches überprüft werden soll, in den Anwendungsbereich des EU-Rechts fällt. Grundrechte können sich also nicht selbst aktivieren, sondern benötigen dazu immer andere europarechtliche Bestimmungen (beispielsweise auch die Grundfreiheiten). Die Gemeinschaftsgrundrechte sind also von „Aktivierungsvorschriften“ abhängig. Grundfreiheiten dagegen schaffen sich ihre Anwendbarkeit selbst, sind damit gleichsam autonom [Teil 2, III. 1. b) bb) (3)]. (3) Daher handelt es sich bei Art. 12 EGV (= Art. 21 Abs. 2 GRC) auch um ein Grundrecht und nicht um ein grundfreiheitsähnliches Recht [Teil 2, III. 1. c)]. (4) Sowohl die Nichtigkeitsklage als auch die Untätigkeitsklage stellen objektive Beanstandungsverfahren dar. Auf die Geltendmachung subjektiver Rechtsverletzungen kommt es nicht an. Das Merkmal der individuellen Betroffenheit bezieht sich anders als die Klagebefugnis nach deutschem Recht auf den Prüfungsgegenstand und nicht auf den Prüfungsmaßstab. Für die Betroffenheit reicht es aus, wenn der Kläger irgendein Interesse vorbringen kann. Popularklagen sind auch im Gemeinschaftsrecht ausgeschlossen. Normerlassklagen kennt das europäische Verfahrensrecht nicht [Teil 2, IV. d) bb) (1)]. (5) Eigenschaften, anhand derer Gemeinschaftsbestimmungen qualifiziert werden können, sind folgende: Existenz und Wirksamkeit, Verbindlichkeit, unmittelbare Geltung, unmittelbare Anwendbarkeit, Gewährung eines subjektiven Rechts im Sinne des Haftungsrechts [Teil 3].

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(6) Zu den Begriffen der unmittelbaren Geltung, unmittelbaren Wirkung, unmittelbare Anwendbarkeit [Teil 3, III. 3. a) bb)]: (a) Der Terminus „unmittelbare Geltung“ kennzeichnet das Problem, ob eine Norm direkt – also ohne weiteren Zwischenschritt – innerstaatliche Rechtswirkungen erzeugen kann. Infolge des Prinzips der Supranationalität kommt sämtlichem Gemeinschaftsrecht ab dessen In-Kraft-Treten nach hier vertretener Ansicht unmittelbare Geltung in den Mitgliedstaaten zu. Dies gilt ebenso für Richtlinien, auch vor Ablauf der Umsetzungsfrist. (b) Der Begriff der unmittelbaren Anwendbarkeit befasst sich demgegenüber mit der Frage, ob eine unmittelbar geltende Norm ohne gesetzliche Konkretisierung auch Rechte und Pflichten des Einzelnen zu begründen vermag, die vor Behörden oder Gerichten eingefordert werden können. Die unmittelbare Anwendbarkeit ist der Frage nach der unmittelbaren Geltung einer Norm somit nachgeschaltet. (c) Der Begriff der unmittelbaren Wirkung von EG-Normen wird verwendet, wenn ausgedrückt werden soll, dass eine Norm Rechtswirkungen erzeugt. Dies ist in der Regel bereits dann der Fall, wenn ein Rechtssatz entsprechend der obigen Definition innerstaatlich Geltung beansprucht. Nicht notwendig ist dagegen, dass die jeweilige Bestimmung einen vollzugsfähigen (sog. „self-executing“) Inhalt aufweist, also unmittelbar anwendbar ist. Die Frage nach der unmittelbaren Wirkung einer Norm ist also der Frage nach der unmittelbaren Geltung nach-, der nach der unmittelbaren Anwendbarkeit vorgeschaltet. (7) Eine Bestimmung des Gemeinschaftsrechts ist nach hier vertretener Ansicht dann unmittelbar anwendbar, wenn sie hinreichend bestimmt und unbedingt formuliert ist. Die Kategorie der unmittelbaren Anwendbarkeit hat demnach rein objektive Voraussetzungen. Auf den Schutz individueller Rechte oder Interessen kommt es nicht an. Aus einer unmittelbar anwendbaren Norm des Gemeinschaftsrechts folgt stets ein prozessuales Berufungsrecht (die sog. „invocabilité“), sich bei entsprechendem Interesse vor Behörden und Gerichten auf diese Norm direkt stützen zu können. Die jeweilige Norm ist dabei von den Behörden und Gerichten schon von sich aus zu beachten; der Bürger braucht sich auf diese nicht aktiv zu berufen [Teil 3, III. 4. c) dd)]. Noch nicht unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht muss ins nationale Recht so umgesetzt werden, dass der Einzelne dieses geltend machen kann. Eine Umsetzung als subjektives Recht ist möglich, aber nicht in jedem Fall notwendig. Der Bürger wird im EG-Recht zur

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Durchsetzung des objektiven Rechts instrumentalisiert, um eine möglichst weitgehende Effektivität des Gemeinschaftsrechts zu erreichen. Aus diesem Grund sind unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsbestimmungen auch in der Bundesrepublik vollumfänglich durch den Einzelnen einklagbar, sofern dieser ein irgendwie geartetes, nachvollziehbare Interesse an deren Geltendmachung vortragen kann [Teil 3, III. 4. c) dd)]. (8) Ein subjektives Recht im Sinne der gemeinschaftsrechtlichen Haftungsbestimmungen liegt dann vor, wenn eine Vorschrift des EG-Rechts den Bürger begünstigen soll, die Norm also zumindest auch die Interessen des Einzelnen im Auge hat. Insoweit übernimmt das EG-Recht die deutsche Schutznormtheorie, wenn auch in deutlich abgeschwächter Form. Der EuGH stellt für das Vorliegen subjektiv-rechtlicher Bestimmungen keine allzu großen Anforderungen. In diesem Sinne subjektive Vorschriften sind in den einzelnen Mitgliedstaaten als subjektive Rechtssätze zu begreifen bzw., wenn noch nicht unmittelbar anwendbar, umzusetzen [Teil 3, III. 5.]. (9) Die Grundrechtecharta und damit auch die Grundsatznormen binden sowohl die Union als auch die Mitgliedstaaten, letztere aber nur bei Sachverhalten im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. Ein Handeln oder Unterlassen fällt dann in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, wenn EG-Recht vollzogen wird oder Mitgliedstaaten in Grundfreiheiten eingreifen. Mit der Formulierung des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC war eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte nicht gewollt [Teil 4, III. 1.].

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Sachwort- und Entscheidungsverzeichnis Abhängigkeitsmerkmal 57–60 Abwehrbereich 275 ff., 290, 302, 306, 354 f., 358, 363 f., 379, 382 Abwehrfunktion 170, 174, 180, 371 agency situation 315, 320 Ähnlichkeitsthese 306, 308, 355, 364, 382 Allgemeine Rechtsgrundsätze 23, 46, 52, 66, 73, 91, 323, 360, 362, 378 Anwendungsvorrang 47, 198, 286, 316 Äquivalenzgebot 247, 262 Aufsicht 227, 299 ff. Auslegung – grundsatzkonforme 205, 207 f., 292–295, 328 – normkonforme 202, 346 – rechtsvergleichende 43, 74, 76, 277 – wertender Verfassungsvergleich 46, 73, 76, 168 Berufungsrecht 237, 239, 250 f., 255, 257, 259, 263 ff., 287, 290, 307, 385 Bestandsschutz 82, 93, 113, 119, 124, 174, 176 ff. Bestimmtheitsgrundsatz 61 broad view 236–240, 242, 250, 253, 256, 258–261, 274 case Kingdom of Spain 250 case Murtagh Properties 116 Charta-Konvent 35 f., 40 ff. Demokratieprinzip 67, 179, 270, 277, 352 f. direct effect 231, 244, 288

Diskriminierungsverbot 54, 60 f., 66, 137, 153, 238, 354, 361, 363 Dogmatik 27, 29, 43 f., 47 f., 101, 165, 167 f., 181, 207, 228, 248, 255, 270, 308 Drittwirkung 218, 241, 323–326, 337, 358, 366 Effektivitätsgebot 247 effet cliquet 29, 93, 100 Eingriff 327 Elfes-Entscheidung 85, 118, 135, 278, 288 EMRK 119 ff. Europäische Sozialcharta 125 ff. Fall Airey 121 Fall Gaygusuz 124 Fall Poirrez 124 Fall Ryan 115 Fall Tallagrand 94 f. Frustrationsverbot 191, 203 f. Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte 127 Gepflogenheitsformel 48, 309 f., 347, 358, 362, 371 Gleichheitsrechte 39 f., 81, 98, 271 Görgülü-Beschluss 120 Grundfreiheiten 49, 51–60, 67 f., 128, 160, 167, 214, 307, 313, 318 ff., 322, 326, 335 ff., 384, 386 grundfreiheitsähnliche Rechte 53, 58–61, 67 f., 128, 307, 379, 384 Grundrechte – Begriff 49 ff. – Definition 50 ff., 65 f. – Dogmatik 308 ff.

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Sachwort- und Entscheidungsverzeichnis

Grundsatzberechtigte 312 Grundsätze – allgemein juristisches Verständnis 150 – allgemeines Sprachverständnis 150 – Begriff in der Charta 156 ff. – Begriff in der Rechtsprechung 153 ff. – besondere Normkategorie der Charta 161 ff. Grundsatzverpflichtete 314 ff. Haftung 52, 96, 145, 149, 184, 230, 239, 247, 251 f., 257, 260, 262, 295 ff. invocabilité 239, 265, 287, 385 judicial activism 37, 117, 201, 207, 281, 295, 340 Kompetenzsicherungsklausel 40 Leistungsbereich 70, 81, 118, 147, 268 f., 272 f., 276, 291–293, 295, 302, 306, 330, 337, 353–355, 366, 368, 372, 374, 377, 382 f. Marktstabilisierung 130, 137–139, 141, 146, 276, 279, 284, 304–306, 328, 333, 383 materiell-rechtliche Lösung 256 Methodik 47, 384 narrow view 230–233, 238, 243 f., 250, 252, 258, 260 f., 274, 299 Nichtigkeitsklage 48, 130 ff., 135 ff., 141, 148, 226, 267, 304, 314, 384 Norm 150 ff. Normenkollision 334 Normenkontrolle 96, 102, 113, 239 Normerlassklage 79, 93, 105, 118, 136 f., 148, 174, 267, 384

Opt-Out-Klausel 322 f. Optimierungsgebot 143, 152, 276 Parliamentary Sovereignty 44 f. Programmsätze 84, 105, 163, 179, 182 prozessuale Lösung 257, 265 Rechtsregeln 150–153 Richtlinien 127, 136, 176, 189–191, 194, 198, 200, 203 f., 207 f., 216 ff., 221, 230, 232, 237, 240–245, 250, 253, 259–263, 273, 290–295, 316–319, 369, 385 Rs. AM & S Europe 47 Rs. Angonese 326 Rs. Becker 213, 220, 228, 241 Rs. Carpenter 231 Rs. Casagrande 58 Rs. CIA Security 217, 241 f., 264 Rs. Costa v. ENEL 47, 198 Rs. Costanzo 244, 250, 253 Rs. Defrenne 324 Rs. Enichem Base 234, 240 f., 264 Rs. Factortame 137, 247 Rs. Foster 213 Rs. Grad 189 Rs. Großkrotzenburg 235, 243 Rs. Hauer 45, 312 Rs. Heylens 54 Rs. Internationale Handelsgesell. 45 Rs. Kampffmeyer II 304 Rs. Kommission/Frankreich 167 Rs. Kraaijeveld 242 Rs. Krombach 154 Rs. Lemmens 234, 240 Rs. Liselotte Hauer 45 Rs. Lütticke 215 Rs. Marshall I 217 f. Rs. Maruko 322 Rs. Michel S 206 f., 294 Rs. Nold 121

Sachwort- und Entscheidungsverzeichnis Rs. Omega 319, 322 Rs. Peter Paul 299 Rs. Pfizer 138, 141 ff. Rs. Plaumann 133, 238 Rs. Rewe Zentrale 56 Rs. Schmidberger 319, 322 Rs. Stauder 76 Rs. Unilever 217 Rs. van den Berg 138 ff., 147, 334 Rs. van Duyn 211, 216, 237 Rs. van Gend & Loos 188 f., 211–215, 220, 236 Rs. Verholen 238, 250, 253 Rs. Viking 321 Rs. von Colson 202, 207, 293 Rs. Wallonie 190 Rs. Wells 118 Rs. World Wildlife Fund 259 Rückschrittsverbot 29, 84, 119, 146, 174–81, 290, 327, 383 Rückwirkungsverbot 61 Schranke(n) 48, 55, 89, 112, 266, 310 f., 328–333 Schranken-Schranken 333 ff. Schutznorm 140, 145, 226 f., 230, 232, 238, 246, 256 f., 259, 299, 342, 386 Schwerpunkte-Theorie 369, 372, 375 f. separation of powers 117 f. soziale Grundrechte 68 ff., 74 ff., 119 ff. Staatszielbestimmungen 28, 70, 79, 83–86, 106, 278 stand-still-Klausel 29, 82, 100 Strukturprinzipien 52 f., 62 f., 67 f., 155, 307 subjektive(s) Recht(e) 28 f., 40, 51 ff., 67, 70, 77–79, 81, 84 ff., 91, 106 f., 114, 117, 133 f., 145, 148, 154, 156 f., 159, 166, 169, 184, 216, 218, 220–237, 329, 243–251,

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255–277, 287 f., 291, 295–307, 343, 349, 381 f., 384 f. Supranationalität 189 f., 195 f., 208, 211, 385 Transparenzprinzip 32 f. travaux preparatoires 31, 33 Übermaßverbot 155 Umsetzungsakt 29, 162 f., 171, 175 f., 193, 196 f., 205, 207 ff., 253, 280, 282, 284 ff., 292 f., 302, 316 f., 343, 353, 369, 382 f. Umsetzungsbedürftigkeit 106 f., 114, 118, 141, 155, 351 unmittelbare Anwendbarkeit 187, 202, 208 ff., 214, 216, 218, 220, 228 f., 231, 234–238, 242–245, 248, 251, 256, 258–261, 265, 267, 273 f., 276 f., 288, 298, 306, 382, 384 f. unmittelbare Geltung 126, 185 ff., 189–192, 196 f., 208, 306, 382, 384 f. unmittelbare Wirkung 187, 214, 220, 236, 243 f. Verbindlichkeit 31, 40, 64, 84, 148, 162 ff., 182 ff., 200, 384 Verfassungskonvent 34, 41 ff., 67, 71, 207, 331 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 154 f., 181, 305, 309 Vorrang des Europarechts 198 ff. Vorsorgeprinzip 130, 137 f., 143, 145 ff., 171, 228, 284, 304, 306, 328, 333, 383 Wesensgehaltsgarantie 61 Zielbestimmungen 28, 37, 53, 62–65, 67 f., 70, 79, 83–86, 93, 106, 115, 128 f., 137–140, 147 ff., 164, 199, 205, 207, 266, 278, 283, 306 f., 331, 380, 383