Die Entwicklung der jüdischen Minderheit in Deutschland (1780--1933): Neuere Forschungen und offene Fragen [Reprint 2011 ed.] 9783110920284, 9783484603837

The review essay discusses recent publications (1981-1991) on the history of the Jewish minority in Germany and specific

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German Pages 195 [204] Year 1992

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Table of contents :
1. Perspektiven der Betrachtung
2. Religiöse Entwicklung
3. Bildung – Akkulturation – Selbstbesinnung
4. Bevölkerungsentwicklung und Siedlungsweise
5. Landjudentum
6. Wirtschaftliche Entwicklung und Sozialstruktur
7. Die Juden im politischen Leben
8. Politische Organisationen der Juden
9. Die jüdische Frau und die jüdische Familie
10. Teilintegration und Ausbildung einer deutschjüdischen Subkultur
11. Die jüdische Minderheit: Akkulturation und Selbstbewahrung
Titelliste
Register
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Die Entwicklung der jüdischen Minderheit in Deutschland (1780--1933): Neuere Forschungen und offene Fragen [Reprint 2011 ed.]
 9783110920284, 9783484603837

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Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur

4. Sonderheft

Herausgeber WOLFGANG FRÜHWALD, München; GEORG JÄGER, München; DIETER LANGEWIESCHE, Tübingen; ALBERTO MARTINO, WIEN.

Wissenschaftlicher Beirat MAX L. BAEUMER, Madison, Wisconsin; WILFRIED BARNER, Göttingen; ROGER BAUER, München; HERMANN BAUSINGER, Tübingen; KARL BERTAU, Erlangen; MARTIN BIRCHER, Weimar; KARL BOSL, München; WOLFGANG BRÜCKNER, Würzburg; FRANCESCO DELBONO, Rom; HORST DENKLER, Berlin; WOLFRAM FISCHER, Berlin; HANS FROMM, München; HANS NORBERT FÜGEN, Heidelberg; GERALD GILLESPIE, Stanford, California; HERBERT G. GÖPFERT, München; KLAUS GRUBMÜLLER, Göttingen; WOLFGANG HARMS, München; RENATE VON HEYDEBRAND, München; WILLIAM M. JOHNSTON, Amherst, Massachusetts; HANS-JOACHIM KOPPITZ, Mainz; HELMUT KREUZER, Siegen; EBERHARD DÄMMERT, Berlin; VICTOR LANGE, Princeton, N.J.; PETER LUNDGREEN, Bielefeld; WOLFGANG MARTENS, München; JAN-ÖIRK MÜLLER, München; WALTER MÜLLER-SEIDEL, München; PAUL RAABE, Halle; FRITZ K. RINGER, Boston, Massachusetts; LUTZ RÖHRICH, Freiburg; PIERRE-PAUL SAGAVE, Paris; NELLO SAITO, Rom; GERHARD SAUDER, Saarbrücken; RUDOLF SCHENDA, Zürich; FRIEDRICH SENGLE, Seefeld-Hechendorf; ALPHONS SILBERMANN, Köln; FRITZ STERN, New York; JEAN-MARIE VALENTIN, Paris; WILHELM VossKAMP, Köln; ERNST-PETER WIECKENBERG, München; MANFRED WINDFUHR, Düsseldorf; REINHARD WITTMANN, München; DIETER WUTTKE, Bamberg; BERNHARD ZELLER, Marbach a. N.; HANS ZELLER, Fribourg; WOLFGANG ZORN, München.

Mitglieder der Redaktion: NORBERT BACHLEITNER, Wien; CHRISTINE BURTSCHEIDT, München; MARTIN HUBER, München; ALFRED NOE, Wien.

Trade Maurer

Die Entwicklung der jüdischen Minderheit in Deutschland (1780-1933) Neuere Forschungen und offene Fragen

4. Sonderheft Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1992

Anschriften der Herausgeber Prof. Dr. Wolfgang Frühwald, Römerstädter Str. 4k, W-8900 Augsburg Prof. Dr. Georg Jäger, Klenzestr. 26a, W-8000 München 5 Prof. Dr. Dieter Langewiesche, Rotbad 9, W-7400 Tübingen Prof. Dr. Alberto Martino, Peter-Jordan-Str. 145/1/5, A-1180 Wien Redaktionen Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Institut für Deutsche Philologie Schellingstr. 3, W-8000 München 40 Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft Berggasse 11/5, A-1090 Wien Redaktion des Sonderheftes: Georg Jäger

IASL erscheint in zwei Halbjahresbänden mit etwa 480 Seiten Umfang insgesamt. IASL veröffentlicht Originalbeiträge in deutscher, englischer und französischer Sprache. Das Merkblatt zur Manuskriptgestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Mitarbeiter werden ersucht, ihre Manuskripte satzfertig an die Redaktion einzusenden und Änderungen in den Korrekturfahnen nach Möglichkeit zu vermeiden, da der Verlag die durch Autorkorrekturen verursachten Mehrkosten nur in beschränktem Maße trägt. Die Zeitschrift zahlt kein Honorar. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Haftung übernommen. Für die hier veröffentlichten Aufsätze hat § 4 UrhRG Gültigkeit. Rezensionsexemplare werden an die Redaktionen erbeten. IASL wird in Current Contents/Arts 6- Humanities und im Arts & Humanities Citation Index ausgewertet. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Internationales Archiv für Sozialgeschicbte der deutschen Literatur / Sonderheft] Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft. - Tübingen: Niemeyer. Erscheint unregelmäßig. - Aufnahme nach l (1985) Fortlaufende Beil, zu: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur ISSN 0175-9779 4. Maurer, Trude: Die Entwicklung der jüdischen Minderheit in Deutschland (1780 - 1933). - 1992

Maurer, Trude: Die Entwicklung der jüdischen Minderheit in Deutschland (1780 - 1933) : neuere Forschungen und offene Fragen / Trude Maurer. - Tübingen : Niemeyer, 1992 (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur ; 4) ISBN 3-484-60383-6 5

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© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektonischen Systemen. Satz: ScreenArt GmbH & Co. KG, Wannweil Druck und Buchbinder: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten

Inhaltsverzeichnis

1. Perspektiven der Betrachtung 2. Religiöse Entwicklung

l 13

3. Bildung - Akkulturation - Selbstbesinnung

28

4. Bevölkerungsentwicklung und Siedlungsweise

60

5. Landjudentum

70

6. Wirtschaftliche Entwicklung und Sozialstruktur

85

7. Die Juden im politischen Leben

101

8. Politische Organisationen der Juden

113

9. Die jüdische Frau und die jüdische Familie

143

10. Teilintegration und Ausbildung einer deutschjüdischen Subkultur

157

11. Die jüdische Minderheit: Akkulturation und Selbstbewahrung

167

Titelliste

181

Register

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1. Perspektiven der Betrachtung

Sollte er es denn je gewesen sein: h e u t e ist »ein gleichsam unbefangener Blick«1 auf die Geschichte der Juden in Deutschland2 nicht mehr möglich. Diese Geschichte ist für eine breitere nichtjüdische Öffentlichkeit wie auch für nichtjüdische Historiker zu einem interessanten und gewichtigen Thema erst geworden, nachdem - und weil - Deutsche versucht hatten, die Juden auf dem europäi1

Reinhard Rürup: Jüdische Geschichte in Deutschland. Von der Emanzipation bis zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. In: Blasius/Diner (Hg.): Zerbrochene Geschichte (s. Titelliste im Anhang), S. 79-101, hier S. 79. - Die besprochenen Schriften werden mit Kurztiteln zitiert. Die genauen bibliographischen Angaben findet man in der Titelliste im Anhang. Die einzelnen Beiträge besprochener Sammelbände werden dort allerdings nicht gesondert aufgeführt, sondern bei der ersten Nennung in der Fußnote exakt belegt. Der Verweis »Anm.« bezieht sich grundsätzlich auf das jeweilige Kapitel. Wird auf Anmerkungen in anderen Kapiteln verwiesen, so werden diese ausdrücklich bezeichnet (Beispiel: Kap. 2, Anm. 5). 2 Wenn im folgenden meist von »Juden in Deutschland« die Rede ist, nicht von »deutschen Juden«, so geschieht dies keineswegs - wie bei den Nationalsozialisten - in der Absicht, den Juden ihr Deutschsein streitig zu machen, sondern trägt nur der Tatsache Rechnung, daß bereits seit dem 17. Jahrhundert osteuropäische Juden nach Deutschland einwanderten und erst allmählich von Ostjuden zu deutschen Juden wurden, so daß es in diesem Zeitraum immer jüdische Gruppen unterschiedlicher kultureller Prägung in Deutschland gab. (S. dazu und besonders zum Begriff des Ostjuden: Maurer: Ostjuden in Deutschland [s. Titelliste im Anhang], S. 11-16.) Für die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in Deutschland gilt freilich, daß mit ihrem Hineinwachsen in die Gesamtgesellschaft ihre Geschichte zur »deutschjüdischen« in dem Sinne wurde, daß das Deutsche und das Jüdische untrennbar verbunden waren (Rürup: Appraisal [s. Titelliste im Anhang], S. XXIII). Dem trägt im folgenden auch die Zusammenschreibung (»deutschjüdisch«) Rechnung, die von der das Verhältnis zwischen zwei Gruppen bezeichnenden Schreibung mit Bindestrich (z. B. »polnisch-jüdische Beziehungen«) abgegrenzt wird. - Eine weitere terminologische Vorbemerkung scheint nötig: Das Abstraktum »Judentum«, das schon als solches im Interesse des allgemeinen Begriffs Differenzierungen ausblendet, hat durch den nationalsozialistischen Gebrauch, besonders durch Verbindungen wie »internationales Judentum« und »WeltJudentum«, eine dämonische Konnotation erhalten, von der es auch heute kaum mehr gänzlich befreit werden kann. Gleichzeitig wird es im Deutschen besonders häufig gebraucht, weil die englische Differenzierung zwischen »Judesein/Jüdischkeit« (Jewishness), »jüdischer Bevölkerung« (Jewry) und »jüdischer Religion« (Judaism) nicht üblich ist. Im folgenden wird, wo immer nötig und möglich, zwischen diesen verschiedenen Bedeutungen des deutschen »Judentum« unterschieden, dabei »Judentum« in der Regel für die Religion benutzt, »Judenheit« - obwohl heute etwas antiquiert klingend - als Synonym für »die Juden« bzw. »die jüdische Bevölkerung«. - Zitate können dieser Grundregel selbstverständlich nicht unterworfen werden.

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1. Perspektiven der Betrachtung

sehen Kontinent auszurotten. Davor war die Geschichte der Juden das Thema jüdischer Spezialisten - und die Beschäftigung mit ihr diente angesichts der durch Aufklärung und Emanzipation radikal gewandelten Verhältnisse und später des Antisemitismus bei den Forschern wie bei ihren Multiplikatoren und ihrem Publikum auch der Selbstvergewisserung sowie der Rehabilitierung des (als degeneriert geltenden und häufig angegriffenen) Judentums durch Beleuchtung seiner Vergangenheit.3 Abgesehen von vereinzelten Ausnahmen,4 beschäftigten sich nichtjüdische Historiker erst im Nationalsozialismus und von ihm gefördert mit der Geschichte der Juden. Ihre Fragestellung allerdings war nicht die Ges c h i c h t e der J u d e n , sondern, wie es programmatisch der Leiter des Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschland, Walter Frank, formulierte, die Geschichte der » J u d e n f r a g e « , d.h. der Auseinandersetzung der »großen schaffenden Völker« mit dem jüdischen »Parasiten nur als mit einem Prinzip der Negation«.5 Durch den umfassenden Versuch, die als Parasiten Dargestellten wie Ungeziefer zu »vernichten« und ihnen so noch mit der Form der Ermordung ihr Menschsein streitig zu machen, wurde das, was bis dahin eine »Theorie« war, in die Tat umgesetzt - damit aber zugleich als Frageperspektive endgültig erledigt. Doch diese Verbrechen dominieren nicht nur die weitere jüdische Geschichte, sondern sie geben auch unserem Blick auf die Jahrzehnte davor eine bestimmte Perspektive. Sie haben die Fragen nach den auf sie vorausweisenden Zeichen und Vorstufen, damit auch nach dem Zusammenhang zwischen antisemitischer Ideologie und Mordtat zu einer dringlichen Aufgabe gemacht. Aber nicht nur speziell diesen Fragen gewidmete Forschungen, sondern

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S. dazu unten S. 48-51 den Abschnitt über die Wissenschaft des Judentums. Als knappe Einführung, auch in die Institutionengeschichte, s. Werner Schochow: Deutsch-jüdische Geschichtswissenschaft. Eine Geschichte ihrer Organisationsformen unter besonderer Berücksichtigung der Fachbibliographie. (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 3) Berlin: Colloquium 1969, S. 937. Zur Entstehung der jüdischen Geschichtsschreibung als Ergebnis einer Identitätskrise, als das überlieferte Judentum nicht mehr selbstverständlich war und deshalb auch der Sinn des historischen Geschehens nicht mehr, wie für das mittelalterliche rabbinische Judentum, feststand, s. Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Berlin: Klaus Wagenbach 1988. 4 Hinweise bei Herzig: Juden und Judentum (s. Titelliste im Anhang), S. 108-111; Arno Herzig: Zur Problematik deutsch-jüdischer Geschichtsschreibung. In: Menora 1990 (s. Titelliste im Anhang), S. 209-234, hier S. 210-218. Der erstgenannte Aufsatz behandelt die Arbeiten jüdischer und nichtjüdischer Forscher vom späten 19. Jahrhundert bis in die achtziger Jahre des 20.; der zweite ist ausschließlich den nichtjüdischen gewidmet und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Darstellung der Juden in Werken zur allgemeinen deutschen Geschichte sowie mit der nationalsozialistischen Judenforschung. Außerdem: Avraham Barkai: Zur Wirtschaftsgeschichte der Juden in Deutschland. Historiographische Quellen und Tendenzen vor und nach 1945. In: TAJB 20 (1991) (s. Titelliste im Anhang), S. 195-214, hier S. 196f. 5 Walter Frank: Zur Geschichte der Judenfrage. In: Historische Zeitschrift 162 (1940), S. 558-566, hier S. 559f.

L Perspektiven der Betrachtung

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auch Vorlesungsreihen, die eigentlich Die Juden als Minderheit in der Geschichte behandeln wollten,6 ließen sich in Wirklichkeit hauptsächlich von der Frage nach der Stellung der Gesellschaft zu den Juden und insbesondere von der Frage nach der Ausbreitung des Antisemitismus leiten.7 »Doch die Geschichte des Antisemitismus ist n i c h t die Geschichte der Juden.«8 Aber sogar da, wo diese selbst im Mittelpunkt der Untersuchung stehen, wird der Blick auf die frühere Entwicklung von dem Wissen um das, was Juden als die größte »Katastrophe« (Shoah) ihrer Geschichte sehen, beeinflußt. Auch jüdisches Handeln wird, implizit und z. T. unbewußt, in der Rückschau von dieser Katastrophe aus bewertet - was letztlich die (realitätsfremde und zutiefst unmoralische) Frage nicht nur nach der Vorhersehbarkeit, sondern sogar der Vermeidbarkeit der Katastrophe durch adäquates Verhalten der J u d e n impliziert. Die Betrachtung der Geschichte der Juden in Deutschland erfolgt in einem Bezugsrahmen, der durch zwei gegensätzliche Orientierungspunkte gebildet wird: von der »deutsch-jüdischen Symbiose« und von der Ausrottung im Nationalsozialismus. Der Begriff »Symbiose« wird dabei im allgemeinen nicht definiert, aber offensichtlich als enges, harmonisches Zusammenleben verstanden.9 Eine wesentliche Rolle spielte er in der zusammenfassenden Darstellung des emigrierten, später an der Freien Universität Berlin lehrenden deutschjüdischen Historikers Adolf Leschnitzer: »Eine Symbiose liegt [...] dann vor, wenn die

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Martin/Schulin (Hg.): Die Juden als Minderheit in der Geschichte (s. Titelliste im Anhang). 7 Dies gilt in erhöhtem Maße für die Zeit seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. In der Freiburger Ringvorlesung (Wintersemester 1980/81) wird sie mit folgenden Beiträgen abgedeckt: Hans-Günther Zmarzlik: Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich 18711918 (in: Martin/Schulin [Hg.]: Die Juden als Minderheit in der Geschichte, S. 249270; allerdings selbst nicht ganz frei von stereotyper Sichtweise der Juden); Heinrich August Winkler: Die deutsche Gesellschaft der Weimarer Republik und der Antisemitismus (ebd. S. 271-289); Bernd Martin: Judenverfolgung und -Vernichtung unter der nationalsozialistischen Diktatur (ebd. S. 290—315). Die Marburger Ringvorlesung (Sommersemester 1980) widmet derselben Zeit ebenfalls drei Vorträge: Günther Mai: Sozialgeschichtliche Bedingungen von Judentum und Antisemitismus im Kaiserreich (in: Klein/Losemann/Mai (Hg.): Judentum und Antisemitismus [s. Titelliste im Anhang], S. 113-136); Volker Losemann: Rassenideologien und antisemitische Publizistik in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert (ebd. S. 137159); Uwe Dietrich Adam: Der Aspekt der »Planung« in der NS-Judenpolitik (ebd. S. 161-178). In der interdisziplinären, stärker literaturgeschichtlich ausgerichteten Aachener Ringvorlesung (Sommer- und Wintersemester 1985/86) traten dazu zwei weitere Aspekte: Juden als Literaten und als Sujet der Literatur (Horch [Hg.]: Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur [s. Titelliste im Anhang]). Davon abzuheben ist die Essener Vorlesungsreihe (WS 1988/89), die sich ausdrücklich mit Leben und Selbstverständnis der Juden in Deutschland beschäftigte (Blasius/Diner [Hg.]: Zerbrochene Geschichte [s. Titelliste im Anhang]). 8 Trade Maurer: Die Juden in der Weimarer Republik. In: Blasius/Diner (Hg.): Zerbrochene Geschichte (s. Titelliste im Anhang), S. 102-120, hier S. 102. 9 S. dazu als Beispiel ex negative Anm. 12.

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1. Perspektiven der Betrachtung

Minderheit, deren fremder Ursprung nicht vergessen wird, Kultur und Lebensform der Umgebung übernimmt und ihr dadurch immer ähnlicher wird.« Sie ist »durch zwei Merkmale gekennzeichnet, die zueinander in einem unvermeidlichen Gegensatz stehen müssen, nämlich durch 1. die Ähnlichkeit, die von der Minderheit erreicht wird, 2. die Unähnlichkeit, die von der Umgebung auch weiterhin empfunden wird.« Hier ist also Die Problematik der deutsch-jüdischen Lebensgemeinschaft, die gleichwohl ähnliche Symbiosen in anderen Ländern übertroffen habe, schon mitgedacht.10 Zwar wird in den neueren Untersuchungen die deutschjüdische Geschichte kaum noch als Symbiose gedeutet,11 doch ist diese Vorstellung, zumindest als negativer Bezugspunkt, häufig präsent: Als gälte es noch immer, sie zu widerlegen.12 Zweifellos ist die Geschichte der Juden in 10

Adolf Leschnitzer: Saul und David. Die Problematik der deutsch-jüdischen Lebensgemeinschaft. Heidelberg: Lambert Schneider 1954, S. 104. Leschnitzer überschreibt die drei Teile seines Buches: »I. Verflechtung. Die Juden und die Mittelklasse« (mit einem Unterabschnitt: »Koexistenz und Symbiose«). (In der amerikanischen Ausgabe: The Magic Background of Modern Anti-Semitism. An Analysis of the German-Jewish Relationship. New York 1969, 1. Aufl. 1956, trägt dieser Teil die Überschrift »The German-Jewish Symbiosis - The Jews and the Middle Class«). »II. Entfremdung. Die Störung der Symbiose. III. Katastrophe. Die Zertrümmerung der Symbiose.« Das Konzept der Symbiose faßt Leschnitzer in geographischer Beziehung weiter, in sozialer aber enger, als es die gängige Formulierung suggeriert: Ähnlich wie in anderen Ländern West- und Mitteleuropas sei der enge Kontakt der Juden mit ihrer Umgebung zu einer Symbiose mit der städtischen »Mittelklasse« geworden. (Ebd. S. 40. S. 175 spricht er von der »europäisch-jüdischen Symbiose«.) »Wohl nirgends sonst in der Welt des 19. und 20. Jahrhunderts hat eine so bemerkenswerte Zusammenarbeit zwischen Mehrheit und jüdischer Minderheit bestanden. Sie beruhte auf jener Verflechtung, die zum Wesen der echten Symbiose gehört und die es unmöglich macht, die Leistungen der beteiligten Gruppen isoliert zu betrachten und gegeneinander abzuwägen.« (Ebd. S. 59) Zur Problematik: »Viele Juden liebten ein Idealbild des Deutschen, viele Deutsche haßten ein Zerrbild des Juden. Auch von dieser Symbiose gilt, was wohl von vielen Beziehungen zwischen Einzelnen oder zwischen Gruppen gelten mag: Während die Symbiose wuchs, blühte und zerfiel, haben im Grunde genommen die beiden Partner, d. h. hier die beiden Gruppen, einander gar nicht richtig gekannt.« (S. 143) 11 Eine der Ausnahmen: David Bronsen (Hg.): Jews and Germans from 1860 to 1933: The Problematic Symbiosis. Heidelberg: Carl Winter 1979. Der Herausgeber des Sammelbandes hat allerdings darauf verzichtet, die Wahl des Titels oder auch nur den Begriff »Symbiose« in seiner Einleitung zu erläutern. - S. außerdem die Beispiele zur Charakterisierung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden auf dem Lande u. S. 71, 82 und der Salonkultur u. S. 40. 12 So Wolfgang Benz in seinem Vortrag auf dem Historikertag in Bochum 1990: »Die Tatsache der kulturellen Assimilation verleitete aber auch zum Trugschluß, es habe eine deutsch-jüdische Symbiose gegeben, die im Rückblick gar zunehmend verklärt wird.« Was nach Benz heute eine »Legende« darstellt, sei für die Zeitgenossen ein »Traum«, also eine realitätsferne Illusion gewesen. Der Ausschluß ungetaufter Juden von öffentlichen Ämtern wecke berechtigte »Zweifel an der Vollkommenheit der Emanzipation«. »Das gravierendste Argument gegen die Vermutung einer deutschjüdischen SymbioseVorgeschichte< ihres plötzlichen und furchtbaren Endes.«17 Trotz ihrer Gegensätzlichkeit ist den beiden Bezugspunkten aber eines gemeinsam: In beiden Fällen ist das Verhältnis von Nichtjuden und Juden ausschlaggebend. Selbstverständlich ist es ein notwendiger Bestandteil jeder Geschichte der Juden in Deutschland. Allerdings erscheint es in beiden Perspektiven als von e i n e r der zwei Seiten geprägt, weniger als W e c h s e l v e r h ä l t n i s : Die verfolgungsgeschichtliche Perspektive betont die nichtjüdischen Bemühungen um Ausgrenzung, die symbiosegeschichtliche die jüdischen Anstrengungen der Angleichung und ihren Erfolg im Sinne der Harmonie mit den Nichtjuden. Beide Seiten werden damit zugleich auf eines ihrer Handlungsmuster reduziert. Die jüdische Bevölkerung wird homogen als »das Judentum« wahrgenommen, ihre innere Entwicklung und damit auch die Vielfalt der Anschauungen und Lebensformen in den Hintergrund gedrängt, wenn nicht ausgeblendet. Der in seinen religiösen Anschauungen und seiner Religionspraxis reformierte, schließlich stark säkularisierte, überwiegend städtische Teil steht für das Ganze. Vernachlässigt werden die unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen in den einzelnen deutschen Staaten, in wirtschaftlich und sozial verschiedenen Regionen, vernachlässigt wird auch die unterschiedliche Entwicklung der einzelnen, durch ihre religiöse Haltung, Weltanschauung und Beruf voneinander getrennten Gruppen der jüdischen Bevölkerung. Damit wird schließlich auch die zeitliche Verschiebung des Entwicklungsprozesses, die Gleichzeitigkeit mehrerer Formen jüdischen Lebens, übersehen. Genau die Arbeiten, die die Juden selbst in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen, sollen im folgenden besprochen werden. Ausgeklammert werden also Untersuchungen zur Organisations- und Ideologiegeschichte der antisemitischen Bewegung wie auch zur staatlichen Judenpolitik. Doch die Fülle der jährlich erscheinenden Veröffentlichungen,18 die die laufende Bibliographie im Year Book des Leo Baeck Instituts zuverlässig nachweist,19 macht weitere Einschränkungen zwingend. Obwohl lokalgeschichtliche Untersuchungen wegen der unterschiedlichen rechtlichen Verhältnisse in deutschen Teilstaaten, des unterschiedlichen Verfahrens der Behörden, der unterschiedlichen sozialen Struktur der nicht-

alters in politischer, sozialer und rechtlicher Beziehung. Braunschweig 1866. S. dazu Herzig: Zur Problematik (Anm. 4), S. 21 Of. mit weiteren Nachweisen. 17 Rürup: Jüdische Geschichte in Deutschland (Anm. 1), S. 80. 18 Nach Rürup: Appraisal, S. XVII wurde die deutschjüdische Geschichte nie so breit und intensiv erforscht wie jetzt. 19 Post War Publications on German Jewry. A Selected Bibliography of Books and Articles. In: LBIYB 1 (1956)ff. Die letzte Jahresbibliographie (für 1990, in: LBIYB 36 [1991], S. 501-592) umfaßt, obwohl die Aufnahmen drastisch beschränkt werden mußten, ohne Gliederung und Register 69 eng in Petit bedruckte Seiten und führt die Gesamtzahl der seit 1956 erfaßten Titel bis zur Nummer 27.913.

/. Perspektiven der Betrachtung

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jüdischen Umgebung wie der jüdischen Gemeinde von höchster Wichtigkeit für eine differenzierte Beurteilung der deutschjüdischen Geschichte sind, können sie im folgenden nicht berücksichtigt werden. Immerhin sei als Beispiel die Arbeit von Ina Lorenz über die Juden in Hamburg während der Weimarer Republik genannt,20 weil sie aufgrund ihrer Systematik, des hohen Reflexionsniveaus auf neuestem Forschungsstand und der scharfsinnigen und zugleich vorsichtigen Interpretation statistischer Befunde, rechtlicher Regelungen und institutioneller Strukturen als professionelles Vorbild für lokalhistorische Untersuchungen dienen kann21 (die oft, von Amateuren verfaßt, von großem Engagement, aber Mangel an historischer Perspektive geprägt sind). Das Beispiel Hamburg allerdings ist mit dieser wie mit anderen Dokumentationen und Forschungen inzwischen so gut erforscht,22 daß es - auch im Sinne einer allgemeinen Bestandsaufnahme über 20

Lorenz: Juden in Hamburg (s. Titelliste im Anhang). Es handelt sich dabei um eine fast 200seitige wissenschaftliche Analyse sowie eine 1150 Seiten umfassende Edition gedruckter und archivalischer Quellen. Der erste Teil, also die wissenschaftliche Darstellung, wurde auch getrennt publiziert: Lorenz: Identität und Assimilation (s. Titelliste im Anhang). 21 Allerdings könnte die Wirkung durch einen gefälligeren Stil noch erhöht werden. Einen ganz anderen Zuschnitt hat Brigitte Scheiger: Juden in Berlin. In: JerschWenzel/John (Hg.): Von Zuwanderern und Einheimischen (s. Titelliste im Anhang), S. 153-488. Sie behandelt einen außerordentlich langen Zeitraum - und zwar für das Zentrum der deutschen Judenheit im 19. und 20. Jahrhundert, für das zudem seit langem keine wissenschaftliche Zusammenfassung mehr erschienen ist. Mit ihrem Beitrag in Monographienlänge hat Scheiger hier eine gewisse Abhilfe geschaffen. Er beruht in geringem Umfang auf archivalischem Material, hauptsächlich aber auf gedruckten Quellen und Sekundärliteratur, im allgemeinen auf fast aktuellem Stand, d. h. bis 1986. (In eher Hilfsfunktion erfüllenden Abschnitten ist das allerdings nicht immer der Fall; dort unterlaufen auch sachliche Irrtümer, etwa in dem Abschnitt über Rußland). Scheiger wendet moderne Fragestellungen an und trägt - mit dem Schwerpunkt auf demographischer und Sozialstruktur, kultureller Entwicklung, jüdischem Gemeindeleben und Organisationen - wesentlich zu einer Sozialgeschichte der Juden in Berlin bei. Allerdings ist das Werk keinesfalls aus einem Guß. Allgemeine Analysen (Sozialstatistik) wie tabellarische Übersichten (die etwa einen Abriß der Entwicklung jüdischer Organisationen ersetzen müssen) werden jeweils durch einzelne Beispiele als Illustration ergänzt. Dies wie auch die ausführlichen Zitate, die den Text unterbrechen, verleihen der Darstellung eine hohe Anschaulichkeit. Insgesamt bekommt sie aber durch diese Anlage eher den Charakter einer sehr reflektierten (und für jeden Forscher unentbehrlichen) Materialzusammenstellung als den einer Geschichte der Juden in Berlin. - Der Beitrag zur Aachener Ringvorlesung (Peter Schmidt: Berlin und seine Juden im 18. Jahrhundert. In: Horch [Hg.]: Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur [s. Titelliste im Anhang], S. 97-115) ist - in seiner Verbindung von faktisch-reihend präsentierten sozialgeschichtlichen Informationen (mit einer Fülle von Daten); Bemerkungen zur Geistesgeschichte; einer durch ausführliche Zitate illustrierten Skizze des sich von der Tradition lösenden Teils der Judenheit; sowie schließlich Hinweisen auf emanzipations- und integrationsfeindliche Stömungen unter den Nichtjuden - unausgewogen und läßt auch die gerade für einen solchen Zweck zu erwartenden großen Linien vermissen. 22 Dabei handelt es sich hauptsächlich um Veröffentlichungen des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden (Hamburg), das 1991 auf sein 25jähriges Bestehen

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1. Perspektiven der Betrachtung

Möglichkeiten und Methoden der lokalhistorischen Forschung zur Geschichte der Juden23 - bereits einen eigenen Forschungsbericht lohnen würde. - Ausgespart werden müssen auch die Untersuchungen, die einzelnen Personen gelten.24 zurückblicken konnte und eine eigene wissenschaftliche Reihe herausgibt (HBGJ), von der hier nur die im Untersuchungszeitraum erschienenen überregionalen Titel berücksichtigt werden können. 23 Zu den grundsätzlichen Problemen jüdischer Lokalgeschichtsschreibung s. Richarz: Tödliche Heimat (s. Titelliste im Anhang); Lowenthal: Die historische Lücke, S. 6-8, zu den Quellen S. 35-39. Der Titel dieses Vertrags verweist zum einen auf die nach Lowenthal häufige Aussparung oder zumindest grobe Vernachlässigung der fünf Jahrzehnte zwischen 1880 und 1930, die den »Höhepunkt der emanzipatorischen Entwicklung« dargestellt hätten und in denen »das Leben der Juden verhältnismäßig normal« verlaufen sei (ebd. S. 2). Dieser a l l g e m e i n formulierte Befund scheint für lokalgeschichtliche Untersuchungen, die sich trotz umfassenderen Anspruchs oft auf die nationalsozialistische Verfolgung konzentrieren, zutreffend. In der Forschungsliteratur dagegen liegen zu diesem Zeitraum zahlreiche thematisch spezialisierte Untersuchungen vor. Außerdem möchte Lowenthal mit der »historischen Lücke« darauf aufmerksam machen, daß der »>Normaljudedaß der Jude entjudet werdeJudenfrage< der bürgerlichen Gesellschaft und die Entstehung des modernen Antisemitismus. In: R. R.: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur »Judenfrage« der bürgerlichen Gesellschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975, S. 74-94, hier S. 80; Jacob Katz: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770-1870. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag bei Athenäum 1986, besonders S. 12f. f Amerikanisches Original Cambridge/Mass. 1973]). 27 S. zum folgenden insbesondere Reinhard Rürup: Judenemanzipation und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. In: Rürup: Emanzipation und Antisemitismus (Anm. 26), S. 11-36; Jacob Katz: Judenemanzipation und ihre sozialen Folgen. In: J. K.: Zur Assimilation und Emanzipation der Juden. Ausgewählte Schriften. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982, S. 185-198 sowie weitere Schriften derselben Verfasser. 28 Zur Frage einer Emanzipationsbewegung unter den Juden selbst s.u. S. 106. 29 Rürup: Judenemanzipation und bürgerliche Gesellschaft (Anm. 27), S. 24. Zitat im Zitat: Württembergische II. Kammer, 1828, 2. außerordentliches Beilagenheft, S. 12 (Kommissionsbericht v. Schlitz).

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/. Perspektiven der Betrachtung

scher Existenz aufheben. Durch dieses Erziehungskonzept wurde die Emanzipation in Deutschland nicht nur verzögert, sondern auch belastet: denn die allmähliche Emanzipation nach Maßgabe der erzielten Anpassungserfolge perpetuierte die Ungleichheit, betonte das Trennende und hielt die Diskussion über die Emanzipation wach. Zugleich wirkten die Lösungsversuche der verschiedenen Staaten, insbesondere auch die weiterbestehenden Beschränkungen und Diskriminierungen, aufeinander und auf die Anschauungen der Mehrheitsbevölkerung ein.30 Die Emanzipation bot die »Chance für eine reichere Entfaltung jüdischen Lebens«, stellte aber zugleich auch »eine mögliche Bedrohung für die Eigenständigkeit jüdischer Religion, Kultur und Geschichte« dar.31 Insgesamt umfassen die anderthalb Jahrhunderte, um die es im folgenden geht, die Zeit, in der sich die Gesamtgesellschaft von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft wandelte (1780-1870) und in der die Juden von einer ausgegrenzten (wenn auch mit beschränkter interner Autonomie ausgestatteten) »Zwangsgemeinschaft am Rande der Gesellschaft« zu einer »erkennbare[n] Minderheit« in ihrer »Mitte« wurden.32 30

Diese von Riirup und Katz auf eigene Forschungen gestützten und mit großer Klarheit entwickelten Grundgedanken werden auch von zwei neueren Beiträgen zusammenfassenden Charakters in hier zu besprechenden Sammelbänden aufgenommen, aber weiter zugespitzt: Walter Grab: Der deutsche Weg der Judenemanzipation. In: Grab: Der deutsche Weg der Judenemanzipation (s. Titelliste im Anhang), S. 9-40; Ingrid Belke: Zur Emanzipation der Juden in Preußen [lt. Inhaltsverzeichnis des Bandes: Zur Geschichte der Emanzipation und des Antisemitismus bis 1870]. In: Horch/ Denkler (Hg.): Conditio Judaica II (s. Titelliste im Anhang), S. 29-46: Weil die Emanzipation von oben erfolgte, konnte sie auch immer wieder zur Disposition gestellt werden. Grab charakterisiert sie als Emanzipation auf Widerruf (S. 14). Er stellt sie der Emanzipation in jenen Ländern gegenüber, wo Revolutionäre die alte Ordnung zerstörten und nach ihrem Sieg eine parlamentarische Demokratie hergestellt wurde (Niederlande, England, Vereinigte Staaten, Frankreich) und wo diese Umwälzungen der Gesamtbevölkerung und mit ihr den Juden zukunftsträchtige Perspektiven eröffneten. Einzelne Ungenauigkeiten bzw. zu wenig differenzierende Aussagen und die Herstellung einer Kontinuität des Antisemitismus lassen das gezeichnete Bild als insgesamt zu holzschnittartig erscheinen. Auch Belke möchte das Konzept des von Rürup entwickelten postemanzipatorischen Antisemitismus schon auf die Zeit der preußischen Reformen anwenden, weil alle Argumente bereits vorhanden gewesen seien, wenn auch die Organisation gefehlt habe. Ihre Ausführungen, die insbesondere die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen (das Interesse des Staates) sowie die Argumente für und wider die Emanzipation nachzeichnen, sind allerdings insgesamt exakter und weniger pauschal als die Grabs. Zum postemanzipatorischen Antisemitismus s. Rürup: Die >Judenfrage< der bürgerlichen Gesellschaft (Anm. 26); Reinhard Rürup/Thomas Nipperdey: Antisemitismus - Entstehung, Funktion und Geschichte eines Begriffs. In: Rürup: Emanzipation und Antisemitismus (Anm. 26), S. 95-114. Zu vorsichtiger Kritik und Modifikationsvorschlägen Volker Berbüsses s. unten S. 80f. 31 Deutsch-Israelische Schulbuchempfehlungen, S. 25. Vgl. Rürup: Jüdische Geschichte in Deutschland (Anm. 1), S. 87. 32 Katz: Judenemanzipation und ihre sozialen Folgen (Anm. 27), S. 191.

1. Perspektiven der Betrachtung

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»Minderheit« ist an sich ein quantitativer Begriff: Er bezeichnet das Gegenteil von »Mehrheit«. Doch er hat auch eine qualitative Bedeutung, die ihn seit der Zwischenkriegszeit sogar in erster Linie prägt: Zusätzlich zur zahlenmäßigen Unterlegenheit impliziert er auch einen minderen Status.33 Doch nach JerschWenzel gehört zur Minderheit außer dem formell rechtlichen oder dem informell sozialen minderen Status noch ein weiteres: daß diese Gruppe »deutlich als andersartig und fremd« wahrgenommen wird.34 Auf die Juden in Deutschland treffen alle drei Bedingungen zu. Minderheiten können nicht für sich betrachtet werden, sondern immer nur unter Einbeziehung der Mehrheit, denn ihre soziale Situation wird in vielerlei Hinsicht von der Mehrheit bestimmt: ihrem Wertesystem, ihrem Verhaltensmuster, ihren möglichen inneren Konflikten.35 Das gibt die Möglichkeit, die Geschichte der Minderheit aus zwei verschiedenen Perspektiven zu untersuchen:36 Zum einen im Blick auf das Verhalten der Mehrheit. In diesem Sinn spiegelt die Lage von Minderheiten den Grad der Toleranz der Mehrheit37 und kann sogar ah Indiz für den Stand der Emanzipation einer Gesellschaft gelten.38 Die zweite Perspektive, die hier verfolgt werden soll, behandelt die Geschichte aus der Sicht der Minderheit und fragt, wie sie sich, auch unter dem Einfluß der umgebenden Mehrheit, entwickelte, wie lange sie ihre Besonderheit bewahren konnte oder wollte, ob sie sie abschwächte oder weiterentwickelte, wie sich ihr Selbstverständnis ausdrückte. Untersucht werden im folgenden die religiöse Entwicklung, Bildungswesen und Akkulturation, Bevölkerungsentwicklung und Siedlungsweise, wirtschaftliche Entwicklung und Lebensformen auf dem Land und in der Stadt, die Teilhabe der Juden am allgemeinen politischen Leben und die innerjüdische politische Entwicklung, die Geschichte der jüdischen Frau und der jüdischen Familie und abschließend die Deutung dieser 33

Jersch-Wenzel: Der >mindere Status< (s. Titelliste im Anhang), S. 2f. Ebd. S. 4. 35 Jersch-Wenzel: Jews as a »Classic« Minority (s. Titelliste im Anhang), S. 38. 36 Das folgende in Anlehnung an Jersch-Wenzel: Der >mindere Statuss S. 17-19. 37 Jersch-Wenzel: Jews as a »Classic« Minority, S. 39. 38 Stefi Jersch-Wenzel: Die Lage von Minderheiten als Indiz für den Stand der Emanzipation einer Gesellschaft. In: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Sozialgeschichte Heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 11) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1974, S. 365-387. 39 Eine Übersichtsdarstellung zur Geschichte der Juden in Preußen (1750-1820) hat Albert A. Bruer vorgelegt (s. Titelliste im Anhang). Dieses Thema hat er mit einer für eine Dissertation außergewöhnlichen Belesenheit und Darstellungskraft präsentiert, sich allerdings auf gedruckte Quellen und Sekundärliteratur (die mit dezidierten Urteilen versehen wird) beschränkt. Die Jahre 1780-1815 bilden dabei »gleichsam die Achsenzeit, in der der Weg des mitteleuropäischen Judentums in die Moderne begann.« (ebd. S. 31) Bruers Ziel ist es, die »externe - wie die Juden von ihrer Umwelt gesehen und behandelt wurden« und die »interne Perspektive - die Beziehung der Juden zur Außenwelt« zu verbinden (S. 26). In seiner Darstellung hat die erste aber letztlich doch den Vorrang erhalten. Da die Wirtschaft (im Kontext des Aufstiegs Preußens) und die bedeutende Rolle von Juden darin einen Schwerpunkt der Präsen34

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1. Perspektiven der Betrachtung

Entwicklung als Teilintegration und Ausbildung einer jüdischen Subkultur.39 Die besprochenen Schriften erschienen zwischen 1981 und 199l.40

tation bilden, ergibt sich eine gewisse Konzentration auf die ökonomische Führungsschicht der Juden. Dementsprechend wird auch die kulturelle Entwicklung der jüdischen Minderheit dargestellt — als »Modernisierungsprozeß, mit dem Preußens Juden einen in seiner Intensität für Europa einzigartigen Assimilierungsweg unternehmen sollten« (S. 23). Die differenzierte innere Entwicklung der Judenheit kommt durch diese Perspektive nicht hinreichend zur Geltung: Die durchgängige Betonung der »Assimilation« vermittelt den Eindruck eines zunehmenden Verlustes des Jüdischen durch Anpassung an die Mehrheit, eine Anpassung, die nur an der Schwelle zur Taufe noch haltmachte (s. besonders S. 374-379). Zum Begriff der »Assimilation« und einer differenzierteren Bewertung der Gesamtentwicklung s. den Schlußteil dieses Forschungsberichts S. 167ff., besonders S. 171-175. 40 Da dieser Forschungsbericht im Laufe des Jahres 1991 verfaßt wurde, konnten die Publikationen dieses Jahres nur zum Teil erfaßt werden.

2. Religiöse Entwicklung1

Schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts waren in Deutschland Zeichen der Akkulturation zu beobachten: Juden eigneten sich allgemeine, weltliche Bildung an, führende Angehörige der schmalen Oberschicht benutzten in ihrer Korrespondenz und sogar in ihren Geschäftsbüchern die deutsche Sprache und Schrift, und bei Teilen der Judenheit lockerte sich die Einhaltung der religiösen Vorschriften, die bisher alle Bereiche des Lebens reguliert, den Alltag durchdrungen und gestaltet hatten.2 Die vieldiskutierte »Verbesserung der Juden«, auf die auch in den Einzelbestimmungen so unterschiedliche gesetzliche Regelungen wie das bekannte preußische Edikt von 1812 und das bayerische von 18133 zielten, meinte die Angleichung der Juden in Beruf, Sittlichkeit und Kultur, kurz, in ihrer ganzen Lebensführung, an die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft. Oder anders gesagt: Die Juden wurden in eine Gesellschaft hinein emanzipiert, in der Bildung Gleichheit und Bürgerrecht versprach, während Sittlichkeit eine größere Konformität in Verhalten und Moral forderte, als sie früher bestanden hatte.4 Gleichzeitig forderten auch jüdische Aufklärer Reformen und hatten sie in manchen Bereichen sogar bereits angestoßen. Dieser äußere Druck und die inneren Auflösungserscheinungen und Umgestaltungsbestrebungen wirkten sich auch auf die religiösen Verhältnisse im engeren Sinn, d. h. den Gottesdienst und das Gemeindeleben, aus. (Wie sich die Akkulturation der Juden, ihre soziale Stellung und ihr Selbstverständnis im Synagogenbau ausdrückten, hat der Kunsthistoriker Harold Hammer-Schenk in einer umfangreichen Studie untersucht, die für den Beitrag von Nachbardisziplinen zur Sozialgeschichte der Juden wegweisend sein könnte.)5 Während sich im Prozeß der Akkulturation einerseits eine Bewegung zur 1

Einen knappen Überblick über die Forschungen seit dem Zweiten Weltkrieg, besonders zur Entwicklung der Theologie, gibt Meyer: Recent Historiography (s. Titelliste im Anhang). 2 Sorkin: Transformation (s. Titelliste im Anhang), S. 53; Scheiger: Juden in Berlin (Kap. l, Anm.21), S. 219, 279. 3 Zu dem bayerischen Edikt s. unten S. 72. 4 George L. Mosse: Jewish Emancipation. Between Bildung and Respectability. In: Reinharz/Schatzberg (Hg.): Response to German Culture (s. Titelliste im Anhang), S. 1-16, hier S. 2. Bildung und Sittlichkeit waren in dieser Interpretation zwei Aspekte des Triumphs des Bürgertums, lange bevor dieser durch Teilhabe an der politischen Macht vollendet wurde. Und zum Zeitpunkt der Judenemanzipation in Preußen schien es - während der Reformen nach den Niederlagen gegen Napoleon -, als ob das Bürgertum die Macht des Adels breche (ebd. S. 16, 2). 5 Hammer-Schenk: Synagogen (s. Titelliste im Anhang). Eine bescheidene Bestandsaufnahme vorläufigen Charakters für die Pfalz gibt (mit interessantem Bildmaterial)

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2. Religiöse Entwicklung

Umgestaltung des Gottesdienstes und der religiösen Unterweisung bildete, die letztlich eine neue Deutung des Judentums implizierte, ging es einem anderen Teil der Judenheit in erster Linie darum, bei Teilnahme an der bürgerlichen Gesellschaft und verstärktem Umgang mit Nichtjuden den vollständigen Gehorsam gegenüber dem religiösen Gesetz sicherzustellen. Dieses Problem stellt sich erst in einer offenen (und pluralistischen) Gesellschaft, und der Begriff »Orthodoxie« gewinnt hier die Bedeutung des f r e i w i l l i g e n Gehorsams.6 Beide Bewegungen repräsentierten anfangs nur engagierte Minderheiten innerhalb der jüdischen Bevölkerung. Bisher wurden sie vor allem in ihrer Gegensätzlichkeit betrachtet und dabei die sogenannte Neoorthodoxie als Reaktion auf die Reformbewegung dargestellt. Neuere Forschungen geben jetzt Anlaß, auch die Gemeinsamkeiten zu bedenken und diese Vorstellung der Genese einer »neuen« Orthodoxie zu überprüfen. Die mit der Reformbewegung verbundenen Veränderungen - wie Beseitigung als »unwürdig« betrachteter Verhaltensweisen im Gottesdienst (z. B. das Schaukeln beim Gebet), Straffung und Umgestaltung der Liturgie, Einführung der Orgel und des Chores, Ersetzung der Bar Mizwa durch die Konfirmation (auch für Mädchen) - hat Steven M. Lowenstein in einem Konferenzbeitrag skizziert, der hauptsächlich auf der Auswertung von Synagogenordnungen und Berichten der Allgemeinen Zeitung des Judentums 1837-1851 beruht.7 Er betrachtet - nach einem in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts gescheiterten früheren Versuch - die vierziger Jahre als entscheidende Wende in der Schaffung der Reformbewegung, der dann von 1850-1880 ihre Durchsetzung gefolgt sei, so daß sie (unter der veränderten Bezeichnung »Liberalismus«) im 20. Jahrhundert schließlich die deutsche Judenheit dominierte. Während es aber später, vor allem durch die Urbanisierung, zu einer Dichotomic zwischen städtischer und ländlicher Entwicklung gekommen sei (weil in erster Linie die »fortschrittlich« Gesinnten in die Städte zogen), umfaßte die Bewegung in den vierziger Jahren noch großstädtische wie auch kleinstädtische und ländliche Gemeinden. Bernhard Kukatzki: Zur Geschichte des pfälzischen Synagogenbaus. In: Bender (Hg.): Pfälzische Juden (s. Titelliste im Anhang), S. 27-43. Informationen über die Nutzung und Zerstörung im 20. Jahrhundert sowie teilweise auch eine Baubeschreibung gibt derselbe, in den Bemühungen um Denkmalschutz engagierte Autor, nach Orten aufgelistet, in: Bernhard Kukatzki: »Wo die toten Menschen schweigen, da sprechen um so lauter die lebendigen Steine«. Eine Bestandsaufnahme von nach 1945 erhaltenen Synagogenbauten und -resten. In: Kuby (Hg.): Juden in der Provinz (s. Titelliste im Anhang), S. 195-225. 6 Diese Definition der Orthodoxie in Anlehnung an Julius Carlebach: Orthodox Jewry in Germany: The Final Stages. In: Paucker (Hg.): Juden im Nationalsozialistischen Deutschland (s. Titelliste im Anhang), S. 75-93, hier S. 76. 7 Steven M. Lowenstein: The 1840s and the Creation of the German-Jewish Religious Reform Movement. In: Mosse/Paucker/Rürup (Hg.): Revolution and Evolution (s. Titelliste im Anhang), S. 255-297. Er stellt die Veränderungen auch in umfangreichen Tabellen für eine Reihe von Staaten und einzelne Synagogengemeinden zusammen.

2. Religiose Entwicklung

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Michael A. Meyer hat nun - im Rahmen einer umfangreichen Geschichte der Reformbewegung in Westeuropa und den Vereinigten Staaten8 - gerade ihre in Deutschland liegende Entstehungsphase bis in die vierziger Jahre auf der Grundlage umfassender Quellenstudien gründlich untersucht. Während herkömmlich die Einrichtung von Reforminstitutionen, die Annahme von Programmen, die Rabbinerkonferenzen der vierziger Jahre und die Auseinandersetzung mit der Orthodoxie im Mittelpunkt der Diskussion stehen, hebt er hervor, daß diese öffentlichen Ereignisse das Ergebnis von weniger auffälligen vorangegangenen Prozessen seien. Insofern untersucht er die Entwicklung vom Beginn des 19. Jahrhunderts an - als zwar ungleichmäßig verlaufende, aber doch zusammenhängende. Andererseits betont er, daß nicht alle Veränderungen, die man gängigerweise der Reform zuschreibt, neu waren, aber daß sie erst von ihr in einen Zusammenhang gestellt wurden und so an Kohärenz gewannen. Die Reform war eine Reaktion auf die moderne Welt, die aber auf Vorgänger hinweisen und damit zugleich ihre Neuheit in den Begriffen einer ehrwürdigen Tradition legitimieren konnte. An dem von Napoleon geschaffenen Königreich Westphalen wird das Zusammenwirken der Regierung, die ein Konsistorium schuf, und jüdischer Vertreter, die den Gedanken der Reform hineintrugen, deutlich. In Preußen dagegen unterband die Regierung lange jegliche Veränderungen, weil sie jede Neuerung als Sektiererei und Gefahr für die politische Stabilität betrachtete. In der jüdischen Gemeinschaft als Ganzes war die Reaktion auf die Reforminitiativen gespalten, so daß deren Anhänger ab 1815 in verschiedenen Gemeinden eigene Gottesdienste einrichteten. Nach der Reform des Gottesdienstes, die auf einem durch die Akkulturation hervorgerufenen veränderten Empfinden beruhte und eine Verinnerlichung und Ästhetisierung bewirkte, war der zweite Schritt, die auf diese Weise für die christliche Umgebung weniger fremde Religion auch intellektuell respektabel zu machen, indem sie neu durchdacht und zu einem Glaubenssystem geformt wurde. Die Grundlage dafür war die Vorstellung einer religiösen Entwicklung, eines religiösen Fortschritts im Lauf der Geschichte, die etwa Moses Mendelssohn noch völlig fremd gewesen war. Mendelssohn kann deshalb nach Meyer keinesfalls als Begründer der Reformbewegung dargestellt werden, sondern war als streng observanter Jude eher ein Modell für die moderne Orthodoxie. Ausführlich untersucht Meyer neben den einzelnen Zentren der Reformbestrebungen auch die wichtigsten systematischen Denker und ihre Konzeption des Judentums. Die Ideologie der Reformbewegung, so seine Schlußfolgerung, gründete auf dem Glauben, daß die moderne europäische Gesellschaft und Kultur den universalistischen Idealen der Aufklärung immer näher kämen, und schrieb dabei dem modernisierten Judentum eine wichtige Rolle im messianischen Fortschritt zu. Als auf die Emanzipation aber keine größere Wertschätzung der Vergangenheit der Juden und ihrer potentiellen Beiträge zu modernen Werten und der modernen Kultur folgte, geriet die Reformbewegung in eine 1

Meyer: Response to Modernity (s. Titelliste im Anhang).

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2. Religiöse Entwicklung

von ihren Gründern nicht vorhergesehene Krise. So endet Meyers Ausblick bis 1918 mit der Feststellung einer ungelösten Spannung: Den Kern habe eine fast ganz aus Rabbinern bestehende Gruppe gebildet, die sich immer mehr auf eine traditionelle Theologie hinbewegte und gleichzeitig die Vorstellung, daß die Juden ein Volk bildeten, stärker würdigte, während an der Peripherie die Masse der Laien gestanden habe, die zwar in der jüdischen Gemeinde liberal wählten, aber nur noch einem vagen jüdischen Universalismus anhingen und in ihren persönlichen Empfindungen und Bindungen mehr deutsch als jüdisch gewesen seien. Meyer stellt die Reformbewegung in den Kontext der Entwicklung der jüdischen Minderheit und der allgemeinen geistigen Entwicklung. Aber indem er sich auf die Führungselite und ihre Konzeptionen konzentriert, trägt seine Arbeit doch eher geistesgeschichtlichen Charakter. Mancher Leser erführe gern mehr über die Anhänger, die soziale Basis dieser Bewegung. Deutlich wird das positive Bestreben, das Judentum zu bewahren, indem man es im Kontext geänderter Verhältnisse weiterentwickelte. Trotzdem verdienten vielleicht auch die E i n w ä n d e gegen das Zurückdrängen von Gesetz und Brauch eine eingehendere Diskussion, weil es von den Gegnern der Reform letztlich als Flucht in die Welt der Nichtjuden gesehen wurde - und dies implizierte, daß auch der Zusammenhalt der Judenheit beschädigt werde (was weitreichende Folgen für die Entwicklung der Minderheit insgesamt haben mußte). Gemeinhin gilt als Begründer der sogenannten Neoorthodoxie ein Mann, der in seiner Jugend in Hamburg den Kampf zwischen den Reformern und den Verteidigern der Tradition (zu denen auch sein Vater gehörte) erlebt hatte: Samson Raphael Hirsch. Seine Berufung nach Frankfurt 1851 wird oft als Beginn der Neoorthodoxie betrachtet. Deshalb ist die Entstehung der Israelitischen Religionsgesellschaft (neben der Frankfurter jüdischen Ortsgemeinde) und Hirschs Wirken dort nicht nur ein Thema der Lokalgeschichte, sondern von zentraler Bedeutung für die religiöse Entwicklung in Deutschland überhaupt. Robert Liberles hat nun die Frankfurter Verhältnisse einer neuen Prüfung unterzogen und dabei den »religiösen Konflikt im sozialen Kontext« dargestellt.9 Dafür untersucht er die Frankfurter Entwicklung seit dem frühen 19. Jahrhundert mit dem »Triumph der Reform«10 in den dreißiger Jahren auf dem Hintergrund und im Vergleich zur Entwicklung in anderen deutschen Städten. Die Untersuchung im sozialen Kontext bedeutet nicht nur die Einbeziehung der allgemeinen (gesamtgesellschaftlichen) Entwicklung, sondern auch, daß Liberles nicht allein auf die geistigen Führer und ihre programmatischen Schriften sieht, sondern ebenso auf die Laienschaft (wenn man diesen im jüdischen Kontext nicht ganz adäquaten Begriff einmal für die Träger der Bewegung gebrauchen will) und so neben den religiösen Gründen auch die damit verknüpften wirtschaftlichen und sozialen berücksichtigt. Er betont, daß die Israelitische Religionsgesellschaft schon vor 9 10

Liberles: Religious Conflict in Social Context (s. Titelliste im Anhang). So der Titel des ersten Kapitels, ebd. S. 23-65.

2. Religiöse Entwicklung

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Hirschs Berufung entstanden und von ihren Gründern von Anfang an (1849) als Vorbild der Frömmigkeit auch für andere Gemeinden konzipiert war. Die Grundlagen aber seien bereits vorher außerhalb Frankfurts gelegt worden, als in der Auseinandersetzung mit der Moderne unter dem Einfluß der Aufklärung ein orthodoxes Programm entwickelt worden sei. Auch in Frankfurt sei die Orthodoxie bereits in den vierziger Jahren wieder im Aufschwung begriffen gewesen. Insofern sei die Neoorthodoxie nicht erst in der aktuellen Auseinandersetzung mit der Reformbewegung entstanden, sondern dort nur zur Partei geworden. Den allgemeinen Hintergrund der Entstehung der Religionsgesellschaft sieht Liberles in den seit einem Jahrzehnt währenden Angriffen auf die Geldaristokratie, nicht nur in der allgemeinen Öffentlichkeit und seitens der Reformanhänger der Frankfurter Gemeinde, sondern auch in der überregionalen Allgemeinen Zeitung des Judentums (weil sie sich nicht ausreichend für jüdische Angelegenheiten engagierten, umgekehrt aber die Juden als Gesamtheit mit ihnen identifiziert würden). Als dann in den vierziger Jahren die in Frankfurt bis dahin geltenden Regeln für Bankgeschäfte geändert und damit auch Juden verpflichtet wurden, ihre Banken an Feiertagen und am Sabbat offen zu halten, war es diese Gruppe, die nicht nur die Mittel, sondern auch einen Anlaß hatte, der Orthodoxie ihre Unterstützung zu gewähren. Das alles vollzog sich auf dem Hintergrund der Revolution von 1848, die die Pflichtmitgliedschaft in einer religiösen Gemeinde (wie sie für die Juden ja bestand) als den Prinzipien der Freiheit widersprechenden Zwang erscheinen ließ, in der aber zugleich die innerjüdischen Spaltungen sich in etwa mit unterschiedlichen politischen Lagern deckten, als die Führer der Reform sich nicht nur für die Revolution engagierten, sondern eine Reihe von ihnen sogar in der radikaleren Fraktion hervortrat. Dies erklärt nach Liberles den Wechsel in der Haltung der Frankfurter Behörden, die vorher die Reform unterstützt hatten, sich nach der Revolution aber auf die Seite der Orthodoxie schlugen: Im veränderten politischen Klima unterstützten sie die Seite, die die Einhaltung der Gesetze und Loyalität gegenüber dem Staat proklamierte. Unter den Gründern der Israelitischen Religionsgesellschaft dominierten die Männer aus dem Bankwesen, daneben standen einige andere mit eigenen Firmen. Zugleich waren viele Gründer durch Familienbeziehungen untereinander verbunden, und die meisten gehörten alteingesessenen Frankfurter Familien an. Diese Gruppe dominierte über mehrere Jahrzehnte hinweg die Gemeindeorgane. Mit dem Zuzug aus Kleinstädten und Dörfern veränderte sich allerdings die Zusammensetzung der Gesellschaft, so daß schließlich nicht mehr die Nähe und Verwandtschaft der Alteingesessenen, sondern orthodoxe Prinzipien ihre Grundlage bildeten. Mit der Angliederung Frankfurts an Preußen und dem weiteren Wachsen der Frankfurter Judenschaft verlor die Religionsgesellschaft die soziale Homogenität und den sozialen Zusammenhalt. Sie existierte seit ihrer Gründung zwar neben der Ortsgemeinde, doch gehörten ihre Mitglieder dieser weiterhin an. Erst nach der Revolution wurde die Einheit der Gemeinde in F r a g e gestellt. Doch die M ö g l i c h k e i t zur Trennung gab erst das preußische

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2. Religiöse Entwicklung

Austrittsgesetz von 1876. Liberles betont, daß dieses Gesetz zwar die im Kulturkampf geschaffene Austrittsmöglichkeit auf die Juden ausdehnte, aber nicht die U r s a c h e der (schon seit 1854 währenden) Bemühungen der Orthodoxen um Unabhängigkeit war - also als weiterer Akt der Emanzipation, nicht nur als Sproß des Kulturkampfes gesehen werden sollte. Es sei auch nicht die Ursache, sondern (bereits) der Ausdruck der Stärke der Orthodoxie gewesen. Aber während in vielen anderen Gemeinden die Orthodoxen mit dem Austritt drohten, um die liberale Mehrheit zu Konzessionen zu bewegen, machte Hirsch die Unabhängigkeit zum Prinzip. Allerdings folgte ihm nur ein Teil der Religionsgesellschaft - über die Hälfte der Mitglieder blieb gleichzeitig Mitglied der jüdischen Ortsgemeinde, die jetzt den Orthodoxen Konzessionen machte und so mit der Religionsgesellschaft um deren Mitglieder konkurrierte. Neben der Gründung und später der Austrittsfrage behandelt Liberles auch die verschiedenen Tätigkeitsbereiche der Religionsgesellschaft (Schulwesen, Gottesdienstgestaltung etc.) und schildert damit die Realität einer Gemeinde, die für viele Orthodoxe zum Vorbild wurde. Gerade weil sich hier orthodoxe Praxis und weltlicher Erfolg so glücklich verbanden, konnten ärmere Gemeinden aus diesem Vorbild Kraft und Zuversicht schöpfen. Das heißt aber zugleich, daß die Israelitische Religionsgesellschaft keinesfalls typisch für die Orthodoxie war. In Liberles' Untersuchung wird auch die Leistung Hirschs einer Neubewertung unterzogen: Seine herausragende Bedeutung komme ihm nicht als Theologe und Ideologe der orthodoxen Bewegung, sondern als Gemeindeführer zu, dem es gelungen sei, eine Gemeindestruktur für die Orthodoxie zu schaffen: für eine unabhängige Orthodoxie, die sich selbst unterhält und selbst verwaltet (wobei es dann wohl nicht entscheidend ist, ob dies im Rahmen der Gesamtgemeinde oder in einer Austrittsgemeinde geschieht). Indem Liberles darüber hinaus die schon früher erfolgte Grundlegung des orthodoxen Programmes, die Behauptung orthodoxer Positionen in einer Reihe von Städten und den bereits in den vierziger Jahren auch in Frankfurt begonnenen neuen Aufschwung betont (auch die Mitgliederzahl bei der Gründung neu etabliert), entlarvt er zugleich die im wesentlichen von Hirsch selbst geschaffene Vorstellung, daß die Orthodoxie vor dem vollkommenen Zusammenbruch gestanden habe, als Mythos, der Hirschs Leistung - als Retter der Orthodoxie - unterstreichen sollte. Nach dem von Liberles nachgezeichneten »Wiederaufstieg« der Orthodoxie behandelt Mordechai Breuer, ein Urenkel Hirschs und Professor an der orthodoxen Bar-Ilan-Universität (Ramat Gan, Israel), ihre »Blütezeit« im Kaiserreich. Das Bestreben der Orthodoxie faßt er folgendermaßen zusammen: »Sie schloß nicht von innen das Tor der Emanzipation, sondern ließ ihre Anhänger fast vorbehaltlos an den wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften der modernen Außenwelt teilnehmen. Gleichzeitig rüstete sie sie mit einer Bildungstheorie und einer religiösen Weltanschauung, die es ihnen ermöglichen sollten, absolute Traditionstreue mit relativer geistiger Aufgeschlossenheit zu verbinden und das Kulturgut der Außenwelt in Nützliches und Unannehmbares zu scheiden. Um

2. Religiöse Entwicklung

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so mehr aber isolierte sich die Orthodoxie in gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Beziehung [..-]«11 Nach Breuer nahmen die Orthodoxen also einerseits an der deutschen Kultur teil, andererseits hatten sie aber nur beschränkte Kontakte mit nichtorthodoxen Juden und Nichtjuden. Und auch ersteres schränkt er weiter ein: Jüdische und weltliche Bildung hätten nur nebeneinander gestanden, seien nicht, wie gefordert, miteinander verbunden gewesen. »Man war >deutschmodernen StaatsbegriffsJudenfrage< der bürgerlichen Gesellschaft (Kap. l, Anm. 26); Zitat aus dem Vorwort des Sammelbandes (Kap. l, Anm. 26), S. 7. 36 Berbüsse: Juden in Waldeck, S. 15, 271-273. 37 Hermann Greive: Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland. (Grundzüge 53) Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, S. 8.

5. Landjudentum

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zeitig größere, allgemeinere Probleme lösen zu können,38 so unterstreicht Berbüsse eben die Einschränkung des »in der Regel«: In seinen Quellen sei, allerdings »zwischen den Zeilen[,] die Überzeugung zu lesen, daß zumindest in überschaubaren Regionen eine Reduzierung oder ein Verschwinden der Juden eine wirtschaftliche und soziale Verbesserung der nichtjüdischen Untertanen mit sich bringen würden. Konkrete Forderungen, wie sie nach 1873 laut wurden, waren dabei allerdings nicht die Konsequenz gewesen, geschweige denn das Entstehen einer politischen Bewegung mit judenfeindlichem Programm.«39 Aus den im Kontext des Landjudentums interessierenden Fragen behandelt Berbüsse also hauptsächlich die Haltung der Nichtjuden zu den Juden. Man fragt sich jedoch, ob das von ihm eingesehene Material nicht eine genauere Darstellung der Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden ermöglicht hätte, zumindest der wirtschaftlichen Beziehungen. Dazu hätten vermutlich besonders die von ihm erwähnten, aber nicht ausgewerteten Prozeßakten (die im allgemeinen Forderungen der Juden, nicht Anklagen gegen sie, betrafen)40 dienen können. Überblickt man die kleineren, überwiegend noch vorläufigen Forschungen zum Landjudentum in Südwestdeutschland, so fallen gewisse Gemeinsamkeiten der verschiedenen Regionen, aber auch Desiderate ins Auge. Die Berufsstruktur blieb im Lauf des 19. Jahrhunderts ähnlich - nämlich über den Reichsdurchschnitt hinaus vom Handel geprägt, der sich nach Abwanderung eines Teils der Juden in die Städte konsolidierte. Dabei waren aber Form und Inhalt des Handels gleichzeitig Wandlungen unterworfen, deren Grundzug mit der Formel »vom Hausierhandel zum Ladengeschäft« umrissen werden kann.41 Der Zug in die Stadt wird herkömmlich als Indikator wirtschaftlichen Aufstiegs gewertet. Einige der vorgestellten Untersuchungen bestätigen dies - etwa für den Fall der Weinhändler. Insgesamt allerdings müßte noch untersucht werden, ob die Abwanderung in die Stadt »nicht vielmehr ein Ergebnis der Agrarkrise und für viele der fortziehenden Juden, über deren weiteres Schicksal die Statistik schweigt, mit wirtschaftlichen Verlusten verbunden« ist.42 Auf eine Änderung der Berufsstruktur scheint das Projekt über die oberfränkischen Landjuden hinzudeuten, die um 1820 fast ausschließlich, um 1850 aber nur noch zu 50% im Handel und zu 25% im Handwerk tätig waren. Doch im 20. Jahrhundert konzentrierten sie sich wiederum im Handel. Gewiß kann man in diesen Veränderungen eine Auswirkung zunächst der Bestimmungen des bayerischen Matrikelgesetzes,43 dann seiner Aufhebung sehen. Doch möglicherweise lag sie, um den Bestimmungen des Gesetzes Genüge zu tun und eine Matrikel zu erhalten, nicht so sehr in 38 39

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Rürup: Die >Judenfrage< der bürgerlichen Gesellschaft (Kap. l, Anm. 26), S. 91. Berbüsse: Juden in Waldeck, S. 229.

Ebd. S. 170.

Richarz: Viehhandel (Anm. 1), S. 78f.; Mistele: Landjuden (Anm. 9), S. 17. Daxelmüller: Kulturvermittlung (s. Titelliste im Anhang), S. 240f. 42 Barkai: Minderheit und Industrialisierung, S. 52. 43 Krzywinski: Jüdische Landgemeinden (Anm. 12), S. 222.

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5. Landjudentum

einer tatsächlichen, weitreichenden Änderung der Berufsstruktur, sondern eher in der Berufsangabe entsprechend der absolvierten Lehre (nicht der tatsächlich ausgeübten Tätigkeit) bzw. in der Klassifizierung der eigenen Tätigkeit (wer Produkte herstellte und sie selbst vermarktete, konnte sich selbstverständlich als Handwerker bezeichnen).44 Regionalstudien wie die Krugs, die die Bevölkerung detailliert, auch namentlich erfassen, könnten zur Klärung dieser Frage Entscheidendes beitragen. Einige der Autoren charakterisieren die Beziehungen zwischen agrarischer Bevölkerung und jüdischen Händlern als symbiotisch.45 Unzweifelhaft erfüllten die Juden auf dem Land eine wichtige wirtschaftliche Funktion. Umso erstaunlicher ist es, daß der Handel in der zeitgenössischen Debatte nie unter ökonomischen Gesichtspunkten, den Bedürfnissen und der Nachfrage seitens der Landbevölkerung, betrachtet, sondern nur aus moralischen Erwägungen abgelehnt wurde.46 Aber der jüdische Handel hatte vielleicht sogar eine Bedeutung über die ökonomische Funktion hinaus: Der Volkskundler Christoph Daxelmüller sieht in den beiden anderen Hauptzweigen neben dem Vieh- und Landproduktenhandel, dem Stoff- bzw. Kleider- und Altwarenhandel, gleichzeitig die Vermittlung von Kulturgut.47 Die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden müßten über die Wirtschaftskontakte hinaus noch genauer untersucht werden: Auch wenn sie sich kaum gegenseitig einluden, daher auch an religiös geprägten Feiern nicht teilnahmen, hatten sie Gelegenheit, sich gegenseitig zu beobachten, und es gibt - entgegen Daxelmüllers negativer Charakterisierung der teilweise nur halbverstandenen Beobachtungen - Hinweise, daß auch Nichtjuden die jüdischen Religionsvorschriften gut kannten und ihre jüdischen Nachbarn gerade für deren Einhaltung respektierten.48 Was bedeutete es für die Beziehungen, wenn sich in einem kleinen Ort die Synagoge als »Stockwerkseigentum« über der Werkstatt eines christlichen Dorfbewohners befand?49 Und was sagt die Lage von Friedhöfen für das Verhältnis aus? Die jüdischen Friedhöfe in Oberfranken, zwischen

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So kritisch gegen die behördlichen Berufszählungen schon Richarz: Einführung (Anm. 7) S. 33; in Anlehnung daran auch Avraham Barkai: The German Jews at the Start of Industrialisation. Structural Change and Mobility 1835-1860. In: Mosse/ Paucker/Rürup (Hg.): Revolution and Evolution (s. Titelliste im Anhang), S. 123-149, hier S. 130; außerdem Holeczek: Jews and German Liberals (s. Titelliste im Anhang), S. 82. 45 Richarz: Viehhandel (Anm. 1), S. 66 (Untertitel); Daxelmüller: Kleiderhändler (s. Titelliste im Anhang), S. 181 über die Versorgung der Landbevölkerung mit gebrauchter Kleidung; Daxelmüller: Kulturvermittlung, S. 234, 242. 46 Darauf weist Brandt: Problem der Judenemanzipation (Anm. 6), S. 14 hin. 47 In einem Aufsatz, der wie andere seiner Arbeiten Material aus verschiedenen Epochen verwertet, dabei in seinen Beispielen aber geographisch noch auf das Habsburgerreich ausgeweitet ist: Daxelmüller: Kulturvermittlung. 48 Richarz: Viehhandel (Anm. 1), S. 85; Krzywinski: Jüdische Landgemeinden (Anm. 12), S. 222. 49 Bender: Denkmalschutz und jüdische Kultuseinrichtungen (Anm. 24), S. 51.

5. Landjfidentum

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1617 und 1840 angelegt, befanden sich überwiegend weit außerhalb der Ortschaft. Doch die zahlreichen im 19. Jahrhundert entstandenen neuen Gemeinden in Baden und Württemberg erhielten einen, wenn auch abgegrenzten, Anteil am allgemeinen Ortsfriedhof.50 Neben den vermutlich geringen privaten Kontakten wäre für die Bewertung dieses Verhältnisses auch die Betätigung von Juden in lokalen Vereinen und ihre Wahl in den Gemeinderat von Interesse.51 Und auch für die innerjüdische Entwicklung bleibt noch einiges zu leisten: Falk Wiesemann hat darauf hingewiesen, daß das Matrikelgesetz, indem es Mobilität unterband, gleichzeitig die innergemeindlichen Führungsstrukturen konservierte.52 Was dies für das religiöse und soziale Leben im einzelnen bedeutete, wäre noch zu zeigen. Weitgehende Einmütigkeit besteht über die Bewahrung der orthodoxen Lebensweise - das Landjudentum scheint durch eine Milieufrömmigkeit charakterisiert, die nicht auf talmudischer Gelehrsamkeit, sondern auf Einhaltung der religiösen Gebote beruhte. Daß in Oberfranken in fast allen Orten mehrere Mikwen, also nicht nur eine gemeindliche, sondern daneben sogar private existierten, daß in Württemberg im 19. Jahrhundert in fast allen Gemeinden Mikwen bestanden und bei Schließung alter aufgrund geänderter hygienischer Anforderungen neue gebaut wurden,53 bestätigt diese allgemeinen Überlegungen. Richarz faßt diese Verhältnisse mit den Worten zusammen: »Das Judentum hatte sich nicht, wie meist in den Städten, zu einer Konfession verdünnt, sondern umfaßte noch das ganze Leben.«54 Insofern aber die sogenannte Konfessionalisierung55 des Judentums im allgemeinen zugleich als Einschränkung verstanden wird, als Kehrseite der nationalen und kulturellen Identifikation als Deutsche, wäre für die Landjuden die zweifellos ebenfalls erfolgte Akkulturation bei Bewahrung jüdischer Tradition und Lebensweise noch genauer zu untersuchen. Dabei sollte auch ihr Lebensstil, der - begünstigt durch ihre Vermittlungsfunktion - städtische Elemente übernahm, noch genauer dargestellt werden.56 Dazu bieten nicht nur Memoiren, sondern z. B. auch der Baustil jüdischer Häuser Hinweise.57 Während die rechtlichen und verfassungsgeschichtlichen Aspekte der Emanzipation für eine Reihe 50

Krzywinski: Jüdische Landgemeinden (Anm. 12), S. 220; Hahn: Erinnerungen und Zeugnisse, S. 64. 51 Belege dafür verspricht das Guthsche Projekt über Oberfranken (Krzywinski: Jüdische Landgemeinden [Anm. 12], S. 221). 52 Wiesemann: Rabbiner und Lehrer (Kap. 2, Anm. 23), S. 277. 53 Krzywinski: Jüdische Landgemeinden (Anm. 12), S. 221; Hahn: Erinnerungen und Zeugnisse, S. 88. 54 Richarz: Viehhandel (Anm. 1), S. 85. 55 Vgl. dazu die Bemerkungen unten im Schlußteil S. 174f. 56 Auch dies kann im weiteren Sinn als Kulturvermittlung verstanden werden — wenn ländliche Nachbarn etwa die Wohnungseinrichtung der Juden bestaunten: »Kulturvermittlung vollzieht sich nämlich nicht nur auf der materiellen Ebene, sondern auch durch den Austausch und die Aneignung von Erfahrungen.« (Daxelmüller: Kulturvermittlung, S. 253). 57 Zur Bauweise: Hahn: Erinnerungen und Zeugnisse, S. 97.

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5. Landjudentum

deutscher Staaten gut erforscht sind, bleibt für die Sozialgeschichte dieses Zeitalters allgemein58 und des Landjudentums im besonderen noch viel zu tun. Noch zu untersuchen wären auch die östlichen Gebiete Deutschlands. Stefi Jersch-Wenzel hat in ihrem Kommentar zu Richarz' Problemaufriß59 darauf hingewiesen, daß die Juden dort ähnliche wirtschaftliche Funktionen wie in Südwestdeutschland ausübten, von ihrer Lebensweise und religiös-kulturellen Bildung her aber nicht diesem traditionellen Landjudentum entsprächen, sondern im deutsch-polnischen Nationalitätenkonflikt zu Deutschen jüdischen Glaubens geworden seien.60 Leider thematisiert sie selbst in ihrem knappen Überblick über die Juden in Posen, also einer agrarisch geprägten Region, die sowohl absolut wie in Relation zur Gesamtbevölkerung von allen preußischen Provinzen die meisten Juden aufzuweisen hatte (und damit auch Franken in der jüdischen Bevölkerungsdichte noch übertraf), diese Fragen kaum, sondern skizziert allgemein die Bevölkerungsentwicklung, Berufsstruktur, rechtlichen Rahmenbedingungen und politische Partizipation.61 Im Posenschen war die Abwanderung kein Phänomen der Urbanisierung (denn schon 1817 lebten 97% der Juden in Städten), sondern bedeutete Abwanderung aus der Provinz. Dies wird besonders am Rückgang der jüdischen Bevölkerung der Provinzhauptstadt deutlich. - Für Ostpreußen, wo 1811 fast keine Juden in Dörfern wohnten, ist andererseits nach dem Edikt von 1812, das das freie Niederlassungsrecht verbriefte, eine Niederlassung von Juden auf dem platten Lande und in Kleinstädten zu verzeichnen, die zu einem wesentlichen Teil auf die Zuwanderung aus westpreußischen Städten zurückzugehen scheint.62

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Für Bayern weist darauf Treml: Von der »Judenmission« zur »Bürgerlichen Verbesserung« (Anm. 6), S. 247f. hin. 59 Richarz: Jews in the Rural Economy (Kap. 4, Anm. 27). 60 Stefi Jersch-Wenzel: German Jews in the Rural Economy - A Comment. In: Mosse/ Paucker/Rürup (Hg.): Revolution and Evolution (s. Titelliste im Anhang), S. 117-122. Angesichts der von Richarz geschilderten Fortsetzung der traditionellen Wirtschaftsweisen in Süddeutschland weist sie darüber hinaus auf die Notwendigkeit hin, die möglichen Veränderungen des landwirtschaftlichen Handels infolge der Einführung kapitalistischer Methoden in der Landwirtschaft zu untersuchen. 61 Stefi Jersch-Wenzel: Zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung in der Provinz Posen im 19. Jahrhundert. In: Rhode (Hg.): Juden in Ostmitteleuropa (s. Titelliste im Anhang), S. 73-84. 62 Hartmann: Jüdische Bevölkerung in Ostpreußen (Kap. 4, Anm. 34), S. 26. Bei diesem Aufsatz handelt es sich um einen chronologisch gegliederten Bericht, der - neben allgemeinen Aussagen, die z. T. auf ganz Preußen zutreffen - auf der Auswertung von Akten im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz beruht. Dargestellt werden vor allem die Rechtsverhältnisse, die Berufsstruktur (besonders für Königsberg 1853) und die religiösen Verhältnisse.

6. Wirtschaftliche Entwicklung und Sozialstruktur1

Mit der gewährten Berufsfreiheit gab die Emanzipation den Juden die Möglichkeit, vom Warenhandel und den Finanzgeschäften, auf die sie herkömmlich beschränkt waren, in andere Erwerbsbereiche überzugehen. Aber die Emanzipation war nicht nur - wie schon in Dohms epochemachender Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden2 - mit der E r w a r t u n g verknüpft, daß sich die Berufsstruktur der Juden normalisiere, also der der Gesamtbevölkerung angleiche, sondern die einzelnen Staaten suchten durch ihre Judengesetzgebung, diese durch »Produktivierung« zu »nützlichen Staatsbürgern« zu machen. (Man denke etwa an die umfassenden Gesetze Badens 1809, Bayerns 1813, Württembergs 1828 oder die Verordnung Waldecks über die Beschränkung der Zahl der Juden 1810 und seine Hausierverordnung 1811). Dafür hat sich seit langem der Begriff »Erziehungsgesetze« bzw. »Erziehungspolitik« eingebürgert. Die Frage nach der Berufsstruktur und Anzeichen ihrer Änderung spielt daher in allen Untersuchungen der sozioökonomischen Entwicklung, sofern sie nicht auf einzelne Wirtschaftsbereiche eingeschränkt sind, eine zentrale Rolle. Allerdings wurde die prinzipielle Möglichkeit durch weiterbestehende Diskriminierungsmaßnahmen eingeschränkt - wie zuletzt am Beispiel Waldeck wieder deutlich wurde: Dort weigerten sich verschiedene Zünfte, Juden als Lehrlinge oder Mitglieder aufzunehmen, und die Städte verfuhren bei der Erteilung des Bürgerrechts an Juden uneinheitlich, so daß sich die Praxis z.T. erst ab den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts normalisierte. Dies verweist auf das generelle Problem des in den verschiedenen Staaten unterschiedlich geregelten Ortsbürgerrechts und die darin weiterbestehenden Beschränkungen für Juden,3 die etwa auch in Baden erst 1862 aufgehoben wurden. Untersucht man die wirtschaftliche Entwicklung der jüdischen Minderheit, so ist grundsätzlich zu bedenken, daß jüdische Wirtschaftsgeschichte hauptsächlich eine Geschichte von Reaktionen ist: der Anpassung einer immer kleinen Bevöl1

S. dazu auch den nach Abschluß des folgenden Abschnitts erschienenen Forschungsbericht Barkais: Zur Wirtschaftsgeschichte (Kap. l, Anm. 4), der außer der eigentlichen Wirtschaftsgeschichte auch die Demographic und Statistik behandelt und für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg nützliche biographische Angaben zu den Forschern und dem institutionellen Rahmen enthält. 2 Dohm: Bürgerliche Verbesserung der Juden (Kap. l, Anm. 25), besonders Bd. l, S. 111-118. 3 S. dazu Jacob Toury: Types of Jewish Municipal Rights in German Townships. The Problem of Local Emancipation. In: LBIYB 22 (1977), S. 55-80.

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6. Wirtschaftliche Entwicklung und Sozialstruktur

kerungsgruppe an die Entwicklungen und Veränderungen ihrer Umgebung, auf die sie selbst keinen oder allenfalls geringen Einfluß hatte.4 Die Wirtschaftstätigkeit der Juden beruhte immer auf den individuellen Entscheidungen von einzelnen oder Familien - nicht der Gruppe als Gesamtheit oder einer übergeordneten Instanz. Aber gleichzeitig wurde der Entscheidungsspielraum durch Tradition, Glaube, gemeinsames Erbe, die einen Gruppenzusammenhalt herstellten, sowie durch den aus sozialer und rechtlicher Diskriminierung resultierenden Druck eingeengt.5 Allerdings wird die Frage, was die Juden zu einer besonderen Gruppe machte, deren Wirtschaftsgeschichte man sinnvollerweise separat untersuchen kann, nur selten ausdrücklich gestellt. Für Arthur Prinz liegt die Antwort nicht in der Religion, sondern in der gemeinsamen Herkunft, dem gemeinsamen sozialen Milieu, der Minderheitssituation als solcher und daraus resultierenden psychologischen Faktoren, wie etwa der Zurücksetzung. Dies schaffe eine Motivation und Bereitschaft zu zusätzlicher Leistung.6 Dadurch wird aber auch die Frage nach einem besonderen »jüdischen« Muster des Wirtschaftsverhaltens aufgeworfen. Eine Überblicksdarstellung der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung sowie der Veränderungen der Berufsstruktur 1815-1910 hat (über den nominellen zeitlichen Rahmen seiner Monographie hinausgehend) Arthur Prinz vorgelegt. Für die einzelnen Zeitabschnitte geht er jeweils »von den Strukturwandlungen der deutschen Wirtschaft aus, um ihre Auswirkungen auf die Wirtschaftstätigkeit der Juden und wiederum deren Rückwirkungen zu verfolgen.«7 Dieser Ansatz sowie die gut formulierte, ja lebendige Darstellung machen sein schmales Werk - besonders für Leser, die nicht von der Wirtschaftsgeschichte, sondern als Allgemeinhistoriker von der jüdischen Geschichte her kommen - zu einer geeigneten Einführung, allerdings - wie viele Werke über die Juden in »Deutschland« - auf Preußen konzentriert. Dabei handelt es sich nicht um eine originäre Forschungsleistung, sondern eine Synthese, vor allem aus älterer Sekundärliteratur. Quellen, darunter auch amtliche statistische Veröffentlichungen, werden kaum herangezogen. Trotz der Betonung, daß es nicht nur auf die wenigen Großen ankomme, sondern auf die Juden als Gesamtheit, hebt Prinz immer wieder die »schöpferischen Leistungen« hervor - die dann doch überwiegend in der Schaffung erfolgreicher Großunternehmen bestehen. Außerdem räumt er dem Bankwesen großes Gewicht für die deutsche Industrialisierung ein, was aus neuerer Perspektive nicht gerechtfertigt erscheint, und überschätzt den jüdischen Anteil daran. Beides wird von dem Herausgeber und Vollender des posthum veröffentlichten Werkes, Avraham Barkai, in einer Anmerkung vor4

Barkai: At the Start of Industrialisation (Kap. 5, Anm. 44), S. 123. Prinz: Juden im Wirtschaftsleben, S. 7; Barkai: At the Start of Industrialisation (Kap. 5, Anm. 44), S. 125. 6 Prinz: Juden im Wirtschaftsleben, S. 4-12. 7 Ebd. S. 3. 5

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sichtig korrigiert. Daß das Werk sich so gut liest, ist - offensichtlich - auch ihm zu verdanken.8 Barkai selbst hat in einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen die Entwicklung der jüdischen Minderheit in der Industrialisierung untersucht. Dabei geht es sowohl um das Wechselverhältnis zu ihrer gesellschaftlichen Umgebung wie auch um die interne sozioökonomische und demographische Entwicklung. Besonders interessiert ihn die Frage, ob die Juden im Vergleich zur Mehrheit in einer günstigeren Ausgangsposition gegenüber den durch die Industralisierung ausgelösten Impulsen und Aufstiegsmöglichkeiten waren und umgekehrt, ob sie den damit verbundenen Krisenerscheinungen mehr ausgesetzt waren als die Angehörigen der Mehrheit oder weniger.9 Zunächst hat er die Zeit von 1835-1860 dargestellt und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß die Juden bereits am Vorabend der Industrialisierung in vielfacher Weise jene Prozesse eingeleitet hatten, die in ihrer Umgebung erst jetzt begannen: Sie hatten seit Beginn des Jahrhunderts Jahrzehnte des beständigen wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs hinter sich, sie waren sowohl geographisch (durch Binnen- und Auswanderung) wie sozial bereits »in Bewegung«. Sie nahmen also eine Entwicklung vorweg, die dann den Verlauf der deutschen Industrialisierung charakterisierte. So konnten sie durch die Industrialisierung eine weitere und beschleunigte Besserung ihrer ökonomischen und sozialen Verhältnisse erreichen.10 Welche weiteren Fragen Barkais Ergebnisse und Hypothesen aufwerfen, hat Esra Bennathan vorgeführt. Zusammengefaßt geht es dabei um die Aufgabe, die Einkommens- und Vermögensentwicklung, den genaueren Verlauf von Binnen- und Auswanderung, die Konkurrenz innerhalb der »jüdischen Berufe« zu untersuchen sowie durch die detaillierte Analyse von Firmen und besonders aktiven Individuen auszumachen, inwiefern das Judesein eine Quelle des Erfolgs war.11 (Letzteres allerdings dürfte methodisch schwierig, wenn nicht unlösbar sein.) In einer regionalen Fallstudie für die Zeit von 1850-1914 ist Barkai einigen dieser Probleme nachgegangen: Für das westdeutsche Industriegebiet hat er die Entwicklung der Bevölkerung, der Berufsstruktur, des Einkommens sowie die interne Differenzierung der jüdischen Minderheit untersucht. Dort wohnte einerseits die »älteste und bodenständigste jüdische Bevölkerung Deutschlands«, andererseits war es eine Kernregion der Industrialisierung.12 Die Antwort auf die 8

Er kürzte die Passagen über die allgemeine deutsche Wirtschaftsentwicklung und hat damit wohl die jetzt gelungene Proportionierung der Darstellung von allgemeiner und jüdischer Entwicklung hergestellt. Darüber hinaus hat er das von Prinz nur begonnene letzte Kapitel (1896-1914) selbst verfaßt. 9 Zur Formulierung dieser Fragen und als ersten Überblick s. Barkai: Sozialgeschichtliche Aspekte (s. Titelliste im Anhang). 10 Barkai: At the Start of Industrialisation (Kap. 5, Anm. 44). 11 Esra Bennathan: The German Jews at the Start of Industrialisation. A Comment. In: Mosse/Paucker/Rürup (Hg.): Revolution and Evolution (s. Titelliste im Anhang), S. 151-156. 12 Barkai: Minderheit und Industrialisierung, S. 7. Daß er damit ein Gebiet erfasse, in

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Frage, ob die geringe Elastizität der jüdischen Berufs- und Sozialstruktur ein Vorteil oder Nachteil war, war bisher immer problematisch, weil die Einkommen und Vermögen nicht erforscht waren. Schätzungen beruhten im allgemeinen auf den Berufsstatistiken, die, besonders bis 1870, relativ unzuverlässig und z.T. tendenziös sind - sowohl durch Manipulation von jüdischer wie von offizieller Seite. (Und natürlich bedeutet die Zugehörigkeit zum selben Beruf, auch bei näherer Spezifizierung, etwa nach Handelsgütern, nicht schon eine ähnliche wirtschaftliche Lage.) Und selbst wo die Steuerlisten der jüdischen Gemeinden bekannt waren, ergab sich für die Einschätzung der unterschiedlichen Gruppen und der Gesamtheit noch immer das Problem, daß der Anteil der von der Kultussteuer Befreiten oft nicht angegeben war. Deshalb wurde die Schichtung der jüdischen Minderheit von verschiedenen Autoren bisher recht unterschiedlich eingeschätzt.13 In seiner Regionalstudie legt Barkai nun nicht nur, wie sonst üblich, die offiziellen Bevölkerungs- und Berufszählungen zugrunde, sondern zieht für zehn Gemeinden unterschiedlicher Struktur (vier Großstädte, vier Mittel- oder Kleinstädte, zwei Kleingemeinden) auch die Steuerlisten der Orts- und der jüdischen Gemeinden heran. Allerdings stellen sich auch hier Probleme: Nicht nur durch Steuerreformen, die die Einkommensfreibeträge änderten, also im Untersuchungszeitraum auch die Zahl der Steuerzahler und damit den mit seinem Einkommen überhaupt erfaßten Teil der Bevölkerung, sondern auch durch die Tatsache, daß das Urmaterial der Steuerveranlagung größtenteils vernichtet ist. Die Bevölkerungsentwicklung bestätigt die Erwartungen, die man aufgrund der Struktur des Untersuchungsraums formulieren könnte, nicht: Für die Juden war er offenbar kein wesentliches Zuzugsgebiet. Bis 1896 war die Wanderungsbilanz negativ, wanderten also mehr Juden aus der Region ab, als zuzogen. Letztere waren zudem überwiegend osteuropäische Einwanderer, nicht deutsche Juden. Und der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung fiel in Rheinland und Westfalen stärker als in Preußen insgesamt. Die Berufsstruktur blieb mit nur geringfügigen Änderungen weiterhin durch den Handel dominiert. Während der gesamten Industrialisierungsperiode waren die Juden eine mittelständische Gruppe. Ihr Einkommen hatte sich bereits in der ersten Jahrhunderthälfte sowohl absolut wie im Vergleich zur Gesamtbevölkerung erheblich verbessert. Danach hielt ihre Einkommensentwicklung mit dem allgemeinen Ändern im gesamten Untersuchungszeitraum jeweils ein Viertel der jüdischen Bevölkerung des Reichs gelebt habe, erscheint aber doch als zu großzügige Interpretation der Daten, mit denen er dies belegt: Schmelz: Demographische Entwicklung, S. 38f. definiert als »Westdeutschland« die preußischen Provinzen Rheinland, Westfalen, Hessen-Nassau sowie das Land Hessen. Barkai dagegen untersucht hauptsächlich die beiden ersteren Provinzen. Das Land Hessen spielt nur durch das Beispiel Darmstadt bei der Analyse von Berufsstruktur, Steuerleistung und Einkommen sowie gruppeninterner Einkommensverteilung eine gewisse Rolle, die preußische Provinz HessenNassau kommt nicht vor. 13 Barkai: At the Start of Industrialisation (Kap. 5, Anm. 44), S. 132-134, der auch einige solcher Schichtungsmodelle vorführt.

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stieg des Realeinkommens »zumindest Schritt«. Ob der jüdische Einkommensvorsprung sich auch am Ende der Untersuchungsperiode noch vergrößerte, läßt sich dagegen aus dem ausgewerteten Material nicht eindeutig belegen. Doch hat Barkai seine frühere Annahme, daß bereits am Ende des 19. Jahrhunderts eine relative Verringerung der Einkommen eingetreten sei, revidiert. Aber auch auf der Höhe der jüdischen Wirtschaftsentwicklung lag - wie bei den Nichtjuden knapp ein Viertel der jüdischen Einkommen unter der Steuerfreigrenze. Und die dünne jüdische Oberschicht war im Durchschnitt weniger kapitalkräftig als die Nichtjuden der entsprechenden Einkommensgruppe.14 Betrachtet man die Binnenentwicklung, so war die erste Jahrhunderthälfte von einer Egalisierung der Einkommen bestimmt, die sich zum einen aus dem Verschwinden der um 1800 noch auf ca. ein Fünftel geschätzten Randexistenzen wie Berufslose und Betteljuden, zum anderen aus der stärkeren Begünstigung der unteren Einkommensschichten während des wirtschaftlichen Aufstiegs erklärt. Ab den achtziger Jahren war dann eine stärkere Binnendifferenzierung zu beobachten. Insgesamt allerdings hielten die Juden als mittelständische Bevölkerungsgruppe länger an den überkommenen Handelsberufen fest, als es rein wirtschaftlich von Vorteil war. Die wirtschaftliche Krise der deutschen Juden kündigte sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg an. Zusammenfassend stellt Barkai fest, daß die gruppenspezifischen Determinanten sowohl der Bevölkerungsentwicklung wie auch der Wirtschaftstätigkeit und Sozialstruktur stärker und wirkungsvoller als die durch den Standort bedingten Entwicklungstendenzen waren. Die Merkmale blieben »mehr spezifisch-jüdisch< als >industriellZunftfreiheit< hatte aber auch zur Folge, daß die Unternehmungen nicht auf 16

Otto Lohn Die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden von 1870 bis 1933. In: Treml/ Kirmeier (Hg.): Juden in Bayern (s. Titelliste im Anhang), S. 397-409, Zitat S. 397. 17 Toury: Textilunternehmer (s. Titelliste im Anhang). Da zumindest teilweise der Name als einziges Kriterium dienen mußte, kann es sich nicht um eine vollständige Erfassung der jüdischen und nur der jüdischen Unternehmer handeln.

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dem Prinzip des justum pretium basierten, sondern von vornherein auf maximale Kreditgewährung zwecks Umsatzsteigerung und auf Kalkulation von Kleinstgewinnen bei Maximalumsatz programmiert waren.« Auch scheint es, »daß sich die Juden mehr der organisatorisch-kaufmännischen und insbesondere finanziellen Seite des Textilwesens, als der rein technischen Betriebsführung zuwandten«, obwohl es bereits in der zweiten Generation auch ausgebildete »Techniker« gab, die ihren Beruf auf Fachschulen oder gar im Ausland gelernt hatten.18 Am interessantesten erscheint die Entwicklung im frühen 19. Jahrhundert als Hinweis auf die Auswirkung der Erziehungspolitik der Regierungen zur Produktivierung der Juden. Doch am Beispiel Jebenhausens - bei der Analyse der 19 dort bis 1852 entstandenen Unternehmen - wird deutlich, daß nur ein Fünftel der Gründer direkt aus dem Kram- und Hausierhandel kam, ein Viertel aber aus dem Weberhandwerk und über 50% bereits aus anderen bürgerlichen oder gar zünftigen Berufen.19 Vielen Unternehmen fehlte allerdings die Kontinuität: Sie bestanden nur eine Generation lang. Anhand e i n e s Beispiels - aus einer ganzen Reihe erfolgreicher schlesischer jüdischer Textilunternehmen - ist John Foster auf der Grundlage des Familienarchivs der Familien Fränkel und Pinkus im Leo Baeck Institut in New York der Frage des Zusammenhangs vom Wesen der jüdischen Familie und dem Erfolg jüdischer kapitalistischer Unternehmer nachgegangen.20 Nach der Analyse der Aufgabenteilung innerhalb der Familie, der Ausbildung und Lebensweise, der Heiraten, dann der Ablösung der spezialisierten Funktionen durch die unpersönlichen Operationen einer fortgeschrittenen Wirtschaft mit ihren Bank- und Verkehrsverbindungen, schließlich des Niedergangs in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat Foster auch für diese jüdische Familie die Ergebnisse einer ähnlichen Untersuchung Jürgen Kockas für das deutsche Unternehmertum bestätigt gefunden.21 Etwas spezifisch Jüdisches könnte allenfalls im großen Netz jüdischer Handelspartner gefunden werden, doch auch dieses läßt sich nicht sicher beweisen, und schließlich gibt es Indizien, daß auch dabei die finanziellen Interessen, nicht die gemeinsame Religionszugehörigkeit ausschlaggebend waren. - Einige schlesische Unternehmer der Montanindustrie stellt Konrad Fuchs vor - aber inwiefern seine knappen Hinweise auf den geistesgeschichtlichen Hintergrund (beginnend mit den Marannen in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts) zum Verständnis dieser Firmengeschichten »unverzichtbar« sind,22 kann er dem Leser nicht vermitteln. Festzuhalten bleibt, daß bei der Erschließung 18 19

Ebd. S. 82, 83.

Zur Produktivierung s. ebd. S. 32^-36 und 46—48; berufliche Zusammensetzung in Jebenhausen S. 63. 20 Foster: Jewish Entrepreneur (s. Titelliste im Anhang). 21 Jürgen Kocka: The Entrepreneur, the Family and Capitalism. Some Examples from the Early Phase of Industrialisation in Germany. In: German Yearbook on Business History 1981,5.53-82. 22 Fuchs: Judentum in der Entwicklung Oberschlesiens (s. Titelliste im Anhang), S. 211.

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Oberschlesiens nach dem Siebenjährigen Krieg Juden nicht nachzuweisen sind, daß sie bei der Entwicklung der Zinkindustrie nach 1815 bei der Erteilung von Konzessionen eindeutig als Juden diskriminiert wurden, daß sie schließlich ab den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts am Industrialisierungsprozeß beteiligt waren.23 Die jüdische »Wirtschaftselite« als Ganzes hat Werner E. Mosse für den Zeitraum 1820-1935 untersucht.24 Dabei betrachtet er als »jüdisch« nicht nur die Angehörigen der jüdischen Religionsgemeinschaft, sondern auch Personen jüdischer Herkunft, also Getaufte. Zur Begründung führt er das in Amerika gängige Konzept von »ethnicity« an, das von der gemeinsamen Abstammung ausgeht und den Erhalt des Gruppenzusammenhangs durch Endogamie, Verwandtschaftsbeziehungen, gemeinsame Tradition und Bräuche, Bewahrung spezifischer Namen und auch Religion meint (wobei nicht alle Angehörigen der Gruppe alle diese Kriterien erfüllen müssen). Zwar klingt es durchaus plausibel, daß die Umstände auch nach der Konversion oder Eingehen einer Mischehe dieselben blieben, nach Mosse oft sogar noch über die betroffene Generation hinaus; trotzdem wüßte man manchmal bei der Lektüre gern, welcher der Untergruppen, die unter diese/ jüdischen »ethnic group« zusammengefaßt werden, der einzelne angehört und wie die Proportionen von Juden, in der Kindheit oder später auf eigenen Entschluß Getauften in den einzelnen Samples sind. Wer zur »Wirtschaftselite« zählt, hat Mosse nach drei Kriterien ermittelt: Die Inhaber des Kommerzienratstitels (1819-1900), die Besitzer eines Vermögens von über 5 Millionen Mark (für 1908 und 1911), beides auf Preußen beschränkt, wenn auch mit flüchtigen Seitenblicken auf die Millionäre anderer deutscher Staaten, schließlich die Direktoren und Aufsichtsratsmitglieder der ihrem Kapital nach 100 größten Industrieunternehmen (für die Stichjahre 1887, 1907, 1927). Nach diesen Kriterien erhält er drei aufeinanderfolgende Gruppen - die Notabein, die Besitzelite und die »corporate elite« der Großunternehmen, die er jeweils nach ihrer Zusammensetzung und den Strukturen ihrer Wirtschaftstätigkeit untersucht. Dabei geht er die verschiedenen Unternehmerpersönlichkeiten bzw. Unternehmen durch - er selbst spricht auch einmal von einer »prosopographischen Studie«25 -, wobei er jeweils einzelne eingehender porträtiert bzw. analysiert, um 23

Kurt Schwerin beschreibt entgegen dem Titel nicht Die jüdische Bevölkerung in Schlesien nach der Emanzipation (in: Rhode: Juden in Ostmitteleuropa [s. Titelliste im Anhang], S. 85-98), sondern bietet - neben wenigen Bemerkungen zur Geschichte der Juden in Schlesien - eine detaillierte Aufzählung schlesischer Juden und ihrer Abkömmlinge, um an ihrem »Beitrag zur Entwicklung und zum Aufblühen« des Wirtschafts- und Kulturlebens zu zeigen, daß die Juden »nicht nur Nutznießer, sondern Mitschöpfer des Aufstiegs« waren (Zitate ebd. S. 97, 98). Vgl. auch: Schwerin: Die Juden im wirtschaftlichen Leben Schlesiens (s. Titelliste im Anhang). Stattdessen sollte man sich künftig auf Jersch-Wenzel: Die Juden als Bestandteil der oberschlesischen Bevölkerung (s. Titelliste im Anhang) stützen. 24 Mosse: Jews in the German Economy (s. Titelliste im Anhang). 25 Ebd. S. 306.

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daran bestimmte Züge aufzuzeigen. Auch wenn für die Vergabe des Kommerzienrattitels bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts feste Kriterien galten und diese relativ streng angewandt wurden, bleibt doch zu bedenken, daß über die Verleihung des Titels der Staat entschied - auch nach politischer Loyalität -, die Auswahl der hier als Wirtschaftselite vorgestellten Gruppe also von außerökonomischen Kriterien mit beeinflußt war. Dabei stellt Mosse fest, daß es zwar »periphere Vorurteile gegen jüdische Kandidaten, aber nie eine systematische Diskriminierung«26 gegeben habe. Oft bemühten sich Juden von sich aus um den Titel - was darauf hindeutet, daß diese äußere staatliche Anerkennung zumindest teilweise frühere innerjüdische Prestigekriterien ablöste. Die Leistungen dieser Elite im Kaiserreich diskutiert Mosse unter Heranziehung der Befunde von Simon Kuznets über Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftsleben der Juden.27 Daß er nur teilweise Übereinstimmungen finden kann, erklärt sich, wie auch Mosse selbst bemerkt, natürlich daraus, daß Kuznets seine Schlüsse vor allem aus der Untersuchung der Juden in Osteuropa sowie der jüdischen Einwanderer in den USA und in Palästina/Israel ableitete. Beim Vergleich der Spitze der jüdischen Wohlstandselite, den Besitzern von mehr als 15 Millionen Mark, mit dem Rest dieser Elite sowie den nichtjüdischen Entsprechungen hat Mosse eine Korrelation zwischen Judentum, Reichtum, Fruchtbarkeit und einer völlig ungleichen Geschlechterproportion unter der Nachkommenschaft festgestellt. Der Mangel an männlichem Nachwuchs mag zwar auffallend und für die Weiterexistenz der Firma eine gewisse Belastung sein - doch die geringe Zahl des Spitzensamples läßt jede weitere Berechnung nach Prozentsätzen als statistische Falle und damit wenig sinnvoll erscheinen.28 Für die dritte Elite werden solche Überlegungen nicht mehr angestellt - denn bei ihr geht es ja um leitende Manager (Direktoren und Generaldirektoren) als Funktionselite und Aufsichtsratsmitglieder als Positionselite, die nur noch zum kleineren Teil selbst auch Besitzer eines Unternehmens waren. Hier stellt Mosse - entgegen bisher gängigen Anschauungen - fest, daß der Rückgang der Privatbanken nicht mit einem Niedergang der jüdischen Rolle im Bankwesen verbunden war. Daß auch in dieser Elite der Wirtschaftsführer von Aktiengesellschaften Juden stark vertreten waren, zeigt nach Mosse ihre außerordentliche Anpassungsfähigkeit an ein Zeitalter neuer Wirtschaftsformen. Von besonderem Interesse scheint seine Analyse der Zusammensetzung der Aufsichtsräte jüdischer Unternehmen und Banken. Hier 26 27

Ebd. S. 83.

Simon Kuznets: Economic Structure and Life of the Jews. In: Louis Finkelstein (Hg.): The Jews. Their History, Culture and Religion. 3. Aufl. New York: Harper & Row 1960, Bd. 2,5.1597-1666. 28 Mosse: Jews in the German Economy, S. 214-217. Darüber hinaus müssen die von einander abweichenden Angaben in Tab. 7 und Tab. 9 - jeweils über die jüdische Spitzengruppe - stutzig machen: Sie ist einmal mit 31 Personen beziffert, (darunter 26 mit genauen Angaben, die zusammen 63 Kinder hatten, davon 21 Söhne), einmal mit 32 (20 mit genauen Angaben, 48 Kinder, 15 Söhne).

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gab es einerseits eine enge Verflechtung (durch gegenseitige Aufnahme in die jeweiligen Aufsichtsräte), andererseits waren aber alle Aufsichtsräte »ethnisch gemischt«. Doch die nichtjüdischen Mitglieder gehörten üblicherweise nur dem Aufsichtsrat e i n e s Unternehmens an, waren ihrer Zusammensetzung nach heterogen: hohe ehemalige Beamte, die die Verbindung zum öffentlichen Sektor herstellen konnten, technische Spezialisten, aber auch Geschäftspartner. Mosse hat aus seiner Untersuchung den Schluß gezogen, daß diese Nichtjuden - abgesehen von ihrer Qualifikation - vermutlich auch herangezogen wurden, um dem Unternehmen nicht das Erscheinungsbild eines »jüdischen« zu geben. Insgesamt kommt er zu dem Ergebnis, daß Juden, auch wenn sie sich besonders im Bankwesen und im Handel konzentrierten, doch in allen Industriezweigen vertreten waren, nicht nur in Randgebieten oder in den von den Nichtjuden nicht ausgefüllten Lücken. Sie hätten im gesamten Untersuchungszeitraum eine bedeutende Rolle im deutschen Wirtschaftsleben gespielt und zur Entwicklung des Kapitalismus beigetragen. Entgegen herkömmlichen Anschauungen sei ihre Rolle im Zeitalter der Hochindustrialisierung nicht zurückgegangen. Die Art ihrer Leistung beschreibt Mosse mit dem Begriff »Integration« - bei der Schaffung einer reichsweiten deutschen Volkswirtschaft, insbesondere der Herstellung von Verbindungen zwischen den östlichen und westlichen Teilen der preußischen Monarchie und durch Verbindung des Ruhrgebiets mit dem Berliner Kapitalmarkt, sowie durch Integration der deutschen Wirtschaft in die Weltwirtschaft. Insofern ihre Rolle der der Nichtjuden komplementär gewesen sei, seien auch die Juden für die deutsche Wirtschaftsentwicklung nötig gewesen. Das ist die Gegenposition zu der Barkais, der die Ansicht vertritt, daß die deutsche Industrialisierung ohne Juden wohl kaum anders verlaufen wäre.29 Daß Mosse herkömmliche Sichtweisen überprüft, ist uneingeschränkt zu begrüßen. Noch mehr, daß er dabei im allgemeinen vorsichtig abwägt - etwa, welche Faktoren in der Weimarer Zeit auf einen möglichen l a n g f r i s t i g e n Rückgang des jüdischen Anteils an der deutschen Wirtschaft hinwirkten: Da findet er einerseits auch Kriegsfolgen und muß andererseits die Frage offen lassen, ob Juden von der Depression überproportional betroffen waren. Eine direkte »Verdrängung« der ethnisch definierten »Juden« (inklusive der Getauften) vermag er aber nicht auszumachen, und schon gar nicht den bisher für sicher gehaltenen Rückgang im Bankwesen.30 Gelegentlich scheint allerdings die Grundlage für diese Schlußfolgerungen etwas »zufällig«.31 Vor allem wäre aber angesichts solcher neuen Thesen eine explizite 29

Barkai: At the Start of Industrialisation (Kap. 5, Anm. 44), S. 144f. Ebenso später in Barkai: Minderheit und Industrialisierung, S. 3f. 30 So spricht etwa auch Niewyk: The Impact of Inflation (s. Titelliste im Anhang), S. 34 von einem absoluten und relativen Rückgang der jüdischen Bankiers und Unternehmer in der Weimarer Republik. 31 So Mosse selbst über die Juden im Handelssektor: »These details are presented somewhat at random, simply to show that, in various aspects of commerce, men of Jewish origin continued to play an active role under the Weimar Republic.« (Mosse: Jews in the German Economy, S. 362).

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Auseinandersetzung mit der vorliegenden Fachliteratur, soweit sie zu gegenteiligen Schlüssen kommt, angezeigt. Doch auf Barkai (1981), Niewyk (1983) und Prinz (1984) einzugehen, sah sich Mosse für die vorliegende Publikation (1987) offenbar nicht mehr imstande. Offensichtlich ist aber, daß sich die unterschiedliche Einschätzung zum Teil aus dem von Mosse benutzten weiten Begriff der Juden (inklusive Getaufter) im Gegensatz zu der Definition der Juden nach Religionszugehörigkeit bei den anderen Autoren erklärt. Die Frage, ob es ein spezifisch jüdisches Wirtschaftsverhalten, einen jüdischen Geschäftsstil gegeben habe, wirft Mosse im Lauf seiner Untersuchung mehrfach auf. Er weist einerseits auf die methodischen Probleme hin - die Definition von Vergleichskriterien, den zweifelhaften Vergleich einzelner Unternehmen, die Gewichtung des ethnischen und der anderen Faktoren. Jüdische Spezifika in dem Sinne, daß alle Juden, aber auch nur sie diese Züge aufweisen, gebe es nicht. Andererseits seien sie als soziale Gruppe distinkt gewesen und hätten als ökonomische Einheit ebenfalls eine Reihe eigentümlicher Züge gehabt. Eine direkte Entsprechung zwischen dem Judesein und einem bestimmten Wirtschaftsstil sieht er nicht, aber er erkennt doch Anzeichen eines solchen Stils, auch wenn es keinen strikten Beweis dafür geben könne.32 Ahnlich hat Hans Dieter Hellige versucht, Spezifika der Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassung jüdischer Unternehmer zu ermitteln, allerdings - was den Ansatz problematisch macht - nur anhand der Analyse einzelner Persönlichkeiten und wiederum unter Einschluß Getaufter.33 Unternehmerideologie und Gesellschaftsbild, so sein Befund, waren so stark von individuellen Erfahrungen und der Zugehörigkeit zu einzelnen Branchen geprägt, daß eine eindeutige Abgrenzung der jüdischen von der nichtjüdischen Unternehmerschaft nicht möglich sei: »Das Spektrum reicht [...] vom reaktionären Herr-im-Hause-Standpunkt und einer gegenüber sozialen Fragen völlig gleichgültigen Laissez-faire-Position über vermittelnde liberalkonservative bzw. liberalpatriarchalische Einstellungen bis zu einem dezidiert liberalemanzipatorischen, sozialreformerischen Engagement.« Trotzdem meint Hellige, bei den untersuchten Unternehmern charakteristische Züge erkennen zu können: »Ausgeprägte Symptome der >RefeudalisierungMaterialismusCirculus vitiosus< der jüdischen Minderheitsgruppe wurde auch dadurch nicht durchbrochen, sondern noch mehr eingeengt: die jüdische Konzentration in Berufen, die einen verstärkten Eintritt nichtjüdischer Erwerbstätiger verzeichneten und die dazu z. T. durch die allgemeine Entwicklung krisenanfällig waren, verschärften durch die Konkurrenz auch antisemitische Ressentiments[,] und diese erschwerten wiederum die jüdische Integration auf wirtschaftlichem Gebiet.«38 Wenn die Berufsstruktur insgesamt weitgehend unverändert blieb, so heißt das nach Barkai nicht, daß die Juden »die sich ihnen bietenden Aufstiegsmöglichkeiten industrieller Mobilität [...] willkürlich« ausgeschlagen hätten, »weil sie unbedingt selbständige Ladenbesitzer bleiben wollten, sondern weil die objektiven Chancen umgebungsbedingter Entwicklungen nicht unbedingt auch einer ethnischen Minderheit offenstehen. Auch nachdem im Prinzip alle legalen Einschränkugen beseitigt waren, bewiesen gesellschaftliche und psychologische Schranken innerhalb und außerhalb der jüdischen Gruppe eine erstaunliche Langlebigkeit.«39 Wie man sieht, wird damit die Erklärung des sozioökonomischen Verhaltens z. T. in den außerwirtschaftlichen Bereich verlagert. Das ist so, wie es sich in diesem Zitat spiegelt, auch durchaus akzeptabel. Insgesamt allerdings neigt Barkai bei der Anlehnung an das von Simon Kuznets aufgestellte Hypothesenmodell über das Wirtschaftsverhalten von Minderheiten40 dazu, diese Hypothesen nicht nur als Hilfe zur Interpretation seiner statistischen Befunde heranzuziehen (die dann allerdings die Auswertung weiterer nichtstatistischer Quellen erfordern würde), sondern ihnen den Charakter von Erklärungen zu verleihen. Gewiß beweist die fortbestehende eigentümliche Berufsstruktur, daß - wie schon bei der Bevölkerungsentwicklung - auch in diesem Bereich die Angleichung an die Mehrheit ausblieb.41 Insofern als in dem Kuznets'schen Modell aber sowohl in der Umwelt wie auch bei der Minderheit selbst liegende Bestimmungsfaktoren eine Rolle spielen und zu letzteren der Wunsch nach innerem Zusammenhang und Anschlußbedürfnis gehört, stellt sich die Frage, ob das sozioökonomische und demographische Verhalten zugleich - vermutlich unbewußte - Vorbehalte gegen eine vollständige Angleichung spiegeln. Doch da in beiden Fällen sowohl mentale als auch materielle Faktoren eine gewichtige Rolle spielen (die sich selbstverständlich auch gegenseitig beeinflussen), wird diese Frage nur schwer zu klären sein.

38

Barkai: Minderheit und Industrialisierung, S. 50. Ebd. S. 9. 40 S. Simon Kuznets: Economic Structure of U. S. Jewry. Recent Trends. Jerusalem 1972. S. außerdem Kuznets: Economic Structure of the Jews (Anm. 27), S. 1597-1604. Eine Zusammenfassung dieses Modells findet man bei Barkai: Sozialgeschichtliche Aspekte, S. 258-260 und Barkai: Minderheit und Industrialisierung, S. 44—47. 41 Barkai: Minderheit und Industrialisierung, S. 51. 39

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Bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren die Juden »eine demographisch und wirtschaftlich im Rückzug begriffene Minderheitsgruppe.«42 Ihre weitere Entwicklung in der Weimarer Republik bleibt noch eingehender zu untersuchen. Bisher liegen dazu nur solide Skizzen vor.43 Wie der gesamte Mittelstand wurden auch die Juden von Krieg und Inflation stärker betroffen als andere Schichten. Mochten wenige Großindustrielle von der Inflation profitieren - die Masse der kleinen Ladenbesitzer und Händler verlor ihre Ersparnisse, und die bei den Juden aufgrund der Überalterung größere Gruppe von Rentnern und Pensionären litt unter dem Wertschwund ihrer festen Einkommen. Die Wirkungen der Inflation wie auch der Depression auf die jüdische Bevölkerung, jüdische Betriebe und jüdische Gemeinden, aber auch der verschiedenen Formen der Anpassung an die neue Situation hat Donald L. Niewyk gezeigt.44 Zu den Folgen der Inflation gehörten der Einkommensrückgang, eine zunehmende Bedürftigkeit (die sich in der Inanspruchnahme jüdischer Wohltätigkeit dokumentierte), eine steigende Selbstmordrate, Schwankungen im Anteil der Juden an der Studentenschaft. Auch für die Juden war die Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit infolge der Weltwirtschaftskrise ein ernstes Problem. Die jüdischen Angestellten wurden wohl noch stärker als die nichtjüdischen getroffen, weil insbesondere in der Bekleidungsbranche, wo sich die Juden konzentrierten, die Nachfrage stärker zurückging als in anderen Konsumbereichen, weil in der Provinz antisemitische Boykottaufrufe zu Betriebsschließungen führten und arbeitslose Juden kaum in nichtjüdischen Unternehmen unterkommen konnten. Doch Inflation und Depression verursachten nach Niewyks Befund den Rückgang ökonomischer Prosperität nicht, sondern sie beschleunigten nur den Prozeß, der vor dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte. Daran hatte die Beständigkeit der traditionellen Berufsstruktur einen entscheidenden Anteil: Die Konzentration im Handel ging im Vergleich zur Vorkriegszeit nur wenig zurück, auch die Selbständigkeit blieb typisch. Nur der Anteil in den freien Berufen nahm deutlich zu. »Dies bedeutet, daß die Juden in ihrer Mehrheit auch in der Periode rapider Hochindustrialisierung und kapitalistischer Konzentration im >alten Mittelstand< steckengeblieben waren. Die ihnen immer wieder zugeschriebene wirtschaftliche Wendigkeit hatte sich nicht bewährt. Sie hielten an ihren überkommenen Berufen und ihrem selbständigen Sozialverhältnis auch dann noch fest, als diese ihnen schon längst 42

Avraham Barkai: Die Juden als sozio-ökonomische Minderheitsgruppe in der Weimarer Republik. In: Grab/Schoeps (Hg.): Juden in der Weimarer Republik (s. Titelliste im Anhang), S. 330-346, hier S. 330. 43 Neben Barkai: Weimarer Republik (Anm. 42) s. außerhalb des Untersuchungsraums dieses Forschungsberichts auch: Esra Bennathan: Die demographische und wirtschaftliche Struktur der Juden. In: Werner E. Mosse/Arnold Paucker (Hg.): Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik. (Schriftenreihe LBI13) Zweite, revidierte und erweiterte Aufl. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1966,5.87-131. 44 Niewyk: The Impact of Inflation.

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keine wirtschaftlichen Vorteile mehr versprachen.«45 Aber auch wenn die statistischen Daten der Volks- und Berufszählungen 1925 und 1933 allein keine Tendenz zur Produktivierung zeigen - schließlich hatte die Mehrheit der damals Erfaßten ihren Beruf noch vor dem Krieg (und der Inflation!) gewählt -, ist bei der Berufswahl Jugendlicher in der Weimarer Republik ein gewisser Trendumschwung zu beobachten: Weg vom selbständigen Handel, hin zu den freien und Angestellten-, aber auch zu manuellen Berufen.46 Es wäre zu überlegen, ob sich über die allgemeine jüdische Presse hinaus, die ihren Lesern die Notwendigkeit der »Berufsumschichtung« immer wieder vor Auge führte, nicht weitere Quellen (etwa in der Fachpresse für jüdische Sozialpolitik, die auch Berichte der Berufsberatungsstellen enthielt,47 in den Gemeindeblättern und Memoiren) und damit Wege zu einer genaueren Analyse dieses Prozesses finden ließen. Intensiv gesucht wird bereits nach jüdischen Arbeitern,48 genauer nach »jüdischen Industriearbeitern«. Das ist selbstverständlich eine völlig legitime Fragestellung, doch vermitteln verschiedene Beiträge den Eindruck, daß dabei auch außerwissenschaftliche Interessen oder Bewertungen mitspielen - sei es eine Sympathie für die Arbeiterschaft oder die Bemühung um die Vervollständigung und damit Normalisierung der jüdischen Berufsstruktur (was an alte apologetische Bemühungen erinnert und, indem die abweichende Berufsstruktur als Manko erscheint, im Prinzip das Stereotyp bekräftigt). Marie-Elisabeth Hilger hat auf der Grundlage der vorliegenden Sekundärliteratur den »Versuch einer Bestandsaufnahme«49 unternommen, die allerdings mit der Fülle der Zitate dar-

45

Barkai: Weimarer Republik (Anm. 42), S. 334. Ebd. S. 334-336. 47 Zedakah. Zeitschrift der jüdischen Wohlfahrtspflege (1925-1928); Jüdische Arbeitsund Wanderfürsorge (1927-1929); Zeitschrift für jüdische Wohlfahrtspflege (1929); Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik (1930-1937). 48 Seit langem in Vorbereitung ist eine Habilitationsschrift von Ludger Heid (Duisburg) über »Das ostjüdische Proletariat im rheinisch-westfälischen Industriegebiet 1914— 1922«. Als Vorstudien dazu s. Heid: East European Jewish Workers (s. Titelliste im Anhang); Ludger Heid: Ostjüdische Kultur im Deutschland der Weimarer Republik. In: Schoeps (Hg.): Träger bürgerlicher Kultur (s. Titelliste im Anhang), S. 329-355. In dem letztgenannten Aufsatz gelingt es Heid erstaunlicherweise, ohne jeden Hinweis auf die in Anm. 52 genannten Forschungen (sowie bezüglich des Ersten Weltkriegs auch ohne Hinweis auf Zechlin: Die deutsche Politik [Kap. 8, Anm. 92]) auszukommen und so den Eindruck zu vermitteln, daß die Kulturaktivitäten ostjüdischer Arbeiter und die Tourneen bzw. Etablierung ostjüdischer Theater in Deutschland von ihm zum ersten Mal beschrieben würden, während tatsächlich vieles davon (inklusive der eindrücklichen Zitate) auch in anderen Arbeiten enthalten ist. - Andere Aufsätze desselben Verfassers betreffen einzelne Städte oder Personen. Eine eingehende Bewertung der bis 1986 vorliegenden Aufsätze findet sich in Maurer: Ostjuden in Deutschland, S. 776 Anm. 40. 49 Marie-Elisabeth Hilger: Probleme jüdischer Industriearbeiter in Deutschland. In: Freimark/Jankowski/Lorenz (Hg.): Juden in Deutschland (s. Titelliste im Anhang), S. 304-325, hier S. 320. 46

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aus50 nicht zu neuen Erkenntnissen führt und auch zu der von ihr kurz skizzierten Definitionsproblematik nichts beisteuert. Die weit gespannten Fragen, die sie abschließend aufwirft, sind gewiß interessant, aber, wie sie selbst schon vermutet, nicht alle beantwortbar.51 Manche allerdings s i n d bereits beantwortet - so die zur jüdischen Arbeiterschaft in Osteuropa. - Zu den Ostjuden in Deutschland, unter denen der Anteil der Arbeiter höher war als unter den deutschen Juden, aber doch nicht die Mehrheit bildete, sind in den letzten Jahren einige grundlegende Monographien erschienen, die allerdings - aufgrund der Quellenlage mehr das Ostjudenbild bei deutschen Juden und Nichtjuden, die deutsche Politik gegenüber der ostjüdischen Zuwanderung und die Beziehungen zwischen deutschen Juden und Ostjuden innerhalb der jüdischen Gemeinschaft als die Ostjuden s e l b s t behandeln.52

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Z. T. gibt sie ihnen, indem sie sie aus dem Zusammenhang reißt, eine polemische Spitze. Man vergleiche etwa ebd. S. 306 (>unbedeutender Anteil·) oder S. 323 Anm. 44 mit den Originalen. 51 Ebd. S. 320: »Unklar ist, ob sie unbeantwortbar sind.« 52 Da zum einen die Verfasserin dieses Forschungsberichts selbst zu den Autoren gehört, zum anderen auch bereits durch einen zusammenfassenden Artikel und diverse Rezensionen versucht hat, den Forschungsstand zu bestimmen, scheint es angezeigt, hier auf eine eingehendere Besprechung zu verzichten. Die Monographien: Aschheim: Brothers and Strangers (s. dazu meine Rezension in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 31 [1983], S. 568-571); Wertheimer: Unwelcome Strangers (s. Titelliste im Anhang) (s. dazu meine Rezension in: Historische Zeitschrift 247 [1988], S. 714f. sowie als ausführlichere Würdigung: Unerwünschte Fremde. Anmerkungen zu Jack Wertheimers gelungener Monographie über die Ostjuden im Kaiserreich. In: Babylon 3 [1988], S. 116-122); Maurer: Ostjuden in Deutschland. Die Zusammenfassung mit Hinweisen auf Desiderate der Forschung: Maurer: Ostjuden und deutsche Juden (s. Titelliste im Anhang). Zu Forschungen über ostjüdische Arbeiter s. Anm. 48.

7. Die Juden im politischen Leben

Im politischen Leben markiert das Jahr 1848 einen Wendepunkt im Verhältnis von jüdischer Minderheit und nichtjüdischer Mehrheit. Juden nahmen zum ersten Mal aktiv und in größerer Zahl, z. T. in Führungsposition, am politischen Geschehen teil. Sie hörten auf, nur »passive Objekte« der Politik zu sein. Daher brachte dieses Jahr auch einen grundlegenden Wandel im Selbstverständnis der europäischen Judenheit.1 Zugleich war 1848 das entscheidende Jahr für das Zusammengehen von Juden und Liberalen. Zum ersten Mal stand die Emanzipation der Juden auf der Tagesordnung eines gesamtnationalen politischen Forums, und das Paulskirchenparlament beschloß, vor allem dank der Bemühungen seines zweiten Vizepräsidenten, Gabriel Riessers, mit den Grundrechten des deutschen Volkes auch die volle bürgerliche und politische Gleichberechtigung der Juden.2 Die jüdisch-liberale »Weggemeinschaft«,3 die bereits im Vormärz begonnen hatte, erreichte hier ihren ersten Höhepunkt und prägte die weitere politische Entwicklung der deutschen Judenheit. Die Lage der Juden in der Revolution, ihre Teilnahme an der politischen Bewegung und die Frage der Emanzipation hat systematisch, dabei verschiedene europäische Länder vergleichend, Reinhard Rürup untersucht.4 Die Revolution war durchaus doppelgesichtig, geprägt von Widersprüchen und Uneindeutigkeiten: 1

Reinhard Rürup: The European Revolutions of 1848 and Jewish Emancipation. In: Mosse/Paucker/Rürup (Hg.): Revolution and Evolution (s. Titelliste im Anhang), S. 1-53, hier besonders S. 52, 31 (Zitat). - Weitere Titel zur Stellung der Juden in der Revolution von 1848, vor allem zur Lokalgeschichte und zu einzelnen Persönlichkeiten, bespricht Dieter Langewiesche: Die deutsche Revolution von 1848/49 und die vorrevolutionäre Gesellschaft: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, Teil II. In: Archiv für Sozialgeschichte 31 (1991), S. 331^43, hier S. 392-396. Dort finden sich außerdem wichtige Hinweise auf die Berücksichtigung der Juden in allgemeinen Studien. 2 Peter Pulzer: Jews and the Crisis of German Liberalism. In: Deutsches Judentum und Liberalismus (s. Titelliste im Anhang), S. 124-138, hier S. 124. 3 So zuerst Jacob Toury: Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland. Von Jena bis Weimar. (Schriftenreihe LEI 15) Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck ) 1966, S. 31 sowie auch als Überschrift des Teils C: »Die Weggemeinschaft mit den Liberalen (1858-1878)«. Der Begriff ist inzwischen in die Historiographie eingegangen. S. z.B. Dieter Langewiesche: Liberalismus und Judenemanzipation in Deutschland im 19. Jahrhundert. In: Freimark/Jankowski/Lorenz (Hg.): Juden in Deutschland (s. Titelliste im Anhang), S. 148-163, hier S. 148; Werner E. Mosse: Einleitung: Deutsches Judentum und Liberalismus. In: Deutsches Judentum und Liberalismus (s. Titelliste im Anhang), S. 15-21, hier S. 17, 20. 4 Rürup: European Revolutions (Anm. 1).

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Hier standen sich aufrichtige und emphatische Unterstützung der Emanzipationsforderung sowie aktive Teilnahme der Juden auf der einen und antijüdische Ausschreitungen (die Rürup für durchaus den Verfolgungen des Mittelalters und den Hep-Hep-Unruhen von 1819 vergleichbar hält) auf der anderen Seite gegenüber.5 Schließlich begannen schon hier die Vorstellungen zu entstehen, die für den späteren Antisemitismus so charakteristisch sind und von der bereits vollzogenen Emanzipation ausgehen.6 Nicht einmal bezüglich des Rechtsstatus brachte die Revolution klare Ergebnisse, da die Erfolge sowieso beschränkt oder jedenfalls nur von kurzer Dauer waren. Und was die gesellschaftliche Emanzipation betraf, so konnte die Revolution den Prozeß allenfalls beeinträchtigen oder beschleunigen. 1848 war weder der Beginn noch der Abschluß des Emanzipationszeitalters, die Entwicklung der Emanzipation insgesamt nicht von der Revolution bestimmt. Mit diesem Ergebnis bekräftigt Rürup zugleich seine früheren Thesen vom Zusammenhang zwischen der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und der Emanzipation der Juden:7 Letztere war gewissermaßen ein Begleitphänomen der ersteren. Rürups Befunde werden unterstrichen und pointiert von Werner E. Mosse, der in seiner Bilanz der Konferenz über das Jahr 1848 in der deutschjüdischen Geschichte die Emanzipation und ihre Grenzen behandelt:8 Die wirtschaftliche und kulturelle Emanzipation sei der politischen vorausgegangen, doch habe der kulturelle Wandel und die Lösung der Bande zum traditionellen Judentum nicht zur sozialen Integration geführt. Ja, im Blick auf die gesellschaftliche Annäherung im Vormärz9 sei die soziale Integration von der Revolution allenfalls angehalten, wenn nicht gar umgekehrt worden. Die rechtliche Emanzipation 1869/71 sei das Ergebnis der Phase relativer ökonomischer Prosperität und des Fortschritts des Liberalismus gewesen. Und selbst wenn 1848 die Revolution gesiegt hätte, wäre das Ergebnis der Gleichberechtigung auf der Grundlage der Paulskirchenverfassung kaum anders gewesen als die Emanzipation 1869/71. Auch die Paulskirche sei national, zentralistisch, »unitarisch« ge5

Leider ist Jacob Tourys grundlegende Monographie dazu bisher nicht aus dem Hebräischen übersetzt worden: Turmoil and Confusion in the Revolution of 1848. The Anti-Jewish Riots in the »Year of Freedom« and their Influence on Modern Antisemitism. Merhavia 1968 (hebr.). 6 Auf die Bedeutung der Revolution für die Entwicklung des Antisemitismus hat bereits Jacob Toury mit seiner Monographie (s. Anm. 5) und kurz auch in einem weiteren zum Thema 1848 insgesamt einschlägigen Aufsatz hingewiesen: Die Revolution von 1848 als innerjüdischer Wendepunkt. In: Arnold Paucker/Hans Liebeschütz (Hg.): Das Judentum in der Deutschen [!] Umwelt 1800-1850. Studien zur Frühgeschichte der Emanzipation. (Schriftenreihe LEI 35) Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1977, S. 359-376, hier S. 375f. 7 S. besonders Rürup: Judenemanzipation und bürgerliche Gesellschaft (Kap. l, Anm. 27). 8 Werner E. Mosse: The Revolution of 1848. Jewish Emancipation in Germany and its Limits. In: Mosse/Paucker/Rürup (Hg.): Revolution and Evolution (s. Titelliste im Anhang), S. 389-401. 9 S. dazu Toury: Geschichte der Juden 1847-1871 (Kap. 3, Anm. 1), S. 119f.

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wesen, habe für die Gleichberechtigung auf der Grundlage eines wahren ethnischen oder religiösen Pluralismus keinen Platz gelassen. Innerhalb der Judenheit lassen sich nach Rürup in der Revolutionszeit sowohl Tendenzen zur Desintegration wie auch ein neues Selbstververständnis und der Glaube an einen dauernden Platz für das Judentum in einer veränderten Welt finden - ein Komplex, den er allerdings nur sehr knapp und auf den damals auftretenden Begriff der »Selbst-Emancipation« konzentriert behandelt. Gerade in diesem Punkt wäre vielleicht eine eingehendere Auseinandersetzung mit Tourys Aufsatz über Die Revolution von 1848 als innerjüdiscber Wendepunkt wünschenswert gewesen, der in der Revolution »den Anfang vom Ende der vorher noch gefühlten Gruppenverantwortung« sieht. »An ihrer Stelle erschienen nun die mit der Gruppe nur lose zusammenhängenden Staatsbürger jüdischen Glaubensliberale< Wahrnehmung der Modernitätskrise gerade den Weg für ein neues Interesse an den spezifischen religiösen und kulturellen Traditionen des Judentums.« (S. 98) »Die neuzeitliche Theologie kann keine solche Übereinstimmung von Theologie und Kultur, Christentum und Gesellschaft proklamieren, die dem Muster des alten politischen Konzepts des Corpus Christianum entspricht.« (S. 106) Zum Verhältnis der liberalen protestantischen Theologie zur Wissenschaft des Judentums in der Weimarer Zeit s. o. S. 50. 21 Langewiesche: Liberalismus und Judenemanzipation (Anm. 3), S. 153.

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chen Vollemanzipation der Juden auch früher als sie ihn gegenüber anderen Gruppen der Gesellschaft zu tun bereit waren.«22 Der Frage, ob es auch bei den Juden selbst eine Emanzipationsbewegung gegeben habe, ist Robert Liberles nachgegangen: Er konnte im Vormärz, genauer: 1828-1848, nicht nur für jeden Staat und für fast jede Gemeinde einen vielfältigen Kampf der deutschen Juden für die rechtliche Gleichheit und die Beseitigung sozialer Diskriminierung feststellen - sondern auch einen einigenden Zusammenhang dieser Bestrebungen untereinander. Ihre Sprecher kamen aus zwei verschiedenen Gruppen: den Freiberuflern, die damit auch auf ihre persönliche Benachteiligung reagierten, und den Rabbinern, die zwar die politische Perspektive der Freiberufler teilten, denen es aber besonders um die Sicherung jüdischer Rechte schon im bestehenden System und die Beseitigung der Herabsetzung des Judentums (etwa durch den Judeneid oder die Ausschließung von der Wehrpflicht) ging. Und nur in dieser Phase hatten die Rabbiner an der politischen Vertretung der Judenheit gewichtigen Anteil: Ihnen voraus gingen die Gemeindeführer (wie z.B. David Friedländer); später - etwa im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens - spielten die Juristen die wesentliche Rolle. Das Instrument der Emanzipationsbewegung war die jüdische Presse, in der die Frage der Emanzipation neben der religiösen Kontroverse den zweiten inhaltlichen Schwerpunkt bildete. Und indem sie in ihren Lokalmitteilungen aus so vielen Orten über Emanzipationsbestrebungen berichtete, stellte sie zugleich einen Zusammenhang der Solidarität zwischen ihnen her.23 Mit seinen Thesen über die Bedeutung der Presse und die Übereinstimmung von Liberalen und Orthodoxen erneuert und bekräftigt Liberles ähnliche Beobachtungen Jacob Tourys, ohne jedoch auf diese hinzuweisen. (Allerdings vermag Toury entprechend seinen schon erläuterten Befunden 1848 keinen »jüdisch-organisierten Emanzipationskampf« auszumachen.)24 In der Revolution 1848 schließlich wollten die Juden sich nach Liberles durch Gesetz das sichern, was ihnen die Gesellschaft verweigert hatte: eine gleichberechtigte Stellung und volle ökonomische Möglichkeiten. Daß das Streben nach Emanzipation keine Frage der religiösen Bindung war, sondern Reformorientierte wie Orthodoxe zu diesem Zeitpunkt gleichermaßen umgriff, belegt er mit der Beteiligung zahlreicher Gemeinden an Petitionen in den vierziger Jahren und der Reaktion auf den Vorschlag des Herausgebers der Kreuzzeitung 1856, die Gleichberechtigung wieder aus der preußischen Verfassung zu streichen.25 22 23

Ebd. S. 159.

Liberles: Movement for Emancipation (s. Titelliste im Anhang). 24 Toury: Innerjüdischer Wendepunkt (Anm. 6), S. 361, 363f., Zitat S. 364. 25 Bezüglich des kurzen Ausblicks auf die Zeit nach 1848 scheinen allerdings Zweifel angebracht, zumindest in bezug auf den fehlenden Enthusiasmus nach Erlangen der Gleichberechtigung 1869/71. Die Behauptung, daß es in Memoiren und persönlicher Korrespondenz keinen Hinweis auf das Ereignis der Emanzipation gebe, ist jedenfalls voreilig. S. als Gegenbeispiel die Erinnerungen Martin Lövinsons in Richarz: Jüdi-

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Für die »Gründer und Organisatoren« der drei religiösen Richtungen - der Reformbewegung (Abraham Geiger), des historisch-konservativen Judentums (Zacharias Frankel) und der Neoorthodoxie (Samson Raphael Hirsch)26 - hat Ephraim Navon für den Zeitraum 1830-1851 die theologischen Äußerungen, ihr Verhalten als Rabbiner und ihre »Politik« als Teil des europäischen Liberalismus untersucht.27 Danach zogen sie sich von der politischen Aktion zurück und widmeten sich der Wissenschaft des Judentums, um ihren religiösen und politischen Ideen eine neue, gelehrt-wissenschaftliche Dimension zu geben. Mit seiner Analyse will Navon zeigen, daß sie auch patriotische Deutsche der Mittelschicht gewesen seien, die die liberale Sichtweise ihrer Schicht teilten. Während für Geiger Emanzipation und Religionsreform miteinander verbundene Konzepte waren, ja sich gegenseitig zur Voraussetzung hatten, bestand für Frankel kein Zusammenhang. Für Hirsch gehörten sie zwar beide zu seiner messianischen Vision, waren aber nicht kausal miteinander verbunden. Alle drei wollten das ethische Element des Judentums an die Öffentlichkeit bringen und an der Schaffung einer neuen europäischen Gesellschaft teilnehmen, die nicht nur eine Familie verschiedener Nationen sei, sondern auch eine friedliche Föderation von Rechtsstaaten, in denen Juden wie alle ethnischen und religiösen Minderheiten das volle Bürgerrecht erhielten. Die Zeit der jüdisch-liberalen Weggemeinschaft28 haben Werner E. Mosse und - eingehender - Peter Pulzer betrachtet.29 Während Mosse diese Weggemeinschaft in ihren Gemeinsamkeiten und Spannungen in zwei Phasen charakterisiert - von der Aufklärung bis zur Reichsgründung und von dort bis zum Ende der Weimarer Republik -, wobei der Begriff »Liberalismus« entsprechend weit gefaßt wird, hat Pulzer sich auf die Krisen des Liberalismus (1848, 1866, 1878) konzentriert. Für die Juden, so Pulzer, meinte Liberalismus nicht in erster Linie Detailfragen der Verfassung, sondern eine bestimmte Gesellschaftsform: eine offene, individualistische Gesellschaft, die Chancengleichheit und Verdienste des einzelnen über sozialen Status und protektionistisches Standesdenken stellte. Als dann die parlamentarische Schwäche des Liberalismus deutlich wurde, als Intersches Leben in Deutschland, Bd. l (Kap. 5, Anm. 7), S. 248-256, hier S. 255f. (»So war denn auch in unsern Kreisen die Freude und Hoffnung eine fast unbeschreibliche. Nicht, daß nun jeder Jude eine Staatsstellung ersehnt hätte; aber daß das Gefühl der grundsätzlichen Entrechtung, eines Helotentums, von uns genommen schien, das hob den Sinn [...]«.) 26 S. dazu o. S. 13-27, zur Problematik des Gründer-Begriffs besonders S. 17, 24f. 27 Ephraim Navon: The Relationship of Religious Thought and Liberal Politics in the Writings of Abraham Geiger, Zacharias Frankel and Samson Raphael Hirsch: 18301851 (laut Inhaltsverzeichnis: The German Jewish Religious Establishment and the Revolution of 1848 in Germany and the Habsburg Empire [!]). In: Grab (Hg.): Jüdische Integration und Identität (s. Titelliste im Anhang), S. 153-178. 28 Diese enge Verbindung meint natürlich nie, daß alle Juden Liberale waren. Speziell für die jüdischen Unternehmer stellt diese Gleichung Hans Dieter Hellige: Jüdische Unternehmer (Kap. 6, Anm. 33), in Frage. S. dazu o. S. 95f. 29 Mosse: Einleitung (Anm. 3); Pulzer: Crisis of Liberalism (Anm. 2).

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essenkonflikte auch zwischen verschiedenen Teilen des Liberalismus herrschten und pressure groups sich auch in Mittel- und Oberschicht bildeten, setzten auch die Juden ihre Hoffnungen auf Lobbies, deren Existenz ursprünglich als mit dem klassischen Liberalismus unvereinbar gegolten hatte. Sie schufen den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und - gemeinsam mit Nichtjuden - den Verein zur Abwehr des Antisemitismus.30 Der Liberalismus der Weimarer Republik schien für das jüdische Streben nach einer offenen Gesellschaft besser geeignet. Das aber war - nach Pulzer - sowohl seine Stärke wie seine Schwäche. Jüdisch zu sein, sei in der Weimarer Republik problematischer als im Kaiserreich gewesen, weil die Republik selbst umstritten war. Daß den Juden mehr Karrieremöglichkeiten offenstanden, machte sie zugleich sichtbarer und verwundbarer. Den Wirkungen des Liberalismus auf die Juden sind Henry Wassermann, George L. Mosse und Werner E. Mosse nachgegangen. Juden und Liberale, so stellt Wassermann fest, spielten den Judenhaß herunter. Juden bedienten sich zur Erreichung ihrer Ziele derselben Mittel wie die Liberalen: Petitionen und geschickter Appelle. Der Liberalismus hatte Einfluß auf die Weltanschauung der Juden und sogar auf ihre Religion. Für die Beziehungen zwischen Juden und Liberalen hat Wassermann das Bild der Liebe und speziell für den Zeitraum 1840-1880 das der Flitterwochen gewählt. Damals hätten die Liberalen, um die kulturelle Angleichung und soziale Integration zu erleichtern, ein sympathisches und gefühlvolles Stereotyp des jüdischen Bürgers gezeichnet, das ihrem Ideal des deutschen Bürgers entsprach. (Vielleicht verallgemeinert Wassermann hier allerdings zu sehr die Ergebnisse seiner eigenen Untersuchungen über die Darstellung der Juden in der Gartenlaube ? ) Letztlich sei aber die Liebe des jüdischen Bürgers zum Liberalismus nicht erwidert worden. Indem er das Bild der Liebe gebraucht, umgeht Wassermann aber zugleich die Notwendigkeit, erklären zu müssen, warum dem Liberalismus an den Juden weniger gelegen war als umgekehrt: Fehlende Liebe bedarf keiner sachlichen, rationalen, historischen Erklärung (und, das stellt Wassermann selbst fest: Da es auf die Erwiderung einer Liebe keinen Anspruch gibt, ist ihr Fehlen auch nicht moralisch zu tadeln.)32 Für Werner E. Mosse führte - entsprechend seinem zeitlich und inhaltlich weit gefaßten Begriff von Liberalismus - »das Eindringen liberaler Vorstellungen in die traditionelle jüdische Gemeinschaft zum Ende der bis dahin einigenden Kul30

Zum Centralversein s. den folgenden Abschnitt; zum Abwehrverein, der von Nichtjuden initiiert wurde, aber Juden (die sogar einen erheblichen Anteil stellten) und Nichtjuden zu Mitgliedern hatte, s. die gründliche Untersuchung von Suchy: The Verein (I-II) (s. Titelliste im Anhang). 31 Henry Wassermann: Jews and Judaism in the Gartenlaube. In: LBIYB 23 (1978), S. 47-60. 32 Henry Wassermann: The Political and Social Impact of Liberalism upon Jewish Bürgertum in the 19th Century. In: Deutsches Judentum und Liberalismus (s. Titelliste im Anhang), S. 113-119.

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tur einer überkommenen jüdischen NationrevolutionärenJudendekrete< den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung verletzten und einen Eingriff in die Glaubens- und Gewissensfreiheit darstellten. »Das Engagement der Angehörigen der Minderheit stellte damit einerseits zwar eine Loyalitätsverweigerung oder gar -Verletzung gegenüber der Obrigkeit dar; es war andererseits aber zugleich eine Loyalitätsbekundung für eine politische Bewegung, die gerade auch regionales Selbstbewußtsein und politisch-kulturelles Eigenverständnis zu artikulieren suchte. Die israelitischen >Unterzeichner< der Aufrufe optierten in dem Moment, in dem die Loyalität gegenüber ihrer unmittelbaren gesellschaftlichen Umwelt< und die Loyalität gegenüber einer >entfernten Obrigkeit< miteinander in Konflikt gerieten, für die Solidarität mit ihrer engeren Lebensgemeinschaft.«39 Karch vermutet, daß die Zahl der jüdischen Kommunalpolitiker vor dem Ersten Weltkrieg mit der Abwanderung vom Land und der Beeinträchtigung der Wahlchancen liberaler Vertreter der jüdischen Oberschicht in den Städten durch das Anwachsen der Arbeiterschaft zusammenhängt. Immer wieder wird aber bei den Kommunalpolitikern die Familienkontinuität deutlich. Die parteipolitische Bindung der in der Weimarer Republik aktiven Juden bestätigt für die Pfalz den allgemeinen Befund: Sie engagierten sich in der Deutschen Demokratischen Partei und in der SPD. Dabei »allerdings scheint ihre Teilnahme an der Politik auf die kommunale Ebene beschränkt geblieben zu sein.«40 Hermann Greives Beitrag könnte man als Galerie bedeutender Persönlichkeiten charakterisieren. Insofern ähnelt er in der Anlage anderen Beiträgen dieser Art und geht doch über deren reihende Aufzählung weit hinaus: Er ist glänzend geschrieben, porträtiert prägnant und bettet diese Einzeldarstellungen jeweils in die sozialen und politischen Umstände ein. Wenn Greive von »Juden im öffentlichen Leben« spricht, so meint er sowohl die aus dem Rheinland Stammenden und dort oder in der deutschen bzw. sogar europäischen Öffentlichkeit Wirkenden wie auch jene, die aus anderen Gebieten kamen und im Rheinland tätig wurden. Dabei geht es ihm nicht um die Zahl, sondern um die Art und Beschaffenheit ihrer Wirksamkeit. Für die Gesamtheit der Bevölkerung war sie 38

Helga Karch: Die politische Partizipation der Juden in der Pfalz. In: Kuby (Hg.): Juden in der Provinz (s. Titelliste im Anhang), S. 49-64. 39 Ebd. S. 53. 40

Ebd. S. 61.

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vor allem in der Phase der Emanzipation von Belang. Ob sie für die jüdische Sache eintraten oder nicht, ist nicht entscheidend. Aber auch wenn sie jüdische Interessen vertraten, dienten sie der Allgemeinheit: Da Freiheit und Gleichheit unteilbar sind, kann auch der, der für partikulare Interessen eintritt, eine allgemeine Wirkung erzielen.41 Das Rheinland charakterisiert Greive als von Gegensätzen geprägt - zwischen technisch-industrieller und geldwirtschaftlich-kommerzieller Modernität auf der einen und ländlicher Rückständigkeit auf der anderen Seite; zwischen scheinbar unangefochtenem religiösem Traditionalismus auf der einen Seite und einer fast problemlosen Areligiosität und unbekümmerter Weltlichkeit auf der anderen. Doch diese Gegensätze standen »nicht eigentlich als unversöhnliche Feinde, sondern eher selbstverständlich und beinahe duldsam nebeneinander.«42 Im Rahmen eines Modernisierungsprozesses, der die sozialen Gegensätze verschärfte, waren die sich religiös-weltanschaulich und sozioökonomisch fremd gegenüber stehenden Gruppen zum Ausgleich gezwungen. Obwohl eine Reihe von Juden und »getauften Juden« führend an der Geschichte der radikalen Linken teilnahmen, gab es im Rheinland keinen Schwerpunkt öffentlich-politischen Einsatzes von Juden für die Arbeiterbewegung. Im gesamten Kaiserreich hatte es keinen jüdischen sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichstag. Insgesamt war die Rolle der Juden bei der Bewältigung öffentlicher Aufgaben auf Landes- und Reichsebene nicht spektakulär. Engagiert waren sie aber im kommunalen Bereich. Trotzdem stellt Greive fest, daß nach der vollständigen Gleichberechtigung nicht »von einer alles in allem fortschreitenden Integration« in die Gesamtgesellschaft die Rede sein kann, andererseits aber auch nicht von einer im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beginnenden »Desintegration und >Entmischungprivaten< Vorteil den Status quo zu verändern strebt, damit grundsätzlich Unrecht beseitigt.« Greive: Juden im öffentlichen Leben, S. 208. »Gedrücktes Volk« ist ein Zitat aus Heines Reise von München nach Genua. Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Bd. 3: Schriften 1822-1831. München - Wien: Carl Hanser 1976, S. 313-389, hier S. 376. 42 Greive: Juden im öffentlichen Leben, S. 209. 43 Ebd. S.216f. 44 Ernest Hamburger: Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit 1848-1918. (Schriftenreihe LBI 19) Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1968, S. 558 (über die Juden in deutschen

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der großen Stunden« bedeutet auf der anderen Seite auch, »daß die alltägliche Welt der Zwischenzeiten im Zeichen der althergebrachten Diskriminierung stand«.45 Im Vergleich der beiden Beiträge fällt die zunehmende Beschränkung auf die kommunale Ebene auf. Mit Ausnahme der SPD nahmen die Parteien, auch die Deutsche Demokratische Partei, der in der Weimarer Republik die Mehrheit der jüdischen Wähler anhing, mit Rücksicht auf antisemitische Prädispositionen ihrer Wählerschaft Juden zunehmend aus dem Rampenlicht der Reichs-Öffentlichkeit.46 Andererseits wurden sie dort, wo man sie kannte, durchaus gewählt. Für weitere Forschungen zur Partizipation der Juden am öffentlichen Leben - besonders in Parteien und als Abgeordnete auf allen Ebenen - sollte man versuchen, von den vorliegenden Zusammenstellungen ausgehend, diese politisch Aktiven als Gruppe zu untersuchen - etwa im Sinne einer Kollektivbiographie, also mit einer vergleichenden Analyse ihrer Lebensläufe, und mit gleichzeitiger Einbindung in die jeweiligen lokalen oder regionalen Verhältnisse, wie sie Greive vorgeführt hat.

Parlamenten, während sie von der Exekutive während des gesamten Zeitraums ausgeschlossen waren). 45 Greive: Juden im öffentlichen Leben, S. 223. 46 Nachweise bei Maurer: Juden in der Weimarer Republik (Kap. l, Anm. 8), S. 222 A. 48.

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Oben wurde bereits erwähnt, daß sich die Juden eine eigene Lobby schufen, als die Schwäche des Liberalismus offenkundig wurde: 1893, also während der zweiten antisemitischen Welle, wurde der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) gegründet, dessen Name Programm war: Demzufolge unterschieden sich die Juden allein durch die Religion von den anderen Deutschen und schlössen sich zusammen, um ihre Rechte als Staatsbürger zu verteidigen. Deshalb betrachtete sich der Centralverein zunächst als reinen »Abwehrverein«. Doch obwohl er sich erst ab 1928 auch als »Gesinnungsverein« bezeichnete, wollte er bereits von Anfang an auch die »deutsche Gesinnung« der Juden stärken, wie es schon in § l seiner Satzung ausgedrückt und im Kopf jeder Ausgabe seiner Monatsschrift Im deutschen [!] Reich zu lesen war.1 Von Anfang an gehörte neben der »Abwehr« des Antisemitismus also auch die Ausbildung und Formung eines spezifischen Selbstverständnisses zu seinen Aufgaben, und dieses hatte »eine Doppelstruktur - jüdischer Glaube und deutsche Gesinnung«.2 Bereits 1897 wurde die Organisation gegründet, die den weltanschaulichen Gegenpol verkörperte: Die Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD). Sie vertrat die nationaljüdische Position, daß die Juden ein eigenes Volk seien, nicht Angehörige der Völker, unter denen sie wohnten, und wollte laut Satzung »die zionistische Idee im Sinne des Baseler Programms« (des ersten internationalen Zionistenkongresses 1897), d. h. die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina, »unter den in Deutschland lebenden Juden [...] verbreiten«.3 Dabei wurde die Bezeichnung »zionistisch« zunächst auch deshalb gewählt, um die viele deutsche Juden abschreckenden Adjektive »nationaljüdisch« oder »jüdischnational« zu vermeiden, gewissermaßen ihren dezidierten Standpunkt zu verschleiern.4 Wegen des weltanschaulichen Gegensatzes waren die beiden Organisationen eng - wenn gewissermaßen auch negativ - aufeinander bezogen. Insofern hat Jehuda Reinharz in der Zusammenfassung seiner Forschungen über den deutschen Zionismus unter dem Titel »Die zionistische Her1

»Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens E.V. bezweckt, die deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens ohne Unterschied der religiösen und politischen Richtung zu sammeln, um sie in der tatkräftigen Wahrung ihrer staatsbürgerlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung sowie in der unbeirrbaren Pflege deutscher Gesinnung zu bestärken.« 2 Bering: Geeinte Zwienatur (s. Titelliste im Anhang), S. 184. 3 Die Satzung ist abgedruckt bei Eloni: Zionismus in Deutschland, S. 94f. 4 Die vorher existierenden Vereine hatten sich noch als »nationaljüdisch« bezeichnet.

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ausforderung des Glaubens an die Emanzipation«5 den Centralverein zu Recht fast so ausführlich wie die Zionisten behandelt. Mit dieser Akzentuierung, die sich allerdings aus der zitierten leitenden Perspektive ergibt, wird - unter Ausblendung der allgemeinen zionistischen Bewegung - implizit fast ein Modell geschaffen, wonach die ZVfD als Reaktion auf den CV entstanden sei. Die von Reinharz herausgestellten Gemeinsamkeiten der Führer des CV und der ersten Zionisten - beide waren Honoratioren, gründeten ihre jüdischen Organisationen im Kampf gegen den Antisemitismus (dabei die Zionisten allerdings auch als Reaktion auf die Not der r u s s i s c h e n Juden), gehörten nach Herkunft und eigener sozialer Stellung in dieselbe sozioökonomische Kategorie, waren der Religion entfremdet und wurzelten in der deutschen Kultur6 - können zwar beitragen zu einer Erklärung, warum sie bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg relativ friedlich nebeneinander existierten. Allerdings wird daraus noch nicht klar, warum sich die Angehörigen der ersten Generation deutscher Zionisten für den Zionismus entschieden. Erst 1912/13 kam es zum offenen Konflikt, und in der folgenden Zeit (mit Ausnahme des Krieges) kämpften beide nicht nur für die eigene Sache, sondern aufs heftigste auch gegeneinander. Gewissermaßen waren sie aufeinander fixiert. Insofern kann keine der beiden Organisationen für sich dargestellt werden - immer spielt auch das Verhältnis zur anderen eine Rolle, und eine Reihe von Arbeiten widmet sich speziell ihren Beziehungen und der Entstehung des Konflikts zwischen ihnen. Grundsätzlich ist im Auge zu behalten, daß sich die Aktivitäten des CV - entsprechend seiner Satzung und Ideologie - auf Deutschland beschränkten, während die Zionisten Teil einer Bewegung der Juden verschiedener Länder waren und die ZVfD Teil der Zionistischen Weltorgani5 6

Reinharz: Challenge (s. Titelliste im Anhang). Zu den jüdischen Führungsschichten allgemein s. Toury: Zur Problematik (s. Titelliste im Anhang). Auf der Grundlage von biographischen Nachschlagewerken und Monographien über einzelne Verbände bzw. einzelne Orte hat Toury drei Generationen von Führern jüdischer Vereine und Verbände, geboren zwischen 1820 und 1900, insgesamt ca. 650 Personen, untersucht. Als »Problematik« bezeichnet er, daß sie nicht für die Struktur der jüdischen Bevölkerung repräsentativ waren (was allerdings das Problem jeder »Führungsschicht« sein mag): Die Frauen waren stark unterrepräsentiert und wurden »von einer bemerkenswert exzentrisch zusammengesetzten Schicht« (S. 254) vertreten (es waren kaum Hausfrauen darunter); ihrer Herkunft nach überwogen die aus östlichen Gebieten Stammenden (was sich allerdings z. T. aus Tourys Konzentration auf Preußen erklärt, außerdem aus der Schlußfolgerung auf der Grundlage der Studentenschaft des Breslauer Rabbinerseminars - während dessen zwei Konkurrenzanstalten in Berlin nicht untersucht werden); nach Bildung und Beruf handelte es sich um eine von Akademikern geprägte Schicht mit hohem Anteil an Rabbinern und Lehrern, während kaum im Handel Tätige dazu gehörten. Da andere Bereiche in der allgemeinen Politik und Kultur für viele anziehender gewesen seien, hätten nicht die Begabtesten, sondern der »standhafte jüdische Rest« (S. 256) das jüdische Führungspotential gebildet. Für die jüdischen Gemeinden schließt Toury, daß die Laien zuerst die Mandanten ihrer Vertreter gewesen, dann aber zu Klienten eines Patrons geworden seien. Auf diese Weise sei der oligarchische Charakter der Gemeinden und damit auch die Entfremdung zwischen Mitgliedern und Vorständen institutionalisiert worden.

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sation. Centralverein und Zionistische Vereinigung stellen die Haupt-Repräsentanten der Judenheit in Deutschland dar, neben denen allenfalls in der Weimarer Zeit noch der Verband der Ostjuden zu nennen wäre, der jedoch mehr als die beiden anderen eine Dachorganisation unterschiedlicher Vereine denn eine effektive, zentralistische Institution war.7 Die übrigen Organisationen können ihrer weltanschaulichen Richtung nach dem CV bzw. der ZVfD zugeordnet werden oder sind, wie der Verband nationaldeutscher Juden, quantitativ bedeutungslos. Die Forschungen über den Centralverein und die Zionistische Vereinigung werden dadurch erschwert, daß das Archiv keiner dieser beiden Organisationen erhalten ist, allenfalls Splitter für einzelne Zeitabschnitte oder Einrichtungen. Die Untersuchungen müssen sich also stark auf die Publizistik, insbesondere die Zeitschriften, der beiden Organisationen stützen (die aber immer auf ihre Außenwirkung bedacht sein mußten) und ansonsten in den Nachlässen einzelner Führungsmitglieder, den Archiven jüdischer Gemeinden und anderer Organisationen nach relevanten Dokumenten suchen. An entscheidenden Wendepunkten fehlt die verbandsinterne Diskussion, und so kann manche Frage nicht endgültig geklärt werden, sondern muß im Stadium gut dokumentierter Thesen bleiben. Trotzdem sind beide Organisationen stark erforscht und auch im Untersuchungszeitraum Gegenstand der Aufmerksamkeit und Kontroverse gewesen. Arnold Paucker, der Pionier der CV-Forschung, hat bis 1985 ca. 100 Titel von Büchern und Aufsätzen ermittelt, die sich eingehend mit dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens befassen (seien sie ihm nun ausschließlich oder teilweise gewidmet).8 Erforscht waren damals - und sind bis heute - vor allem die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg (1893-1914) und die letzten Jahre der Weimarer Republik (1928-1933). Nach Pauckers Einschätzung wurde die Leistung des CV allgemein positiv beurteilt: eine immer kraftvollere Selbstbehauptung im Kaiserreich und eine beeindruckende kämpferische Aktivität gegen den Nationalsozialismus in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Sogar bei der nationaljüdischen Geschichtsschreibung konnte er nur marginale Abweichungen von diesem Bild feststellen. Paucker hat die Ergebnisse seiner früheren Forschungen9 in jüngster Zeit zweimal zusammengefaßt und im Lichte 7

Zum Verband der Ostjuden (später Verband ostjüdischer Organisationen) s. Maurer: Ostjuden in Deutschland, S. 681-709 und Trude Maurer: Ausländische Juden in Deutschland, 1933-1939. In: Paucker (Hg.): Juden im Nationalsozialistischen Deutschland (s. Titelliste im Anhang), S. 189-210, hier S. 206-210. 8 Arnold Paucker: Jewish Self-Defence. In: Paucker (Hg.): Juden im Nationalsozialistischen Deutschland (s. Titelliste im Anhang), S. 55-65, hier S. 55. 9 Hier sind vor allem zu nennen: Arnold Paucker: Der jüdische Abwehrkampf gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus in den letzten Jahren der Weimarer Republik. (Hamburger Beiträge zur Zeitgeschichte 4) Hamburg: Leibniz 1968; Arnold Paucker: Zur Problematik einer jüdischen Abwehrstrategie in der deutschen Gesellschaft. In: Werner E. Mosse (unter Mitwirkung von Arnold Paucker) (Hg.): Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914. Ein Sammelband. (Schriftenreihe LEI 33) Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1976, S. 479-548.

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neuerer Ergebnisse anderer Forscher auch teilweise modifiziert.10 Darin resümiert er die parteipolitische Auffächerung der jüdischen Wählerschaft, die für 1880-1930 auf ca. 60% Fortschritt/Freisinn bzw. später Deutsche Demokratische Partei und - allmählich zunehmend - bis zu 30% SPD geschätzt werden kann. In der Endphase der Weimarer Republik dann können etwa 55% der SPD, vielleicht 5% der KPD und ca. 15-20% dem Zentrum zugerechnet werden.11 Schon daran ist zu erkennen, daß das politische Verhalten der Juden nicht ihrer Sozialstruktur und ihrem »Klasseninteresse« entsprach, weil sie von der antisemitischen Rechten in den linken Teil des Parteienspektrums getrieben wurden. Als Organisation wahrte der Centralverein politische Neutralität gegenüber allen Parteien von den Nationalliberalen bis zum linken Rand, selbstverständlich nicht gegenüber antisemitischen oder sich teilweise antisemitischer Parolen bedienenden Parteien. In der Weimarer Zeit unterstützte er, auch finanziell, die republikanischen Parteien und suchte in den letzten Jahren (offiziell oder durch einzelne Mitglieder) auch zu konservativen Kreisen, zum sogenannten anständigen nationalen Bürgertum, Kontakte. Allerdings waren diese nicht unumstritten. Der CV selbst war zunächst keine demokratisch aufgebaute Organisation mit einer gewählten Führung. Doch auch wenn einzelne Mitglieder politisch konservativ waren, kann er als Ganzes allenfalls in dem Sinn als konservativ verstanden werden, als er auf den status quo bedacht war und die revolutionäre Veränderung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ablehnte. Sein Kampf gegen den Antisemitismus ist häufig als »Apologetik« kritisiert und geringgeschätzt worden. Dagegen weist Paucker darauf hin, daß die Apologetik ein altehrwürdiges, den Juden von ihren Feinden aufgezwungenes Unterfangen war, der CV sie aber im Vergleich zu früher systematisch einsetzte und schließlich auch eine Massenverbreitung erreichte, so daß seine Form der Widerlegung antisemitischer Vorwürfe schon im Kaiserreich eine entschiedene Verbesserung darstellte. In der späten Phase der Weimarer Republik trat dann die Propaganda gegen die Nationalsozialisten dazu, die deren Weltanschauung als Ganzes (nicht nur den Antisemitismus) bekämpfte, und die Stützung der Republik wurde zum Hauptanliegen des CV.12 Seine eigene skeptische Beurteilung des Rechtsschutzes13 glaubte Paucker in den achtziger Jahren angesichts der Befunde Donald L. Niewyks revidieren zu müssen: Niewyk hatte 336 Gerichtsprozesse analysiert und war dabei zu dem Ergebnis 10

Paucker: Jewish Self-Defence (Anm. 8); Paucker: Defense against Antisemitism (s. Titelliste im Anhang). Die folgenden Ausführungen stellen eine Zusammenfassung aus b e i d e n Artikeln dar. 11 S. dazu eingehender: Hamburger/Pulzer: Jews as Voters (s. Titelliste im Anhang). 12 Paucker weist darauf hin, daß die Initiative zur großen antinationalsozialistischen Propagandakampagne 1929 von jüdischer Seite kam. Allerdings war hier ein Punkt erreicht, wo die Argumente schon dadurch geschwächt worden wären, daß sie von Juden vorgetragen wurden. Deshalb erfolgte die Propaganda des CV z. T. in getarnter Form. (Paucker: Defense against Antisemitism, S. 119f., 126f.) 13 Paucker: Der jüdische Abwehrkampf (Anm. 9), S. 74-84.

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gekommen, daß man auf dem Hintergrund der rassistischen Propaganda gegen die Juden, der politischen Sympathien vieler Richter für die rechten Parteien und der Brutalität der nationalsozialistischen Aktivitäten in den letzten Jahren der Republik den Gerichten eine zwar nicht einheitliche, aber doch insgesamt positive Bilanz beim Schutz der Juden gegenüber ihren Verleumdern bescheinigen müsse.14 Insgesamt kam Paucker 1985/1987 zu dem Schluß, daß sich die jüdische Minderheit vor 1933 in einem relativ freien Deutschland verteidigte und mit dem CV einen komplexen und kraftvollen Apparat dafür aufgebaut hatte. Einige Juden, die aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten waren, setzten im CV ihren Kampf gegen den Antisemitismus fort, so daß ihr jüdisches Bewußtsein durch diese Organisation wieder gestärkt wurde.15 Den Begriff »Assimilanten« für die CV-Anhänger hält Paucker für fragwürdig.16 Die Rechtsschutztätigkeit des CV hat dann eingehender, erneut auf der Grundlage der Presseberichterstattung, Udo Beer behandelt - in einer juristischen Dissertation, die allerdings aufgrund fehlender formaler Korrektheit, z. T. unkritischer Behandlung der Quellen und sprachlicher Nachlässigkeiten den Historiker auch gegen Beers Ergebnisse skeptisch macht.17 Zum Rechtsschutz im engeren Sinn zählt er alle Tätigkeiten, die gegen einzelne Rechtsverletzungen unternommen werden, von Prozessen bis zu außergerichtlichen Maßnahmen, wie z. B. publizistischen Aktivitäten. Im weiteren Sinn umfaßt er auch die Tätigkeiten zur Verteidigung oder Veränderung eines Rechtszustandes, z. B. die Reform des Strafgesetzbuches. Den einzelnen jüdischen Organisationen (er behandelt eingehender allerdings nur den CV) sei es gelungen, »fast jedes Problem einer befriedigenden Lösung zuzuführen. In den meisten Fällen konnten Mißstände im rechtlichen Bereich durch Erlasse der obersten Reichs- oder Landesbehörden oder durch letztinstanzliche Gerichtsurteile abgestellt werden. Die wenigen offenen Rechtsfragen, wie etwa die Kollektivbeleidigung, lagen in Bereichen, die aus anderen als antisemitischen Gründen nicht einigungsfähig waren. Die Polarisierung der politischen Kräfte am Ende der Republik verhinderte insoweit die Durchsetzung jüdischer Interessen [oder vielleicht die Erfüllung berechtigter Forderungen formal gleicher Staatsbürger?]. In anderen Fragen, wie etwa dem [geplanten, für ganz Preußen einheitlichen] neuen Judengesetz, stand die Uneinigkeit der Juden im eigenen Lager einer befriedigenden Lösung im 14

Donald L. Niewyk: Jews and the Courts in Weimar Germany. In: Jewish Social Studies 37 (1975), S. 99-113. 15 Paucker: Defense against Antisemitism, S. 108, 114. 16 Paucker: Jewish Self-Defence (Anm. 8), S. 55. 17 Beer: Juden, Recht und Republik (s. Titelliste im Anhang). S. dazu ausführlicher meine Rezension in: Historische Zeitschrift 245 (1987), S. 744-746. Positiv hebt sich von der Dissertation eine englische Zusammenfassung ab, deren Klarheit und stilistische Leistung aber vor allem dem Übersetzer und seinen redaktionellen Bemühungen zu verdanken ist (s. dazu auch die in LBIYB sonst gänzlich unübliche Bemerkung S. 149 Anm. *): Udo Beer: Protection of Jewish Civil Rights (s. Titelliste im Anhang).

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Wege.«18 Zu einem relativ positiven Urteil über das Verhalten der Gerichte in Prozessen, die der CV gegen Boykottaufrufe und -maßnahmen rührte, kommt auch Sibylle Morgenthaler. Allerdings weist sie auch darauf hin, daß die Gerichte selbst keine Initiative ergriffen, ebensowenig wie Legislative und Exekutive des Reichs und der Länder systematisch etwas gegen den Boykott unternahmen.19 Die Vorgehensweise und Ergebnisse Niewyks und Beers sind nun auch von Cyril Levitt angefochten worden.20 Zum einen wendet er sich dagegen, daß beide ihre positive Bewertung der Weimarer Justiz mit den Aussagen einzelner CVJuristen untermauern wollen und diese als repräsentativ für die Mehrheit des CV erscheinen lassen. Nach Levitt dagegen war die Mehrheit der CV-Juristen der Ansicht, daß sich die Juden nicht auf eine faire und gleiche Rechtsprechung verlassen konnten. Zwar muß er, da es sich um einen Aufsatz handelt, seinerseits Zitatbeispiele für repräsentativ erklären, doch jeder, der die C. V.-Zeitung einmal für andere Fragen der jüdischen Geschichte durchgesehen hat, kann diese Einschätzung als E i n d r u c k jedenfalls bestätigen. Daß aber nicht nur subjektiv (seitens der Betroffenen) von einer Rechtskrise bezüglich der Behandlung von Juden die Rede sein kann, sondern diese auch objektiv bestand, begründet Levitt mit folgenden Befunden: Von Zeit zu Zeit wurden Juden durch das Justizsystem, gemessen an den nichtjüdischen Bürgern, ungleich behandelt. Gelegentlich akzeptierten die Gerichte unsinnige Argumente der Antisemiten bzw. lehnten vernünftige Argumente der jüdischen Kläger ab. In manchen Fällen, die Juden betrafen, legten sie das Gesetz sehr eng aus, und solche Urteile können meist als Ausfluß von zweierlei Maßstäben gesehen werden. In einigen Prozessen wurde prominenten Antisemiten volle Freiheit gelassen, sich in Anwesenheit des Gerichts an jene zu wenden, die gegen sie Klage erhoben hatten, und sie mit ihren Reden zu quälen. Gelegentlich machten Gerichtsbedienstete, Staatsanwälte und Richter antisemitische Bemerkungen. Schließlich bestreitet Levitt auch, daß der quantifizierende Zugang Niewyks und Beers für diese Fragestellung adäquat ist. Niewyk meinte, nur 7% der Urteile seien zu beanstanden. Nach Levitt dagegen muß das Urteil, ob eine Rechtskrise bestehe, qualitativ begründet werden. Die Frage, wie viele Fehlurteile und Justizirrtümer zusammenkommen müssen, damit man von einer Rechtskrise sprechen kann, sei eine rein akademische. Darüber hinaus allerdings hält er Niewyks Interpretation der Aussagen und der sich darin spiegelnden Motive mancher Richter für irrtümlich (zieht also auch die Grundlage der positiven Statistik in Zweifel). Und schließlich bestand nach Levitts Auffassung ein enger Zusammenhang zwischen der Rechtsnot der Juden und einer allgemeinen, relativ gut erforschten Rechtskrise in der Weimarer Republik - ein Aspekt, den die anderen Autoren überhaupt nicht berücksichtigt haben. 18

Beer: Juden, Recht und Republik, S. 302. Noch positiver fällt das Resümee in der englischen Fassung aus. (Beer: Protection of Jewish Civil Rights, S. 176). 19 Morgenthaler: Boycott (s. Titelliste im Anhang), besonders S. 146. 20 Levitt: The Prosecution of Antisemites (s. Titelliste im Anhang).

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Aber nicht nur die Teilfrage des Rechtsschutzes wurde erneut aufgerollt. Schon unmittelbar nach Pauckers Bilanz, die die weitgehende Einmütigkeit der Forscher unterstrich, brach die Kontroverse über den CV insgesamt neu auf: In einem sehr anregenden, auch neue Perspektiven in die Debatte bringenden Aufsatz ist Evyatar Friesel der Frage nachgegangen, ob der Centralverein eine Stärkung oder Schwächung des jüdischen Lebens in Deutschland bewirkt habe.21 Friesel betrachtet den CV als Bürgerrechtsorganisation, wie man sie auch in anderen Ländern seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts gekannt habe. Als Prototyp gilt ihm die Alliance Israelite Universelle. Dieser Vergleich ist gewiß fragwürdig, da der Wirkungsbereich der Alliance außerhalb Frankreichs lag und die Erreichung von Bürgerrechten in den Ländern ihrer Tätigkeit allenfalls ein indirektes Ergebnis ihrer Entwicklungs- und Bildungsarbeit sein konnte und umgekehrt der CV sogar eine Solidarität mit den Juden anderer Länder, die über die Beziehungen der Katholiken oder Protestanten zu ausländischen Konfessionsgenossen hinausging, explizit ablehnte.22 Darauf haben auch Frieseis Kritiker mit Recht hingewiesen.23 Diesen Organisationen werde häufig vorgeworfen, oligarchisch, antidemokratisch und assimilatorisch gewesen zu sein. Letzteres weist Friesel entschieden zurück: Sie hätten nur bei jeder Gelegenheit betont, daß die Juden gute Staatsbürger seien. Sein Hauptinteresse gilt allerdings der Entwicklung des Centralvereins von einer Notabein- zu einer Massenorganisation und der damit verbundenen Demokratisierung. 1912 schließlich habe er die Struktur einer politischen Partei gehabt, ohne das je werden zu können - denn dies wäre sowohl in der Praxis aussichtslos wie auch auf der Grundlage seiner deutschjüdischen Ideologie inakzeptabel gewesen. Außerdem habe der CV keine einzige deutsche Frage herausstellen können, die seine organisierte Teilnahme am allgemeinen politischen Leben gerechtfertigt hätte. Im Gegenteil: Nach Friesel trug er sogar zur politischen Entfremdung der Juden bei: Je aktiver und einflußreicher er geworden sei, umso mehr habe er seine Anhänger dazu gebracht, die deutsche Politik aus einem jüdischen Blickwinkel, aus der Perspektive jüdischer Interessen zu betrachten. Fast nie habe er öffentlich zu rein deutschen politischen Fragen Stellung genommen, aber regelmäßig zu solchen, die die Juden und ihre Rechte betrafen. Nicht, ob die Juden zur politischen Opposition gehörten, müsse man überlegen, sondern inwieweit die ganze Politik überhaupt relevant für sie war. (Ihre Unterstützung der Liberalen habe eine j ü d i s c h e Ursache gehabt.) So sei der CV, der immer aus Prinzip gegen konfessionelle Politik gewesen sei, ihr schließlich selbst sehr nahe gekommen. Aber die Aktivisten des Centralvereins

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Friesel: Political and Ideological Development (s. Titelliste im Anhang). S. dazu auch Friesel: Response (s. Titelliste im Anhang), S. 107. 22 S. dazu auch das Zitat aus den Leitsätzen des CV bei Paucker: Problematik einer Abwehrstrategie (Anm. 9), S. 488. 23 Schatzker: Comments (s. Titelliste im Anhang), S. 97; Margaliot: Remarks (s. Titelliste im Anhang), S. 101 f.

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seien Kinder ihrer Zeit gewesen und hätten in einer komplexen Situation ihr Bestes getan, um auf die Probleme und Herausforderungen des Zeitalters reagieren zu können. Sie seien so weit gegangen, wie es die Wirklichkeit, so wie sie sie verstanden, erlaubte. Propheten hätten sie nicht sein können, und deshalb solle man nicht von unserem Wissen über das weitere Schicksal der deutschen Judenheit aus urteilen. Dagegen hat Chaim Schatzker Einspruch erhoben:24 Nicht um Zukunftsprognosen gehe es, sondern um Fehler, die der CV in seiner eigenen Zeit gemacht habe: Eben weil sie aus deutschen Organisationen ausgeschlossen gewesen seien, hätten die Juden eine eigene gründen müssen, in der sie sich aber als deutsche Staatsbürger organisierten. Getäuscht durch ihre innersten Wünsche, hätten sie die Realität nicht erkannt, nicht erkennen wollen. Zur Unterstützung dieses Arguments vom realitätswidrigen Handeln verweist Schatzker allerdings auf die Meinungsunterschiede innerhalb des CV während der Weimarer Zeit, also in einer grundsätzlich veränderten Situation, die zudem nicht Gegenstand von Frieseis Analyse war. Sogar die junge Generation der CV-Aktivisten selbst habe Zweifel an der Richtigkeit der Richtung gehabt. Damit gebraucht Schatzker, ähnlich wie dies Beer und Niewyk vorgeworfen wurde, nicht nur einen Teil des verbandsinternen Spektrums zum Beleg seiner eigenen Schlußfolgerung, sondern, indem er sich auf »die Weimarer Jahre« allgemein bezieht,25 kann er auch den entschlossenen Kampf des CV als Organisation gegen die Nationalsozialisten ab Ende der zwanziger Jahre ausblenden. Darüber hinaus bezweifelt Schatzker, daß der CV wirklich politisch in einem auf die Massen orientierten Rahmen aktiv wurde. Schließlich stellt er auch in Frage, daß der CV vor allem für die rechtliche Gleichheit der Juden gekämpft habe: Der Kampf gegen die Zionisten sei genau so stark wie der gegen die Antisemiten gewesen. Abraham Margaliot26 hat sich vor allem dagegen gewandt, daß der CV um 1905 zu einer demokratischen Organisation geworden sei, und dafür folgende Argumente angeführt: Die Arbeit sei nicht auf Massenbasis, sondern durch den Vorstand mithilfe zweier Kommissionen geführt worden. Die zentralen Fragen seien in den Ortsgruppen fast nicht diskutiert, sondern von der Führung entschieden worden. Die Ortsgruppen hätten es nicht geschafft, die unteren sozioökonomischen Schichten zur aktiven Teilnahme zu bewegen. Trotz Dezentralisierung habe Berlin immer ein Übergewicht behalten. Bei Vorstandswahlen sei nicht geheim und nur über Fraktionslisten abgestimmt worden. Ausländer seien von der Mitgliedschaft ausgeschlossen gewesen, und der CV habe sich auch nicht um ihre rechtlichen Probleme (Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, Einbürgerung) gekümmert. Und obwohl der CV als Organisation im Streit um das Wahlrecht der Ausländer innerhalb der jüdischen Gemeinden nicht Stellung 24

Schatzker: Comments. Ebd. S. 98. 26 Margaliot: Remarks. 25

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bezog, wirft Margaliot die ablehnende Haltung einer Reihe von Liberalen in die Debatte, die meist Mitglieder und z. T. sogar Führer des CV gewesen seien. Wie man sieht, liegen den Meinungsverschiedenheiten zwischen Friesel und Margaliot unterschiedliche, nicht näher präzisierte Definitionen des Begriffs »demokratisch« zugrunde. Deshalb kommt Margaliot zu dem Schluß, daß es zwar gelungen sei, der Notabeinpolitik Beschränkungen aufzuerlegen, und daß es demokratische Tendenzen im CV gegeben habe. Doch dies sei eben nur >»begrenzte Demokratie««.27 In seiner Stellungnahme zu diesen Einwürfen hat Friesel28 auf die seiner Meinung nach außerwissenschaftlichen Ursachen der Erregtheit der Debatte und ein gravierendes methodisches Problem bei der Beschäftigung mit der deutschjüdischen Geschichte hingewiesen: Der Historiker fühle sich - verständlicherweise - häufig gedrängt zu erklären, was die Juden hätten machen müssen. Doch dabei handele es sich ebenfalls um eine Zukunftsprognose, wenn auch um eine in die Vergangenheit projizierte, was als Grundlage historischer Analyse inakzeptabel sei. Wenn man dem CV vorwerfe, die der deutschen Judenheit innewohnende Schwäche nicht erkannt zu haben, müsse man das redlicherweise auch für andere Bürgerrechtsorganisationen und sogar für Organisationen eines ganz anderen Typs, etwa die jüdisch-sozialistischen wie den »Bund« (Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund in Rußland und Polen), und ebenso für die religiösen Bewegungen feststellen. Doch wenn man ihnen allen gegenüber eine negative Haltung einnehme, so könne man das umfassende (historische) Verstehen jüdischen Organisationslebens nicht fördern. Den scheinbaren Widerspruch zwischen der Erkenntnis der nationalsozialistischen Gefahr und dem Festhalten am Bekenntnis zum Deutschtum in den letzten Jahren der Weimarer Republik - oder, in seinen eigenen Worten: »die einzigartige Realitätsresistenz«, die sich aus einer »überdurchschnittlichen Verblendung« trotz »überdurchschnittlicher Einschätzungsschärfe« ergab - hat Dietz Bering durch eine hochinteressante und scharfsinnige Analyse der C. V.Zeitung zu erklären gesucht, und zwar durch die Doppelstruktur des Selbstverständnisses, die auch von CV-Mitgliedern selbst gelegentlich mit Goethes Formel von der »geeinten Zwienatur« bezeichnet wurde.29 Er führt zunächst zwei in der C.V.-Zeitung vertretene Interpretationen des Nationalsozialismus und seiner Erfolge vor, die er als »rationale Oberflächeninterpretation« und als »irrationale Tiefenanalyse« kennzeichnet,30 und zeigt dann die Reaktion auf die beobachtete Entwicklung: Einerseits hielt man trotz der irrationalen Wirklichkeit am Prinzip rationaler Denk- und Beeinflussungsmethoden fest.31 Andererseits 27

Ebd. S. 106. Das Zitat, englisch mit »partial democracy« wiedergegeben, ist übernommen aus Paucker: Problematik einer Abwehrstrategie (Anm. 9), S. 493. 28 Friesel: Response. 29 Bering: Geeinte Zwienatur, Zitate S. 198, 185 (zweimal). 30 Zitate ebd. S. 187, 190. 31 Er erwähnt allerdings ergänzend, daß das vom CV inaugurierte, wenn auch formal

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stellte man der beim deutschen Volk wirksamen Erinnerungsgemeinschaft, die man in Anlehnung an Ricarda Huch als die tief in der Geschichte wurzelnde Idee des Reiches schlechthin begriff, die zugleich alle Zerrissenheit überwölben und damit einen irrationalen Sinn stiften konnte, eine »Revitalisierung der >ewigen Werte der jüdischen Gemeinschafteinig in seinen Stämmen ist, seinen Platz erhält.«32 Warum der CV an den beiden Interpretationsansätzen festhielt, »obwohl doch weder die rationale Deutung der Oberfläche noch die der irrationalen Tiefe irgendwelche realitätssteuernde Kraft zeigte«, und die Juden weiter in Treue zum deutschen Volk »dem Unglück entgegen« gingen,33 erklärt Bering mit der Akzentuierung der jüdisch-religiösen Substanz in der späten Weimarer Zeit, die er aus Betrachtungen der C. V.-Zeitung zu den jüdischen Festen belegt. Gerade »die messianische Idee, der Glaube an jenen unverbrüchlichen Bund zwischen Gott und seinem Volk, das seines Heils letztlich gewiß sein kann«,34 habe den Juden das Ausharren ermöglicht. Zwar dürfe man angesichts des vielfach belegten Säkularisierungsprozesses den deutschen Juden keinen »Messiasglauben [..] unterstellen, der alles erklären würde. Faßt man den Säkularisierungsprozeß aber so, daß er die konkreten Glaubensinhalte gerade zur Disposition stellt, dafür aber die Strukturen unangetastet läßt, so kann man die widersprüchlichen Fakten gleichwohl bündig zueinanderfügen. Die konkreten Inhalte mochten vielen deutschen Staatsbürgern jüdischen Glaubens< längst abhanden gekommen sein; die Grundstruktur der messianischen Denkfigur aber war erhalten, bereit, die politische Wirklichkeit nach dem verbliebenen Muster aufzuarbeiten« - daß bei ständigem Wechsel zwischen Befreiung und Reaktion der Weg über Dornen schließlich doch ins gelobte Land der Freiheit führe.35 Im Vordergrund der Forschungen zum Zionismus stand im Untersuchungszeitraum zum einen die Ideengeschichte, auch die Wirkung äußerer Einflüsse auf die Ausbildung der zionistischen Ideologie; zum anderen erschien endlich eine Geschichte der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, zumindest bis 1914; und schließlich sind gegensätzliche Interpretationen zum Verhältnis zwischen ZVfD und Centralverein vorgetragen worden. In Thomas Rahes Dissertation über die Programmatik des Frühzionismus (bis zum ersten Zionistenkongreß 1897)36 werden nicht nur deutsche Autoren ununabhängige »Büro Wilhelmstraße« schließlich, allerdings erst ganz am Ende, auch andere Methoden benutzte. 32 Ebd. S. 192; Zitate im Zitat: C.V.-Zeitung 15. 7.1932, S.298; Präambel der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. 8.1919. 33 Ebd. S. 194, 195. 34 35 36

Ebd. S. 196. Ebd. S. 197. Rahe: Frühzionismus (s. Titelliste im Anhang). Die Grundgedanken der Einleitung und der Kapitel über »Religiös-theologische Voraussetzungen des Zionismus« sowie sehr knapp - »Emanzipation, Assimilation, Antisemitismus« hat er auch in einem Aufsatz zusammengefaßt, der aber vor allem wesentliche Teile des Schlußkapitels mit

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tersucht. Gleichwohl spielt die historische Entwicklung in Deutschland die zentrale Rolle in der Argumentation. Rahe geht von der bekannten Einordnung des Zionismus als postemanzipatorisches Phänomen aus und möchte den Zusammenhang zwischen der Situation der Juden und der Entwicklung des zionistischen Programms zeigen; denn man könne Problemlösungen nur dann adäquat verstehen und beurteilen, wenn man sie auf die zu lösenden Probleme beziehe und auch die alternativen Antworten kenne - also die Auffassungen, zu denen der Zionismus in Konkurrenz stand. Die frühzionistische Programmatik sei »im Kern als >Gegenideologie< zu der [...] zusammenfassend als >Emanzipationsideologie< bezeichneten Erwartung zu kennzeichnen, die >Judenfrage< sukzessive durch Emanzipation und Assimilation lösen zu können.«37 Deshalb rekapituliert Rahe ausführlich »Emanzipation, Assimilation und Antisemitismus« als »Entstehungsbedingungen der frühen zionistischen Programmatik«,38 allerdings nur am deutschen Beispiel. Dieses Vorgehen begründet er mit der »geradezu idealtypischefn] Ausprägung« dieser Phänomene in Deutschland, der Größe dieser emanzipierten jüdischen Bevölkerung, deren »zumindest potentielleren] praktisch-politische[n] Bedeutung« für die zionistische Bewegung (angesichts der beschränkten Aktionsmöglichkeiten der Juden in Osteuropa, die gleichwohl »viele entscheidende Anstöße in organisatorischer wie praktischer Hinsicht« gaben) und der besonderen Aufmerksamkeit, die dem deutschen Judentum deshalb zuteil geworden sei.39 Bei dieser Hilfskonstruktion kann er sich auch darauf stützen, daß für einige der von ihm untersuchten Autoren bereits früher auf die Bedeutung des deutschen Judentums für ihr Denken hingewiesen wurde.40 Dagegen kommt er auf den Einwand, daß es in Rußland keine Emanzipation gab, auf die die von dort stammenden Autoren reagieren konnten, erst im Schlußkapitel zu sprechen. Die Bemühungen der russisch-jüdischen Aufklärer, zu denen zunächst auch einige der von ihm Untersuchten gehört hatten, »in Analogie zur Entwicklung in West- und Mitteleuropa auch in Rußland die >Judenfrage< durch den Doppelprozeß von Assimilation und Emanzipation zu lösen, konnten kaum Fortschritte verzeichnen.« Andererseits konnte man die Pogrome in Rußland 1881 nicht als Beleg für das S c h e i t e r n der Emanzipation, sondern allenfalls für ihre N o t w e n d i g k e i t verwenden. »Nur wenn die Entwicklungen in den Ergebnissen abdruckt, dagegen die zugrundeliegende Untersuchung der einzelnen zionistischen Programmatiker ausspart: Rahe: Religiöse Zionstradition (s. Titelliste im Anhang). 37 Rahe: Frühzionismus, S. 334. 38 Ebd. Überschrift des Kapitels 3. 39 Ebd. S. 4—6, Zitate S. 5, 6 (zweimal). Zum Zusammenhang zwischen Problemen und Problemlösungen S. 108. 40 S. dazu ebd. S. 332 (über Lilienblum) und die entsprechende Stelle bei Shulamit Volkov: Antisemitismus als Problem jüdisch-nationalen Denkens und jüdischer Geschichtsschreibung. In: Volkov: Jüdisches Leben (s. Titelliste im Anhang), S. 88-110, hier S. 93. Ähnlich hätte er sich auch auf ihre Bemerkungen über Pinsker, ebd. S. 91 stützen können.

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Rußland in einen interpretatorischen Zusammenhang mit den analogen [?] Erscheinungen im bereits seit längerem emanzipierten und assimilierten Teil des europäischen Judentums gebracht wurden, konnten sie im zionistischen Sinne gedeutet werden.«41 Die elf untersuchten Autoren, die nach den Kriterien der Öffentlichkeitswirksamkeit, der Mischung von Klassikern und weniger Bekannten und mit dem Anspruch eines »repräsentativen Querschnitt[s] der Programmatik des Zionismus« ausgewählt wurden,42 setzten sich keinesfalls alle mit der Emanzipation auseinander; aber dann werden sie im Ergebnis eben nicht als »wirklicher Zionist«, sondern als Repräsentant eines Übergangsstadiums zwischen traditioneller, religiös begründeter Zionsbezogenheit und modernem, politischem Zionismus« (wie Jehuda Alkalay)43 eingeordnet, oder aus der Antisemitismus-Analyse des Betreffenden wird (wie bei Isaak Turoff)44 auf seine »unmißverständliche implizite Ablehnung der Emanzipationsideologie« geschlossen. Rahe bestätigt manches Bekannte - so etwa die identitätsstiftende Wirkung für das deutsche Judentum,45 in der bereits Stephen Poppel die Hauptfunktion des deutschen Zionismus gesehen hat,46 oder den Befund Walter Laqueurs, daß der Zionismus »ein Kind der Assimilation [...], ein Produkt Europas, nicht des Ghettos« sti.47 So entsprachen eine Reihe von Grundzügen der frühzionistischen Konzeption durchaus dem kritisierten >AssimilationsjudentumJudenfrage< durch Emanzipation und Assimilation zu lösen, grundsätzlich untauglich und nachweislich gescheitert [sei], daß mithin Antisemitismus mit all seinen Folgeerscheinungen für die Juden ein nicht nur vorübergehendes, sondern ein konstantes, ein unter den gegebenen Bedingungen der Diasporaexistenz der Juden räumlich und zeitlich universales Phänomen« sei,49 lehnten die frühen Zionisten »die Emanzipation und Assimilation nicht an sich« ab, »sondern nur insoweit, als sie nicht als Übergangsstadium der jüdischen Geschichte, sondern als deren Ziel betrachtet wurden. Fast durchweg wird die Emanzipation in der frühzionistischen Programmatik als historischer Fortschritt gewürdigt, nicht zuletzt deshalb, weil erst sie die Voraussetzungen für eine Realisierung des zionistischen Gedankens geschaffen habe.«50 Dies hat bereits Jehuda Reinharz deutlich gemacht - und zugleich genauer erklärt, warum die frühen Propagandaschriften der deutschen Zionisten die Emanzipation ablehnende Äußerungen enthielten: Sie faßten Emanzipation und Assimilation (die nach zionistischem Verständnis das völlige Aufgehen in der deutschen Kultur unter gleichzeitiger Ausschließung alles Jüdischen meinte) in einer Kategorie zusammen, weil sie die Assimilation für die notwendige Folge der Emanzipation hielten. Dadurch wurde die negative Bewertung der Assimilation aber auf die Emanzipation ausgedehnt.51 Rahes Ziel war es auch, das Verhältnis des Zionismus zur religiösen Tradition zu klären. Die frühen Zionisten sahen den Zionismus im Kontext der jüdischen Geschichte eher als Element der Kontuinuität als der Diskontinuität, ja identifizierten weitgehend ihr eigenes Gedankengut mit einem »>richtig verstandenen ErbeLiberalenZentralvereins< enthüllte sich schon bald als Teil einer umfassenden antizionistischen Kampagne.«85 Mit der zitierten Resolution von 1913 habe der CV sich nicht nur gegen die radikale Fraktion der Zionisten, sondern »faktisch gegen die ganze zionistische Bewegung« gerichtet. In seinem »akute[n] Bestreben, einen Keil ins zionistische Lager zu treiben und die Zionisten in der jüdischen und nichtjüdischen Öffentlichkeit zu isolieren,« habe er nicht erkannt, daß dieser Schritt auf lange Sicht sogar »nicht ohne Gefahr für die gesamte deutsche Judenheit« [?] gewesen sei." Das Verhältnis beider Organisationen im Ersten Weltkrieg war in den früheren Untersuchungen nur gestreift worden. Und obwohl der Antisemitismus damals stark zunahm, organisatorische Fortschritte machte und auch bei staatlichen Stellen einen gewissen Erfolg erzielen konnte (indem diese eine »Judenzählung«, d. h. die Erhebung der Dienstverhältnisse der Juden im Krieg, anordneten),87 sind . Ql·

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Dementsprechend wird die >Infiltrationspolitik< gegenüber der neutralen Jugendbewegung nur kurz gestreift (Eloni: Zionismus in Deutschland, S. 408f.) und das gesamte Kapitel »Appell an die Jugend« (S. 407-459) im wesentlichen aus zionistischer Binnenperspektive, nicht in bezug auf das Verhältnis zum Centralverein behandelt. 84 Eloni: Zionismus in Deutschland, S. 279. 85 Ebd. S. 283. 86 Ebd. S. 289. 87 S. dazu vor allem: Werner Jochmann: Die Ausbreitung des Antisemitismus. In: Werner E. Mosse (unter Mitwirkung von Arnold Paucker) (Hg.): Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923. (Schriftenreihe LEI 25) Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1971, S. 409-510. Mit geringfügig verändertem Titel nachgedruckt in: Werner Jochmann: Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 18701945. (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 23) Hamburg: Hans Christians 1988, S. 99-170. Zur »Judenzählung« s. vor allem Werner T. Angress: Das deutsche Militär und die Juden im Ersten Weltkrieg. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen 19 (1976), S. 77-146 (mit ausführlicher Dokumentation). - Der Vortrag Klaus

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auch Haltung und Strategie des Centralvereins in dieser Zeit erst neuerdings näher untersucht worden. David J. Engel hat die These vertreten, daß der Centralverein seinen alten aktiven Kampf gegen den Antisemitismus aufgegeben und eine »passive Strategie« verfolgt habe:88 Um die vermeintlichen positiven Entwicklungen des Krieges, d. h. des Burgfriedens, weiter zu fördern, habe er das positive Prinzip der Zugehörigkeit der Juden zum deutschen Volk hervorgehoben. Daß Engel dies als »einen gewissen Rückzug«89 deutet, ist von Jürgen Matthäus kritisiert worden. Matthäus schreibt dieses Urteil einer gewissen Geringschätzung der doppelten Zielsetzung des CV zu. Dadurch werde die Bekämpfung des Antisemitismus überbetont, die zudem vor dem Krieg eher eine Anwendung rechtlicher Mittel auf breiter Basis als, wie von Engel behauptet, eine »Politik aggressiver Konfrontation« gewesen sei.90 Engels Hauptanliegen ist allerdings zu erklären, warum der CV während des ganzen Krieges und sogar danach an dieser »neuen« Strategie festgehalten habe, obwohl er doch versprochen hatte, dann zur alten Gegnerschaft zurückzukehren: Ausschlaggebend dafür sei nicht seine Einschätzung der antisemitischen Gefahr, sondern taktische Überlegungen im Kampf gegen den Zionismus gewesen. Der CV wollte nicht eingestehen, daß seine Haltung falsch gewesen sei, was aber spätestens mit der »Judenzählung« klar geworden sei. Deshalb habe er die Zusammengehörigkeit von Deutschtum und Judentum aufs neue unterstrichen und u. a. mit Hilfe von Hermann Cohens Schriften weiter untermauert. Dabei sei es ihm, angesichts des Mitgliedergewinns der Zionistischen Vereinigung in den letzten Vorkriegsjahren, um die Erhaltung seiner Macht in der deutschjüdischen Gemeinschaft gegangen. Statt der Abwehrfunktion habe er nun seine Rolle als Schöpfer einer ideologisch korrekten und psychologisch befriedigenden Identität betont. Zweifelhaft scheint an dieser Darstellung zumindest die Behauptung, daß der CV auch nach dem Krieg die Betonung des Deutschtums zu Lasten des Kampfes gegen den Antisemitismus fortgesetzt habe. (Eher sollte man vielleicht von einer Doppelstrategie sprechen.) Darüber hinaus aber wirkt auch die Begründung selbst wenig überzeugend, weil Engel gerade für die unterstellte Motivation keine Belege anführt. Da inzwischen außerdem das Verhältnis von CV und Zionistischer Vereinigung während des Krieges genauer untersucht worden ist, muß darüber hinaus die von Engel behauptete Einförmigkeit und Kontinuität der Haltung des CV Schwabes (Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg. In: Horch [Hg.]: Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur [s. Titelliste im Anhang], S. 255266) basiert auf Sekundärliteratur und hat den Charakter einer (stellenweise etwas undifferenzierten) Skizze. 88 Engel: Patriotism as a Shield (s. Titelliste im Anhang), Zitat S. 155. 89 Ebd. 90 Matthäus: Deutschtum and Judentum under Fire (s. Titelliste im Anhang), S. 132 Anm. 11. Zitat: Engel: Patriotism as a Shield, S. 157. Das Zitat steht dort zwar im Kontext des Bruches des Burgfriedens, trifft aber durchaus, wie von Matthäus impliziert, auch Engels Charakterisierung der Strategie in der Vorkriegszeit.

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w ä h r e n d des Krieges in Frage gestellt werden. Jürgen Matthäus hat gezeigt,91 daß zwar 1913 wie auch 1918 die Gegensätze zwischen CV und Zionistischer Vereinigung unüberbrückbar erschienen, aber dazwischen mehrfache Umorientierungen sowohl im Bild voneinander wie auch in der jeweiligen Strategie lagen: von latenter Feindschaft 1914/15 (mit kurzer Zusammenarbeit im Komitee für den Osten) über die Anerkennung gemeinsamer Ziele ab Ende 1916 und die Zusammenarbeit in der Vereinigung Jüdischer Organisationen Deutschlands zur Wahrung der Rechte der Juden des Ostens92 (1918) schließlich zurück zu dem alten Gegensatz am Ende des Krieges. Nach Matthäus wurden die jeweiligen Umorientierungen durch äußeren Druck, v. a. durch den Kriegsverlauf, bewirkt (nicht wie Engel meinte, durch innerjüdische taktische Überlegungen): Als Minderheit hätten die Juden nie allein nach innerjüdischen Gesichtspunkten handeln können, sondern die augenscheinliche oder erwartete Wirkung ihres Handelns auf die Umwelt berücksichtigen müssen. Davon seien sowohl die kurzfristigen und die langfristigen »Kriegsziele« beider Organisationen wie auch ihre Meinungsverschiedenheiten und ihr zeitweiliger Konsens bestimmt worden. Und daß der CV statt der Abwehr des Antisemitismus die Gemeinsamkeit mit allen Deutschen betonte, war nach Matthäus nur situationsadäquat: Mit dem Ausbruch des Krieges sei schließlich der Appell an das Deutschtum zur Hauptrechtfertigung jeglicher Politik geworden. Mit der Etablierung der Republik änderten sich die Verhältnisse für die Juden insgesamt: Nun erhielten sie einerseits über die formale Gleichberechtigung hinaus auch die tatsächliche Möglichkeit zum Wirken in öffentlichen Ämtern, und die jüdische Religionsgemeinschaft wurde (in Gestalt des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden) wie eine Körperschaft des öffentlichen Rechts behandelt und damit de facto, wenn auch nicht de jure, den christlichen Kirchen gleichgestellt; andererseits aber waren sie in den frühen Jahren der Weimarer Republik mit einem gewalttätigen Antisemitismus neuer Qualität konfrontiert und erlebten, nach einigen ruhigen Jahren, dann den Aufstieg des Nationalsozialismus.93 Aber auch die Grundlage für die Beziehungen zwischen 91

Matthäus: Deutschtum and Judentum under Fire. Zu dieser in der Literatur bisher kaum beachteten Organisation s. Egmont Zechlin (unter Mitarbeit von Hans Joachim Bieber): Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg. Göttingen 1969, S. 221-223; zur Bedeutung dieses Zusammenschlusses für die innerjüdischen Beziehungen Maurer: Ostjuden in Deutschland, S. 33f., 38f.; zu ihrem Einspruch bei der Reichsregierung gegen die Grenzsperre gegen ostjüdische Arbeiter im April 1918 Maurer: Grenzsperre (s. Titelliste im Anhang), S. 206f., 218-221. 93 S. dazu sowie zur Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft zusammenfassend: Maurer: Die Juden in der Weimarer Republik (Kap. l, Anm. 8). - Ausführlicher die einzige Überblicksdarstellung über die Juden in der Weimarer Republik: Donald L. Niewyk: The Jews in Weimar Germany. Baton Rouge - London: Louisiana State University Press 1980. Den Schwerpunkt seiner Darstellung bildet die Reaktion auf den Antisemitismus in ihrer Ausformung bei den verschiedenen ideologischen Richtungen innerhalb der deutschen Judenheit (CV, Zionismus, Verband nationaldeutscher Juden), 92

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dem Centralverein und der Zionistischen Vereinigung waren verändert: In gewisser Weise wurde die ZVfD durch die Verlegung der bis dahin in Deutschland residierenden Zionistischen Weltorganisation nach London geschwächt. Doch schlimmer wurde (wegen seines stolzen Bekenntnisses zu Deutschland) der Centralverein von der Kriegsniederlage getroffen - während sich die Zionisten mit ihrer Palästinaorientierung auf derselben Seite wie das siegreiche England (als Mandatsmacht für Palästina) wähnen konnten. Dies sind die Ausgangsüberlegungen Peter M. Baldwins in einem Aufsatz über zionistische und nichtzionistische Juden in den späten Jahren der Weimarer Republik.94 Darin ist er zu dem Ergebnis gekommen, daß man zu dieser Zeit von einer scharfen Unterscheidung zwischen Zionisten und Nichtzionisten nicht mehr sprechen könne, obwohl die Nichtzionisten im allgemeinen weiterhin die Grundprinzipien des politischen Liberalismus akzeptierten und die Zionisten die Argumente des klassischen Liberalismus ablehnten und eine »gutartige völkische« Gesellschaftsauffassung favorisierten.95 Doch auch wenn die theoretischen und ideologischen Gegensätze bestehen blieben, hätten sich beide in ähnlichen Aktivitäten engagiert. Vor allem hätten sie das individuelle und kollektive Selbstbild der deutschen Juden gestützt. Die Nichtzionisten hätten vieles Veraltete in ihrem sozialen und politischen Denken aufgegeben und sich der zionistischen Position mehr angenähert. So unterstützte ja der Centralverein seit 1920 den Aufbau Palästinas (wenn auch mit Blick auf die bedrängten Ostjuden), und er betrachtete das Judentum nicht mehr nur als Religions-, sondern als Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaft. (Ja, von einzelnen führenden Mitgliedern wurde es sogar als Gefühlsgemeinschaft gedeutet.)96 Die Juden seien so zu einer eigenständigen Gruppe geworden, die in einer gewissen, aber nur vage definierten Beziehung zu den Deutschen gestanden habe. Die Zionisten andererseits hätten auf dreierlei Weise auf den Antisemitismus reagiert: durch Auswanderung, die aber auch 1930-32 sehr klein blieb; durch die nun als notwendig erkannte Abwehrarbeit, die sie wie der CV durch Unterstützung nichtantisemitischer Parteien betrieben hätten; durch die Entwicklung einer jüdischen Identität in Deutschland.97 hinter der die religiösen und kulturellen Angelegenheiten der jüdischen Gemeinschaft zurücktreten. 94 Baldwin: Zionist and Non-Zionist Jews (s. Titelliste im Anhang), S. 88. 95 Ebd. S. 106 (»a benign völkisch approach to society«). 96 S. dazu Maurer: Ostjuden in Deutschland, S. 746f., 751f. 97 Wie der Centralverein und die Zionistische Vereinigung in den zwanziger Jahren angesichts des wachsenden Antisemitismus die Stellung der Juden in Deutschland sahen, behandelt auch Yahil: Jewish Assimilation (s. Titelliste im Anhang). Sie hebt hervor, daß b e i d e den Minderheitenstatus (d. h. einen durch Verfassung oder besondere Verträge definierten Status als nationale Minderheit) ablehnten und daß der Konflikt zwischen Deutschtum und Judentum für die Zionisten derselbe wie für den CV gewesen sei. Der Gegensatz zwischen ihnen sei deshalb nicht so scharf gewesen, wie ihre konträren Anschauungen und ihre fortgesetzten Angriffe gegeneinander vermuten ließen. - Gelegentlich wirkt Yahils Darstellung allerdings etwas schematisch, so z. B.,

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Die zionistische Haltung zur »Abwehr« ist nun eingehender von Jehuda Reinharz untersucht worden, der damit die gängige Ansicht in Frage stellt, daß die Zionisten mit Ausnahme der Ausschreitungen von 1923 den Antisemitismus nicht systematisch zur Kenntnis genommen hätten:98 Diese Einschätzung sei allein auf der Grundlage der zionistischen Presse, besonders der Jüdischen Rundschau, getroffen worden, die tatsächlich lange relativ konsequent die Abwehrarbeit diskreditiert habe. Doch wenn man interne unveröffentlichte Quellen heranziehe, werde das Bild differenzierter. Insgesamt hätten die Zionisten weder ideologisch noch praktisch eine eindeutige Haltung zum Antisemitismus eingenommen. Faßte am Ende des Krieges ein Teil der Führung praktische Abwehrmaßnahmen ins Auge, so fand eine Debatte doch erst 1923/24 statt. Bei physischer Bedrohung sollten sich alle Juden zusammenschließen und die Zionisten ihre Abwehr mit anderen jüdischen Organisationen koordinieren. Diese neue Haltung führt Reinharz sowohl auf die äußere Situation - die antisemitischen Ausschreitungen - wie auf die innere Veränderung der ZVfD durch die Präsidentschaft Alfred Landsbergs zurück. In den folgenden Jahren wurde unter Blumenfeld dann wieder die Distanz der Zionisten gegenüber der deutschen Politik und die palästinozentrische Politik betont, doch habe man - abgesehen von einer gewissen Konsistenz in offiziellen Stellungnahmen - keinen absolut ablehnenden Standpunkt gegen die Abwehr mehr eingenommen. Insbesondere habe es in dieser Frage Spannungen zwischen dem Zentrum und der lokalen Ebene gegeben, wo in einer Reihe von Fällen Zionisten keinen Widerspruch zwischen ihrer Weltanschauung und Zusammenarbeit mit dem Centralverein sahen. Erteilte die Führung dem zunächst ihre (allerdings auf die Aktivität als einzelne beschränkte) Zustimmung, so änderte sie um die Jahreswende 1929/30 auch ihre offizielle Haltung: Sie erkannte den Kampf gegen die wirtschaftliche Not und den Antisemitismus als zionistische Pflicht an und errichtete sogar eine permanente Kommission für diese Fragen. Allerdings mußten die Zionisten intern zugeben, daß sie nicht über eigene effiziente Methoden zur Bekämpfung des Antisemitismus verfügten und nur die bestehenden mit einer zionistischen Perwenn sie einen »ähnlichen Trend« (ebd. S. 44) wie beim CV nicht nur beim Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, sondern auch beim Verband nationaldeutscher Juden ausmacht. Selbst wenn vielleicht im Rahmen ihrer Beweisführung, wonach die gegenseitigen Angriffe von CV und Zionisten nicht deren tatsächliche Annäherung widerlegen, auch die scharfe Ablehnung des CV gegenüber den Nationaldeutschen Juden und deren Diskreditierung der Mehrheit der deutschen Juden als »Zwischenschichtler« nicht als Gegenargument verwandt werden kann - e i n grundsätzlicher Unterschied bleibt doch bestehen: Bei den Nationaldeutschen Juden fehlte alles positiv Jüdische. (Zur Theorie der »Zwischenschicht« s. Max Naumann: Vom nationaldeutschen Juden. Berlin: Albert Goldschmidt 1920, besonders S. 8-15). 98 Reinharz: Zionist Response to Antisemitism (s. Titelliste im Anhang). Eine frühere kürzere Fassung dieses Artikels hat er unter dem Titel The Zionist Response to Antisemitism in the Weimar Republic publiziert in: Reinharz/Schatzberg (Hg.): Response to German Culture (s. Titelliste im Anhang), S. 266-293.

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spektive füllen könnten. Und während Reinharz einerseits betont, daß weder der Centralverein noch die Zionistische Vereinigung sich ideologisch wesentlich weiter entwickelt hätten, unterstreicht er mit folgender Aussage doch zumindest implizit ihre Gemeinsamkeit: Kein Teil des deutschen Zionismus (nicht einmal die Blumenfeld-Fraktion) habe die Rückkehr zum Judentum als Widerspruch zur Bindung an die deutsche Kultur verstanden. »Was immer ihre Ziele waren, alle Zionisten befürworteten irgendeine Art von Synthese zwischen Deutschtum und Judentum.«" Und ein Teil der Zionisten, die in der Jüdischen Volkspartei Organisierten, habe sogar sein Interesse an der Diaspora proklamiert - in Widerspruch zur früheren »Galuthverneinung« (Verneinung des Exils). Die von Reinharz nur kurz behandelte Jüdische Volkspartei (JVP) hat in einem reflektierten Aufsatz Michael Brenner untersucht und damit die Ergebnisse seiner auf breites Quellenmaterial (insbesondere aus israelischen Archiven) gestützten Magisterarbeit zusammengefaßt.100 Er stellt sie als dritte Kraft neben (dem religiösen) Liberalismus und Zionismus vor, die noch ins Bild des deutschen Judentums zu integrieren sei und dieses damit auch insgesamt verändere: Die Mitglieder der Volkspartei teilten weder die Ansicht, daß das Judentum nur eine Religion sei, noch stimmten sie der zionistischen Orientierung auf Palästina zu. Sie betrachteten sich als Deutsche und lehnten doch die Vorstellung eines jüdischen Volkes nicht ab. Deshalb versuchten sie, die Religionsgemeinde in eine Volksgemeinde zu verwandeln. Damit teilten sie nach Brenner gewisse Autonomievorstellungen, wie sie unter den Juden Osteuropas existierten - waren gewissermaßen die deutsche Version des Diaspora-Nationalismus. (Zugleich wurde damit die Gleichsetzung von Nationaljudentum und Zionismus wieder aufgehoben.) Allerdings schränkt er das zu Recht durch den Hinweis ein, daß die Jüdische Volkspartei in Deutschland immer auf die jüdischen Gemeinden beschränkt war und nie in die allgemeine Politik eintrat. Die Jüdische Volkspartei war eine Koalition aus Zionisten, Teilen der Orthodoxie und Ostjuden,101 wobei die Konstellationen in den einzelnen Gemeinden durchaus unterschiedlich waren. In ihrem Bestreben, eine Volksgemeinde zu schaffen, mußte sie aber keine neuen Strukturen herstellen, sondern konnte auf dem Bestehenden aufbauen und mußte nur die Tätigkeiten neu gewichten; denn die jüdischen Gemeinden waren auch vor dem Auftreten der Volkspartei mehr als Religionsgemeinden. Brenner meint - besonders mit Blick auf die größten -, man könne sie eher mit Stadtverwaltungen als mit Kirchengemeinden vergleichen. Insbesondere ging es der JVP um eine Ausdehnung der Sozialarbeit, Wiederbelebung des jüdischen Schulwesens, Wiederherstellung des traditionellen Gottesdienstes und Demokra99

Reinharz: Zionist Response to Antisemitism, S. 120. Brenner: Jüdische Volkspartei (s. Titelliste im Anhang). 101 Da er auch den Zusammenhang von Ostjudenanteil und Wahlergebnis der JVP in einzelnen Gemeinden untersucht, ist es zu bedauern, daß er nicht auch auf die Spannungen zwischen den Ostjuden (bzw. ihrer organisierten Vertretung) und der JVP hingewiesen hat. S. dazu Maurer: Ostjuden in Deutschland, S. 702-706. 100

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tisierung des Wahlrechts in den jüdischen Gemeinden. Aber auch unter Leitung der Volkspartei verwandelte sich die Berliner Gemeinde (1927-1930) nicht in eine Volksgemeinde. Insofern bestand die Hauptwirkung der JVP in der Bewußtseinsveränderung, deren Ziel die Schaffung eines neuen nationaljüdisch definierten Selbstverständnisses war. Wie schon Reinharz, so weist auch Brenner darauf hin, daß die Führer der JVP der ersten Zionistengeneration entstammten, aber im Gegensatz zu Reinharz versteht er die Volkspartei nicht als integralen Bestandteil der Zionistischen Vereinigung,102 sondern als Opposition gegen die nun die ZVfD führende zweite, palästinaorientierte Generation. Die Volksparteiler dagegen sahen ihre Zukunft in Deutschland, nicht in Jerusalem. Und das Engagement führender Mitglieder in der deutschen Politik und verschiedenen Parteien belege, wie tief sie in Deutschland verwurzelt gewesen seien.103 Zwar waren die meisten Führer der JVP Mitglieder der ZVfD, doch in Gemeindeangelegenheiten gingen sie Kompromisse mit den Liberalen ein, und der ZVfD gelang es nie, völlige Kontrolle über die JVP zu erlangen. Von Interesse sind auch Brenners weiterführende, aber wohl noch genauer zu belegende Überlegungen zum Einfluß der nichtjüdischen Umgebung auf Ideen und Methoden der innerjüdischen Parteien: Die Demokratisierungsforderung, den säkularen Charakter neuer jüdischer Parteien und die Gewaltsamkeit von Wahlkämpfen sieht er als Reflex der »realen Politik« der Weimarer Zeit, die Politisierung der jüdischen Gemeinde als Auswirkung der Novemberrevolution. Aber im Gegensatz zur Weimarer Republik habe die Parteienvielfalt in der jüdischen Gemeinde nicht zu einer Zersplitterung geführt, weil etwa in Berlin fast 90% aller Stimmen auf zwei Parteien fielen: die JVP und die Liberalen. Der Centralverein und die Zionistische Vereinigung wurden etwa zur selben Zeit gegründet, von Persönlichkeiten ähnlicher sozialer Herkunft, Bildung und gesellschaftlicher Stellung. Beide antworteten auf den Antisemitismus und eine Krise der jüdischen Identität, die zwar nicht von ihm allein hervorgerufen, aber doch entscheidend verstärkt wurde. Der israelische Politologe Shlomo Avineri hat in einem zusammenfassenden Aufsatz, der in seiner gesamteuropäischen Perspektive und Gedrängtheit (vielleicht notwendigerweise) gelegentlich etwas undifferenziert wirkt, darauf aufmerksam gemacht, daß das Problem der Identität durch Liberalismus und Toleranz nicht gelöst, sondern in gewissem Maße sogar verschärft wurde. Gerade in der Welt des Nationalismus entstanden die Identitätskonflikte. »Der [traditionellen] christlichen Gesellschaft wollte kein jüdischer Mensch als Jude beitreten. Doch nun, da sich die Gesellschaft ihm auf universalistischen Grundlagen eröffnete, stellte sich wiederum die Frage, ob die jü102 103

Reinharz: Zionist Response to Antisemitism, S. 119. Ein eindrückliches Beispiel für die Komplexität dieses Selbstverständnisses findet man in der weitgefächerten Publizistik des Leiters der Pressestelle der preußischen Regierung, Hans Goslar. S. dazu: Trade Maurer: Auch ein Weg als Deutscher und Jude: Hans Goslar (1889-1945). In: Schoeps (Hg.): Träger bürgerlicher Kultur (s. Titelliste im Anhang), S. 193-239.

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dische Person nun sich selbst [...] als Franzose oder Pole oder Deutscher sehen« und von anderen so gesehen werden konnte. »Jude sein bedeutete nicht länger, eine einzige, manchmal vielleicht heroische Entscheidung zu fällen, zu seiner Überzeugung zu stehen und nicht durch Bekehrung dem Druck der Mehrheit nachzugeben. Es wurde nun zu einer tagtäglichen Folge von unzähligen Entscheidungen, die die Unterschiede und Eigenarten, die innerhalb der >Gleichheit< bestanden, in Dutzenden und Hunderten persönlicher Entscheidungen zeigte.«104 Avineri hat damit zu erklären versucht, warum der Zionismus erst im 19. Jahrhundert entstehen konnte, obwohl es - schlimmere - Verfolgungen der Juden und die während der gesamten Zeit der Diaspora bestehende Bindung an Palästina auch früher gab. Doch zugleich kennzeichnet die zitierte Passage auch die Situation, in der a l l e Juden standen. Auf sie gaben die »deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens« und die Zionisten unterschiedliche Antworten. An ihrer grundsätzlichen Haltung und ihrem praktischen Verhalten wird die Problematik historischen Urteilens und Wertens besonders deutlich. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, daß die Perspektive zur Bewertung des Centralvereins nicht aus dem später Geschehenen genommen werden kann. Dies würde allenfalls zeigen, daß er - bezüglich seiner Abwehrarbeit - letztlich erfolglos blieb, den Antisemitismus nicht beseitigen konnte. Doch betrachtet man ihn im Rahmen seiner Möglichkeiten, so sah er politisch klarer und war auch erfolgreicher als andere antinationalsozialistische Gruppierungen.105 Das zeigt, daß jedes Urteil nur relativ sein kann und wirft die Frage nach dem Maßstab für »richtiges« Verhalten auf - wobei sich sofort die nächste Frage stellt, ob »richtig« wirklichkeitsadäquat oder etwa den selbstformulierten Idealen entsprechend bedeuten soll. Die zeitgenössisch als »Aufklärung« bezeichnete Strategie, den Antisemitismus mit rationalen Argumenten zu widerlegen, hat sich als nicht erfolgreich, also nicht realistisch erwiesen; denn sie war von Voraussetzungen abhängig, die nicht gegeben waren: Sie war an die Vernunft gerichtet, und sie setzte voraus, daß die Adressaten — die Öffentlichkeit generell, aber auch die Antisemiten - bereit waren, diese Argumente anzuhören, sie zu akzeptieren und danach zu handeln.106 Aber was sonst hätten die Juden tun können? Diese Rationalität entsprach der jüdischen und liberalen Tradition. Immerhin erkannten Teile des Centralvereins am Ende der Weimarer Republik die Notwendigkeit einer neuen Strategie. Dies nur als »zu spät« zu kennzeichnen, würde der Erkenntnisleistung nicht gerecht - und enthielte implizit die Möglichkeit, daß vielleicht alles anders gekommen wäre, hätten sich die Juden rechtzeitig besonnen. Doch das hieße, gänzlich zu verkennen, wie gering ihre Einflußmöglichkeiten als bedrängte Minderheit waren. - Vom Vorwurf des »Assimilantentums« kann man den Centralverein mit Friesel und Paucker gewiß freisprechen und muß im Gegenteil die 104

Avineri: Die Krise der jüdischen Identität (s. Titelliste im Anhang), S. 536f. Baldwin: Zionist and Nonzionist Jews, S. 92 (in Anlehnung an Arnold Paucker). 106 Ausfuhrlicher dazu Maurer: Ostjuden in Deutschland, S. 185f. 105

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Stärkung der jüdischen Identität107 sowohl durch die Abwehrarbeit selbst wie durch die mit der Zeit zunehmende positive Betonung des Judentums hervorheben. Die deutschen Zionisten waren in der Zionistischen Weltorganisation der radikalste Landesverband. Kein anderer verabschiedete eine Resolution, die die Übersiedlung nach Palästina forderte.108 Doch wanderten kaum deutsche Zionisten nach Palästina aus. Deshalb ist die Funktion der ZVfD vor allem als identitätsstiftende gedeutet worden.109 Ja, in einer weitergehenden Interpretation war es gerade diese Identität, die die Auswanderung zweitrangig erscheinen ließ und so letztlich die Grundlage für die Fortsetzung des Lebens in Deutschland schuf.110 So erfüllten diese beiden Organisationen trotz ihrer unterschiedlichen Ziele eine ähnliche Funktion. Friesel hat sogar die Ansicht vertreten, daß sie etwa zur selben Zeit den Prozeß der Radikalisierung ihrer jüdischen Ziele durchlaufen hätten - in den Jahren vor 1912111 (was für den CV vielleicht noch näher gezeigt werden müßte). Und auch wenn das nicht beabsichtigt war und vielleicht nicht einmal bewußt geschah, so wird doch aus historischer Perspektive deutlich, daß sich Positionen und Tätigkeitsbereiche während der zwanziger Jahre annäherten. Zugleich wurde die alte Bipolarität durch die Entstehung weiterer jüdischer Gruppierungen zusätzlich geschwächt: durch die Nationaldeutschen Juden, die in allen anderen religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen auf heftigste Abwehr stießen,112 und durch die Jüdische Volkspartei. Eine letzte Bemerkung zur Heftigkeit der Debatten und zur Problematik historischen Urteilens: In der (mündlichen) Diskussion über Frieseis Beitrag zur Vorkriegsentwicklung des CV spielte das - in den schriftlichen Stellungnahmen dazu nur von Schatzker gestreifte - Thema »Zionismus versus Centralverein« eine wichtige Rolle, wobei der Zionismus als bessere Alternative eines jüdischen Wegs erschien. Und dies, so vermutet Friesel, sei wohl die tiefere Ursache für die Meinungsverschiedenheit. Obwohl Friesel sich selbst zum Zionismus bekennt, weist er auf die Widersprüche im Verhalten der deutschen Zionisten hin und hebt hervor, daß auch sie die Zukunft nicht vorhersagen konnten. Deshalb sei es eine ebenfalls in die Vergangenheit projizierte Prognose, die Zionistische Vereinigung 107

So auch Matthäus: Deutschtum and Judentum under Fire, S. 132; Engel: Patriotism as a Shield, S. 168f.; Paucker: Defense against Antisemitism, S. 114. 108 Lamberti: From Coexistence to Conflict, S. 71. 109 Reinharz: Challenge, S. 15; Rahe: Frühzionismus, S. 336. 110 Baldwin: Zionist and Nonzionist Jews, S. 100, 102. Früher so schon Poppel: Zionism in Germany (Anm. 46), Kapitel 6 (besonders S. 92) und S. 164f. 111 Friesel: Response, S. 110. 112 Zu dieser Bedeutung der Nationaldeutschenjuden Maurer: Die Juden in der Weimarer Republik (Kap. l, Anm. 8), S. 115f. Zu der nur ca. 3.000 Mitglieder umfassenden Organisation ausführlicher: Carl J. Rheins: The Verband nationaldeutscher Juden 19211933. In: LBIYB 25 (1980), S. 243-268; Niewyk: Jews in Weimar Germany (Anm. 93), S. 165-177.

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8. Politische Organisationen der Juden

für Deutschland als realistische Alternative darzustellen. Auch wenn der Zionismus seine Anhänger mit einer neuen Einstellung zum jüdischen Leben ausgerüstet habe, sei doch alles in der luftigen Höhe sozialer und ideologischer Spekulation geblieben. Schließlich führt er noch die ausgedehnte jüdische Geschichtsschreibung über den Jüdischen Arbeiterbund in Rußland und Polen an, in der es keine ähnliche Debatte und keine »Prognose aus späterer Einsicht«113 gebe. Das aber habe seine Ursache darin, daß die Konzeptionen des Bund n u r noch Geschichte seien, die Ideologie des Centralvereins aber von anderen Gruppen des Diaspora-Judentums weitergetragen werde.114 - Damit hat Friesel einen Eindruck formuliert, der sich bei der Lektüre der Arbeiten über den Centralverein und die Zionistische Vereinigung für Deutschland auch dem Außenstehenden gelegentlich aufdrängt: Die Erforschung des Centralvereins und des Zionismus ist nicht nur ein Arbeitsfeld der Historiker wie viele andere auch, sondern gelegentlich auch ein Kampfplatz, auf dem, wenn auch nur implizit und vielleicht sogar unbewußt, der Streit zwischen unterschiedlichen Konzeptionen jüdischen Lebens in der Gegenwart ausgetragen wird.

113

"-'rnesel: Friesel: Kesponse, Response, 5. S. 111 ill. Vgl. (weniger prononciert) Paucker: Jewish Self-Defence (Anm. 8), S. 62.

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9. Die jüdische Frau und die jüdische Familie

Wie in der Geschichtswissenschaft generell, so hat inzwischen auch im deutschjüdischen Bereich die historische Familienforschung und die Frauengeschichte begonnen. Und wie im allgemeinen, so beanspruchen diese Teildisziplinen auch hier, nicht nur das bisher Fehlende zu ergänzen, indem die von der Geschichtsschreibung lange weitgehend ausgeblendete Hälfte der Menschheit zum Gegenstand der Forschung gemacht wird, sondern Entscheidendes zum Verständnis der Geschichte überhaupt beitragen zu können. In der Tat scheint die Untersuchung der jüdischen Familie und der Rolle der jüdischen Frau nötig, um den Akkulturationsprozeß besser zu verstehen. Dies ergibt sich nicht allein daraus, daß die Führer der jüdischen Gemeinschaft in Zeiten schnellen sozialen Wandels klagten, die Familie entspreche nicht mehr dem Vorbild der edlen Vergangenheit, und darin die Ursache einer negativ bewerteten Assimilation erblickten,1 bzw. - gewissermaßen als Variante - den Frauen vorwarfen, ihre Assimilation führe zum Rückgang der jüdischen Bevölkerung und zum Niedergang der jüdischen Religion.2 Viel mehr noch liegt sie darin begründet, daß die Weitergabe der jüdischen Tradition nicht nur Sache der Gemeinde, sondern mindestens im selben Maß der Familie war. Dies ergibt sich schon daraus, daß die jüdischen Religionsvorschriften, werden sie eingehalten, das ganze Leben durchdringen und daß der jüdische Kalender den Lebensrhythmus prägt - mit dem Sabbat und mit den besonderen Feiertagen. Aber es waren die Frauen, die durch das Entzünden der Sabbatkerzen den wöchentlichen Ruhetag einleiteten; es waren sie, die ihn und die Feste gestalteten und, wie insbesondere Memoiren zeigen, damit mehr als die Synagoge den Kindern das Judentum vermittelten. Die jüdischen Feste waren zugleich religiöse und Familienfeiern.3 Die Familie war die Grundeinheit der Gemeinde, und in der Zeit vor der Emanzipation übte die Gemeinde eine starke soziale Kontrolle aus (die sich z. B. auch auf die Eheschließungen erstreckte). Familie und Gemeinde teilten sich in die Verantwortung für die Weitergabe jüdischer Werte und für das Überleben des Judentums. Sie können geradezu als »symbiotische Institutionen« betrachtet werden, die sich gegenseitig bestärkten. Nach der Auflösung des Ghettos, als die Gemeinde allein auf ihre moralische Überzeugungskraft angewiesen war, wirkten beide Institutionen nicht mehr 1

Paula E. Hyman: Introduction: Perspectives on the Evolving Jewish Family. In: Cohen/Hyman (Hg.): Jewish Family (s. Titelliste im Anhang), S. 3-13, hier S. 4. 2 Kaplan: Tradition and Transition (s. Titelliste im Anhang), S. 3. 3 Kaplan: Priestess and Hausfrau (s. Titelliste im Anhang), S. 68.

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unbedingt zusammen - und dies veränderte die Rolle beider.4 Wie im Zusammenhang dieses Berichts schon mehrfach deutlich wurde, durchdrang die Akkulturation keinesfalls alle Lebensbereiche gleichermaßen - und gleichzeitig mit ihr wirkten auch die Kräfte der Selbstbewahrung. Insofern die traditionelle jüdische Familie Züge aufwies, die zentral waren für die Entwicklung der bürgerlichen Familie - Bescheidenheit, Sparsamkeit, Gemütlichkeit - konnte gerade die Familie den Prozeß der Integration in die bürgerliche Gesellschaft fördern. Zugleich aber eignete sie sich besser als die Gemeinde, die auch leichter von den Nichtjuden zu beobachten war, als Hüter der Tradition. So war die Familie der Raum, in dem aus ausgewählten Elementen der jüdischen kulturellen Tradition und der allgemeinen Kultur eine neue Synthese geformt wurde. Damit war sie zugleich die Institution, welcher der beispiellose Erfolg der jüdischen Minderheit im 19. Jahrhundert zu verdanken war, der sich in Besitz und Bildung als wesentlichen Elementen der bürgerlichen Gesellschaft dokumentierte.5 Indem die Familie der Jugend bestimmte Normen vermittelte und den Erfolg für sie definierte, hatte sie wesentlichen Anteil an der sozialen Mobilität der jüdischen Minderheit, ein Phänomen, das allerdings noch genauer zu untersuchen wäre.6 Der evidente Zusammenhang der Untersuchungskomplexe Frau und Familie wird für die jüdische Geschichte noch durch die starke Stellung der Frau in der Familie unterstrichen, die trotz Differenzen in der Beurteilung unbestritten ist. In einem sehr anregenden Konferenzbeitrag hat Julius Carlebach prononcierte Thesen zur Entwicklung der jüdischen Familienstruktur und der Stellung der jüdischen Frau vorn ausgehenden 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vorgetragen.7 Sie beruhen nicht auf quantifizierenden Untersuchungen über jüdische Familien (auf deren Notwendigkeit Carlebach gleichwohl hinweist), sondern stellen den Versuch dar, der in drei Abschnitte geteilten allgemeinen historischen Entwicklung drei Familienmodelle bzw. idealtypische Familienkonstellationen zuzuordnen. Dabei entspräche der Endphase des Absolutismus die Subsistenzfamilie, deren Hauptanliegen in Anlehnung an die Allgemeine Zeitung des 4

Hyman: Introduction (Anm. 1), S. 11. - Der Zusammenhang mit der Gemeinde ist z. T. sogar als konstitutiv für die ihrem Wesen nach jüdische Familie angesehen worden (im Gegensatz zu einer Familie, die nur aus Juden besteht): Die jüdische Familie könne nicht als rein private Domäne funktionieren. Sie sei immer Teil der öffentlichen Sphäre, da die Gemeinde in die Familie hineinreiche und umgekehrt die Familie in die Gemeinde hinausreiche. So Julius Carlebach in seiner Rezension des Sammelbandes von Cohen/Hyman (Hg.): Jewish Family, in: Jewish Journal of Sociology 29 (1987), S.64f. 5 Volkov: Erfolgreiche Assimilation, S. 375-377. 6 Hyman: Afterword. In: Cohen/Hyman (Hg.): Jewish Family (s. Titelliste im Anhang), S. 230—235, hier S. 233. S. dazu auch Shulamit Volkov: Jüdische Assimilation und Eigenart im Kaiserreich. In: Volkov: Jüdisches Leben (s. Titelliste im Anhang), S. 131145, hier S. 138-141. 7 Julius Carlebach: Family Structure and the Position of Jewish Women. In: Messe/ Paucker/Rürup (Hg.): Revolution and Evolution (s. Titelliste im Anhang), S. 157-187.

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Judentums (1838) als »Erwerb und Religion« bezeichnet werden; dem »Kirchenund Erziehungsstaat« die Bürgerfamilie, die nach Gleichheit v o r dem Gesetz und der Gleichstellung des Judentums als »Kirche« mit den christlichen Kirchen strebte; schließlich dem säkularen kapitalistischen Einheitsstaat die urbanisierte Familie, deren Ziel die Gleichheit d u r c h das Gesetz war. Während Carlebach die Beziehungen zwischen Mann und Frau beim ersten Typ durch die Teilnahme der Frau an den Berufsgeschäften, ihre starke soziale Stellung, die Beschränkung der strengen Geschlechtertrennung auf Synagoge und religiöse Studienkreise und die Anerkennung der sexuellen Bedürfnisse der Frau charakterisiert, betont er beim zweiten Typ die Entwicklung von der Partnerschaft zur Unterordnung unter einen autoritären, ja die Familie oft despotisch regierenden Mann und die Eliminierung der Sexualität der nun zur »Hausmutter« werdenden Frau und deutet dies als Nebenprodukt der Europäisierung der jüdischen Familie. In der dritten Phase schließlich verringert sich - nach diesem Modell - mit der Schrumpfung des Haushalts und dem damit verbundenen Verlust von Macht über Dienstboten auch die Autorität der Frau als Mutter, während gleichzeitig ihre Persönlichkeit und das Interesse an der Entwicklung der Kinder eine größere Rolle spielen. Der Privatisierung der Familie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsprachen nach Carlebach der Verlust der traditionellen Gemeindebindungen und die steigende Säkularisierung. Als Faktoren dieses Wandels macht er die säkulare Bildung, die Versuche zur Veränderung der jüdischen Berufsstruktur und die siedlungsmäßige Vermischung von Juden und Nichtjuden aus. In einem ungewöhnlich ausführlichen Korreferat hat Marion Kaplan einer Reihe einzelner Behauptungen Carlebachs widersprochen - und so etwa mit Hinweis auf die nie egalitäre Stellung von Mann und Frau einerseits und die fortgesetzte Beteiligung der Frau am Erwerbsleben, besonders im Familiengeschäft, andererseits den starken Gegensatz zwischen dem ersten und zweiten Typ für unzutreffend erklärt. Kaplan stellte in der jüdischen Familie »patriarchalische Arroganz« sowohl vor wie nach ihrer Verbürgerlichung fest - wobei sie es für gleichgültig erklärte, ob deren Wurzeln nun jüdisch seien oder nicht. Insgesamt schien ihr 1979/81 die Zeit für Modellbildungen noch nicht gekommen, vielmehr müßten erst ausreichend Informationen gesammelt und dabei insbesondere auch nach verschiedenen sozialen Gruppen differenziert werden. Aus ihrer Kenntnis der allgemeinen Literatur zur Frauen- und Familiengeschichte und ihrer eigenen Beschäftigung mit der Geschichte der jüdischen Frau entwickelte sie einen umfangreichen und höchst detaillierten Fragenkatalog für die Erforschung der jüdischen Frau und Familie. Dabei mahnte sie auch die Heranziehung von Quellen an, in denen Frauen selbst ihre Erfahrungen darstellen (also insbesondere Memoiren).8 Schon aus diesen kurzen Erläuterungen wird die unterschiedliche 8

Marion Kaplan: Family Structure and the Position of Jewish Women. A Comment. In: Mosse/Paucker/Rürup (Hg.): Revolution and Evolution (s. Titelliste im Anhang), S. 189-203, Zitat S. 199.

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Perspektive der beiden Autoren deutlich: einer jüngeren feministischen Historikerin auf der einen Seite und eines älteren Soziologen und Historikers auf der anderen, der zwar die Frauen in die Geschichte hereinholen und ihren bisher unterbewerteten großen Einfluß auf die Entwicklung der jüdischen Minderheit herausarbeiten will, aber seinem Selbstverständnis nach keine feministische Perspektive präsentiert. Ihre Thesen gegeneinander abzuwägen, bleibt vorerst schwierig: Während Carlebach aus einem heterogenen Quellenkorpus abstrahierend verallgemeinert, kann Kaplan für viele ihrer Behauptungen jeweils auch Belege aus einzelnen Quellen anführen (und die Aussagefähigkeit einzelner von Carlebachs Quellen für den Untersuchungszeitraum erfolgreich in Frage stellen). Dabei bleibt aber die Frage der Repräsentativität der von beiden verwendeten Quellen offen. Einzelne Aspekte des von ihr skizzierten Forschungsprogramms hat Kaplan inzwischen genauer ausgearbeitet,9 doch beschränken sich alle diese Untersuchungen auf das Kaiserreich und die Weimarer Republik, so daß die ersten beiden Phasen aus Carlebachs Typologie nicht eingehender überprüft werden. Eine vorläufige Übersicht über die Rolle der jüdischen Frau in Haus und Gemeinde (als Rahmen der jüdischen Binnenentwicklung) sowie im Bildungs- und im Berufsleben (als Rahmen der Begegnung mit Nichtjuden) hat sie bereits 1982 gegeben und den ersten Komplex 1986 noch einmal weiter ausgearbeitet.10 In diesen wie auch in ihren sonstigen Arbeiten benutzt sie neben Statistiken und normativer Literatur zeitgenössische Publizistik und insbesondere Personalquellen (Memoiren, Tagebücher, Briefe, außerdem auch Interviews). Frauen erlebten das Vorwärtsdrängen und Vorwärtsgezogen-Werden durch Akkulturation, Assimilation, Integration anders als Männer. Nicht nur für Bildung, Beruf und Politik, sondern auch für die religiösen Bräuche und die sozialen Bindungen an die jüdische Gemeinschaft konnte Kaplan eine zeitliche Verzögerung feststellen. Ihr Anteil an Taufen und Mischehen lag wesentlich unter dem der Männer. Jüdische Frauen kleideten sich und sprachen wie ihre nichtjüdischen Nachbarinnen, und sie nahmen so am allgemeinen Akkulturationsprozeß teil. Aber gleichzeitig verhinderte ihr intensives Engagement im privaten Bereich der Familie und im Netzwerk von Verwandten und jüdischen Freunden wie auch in der öffentlichen Sphäre der jüdischen Gemeindeorganisationen ihre Assimilation im Sinne eines Verschmelzens mit der nichtjüdischen Mehrheit. Insofern blieben sie Hüterinnen der Tradition. Doch mit abnehmender Observanz und wachsender religiöser Indifferenz hielten sich die jüdischen Bürger - wie die christlichen 9

Eine zweite Monographie ist angekündigt: Marion A. Kaplan: The Making of the Jewish Middle Class: Women and German-Jewish Identity in Imperial Germany (1991). Nach: Freimark/Jankowski/Lorenz (Hg.): Juden in Deutschland (s. Titelliste im Anhang), S. 479. 10 Kaplan: Tradition and Transition; Kaplan: Priestess and Hausfrau. Der letzte Titel nimmt Bezug auf ein Zitat aus der Schrift David Leimdörfers: Ein Wort zu unserer Frauenfrage. Berlin 1900, S. 3. Dort hieß es, die Hausfrau sei die Priesterin des Heims.

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nicht nur für die Feiern, sondern für ihr Leben überhaupt schließlich an die Familie. Die Familienfeiern wurden jetzt zum E r s a t z für die religiösen Feiertage. Damit nahm die Familie schließlich die zentrale Rolle ein, die einst die Religion hatte.11 Eine verwandte These hat Shulamit Volkov aufgestellt: Zwar habe sich das Familienleben durch Verlust des traditionell Jüdischen geändert, doch an seine Stelle sei ein modernes, ebenfalls für die Juden spezifisches Familienmilieu getreten.12 Schließlich hat Kaplan unter der Fragestellung Freizeit - Arbeit noch die Geschlechterräume im deutschjüdischen Bürgertum untersucht. Dort diskutiert sie zunächst »Freizeit« als Gegenbegriff von bezahlter, außerhäuslicher Arbeit was die Anwendung des Begriffs auf Frauen problematisch macht. Deren eigenem Verständnis zufolge wäre Freizeit wohl die nicht mit Haus- und Kinderarbeit verbrachte Zeit gewesen. Doch wie im Bürgertum überhaupt wurde auch in seinem jüdischen Teil die Freizeit »zielorientiert« und »klassenbewußt« genutzt und war deshalb »anstrengend«: »Was gemeinhin Freizeit genannt wurde, stellte sich Frauen als ernstliche Arbeit dar.«13 Dieser Befund ergibt sich vor allem daraus, daß Kaplan die Funktionen der weiblichen Freizeitgestaltung untersucht, die wie im übrigen Bürgertum der Repräsentation zwecks Erhaltung des gesellschaftlichen Status und der Pflege der bürgerlichen Bildung diente, bei den Juden aber in beiden Fällen auch der Integration der Minderheit in die Gesamtgesellschaft, d. h. ins Bürgertum und in die deutsche Kultur. Darüber hinaus aber trugen die Freizeitaktivitäten der Jüdinnen auch zum Zusammenhalt der Juden untereinander und zur Intensivierung der Familienbeziehungen bei. Im Hinblick auf die Problematik des Freizeitbegriffs und auf ihre Befunde schlägt Kaplan als adäquaten Begriff »weibliche Geselligkeit« vor. Dies verweist aber zugleich darauf, daß sie nur gesellige Formen der Freizeit untersucht, d. h. solche im Familienkreis oder in Vereinen, informellen Kreisen, Frauenorganisationen. Freizeit, die allein, individuell verbracht wurde, wird nicht in den Blick genommen (oder kommt sie etwa in den Quellen gar nicht vor?).14 Oder rührt die Ausklammerung individueller Beschäftigung möglicherweise daher, daß die Geschlechterräume von Männern und Frauen untersucht werden sollen? Auf diesen Befund wirkt aber gewiß auch ein, daß Frauen nur in der Familie dargestellt, unverheiratete 1

' Kaplan: Priestess and Hausfrau, S. 76. Volkov: Assimilation und Eigenart (Anm. 6), S. 138. Als Argumente dafür dienen ihr Geburtenrate und Erziehung: Die Kleinfamilie wurde zur Norm, weil man so die soziale Position konsolidieren und die kulturelle Anpassung verstärken konnte. Das ermöglichte eine bessere Ausbildung für Jungen und Mädchen und schuf zugleich einen neuen Typ der jüdischen Mutter. Jacob Toury hat allerdings zu Recht darauf hingewiesen, daß die Belege für die jüdische Mutter »als Hüterin eines neuen Systems von jüdisch-häuslicher Kultur« noch ausstehen. (Toury: Zur Problematik, S. 254 Anm. 13). 13 Kaplan: Freizeit - Arbeit (s. Titelliste im Anhang), S. 159. 14 Erwähnt wird sie allenfalls als Konzert- und Theaterbesuch, der aber immer nur in seiner Bildungs- und Integrationsfunktion gedeutet wird. 12

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Frauen dagegen nicht einbezogen werden. Unter der Perspektive der Funktion von Freizeit bleibt schließlich noch festzuhalten, daß diese eigentlich zweckgerichteten, d. h. auf die Stellung der Familie im jüdischen Lebenskreis und in der Gesamtgesellschaft bezogenen Aktivitäten den Frauen selbst trotzdem einen frauenspezifischen Nutzen brachten: als Zeiten der Ent-Spannung im Sinne des Entzugs aus der Sphäre männlicher Bestimmung, Ruhepause von männlicher Dominanz und Intensivierung der Beziehungen von Frauen untereinander. Mit dieser Interpretation der Tätigkeit jüdischer Bürgerfrauen modifiziert, ja revidiert Kaplan implizit auch ihre eigene früheste Darstellung, in der sie vor allem den Müßiggang und die nur oberflächliche Beschäftigung betonte,15 und zeigt jetzt entsprechend neueren Ergebnissen der allgemeinen Frauenforschung16 - die Anstrengung, die hinter dem Schein des Wohllebens steckte. In dieser Monographie - deren deutsche Fassung17 im Vergleich zur amerikanischen18 überarbeitet und (vor allem im Kapitel über den Kampf gegen den Mädchenhandel) wesentlich erweitert ist - hat sie den von 1904-1938 existierenden Jüdischen Frauenbund (JFB) untersucht,19 dem etwa ein Fünftel bis ein Viertel der erwachsenen Jüdinnen angehörte. Damit war ihr Organisationsgrad wesentlich höher als der der deutschen Frauen insgesamt.20 Nach einer instruktiven Einleitung, die zugleich bereits wesentliche Ergebnisse zusammenfaßt, untersucht Kaplan die Frauen und ihre Organisationen bis 1914, widmet ein besonderes Kapitel der Gründerin des Frauenbunds, Bertha Pappenheim, analysiert Programm und Mitgliedschaft des Bundes sowie seine besondere Form des Feminismus und untersucht schließlich die drei Hauptarbeitsgebiete. Seiner Zusammensetzung nach war der JFB ein Verband von Frauen des Bürgertums, von deutschen Jüdinnen. (In Deutschland lebende Ostjüdinnen waren Gegenstand seiner Fürsorge, aber kaum Mitglieder oder Mitarbeiterinnen.) Der JFB 15

Kaplan: Jüdische Frauenbewegung (s. Titelliste im Anhang), S. 47-65. S. z. B. Sibylle Meyer: Die mühsame Arbeit des demonstrativen Müßiggangs. Über die häuslichen Pflichten der Beamtenfrauen im Kaiserreich. In: Karin Hausen (Hg.): Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert. (Beck'sche Schwarze Reihe 276) München: C.H. Beck 1983, S. 172-194. 17 Kaplan: Jüdische Frauenbewegung. 18 Marion Kaplan: The Jewish Feminist Movement in Germany. The Campaigns of the Jüdischer Frauenbund, 1904-1938. Westport, Conn.: Greenwood Press 1979. 19 Gegliedert nach dem Programm des JFB innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, der Zusammenarbeit mit der allgemeinen deutschen Frauenbewegung und den Überlebensstrategien im Nationalsozialismus, hat sie die Ergebnisse später noch einmal pointiert zusammengefaßt: Marion Kaplan: Sisterhood under Siege. Feminism and Antisemitism in Germany, 1904—1938. In: Reinharz/Schatzberg (Hg.): Response to German Culture (s. Titelliste im Anhang), S. 242-265. 20 Dem Bund deutscher Frauenvereine gehörten 1909 nur 0,7% aller Frauen über 18 Jahren an (Kaplan: Jüdische Frauenbewegung, S. 24). Dabei ist allerdings zu bedenken, daß neben dem »Bund« konfessionelle Frauenverbände bestanden: Der Katholische Frauenbund gehörte ihm nie, der Deutsch-evangelische Frauenbund nur 1908-1918 an (Kaplan: Sisterhood under Siege [Anm. 19], S. 251). 16

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konzentrierte sich auf die Förderung der Berufstätigkeit von Frauen, auf den Kampf für ihr Wahlrecht in den jüdischen Gemeinden und vor allem auf die soziale Arbeit - einschließlich der Bekämpfung des hauptsächlich von Osteuropa nach Südamerika (und damit über deutsche Bahnhöfe und Häfen) laufenden Mädchenhandels, an dem Juden als Täter und Jüdinnen als Opfer einen besonderen Anteil stellten. (Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen oder durch Eheversprechen wurden unverheiratete Frauen in die Fremde gelockt und dann dort in die Prostitution gezwungen.) Mit dieser Gewichtung unterschied er sich vom Bund deutscher Frauenvereine, der stärker für eine bessere Ausbildung, bessere Berufschancen und die politische Gleichstellung der Frau eintrat. Die Betonung der sozialen Arbeit setzte dabei in gewisser Weise die traditionelle Tätigkeit in Wohlfahrtsvereinen in neuer und effektiver organisierter Form fort. Sie entspricht der engen Bindung der meisten Mitglieder an die Gemeinde und der Orientierung des JFB auf die jüdische Gesamtgemeinschaft hin. Sein Anliegen war es, den Status der Frauen zu verbessern und die Gemeinde zu beleben. Sowohl in der deutschen Politik wie innerhalb des Judentums war er deshalb neutral, obwohl seine Haltung deutlich deutsch-patriotisch sowie religiös und politisch liberal geprägt war. Sein Feminismus war »ein seltsames Amalgam [...] aus verinnerlichten patriarchalischen Weiten und frauenorientierten Interessen. Das typische JFB-Mitglied wollte Hausfrau und Mutter sein, die im privaten Bereich ihren Status akzeptierte und die traditionelle freiwillige Sozialarbeit in der Gemeinde leistete; die einen Beruf und Bildungschancen für Frauen forderte, aber für spezifisch >weibliche< Berufe; sie bestand auf Gleichberechtigung der Frau in Politik und Gesellschaft, aber sie tat es in ihrer eigenen Art, als >DameGleichheit< nicht mit formalen und unveräußerlichen Rechten, sondern im Sinne von gleichen Möglichkeiten, die jedem Geschlecht zur Erfüllung seiner besonderen Leistungsfähigkeit zur Verfügung ständen.«21 Es handelte sich also nicht um einen militanten, auf die Umverteilung der Macht zwischen Männern und Frauen gerichteten Feminismus. Trotz seiner eher traditionellen Auffassungen versuchte der Bund aber, unter den Frauen ein »feministisches Bewußtsein und die Bereitschaft zur weiblichen Solidarität zu schaffen,«22 auch zwischen verheirateten und unverheirateten Frauen. Der JFB schrieb auch weiterhin der Ehe hohen Wert zu, doch da (insbesondere aufgrund des Frauenüberschusses) nicht alle Frauen heiraten konnten, sollten sie »mütterliche Pflichten« in der jüdischen Gemeinschaft übernehmen. Sozialarbeit wurde damit zu einer Form »organisierter Mütterlichkeit«.23 Diese Darstellung diente allerdings zugleich 21

22 23

Kaplan: Jüdische Frauenbewegung, S. 18.

Ebd. S. 172 Zitate ebd. S. 175, 170.

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dazu, die Männer zu besänftigen, die Sozialarbeit zu professionalisieren und damit auch eine gewisse Unabhängigkeit für die sie ausübenden Frauen zu erreichen. Bei all seiner Hochschätzung der Ehe und Glorifizierung der Mutterrolle setzte der JFB aber doch neue Akzente: Er trat dezidiert für die Rechte aller Mütter, auch der ledigen, und ab Ende der zwanziger Jahre für die partnerschaftliche Ehe ein. Bei allen Unterschieden in der Betonung einzelner Arbeitsbereiche waren die Forderungen des JFB »wie die seines Vorbildes, der deutschen Frauenbewegung, im wesentlichen reformistisch«.24 Das Heiratsverhalten ist eine zentrale Frage der jüdischen Sozialgeschichte: Während die endogame Ehe das Überleben der Judenheit und damit auch eine jüdische Identität sichern konnte (wie immer diese zu verschiedenen Zeiten aussehen mochte), beschleunigte die Mischehe die Integration in die Umwelt.25 Wäre es allein auf den Zufall angekommen, hätten Juden und Jüdinnen wohl kaum einen Ehegatten aus der eigenen Gemeinschaft gefunden. Dieses Problem, das in der Kleinheit der jüdischen Minderheit seine Hauptursache hatte, wurde durch die Urbanisierung noch wesentlich verschärft: Für die auf dem Lande zurückgebliebenen, insbesondere für die Frauen, wurde es immer schwerer, einen jüdischen Ehepartner zu finden. Doch herkömmlich wurden jüdische Ehen nicht dem Zufall überlassen, sondern von den Eltern, ihren Bekannten und Geschäftspartnern vermittelt. Wurde auf diese Weise kein passender Partner gefunden, so schaltete man einen Vermittler, den Schadchen, ein. (Auf dem Land übten oft Lehrer und Kantoren die Ehevermittlung als Nebentätigkeit aus.) Im Hinblick darauf, daß sich in Deutschland ja seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Liebesehe allmählich als Norm (in der Vorstellung, wenn auch nicht in der Wirklichkeit!)26 durchsetzte, hat Marion Kaplan die Heiratsstrategien der deutschen Juden im Kaiserreich unter der Fragestellung For Love or Money untersucht.27 Aus einer Fülle sehr unterschiedlicher Quellen hat sie den Schluß gezogen, daß auch im 19. Jahrhundert die Mehrheit der jüdischen Ehen arrangiert wurde und daß dabei den wirtschaftlichen Verhältnissen der künftigen Gatten, insbesondere der Mitgift, entscheidende Bedeutung zukam. Die Eheschließung wurde als »ökonomische Transaktion« betrieben, die beiden Partnern Nutzen bringen sollte.28 Um allerdings einen Konflikt mit dem Ideal der Liebesehe zu vermeiden, wurde nun zum Teil auf die herkömmliche, offene Vermittlung verzichtet, und die künftigen Gatten lernten sich durch von Verwandten oder Be24 25

Ebd. S. 180.

Mosse: Marriage Strategies (s. Titelliste im Anhang), S. 188. S. dazu Peter Borscheid: Geld und Liebe. Zu den Auswirkungen des Romantischen auf die Partnerwahl im 19. Jahrhundert. In: Peter Borscheid/Hans J. Teuteberg (Hg.): Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Geschlechts- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit. (Studien zur Geschichte des Alltags 1) Münster: J. Coppenrath 1983, S. 112134. 27 Kaplan: For Love or Money (s. Titelliste im Anhang). 28 Ebd. S. 282. 26

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kannten arrangierte »Zufälle« kennen. Auch durch die Schaffung von Kontaktmöglichkeiten beeinflußten oder lenkten die Eltern die »eigene« Partnerwahl der Kinder. Dabei entsprachen diese Heiratsstrategien durchaus den im Bürgertum üblichen: Man suchte »passende« Ehen herbeizuführen, achtete dabei auf die Mitgift und prüfte die wirtschaftlichen Verhältnisse der anderen Seite, auch mithilfe von Auskunfteien. Besondere Züge der Juden waren hauptsächlich ihre eigentümliche Berufs- und Wirtschaftsstruktur und vielleicht eine besondere Hochschätzung materieller Güter, die bei einer Minderheit, die sich lange nur durch Schutzgelder eine gewisse Sicherheit hatte erkaufen können, nicht verwundern kann. Werner Mosse hat versucht, Kaplans Ergebnisse für die deutschjüdische Wirtschaftselite, die hier nach denselben Kriterien wie in der besprochenen Monographie definiert ist,29 zu widerlegen.30 Diese Gruppe scheint ihm zur Überprüfung der Thesen besonders geeignet, weil sie Heiratsmöglichkeiten gehabt habe, die dem Rest der jüdischen Gemeinschaft nicht offengestanden hätten, weil sie am leichtesten von Nichtjuden akzeptiert worden und für die »Assimilation« am empfänglichsten gewesen sei. Mosse hat zunächst anhand der Memoiren von Georg Tietz und unter Heranziehung auch der in der Veröffentlichung ausgesparten Teile eingehender dessen zwei Verlobungen betrachtet. Tietz dient ihm als Beispiel dafür, daß sich ein Angehöriger der Wirtschaftselite nicht nur die Frau selbst wählte (und das Angebot eines Großindustriellen, ihn zum Schwiegersohn zu nehmen, ausschlug), sondern daß für ihn - eben weil er aus persönlicher Neigung gewählt habe - sowohl eine jüdische wie auch eine Mischehe in Frage gekommen sei. Diese Darstellung hat gewiß ihren Reiz - aber Mosses Kritik an Kaplan, daß es sich bei ihren Quellen nur um »einige zufällige Erinnerungen«31 handele, könnte man mit größerem Recht gegen ihn selbst vorbringen: Die Frage nach der Repräsentativität stellt sich hier verschärft. Im zweiten Schritt betrachtet Mosse dann das Heiratsverhalten von 84 Familien in drei Generationen ab 1820: der Väter, die selbst erst den sozialen Aufstieg begannen; der Söhne, die die großen Erfolge erzielten; und schließlich der Enkel, der Erben. Allerdings untersucht er nur die dritte Generation ausführlicher, und auch nur bei ihr werden die Töchter einbezogen. Die »Väter« heirateten noch in der eigenen Gruppe, wobei die Mitgift eine wichtige Rolle bei der Vergrößerung des Geschäftskapitals spielte. Die Söhne schlössen die Ehe noch vor ihrem Aufstieg ins Großbürgertum. Bei ihnen - und bis zum Ersten Weltkrieg - blieb die Mischehe die Ausnahme, während Taufen der ganzen Familie oder nur der Kinder schon in mehr Fällen vorkamen. Erst in der dritten Generation wurde die Mischehe zur echten Möglichkeit, das soziale Spektrum der Ehepartner erweitert. Hier teilt nun Mosse die Familien in drei Kategorien ein, je nachdem, ob in 29 30

31

S. o. S. 92. Mosse: Marriage Strategies. Ebd. S. 190.

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der damals heiratenden Generation die rein jüdische oder die Mischehe überwog oder beide sich zu einem »gemischten« Muster kombinierten. Er führt dann die spezifischen Züge jeder Gruppe vor, wobei die Ursachen nicht immer geklärt, sondern zum Teil nur Interpretationsmöglichkeiten vorgeführt werden können. Und wenn er etwa in der Gruppe ohne klares Muster schließt, daß die Töchter durch die Ehe sozial aufstiegen, die Söhne dagegen in ihrer eigenen sozialen Gruppe blieben oder möglicherweise sogar abstiegen, so befriedigt das das Forscherinteresse so lange nicht, als die Eheschließenden dieser Gruppe als Gesamtheit betrachtet werden, nicht unterschieden nach denen, die eine Mischehe, und denen, die eine jüdische Ehe eingingen. Wenn schon eine solche Analyse unternommen wird, hätte man gern gewußt, welche sozialen Folgen gerade die Mischehen hatten. Dafür wäre aber eine Untersuchung nach einzelnen Ehen, nicht nach Familiengruppen, wohl aufschlußreicher gewesen. Die Frage der Herkunft der Partner in Mischehen wird nur in der Kategorie näher betrachtet, bei der in den einzelnen Familien die Mischehen die jüdischen Ehen überwogen. Hier erhält das Bild von der Tochter eines reichen jüdischen Kaufmanns, die einen verarmten Adligen heiratet, eine gewisse Bestätigung: 14 von 27 Frauen heirateten einen Adligen, allerdings auch 11 von 25 Männern eine Adlige. Heiraten in der eigenen sozialen Gruppe kamen praktisch nicht vor: Das nichtjüdische Großbürgertum scheint Juden verschlossen geblieben zu sein. Mosse schließt aus seinen Befunden unter anderem, daß es den Frauen um den sozialen Aufstieg ging, darum, vom schlecht angesehenen Handel wegzukommen, und daß für sie deshalb mit der Mitgift ein besserer Status »gekauft« wurde. Dies dient ihm zu der etwas apologetisch wirkenden Bemerkung, daß nicht die Juden, sondern allenfalls die Nichtjuden »Mitgiftjäger« gewesen seien. Und aus solchen den gesellschaftlichen Status verbessernden Ehen schließt er wiederum auf die sozialen Kontakte der Elterngeneration. Insgesamt aber blieben bei Männern sowohl für Juden wie für ihre getauften Nachkommen Ehen innerhalb des jüdischen Großbürgertums der typische Fall. Da die Familien der Eheschließenden oft miteinander bekannt waren, vermutet Mosse auch bei den künftigen Gatten eine häufig schon lange währende Bekanntschaft aus vielfältigen sozialen Kontakten. Infolge dieser Vor-Auswahl hätten die Heiratenden dann eine relative freie Wahl gehabt, die Mitgift nicht mehr die entscheidende Rolle gespielt. Solange diese Überlegungen aber Vermutungen oder Verallgemeinerungen bleiben und auf Familien mit etwa gleichem wirtschaftlichen Status beschränkt sind, können sie - ebenso wie die soziale Herkunft und die Konfession - die Frage nach der dominierenden Rolle von Liebe oder Geld bei der Gattenwahl nicht entscheiden. Sie kann wohl allenfalls für den Einzelfall geklärt werden - durch Heranziehung von Personalquellen. Im letzten Schritt nimmt Mosse schließlich die regionale Verteilung der einzelnen Muster in den Blick. Wenn er außerdem noch Heiratsmuster und Beruf in Beziehung setzt, wird das Bild bei der insgesamt kleinen Zahl so diversifiziert, daß man sich fragt, ob es überhaupt bestimmte »Strategien« gab.

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In einem weiteren Buch über die Wirtschaftselite, das deren soziokulturelles Profil nachzeichnen soll,32 hat sich Mosse nochmals und ausführlicher mit den Heiratsstrategien beschäftigt, die er als Prüfstein der innerjüdischen und »innerethnischen« Beziehungen betrachtet. An ihnen könne man sowohl die Bewahrung der jüdischen Identität wie den Grad der Integration in die nichtjüdische Gesellschaft ablesen.33 Außerdem stellten sie gewissermaßen die Verbindung zwischen der »subjektiven Haltung zur jüdischen Religion (Judaism) und/oder zu Juden« und der »objektiven ethnischen Zugehörigkeit« her.34 In diesem Buch hat Mosse zusätzlich zu dem Tietzschen einige weitere Fälle der Gattenwahl differenziert analysiert. So ist er zu dem Schluß gekommen, daß es arrangierte Ehen, geplante Zufälle und romantische Liebe nie in Reinform gab, daher auch keinen Paradigmawechsel von der arrangierten Ehe zur freien Wahl aus Neigung. Vielmehr sei immer eine gewisse Wahl innerhalb vorgegebener Parameter möglich gewesen, bei der verschiedene Faktoren zusammengewirkt hätten. Unmöglich aber sei es festzustellen, welche Rolle >romantische Liebe< gespielt habe.35 En passant wird auch deutlich, daß die Gegensätze zwischen der Kaplanschen und der Mosseschen Interpretation mindestens zum Teil daher rühren, daß Kaplan das Problem aus der Perspektive der (von ihren Eltern) zu verheiratenden Frauen untersucht, während Mosse es vom Standpunkt der wählenden Männer aus angeht. Während ersteren eine eher passive Rolle zugekommen sei, die im wesentlichen auf Annahme oder Ablehnung einer vorgeschlagenen Ehe beschränkt war (und sie allenfalls noch versuchen konnten, sich einem bestimmten Mann liebenswert zu machen), hätten die Männer in der Mehrzahl der Fälle eine individuelle Wahl unter mehreren Möglichkeiten treffen können.36 Außer diesen Beispielen für den Auswahl- und Entscheidungsprozeß einzelner Männer präsentiert Mosse noch eine Reihe von Beispielen für die Heiratsmuster ganzer Familien über Generationen hinweg. Allerdings nähern diese sich nach seiner eigenen Aussage jeweils einem Idealtypus, während insgesamt das Verwischen der Muster verbreiteter gewesen sei.37 Auf eine umfassende Auszählung nach Mischehen und endogamen Ehen sowie nach der sozia32

Mosse: Socio-cultural Profile (s. Titelliste im Anhang). Ebd. S. 160. 34 Ebd. S. 334. 35 Ebd. S. 104f., 108. Der Vergleich einzelner Wirtschaftsbranchen führt ihn zu dem Schluß, daß Industrielle und Kaufleute eher die jüdische Identität bewahrten, Angehörige der chemischen Industrie aber eher zur Assimilation neigten. Wenn er dann, obgleich nur als Möglichkeit, letzteres mit dem wissenschaftlichen Studium, daraus resultierendem Rationalismus, Materialismus und religiöser Gleichgültigkeit in Zusammenhang bringt, so wirkt dies etwas spekulativ. Und umgekehrt scheint der Hinweis, daß in der Textilindustrie wegen ihres hohen Judenanteils die jüdische Identifikation möglicherweise auch ökonomische Vorteile gebracht habe, Kaplans Schlüsse von der Vorrangigkeit des ökonomischen Gesichtspunkts zu stützen. 36 Ebd. S. 108, 110. 37 Ebd. S. 185. 33

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len Herkunft der Gatten - wie in dem besprochenen Aufsatz - verzichtet er jedoch. Seine vorsichtigen Einzelbeobachtungen werden in der folgenden Schlußfolgerung zusammengefaßt: Man könnte behaupten, daß »aus einer "Vielfalt von Gründen und trotz gegenläufiger Einflüsse eine Tendenz zur Endogamie weiterbestand, wenn auch in abnehmendem Umfang. Trotz eines hohen Grades an >Assimilation< und Exogamie bewahrte die Wirtschaftselite ihre ethnische (und religiöse) Identität.«38 Nach Kaplan war die letztlich von ökonomischen Gesichtspunkten bestimmte Eheentscheidung bis zum Ersten Weltkrieg der typische Fall. Erst danach, so ihre Vermutung, ermöglichten die steigende ökonomische, demographische und soziale Mobilität und das damit wachsende Gewicht der persönlichen Entscheidung größere Unabhängigkeit auch bei der Eheschließung. Damit nimmt sie wesentliche mögliche Ursachen für Verhaltensänderungen in den Blick. Daß aber nur sehr wenige Frauen eine Mitgift zu bieten gehabt und schließlich die eigenen Einkünfte der Frau bzw. ihre Fähigkeit zum Geldverdienen die Mitgift ersetzt hätten,39 läßt sich als genereller Befund nicht bestätigen. Dies konnte die Verfasserin dieses Berichts durch die Auswertung von über l .500 Heiratsanzeigen in zwei überregionalen jüdischen Wochenzeitungen für Stichmonate der Jahre 1906, 1927 und 1937 zeigen.40 Bei den Juden, die sich einen jüdischen Gatten wünschten und dabei auf die gezielte, organisierte Partnersuche angewiesen waren, weil sie in ihrer Umgebung keinen jüdischen Gatten fanden, dominierten jedenfalls auch in der Weimarer Zeit - trotz stärkerer Individualisierung als zu Beginn des Jahrhunderts - Sachgesichtspunkte. Mitgift und Aussteuer, aber auch die Tüchtigkeit der Frau, spielten zu allen drei Daten die Hauptrolle. Bei den Inserenten handelte es sich um eine regional differenzierte, noch stärker als die Judenheit insgesamt von kaufmännischen Berufen dominierte Gruppe außerhalb der Reichshauptstadt Berlin, nicht Großbürger, sondern Angehörige des Mittelstands (einschließlich seines unteren Teils). Die Zahl der Anzeigen, die jährlich in diesen beiden Zeitungen erschienen, belegt - verglichen mit der Zahl der Eheschließungen von Juden in diesen Jahren - zugleich die oft bestrittene Ehewilligkeit als solche wie auch das dezidierte Bestreben, einen j ü d i s c h e n Gatten zu finden. Mit Schlußfolgerungen über ein dominierendes Muster - Liebes- oder Sachehe - sollte man trotzdem vorsichtig sein, da sich die Zahl der aus Neigung oder unter vorrangig ökonomischen Gesichtspunkten geschlossenen Ehen letztlich nicht ermitteln läßt. Darüber hinaus aber bieten diese Anzeigen reiches Material nicht nur zum Heiratsverhalten selbst, sondern auch zu anderen Aspekten der deutschjüdischen Sozialgeschichte, etwa zur landschaftlichen Bindung oder zum Sozialprestige bestimmter Berufe.41 38

Ebd. Die Generation der Erben ging aber zur Hälfte Mischehen ein (ebd. S. 338). Kaplan: For Love or Money, S. 300. 40 Maurer: Partnersuche und Lebensplanung (Kap. 5, Anm. 2). 41 Damit scheint auch ein weiterer Einwand Mosses gegen Kaplan widerlegt: daß Heiratsanzeigen eine »etwas untypische Quelle« seien (Mosse: Marriage Strategies, 39

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Trotz des Willens der Mehrheit zur jüdischen Ehe wuchs die Zahl der Mischehen seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts beständig. Besonders hoch war ihr Anteil in den Großstädten.42 Zwar war in einzelnen deutschen Staaten das Verbot religionsverschiedener Ehen schon früher beseitigt worden,43 doch für das ganze Reich wurde die Mischehe erst ab 1874/75 mit der Einführung der Zivilehe möglich. Bei der Würdigung der Zahlen ist zu bedenken, daß sie auf der Religionszugehörigkeit der beiden Partner zum Zeitpunkt der Eheschließung beruhen - trat einer der beiden vorher zur Religion seines künftigen Gatten über (auch Übertritte zum Judentum kamen, wenn auch selten, vor!), so ging diese Ehe bereits als rein jüdische oder rein christliche in die Statistik ein. Die tatsächliche Zahl der Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden liegt also über der amtlich festgehaltenen. - Im wesentlichen die Debatte in der Publizistik und den Parlamenten des 19. Jahrhunderts zeichnet Hermann Lange nach.44 Nur in diesem Zusammenhang werden auch wenige Einzelfälle und die gerichtlichen Entscheidungen darüber referiert. Unter den Nichtjuden konnten am Anfang des Jahrhunderts sowohl Fürsprecher wie auch Gegner der Emanzipation für die Mischehe eintreten - die ersteren in der Hoffnung auf gesellschaftlich-kulturelle Absorption der Minderheit, die letzteren in der Hoffnung auf das Verschwinden des Judentums durch Verschmelzung. Unter den Juden allerdings gab es, abgesehen von Gabriel Riesser, der die positiven Wirkungen von Mischehen für die Integration der Juden ähnlich wie die christlichen Liberalen sah, nur sehr wenige Befürworter. S. 190). Untypisch im Sinne früherer Nutzung durch Historiker gewiß (Soziologen haben die Bedeutung dieser Quelle lange erkannt!) - aber gerade durch ihre Massenhaftigkeit wie durch ihre Anonymität besonders aussagekräftig: Denn im Gegensatz zu offiziellen Stellungnahmen jüdischer Organisationen, die Rücksicht auf die Außenwirkung nehmen mußten, und Artikeln der Meinungsbildner, die ihre Mitjuden vielleicht erst »erziehen« wollten, konnten die Inserenten diejenigen Merkmale herausstellen, auf die es ihnen wirklich ankam. 42 So heirateten etwa in Berlin im Zeitraum 1876-1880 15,6% der jüdischen Männer und 7,4% der jüdischen Frauen einen nichtjüdischen Gatten, 1911-1915 waren es bereits 29,1% der Männer und 18,6% der Frauen. (Entnommen aus der detaillierten Statistik in: Scheiger: Juden in Berlin [Kap. l, Anm. 21], S. 366) In Hamburg lebten 1890 von den männlichen Juden 8,5%, von den Frauen 5,7% in Mischehe. 1925 waren es bereits 13,7% bzw. 9,5%. Doch bei den in diesem Jahr neu geschlossenen Ehen gingen bereits 31,8% der Männer und 24,5% der Frauen eine Mischehe ein (Lorenz: Juden in Hamburg, Bd. l, für 1890: S. 24; für 1925 berechnet nach den Angaben S. LVIII). 43 Trotzdem wurde die Eheschließung zwischen Juden und Christen teilweise durch zusätzliche Bestimmungen erschwert: So war sie in Hamburg zwar seit 1851 erlaubt, doch mußte der eine Christin heiratende Jude das Bürgerrecht erwerben, was mit finanziellen Schwierigkeiten verbunden war. Dies ist zu den weniger differenzierenden Ausführungen Langes über Hamburg (s. Anm. 44) zu ergänzen. (Lorenz: Juden in Hamburg, Bd. l, S. LIII). 44 Hermann Lange: Die christlich-jüdische Ehe. Ein deutscher Streit im 19. Jahrhundert. In: Menora 1991 (s. Titelliste im Anhang), S. 47-80. S. außerdem weitere Belege bei Langewiesche: Liberalismus und Judenemanzipation (Kap. 7, Anm. 3), S. 157 und 163 Anm. 51, 52.

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Den jüdischen Gemeinden standen zwei Reaktionsmöglichkeiten offen: Sie konnten entweder versuchen, Mischehen zu verhindern, indem sie dem jüdischen Gatten die Mitgliedschaft entzogen, oder die Integrationsfähigkeit der Gemeinde beweisen, indem sie Mischehen tolerierten und eine Diskriminierung vermieden. Ina Lorenz hat dies am Hamburger Beispiel näher untersucht.45 Die komplizierten satzungsrechtlichen Bestimmungen der Gemeinde wirkten in ihrem Zusammenspiel dahin, daß eine Jüdin in Mischehe nicht Angehörige der Gemeinde blieb - selbst wenn sie ihre Kinder im jüdischen Glauben erziehen wollte. Damit ergibt sich der verblüffende Befund, daß sich die Gemeindeangehörigkeit der ganzen Familie nach der Zugehörigkeit des Mannes richtete - obwohl es nach jüdischem Religionsgesetz für die Zugehörigkeit zum Judentum allein auf die Mutter ankommt. Eine Frau mußte also zwischen Gemeindeangehörigkeit und der Ehe mit einem Nichtjuden wählen - und im letzteren Fall wurde nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Kinder aus dem Judentum ausgeschlossen. Die präventive Wirkung der Bestimmungen war offensichtlich beabsichtigt. - Die Menschen, die Mischehen eingingen, und die Lebensverhältnisse solcher Familien zu erforschen, bleibt aber weiterhin ein Desiderat der Forschung.46

45 46

Lorenz: Juden in Hamburg, Bd. l, S. LIII-LXII. Darauf weist auch Mosse: Socio-Cultural Profile, S. 338 hin.

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Die vorgetragenen Betrachtungen zur demographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der jüdischen Minderheit gingen von der Überlegung aus, daß sowohl die nichtjüdischen Befürworter der Emanzipation wie auch jüdische Aufklärer eine grundlegende Reform des Lebens der jüdischen Bevölkerung forderten, die sie - aufgrund der ihr auferlegten Beschränkungen - als degeneriert begriffen. Diese Reform zielte auf eine Angleichung an die nichtjüdische Mehrheit generell (wie etwa an den Forderungen nach der »Normalisierung« der Berufsstruktur deutlich wird), bei den Juden selbst aber letztlich auf die Angleichung an das deutsche Bürgertum.1 Bei der Betrachtung der einzelnen Komplexe ist jedoch deutlich geworden, daß die Frage, ob dies erreicht wurde, nicht pauschal beantwortet werden kann. Wesentliche Schritte auf dieses Ziel hin wurden wohl gemacht, etwa mit der Umgestaltung des Gottesdienstes, der säkularen Schulbildung und der Teilhabe an der deutschen Kultur. Doch wurde die jüdische Minderheit dabei keinesfalls zum Spiegelbild der nichtjüdischen Mehrheit. Und in anderen Bereichen, wie etwa der wirtschaftlichen Struktur, kann von einer Abschwächung der jüdischen Besonderheit nicht die Rede sein, z. T. prägte sie sich sogar, wie etwa im demographischen Verhalten, erst neu aus. Den Anfängen dieser komplexen Entwicklung von Angleichung und Bewahrung der Eigenart ist David Sorkin in einer Untersuchung über die Veränderung der deutschen Judenheit zwischen 1780 und 1840 nachgegangen.2 In insgesamt acht Kapiteln hat er zunächst den Emanzipationsprozeß im Kontext der deutschen Geschichte resümiert, den sozialen und intellektuellen Ursprüngen der jüdischen Aufklärung, der Haskalah, nachgespürt, die »Politik« ihrer Vertreter bezüglich der jüdischen Minderheit untersucht und die Herausbildung einer deutschjüdischen Öffentlichkeit dargestellt. Diese vier Kapitel fügen sich zum ersten Teil des Buches zusammen: Die Ideologie der Emanzipation. Im Anschluß untersucht er dann die Herausbildung neuer Institutionen und einer neuen Führungsschicht und stellt schließlich am Beispiel Berthold Auerbachs3 und 1

Shulamit Volkov hat darauf hingewiesen, daß trotz der Vielfalt zeitgenössischer Begriffe wie »Annäherung«, »Eingliederung«, »Verschmelzung« etc., die die heterogenen Absichten und Interessen belegen, das Hauptcharakteristikum des angestrebten Prozesses immer das Eingehen ins deutsche Bürgertum war. Auch sprachlich deutlich wird dies im gelegentlich gebrauchten Begriff »Anbürgerung« (Volkov: Verbürgerlichung der Juden [Kap. l, Anm. 13], S. 112). 2 Sorkin: Transformation. 3 Eine frühere Fassung des Kapitels über Auerbach wurde bereits als Konferenzbeitrag

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Samson Raphael Hirschs zwei gegensätzliche Konzeptionen der jüdischen Gemeinschaft vor: die säkulare und die auf der religiösen Tradition gegründete. Die hebräische Aufklärung, so Sorkin, war aus der Unzufriedenheit der traditionellen geistlichen und Laienelite mit dem Zustand der autonomen jüdischen Gemeinschaft hervorgegangen, die sich im 16. und 17. Jahrhundert im moralischen Schrifttum, der Musar-Literatur, ausgedrückt hatte. Aber die Maskilim, die in manchem den Gebildeten entsprachen,4 schlugen neue Mittel zur Beseitigung der Mißstände vor: Nötig seien ein neues Wertesystem und ein neues Erziehungsideal. Die Intellektuellen, die die hebräische Aufklärung radikalisierten, betrachteten die Gewährung gleicher Rechte als Vorbedingung der Regenerierung. Die ihnen folgenden Ideologen der Emanzipation dagegen akzeptierten im napoleonischen Zeitalter ein quid pro quo, in dem die Regenerierung zur Voraussetzung für die Gewährung von Rechten wurde. Diese Regenerierung sollte aber zugleich einen neuen Juden und eine neue jüdische Gemeinschaft schaffen, die auf dem Menschenideal der Aufklärung beruhten. Diese Ideologie wurde von einer neuen sozialen Gruppe innerhalb der Judenheit übernommen, dem jüdischen Bürgertum, das die Gebildeten als Modell und Ziel seiner Integrationsbemühungen ansah. Mittels Zeitschriften und Vereinswesen stellte es eine jüdische Öffentlichkeit her und schuf so zugleich eine neue jüdische Gemeinschaft. Damit entstand auch eine neue jüdische Identität, deren Grundlage das Bildungsideal war, das sie der Kultur der nichtjüdischen Mehrheit entnahm (oder genauer gesagt: der Kultur des Bürgertums). So bildete sich zur selben Zeit, als Religionspraxis und religiöse Überzeugungen die Juden zu spalten begannen, eine säkulare Ideologie als neuer Faktor des Zusammenhalts. Da die Emanzipation lange unvollendet blieb und nur eine Teilintegration erfolgte, wurde diese Emanzipationsideologie schließlich zur Grundlage einer dauerhaften jüdischen Identität, und es entwickelte sich eine jüdische Subkultur. (Das Judentum verwandelte sich also nicht, wie häufig behauptet, in eine Konfession.) Unter Subkultur versteht Sorkin den Gebrauch, den eine Minderheit von der Mehrheitskultur macht. Ihre Kultur besteht zwar im wesentlichen aus Elementen der Mehrheitskultur, ist aber doch nicht mit dieser identisch, sondern transformiert sie während der Aneignung (in diesem Fall auch durch Verbindung mit Elementen des Judentums). Die Grenzen der jüdischen Subkultur zur Mehrheitskultur waren zwar beweglich und durchlässig, aber sie bestanden. Die Subkultur funktionierte als eigenständiges System, und die Minderheit gewann dadurch sozialen Zusammenhalt.5 Die Emanzipation hatte also nicht, wie häufig veröffentlicht: David Sorkin: The Invisible Community. Emancipation, Secular Culture, and Jewish Identity in the Writings of Berthold Auerbach. In: Reinharz/ Schatzberg (Hg.): Response to German Culture (s. Titelliste im Anhang), S. 100-119. 4 Auch sie entstanden aus einer sich auflösenden ständischen Ordnung; auch ihre Position hing von ihren Bildungserfolgen ab; auch sie strebten einen kulturellen Wandel an, der nicht nur ihre eigene Position rechtfertigen sollte, sondern auf die Gesamtgesellschaft zielte (Sorkin: Transformation, S. 59-61). 5 Diese Definition ebd. S. 5f.

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unterstellt, die Assimilation im Sinne des Verlusts des spezifisch Jüdischen zur Folge (was ja auch durch eine Reihe von hier referierten Detailuntersuchungen zu einzelnen Bereichen widerlegt wurde). Nach Sorkin erreichte das jüdische Bürgertum eine partielle Integration in die Mehrheitsgesellschaft: Es wurde nicht ein Teil von ihr, aber es erwarb die »Mitgliedschaft«, indem es, etwa mit den Vereinen, parallele Institutionen schuf und dadurch dem deutschen Bürgertum ähnlich wurde: Durch die Ideologie der Emanzipation konnten die Juden »eine Akkulturation erreichen, die sie ähnlich machte - bürgerlich und gebildet -, während sie doch abgesondert blieben«.6 Wenn Sorkin abschließend Auerbach und Hirsch als Vertreter einer neuen Generation vorstellt, die unter dem Einfluß der Romantik die Emanzipationsideologie zurückweisen wollte, in Wirklichkeit aber zur weiteren Ausbildung der Subkultur beitrug, so dient ihm diese Analyse bei aller Gegensätzlichkeit der beiden als Beleg dafür, wie die neue Subkultur säkulare, reformorientierte und neoorthodoxe Juden einte. Sorkins Quellen sind hauptsächlich die Veröffentlichungen der Emanzipationsideologen und die Schriften, auf denen sie aufbauten, Predigten und Reden, die gewissermaßen die Populartheologie repräsentieren, außerdem Programme und Statuten von Vereinen. Insgesamt ist ihm eine beeindruckende neue Deutung des Beginns der Emanzipations- und Akkulturationsphase gelungen, die sich allerdings stark auf die Emanzipationsideologie und die Führungsschicht konzentriert, und so eher eine Ideen- und Geistesgeschichte als eine Sozialgeschichte darstellt (auch wenn die soziale Entwicklung, z.T. allerdings nur skizzenhaft, gewissermaßen als Erinnerung, einbezogen wird). Besonders deutlich wird dies in den abschließenden Kapiteln über Auerbach und Hirsch. Die von Sorkin dargestellte Transformation war um 1840 jedoch keineswegs abgeschlossen, hatte die Mehrheit der deutschen Juden noch nicht erfaßt. Auch scheinen nicht alle Schritte seines Gedankengangs abschließend geklärt. So wurden die Vorstellungen der Musar-Literatur und der Haskalah bisher als gegensätzlich begriffen. Wenn Sorkin eine Verbindung zwischen ihnen herstellt, sollte dies, vielleicht auch in einer separaten Veröffentlichung, noch eingehender gezeigt werden.7 Und wenn er bei den Verfechtern der Haskalah und den Ideologen der Emanzipation vor allem den Willen zur Reform im Sinne einer Anpassung des Judentums an die Mehrheitskultur hervorhebt, so werden die jüdisch-kulturellen Ziele der Maskilim und der Versuch der »Emanzipations-ideologen«, eine neue Grundlage j ü d i s c h e r Existenz zu schaffen, im Interesse seiner Gesamtargumentation 6

Ebd. S. 113-116, Zitate S. 116. Shulamit Volkov bezeichnet diesen Sachverhalt in Anlehnung an Dieter Grohs Studie über die Sozialdemokratie im Kaiserreich (Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Frankfurt - Berlin - Wien: Propyläen 1973) als »eine >negative Integration«:, die mehr auf Nachahmung als auf einer wirklichen Gemeinschaft fußte.« (Volkov: Die Verbürgerlichung der Juden [Kap. l, Anm. 13], S. 127). 7 Darauf hat bereits Lloyd P. Gärtner in seiner Rezension in: Jewish Journal of Sociology 30 (1988), S. 135-138, hier S. 137 hingewiesen.

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vielleicht doch zu stark ausgeblendet.8 Auch wüßte man gern mehr darüber, in welchem Verhältnis die neue Öffentlichkeit, die sich in Zeitschriften und Vereinen organisierte, zur überlieferten Gemeinde stand und wie sich deren Funktion möglicherweise wandelte. Allerdings sind diese Bemerkungen eher als Anregungen zur Weiterführung gedacht, nicht als Einwände gegen die Hauptthese der Entstehung einer Subkultur, die ja durch die spätere Entwicklung bestätigt erscheint und mit Sorkins Buch gewissermaßen ihre historische Herleitung erhält. In einer an Sorkin anknüpfenden9 schmalen Studie hat George L. Mosse die säkulare jüdische Identität, vor allem im 20. Jahrhundert, als Ergebnis der Emanzipation und der mit ihr verbundenen Bildungsideologie dargestellt.10 Zum Kern, ja zum »Synonym«11 des Judeseins sei die Bildung geworden. So sei eine neue jüdische Identität jenseits der Religion und Nation hergestellt worden. Allerdings wurde Judesein damit - wie in einem Brief Walter Benjamins besonders deutlich wird - zur Metapher für kritischen Geist und Bildung.12 Es war, worauf schon der Titel der Studie hinweist, ein Judesein »jenseits des Judentums«. (Diese Identität schloß - wie Mosse allerdings erst auf der letzten Seite erwähnt - die Bewahrung religiöser Überzeugungen und der Ritualvorschriften nicht aus, doch spielten jene in einem säkularen Zeitalter keine wesentliche Rolle mehr.)13 Diesem Grundgedanken entsprechend behandelt Mosse zunächst die klassische Vorstellung von Bildung, die als Grundlage jüdischer Akkulturation besonders geeignet schien, weil sie alle Unterschiede der Nation und Religion durch Entwicklung der individuellen Persönlichkeit transzendierte, weil jeder Bildung erwerben und damit zum Bürger werden konnte. In der Gesamtgesellschaft verengte sich die Bildungsvorstellung allmählich, ging Kompromisse mit dem deutschen Nationalismus ein. Statt Selbstkultivierung wurde Konformität gefordert während die Juden am ursprünglichen Universalismus des Bildungskonzepts festhielten. Mosses Hauptinteresse gilt allerdings dem Weiterwirken in der Weimarer Zeit. Er zeigt, wie sich das durch Bildung definierte Selbstverständnis in verschiedenen kulturellen, wissenschaftlichen und politisch-publizistischen Aktivitäten ausdrückte. In drei Kapiteln behandelt er zunächst die Literatur deutscher Juden, die diese Vorstellungen von Persönlichkeit und Bildung breiteren Volksschichten vermitteln wollten. Dafür dienen ihm vor allem Stefan Zweig und Emil Ludwig als Beispiel, für die als Verfasser vielgelesener Biographien diese Grundelemente der Identität ja gewissermaßen das Hauptthema bildeten, und die doch trotz ihres Erfolgs die Entfremdung der deutschjüdischen Tradition von der 8

Ähnliche Bedenken haben bereits Gärtner (s. Anm. 7) und Shulamit Volkov (in ihrer Rezension in: Historische Zeitschrift 249 [1989], S. 711-713, hier S. 712f.) geäußert. 9 Mosse hat die der besprochenen Monographie zugrundeliegende Dissertation von 1983 sowie einen weiteren Aufsatz Sorkins verwendet. S. Mosse: German Jews beyond Judaism (s. Titelliste im Anhang), S. 83 Anm. 4. 10 Mosse: German Jews beyond Judaism. 11 Ebd. S. 4. 12 Ebd. S. 64. 13 Ebd. S. 82.

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Volkskultur symbolisierten: Sie konnten nicht über ihre eigenen Ideale hinaus blicken, um die Wünsche und Bedürfnisse des Volkes wahrzunehmen. (Und generell nahmen die deutschen Juden das deutsche Bürgertum für das deutsche Volk und mißdeuteten so auch ihre eigene Situation.)14 Dann untersucht Mosse die wissenschaftlichen Aktivitäten, vor allem Sigmund Freuds und Aby Warburgs, als Versuche, das Irrationale auszutreiben, indem man seine Funktion versteht und erklärt. Schließlich betrachtet er die Linksintellektuellen in der Publizistik und in der Frankfurter Schule als »Höhepunkt« der deutschjüdischen Tradition: Das Ideal der Selbstkultivierung und der Autonomie der Person gehörten zum Kern ihrer sozialistischen Ideologie.15 Mosses Darstellung ist durchdrungen von Sympathie für dieses Bildungskonzept und die mit ihm verbundenen Gedanken der Selbstkultivierung, Toleranz, Rationalität, die auch ihn selbst geprägt haben und die er mit den entsprechenden Bestrebungen zur Humanisierung des Marxismus und Nationalismus als Überlebensnotwendigkeit für die Menschheit betrachtet.16 Damit neigt sie auch zu einer gewissen Idealisierung. Auf einer Insel der Kultur und Vernunft, die vom Irrationalismus der Massen umgeben ist, blieben zuletzt die Juden fast allein übrig und bewahrten diese Vorstellungen in ihrer ursprünglichen Form.17 Diese Sichtweise ergibt sich zum Teil wohl auch daraus, daß im Vordergrund der ganzen Betrachtung Intellektuelle stehen, nicht die »einfachen« Juden, die Mehrheit des bürgerlichen, überwiegend kaufmännischen Mittelstands.18 Wie sehr Bildung zum Bestandteil jüdischer Identität generell - auch der Kaufleute, Viehhändler und Metzger - geworden war, wurde in einer Untersuchung von Heiratsanzeigen deutlich.19 Doch legt dieser Befund zugleich die Vermutung nahe, daß Bildung damit - auch bei Juden - ihres eigentlichen Inhalts, der Selbstkultivierung, entleert und, wie es Mosse für die Nichtjuden feststellt,20 vom Prozeß innerer Entwicklung auf dessen Ergebnis, das Gebildetsein, reduziert wurde. Bei Mosse kommt die Mehrheit nur (als Publikum) in einem kurzen Ausblick auf den Kulturbund deutscher Juden im Nationalsozialismus vor, in dem sie die deutsche Kultur pflegen wollte - die sie damit noch einmal bekräftigte. Doch zu zeigen, wie sich Bildungsidee und jüdisches Leben in Beruf und Haus bei der Mehrheit der Juden verbanden, wie die Bildungsidee dieses Leben veränderte, wäre in der Tat eine lohnende Aufgabe. 14

Ebd. S. 33, 40. Ebd. S. 55 (Zitat), 57. 16 Ebd.S.81f. 17 Dieses Bild der Insel, das von Mosses Text (besonders ebd. S. 13f.) nahegelegt wird, hat bereits Jerry Z. Muller in seiner Rezension gebraucht. In: Journal of Modern History 60 (1988), S. 198-203, hier S. 199f. 18 Darauf, daß die Linksintellektuellen auch der Mehrheit der Juden fernstanden, weist Mosse selbst hin (Mosse: German Jews beyond Judaism, S. 68). Es gilt ähnlich wohl auch für die anderen untersuchten Beispiele, bezüglich Zweigs und Ludwigs allerdings mit Einschränkungen. 19 Maurer: Partnersuche und Lebensplanung (Kap. 5, Anm. 2), S. 351f. 20 Mosse: German Jews beyond Judaism, S. 11-13. 15

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Die Akkulturation vollzog sich im Spannungsfeld zwischen den zwei Polen jüdischer Existenz: der Bewahrung der jüdischen Identität und der Integration in die nichtjüdische Gesellschaft. Es liegt nahe, diese Grundfrage jüdischen Lebens in der Diaspora nicht global, sondern für eine bestimmte Gruppe und ihr spezifisches Milieu zu untersuchen. Werner E. Mosse ist ihr mit seinem zweiten Buch über die deutschjüdische Wirtschaftselite nachgegangen.21 Dabei erhebt er allerdings den Anspruch, daß die Ergebnisse über die untersuchte Gruppe hinausweisen, weil diese für die nichtjüdische Umgebung am leichtesten zu akzeptieren gewesen sei und das größte Integrationspotential gehabt habe. (Das mag zunächst plausibel scheinen, hätte aber angesichts der Verteilung von Mischehen auf verschiedene soziale Schichten oder autobiographischer Berichte über die Beziehungen von Juden und Nichtjuden im Kleinbürgertum und der Unterschicht durchaus eine nähere Begründung verdient.) Deshalb definieren nach Mosse die Grenzen der Integration für diese Gruppe zugleich die Parameter jüdischer Integration in die nichtjüdische Gesellschaft überhaupt. Allerdings spielt der gerade skizzierte Gedankengang einer auf Bildung gegründeten Identität dabei keine zentrale Rolle (auch wenn im letzten Kapitel der Beitrag der Wirtschaftselite zur bürgerlichen deutschen Kultur untersucht wird). Vielmehr geht Mosse von Gershom Scholems kurzen Beobachtungen in dessen weitgehend autobiographisch gefärbten Überlegungen Zur Sozialpsychologie der Juden in Deutschland aus,22 die er als die einzige bisher existierende Typologie der Wirtschaftselite bezeichnet.23 Nach Scholem24 hob sich diese »Schicht der reichen Juden« sowohl von der »ihrem Bewußtsein nach total >eingedeutschtenApartheidHyper-Assimilation