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German Pages 308 Year 2012
Lydia Fritzlar Heinrich Heine und die Diaspora
Europäisch-jüdische Studien Beiträge
Herausgegeben vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam, in Kooperation mit dem Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg Redaktion: Werner Treß
Band 3
Lydia Fritzlar
Heinrich Heine und die Diaspora Der Zeitschriftsteller im kulturellen Raum der jüdischen Minderheit
Die vorliegende Publikation wurde 2010 als Dissertation an der Universität Potsdam eingereicht und veröffentlicht. Sie wurde von Herrn Professor Doktor Willi Jasper und Herrn Professor Doktor Helmut Peitsch begutachtet.
ISBN 978-3-11-027173-7 e-ISBN 978-3-11-027176-8 ISSN 2192-9602 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Michael Peschke, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
für Heinrich
| Die Diaspora ist außerhalb ihres Zuhause zu Hause; sie bleibt außerhalb ihres Zuhause zu Hause und ist im Zuhause anderer zu Hause, selbst in Jerusalem. Selbst in Jerusalem ist sie nicht in ihrem eigenen Zuhause, und sie erzählt sich am Purimtag die Geschichte ihrer Errettung – eine Geschichte, die nicht – noch nicht – ihre eigene ist. Jacques Derrida
Dank Der erste Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Willi Jasper, dessen großer Unterstützung und ermutigendem Zuspruch ich mir stets sicher sein konnte. Er hat mich meinen Weg selbstständig gehen lassen und mir mit seinem großen Erfahrungsschatz zur Seite gestanden. Für sein Engagement zur Ermöglichung dieser Arbeit möchte ich mich auf das Herzlichste bei ihm bedanken. Herrn Prof. Dr. Helmut Peitsch sei sehr für die Übernahme des Zweitgutachtens gedankt. Mit größter Selbstverständlichkeit hat er mir diese große Unterstützung erwiesen. Mein besonderer Dank gilt auch den Mitgliedern des Graduiertenkollegs Makom – Ort und Orte im Judentum. Unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Julius H. Schoeps erfuhr ich im Kolleg großes Interesse an meinem Thema, eine ausgiebige und facettenreiche Einführung in die jüdische Thematik und viele anregende Gespräche über Heinrich Heine. Die Zeit im Kolleg bedeutet mir sehr viel. Zu großem Dank bin ich auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Förderung dieser Arbeit im Rahmen des Graduiertenkollegs verpflichtet. Meinem Mann Heinrich und meinen Töchtern gilt mein innigster Dank. Sie haben mich unterstützt und mir Kraft und Mut gegeben. Erfurt, Juli 2012
Inhalt Einleitung 1 3 Leben im Zeichen der Emanzipation Schreiben im Zeichen der Emanzipation Forschungsbericht 16 I
II
12
Fern vom Gelobten Land – Jüdisches Leben in der Zerstreuung
28
1
Diaspora – Perspektiven auf einen permanenten Zustand
2
Verbunden durch Gesetz und Ritus − Religiöse Auslegung der Diaspora als traditionelle Strategie des Fortbestands 37
3
Zwischen Separation und Interaktion − Kultursoziologische Perspektive auf das Phänomen der Zerstreuung 46
28
Wandel des jüdischen Selbstverständnisses – Wandel des diasporischen Bewusstseins 51 1
Die neue Perspektive auf die Diaspora im 18. Jahrhundert − Innerjüdische Religionskritik und Exil 51
2
Im Bann des 19. Jahrhunderts – Abkehr vom religiös motivierten Diasporaverständnis unter den „Wissenschaftsjuden“ 61
3
Stein des Anstoßes – Heinrich Heine und der „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ 74
III Der progressive Blick des Fragments Der Rabbi von Bacherach auf das Phänomen der Zerstreuung 80 1
Vorarbeiten − Die Erschließung der jüdischen Geschichte durch den Autodidakten Heine 80
2
Das Fragment – Die Pole diasporischer Existenz
3 locus terroris – Schrecken der Diaspora 93 3.1 Fichte und Palme – Wüsteneien jüdischen Lebens 3.2 Bacherach und Frankfurt – Orte existenzieller Not
84 93 99
IV Vom Ideal zur Realität − Diasporisches Bewusstsein, Emanzipation und moderne jüdische Existenz bei Heine 107 1
Pessach als Fest der Freiheit – Die Säkularisierung des Ursprungsmythos
107
X
Inhalt
2
V
Der Auftrag der jüdischen Emanzipation und die Gefahr ihres Scheiterns an der Lebenswirklichkeit 116
Diasporisches Schreibverfahren – Heines Kommentierung einer antijüdischen Figur 127 1
Kommentar von der eigenen Aktualität her
2
Die Figur des Juden in der europäischen Literatur und Shylock auf der Londoner Bühne im Jahr 1827 130
3
Demontage des Antihelden – Heines soziopolitische Perspektive auf das antijüdische Vorurteil 135
4
Shylock, der Nazarener – Das assoziative Spiel mit der Intoleranz
5 6
127
147
Wandel zur tragischen Gestalt – Shylock als Figuration jüdischen Lebens in der Diaspora Die Suche des Traumjägers nach Shylock
151
162
VI Rebellion gegen die Marginalisierung – Die Geburt des Zeitschriftstellers aus dem Geist der Diaspora 1
172
Die Frage der Zugehörigkeit des Schriftstellers – Konstrukte des dominanten Diskurses 172
2
Abwertung, Abgeschlossenheit, Überlegenheit – Strategien des nationalen und antijüdischen Lagers gegen Heine 177 2.1 Charakterlosigkeit – Abwehr durch die jüdische Emanzipationsbewegung 2.2 Jüdischer Vaterlandsverräter – Ausschluss durch die Nationalisten 181 2.3 Sprachliches Unvermögen – Überlegenheitsstrategie der Antisemiten 185 3 Antworten Heines auf die Verweigerung 193 3.1 Heine in der Traditionslinie deutscher Sprachkultur unter intellektuellen Juden 193 3.2 Satire – Heines Reaktion auf „den nie abzuwaschenden Juden“ 3.3 Schriftstellernöte – Die Konfrontation des dominanten Diskurses mit seiner Gegenstimme 203
177
196
Inhalt
4
Exil, Wahnsinn, „weltpsychologischer Gegensatz“ – Das Echo diasporischer Existenz in der Genese des Zeitschriftstellers 214 4.1 Die Welt als Tollhaus – Die marginalisierte Stimme gegen den dominanten Diskurs 214 4.2 Ewige Winterhölle des Exils – Vom Unglück des deutschen Patrioten in Paris 219 4.3 Dem Wahnsinn entronnen – Von der Überlegenheit des Kosmopoliten 239 5
Pyrrhussieg des Kosmopoliten oder Leid und Exil als Voraussetzung des Schreibens 255 5.1 Apotheose und Märtyrertum des Dichters in Jehuda ben Halevy 255 5.2 Schlemihl – Der Prototyp der Außenseiterexistenz als Stammvater der Dichter 261 5.3 Säkularisierung diasporischen Bewusstseins als Voraussetzung der Poetologie Heines 265 Zusammenfassung
273
Literaturverzeichnis Werkregister
281
294
Personenregister
295
XI
Einleitung Bei den Wassern Babels saßen Wir und weinten, unsre Harfen Lehnten an den Trauerweiden¹
Hier zitiert das lyrische Ich in Heinrich Heines Jehuda ben Halevy den 137. Psalm, einem locus classicus jüdischer Literatur in der Diaspora.² „Kennst du noch das alte Lied?“³ − Gleich im Anschluss an die zitierten Verse wird im Gedicht diese Frage gestellt. Doch ist der Befragte nicht der jüdische Schriftgelehrte oder der strenggläubige Jude. Ihnen müsste eine solche Frage rein rhetorisch erscheinen, ist der Tanach den diasporischen Juden doch Grundpfeiler ihres Selbstverständnisses und ist gerade dieser Psalm Teil ihres kollektiven Gedächtnisses an Israel, der verlorenen und verheißenen Heimstätte. „Kennst du noch das alte Lied?“ – Das lyrische Ich richtet diese Frage an ein „Du“, das nicht mehr sicher durch die alte Textwelt der jüdischen Religion zu gehen scheint und das deren Gedächtnistexte nicht mehr sicher zu rezitieren vermag. Hier wird sich nicht mehr selbstverständlich in den geheiligten Worten der Bibel bewegt, vielmehr verweist die Rede vom „alte[n] Lied“ auf einen Umgang mit den ererbten Worten, der nicht religiös, sondern profan zu nennen ist. So wendet sich das Gedicht Jehuda ben Halevy, von Heine gegen Ende seines Lebens verfasst, mit seiner Frage an ein Gegenüber, dessen Blick auf die diasporische Existenz seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert grundlegend gewandelt ist; ein Wandel, der nicht das Vergessen der Diaspora bedeutet, der vielmehr die Perspektive auf dieses Phänomen jüdischer Existenz neu ausrichtet. Diese Perspektive bewegt sich fort von der Religion hin zur Kultur und eröffnet Teilen der jüdischen Minderheit⁴ eine kulturgeschichtliche und soziopolitische Einschät1 Heinrich Heine: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. v. Klaus Briegleb. Bd. 11. Frankfurt a. M./Berlin 1981. S. 135 [im Folgenden B]. 2 Vgl. Gabrielle Oberhänsli-Widmer: Exil – Existenz im Paradox, oder die Eigenart jüdischer Literatur. In: Zwischen Selbstbehauptung und Identitätsverlust. Exilerfahrungen des Judentums. Hrsg. v. ders. Freiburg 2006 (Freiburger Universitätsblätter 172). S. 11. 3 B 11, S. 135. 4 Shulamit Volkov definiert den Begriff „Minderheit“ in ihrem Essay Minderheiten und der Nationalstaat. Eine postmoderne Perspektive wie folgt: „Der Begriff ‚Minderheit‘, sogar die Existenz von Minderheiten sind unlösbar mit der Entwicklung der modernen Welt verbunden. Erst seit dem späten ausgehenden 18. Jahrhundert kam es dazu, daß einige Gruppen, nicht einzelne Personen, als marginal, nicht dazugehörend, als ‚Außenseiter‘ bezeichnet wurden. […] Vor der Neuzeit […] gab es einfach keine Minderheiten in der europäischen Gesellschaft. […] Sie war durch traditionelle Kategorien und gesetzliche Maßnahmen gekennzeichnet, anerkannt
2
Einleitung
zung der jüdischen Diaspora. Heinrich Heines Texte, die jüdisches Leben und demzufolge auch die diasporische Existenz zuallererst in die deutsche Literatur einführen, stehen unter dem Eindruck dieser Perspektive. Wie diese Perspektive in der Prosa und Lyrik Heines literarisch ausgestaltet wird, untersuchen die folgenden Kapitel. Dabei wird die resolute Teilhabe Heines an den intellektuellen Debatten des 19. Jahrhunderts um das jüdische Selbstverständnis⁵ im Zuge gesellschaftlicher Säkularisierungsprozesse herausgearbeitet. Die Einführung diasporischer Existenz in die deutsche Literatur, die gleichermaßen die Thematisierung einer durch Marginalität gezeichneten Minderheit in die Literatur des dominanten Umfelds bedeutet, bürgt dabei, so der Ansatz, für das jüdische Selbstbewusst-
und untermauert. Die Gesellschaft war in spezifische Bestandteile aufgegliedert, jeder Teil mit seinen eigenen Rechten und Privilegien, seinen besonderen Aufgaben und besonderen Pflichten. […] Bei den verschiedenen unterprivilegierten Gruppen innerhalb des Feudalsystems waren die Juden eine Gemeinschaft unter Gemeinschaften […]. […] Erst die modernen Begriffe der Nation, zu denen grundsätzliche Gleichheit und das allgemeine Bürgerrecht gehörten, machten sie zu einer anerkannten Minorität und ihre Existenz im neuen Nationalstaat zu einem Problem.“ Siehe Shulamit Volkov: Minderheiten und der Nationalstaat. Eine postmoderne Perspektive. In: Dies.: Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays. Bremen 2001. S. 13f. – Für die vorliegende Arbeit ist diese Definition des Begriffs „Minderheit“ entscheidend, bindet sich dieser doch die Dichotomie von Minderheit/Mehrheit, marginal/dominant ein, die für die spätere Analyse der Auseinandersetzung Heines mit dem Phänomen der jüdischen Diaspora bedeutsam ist. Heine selbst betrachtet die Juden aus seiner säkularen Perspektive und in seiner Diskussion der jüdischen Emanzipation als Minderheit und wendet diesen Begriff auch in seiner kultursoziologischen und historiographischen Perspektive auf die Juden an. 5 Der Begriff „jüdisches Selbstverständnis“ wird in den folgenden Kapiteln synonym zu dem der jüdischen Identität verwandt. Michael A. Meyer definiert den Begriff „Identität“ in seiner Arbeit Jüdische Identität in der Moderne unter Berufung auf die psychoanalytischen Überlegungen Erik H. Erikson wie folgt: „Jede Identität, nicht allein die jüdische, ist ein Konzept, das sich nicht in einfache Kategorien zwängen läßt. […] In diesen Vorträgen werde ich die Identität als die Gesamtheit der Eigenschaften verstehen, die Individuen als zu ihrem Selbst gehörend betrachten. Individuelle Identität wird auf frühen Identifikationen aufgebaut, die das Kind mit ihm nahestehenden Personen, ihren Wertvorstellungen und Verhaltensmustern vollzieht. Wenn das Individuum erwachsen wird, müssen diese Identifikationen nicht nur miteinander verschmelzen, sie müssen auch in die Normen der Gesellschaft integriert werden, in der das Individuum eine Rolle übernehmen wird. Dieser Prozeß stellt die ‚Identitätsbildung‘ dar, ein oft schwieriges Stadium, das […] zu langwierigen Adoleszenskrisen führen kann. Eine solche Krise ist vor allem dann zu erwarten, wenn ein wesentlicher Bruch besteht zwischen den frühen Identifikationen, die im vertrauten Familienkreis herrschten, und den andersartigen Werten, mit denen das Individuum konfrontiert wird, wenn es in die Gesellschaft eintritt. […] [S]olche Brüche [sind] entscheidend für das Verständnis des Identitätskonflikts, der durch die Berührungspunkte zwischen dem Judentum und der Moderne herbeigeführt wird.“ Siehe Michael A. Meyer: Jüdische Identität in der Moderne. Frankfurt a. M. 1992. S. 12f. – Vgl. auch Erik H. Erikson: Jugend und Krise. Die Psychodynamik im sozialen Wandel. Stuttgart 1970.
Leben im Zeichen der Emanzipation
3
sein des Schriftstellers. Gerade im Zugang des akkulturierten Juden Heine zum Phänomen der Zerstreuung, dem er sich historisch, soziopolitisch oder auch poetologisch nähert, findet der Übergang von einem konfessionell geprägten zu einem kulturell fundierten und politisch engagierten Bewusstsein um die jüdische Existenz ein eindrückliches Beispiel.⁶
Leben im Zeichen der Emanzipation Heines Texte stehen an einem kulturellen Wendepunkt: an der Schwelle zur Moderne. Diese Wendezeit „in ihren politischen, ökonomischen, sozialen und ästhetischen Dimensionen hat Heine bewußt wahrgenommen und den Bruch der alten ganzheitlichen Ordnung sowie die Suche nach neuen Ordnungen in den Mittelpunkt seiner dichterischen Tätigkeit gestellt“⁷. Im Zuge dieses Zeitenbruchs kommt es auch zu einer Neuausrichtung jüdischen Selbstverständnisses und mit dieser zur Neustrukturierung des kulturellen und religiösen Raums der Diaspora. Heines Werk führt dabei in seiner Auseinandersetzung mit der jüdischen Diaspora exemplarisch vor Augen, „wie Menschen in kulturellen Wendezeiten auf die Veränderungen identitätsstiftender Raumordnungen [hier der religiöse und kulturelle Raum der jüdischen Diaspora, Anm. d. Verf.] reagieren“ und „wie sich symbolische Raumstrukturen mit dem geschichtlichen Wandel verändern“⁸. „Kennst du noch das alte Lied?“ − Um darlegen zu können, wie Heine und mit ihm ein Teil der deutschen Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf diese Frage antworten würden, werden in einem ersten Kapitel die religiös verankerten und kulturtheoretischen Definitionen des Phänomens der Zerstreuung vorgestellt. Zunächst am Beispiel von Tora, Talmud und rabbinischem Schrifttum das religiöse Konzept jüdischen Selbstverständnisses darstellend, zeigt der Blick auf die aktuelle Diaspora-Forschung den säkularen Zugang zum Phänomen der Zerstreuung, wie er bereits für das Werk Heines nachweisbar ist. „Kennst du noch das alte Lied?“ – Das zweite Kapitel untersucht jene Brüche im Blick auf das diasporische Bewusstsein jüdischen Selbstverständnisses des 19. Jahrhunderts, die das lyrische Ich diese Frage überhaupt erst stellen lassen.
6 Vgl. Regina Grundmann: „Rabbi Faibisch, Was auf Hochdeutsch heißt Apollo“. Judentum, Dichtertum, Schlemihltum in Heinrich Heines Werk. Stuttgart 2008. S. 434; Markus Hallensleben: Heines „Romanzero“ als Zeit-Triptychon. Jüdische Memorliteratur als intertextuelle Gedächtniskunst. In: Heine-Jahrbuch (HJb) 40 (2001). S. 87f. 7 Andreas Ramin: Symbolische Raumorientierung und kulturelle Identität. Leitlinien der Entwicklung in erzählenden Texten vom Mittelalter bis zur Neuzeit. München 1994. S. 167. 8 Ramin, Raumorientierung, S. 3.
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Einleitung
Es interessieren dabei zwei intellektuelle Strömungen⁹ innerhalb des jüdischen Selbstverständnisses im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Mit Blick auf die kritische Neubewertung des rabbinischen Schrifttums im Zuge der Haskala vollzieht sich der innerjüdische Bruch mit der traditionell religiösen Interpretation der jüdischen Diaspora. Dieser Bruch erfährt im Zuge der Entstehung der Jüdischen Studien eine weitere Vertiefung. Das säkulare DiasporaVerständnis seiner Vertreter steht nicht nur im strengen Gegensatz zum religiös verankerten Konzept. Mit diesem säkularen Verständnis werden politische Forderungen nach Emanzipation verknüpft, die auch für die literarische Ausgestaltung diasporischer Existenz im Werk Heines bestimmend sind. Eine Neubestimmung des Verständnisses der Diaspora wird jedoch nicht allein unter den überschaubaren Mitgliedern intellektueller Zirkel diskutiert. Vielmehr fordert die Lebenswelt deutscher Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine säkulare Einfärbung der Perspektive auf das Phänomen der Zerstreuung. Diese Lebenswelt wird von drei Bewegungen geprägt: dem Streben nach poltischer Emanzipation der jüdischen Minderheit, dem Druck zu sozialer Akkulturation auf Seiten der jüdischen Familien und dem stetigen Erstarken des Antisemitismus in wachsenden Teilen der Mehrheitsgesellschaft.¹⁰ Innerhalb dieser Bewegungen ist auch die Vita Heinrich Heines verortet, der 1797 als 9 Vgl. Hans Otto Horch (Hrsg.): Jüdische Selbstwahrnehmung. Le prise de conscience de l’identité juive. Tübingen 1997. S. 38ff. Wie Hans Otto Horch bemerkt, kann von Strömungen bzw. Zersplitterungen des jüdischen Selbstverständnisses erst mit der Haskala gesprochen werden. Horch betont für die Phase der Aufklärung und Emanzipation, in deren zeitlichen Rahmen die Arbeiten Heines angesiedelt sind, die Zersplitterung der Kohärenz jüdischen Selbstverständnisses, bis dato getragen durch die sinnstiftende und stabilisierende Funktion der Tora in den früheren Jahrhunderten: „Neben den halachatreuen Juden, deren Integrität von der Aufklärung nicht tangiert worden war, gab es nun diejenigen, die sich in die westlich-bürgerliche Welt weitgehend integrierten, ohne ihr Jüdisch-Sein und schließlich die assimilationsbegeisterten Juden, die sich von allen äußeren Elementen jüdischen Lebens radikal trennten und sich und die nachfolgende Generation bewußt aus den Traditionszusammenhängen lösten.“ Siehe Horch, Selbstwahrnehmung, S. 38f. – Hans Otto Horch: Heimat und Fremde. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur oder Probleme einer deutsch-jüdischen Literaturgeschichte. In: Juden als Träger bürgerlicher Kultur in Deutschland. Hrsg. v. Julius H. Schoeps. Stuttgart 1989. S. 53. Horch betont hier, dass das „Thema der Identität“ als ein Schlüssel-Thema deutsch-jüdischer Autoren verstanden werden muss, in dem sich das komplexe Zusammenspiel von Fremd- und Selbstbild artikuliert. – Zu jüdischen Identitätskonstruktionen vgl. auch Heinrich Simon: Zum Problem der jüdischen Identität. In: Jüdische Selbstwahrnehmung. Le prise de conscience de l’identité juive. Hrsg. v. Hans Otto Horch/Charlotte Wardi. Tübingen 1997. S. 15–25. 10 Vgl. Shulamit Volkov: Zur Einführung. In: Deutsche Juden und die Moderne. Hrsg. v. ders. unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner. München 1994 (Schriften des Historischen Kollegs 25). S. VII.
Leben im Zeichen der Emanzipation
5
Sohn des jüdischen Ehepaares Betty [jüdisch: Peira Zippora, Anm. d. Verf.] und Samson Heine in Düsseldorf das Licht der Welt erblickte und 1856 im Pariser Exil starb. Früh gerät dabei das Kind Harry Heine zwischen die Klippen der einander bedingenden und abstoßenden Bewegungen jüdischer Lebenswelt. Der Besuch des staatlichen Lyzeums in Düsseldorf, als der ersten biographischen Schnittstelle zwischen privatem Raum der Minorität und öffentlichem Raum der Majorität, offenbart das Dilemma versuchter Integration akkulturationswilliger Juden und deren Ablehnung durch Kreise der deutschen Mehrheitsbevölkerung. Die erfahrene Ablehnung des jüdischen Jungen durch seine Mitschüler hinterlässt im Gedächtnis des Schriftstellers so eindrückliche Spuren, dass sie im Spätwerk noch literarische Verarbeitung findet: >E]inst als kleines Bübchen >…@ nahm ich >…@ eine Gelegenheit wahr, meinen Vater zu befragen, wer mein Großvater gewesen sei. Auf diese Frage antwortete er halb lachend, halb unwirsch: ‚Dein Großvater war ein kleiner Jude und hatte einen großen Bart.‘ Den anderen Tag, als ich in den Schulsaal trat, wo ich bereits meine kleinen Kameraden versammelt fand, beeilte ich mich sogleich ihnen die wichtige Neuigkeit zu erzählen >…@. Kaum hatte ich diese Mitteilung gemacht, als sie von Mund zu Mund flog, in allen Tonarten wiederholt ward, mit Begleitung von nachgeäfften Tierstimmen. Die Kleinen sprangen über Tische und Bänke, rissen von den Wänden die Rechentafeln, welche auf den Boden purzelten nebst die Tintenfässer, und dabei wurde gelacht, gemeckert, gegrunzt, gebellt, gekräht – ein Höllenspektakel, dessen Refrain immer der Großvater war, der ein kleiner Jude gewesen und einen großen Bart hatte.¹¹
Die aggressive Reaktion der Kinder auf die jüdische Herkunft ihres Mitschülers nimmt im Text eine orgiastisch scheinende Form an. Auf die Offenbarung jüdischer Herkunft am repräsentativen Ort des bürgerlichen Bildungsideals – der staatlichen Erziehungsanstalt Schule – folgt die Freisetzung des uralten, antijüdischen Automatismus der Ausgrenzung. Hier, in der plötzlich aufkommenden Zerstörungswut, dem Chaos und Lärm im Schulsaal, hallt das Echo der bis dahin brutalsten Folgen der Ausgrenzung − die mittelalterlichen Pogrome gegen die jüdische Minderheit − nach. Ähnliche antijüdische Stimmungsbilder der Ablehnung werden in den Texten Heines immer wieder gezeichnet.¹² Die geschilderte Feindlichkeit gegenüber der Minderheit, personalisiert in den Schulkindern, gilt
11 B XI, S. 576. 12 Vgl. etwa im Fragment Der Rabbi von Bacherach: „Die große Judenverfolgung begann mit den Kreuzzügen und wütete am grimmigsten um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, am Ende der großen Pest, die, wie jedes andre öffentliche Unglück, durch die Juden entstanden sein sollte, indem man behauptete, sie hätten den Zorn Gottes herabgeflucht und mit Hilfe der Aussätzigen die Brunnen vergiftet. Der gereizte Pöbel, besonders die Horden der Flagellanten, halbnackte Männer und Weiber, die zur Buße sich selbst geißelnd und ein tolles Marienlied
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Einleitung
als eine der formativen Kräfte jüdischer Geschichte in der Diaspora und wird im 19. Jahrhundert im Gewand des Antisemitismus zum Haupthindernis für die soziale Emanzipation der Juden als Minderheit in die deutsche Gesellschaft.¹³ Die drastisch geschilderte Szene im Schulsaal spielt jedoch nicht nur auf die fortlebenden Ressentiments der nichtjüdischen Bevölkerung gegen die unter ihr lebende Minderheit an. Die Sequenz hält auch den jüdischen Akkulturationsbestrebungen einen Spiegel vor. Liest man das Kind Harry als Metapher für eine heranwachsende Generation von Juden, welche zu Beginn des 19. Jahrhunderts das staatliche Emanzipationsangebot annimmt, sich in dessen Folge um individuelle Akkulturation bemüht und im selben Zuge den Schutzraum innerhalb der jüdischen Gemeinden aufgibt, so scheint der offenherzige Verweis des Kindes auf seine Abstammung gegenüber den nichtjüdischen Kameraden ein Indiz dafür zu sein, dass mit dem Heraustreten aus dem abgeschlossenen Umfeld der jüdischen Gemeinden auch das Bewusstsein für die außerhalb liegenden Gefahren verloren gegangen zu sein scheint. Die Reaktion auf das freimütige Bekenntnis enthüllt, dass das Vertrauen der Juden in das Projekt ihrer rechtlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung die Realität des 19. Jahrhunderts überschätzt. In der Biographie Heines nimmt das geschilderte Erlebnis der Ausgrenzung keinen unikalen Platz ein. Der Grad der Ausgrenzung potenziert sich, je weiter der Schriftsteller in den öffentlichen Raum der deutschen Mehrheitsgesellschaft dringt. Das Dilemma des jüdischen Akkulturationsbegehrens prägt seine persönlichen Versuche, innerhalb der Majorität anhand einer akademischen Laufbahn anerkannt zu werden, welche schließlich in der Taufe gipfeln und von ihm schon bald darauf als vergebens erkannt werden.¹⁴ In den Memoiren werden die auf Akkulturation zielenden Ambitionen deutscher Juden, illustriert am Beispiel der Wünsche Betty Heines bezüglich der Ausbildung ihres Sohnes,¹⁵ deutlich ausgesingend, die Rheingegend und das übrige Süddeutschland durchzogen, ermordeten damals viele tausend Juden, oder tauften sie gewaltsam.“ Siehe B I, S. 462. 13 Vgl. Volkov, Einführung, S. IX. 14 Heine schreibt am 9. Januar 1826 an seinen Berliner Freund Moses Moser über die Konsequenz der Taufe: „Ich bin jetzt bey Christ u Jude verhaßt. Ich bereue sehr daß ich mich getauft hab; ich seh noch gar nicht ein daß es mir seitdem besser gegangen sey, im Gegentheil, ich habe seitdem nichts als Unglück. >}@ Ist es nicht närrisch, kaum bin ich getauft so werde ich als Jude verschrieen. Aber ich sage Dir, nichts als Widerwärtigkeiten seitdem.“ Siehe Heinrich Heine: Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Säkularausgabe. Hrsg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Bd. 20. Berlin/Paris 1970ff. S. 234f. [im Folgenden HSA]. 15 Details über eine religiöse Erziehung Heines sind unklar, umstritten und widersprüchlich. Eine tiefergehende Ausbildung Heines an einem jüdischen Cheder wird von der aktuellen Forschung ausgeschlossen. Auch die vorliegende Arbeit schließt sich dieser Position an. Vgl.
Leben im Zeichen der Emanzipation
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staltet: „Meine Mutter aber hatte große, hochfliegende Dinge mit mir im Sinn, und alle Erziehungspläne zielten darauf hin. Sie spielte die Hauptrolle in meiner Entwicklungsgeschichte, sie machte die Programme aller meiner Studien, und schon vor meiner Geburt begannen ihre Erziehungspläne.“¹⁶ Der Text weist auf den starken Akkulturationsdruck innerhalb der Minderheit hin, durch berufliche Qualifikation einen Weg von der Peripherie in die Mitte der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu finden. In den Ambitionen Betty Heines wird die Bereitschaft vieler deutscher Juden exemplifiziert, wesentliche kulturelle Merkmale der bürgerlichen Schicht zu übernehmen. Diese Ambitionen sind Merkmal eines sich seit etwa 1800 herausbildenden Sozialtypus des deutschen Juden, „der trotz anhaltender Diskriminierung sich selbst als Deutscher identifiziert, nur noch Deutsch spricht und schreibt, dem eine Vielzahl von Bildungswegen und Berufen offensteht, für den Religion konfessionalisiert und Privatsache ist und der in Salons, Universitäten, Büchern, Zeitschriften und den schönen Künsten Deutschlands Stimme und Gehör findet“¹⁷. So sind die in den Memoiren explizit dargelegten Erziehungspläne und Erziehungsprogramme der Mutter an den Erziehungsidealen des deutschen Bildungsbürgertums orientiert.¹⁸ Dass man die staatlichen Bildungsanstalten im Zuge der Akkulturation nutzt, steht exemplarisch für jenen Konflikt zwischen Konservation und Reform, der in der jüdischen Gesellschaft mit dem Ende des 18. Jahrhunderts und insbesondere im Bereich der Bildung offen ausbricht.¹⁹ Dem Verweis
hierzu ausführlich Grundmann, Rabbi, S. 21. – Zu den Argumenten einer religiös-orthodoxen Erziehung Heines vgl. Israel Tabak: Judaic Lore in Heine. The Heritage of a Poet. Baltimore 1948. S. 14ff.; Max Brod: Heinrich Heine. Berlin 1956. S. 22; Margarita Pazi: Die biblischen und jüdischen Einflüsse in Heines „Nordsee-Gedichten“. In: HJb 12 (1973). S. 3. 16 B XI, S. 559. 17 Christoph Schulte: Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte. München 2002. S. 44. 18 Vgl. Shulamit Volkov: Die Ambivalenz der Bildung. Juden im deutschen Kulturbereich. In: Dies., Projekt, S. 165ff. Wie der Titel des Essays verdeutlicht geht Shulamit Volkov im Gegensatz zur älteren Forschung von keinem ungebrochenen Verhältnis deutscher Juden zum Bildungskanon der deutschen Mehrheitsgesellschaft aus. Diese Ambivalenz im Verhältnis zum intellektuellen Diskurs der Mehrheitsgesellschaft ist bereits in der Aufklärung präsent und verstärkt sich im Zuge nationalistischer Tendenzen der Romantik und des Idealismus. Vgl. hierzu auch George Mosse: Jüdische Intellektuelle in Deutschland. Zwischen Religion und Nationalismus. Frankfurt a. M. 1992. – Allgemein zum Begriff der Bildung vgl. Reinhardt Kosseleck: Einleitung – Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung. In: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen. Hrsg. v. dems. Stuttgart 1990. S. 1–46. 19 Vgl. Jacob Katz: Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne. München 2002. S. 262.
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Einleitung
auf die Ziele Betty Heines folgt in den Memoiren eine Auflistung und Beschreibung der verschiedenen, von der Mutter als wünschenswert für ihren Sohn beurteilten Berufsfelder − der Rabbiner ist nicht darunter, hingegen scheint eine Laufbahn im Dienste des Staates erstrebenswert und wird auch von Heine jahrelang (erfolglos) versucht.²⁰ Dass nicht nur eine wechselseitige Beziehung zwischen Akkulturation und antijüdischem Ressentiment herrscht, vielmehr sich auch politische Emanzipation und versuchte Anpassung gegenseitig bedingen, leuchtet im Wunsch einer Karriere im Dienste des Staates auf. Gleichstellung und Akkulturation müssen als Teile einer komplementären Beziehung gesehen werden. So ist es der Staat, der die juristische Gleichstellung der Juden durchsetzt und den rechtlichen Rahmen schafft, in dem die Anpassungsversuche deutscher Juden erfolgen. Der Wille zur Akkulturation an die Mehrheitsgesellschaft ist jedoch unerlässlich für den Erfolg der vom Staat angebotenen Gleichstellung. In diesem Wechselverhältnis von rechtlicher Emanzipation und gesellschaftlicher Angleichung wird der einst rein juristische Begriff zur Bezeichnung einer Periode: dem Zeitalter der jüdischen Emanzipation.²¹ Die Spanne zwischen den 1780er Jahren bis zum Jahr 1869 umfasst die Gleichstellungsbemühungen der deutschen Juden; sie umschließt darüber hinaus die Lebensdaten Heinrich Heines. „Kennst du noch das alte Lied?“ – Die jüdische Lebensrealität zurzeit Heines lässt sich nicht allein im Bild verzahnter Akkulturation, Emanzipation und Antisemitismus beschreiben. Am Beispiel der Neueinschätzung diasporischer Existenz wird auch der spezifische Umgang innerhalb der Minderheit mit den
20 Vgl. Volkov: Minderheiten, S. 13–31. – Wie ambivalent Akkulturations- und Emanzipationsbestrebungen deutscher Juden sowie die Positionierung Heinrich Heines zu diesem Prozess bewertet werden, zeigt ein Blick in die soziologische Debatte. Shulamit Volkov vergleicht in ihrem Essay Minderheiten und der Nationalstaat die Überlegungen Hannah Arendts und Zygmunt Baumans hierzu. Beide definieren das Akkulturationsbegehren deutscher Juden als individuellen Prozess, als Anstrengung des Einzelnen, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Im Blick Arendts und Baumans auf Heinrich Heine tritt die gegensätzliche Beurteilung der jüdischen Akkulturationsbestrebungen im Zuge der Säkularisierung der Gesellschaft hervor. In seiner von Volkov als zu eindimensional kritisierten Verdammung der Moderne versucht sich Bauman am Beispiel Heines in der Zeichnung eines unreflektierten Akkulturationswilligen, der unkritisch seine Anerkennung als Teil der gesellschaftlichen Majorität vorantreibt. Arendt hingegen betont den außergewöhnlichen Standpunkt des Schriftstellers bezüglich der jüdischen Emanzipationsbewegung, hebt Heines Fähigkeit zur universalen Einschätzung der gesellschaftlichen Ereignisse der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervor. Vgl. Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. 11. Aufl. München 2001; Zygmunt Baumann: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg 1992. 21 Vgl. Volkov, Einführung, S. VII.
Leben im Zeichen der Emanzipation
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gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts sichtbar. Zwar nimmt das jüdische Selbstverständnis im 19. Jahrhundert keine endgültige Trennung von der alten jüdischen Welt vor,²² bewahrt ein großer Teil der deutschen Juden die Erinnerungen an ein der Religion verhaftetes Judentum²³, doch ist der Bruch mit dem religiös begründeten Konzept diasporischer Existenz als Teil einer innerjüdischen Entwicklung hin zur Säkularisierung zu verstehen. Die Neubewertung diasporischer Existenz durch Haskala und Wissenschaft kann dabei als Teil der Bemühungen deutscher Juden um eine den Diskursen ihrer Zeit verhafteten Tradition eingeschätzt werden.²⁴ Motor der sich entwickelnden Tradition eines modernen jüdischen Selbstverständnisses ist das historische Bewusstsein, gründend auf der Geschichtswissenschaft. Das historische Bewusstsein formt die Chiffren kultureller Selbstidentifikation akkulturierter Juden. Nicht das religiös begründete Gebot, vielmehr die kollektive Konzentration auf historische Ereignisse, auf gemeinsame Werte und auf kulturelle Eigenarten jüdischen Lebens lassen ein neues Netz von Traditionen innerhalb der jüdischen Minderheit entstehen. Als herausragendes Beispiel moderner jüdischer Tradition ist die Entwicklung der Jüdischen Studien im 19. Jahrhundert anzuführen.²⁵ In den Jüdischen Studien wird ein moderner, auf historischem Bewusstsein gegründeter Zugang zum jüdischen Selbstverständnis entwickelt, welcher historische und philosophische Fragestellungen an die Stelle der verlorenen Einheit des religiösen Lebens setzt. Dieser wissenschaftlich begründete Zugang ist es auch, der im 19. Jahrhundert die diasporische Existenz
22 Vgl. Volkov: Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland. In: Dies., Projekt, S. 123. 23 Den Begriff „Judentum“ behandelt Volkov in ihren Überlegungen weder als Bezeichnung für eine „Konfession noch als Bezeichnung für eine ethnische Gruppe […], auch nicht als eine moderne Nation – sondern als einzigartiges ‚kulturelles System‘“. Siehe Volkov, Erfindung, S. 121. – Vgl. auch Clifford Geertz: Religion as a Cultural System. In: Ders.: The Interpretation of Cultures. Selected Essays. New York 1973. S. 90. 24 „Am Ende des 19. Jahrhunderts […] waren die meisten Juden in Deutschland nicht mehr Teil der alten jüdischen Welt; aber sie waren auch nicht so völlig mit ihrer neuen Umgebung verschmolzen, wie sie oft glauben wollten. Die meisten von ihnen lebten in einer dritten Sphäre, die sich während des Jahrhunderts langsam entwickelte. Sie lebten in ihrem eigenen deutsch-jüdischen Kultursystem. Sie hatten eine komplexe Struktur von öffentlichen und privaten Vereinen geschaffen und ein Netzwerk von Erziehungseinrichtungen. Sie unterhielten eine lebhafte Öffentlichkeit, vertraten eine Vielzahl widerstreitender ideologischer Positionen und versuchten, eine gemeinsame jüdische Tradition zu konstruieren.“ Siehe Volkov, Erfindung, S. 123. 25 Vgl. Volkov, Erfindung, S. 124.
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aus ihrem religiösen Bedeutungsrahmen bricht und sie als historisches Phänomen definiert.²⁶ Den hier gemachten Überlegungen liegt ein Traditionsbegriff zugrunde, der nicht aus einem statischen Verständnis von Tradition abgeleitet wird sowie nicht als „eine gewissermaßen technische, kommunikationstheoretisch eingrenzbare Größe“²⁷ aufgefasst wird. Es schreiben sich dem Begriff der Tradition vielmehr Wandel und Wechsel, und mit diesen Traditionsumbau und Traditionsbruch ein, da er eine „anthropologische Kategorie“ darstellt, und zu den „notwendige[n] Voraussetzung[en] allen sozialen Handelns“²⁸ innerhalb einer Gruppe gehört. Die vorliegende Arbeit geht somit nicht von einer blockhaft-singularischen Traditionsvorstellung aus, die als komplementär zu Innovation oder Moderne verstanden werden muss.²⁹ Vielmehr wird die Sichtweise vertreten, dass „Traditionen […] nicht nur an und für sich [existieren], sondern nur insofern sich Individuen oder Gruppen zu ihnen verhalten, im Hinblick auf sie handeln.“³⁰ Gerade im Bewusstseinswandel um die diasporische Existenz, wie er im 18. Jahrhundert vorbereitet und im 19. Jahrhundert unter akkulturierten Juden vorgenommen wird, wird der anthropologische Gehalt des Traditionsbegriffs vor Augen geführt, werden die Wandlungsstärke tradierter, überkommener Konzepte kollektiven Selbstverständnisses exemplifiziert und die Absicht hinter den Traditionen bezeugt, die „Vergangenheit zu bestimmten Zwecken zu rekonstruieren, die für die Gegenwart von Bedeutung sind“³¹. Die Literatur ist dabei für das „Spiel mit den Traditionen“ 26 Festzuhalten ist, dass dieser auf einem historischen Bewusstsein gründende Zugang zum diasporischen Judentum – als Ausdruck eines kollektiven jüdischen Bewusstseins unter modernen Vorzeichen – die Basis für das moderne jüdische „Kultursystem“ bildet. So ist es das zunehmende Interesse von deutschen Juden an den Jüdischen Studien, welches bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine bis dahin noch nicht existente, umfassende jüdische Öffentlichkeit bewirkt. Jene schafft sich mit einer stetig wachsenden jüdischen Zeitungsund Zeitschriftenproduktion, mit dem umfangreichen jüdischen Literaturmarkt ein Podium der Reflexion modernen jüdischen Selbstverständnisses. Diese „populäre“ jüdische Kultur befördert ein Bewusstsein, welches – verankert in einem modernen kulturellen System – als Alternative zu dem Gebot verbundenen jüdischen Leben dient. Vgl. Volkov, Erfindung, S. 129f. 27 Wilfried Barner: Einleitung. In: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. München 1989. S. X. – Vgl. auch die Definition bei Volkov, Erfindung, S. 118f. 28 Barner, Einleitung, S. X. 29 Vgl. Barner, Einleitung, S. XIV. 30 Barner, Einleitung, S. XIV. 31 Volkov, Erfindung, S. 119. – Hier zeigt sich deutlich, dass mit dem Traditionswandel immer auch ein Krisenbewusstsein verbunden ist: „Das dialektische Ineinandergreifen von kulturellem Erbe versus Erneuerung einerseits und Fortschritts- versus Defiziterfahrung andererseits macht die charakteristische Labilität von kulturellen Wendezeiten deutlich, die an die Menschen besondere Anforderungen hinsichtlich Flexibilität, Verarbeitung und Anpassung
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prädestiniert,³² denn „[z]u ihrem Wesen gehört es gerade, daß jedes einzelne Werk in einer – stets neu zu bestimmenden – produktiven Spannung zu vorfindlichen Traditionen steht“, dass „im Hervorbringen eines literarischen Werks […], stets auch ein Moment spezifischer Freiheit der Traditionswahl wirksam [ist]“³³. So weisen die literarischen Arbeiten Heines und anderer jüdischer Schriftsteller einerseits die gefühlte und die tatsächliche Zugehörigkeit dieser Autoren zur bürgerlichen Kultur der Mehrheitsgesellschaft nach,³⁴ andererseits bedeuten ihre Texte immer auch eine Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition, stehen „immer schon in einem – wie auch immer – traditionsgeprägten sozialen Handlungszusammenhang“³⁵. Heines Einführung der Thematik um die jüdische Diaspora in die deutschsprachige Literatur bietet ein vorzügliches Beispiel dieses Wirkungszusammenhangs. Einerseits wird die literarische Verarbeitung dieses Themas in die Richtlinien der deutschen Literaturtradition eingefügt, etwa in der Wahl zeitgemäßer Kriterien, wie einer bestimmten Gattung oder lyrischen Form, andererseits ist die Thematik mit ihrer Verarbeitung innerjüdischer Reflexion über die Neubestimmung eines zeitgemäßen jüdischen Selbstverständnisses auch Ausdruck einer Auseinandersetzung mit dem traditionellen Konzept jüdischer Existenz in der Diaspora. Die Art der Auseinandersetzung exemplifiziert dabei das Moment spezifischer Freiheit des Autors in der Traditionswahl, synthetisiert sich in dessen selektiertem Rückgriff auf jahrhundertealte Muster der neue Text.³⁶
stellt. […] Daher kommt es in Wendezeiten häufig zu Krisenerfahrungen, deren Ausmaß von Erfolg bzw. Nichterfolg der genannten Verarbeitungs- und Anpassungsleistungen […] abhängt.“ Siehe Ramin, Raumorientierung, S. 26. 32 Vgl. Ramin, Raumorientierung, S. 28. 33 Barner, Einleitung, S. XIV. 34 Vgl. Florian Krobb: Selbstdarstellungen. Untersuchungen zur deutsch-jüdischen Erzählliteratur im neunzehnten Jahrhundert. Würzburg 2000. S. 14. – Die vorliegende Arbeit versteht unter der Bezeichnung „deutsch-jüdische Literatur“, „[…] daß es sich um deutsch geschriebene, das heißt für den Buchmarkt des deutschsprachigen Raumes produzierte Werke von Autoren jüdischer Herkunft handelt (gleichgültig, ob sie sich, wie Heine, durch die Taufe zumindest äußerlich oder symbolisch vom Judentum abgelöst haben, ob sie praktizierende, säkularisierte oder indifferente Angehörige dieser Religionsgemeinschaft waren).“ Siehe Krobb, Selbstdarstellungen, S. 12. 35 Barner, Einleitung, S. XVI. 36 Vgl. Barner, Einleitung, S. XVI.
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Schreiben im Zeichen der Emanzipation „Kennst du noch das alte Lied?“ – Stellt das erste Kapitel das Phänomen der Diaspora aus rabbinischer Sicht vor und zeigt das zweite Kapitel die Neuorientierung des Phänomens im Zuge säkularer Tendenzen innerhalb der jüdischen Minderheit, analysiert das dritte Kapitel eine erste umfassende Antwort Heinrich Heines auf die Frage nach dem „alten Lied“ beziehungsweise nach dem diasporischen Bewusstsein eines säkularen Juden im 19. Jahrhundert. Im Zentrum steht hier das Fragment Der Rabbi von Bacherach. Das Kapitel zeigt Heine als Mitglied im Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden und insofern auch als Akteur des oben erwähnten jüdischen Projekts moderner Traditionsfindung. Dieser Abschnitt analysiert, wie Heine den historiographischen Blick des Vereins, dem Vorläufer der Jüdischen Studien, übernimmt, wie ihm dieser zum Ausgangspunkt eigener kulturgeschichtlicher Reflexion über die diasporische Existenz wird. Dass mit Der Rabbi von Bacherach die Textanalyse eröffnet wird, ergibt sich aus der herausragenden Bedeutung des Fragments für die deutsche Literatur. Es führt nicht nur erstmals die Diaspora-Thematik in dieselbe ein, vielmehr gibt es auch den Auftakt zu einer deutsch-jüdischen Literatur, deren Entstehungsgrund in der Hinwendung jüdischen Selbstverständnisses von der Religion zur Geschichte zu suchen ist. Dass die deutsch-jüdische Literatur immer in einem doppelten Bezugsrahmen gelesen werden muss, der aus dem Horizont des jüdischen Selbstverständnisses und der literarischen Ordnung des dominanten Umfelds zusammengesetzt ist,³⁷ gilt im besonderen Maße für das Thema der diasporischen Existenz im Werk Heines. Mit der Einführung diasporischer Existenz in die deutsche Literatur erlangen die Texte Heines eine unikale Dimension, schaffen sie einen literarischen Raum innerhalb der deutschen Literatur, der ausschließlich aus der Problem- und Interessenlage einer marginalisierten Gruppe erwächst. Die Verbindung von diasporischer Existenz mit dem modernen Bewusstsein, einer von der Mehrheitsgesellschaft marginalisierten Minderheit anzugehören, wie sie auch im Rabbi von Bacherach gezogen wird, verweist auf die politischen Implikationen, die der Diaspora-Thematik im Werk Heines inhärent sind.³⁸ Wie Heine
37 Vgl. Krobb, Selbstdarstellungen, S. 22. 38 Vgl. Anne-Maximiliane Jäger: „Besaß auch in Spanien manch’ luftiges Schloß“. Spanien in Heinrich Heines Werk, Stuttgart/Weimar 1999. – Am Beispiel der Spanien-Thematik wird bereits bei Jäger auf eine Verbindung von Judentum und politischer Aussage aufmerksam gemacht: „[P]olitische Implikationen und Aktualisierungsmöglichkeiten und die wichtige Stellung, die dem spanischen Judentum in der jüdischen Emanzipationsdiskussion zukommt, prägen Heines gesamte Bearbeitung spanischer Thematik.“ Siehe Jäger, Spanien, S. 9.
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die Problematik um rechtliche Gleichstellung und Akkulturation im Zuge seiner Darstellung jüdischer Diaspora formuliert, wie er das Thema der jüdischen Diaspora heranzieht, um es, in einen allgemeineren Zusammenhang gestellt, für die Veranschaulichung gesamtgesellschaftlicher Problematik zu nutzen,³⁹ analysiert das vierte Kapitel. So wird dem Schriftsteller das Ringen der jüdischen Minderheit um Emanzipation immer wieder zum Ausgangspunkt von Forderungen nach sozialer und rechtlicher Gleichstellung aller Bevölkerungsgruppen. Indem Heine das jüdische Anliegen thematisiert, thematisiert er das Anliegen aller, bewegt er sich im doppelten Bezugsrahmen deutsch-jüdischer Literatur. „Kennst du noch das alte Lied?“ – Dass die Antworten Heines auf diese Frage mit ihrer kulturgeschichtlichen und soziopolitischen Färbung nicht die Negation des Bewusstsein jüdischen Lebens in der Diaspora bedeuten oder gar Ausdruck „jüdischen Selbsthasses“⁴⁰ sind, wird in Kapitel Fünf veranschaulicht. Widmen sich Kapitel III und IV der Entfremdung von der religiösen Auslegung diasporischer Existenz unter den Vorzeichen der Säkularisierung, untersucht das fünfte Kapitel Anknüpfungspunkte des Schriftstellers an das diasporische Bewusstsein der jüdischen Minderheit. Mit der Analyse der Shylock-Figur aus Shakespeares Mädchen und Frauen wird ein Schreibverfahren Heines näher untersucht, dass
39 Zur sozialen Funktion der jüdischen Thematik im Werk Heines vgl. Hallensleben, „Romanzero“, S. 90. 40 Vgl. Sander L. Gilman.: Jüdischer Selbsthaß. In: Jüdische Geschichte lesen. Texte der jüdischen Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Michael Brenner [u. a.]. München 2003. S. 320–324; Hans Mayer: Außenseiter. Frankfurt a. M. 1975. − Der Ausdruck „jüdischer Selbsthass“ wurde von Theodor Lessing (Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthaß. Berlin 1930) geprägt. Das Phänomen des Selbsthasses, das aufkommt, „wenn die Trugbilder der Stereotypen mit der Wirklichkeit verwechselt werden“ (Gilman, Selbsthaß, S. 323), ist Spielart jener Beziehung zwischen dominanter Gruppe und der von ihr marginalisierten Minderheit, wie sie in Kapitel VI im Zusammenhang mit dem Schriftstellerverständnis Heines thematisiert wird: „Selbsthaß entsteht dadurch, daß die Außenseiter das Wahnbild von ihnen als Wirklichkeit annehmen, das jene in der Gesellschaft entwerfen, die die Außenseiter definieren, und auf die die Außenseiter sich beziehen. Diese Übernahme eines Wahnbildes liefert die Grundlage für die Mythenbildung, die dem Selbstbild jeder Gemeinschaft zugrunde liegt. Die illusionäre Definition des Selbst, die Identifikation mit dem Wahnbild der Bezugsgruppe vom Anderen, ist so wandelbar wie die veränderlichen Größen innerhalb der Gruppe, die dem Außenseiter als homogene Machtgruppe erscheint. Dieser Illusion wohnt ein unauflöslicher Gegensatz inne. Auf der einen Seite steht die liberale Verheißung, jeder könne grundsätzlich an der Macht der Bezugsgruppe teilhaben, vorausgesetzt er unterwirft sich den Regeln dieser Gruppe. Aber eben diese Regeln bestimmen auch die Definition des Anderen. Und die Anderen, das sind genau jene, die von der Teilhabe an der Macht innerhalb der Gesellschaft ausgeschlossen werden. […] So bilden die liberale Verheißung die eine und der konservative Fluch die andere Seite des Abgrunds, der den Außenseiter von der Welt der Privilegierten trennt.“ Siehe Gilman, Selbsthaß, S. 320f.
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als diasporisch bezeichnet werden kann und wird gleichzeitig die Wandlung einer traditionell antijüdisch gefärbten literarischen Figur in die Figuration jüdischen Lebens in der Diaspora beobachtet. In der literarischen Ausgestaltung der jüdischen Diaspora, die im Werk Heines nicht allein auf die Problematik um die Marginalisierung der jüdischen Minderheit aufmerksam macht, mit der darüber hinaus gesamtgesellschaftliche Konflikte zur Darstellung kommen, kommt ein mehrfachcodiertes Schreibverfahren zur Anwendung. Mit Blick auf die Einführung der diasporischen Thematik in die deutsche Literatur durch Heine muss ein Verständnis von Identität in Frage gestellt werden, das in erster Linie an der Erfassung kultureller Differenz ausgerichtet ist⁴¹ und das „die Logik der binären und hierarchisierenden Oppositionen [von Identität, Anm. d. Verf.] und die ihr entsprechende Verortung der Kulturen, die sich in der Entgegensetzung von Selbst und Anderem bündeln“⁴², durchkreuzt. Diesem am Prinzip der Dichotomie ausgerichteten Identitätsverständnis stehen die durch Hybridität gekennzeichneten Vorstellungen des Subjekts und des Kollektivs entgegen. Nach dieser ist weder das Subjekt noch das Kollektiv eindeutig oder homogen gebaut, vielmehr sind sie „Knoten- und Kreuzpunkt[e] der Sprachen, Ordnungen, Diskurse wie auch der Wahrnehmungen, Begehren, Emotionen und Bewußtseinsprozesse“⁴³. So veranschaulichen etwa das Ineinandergreifen von innerjüdischem Diskurs und gesamtgesellschaftlichen Konflikt, von diasporischer Schreibweise⁴⁴ und deutscher beziehungsweise europäischer Literaturtradition beispielhaft das Phänomen der kulturellen Hybridität.⁴⁵ In
41 Vgl. Heinz Politzer: Um einen Heine von innen bittend. In: Ders.: Das Schweigen der Sirenen. Studien zur deutschen und österreichischen Literatur. Stuttgart 1968. S. 215. 42 Ute Gerhard: Multikulturelle Polyphonie bei Heinrich Heine. Der „Romanzero“ gelesen im Archiv kultureller Hybridisierung. In: Räume der Hybridität. Postkoloniale Konzepte in Theorie und Literatur. Hrsg. v. Christof Hamann/Cornelia Sieber. Hildesheim 2002. S. 200. 43 Elisabeth Bronfen [u. a.]: Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. In: Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Hrsg. v. ders. [u. a.]. Tübingen 1997 (Stauffenburg discussion 4). S. 4. 44 Zu diesem Begriff vgl. ausführlich Kapitel V.1. 45 Zum Phänomen der kulturellen Hybridität bezogen auf die Texte Heines vgl. Ute Gerhard, Polyphonie, S. 199–211. – Auf das Phänomen eines Schreibens im Zeichen kultureller Hybridität macht auch Mark H. Gelber in seinem Aufsatz Heines jüdischer Wortschatz aufmerksam. In Bezug auf die Wahl jüdischer Ausdrücke im Werk Heines schreibt er zusammenfassend: „Die Verwendung diese[r] Worte spiegelt […] Heines Bereitschaft wider, seine späten Schriften mit jüdischen Formulierungen sowie mit differenzierten jüdischen Hinweisen und Perspektiven zu durchsetzen, die eine Art von hybrider Kunstsprache schaffen, deren Wirkung in Verbindung mit dem Judentum als Gegenstand seines dichterischen Seins fungiert.“ Siehe Mark H. Gelber: Heines jüdischer Wortschatz. In: Harry…Heinrich…Henri…Heine. Deutscher, Jude, Europäer. Grazer Humboldt-Kolleg. 6.–11. Juni 2006. Hrsg. v. Dietmar Goltschnigg [u. a.]. Berlin
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einem kulturtheoretischen und gesellschaftlich-anthropologischen Kontext, der auch die Literatur mit einschließt, „meint der Begriff Hybridität kulturelle Phänomene als nomadische Begegnung mit dem ‚Anderen‘ und mit ‚Andersheit‘, als eine rekodifizierte, innovative Begegnung zwischen dem ‚Lokalen‘ und dem ‚Fremden‘“⁴⁶ und bedeutet das Einschreiben der jüdischen Diaspora in die deutsche Literatur, als Ausdruck kultureller Hybridität, auch eine Begegnung zwischen widersprechender, marginalisierter Stimme⁴⁷ und dominantem Diskurs, wobei es sich nicht „um simple Vermischungen [handelt], gleichgültig wie komplex diese sein mögen“, vielmehr „um einen Zustand der permanenten Reibung, Irritation oder Unordnung“⁴⁸. Dabei ist zu beobachten, dass das Einfließen jüdischer Existenz in die Textwelt der deutschen Literatur auch das Verhältnis zwischen dominantem Diskurs und marginalisierter Stimme verändert, sind diese Texte mit ihrem doppelten Bezugsrahmen doch nicht länger mit eindeutiger Sicherheit als die authentische Stimme des fremden, unterlegenen Anderen von der Mehrheitsgesellschaft identifizierbar. Im Zuge der Neuorientierung akkulturierter Juden zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die unter dem Druck der Säkularisierung die traditionellen Ordnungsmuster ihrer kollektiven Identität zu überformen beginnen und sich hierbei an den Diskursen der Mehrheitsgesellschaft orientieren, wird der Nimbus kultureller Abgeschlossenheit und Überlegenheit aufgelöst, sowohl der Mehrheitsgesellschaft als auch der Minderheit. Wie das sechste und abschließende Kapitel der Textanalyse herausarbeitet, veranschaulicht das Werk Heines diesen Prozess gerade in Bezug auf die diasporische Existenz. Im Zuge ihrer Darstellung konkretisiert sich eine Gegenstimme des dominanten Diskurses, die für den Widerstand des Ausgeschlossenen, des Marginalisierten steht.⁴⁹ So verfolgt das sechste 2008 (Philologische Studien und Quellen 208). S. 120. Vgl. hierzu auch Karl Ivan Solibakke: Heinrich Heine und das europäische kulturelle Gedächtnis. In: Akten des XI Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005. Germanistik im Konflikt der Kulturen. Bd. 7. Hrsg. v. JeanMarie Valentin. Bern 2008. S. 6. 46 Alfonso de Toro: Jenseits von Postmoderne und Postkolonialität. Materialien zu einem Modell der Hybridität und des Körpers als transrelationalem, transversalem und transmedialen Wissenschaftskonzept. In: Hamann/Sieber, Räume, S. 24. 47 Zum Begriff „marginalisierte Stimme“: Dieser Begriff entwickelt sich aus der Dichotomie von Minderheit und Mehrheit, wie sie seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert mit der Idee des Nationalstaates in der europäischen Gesellschaft entwickelt wurde. Marginalisiert bedeutet dabei von der Mehrheitsgesellschaft in die Position des Außenseiters gedrängt zu werden. Der Gegenbegriff zur marginalisierten Stimme ist die dominante Gruppe, die über die wirksame Marginalisierungsstrategie „fremd/eigen“ verfügt. 48 Toro, Postmoderne, S. 30. 49 Vgl. Nghi Ha Kien: Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus. Bielefeld 2005. S. 89.
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Kapitel die Thematisierung diasporischer Existenz im Werk Heines vor dem Hintergrund des Schriftstellerverständnisses des Autors und dessen Diskussion um die Auseinandersetzung zwischen marginalisierter Stimme und dominantem Diskurs. Zunächst die Abwehrhaltung des dominanten Diskurses bezüglich des Schriftstellers jüdischer Herkunft darstellend, werden in einem weiteren Schritt die Strategien der marginalisierten Stimme im Konflikt um die Frage der Zugehörigkeit untersucht. Dass dieser Konflikt die Genese des politisch engagierten Schriftstellers, des Zeitschriftstellers, vorantreibt, zeigt das sechste Kapitel in der Analyse der Abhandlung Ludwig Börne. Eine Denkschrift. Hier sind es die Bilder diasporischer Existenz, übertragen auf das Leiden am Exil, die in Bezug zum modernen Schriftstellerbild gesetzt werden. Das Zusammenspiel von politischem Engagement, exilischer Existenz und modernem Schriftstellerverständnis wird hier näher beleuchtet und am Beispiel des Gedichts Jehuda ben Halevy's aus Hebräische Melodien vertieft.
Forschungsbericht Wie der obige Teil der Einleitung verdeutlicht, muss die grundsätzliche Bedeutung der jüdischen Existenz für die Entstehung des Heineschen Oeuvres betont werden. Das jüdische Selbstverständnis, wie es im Werk des Schriftstellers ausgestaltet ist, bildet seit den 1990er Jahren einen stetig wachsenden Schwerpunkt innerhalb der Heine-Forschung und ist Anlass kontroverser Debatten um die Bedeutung des Judentums für das Werk des Autors. An die Diskussion um das jüdische Selbstverständnis Heinrich Heines ist dabei immer auch die Frage nach dem Schriftstellerverständnis Heines gebunden. Formuliert wird sie bereits ganz zu Anfang der Heine-Rezeption im Zuge der Veröffentlichung des Almansor, steht dann im Zeichen der Ausschlussstrategie nationaler und antisemitisch gefärbter Diskurse um Heine und wird bis in die aktuelle Heine-Forschung hinein immer wieder aus neuer Perspektive aufgeworfen. Das Zusammenlesen von jüdischer Identität und Schriftstellerexistenz im Werk Heines führt dabei die Abhängigkeit ihrer Zusammenschau in Diskursen und Debatten von den jeweiligen gesellschaftspolitischen Strömungen vor Augen.⁵⁰ Lange Zeit ist es die erbitterte Kontroverse um die Frage nach der Zugehörigkeit Heines zum Kanon der deutschen Dichter überhaupt, welche die HeineRezeption in den ersten 150 Jahren mit Blick auf die jüdische Herkunft des Autors bestimmt. Einer Minderheit zuzurechnen, die vom dominanten Diskurs als das 50 Vgl. Brigitte Müller: „Dichterbilder“ in Literaturgeschichten. Die Darstellung DrosteHülshoffs, Heines und Mörikes in literaturgeschichtlichen Kommentaren. München 2004. S. 46.
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„Fremde“/das „Andere“ stigmatisiert wird, wird der Anspruch Heines auf den deutschen Dichtertitel immer wieder in Abrede gestellt, verweigert, fällt das unumschränkte Bekenntnis deutscher Intellektueller zu Heine schwer.⁵¹ So schreibt Karl Gutzkow 1839, auch mit Blick auf Heines Weggefährten und Widersacher Ludwig Börne: Es gab viel zu überwinden, ehe sich der Blick dauernd an diese beiden Gestalten gewöhnte; denn kein geringeres Hindernis ihrer Festsetzung musste bei den Deutschen schon ihre israelitische Herkunft sein. Wenn wir auch reif genug waren, mit ungeteilter Hingebung von einem Israeliten harmlose Dichtungen harmlos aufzunehmen und wohl nie bei Moses Mendelssohn daran gedacht haben, seine Religion zum Maßstab seiner Philosophie zu machen, so war hier ein anderer Fall eingetreten. Zwei Israeliten hatten in ihren Schriften den ganzen Verlauf der neueren Geschichte aufgenommen, sprachen von den allgemeinsten der Nation, von Christentum, von Politik, von bürgerlichem Leben. Sie tranken, so wie wir und brachen das Brot so wie wir. Sie hatten nicht nur denselben blauen Himmel, dieselbe Nachtigall, denselben Mond, der sich im stillen See spiegelt, dieselbe Tanne auf dem Harze wie wir, sondern Welt, Staat, Kirche, Geschichte, alles sprachen sie mit demselben Rechte an, auf das wir bisher mit so vieler Eifersucht gewacht hatten. Es dauerte lange, bis hier eine unbedingte Hingebung erfolgen konnte.⁵²
Diese Skizze Gutzkows resümiert die Befindlichkeiten deutscher Intellektueller gegenüber Heinrich Heine. Gutzkow, zunächst Freund und später Widersacher Heines, beschreibt eine Ambivalenz im Umgang mit dem Schriftsteller, die noch 1956 bei Theodor W. Adorno zu bemerken ist: Wer im Ernst zum Gedächtnis Heines am hundertsten Tag seines Todes beitragen will und keine bloße Festrede halten, muss von einer Wunde sprechen; von dem, was an ihm schmerzt und seinem Verhältnis zur deutschen Tradition, und was zumal in Deutschland nach dem zweiten Krieg verdrängt ward. Sein Name ist ein Ärgernis, und nur wer dem ohne Schönfärberei sich stellt, kann hoffen, weiterzuhelfen.⁵³
51 Vgl. Peter Uwe Hohendahl: Heinrich Heine. Europäischer Schriftsteller und Intellektueller. Berlin 2008. – „Überblickt man Positionierungen der Literaturgeschichte wie auch der akademischen Heine-Kritik im weiteren Sinne, fällt auf, daß sie überwiegend historisch eingestellt waren; sie setzte sich zum Ziel, den Schriftsteller im Zusammenhang vorgegebener Diskurse einzuordnen und zu bewerten. Bemerkenswert ist nun, daß die verschiedenen […] skizzierten Diskurse mit Oppositionsbildungen operierten, aus denen sich Ein- und Ausschlußschemata ableiten. Gemessen wurde Heine innerhalb der Gegensätze: eigene literarische Tradition versus fremde, deutsche Identität versus ausländische, rassisch zugehörig (Arier) versus nicht zugehörig (Juden) […].“ Siehe Hohendahl, Heine, S. 194. 52 Karl Gutzkow: Vergangenheit und Gegenwart. In: Jahrbuch der Literatur 1 (1839). S. 14ff. – Vgl. auch Willi Jasper: Deutsch-jüdischer Parnass. Berlin 2004. S. 163f. 53 Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur. In: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 11. Frankfurt a. M. 1997. S. 95. – Zur Komplexität der Adornoschen Argumentation vgl.
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Und weiter über den Lyriker Heine: „Nur der verfügt über die Sprache wie über ein Instrument, der in Wahrheit nicht in ihr ist.“⁵⁴ Die Verwunderung des deutschen Intellektuellen über den Schriftsteller jüdischer Herkunft, der selbstbewusst von der Peripherie der Gesellschaft in deren Mitte tritt und selbstverständlich an den Diskussionen um die Zeitverhältnisse teilnimmt, die Ausschlussstrategien des dominanten Diskurses hinterfragt und diese nicht als gegeben hinnimmt, steigert sich mit den Polemiken von Ignaz Döllinger, Heinrich von Treitschkes und Adolf Bartels zur antisemitischen Hetze gegen den Autor.⁵⁵ Die Frage der Zugehörigkeit Heines wurde jedoch auch von jüdischer Seite gestellt. Die Ambivalenz in der Beurteilung der Zugehörigkeit Heines zur jüdischen Minderheit gründet größtenteils im Umstand der Taufe. So formuliert Gustav Karpeles 1868 in Heinrich Heine und das Judenthum: „Ist Heine’s Austritt aus dem Judenthume zu rechtfertigen oder nicht? Als was haben wir Heine zu betrachten, als Juden oder als Nichtjuden? Zeigen sich in der rätselhaften Dichternatur Heine’s Spuren jüdischen Geistes?“⁵⁶ Es ist vor allem die vermeintliche Rückkehr Heines zum Judentum in seinem Spätwerk, die Karpeles diese Fragen bejahen lassen, auf dass „Israel jetzt mit gerechten Ansprüchen auf Heine auftritt und den Dichter als einen Sohn Juda’s anerkennt“⁵⁷. Eine negative Antwort findet hingegen Max Fischer in seiner 1916 veröffentlichten Skizze Heinrich Heine. Der deutsche Jude. Heines Bezug zum Judentum steht hier für ein von Akkulturation ausgehöhltes, dem Judentum entfremdetes jüdisches Selbstverständnis. Heines Zugang zum Judentum wird als die Tragik jener ersten Generation akkulturierter Juden exemplifiziert, „die beten wollen und doch nicht aufs Knie fallen können; es ist die Tragik derer, die reinen Klang sehnen, und ihre Stimme zeugt wehe Dissonanz“⁵⁸. Anders der Blick des nationaljüdischen Diskurses auf Heinrich Heine. Er präsentiert den Schriftsteller, Anhänger eines „Nationaljudentum[s]“⁵⁹, als den Wegbereiter des Zionismus.⁶⁰ Einen Höhepunkt der Auseinandersetzung mit Heine
Hohendahl, Heine, S. 208ff.; Leonard Olschner: Heine-Lektüre und Lyrik-Verständnis bei Adorno. In: Goltschnigg [u. a.], Harry, S. 319–326. 54 Adorno, Noten, S. 98. 55 Zur antijüdischen Heine-Rezeption vgl. Karl Theodor Kleinknecht (Hrsg.): Heine in Deutschland. Dokumente seiner Rezeption 1834–1956. Tübingen 1976. S. XXIIIff.; Paul Peters: Heinrich Heine „Dichterjude“. Geschichte einer Schmähung. Frankfurt a. M. 1990; Ders.: Die Wunde Heine. Zur Geschichte des Heine-Bildes in Deutschland. Bodenheim 1997. 56 Gustav Karpeles: Heinrich Heine und das Judenthum. Breslau 1868. S. 11. 57 Karpeles, Heine, S. 18. 58 Max Fischer: Heinrich Heine. Der deutsche Jude. Stuttgart/Berlin 1916. S. 8. 59 Georg J. Plotke: Heinrich Heine als Dichter des Judentums. Ein Versuch. Dresden 1913. S. 28. 60 Vgl. Plotke, Heine, S. 2–29.
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aus zionistischer Perspektive bietet dabei Max Brods Heine-Biographie von 1935. Das Buch erschien nach der „Machtergreifung“ des Nationalsozialismus und verwendet das Beispiel Heine, um den Zionismus als den einzig gangbaren Weg der westeuropäischen Juden darzustellen.⁶¹ So schreibt Brod mit Blick auf die Akkulturationsbestrebungen deutscher Juden zur Zeit Heines: Denn welche Art von Judentum hatten diese Eltern den Kindern zu bieten? Das Judentum war brüchig geworden, erstrebte nicht mehr mit Selbstverständlichkeit Erfüllung des gesamten Lebensraums jedes einzelnen Juden wie auch der jüdischen Gemeinschaft; […] Mit diesem Bruch, der schmerzlich, aber geschichtlich notwendig geworden war, setzte erst die ganze Problematik des modernen Judentums ein, deren vorläufige Klärung heute im Zionismus Gestalt und Umriss gewinnt, im Zionismus, dem wiederum die Besinnung auf seine eigene nicht bloß politische, nationale, sondern auch religiöse und soziale Wesenheit neue Aufgabe von ungeheurer Tragweite stellt.⁶²
Brod, der Heine als „Typus des ‚Diaspora-Juden‘ beschrieben [hat] – als ‚jüdischer Dichter deutscher Zunge‘, dessen Identität jenseits der Akkulturation zu bestimmen sei“⁶³, weist ihn nicht der deutschen Literatur zu, sondern stellt ihn in eine jüdische Tradition, die er in Heines Kritik an der Akkulturationsbewegung und dem Festhalten an der jüdischen Überlieferung repräsentiert sieht. Wie sehr Brod in seiner Argumentation von den nationalen und rassentheoretischen Diskursen seiner Zeit geprägt ist, zeigt seine Deutung Heinescher „Spottlust und [der] bis ins Private vorstoßenden Methode der Polemik“ als eine „ursprüngliche Anlage“⁶⁴, die aus dem „Volkhaften, Allgemein-Jüdischen“⁶⁵ erwächst. In den ersten Jahrzehnten nach 1945 wird die Frage nach dem jüdischen Selbstverständnis des Schriftstellers Heinrich Heine in der deutschen Heine-Forschung geradezu tabuisiert. An dieser Frage zu rühren, so Jost Hermand, „fand man ebenso unschicklich wie eine Beschäftigung mit der sogenannten ‚unbewältigten Vergangenheit‛ im allgemeinen“⁶⁶. Die Diskussion der Frage um das jü61 Vgl. Gaelle Vassogne: Max Brod in Prag. Identität und Vermittlung. Tübingen 2009. S. 163f. 62 Max Brod, Heinrich Heine. Berlin 1956. S. 69. 63 Jasper, Parnass, S. 185. 64 Brod, Heine, S. 58. 65 Brod, Heine, S. 53. 66 Jost Hermand: Streitobjekt Heine. Ein Forschungsbericht 1945–1975. Frankfurt a. M. 1975. S. 128f. – Vgl. auch Joseph A. Kruse: Die Unsterblichkeit der Familie. Über Heinrich Heines Herkunft und Verwandtschaft. In: Heinrich Heine in Jerusalem. Internationale Konferenz 2001 im Konrad-Adenauer-Konferenzzentrum in Mishkenot Sha’ananim. Hrsg. v. Naomi Kaplansky [u. a.]. Hamburg 2006. S. 14–41. Joseph A. Kruse versucht anlässlich der internationalen Heine-Konferenz in Jerusalem 2001 folgende Erklärung für die fehlende Auseinandersetzung der deutschen Heine-Forschung in den Nachkriegsjahren: „Heines jüdisches Erbe hatte jahrelang eher ein, wenn auch stets präsentes, aber partikulares Nebenthema gebildet.
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dische Selbstverständnis Heines findet in diesen Jahrzehnten in der übrigen Welt statt.⁶⁷ Herausragend ist hier die Publikation Judaic Lore in Heine. The Heritage of a Poet von Israel Tabak. Sie untersucht erstmals systematisch Heines Kenntnis der hebräischen Sprache und der rabbinischen Tradition und weist die Verwendung biblischer und nachbiblischer Motive in Heines Werk nach. Wie Brod reiht Tabak Heine in eine jüdische Traditionslinie ein, bestimmt diese Tradition jedoch näher in dem Versuch „the eloquence of the ancient Hebrew prophets and Heine’s own poetic genius“⁶⁸ miteinander zu verbinden. Darüber hinaus unternimmt Tabak den Versuch, Heines Emanzipationsbegriff⁶⁹ aus der jüdischen Tradition herzuleiten und auch dessen Ironiebegriff⁷⁰ in eine jüdische Traditionslinie zu stellen.
Der politische Autor, der romantische Lyriker, der journalistische Schriftsteller – solche Themen waren unabhängig von Fragen der Religion oder der Familienzugehörigkeit der Gegenstand der Forschung. Gelegentlich könnte es so scheinen, als sei besonders nach 1945 die Angelegenheit der Heineschen jüdischen Herkunft eher mit einer gewissen vorsichtigen Reserve überhaupt zur Sprache gekommen. Man geht nicht fehl in der Annahme, daß sich dadurch die Komplikationen der Heine-Zeit wiederholten oder trotz des großen Zeitabstands aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit wie in einem Spiegel erst recht Hilflosigkeit und Berührungsängste zeigten.“ Siehe Kruse, Unsterblichkeit, S. 21. – Vgl. auch Marcel Reich-Ranicki: Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur. Stuttgart 1989. Deutlicher formuliert Marcel Reich-Ranicki: „In Deutschland über Heine zu schreiben, ist immer noch eine heikle und missliche Sache. […] So verdüstert noch heute, scheint es, der Rauch der Bücherverbrennung und der Gaskammern die Sicht. Jedenfalls waren die Vorzeichen, unter denen nach 1945 die erneute Beschäftigung mit Heine stand, von kritischer Nüchternheit und wissenschaftlicher Sachlichkeit weit entfernt. Denn natürlich ist, ähnlich wie der Judenhaß, auch die Wiedergutmachung, mögen ihre Motive die redlichsten sein, keine Kategorie, die sich zur Klärung eines literarischen Phänomens eignet.“ Siehe Reich-Ranicki, Ruhestörer, S. 79. 67 Zur internationalen Heine-Rezeption vgl. Jost Hermand: Deutscher, Jude oder Franzose?. Heine im internationalen Kontext. Oldenburg 1995. 68 Israel Tabak: Judaic Lore in Heine. The Heritage of a Poet. Baltimore 1948. S. 206. 69 „In what way is his sense of social justice and his struggle against the evil of his day related to the Prophetic or Rabbinic tradition with which he was acquainted? Was his championship of freedom and his affiliation with various revolutionary movements merely a part of the trend of his time, the correct attitude for an intellectual of his days, or was it the voice of his ancestors he was echoing? […] The passion of liberty and human dignity which has remained an unbroken tradition in Hebrew literature since the days of Moses […] unquestionably lefts its mark upon the poet.“ Siehe Tabak, Judaic Lore, S. 207f. 70 „Jewish literature of the Talmudic and medieval eras is pervaded by a strong spirit of satire. Talmudic wit and irony have had their influence upon many literary figures whose Judaic background was far more superficial than Heine’s. Heine who was familiar […] with the irony and witticism of the medieval singers and scholars could hardly avoid being influenced by them.“ Siehe Tabak, Judaic Lore, S. 207.
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Erst in den siebziger Jahren stellt auch die deutsche Germanistik wieder verstärkt der Frage nach Heines jüdischem Selbstverständnis⁷¹, doch werden, so konstatiert Regina Grundmann, keine neuen Aspekte in die Heine-Forschung eingeführt.⁷² Es ist in erster Linie der biographische Hintergrund Heines, der interessiert, um den Grad seiner Verbundenheit mit dem Judentum auszuloten. Über die Erläuterung der Biographie des Schriftstellers, welche die „jüdische Erbmasse Heines, seine Bindungen zur jüdischen Geisteswelt und de[n] Einfluß seiner Wurzeln im Judentum“⁷³ nachweisen sollen, geht etwa die Monographie Heinrich Heine als Jude von Ludwig Rosenthal nicht hinaus. Auch Ruth L. Jacobi verweist in ihrer Untersuchung Heinrich Heines jüdisches Erbe von 1978, wie auch schon Tabak und Rosenthal vor ihr, auf Heines Kenntnisse der jüdischen Tradition, beurteilt diese Kenntnisse als mangelhaft, da Heine Fehler in der Verwendung hebräischer und jiddischer Ausdrücke sowie in der Darstellung jüdisch-traditioneller Elemente unterlaufen seien.⁷⁴ Erst in neueren Untersuchungen wird darauf hingewiesen, dass es sich nicht um „Fehler“ Heines handelt, aus denen sich ein mangelhaftes jüdisches Selbstverständnis ableiten lässt. Vielmehr untermauert Heine im selektiven Umgang mit der jüdischen Tradition ein modernes, von Säkularisation und den Fragen des 19. Jahrhunderts bestimmtes jüdisches Selbstverständnis. Um Differenziertheit hinsichtlich der Frage nach Heines jüdischem Selbstverständnis ist indessen Hartmut Kircher bemüht. Seine Publikation Heinrich Heine und das Judentum von 1973 gibt eine erste ausführliche und überzeugende Interpretation des Rabbi von Bacherach.⁷⁵ Bezüglich der Frage nach Heines jüdischem Selbstverständnis ist es in den 1980er Jahren wiederum die anglo-amerikanische Germanistik, die entscheidende Impulse setzt. Sigbert Salomon Prawers 1983 veröffentlichte Publikation Heine’s Jewish Comedy, die, ausgehend von Heine als Repräsentanten des jüdischen Witzes und dessen jüdischer Selbstkritik als eine Form der Ironie, Heines jüdische Porträtgalerie analysiert, stellt den Facettenreichtum jüdischer Figuren
71 In den sechziger Jahren gehören zu den wenigen Artikeln, die zum Thema erschienen sind: Rudolf Walter Leonhardt: Heinrich Heine – der erste Jude in der deutschen Literatur. In: Porträts deutsch-jüdischer Geistesgeschichte. Hrsg. v. Thilo Koch. Köln 1961. S. 37–56; Siegfried Weitzmann: Der jüdische Witz. In: Frankfurter Hefte 17 (1962). S. 188–192; Herbert Scurla: „Ich gehöre Madame Varnhagen!“. Rahel und Heine. In: Ders.: Begegnungen mit Rahel. Der Salon der Rahel Levin. Berlin 1963. S. 466–491. 72 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 36. 73 Ludwig Rosenthal: Heinrich Heine als Jude. Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1973. S. 11. 74 Vgl. Ruth L. Jacobi: Heinrich Heines jüdisches Erbe. Bonn 1978. 75 Vgl. Hartmut Kircher: Heinrich Heine und das Judentum. Bonn 1973.
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im Werk Heines überzeugend dar.⁷⁶ Hingegen beschäftigt sich die deutschsprachige Heine-Forschung erst seit Mitte der 1990er Jahre vermehrt mit der Frage nach dem jüdischen Selbstverständnis in Heines Werk, was etwa der Heine-Kongress von 1997 wiederspiegelt.⁷⁷ Der noch immer gängigen Praxis, die jüdische Herkunft des Dichters als „Basis einer absolut monokausalen Interpretation des Heineschen Gesamtschaffens“⁷⁸ zu setzen, wie etwa Jürgen Voigt in seiner Monographie O Deutschland, meine ferne Liebe … Der junge Heinrich Heine zwischen Nationalromantik und Judentum⁷⁹ von 1993, hält Klaus Briegleb in seiner Publikation Bei 76 Vgl. Sigbert Salomon Prawer: Heine’s Jewish Comedy. A Study of his Portraits of Jews and Judaism. Oxford 1983. 77 Zu den zahlreichen Referenten des Kongresses über Einzelaspekte von Heines Judentum: Anne-Maximiliane Jäger: Bacherach-Frankfurt-Toledo. Heines „Rabbi von Bacherach“ als literarisches Projekt der jüdischen Aufklärung. In: Aufklärung und Skepsis. Internationaler Heine-Kongreß 1997 zum 200. Geburtstag. Hrsg. v. Joseph A. Kruse [u. a.]. Stuttgart/Weimar 1997. S. 334–351; Maren Niehoff: Heine und die jüdische Tradition. In: Kruse [u. a.], Aufklärung, S. 318–324; Gunnar Och: „Schalet, schöner Götterfunken“ − Heinrich Heine und die jüdische Küche. In: Kruse [u. a.], Aufklärung, S. 242–255; Hartmut Steinecke: „Wir stammen von Schlemihl“. Jüdische Dichterbilder in Heines Spätwerk von Jehuda ben Halevy bis Rabbi Faibisch. In: Kruse [u. a.], Aufklärung, S. 303–321; Norbert Waszek: Aufklärung, Hegelianismus und Judentum im Lichte der Freundschaft von Heine und Gans. In: Kruse [u. a.], Aufklärung, S. 226–241. – Der Kongress zum 150. Todestag von Heinrich Heine und Robert Schumann im Jahr 2006 weist, bedingt durch die Schwerpunktsetzung, nur ein Referat zum jüdischen Selbstverständnis bei Heine auf: Bernd Witte: „Das Volk des Buches“. Der Autor Heinrich Heine und das Judentum. In: Übergänge zwischen Künsten und Kulturen. Internationaler Kongress zum 150. Todesjahr von Heinrich Heine und Robert Schumann. Hrsg. v. Henriette Herwig [u. a.]. Stuttgart/Weimar 2007. S. 103–116. – Zur Heine-Kritik allgemein seit den 1990er Jahren bemerkt Peter Uwe Hohendahl: „[D]er unerwartete Erfolg der kritischen Heine-Forschung, d. h. die allgemeine Anerkennung des Dichters, [hat] der Arbeit ein wichtiges Motiv entzogen, nämlich das der Rechtfertigung des eigenen Gegenstands. Heine bedarf heute offenkundig keiner Verteidigung mehr.“ Siehe Hohendahl, Heine, S. 223. – Die Frage der Zugehörigkeit, wie sie die Heine-Forschung 150 Jahre beeinflusste, muss Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr beantwortet werden. Hohendahl erklärt die Akzeptanz Heines zum „Ergebnis eines Kompromisses zwischen verschiedenen, einander früher befehdenden Gruppen, die nach 1990 darauf verzichteten, ihr Heine-Bild als das allein gültige durchzusetzen“. Hohendahl erklärt diesen Umstand aus den politisch-ideologischen Rahmenbedingungen der 1980er und 1990er Jahre. Siehe Hohendahl, Heine, S. 224. – Inwieweit die Frage der Zugehörigkeit Heines zum deutschen Literaturkanon sich mit Blick auf die jüdische Thematik in der neueren Forschung beantwortet, wird von Hohendahl jedoch nicht dargelegt, obwohl sie in der Rezeption Heines maßgeblich mit Blick auf die jüdische Herkunft des Schriftstellers gestellt wurde, wie Hohendahl selbst darlegt. Vgl. Hohendahl, Heine, S. 185ff. 78 Hermand, Streitobjekt, S. 130. 79 Jürgen Voigt: „O Deutschland meine ferne Liebe…“. Der junge Heinrich Heine zwischen Nationalromantik und Judentum. Bonn 1993. – Vgl. auch Alfredo Bauer: Die Stellung der Juden in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts und Heines Übertritt zum Christentum. In: HJb 39
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den Wassern Babels. Heinrich Heine. Jüdischer Schriftsteller in der Moderne von 1997 die Feststellung entgegen, dass „[d]ie Frage, was für ein Jude Heinrich Heine sei, sich nicht außerhalb seiner Schriften [stellt]“⁸⁰. Diese Aussage ist Teil seiner Grundkritik an der bisherigen Auseinandersetzung der deutschen Germanistik bezüglich der Frage nach Heines Auseinandersetzung mit der jüdischen Existenz: Nachdem das Gros der Germanisten bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts sich seiner ‚kulturellen‘ Ächtung angeschlossen hatte, die im psychischen und historischen Grund antisemitisch war, schlägt man ihn heute in den Bann der Verharmlosung und philosemitischen Aneignung. Fachmethodisch geschieht das durch einen faden Positivismus, ‚Habermas-philosophisch‘ durch einen faden intellektuellen Patriotismus […]. Beides, es ist das alte Lied, erfreut sich breiter gesellschaftlicher Deckung.⁸¹
Folge dieses „faden Positivismus“ sei eine Trennung „Heines Judeseins von seinem Gesamtwerk“, sei eine bloße Sammlung „‚jüdische[r] Elemente‘ […], die in den Texten gefunden wurden, irgendwie vordefiniert“⁸². Dem Prinzip „positivistischer Parzellierung“⁸³, der „Struktur des ‚harmlosen‘ germanistischen Bedenkens des ‚jüdischen Elements‘, das unter anderem in all dem sei, das den ganzen Heine erst macht – Element im Europäer, Polemiker, Feinschmecker und Aufklärer, im Propheten, Deutschen, Antikapitalisten und Exilierten, im Ironiker, Plebejer, Romantiker, Klassiker, Skeptiker, Revolutionär und Posthistoriker, im Mythologen, Kosmopoliten, Juristen usw.“⁸⁴, setzt Briegleb eine Perspektive auf das Gesamtwerk Heines entgegen, die von einer „jüdische[n] Schreibautorität in seinen Texten, […] in allen Texten, nicht bloß, wenn ‚jüdische Themen oder Motive‘ inhaltlich offenkundig sind“⁸⁵, ausgeht. Bestimmt sei diese „jüdische Schreibweise“⁸⁶ von Heines jüdischem Selbstbestimmungsdiskurs einerseits, der geprägt ist durch die Auseinandersetzung mit der Aufklärung und den Akkulturationsbestrebungen der jüdischen Minderheit seiner Zeit.⁸⁷ Darüber hinaus schließt die jüdische Schreibweise Heines, so Briegleb, an die Tradition
(2000). S. 184–191; Walter Grab: Jüdische Aspekte in den Dichtungen Heinrich Heines. In: „Dichter unbekannt“. Heine lesen heute. Internationales Heine-Symposium. Bonn Mai 1997. Hrsg. v. Dolf Oehler/Karin Hempel-Soos. Bonn 1998. S. 55–67. 80 Klaus Briegleb: Bei den Wassern Babels. Heinrich Heine. Jüdischer Schriftsteller in der Moderne. München 1997. S. 108. 81 Briegleb, Wassern, S. 415. 82 Briegleb, Wassern, S. 53. 83 Briegleb, Wassern, S. 416. 84 Briegleb, Wassern, S. 416. 85 Briegleb, Wassern, S. 5. 86 Briegleb, Wassern, S. 108. 87 Vgl. Briegleb, Wassern, S. 14.
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des mittelalterlich-spanischen Marranentums an. Wie die zwangsgetauften Juden der Reconquista Strategien der Camouflage zum Schutz ihrer jüdischen Religion entwickelten, entwickelt Heine aus der Erfahrung des getauften Juden im 19. Jahrhundert heraus eine Schreibmethode des Verbergens und gleichzeitigen Bewahrens, die als literarisches Prinzip etwa in der wechselseitigen positionellen Relativierung aller vorkommenden Aussagen oder im ironischen Verfremden in seinem Gesamtwerk zum Ausdruck kommt. Die jüdische Schreibweise Heines bestimmt Briegleb aus einer Haltung heraus, die das Judesein in erster Linie als Opfersein versteht und Heines gesellschaftliche Außenseiterposition primär seinem Judentum zuschreibt. Die Verknappung jüdischer Existenz auf die Rolle des Opfers wird Heines Auseinandersetzung mit dem jüdischen Selbstverständnis in der Geschichte wie auch in der Gegenwart des 19. Jahrhunderts nur bedingt gerecht, bedeutet die Aufarbeitung der jüdischen Leidensgeschichte in der Diaspora doch nur einen Teil der Heineschen Beschäftigung mit der jüdischen Identität. Die jüdische Existenz, ihre Geschichte und Kultur in der Diaspora stellt der Schriftsteller immer wieder in ein fruchtbares Verhältnis zur nichtjüdischen Umwelt und ordnet die Konflikte der jüdischen Existenz als symptomatisch für die gesamtgesellschaftlichen Konflikte und Prozesse des 19. Jahrhunderts ein. Von diasporischer, nicht von jüdischer Schreibweise spricht Bernd Witte in seinem 1997 publizierten Aufsatz Der Ursprung der deutsch-jüdischen Literatur in Heinrich Heines „Der Rabbi von Bacherach“. Anders als Briegleb, der von einer jüdischen Schreibweise Heines spricht, die aus den Strategien des Verbergens jüdischer Identität des getauften Juden erwächst, verweist Witte auf eine Schreibstrategie Heines, deren Verbindung zum diasporischen Judentum offen und eindeutig ist. Heine, so Bernd Witte, nutzt in seinen Texten das Verfahren der Kommentierung eines bereits bestehenden Ursprungtextes. Dieses Verfahren ist eines der Hauptwerkzeuge des diasporischen Judentums zur Aufrechterhaltung jüdischen Selbstverständnisses im Exil. Nicht die Erfahrung des Juden Heine, gespiegelt im Leid des Außenseiters wie bei Briegleb, interessiert Witte, sondern die Übertragung eines für die Aufrechterhaltung der jüdischen Tradition zentralen Verfahrens auf die literarischen Moderne. Witte exemplifiziert dieses aus der jüdischen Tradition abzuleitende Schreibverfahren überzeugend an Heines Fragment Der Rabbi von Bacherach und konstatiert: Heinrich Heines Erzählung […] ist eine singuläre Ausnahmeerscheinung in der Literatur der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Führt sie doch zum ersten Mal einen genuin jüdischen Gehalt in einen literarisch anspruchsvollen Text der deutschsprachigen Literatur
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ein. Nicht irgendeinen beiläufigen Gegenstand zudem, sondern ein für das jüdische Selbstverständnis zentrales Geschehen, die Feier des Sederabends.⁸⁸
Heines Fragment Der Rabbi von Bacherach ist „Ursprung einer neuen Schreibweise der deutschen, ja der europäischen Literatur aus dem Geiste des Judentums […]“⁸⁹. Die Kommentierung des rituellen Geschehens in der fiktionalen Literatur des 19. Jahrhunderts bedeutet für Witte dabei die Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses des jüdischen Volkes in einer sich säkularisierenden Zeit.⁹⁰ In seiner Monographie Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine, Buber, Kafka, Benjamin von 2007 baut Witte diese Überlegungen zum Schreibverfahren Heines weiter aus und überträgt sie auf führende Autoren der deutsch-jüdischen Literatur.⁹¹ Das aus der rabbinischen Tradition abgeleitete Schreibverfahren Heines ist ihm Ausdruck eines diasporischen Bewusstseins. Dass die Auseinandersetzung Heines mit dem jüdischen Selbstverständnis unter den Vorzeichen der Moderne sowie unter den von Säkularisierung gezeichneten Diskursen des 18. und 19. Jahrhunderts steht, veranschaulicht eindringlich die Veröffentlichung „Rabbi Faibisch, Was auf Hochdeutsch heißt Apollo“. Judentum, Dichtertum, Schlemihltum in Heinrich Heines Werk von Regina Grundmann, veröffentlicht 2008. Grundmann fasst drei wesentliche Punkte der Kritik im bisherigen Umgang mit der Frage nach Heines jüdischem Selbstverständnis zusammen.⁹² Erstens erfahren die Termini wie „jüdisch“, „Judentum“ und „Jude“ keine Klärung, würden vielmehr in einem apriorischen, abstrakten oder überzeitlichen Verständnis gebraucht. Hier sei es notwendig von der Vorstellung einer homogenen Bedeutung des Begriffs „Judentum“ abzurücken, zumal mit Beginn der Haskala und der ihr folgenden Aufsplitterung jüdischen Selbstverständnisses in verschiedene Strömungen − Reformjudentum, jüdische Orthodoxie, kulturhistorischer oder soziopolitischer Zugang − dieser Begriff nicht mehr allein religiös bestimmbar ist. Zweitens werde Heines Revision seiner theologischen Vorstellungen und seine Hinwendung zu einem monotheistischen, personalen Gott in seinen letzten Lebensjahren als Rückkehr zum jüdischen Glauben aufgefasst. Hingegen unterstreicht Grundmann in ihrer Arbeit, dass Heines Werk von einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit der jüdischen Existenz geprägt ist, die 88 Bernd Witte: Der Ursprung der deutsch-jüdischen Literatur in Heinrich Heines „Der Rabbi von Bacherach“. In: Die Von Geldern Haggadah und Heinrich Heines „Der Rabbi von Bacherach“. Hrsg. v. Emile Schrijver/Falk Wiesemann. Wien 1997. S. 37. 89 Witte, Ursprung, S. 45. 90 Vgl. Witte, Ursprung, S. 45. 91 Vgl. Bernd Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine, Buber, Kafka, Benjamin. München 2007. S. 12. 92 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 42.
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in seinem Spätwerk kulminiert. Von einer Wende oder Rückkehr zum Judentum könne nur bezüglich eines ästhetischen, kulturellen oder literarischen Interesses an der jüdischen Tradition gesprochen werden, von einer späten religiös-theologischen Konversion könne hingegen keine Rede sein.⁹³ Drittens kritisiert Grundmann die Methodik der deutschen Heine-Forschung bis zur Veröffentlichung Brieglebs primär dahingehend, eine deskriptive Bestandsaufnahme jüdischer Elemente in Heines Werk vorgenommen zu haben, ohne die Frage nach einer Kontextualisierung und Funktionalisierung der aufgelisteten Elemente gestellt zu haben. Grundmann liefert mit ihrem Nachweis der Erschließung und Säkularisierung des kulturellen Gehalts der jüdischen Tradition in Heines Gesamtwerk eine überzeugende Antwort auf diese Frage: In den Texten des Schriftstellers vollzieht sich, so Grundmann, der Übergang von einem konfessionellen zu einem kulturell-ästhetisch bestimmten Judentum, von einer religiös zu einer kulturell fundierten jüdischen Identität.⁹⁴ Grundmann, die an der einen oder anderen Stelle ihrer Arbeit die Auseinandersetzung Heines um die jüdische Tradition zu sehr der Programmatik und den Diskussionsbeiträgen des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden unterwirft, fällt jedoch unter die Grundkritik Brieglebs an der Heine-Forschung, wenn sie in ihrer Schlussbetrachtung eine Trennung zwischen jüdischem und deutschem Selbstverständnis des Schriftstellers Heine vornimmt und dann, das eine gegen das andere abwägend, das „Bewusstsein, ein deutscher Dichter zu sein“⁹⁵, als das schwerwiegendere in die Waagschale ihres Urteils wirft. Diese Einschätzung, „Heines jüdisches Bewusstsein spielt im Vergleich zu seinem Bewusstsein, ein deutscher Dichter zu sein, nur eine untergeordnete Rolle“⁹⁶, formuliert nach fast 450 Seiten zur jüdischen Thematik im Gesamtwerk Heines, exemplifiziert jenes binäre Identitätsschema, das kennzeichnend ist für die Perspektive des dominanten Diskurses auf die Minderheit. Diesem Urteil, das die Auseinandersetzung Heines um das jüdische Selbstverständnis letztendlich noch immer als zweitrangig für sein Werk einschätzt,
93 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 437; Kruse, Unsterblichkeit, S. 24; Norbert Altenhofer: Rabbi Faibisch Apollo. Zum Spiel der Identitäten in Leben und Werk Heinrich Heines. In: Die verlorene Augensprache. Über Heinrich Heine. Hrsg. v. Norbert Altenhofer/Volker Bohn. Frankfurt a. M./ Leipzig 1993. S. 219; Hallensleben, „Romanzero“, S. 87f. – Zur These einer theologischreligiösen Wende im Spätwerk des Schriftstellers Wilhelm Gössmann: Die Rückkehr zu einem persönlichen Gott. Der späte Heine. In: Heinrich Heine und die Religion. Ein kritischer Rückblick. Hrsg. v. Ferdinand Schlingensiepen/Manfred Windfuhr. Düsseldorf 1998 (Schriften des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland 21). S. 205–224. 94 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 434. 95 Grundmann, Rabbi, S. 438. 96 Grundmann, Rabbi, S. 438.
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möchte die vorliegende Arbeit mit Blick auf die Thematisierung diasporischer Existenz in den Texten des Schriftstellers begegnen. Sie folgt dabei einem neueren Weg in der germanistischen Forschung: der kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft. Sie strebt eine Neuorientierung im Umgang mit dem literarischen Text an. Anders als Konzeptionen, die literarische Texte entweder nur als Symbolsysteme (hermeneutische Ansätze) betrachten oder nur als Sozialsysteme (Empirische Literaturwissenschaft) definieren, begreift die kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft den Text als ein „Mehrebenenmodell“, gewissermaßen als Symbol- und Sozialsystem.⁹⁷ Für eine Analyse diasporischer Existenz im Werk Heines scheint dieses Textverständnis, „Literatur sowohl als Menge von Texten bzw. als Symbolsystem als auch als gesellschaftlichen Handlungsbereich bzw. Sozialsystem zu modellieren“⁹⁸, sinnvoll. Die vorliegende Arbeit schließt sich dabei einem Kulturbegriff an, wie er von Ansgar Nünning und Roy Sommer in ihrem Aufsatz Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Disziplinäre Ansätze, theoretische Positionen und transdisziplinäre Perspektiven zusammengefasst wird: Als eine geeignete Grundlage für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft bietet sich ein semiotischer, bedeutungsorientierter und konstruktivistisch geprägter Kulturbegriff an, demzufolge Kulturen nicht nur eine materiale Seite haben, sondern auch eine soziale und mentale. […] Demzufolge wird Kultur als der von Menschen erzeugte Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen aufgefaßt, der sich in Symbolsystemen [u. a. im literarischen Text, Anm. d. Verf.] materialisiert.⁹⁹
Dass die literaturwissenschaftliche Analyse diasporischer Existenz im Werk Heines Aufschluss gibt über die mentalen Dispositionen des 19. Jahrhunderts, etwa über die Werte, Normen, Weltanschauungen und Kollektivvorstellungen von Minderheiten und Mehrheitsgesellschaft in dieser Zeit, aber auch über die Disposition der Stimme des Intellektuellen in diesem Kultursystem, zeigen die nachfolgenden Kapitel. Dabei zeugt gerade die literarische Auseinandersetzung Heines mit der Diaspora als dem religiösen und kulturellen Eigenraum der jüdischen Minderheit von der Selbstwahrnehmung und Selbstthematisierung des Individuums und des Kollektivs auch in Zeiten der voranschreitenden Säkularisierung.
97 Vgl. Ansgar Nünning/Roy Sommer: Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. Disziplinäre Ansätze – Theoretische Positionen – Transdisziplinäre Perspektiven. Tübingen 2004. S. 16. 98 Nünning, Literaturwissenschaft, S. 16. 99 Nünning, Literaturwissenschaft, S. 18.
I Fern vom Gelobten Land – Jüdisches Leben in der Zerstreuung 1 Diaspora – Perspektiven auf einen permanenten Zustand Ehe das gewandelte Selbstverständnis diasporischer Existenz zu Zeiten Heines in den Focus der Untersuchung rückt, ist sowohl der Begriff „Diaspora“ als auch der zentrale Stellenwert der Diaspora in der jüdischen Geschichte herauszuarbeiten. Dem jüdischen Selbstverständnis bis an die Schwelle der Moderne nach bedeutet die Diaspora eine Art Eigenraum, „der Menschen und [k]ollektiv[e] Identität vermittelt“¹. Die Diaspora als den Eigenraum jüdischen Selbstverständnisses zu begreifen, heißt, dass in diesem Raum „die individuelle räumliche Orientierung mit den kulturellen Regel- und Normensystemen […] übereinstimm[t]“². Dieser Eigenraum diasporischer Existenz kann dabei nur in Abgrenzung zu einem Fremdraum entstehen, „wo die bekannten Regeln- und Normensysteme keine Gültigkeit besitzen, wo eigenes räumliches Handeln als Abweichung von der Norm auffällt und Sanktionen durch die Gemeinschaft ausgesetzt sein kann“³. Diese Funktion des Fremdraumes erfüllt im diasporischen Bewusstsein jüdischer Existenz die sie umgebende Mehrheitsgesellschaft. Eigen- und Fremdraum dürfen jedoch nicht als einander statisch gegenüberstehend betrachtet werden. Gerade die Grenze zwischen ihnen gilt als identitätsstiftend und ist von Durchlässigkeit geprägt.⁴ Der Grad dieser Durchlässigkeit erfährt im diasporischen Selbstverständnis, das sich immer wieder neu zwischen den Polen Separation und Interaktion auszurichten hat, eine unterschiedliche Ausdehnung – auch und gerade zurzeit und im Werk Heinrich Heines. Mit der Wandlung diasporischen Bewusstseins im jüdischen Selbstverständnis wird der Schriftsteller mit einem Verfall des Eigenraums konfrontiert, den es durch die Koordinaten seiner jüdischen Identität neu zu gestalten gilt. Mit welcher Wucht der identitätsstiftende Eigenraum „Diaspora“ literarisch ausgestaltet wird, zeigt der Blick in den Tanach. In der Hebräischen Bibel findet sich das gesamte literarische Inventar, um das Phänomen der die Zeiten überdauernden jüdischen Existenz außerhalb Israels literarisch ins Wort zu bringen. In der Schrift werden die Grunderlebnisse des Judentums − etwa der Bund Adonais
1 Ramin, Raumorientierung, S. 21. 2 Ramin, Raumorientierung, S. 21. 3 Ramin, Raumorientierung, S. 21. 4 Vgl. Ramin, Raumorientierung, S. 21.
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mit Abraham, der Auszug der Hebräer aus Ägypten unter Moses und die Erneuerung des Bundes am Berg Sinai unter Offenbarung der Gesetze – bewahrt. Darüber hinaus werden die Prototypen der diasporischen Existenz bereitgehalten. Im Deuteronomium etwa, jener biblischen Schrift, die wie die anderen Bücher des Pentateuch aus der Erfahrung des babylonischen Exils hervorgegangen ist, werden im Fluch Moses über die Hebräer bis in spätere Epochen wirkende Erinnerungsbilder jüdischer Existenz außerhalb Israels archiviert: Denn der HERR wird dich zerstreuen unter alle Völker von einem Ende der Erde bis ans andere, und du wirst dort andern Göttern dienen, die du nicht kennst noch deine Väter: Holz und Steinen. Dazu wirst du unter jenen Völkern keine Ruhe haben, und deine Füße werden keine Ruhestatt finden. Denn der HERR wird dir dort ein bebendes Herz geben und erlöschende Augen und eine verzagende Seele, und dein Leben wird immerdar in Gefahr schweben; Nacht und Tag wirst du dich fürchten und deines Lebens nicht sicher sein. Morgens wirst du sagen: Ach daß es Abend wäre! und abends wirst du sagen: Ach daß es Morgen wäre! vor Furcht deines Herzens, die dich schrecken wird, und vor dem, was du mit deinen Augen sehen wirst.⁵
Hier werden bereits alle Begriffe und Motive versammelt, welche den Juden zur Konstruktion ihres religiösen und kulturellen Selbstverständnisses bis an die Schwelle der Moderne dienen sollten.⁶ Der Zustand der Zerstreuung des jüdischen Volkes in alle Teile der Welt, der Rastlosigkeit ewiger Wanderschaft, der Angst um das eigene Überleben und das der Religion, der nie zu bannenden Gefahr der Knechtschaft und Sklaverei, der absoluten Ohnmacht gegenüber dem eigenen Schicksal resultiert dem jüdischen Selbstverständnis nach jedoch nicht aus den zufälligen Umständen des Geschichtslaufs. Vielmehr sind Zerstreuung, Verfolgung und Knechtschaft der religiös geprägten jüdischen Existenz direkte Antworten ihres Herrn Adonai auf die Verletzung des Bundes mit dem von ihm auserwählten Volk. Das bittere Los der Zerstreuung in alle Welt ist in der jüdischen Religion Teil eines jahrtausendealten „Zwiegesprächs“ mit Adonai, ist dessen Strafe und zugleich Sühne für menschliches Fehlverhalten. Begründet als unmittelbare göttliche Reaktion auf menschliches Agieren ist das Leben der Juden außerhalb Palästinas den Juden auch immer Zeugnis ihrer Auserwähltheit vor den anderen Völkern. Resultat dieses Selbstverständnisses ist, dass durch den Rekurs auf eine göttliche Absicht und dem Erfordernis, die schuldhaft herbeigeführte Situation zu sühnen, dem jüdischen Leben außerhalb Israels ein Sinn vermittelt wird. Es leidet nicht zufällig und grundlos. Es leidet, weil es Vertragsbruch
5 Dtn 28,64–67. 6 Vgl. Ruth Mayer: Diaspora. Eine kritische Begriffsbestimmung. Bielefeld 2005. S. 36.
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begangen hat. Das Leiden in und an der Fremde wird auf diese Weise überschauund beherrschbar. Es markiert eine bloße Periode – ist somit endlich.⁷ Für das Phänomen der Zerstreuung werden in der jüdischen Tradition zwei Termini herangezogen. Im Sinne der oben beschriebenen Auslegung der jüdischen Existenz fern vom verheißenen Land, die diesen Zustand als unnatürlich und sündhaft bewertet, wird der hebräische Begriff „Galut“ entwickelt. „Diaspora“ ist der andere Terminus, mittels dessen die Existenz der Juden außerhalb Israels benannt wird. Dieser Begriff wurde im Zuge der Übersetzung des Tanach ins Griechische durch die jüdische Glaubensgemeinschaft in Alexandria im dritten Jahrhundert v. d. Z. eingeführt.⁸ Im Gegensatz zum Begriff „Galut“, dem allein eine negative Bewertung jüdischen Lebens außerhalb Israels innewohnt, schließt der Begriff „Diaspora“ auch ganz objektiv das Phänomen der jüdischen Zerstreuung, also die Lebenssituation der über die Welt verstreuten jüdischen Gemeinden, ein. So ist im Zuge der Übersetzung des Tanach ins Griechische eine Umsemantisierung des Verbs „diaspeirein“ festzustellen, das ursprünglich „ausschließlich negativ konnotiert“⁹ war. Dennoch wird seit der griechischen Übersetzung der Begriff „Diaspora“ in der jüdischen Tradition weniger negativ gefasst als der hebräische Begriff „Galut“.¹⁰ Dieser wird in der Septuaginta konsequent mit den griechischen Worten für Exil, Gefangenschaft und Deportation übersetzt, während der Begriff der Diaspora auch ein selbst gewähltes Leben außerhalb Israels beinhalten kann.¹¹ Doch auch die Verwendung des Begriffs „Diaspora“ impliziert im Judentum, dass die Existenz des jüdischen Volkes außerhalb des gelobten Landes die Strafe Adonais ist für die Verletzung des Bundes.¹² In der aktuellen Theoriediskussion, die vorwiegend in den Kultur- und Sozialwissenschaften geführt wird, wird der im religionshistorischen Kontext gemeinhin negativ konnotierte Begriff der Diaspora positiv beziehungsweise primär positiv besetzt.¹³ So trennen sich die Definitionen vom religiösen Verständnis
7 Vgl. Mayer, Diaspora, S. 37f. 8 Vgl. Mayer, Diaspora, S. 37. 9 Matthias Krings: Diaspora. Historische Erfahrung oder wissenschaftliches Konzept?. Zur Konjunktur eines Begriffs in den Sozialwissenschaften. In: Paideuma. Mitteilungen zur Kulturkunde 49 (2003). S. 151. – Vgl. auch Mayer, Diaspora, S. 8. 10 Vgl. Martin Baumann: Diaspora. Genealogies of Semantics and Transcultural Comparism. In: Numen 47 (2000). S. 316f. 11 Vgl. Mayer, Diaspora, S. 37. 12 Vgl. Mayer, Diaspora, S. 37. 13 Vgl. Mayer, Diaspora, S. 9; William Safran: Diasporas in Modern Societies. Myths of Homeland and Return. In: Diaspora I/I (1991). S. 83–89; James Clifford: Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century. Cambridge 1997. S. 244–277; Stuart Hall: Cultural Identity and Diaspora. In: Colonial Discourse and Post-colonial Theory. Hrsg v. Patrick Williams/
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des Begriffs, wie er im jüdischen Selbstverständnis erstmals entwickelte wurde. Der Begriff „Diaspora“ wird auf soziokulturelle Elemente diasporischer Existenz ausgeweitet und auf weitere Minderheiten angewendet. 1991 unternahm William Safran einen Definitionsversuch des Terminus, der bis in die aktuelle Diskussion hinein Ausgangspunkt kritischer Begriffsbestimmung ist. Diasporen, so Safran, seien Gemeinschaften von Auswanderern: (1) die sich von einem ursprünglichen Zentrum an mindestens zwei periphere Orte verstreut haben; (2) die eine Erinnerung, Vision oder einen Mythos des ursprünglichen Heimatlandes aufrechterhalten; (3) die glauben, dass sie in ihrem Gastland nicht voll akzeptiert sind; (4) die die Heimat ihrer Ahnen als Ort einer letztlichen Rückkehr, wenn die Zeit dafür gekommen ist, sehen; (5) die sich der Aufrechterhaltung und Wiederherstellung dieser Heimat widmen; und (6) deren Gruppenbewusstsein und -solidarität zentral über die anhaltende Beziehung mit dem Heimatland geprägt ist.¹⁴
Obwohl sich diese Definition vom religiösen Verständnis des Begriffs entfernt, wird ihre enge Orientierung an der originären Verwendung in der griechischen Übersetzung der jüdischen Schriften von anderer Seite kritisiert. Diese Bestimmung finde nur auf einen Bruchteil der Gemeinschaften Anwendung, die sich als diasporisch verstehen beziehungsweise als solche verstanden werden.¹⁵ So schätzt James Clifford in seiner Definition des Diaspora-Begriffs das Element der erstrebten Rückkehr in die Heimat nicht länger als zentral ein.¹⁶ Eine geteilte und anhaltende Geschichte der Entwurzelung, des Leids, der Anpassung oder des Widerstands für die Herausbildung diasporischer Gemeinschaften sei ebenso wichtig wie der gemeinsame Ursprungsmythos.¹⁷ Diasporen, so fasst Ruth Mayer den aktuellen Konsens in den Debatten um den Begriff zusammen, sind eher von ihrer Lebenssituation in der Zerstreuung geprägt, denn von dem imaginären Bezugspunkt „Heimat“.¹⁸ Die rege Debatte um den Begriff „Diaspora“ wird im innerjüdischen Diskurs intensiv verfolgt und kommentiert. Einerseits wird die Diskussion als bereichernd für die innerjüdische Kontroverse um die diasporische Existenz eingeschätzt, andererseits wird vor einem inflationären Umgang mit dem Begriff gewarnt, da eine Überdehnung des Begriffs den Kern des Phänomens aus jüdischer Sicht
Laura Chrisman. New York 1994. S. 392–403; Robin Cohen: Global Diasporas. An Introduction. Seattle 1997. S. 23. 14 Safran, Diasporas, S. 83–84. 15 Vgl. Mayer, Diaspora, S. 10. 16 Vgl. Clifford, Routes, S. 249. 17 Vgl. Clifford, Routes, S. 250; Mayer, Diaspora, S. 10. 18 Vgl. Mayer, Diaspora, S. 12.
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nicht mehr trifft. So wenden sich Jonathan und Daniel Boyarin in der Einleitung von Powers of Diaspora gegen die Beliebigkeit in der Verwendung des Begriffs in den Kulturwissenschaften: Here we might begin to bump up against the limits to which the concept of diaspora may plausibly or usefully be stretched. […] [W]e do not want the term to cover everything. The question of the imbalance between a totalizing categorical usage of the term “diaspora” and the discourses within various diasporic formations that may not recognize that category leads us to the necessary recognition that whatever the criterion for judging our own discourse may be, it cannot rest on a simplistic notion of pluralist […] tolerance […]. Nor can it demand a synthetic account, one that would take account of […] every particular diasporic framework.¹⁹
Gerade vor dem Hintergrund einer, wie es scheint, von Beliebigkeit gekennzeichneten Erweiterung des Begriffs „Diaspora“ auf die unterschiedlichsten Gruppen von Minderheiten ist ihnen der Hinweis auf die besondere Stellung der jüdischen Diaspora unabdingbar. Die jüdische Diaspora ist, so Boyarin, die mit Abstand apodiktischste Erfahrung diasporischer Existenz. So wird die Beziehung der jüdischen Diaspora zum Ursprungsland nicht durch verwandtschaftliche oder ökonomische Verbindungen zu den Zurückgebliebenen gewährleistet. Das Besondere der jüdischen Diaspora bestehe vielmehr darin, dass sie über Jahrhunderte ohne ein bedeutendes jüdisches Zentrum in Palästina existieren konnte, dass die Verbindung der jüdischen Diaspora zu ihrem Ursprungsland in erster Linie eine auf Erinnerung basierende war. Hinzu tritt der außergewöhnliche Umstand der jüdischen Diaspora, so Jonathan und Daniel Boyarin, dass neben Palästina als Heimstätte im Verlauf der jüdischen Geschichte verschiedene Zentren der Diaspora treten, die in der Erinnerung zu Abbildern Zions werden. Ihnen gedenkt man wie des Verheißenen Landes. So haben die Juden der Diaspora einzigartige Werkzeuge der Erinnerung entwickelt, um die Verbindung zur Heimat auf intellektueller Ebene zu halten.²⁰ Die Besonderheiten der jüdischen Diaspora betonend, setzen sich Boyarin kritisch mit der von James Clifford vertretene Auffassung auseinander, der jüdischen Diaspora keinerlei normativen Charakter zuzusprechen.²¹ Sie schließen sich Barbara Kirshenblatt-Gimbletts Argumentation gegen Clifford an, die unterstreicht, dass die Verwendung des Terminus „normativ“ in Bezug auf die jüdische Diaspora nicht von vornherein diese Gruppe vor anderen privilegieren würde, vielmehr, dass der Terminus „normativ“ sich immer noch
19 Jonathan/Daniel Boyarin: Powers of Diaspora. Two Essays on the Relevance of Jewish Culture. Minnesota 2002. S. 23f. 20 Vgl. Boyarin, Diaspora, S. 11. 21 Vgl. Boyarin, Diaspora, S. 12.
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auf die spezielle Situation einer Gruppe beziehe, die in den Sozialtheorien nach wie vor als pathologisch und somit negativ konnotiert definiert würde: Responding to Clifford’s warning about ‚the risk of making Jewish experience once again the normative model‘, Kirshenblatt-Gimblett draws on the stance of insider retort: ‚this is not a site of privilege‘. She is right: Jewish diaspora should not be glamorized to the point of theoretical envy; just because Jews have gotten so much attention as a diasporic people does not mean, of course, that they have enjoyed greater power or security in the everyday.²²
Die Überlegungen Boyarins zum Phänomen der Diaspora beziehen sich jedoch nicht nur auf die aktuellen Theoriediskussionen in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Sie sind auch Teil der innerjüdischen Debatte um den Wert und Unwert der Diaspora in Zeiten eines existierenden Staates Israel. So ist es die in den Kulturwissenschaften aufgeworfene Dichotomie von Diaspora und Nationalismus, die die Boyarins nicht nur kritisieren, die sie vielmehr einen Fokus auf die innerjüdische Diskussion um die Diaspora setzen lässt. So mahnen sie an, dass trotz der Bindung des modernen jüdischen Bewusstseins an die Frage nach dem Platz Israels in der Staatengemeinschaft immer auch die Frage nach Israels Platz unter den verschiedenen ethischen und religiösen Diasporagemeinden zu stellen sei.²³ Gerade mit Blick auf die Krise des Nationalstaatenmodells bietet ihnen das Phänomen der Diaspora die Möglichkeit neuer Perspektiven in der aktuellen Diskussion um Gemeinschaft: [T]here may be something to be gained from thinking about diaspora not merely as a comparative social or historical phenomenon, not even only as a predicament shared by many people or peoples who otherwise have little else in common, but as a positive resource in the necessary rethinking of models of polity in the current erosion and questioning of the modern nation-state system and ideal.²⁴
Dass sich dem Phänomen der Diaspora ein eher egozentrisches Prinzip einbindet und es nicht, wie insbesondere in den Kulturwissenschaften kolportiert, gleichzusetzen ist mit Pluralismus oder Internationalismus, wird nicht nur durch die Boyarins betont.²⁵ Michael Galchinsky etwa kritisiert die in der postkolonialen Theorie gebrauchte Dichotomie von Diaspora und Nationalismus als nicht zutreffend:
22 Boyarin, Diaspora, S. 32f. 23 Vgl. Boyarin, Diaspora, S. 4f. 24 Boyarin, Diaspora, S. 5. 25 Vgl. Boyarin, Diaspora, S. 9.
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Die postkolonialen Adaptionen des Konzepts der ‚Diaspora‘ betonen die transnationalen, hybriden und fließenden Gemeinschaften, die durch erzwungene oder freiwillige Migrationsströme entstehen, und machen geltend, daß sich diese Diasporagemeinschaften im Zeitalter der Entkolonialisierung als subversive Kraft gegen die auf brutale Weise homogenisierenden Ideologien und Praktiken von Völkern und Imperien erweisen können. […] Obwohl die neueren Theorien vieles enthalten, was man empfehlen möchte, gilt es, sie auch zu kritisieren, weil sie das Leid zu sehr herunterspielen, das vielfach mit dem Leben in der Diaspora verbunden ist, weil sie […] wenig überzeugende Behauptungen über das privilegierte visionäre Potential der Diasporaintellektuellen aufstellen und die Ideologie des Nationalismus dekontextualisieren. Zudem haben die postkolonialen Theoretiker […] das Potential der ‚Diasporen‘, Nationalismus zu bekämpfen überbetont und dabei ihr Potential, die Identität der Diasporabewohner selbst zu untergraben, unterschätzt.²⁶
Mit dem Verweis auf Benedict Anderson, welcher der Diaspora bescheinigt, keine subversive Kraft per se gegen den Nationalismus zu sein, stellt sich Galchinsky gegen die seiner Meinung nach reflexartige Neigung postkolonialer Theoretiker, die Diaspora der Nationalstaatlichkeit vorzuziehen „als wären Diasporagemeinschaften apriori moralischer als andere Typen ‚erdachter Gemeinschaften‘ – insbesondere der Nationalstaat.“²⁷ Würde man diese Sichtweise auf die jüdische Geschichte anwenden, „dann erschiene die Diaspora als großartigster Beitrag der jüdischen Geschichte, die Bildung und weitere Existenz Israels als Nationalstaat dagegen bestenfalls als höchst unmoralischer Augenblick der jüdischen Geschichte, den es offenkundig umzustürzen gelte.“²⁸ Die Debatte um Diaspora und Nationalstaatlichkeit, um die Bevorzugung des einen oder des anderen Modells, um ihre Abhängigkeit oder Autonomie vom jeweils anderen Prinzip begleitet die Jüdischen Studien seit ihrem Bestehen und ist auch für die Überlegungen Heines zum Phänomen der jüdischen Diaspora von außerordentlicher Bedeutung. Gerade in den letzten Jahrzehnten ist dabei eine Verschiebung des Fokus in der Beurteilung der Diaspora für das jüdische Selbstverständnis und das Bestehen des Staates Israel im innerjüdischen Diskurs zu beobachten. Wandelte der Zionismus mit seinem jüdisch-nationalen Diskurs das Judentum „von einem göttlich bestimmten Ensemble von Glaubensüberzeugungen, Normen und Bräuchen in eine von Menschen geschaffene säkular-nationale Kultur“²⁹ und setzte er an die Stelle des „Juden“, „der nun als Produkt des religiösen Diskurses des Exils verstanden wurde“, den „neuen Hebräer“, „ein 26 Michael Galchinsky: Zerstreute Saaten. Ein Dialog der Diasporakulturen. In: Brenner [u. a.], Geschichte lesen, S. 207f. 27 Galchinsky, Saaten, S. 210. 28 Galchinsky, Saaten, S. 210. 29 Laurence J. Silberstein: Auf dem Weg zu einem postzionistischen Diskurs. In: Brenner [u. a.], Geschichte lesen, S. 403.
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Geschöpf des säkularen kulturellen Diskurses einer in ihrem eigenen Land lebenden Gemeinschaft“,³⁰ so sieht sich der zionistische Diskurs, wie andere nationalistische Diskurse, in der aktuellen Debatte einer grundsätzlichen Kritik seitens der Kulturkritik ausgesetzt. Die Diaspora hingegen erfährt in ihrer Bedeutung für die Genese des jüdischen Selbstverständnisses im aktuellen innerjüdischen Diskurs eine Aufwertung. Ist etwa Haim Hillel Ben-Sassons monumentale Geschichte des Jüdischen Volkes, 1969 publiziert, noch aus vornehmlich zionistischer Perspektive geschrieben, wenden sich neuere Publikationen zur jüdischen Geschichte aus dem Bereich der Kulturwissenschaften gegen eine Sichtweise, die das Land Israel stets in den Mittelpunkt jüdischen Handelns und Denkens stellt und Diasporageschichte vor allem als Geschichte des Leidens am Exil darstellt. Entscheidender noch für die postmoderne Kritik an der klassischen zionistischen Geschichtsauffassung ist deren Darstellung der jüdischen Geschichte als Kontinuum über vier Jahrtausende und fünf Kontinente hinweg. So schreibt Ben-Sasson in der Einleitung der hebräischen Originalfassung seiner jüdischen Geschichte: Das jüdische Volk blickt seit der Antike auf eine kontinuierliche Geschichte zurück. […] Wenn man die Geschichte dieser Nation eingehend und angemessen untersucht, stellt man fest, daß die Wanderungen und die Zerstreuung der Juden in ihrer langen und wechselvollen Geschichte eine viel umfassendere Kontinuität des die Kultur tragenden Volkskörpers bergen; eine viel stärkere Konstanz des einzigartigen und einigenden Symbole und eine viel größere Ausdauer im Hinblick auf die Kultur als bei den meisten anderen Völkern, neben denen und in deren Schatten das Volk Israel lebte. Das Selbstverständnis und die kulturelle Identität mit ihren nationalen Komponenten zeugen von einer nationalen Kontinuität im Leben des einigen jüdischen Volkes, und zwar seitdem es sich aus den Stämmen zu einem Volk konstituiert hat, über alle Veränderungen hinweg bis in unsere Zeit.³¹
Gegen dieses Bild der jüdischen Diaspora als einer verfolgten Minderheit, die zwar bis zu einem gewissen Grad in Interaktion mit dem nichtjüdischen Umfeld steht, deren Kern aber eine von nationalen Komponenten geprägte, kohärente jüdische Kultur ist, wenden sich neuere Geschichtswerke, wie etwa Cultures of the Jews von David Biale, erstmals veröffentlicht 2002. Dessen postmoderne Perspektive auf die jüdische Geschichte ist als systematischer Gegenentwurf zum Werk Ben-Sassons zu lesen. Beeinflusst von den Kulturwissenschaften spricht bereits der Titel für die Unmöglichkeit, von „einer“ jüdischen Kultur oder Geschichte zu sprechen. Entgegen dem Versuch der vom Zionismus geprägten Jerusalemer His-
30 Silberstein, Weg, S. 407. 31 Haim Hillel Ben-Sasson: Geschichte des jüdischen Volkes. In: Brenner [u. a.], Geschichte lesen, S. 91.
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toriker jüdische Geschichte nach nationalistischer Diktion zu interpretieren und teleologisch auf die Rückkehr nach Israel hin zu deuten, stellt sich in Cultures oft the Jews jüdische Geschichte als relativ dar. So „glaubten“ die meisten Juden während ihrer Geschichte, laut Biale, eine gemeinsame nationale Biographie und eine gemeinsame Kultur zu haben. Diese subjektive Überzeugung, Teil einer gemeinsamen Geschichte zu sein, rechtfertige, so Biale, das kollektive Unternehmen, die unterschiedlichen Kulturen der Juden in einem Werk zusammenzuführen.³² Ein Parameter für die Darstellung jüdischer Geschichte aus postmoderner Perspektive ist nach Biale die Dichotomie von „Heimat“ und „Exil“. Diese Dichotomie findet sich nicht nur als stetig wiederkehrendes Motiv in der Bibel, spiegelte sich nicht nur in dem Verhältnis der Juden zu den Orten ihrer Diaspora wider, beeinflusste nicht nur die zionistische Bewegung in ihrer Wiederherstellung des jüdischen Staates. Auch die gegenwärtige jüdische Geschichte ist, so Biale, noch immer von dieser Dichotomie bewegt: Even the modern return of the Jews to their historic homeland and the restoration of Jewish political sovereignty have not definitively resolved this dialectic between Land and Exile. […] Rather than an end to Jewish wandering, the new nation of Israel may be only the latest phase in an eternal cycle of leaving and returning, Homeland and Diaspora. This, too, is an enduring theme in the cultural history of the Jews.³³
Mit Blick auf das Werk Heinrich Heines ist die Dichotomie von Heimat und Exil, von Nationalismus und Diaspora nicht erst Diskussionsgrundlage der Kulturwissenschaften in der Postmoderne. Wie auch die gegenwärtige innerjüdische Debatte setzt sich bereits Heinrich Heine mittels dieser Begriffspaare mit dem jüdischen Selbstverständnis in seiner Zeit auseinander, wird ihm die diasporische Existenz zum Gegenmodell des nationalistischen Diskurses seiner Zeit. Auch dass die kultursoziologische Auslegung des Begriffs „Diaspora“, frei von religiös motivierter Interpretation, konzentriert auf die Geschichte und unmittelbare Lebenssituation jüdischer Gemeinden in der Zerstreuung, nicht erst in der aktuellen Debatte der Kulturwissenschaften zum Phänomen der Diaspora zu finden ist, zeigen die Texte Heinrich Heines. Dem Schriftsteller wird die jüdische Geschichte des Leids, der Anpassung, des Widerstands, aber auch der Interaktion und Partizipation zum Dreh- und Angelpunkt seiner literarischen Auseinandersetzung mit der jüdischen Existenz. Im Studium des Schicksals der Juden in
32 Vgl. Michael Brenner: Nachwort. In: Geschichte des jüdischen Volkes. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Haim Hillel Ben-Sasson. 5. Aufl. München 2007. S. 1354. 33 David Biale: Preface. Toward a Cultural History of the Jews. In: Cultures of the Jews. Bd. 3: Modern Encounters. A New History. Hrsg. v. dems. New York 2002, S. xxxvi.
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der Diaspora zeichnet das Werk Heines den Übergang von einem religiösen hin zu einem kulturell-ästhetischen Selbstverständnis der Minderheit nach.
2 Verbunden durch Gesetz und Ritus – Religiöse Auslegung der Diaspora als traditionelle Strategie des Fortbestands „Der Herr ist wie ein Feind geworden; er hat Israel vertilgt. Er hat zerstört alle Paläste und hat die Burgen vernichtet; er hat der Tochter Juda viel Jammer und Leid gebracht.“³⁴
Mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahr 586 v. d. Z., mit der Deportation eines Großteils der judaischen Bevölkerung, insbesondere ihrer Führungsschicht nach Babylonien – bezeugt im Zweiten Buch der Könige und im Buch Jeremia, in den Klageliedern dichterisch verarbeitet – wird die Erfahrung des Exils ein zentraler Bestandteil der jüdischen Identität. Mit den jüdischen Gemeinden, die in Babylonien nach der Verwüstung Judas angesiedelt wurden, und den Gemeinden entflohener Juden in Ägypten und Kleinasien dehnte sich nicht nur der territoriale sondern auch der religiöse und kulturelle Horizont jüdischen Lebens erstmals über das eigentliche Juda hinaus aus. Im Buch Ezechiel, Quelle für das soziale Gefüge, die Sehnsüchte, Konflikte und Hoffnungen der in Babylon Exilierten, ist der Einfluss der Exilerfahrung auf die Formung des jüdischen Selbstverständnisses eindrücklich zu verfolgen. Wird das Exil zu Beginn der Verbannung als vorübergehend eingeschätzt, wandelt sich dieser Optimismus mit der Zerstörung des Tempels in tiefe Verzweiflung. In der Bewertung der Ereignisse wird dabei ein grundsätzliches Dogma des traditionellen Judentums in seiner Auslegung diasporischer Existenz sichtbar: die Zerstörung des Tempels geschieht aufgrund eigener Verfehlungen, ist Ausdruck göttlichen Zorns und ist durch das Exil zu sühnen. Diese Auffassung ist Ausdruck isolationistischer Tendenzen und spiegelt das Verlangen nach vollständiger Absonderung von der fremden Umwelt wider, um die eigene Identität zu sichern. Dem Prinzip der Separation als fundamental für das diasporische Bewusstsein im Judentum gesellte sich jedoch von Beginn an das Prinzip der Interaktion zur Seite. So ist ein Austausch der nach Babylon Verbannten mit dem fremden Umfeld etwa in der Übernahme babylonischer Monatsnamen, in der Verwendung der aramäischen Kursive an Stelle der hebräischen Schrift und in der literarischen Gestaltung der
34 Klgl 2,5.
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Bibel (Bücher der Könige) nach dem Vorbild der babylonischen Chroniken zu beobachten.³⁵ Dass der Fortbestand des jüdischen Volkes fern vom Gelobten Land als Status quo akzeptiert wurde, offenbart der Umstand, dass 538 v. d. Z. den Juden im Edikt des Perserkönigs Kyros, dem neuen Machthaber im Zweistromland, zwar die Rückkehr nach Juda zum Aufbau des zerstörten Tempels gestattet wurde, aber nur ein Bruchteil die Gelegenheit wahrnahm. Ein guter Teil der einstmals Deportierten blieb im Exil, war in der Diaspora heimisch geworden. Die jüdischen Gemeinden außerhalb Judas, insbesondere die babylonische Diaspora, schufen dabei die Grundpfeiler des jüdischen Selbstverständnisses, die Religion und Kultur der Juden jahrhundertelang vor der Assimilation schützten. So wurden in der Zeit des Zweiten Tempels in Babylonien gottesdienstliche Formen, religiöse Ausdrucksformen und Vorschriften aus der Situation der Diaspora heraus entwickelt, die den Exklusivitätsanspruch der Diasporagemeinden nicht zuletzt gegenüber der Priesterschaft in Jerusalem stärkten. Die Gottesverehrung wurde dezentralisiert. An die Stelle des einen Tempels traten die Versammlungshäuser der verstreuten Gemeinden, die Vorgänger der Synagoge. So verfestigte sich kurz nach 586 v. d. Z. im Judentum die Überzeugung, „Jahwe sei mit dem wahren, dem eigentlichen Israel in die Verbannung gezogen“³⁶. Sie gilt als einer der wichtigsten Faktoren für die Aufrechterhaltung eines religiösen und kulturellen Selbstverständnisses der Juden außerhalb Israels. Ähnlich dem in der Einleitung demonstrierten Prozess einer an den modernen Zeitverhältnissen orientierten Traditionsbildung deutscher Juden im 19. Jahrhundert, erfanden die jüdischen Gemeinden in der babylonischen Diaspora eine neue, exilisch geprägte Tradition, welche die politische Einheit Israels durch eine religiöse ersetzte und das Überleben des Judentums unter den Bedingungen des babylonischen Exils sicherte.³⁷ Die nach Palästina zurückgekehrten Juden schrieben dieses Ergebnis fest. Jüdisches Selbstverständnis wurde von nun an – selbst aus dem Zentrum heraus – als diasporisch definiert.³⁸ Bereits im 4. Jahrhundert v. d. Z. lebten mehr Juden außerhalb als innerhalb der Region Palästina. So wurde die Existenz einer großen Diaspora wesentlicher Aspekt der jüdischen Geschichte in der hellenistisch-römischen Zeit beziehungs-
35 Vgl. Hayim Tadmor: Die Zeit des ersten Tempels, die babylonische Gefangenschaft und die Restauration. In: Ben-Sasson, Geschichte, S. 115–228. 36 Mayer, Diaspora, S. 39. 37 Vgl. auch Katrin Kröger: Exil und Land Israel in der Gemara des Babylonischen Talmud. In: Zwischen Selbstbehauptung und Identitätsverlust. Exilerfahrungen des Judentums. Hrsg. v. Gabrielle Oberhänsli-Widmer. Freiburg 2006 (Freiburger Universitätsblätter 172). S. 25–36. 38 Vgl. Mayer, Diaspora, S. 39ff.; Tadmor, Erster Tempel, S. 217.
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weise in der Zeit des Zweiten Tempels. Faktoren für die geographische und zahlenmäßige Ausweitung der jüdischen Diaspora waren Vertreibungen, politische und religiöse Unterdrückung in Judäa aber auch bessere wirtschaftliche Aussichten in wohlhabenden Ländern. Die hellenistischen Könige zeichneten sich durch eine allgemeine Toleranz gegenüber den verschiedenen Kulten und Religionen in ihren Herrschaftsgebieten aus. Diese Toleranz erlaubte es den Juden der Diaspora sich in eigenen Gemeinden zu organisieren und ungehinderten Kontakt zur ihrem nationalen und religiösen Zentrum Jerusalem zu pflegen. Neben der Synagoge, als völlig neuartigem Gottesdienstraum, erlangte das Schrifttum eine übergeordnete Bedeutung für den Erhalt von jüdischem Glauben und Tradition sowohl in Jerusalem als auch in der Diaspora. Die Tora wurde in der zweiten Tempelära zur zentralen Grundlage jüdischen Lebens. Ihr zur Seite gestellt wurde die Halacha, die mündliche Tradition, die das individuelle und kollektive Verhalten der Juden in der Diaspora in allen Einzelheiten erfasste und strukturierte. Indem die Schrift sämtliche Bereiche jüdischen Lebens zu durchdringen begann, wurde das Judentum zu einer Buchreligion.³⁹ Insbesondere die Diaspora im hellenistisch-römischen Raum beschränkte ihr literarisches Wirken nicht allein auf das hebräische Schrifttum, sondern verfasste auch eine große Anzahl von Texten in griechischer Sprache. Als herausragendes Beispiel eines Schreibens in der Sprache des Umfelds ist die Septuaginta zu nennen, die griechische Bibelübersetzung. Sie steht exemplarisch für die Integration hellenistischer Lebensweise in die jüdische Tradition. Als Instrument der jüdischen Glaubensverkündung im hellenistisch-römischen Kulturbereich im 3. Jahrhundert v. d. Z. verfasst, findet sich in diesem Text auch erstmals der griechische Begriff „diaspora“ für den von Sünde gezeichneten Zustand des Exils. Bedeutete die hellenistisch-römische Zeit über weite Strecken eine Tolerierung und Integration der jüdischen Lebensweise in einem nicht-jüdischen Umfeld, fällt in diese Zeit jedoch auch der endgültige Untergang Judäas und die Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 n.d.Z. durch die Römer: „Damit war der tiefste Einschnitt in der Geschichte der Juden überhaupt markiert. Das zentrale Heiligtum der Juden war zerstört. […] Juden durften weiterhin ihre Religion praktizieren, doch die Wiederherstellung ihrer staatlichen Souveränität war über viele Jahrhunderte hinweg keine realistische Option mehr […].“⁴⁰ Gegen Ende der zweiten Tempelära, als soziale Unruhen und messianische Bewegungen die Region Palästina erschütterten, bekam das Judentum durch die zunächst jüdische Sekte der Christen eine Konkurrenz, die sich mit dem späteren 39 Vgl. Menahem Stern: Die Zeit des Zweiten Tempels. In: Ben-Sasson, Geschichte, S. 231– 373; Michael Brenner: Kleine jüdische Geschichte. München 2008. S. 33. 40 Brenner, Geschichte, S. 61.
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Christentum, als einer eigenständigen Religion, zu Verfolgung und Vernichtung ganzer jüdischer Gemeinden in der Diaspora auswuchs. Es ist die Epoche des Mittelalters, in der sich diese Entwicklung verfolgen lässt. Zeitlich lässt sich das jüdische Mittelalter zwischen dem Beginn der muslimisch-arabischen Eroberungen um 632 n.d.Z. und dem Zusammenbruch der messianischen Sabbatäer-Bewegung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ansiedeln.⁴¹ Zu Beginn des Mittelalters war Judäa kein bedeutendes jüdisches Bevölkerungszentrum mehr. Das Judentum existierte nun fast vollständig in der Diaspora. Die Mehrzahl der Juden lebte im Vorderen Orient, ein wesentlich kleinerer Teil in den Städten Westeuropas. Wie schon zu Zeiten des babylonischen Exils festigte der Gedanke der Auserwähltheit des Judentums die Solidarität der über Europa, Afrika und Asien verstreuten jüdischen Gemeinden. Innerhalb des Judentums kräftigte sich im Mittelalter der egalitäre Geist, der ein aristokratisches Selbstgefühl der Juden gegenüber der Außenwelt stärkte. Erfuhr die jüdische Diaspora im eroberten Raum der Araber eine wirtschaftliche und kulturelle Blüte, verbunden mit einem Bevölkerungszuwachs seit dem 9. Jahrhundert, war die Situation der jüdischen Diaspora in Europa von Beginn an prekär. Die Feudalstrukturen Europas verhinderten nicht nur eine Ansiedlung der Juden auf dem Land, sie förderten auch die soziale Ausgrenzung der Minderheit in der Bevölkerung. Hinzu trat eine zunehmende Judenfeindlichkeit, deren Wurzeln bis in die Antike zurückreichten. Die Juden wurden bereits bei Paulus, dem Former der christlichen Religion, als „physische Überreste“ Israels definiert, die ihr Erbe und ihre Auserwähltheit verspielt hätten, weil sie infolge ihrer Bosheit blind wären für die Botschaft des Christentums. An die christliche Kirche als das „geistige Israel“ sei nun der Status göttlicher Auserwähltheit übergegangen. Im 6. und 7. Jahrhundert, jener Übergangszeit zwischen Antike und Mittelalter, wurde von christlicher Seite vermehrt der Vorwurf vorgebracht, dass die Juden durch die Ablehnung und Kreuzigung des Messias das Unheil des geistigen Stillstandes und den Fluch der religiösen Begriffsstutzigkeit auf sich gezogen hätten. Dieses Vorurteil ist mit Blick auf die kulturellen Leistungen des diasporischen Judentums in dieser Zeit entkräftet. Es entstehen die wichtigsten Schriften des diasporischen Judentums im Mittelalter: der babylonische und der palästinische Talmud, sowie Teile des Midrasch. Der zentrale Stellenwert dieser Schriften ist auch unterstrichen durch ihre Bedeutung für das Werk der Kirchenväter aus dieser Zeit, dessen Inhalt und Denkweise stark beeinflusst ist von dem homilitischen System und den Formulierungen des Midrasch.⁴²
41 Vgl. Haim Hillel Ben-Sasson: Vom 7. bis zum 17. Jahrhundert. Das Mittelalter. In: Ders., Geschichte, S. 473. 42 Vgl. Ben-Sasson, Mittelalter, S. 473–502.
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Im 10. und 11. Jahrhundert, als die christliche Religion von breiten Bevölkerungsschichten praktiziert wurde, wurden die Juden im christlichen Westund Mitteleuropa als einzig verbliebene Gegner des allgemein übernommenen Glaubens wahrgenommen. Dass die Feindlichkeit in brutale Gewalt gegen die jüdischen Gemeinden umschlug, war auch in jenen neu definierten Werten wie Rittertum und Heiliger Krieg begründet, die nun dem christlichen Weltbild durch Kirche und staatliche Institutionen zugeordnet wurden. Die Massaker der ersten Kreuzfahrer unter den europäischen Juden des Jahres 1096 offenbaren, wie groß der durch die Kirche geschürte Hass der Mehrheitsbevölkerung auf die jüdischen Gemeinden der europäischen Diaspora war und wie schutzlos die Juden diesem ausgeliefert waren. Obwohl ein Großteil der einst blühenden jüdischen Gemeinden der Rheinebene vollständig vernichtet wurde, obwohl die Kreuzfahrer die Juden Jerusalems im Jahr 1099 bei lebendigem Leib in ihrer Synagoge verbrannten, wandten sich die Juden nicht von ihrer Religion ab. Die Massaker von 1096 wurden von den Aschkenasim vielmehr als Stunde der Prüfung wahrgenommen, in der sie all ihrer geistigen Stärke und ihres ganzen sozialen Zusammenhalts bedurften. Der Kiddusch Haschem, das Festhalten am jüdischen Glauben in Form des Martyriums wie auch der Massenselbsttötung, wurde ihnen zum Ausdruck ihres unerschütterlichen Glaubens. Kiddusch Haschem wurde zum religiösen Leitbild für eine Vielzahl von Juden in dieser Zeit.⁴³ Nach den Massakern von 1096 wanderten die Aschkenasim weiter nach Osten und Südosten. Für das 13. Jahrhundert sind die ersten Gemeinden in Polen und auf dem Gebiet der Westslawen nachweisbar. Nach einer Phase der Konsolidierung der verbliebenen Gemeinden der jüdischen Diaspora West- und Mitteleuropas flammten im 13. Jahrhundert Vertreibung und Verfolgung erneut auf. So wurden die Juden nicht nur in ihren Erwerbsmöglichkeiten immer mehr eingeschränkt, bis sie fast ausschließlich vom Geldverleih leben mussten, es setzte auch eine Welle ihrer Vertreibung aus den westeuropäischen Königreichen (Spanien, England, Frankreich) ein. Hinzu traten in dieser Zeit innere religiöse Konflikte der Kirche, die sich auch auf das Verhältnis der Christen zu den Juden übertrugen. Verleumdungen gegen die Juden, wie die Blutbeschuldigung (Ermordung von Christenkindern) oder die Hostienschändung,⁴⁴ wurden erstmals in dieser Zeit innerkirchlicher und sozialer Unruhen hervorgebracht und führten zu einer Anzahl von Pogromen, die schließlich durch das Ereignis der Pest in den Massakern von 1348–1349 gipfelten. Der Hass erreichte ein bis dahin unbekanntes Ausmaß und ließ sich auch durch Dekrete weltlicher und geistlicher Herrscher nicht zügeln. Das jüdische Leben erstarb fast vollständig in Aschkenas. Trotz der 43 Vgl. Ben-Sasson, Mittelalter, S. 506–513. 44 Vgl. Ben-Sasson, Mittelalter, S. 590–593.
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Grausamkeiten des Umfelds gegen die Juden im Mittelalter hielten diese unerschütterlich an ihrem Glauben fest, stärkten ihren Status als religiöse Gemeinschaft und geschlossene soziale Gruppe. Erst mit der Neuzeit sollte der Gedanke in die eigene Exklusivität nachhaltig erschüttert werden.⁴⁵ Dass die Juden außerhalb Israels bis ins 18. Jahrhundert hinein nicht einem Niedergang ihrer Religion, ihrer Tradition und Kultur ausgesetzt waren, beweist, dass deren Geschichte „kein[en] Normalfall einer kulturellen Entwicklung“⁴⁶ darstellt, so Ruth Mayer. Die jüdischen Gemeinden der Zerstreuung fanden einen Weg aus der Exilsituation heraus, die Fundamente ihrer Religion und Kultur zu bewahren und legitimierten so ihr „Sich-Einrichten“ in der Fremde. Stets sollte der einzelne Jude in dem Bewusstsein leben, dass er von seinem nichtjüdischen Nachbarn unterschieden war, dass sein Gottes- und Weltbild ein anderes war als das der Nichtjuden, dass er in der Fremde lebte und beheimatet in Israel war.⁴⁷ Der Eigenraum jüdischen Lebens und der dieses jüdische Leben umgebende Fremdraum der Mehrheitsgesellschaft wurden in diesem Selbstverständnis als scharf getrennt, ja einander konträr gegenüberstehend definiert. Diese Wertschätzung des Separationsgedankens spiegelt die traditionelle Auffassung vom diasporischen Zustand des Judentums als unfreiwillige Existenz eines Volkes im Exil. Separation von der Mehrheitsgesellschaft, wenn in der Praxis auch nicht absolut durchführbar, war Teil jener inneren Verbundenheit, welche die Juden in der Diaspora zusammenhielt.⁴⁸ Zwar existierten verschiedene, regional bedingte Variationen der traditionellen jüdischen Gesellschaft, doch waren grundlegende Merkmale dieser Gesellschaft für alle jüdischen Gemeinden seit Beginn der Diaspora kennzeichnend. Zentral für die Aufrechterhaltung dieses Selbstbewusstseins wurde das jüdische Gesetz. Beruhend auf der Tora und dem Talmud, als den Säulen des diasporischen Judentums, entwickelt das Judentum klare Verhaltensmaßnahmen, die es in Bezug zu ihrem Umfeld setzt und die es von diesem Umfeld wie eine unsichtbare Mauer trennt. Die Gebote (hebräisch: Mitzwot) bestimmten das Verhältnis jedes einzelnen Juden zu Gott, das Leben des Gläubigen in jeder Einzelheit sowie das Zusammenleben in den über den Erdball verteilten jüdischen Gemeinden. Gebunden an den Gesetzestext gestaltete sich die Existenz in der Diaspora den
45 Vgl. Ben-Sasson, Mittelalter, S. 567–597. 46 Mayer, Diaspora, S. 40. 47 Vgl. Website der Jewish Agency for Israel. http://www.jafi.org.il/education/100/german/ concepts/gola3.html (23.11.2009). 48 Vgl. Katz, Tradition, S. 31ff.
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Juden als geoffenbarte Lebensordnung.⁴⁹ Die Worte des Pentateuchs, die Mischna und die Kommentare der Rabbiner im Talmud waren den Juden in der Zerstreuung Lebensmittelpunkt. Mit den Gesetzen wird auch die Utopie des Idealzustands jüdischer Existenz − das Leben in Eretz Israel – artikuliert. So konnten die Rabbinen in den in der Mischna formulierten Mitzwot, die an ein Leben in Israel gebunden waren, eine Art Heimat illustrieren und einen Gegenpol zum als unfreiwillig empfundenen Leben im Exil definieren.⁵⁰ Das geschriebene Wort, das formulierte Gesetz stellte den imaginären Ort der Rückkehr dar. Mit dem Verweis auf das aufwändige Zeremoniell zur wöchentlichen Lesung der Tora in der Synagoge unterstreicht Christoph Schulte die identitätsstiftende Bedeutung des geschriebenen Wortes für das diasporische Judentum: Von der Hand ausgesuchter, frommer Schreiber auf lange Schriftrollen geschrieben, wird der gesamte Text der Tora in festgelegten Abschnitten an jedem Sabbat des jüdischen Jahres laut in der Synagoge vorgelesen; die Torarollen werden in jeder Synagoge in einem eigenen Schrank aufbewahrt und für diese wöchentliche Lesung durch ein besonders würdiges und geachtetes Gemeindemitglied aus dem Schrank geholt und auf das Lesepult getragen.⁵¹
Dieser Status der Tora als geoffenbartes Wort Gottes, diese Geltung als oberste Norm jüdischen Lebens, diese Funktion als Dach, unter dem die Gemeinden der Zerstreuung versammelt waren, sollte unter jüdischen Intellektuellen erst im Zuge der Haskala, jener Aufklärungsbewegung, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Westeuropa ihren Anfang nahm, in Frage gestellt werden.⁵² Auch Heine wird das Normative dieser Worte und den ihnen zugewiesenen Offenbarungscharakter negieren, ihre Bedeutung für die Ausbildung und den Fortbestand jüdischen Lebens in der Diaspora in seinem Werk jedoch ausdrücklich anerkennen. Neben dem Gesetzestext und dessen Kommentierung waren es die kulturellen Praktiken und Rituale, die das religiöse und kulturelle Selbstverständnis des altorthodoxen Judentums in der Diaspora sicherten; es von Generation zu Generation transportierten. Sie ließen den Faktor der Identifikation mit einer bestimmten Region zweitrangig werden, stärkten vielmehr den Ursprungsmythos und die Utopie einer Rückkehr in das Gelobte Land. Dabei war die Realität, im Exil zu leben, immer gegenwärtig: im Gebet wandte man sich Jerusalem zu; profane und religiöse Traditionen konfrontierten die Juden immer wieder mit
49 Vgl. Günter Stemberger: Der Talmud. Einführung Texte Erläuterungen. 4. Aufl. München 2008. S. 30. 50 Vgl. Kröger, Exil, S. 27. 51 Schulte, Aufklärung, S. 48. 52 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 48f.
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ihrer Exilsituation;⁵³ die Erinnerung an das verlorene Land und den Verlust des religiösen Zentrums banden sich den Feiertagen ein und Rituale, die im Tempel praktiziert worden waren, fanden Eingang in das häusliche und synagogale Leben.⁵⁴ Das Gebot der Erinnerung,⁵⁵ festgeschrieben im Pentateuch, ist dabei als Moment der Abkoppelung des Konzepts ethnischer und religiöser Identität vom geographischen Faktor von unschätzbarer Relevanz – „sie [die Erinnerungsfigur des Exils, Anm. d. Verf.] wurde zum zentralen Bezugspunkt der kulturellen Selbstbeschreibung“⁵⁶ der Juden in der Diaspora. So kann das oben bereits zitierte Deuteronomium als Beispiel eines Entwurfs jüdischen Selbstverständnisses gelesen werden, welcher den Juden in der Diaspora eine religiös fundierte, eher denn eine territoriale oder genealogische Lebensform zuspricht, wie Jan Assmann in seiner Publikation Das kulturelle Gedächtnis herausarbeitet: Die alttestamentliche Wissenschaft ist sich darin einig, daß das Deuteronomium das Manifest einer Gruppe […] ist, die als Träger dieser neuen, verinnerlichten und vergeistigten Form von Identität hervortritt, einer Identität, die sich nur noch auf die Torah stützt und in diesem Fundament alles besitzt, was andere Gesellschaften in Form von Territorien und Institutionen, Machtapparaten und Monumenten aufbauen und sichtbar machen müssen: ein ‚portatives Vaterland‘, wie Heinrich Heine (der es wissen mußte) die Torah genannt hat. Damit sind die Grenzen zwischen Heimat und Fremde in einem anderen als geographischen Raum gezogen […]. Die Israeliten scheinen die Entdecker und Erfinder dieses geistigen Anhangens zu sein, das auch bei ihnen durch Schrifttum ermöglicht wird. Unter den vielbehandelten ‚Folgen der Schriftkultur‘ ist diese Erschließung eines extraterritorialen oder ‚geistigen‘ Raumes der Beheimatung wohl die bedeutendste. […] Nichts ist natürlicher als im Gelobten Land die Wüste und in Babylon Jerusalem zu vergessen. Die im Deuteronomium geforderte Erinnerung ist demgegenüber das Unwahrscheinliche, Paradoxe und nur durch tägliche Übung und Konzentration zu Bewerkstelligende.⁵⁷
Die Erinnerung sicherte die religiös fundierte Lebensform der Juden in der Diaspora über die Jahrtausende. Zur ihrer Aufrechterhaltung bedurfte es, so Mayer, ständiger Disziplinierung, gebündelt in Geboten, Ritualen und sinngebenden Narrativen. Diese waren es, welche der Dynamik der Zerstreuung begegneten, das
53 Vgl. Website der Jewish Agency for Israel. http://www.jafi.org.il/education/100/german/ concepts/gola3.html (23.11.2009). 54 Vgl. ebd. 55 Vgl. Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich!. Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Berlin 1988. S. 17. 56 Mayer, Diaspora, S. 42. 57 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 6. Aufl. München 2007. S. 213f.
Verbunden durch Gesetz und Ritus
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kulturelle/kollektive Gedächtnis⁵⁸ des Judentums synchronisierten und vereinheitlichten. Im Wiederholen des Rituals, im Zitieren der Vergangenheit vergegenwärtigte man sich der Offenbarung Gottes in der Zeit.⁵⁹ In der Erinnerung an die entscheidenden Augenblicke der Geschichte Israels, in der Vergegenwärtigung der Offenbarung Gottes im Ritual, durchbrachen die Juden der Diaspora punktuell den Zustand der Zerstreuung, stabilisierten sie ihr Selbstbild als Gruppe und stärkten sie das Bewusstsein ihrer Einheit und Eigenart mittels des Gebrauchs eines kollektiv geteilten Wissens.⁶⁰ Die einmaligen und irreversiblen historischen Vorgänge der biblischen Zeit wurden im Ritual der Gemeinschaft, ob im privaten Raum oder der Synagoge, als zyklisch wiederkehrend und in diesem Sinne außerzeitlich und somit ewig gültig erlebt.⁶¹ Dabei blieben die Rituale der Erinnerung bis über die Zeit des europäischen Mittelalters hinaus unverändert: Biblischen Ursprungs erfuhren sie in der Haggada eine starke Erweiterung.⁶² Die durch Rituale und Liturgien des Gedenkens ausgelösten Erinnerungen zielten auf Evokation und Identifikation.⁶³ „Es läßt sich zeigen, daß dabei nicht plötzlich Tatsachen aus der Vergangenheit hervorgerufen wurden, über die man distanziert Betrachtungen anstellen, sondern Situationen, in die man irgendwie existentiell hineingezogen werden konnte.“⁶⁴ Beredtstes Beispiel ist der Pessach-Seder, das Ritual zur Aktivierung des kollektiven Gedächtnisses des Judentums. Dieser Ritus „ist die symbolische Darstellung einer historischen Szenenfolge, deren drei große Akte – Knechtschaft, Errettung, endgültige Erlösung – auch die Struktur der dabei vorgelesenen Hagada bestimmen“⁶⁵. Die Absicht von Text und ritueller Geste liegt dabei auf der Verschmelzung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Erinnerung bedeutet dem Judentum nicht distanzierte Rückbesinnung, sondern erneute Aktualisierung.⁶⁶ Es erweitert Pessach zur Hoffnung auf die Zukunft, gedenkt man doch nicht nur des Auszugs aus Ägypten, sondern gesellt der Erinnerung die Hoffnung einer erneuten Erlösung aus der Verbannung hinzu.⁶⁷ Selbst das säkularisierte jüdische Selbstverständnis des 19. Jahrhunderts findet immer wieder zu diesem
58 Zum Begriff der kulturellen/kollektiven Erinnerung bzw. des kulturellen Gedächtnisses vgl. auch Mayer, Diaspora, S. 43ff. 59 Vgl. Yerushalmi, Zachor, S. 21. 60 Vgl. Mayer: Diaspora, S. 43ff.; Assmann, Gedächtnis, S. 16. 61 Vgl. Yerushalmi, Zachor, S. 54. 62 Vgl. Yerushalmi, Zachor, S. 52. 63 Vgl. Yerushalmi, Zachor, S. 56. 64 Yerushalmi, Zachor, S. 56. 65 Yerushalmi, Zachor, S. 57. 66 Vgl. Yerushalmi, Zachor, S. 57. 67 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 148.
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Ritual zurück, doch wird die Hoffnung auf die Zukunft mit dem politischen Ziel der Emanzipation der jüdischen Minderheit verknüpft, wie die Texte Heines eindrücklich darlegen. Neben Pessach sind es zwei weitere große überlieferte Feste, die im Mittelpunkt der gemeinsamen Erinnerung der jüdischen Gemeinden in der Diaspora stehen: Sukkot (Erinnerung an die Wüstenwanderung) und Schawuot (Erinnerung an den Empfang der Zehn Gebote am Berg Sinai). Darüber hinaus gibt es andere historische Fixpunkte des jüdischen Kalenders, denen das Gebot der Erinnerung eingeschrieben ist.⁶⁸ Purim mit der feierlichen Lesung des Buches Esther und Chanukka mit seiner Erinnerung an die Wiedereinweihung des zweiten Tempels. Hinzu kommen jährlich drei Fastentage, deren Liturgie mit der Zerstörung des Tempels zusammenhängt: Assara be Tevet (Erinnerung an den Beginn der Belagerung Jerusalems durch den Babylonierkönig Nebukadnezar), Schiwa Assar be Tammus (Erinnerung an die erste Bresche, die in die Mauer geschlagen wurde), Tischa be Av (Gedenken der Zerstörung des ersten und zweiten Tempels). So erinnern die Rituale dieser Fest- und Feiertage zum einen an den Bund mit Gott und so wird zum anderen des schuldhaften Vertragsbruchs gedacht, dessen Sühne in der Zerstreuung liegt. Die jüdischen Gemeinden gedenken der Taten Adonais, gedenken des Bundes und seiner Verletzung, aktualisieren im außerzeitlichen Ritus ihr „Zwiegespräch“ mit dem Herrn immer wieder aufs Neue. Wie das Zeremonialgesetz sollte auch der aus ihm erwachsene Ritus als Basis des religiösen und kulturellen Selbstverständnisses jüdischer Existenz durch die Haskala erschüttert werden. Mit der Erschütterung der tragenden Pfeiler des religiös ausgerichteten jüdischen Lebens in der Diaspora änderte sich auch die Perspektive auf das Phänomen der Zerstreuung und mit ihr die Akzeptanz der aus dem Minderheitenstatus erwachsenden Unterdrückung.
3 Zwischen Separation und Interaktion – Kultursoziologische Perspektive auf das Phänomen der Zerstreuung Gesetz und Ritual definierten die jüdische Diaspora aus religiöser Sicht über die Jahrhunderte als einen unvollkommenen Status. Mit der ihnen zugesprochenen
68 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 197ff. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist, dass Heinrich Heine bis auf wenige Ausnahmen den gesamten jüdischen Festzyklus in seinem Werk thematisiert, wie Regina Grundmann in ihrer Publikation ausführlich analysiert, jedoch besitzt der Ritus dort eine ausschließlich repräsentative Funktion und wird nicht mit dem Ziel eines religiösen Bekenntnisses dargestellt.
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Normativität durchdrang die Religion die Regeln des Kulturkontaktes und der sozialen Interaktion der jüdischen Gemeinden mit ihrem nichtjüdischen Umfeld. Die Assimilation in das Umfeld zu verweigern, vielmehr auszuharren und zu ertragen, bis die Verbannung aufgehoben und die Strafe gesühnt war, bestimmte das Leben der jüdischen Gemeinden in der Zerstreuung vom Altertum bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts.⁶⁹ Die Anforderungen des Überlebens der Juden als Minderheit standen dem Gebot einer völligen Abschottung vom nichtjüdischen Umfeld jedoch entgegen. So prägten auch ökonomische Interaktion und Kulturkontakt mit dem jeweiligen Umfeld die einzelnen jüdischen Gemeinden und waren beteiligt an der Entstehung der reichhaltigen jüdischen Kultur.⁷⁰ Ruth Mayer betont in ihrer Bestimmung des Diasporabegriffs, „dass diasporische Gemeinschaften oft stark ortsgebunden sind, sich als Gruppe vorwiegend lokal definieren und oft weit weniger Kontakt und Verbindungen zu anderen diasporischen Gemeinschaften oder Niederlassungen derselben Ethnie oder Religionsgemeinschaft haben, als offizielle Selbstdarstellungen vermuten lassen […]“⁷¹. Dieser Hinweis auf die bestehende Verbundenheit der diasporischen Gemeinden mit ihrer jeweiligen Region verweist auf die Ambivalenz im Verhältnis der Juden zu ihrem Umfeld. Dieses wurde in der Religion als Fremde definiert, im Alltag aber auch als Heimat empfunden.⁷² So lässt sich in religiösen und literarischen Texten das Phänomen beobachten, dass die Erinnerung an den verlorenen Heimat-Raum nicht allein Israel umschließt, vielmehr kann das Gedenken in einer Geschichte anhaltender Vertreibungen auch auf verschiedene Orte diasporischer Existenz ausgerichtet sein.⁷³ Auch Orte der Diaspora können Ziel der Sehnsucht sein, wie etwa das in den Texten Heines oft beschworene Spanien vor der Zeit der Reconquista. Bezüglich der Abgrenzung vom Umfeld der Mehrheitsgesellschaft ging es der jüdischen Existenz in den Jahrhunderten vor der Aufklärung „nicht darum, die Fremde wesentlich zu verändern, sondern darum, das Wesentliche des Eigenen in der Fremde zu bewahren“⁷⁴. Die Bibel liefert mit dem Buch des Propheten Daniel das Beispiel eines solchen Überlebens als Minderheit. Das Buch Daniel zeichnet den Prototyp des diasporischen Juden. Der Protagonist dieses Textes ist den Folgen des beschriebenen Spannungsverhältnisses von Unumstößlich69 Vgl. Mayer, Diaspora, S. 38. 70 Vgl. Michael A. Meyer: Jüdische Gemeinden im Übergang. In: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. 2: Emanzipation und Akkulturation: 1780–1871. Hrsg. v. dems. [u. a.]. München 1996. S. 97. 71 Mayer, Diaspora, S. 17. 72 Vgl. Katz, Tradition, S. 23ff. 73 Vgl. Clifford, Diasporas, S. 384ff. – Zu Orten der Diaspora als Sehnsuchtsorten in der jüdischen Literatur vgl. Oberhänsli-Widmer, Exil, S. 9–23. 74 Mayer, Diaspora, S. 47.
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keit und Vorläufigkeit der jüdischen Existenz in der Diaspora ausgesetzt. Daniels Leben am babylonischen Königshof entwirft das Bild eines Juden, der nicht mehr unmittelbar von der Prämisse einer Rückkehr nach Israel bestimmt ist. Ähnlich wie die Juden in der griechischen Diaspora hat sich Daniel am babylonischen Hof eingerichtet. Er hält sich trotz verschiedener Assimilationsangebote jedoch strikt an die Gesetze seiner Religion, welche ihm absolute Wertmaßstäbe seines Handelns auch in der Diaspora bleiben. Dennoch ist er soweit in die babylonische Gesellschaft integriert, dass die kulturelle Identifikation mit der diasporischen Existenz bestimmt wird von Fragen der Unsicherheit, welche Selbstüberprüfung und Angst vor der eigenen Assimilation widerspiegeln. So ist Daniel das Muster des Konflikts, dem die jüdische Existenz bis in die Gegenwart ausgesetzt ist: Der Frage nach der individuellen Integrität und Identität seiner jüdischen Existenz.⁷⁵ Darüber hinaus zeigt das Buch Daniel einen weiteren Ausdruck jüdischen Lebens in der Diaspora. Der Text beschreibt die Vernetzung jüdischen Lebens in der Diaspora mit dem Umfeld der Mehrheitsgesellschaft. Dieses Netzwerk basiert auf den oben bereits erwähnten Vorläufigkeiten, aber auch Kompromissen und Verhandlungen der Juden mit dem jeweiligen nichtjüdischen Umfeld. Als historisches Beispiel einer solchen Vernetzung ist die Periode des Hochmittelalters zwischen 1069 und 1250 zu nennen.⁷⁶ Ruth Mayer fasst die Diasporen des Mittelmeerraumes mit denen der Küsten des Arabischen Meeres sowie der Südwestküsten des Indischen Ozeans zusammen, um ein Modell jüdischen Lebens in der Diaspora vorzustellen, welches hauptsächlich auf Interaktion und Koexistenz beziehungsweise auf Netzwerken beruht und auf diese Weise „im klaren Kontrast [steht] zu der gängigen Vorstellung von Diaspora als einer isolierten ‚anderen‘ Gemeinschaft in der (durch eine homogene nationalstaatlich organisierte Gesellschaft repräsentierte) Fremde […]“⁷⁷. Insgesamt gestalteten sich die Herrschaftsstrukturen im Mittelmeerraum für die religiöse Minderheit als so vorteilhaft, dass, so Ruth Mayer, die Annahme einer durch die Jahrhunderte anhaltenden, ungebrochenen jüdischen Leidensgeschichte für diese Epoche und diese Region kritisch betrachtet werden müsse. Mit dem Beginn der Kreuzzüge traten jedoch neue, hegemoniale Herrschaftsansprüche in der Region auf, welche das kulturelle Zusammenleben im Mittleren Osten gerade für die Minderheiten fatal verändern sollten. Zu diesem Zeitpunkt lebten Generationen von Juden des Mittelmeerraumes seit Jahrhunderten außerhalb des Gelobten Lands. Zwar war die oben beschriebene (negative) Bildlichkeit des Exodus noch immer bedeutend für die kulturelle und religiöse Selbstiden75 Vgl. Mayer, Diaspora, S. 46ff. 76 Vgl. Mayer, Diaspora, S. 49. 77 Mayer, Diaspora, S. 49f.
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tifikation dieser Gemeinden außerhalb Israels, doch waren sie dort verwurzelt, waren heimisch geworden. Wie Ruth Mayer in ihren Ausführungen betont, ist der Austausch der diasporischen Gemeinden mit ihrem nichtjüdischen Umfeld im Nahen Osten beispielhaft für diese Epoche und diese Region. Ausgenommen davon ist allein der religiöse Bereich – hier galt es die Essenz des Glaubens durch Regeln und Rituale zu beschützen und zu stabilisieren. In anderen Räumen menschlichen Umgangs − wie Gesellschaft, Kultur oder Wirtschaft − wurden Dialog, Interaktion und Koexistenz jedoch gepflegt.⁷⁸ Von Ambivalenz ist auch der Kontakt der Aschkenas Mittel- und Osteuropas zum nichtjüdischen Umfeld gezeichnet. Wie alle jüdischen Gemeinden in der Diaspora war auch diese Gruppe Teil einer örtlichen, nichtjüdischen Gesellschaft. Sie gehörte dieser Gesellschaft „in erster Linie in einem ‚ökologischen‘ Sinne an, also insofern, als sie in ihrer Mitte lebte“⁷⁹. Die überall bestehende, grundlegende gesellschaftliche Interdependenz, die notwendigerweise um der Erfüllung wechselseitiger Bedürfnisse der Menschen besteht, ist auch für das Verhältnis von Juden und Nicht-Juden in dieser Region gültig. Die Aschkenas waren Teil einer sozialen Einheit.⁸⁰ Die Art dieser Zugehörigkeit wurde jedoch von der für diese Region speziellen religiösen und sozialen Trennung der Juden von der Gesellschaft und der sich daraus ergebenden politischen Stellung bestimmt.⁸¹ Bis ins 18. Jahrhundert existierten die aschkenasischen Gemeinden in dem Paradox, einerseits eine eigenständige Gesellschaft innerhalb des Umfelds zu bilden, die jedoch andererseits einzig und allein auf Grund des ökonomischen Kontakts ihrer Mitglieder zur Außenwelt Bestand hatte.⁸² Diese jüdischen Gemeinden lebten jedoch gemäß einer Tradition, die eine Absonderung von der Außenwelt verlangte und der Absonderung einen religiösen Wert beimaß: „Sie machte letztendlich deutlich, daß, wäre dies durchführbar, eine absolute Trennung zwischen Juden und Nicht-Juden wünschenswert sei.“⁸³ Die Mauer dieser Absonderung war jedoch auch für die Aschkenasim, wie bereits angedeutet, brüchig. Im Zuge gesellschaftlicher Umwälzungsprozesse der Mehrheitsgesellschaft, die den Staat nicht mehr als Zusammenschluss von Ständen, vielmehr als die Summe von Individuen betrachteten, nahm der Druck auf den Sonderstatus der jüdischen Gemeinden zu.⁸⁴ Das absolutistische Staatsverständnis förderte eine Ausweitung der Interde78 Vgl. Mayer, Diaspora, S. 49ff. 79 Katz, Tradition, S. 23. 80 Vgl. Katz, Tradition, S. 23. 81 Zu den demographischen, religiös-kulturellen und politischen Faktoren der religiösen und sozialen Trennung der Juden von der Gesellschaft vgl. insbes. Katz, Tradition, S. 23ff. 82 Vgl. Katz, Tradition, S. 41. 83 Katz, Tradition, S. 44. 84 Vgl. Katz, Tradition, S. 247.
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pendenz zwischen Juden und Nicht-Juden. Sie weitete sich vom wirtschaftlichen auf den sozialen Bereich aus. Die Ausweitung des Kontaktes, insbesondere auf den Gebieten der Bildung und Kultur, sollte für die jüdischen Gemeinden, ihre einzelnen Mitglieder und nicht zuletzt für das Schreiben Heines außerordentliche Bedeutung haben.⁸⁵ So unterstreicht Jakob Katz in seiner soziologischen Studie Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne, dass der entscheidend[e] Wendepunkt in der Geschichte der jüdischen Gesellschaft […] erst ein[trat], als ihre einzelnen Mitglieder ihre gesellschaftlichen Bestrebungen aus dem Kontext der eigenen Gemeinde in das nichtjüdische Milieu ihrer Umwelt verlagerten. Das geschah in dem Augenblick, in dem sie die nichtjüdische Gesellschaft nicht länger nur als das Feld ihrer Wirtschaftstätigkeit, sondern als Quelle sozialer Befriedigung betrachteten.⁸⁶ Diese neue Perspektive auf das nichtjüdische Umfeld bewirkte einen grundsätzlichen Wandel innerhalb der aschkenasischen Gemeinden des deutschsprachigen Raums. Ihren negativen Auswüchsen – unreflektierte Akkulturation bis hin zum Übertritt in die andere Religion – stehen notwendige Reformbewegungen innerhalb der Gemeinden entgegen, die jüdisches Leben in einer von Säkularisierung geprägten Zeit erhalten sollten.
85 Vgl. Katz, Tradition, S. 251. 86 Katz, Tradition, S. 251.
II Wandel des jüdischen Selbstverständnisses – Wandel des diasporischen Bewusstseins 1 Die neue Perspektive auf die Diaspora im 18. Jahrhundert – Innerjüdische Religionskritik und Exil Der kultursoziologische Blick auf das Phänomen der Zerstreuung zeigt den Eigenraum der jüdischen Diaspora eingebunden in ein Spannungsfeld zwischen Separation mittels eines religiös motivierten Selbstverständnisses einerseits und pragmatisch-überlebensnotwendiger Interaktion auf gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Gebiet andererseits.¹ Die Selbstverortung jüdischer Gemeinden außerhalb Israels und jedes einzelnen Juden ist flexibel zwischen diese Pole geschrieben, wie der Blick auf die Auseinandersetzung Heines mit dem diasporischen Bewusstsein der jüdischen Minderheit zeigen wird. Im 18. Jahrhundert bestimmten innere, aber vor allem äußere Faktoren den Grad der Absonderung (beziehungsweise der Interaktion) der jüdischen Gemeinden und ihrer Mitglieder von der Mehrheitsgesellschaft grundlegend neu. So sind zu Beginn des 18. Jahrhunderts verstärkt soziale Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden zu beobachten.² Moden, Bildung und Sitten des nichtjüdischen Umfelds fanden zunehmend Akzeptanz unter Juden, speziell unter der jüdischen Wirtschaftselite.³ Auch wenn diese Entwicklung ein urbanes Phänomen darstellt und es dem größten Teil der Landjuden gelang, bis spät ins 19. Jahrhundert hinein den Glaubensüberzeugungen und Praktiken der rabbinischen Tradition verbunden zu bleiben,⁴ wurden von dieser Entwicklung im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr Juden in den deutschen Staaten erfasst. Voraussetzungen dieser verstärkten Interaktion mit dem nichtjüdischen Umfeld waren sowohl politische als auch kulturelle Wandlungsprozesse in der Mehrheitsgesellschaft. Neben dem Ansinnen des nach absolutistischen Prinzipien zentralisierten Staates des 18. Jahrhunderts, sich den einzelnen Juden als demographischen Faktor und Wirtschaftsgröße nutzbar zu machen und aus diesem Grunde die seit Jahrhunderten unangetastete organisatorische Selbstständigkeit der jüdischen Gemeinden 1 Vgl. Mayer, Diaspora, S. 59. 2 Vgl. Jasper, Parnass, S. 29; Schulte, Aufklärung, S. 45; Graetz: Jüdische Aufklärung. In: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. 1: Tradition und Aufklärung: 1600–1780. Hrsg. v. Mordechai Breuer/Michael Graetz. München 1996. S. 252. 3 Vgl. Katz, Tradition, S. 251; Ders.: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770–1870. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1988. S. 54ff.; Schulte, Aufklärung, S. 45; Graetz, Aufklärung, S. 254ff. 4 Vgl. Meyer, Gemeinden, S. 96ff.
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durch neue Gesetze und individuelle Emanzipationsangebote an die Juden zu brechen,⁵ war es die europäische Aufklärungsbewegung mit ihrer selbstgestellten Aufgabe von der universalen Aufklärung des Menschen, welche die Minderheit in den Fokus nahm und auch im Namen dieser Bevölkerungsgruppe individuelle und gesellschaftliche Emanzipation forderte. Die Rechtsgleichheit aller Menschen wurde der Aufklärungsphilosophie zur Grundlage für den Aufbau einer auf der Vernunft basierenden Staats- und Gesellschaftsordnung.⁶ Doch anders als in Frankreich oder England, wo die Aufklärung auch Kritik an Kirche und Religion freisetzen konnte, stützte sich die deutsche Aufklärung weiterhin auf die christliche Überlieferung, um das Gebot humaner Sittlichkeit zu begründen.⁷ Darüber hinaus hielten sich antijüdische Ressentiments auch unter aufgeklärten Denkern.⁸ Im Hinblick auf die Realität jüdischen Lebens in den deutschen Staaten wurden die Ideale der Aufklärung zu „Schlagwörtern des pragmatischen Denkens“⁹ gewandelt, so war für die Befürworter der Judenemanzipation die Toleranzidee von Anfang an gleichgesetzt mit einer weitgehenden Assimilationserwartung gegenüber der Minderheit.¹⁰ Trotz des Mechanismus aus antijüdischem Ressentiment und Assimilationserwartung wurde die deutsche Debatte um die Emanzipation der Juden innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gehört, so entwickelte sich aus der europäischen Aufklärungsbewegung und dem jüdischen Rationalismus des Mittelalters die Haskala,¹¹ welche die Aufklärung, Bildung und bürgerliche Gleichstellung der Juden zum Ziel hatte.¹² Mit dieser, auf einige wenige säkular gebildete Intellektuelle zurückgehenden Strömung sollte auch das jüdische Verständnis der Diaspora grundlegend hinterfragt und neu ausgerichtet werden. Die Aufklärung, die diese jüdische Avantgarde betrieb, deren erste Vertreter sich im autodidaktischen Studium nicht-religiöse Wissensstoffe aneigneten,¹³ war eine Aufklärung der Juden als Juden, strebte also nicht die Selbstaufgabe des jüdischen Selbst-
5 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 19; Meyer, Gemeinden, S. 106ff. 6 Vgl. Jasper, Parnass, S. 25. 7 Vgl. Jasper, Parnass, S. 25. 8 Als berühmtes Beispiel ist hier Immanuel Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zu nennen. Siehe Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Immanuel Kants Werke in 6 Bänden. Bd. 6. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. 5. Aufl. Frankfurt a. M. 1983. – Vgl. auch Jasper, Parnass, S. 43ff. 9 Jasper, Parnass, S. 25. 10 Exemplarisch ist hier die an Mendelssohn gerichtete Aufforderung zur Taufe des Theologen Lavaters zu nennen. 11 Vgl. Jasper, Parnass, S. 25; Schulte, Aufklärung, S. 45. 12 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 13. 13 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 22; Graetz, Aufklärung, S. 279ff.; Meyer, Gemeinden, S. 118.
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verständnisses an.¹⁴ Der Haskala ging es vielmehr um die gleichberechtigte Teilhabe an der europäischen Aufklärung unter Beibehaltung der Eigenheit, der partikularen jüdischen Identität, Religions- und Volkszugehörigkeit.¹⁵ Den größten Erfolg konnten die Aufklärer dabei im Bildungsbereich verbuchen.¹⁶ Innerhalb weniger Jahrzehnte war der Widerstand gegen eine säkulare Schulbildung jüdischer Kinder von so geringem Einfluss, dass die Forderung der Haskala „Emanzipation durch Bildung“ entgegen dem ungebrochenen antijüdischen Ressentiment und entgegen fortbestehender rechtlicher und sozialer Diskriminierung, zum Erfolg werden konnte.¹⁷ Mit der Durchsetzung einer allgemein anerkannten Schulbildung öffneten sich die jüdischen Gemeinden dem nichtjüdischen Umfeld. So bildete die Orientierung jüdischer Intellektueller an der europäischen Aufklärungsbewegung die Basis jenes, in der Einleitung dargestellten jüdischen Projekts der Moderne, das zum einen durch Reformwillen die eigene Religion in einem säkularisierten Umfeld zu behaupten suchte, zum anderen durch verschiedene, an die Zeitverhältnisse angepasste kulturelle Formen kollektiver Selbstidentifikation jüdisches Selbstverständnis gegen den Assimilationsdruck sichern wollte. Dieser Wandel in der Ausbildung sollte auch die Erziehung Heines maßgeblich beeinflussen und sein jüdisches Selbstverständnis prägen. Die Gesetze und Rituale des altorthodoxen Judentums, die der Einhaltung des Gebots nach Separation der jüdischen Gemeinden in der Diaspora dienten, und die den religiös begründeten Grundsatz stützen, in der Fremde auszuharren, bis die Verbannung aufgehoben und die Strafe gesühnt sei,¹⁸ unterlagen der besonderen Aufmerksamkeit der Aufklärer. Gerade der Talmud als Grundpfeiler jüdischen Selbstverständnisses in der Diaspora galt den radikalen Maskilim nach Moses Mendelssohn, wie zum Beispiel Saul Ascher oder Lazarus Bendavid, als Hindernis einer tatsächlichen bürgerlichen Verbesserung der Juden und ihrer Eingliederung in die Mehrheitsgesellschaft.¹⁹ Das in vielen Teilen als sinnlos empfundene Regelwerk jüdischen Lebens sollte reformiert und den modernen Zeitverhältnissen angepasst werden, um den Ambitionen junger Juden in Staat, Beruf und Gesellschaft nicht länger im Weg zu stehen.²⁰ Im Sinne einer aufgeklärten Religionskritik, welche die Religion nicht überwinden, sie vielmehr reformieren und ihren Stellenwert im jüdischen Leben gleichberechtigt neben Aufklärung 14 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 26. 15 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 29. 16 Vgl. Meyer, Gemeinden, S. 118. 17 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 44. 18 Vgl. Michael A. Meyer: Jüdische Identität in der Moderne. Frankfurt a. M. 1992. S. 20; Jacob Katz: Exclusiveness and Tolerance. New York 1961. 19 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 38; Graetz, Aufklärung, S. 324ff. 20 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 40.
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und Bildung setzen wollte, stellte die späte Haskala den Offenbarungscharakter der Tora und ihre Geltung als oberste Norm jüdischer Existenz kritisch in Frage.²¹ Mit ihrer Diskussion um Offenbarung und den normativen Charakter von Tora und Talmud rüttelte die Haskala am Selbstverständnis des rabbinischen Judentums, stellte sie das Konzept des unfreiwilligen Exils mit seiner Charakterisierung als gottgewollt grundsätzlich infrage.²² Das Wort der Tora als geoffenbartes zu verwerfen und die Gesetze und Kommentierungen des rabbinischen Judentums nicht länger als absolute Norm jüdischer Existenz zu setzen, ist das Ergebnis eines langwierigen Prozesses innerhalb der jüdischen Aufklärungsbewegung, an dessen Ende auch die Perspektive der Negierung einer aus dem Willen Gottes begründenden diasporischen Existenz des Judentums steht. Erste einzelne Stimmen, gegen die Heiligkeit der Tora gewandt, fanden sich ein Jahrhundert vor der Haskala, zunächst mit Uriel Acosta²³ (gestorben 1640) und dann mit Baruch de Spinoza (1632–1677).²⁴ Beide jüdischen Freidenker verstanden das Prinzip der unbegrenzten Vernunft als richtungsweisend für das Leben, auch in Fragen der Religion.²⁵ Für die Tora und ihrem bisherigem Verständnis als geoffenbartes Wort Gottes sollte dieser Grundsatz folgenreich sein. Bereits die Vorrede zu Spinozas Tractatus theologico-politicus von 1670 argumentiert, „daß die Gesetze, die Gott dem Mose offenbart, nichts anderes waren, als einzig die Rechtsordnung des hebräischen Reiches und daß demnach außer ihnen auch niemand anders sie anzunehmen brauchte, ja daß sie selbst nur so lange, wie ihr Reich bestand, an sie gebunden waren“²⁶. Hier, in der Historisierung und Profanierung der Tora, die damit nicht länger den einzigartigen Charak-
21 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 48. 22 Der kritische Blick der Maskilim auf die rabbinische Tradition ist auch Ausdruck einer in der frühen Aufklärung einsetzenden Dichotomisierung des Verständnisses des Begriffs „Tradition“: „Tradition als das Wertvolle, Bewährte, Verbürgte steht gegen Tradition als das Versteinerte, Unproduktive, bloß dem jeweiligen Status quo Dienende. Die religiöse und die gesellschaftspolitische Dimension, beides in kaum verhüllter polemischer Konnotierung, bleiben dem Schlagwort eingeschrieben […].“ Siehe Barner, Einleitung, S. IXf. – Dieser dichotome Blick auf den Traditionsbegriff spiegelt sich auch in der jeweiligen Perspektive auf das Phänomen der jüdischen Diaspora wieder. Bewahrte sich im rabbinischen Judentum mit seinen als unverrückbar definierten Traditionen jüdisches Selbstverständnis im Separationsund Auserwähltheitsgedanken, galt das Normative dieser Tradition den Maskilim als schädlich für den Fortbestand der jüdischen Minderheit unter den Vorzeichen einer sich säkularisierenden Umwelt. 23 Vgl. Meyer, Identität, S. 24. 24 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 52ff.; Meyer, Identität, S. 24. 25 Vgl. Meyer, Identität, S. 24. 26 Baruch de Spinoza: Tractatus theologico-politicus. Amsterdam 1770. S. 16f. Zit. n. Schulte, Aufklärung, S. 53.
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ter immerwährender Gültigkeit besaß, wurde die erste Voraussetzung für jenen Wandel im diasporischen Bewusstsein geschaffen, der auch im Werk Heines zum Ausdruck kommt.²⁷ Als vergängliches, irdisches Dokument einer vergangenen Epoche wurde von Spinoza die gegenwärtige Relevanz der Tora und ihrer Kommentierung, die das Leben der altorthodoxen Juden in der Diaspora bis in den Alltag hinein strukturierten, bestritten.²⁸ Mit der Negation der Tora als heiligem Text und mit dem Hinterfragen der absoluten Normativität des Gesetzestextes für das diasporische Judentum geriet auch die Bedeutung des Tanach als identitätsstiftendes Moment der über den Erdball verstreuten jüdischen Gemeinden erstmals ins Zentrum philosophisch-kritischer Überlegungen. Den Maskilim, die größtenteils die Schriften Spinozas kannten,²⁹ wurden die Argumente des Philosophen zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zur Normativität des Gesetzes für das jüdische Selbstverständnis und das Bewusstsein um die Diaspora. Moses Mendelssohn (1729–1786), Leitfigur der modernen jüdischen Aufklärung³⁰, gelang es als Anhänger einer natürlichen Religion³¹ an der traditionellen Vorstellung von der Tora als geoffenbarter Gesetzgebung festzuhalten und den Talmud als notwendigen und integralen Bestandteil jüdischer Existenz zu verteidigen.³² Der zweite Teil seiner Schrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum (1783) widmet sich der daraus erwachsenden Problematik um die Vereinbarkeit von natürlicher Religion und Offenbarung.³³ Der Grundgedanke Mendelssohns ist dabei nicht nur eine Übereinstimmung der jüdischen Religion mit den universalen Kriterien der Vernunft. Er erklärt die jüdische Religion zur Aufklärungsreligion par excellence.³⁴ Mendelssohn trifft eine klare Unterscheidung innerhalb der jüdischen Religion zwischen den ewigen Wahrheiten von der Einheit Adonais − seiner Vorsehung und Notwendigkeit, die jedem Menschen kraft der Vernunft zugänglich sind − und dem am Sinai geoffenbartem Gesetz für die Juden.³⁵ Damit kommt der Tora und ihren Auslegungen im Talmud, die
27 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 53. 28 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 53. 29 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 55; Graetz: Aufklärung, S. 276f. – Zu Heines Einschätzung der spinozistischen Philosophie als wegbereitend für die Moderne vgl. Willi Goetschel: Heines Spinoza. Ent/Mythologisierung der Philosophie als Projekt der Entzauberung und Emanzipation. In: Kruse [u. a.], Aufklärung, S. 581. 30 Vgl. Jasper, Parnass, S. 30ff. 31 Vgl. Michael A. Meyer: Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 1749–1824. München 1994. S. 21f. 32 Vgl. Jasper, Parnass, S. 32f.; Schulte, Aufklärung, S. 56ff.; Graetz, Aufklärung, S. 270ff. 33 Vgl. Graetz, Aufklärung, S. 272. 34 Vgl. Meyer, Identität, S. 27. 35 Vgl. Graetz, Aufklärung, S. 273.
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das Leben der diasporischen Juden regelten, plötzlich eine partikularistische Bedeutung zu.³⁶ Des Weiteren argumentiert der Text Mendelssohns, dass Tora und Talmud die Juden in der Zerstreuung nicht nur vereinen, dass die Schriften diese darüber hinaus anhalten sollen, die Vernunftwahrheiten der natürlichen Religion zu erfassen, bis diese zum Glaubensfundament der gesamten Menschheit geworden sind.³⁷ So ist etwa die Einhaltung des Gesetzes nicht mehr alleiniger Sinn jüdischen Lebens in der Diaspora, sondern (nur noch) notwendiger Teil eines Erkenntnisprozesses um universal gültige Moral und Menschrechte. Hinzu tritt eine Argumentation, nach der die Einhaltung der Gesetze der Tora und des Talmud in der Diaspora nicht an äußere Strafen gebunden ist, vielmehr allein aus innerer Gesinnung und Überzeugung hervorgeht.³⁸ So lässt Mendelssohn den Gesetzen, unter denen die Juden in der Diaspora vereint sind, zwar ihren Offenbarungscharakter, doch verlieren sie ihren Status als absolute normative Kraft jüdischer Existenz. Auch die für das rabbinische Judentum fundamentale Überzeugung, dass das Volk in der Diaspora des Messias harrt, ist den universalen Vernunftwahrheiten der natürlichen Religion untergeordnet. Mit Blick auf die anderen monotheistischen Religionen, die derselben universalen Rationalität unterworfen sind, verliert die jüdische Religion im Selbstverständnis der Maskilim ihren singulären Status. War der Offenbarungscharakter des Gesetzes für Mendelssohn weiterhin gesetzt, vollzog sich in der Generation der Maskilim nach seinem Tod der offene Bruch mit dem normativen Anspruch des Talmuds unter Rückbezug auf den Tanach als der singulären Quelle der jüdischen Religion.³⁹ Saul Ascher (1767– 1822) stellte nur sechs Jahre nach Mendelssohns Tod die Maxime auf, die jüdische Religion vom „Ballast“ halachischer Tradition zu befreien. Seine kritische Schrift Leviathan oder Ueber Religion in Rücksicht des Judenthums von 1792 greift die Tora und ihren Status als Offenbarung selbst an.⁴⁰ Mit Bezug auf Spinoza werden die Tora und ihre Kommentierungen auf ihre historische Rolle bei der Herausbildung des Volks der Juden reduziert. Argumentiert der Text Aschers auch nicht völlig antireligiös, interpretiert er die Tora doch als eine Art pädagogische Maßnahme Adonais’, die dem damaligen Hirtenvolk der Hebräer angemessen war und schätzt er die Gesetze in der Gegenwart von 1792 in erster Linie als Hindernis in der reellen bürgerlichen Verbesserung der Juden ein.⁴¹ Der Tora als historischem Text obliegt
36 Vgl. Graetz, Aufklärung, S. 273. 37 Vgl. Graetz, Aufklärung, S. 274. 38 Vgl. Graetz, Aufklärung, S. 274. 39 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 67. 40 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 68. 41 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 70f.
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es nicht länger, die intellektuelle und gesellschaftliche Entwicklung der Juden zu behindern, die das Emanzipationsangebot des Umfelds wahrnehmen möchten. Als unzeitgemäßes Dokument eingeschätzt, können die Gebote der Tora und ihrer Kommentare mittels menschlicher Autonomie und durch Emanzipation und Aufklärung legitimiert, reformiert oder auch abgeschafft werden.⁴² Diese Überlegungen Aschers verweisen nicht allein auf Spinoza als Quelle der Argumentation. Dass für Ascher die Religion letztendlich Menschwerk ist und dem Primat der praktischen Vernunft unterliegt, verweist auf Kant und dessen Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft.⁴³ Der Bruch Aschers mit dem Offenbarungscharakter der Bücher Mose verdeutlicht die durch die Überlegungen Kants ausgelöste Erosion der metaphysischen Grundlage der natürlichen Religion.⁴⁴ Diese ersetzt Kant durch den moralischen Imperativ, auf den sich ein neuer Vernunftglaube gründet. Aschers Überzeugung, dass „es [das Judentum, Anm. d. Verf.] auf einer wahren Autonomie des Willens gegründet ist“⁴⁵, impliziert, dass die jüdische Religion nicht aus einer göttlichen Stiftung oder Fügung hervorgegangen ist, vielmehr dass sie zurückgeht auf die Konstitutionsleistung der praktischen Vernunft gläubiger Juden.⁴⁶ Die Überlegung des Maskil hebt deutlich die Überzeugung der jüdischen Aufklärer hervor, dass es kein jüdisches Wesen im eigentlichen Sinne, keine der Vernunft unzugängliche Stammesbindung gibt, die die Juden vereint und nach außen hin absondert.⁴⁷ Ascher, der einen Ersatz für das geoffenbarte Gesetz als Grundlage der jüdischen Religion sucht, betont zunächst dessen Distanz zu einer reinen natürlichen Religion. Diese Distanz komme, so Ascher, in bestimmten Dogmen zum Ausdruck, die das Wesen jüdischer Existenz über die Jahrhunderte ausmachten und den einzigen Grund für deren Bewahrung boten.⁴⁸ Diese Dogmen, im Gegensatz zu denen des Christentums, beeinträchtigen die Freiheit des Denkens und Handelns nicht. Sie zeigen die jüdische Religion im Sinne der Aufklärung als den Prinzipien der Vernunft folgend.⁴⁹ Ascher gemäß bildet das Judentum: […] ein Glied in der Familie der Religionen […], mit einigen Besonderheiten, durch die es sich von den anderen unterschied. Sein Wesen ließ sich in Dogmen fassen, von denen einige
42 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 71. 43 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 165; Christoph Schulte: Kant in der Philosophie der jüdischen Aufklärung. In: Kant und die Berliner Aufklärung. Berlin 2001. S. 204ff. 44 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 100. 45 Saul Ascher: Leviathan oder Ueber Religion in Rücksicht des Judenthums. Berlin 1792. S. 229. 46 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 69. 47 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 100. 48 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 142. 49 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 143.
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universal, andere partikular sind, von denen aber keines mit der Vernunft in Konflikt geriet. Indem der aufgeklärte Jude diese Dogmen, diese Glaubenssätze anerkennt, kann er […] die zerfallene korporative Identität durch eine nur auf die Religion gegründete ersetzen.⁵⁰
Das Gebot der Absonderung, das das Leben des altorthodoxen Judentums bis in den Alltag hinein bestimmte, fiel nicht unter diese wesensbestimmenden Dogmen. Es verblasste vor einem universalistischen Prinzip, das die Gleichheit der Menschen statt ihrer Verschiedenheit betonte. Lazarus Bendavid (1762–1832), auch er Maskil der Generation nach Mendelssohn⁵¹, bewertete Tora und Talmud ähnlich wie Ascher. Der Tora sprach er eine historische Bedeutung zu, den Talmud und die rabbinische Tradition schätzte er als Verirrung ein.⁵² In seiner Schrift Etwas zur Charackteristick der Juden (1793) ordnet er den Talmud und das rabbinische Judentum als negative Konsequenz des Lebens von Juden als rechtlose und verfolgte Minderheit in der Diaspora ein und verbindet somit die bedrückende Lage der Juden als Minderheit mit ihrem soziopolitischen Status − ein Gedankengang, den Heine in seinem Werk literarisch verarbeiten wird.⁵³ Das Festhalten am Prinzip der Offenbarung sowie an der normativen Kraft der Gesetze des Talmud wird Bendavid zum Merkmal jener Traditionalisten, denen er in seiner Schrift zynisch begegnet, wenn er in ihrem „Aussterben […] die einzige Hoffnung für die Nachkommenschaft“⁵⁴ sieht. Den Talmud, schützender Zaun der Tora und der jüdischen Existenz in der Zerstreuung, gilt es niederzureißen und allein der Bibel als religiöser Quelle zu folgen. Des Zaunes zum Schutz vor Akkulturation in die Mehrheitsgesellschaft bedarf es in einer von Emanzipation und Vernunftreligion geprägten Gesellschaft nicht länger. Er wird, so Bendavid in seiner Aufforderung an die jüdische Minderheit, als Relikt einer vergangenen Epoche vielmehr zum Hindernis für die Gegenwart: Drehet das Blat um! Wie ganz anders muß es da aussehn. Der Staat will euch wohl, will euer Bestes, und ihr zeugt euch seiner Güte würdig; ihr schaffet alles sinnlose Ceremonialgesetz ab, sagt euren Kindern, was ihr alle sehr wohl wißt, daß es nur als Zaun um den eigentlichen Garten eingesetzt worden sey; daß das, was für den Sklavensinn voriger Jahrhunderte ein gar bequemes Mittel zur Schonung des Innern gewesen, jetzt nicht mehr passe, noch sich üben lasse; daß ihr den Zaumn aufgeben wollt, wenn das Innere unangetastet bleibt, und
50 Meyer, Mendelssohn, S. 144. 51 Vgl. Jasper, Parnass, S. 74ff. 52 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 72. 53 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 73. 54 Lazarus Bendavid: Etwas zur Charackteristick der Juden. Leipzig 1793 [Neudr. Jerusalem 1994]. S. 47.
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gestehet ihnen, daß die reine Lehre Mosis, die Lehre der natürlichen Religion, das Fußgestell eures Glaubens sey.⁵⁵
Hier wird nicht nur das traditionell positive Bild vom Talmud als dem schützenden Zaun⁵⁶ negativ konnotiert. Auffällig ist auch, dass Bendavid eine Charakterisierung der in der Diaspora lebenden Juden als Sklaven vornimmt, ihnen in seinen weiteren Erläuterungen die Mentalität von Sklaven als ihren Hauptfehler zuschreibt, der bis in die Gegenwart fortwirkt und ihr Verhältnis zu Christen, Staat und zur Aufklärung beeinträchtigt:⁵⁷ Der erste Hauptfehler der Juden ist der des Sklaven. Beneidung seines Gebiethers, Verachtung seiner Mitsklaven. […] Nicht Gesetze seiner Religion, nicht Meynungen seiner Thalmudisten lehrten den Juden den Nichtjuden haßen und beeinträchtigen. Der Tyrann zwang den Sklaven dazu; und der Jude that hier nichts anders, als was jeder Mensch thut, der aus Furcht vor Strafe Gutmüthigkeit heuchelt.⁵⁸
Der jüdischen Existenz, die sich über die Jahrhunderte im normativen Gesetz und zyklisch widerkehrenden Ritual als außerzeitliche und ewig gültige Gemeinschaft erlebt, wird hier versucht unter historischem Blickpunkt beizukommen. Die von Bendavid unterstellte moralische Degeneration, die im absoluten Gegensatz zum Gedanken der Auserwähltheit des Judentums steht, und die darüber hinaus einer Hinwendung zur Aufklärung hinderlich sei, wird als Ergebnis der jüdischen Geschichte in der Zerstreuung gezeichnet.⁵⁹ Dieser historische Blickwinkel auf das jüdische Leben in der Diaspora und der aus ihr abgeleitete Schluss eines degenerierten Zustands der jüdischen Gemeinschaft sind indes nicht neu. Bereits Christian Wilhelm Dohm hatte in seiner Emanzipationsschrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781) argumentiert, dass der gegenwärtige Zustand der jüdischen Minderheit, von ihm als miserabel eingeschätzt, aus der Geschichte der Juden in Diaspora als einer Geschichte der Unterdrückung abzuleiten sei.⁶⁰ Dohm führt erstmals eine säkulare Betrachtungsweise der jüdischen Geschichte an, die die Misere der Juden nicht, wie von Seiten der christlichen
55 Bendavid, Charackteristick, S. 64–66. 56 Vgl. Günter Stemberger, Talmud, S. 83ff. – Zu diesem Bild vgl. auch Kapitel VI.4.3. – Heine äußert sich in einem ähnlichen Bild wie das traditionelle des Zaunes um die Tora zum Talmud. Er spricht von der „Dornenhecke“ (B VII, S. 41). 57 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 107. 58 Bendavid, Charackteristick, S. 14f. 59 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 108. 60 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 108.
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Theologie behauptet, auf die Strafe Gottes für die Ermordung Christi zurückführt, vielmehr verweist er allein auf soziopolitische Ursachen.⁶¹ Bendavid greift in seiner Kritik an der zeitgenössischen jüdischen Existenz das diasporische Selbstverständnis des altorthodoxen Judentums direkt an. Das Trauma der jüdischen Nation, der Verlust von Tempel und Land, wird ihm zum Auslöser religiöser Überkompensation, welche allein eine theologische Interpretation des Phänomens der jüdischen Diaspora zulasse.⁶² Die Zerstreuung allein theologisch, als Folge des Vergehens des Volkes Israel gegen Adonais Gebot zu interpretieren, die nur mittels Frömmigkeit und religiösem Eifer zu überwinden ist, bedeutete nicht nur die Geburtsstunde des rabbinischen Judentums.⁶³ Mit dieser von Bendavid als Fehlinterpretation der Tempelzerstörung klassifizierten Einschätzung der Zerstreuung bildet sich, so die weitere Argumentation, jener Separationsgedanke heraus, der den Aufklärungs- und Emanzipationsbestrebungen der Maskilim im Wege steht.⁶⁴ Das Prinzip der Absonderung, über die Jahrhunderte zentrales Element jüdischen Selbstverständnisses in der Diaspora, wird im Zuge des Universalismus der europäischen, in der Mehrheitsgesellschaft verankerten, Aufklärungsbewegung kritisch in Frage gestellt. Dieses Prinzip, welches das jüdische Selbstverständnis in ihrer vormodernen Form prägte, wird mit der Haskala ausgehöhlt. Die Elemente der Separation⁶⁵ − die Juden als auserwähltes Volk Gottes, das erlittene Exil als Ursache der eigenen Sündhaftigkeit, der erhoffte Messias aus ihrem Stamm, der über die Völker der Erde herrschen würde − als Zeichen eines partikularistischen Denkens negativ von den Maskilim eingeschätzt, werden mit Blick auf eine aus der Vernunft legitimierten Religion zum Hindernis der Emanzipation erklärt. Das rabbinische Judentum und seine Schriften, die dem Trauma des Verlustes von Tempel und Staat das Wort entgegensetzten und auf diese Weise das Überleben diasporischer Existenz über die Jahrhunderte sicherten, werden dem Maskil zu einer der Ursachen von Fehlentwicklungen und Missständen innerhalb der Minderheit, der Ausbildung von Religionshass und Intoleranz, der gesellschaftlichen Trennung von Juden und Christen sowie der Verarmung der Wissenschaften und Künste.⁶⁶ Das altorthodoxe Judentum und sein diasporisches Selbstverständnis bildet somit das Negativ eines von der Aufklärung geprägten Bildes jüdischen Selbstbewusstseins. Erst unter den Nachfolgern der Maskilim,
61 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 108. 62 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 110. 63 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 110. 64 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 111. 65 Vgl. Meyer, Identität, S. 20. 66 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 113.
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den „Wissenschaftsjuden“⁶⁷, sollte das altorthodoxe Judentum wieder eine Aufwertung erfahren, die sich auch im Werk Heines niederschlägt.
2 Im Bann des 19. Jahrhunderts – Abkehr vom religiös motivierten Diasporaverständnis unter den „Wissenschaftsjuden“ Gut dreißig Jahre nach dem Erscheinen der Schrift Etwas zur Charackteristick der Juden wurde Lazarus Bendavid die Ehrenmitgliedschaft des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden [künftig „Culturverein“] angetragen.⁶⁸ Wie in den Reflexionen der Maskilim über das Judentum fand in diesem Verein, der im November 1819 in Berlin gegründet wurde, das Ringen um ein modernes jüdisches Selbstverständnis erneut konkreten Ausdruck − allerdings unter den Vorzeichen der besonderen Zeitverhältnisse und Diskurse des 19. Jahrhunderts. War für die Aufklärung die Philosophie der Königsweg zum Welt- und Selbstverständnis, sah das beginnende 19. Jahrhundert den Schlüssel zur Erkenntnis im philosophischen Idealismus, in der Romantik und der historischen Kritik.⁶⁹ Der Rationalismus der Aufklärung geriet diesen Strömungen zum oberflächlichen und unzugänglichen Weg im Verständnis der Wirklichkeit.⁷⁰ Noch immer war den akkulturierten Juden, unter ihnen auch die Mitglieder des Culturvereins, die Frage nach dem Wesen jüdischer Existenz in einer säkularisierten Zeit nur ungenügend beantwortet − trotz der von der Haskala ausgelösten innerjüdischen Reformbewegung. Eine Beantwortung dieser Frage und eine befriedigende Lösung ihrer Selbstzweifel wurden ihnen vor dem Hintergrund wachsender antijüdischer Ressentiments in der nachnapoleonischen Ära immer dringlicher, sahen sie sich doch der Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft gegenüber dem von der Haskala forcierten Selbstbildes der Juden ausgesetzt.⁷¹ Die von den Maskilim aufgestellte Maxime, das Wesen des Judentums sei bloße Konfession und entbehre jeglicher nationalen Besonderheit, wurde von führenden Stimmen eines aufkeimenden deutschen Nationalismus nicht anerkannt.⁷² Der von der Aufklärung forcierte Emanzipationsprozess, der die Juden als gleichberechtigte 67 Begriff geprägt von Heine in seinem Brief vom 27. Juni 1823 an Leopold Zunz. In: HSA XX, S. 103. 68 Vgl. Schulte, Kant, S. 211. 69 Vgl. Michael A. Meyer: Jüdisches Selbstverständnis. In: Brenner [u. a.], Neuzeit, Bd. 2, S. 136. 70 Vgl. Meyer, Selbstverständnis, S. 135. 71 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 161. 72 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 162.
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Staatsbürger sah, die allein in der Privatsache des Glaubens von ihrem christlichen Nachbarn unterschieden waren, war ins Stocken geraten. Die Antwort auf die abwehrende Haltung des dominanten Diskurses bezüglich eines jüdischen Selbstverständnisses, das sich aus den Prinzipien der Aufklärung konstituierte, war eine Anpassung dieses Selbstverständnisses an die Aufklärungskritik des 19. Jahrhunderts, die, zunächst problematisch für das jüdische Selbstverständnis, fortdauernden Ausdruck fand in historischer Untersuchung und religiöser Ideologie (zum Beispiel Reformbewegung).⁷³ Die zunehmende Judenfeindlichkeit in den deutschen Staaten seit den Befreiungskriegen wuchs sich im Sommer 1819 zu Krawallen gegen die Minderheit aus, die bis zum Herbst im ganzen deutschen Gebiet wüteten. Diese ließen die Zahl der Konversionen zur christlichen Staatsreligion wieder ansteigen.⁷⁴ Es schien, als wäre die mühselige Arbeit an der politischen und religiösen Reform vergeblich gewesen, als sei das Judentum als „eine Religion neben anderen“ den assimilierten Juden nicht mehr wert, dass man um seinetwillen in Bedrängnis geriet.⁷⁵ In dieser Stimmung der Hep-Hep-Krawalle des Jahres 1819 gründete sich der Culturverein.⁷⁶ Dessen Initiatoren waren diskriminierte Akademiker, die, trotz ihrer Ausbildung an deutschen Universitäten, durch preußische Gesetze aus Wissenschaft, Ämtern und Berufen fern gehalten wurden. Der von der Haskala forcierte Weg, durch Bildung einen anerkannten Platz in der bürgerlichen Gesellschaft einzunehmen, führte nicht an das gewünschte Ziel. Der Staat verwehrte es durch das Gesetz. Wie in den Jahrhunderten zuvor schien allein der Übertritt zur Staatsreligion den Eintritt in das Bürgertum und den gesellschaftlichen Aufstieg zu ermöglichen, dagegen nicht das in der Aufklärung formulierte natürliche Recht der Gleichheit. Pointiert formulierte das Vereinsmitglied Joel Abraham List in seinem in der ersten Sitzung des Culturvereins vom 7. November 1819 vorgelesenen Schreiben den zentralen Konflikt einer von kultureller Angleichung und Emanzipationsbestrebungen geprägten jüdischen Existenz: „Wozu ein eigensinniges Verbleiben bei etwas, das ich nicht achte und worunter ich so sehr leide?“⁷⁷ Es müsse, um diesem Konflikt begegnen zu können, „eine Quintessenz des Judentums ausfindig [gemacht werden], mit der sie sich identifizieren konnten“⁷⁸, ein Selbstver73 Vgl. Meyer, Selbstverständnis, S. 136. 74 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 165. 75 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 165. 76 Vgl. Meyer, Selbstverständnis, S. 137. 77 List in seinem Schreiben an den Culturverein vom 7. November 1819. Zit. n. Siegfried Ucko: Geistesgeschichtliche Grundlagen der Wissenschaft des Judentums (Motive des Kulturvereins vom Jahre 1819). In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 5 (1935). S. 11. 78 Meyer, Selbstverständnis, S. 137.
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ständnis entwickelt werden, „[das] es wert wäre, gegen die fortdauernde Feindseligkeit von außen bewahrt zu werden“⁷⁹. Anders als der in Haskala, könne diese Quintessenz eines jüdischen Selbstbewusstseins nicht allein mit einer Reform der Religion herausgefiltert werden. Distanziert von der genuin religiösen Bedeutung des Begriffs, suchten sie nach einer kulturgeschichtlichen Definition jüdischen Selbstverständnisses.⁸⁰ Diese neue Perspektive auf das jüdische Bewusstsein formuliert exemplarisch Immanuel Wohlwill in seinem 1822 veröffentlichten Aufsatz Über den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums: Wenn von einer Wissenschaft des Judenthums die Rede ist, so versteht es sich von selbst, daß hier das Wort Judenthum in seiner umfassendsten Bedeutung genommen wird, als Inbegriff der gesamten Verhältnisse, Eigenthümlichkeiten und Leistungen der Juden, in Beziehung auf Religion, Philosophie, Geschichte, Rechtswesen, Litteratur überhaupt, Bürgerleben und alle menschlichen Angelegenheiten; − nicht aber in jenem beschränkteren Sinne, in welchem es nur die Religion bedeutet.⁸¹
Die Religion ist hier nur noch Teil eines jüdischen Selbstverständnisses, dessen „Wesen“⁸², dessen „bleibendes Sein“⁸³ und „ewiges Innere“⁸⁴ es zu analysieren gilt.⁸⁵ Dass der Verein dieses jüdische Bewusstsein nicht konkret zu bestimmen wusste, war einer der Gründe für sein baldiges Scheitern. 79 Meyer, Selbstverständnis, S. 138. 80 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 50. 81 Immanuel Wolf [Wohlwill]: Über den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums. In: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums. Hrsg. v. Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden. (Redakteur Zunz Dr.). Berlin 1823 [Nachdr. Hildesheim/New York 1976]. S. 1. 82 List in seinem Schreiben an den Culturverein vom 7. November 1819. Zit. n. Ucko, Grundlagen, S. 10. 83 Ebd. 84 Ebd. 85 Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Wesen des Judentums sind Leo Baecks einführende Worte zu seiner gleichnamigen und grundlegenden Studie anzuführen, die nicht nur auf die diasporische Existenz verweisen, sondern die jüdische Geschichte, ähnlich wie die postmoderne Perspektive, als heterogen beschreibt: „Das Judentum blickt auf eine Geschichte von Jahrtausenden zurück. Es hat in der Zeit viel gelernt und viel erfahren. In seinen Gedanken lag immer der Zwang des Weiterdenkens, der gebietende Drang der Bewegung. […] So hat das Judentum seine Wanderungen und damit seine Wandlungen gehabt; das Schicksal seines Volkes ist auch ihm zum Geschicke geworden. Eine Fülle verschiedenartiger Erscheinungen und Formen wohnt daher in dem weiten Lande seiner Geschichte. […] Das Wesen wird durch das, was errungen worden ist und erhalten blieb, bezeichnet. Ein solch Bleibendes, Wesentliches hat das Judentum, trotz seiner vielgestaltigen Gebiete, trotz seinen schwankenden Zeiten. Sie alle besitzen darin ihr Gemeinsames, sie haben eine Einheit ihres Denkens und Empfindens und damit die innerliche Verbindung ihrer Existenz. Das Bewußtsein, eine eigene Welt zu besitzen, diese seelische Kraft, welche die zerstreuten Tage zusammenhält, war in ihnen immer
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Doch was bedeutet der philosophisch und historiographisch angelegte Versuch einer Beantwortung der Frage nach dem Wesen jüdischen Selbstverständnisses für das Bewusstsein jüdischer Existenz in der Diaspora, das sich traditionell dem religiösen Selbstverständnis einbindet? Wohlwill stellt in seiner systematischen Geschichtskonstruktion, die er in Ueber den Begriff des Judenthums formuliert und die stark am Hegelschen Geschichtskonzept orientiert ist, die Situation der Juden in der Diaspora ähnlich dar wie die jüdischen Aufklärer.⁸⁶ Geregelt durch die Gesetze des Talmud, die es durch und durch prägten, wand sich das jüdische Leben in der Diaspora mit zunehmender Bedrängnis und Verfolgung mehr und mehr nach innen, ins Häusliche und Familiäre. Je mehr „Unglück, Druck und Verfolgung“ der Minderheit anwuchsen, umso stärker wuchs als „kindliche Hoffnung“ einerseits die messianische Zukunftserwartung, umso enger drängten sich andererseits „die Leidensgefährten an einander, und desto fester halten sie alles, was ihnen als Zeugnis einer seligen Vergangenheit geblieben ist“⁸⁷. Dieser Zustand tendierte jedoch, so Wohlwill, zu Dogmatismus und Erstarrung. Im dogmatischen Festhalten der Rabbiner an den talmudischen Gesetzen, in der Abgrenzung von der modernen Wissenschaft und Philosophie und in der mithin als selbstverschuldet eingeschätzten Separation von der bürgerlichen Gesellschaft sieht Wohlwill die Tendenz der Erstarrung bis in die Gegenwart des 19. Jahrhunderts wirksam. Separation und Erstarrung gelte es aufzulösen und die überständigen Strukturen und Dogmen der rabbinischen Tradition abzuschaffen. Hier wird deutlich gezeigt, dass die in der Haskala begonnene kritische Auseinandersetzung mit dem normativen Anspruch des Gesetzes von den „Wissenschaftsjuden“ des Culturvereins weiter geführt wird. Auch die Mitglieder des Culturvereins, unter ihnen Heinrich Heine, schätzen das in der Diaspora bis dahin als existenziell empfundene Gebot der Absonderung nicht länger als normativ für den individuellen Lebensweg und das kollektive Bewusstsein jüdischer Existenz ein:⁸⁸ „Unser Menschliches kennt keine äußeren Grenzen mehr und will sich daher auch von innen nicht bloß aufs Nationelle beschränken lassen.“⁸⁹
rege. Sie alle haben ihre religiöse Heimat, in der sie leben.“ Siehe Leo Baeck: Das Wesen des Judentums. 5. Aufl. Darmstadt 1991. S. 1f. 86 Vgl. Anne-Maximiliane Jäger: Abraham und Isaak. Jüdische Identität und Emanzipation in Heines „Der Rabbi von Bacherach“. In: Differenz und Identität. Heinrich Heine (1797–1856). Europäische Perspektiven im 19. Jahrhundert. Tagungsakten des Internationalen Kolloquiums zum Heine-Gedenkjahr. Hrsg. v. Alfred Opitz. Trier 1998 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 41). S. 152f. 87 Wolf [Wohlwill], Begriff, S. 8. 88 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 52. 89 List in seinem Schreiben an den Culturverein vom 7. November 1819. Zit. n. Ucko, Grundlagen, S. 10.
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List begrüßt diesen Öffnungsprozess jedoch nicht uneingeschränkt. Er weist auf die Gefahren der Akkulturation hin: „Wir schließen uns nicht mehr so aus, und werden nicht mehr so ausgeschlossen, als vormals. Es löset sich daher immer ein Mitglied nach dem anderen von der Masse, und ihr droht endlich eine gänzliche Auflösung.“⁹⁰ Das Dilemma, in dem sich die akkulturierten Juden des 19. Jahrhunderts bewegten – eine als unausweichlich empfundene Anpassung an das Umfeld, welche das Gebot der Absonderung diasporischer Existenz längst außer Kraft gesetzt hat, die jedoch gleichzeitig die Bindung an das jüdische Selbstverständnis schwächt – versucht der Culturverein durch die Ausbildung eines „grundlegende[n] Bewusstsein[s] vom Judentum als einem untrennbaren Teil der eigenen Existenz“⁹¹ zu lösen. „Wir haben also eine klare Idee unseres Daseins“, erläutert List: […] und zwar unseres gemeinschaftlichen Daseins, weil wir sonst nicht mehr wir, also gar nichts wären. Nun ist es aber das Eigentümlichste der Idee, daß das Notwendige in ihr zugleich möglich, und das Mögliche zugleich notwendig ist. Fühlen wir nun innere Notwendigkeit unseres Fortbestandes, so ist die innere Möglichkeit desselben unleugbar. Und machen wir selbst, meine Freunde, nicht den unwiderlegbaren Beweis dieser Wahrheit? Was aber von uns gilt, muß auch von tausenden unserer Mitbrüder gelten, und so hätten wir denn eine wahre Idee von unserer inneren Einheit, und diese zu verallgemeinern oder äußerlich möglich zu machen, soll unser Streben sein, wollen wir zum letzten Zweck unsers Verein setzen. […] Allein, meine Freunde, wir fühlen und erkennen, daß das, was unserer Nation eigentümlich ist, unsere reine Nationalität, keine bloße Frucht der Zeit, keine vorübergehende Erscheinung ist.⁹²
Das grundlegende Bewusstsein vom Judentum, das im Einzelnen aber auch in der jüdischen Gemeinschaft existent ist, galt es dem Culturverein zu erklären. In dem Schreiben Lists wird die Zugehörigkeit des Vereins zu den intellektuellen Diskursen des 19. Jahrhunderts exemplarisch ausgedrückt: Das Wesen des Judentums ist dessen Mitgliedern, im Gegensatz zu den Maskilim, nicht länger die Religion. Auf die Behauptung der Romantiker, die Juden seien ein Volk und nicht bloße Konfession reagiert der Verein, anders als die Reformbewegung, mit Bejahung. Im Nationalen beziehungsweise in der in der Romantik entwickelten Vorstellung von der „Volksthümlichkeit“, also im Raum der Kultur, sieht List das grundlegende Bewusstsein vom Judentum destilliert.⁹³ So erlangen die am intel90 Ebd. 91 Meyer, Mendelssohn, S. 189. 92 List in seinem Schreiben an den Culturverein vom 7. November 1819. Zit. n. Ucko, Grundlagen, S. 10f. 93 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 189.
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lektuellen Diskurs der Mehrheitsgesellschaft orientierten Begrifflichkeiten zentrale Bedeutung im Versuch, das Verständnis der Juden als Gemeinschaft trotz eines säkular geprägten Selbstbewusstseins zu garantieren.⁹⁴ Auch Moses Moser, ein weiteres Gründungsmitglied, sieht in seinem Memorandum vom 7. November 1819 die primäre Aufgabe des Vereins „in der Aufarbeitung der jüdischen Kulturtradition, die zur Entwicklung eines neuen Kulturbewusstseins und […] zur Bestimmung des ‚Wesens‘ des Judentums beitragen sollte“⁹⁵. Mit Blick auf die Geschichte des Vereins ist jedoch zu konstatieren, dass die abstrakten Begrifflichkeiten um das „Wesen“ des Judentums, um dessen „gefühlte Volkstümlichkeit“ nicht weiter konkretisiert werden konnten.⁹⁶ Will man sich jedoch der jüdischen Kulturtradition nähern, bedeutet dies in erster Linie eine Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte und ihren kulturellen Zeugnissen in der Diaspora, der von ihr geprägten Religion und ihren Lebensformen.⁹⁷ Das Studium der jüdischen Geschichte „in den traurigen Zeiten ihrer Zerstreuung“⁹⁸ gilt daher auch als vorzügliche Aufgabe jener vom Verein initiierten Wissenschaft des Judentums. „[E]igene Aufklärung“ und „Berichtigung der heillosen Irrtümer“⁹⁹ des Gegners sei notwendig, um einen Ausgleich zu schaffen zwischen der jüdischen Kultur und ihrem Umfeld, sprich der europäischchristlichen Kultur.¹⁰⁰ Unter diesem Ausgleich versteht der Verein nicht das Aufgehen der Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft, sondern das gleichberechtigte Bestehen der Kulturen nebeneinander.¹⁰¹ Mit der Vorgabe einer historiographischen Darstellung jüdischer Geschichte schuf der Verein ein Fundament moderner jüdischer Existenz, das den akkulturierten Juden die Brücke zu einem Gefühl des Zusammenhalts baute, als die Halacha und mit ihr das religiöse Bewusstsein diasporischer Existenz ihres normativen Charakters verlustig gegangen waren.¹⁰² Auch Heinrich Heine wird hier den Zugang zu seinem jüdischen Erbe finden. Im Erschließen des kulturellen Gehalts und der Geschichte jüdischer Existenz folgt der Verein dem Wissenschaftsideal des 19. Jahrhunderts.¹⁰³ Wilhelm von Humboldt definiert die Wissenschaft nicht länger als Mittel der Erkenntnis, sondern spricht ihr Selbstzweck zu, bildet sie den Einzelnen doch „zu einem 94 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 53. 95 Grundmann, Rabbi, S. 53f. 96 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 189f. 97 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 190. 98 Moser in seinem Memorandum vom 7. November 1819. Zit. n. Ucko, Grundlagen, S. 16. 99 Ebd. 100 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 190. 101 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 190. 102 Vgl. Meyer, Selbstverständnis, S. 145. 103 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 54.
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geistig und seelisch gesunden Charakter“¹⁰⁴ aus. Statt Moralismus und rhetorischem Gestus, welche die Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts bestimmten, folgt die moderne Geschichtswissenschaft dem Prinzip der Objektivität. Mit dieser Maxime erweitert sich auch der Geschichtsbegriff. Für die Arbeit des Vereins war das neue Postulat bedeutsam, die Geschichte eines Volkes nicht nach äußeren Kriterien zu beurteilen, vielmehr jede Kultur aus sich heraus verstehen zu wollen.¹⁰⁵ Bereits 1818 fordert Leopold Zunz, einer der führenden Köpfe des Vereins, in seiner Schrift Etwas über die rabbinische Litteratur die Anwendung der neuen wissenschaftlichen Methoden des 19. Jahrhunderts auf die jüdische Existenz. Zunz formuliert in dieser Konzeptschrift, welche für eine historisch-philologische Untersuchung der gesamten jüdischen Tradition plädiert, die Aufgabe, die Literatur und Geschichte der Juden ohne eine theologische Motivation zu erforschen.¹⁰⁶ Hier wird der in der Haskala begonnene Prozess der Historisierung des Talmud und der rabbinischen Schriften beendet. Bar jeder Polemik gegen die Talmudisten oder den Talmud-Unterricht setzt sich Zunz rein nach historisch-kritischen Maßstäben mit den Schriften des Judentums, den Zeugnissen jüdischer Existenz in der Diaspora, auseinander.¹⁰⁷ Das Wissenschaftspostulat, dem bereits seine Erstlingsschrift verpflichtet ist, gestattet ihm einen anderen, schätzenden Umgang mit den rabbinischen Texten als es den Maskilim möglich war, denen es um eine Zerschlagung absoluter rabbinischer Autorität ging. In klarer Abgrenzung von der Haltung der Haskala betont der Text, dass „[h]ier die ganze Litteratur der Juden, in ihrem größten Umfange, als Gegenstand der Forschung aufgestellt [wird], ohne uns darum zu kümmern, ob ihr sämtlicher Inhalt auch Norm für unser eigenes Urtheilen sein soll oder kann“¹⁰⁸. Zunz drängt auf die Erforschung der rabbinischen Literatur, nicht wegen deren religiöser Bedeutung, vielmehr betont er deren historische Dimension für die jüdische Geschichte. Im Zuge der Säkularisierung des jüdischen Selbstverständnisses möchte er die rabbinischen Schriften, einst normativ für jeden Juden, vor dem drohenden Vergessen bewahren; möchte er nicht so sehr an einer Chronologie der politischen Geschichte der Juden, als einer der Verfolgung und des Leids arbeiten. Ihm ist die Aufarbeitung der schöpferischen Leistung jüdischer Existenz in der Diaspora
104 Meyer, Selbstverständnis, S. 140. 105 Vgl. Meyer, Selbstverständnis, S. 140. 106 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 55. 107 Vgl. Schulte, Aufklärung, S. 114. 108 Leopold Zunz: Etwas über die rabbinische Litteratur. In: Gesammelte Schriften von Dr. Leopold Zunz. Hrsg. v. Curatorium der „Zunzstiftung“. Bd. 1. Berlin 1875. S. 1–31. Zit. n. Meyer, Mendelssohn, S. 185.
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Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. In der spirituellen Kraft der jüdischen Tradition sieht er ein jüdisches Selbstverständnis, auch für die assimilierten Juden, bestätigt,¹⁰⁹ sieht er die verbindenden Elemente eines von der Zerstreuung geprägten Volkes. Zunz wie auch Wohlwill in seinem Aufsatz Über den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums unterstreichen, dass eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Judentum diesem in einer vom Wissenschaftsideal geprägten Zeit zu einem höheren Ansehen verhelfen muss.¹¹⁰ Wie die Maskilim, doch rekurrierend auf das Wissenschaftspostulat, führt Wohlwill die absolute Notwendigkeit einer Überwindung des dem diasporischen Judentum inhärenten Separationsgedankens an, um die politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung der jüdischen Minderheit zu erlangen: Da nun die Bildung einer Wissenschaft des Judentums ein wesentliches Bedürfniß der Juden selber ist, so ist klar, daß, obgleich das Feld der Wissenschaften Gemeinplatz aller Menschen ist, doch Jüdische Männer vorzugsweise zur Bearbeitung derselben berufen sind. Die Juden müssen sich wiederum als rüstige Mitarbeiter an dem gemeinsamen Werk der Menschheit bewähren; sie müss[en] sich und ihr Princip auf den Standpunkt der Wissen-schaft erheben, denn dies ist der Standpunkt des Europäischen Lebens. Auf diesem Standpunkt muß das Verhältniß der Fremdheit, in welchem Juden und Judenthum bisher zur Außenwelt gestanden, − verschwinden. Und soll je ein Band das ganze Menschengeschlecht umschlingen, so ist es das Band der Wissenschaft, das Band der reinen Vernünftigkeit, das Band der Wahrheit.¹¹¹
Betont wird, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Judentum auch einen endgültigen Bruch mit dem in der Religion verwurzelten Blick auf das Phänomen der jüdischen Diaspora bedeutet. Der Zusammenhalt der jüdischen Gemeinden in der Zerstreuung bindet sich nicht länger einzig an traditionsverankerte Elemente und Glaubenswahrheiten, erhält seine identitätsstiftende Bedeutung nicht mehr allein aus den stetig wiederholten Erinnerungsmechanismen der Rituale. Die Einschätzung des Phänomens der Zerstreuung wird, wie das Judentum selbst, dem philosophisch-wissenschaftlichen Denken der Umwelt untergeordnet.¹¹²
109 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 184. 110 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 201. 111 Wolf [Wohlwill], Begriff, S. 24. 112 Vgl. Michael Graetz: Renaissance des Judentums im 19. Jahrhundert. Der „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ 1819 bis 1824. In: Bild und Selbstbild der Juden Berlins zwischen Aufklärung und Romantik. Beiträge zu einer Tagung. Hrsg. v. Marianne Awerbuch/Stefi JerschWenzel. Berlin 1992. S. 224; Grundmann, Rabbi, S. 57.
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Insbesondere ist in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung der Vereinsmitglieder mit der Hegelschen Philosophie zu nennen. In deren Schatten wird der Akzent der von List und Moser gestellten Frage nach dem Wesen jüdischer Existenz von einem philosophisch vertretbaren Begriff jüdischer „Volkstümlichkeit“ hin zur Suche nach Argumenten für die Beseitigung jener jüdischen Eigentümlichkeiten verschoben, die sich der Integration in die europäische Kultur verweigern.¹¹³ Hegels beherrschende Stellung in der deutschen Philosophie verlieh im 19. Jahrhundert auch seinen Äußerungen über die jüdische Existenz maßgebliches Gewicht.¹¹⁴ Einerseits treten seine Schriften für eine Emanzipation der deutschen Juden ein und wenden sich gegen den wachsenden Antisemitismus, andererseits kritisieren insbesondere seine frühen Schriften das biblische Judentum „als eine zum Formalismus erstarrte Religion, deren Hauptmerkmal ‚die Knechtschaft unter dem Gesetze‘ sei“¹¹⁵. Die nicht nur für das biblische Judentum, sondern auch für die jüdische Existenz in der Diaspora notwendige Orientierung des Alltags an den Geboten der Tora, wird von Hegel mit „dem Vollzug an sich sinnloser Formeln gleichgesetzt […], [die], wie Hegel betonte, einen Geist schaffen [mussten], der in der Bewahrung auferlegter Gesetze aufging. Erst durch die Wandlung des Christentums sah er den Geist des Sinai auf die Moderne wirken“¹¹⁶. Diese Einschätzung Hegels, dessen Beschäftigung mit der jüdischen Existenz das religiöse Interesse und nicht die soziale Problematik der Minderheit zum Ausgangspunkt hat,¹¹⁷ wird auch in der Einschätzung der rabbinischen Tradition als festgefahren durch die Mitglieder des Culturvereins reflektiert. Bis auf Leopold Zunz waren die meisten der Vereinsmitglieder direkt oder indirekt Schüler des Philosophen, der seit 1818 an der Universität Berlin lehrte. Eduard Gans, herausragender Schüler Hegels und Präsident des Vereins, versucht den Gang der jüdischen Emanzipationsbewegung, ihre Charakteristik und Hindernisse, in die dialektische Bewegung der Geschichte, wie sie von Hegel entwickelt wird, einzuordnen und sie somit zum Teil jenes europäischen Geschichtsprozesses werden zu lassen, wie er vom intellektuellen Diskurs der Mehrheitsgesellschaft gedeutet wird.¹¹⁸ Im Sinne von These und Antithese, den Grundbewegungen der Hegelschen Dialektik, ist es Gans möglich, die politische Verweigerung des jüdischen Emanzipationsgedanken in Kreisen deutscher Intellektueller − von den Maskilim als Rückfall gegenüber der Aufklärung einge-
113 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 191. 114 Vgl. Jasper, Parnass, S. 120. 115 Jasper, Parnass, S. 120. 116 Jasper, Parnass, S. 120f. 117 Vgl. Jasper, Parnass, S. 121. 118 Vgl. Jasper, Parnass, S. 127.
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schätzt − als Teil eines notwendigen Gangs der Geschichte zu interpretieren: Die romantische Reaktion mit ihren antijüdischen Ressentiments ist die natürliche Antwort auf die Einseitigkeit der Aufklärung, auch die der Haskala:¹¹⁹ Es ist bekannt genug und weder einem der hier versammelten noch auch einem der abwesenden Mitglieder fremd, daß vor ungefähr fünfzig Jahren von Berlin aus über die deutschen Juden das Licht einer besseren Kultur aufging, deren zum Teil wohltätige Folgen noch heute verspürbar sind. Die schlechte Mischung eines halb orientalischen, halb mittelaltrigen Lebens wurde gebrochen, an die Stelle einer vollkommen fremdartigen Bildung trat die Morgenröte einer besseren Erziehung, und was bisher schroff eine ganz abgesonderte Stellung behauptet hatte, das neigte sich der allgemeingültigen Richtung zu. Dieser Bruch in die [!] bisherige Gemeinschaft des jüdischen Lebens […] mußte zur unausbleiblichen Wirkung haben, daß die aus der Gediegenheit und Innigkeit Heraustretenden sich nur lediglich auf sich zu stellen suchten, als welches die vollendete Negation des frühern Zustandes ist und an sich eben von gar keinem andren Wert, als daß er dieses Negativ ist. Dieses sich auf sich Stellen, welches, wenn man es weiter verfolgt, den Charakter des ganzen damaligen Zeitalters, oder das Wesen der sogenannten Aufklärung ausmacht, war ebenso notwendig als heilsam, weil der von seinen Fesseln befreite subjektive Geist, das Individuum in seiner Vereinzelung und in seinem negativen Verhalten lange beharren mußte, um diejenige Stärke zu gewinnen, die ihn nicht zu einer gezwungenen, sondern zu einer freiwilligen Rückkehr bewegen konnte. Diese Rückkehr aber ist es, worauf es ankommt […] Die Begeisterung für Religion, die Gediegenheit der alten Verhältnisse ist geschwunden, aber es ist keine neue Begeisterung hereingebrochen. Es hat sich kein neues Verhältnis erbaut. Es ist bei der negativen Aufklärung geblieben, die in der Verachtung und Verschmähung des Vorgefundenen bestand, ohne daß man sich die Mühe gegeben hätte, jener leeren Abstraction einen anderen Inhalt zu geben.¹²⁰
Was Eduard Gans in seinen Ausführungen als unvollendete Dialektik der jüngeren jüdischen Geschichte, jener Auseinandersetzung von Altorthodoxie und Haskala, beschreibt, ist gleichzeitig ein Abgesang auf die dem jüdischen Selbstverständnis in der Diaspora inhärenten Prinzipien von religiös begründeter Einzigartigkeit und der als existenziell empfundenen Absonderung. Ergebnis dieses Bruchs mit der als negativ eingeordneten traditionellen jüdischen Lebensgemeinschaft ist die Vereinzelung des Subjekts, wobei dieser Bruch das Konzept eines durch die Religion geknüpften Bandes des Zusammenhalts der Individuen und ihres Kollektivs in der Zerstreuung nicht durch ein anderes, ebenso tragfähiges zu ersetzen vermochte. Die Synthese, die der Hegelschen Philosophie folgend aus dem Konflikt zwischen Altorthodoxie und Haskala erwächst und die das Judentum und die jüdische Gemeinschaft auf eine höhere Stufe im Geschichtsprozess
119 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 192. 120 Zit. n. Salman Rubaschoff: Erstlinge der Entjudung. In: Der jüdische Wille. Zeitschrift des Kartells Jüdischer Verbindungen 1 (1918/19). S. 197f.
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setzen müsste, ist noch nicht konkret geworden. Sie wird auch in den Ausführungen Gans’ nicht weiter besprochen.¹²¹ Die Frage nach dem Konzept eines von Säkularisierung geprägten jüdischen Bewusstseins in der Diaspora ersetzt sich Gans durch ein Vorantreiben der Integration der jüdischen Minderheit in die Mehrheitsgesellschaft. Die Analyse der vergangenen und künftigen Rolle der Juden im größeren Zusammenhang der europäischen Geschichte forciert die Auseinandersetzung des Hegelschülers mit seinen jüdischen Wurzeln, steht doch ein neues, die jüdische Existenz integrierendes, nicht monolithisches Europa am Ende jenes von Hegel beschriebenen Prozesses der Dialektik von Aufklärung und Restauration. Europa wird von dem Apologeten der Hegelschen Philosophie dabei im Bild des vielgliedrigen Organismus beschrieben, wobei jedes Organ autark lebt und doch in Symbiose mit den anderen existiert.¹²² Das jüdische Selbstverständnis vergangener Jahrhunderte, das sich als exilisch begriff, steht jedoch in Kontrast zu diesem Bild der Integration. Dessen Geschichte steht für das Prinzip der Absonderung, für eine parallel zur Weltgeschichte, sprich der Geschichte der Majorität, verlaufenden Entwicklung des Partikularen.¹²³ Gans fordert die Integration der Juden in die Weltgeschichte, nicht weil ein humanitäres Prinzip es verlangt, sondern weil das der Anspruch der Zeit ist.¹²⁴ Das jüdische Bewusstsein soll sich in dieser Einordnung als ein europäisches wahrnehmen.¹²⁵ Gans betont, dass dieses „Eingliedern“ der Juden in die europäische Kultur nicht ihr „Aufgehen“ beziehungsweise „Untergehen“ in die Majorität bedeute, auch wenn Hegel diesen Untergang voraussieht, da nach ihm der Beitrag des Judentums zur Weltgeschichte längst in Europa eingegangen und sein Fortbestehen nur noch als bloßer Anachronismus zu bewerten sei.¹²⁶ Der Schüler Hegels hingegen sucht einen Mittelweg zwischen dem betonten Anderssein eines in der Zerstreuung lebenden Volkes und der von der Gegenwart geforderten vollständigen Aufhebung der Eigenheit¹²⁷ und gibt im Versuch der Aufhebung der Dichotomie von „fremd/eigen“ ein hervorragendes Beispiel der Auseinandersetzung zwischen dominantem Diskurs und marginalisierter Stimme, wie sie auch im Werk Heines abgebildet ist und im sechsten Kapitel näher beleuchtet wird. Gans beschreibt dieses Zusammenspiel von Mehrheit und Minderheit im kryptisch formulierten Gleichnis: „Darum können weder die Juden untergehen, noch kann das Juden-
121 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 193. 122 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 193. 123 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 193. 124 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 193. 125 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 194. 126 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 194. 127 Vgl. Meyer, Mendelssohn, S. 194.
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tum sich auflösen, aber in die große Bewegung des Ganzen soll es untergegangen scheinen und dennoch fortleben, wie der Strom fortlebt in dem Ocean.“¹²⁸ Das Postulat der kulturellen Angleichung, wie es sich in den Überlegungen Gans’ kristallisiert, zeigt die Nähe des Vereins zur Bewegung der Haskala. Das selbstgestellte Ziel, eine bessere Grundlage für die Bewahrung eines von Säkularisierung gezeichneten jüdischen Bewusstseins zu liefern, verfehlt der Verein mit seiner Orientierung an der Hegelschen Philosophie. Im Banne Hegels plädiert man für das Aufgehen des von der Diaspora geprägten jüdischen Selbstbewusstseins „in einem alles umgreifenden Bewußtseins des Selbst als eines europäischen“¹²⁹, ein Ansinnen, das von Heine in dieser radikalen Form nicht mitgetragen werden wird. Der Culturverein sieht seine dringlichste Aufgabe jedoch nicht allein im Intensivieren kultureller Angleichung. Auch die politisch motivierte Emanzipationsbewegung sollte durch das Wissenschaftspostulat forciert werden. Ähnlich wie die Maskilim in der europäischen Aufklärung eine offene Tür zur Emanzipation der Juden sahen, schätzten die „Wissenschaftsjuden“ das Wissenschaftsideal des 19. Jahrhunderts als den Weg der Juden in die Gleichberechtigung ein. Wie die Maskilim sich auf die europäischen Aufklärer in ihren Ambitionen beriefen, stützten sich die Vereinsmitglieder auf Äußerungen führender Ideologen ihrer Zeit zur Beschreibung der anzustrebenden Position der Juden in Europa. In einer Rede vor dem Verein zitiert Eduard Gans zur Untermauerung des Emanzipationsgedankens aus Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit: „Gedenken Sie, meine Herren und Freunde, gedenken Sie […] der Worte eines der edelsten Männer des deutschen Vaterlandes, eines seiner größten Gottesgelehrten und Dichter; […] ‚Es wird eine Zeit kommen, wo man in Europa nicht mehr fragen wird, wer Jude und wer Christ sei.‘“¹³⁰ Das Zitat Herders, der die jahrhundertelange historische Präsenz der diasporischen Juden im abfälligen Bild der „parasitischen Pflanze“ beschreibt, „die sich beinah allen Europäischen Nationen angehängt und mehr oder minder von ihrem Saft an sich gezogen hat“¹³¹, verweist mit der darauf folgenden Ergänzung auf einen politischen (emanzipatorischen) Gehalt, der zentral ist für den Verein mit seiner Annäherung an das Wissenschaftspostulat des 19. Jahrhunderts:¹³² „[D]enn auch der Jude wird nach Europäischem Gesetz leben, und zum Besten
128 Zit. n. Rubaschoff, Erstlinge, S. 113. 129 Meyer, Mendelssohn, S. 194. 130 Zit. nach Rubaschoff, Erstlinge, S. 113. 131 Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Martin Bollacher u. a. Frankfurt a. M. 1985–2000. Bd. 6. S. 702. 132 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 58.
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des Staats beitragen. Nur eine barbarische Verfassung hat ihn daran hindern, oder seine Fähigkeit schädlich machen mögen.“¹³³ Man hofft durch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung sowohl der Mehrheitsgesellschaft als auch den assimilierten Juden Respekt vor den Anstrengungen in der Neubestimmung des jüdischen Selbstverständnisses abzuringen und auf diese Weise dem ins Stocken geratenen Emanzipationsprozess neuen Elan zu verschaffen.¹³⁴ In seiner 1832 erschienenen Schrift Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden historisch entwickelt, acht Jahre nach der Auflösung des Vereins, formuliert Zunz dieses politisch motivierte Anliegen einer Wissenschaft des Judentums pointiert: Durch grössere geistige Cultur und gründlichere Kenntniss ihrer eigenen Angelegenheiten, würden nicht allein die Juden eine höhere Stufe der Anerkennung, also des Rechts errungen haben: auch so manche Missgriffe der Gesetzgebung, so manches Vorurtheil gegen jüdisches Alterthum, so manche Verurtheilung neuer Bestrebungen ist eine unmittelbare Folge des verlassenen Zustandes, in welchem […], namentlich in Deutschland, sich jüdische Literatur und Wissenschaft des Judenthums befinden.¹³⁵
Die konkreten Maßnahmen, die der Verein unternahm, um den Emanzipationsprozess praktisch auszugestalten, etwa die Etablierung eines wissenschaftlichen Instituts, die Herausgabe einer Zeitschrift, die Gründung einer Unterrichtsanstalt sowie die Anlage eines Archivs für die Korrespondenz, verhinderten nicht die baldige Resignation, die den Vereinsmitgliedern aus der restriktiven Politik der preußischen Regierung erwuchs.¹³⁶ 1822 verabschiedete diese die Zurücknahme des Edikts, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate. Zwei Jahre später tagte der Verein zum letzten Mal. Neben der restaurativen Politik in Deutschland, die dem Emanzipationsprozess der Juden entgegenstand, waren es die fehlende Unterstützung der jüdischen Gemeinschaft für das Projekt einer Etablierung der Wissenschaft des Judentums sowie das Bewusstsein der Vereinsmitglieder, dass sie zwar eine Stärkung des jüdischen Selbstbewusstseins im Prozess fortdauernder Akkulturation versucht hatten, dass es ihnen jedoch nicht gelungen war „eine Begründung für eine fortdauernde Identifikation mit dem Judentum zu liefern“¹³⁷, die den Verein scheitern ließen:
133 Herder, Ideen, S. 702. 134 Vgl. Meyer, Selbstverständnis, S. 142. 135 Leopold Zunz: Die gottesdienstlichen Vorträge historisch entwickelt. Ein Beitrag zur Altertumskunde und biblischen Kritik, zur Literatur- und Religionsgeschichte. Berlin 1832 [Neudr. Hildesheim 1966]. S. IXf. 136 Vgl. Meyer, Selbstverständnis, S. 141. 137 Meyer, Mendelssohn, S. 208.
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Ihre Vorstellung von der Zukunft enthielt nicht den geringsten Anreiz für einen Juden, Jude zu bleiben. Ihr Ziel war die Integration in die europäische Kultur, ohne daß sie angaben, wie die sich von vollständiger Einverleibung unterscheiden sollte. Sie dachten in erster Linie an den Juden als menschliches Wesen, nicht als Juden; sie wollten ihn nur auf eine höhere Stufe des Selbstverständnisses bringen.¹³⁸
Die tiefe Resignation über das Scheitern des Vereins drückt deutlich der Brief Leopold Zunz’ an Immanuel Wohlwill aus, den er im Sommer 1824 verfasste: Dahin bin ich gekommen, an eine Juden-Reformation nimmermehr zu glauben; der Stein muß auf dieses Gespenst geworfen werden und dasselbe verscheucht werden […]. Die Juden und das Judenthum, das wir rekonstruieren wollten, ist zerrissen und die Beute der Barbaren, Narren, Geldwechsler; Idioten und Parnasim [Gemeindevorsteher, Anm. d. Verf.]. Noch manche Sonnenwende wird über dieses Geschlecht hinwegrollen, und es finden wie heut: zerrisen […] ohne Halt und Princip, zum Theil im alten Schmutz, […] zum Theil blätternd in Staatspapieren und dem Konversations-Lexikon […]. Die eigene Wissenschaft ist unter den deutschen Juden erstorben, und für die europäische haben sie deßwegen keinen Sinn, weil sie sich selber untreu, der Idee entfremdet und die Sklaven bloßen Eigennutzes geworden sind […]. Nach diesem grausigen Umriß des Judenthums verlangen Sie wohl keine Erklärung, warum der Verein sammt seiner Zeitschrift eingeschlafen, und sie eben so wenig vermisst werden, als die Tempel, Schulen und das Bürgerglück. Der Verein […] hat in Wirklichkeit nie existiert. Fünf bis zehn begeisterte Menschen haben sich gefunden, und wie Moses, auf die Fortpflanzung dieses Geistes zu hoffen gewagt. Das war Täuschung: Was allein aus diesem Malbul [hebr. für „Sintflut“] unvergänglich auftaucht, [d]as ist die Wissenschaft des Judenthums; denn sie lebt, auch wenn Jahrhunderte lang sich kein Finger für sie regte. Ich gestehe, daß […] die Beschäftigung mit dieser Wissenschaft mein Trost und Halt ist.¹³⁹
In der tief emotionalen Einschätzung der Lage der deutschen Juden um 1820 wird die Minorität als zutiefst zerrissene Gruppe gezeigt. Das Selbstverständnis, das die jüdischen Gemeinden in der Diaspora über die Jahrhunderte verbunden hatte, ist in der Gegenwart akkulturierter Juden im 19. Jahrhundert de facto nicht mehr existent.
3 Stein des Anstoßes – Heinrich Heine und der „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ Das Schreiben Heinrich Heines literarisiert diese Zerrissenheit jüdischen Selbstverständnisses und dokumentiert die Auseinandersetzung des 19. Jahrhunderts 138 Meyer, Mendelssohn, S. 208. 139 Zit. n. Adolf Strodtmann: Heinrich Heines Leben und Werk. Bd. 1. Berlin 1867. S. 316f.
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mit dem diasporischen Bewusstsein im Zuge soziopolitischer, historischer und poetologischer Diskussion. Mit Der Rabbi von Bacherach [künftig Rabbi] führt Heinrich Heine die diasporische Existenz als Thema in die deutsche Literatur ein, beeinflusst durch die säkulare Perspektive, welche die intellektuellen Diskurse des 18. und 19. Jahrhunderts auf das Phänomen der Zerstreuung legen.¹⁴⁰ Die traditionell religiöse Deutung der Diaspora kritisch beleuchtend, setzt der Schriftsteller jenen kulturhistorischen Fokus ein, der sich mit dem Culturverein unter akkulturierten Juden zu etablieren beginnt¹⁴¹. In ihrer Veröffentlichung „Rabbi Faibisch, Was auf Hochdeutsch heißt Apollo“. Judentum, Dichtertum, Schlemihltum in Heinrich Heines Werk ist Regina Grundmann erst kürzlich dezidiert dem tiefgreifenden Zusammenhang zwischen den vom Culturverein angestoßenen Positionen und der Genese der jüdischen Thematik in Heines Werk, weit über das Bestehen der Berliner Zusammenkünfte hinaus, nachgegangen. Heine, der seit 1821 an der Berliner Universität immatrikuliert war, trat am 4. August 1822 dem Verein bei und nahm bis zu seiner Abreise aus der preußischen Hauptstadt im Mai 1823 regelmäßig an dessen Sitzungen teil, recht bald in der Position des Vizesekretärs. Neben persönlichen Kontakten, die Heine zu verschiedenen Mitgliedern des Vereins besaß, wird es vor allem der säkularisierte, nicht mehr religiös geprägte Judentumsbegriff der Mitglieder gewesen sein, der Heine, der „geborene Feind aller positiven Religion“¹⁴², zu einem Antrag auf Aufnahme in den Culturverein bewegt haben dürfte.¹⁴³ Heine brachte sich auf unterschiedliche Weise in den Verein ein. So führte er Protokoll, erteilte Geschichtsstunden in der Unterrichtsanstalt des Vereins, schlug die Gründung eines Frauenvereins vor − verfolgte diese Idee jedoch nicht weiter − und plante einen Beitrag für die Vereinszeitschrift, dessen Vorarbeiten
140 Mit ihrer Einführung jüdischer Thematik in die deutsche Literatur stehen die Arbeiten Heines exemplarisch für jene produktive Spannung literarischer Texte zu vorfindlichen Traditionen, die wesenhaft ist für die Literatur. Heines Einführung der diasporischen Existenz aus säkularer Perspektive in die deutsche Literatur demonstriert dabei einerseits jenen traditionsgeprägten sozialen Handlungszusammenhang zwischen Autor und Werk, demonstriert die Partizipation des Autors an bestimmten Wertvorstellungen und Diskursen, andererseits offenbart sich in ihnen auch ein Moment spezifischer Freiheit der Traditionswahl, mit der „jenes traditionstranszendierende innovatorische Moment erkennbar [wird], durch welches das einzelne Werk […] der Nachwelt (oder auch schon den Zeitgenossen) als herausragend […] vermittelnd erscheint.“ Siehe Barner, Einleitung, S. XVI. – Zum Begriff der produktiven Spannung literarischer Texte vgl. auch den Begriff „ästhetische Distanz“ bei Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M. 1982. S. 660ff. 141 Vgl. Jäger, Spanien, S. 102f. 142 Brief Heines an Moses Moser vom 23. August 1823. In: HSA XX, S. 107. 143 Vgl. Jasper, Parnass, S. 168; Grundmann, Rabbi, S. 71f.
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er späterhin für sein Fragment Rabbi nutzt.¹⁴⁴ Dass sein Interesse an der Arbeit des Vereins seine Abreise aus Berlin weit überdauerte, belegt die Korrespondenz mit den anderen Vereinsmitgliedern, hier in erster Linie mit dem Freund Moses Moser, in der er immer wieder um Informationen über den Verein und dessen Auflösungsprozess bat. Noch zwei Jahre nach seiner Taufe im Jahr 1827 kam Heine der Vereinsvorschrift nach, Belegexemplare von Veröffentlichungen seiner Mitglieder der Vereinsbibliothek zur Verfügung zu stellen. Auch in Frankreich pflegte Heine Kontakt zu ehemaligen Vereinsmitgliedern, die wie er in Paris lebten, und wurde dort 1855, kurz vor seinem Tod, von Leopold Zunz besucht.¹⁴⁵ Die intellektuelle Atmosphäre des Vereins steht exemplarisch für das Klima, in dem sich akkulturierte Juden in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bewegten. Heines Vita, wie die anderer Vereinsmitglieder, ist beispielhaft für jene Auseinandersetzung um die moderne jüdische Identität, die der Culturverein in der Frage nach dem Wesen des Judentums konkretisierte. Auch Heine fragte sich wie Joel Abraham List in seinem bereits weiter oben zitierten Schreiben an den Culturverein: „Wozu ein eigensinniges Verbleiben bei etwas, das ich nicht achte und worunter ich so sehr leide?“ Auch ihm konnte der Verein trotz der Impulse, die sein Werk durch die Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte und deren Stellenwert in der Gegenwart des 19. Jahrhunderts erhielt, die Frage nicht beantworten, konnte ihn nicht vom schwerwiegendsten Assimilationsgang − der Taufe − abhalten, den auch andere Mitglieder des Vereins, unter ihnen ihr Präsident Eduard Gans, beschritten. Der Verein selbst findet vielfältige Thematisierung im Werk Heines, ist dem Schriftsteller Muster der Konflikte um das Akkulturationsstreben und Emanzipationsbegehren deutscher Juden zu Zeiten der Restauration. Gut zwanzig Jahre nach Auflösung des Vereins ist der Essay Ludwig Marcus. Denkworte von 1844 als herber Abgesang auf die Ziele des Vereins gestaltet, unterstrichen durch die hinzugefügte Spätere Note von 1854 mit ihrem Blick auf die Rückschritte der jüdischen Emanzipationsbewegung nach der gescheiterten Revolution 1848. Zündet Heine in diesem Nekrolog für Ludwig Marcus und auch für andere Vereinsmitglieder, die ihm persönlich nahe standen, eine „Gedächtnislampe“¹⁴⁶ an und zeichnet sie als herausragende Persönlichkeiten, berichtet er vom Verein doch als einer Gesellschaft, die:
144 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 72f.. – Zum geplanten Artikel Heines für die Vereinszeitschrift vgl. Jäger, Spanien, S. 102. 145 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 74f. 146 B IX, S. 181.
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[…] eine hochfliegend große, aber unausführbare Idee verfolgte. Geistbegabte und tiefherzige Männer versuchten hier die Rettung einer längst verlorenen Sache, und es gelang ihnen höchstens, auf den Walstätten der Vergangenheit die Gebeine der ältern Kämpfer aufzufinden. Die ganze Ausbeute jenes Vereins besteht in einigen historischen Arbeiten, in Geschichtsforschungen, worunter namentlich die Abhandlungen des Dr. Zunz über die spanischen Juden im Mittelalter zu den Merkwürdigkeiten der höheren Kritik gezählt werden müssen.¹⁴⁷
Die Konzentration auf die Vergangenheit und deren wissenschaftliche Aufarbeitung überwinden weder die Zweifel vieler assimilierter Juden am Judentum, noch überzeugt der wissenschaftliche Anspruch, der dem Diktum der Mehrheitsgesellschaft folgt, eben diese Majorität, die Juden in Deutschland als rechtlich und gesellschaftlich gleich anzuerkennen, denn: [i]n den Augen von Nichtjuden bedeutete Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft nicht zwingend auch Integration ihres kulturellen Erbes, ja nicht einmal dessen gelehrte Untersuchung mit dem Instrumentarium der deutschen Wissenschaft.¹⁴⁸
Das Anliegen des Vereins, durch Bildung und Wissenschaft die Gleichberechtigung der jüdischen Minderheit zu forcieren, wird im Nekrolog als Luftschloss, als Ausgeburt wissenschaftlicher Nabelschau, beschrieben: Nur soviel will ich hier aussprechen, daß der esoterische Zweck jenes Vereins nichtsanderes war als die Vermittlung des historischen Judentums mit der modernen Wissenschaft, von welcher man annahm, daß sie im Laufe der Zeit zur Weltherrschaft gelangen würde. Unter ähnlichen Umständen, zur Zeit des Philo, als die griechische Philosophie allen alten Dogmen den Krieg erklärte, war in Alexandrien Ähnliches versucht, mit mehr oder weniger Mißgeschick. Von schismatischer Aufklärung war hier nicht die Rede und noch weniger von jener Emanzipation, die in unseren Tagen manchmal so ekelhaft geistlos durchgeträtscht wird, daß man das Interesse dafür verlieren könnte.¹⁴⁹
Dass Heine der Vereinsarbeit kritisch gegenüberstand, bezeugt nicht erst der aus zwanzigjähriger Distanz geschriebene Essay über den Culturverein.¹⁵⁰ Bereits während seiner Mitgliedschaft äußert der Schriftsteller Unmut über die Präsentation des in der Vereinszeitschrift zusammengetragen Wissens. Entnervt konstatiert er in einem Brief vom 27. Juni 1823 an Leopold Zunz über das dritte Heft der Vereinszeitschrift:
147 B IX, S. 179. 148 Meyer, Selbstverständnis, S. 142. 149 B IX, S. 183f. 150 Vgl. Jäger, Spanien, S. 103f.
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Ich will gar nicht in Abrede stellen daß die Sachen darinn gut sind, aber ich muß freymüthig gestehen […] der gröste Theil, ja ¾ des dritten Hefts ist ungenießbar wegen der verwahrlosten Form. Ich will keine Göthische Sprache, aber eine verständliche, und ich bin überzeugt was ich nicht verstehe, versteht auch nicht David Levy, Israel Moses, Nathan Itzig, ja vielleicht nicht mal Auerbach II. Ich habe alle Sorten deutsch studirt, sächsisch deutsch, schwäbisch deutsch, fränkisch deutsch, − aber unser Zeitschriftdeutsch macht mir die meisten Schwierigkeiten. […] Dringen Sie doch bey den Mitarbeitern der Zeitschrift auf Cultur des Styls. Ohne diese kann die andere Cultur nicht gefördert werden.¹⁵¹
Es geht in dieser Aufforderung Heines an den Herausgeber nicht allein um sprachliche Eleganz. Es geht um breitenwirksame Verständlichkeit von Inhalten, die zur Aufklärung der jüdischen Bevölkerung beitragen und den Weg zur rechtlichen Gleichstellung der deutschen Juden erleichtern sollen. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit jüdischer Existenz, die Veröffentlichung der Ergebnisse in einer Fachzeitschrift in einer Fachsprache, die einige Interessenten ansprechen dürfte, einen Großteil der jüdischen Bevölkerung jedoch nicht erreicht, ist dem Schriftsteller an dieser Stelle nicht ausreichend.¹⁵² Heine entwickelt parallel zu dieser Kritik den Gedanken einer modernen jüdischen Literatur, so Manfred Windfuhr im Kommentar zum Rabbi der Düsseldorfer Werkausgabe¹⁵³. Durch literarische Verarbeitung erhofft sich der Schriftsteller, die wissenschaftlichen Ergebnisse des Vereins breitenwirksam zu vermitteln und das neue Selbstbewusstsein der jüdischen Minderheit nicht nur zu stärken, es darüber hinaus der deutschen Öffentlichkeit zu präsentieren.¹⁵⁴ Die Arbeit am Rabbi ist Zeugnis dieses speziell Heineschen, in den offiziellen Textes des Vereins nicht enthaltenen Ziels. Sie zeigt deutlich, dass der Kritik an der Präsentation des Vereins keineswegs die Identifikation Heines mit den grundlegenden Zielen des Vereins, dem Vorantreiben der Emanzipation und der Bewahrung eines jüdischen Selbstverständnisses, widerspricht.¹⁵⁵ Windfuhr verweist in diesem Zusammenhang auf einen Brief Heines an Moses Moser vom 23. Mai 1823, der den Gedanken des Schriftstellers an eine jüdische Literatur in deutscher Sprache anspricht:
151 HSA XX, S. 102f. 152 „[W]omöglich [macht sich] gerade in der Abgrenzung zur theoretischen Ausrichtung des Culturvereins […] Heines durchaus auch aus didaktisch-emanzipatorischen Erwägungen erwachsene, ursprünglich wohl dem romantischen Lehrmeister Schlegel verpflichtete Auffassung vom Dichter als dem ‚besseren Historiker‘ geltend.“ Siehe Jäger, Spanien, S. 104. 153 Vgl. den Kommentar von Manfred Windfuhr zum Rabbi von Bacherach in Heinrich Heine: Sämtliche Werke. Düsseldorfer Ausgabe. Hrsg. v. Manfred Windfuhr. Bd. 5. Hamburg 1973– 1997. S. 506ff. (im Folgenden DHA). 154 Vgl. Kommentar Windfuhr in DHA V, S. 506. 155 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 73f.
Stein des Anstoßes
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Hast Du an obigem Bilde nicht gemerkt, daß ich ein jüdischer Dichter bin? Doch wozu soll ich mich genieren, wir sind ja unter uns, und ich spreche gern in unseren Nazionalbildern. Wenn einst Ganstown erbaut seyn wird, und ein glücklicheres Geschlecht am Missisippi Lulef benscht und Matzes kaut, und eine neu-jüdische Literatur emporblüht, dann werden unsere jetzigen merkantilischen Börsenausdrücke zur poetischen Sprache gehören, und ein poetischer Urenkel des kleinen Markus wird in Talles und Tefillim vor der ganzen Ganstowner Kille singen […].¹⁵⁶
Nimmt Heine in seinem Brief auch ironischen Bezug auf das Ararat-Projekt des amerikanischen Politikers und Journalisten Mordechai Manuel Noah (1785–1851), der eine jüdische Kolonie auf Grand Island, eine Insel in der Nähe der Niagarafälle, gründen wollte,¹⁵⁷ zeigt sich hier doch erstmals der Gedanke an die Möglichkeit einer modernen jüdischen Literatur. Der zitierte Briefausschnitt nennt nicht nur den Begriff der neu-jüdischen Literatur. Er gibt auch Hinweise auf die Beschaffenheit einer solchen: geformt aus jüdischen Nationalbildern in poetischer Sprache, die gegenwärtige jüdische Lebenswelt einbeziehend. Manfred Windfuhr kommentiert diese Überlegungen Heines ausführlich. Der Begriff, so Windfuhr, ist zunächst als Gegenbegriff zu „altjüdischer Literatur“ zu verstehen − zu von Juden verfasster Literatur vor 1820. Die Bibel und die in der Diaspora entstandenen rabbinischen Schriften − im Sinne des intellektuellen Diskurses des 19. Jahrhunderts nicht länger eingeschätzt als Normative der Religion sondern als literarische Texte − sowie die Werke großer jüdischer Dichter in der Diaspora – wie etwa Jehuda Halevi oder Salomon ibn Gabirol − gelten dem Schriftsteller als Ausdruck einer jahrtausendealten literarischen Tradition der Juden in der Diaspora. Wie Zunz mit seiner Erforschung dieser Texte unter rein philologischen Aspekten, möchte Heine mit seinem Projekt des Rabbi an diese literarische Tradition anknüpfen, jedoch die Konflikte der modernen jüdischen Existenz im 19. Jahrhundert thematisierend.¹⁵⁸
156 HSA XX, S. 87. 157 Zum Ararat-Projekt vgl. Yigdal Lossin: Heinrich Heine. Wer war er wirklich?. Neu Isenburg 2006. S. 116–125; Grundmann, Rabbi, S. 67f. 158 Vgl. Kommentar Windfuhr in DHA V, S. 506f.
III Der progressive Blick des Fragments Der Rabbi von Bacherach auf das Phänomen der Zerstreuung 1 Vorarbeiten – Die Erschließung der jüdischen Geschichte durch den Autodidakten Heine Die negative Bewertung bezüglich der Emanzipationsbemühungen des Culturvereins schmälert die Bedeutung der im Verein vorangetriebenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit für die Genese jüdischer Thematik im Werk Heines nicht. Gerade der wissenschaftliche Zugang zur jüdischen Geschichte erweitert dem Schriftsteller die Möglichkeiten seines Schreibens, das aus der deutschen Literaturtradition erwächst, jedoch seit der Mitgliedschaft im Culturverein unter Einbezug einer von Ambivalenz geprägten Thematisierung jüdischer Existenz im 19. Jahrhundert. Vor der literarischen Auseinandersetzung mit dem modernen Selbstbild akkulturierter Juden steht allerdings das Studium ihrer Geschichte.¹ Die intensive Auseinandersetzung Heines in den Jahren 1823 bis 1825 mit der Geschichte der Juden in der Diaspora − vom Culturverein allein als Leidensgeschichte einer Minderheit deklariert, bar jeder religiösen Interpretation − verweist zum einen auf das erwachte Interesse des Schriftstellers an jüdischen Inhalten. Sie bezeugt aber auch die Distanz des Schriftstellers zu seinem jüdischen Erbe. Heine, akkulturiert durch Bildung und Erziehung, kann nicht mehr auf einen von Kindesbeinen an aufgebauten Fundus jüdischen Selbstverständnisses in der Diaspora zurückgreifen. An die Stelle der Erinnerung − mit Gesetz und Ritus zentraler Bestandteil des religiösen und kulturellen Selbstverständnisses des altorthodoxen Judentums − tritt dem Schriftsteller die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte als Zugang zum Bewusstsein um die diasporische Existenz. Die Gegenwärtigkeit des Exils, der sich der gläubige Jude in jeder profanen und religiösen Handlung erinnert, ist dem aus einem akkulturierten Milieu stammenden Schriftsteller bloßer historischer Fakt einer verstreuten Minderheit, deren Bedrängnis allein aus ihrem politischen Status als Minorität erwächst, und nicht Teil einer messianischen Erlösungsgewissheit. Wie die Maskilim, die sich im Selbststudium nicht-religiöse Wissensstoffe der abendländischen Kultur aneigneten, muss Heine sich in der Rolle des Autodidakten in die jüdische Geschichte erst einarbeiten. 1 Vgl. Jäger, Spanien, S. 89.
Vorarbeiten
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Es sind jedoch nicht die Texte rabbinischer Tradition, die, aus dem diasporischen Zustand des Judentums geboren, dem Schriftsteller ein Bild des diasporischen Selbstverständnisses vermitteln. Heine setzt sich mit der Diaspora vielmehr über die Analyse von Geschichtswerken aus christlicher Perspektive auseinander, da er zu Beginn der 1820er Jahre auf keine wissenschaftliche Abhandlung zu diesem Bereich aus jüdischer Sicht zurückgreifen kann.² Er selbst kommentiert den Stand der wissenschaftlichen Erforschung als „egyptische Finsterniß“³. Als zentral für das Studium Heines ist Jaques Basnages Histoire de juifs, depuis Jésus-Christ jusqu’à présent, pour servir de continuation á l’histoire de Joseph⁴ von 1716–1725 zu nennen. Diese Abhandlung gilt als „Heines Einstiegsquelle in den Gesamtkomplex“⁵ der jüdischen Geschichte in der Zerstreuung. Zwar arbeitet Heine auch mit anderen Quellen, wie Johann Jakob Schudts (1664– 1722) Jüdische Merckwürdigkeiten⁶, beklagt jedoch deren antijüdische Ressentiments.⁷ Heine findet allein im Werk Basnages, des reformierten Theologen und wichtigsten Kirchenhistorikers Frankreichs im 18. Jahrhundert, eine Vorlage, die sich durch Quellentreue, kritische Analyse, Klarheit und Toleranz auszeichnet und antisemitische Legenden durch die Aufdeckung von Widersprüchen in den Quellen oder durch logische Argumentation zu widerlegen sucht.⁸ Dieser auf die Aufklärung vorverweisende Anspruch des Geschichtswerks Basnages, der auch dem Wissenschaftspostulat des 19. Jahrhunderts entgegenkommt, macht diesen Text zu einer der Hauptquellen unter den Mitgliedern des Culturvereins und ruft auch Heines Bewunderung hervor:⁹ „[…] ad vocem Basnage, so kann ich nicht genug meine Bewundrung für diesen Schriftsteller ausdrücken. Es ist ein Mann von vielem Geist, tiefem Geschichtsforscherblick, edlem Herzen, reiner Unparteylichkeit, ein Mann von unberechenbarem Verdienst.“¹⁰
2 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 298. – Zu Heines Quellenstudium vgl. auch Jäger, Spanien, S. 89ff. 3 Brief Heines an Moses Moser vom 1. Juli 1825. In: HSA XX, S. 204. 4 Jacques Basnage: Histoire des juifs, depuis Jésus-Christ jusqu’à présent, pour servir de continuation á l’histoire de Joseph. 15 Bde. Den Haag 1716–1725. 5 Kommentar Windfuhr in DHA V, S. 508. 6 Jacob Schudt: Jüdische Merckwürdigkeiten / Vorstellende Welt / Was sich Curieuses und denckwürdiges in den neuern Zeiten bey einigen Jahrhunderten mit denen in alle IV. Theile der Welt / sonderlich durch Teutschland / zerstreuten Juden zugetragen. Sammt einer vollständigen Franckfurter Juden-Chronick / Darinnen der zu Franckfurt am Mayn wohnenden Juden / von einigen Jahrhunderten / biß auff unsere Zeiten / merckwürdigsten Begebenheiten enthalten. 6 Bde. Frankfurt/Leipzig 1714–1721. 7 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 298–300. 8 Vgl. Kommentar Windfuhr in DHA V, S. 509. 9 Vgl. Kommentar Windfuhr in DHA V, S. 509. 10 HSA XX, S. 170.
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Die Basnage-Lektüre Heines zieht sich über ein Jahr hin.¹¹ Resultat ist ein Exzerpt, das die Schwerpunkte des Interesses Heines an der jüdischen Geschichte in der Diaspora zusammenfasst: Diskriminierung von Juden, Massaker an ihnen und Vertreibungen sowie antisemitische Legendenbildung wie Ritualmorde, Hostienschändungen oder Brunnenvergiftungen und das Renegatentum.¹² Wie aus diesen Schwerpunkten der Lektüre zu ersehen ist, ist dem Schriftsteller die Geschichte der Juden in der Diaspora, im Sinne des Culturvereins, in erster Linie eine Geschichte des Leids. Er betitelt sie als „den großen Judenschmerz (wie ihn Börne nennt) […]“¹³. Sein Quellenstudium wird ihm zur „dichte[n] Folge von dokumentarisch belegten Übergriffen, die nicht nur eine Periode und ein Land, sondern viele Perioden und viele Länder belasten und dunkle Kapitel in der Geschichte, nicht nur der Juden, sondern auch der Christen darstellen […]“¹⁴. In einem Brief an Moses Moser vom 25. Juni 1824 fasst Heine den Eindruck seines Studiums der historiographischen Texte zur jüdischen Geschichte zusammen: „Ganz eigene Gefühle bewegen mich, wenn ich jene traurige Annalen durchblättre; eine Fülle der Belehrung und des Schmerzes. Der Geist der jüdischen Geschichte offenbart sich mir immer mehr und mehr […].“¹⁵ In zwei Gedichten, von Heine nie zur Veröffentlichung freigegeben und erhalten in einem Brief an Moses Moser vom 25. Oktober 1824, konzentriert sich der Blick des Studierenden auf das Schicksal der Juden in der Diaspora. Entstanden aus der Reflexion über die bei Basnage studierten Fakten jüdischer Geschichte zeichnet er diese als vertrautes Zusammenspiel zwischen Verfolgern und Verfolgten, dessen Abfolge seit Jahrhunderten geläufig ist: (An Edom!) Ein Jahrtausend schon und länger Dulden wir uns brüderlich, Du, du duldest daß ich athme, Daß du rasest dulde Ich. Manchmal nur, in dunklen Zeiten, Ward dir wunderlich zu Muth’ Und die liebefrommen Tätzchen Färbtest du mit meinem Blut!
11 Vgl. Kommentar Windfuhr in DHA V, S. 512. 12 Vgl. Heines Basnage-Exzerpt in DHA V, S. 274ff.; Kommentar Windfuhr in DHA V, S. 513. 13 Brief Heines an Moses Moser vom 18. Juni 1823. In: HSA XX, S. 97. 14 Kommentar Windfuhr in DHA V, S. 513. 15 HSA XX, S. 167.
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Jetzt wird unsre Freundschaft fester, Und noch täglich nimmt sie zu; Denn ich selbst begann zu rasen, Und ich werde fast wie du.¹⁶
Dem im Judentum geforderten Gebot der Absonderung der diasporischen Gemeinden, die nach eigenem Verständnis und dem Verständnis der Majorität nur an der Peripherie des europäisch-christlichen Umfelds leben, steht hier die Realität der Geschichte gegenüber. Sie erweist sich als ein gewaltsames Ineinander von Minderheit und Mehrheit. Betont durch die persönliche Anrede des Gegenübers, wird die diasporische Existenz nicht mehr länger als am Rand der europäischen Geschichte stehend interpretiert, vielmehr hat sie Anteil an dieser, ist in der schmerzhaften Umklammerung mit dem Umfeld immer auch Teil derselben. Hier wird ein Mechanismus thematisiert, der von Heine in verschiedenen Arbeiten als ewiger Konflikt zwischen „Jagenden […] [und] Gejagten“¹⁷ beschrieben wird und den er nicht genuin auf das jüdische Schicksal bezieht.¹⁸ Nur die in Klammern gesetzte Überschrift verweist auf den jüdischen Kontext, wurde der Begriff „Edom“¹⁹ doch in der jüdischen Auslegung zum Synonym für das feindlich gesinnte Christentum. Auch das zweite Gedicht des Briefes, das Heine dem Freund Moser als Prolog des Rabbi ankündigt, verweist auf die jüdische Existenz: Brich aus in lauten Klagen, Du düstres Martyrerlied, Das ich so lang getragen Im flammenstillen Gemüth’. Es dringt in alle Ohren, Und durch die Ohren in’s Herz; Ich habe gewaltig beschworen Den tausendjährigen Schmerz.
16 HSA XX, S. 177. 17 B III, S. 225. 18 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 303. 19 Erläuternd bei Walter Grab, Aspekte, S. 56f.: „Dieser Titel [‚An Edom!‘, Anm. d. Verf.] nahm Bezug auf die in der Bibel erwähnte Feindschaft zwischen den beiden Brüdern Jakob und Esau, den Söhnen des jüdischen Stammvaters Isaak. Edom ist der zweite Name Esaus. Der Haß unter nahen Verwandten wird in der Bibel oft thematisiert; der erste Mord war ein Brudermord. Die talmudische Literatur erblickt in Edom den Urtypus des Judenfeindes, und in diesem Sinne gebraucht auch Heine den symbolischen Ausdruck.“
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Es weinen die Großen und Kleinen, Sogar die kalten Herr’n, Die Frauen und Blumen weinen, Es weinen am Himmel die Stern’. Und alle die Thränen fließen Nach Süden, im stillen Verein, Sie fließen und ergießen Sich all’ in den Jordan hinein.²⁰
Erst mit Nennung des Flusses Jordan im letzten Vers des Gedichts, der auf das Gelobte Land deutet, wird der Bezug zur jüdischen Thematik hergestellt. Es ist die im ersten Gedicht beschriebene kollektive und individuelle Erfahrung des Gejagtseins, die „Kollektiverfahrung einer aus Trauer und Schmerz bestehenden Tradition“²¹, welche allein die zerstreuten, jüdischen Gemeinden vereint – nicht das Gebot, noch das Ritual oder der messianische Erlösergedanke. Im Sinne des Culturvereins ist Heine die Heilsgewissheit, die das Leiden der Minderheit an ihrem Umfeld als notwendigen Teil des jüdischen Schicksals miteinschließt, nicht länger einsichtig.²² Das Singuläre der jüdischen Existenz beruht nicht, so der Schriftsteller, auf einer religiös begründeten Auserwähltheit. Das Exemplarische der jüdischen Existenz, dessen Leiden an einem feindlich gesinnten Umfeld, erwächst vielmehr dem soziopolitischen Status der Juden als Minderheit.
2 Das Fragment – Die Pole diasporischer Existenz Wie bereits formuliert, eröffnen sich Heine mit seiner Mitgliedschaft im Culturverein neue Möglichkeiten seines Schreibens. Er findet im wissenschaftlich orientierten Zugang zur jüdischen Geschichte und Kultur einen gangbaren Weg, sich als akkulturierter Jude mit seinem jüdischen Erbe auseinanderzusetzen. Der Rabbi, der 1840 erstmals als Fragment²³ erschien, gibt jedoch den im 20 HSA XX, S. 178. 21 Robert C. Holub: Deutscher Dichter jüdischer Herkunft. In: „Ich Narr des Glücks“. Heinrich Heine 1797–1856. Bilder einer Ausstellung. Hrsg. v. Joseph A. Kruse. Stuttgart/Weimar 1997. S. 50. 22 Vgl. zur Position des Vereins Grundmann, Rabbi, S. 318ff. 23 Zum fragmentarischen Charakter des Rabbi, dessen Einschätzung durch die Forschung als „gescheitertes“ Romanprojekt Heines lange Zeit bewertet wurde sowie zu den Ursachen des Abbruchs an den Arbeiten in den 1820er Jahren vgl. Jäger, Spanien, S. 95ff. Jäger nennt als Ursachen des Abbruchs zum einen die Schwierigkeiten Heines die Handlung des Romans in einen philosophiegeschichtlichen Kontext zu stellen, zum anderen die Problematik des
Das Fragment
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Verein zirkulierenden Geschichtsoptimismus, wie ihn die Diskurse der Mehrheitsgesellschaft seit der Aufklärung kolportieren,²⁴ auf. Gegen die optimistische Konstruktion der Geschichte als einer stetigen Aufwärtsbewegung, wie sie in Hegels Lehre von der fortschreitenden Entfaltung des Weltgeistes beispielhaft dargestellt wird, setzt der Autor die historische Erfahrung des Scheiterns.²⁵ Im Kontrast zum Geschichtsoptimismus seiner Zeit entwickelt Heine im Rabbi ein anderes Geschichtsbild jenseits der Diskurse seiner Zeit. Es gründet in seinen eigenen Erfahrungen – als Jude in der Diaspora und späterhin als Deutscher im politischen Exil.²⁶ Exemplifiziert wird es in den Zeitläufen einer unterdrückten Minderheit. Und es ist bar jeder religiös oder philosophisch motivierten Erlösungsgewissheit. Mit den Figurationen diasporischer Existenz im Rabbi wird jener moderne Mythos des unbedingten historischen Fortschritts demontiert, wie er dem 19. Jahrhundert inhärent ist und wie er auch die akkulturierten Juden in ihren Emanzipationsbestrebungen bestärkt. Die Geschichte der Juden in der Diaspora ist dem Autor zuallererst Leidensgeschichte, ganz im Sinne des Vereins. In den literarischen Reflexionen Heines über die diasporische Existenz löst sich diese Geschichte endgültig vom religiösen Kontext: „Er [Heine] stellt das Leiden nicht als Hinführung auf den Beginn der messianischen Zeit dar, sondern zeigt die gesellschaftlichen Ursachen des Leidens auf.“²⁷ Die Geschichte als eine Geschichte des Scheiterns wird im Rabbi an die äußersten Pole diasporischer Existenz gebunden: Isolation und Renegatentum. Beginnend im Duktus des historischen Romans²⁸ wird zunächst ein Bild der mittelalterlichen Ständegesellschaft entworfen, welche die Juden als Minderheit ausweist. Dann werden die Folgen aufgezeigt, die sich für die Juden aus ihrem soziopolitischen Status und dem Klima religiösen Fanatismus ergeben. Reaktion dieses stets wiederkehrenden Zusammenspiels von sozialer Schieflage, Aberglauben und antijüdischem Vorurteil ist die Abschottung jüdischen Lebens
Glaubensübertritts der spanischen Juden sowie das das biographische Ereignis der Taufe, das Heine die Arbeiten am Rabbi einstellen lässt. 24 Zur Kritik Heines an der Konzeption des geschichtlichen Fortschritts der Moderne vgl. auch Hohendahl, Heine, Berlin 2008, S. 104. 25 Vgl. Witte, Tradition, S. 59ff.; Alfred Bodenheimer: „Die Engel sehen sich alle ähnlich“. Heines „Rabbi von Bacherach“ als Entwurf einer jüdischen Historiographie. In: Schlingensiepen/Windfuhr, Heine, S. 49–64. – Zu Heines kritischer Auseinandersetzung mit der Hegelschen Geschichtsphilosophie vgl. auch Briegleb, Wassern, S. 124f. u. zusammenfassend S. 157f. 26 Vgl. Witte, Tradition, S. 39. 27 Grundmann, Rabbi, S. 321. 28 Zur Gattung des historischen Romans (nach Walter Scott) und deren Brechung im Rabbi bei Heine vgl. Jäger, Spanien, S. 104ff.
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vor allen Einflüssen des nichtjüdischen Umfelds: „Je mehr aber der Haß sie von außen bedrängte, desto inniger und traulicher wurde das häusliche Zusammenleben, desto tiefer wurzelte die Frömmigkeit und Gottesfurcht der Juden von Bacherach.“²⁹ Hier wird die Absonderung der jüdischen Gemeinden in der Diaspora nicht theologisch begründet, sondern die Lebenswirklichkeit der Juden erwirkt eine solche Reaktion des Rückzugs. Dieser Gedankengang Heines folgt der säkularisierten Perspektive des Culturvereins auf die diasporische Existenz der Juden. 1822 von Zunz erstmals in seinem in der Vereinszeitschrift veröffentlichten Essay³⁰ über den jüdischen Gelehrten Raschi formuliert, findet er sich in dessen Werk Zur Geschichte und Literatur von 1845 folgendermaßen ausgearbeitet: Da die Alles verschlingende christliche Hierarchie das Leben der Europäer in sich aufnahm, versteht sich mit Ausnahme der Juden: so identifizierte die Kraft des Gegendruckes das Leben der jüdischen Kirche mit dem ihrer Genossen; und den Juden verwandelte sich alles, was gedacht und empfunden wurde, in ein religiöses, d. i. ein ausschliessendes. […] Annullirte das Christenthum die Juden, so annullirte das Judenthum alle übrige Welt.³¹
Bricht in Bacherach das Pogrom in die abgeschottete Welt der jüdischen Gemeinde ein, verbildlicht im über der Stadt schwebenden Todesengel, führt der zweite Schauplatz des Fragments, die Frankfurter Judengasse, die Folgen ständiger Bedrohung und Absonderung vor Augen.³² Ziehen die Bacheracher Juden eine unsichtbare Mauer um ihre Existenz und leben ganz im Familiären, sind die Juden Frankfurts durch gesetzlichen Beschluss der Obrigkeit aus dem Stadtleben verdrängt. Diese Isolation, geboren aus der Feindseligkeit des Umfelds, getragen durch einen Rückzug in die Absonderung, der, so der Culturverein und mit ihm Heine, dem ursprünglichen Universalismus des Judentums entgegenstehe, führt in die psychische und physische Degeneration der unterdrückten Individuen. Die Separation, wurzelnd in der Gewalt des Umfelds und gefordert durch die jüdische Religion, zerstört die Existenz der Minderheit. Drastisch in den jüdischen Wächtern des Tores zum Frankfurter Ghetto gezeichnet, wird in den stereotypen Wendungen der Figur Nasenstern die zerrüttete jüdische Existenz in der Diaspora zusammengefasst. Die mehrfach wiederholten Wendungen „[I]ch bin ein ein-
29 B I, S. 463. 30 Vgl. Leopold Zunz: Salomon ben Isaac, genannt Raschi. In: Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums. Herausgegeben von dem Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden (Redakteur: Zunz Dr.). Berlin 1823 [Nachdr. Hildesheim/New York 1976]. S. 277–384. 31 Leopold Zunz: Zur Geschichte und Literatur. Berlin 1823 [Nachdr. Hildesheim/New York 1976]. S. 159. 32 Vgl. Jasper, Parnass, S. 177.
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zelner Mensch“³³ und „[I]ch habe meine Gründe“³⁴ stehen nur scheinbar unverbunden nebeneinander, sie sind vielmehr als Einheit zu betrachten.³⁵ Die Angst verweist auf die jahrhundertelange, ununterbrochene Kette der Verfolgung.³⁶ Der „einzeln[e] Mensch“ spielt auf das Zerbrechen der jüdischen Gemeinschaft als Folge des von Angst gebrochenen Individuums an.³⁷ Auch in den ironischen Äußerungen Jäkel des Narren, dem archetypischen Erzähler jüdischer Witze³⁸, wird das Zerbrechen des Einzelnen an der Lebenssituation der Juden in der Diaspora widergespiegelt. Antwortet Jäkel auf die Äußerung Nasensterns „ich weiß die Furcht liegt im Geblüt und ich habe es von meiner seligen Mutter“³⁹ auch ironisch: „Ja, ja! […] und deine Mutter hatte es von ihrem Vater, und der hatte es wieder von dem seinigen, und so hatten es deine Voreltern einer vom anderen, bis auf deinen Stammvater, welcher unter König Saul gegen die Philister zu Felde zog und der erste war welcher Reißaus nahm“,⁴⁰ stellt er die Geschichte der Juden in der Diaspora doch unter das Zeichen des Leids, unterstreicht er gerade in seiner Verballhornung der wehrhaften Israeliten − siegten Saul und die Stämme Israels doch gegen die Philister − die Wehrlosigkeit der Juden in der Diaspora.⁴¹ So figuriert sich in Nasenstern und Jäkel dem Narren die jüdische Existenz in der Diaspora als verkümmert.⁴² Die Gefahr, die der Minderheit aufgrund des ihr von der Mehrheitsgesellschaft zugewiesenen soziopolitischen Status droht, führt nicht nur in die Separation der jüdischen Gemeinschaft als Kollektiv, sie führt zur Vereinzelung des Individuums, wodurch
33 B I, S. 480. 34 B I, S. 481. 35 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 314; Ulrike Dedner: „Meine Nase ist nicht abtrünnig geworden“. Heinrich Heines „Rabbi von Bacherach“ als Zeugnis erschriebener Identität. In: Ironische Propheten. Sprachbewußtsein und Humanität in der Literatur von Herder bis Heine. Studien für Jürgen Brummack zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Markus Heilmann/Birgit Wägenbauer. Tübingen 2001. S. 275–295. – Dedner zum Sprachduktus der Figur: „So demonstriert sein Sprechen eine ausgefeilte Rhetorik des Vermeidens, die schließlich ihr Movens, die habituell gewordene Furcht, tautologisch aussprechen muß […]. Seine pathologische Selbstverkleinerung geht bis zum unumwundenen Eingeständnis der Feigheit, die er […] in seinem Judentum begründet sieht.“ Siehe Dedner, Nase, S. 285f. 36 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 314. 37 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 316. 38 Vgl. Prawer, Comedy, S. 389. – Zur Figur Jäkel des Narren vgl. auch Dedner, Nase, S. 287. 39 B I, S. 483. 40 B I, S. 483. 41 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 315. 42 Zum Nebeneinander von Schrecklichem und Lächerlichem als erzählstrukturelles Merkmal und textinternes Moment vgl. Andreas Solbach: Die Rolle des Erzählers in Heinrich Heines „Der Rabbi von Bacherach“. In: Goltschnigg [u. a.], Harry, S. 85f.
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letztendlich die Bindung an die Gemeinschaft zerreißt. Den als „an Leib und Seele verkrüppelt“⁴³ gezeichneten Figuren ist in diesem ersten Text der deutschen Literatur, der sich der diasporischen Existenz annimmt, weder der Auserwähltheitsgedanke noch die messianische Hoffnung eingeschrieben.⁴⁴ Neben der Absonderung ist es das Renegatentum, als extremster Schritt der Anpassung, das als Folge bedrückender Lebensumstände in der Diaspora im Rabbi beschrieben wird. In der Gegenüberstellung der beiden europäischen Hauptstränge jüdischer Existenz in der Diaspora − den Aschkenasim und den Sephardim − werden beide Pole diasporischer Existenz im Rabbi miteinander konfrontiert.⁴⁵ Die Bacheracher Gemeinde sowie die Frankfurter Juden stehen für die aschkenasischen Juden, jener Gruppe der mitteleuropäischen und osteuropäischen Juden, zu denen auch die Juden des deutschsprachigen Raums zu zählen sind. Die Haskala und auch der Culturverein sahen im aschkenasischen Zweig jene rabbinische Tradition präsentiert, die durch ihr Beharren auf der Normativität von Gesetz und Ritual der politischen und sozialen Emanzipation der Juden im Wege stand.⁴⁶ Im Sinne des Culturvereins kommt es in Heines Reisebild Über Polen (1822) zur Gleichsetzung zwischen dem traditionell-orthodoxen osteuropäischen Judentum und den Aschkenasim.⁴⁷ Obwohl die Lebenswelt osteuropäischer Juden auf den Erzähler des Reiseberichts befremdlich und teilweise abstoßend wirkt, wird eine zum Ende hin positive Zeichnung der polnischen Juden gezeichnet, trotz ihrer Verhaftung im Religiösen: Aber sie sind offenbar mit der europäischen Kultur nicht fortgeschritten und ihre Geisteswelt versumpfte zu einem unerquicklichen Aberglauben, den eine spitzfindige Scholastik in tausenderlei wunderliche Formen hinein quetscht. Dennoch, trotz der barbarischen Pelzmütze, die seinen Kopf bedeckt, und der noch barbarischeren Ideen, die denselben füllen, 43 B I, S. 486. 44 „In Jäkels Gegenwart […] ist die beschworene Erwähltheit des Gottesvolkes durch die Entstellung und Leiden der Diaspora gänzlich verdeckt. […] Dabei wird die schier unermessliche Fallhöhe zwischen der Größe des biblischen Judentums und der erbärmlichen Lage seiner Nachfahren komisch ausgedeutet. In dieser Perspektive erscheint beispielsweise Nasensterns Furcht nicht als Fehleinschätzung einer vermeintlich harmlosen Situation komisch, sondern weil sie mit seiner göttlichen Erwähltheit kollidiert. […] Im Lichte der Verheißung tritt das Lächerliche des gegenwärtigen Zustands grell hervor.“ Siehe Dedner, Nase, S. 289. 45 Diese Gegenüberstellung geschieht auch im Sinne des Culturvereins: „Zur geschichtstheoretischen und programmatischen Selbstpositionierung [des Vereins] gehörte stets die Gegenüberstellung einerseits der religiös bestimmten talmudischen Tradition, die man vor allem vom Ostjudentum repräsentiert sah, die das jüdische Leben in Deutschland dominierte und […] als dekadent und rückständig kritisiert wurde, andererseits der philosophisch-wissenschaftlichen Tradition der Sepharden […].“ Siehe Jäger, Spanien, S. 111. 46 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 231ff. 47 Vgl. B III, S. 76.
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schätze ich den polnischen Juden weit höher als so manchen deutschen Juden, der seinen Bolivar auf dem Kopf, und seinen Jean Paul im Kopfe trägt. In der schroffen Abgeschlossenheit wurde der Charakter des polnischen Juden ein Ganzes; durch das Einatmen toleranter Luft bekam dieser den Stempel der Freiheit. Der innere Mensch wurde kein quodlibetartiges Kompositum heterogener Gefühle und verkümmerte nicht durch die Einzwängung Frankfurter Judengaßmauern, hochweise Stadtverordnungen und liebreicher Gesetzbeschränkungen. Der polnische Jude mit seinem schmutzigen Pelze, mit seinem bevölkerten Barte und Knoblauchgeruch und Gemauschel, ist mir noch immer lieber als mancher in all seiner staatspapiernen Herrlichkeit.⁴⁸
Ist das Bild des polnischen Juden in dieser Zeichnung auch despektierlich, eines ist es nicht – das Bild eines Narren, degeneriert durch soziopolitische Umstände. In der Gegenüberstellung von deutschen und polnischen Juden, die doch beide dem aschkenasischem Zweig angehören, wird deutlich gezeigt, dass dem Schriftsteller das Degenerierte jüdischer Existenz in der Diaspora nicht auf der rabbinischen Tradition beruht, dass das „an Leib und Seele [V]erkrüppelte“ vielmehr aus den Lebensumständen des einzelnen Juden erwächst. Zwar zerschellt das Emanzipationsgebot der Zeit, fußend auf sozialer und kultureller Öffnung der Minderheit, am Normativ der Absonderung der rabbinischen Tradition, doch ist der polnische Jude nach Einschätzung des Reisenden in Über Polen frei, zerreibt sich nicht in der wie auch immer gearteten Auseinandersetzung mit seinem nichtjüdischen Umfeld: Degeneration ist somit das Ergebnis des soziopolitischen Umfelds. Ähnlich ambivalent wie das Bild der Aschkenasim von Heine gezeichnet wird, ist auch die Skizzierung der sephardischen Juden. Der Rabbi führt neben den „an Leib und Seele verkrüppelten“ Gestalten der Frankfurter Judengasse auch einen Vertreter der sephardischen Juden in das Erzählfragment ein. Für den Culturverein und auch für Heine stellen die sephardischen Juden, neben den Diskursen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft, das Bezugsystem dar in der Frage nach einer den Zeitverhältnissen angemessenen jüdischen Identität.⁴⁹ Die westeuropäischen Juden gelten in den Diskussionen um Emanzipation und Akkulturation als die ersten modernen Juden überhaupt,⁵⁰ die sich durch den Willen zur Integration ohne den Verlust ihres jüdischen Selbstverständnisses auszeichneten.⁵¹ Die Sephardim, die zunächst auf der Iberischen Halbinsel unter den Arabern eine erfolgreiche Geschichte der Integration jüdischen Lebens in der
48 B III, S. 76f. 49 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 231; Jäger, Spanien, S. 9. 50 Vgl. Philipp F. Veit: Heine. The Marrano Pose. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 66 (1974). S. 146. 51 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 233.
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Diaspora schrieben, dann, vertrieben im Zuge der christlichen Reconquista, auch in deutschen Hafenstädten siedelten, erlangten durch ihre wissenschaftliche und literarische Aktivität im nichtjüdischen Umfeld Vorbildfunktion für die Maskilim und die späteren „Wissenschaftsjuden“. Der früheste Hinweis auf das Interesse Heines an den Sephardim findet sich in dem bereits zitierten Brief vom 24. Juni 1824 an Moses Moser: „Es fehlt mir jetzt nur noch Notizen über die Spanischen Juden im 15ten Jahrhundert u besonders über ihre Akademien in Spanien zu dieser Zeit, wo finde ich was? oder besser gesagt 50 Jahr vor ihrer Vertreibung. Interessant ist es daß dasselbe Jahr wo sie vertrieben worden, das neue Land der Glaubensfreyheit, nemlich Amerika entdeckt worden.“⁵² Heine stieß in seinen Studien über das sephardische Judentum, insbesondere über die ihn interessierende Familie Abravanel, auf große Lücken in der christlich geprägten Geschichtsschreibung und war auf die Forschungsergebnisse der Vereinsmitglieder in diesem Themenbereich angewiesen:⁵³ Zunz hat mir zwar schon mahl durch Dich geschrieben wo im 15 Jahr die vornehmste Schule der spanischen Juden war, neml in Toledo; aber ich möchte wissen ob dieses auch vom Ende des 15 Jahrh zu verstehen ist? Er nannte mir auch Sevilla u Granada, aber ich glaube in Basnage gelesen zu haben daß sie früher schon mahl aus Granada vertreiben worden. Auch, wie ich Dir notirt möchte ich über die Abarbanells etwas erfahren was ich nicht aus kristlichen quellen schöpfen kann. Wolf hat diese alle in seiner Bibl angeführt. Bage ist dürftig. Schudt hat ebenfalls etwas zusammen gerafft, Bartolocci hab ich noch nicht gelesen. Wenig, unbegreiflich wenig enthalten die span. Historiker von den Juden.⁵⁴
Gestaltet sich das Quellenstudium zu den Sephardim auch als äußerst zäh, kann Heine doch ein Exzerpt⁵⁵ zu dieser Thematik zusammenstellen, dessen drei Schwerpunkte Anne-Maximiliane Jäger bereits herausarbeitete: die historisch außergewöhnliche Stellung der spanischen Juden, ihr Leiden in Zusammenhang mit der Reconquista, die wissenschaftlichen Werke der sephardischen Juden.⁵⁶ Auch hier ist es das soziopolitische Umfeld, das den Schriftsteller in erster Linie interessiert. Im Mittelpunkt des Interesses Heines an der sephardischen Gelehrtenfamilie Abravanel steht die Person Isaak Abravanels (1437–1508),⁵⁷ der die historische
52 HSA XX, S. 167. 53 Vgl. Kommentar Windfuhr in DHA V, S. 580–587. 54 HSA XX, S. 203. 55 Vgl. Kommentar Windfuhr in DHA V, S. 274–281. 56 Vgl. Jäger, Spanien, S. 123–129; Grundmann, Rabbi, S. 237. 57 Vgl. Jäger, Spanien, S. 119ff.
Das Fragment
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Vorlage des im dritten Kapitel auftretenden Don Isaak Abarbanel liefert.⁵⁸ Verfolgt man das Schicksal dieses Mannes − die hohe soziale Stellung als Steuereinnehmer, Zollpächter und Heereslieferant, die er am spanischen Königshof bis zu seiner Vertreibung 1492 genoss, der erneute politische Einfluss im Venezianischen Senat sowie seine bedeutende Tätigkeit als Bibelexeget, der die Texte des Tanach aus zeitgeschichtlicher Perspektive interpretiert und heute als frühester jüdischer Vertreter einer historisch fundierten Bibelkritik gilt⁵⁹ – steht dessen Lebensweg paradigmatisch für jene kulturelle Symbiose, die dem sephardischen Judentum mit seinem nichtjüdischen Umfeld im arabischen Raum gelingt.⁶⁰ Am Beispiel der Familiengeschichte der Abravanels − neben Isaak nennt Heine in einem Brief noch dessen ältesten Sohn, Jehuda Abravanel, seines Zeichens Arzt, Philosoph und Dichter, der als bedeutendster jüdischer Vertreter des Humanismus gilt⁶¹ − wird dem Schriftsteller jenes andere jüdische Leben in der Diaspora aufgezeigt, das, zwar auch von Verfolgung geprägt, auf Interaktion und Koexistenz beruht und auf diese Weise „im klaren Kontrast [steht] zu der gängigen Vorstellung von Diaspora als einer isolierten ‚anderen‘ Gemeinschaft in der (durch eine homogene nationalstaatlich organisierte Gesellschaft repräsentierte) Fremde […]“⁶². Dieses positive Bild eines mit seinem nichtjüdischen Umfeld in engem Kontakt stehenden Sepharden, wissenschaftlich tätig und politischen Einfluss besitzend, wird in der Figur des Don Isaak im Rabbi jedoch konterkariert.⁶³ Interaktion und Koexistenz verzerren sich zum Bild des Renegaten, der als Narr oder zumindest als Exzentriker,⁶⁴ erinnernd an Cervantes Don Quichote,⁶⁵ in den Text Heines eingeführt wird. In der Rolle des Ritters, der mit seiner Preisung Saras, der Ehefrau des Rabbi, deren Sittlichkeitsgefühl verletzt, entlarvt sich, „[d]er getaufte Jude […] [als] eine lächerliche, weltfremde Figur, zugleich aber auch [als] eine tragische; denn wie der Mann von la Mancha verkennt er mit seinem albernen ritterlichen Gehabe die historische Realität seines Volkes, die eine des Leidens und des Todes ist“⁶⁶.
58 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 237. 59 Zur Person Isaak Abravanels vgl. Kommentar Windfuhr in DHA V, S. 578f. 60 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 238. 61 Zur Person Jehuda Abravanels vgl. Kommentar Windfuhr in DHA V, S. 579. 62 Mayer, Diaspora, S. 49f. 63 Hier muss der Auffassung Grundmanns widersprochen werden, die die Figur als ungebrochene eines sephardischen Juden zeichnet, um Heines Bindung an die Überlegungen des Culturvereins zu demonstrieren. Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 240f. 64 Vgl. Witte, Tradition, S. 48. 65 Vgl. Witte, Tradition, S. 49. 66 Witte, Tradition, S. 49.
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In der Figur Don Isaaks wird verdeutlicht, dass Heine zwar im Sinne des Culturvereins an die Kontrastierung von Abgrenzung und Öffnung jüdischen Lebens in der Diaspora die als abschlägig beurteilte aschkenasische und die als positiv bewertete sephardische Strömung der europäischen Juden bindet. Im Zuge seines historiographischen Studiums und der literarischen Umsetzung der DiasporaThematik im Rabbi löst sich Heine jedoch aus jener einfachen Dichotomie, die der Verein in Bezug auf Aschkenasim und Sephardim vorgibt. Wird in der Zeichnung der Narren das Ergebnis einer den Gewaltexzessen des Umfelds ausgelieferten jüdischen Existenz ausgestaltet, pervertiert die Figur Don Isaaks die wirtschaftlich und kulturell fruchtbare Interaktion von Sepharden mit ihrem nichtjüdischen Umfeld. Der Abfall Don Isaaks bedeutet dabei nicht einen bloßen Übertritt zum Christentum, unter dessen Deckmantel sich die jüdische Tradition im Sinne des Marranentums weiterleben ließe; dem Abfall Don Isaaks ist vielmehr eine Abkehr von jeder positiven Religion eingeschlossen unter Hinwendung zu dem von Heine in den 1840er Jahren ausgearbeiteten Konzept des Hellenentums: Ja, ich [Don Isaak] bin ein Heide, und eben so zuwider wie die dürren, freudlosen Hebräer sind mir die trüben, qualsüchtigen Nazarener. Unsre liebe Frau von Sidon, die heilige Astarte, mag es mir verzeihen, daß ich vor der schmerzenreichen Mutter des Gekreuzigten niederknie und bete … Nur meine Knie und meine Zunge huldigt dem Tode, mein Herz blieb treu dem Leben!⁶⁷
In der Figur des Don Isaak begegnet dem Leser also nicht jener sephardische Jude, der im intellektuellen Diskurs mit seinem nichtjüdischen Umfeld selbstbewusst seine jüdische Identität lebt. In Don Isaak Abravanel, dem „Neffe[n] des großen Rabbi, dem besten Blute Israels entsprossen […], wo nicht gar dem königlichen Geschlechte Davids“⁶⁸, verbildlicht sich vielmehr die von Säkularisierung gezeichnete jüdische Existenz des 19. Jahrhunderts,⁶⁹ dessen einzige Verbindung zur jüdischen Existenz in seiner Vorliebe für die jüdische Küche zu bestehen scheint.⁷⁰ Dass sich auch diese Figur trotz ihres Abfalls von jeglicher Religion aus der historischen Erfahrung des Scheiterns schöpft, auch sie von jenen soziopolitischen Faktoren bestimmt ist, welche die jüdischen Verwandten zu Narren macht, wird in der Reaktion Don Isaaks auf die Anspielungen des Rabbis bezüglich seiner Abstammung gezeigt: „Da klirrte das Schwertgehänge unter dem Mantel des Spaniers, seine Wangen erblichen wieder bis zur fahlsten Blässe, auf seiner Oberlippe zuckte es wie Hohn der mit dem Schmerze ringt, aus seinen Augen
67 B I, S. 498. 68 B I, S. 496. 69 Vgl. Kommentar Windfuhr in DHA V, S. 591f.; Witte, Tradition, S. 48; Jäger, Spanien, S. 138f. 70 Vgl. B I, S. 498.
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grinste der zornigste Tod […].“⁷¹ In der Mimik der Figur Don Isaaks wird jenes Manko jüdischer Existenz in der Diaspora offenbart, das es gemäß der von Aufklärung und Emanzipation bestimmten Perspektive des politisch engagiertem Schriftsteller Heines auf die jüdische Existenz zu beseitigen gilt: Scheint sich in der Biographie sephardischer Juden auch die Symbiose von jüdischer und nichtjüdischer Kultur zu exemplifizieren, bleibt die jüdische Existenz doch im Nachteil gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Solange die jüdische Minderheit juridisch der Mehrheitsgesellschaft nicht gleichgesetzt ist, ist sie schutzlos deren Wohlwollen ausgeliefert, kann sich das Klima der Toleranz im Moment des Wandels in Ausschluss und Pogrom wandeln. Als tolerierte Randgruppe sind die Juden, ob sephardisch oder aschkenasisch, ob altorthodox, reformiert oder assimiliert, immer durch fundamentalistische Strömungen ihres Umfelds bedroht und sie scheitern am soziopolitischen Umstand ihrer Rechtlosigkeit als Minderheit. Solange die rechtliche Emanzipation der Juden nicht durchgesetzt ist, wird ihre Geschichte immer eine des Scheiterns bleiben und wird der Geschichtsoptimismus der intellektuellen Diskurse der Mehrheitsgesellschaft ad absurdum geführt.
3 locus terroris – Schrecken der Diaspora 3.1 Fichte und Palme – Wüsteneien jüdischen Lebens Das von Heine mit der jüdischen Geschichte verbundene Leid der Juden in der Diaspora wird jedoch nicht allein in den Figuren des Rabbi verkörpert. In der Zeichnung der Textorte werden die seelischen und körperlichen Verkrüppelungen ihrer Bewohner gespiegelt. Im Rabbi sind die Orte der Diaspora Orte des Schreckens. Die Darstellung der Diaspora als lebensfeindlicher Ort ist bereits vor dem Rabbi im Werk Heines zu finden. Schon vor Eintritt des Schriftstellers in den Culturverein und vor Beginn der Arbeiten am Rabbi-Fragment zeichnet Heine die diasporische Existenz im Bild der Ödnis. Ein 1822 entstandenes und erstmals 1827 im Buch der Lieder unter der Nummer XXXIII des Lyrischen Intermezzos veröffentlichtes Gedicht ist ein eindrückliches Beispiel hierfür:⁷²
71 B I, S. 496. 72 Zur Entstehungsgeschichte des Gedichts vgl. Kommentar von Pierre Grappin in DHA I/2, S. 812.
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Ein Fichtenbaum steht einsam Im Norden auf kahler Höh. Ihn schläfert; mit weißer Decke Umhüllen ihn Eis und Schnee. Er träumt von einer Palme, Die, fern im Morgenland, Einsam und schweigend trauert Auf brennender Felsenwand.⁷³
Repräsentativ für die Forschung bemerkt Gerhard Höhn im Heine-Handbuch den für die Liedersammlung typischen kontrastierenden Aufbau. Personifizierte Naturbilder des Nordens und des Südens werden einander formal und motivisch vollkommen antithetisch gegenübergestellt.⁷⁴ Fichte und Palme werden zumeist als Prinzipien des Männlichen und Weiblichen gelesen, deren Trennung durch die Projektion auf die Natur als unüberwindlich und absolut dargestellt sei.⁷⁵ Mit dieser Deutung reiht sich das Gedicht ein in das von der Forschung als charakteristisch eingeschätzte Liebessystem im Werk Buch der Lieder, dessen Sprecher getragen ist von Abhängigkeit und Zerrissenheit gegenüber der lyrischen Figur der Geliebten.⁷⁶ Demgegenüber fordert Klaus Briegleb in seinem Kommentar zum Lyrischen Intermezzo, den Blick vom Liebesschmerz des lyrischen Sprechers zu lösen und einen weit tiefer gehenden Konflikt in den Gedichten zu vermuten.⁷⁷ So sei der Zyklus verschiedenen Spannungsbereichen abgerungen, welche sich aus zeitkritischem Denken, poetischer Begabung sowie der Herkunft des Dichters zusammensetzten und von privaten und sozialen Erfahrungen desselben belebt seien.⁷⁸ Bereits ein früher Rezensent der Sammlung, Karl Immermann, verweist in seiner Besprechung auf dieses Ringen, das weit über das Leiden an der Liebe hinausgehe. So bemerkt Immermann in einem Beiblatt des Rheinisch-Westfälischen Anzeigers von 1822: Jenen bittren Grimm über eine nüchterne, unempfängliche Gegenwart, jene tiefe Feindschaft gegen die Zeit scheint nun die kraftvolle Natur unseres Heine ganz besonders stark zu hegen, und daraus wird es mir erklärlich, warum ein Jüngling unter achtundfünfzig Gedichten auch nicht ein einziges zu geben vermochte, aus dem Freude und Heiterkeit spricht. Mit
73 B I, S. 88. 74 Vgl. Gerhard Höhn: Heine-Handbuch. Zeit-Person-Werk. Stuttgart/Weimar 2004. S. 64. 75 Vgl. Höhn, Handbuch, S. 64. 76 Vgl. Jan-Christoph Hauschild/Michael Werner: Heinrich Heine. „Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst“. Eine Biographie. Berlin 1999. S. 81. 77 Vgl. B II, S. 638ff. 78 Vgl. B II, S. 639.
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dem, worüber er unmittelbar sich beklagt [d. i. über die Abweisung durch die Geliebte, Anm. d. Verf.], würde er leichter und harmonischer fertig geworden sein, läge nicht das oben angedeutete Bewußtsein eines tiefen Zwiespaltes in seiner Seele.⁷⁹
Heine bestätigt in einem Brief vom 24. Dezember 1822 an den Rezensenten die Existenz eines solchen Zwiespalts, ohne ihn jedoch weiter zu konkretisieren.⁸⁰ Die „Quelle meiner dunklen Schmerzen“⁸¹, so der Schriftsteller, bleibt dem Leser eine Äußerung ohne weitere Ausführung. In seinem Aufsatz Fichtenbaums Palmentraum. Ein Heine-Gedicht als Chiffre deutsch-jüdischer Identitätssuche⁸² unternimmt Hans-Jürgen Schrader den Versuch, jenen, vom Schriftsteller benannten Schmerz zu konkretisieren. Der Aufsatz kommt der Aufforderung Brieglebs nach und löst für die Analyse des XXXIII. Gedichts den bekannten Blick „von dem frustrierenden, unlösbaren Konflikt zwischen erotischem Verlangen und bitterem Verzicht, zwischen ununterdrückbarem Bedürfnis nach sinnlichem Genuss und fortwährendem Schmerz über die aussichtslose Verwirklichung“⁸³. Schrader liest das Gedicht „als allegorische Abbreviatur der eigenen Bewusstseinskrise“⁸⁴, die um Zugehörigkeit und Ablehnung des Sprechenden durch das gesellschaftliche Umfeld kreist. Der von Immermann genannte Begriff des Zwiespalts lässt sich nach dieser Lesart mit dem Konflikt um das Selbstverständnis des Schriftstellers Heine füllen – ein Konflikt, wie er exemplarisch ist für den akkulturierten Juden im 19. Jahrhundert.⁸⁵ Die auf die Natur projizierte Trennung zweier Liebenden, wie sie oben beschrieben wurde, ist nach dieser Lesart Gleichnis für den Zwiespalt des noch immer in der Peripherie der Mehrheitsgesellschaft lebenden akkulturierten Juden zu Beginn des 19. Jahrhunderts.⁸⁶ Dieser Lesart ist eine weitere hinzuzufügen, welche das XXXIII. Gedicht nicht allein als lyrische Formulierung des inneren Konflikts jüdischer Existenz zur Zeit Heines versteht. In den Naturbildern des XXXIII. Gedichts wird auch das
79 B II, S. 639f. 80 Vgl. B II, S. 639. 81 HSA XX, S. 61. 82 Hans Jürgen Schrader: Fichtenbaums Palmentraum. Ein Heine-Gedicht als Chiffre deutschjüdischer Identität. In: The Jewish Self-Portrait in European and American Literature. Hrsg. v. dems. [u. a.]. Tübingen 1996 (Conditio Judaica 15). S. 5–44. 83 Höhn, Handbuch, S. 60. 84 Schrader, Fichtenbaum, S. 8. 85 Zur Bewusstseinskrise vgl. auch die Einleitung, S. 6f. 86 Vgl. in diesem Sinne auch Karlheinz Fingerhut: „Manchmal nur, in dunklen Zeiten“. Heine, Kafka, Celan. Schreibweisen jüdischer Selbstreflexion. In: HJb 41 (2002), S. 113f. – Zum ganzen Absatz vgl. Schrader, Fichtenbaum, S. 6ff.
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die Jahrhunderte übergreifende Phänomen jüdischen Lebens in der Diaspora thematisiert. In der ausgestalteten Ödnis und Wüstenei des Gedichts wird das bedrohliche Lebensumfeld der jüdischen Minderheit verbildlicht. Zunächst ist zu bemerken, dass die dort genannten Baumarten, Fichte und Palme, auch in der jüdischen Motivik zur Zeichnung der Diaspora zu finden sind. Die jiddische Bibelübersetzung des Josel ben Alexander Witzenhausen, 1679 in hebräischer Schrift, dann im Rahmen der pietistischen Biblia Pentapla 1711 als erste jüdischdeutsche Bibel in lateinischer Schrift publiziert, zeichnet den Nadelbaum als etwas Fremdartig-Bedrohliches.⁸⁷ Die Fichte ist in der Metaphorik der jüdischen Tradition Sinnbild des Fremden, des bedrohlich Wirkenden, kann mithin für das nichtjüdische Umfeld gelesen werden. Die Palme hingegen erinnert an Israel, der imaginierten Heimat des diasporischen Judentums. Sie kann als Allegorie des Volkes Israel gelesen werden.⁸⁸ So sind die Bäume als Metaphern zweier asymmetrischer Räume – bedrohlicher Fremde/Diaspora und ersehnter Heimat – einander gegenübergestellt. Gefüllt werden können diese Räume mit der von Schrader favorisierten Spannung des christlichen Umfelds und jüdischer Tradition im Bewusstsein moderner jüdischer Existenz.⁸⁹ Sie können jedoch auf anderer Ebene bildhaft für die Diaspora als Ort der Vereinsamung und der Zerrüttung sowie als Sehnsuchtsort „Israel“ gelesen werden. Zieht sich die Lesart Schraders eng um das Subjekt, liest die vorliegende Arbeit das Gedicht eher als Zustandsbeschreibung jüdischen Lebens in der Diaspora. Beide Perspektiven schließen sich jedoch nicht aus. In den gegensätzlich gezeichneten Naturbildern wird sowohl die innere Bewusstseinskrise moderner jüdischer Existenz als auch der historische Erfahrungs- und Empfindungshorizont der Juden in der Diaspora gespiegelt. Versteht man die Krise der modernen jüdischen Existenz als Variante des jahrhundertealten Erfahrungshorizontes einer unterdrückten Minderheit, so ist eine beide Ebenen verbindende Lesart möglich. Einsam steht der Fichtenbaum im erstarrten Klima des Nordens: 1 2 3 4
Ein Fichtenbaum steht einsam Im Norden auf kahler Höh. Ihn schläfert; mit weißer Decke Umhüllen ihn Eis und Schnee.⁹⁰
Um den Baum des Nordens ist eine Stimmung der Vereisung, Erstarrung und Isolation aufgebaut. Liest man das Gedicht mit Rekurs auf die diasporische Existenz, 87 Vgl. Hiob 40,17. 88 Vgl. 1.Kön, 7,36. 89 Vgl. Schrader, Fichtenbaum, S. 24f. 90 B I, S. 88.
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so verweist das Naturbild der nördlichen Landschaft auf die Erfahrungen der jüdischen Minderheit. Umgeben von Tod und Gefahr, ausgedrückt in den Metaphern Eis und Schnee, ziehen sich die Gemeinden der Diaspora in sich selbst zurück. Dieses selbst bezogene Leben der jüdischen Gemeinden in der Diaspora, umgrenzt von Repressalien und Gesetzen, ist im Bild des isolierten Baums ausgedrückt. Einsam steht der Baum auf kahler Höhe und ist somit aus jeder schützenden Gemeinschaft herausgestellt, der Gefahr ununterbrochen ausgesetzt. Dass sich jüdisches Leben in einem feindlich gesinnten Umfeld nach innen, in die schützende Gemeinschaft, verlagert, ist im „schläfert[en]“ Baum versinnbildlicht. Mittels des lyrischen Griffs der Beseelung ist das einzige Bild des Lebens in dieser Strophe in das Innere der Fichte verlegt. Der Baum „lebt“ im Halbzustand zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Leben und Tod, der ständigen Gefahr des Erfrierens ausgesetzt. Isoliert, tödlicher Bedrängnis ausgesetzt, zurückgezogen in sich selbst, träumend und erinnernd, zeichnet das Gedicht vom einsamen Fichtenbaum in der ersten Strophe ein Bild vom Schicksal der jüdischen Gemeinden in der Diaspora.⁹¹ Wovon der Baum träumt, offenbart die zweite Strophe des Gedichts: 5 6 7 8
Er träumt von einer Palme, Die, fern im Morgenland, Einsam und schweigend trauert Auf brennender Felsenwand.⁹²
Antithetisch ist hier das Bild eines anderen Baumes aufgebaut – der Palme. Südliche Hitze steht der nördlichen Kälte der ersten Strophe kontrastierend gegenüber. Dennoch erscheint der erträumte Baum des Südens nicht im zu erwartenden Bild üppiger Vollkommenheit und lebensspendender Glückseligkeit. Tödliche Glut und Hitze treten an die Stelle von lebensfeindlicher Kälte und Schnee. Auch die Palme befindet sich wie die Fichte im Zustand existenzieller Bedrohung. Anthropomorphe Empfindungen der ersten Strophe, wie Einsamkeit, Trauer, der Bedarf nach Geselligkeit und bergender Gemeinschaft, sind in der lebensfeindlichen Umgebung der Palme verbildlicht. Ähnlich wie der Fichtenbaum nimmt sie auf der brennenden Felswand eine isolierte Höhe ein, welche ihr weder Schutz noch Halt verleiht. Hervorgehoben wird die abgesonderte Stellung des träumenden Fichtenbaums und der geträumten Palme durch die fehlende Kommunikation zwischen beiden. Ein lebensspendender Austausch ist aufgrund der Verwur-
91 Vgl. Schrader, Fichtenbaum, S. 6ff. 92 B I, S. 88.
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zelung beider in ihr Umfeld nicht möglich. Mit der Evokation des Gegenbildes bricht das Gedicht ab.⁹³ Mit Blick auf die literarische Verbildlichung jüdischer Diaspora im Gedicht leuchtet in der südlichen Landschaft das verlorene und verheißene Ursprungsland der Juden, Erez Israel, assoziativ auf. Träumend wie der Baum im lebensfeindlichen Eis, sehnt sich das diasporische Judentum nach dem Gelobten Land und kann doch die Trennung nie räumlich überwinden. Ihm bleibt allein die Erinnerung, geborgen in der Lektüre und Kommentierung der Heiligen Schrift, die von Erez Israel berichtet. Nur im imaginären Raum der Erinnerung, im gelesenen und geschriebenen Wort, wird die Distanz überwunden, Heimat an die Stelle von Exil gesetzt. Der Mythos von der Rückkehr nach Israel erfüllt sich in der Bildsprache des Gedichts nicht. Eine Verbindung zu Zion wird allein durch die Erinnerung des Wortes und die gefühlte Einsamkeit und Trauer um den Verlust aufrechterhalten. Einsamkeit und Trauer sind beherrschend sowohl für das Bild von der Fichte als auch für jenes von der Palme und verweisen auf den bedrohten Zustand der jüdischen Diasporagemeinschaft (vgl. Verse 1 und 7). Worum Erez Israel trauert, ist im letzten Vers der zweiten Strophe angedeutet. Die Zerstörung des zweiten Tempels flackert in der brennenden Felswand auf. Mit dem Tempel aber steht auch Israel als geographische Wurzel jüdischer Geschichte in Flammen. Das Schweigen und die Einsamkeit der südlichen Landschaft stehen für ein verlassenes Land, dessen Bewohner nach dem Verlust ihres religiösen Zentrums in die Diaspora getrieben wurden und nur in der Lektüre Zutritt finden zu Zion. Im Bild von der Fichte und von der Palme leuchten die Räume der jüdischen Diaspora und des verheißenen Erez Israel assoziativ auf. Isolation, Fremdheit und Gefahr, Themen der oben dargelegten Lektüremöglichkeit, verweisen in dieser Rezeptionsart auf das Thema der jüdischen Diaspora. Die Möglichkeit eines Austauschs, ja einer Verwurzelung in das diasporische Umfeld wird nicht einmal angedacht. Dafür begegnet dem Leser die Sehnsucht nach dem verlorenen Ursprungsland als Fundament des Fortbestands jüdischen Lebens in der Diaspora. Die Hoffnung auf Israel wird jedoch nicht erfüllt. In der Erinnerung an das Verlorene tritt das diasporische Judentum in sich selbst zurück, isoliert von einem feindlich gesinnten Umfeld.
93 Vgl. Schrader, Fichtenbaum, S. 17f.
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3.2 Bacherach und Frankfurt – Orte existenzieller Not In der Zeichnung diasporischer Orte als Wüsteneien, als leblose und lebensbedrohliche Orte, spiegelt sich in den Texten Heines die Erfahrung jüdischen Lebens außerhalb Israels. Auch im Rabbi ist das jüdische Leben an Orte existenzieller Not gebunden. Bereits der erste Handlungsraum, Bacherach, wird als bedrohlicher Ort geschildert. So zeichnen die einleitenden Sätze des Romanfragments ein düsteres Bild der Stadt am Rhein und verweisen im Duktus des historischen Romans auf die Pogrome im Rhein-Main-Gebiet. Dieses Bild ist mit Saras Erinnerung, ihrer traulichen Schilderung jüdischen Lebens in der Diaspora, zunächst in den Hintergrund verlagert. Der Leser erhält einen freimütigen Einblick in den All- und Festtag des durch das Gebot der Absonderung bestimmten jüdischen Daseins. Erst die heraufziehende Pogromsituation verzerrt diese Existenz zu einer von Gewaltexzessen und Tod gezeichneten. Mit fortschreitender Handlung wandelt sich der Ort intakten jüdischen Lebens der Diaspora-Gemeinde in einen von der Bedrängnis der Minderheit gezeichneten, deren Bewohner mehr und mehr dem Leid von Verfolgung und Flucht ausgesetzt sind. Höhepunkt dieser Darstellung ist die Frankfurter Judengasse, die mit seinen Evokationen von der Diaspora als Wüstenei an das XXXIII. Gedicht des Intermezzos denken lässt. Obwohl dem Stadtraum Frankfurts zugehörig, jener für die Protagonistin Sara „neue[n] bunte[n] Welt“⁹⁴, erscheint das Judenviertel und dessen unmittelbare Umgebung als Ödnis, als, wie noch zu zeigen sein wird, räumliches Abbild jenes an Körper und Seele zerrütteten Zustands seiner Bewohner. So ist die Judengasse durch „schmale Nebengäßchen“⁹⁵, „durch ein Labyrinth von engen und krummen Straßen“⁹⁶, durch „den unbewohnten, wüsten Platz, der das neue Judenquartier von der übrigen Stadt“⁹⁷ separiert, getrennt und somit vom Leben der Stadt abgesondert. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die „starken Mauern“⁹⁸ und „eisernen Ketten vor den Toren“⁹⁹ des Viertels, die Schutz vor Pogromen bieten sollen, was sich aber mit Blick auf die Bewohner als Trugschluss erweist. Der Protagonist der Handlung, Rabbi Abraham, macht den Leser auf den desolaten Zustand jüdischen Lebens an den Orten der Diaspora aufmerksam: „[D]er Rabbi […] ging mit seinem Weibe weiter die Judengasse hinauf. ‚Siehe
94 B I, S. 475. 95 B I, S. 479. 96 B I, S. 479. 97 B I, S. 479. 98 B I, S. 479. 99 B I, S. 479.
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schöne Sara‘ – sprach er seufzend – ‚wie schlecht geschützt ist Israel! Falsche Freunde hüten seine Tore von außen, und drinnen sind seine Hüter Narrheit und Furcht!‘“¹⁰⁰ Trotz der Mauern und Tore dringt die feindliche Ablehnung der Mehrheitsbevölkerung in das Judenviertel, dem abgezirkelten Ort jüdischen Lebens in der Diaspora. Wie ein Ring umklammert sie diesen Ort und bedroht ihn unausgesetzt. Unter ihrer Belagerung zerrieselt das konstituierende Element der jüdischen Gemeinschaft, der Glaube der Väter an die Auserwähltheit des Volkes Israel und die Hoffnung auf den Messias.¹⁰¹ Dass das bedrohliche Umfeld der Juden, verbildlicht in jener lebensfeindlichen Ödnis, die das Frankfurter Ghetto umgibt, in deren Rückzugsort eindringt, zeigt sich im Rabbi bereits in den ersten Eindrücken dieser Gasse. Die Lebensfeindlichkeit der Diaspora, gespiegelt in der vereinsamten Straße, begegnet dem flüchtenden Paar, wie vorher auf dem Vorplatz der Judengasse, auch hier. Gesteigert wird diese Tristesse durch den Verweis des Erzählers auf den späteren Zustand des Judenviertels, der vom unaufhaltsamen Verfall und der wachsenden Ödnis des Ortes und des an ihm stattfindenden Lebens zeugt: Langsam wanderten die beiden durch die lange, leere Straße, wo nur hie und da ein blühender Mädchenkopf zum Fenster hinausguckte, während sich die Sonne in den blanken Scheiben festlich heiter bespiegelte. Damals nämlich waren die Häuser des Judenviertels noch neu und nett, auch niedriger wie jetzt, indem erst späterhin die Juden, als sie in Frankfurt sich sehr vermehrten und doch ihr Quartier nicht erweitern durften, dort immer ein Stockwerk über das andere bauten, sardellenartig zusammenrückten und dadurch an Leib und Seele verkrüppelten. Der Teil des Judenquartiers, der nach dem großen Brande stehen geblieben und den man die alte Gasse nennt, jene hohen schwarzen Häuser, wo ein grinsendes, feuchtes Volk umherschachert, ist ein schauderhaftes Denkmal des Mittelalters.¹⁰²
Nur die Synagoge erweist sich auf den ersten Blick als vitaler Ort jüdischen Lebens. Die Stimmen der dort Versammelten dringen an das Ohr der Flüchtenden und leiten sie durch das leere Judenviertel. Doch nicht als mit einer Stimme sprechend, kraftvoll an den Allerhöchsten gewandt, wie es die Heiligkeit des zum Zeitpunkt der Handlung zu begehenden Pessach-Festes vermuten ließe, wird die jüdische Gemeinde in den Text eingeführt. Vielmehr schlägt ein Gewirr aus „überaus lauten Stimmen“¹⁰³ an das Ohr der Protagonisten und erinnert den Leser an die biblische Legende von der Verwirrung Babels nach Einsturz des Turmes.
100 B I, S. 486. 101 Vgl. B V, S. 479. 102 B I, S. 486. 103 B I, S. 487.
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Das sakrale Wort, Säule des altorthodoxen Judentums in der Diaspora, hat seine identitätsstiftende Kraft verloren, ist nur mehr sinnentleerte Hülle im jüdischen Alltag der Diaspora. Die im weiteren Textverlauf folgende Darstellung der Figuren der Synagoge unterstreicht, dass die Profanität des Alltags, welche die Furcht vor dem feindlichen Umfeld mit einschließt, längst in die Synagoge Einzug gehalten hat und die jüdische Existenz von innen zerfrisst. Die Ödnis des Lebensraums ist eindrücklich im schleichenden Prozess seelischer Erkrankung der Protagonisten des Rabbi gespiegelt. Die Orte der Diaspora und der sich auswachsenden psychischen Degeneration gehen in der Zeichnung der Figuren eine unauflösliche Verbindung ein.¹⁰⁴ Dabei gibt sich der Text nicht allein mit der bloßen Diagnose der seelischen Erkrankung seiner Figuren zufrieden. Er beschreibt, wie die Erkrankung der Seele allmählich von diesen Figuren Besitz ergreift. So werden Abraham und Sara zunächst in der Sicherheit der Bacheracher Gemeinde geschildert, ihre Verwurzelung in den geographischen und kulturellen Raum der Rheinlandschaft betont. Erst mit dem Einbruch des Pogroms beginnt die Entwurzelung, hält der Wahnsinn Einzug in das Innere der Figuren. Wie die Feiernden des Sederabends im Text, so sieht sich auch der Leser unerwartet mit der lebensbedrohlichen Situation der jüdischen Gemeinde in Bacherach konfrontiert. Er nimmt die Perspektive Saras ein und erlebt mit dieser den für sie unerklärlichen Wandel in der Gestalt und im Gestus ihres Mannes.¹⁰⁵ Eben noch in den Ritualen der Tradition geborgen, verwandelt der Rabbi im nächsten Moment die Heiligkeit des Sederabends in eine feuchtfröhlich Gesellschaft:¹⁰⁶ Derweil nun die schöne Sara andächtig zuhörte, und ihren Mann beständig ansah, bemerkte sie wie plötzlich sein Antlitz in grausiger Verzerrung erstarrte, das Blut aus seinen Wangen und Lippen verschwand, und seine Augen wie Eiszapfen hervorglotzten; – aber fast im selben Augenblicke sah sie, wie seine Züge wieder die vorige Ruhe und Heiterkeit annahmen, wie seine Lippen und Wangen sich wieder röteten, seine Augen munter umherkreisten, ja, wie sogar eine ihm sonst ganz fremde tolle Laune sein ganzes Wesen ergriff. Die schöne Sara erschrak wie sie noch nie im Leben erschrocken war, und ein inneres Grauen stieg kältend in ihr auf, weniger wegen der Zeichen von starren Entsetzen, die sie einen Momentlang im Gesichte ihres Mannes erblickt hatte, als wegen seiner jetzigen Fröhlichkeit, die allmählig in jauchzende Ausgelassenheit überging. Der Rabbi schob sein Barett spielend von einem Ohre nach dem andern, zupfte und kräuselte possierlich seine Bartlocken, sang den Agadetext nach der Weise eines Gassenhauers, und bei der Aufzählung der
104 Zu diesem Mechanismus vgl. auch Kapitel IV.4.1. 105 Zur Entwicklung der Sara-Figur und Protagonistin des Fragments vgl. George F. Peters: Rabbi redeux. Die schöne Sara und der „Anfang eines Romans“. In: Goltschnigg [u. a.], Harry, S. 87–99. 106 Vgl. Witte, Tradition, S. 44.
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ägyptischen Plagen, wo man mehrmals den Zeigefinger in den vollen Becher eintunkt und den anhängenden Weintropfen zur Erde wirft, bespritzte der Rabbi die jüngern Mädchen mit Rotwein, und es gab großes Klagen über verdorbene Halskrausen, und schallendes Gelächter. Immer unheimlicher ward es der schönen Sara bei dieser krampfhaft sprudelnden Lustigkeit ihres Mannes, und beklommen von namenloser Bangigkeit, schaute sie in das summende Gewimmel der buntbeleuchteten Menschen, die sich behaglich breit hin und her schaukelten, an den dünnen Paschabröten knoperten, oder Wein schlürften, oder mit einander schwatzten, oder laut sangen, überaus vergnügt.¹⁰⁷
Erklärt wird dieser Wandel, sowohl im Habitus als auch im Verhalten des Rabbi, erst im weiteren Verlauf der Handlung − nach der Flucht des Paares aus Bacherach. Erst an den Ufern des Rheins berichtet Abraham von seiner Entdeckung einer Kinderleiche, die jene zwei Fremden, die sich als Glaubensbrüder ausgegeben hatten, unter die feiernden Juden brachten, um sie des Ritualmords anzuklagen und damit ein Pogrom gegen die Juden in Bacherach zu provozieren. Jene Erkenntnis, sich und die Seinen plötzlich in der Falle des Ritualmordvorwurfs zu finden, vollzieht an der Figur jene Veränderung, die beispielhaft ist für die literarische Zeichnung der Schrecken der Diaspora in den Texten Heines. In der vor Angst erstarrten Figur, in deren krampfhaften Versuch, durch Munterkeit über das Wissen um das Bevorstehende hinwegzutäuschen, um sich und seine engsten Angehörigen zu retten, in der drastischen Charakterisierung des unerklärlichen Verhaltens des Rabbi, ist die lebensbedrohliche Situation der Juden in der Diaspora ausgedrückt.¹⁰⁸ Wie später der schönen Sara, ergießt sich auch dem Rabbi mit Einbruch des Pogroms ein „Eisstrom“¹⁰⁹ der Angst in die Seele. Aus seinen Augen, den Fenstern zur Seele, starren nur mehr leblose Eiszapfen hervor. Sein Gesicht ist in Farbe und Mimik das eines Toten, bevor er zum Schutz seiner selbst und seiner Frau in die Rolle des Narren schlüpft. Die aufsteigende Überlebensangst führt zum Erstarren des Inneren, zu jener psychischen und physischen Zerrüttung der von Heine gezeichneten Minderheit, wie sie sich dann in den Narrenfiguren des Frankfurter Ghettos manifestiert. So ist im Rabbi die Narrheit der gesteigerte Ausdruck jener ständig steigenden Beklemmung angesichts des bereits erlebten und zu erwartenden Unglücks, dem sowohl der Protagonist als auch ganz allgemein die Minderheit nicht ausweichen kann. Die Folgen der einbrechenden Gewalt für den seelischen und körperlichen Zustand der Juden in der Diaspora werden jedoch nicht nur an Rabbi Abraham verdeutlicht. Auch das Seelenheil und die physische Konstitution seiner Frau Sara werden durch das Pogrom und das Wissen um die Auslöschung ihrer Ange107 B I, S. 468. 108 Vgl. Witte, Tradition, S. 43. 109 B I, S. 473.
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hörigen nachhaltig gestört.¹¹⁰ Zunächst noch ahnungslos, verlässt sie mit ihrem Mann den Ort des Pogroms und begibt sich auf eine nicht minder gefahrvolle Fahrt auf dem Fluss. Die Erstarrung an Körper und Geist, die bereits an Abraham zu bemerken ist, überträgt sich auf die Figur im Moment der Aufklärung über das drohende Pogrom. Mit den Worten des Rabbi „Siehst du den Engel des Todes? Dort unten schwebt er über Bacherach!“¹¹¹ verwandelt sie sich in ein „weinendes Marmorbild“¹¹², leblos und „wie mit gebrochenen Gliedern“¹¹³. Diese Ohnmacht gegenüber den Schrecken der Diaspora wird in der Figur der Sara jedoch immer wieder überwunden. Die Verbundenheit mit der bis zum Pogrom gefühlten Heimat in der Diaspora bricht sich während der Fahrt auf dem Rhein noch einmal machtvoll Bahn. Dabei ist an das literarische Bild von der Fahrt auf dem Fluss nicht allein der traditionelle Sinngehalt vom Verlassen der Heimat und von der Begegnung mit dem unbekannten, gefährlichen Territorium gebunden.¹¹⁴ Die Fahrt auf dem Rhein unterstreicht vielmehr das kulturelle Vernetztsein der jüdischen Existenz mit den Orten der Diaspora. So nimmt der Rhein für Sara nicht etwa die Gestalt einer gefährlichen Wassergottheit¹¹⁵ an, vielmehr wird er zum trostspendenden Vater, der sie mit dem traditionellen Erzählgut der Rheingegend und der Erinnerung an das vergangene Familienleben zu beruhigen weiß.¹¹⁶ Hier, in der Weitergabe von mündlich tradiertem Erzählgut der Rheingegend, erzählt mit der Stimme der jüdischen Tante, ist das Konzept jener Mehrfach-Identität angedeutet, die verschiedenen Kulturkreisen zugehörig ist und das Schreiben Heinrich Heines maßgeblich beeinflusste.¹¹⁷ Dass dieses Bewusstsein
110 Zur psychischen Entwicklung der Protagonistin vgl. auch Peters, Rabbi redeux, S. 96f. 111 B I, S. 470. 112 B I, S. 471. 113 B I, S. 470. 114 Vgl. Horst und Ingrid Daemmrich. Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. 2. Aufl. Tübingen 1995. 115 Vgl. Daemmrich, Themen, S. 182. 116 Vgl. B I, S. 471f. 117 Vgl. Witte, Tradition, S. 13. – Mit dem Ineinanderfließen verschiedener Kulturkreise steht diese Schilderung des Rheins konträr zu den zeitgenössischen Rheinbildern der deutschen Literatur, in der „der Rhein ein Zankapfel ist und der umkämpfte Grenzfluß, mit dem man auch die kulturelle und mentale Differenz zu Frankreich markiert: − die eine nationale Identität wird beschworen in der Abgrenzung von der anderen.“ Siehe Ernst-Ullrich Pinkert: Differenz und Identität. Krieger und Sänger. Zur Rheinsymbolik bei Heine und in der deutschen Lyrik des 19. Jahrhunderts. In: Opitz, Differenz, S. 250. – Im Vermischen des romantischen Szenarios mit der jüdischen Lebenswelt, in der Beschwörung deutscher und jüdischer Legenden drückt sich jene kulturelle Hybridität aus, die für das Schreiben Heines maßgeblich ist und die insbesondere die Dichotomie von „eigener Identität/anderer Identität“ aufzulösen sucht. Diese Strategie des Schreibens Heines ist in Kapitel V und VI näher zu beleuchten.
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um die Zugehörigkeit zu verschiedenen Kulturkreisen jedoch nachhaltig gestört ist, zeigt die weitere Fahrt Saras auf dem Rhein. Eben noch friedlich, verwandeln die Bilder der Haggada den Fluss in einen todbringenden Strom.¹¹⁸ Sie werden zu Traumbildern der jüdischen Diaspora, spiegeln Gefahr und Unglück der Minderheit. So dringen die Schrecken der Diaspora erneut in das Bewusstsein der Figur und lassen diese an Leib und Seele erstarren: So zogen der schönen Sara die alten Geschichten durch den Sinn, wie ein hastiges Schattenspiel; die Bilder vermischten sich auch wunderlich, und zwischendurch schauten halb bekannte, halb fremde bärtige Gesichter und große Blumen mit fabelhaft breitem Blattwerk. Es war auch als murmelte der Rhein die Melodien der Agade, und die Bilder derselben stiegen daraus hervor, lebensgroß und verzerrt, tolle Bilder […]. […] Plötzlich aber glaubte sie dort ihre Freunde und Verwandte zu sehen, wie sie mit Leichengesichtern und in weißwallenden Totenhemden schreckenhastig vorüberliefen, den Rhein entlang … es ward ihr schwarz vor Augen, ein Eisstrom ergoß sich in ihre Seele […].¹¹⁹
Doch vor dem endgültigen Erstarren der Seele, dem Degeneration an Körper und Geist folgen, rettet sie das Gebet, das rituelle Wort. Dieses besitzt die Kraft die Schreckensvision in die Heilsbotschaft der jüdischen Religion zu wandeln:¹²⁰ [E]in Eisstrom ergoß sich in ihre Seele, und wie im Schlafe hörte sie nur noch, daß ihr der Rabbi das Nachtgebet vorbetete, langsam ängstlich, wie es bei totkranken Leuten geschieht, und träumerisch stammelte sie noch die Worte: ‚Zehntausend zur Rechten, zehntausend zur Linken; den König zu schützen vor nächtlichem Grauen …‘ Da verzog sich plötzlich all das eindringende Dunkel und Grausen, der düstre Vorhang ward vom Himmel fortgerissen, es zeigt sich die heilige Stadt Jerusalem, mit ihren Türmen und Toren; in goldener Pracht leuchtete der Tempel; auf dem Vorhofe desselben erblickte die schöne Sara ihren Vater […]; aus den runden Tempelfenstern grüßten fröhlich alle ihre Freunde und Verwandte; im Allerheiligsten kniete der fromme König David, mit Purpurmantel und funkelnder Krone, und lieblich ertönte sein Gesang und Saitenspiel, – und selig lächelnd entschlief die schöne Sara.¹²¹
Das jüdische Nachtgebet, von Heine im zitierten Wortlaut verfremdet, kann seiner Funktion nach auch als Schutzgebet verstanden werden. Der gläubige Jude richtet das überlieferte Wort an seinen Schöpfer, fleht diesen um Schutz an und versichert ihm sein Vertrauen. Diese durch das rituelle Wort getragene Beziehung zwischen Gott und Gläubigem stärkt das jüdische Selbstverständnis des Betenden in den Gefahren der Diaspora, lässt ihn teilhaben an jener Vision einer durch
118 Vgl. Briegleb, Wassern, S. 233. 119 B I, S. 473. 120 Vgl. Briegleb, Wassern, S. 210. 121 B I, S. 473f.
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den Messias erlösten jüdischen Existenz. Wie die Bilder der Haggada, vermischt mit dem mündlich tradierten Erzählgut der Rheingegend, hält das sakrale Wort des Nachtgebets die physische und psychische Zerrüttung der Flüchtenden im Rabbi kurzzeitig auf, vertrieben sind Dunkelheit, Gefahr, Krankheit und Tod. An die Stelle der nächtlichen, von Gefahr erfüllten Landschaft tritt die früheste Utopie eines jüdischen Paradieses in den Texten Heinrich Heines – Zion.¹²² Doch haben die trostspendenden Traumbilder Saras und die durch das Gebet ausgelöste Vision einer baldigen Heimkehr nach Israel keinen Bestand vor den realen Ereignissen des Pogroms in Bacherach und der unablässigen Gefahr der Diaspora. Mit dem Auftreten des Rabbi als Zeuge des Bacheracher Pogroms in der Frankfurter Synagoge und dem beginnenden Kaddisch, dem „trübe[n] Gemurmel des Totengebets“¹²³, dringen die Schrecken der Diaspora endgültig in das Bewusstsein Saras und nehmen dieser den Lebensgeist, denn: […] sie hörte die Namen ihrer Lieben und Verwandten, und zwar begleitet von jenem segnenden Beiwort, das man den Verstorbenen erteilt: und die letzte Hoffnung schwand aus der Seele der schönen Sara, und ihre Seele ward zerrissen von der Gewißheit, daß ihre Lieben und Verwandte wirklich ermordet worden, alle ermordet und tot! Von dem Schmerz dieses Bewusstseins wäre sie schier selber gestorben, hätte sich nicht eine wohltätige Ohnmacht über ihre Sinne ergossen.¹²⁴
Dreimal lassen die einbrechenden Schrecken der Diaspora die Seele Saras erstarren und die Gewalt über ihren Körper verlieren − physische und psychische Zerrüttung nehmen ihren Anfang. Sie sind in der Figur des Narren, dessen unterschiedliche Ausprägungen das Frankfurter Judengetto bevölkern, vollendet. Deutlich wird im Rabbi mit der Metapher von der Welt als Tollhaus gearbeitet – eine Metapher, die für die europäische Literatur seit dem fünfzehnten Jahrhundert nachweisbar ist.¹²⁵ Der Text Heines greift somit ein im literarischen Diskurs der Mehrheitsgesellschaft verwurzeltes Motiv auf, um den Raum jüdischer Existenz in der Diaspora zu beschreiben und auf die soziopolitischen Umstände der jüdischen Minderheit zu verweisen. In der Übertragung der für den literarischen Diskurs der Mehrheitsgesellschaft geltenden Darstellungsmomente auf die jüdische Thematik diasporischer Existenz wird der innovative Beitrag Heines zur Literatur deutscher Sprache offensichtlich.¹²⁶ Die Welt als Tollhaus beziehungsweise der Raum jüdischer Diaspora als ein in seinen gesellschaftlichen Strukturen zutiefst 122 Vgl. Kommentar Windfuhr in DHA V, S. 681. 123 B I, S. 493. 124 B I, S. 494. 125 Vgl. Daemmrich, Themen, S. 370. 126 Vgl. Kommentar Windfuhr in DHA V, S. 505.
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gestörter Ort wird im Text Heines, ganz in der Linie der literarischen Tradition Europas, von literarischen Figuren bevölkert, in denen sich die allgemeine Degeneration der sie umschließenden Welt spiegelt.¹²⁷ Sie stehen in direkter Beziehung zur Schilderung des Niedergangs menschlicher und gesellschaftlicher Entwicklung, die in die psychische und physische Degeneration mündet, und stehen als Zeugen für das Scheitern der Geschichte bereit.¹²⁸ Die Voreingenommenheit und Intoleranz der Umwelt erweist sich für diese Handlungsträger als so unüberwindbar und lebensfeindlich, dass sie für den Einzelnen untragbar wird und ihn psychisch zerrüttet.¹²⁹ So grinsen Gestalt und Habitus des Narren dem Leser des Rabbi in jeder Figur des Frankfurter Judenviertels entgegen,¹³⁰ zeichnet der Text ein Raster aus Gewalt und Ausgrenzung, Furcht und Isolation, in welchem sich der Einzelne und die Gemeinschaft jüdischer Existenz in der Diaspora bewegen. Selbst der Renegat, Don Isaak Abarbanel, zeigt, wie seine einstigen Glaubensbrüdern im Moment der Offenlegung seiner jüdischen Herkunft noch immer die Zeichen der Unterdrückung, denn „seine Wangen erblichen wieder bis zur fahlsten Blässe, auf seiner Oberlippe zuckte es wie Hohn der mit dem Schmerze ringt, aus seinen Augen grinste der zornigste Tod […]“¹³¹. Auch das Taufwasser scheint die von den Schrecken der Diaspora heimgesuchte Seele des Juden nicht zu erwärmen.
127 Vgl. Daemmrich, Themen, S. 370. 128 Vgl. Daemmrich, Themen, S. 370. 129 Vgl. Daemmrich, Themen, S. 370. 130 Zur Zeichnung der Narren vgl. ausführlicher Kapitel III.2. 131 B I, S. 496.
IV Vom Ideal zur Realität – Diasporisches Bewusstsein, Emanzipation und moderne jüdische Existenz bei Heine 1 Pessach als Fest der Freiheit – Die Säkularisierung des Ursprungsmythos Die im Rabbi skizzierte Diaspora als Wüstenei jüdischen Lebens spiegelt nicht die traditionelle Auslegung der Zerstreuung als eines unfreiwilligen Exils, als einer Strafe Adonais’, wieder, welches erst mit dem Erscheinen des Messias sein Ende finden wird. Vielmehr ist den Figuren und dem von ihnen bevölkerten Raum die säkulare Perspektive des Schriftstellers auf das Phänomen der Zerstreuung eingezeichnet. Das Leid der Juden ist allein auf ihren soziopolitischen Status als Minderheit zurückzuführen, deren Anfeindung durch die Mehrheitsgesellschaft sich über die Jahrhunderte aus der christlichen Theologie begründet. Die religiöse Auslegung der Diaspora, sowohl auf Seiten der Minderheit als auch auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft, wird von dem akkulturierten Schriftsteller im Sinne des Culturvereins als Anachronismus wahrgenommen. Er ist literarisch im Verfall des Lebensraumes beziehungsweise des Eigenraums der Minderheit in der Diaspora gezeichnet. Diesem Verfall stellt Heine seine Forderung nach politischer und gesellschaftlicher Emanzipation entgegen, verbindet die diasporische Existenz und den soziopolitischen Konflikt um die jüdische Minderheit im literarischen Text. Wie bereits in Kapitel II.2 dargestellt, folgt Heine damit der Linie des Culturvereins, der durch wissenschaftliche Aufarbeitung der jüdischen Geschichte die Forderung nach politischer und sozialer Gleichstellung der jüdischen Minderheit zu untermauern hofft. Heine ist, mit Blick auf seine Biographie und sein Gesamtwerk, als einer der engagiertesten Vertreter des Emanzipationspostulats einzuschätzen. Es findet bereits mit dem Rabbi beziehungsweise mit jenem Teil des Fragments, der in der Mitte der 1820er Jahre entstanden ist, zu einer literarischen Ausdrucksweise, in der die Forderungen jüdischer Existenz an die gegenwärtige Zeit und das diasporische Bewusstsein, konserviert in literarischen Bildern, ineinandergreifen. Die Zusammenführung von diasporischem Bewusstsein und politischer Aussage besitzt dabei ein eindrückliches Beispiel in der Darstellung Pessachs im Rabbi. Hier wird deutlich gezeigt, dass im Werk Heines „[k]ulturelle Identität […] nicht aus nationalen Identitäten [entwickelt wird], sie orientiert sich vielmehr an Heines politischen Leitkriterien der ‚Emanzipation‘ und der
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‚Freiheit‘“¹. So zeichnen sich auch die Eigen- und Fremdräume – religiöser und kultureller Raum der Diaspora als Eigenraum und die, die jüdischen Gemeinden umgebende Mehrheitsgesellschaft als Fremdraum – im Werk Heines nicht durch trennende ethnisch-nationale Kriterien aus, sondern „entwickeln ein identifikatorisches Potential mit dem Grad der Durchsetzung bürgerlicher Freiheiten“². Wie in Kapitel I.2 zu Pessach dargelegt, ist der Feier zum Gedenken an die Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft als ein für das Selbstverständnis des Judentums fundamentales Ereignis zentrale Bedeutung zuzuweisen. Der Übergang von der Knechtschaft zur Freiheit, die das gesamte Volk mit seinem Auszug aus Ägypten erlangte, wird als „nationale Geburtsstunde“³, ermöglicht durch den Großmut Adonais, zelebriert. In der Diaspora ist die Bedeutung Pessachs für das Judentum erweitert, ist der Blick in die Vergangenheit, die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, mit der Hoffnung auf die Zukunft, die Rückkehr in das Gelobte Land, verbunden. Pessach wird „das Fest der einstigen und der zukünftigen Befreiung“⁴, wobei die zukünftige Befreiung mit der messianischen Erlösungsgewissheit verbunden ist. Auch unter den säkularen Juden des 19. Jahrhunderts behielten die an Pessach erinnerten Ereignisse ihre zentrale Bedeutung als Gründungsakt des jüdischen Volkes, jedoch unter Negierung der eschatologischen Komponente.⁵ Gerade innerhalb des intellektuellen Diskurses, wie ihn die Mitglieder des Culturvereins etwa führen, wird Pessach Gegenstand grundlegender Diskussionen zum modernen Selbstverständnis jüdischer Existenz. Insbesondere ist hier Leopold Zunz zu nennen, der in seiner Pessach-Predigt von 1822 nicht die eschatologische Botschaft kommentiert, sondern seiner Zuhörerschaft den mit Pessach verbundenen Gedanken der Freiheit auf einen religiösen, bürgerlichen und geistigen Gehalt erweitert.⁶ Hatten die Israeliten mit ihrem Auszug aus Ägypten insbesondere „religiöse […] Erkenntnisse“ gewonnen, denn „[i]n einem sklavischen Leben, greift der gebeugte Mensch nur nach seinen sinnlichen Bedürfnissen, – für höhere hat er keinen Sinn und keine Muße“⁷, besitzt das Freiheitspostulat für die gegenwärtigen Juden in erster Linie eine die bürgerliche betreffende Dimension: 1 Ramin, Raumorientierung, S. 199. 2 Ramin, Raumorientierung, S. 199. 3 Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden. Bd. 1. Frankfurt a. M. Aufl. 2. 1987. S. 608. 4 Jüdisches Lexikon, Bd. 4/1, S. 878. 5 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 154. 6 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 153; Witte, Tradition, S. 51. 7 Zunz in seiner Pessach-Predigt von 1822. Zit. n. Edith Lutz: Der „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ und sein Mitglied H. Heine. Stuttgart/Weimar 1997. S. 294.
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Erst mit dem Auszug aus Ägypten, konnte für [d]ie Israeliten sich eine bürgerl[iche] Wohlfahrt gründen. Hatte vorher nur der Eigennutz, der die Gegenwart berechnet, ihnen Gesetze aufgedrungen, – so that es jetzt die Weisheit, die in die Zukunft schaut. […] Die Möglichkeit war ihnen [den Israeliten, Anm. d. Verf.] gegeben, Tugenden zu entwickeln, und alle die schönen Thaten zu üben wozu Familienliebe, wozu Eintracht und Gerechtigkeit, wozu Sorge für Gemeinwohl, wozu Naturliebe führt, – und ihre eigene Schuld ganz allein ist es, wenn sie in Vielem zurückgeblieben, und uns heut noch so Vieles nachzuholen übrig lassen.⁸
Diesem Seitenhieb auf die rabbinische Tradition und der Beschwörung des bürgerlichen Wertekatalogs des 19. Jahrhunderts folgt die Aufforderung an die Versammelten, sich anlässlich des gegenwärtigen Pessach der geistigen Freiheit bewusst zu werden, den der Auszug aus Ägypten unter dem jüdischen Volk initiiert habe, und diese nicht zuletzt zum Wohl der Allgemeinheit und zur Förderung der Emanzipation in die Gesellschaft einzubringen:⁹ Und wie dahmals der Auszug aus Ägypten die Grundlage ward aller folgenden religiös[en] u[nd] geistigen Entwicklung, – also möge das Fest zugleich eine Erinnerung an uns seyn, zu ferneren Fortschreiten; es muntere uns auf, jenes Ziel wirklich zu erreichen, das durch die Befreiung aufgestellt worden. Hinter seinen geistigen Kräften zurück bleiben ist auch Sklaverei, – und nicht selten hat dieser Zustand die ächte Sklaverei erst herbeigeführt. […] Wer seinen Geist zu erleuchten, w[er] in irgend einem, der Gesamtheit ersprießlichen, Unternehmen fortzuschreiten im Stande ist, – der zögere nicht […], sondern gehe muthig […].¹⁰
Dem Appell an die jüdische Minderheit, sich seiner geistigen Freiheit zu bedienen und sich aus den unterdrückenden Verhältnissen zu emanzipieren, ist die politische Dimension eingebunden, die Zunz Pessachs zuweist.¹¹ In Briefen späterer Jahre äußert sich Zunz offen zu dieser politischen Deutung. Im April 1848, wenige Tage vor den jüdischen Feierlichkeiten, schreibt Zunz, dass er im Zuge der Märzrevolution in der nun zu erwartenden Emanzipation der Juden als Staatsbürger die Verheißung Pessachs erfüllt sieht: Ihr liebes Schreiben von Schuschan Purim kam bei uns an dem Tage des großen Begräbnisses an, und seitdem haben König, Regierung und Landtag den Grundsatz sanktioniert, daß die staatsbürgerlichen Rechte von keinem religiösen Glaubensbekenntnisse abhängig seien. Trotz den mancherlei Häkeleien mit und gegen Juden, denen ich keine Bedeutung bei-
8 Zunz in seiner Pessach-Predigt von 1822. Zit. n. Lutz, Verein, S. 296. 9 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 154. 10 Zunz in seiner Pessach-Predigt von 1822. Zit. n. Lutz, Verein, S. 298. 11 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 154f.
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lege, hat unsere Sache in dem civilisierten Europa entschieden gesiegt, und mit dieser Überzeugung wollen wir nächstes Pessach die Erlösung feiern.¹²
Der Antagonismus von Sklaven und Freien, von Knechtschaft und Freiheit, den Zunz in seiner Predigt von 1822 entwickelt und Zeit seines Lebens vertritt, gehört zu den Leitmotiven in Heines Werk. Er findet sich bereits vor dem Eintritt des Schriftstellers in den Culturverein und vor Beginn der Arbeiten zum Rabbi im Werk Heines. Die Romanze Belsatzar¹³, die dem Zyklus Junge Leiden aus dem Buch der Lieder angehört, entstand wahrscheinlich 1820 im Zuge der Lektüre einer Übersetzung von Byrons Vision of Belshazzar. Heine führte diesen Text, auf die Frage Ludwig Kalischs nach seinem ersten Gedicht, als das früheste Beispiel poetischen Schaffens an.¹⁴ Nach dieser Aussage inspirierte ihn nicht die Erfahrung unglücklicher Liebe zum Abfassen erster Verse, wie der Leser der Junge Leiden vermuten könnte. Es sind vielmehr ein „paar Worte in der hebräischen Hymne Bachazoz halajla (Um Mitternacht)“¹⁵, die ihn die Legende aus dem Buch Daniel aufgreifen und literarisch verarbeiten lassen. Die von Heine angeführte Hymne gedenkt an Pessach des existenziellen Ausgeliefertseins der Juden in der Diaspora. Sie verweist mit der Aufzählung verschiedener Ereignisse aus der Geschichte der Israeliten auf die Angst und tödliche Bedrohung durch das nicht-jüdische Umfeld, aber auch auf die Hoffnung auf ein messianisches Ende dieser Leidensgeschichte. Ist Belsatzar auch nicht als das erste Gedicht Heines einzuordnen,¹⁶ ist es doch der erste Text des Schriftstellers, der im Zitat des Buches Daniel auf die diasporische Existenz der Juden verweist. So figuriert sich im Propheten Daniel, wie in Kapitel I.3 dargelegt, jener Konflikt, dem die Juden in der Diaspora über die Jahrhunderte ausgesetzt sind: das Überleben als Minderheit unter der Bewahrung ihres religiösen und kulturellen Selbstverständnisses. Die Art und Weise wie sich der junge Heine dem biblischen Stoff nähert, der ursprünglich die Frage nach der individuellen Integrität und Identität jüdischer Existenz aufwirft, verrät viel über die veränderten Paradigmen jüdischer Existenz zu Beginn des 19. Jahrhunderts. So verweist Regina Grundmann in einer Anmerkung zu Belsatzar, dass die biblische Vorlage von Heine grundlegend modifi12 Nahum Norbert Glatzer (Hrsg.): Leopold Zunz, Jude – Deutscher – Europäer. Ein jüdisches Gelehrtenschicksal des 19. Jahrhunderts in Briefen an Freunde. Tübingen 1964. S. 273. 13 Vgl. B I, S. 55f. 14 Ludwig Kalisch in seinen Erinnerungen an Heinrich Heine, aufgezeichnet in Michael Werner (Hrsg.): Begegnungen mit Heine. Berichte der Zeitgenossen, in Fortführung von H. H. Houbens „Gespräche mit Heine“. Bd. 2. Hamburg 1973. S. 152. – Vgl. auch den Kommentar von Grappin in DHA I/2, S. 710. 15 Kommentar Grappin in DHA I/2, S. 710. 16 Vgl. Kommentar Grappin in DHA I/2, S. 710.
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ziert und säkularisiert wurde.¹⁷ Der Prophet Daniel etwa, zentrale Gestalt des biblischen Textes, auf dessen heilsgeschichtliche Deutung hin der babylonische König ermordet wird, tritt im Text Heines nicht in Erscheinung. Die Perspektive auf die biblische Stoffvorlage ist vom Element der Verheißung verschoben hin auf das des Königmordes. Der sich in den Worten des Menetekels auch fern von Israel offenbarende Allmachtsanspruch Adonais findet keinerlei Erwähnung. Im Zentrum von Belsatzar steht vielmehr die Revolte gegen den Tyrannen, wird eine politisch motivierte Absicht hinter der Formulierung des Textes sichtbar.¹⁸ Mit Blick auf das Gesamtwerk Heines in Belsatzar eine grundlegende Aussage seiner Texte ausgesprochen: Im Zitat des biblischen Textes wird auf die politische Problematik der Gegenwart verwiesen.¹⁹ Belsatzar steht somit als erstes Beispiel im Werk Heines für eine Deutung der biblischen Vorlage von der eigenen Aktualität des Schriftstellers her, ist Exempel des diasporischen Schreibverfahrens, das in Kapitel V näher beleuchtet wird. Mehr noch als in Belsatzar ist im Rabbi diasporische Existenz mit dem Antagonismus von Knechtschaft und Freiheit verbunden, wie er in den Überlegungen des Philologen Leopold Zunz entwickelt wird. Dass es sich bei Pessach um große Feierlichkeiten der Juden handeln muss, erschließt sich auch dem nichtjüdischen Leser aus der Eingangsbeschreibung der am Sederabend im Hause des Rabbi versammelten Gemeinschaft. Neben den einleitenden Bemerkungen zum Anlass und Ablauf des Festes, ist es die prachtvolle Atmosphäre des Ritus, unterstrichen durch die Kostbarkeit der Materialien, mit der Raum und Figuren ausgestattet sind, welche die Bedeutsamkeit der rituellen Handlungen hervorhebt.²⁰ Auffällig ist, dass der Text die symbolischen Speisen,²¹ etwa die Mazze und die vier Becher Wein, die das Mahl zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten strukturieren, zwar benennt, ihre rituell-kultische Bedeutung jedoch nicht erklärt.²² 17 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 162. 18 Vgl. Höhn, Handbuch, S. 73. 19 Vgl. Höhn, Handbuch, S. 74. 20 Vgl. B I, S. 465f. 21 Vgl. B I, S. 465. 22 „Am Sedertisch findet die häusliche Feier ihren Höhepunkt. Auf die selbst bei Minderbemittelten […] feiertäglich geschmückte Tafel kommen die symbolischen Speisen: Fleisch an einem Knochen, als Erinnerung an das Pessachlamm; ein gekochtes oder gebratenes Ei als Andenken an des Opfers Zutat; […] das ungesäuerte Brot [Mazzot] in weißen knusprigen Scheiben; grüne Kräuter [Karpas] […] und bittere [Maror] […], mit einer gewürzhaften Zutat [Charoset] […], die aus allen Früchten bereitet ist, mit den Israel verglichen wird. Vier Becher mit Wein werden bereit gestellt: sie erinnern an das Wort des Ewigen: Ich werde euch herausführen, erretten, erlösen und als auserwählten Volk zu mir nehmen. So erinnert der 1. Becher an den Tag, welcher der ägyptischen Nacht folgte; der 2. an die Schonung der jüdischen Häuser bei dem großen Sterben der Erstgeburten; der 3. an den dem Ewigen schuldigen Dank
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Auf den allgemeinen Überblick über die kultischen Handlungen folgt die Darstellung des Pessach-Festes im Haus des Rabbi Abraham zu Bacherach, die mit dem Ausschank des zweiten Becher Weins einsetzt und noch vor der Abendmahlzeit abbricht, da der Rabbi und seine Frau während des Rituals des Händewaschens vor der Mahlzeit aus Bacherach fliehen. Neben den fehlenden Erläuterungen und der selektiven Darstellung des Pessach-Seders ist auch die Bezugnahme auf die Pessach-Haggada, dem zentralen Dokument dieser Feier, auffällig. Die Pessach-Haggada mit ihrer Aufzählung der Ereignisse um den Auszug aus Ägypten findet zwar Erwähnung, bis auf eine Ausnahme wird jedoch auf das vorgeschriebene Zitieren von Segenssprüchen und Gebeten aus dieser Sammlung verzichtet. So zeigt sich, dass der Höhepunkt des Pessach-Seders, die Erneuerung des Ursprungsereignisses der Juden in der Gegenwart, im Text Heines nicht dokumentiert wird. An keiner Stelle des Bacheracher Seder-Abends wird Adonai für die Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft gedankt, obgleich zahlreiche Texte der Pessach-Haggada diesen Dank formulieren.²³ Auch entfallen mit dem Abbruch der Feierlichkeiten die Brachot, die großen Segenssprüche, in denen sich die Hoffnung der Juden auf Erlösung beziehungsweise die eschatologische Komponente des Pessach ausspricht. Wie Regina Grundmann dezidiert nachgewiesen hat, zeugt die torsohafte Darstellung des Pessach-Seder im Rabbi jedoch nicht von der mangelhaften Kenntnis des Ritus durch seinen Verfasser, vielmehr lenkt die vorgenommene Selektion des Pessach-Seders den Fokus auf jene politische Bedeutung, die sich für säkulare Juden zur Zeit Heines mit Pessach ausspricht.²⁴ So ist in der selektiven Darstellung des Seders das bevorstehende Schicksal der Bacheracher Juden vorbereitet. Das Pogrom und die Auslöschung der jüdischen Gemeinde widersprechen der ursprünglichen Botschaft des Festes, der im Gedenken an die Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft die Hoffnung auf eine bevorstehende Befreiung aus dem bedrückenden Zustand der Diaspora eingebunden ist. Der Todesengel, der laut Überlieferung der Haggada an den Häusern der Israeliten vorbeigeht,²⁵ für die empfangenen Wohltaten; der 4. an den Dank, den der Jude dem Ewigen zollen muß für Erhalt der Thora.“ Siehe Josef Weigl: Das Judentum. Eine volkstümliche Darstellung. Ma-Tisk 2004 [erstmals veröffentlicht 1911]. S. 194. 23 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 158. 24 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 158ff. Den Anstoß für die Darstellung des Pessach-Festes auf die Predigt Zunz zurückzuführen, wie von Grundmann angeregt, kann jedoch nicht belegt werden und bleibt bloße Vermutung. Auch hier ordnet Grundmann den Text Heines, ähnlich wie in der Ausgestaltung der Figur Don Isaak, zu sehr ihrer Argumentationsabsicht unter. 25 Vgl. Die Pessach-Hagada, oder Erzählung von Israël’s Auszug aus Egypten, zum Gebrauche der beiden ersten Abende des Mazot-Festes. Vom Neuen wörtlich aus dem hebräischen
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sucht nun die Heimstätten der Bacheracher Juden auf: „Siehst du den Engel des Todes?“,²⁶ fragt der Rabbi seine Frau Sara während der nächtlichen Flucht, „Dort unten schwebt er über Bacherach!“²⁷ Anders als im biblischen Ägypten greift die göttliche Instanz nicht in das Pogrom ein, stellt sich der Verfolgung weder göttliche Allmacht noch heilige Gerechtigkeit entgegen. Die Juden sind ihrem Schicksal als unterdrückter Minderheit ausgeliefert. Diesem Schicksal ist die politische Botschaft, die Heine an seine Darstellung des Pessach-Seders knüpft, eingebunden: Es liegt allein im Bereich des menschlichen Willens und nicht des göttlichen Ermessens, den Kreislauf aus Verfolgung und Vernichtung zu durchbrechen, wie es auch durch die Allegorie des Chad Gadja-Liedes,²⁸ gesungen von Jäkel dem Narren am Eingang der Frankfurter Judengasse, zum Ausdruck kommt.²⁹ Adonai kommt im Pessach-Geschehen, so wie es Heine mit Blick auf die Geschichte jüdischen Lebens in der Diaspora darstellt, keinerlei Rolle zu. Daraus ist für die Vergangenheit die Konsequenz zu ziehen, dass der Exodus als selbst initiierter und durchgeführter emanzipatorischer Akt vollzogen wurde, dass er nicht länger als Ausdruck geleiteter Heilsgeschichte, sondern als säkulare Geschichte des Volkes Israel zu kommentieren ist.³⁰ Für die Zukunft bedeutet dies, dass die Befreiung der Juden aus dem Schicksal einer unterdrückten Minderheit im Bereich aktiven Handelns, sprich in der Durchsetzung der politischen und sozialen Gleichstellung, liegt. Hannah Arendt verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Heine den Antagonismus von Knechtschaft und Freiheit, wie er sich für die Mitglieder des Culturvereins darstellt, nicht nur in seinem Werk literarisiert, sondern, dass Heine „der erste Jude [wurde], für den die Freiheit mehr bedeutete als die ‚Befreiung aus dem Hause der Knechtschaft‘[…]. Freiheit hat für Heine nichts mehr mit der Erlösung von mehr oder minder verschuldetem Joch zu tun. Frei wird der
Originale verdeutscht. Leipzig 1839. In: Schrijver/Wiesemann, Haggadah, S. 70. 26 B I, S. 470. 27 B I, S. 470. 28 Vgl. B I, S. 484f. 29 Das Chad Gadja-Lied beendet in der jüdischen Tradition die Sederfeier. Es wird von Heine im zweiten Kapitel des Rabbi zitiert, wobei die letzte Strophe im Sinne der von Heine vorgenommenen Profanierung der Pessach-Botschaft modifiziert wird. Inhalt des Liedes ist der ewige Kreislauf von vernichten und vernichtet werden, wobei Adonai in der letzten Strophe diesen Kreislauf durchbricht. In der Version Jäkels, der das Lied losgelöst aus dem Rahmen der Pessach-Feier vorträgt, ist es jedoch nicht Adonai der dem Schlachten Einhalt gebietet. Der Handelnde ist auch hier wie in der Schilderung des Pessach-Geschehens nicht die göttliche Instanz; die Erlösung aus dem Kreislauf des Leidens in der Diaspora wird vielmehr in eine nicht näher bestimmbare Zukunft verschoben, ist Utopie. Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 158ff. 30 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 160.
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Mensch geboren, und in die Knechtschaft verkauft er sich immer nur selbst.“³¹ Gesellt man zum Recht des Individuums auf Freiheit gleichrangig das Recht des Einzelnen auf Gleichberechtigung, dann wird die Bedeutung des obigen Zitats für die Einschätzung der jüdischen Emanzipationsbewegung durch die Schriften Heines deutlich. Freiheit wird in den Heineschen Texten, so Hannah Arendt, als naturgegebenes Recht des Einzelnen definiert. Freiheit und im selben Maße Gleichberechtigung sind Güter, welche dem Menschen Kraft seiner Geburt zustehen. Beide Rechte können daher nicht passiv, d. h. durch die Gnade des Staates verliehen werden. Das Recht auf Gleichberechtigung kann der Einzelne nicht empfangen, da er es schon immer besitzt. Wie die Botschaft des Exodus, unterliegt auch die eschatologische Bedeutung des Pessach-Festes im Erzählfragment einer Säkularisierung.³² Zentral ist hier das Fehlen des gesamten zweiten Teils der Pessach-Feierlichkeiten, in dessen Zentrum die Hoffnung auf Erlösung steht. Mit dem Eintritt der zwei Fremden, jener „Einschleifer“³³, die den zuvor Ermordeten unter die versammelten Juden bringen und somit die Gewalt gegen die Minderheit initiieren, ist die Hoffnung auf Erlösung zerstört und ist ein Ende der Diaspora als illusorisch entlarvt. Mit dem Ritus vertraut, was auf konvertierte Juden hinweisen könnte,³⁴ öffnen die Fremden genau in jenem Augenblick die Saaltür, in dem nach jüdischem Brauch der Herold des Messias, der Prophet Elia, mit einem Weinbecher willkommen geheißen wird. Statt auf den Boten des bevorstehenden Erlösers, trifft die jüdische Gemeinde auf die Aggression ihres christlichen Umfelds, findet sie sich nicht im erwarteten Heilsgeschehen, sondern in der Lebenswirklichkeit der unterdrückten Minderheit in der Diaspora wieder. Unterstrichen wird die Negation der eschatologischen Botschaft auch mittels der beschriebenen Bilder aus Saras Pessach-Haggada.³⁵ Diese Bilder werden so nacherzählt, wie die Protagonistin sie als Kind zu erfassen vermochte:³⁶ So saß heute die schöne Sara und sah beständig nach den Augen ihres Mannes; dann und wann schaute sie auch nach der vor ihr liegenden Agade, dem hübschen, in Gold und Samt gebundenen Pergamentbuche, einem alten Erbstück mit verjährten Weinflecken aus den Zeiten ihres Großvaters, und worin so viele keck und bunt gemalten Bilder, die sie schon als kleines Mädchen, am Pascha-Abend, so gerne betrachtete, und die allerlei biblische Geschichten darstellten, als da sind: wie Abraham die steinernen Götzen seines Vaters mit 31 Arendt, Schlemihl, S. 53. 32 Vgl. Arendt, Schlemihl, S. 162. 33 Kommentar Windfuhr in DHA V, S. 618. 34 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 162. 35 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 162ff. 36 Vgl. Barbara Bauer: „Nicht alle Hebräer sind dürr und freudlos“. Heinrich Heines Ideen zur Reform des Judentums in der Erzählung „Der Rabbi von Bacherach“. In: HJb 35 (1996). S. 29.
Pessach als Fest der Freiheit
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dem Hammer entzweiklopft, wie die Engel zu ihm kommen, wie Moses den Mitzri totschlägt, wie Pharao prächtig auf dem Throne sitzt, wie ihm die Frösche sogar bei Tisch keine Ruhe lassen, wie er Gott sei Dank versäuft, wie die Kinder Israel vorsichtig durch das Rote Meer, mit ihren Schafen, Kühen und Ochsen vor dem Berge Sinai stehen, dann auch wie der fromme König David die Harfe spielt, und endlich Jerusalem mit den Türmen und Zinnen seines Tempels bestrahlt wird vom Glanz der Sonne!³⁷
Die Szenen, in denen trotz des naiv gehaltenen Kolorits stichwortartig die Genese und Botschaft des Judentums ausgesprochen ist,³⁸ verweisen allein auf das Exodus-Geschehen, ihnen fehlt jedoch, insbesondere in ihrer Wiederholung während der nächtlichen Rheinfahrt, das Moment der Verheißung: [D]er Erzvater Abraham zerschlägt ängstlich die Götzengestalten, die sich immer hastig wieder von selbst zusammensetzen; der Mitzri wehrt sich furchtbar gegen den ergrimmten Moses; der Berg Sinai blitzt und flammt; der König Pharao schwimmt im Roten Meere, mit den Zähnen im Maule die zackige Goldkrone festhaltend; die Frösche mit Menschenantlitz schwimmen hinterdrein, und die Wellen schäumen und brausen, und eine dunkle Riesenhand taucht drohend daraus hervor.³⁹
Auf der Flucht vor dem Pogrom verlieren die Bilder der Pessach-Haggada die Gewissheit um die Stärke Adonais und damit die Gewissheit um die letztendliche Überlegenheit der Juden in der Diaspora über ihre Verfolger. Wird die Vision des messianischen Jerusalem auch als einziges Bild der Pessach-Haggada nicht ins Negative transformiert und erblickt Sara im Vorhof des Jerusalemer Tempels die ermordete Familie,⁴⁰ zeigt der weitere Verlauf des Geschehens, dass „sich nirgendwo mehr eine Möglichkeit der Vermittlung zwischen Vision und Realität, zwischen ständiger Bedrohung und gänzlicher Geborgenheit“⁴¹ zeigt. Die Flucht des Ehepaars endet nicht vor den Toren Jerusalems, sie endet vorübergehend am Tor zur Frankfurter Judengasse, wo die Gefährdung jüdischen Lebens in der Diaspora exemplarisch vor Augen geführt wird. Die Realität der Existenz als Minderheit in der Zerstreuung kontrastiert mit ihrer Negation des zukünftigen Jerusalem auch die eschatologische Botschaft des Pessachs.⁴² Dem traditionellen Wunsch − „Nächstes Jahr in Jerusalem“ − am Ende des Pessach-Seder, auf dessen Erfül-
37 B I, S. 466f. 38 Vgl. Bodenheimer, Engel, S. 56. 39 B I, S. 473. 40 Vgl. B I, S. 473. 41 Anthony Stephens: Von Schwellen und deren Überschreitungen. Heines „Rabbi von Bacherach“. In: Studien zur Literatur des Frührealismus. Hrsg. v. Günter Blamberger [u. a.]. Frankfurt a. M./Bern 1991. S. 219. 42 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 165.
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lung die Hoffnung des altorthodoxen Judentums gerichtet ist, steht die Forderung säkularer Juden nach Emanzipation und politischer Teilhabe der Minderheit entgegen. Anstelle der eschatologischen Heilsgewissheit des Pessachs, die der jüdischen Existenz in der Diaspora über Jahrhunderte ihren metaphysischen Sinn gab,⁴³ setzt der Schriftsteller die Forderung nach Emanzipation. Im Kampf für die Emanzipation, nicht in der Hoffnung auf Erlösung, sieht der Schriftsteller einen Fortbestand jüdischen Selbstverständnisses im 19. Jahrhundert. Mit der Thematisierung des Pessachs im Rabbi bezieht Heine Stellung in der Debatte um die Frage nach Identifikationsmöglichkeiten des säkularen Juden mit seinem Judentum: Die Antwort ist das politische Engagement, die Durchsetzung der Emanzipation für die Minderheit.
2 Der Auftrag der jüdischen Emanzipation und die Gefahr ihres Scheiterns an der Lebenswirklichkeit Der kulturgeschichtliche Fokus auf das Phänomen der Zerstreuung, wie ihn Heine in seinen literarischen Texten vornimmt, verweist auf eine Einschätzung diasporischer Existenz, die Überlegungen der aktuellen Theoriediskussion, die dieses Phänomen vorausnehmen, betreffen. Vom religiösen Verständnis mehr und mehr getrennt und auf soziokulturelle Elemente ausgeweitet, lösen jüdische Intellektuelle zu Beginn des 19. Jahrhunderts das diasporische Selbstverständnis vom imaginären Bezugspunkt eines gemeinsamen Ursprungsmythos und wenden sich verstärkt einer politisch motivierten Diskussion ihrer Lebenssituation als Minderheit in der Zerstreuung zu. Wie in den Ausführungen zum Bacheracher Pessach-Seder dargelegt, verbindet sich auch für Heinrich Heine das diasporische Selbstverständnis mit dem Blick auf die anhaltenden Repressalien der jüdischen Minderheit in den deutschen Staaten. Der Ruf der Zeit nach Emanzipation des Menschen ist in seinem Werk am Beispiel dieser Bevölkerungsgruppe manifestiert. An die Stelle des religiösen Konzepts der Auserwähltheit der Juden setzt Heine das Konzept der soziopolitischen Gleichstellung der Minderheit. Statt Adonai ist es der Mensch selbst, der durch politisches Handeln die gesellschaftliche Lage ändert. Heines literarische Auseinandersetzung mit dem Emanzipationsgebot beobachtet und verarbeitet dabei jedoch nicht allein die intellektuelle Debatte zur Forderung nach Gleichstellung, auch kommentiert er die Anstrengungen der Tagespolitik um den Fortschritt der Emanzipationsbewegung, prüft inwieweit die Theorie Bestand hat vor der Wirklichkeit. 43 Vgl. Jakob Hessing: Der Traum und der Tod. Heinrich Heines Poetik des Scheiterns. Göttingen 2005. S. 226.
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In den Schriften Heines wird das Prinzip der Emanzipation als die große Chance einer rechtlichen und politischen Gleichstellung der europäischen Juden bewertet. Diesem Ideal wird die Realität der faktischen Entwicklung der jüdischen Akkulturation gegenübergestellt und auf die Gefahr eines totalen Aufgehens der Minderheit in der Majorität hingewiesen. So ist die Beurteilung der jüdischen Emanzipationsbewegung in den Texten Heines von Ambivalenz geprägt – und mit dieser das von den Zeitverhältnissen geformte jüdische Bewusstsein im 19. Jahrhundert. Das Vorantreiben der Emanzipation wird einerseits als Aufgabe der Zeit selbstbewusst formuliert, andererseits werden die konkreten Bestrebungen der deutschen und europäischen Juden nach Gleichberechtigung beziehungsweise Anpassung kritisch hinterfragt. Anspielend auf die Konzepte diasporischen Selbstverständnisses gelingt Heine die literarische Illustration jenes Scheidewegs, an dem sich das moderne jüdische Selbstbewusstsein in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts befindet. Im Spiel mit den im kollektiven Gedächtnis der Juden verankerten Bildern der Zerstreuung ist der Wandel im Umgang mit dem Phänomen der Diaspora exemplifiziert. Auf dem Schlachtfeld von Marengo – symbolischer Ort der Begegnung zwischen alter und neuer Zeit, zwischen Restauration und Revolution – gibt der IchErzähler aus Reise von München nach Genua Auskunft über die, an das 19. Jahrhundert ergangene Aufforderung zur allgemeinen bürgerlichen Emanzipation: Was ist aber diese große Aufgabe unserer Zeit? Es ist die Emanzipation. Nicht bloß die der Irländer, Griechen, Frankfurter Juden, westindischen Schwarzen und dergleichen gedrückten Volkes, sondern es ist die Emanzipation der ganzen Welt, absonderlich Europas […]. […] Jede Zeit hat ihre Aufgabe und durch die Lösung derselben rückt die Menschheit weiter. Die frühere Ungleichheit, durch das Feudalsystem in Europa gestiftet, war vielleicht notwendig, oder notwendige Bedingung zu den Fortschritten der Zivilisation; jetzt aber hemmt sie diese, empört die zivilisierten Herzen.⁴⁴
Die Herausforderungen werden klar formuliert: Die Abschaffung des feudalen Ständesystems und die Entwicklung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung im Sinne der bürgerlichen Gleichheit sowie die Durchsetzung und Sicherung der Menschenrechte für alle Bevölkerungsgruppen, einschließlich der Minderheiten. Das Ziel emanzipatorischen Strebens − der Zugewinn an Freiheit und Gleichheit aller Bevölkerungsschichten, angestoßen durch die Aufklärung und im Zuge der Französischen Revolution teilweise durchgesetzt − bedarf angesichts der restaurativen Bewegung im 19. Jahrhundert massiver Anstrengungen. Die politische und gesellschaftliche Selbstbefreiung der Mehrheit der europäischen Bevölkerung begehrt Unterstützung − auch die der Literatur. Mit Heinrich Heine kann die 44 B III, S. 376f.
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europäische Emanzipationsbewegung einen ihrer engagiertesten „Kämpen der Revolution“⁴⁵ aufweisen.⁴⁶ Wie im Essay Reise von München nach Genua formuliert, besitzt das Gebot der Emanzipation in den Schriften Heines universellen Anspruch. Die Texte Heines weisen klar aus, dass der Schlüssel zur rechtlichen Gleichstellung der Minderheiten Europas in der alle Bevölkerungsgruppen umfassenden Durchsetzung der Menschenrechte liegt: „Die Freiheit, die bisher nur hie und da Mensch geworden, muß auch in die Massen selbst, in die untersten Schichten der Gesellschaft, übergehen und Volk werden. Diese Volkwerdung der Freiheit […] ist gewiß nicht minder wichtig, als jene Verkündigung der Prinzipien war […].“⁴⁷ Das Ziel der Emanzipationsbewegung ist nicht mit der reinen Proklamation der Menschenrechte erfüllt. Erst wenn die gesamte Bevölkerung aktiv an den bürgerlichen Freiheits- und Gleichheitsgesetzen partizipiert, kann von einem modernen Staatswesen, operierend nach demokratischen Prinzipien, gesprochen werden. Das Ringen um die europäische Emanzipationsbewegung bestimmt das gesamte Werk Heines. Seine Schriften erweisen sich jedoch nicht als uneingeschränkt glühende Pamphlete dieser Sache. Es finden sich kritische Töne, insbesondere in der Betrachtung einzelner Gruppierungen und ihrer Bemühung um die gesellschaftliche Gleichstellung. Im Sinne der Forderung nach einer universalen Emanzipation wird die Vorgehensweise der jüdischen Minderheit in dieser Frage kritisch beäugt. So in der Späteren Note von 1854: „Die Juden dürften endlich zur Einsicht gelangen, daß sie erst dann wahrhaft emanzipiert werden können, wenn auch die Emanzipation der Christen vollständig erkämpft und sichergestellt worden. Ihre Sache ist identisch mit der des deutschen Volkes, und sie dürfen nicht als Juden begehren, was ihnen als Deutschen längst gebührte.“⁴⁸ Die Bemühung der Juden um rechtliche Gleichstellung wird als stagnierend beschrieben. Ihre Fokussierung auf die eigene Emanzipation ist vom Standpunkt der Heineschen Texte aus unzureichend und muss letztendlich scheitern. So wird sie dann zur vergeblichen Anstrengung, wenn die Emanzipation der Bevölkerungsmehrheit nicht durchgesetzt ist. Der im Zuge der Französischen Revolution ausgelöste Prozess der rechtlichen und gesellschaftlichen Loslösung der deutschen Juden aus dem Status der Unfreiheit kann nur dann befriedigend
45 B XI, S. 481. 46 Vgl. B III, S. 382: „Ich weiß wirklich nicht, ob ich es verdiene, daß man mir einst mit einem Lorbeerkranz den Sarg verziere. >}@ Ich habe nie großen Wert gelegt auf Dichter-Ruhm >}@. Aber ein Schwert sollt Ihr mir auf den Sarg legen; denn ich war ein braver Soldat im Befreiungskriege der Menschheit.“ 47 B IX, S. 461. 48 B IX, S. 189.
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abgeschlossen werden, wenn in den deutschen Ländern der Wandel zur bürgerlichen Gesellschaft insgesamt weiter vorangetrieben wird. Da die Sonderrechte und -pflichten der althergebrachten jüdischen Gemeinden im eklatanten Widerspruch zu der Idee von Bürgerrechten stehen, würde erst eine Gemeinschaft von Bürgern mit gleichen Rechten und Pflichten die Gleichstellung der Juden ohne Einschränkung durchsetzen. So kann die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Minderheit letztendlich nur durch eine, die einzelnen Gruppen übergreifende gesellschaftliche Bewegung erlangt werden. Nur ein vom Volk legitimierter Staat, sei er bürgerlicher oder monarchischer Natur, kann letztendlich die rechtliche Situation der Minderheit ändern.⁴⁹ So setzen die Texte Heines als Voraussetzung der Emanzipation neben den Willen der Minorität das Interesse der Mehrheitsgesellschaft, diesen Vorgang durch juristische Gleichstellung zu unterstützen. Neben der nüchternen Erkenntnis bezüglich der unzureichenden Bemühungen der jüdischen Emanzipationsbewegung in den deutschen Ländern steht jedoch die Gewissheit, dass die Durchsetzung der Emanzipation nicht aufzuhalten ist, da sie letztendlich im Interesse des modernen Staates ist: Was aber die Regierungen betrifft, so sind sie endlich zur hochweisen Ansicht gelangt, daß der Staat ein organischer Körper ist und daß derselbe nicht zu einer vollkommenen Gesundheit gelangen kann, solange ein einziges seiner Glieder, und sei es auch nur der kleine Zeh, an einem Gebreste leidet. Ja, der Staat mag noch so keck sein Haupt tragen und mit breiter Brust allen Stürmen trotzen, das Herz in der Brust und sogar das stolze Haupt wird dennoch den Schmerz mitempfinden müssen, wenn der kleine Zeh an den Hühneraugen leidet – die Judenbeschränkungen sind solche Hühneraugen an den deutschen Staatsfüßen.⁵⁰
Die Verwendung der organologischen Staatsmetapher⁵¹ unterstreicht die Verflechtung von Majorität und Minorität im modernen Gesellschaftsgefüge. Zwar steht der Vergleich des Staatskörpers mit einem lebendigen Organismus in der Tradition der politischen und praktischen Philosophie des Machiavellismus, negiert diese jedoch. Vertritt der Machiavellismus die Auffassung, dass dem Herrscher als dem Kopf des Staates alle anderen Glieder untergeordnet sind, entwirft das Bild im Heineschen Text einen Staat mit Abhängigkeiten zwischen allen seinen Gliedern. War das politische Handeln des feudalen Fürsten keinen
49 Vgl. B IX, S. 184: „Mögen die deutschen Regierungen doch recht bald ein ästhetisches Erbarmen mit dem Publikum haben und jenen Salbadereien ein Ende machen durch Beschleunigung der Emanzipation, die doch früh oder spät bewilligt werden muss. Ja, die Emanzipation wird früh oder spät bewilligt werden müssen, aus Gerechtigkeitsgefühl, aus Klugheit, aus Notwendigkeit.“ 50 B IX, S. 184. 51 Vgl. Kommentar Volkmar Hansen in DHA XIV/2, S. 1293.
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moralischen Kriterien unterworfen und wurde die soziale Problematik nur dann in Betracht gezogen, wenn sie für die Berechnung des politischen und dynastischen Erfolgs von Bedeutung waren, wird der moderne Staat die Bedürfnisse seiner Untertanen − auch die Minderheiten − nicht länger ignorieren können. Die Juden werden als zum Organismus zugehörig gezeichnet und nicht, wie in antijüdischen Hetzschriften, als parasitäre Krankheit dargestellt, der man sich, um im Bild zu bleiben, durch einen „sauberen aber blutigen Schnitt“ entledigen könnte. Nicht an der jüdischen Bevölkerung krankt der Staat, vielmehr an dessen restriktiven Judengesetzen, welche das naturgegebene Gesetz der Gleichberechtigung verhöhnen. Die Bewertung der innerjüdischen Bestrebungen nach rechtlicher Gleichstellung als unzureichend einerseits und die zuversichtliche Einschätzung der gesamteuropäischen Emanzipationsbewegung andererseits verweisen auf die ambivalente Haltung der Texte Heines in ihrer Beurteilung der jüdischen Emanzipation. Selbst dort, wo die rechtliche Gleichstellung der Juden durchgesetzt scheint, erfährt sie Kritik: „Die Juden in Frankreich sind schon zu lange emanzipiert, als daß die Stammesbande nicht sehr gelockert wären, sie sind fast ganz untergegangen, oder, besser gesagt, aufgegangen in der französischen Nationalität; sie sind gerade ebensolche Franzosen wie die anderen […].“⁵² Grund dieser Bemerkung ist das Pogrom von Damaskus im Jahr 1840. Die Übergriffe auf die dortige jüdische Gemeinde und die vermeintliche Interesselosigkeit der europäischen Juden an den Ereignissen veranlassen Heine, sein bis dahin unveröffentlichtes Fragment Der Rabbi von Bacherach für den Druck zu überarbeiten. Die Ereignisse dienen jedoch nicht nur als Triebfeder der Publikation eines literarischen Stoffes mit jüdischer Thematik. Sie werden in seiner Schrift Lutezia − den Reflexionen über die politischen Verhältnisse Frankreichs zur Zeit des Pariser Exils Heines − offen kritisiert. Nicht nur an der eigentlichen Begebenheit wird Anstoß genommen, das Verhalten der französischen Juden generell gegenüber ihrem jüdischen Erbe wird beklagt und das bedingungslose Aufgehen in der französischen Bevölkerung sorgenvoll betrachtet: „Viele unter ihnen üben noch den jüdischen Zeremonialdienst, den äußerlichen Kultus, mechanisch, ohne zu wissen warum, aus alter Gewohnheit […]. […] Das Interesse, welches die hiesigen Juden an der Tragödie von Damaskus nahmen, reduziert sich auf sehr geringfügige Manifestationen.“⁵³ Hier zeigt sich deutlich das in den Schriften Heines beschriebene janusköpfige Haupt der Akkulturation. Ist die Durchsetzung der rechtlichen Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung an die Forderung nach bedingungsloser Anpassung geknüpft, wie in Frankreich von 52 B IX, S. 274. 53 B IX, S. 274f.
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Heine beobachtet, hinterlässt sie dort nichts als eine hohle, zerbrechliche Maske, wo ehemals jüdisches Gemeindeleben existierte. So beschreibt Heine die Emanzipation als bedeutend für die einzelnen Juden in ihrer rechtlichen Gleichstellung und in ihrer Aussicht auf persönliche Sicherheit sowie Freiheit der Berufswahl, das Gemeindeleben als existenzieller Bestandteil der jüdischen Existenz besteht jedoch nicht mehr: Die Auflösung der autarken Struktur der jüdischen Gemeinde bedeutet das Ende jüdischen Lebens in Frankreich. Die alten Vorurteile hilft es nicht abzustellen, auch bei den getauften Juden sind sie nun zu finden.⁵⁴ Das Zurückstehen des Ideals der Emanzipation hinter der Realität der Akkulturation kommentiert Heine jedoch nicht erst in den Essays zum politischen Tagesgeschehen der Pariser Jahre. Die Fährnisse einer als notwendig empfundenen Neuausrichtung religiöser und kultureller Selbstidentifikation werden bereits im Frühwerk des Autors, in seinen Reisebildern, ausführlich skizziert. Die literarischen Gestalten Markese di Gumpelino und Hirsch-Hyazinth aus Die Bäder von Lucca [künftig Bäder] sind literarische Figurationen des Wandels jüdischen Selbstverständnisses und stehen ganz im Zeichen einer durch Säkularisierung gekennzeichneten Perspektive auf das Judentum. Dabei wird der von Akkulturation gezeichnete Bruch mit der jüdischen Herkunft unter Bezugnahme auf die traditionelle Bildlichkeit des diasporischen Selbstverständnisses karikiert. In den ersten, fiktional gehalten Kapiteln des Reisebilds werden beide Protagonisten eingeführt: Mathildens Warnung, daß ich mich an die Nase des Mannes nicht stoßen sollte, war hinlänglich gegründet, und wenig fehlte, so hätte er mir wirklich ein Auge damit ausgestochen. Ich will nichts Schlimmes von dieser Nase sagen; im Gegenteil, sie war von der edelsten Form, und sie eben berechtigte meinen Freund, sich wenigstens einen Markese-Titel beizulegen. Man konnte es ihm nämlich an der Nase ansehen, daß er von gutem Adel war, daß er von einer uralten Weltfamilie abstammte, womit sich sogar einst der liebe Gott, ohne Furcht vor Mesallianz, verschwägert hatte. Seitdem ist diese Familie freilich etwas heruntergekommen, so daß sie seit Karl dem Großen, meistens durch den Handel mit alten Hosen und Hamburger Lotteriezetteln, ihre Subsistenz erwerben mußte, ohne jedoch im mindesten vom Ahnenstolz abzulassen oder jemals die Hoffnung aufzugeben, einst wieder ihre alten Güter, oder wenigstens hinreichende Emigranten-Entschädigung zu erhalten, wenn ihr alter legitimer Souverän sein Restaurationsversprechen erfüllt, ein Versprechen, womit er sie schon zwei Jahrtausende an der Nase herumführt. Sind vielleicht ihre Nasen eben durch dieses lange an der Nase Herumgeführtwerden so lang geworden? Oder sind diese langen Nasen eine Art Uniform, woran der Gottkönig Jehovah seine alten Leibgardisten erkennt, selbst wenn sie desertiert sind? Der Markese Gumpelino war ein solcher Deserteur, aber trug
54 Vgl. B IX, S. 276f.: „Hier muß ich eine Bemerkung aussprechen, die vielleicht die bitterste. Unter den getauften Juden sind viele, die aus feiger Hypokrisie über Israel noch ärgere Mißreden führen, als dessen geborne Feinde.“
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noch immer die Uniform, und sie war sehr brillant, besäet mit Kreuzchen und Sternchen und Rubinen, einem roten Adlerorden in Miniatur, und anderen Dekorationen.⁵⁵
Hier, in der satirisch-grotesk gehaltenen Zeichnung des Markese di Gumpelino, wird für den parodistisch gehaltenen Blick des Ich-Erzählers auf die konvertierten Juden das religiös motivierte Konzept der jüdischen Diaspora des altorthodoxen Judentums genutzt. Assoziativ wird mit dem traditionellen Konzept diasporischer Existenz gearbeitet, indem auf das jüdische Selbstverständnis von der Auserwähltheit Israels, auf die Entbehrungen der Zerstreuung und auf die eschatologische Botschaft von der Rückkehr in das Gelobte Land angespielt wird. Auch hier profanisiert der Text die religiöse Botschaft der jüdischen Diaspora, nimmt ihr mit dem politischen und ökonomischen Wortschatz des 19. Jahrhunderts die überzeitliche Bedeutung. Mit dem kommerziellen Wortschatz einer mehr und mehr industrialisierten Gesellschaft ist auch der voranschreitende Prozess der Säkularisierung unter den deutschen Juden betont:⁵⁶ „Mesallianz“, „Lotteriezettel“, „Subsistenz“, „Emigranten-Entschädigung“, „legitimer Souverän“, „Restaurationsversprechen“ aber auch „Uniform“, „Leibgardisten“ oder „Deserteur“ – der Ich-Erzähler benutzt für die Darstellung jüdischer Existenz in der Diaspora die Sprache des Zeitgeistes und betont damit das Eingebundensein der Juden in die allgemeinen Zeitläufe. So werden die assimilierten Juden des 19. Jahrhunderts einerseits in die Bildlichkeit der Diaspora gekleidet, andererseits löst sich die jüdische Existenz in einer säkularisierten Zeit von religiösen Bedeutungszuschreibungen. Verdrängt wird die Religion in ihrer Bedeutung als dem einzig gültigen Wertmaßstab durch das Kapital. So ist es die aus Besitz erwachsende Möglichkeit deutscher Juden, sich eine Stellung innerhalb der Mehrheitsgesellschaft zu sichern, die in der Narrenfigur Gumpelino beschrieben ist. Bernd Witte skizziert in seiner Publikation Jüdische Tradition und literarische Moderne drei, von Heine beschriebene Optionen deutscher Juden im 19. Jahrhundert: der Radikalismus, der das Konzept einer gewaltsamen Revolution vertritt und von Heine am Beispiel Börnes vorgestellt wird;⁵⁷ die Bibellektüre, von Heine praktiziert und das kulturelle Gedächtnis der Juden in der Moderne bewahrend;⁵⁸ der Kapitalismus als Religion des Geldes, in den Texten Heines vertreten durch den Namen Roth-
55 B III, S. 397f. 56 Das ästhetische Verfahren der semantischen Verschiebung wird von Heine in gesellschaftskritischen Kommentaren immer wieder verwandt. Vgl. Höhn, Handbuch, S. 255f. 57 Vgl. Witte, Tradition, S 67ff. 58 Vgl. Witte, Tradition, S. 76ff.
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schild und verbunden mit der literarischen Figur Gumpelino.⁵⁹ Die Macht des Geldes wird in Bäder mit der Parabel vom Kinderball im Hause Rothschild klar herausgearbeitet.⁶⁰ Die Parabel zeigt die Fürsten der Restauration als Kunden des jüdischen Bankhauses. Ihr System, das der gesellschaftlichen und politischen Gleichstellung deutscher Juden entgegenarbeitet, wird durch das Geld aus jüdischem Kapital gestützt. Die Zeichnung Gumpelinos unter der Verwendung der traditionellen Bildlichkeit diasporischen Selbstverständnisses und deren Verwurzelung in der religiösen Bedeutungszuschreibung unterstreichen den unterstellten kultischen Charakter des Kapitals in der aufkommenden Industrialisierung. Im Markese ist satirisch verzerrt die Macht und deformierende Wirkung des Besitzes gezeichnet. So verdankt der zum Christentum konvertierte Emporkömmling seinen gesellschaftlichen Aufstieg allein dem Kapital. „[V]iel Geld“⁶¹ gehört zu den „vortrefflichen Eigenschaften“⁶² Gumpelinos; sein Lächeln ist „wohlhabend“⁶³; seine Nase glänzt „wie ein verliebter Louisdor“⁶⁴ und denkt er an Rothschild, als dem Begründer der neuen Zeit, setzt er ein bürgerliches „Geschäftsgesicht“⁶⁵ auf. Geld bestimmt das politische Verhalten des Bankiers. Dieser schließt sich nicht dem antifeudalen, auf Emanzipation zielenden Lager an. Vielmehr schlägt sich Gumpelino zur Restauration. Er stützt wie Rothschild das überkommene Herrschaftssystem in Europa. So tritt Gumpelino auf als „der natürliche Alliierte meiner Feinde [Feinde des Ich-Erzählers, Anm. d. Verf.], er unterstützt sie mit Subsidien, er ist Aristokrat, Ultra-Papist“⁶⁶. Als Parteigänger des Adels und der Kirche entlarvt, zeigt die Satire die zerstörerischen, entindividualisierten Konsequenzen des Kapitals am konkreten Verhalten Gumpelinos. Geld ist der alles vermittelnde Maßstab seines Denkens und Tuns. Ob Liebe, Religion, Poesie oder Vergnügen − alles ist nur als Tauschwert von Bedeutung. Für Gumpelino binden sich an das Kapital neue Verhaltensmuster und Traditionen, welche sich für den Leser jedoch als leer und überkommen darstellen.⁶⁷
59 Vgl. Witte, Tradition, S. 64ff.; Lydia Fritzlar: Lümpchen aber lebt noch! Diaspora als Kennzeichen moderner jüdischer Existenz im Schreiben Heinrich Heines. In: Makom. Orte und Räume im Judentum. Essays. Hrsg. v. Michal Kümper, Barbara Rösch, Ulrike Schneider u. Helen Thein. Hildesheim 2007. S. 25–32. 60 Vgl. B III, S. 424ff. 61 B III, S. 397. 62 B III, S. 397. 63 B III, S. 397. 64 B III, S. 431. 65 B III, S. 419. 66 B III, S. 440f. 67 Vgl. Höhn, Handbuch, S. 238ff.
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Auch die Zeichnung Hirsch Hyazinths arbeitet in ihrer Gestaltung mit dem überkommenen diasporischen Selbstverständnis. Nicht konvertiert und als Anhänger des Reformjudentums, thematisiert Hyazinth die Beziehung säkularisierter Juden zur althergebrachten jüdischen Religion in einer Begegnung mit dem Ich-Erzähler in Bäder: Herr Doktor, bleiben Sie mir weg mit der altjüdischen Religion, die wünsche ich nicht meinem ärgsten Feind. Man hat nichts als Schimpf und Schande davon. Ich sage Ihnen, es ist gar keine Religion, sondern ein Unglück. Ich vermeide alles, was mich daran erinnern könnte, und weil Hirsch ein jüdisches Wort ist und auf Deutsch Hyazinth heißt, so habe ich sogar den alten Hirsch laufen lassen, und unterschreibe mich jetzt: ‚Hyazinth, Kollekteur, Operateur, Taxator‘. […] [W]as die Religion anbelangt, so weiß ich was ich tue. Vor der Hand aber kann ich mich mit dem neuen israelitischen Tempel noch behelfen; ich meine den reinen Mosaik-Gottesdienst, mit orthographischen deutschen Gesängen und gerührten Predigten, und einigen Schwärmereichen, die eine Religion durchaus nötig hat. So wahr mir Gott alles Gute gebe, für mich verlange ich jetzt keine bessere Religion, und sie verdient, daß man sie unterstützt.⁶⁸
Hirsch Hyazinth wird, wie sein Herr Gumpelino, als Narrenfigur in den Text eingeführt, ist jedoch mit mehr Sympathie dargestellt.⁶⁹ Ähnlich wie in der Skizzierung Gumpelinos ist die jüdische Existenz durch die Prozesse der Säkularisierung als eine gebrochene dargestellt. Doch ist der Bruch mit dem traditionellen jüdischen Leben kein absoluter wie im Fall Gumpelinos. Hirsch-Hyazinth zeigt sich als Vertreter säkularisierter Juden, welche angelehnt an den protestantischen Glauben und somit an die religiösen Riten und Bräuche der Mehrheitsgesellschaft, die jüdische Religion einerseits zu bewahren hoffen und sie doch eher als Kümmernis denn als Signum der Auserwähltheit begreifen. Dennoch ist Hirsch-Hyazinth, und mit ihm das Reformjudentum, nicht völlig von den Wurzeln jüdischer Tradition getrennt. Die jüdische Kultur wirkt auch unter den säkularisierten Juden fort, doch ist in den Äußerungen der Figur der Wandel im Selbstverständnis jüdischer Existenz gezeigt. So erinnert sich Hirsch-Hyazinth an einen gläubigen Aschkenasen: […] [der] wohnt in Hamburg, im Bäckereibreitengang, auf einem Sahl, ein Mann, der heißt Moses Lump, man nennt ihn auch Moses Lümpchen, oder kurzweg Lümpchen; der läuft die ganze Woche herum, in Wind und Wetter, mit seinem Packen auf dem Rücken, um seine Mark zu verdienen; wenn der nun Freitag Abend nach Hause kömmt, findet er die Lampe mit sieben Lichtern angezündet, den Tisch weiß gedeckt, und er legt seinen Packen und seine Sorgen von sich, und setzt sich an den Tisch mit seiner schiefen Frau und noch schie-
68 B III, S. 429f. 69 Vgl. B III, S. 401ff.
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feren Tochter, ißt mit ihnen Fische, die gekocht sind in angenehm weißer Knoblauchssauce, singt dabei die prächtigsten Lieder von König David, freut sich von ganzem Herzen über den Auszug der Kinder Israel aus Ägypten, freut sich auch, daß alle Bösewichter, die ihnen Böses getan, am Ende gestorben sind, daß König Pharao, Nebukadnezar, Haman, Antiochus, Titus und all solche Leute tot sind, daß Lümpchen aber noch lebt und mit Frau und Kind Fisch ißt − Und ich sage Ihnen, Herr Doktor, die Fische sind delikat und der Mann ist glücklich, er braucht sich mit keiner Bildung abzuquälen, er sitzt vergnügt in seiner Religion und seinem grünen Schlafrock, wie Diogenes in seiner Tonne, er betrachtet vergnügt seine Lichter, die er nicht einmal selbst putzt − Und ich sage Ihnen, wenn die Lichter etwas matt brennen, und die Schabbesfrau, die sie zu putzen hat, nicht bei der Hand ist, und Rotschild der Große käme jetzt herein, mit all seinen Maklern, Diskonteuren, Spediteuren und Chefs de Comptoir, womit er die Welt erobert, und spräche: ‚Moses Lump, bitte dir eine Gnade aus, was du haben willst, soll geschehen‘ − Herr Doktor, ich bin überzeugt, Moses Lump würde ruhig antworten: ‚Putz mir die Lichter!‘ und Rotschild der Große würde mit Verwunderung sagen: ‚Wär ich nicht Rotschild, so möchte ich so ein Lümpchen sein!‘⁷⁰
Säkularisierte jüdische Existenz und ein der religiösen Tradition verhaftetes jüdisches Leben treffen in der Rede Hyazinths unmittelbar aufeinander. Der Shabbat als ein zentraler Ritus der Zerstreuung wird im Text als stabilisierender Faktor jüdischen Lebens vorgestellt. In dessen Zeremonien ist die Gewissheit des Überlebens und der Existenzberechtigung der Juden in der Diaspora manifestiert. Das Unglück des Einzelnen wandelt sich im gemeinschaftlichen Ritus in die überlegene Sicherheit der letztendlichen Überwindung existenzieller Gefahr.⁷¹ Hirsch-Hyazinths warmherziger Erzählton über Moses Lümpchen zeigt darüber hinaus ein an die Mehrheitsgesellschaft angepasstes jüdisches Leben, dem durch die Säkularisierung der unmittelbare Rückhalt in der althergebrachten Religion zwar verwehrt ist, das aber noch immer die Erinnerung an ein von Religiosität durchdrungenes Leben besitzt. Die Rituale diasporischer Existenz sind diesen säkularisierten Juden noch nicht gänzlich leer, die Sinnhaftigkeit dieser Riten für ein Überleben jüdischen Selbstverständnisses in der Diaspora ist noch nicht vergessen. Selbst Rothschild, als Vertreter einer Existenz unter dem Zeichen des Kapitals, versagt vor dem althergebrachten jüdischen Traditionsgefüge diasporischer Existenz. Er scheint dem Gläubigen unterlegen, wenn er dazu aufgefordert wird, Arbeiten am Shabbat zu verrichten, die einem strenggläubigen Juden untersagt sind. Der Herrscher über die Fürsten Europas wird zum „unreinen“ Diener der jüdischen Religion, zum Schabbesgoij. Die Macht seines Besitzes verflüchtigt sich vor den matt brennenden Kerzen des Shabbat − seine moderne Absicherung birgt nicht den jahrhundertelang bewährten Schutz althergebrachter jüdischer Riten in der Diaspora. 70 B III, S. 430f. 71 Vgl. auch Heines Gedicht „Prinzessin Shabbat“ Bd. XI, S.125–129.
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Vom Ideal zur Realität
Gumpelino und Hirsch Hyazinth, als extreme Figurationen einer von Säkularisierung durchdrungenen jüdischen Existenz, stehen exemplarisch für ein Akkulturationsbedürfnis, dem der Ich-Erzähler ablehnend gegenübersteht. Ohne politisches Engagement für das Vorantreiben der Emanzipation erscheint der Versuch dieser Juden, sich in das Umfeld der Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, ebenso aussichtslos, wie das Beharren des altorthodoxen Judentums auf die Heilsgewissheit des jüdischen Volkes. Wie die Frankfurter Juden im Rabbi sind der Renegat und sein Diener Narrengestalten, die an der Abwehr ihres Umfelds scheitern. Mit der fehlenden politischen Emanzipation verharrt die von Säkularisierung beherrschte moderne jüdische Existenz noch immer im Zustand jener Knechtschaft, dem bereits die Vorväter in Ägypten ausgeliefert waren. Die vom Text aufgeworfenen Assoziationen mit dem religiös geprägten Konzept der Diaspora, parodistisch durch die gegenwärtige Sprache der Ökonomie und des Militärs verfremdet, unterstreichen die Gefahr des Scheiterns einer modernen jüdischen Existenz, die sich allein der individuellen Assimilation verpflichtet sieht. Jeder religiösen Bedeutungszuschreibung enthoben, stehen die traditionellen Bilder der Diaspora generell für ein gescheitertes Selbstverständnis jüdischer Existenz, wie die Ausführungen zum Rabbi darlegen. Allein im aktiven Handeln des Menschen, in dessen politischem Engagement, fern jeder Hoffnung auf ein Eingreifen göttlicher Instanz, liegt die Möglichkeit einer Fortdauer jüdischer Existenz in der Moderne. In der politischen Botschaft Pessachs, wie es die intellektuelle Diskussion um die moderne jüdische Existenz herausarbeitet, liegt die Chance zum Fortbestand jüdischen Lebens. Der für das jüdische Bewusstsein in der Diaspora zentrale Antagonismus von Knechtschaft und Freiheit, wie ihn das Judentum in Pessach zu überwinden sucht, ist im 19. Jahrhundert Motor der säkularen Strömungen der Minderheit. Darüber hinaus sind der Wille zur Emanzipation und die Befreiung des Menschen aus der Knechtschaft die politischen Botschaften des 19. Jahrhunderts. Sie lassen sich, dem Verständnis säkularer Juden nach, dem jüdischen Selbstverständnis von Anbeginn einbinden und erfahren in der Überwindung der religiösen Konzeption des Diasporaverständnisses eine neue, anthropologische Dimension. Um diesen Anspruch einzulösen, bedarf es des politischen Engagements. In dessen Umsetzung liegt die Chance zum Fortbestand jüdischen Lebens in Europa unter dem Zeichen der Säkularisierung.
V Diasporisches Schreibverfahren – Heines Kommentierung einer antijüdischen Figur 1 Kommentar von der eigenen Aktualität her Wie Bernd Witte in seiner Publikation Jüdische Tradition und literarische Moderne entwickelt, zählt der Rabbi mit seiner literarischen Ausgestaltung des PessachFestes zu den innovativen Arbeiten der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Das innovative Element wurzelt dabei nicht allein in der Einführung jüdischer Thematik in die deutsche Literatur. Auch die Art der Auseinandersetzung mit dem Gründungsmythos des Judentums zeichnet den progressiven Ansatz des Schriftstellers aus. Dieser Ansatz liegt in der Übernahme des traditionellen, in der Diaspora entwickelten Schreibverfahrens des Kommentierens.¹ Bernd Witte setzt voraus, dass „[i]m Gegensatz zur klassischen deutschen Literatur und deren Weiterungen im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, die sich auf die Natur als ihren Ursprung berufen, […] die deutsch-jüdische Literatur von einem ausgebildeten Bewußtsein des Schriftcharakters von Literatur getragen [wird]“². Sie findet, so Witte, ihren Ursprung in bereits geschriebenen Texten, kommt „als kommentierendes Neuschreiben vorgeschriebener Texte zu sich selbst“³. Dieses Verständnis von Literatur geht auf die in der rabbinischen Tradition vertretene Vorstellung vom defizitären Status der Schrift zurück. Das Defizit der Schrift in der Vermittlung des genauen Sinngehalts des göttlichen Wortes, so die Annahme, sei aus der Übertragung der göttlichen Rede in die göttliche Schrift und dann aus deren Übersetzung in die von Menschen geschriebenen und somit auch von Menschen lesbaren Schriftzeichen hervorgegangen.⁴ Dieses Defizit ist in der Beschränktheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit begründet, welche die göttliche Offenbarung niemals gänzlich zu erkennen vermag. Die menschliche Sprache, auch sie als Organ der Erkenntnisfähigkeit des Menschen begrenzt, kann die göttliche Absicht nur unvollkommen wiedergeben. Um zu größerer Einsicht über das von Adonai verkündete Wort zu gelangen, bedarf es des fortlaufenden, aus der mündlichen Lehre stammenden Kommentars des bereits entwickelten und in der Schrift fixierten Wissens. 1 Einführend zum diasporischen Schreibverfahren vgl. Witte, Tradition, S. 9f.; Jasper, Parnass, S. 177. 2 Witte, Tradition, S. 10. 3 Witte, Tradition, S. 10. 4 Vgl. Witte, Tradition, S. 10.
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Diasporisches Schreibverfahren
Besitzen in der rabbinischen Tradition die Schriften des Tanach ausschließlich den Status des Heiligen, werden sie im Zuge der Haskala und der ihr folgenden intellektuellen Strömungen unter säkularen Juden zu historischen Zitaten, die nun auch in der Fiktion des literarischen Textes kommentiert werden können.⁵ Wie das Beispiel des Rabbi exemplarisch verdeutlicht, in dem die eschatologische Botschaft Pessachs negiert und durch das Postulat der politischen Emanzipation ersetzt wird, heißt Kommentieren auch im literarischen Text Heines, „einen vorgeschriebenen Text von der eigenen Aktualität her neu schreiben und ihn dadurch erst lesbar machen. Heißt also immer Übersetzung des Fremden ins Eigene und damit die Entfernung vom Ursprungstext“⁶. In dieser immer größer werdenden Distanz zum Ursprung sieht Witte nicht nur die Bewegung der deutsch-jüdischen Literatur gezeichnet. Die Distanz vom Ursprung dominiert auch das Schicksal der jüdischen Existenz in der Diaspora: „Wie die Juden nach ihrem Auszug aus Ägypten erst in der Fremde der Wüste zu ihrer eigenen Identität finden, so das kommentierende Schreiben erst im Auszug aus dem Ursprungstext. Das ist es, was man das diasporische Schreibverfahren des Kommentars nennen könnte.“⁷ Heines Werk kommentiert im Rahmen des fiktionalen Textes jedoch nicht allein kanonische Texte des altorthodoxen Judentums. Das Prinzip des diasporischen Schreibverfahrens, die Neuinterpretation eines Ursprungstextes von der Interessenlage der Gegenwart her, die Übersetzung des Fremden ins Eigene, findet auch bezüglich literarischer, sprich profaner Texte Anwendung im Oeuvre des Schriftstellers. Das Phänomen des Kommentierens eines Ursprungstextes von der eigenen Aktualität her, in der deutsch-jüdischen Literatur im Allgemeinen und im Werk Heines im Besonderen, beobachtet auch Alfred Bodenheimer.⁸ Er analysiert die in der europäischen Literatur ursprünglich negativ besetzte jüdische Figur Ahasver.⁹ Diese verselbständige sich, so Bodenheimer, zur Reflexionsgestalt jüdischer Autoren im 19. und 20. Jahrhundert.¹⁰ Die in der Figur Ahasver verdichtete Unterstellung der Ruhe- und Heimatlosigkeit, wie sie in den Wissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts als dominanter Wesenszug des „jüdischen Charakters“ betont wird,¹¹ würde einerseits unreflektiert in das jüdische Selbst5 Vgl. Witte, Tradition, S. 11. 6 Witte, Tradition, S. 12. 7 Witte, Tradition, S. 12. 8 Vgl. Alfred Bodenheimer: Wandernde Schatten. Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne. Göttingen 2002. S. 40. 9 Vgl. Bodenheimer, Schatten, S. 21f. 10 Vgl. Briegleb, Wassern, S. 55. 11 Zur Entstehung und Entwicklung der Ahasver-Figur vgl. ausführlich Bodenheimer: Der projizierte und der reflektierte Jude – Eine Einleitung. In: Ders., Schatten, S. 7–28. Bodenheimer verfolgt hier ausführlich den Entwicklungsbruch der Legende um den
Kommentar von der eigenen Aktualität her
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verständnis übernommen, andererseits lasse sich jedoch eine Modifizierung der Ahasver-Figur in der Minorität erkennen. Diese nimmt die nichtjüdische Figur als Symbol des getauften Juden zwar auf, besetzt sie jedoch positiv¹² − kommentiert sie im Sinne der Minderheit. So würde das auferlegte Wandern Ahasvers, auch Sinnbild diasporischer Existenz, als jüdischer Charakterzug akzeptiert, jedoch gepaart mit der Vorstellung von Moderne und Fortschritt.¹³ Ein weiteres eindrückliches Beispiel der Kommentierung einer ursprünglich antijüdischen Figur unter den Vorzeichen einer von den Zeitströmungen des 19. Jahrhunderts geprägten jüdischen Existenz findet sich in Heines Interpretation der Shakespeareschen Shylock-Figur. Diese für die Kommentierung des antijüdischen Vorurteils heranzuziehen, gründet in der Gestaltung des Juden als literarischer Figur in der europäischen Literaturtradition. Dabei symbolisiert die Figur des Juden wie kaum eine andere die des Außenseiters. Durch diese, in der Figur des Juden gespiegelte besondere soziale Position bietet diese Figur den Rahmen für die literarische Aufarbeitung gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse, ist sie Projektionsfläche sozialer Umbrüche und Konflikte.¹⁴ Dabei steht der Shylock Heines, wie der Ewige Jude Ahasver, nicht länger für eine jüdische Singularexistenz beziehungsweise für das Bühnenschicksal einer Figur. Wie für den Kommentar Pessachs im Rabbi ist auch in der Interpretation Shylocks die kultursoziologische Perspektive des säkularen Juden auf die Minderheit von entscheidender Bedeutung. Steht Ahasver im Zeichen des „theologische[n] Schicksal[s]“¹⁵ des Judentums, so Hans Mayer, wird mit Shylock im Text Heines das Bewusstsein jüdischer Existenz im 19. Jahrhundert, einer politisch und sozial marginalisierten Gruppe anzugehören, thematisiert. Schreiben von der eigenen Aktualität her – in der Kommentierung einer antijüdisch konnotierten Figur ist jene mehrfachcodierte Schreibweise exemplifiziert, die maßgeblich ist für die Auseinandersetzung Heines mit der Literaturtradition der Mehrheitsgesellschaft. So begegnet Heine den Shakespeareschen Dramen in Shakespeares Mädchen und Frauen in der Rolle des Lesenden, begibt sich der Autor selbst in der Rolle des Kommentierenden literarischer Texte. Es ist dieser Lesende, der mit seinem Kommentar Shylock neu zeichnet. Dabei wird der Faktor des kulturellen Wissens beziehungsweise des Weltwissens des Lesen-
Ewigen Juden zwischen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wobei die mit dieser Figur verbundenen Heilsvorstellungen durch eine säkularisierte Symbolisierung des jüdischen Volkes abgelöst werden. 12 Vgl. Bodenheimer, Schatten, S. 16ff. 13 Vgl. Bodenheimer, Schatten, S. 21. 14 Vgl. Daemmrich, Themen, S. 214. 15 Mayer, Außenseiter, S. 315.
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Diasporisches Schreibverfahren
den ausschlaggebend für dessen Zeichnung der Shylock-Figur. Im Akt des Lesens transformiert sich dabei das Fabelgeschöpf des Antisemitismus zum Sinnbild eines im Niedergang begriffenen, traditionell geprägten jüdischen Lebens. Der Gehalt der Figur wird so ausgeweitet, dass sich sowohl Vergangenheit als auch Gegenwart der jüdischen Existenz in der Diaspora in ihr beschreiben lassen. Mit seinem Shylock-Text versucht Heine den Blick auf die Figur des Juden in der Literatur vom christlich verankerten Vorurteil zu befreien und ihm eine grundlegende Bedeutung für die deutsche Literatur zuzuweisen.
2 Die Figur des Juden in der europäischen Literatur und Shylock auf der Londoner Bühne im Jahr 1827 Wie bereits erwähnt, nimmt sich Heine mit Shylock einer literarischen Figur an, die in ihrer Konstruktion wie keine andere der europäischen Literaturtradition von den offenen und versteckten Werturteilen ihrer jeweiligen Entstehungszeit abhängig ist. So sind die Figurenkonzeptionen des Juden nicht nur von den religiösen Auffassungen der Autoren und ihres christlichen oder jüdischen Hintergrunds gefärbt, in ihnen sind auch die wechselnden theologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Ansichten der Epochen gespiegelt. Konsistenz besitzt die Figur allein in ihrer Position als Außenseiter, in ihrer Kontrastfunktion im Vorbildlichen wie im eindeutig Negativen. So vereint der Typus des Juden in der literarischen Tradition der Mehrheitsgesellschaft bis in die Neuzeit hinein die Auswüchse der zeitgenössischen Vorurteile. Gezeichnet von Arglist, Geldgier, Heimtücke und Durchtriebenheit, sind jüdische Stereotype in dieser Literaturtradition Figuren des Bösen und stellen, etwa in den mittelalterlichen Passionsspielen, Jesu und seinen Anhängern nach. Demgegenüber besitzen die Figuren des Tanach, die israelitischen „Altväter“, jedoch eine durchaus positive Darstellung, dienen als Vorbild der christlichen Gemeinschaft. Im Zuge der Ausbreitung profaner Literatur wird die negative Schilderung des Juden komplexer. Die Figur des jüdischen Wucherers entsteht. Sie wird mit Marlows The Jew of Malta (1588) und Shakespeares The Merchant of Venice (1595) zur Protagonistin der Weltliteratur. Obwohl die Juden für das englische Publikum des elisabethanischen Zeitalters „weitgehend ein Gerücht“¹⁶ blieben, schufen Marlow und Shakespeare mit ihren Figuren keine bloßen Stereotype mehr. Ihre Figuren des Juden thematisieren charakteristische menschliche Triebe, kultursoziologische Faktoren und das Verlan-
16 Mayer, Außenseiter, S. 316.
Die Figur des Juden in der europäischen Literatur
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gen des Menschen nach Würde. Shakespeares Figur des Juden etwa „überrascht [mit] eine[r] Fülle der individuellen wie nationalen Züge“¹⁷. Dem Stereotypen des Vorurteils steht in der abendländischen Literatur die Figur des vorbildlichen Juden gegenüber. Sie ist spiegelverkehrt zum negativen Typus gestaltet: Der erhabene Jude ist mitleidig, hilfsbereit, weichherzig, großzügig; er ist von edlem, weisen, toleranten Charakter, der über die Vorurteile der Welt lächelt und der Gesellschaft vergibt. Finden sich Darstellungen dieses Typs bereits vor dem 17. Jahrhundert, entstehen bedeutende Figuren erst im Zeitalter der Aufklärung. Berühmtestes Beispiel der deutschen Aufklärungsliteratur ist Lessings Drama Nathan der Weise (1779).¹⁸ In den Figuren vorbildlicher Juden fasst Lessing die theologischen und historischen Debatten zwischen Renaissance und Aufklärung zusammen.¹⁹ Willi Jasper betont bezüglich der Einschätzung des Dramas, dass der Nathan Lessings: […] eben nicht ein Erbauungswerk der Toleranz [sei], sondern Einspruch [ist] gegen die Wirklichkeit und zugleich eine schreckliche Prognose. Das ‚Tut nichts! Der Jude wird verbrannt!‘ des Patriarchen erinnert nicht nur an die christlichen Scheiterhaufen der Vergangenheit, sondern ist zugleich schon die Fatalismusformel einer Zukunft ohne Menschheitsfortschritt.²⁰
Mit Lessings Nathan besitzt der Typus des Juden weiterhin die Züge des Außenseiters. Einerseits verdrängt die Sittsamkeit Nathans alle weiteren menschlichen Charakterzüge und lässt die Figur auf diese Weise abermals aus dem gesellschaftlichen Raum herausragen, andererseits bleibt für eine Mehrheit des deutschen Publikums Nathan ein „rätselhaftes Stück aus dem Morgenland“²¹. Die Shylock-Figur ist in ihrer heutigen Lesart längst nicht mehr an den geschlossenen Bühnenraum des Theaters gebunden. Sie hat das Theater verlassen und ist zur Figuration jüdischer Existenz in der Diaspora avanciert. Dabei ist zu beobachten, dass sich seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Deutungszusammenhang zwischen der Shakespeareschen Figur und der literarischen Bemühung um die europäischen Juden verstärkt. Ende des 20. Jahrhunderts wird dann versucht, den gesamten Komplex jüdischer Geschichte in Europa unter dem Namen Shylocks zu bündeln. Das „Welttheater“ selbst, so könnte man
17 Mayer, Außenseiter, S. 322. 18 Vgl. Jasper, Parnass, S. 50ff. 19 Vgl. Jasper, Parnass, S. 50ff.; Dedner, Nase, S. 282. 20 Jasper, Parnass, S. 51f. 21 Jasper, Parnass, S. 52.
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etwa Dietrich Schwanitz deuten, führt die Tragödie Shylocks seit Jahrhunderten im Repertoire.²² Die Entwicklung Shylocks vom Protagonisten eines Dramas zum Sinnbild für die historische Erfahrung eines ganzen Volkes ist bemerkenswert. Noch bemerkenswerter ist sie vor dem Hintergrund, dass die von Shakespeare geschaffene Figur größtenteils als literarische Verdichtung des christlichen Vorurteilkatalogs gegen die jüdische Minderheit gelesen werden muss. Gerade dieser ursprünglich antijüdisch angelegten Figur gelingt es jedoch, die grotesken Züge des Judenhasses abzustreifen und zum Deutungsrahmen jüdischer Existenz in der europäischen Diaspora zu werden. Heinrich Heine ist es, der das versteckte Potenzial der Shakespeare-Figur als Sinnbild jüdischen Lebens in Europa erkennt und Shylock einen Weg von der Bühne christlicher Tradition in den Deutungsraum der jüdischen Diaspora bietet. Die zentrale Abhandlung hierzu, Shakespeares Mädchen und Frauen, wird gegen Ende des Jahres 1838 veröffentlicht. Der Text wird zu Lebzeiten des Autors und in der späteren Forschung verhältnismäßig wenig beachtet.²³ Die Herausgabe einer unkommentierten Sammlung von 45 Stahlstichen englischer Künstler zu populären Frauengestalten der Shakespeareschen Dramen gab den Anlass für die Reflexionen über Shakespeares Mädchen und Frauen. Sich am Vorbild der englischen Porträtsammlung in der Formgebung des Textes orientierend, führt der Ich-Erzähler im Gewand eines plaudernden Ciccerone den Leser von Porträt zu Porträt der „vortrefflichen Frauenbilder“²⁴. Auf seinem Rundgang hier und da kurz verweilend, bleibt der „Pförtner“²⁵ schließlich vor dem zentralen Gemälde der Sammlung stehen und erschließt es dem Leser ausführlich. Das Text-Bild, das im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, ist jedoch nicht etwa das der liebreizenden Julia oder der tollwütigen Lady Macbeth. Es sind auch nicht die literarischen Frauenfiguren Jessika und Portia, unter deren Namen die inhaltsreichsten Äußerungen der Shakespeare-Interpretation zu finden sind: es sind Überlegungen zu einer Figur des Kaufmanns von Venedig; es ist der Jude Shylock, der den leichtfüßigen Gang des Ciccerone durch die Galerie Shakespearescher Dramenfiguren ins Stocken geraten lässt. Lange vor seiner Arbeit an Shakespeares Mädchen und Frauen begegnet Heine Shylock an dessen angestammten Ort − der Bühne. Der Schriftsteller ist am 14. Juni 1827 bei einer Aufführung des Kaufmann von Venedig in London zugegen.
22 Vgl. Dietrich Schwanitz: Das Shylock-Syndrom oder die Dramaturgie der Barbarei. München 1998. S. 23f. 23 Zur Aufnahme vgl. Kommentar von Jan-Christoph Hauschild in DHA X, S. 369–376. 24 B VII, S. 190. 25 B VII, S. 190.
Die Figur des Juden in der europäischen Literatur
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Edmund Kean spielt den Juden und seine Darstellung lässt der Bühnenfigur erstmals die Sympathien des Publikums gewinnen.²⁶ Bis dato wurde Shylock entweder als komische Figur oder als dämonischer Schurke gegeben. Erst mit der Emanzipationsbewegung der Juden kommt die Wende in der dramatischen Darstellung der Figur.²⁷ Ein Eindruck der Wirkung des innovativen Spiels Edmund Keans auf das Publikum ist zu Beginn des Jessika-Abschnitts zu finden. Es ist eine Britin, die emphatisch für Shylock spricht und damit die Gunstbezeigungen einer gebildeten Oberschicht gegenüber den Emanzipationsbemühungen der Juden zu Beginn des 19. Jahrhunderts spiegelt: „Als ich dieses Stück in Drurylane aufführen sah, stand hinter mir, in der Loge, eine schöne blasse Brittin, welche am Ende des vierten Akts heftig weinte und mehrmals rief: the poor man is wronged! (dem armen Mann geschieht Unrecht!).“²⁸ Das Spiel Keans selbst wird in einem früher veröffentlichten Text Heines demonstriert, in den Briefen Über die französische Bühne (1837): Der Jude von Venedig war die erste Heldenrolle die ich ihn [Kean, Anm. d. Verf.] spielen sah. Ich sage Heldenrolle, denn er spielte ihn nicht als einen gebrochenen alten Mann, als eine Art Schewa des Hasses […], sondern als einen Helden. So steht er noch immer in meinem Gedächtnisse, angethan mit seinem schwarzseidenen Roquelaure, der ohne Aermel ist und nur bis ans Knie reicht, so daß das blutrothe Untergewand, welches bis zu den Füßen hinabfällt, desto greller hervortritt. Ein schwarzer, breitbändiger, aber zu beiden Seiten aufgekrämpter Filzhut, der hohe Kegel mit einem blutrothen Bande umwunden, bedeckt das Haupt, dessen Haare, so wie auch die des Bartes, lang und pechschwarz herabhängen, und gleichsam einen wüsten Rahmen bilden zu dem gesundrothen Gesichte, worin zwey weiße, lechzende Augäpfel schauerlich beängstigend hervorlauern.²⁹
Nicht die Verkörperung der für einen Helden typischen Ideale noch dessen heroisch-vorbildliches Auftreten lassen Shylock nach dieser Beschreibung zum Protagonisten werden. Es ist eher die hervortretende Willenskraft der Figur, endlich aktiv zu handeln, sich gegen erlittenes Unrecht zur Wehr zu setzen, die Shylock ins Zentrum des Dramas führt. Verfolgt man die Ausführungen des Briefes weiter, setzt sich jedoch im Keanschen Spiel des Juden mehr und mehr jene Fabelgestalt antijüdischer Ressentiments durch, die im Folgenden beschrieben, analy-
26 Vgl. Schwanitz, Syndrom, S. 43. 27 Vgl. Schwanitz, Syndrom, S. 43. – Dass die antijüdische Zeichnung Shylocks keineswegs mit den Aufklärungstendenzen überwunden ist, zeichnet sich dann um die Jahrhundertwende ab. Shylock tritt wieder in der Gestalt des diabolischen Schurken auf die Bühne und zur Zeit des Holocaust ist er zum grotesken Stürmer-Juden verzerrt, zum Abbild eines kollektiven Wahns degradiert. 28 B VII, S. 251. 29 DHA XII/1, S. 487.
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siert und von Heine demontiert wird. Die Physiognomie, die Kean zur Darstellung Shylocks annimmt, die Kleidung, die er wählt, erinnert an die roten Perücken und schwarzen Kaftane der Juden in den mittelalterlichen Passionsspielen³⁰, unterstreicht den Zug eines am Wahnsinn Erkrankten. Der Ausdruck der Rede unterstützt diesen Eindruck: Langsam beginnt er: ‚Signor Antonio, many a time and oft‘ bis er zu dem Wort dog kommt, welches schon heftiger hervorgestoßen wird. Der Aerger schwillt bey ‚and spit upon my jewish gabardine … … own.‘ – Dann tritt er näher heran, aufrecht und stolz, und mit höhnischer Bitterkeit spricht er: ‚Well, then … … ducats –‘ Aber plötzlich beugt sich sein Nacken, er zieht den Hut ab, und mit unterwürfiger Gebärde spricht er: ‚Or, shall I bent low … … monies.‘ Ja, auch seine Stimme ist alsdann unterwürfig, nur leise hört man darin den verbissenen Groll, um die freundlichen Lippen ringeln kleine muntere Schlangen, nur die Augen können sich nicht verstellen, sie schießen unaufhörlich ihre Giftpfeile, und dieser Zwiespalt von äußerer Demuth und innerem Grimm endigt beim letzten Wort (monies) mit einem schaurig gezogenen Lachen, welches plötzlich schroff abbricht, während das zur Unterwürfigkeit krampfhaft verzerrte Gesicht einige Zeit larvenartig unbeweglich bleibt, und nur das Auge, das böse Auge, drohend und tödtlich, daraus hervorglotzt.³¹
Beginnt Shylock auch stolz und aufrecht gegen seinen Widersacher zu sprechen, wird dieser Duktus in Wut gewandelt, bemäntelt von Unterwürfigkeit, die etwa an das im Folgenden zu analysierende Ressentiment von der Rache der Juden denken lässt. Zu diesem Ausdruck der Rede ist das dämonische Grinsen gesellt und schon ist die Darstellung Keans mit dem Gestus des Bösen vermischt, dem antijüdischen Bild christlicher Tradition. So kann sich selbst die „judenfreundliche“ Interpretation Shylocks in der Zeit der Emanzipationsbewegung nicht vom christlichen Vorurteilskatalog lösen, und es zeigt sich an Keans Spiel der „Grundwiderspruch der bürgerlichen Aufklärung […]. [Denn] [w]enn Aufklärung mit dem Grundsatz einer Gleichheit alles dessen, ‚was Menschenantlitz trägt‘, wahrhaft Ernst machen will, muß sie die Juden als Anderssein, als Volk, in ihrem gesellschaftlichen Gewordensein akzeptieren.“³² Nicht das aus den Idealen der Aufklärung geborene Drama Nathan der Weise, das „keine Zurücknahme des Shylock werden konnte, sondern lediglich die Unfähigkeit selbst bedeutender bürgerlicher Literatur demonstrierte, den Juden Shylock aus dem Bewußtein eines aufgeklärten europäischen Bürgertums verdrängen zu können“³³, sondern erst die Reflexionen Heines mit ihrer kultursoziologischen Perspektive auf die jüdische Existenz in der Diaspora besitzen das Potenzial, die dämonischen Züge
30 Vgl. Themen, Handbuch, S. 214. 31 DHA XII/1, S. 487. 32 Mayer, Außenseiter, S. 329. 33 Mayer, Außenseiter, S. 329f.
Demontage des Antihelden
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der Figur in der deutschen Literaturtradition zu bannen und ihr ein menschliches Antlitz zu verleihen.
3 Demontage des Antihelden – Heines soziopolitische Perspektive auf das antijüdische Vorurteil Jessika und Portia, so sind die beiden Abschnitte in Shakespeares Mädchen und Frauen zu den Reflexionen des Ciccerone über den Kaufmann von Venedig überschrieben. Die Interpretation Heines ist diesen Frauengestalten jedoch nur streiflichtartig zugewandt. Zentral ist dem Text vielmehr die Figur des Juden, verknüpft mit der Analyse des europäischen Antijudaismus, dessen Wurzeln und Historie. Die Frage nach dem „Grund jenes Hasses, den wir in Europa zwischen den Anhängern der mosaischen Gesetze und der Lehre Christi bis auf den heutigen Tag gewahren“³⁴ ist zentral für die Deutung der Shylock-Figur. Im Zuge dieser Analyse, im Verweisen auf die soziopolitisch begründete Außenseiterposition der jüdischen Minderheit in Europa, wird die Shakespeare-Figur demontiert und wird deren stereotype Fassade aufgebrochen. Beantwortet wird die Frage nach dem Ursprung des Judenhasses in Form eines fingierten Privatbriefes.³⁵ Nicht der Ciccerone, der von Porträt zu Porträt eilt, sondern eine nicht weiter definierte Person, die aufgrund ihres Argumentationsganges als aufgeklärte und aus den Ergebnissen der Geschichtswissenschaften deduzierende Stimme einzuordnen ist, übernimmt es, die Frage nach den Ursachen des Vorurteils der christlich geprägten Mehrheitsbevölkerung gegen die jüdische Minderheit zu beantworten: Ich kann nicht umhin zur Beantwortung dieser Frage eine Stelle aus einem Privatbriefe mitzuteilen, die auch die Gegner Shylocks justifiziert [!]: ‚Ich verdamme nicht den Haß, womit das gemeine Volk die Juden verfolgt; ich verdamme nur die unglückseligen Irrtümer, die jenen Haß erzeugten. Das Volk hat immer Recht in der Sache, seinem Hasse wie seiner Liebe liegt immer ein ganz richtiger Instinkt zu Grunde, nur weiß es nicht, seine Empfindungen richtig zu formulieren, und statt der Sache, trifft sein Groll gewöhnlich die Person, den unschuldigen Sündenbock zeitlicher und örtlicher Mißverhältnisse. Das Volk leidet Mangel,
34 B VII, S. 258f. 35 Obwohl in der Forschung unterschiedliche Verfasser des Briefes im Shylock-Aufsatz gehandelt werden – von Gutzkow (Karpeles), über Börne (Schalles) bis Rahel Varnhagen (Briegleb) – schließt sich die vorliegende Arbeit den Anmerkungen Hauschilds im Kommentar zu Shakespeares Mädchen und Frauen der Düsseldorfer Heine-Ausgabe an, die Heine selbst als Autor des Briefes einschätzt (vgl. DHA X, S. 475f.). Für diese Einschätzung spricht vor allem die Nähe der hier gemachten Äußerungen zu den Geständnissen (vgl. B XI, S. 485).
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Diasporisches Schreibverfahren
es fehlen ihm die Mittel zum Lebensgenuß, und obgleich ihm die Priester der Staatsreligion versichern, ‚daß man auf Erden sei, um zu entbehren und trotz Hunger und Durst der Obrigkeit zu gehorchen‘ – so hat doch das Volk eine geheime Sehnsucht nach den Mitteln des Genusses, und es haßt diejenigen, in deren Kisten und Kasten dergleichen aufgespeichert liegt; es haßt die Reichen und ist froh wenn ihm die Religion erlaubt, sich diesem Hasse mit vollem Gemüte hinzugeben. Das gemeine Volk haßte in den Juden immer nur die Geldbesitzer, es war immer das aufgehäufte Metall, welches die Blitze seines Zorns auf die Juden herabzog. Der jeweilige Zeitgeist lieh nun immer jenem Hasse seine Parole. Im Mittelalter trug diese Parole die düstre Farbe der katholischen Kirche, und man schlug die Juden tot und plünderte ihre Häuser: ‚weil sie Christus gekreuzigt‘ […].³⁶
Die Textstelle nimmt dem Antijudaismus seine religiöse Rechtfertigung, definiert ihn im Sinne einer aufgeklärten Haltung als Gewaltentäußerung, geboren aus Vorurteil, Aberglauben und Bildungsferne eines großen Teils der Mehrheitsgesellschaft. Er hat seinen Ursprung in den gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen Europas. Dass die christliche Bevölkerung die Juden als Sündenböcke über Jahrhunderte für ihre gesellschaftliche Misere ausmachte, lag zum größten Teil an den religiösen Institutionen, die den gefühlten Unmut mittels ihrer Lehre kanalisierten und die gewaltsamen Ausschreitungen gegen die jüdischen Gemeinden seit dem Mittelalter sanktionierten, so die Aussage des angeführten Briefs. Armut und Neid, Aberglaube und Vorurteil gingen in Gewaltbereitschaft und Terror auf und fanden ihre Rechtfertigung in den Diskursen und Institutionen der Machthabenden. Die jüdische Minderheit war als Ventil einer sozialen Schieflage dem Hass des Vorurteils verschiedenster Bevölkerungsschichten schutzlos ausgeliefert. Kapital und Aberglaube werden als zentrale Elemente des christlichen Vorurteilskatalogs in den Ausführungen Heines genannt. Die Figur des Shylock bietet dem Schriftsteller die ideale Folie diesen zentralen Elementen des Judenhasses nachzugehen und sie zu analysieren, tritt dem Leser des Shakespeare-Dramas in der Figur des Shylock doch beispielhaft das überkommene Bild vom blutdürstenden und geldgierigen Juden entgegen. Shakespeare schafft „zur Ergötzung des großen Haufens“³⁷, jenes Publikums, das zutiefst von der religiös gefärbten Ideologie seiner Zeit geprägt ist,³⁸ „einen gedrillten Währwolf […]“³⁹, „ein verhaßtes Fabelgeschöpf, das nach Blut lechzt, und dabey seine Tochter und seine
36 B VII, S. 259. 37 B VII, S. 251. 38 Vgl. Schwanitz, Syndrom, S. 43f. – Zur Zeit Shakespeares lebten auf den britischen Inseln keine Juden. Sein Bild ist zwangsläufig nicht von persönlicher Begegnung mit Juden geprägt, sondern rekrutiert sich aus dem traditionellen Vorurteilskanon der christlichen Tradition. 39 B VII, S. 251.
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Dukaten einbüßt und obendrein verspottet wird“⁴⁰. Zu dieser Figur gehört im Drama Shakespeares untrennbar der Vertrag mit dem Pfund Fleisch, der verlorene Prozess um diesen Kontrakt, der Verlust von Familie und Vermögen, der Zwang zur Taufe sowie ein ungestilltes Rachegefühl. Das Herzstück des Dramas, der archaische Vertrag zwischen dem Juden und dem Christen, erinnert an die, den Juden von Seiten der Christen unterstellte Hostienschändung. Auch die Ritualmordlegende leuchtet im Begehren Shylocks nach dem Fleisch seines christlichen Widersachers auf.⁴¹ Gebunden ist das Geschäft mit dem Pfund Fleisch an die Figur des jüdischen Wucherers. Das Bild von Shylock, der Schacher treibt mit dem Unglück seines Gegenspielers, entspricht einem der Hauptbestandteile des antisemitischen Vorurteilskataloges. „Shylock ist Jude, weil Wucherer, und Wucherer, weil Jude“⁴², so Schwanitz. Den gordischen Knoten, in der christlichen Vorstellung geflochten aus Judentum und Kapital, durchtrennt auch die Figur des Shylock nicht. Im Vorurteil gegen den jüdischen Geldverleiher, der seinem Schuldner durch scharfe Konditionen nach dem Leben trachtet, dokumentieren sich jedoch in erster Linie seit der Antike praktizierte Rechtsvorstellungen des Abendlandes. Bereits das römische Zwölf-Tafel-Gesetz schreibt fest, dass der nicht zahlungsfähige Schuldner mit seinem Körper dem Gläubiger verfallen ist.⁴³ Zu Zeiten Shakespeares wurden Verstöße gegen die Ordnung noch immer mit Verstümmelung der Gesetzesbrecher geahndet. Bis in das 19. Jahrhundert galt das Prinzip der Schuldhaft. Shylock, als der nach dem Herzen des Schuldners trachtende Wucherer, im Text Shakespeares ständig mit dem Hund und dem Wolf verglichen, ist perverser Ausdruck dieses tief in der europäischen Kultur verwurzelten Rechtsbegriffs. Das dämonische Bild vom „Wucherjuden“ wird des Weiteren gestützt durch das Recht der jüdischen Minderheit auf Zinserhebung.⁴⁴ Dem christlichen Geschäftsmann von Seiten der Kirche versagt, bildet die Kapitalvermehrung durch die Zahlung von Zinsen eine wichtige Einnahmequelle des jüdischen Geldverleihers. Das daraus gewonnene Vermögen sichert das Auskommen der jüdischen Gemeinden und bedeutet oftmals den einzigen Schutzfaktor in einem feindlich gesinnten Umfeld. Dieses Prinzip der Kapitalvermehrung zieht jedoch den Unmut der christlichen Bevölkerung auf die jüdischen Gemeinden. Den Juden gestattet, ist seit dem 13. Jahrhundert das Erheben von Zinsen, nach christ-
40 B VII, S. 251. 41 Zur Vorstellung der Hostienschändung und zur Ritualmordlegende vgl. Schwanitz, Syndrom, S. 33ff. 42 Schwanitz, Syndrom, S. 41. 43 Vgl. Schwanitz, Syndrom, S. 41. 44 Vgl. Schwanitz, Syndrom, S. 42.
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licher Lehre Ausdruck von Unmoral, ja von Perversion. Dass sich das Geld − das unfruchtbare Metall − in den Händen der Juden zu vermehren scheint, ist der vom tiefen Aberglauben geprägten christlichen Bevölkerung unheimlich. Das Bild vom blutgierigen Juden wird hier um Magie und Hexerei vervollständigt und nährt die Ressentiments der christlichen Bevölkerung gegen die Minderheit. In der Heineschen Zeichnung Shylocks ist die antijüdische Figur des geldgierigen Wucherers ausführlich analysiert. So wird in dessen Kommentierung der Shakespeareschen Shylock-Figur die Passion des Kaufmanns für das Geld keineswegs unterschlagen: „[E]r verschweigt nicht diese Liebe, er schreit sie aus, auf öffentlichem Markte …“⁴⁵ Die Assoziation mit dem antijüdischen Vorurteil vom jüdischen Wucherer, der sein Geld geradezu triebhaft vermehrt, ist in dieser Aussage unübersehbar, doch folgt die Heine-Interpretation Shakespeares nur auf den ersten Blick der alten Traditionslinie jüdischer Diffamierung. Sie verlässt diesen ausgetretenen Pfad, wenn sie die Ursachen für diese besitzgeleitete Passion nicht in einer an Aberglauben gebundenen Einschätzung der Juden als böse und dämonisch sieht, sie vielmehr in den historisch belegbaren Lebensumständen der jüdischen Minderheit sucht und gerade die gesellschaftlichen Ressentiments für die Ausbildung eines erfolgreichen Geschäftssinns vieler Juden nachweist. Am Ende seines Jessika-Abschnitts zu Shakespeares Kaufmann von Venedig benennt der Heine-Text den Zusammenhang zwischen christlicher Ideologie, ökonomischer Struktur und Antijudaismus: Aber ist es die Schuld der Juden, daß sich dieser Geschäftsgeist bei ihnen so bedrohlich entwickelt hat? Die Schuld liegt ganz an jenem Wahnsinn, womit man im Mittelalter die Bedeutung der Industrie verkannte, den Handel als etwas Unedles und gar die Geldgeschäfte als etwas Schimpfliches betrachtete, und deshalb den einträglichsten Teil solcher Industriezweige, namentlich die Geldgeschäfte, in die Hände der Juden gab; so daß diese, ausgeschlossen von allen anderen Gewerben, notwendigerweise die raffiniertesten Kaufleute und Bankiers werden mußten. Man zwang sie reich zu werden und haßte sie dann wegen ihres Reichtums […].⁴⁶
Mit Blick auf Shylock ist durch die kulturhistorisch geleitete Argumentation die von Shakespeare genutzte Maske des geldgierigen Wucherjuden geglättet, ist eine der Hüllen antisemitischer Ressentiments der Shylock-Figur abgelegt und wird die Figur mit der objektiven Lebenssituation der Juden in der europäischen Diaspora verbunden. Die gesellschaftliche Stellung der Minderheit wird in der Kommentierung der Shylock-Figur dezidiert herausgearbeitet. Zurückgedrängt auf das Gebiet des
45 B VII, S. 255. 46 B VII, S. 261.
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Handels und des Geldverleihs und frei von Doktrin christlicher Lehre bezüglich der Ökonomie, entwickeln jüdische Kaufleute seit dem Mittelalter ein weit verzweigtes, durch die über Europa verstreuten jüdischen Gemeinden getragenes Handelsnetz. Der Erfolg dieser Strategie trägt ihnen jedoch den Neid des christlichen Umfelds ein, welcher wiederum Vorurteile sät und Pogrome befeuert. Insbesondere der jüdische Kaufmann steht im Kreuzfeuer, tritt er doch oftmals aufgrund geschäftlicher Notwendigkeit als einziger Repräsentant jüdischen Lebens im nichtjüdischen Alltag auf.⁴⁷ Er ist im Bewusstsein der Mehrheitsbevölkerung präsent, während jüdisches Leben hinter den Ghettomauern verborgen bleibt. Shakespeares Shylock ist ein prominentes Ergebnis dieser eindimensionalen Außensicht auf das jüdische Leben in Europa. Auch im 19. Jahrhundert, trotz der Aufklärung und der revolutionären Bemühungen um eine gesellschaftliche Neuordnung Europas, ist diese Schieflage noch immer nicht ausgeglichen. Das Bild vom wuchernden Juden sitzt fest im kollektiven Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft: „[U]nd obgleich jetzt die Christenheit ihre Vorurteile gegen die Industrie aufgegeben hat, und die Christen in Handel und Gewerb eben so große Spitzbuben und ebenso reich wie die Juden geworden sind: so ist dennoch an diesen letztern der traditionelle Volkshaß haften geblieben, das Volk sieht in ihnen noch immer die Repräsentanten des Geldbesitzes und haßt sie.“⁴⁸ Die Missgunst, die den Kaufmann Shylock in der christlich geprägten Vorstellungswelt zur Bestie gestaltet, lebt auch im 19. Jahrhundert fort. Sie erweist sich als resistent gegen den Prozess der Säkularisierung in der Gesellschaft. Die Modernisierung der Wirtschaft und des Kapitalmarktes, frei von jeder kirchlichen Einmischung, frei für jeden Geschäftsmann, lässt das Bild vom jüdischen Wucherer nicht verblassen − im Gegenteil, die gefühlte Bedrohung wächst „in den Bierstuben wie in den Deputiertenkammern“⁴⁹. Wie bereits dargestellt, widerspricht der Heine-Text der Verbindung von jüdischer Herkunft und Geschäftsinn nicht. Er betrachtet sie als zwangsläufiges Ergebnis jahrhundertlanger Repression. Die erfolgreiche Verbindung von Kapital und jüdischer Existenz wird auch in anderen Texten Heines immer wieder herausgearbeitet. Sie wird mitunter gestärkt, wenn das moderne Finanzwesen als möglicher Weg akkulturierter Juden in die Mehrheitsgesellschaft des 19. Jahrhunderts beschrieben wird. Doch ist es nicht Shylock, der zum Repräsentanten dieses Weges in den Texten Heines wird. Baron de Rothschild ist erklärter Typus des modernen, sich allein auf ökonomische Macht verlassenden Juden. Ihm wird 47 Vgl. Katz, Tradition, S. 23 u. 43f. 48 B VII, S. 261. 49 B VII, S. 260.
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als Sinnbild moderner jüdischer Existenz in den Texten Heines ein zweideutiges Denkmal gesetzt. Heine lässt in Ludwig Börne. Eine Denkschrift seinen Protagonisten einen Eindruck Rothschilds geben, der nicht nur die (nun) positive Bewertung des Kapitals in der Gesellschaft betont, ohne freilich den alten Judenhass zu überwinden, vielmehr jene Gefahr benennt, die durch die gesellschaftliche Anerkennung des Geldes droht: [D]ie Rothschilde haben so viel Geld, eine solche Unmasse von Geld, daß sie uns einen fast grauenhaften Respekt einflößen; sie identifizieren sich so zu sagen mit dem Begriff des Geldes überhaupt, und Geld kann man nicht verachten [!]. Auch haben diese Leute das sicherste Mittel angewendet, um jenem Ridikül zu entgehen, dem so manche andere baronisierte Millionärfamilien des alten Testaments verfallen sind […]. Die Taufe ist jetzt bei den reichen Juden an der Tagesordnung, und das Evangelium, das den Armen Judäas vergebens gepredigt worden, ist jetzt in Floribus bei den Reichen.⁵⁰
Führte der Neid auf das Kapital im Mittelalter zur Pogromsituation, verführt das Geld in den Zeitläufen des 19. Jahrhunderts zur absoluten Assimilation, der Taufe − und bedroht auf diese Weise den Fortbestand jüdischen Lebens. Der sich ausbildende Kapitalismus, bereits im 19. Jahrhundert zum ökonomischen Mythos verbrämt,⁵¹ aus dem die gesellschaftliche Moderne ihre Dynamik bezieht, bietet daher den Juden als Minderheit keinen sicheren Weg in die Mitte der europäischen Gesellschaft. So spricht sich Heine, geprägt durch die Geisteshaltung des Geschichtspessimismus, die wiederum aus seiner jüdischen Existenz und ihrer historischen Erfahrung des Schreckens der Diaspora gespeist ist,⁵² bezogen auf das europäische Gesellschaftssystem gegen den von Adam Smith geprägten Fundamentalsatz des marktwirtschaftlichen Optimismus aus. Dass, nach den Überlegungen Smiths, der Ökonom mit seinem Gewinnstreben zugleich das Allgemeinwohl fördere, ist dem Zeugen eines unreflektierten und ungebremsten Vermehrungsfurors nicht nachvollziehbar.⁵³ Zum Messias dieses neuen Glaubens an das Kapital wird in den Texten Heines James de Rothschild stilisiert. In Lutezia von 1854 erscheint er als der eigentliche Herrscher Frankreichs, ist Mittelpunkt der modernen westlichen Zivilisation. Der Bankier Rothschild ist der Prophet der gesellschaftlichen Moderne, er ist der höchste Vertreter der neuen Religion: „Denn das Geld ist der Gott unserer Zeit und Rothschild ist sein Prophet.“⁵⁴ Die Heilsbotschaft dieses Propheten ist, Adam Smith folgend, der gesellschaftliche
50 B VII, S. 30f. 51 Vgl. Witte, Tradition, S. 65. 52 Vgl. Witte, Tradition, S. 59ff. 53 Vgl. Witte, Tradition, S. 64ff. 54 B IX, S. 355.
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Fortschritt. So lässt Heine den Propheten des Kapitals in Ludwig Börne. Eine Denkschrift den erhofften Segen des Systems einer globalisierten liberalen Finanzwirtschaft vor Augen führen: Zu jeder Begründung einer neuen Ordnung von Dingen […] gehört ein Zusammenfluß von bedeutenden Menschen, die sich mit diesen Dingen gemeinsam zu beschäftigen haben. Dergleichen Menschen lebten ehemals vom Ertrag ihrer Güter oder ihres Amtes, und waren deshalb nie ganz frei, sondern immer an einen entfernten Grundbesitz […] gebunden; jetzt aber gewährt das Staatspapiersystem diesen Menschen die Freiheit, jeden beliebigen Aufenthalt zu wählen […]: es zentralisiert, es macht vielen Leuten möglich, an einem selbstgewählten Orte zu leben, und von dort aus der Menschheit jeden nützlichen Impuls zu geben …⁵⁵
Diesem Argument, wonach mittels des modernen Finanzwesens die gesellschaftliche Neustrukturierung zu organisieren sei, wird in den Texten Heines die Überlegung entgegengesetzt, dass diese Finanzkraft gerade das auf Restauration bedachte System der Monarchie stärkt. So wird etwa in Bäder die Szene eines Kinderballs im Hause Rothschild als Parabel auf die Macht des Geldes gezeichnet.⁵⁶ Auf dem Ball treten die Fürsten der Restauration als Kunden des jüdischen Bankiers auf. Erscheinen sie auch abhängig vom Geld des Juden, nutzen sie doch eben dieses Kapital, um ihr System zu stützen und der gesellschaftlichen und politischen Gleichstellung der europäischen Juden entgegenzuarbeiten. Diese regressive Macht des Kapitals wird um die deformierende Wirkung des Besitzes ergänzt, wenn in Bäder die Figur des getauften Juden Gumpelino entwickelt wird. Die Zeichnung Gumpelinos als Anbeter des Mammons unter der Verwendung diasporischer Bildlichkeit und deren Verwurzelung in der religiösen Bedeutungszuschreibung unterstreicht dabei den unterstellten kultischen Charakter des Kapitals im Zeitalter eines säkularisierten jüdischen Lebens.⁵⁷ Shylock hingegen wird in der Interpretation Heines als Repräsentant eines jüdischen Lebens gezeichnet, das zwar um die Bedeutung des Geldes für die eigene Sicherheit weiß, dessen Stärke sich jedoch aus den engen Banden des Ghettos schöpft, denn „Shylock liebt zwar das Geld, aber es gibt Dinge, die er noch weit mehr liebt, unter andern auch seine Tochter“⁵⁸. Das Kapital ist dem traditionell ausgerichteten jüdischen Leben nicht Akkulturationsmöglichkeit, es dient vielmehr als schützende Mauer der jüdischen Gemeinschaft; eine Mauer, die jedoch den Juden in der Vergangenheit keinen ausreichend Schutz bot, vielmehr zur latenten Bedrohung der Minderheit erwuchs und darüber hinaus zu
55 B VII, S. 29. 56 Vgl. B III, S. 424ff. 57 Vgl. B III, S. 397f. 58 B VII, S. 255.
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jener Auflösungstendenz jüdischen Lebens in der Gegenwart des 19. Jahrhunderts beiträgt, die in den Texten Heines immer wieder beklagt wird. Der Besitz von Kapital, von Seiten der antijüdischen Ressentiments als charakteristisch für die Juden definiert, erweist sich als hemmend für die Minderheit. Das Kapital bietet weder Shylock noch seinen jüdischen Verwandten in späterer Zeit das gesicherte Dasein einer von der Mehrheitsgesellschaft akzeptierten Minderheit. Neben Kapital und Aberglaube ist das Vorurteil des auf Rache sinnenden Juden zentral für die Auseinandersetzung Heines mit der Figur Shakespeares. Das Geschöpf, das nach christlich geprägter Vorstellung unter den lebensbedrohlichen Existenzbedingungen der Diaspora lebt, ist rachgierig und blutrünstig. Es bedeutet deshalb Gefahr für die Mehrheitsgesellschaft und ist von dieser zu bekämpfen. Dieser, der christlichen Vorstellungswelt entsprungene, auf Rache sinnende Jude äußert sich im Kaufmann von Venedig, wenn Shylock die Gründe für das beharrliche Einfordern des Fleisches seines Schuldners darlegt. Auf die Frage „Was willst du mit diesem Fleische [des christlichen Widersachers, Anm. d. Verf.]?“, antwortet Shylock: Fisch’ mit zu angeln. Sättigt es sonst niemanden, so sättigt es doch meine Rache.⁵⁹
Die Juden praktizieren eine Religion der Rache − so lehrt es die christliche Kirche und so übernimmt es der gläubige Christ in sein Weltbild. Die alttestamentarische Wendung „Auge um Auge, Zahn um Zahn“⁶⁰ wird im Christentum als Beweis für eine auf Rache sinnende Religion geführt. Sie wird dem, im Neuen Testament verbreiteten Wort vom „Hinhalten der anderen Wange“⁶¹ entgegensetzt. Der vermeintliche Rachegott der Juden wird auf diese Weise dem, vom Christentum vorgeblich allein praktizierten Konzept der Nächstenliebe gegenübergestellt. Christliche Barmherzigkeit ist als Überwinderin jüdischer Böswilligkeit gezeichnet. Das Christentum als Überwinderin der jüdischen Religion ist dem älteren Glauben moralisch überlegen − so die eindimensionale Botschaft. Das Rachemotiv ist auch Motor des Shakespeareschen Dramas. Shylock muss zwangsläufig aus Rache handeln, das gibt ihm sein soziales Umfeld und seine Religion vor − so die Außensicht auf die jüdische Minderheit. Eng verknüpft mit dem Rachegedanken ist im Monolog des Shakespeareschen Shylock die Frage nach dem Grund des Judenhasses − jener Frage, die für den Text Heines zentral ist. Shylock findet jedoch keinen Erklärungsansatz, wie ihn das 19. Jahrhundert aus der Analyse der Geschichte gewinnen kann. Er kann seine Feinde nicht justi59 B VII, S. 255. 60 Ex 21,24. 61 Lk 6,29.
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fizieren, ihren Hass als Resultat ihrer eigenen Unterdrückung rechtfertigen. Ihm bleibt in der Figurenkonstruktion Shakespeares allein der Gedanke an Rache als Reaktion auf die erfahrene Gewalt. Wendet man sich der jüdischen Überlieferung zu, ist der Weg der Wiedervergeltung für die Juden laut den Gesetzen der Tora nicht gangbar. „Du darfst nicht rächen“⁶², steht im Dritten Buch Moses geschrieben und wird bis in die Gegenwart im Judentum als Gebot aufrechterhalten. So schreibt der neoorthodoxe Rabbiner Samson Raphael Hirsch in seinem Werk Horeb, Versuche über Jisroels Pflichten in der Zerstreuung (1837) in Paragraph 115 über die Gefühle des Hasses und der Vergeltung: Das Gefühl soll nie in deinem Herzen gegen irgendeinen Menschen weilen. Es ist ja dein Bruder, Kind desselben Gottes, mit gleichen Ansprüchen ans Leben von Ihm ins Leben gesetzt. Wenn du ihn hasst, − ihn wegwünschest, − so hasst du, wünschst du auch Gottes Hand weg, die die Brüder neben dich gesetzt, auf dass du als Bruder sie achten sollst. Selbst im Beleidiger vergiss nicht, dass es dein Bruder ist, − bedauere ihn, dass dein Bruder sich so verirren konnte, − stelle ihn zur Rede, − und vergiss.⁶³
Es ist nach jüdischem Glauben dem Menschen nicht gegeben, seinen Nächsten zu richten. Adonai allein steht es zu, über den zu urteilen, der sein Gebot der Nächstenliebe missachtet. So schreibt Hirsch in Paragraph 117 seiner Ausführungen: Auch da verehre Gottes Waltung, die, hoch über der Auffassung menschlichen Gedankens, das Verbrechen des Bösen, die Strafe und Züchtigung des zu bessernden, erziehende Prüfung des Erziehungsfähigen werden lässt. […] Ihm überlasse es, dass Er den Bösen wegen dem Bösen anklage, − aber hasse nicht, − sündige nicht durch Hass. − Hat er denn gegen dich gesündigt, dir das Deinige zertrümmert? Hat er nicht gegen Gott gesündigt, und an Gottes Heiligtum die frevelnde Hand gelegt?⁶⁴
Mit Blick auf diese Kommentare eines Rabbiners zum Rachegefühl wird der judenfeindliche Ursprung Shylocks deutlich sichtbar. Nach jüdisch-orthodoxer Vorstellung rächt nicht der Mensch. Es ist Gott, der Verstöße gegen seine gesetzte Ordnung ahndet. Statt dem eigenen Rachegefühl nachzugeben, verweist man auf den Schöpfer, der das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse wieder herstellen wird. An Stelle der Rache steht die Ermahnung, den von Gott gegebenen Gesetzen zu folgen, und mit der Einhaltung dieser, die schützende Hand des Schöpfers über sich zu wissen. So steht im Judentum dem Rachegefühl das Gesetz der Sitt62 Lev 19,18. 63 Samson Raphael Hirsch: Horeb, Versuch über Jisroels Pflichten in der Zerstreuung. Zürich 1992. http://www.hagalil.com/judentum/samson-hirsch/chorew-15.htm (23.11.2009). 64 Ebd.
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lichkeit entgegen. Statt des Hasses, wie von der christlichen Lehre kolportiert, ist es das Studium der Tora mit der Verinnerlichung ihrer Gebote, das prägend für die Juden in der Diaspora ist. Dr. Arthur Cohn, zu Beginn des 20. Jahrhunderts Rabbiner in Basel, merkt in seinen Ausführungen zu Shakespeares Shylock an, dass der Einfluss der Tora die Juden gerade vor der moralischen Verrohung bewahrte, für die Shylock in der europäischen Literatur steht.⁶⁵ Die in den Gesetzen festgeschriebene Lehre Gottes behütete sie davor, so Cohn, sich eben nicht von den für Shylock charakteristischen Rachegefühlen leiten zu lassen. Auch in den Schriften Heines ist die Vorstellung eines rächenden Gottes demonstriert, die nicht zuletzt die Konsequenz eines aus der Religion begründeten diasporischen Selbstverständnisses einer verfolgten Minderheit ist. Heine, der in seinem Werk an die Stelle des passiven Verharrens jüdischer Existenz in der Diaspora das aktive Handeln einer um Emanzipation bemühten Minderheit setzt, unterstreicht mit seiner Demonstration einer vergeblichen Anrufung des Rachegottes die Hilflosigkeit rabbinischer Tradition, die Leiden der Diaspora unter Verweis auf das bevorstehende Eingreifen Adonais zu mildern. Diese Hilflosigkeit ist exemplarisch in der prominenten Antwort des Rabbi Juda in Disputation auf die Rede seines christlichen Gegenspielers geäußert: So folgt jeder der Methode, Dran er nun einmal gewöhnet, Und anstatt dich grob zu schelten, Sag ich Dank dir, wohlversöhnet. Unser Gott ist nicht die Liebe; Schnäbeln ist nicht seine Sache, Denn er ist ein Donnergott, Und er ist ein Gott der Rache.⁶⁶
Und aufgebracht über die Blasphemie seines Widersachers fordert er Adonai auch hier vergeblich zum Eingreifen auf: Räche, Herr die Missetat, Strafe, Herr, die Übeltäter!⁶⁷
In Geständnisse (1854), das letzte selbstredigierte Prosawerk Heines und kritische Reflexion früherer philosophisch-sozialer und religiös-politischer Überlegungen, arbeitet der Ich-Erzähler mit dem jüdischen Bild vom göttlichen Schöpfer, der, 65 Vgl. Cohn, Arthur: Ist Shylock ein Jude?. In: Ders.: Von Israels Lehre und Leben. Reden und Aufsätze Basel 1928. http://www.juedisches-recht.de/lex_cohn_shylock.php (23.11.2009). 66 B XI, S. 165. 67 B XI, S. 169.
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um erlittenes Unrecht an seinem Volk zu bestrafen, den Feinden im Gewand des rächenden Gottes erscheint: [E]s tat meinem Hochmut wohl, als ich von Hegel erfuhr, daß nicht, wie meine Großmutter meinte, der liebe Gott, der im Himmel residiert, sondern ich selbst hier auf Erden der liebe Gott sei. Dieser törichte Stolz übte keineswegs einen verderblichen Einfluß auf meine Gefühle, die er mir vielmehr bis zum Heroismus steigerte; und ich machte damals einen solchen Aufwand von Großmut und Selbstaufopferung, daß ich dadurch die brillantesten Hochtaten jener guten Spießbürger der Tugend, die nur aus Pflichtgefühl handelten und nur den Gesetzen der Moral gehorchten, gewiß außerordentlich verdunkelte. War ich doch selbst jetzt das lebende Gesetz der Moral und der Quell des Rechtes und aller Befugnis. Ich war die Ursittlichkeit, ich war unsündbar, ich war die inkarnierte Reinheit […]. Ich war ganz Liebe und war ganz frei von Haß. Ich rächte mich auch nicht mehr an meinen Feinden […]: für mich gab es jetzt nur noch Ungläubige, die an meiner Göttlichkeit zweifelten – Jede Unbill, die sie mir antaten, war ein Sacrilegium, und ihre Schmähungen waren Blasphemien. Solche Gottlosigkeiten konnte ich freilich nicht immer ungeahndet lassen, aber alsdann war es nicht eine menschliche Rache, sondern die Strafe Gottes, die den Sünder traf.⁶⁸
Heine, sich 1854 als einen Irrigen bezeichnend, der sich der Philosophie Hegels anschloss,⁶⁹ nicht aus intellektueller Überzeugung, vielmehr aus geschmeichelter Eitelkeit, verweist in seiner ironischen Skizze des Atheisten nicht auf den christlichen Gott der Barmherzigkeit und Demut. So erinnert der Mensch, der den alten Gott vom Thron stürzt, aktiv sein Schicksal bestimmt und sich kraft seines intellektuellen Potenzials zum modernen Gott erhebt, mit seiner „Ursittlichkeit“ und seinem Recht auf Bestrafung des Sünders eher an den Gott der jüdischen Vorfahren. Das Kraftvolle der jüdischen Religion unterstreicht auf diese Weise die Faszination, die von den modernen Denksystemen der Philosophie im 19. Jahrhundert ausgeht. Heine nutzt hier das traditionelle Bild Adonais, um das Bewusstsein seiner eigenen Zeit, welches mehr und mehr von den religiösen Instanzen gelöst ist, bildhafter zu gestalten. Die Vorstellungswelt und der Wertekanon der Juden sind dem Schriftsteller so vertraut, dass er sie zum Ironisieren der einst vertretenen Denkansätze nutzt. In der Interpretation Heines zur Shylock-Figur kommt das Rachemotiv des Protagonisten selbst nur am Rande zum Tragen. Zitiert der Text Heines auch jenen Monolog Shylocks, der den Rachegedanken formuliert,⁷⁰ fasst er diese Motivation unter der mäßigeren Formulierung von der „Genugtuung für sein beleidigtes Herz“⁷¹ zusammen, der „gerechte[n] Wiedervergeltung unsäglicher 68 B XI, S. 474. 69 Zur Position Heines zu Hegel in den frühen Jahren vgl. Jasper, Parnass, S. 126f. 70 Vgl. B 7, S. 255. 71 B 7, S. 255.
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Schmähungen“⁷². Der Begriff der Genugtuung (lat. satisfactio) ist dabei in seinem Sinngehalt nicht identisch mit dem der Rache (lat. vindicta, ultio), da jener eher die gesetzmäßige Befriedigung von Ansprüchen bedeutet, während der Begriff der Rache eine leidenschaftliche und − laut Grimmschen Wörterbuch − unedle Bewegtheit bei der Verfolgung eines Unrechts in sich schließt.⁷³ Indem der Text Heines die Motivation Shylocks mittels eines Begriffs aus dem Rechtsbereich zusammenfasst, gelingt es ihm, das Emotionale, Leidenschaftliche des Juden Shylock, im christlichen Vorurteil zum Tierischen und Dämonischen verfremdet, zu mildern. „Genugtuung für sein beleidigtes Herz“ − der Verzicht auf den Begriff Rache bedeutet in der Interpretation der Shylock-Figur ein Novum. Die Konstruktion der Figur funktioniert hier nicht mehr aus der Logik einer christlichen Sichtweise auf die jüdische Minderheit. Das Vorurteil der Mehrheitsgesellschaft von einer Rache, die aus der Lehre der jüdischen Religion motiviert sei, ist für Shylock, nach Lesart des Heine-Textes, nicht gültig. Zorn und Vergeltung zeichnen zwar die Figur, doch erwachsen sie allein aus den gesellschaftlichen Umständen der Unterdrückung. Die Rache an den Peinigern überlässt Shylock, Anhänger eines altorthodoxen Judentums, jedoch dem höchsten Richter, denn der Begriff der Genugtuung bedeutet seinem Sinn nach auch den Ausgleich für die Sünden, für die der Mensch zuallererst vor einer göttlichen Instanz in der Schuld steht und die, laut jüdischer Tradition, allein von dieser Instanz eingefordert werden dürfen.⁷⁴ Der dämonische Wucherer und seine Rache − diese Zeichnung eines Juden aus antijüdischer Sicht wird in Shakespeares Mädchen und Frauen zwar aufgenommen, dann aber demontiert. In der Heineschen Interpretation der ShylockFigur wird der Besitz des Geldes zur Gefahr für die jüdische Existenz. Statt mit dem im Christentum falsch ausgelegten jüdischen Rachebegriff wird das Verhalten Shylocks mit dem, aus dem Rechtsbereich stammenden Begriff der Genugtuung erklärt. Nach traditionellem diasporischen Verständnis wird Adonai die Bestrafung der Peiniger überlassen, eine Bestrafung, die nach Schlussfolgerung des säkularen Juden nie eintreten wird. Verbunden mit einer Tragik, die allein aus den soziopolitischen Bedingungen der jüdischen Existenz als unterdrückte Minderheit abzuleiten ist, ist Shylocks Gang von der Bühne antijüdischen Vorurteils als Gang in die Lebenswirklichkeit der jüdischen Diaspora vollzogen.
72 B 7, S. 255. 73 Zur Bedeutung des Begriffs „Genugtuung“ vgl. Ausführungen Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 5. Spalte 3517. Leipzig 1854–1960. – Zu der Bedeutung des Begriffs „Rache“ vgl. Ausführungen Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 14. Spalte 15. 74 Vgl. Deutsches Wörterbuch, Bd. 5, Spalte 3517.
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4 Shylock, der Nazarener – Das assoziative Spiel mit der Intoleranz Nimmt man das Gesamtwerk Heines in den Blick, so ist zu beobachten, dass in den Texten des Schriftstellers die tradierten Vorurteile gegenüber der jüdischen Minderheit aufgeführt werden, jedoch um sie ironisiert gegen die christlichen Urheber zu wenden und sie als Ausdruck eines regressiven Denkens zu entlarven. So lässt Heines Disputation den christlichen Widersacher des Rabbi Juda in dem ergebnislosen Dogmatikerstreik ausrufen: ‚Zittert, Juden!‘ rief der Mönch, ‚Vor dem Gott, den ihr mit Hieben Und mit Dornen habt gemartert, Den ihr in den Tod getrieben. Seine Mörder, Volk der Rachsucht, Juden, das seid ihr gewesen – Immer meuchelt ihr den Heiland, Welcher kommt, euch zu erlösen. Judenvolk, du bist ein Aas, Worin hausen die Dämonen; Eure Leiber sind Kasernen Für des Teufels Legionen. […] Judenvolk, ihr seid Hyänen, Wölfe, Schakals, die in Gräbern Wühlen, um der Toten Leichnam’ Blutfraßgierig aufzustöbern.⁷⁵
Die zitierten Strophen bedeuten ein Konzentrat des christlichen Vorurteilskatalogs gegenüber der jüdischen Minderheit. Gewalttätig, blutrünstig, rachsüchtig, dämonisch: so das Bild des Kirchenmannes von den Juden. Er erteilt jedoch dem Leser in erster Linie eine Lektion in Fanatismus und Dogmatismus. Das Spiel mit dem antijüdischen Vorurteil ist auch im Kommentar der Shakespeareschen Shylock-Figur zu finden. Explizit wird an einer Stelle des Portia-Textes zur Charakterisierung Shylocks mit den traditionellen Bildern des Judenhasses gearbeitet. Dabei wird die antijüdische Bildlichkeit gewählt, um das von Heine entwickelte, kulturgeschichtliche Konzept von der Dualität menschlicher Geis-
75 B XI, S. 162f.
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teshaltung zu verdeutlichen.⁷⁶ Im Zusammentreffen Shylocks mit einer anderen Hauptfigur des Shakespeareschen Kaufmann von Venedig − Portia − tritt in der Interpretation Heines die Analyse des europäischen Antijudaismus zunächst scheinbar in den Hintergrund.⁷⁷ Portia verkündet in Shakespeares Stück das Urteil über Shylock, lässt sein Begehren scheitern und tritt als strahlende Retterin der Protagonisten des Dramas auf. Shylock indessen verstummt als Besiegter und verlässt die Bühne. Überraschenderweise ist auch in den Erläuterungen Heines Portia auf den ersten Blick dem Juden überlegen − jedoch nicht in der Rolle der Widersacherin der jüdischen Minderheit. In der Interpretation Heines geht es in der Gegenüberstellung beider Figuren vielmehr um den Antagonismus zwischen hellenischer und nazarenischer Denkungsart, d. h. zwischen Toleranz und Dogmatismus − ein Antagonismus, so die These des Autors, der die Individuen unabhängig von Nation oder Religion, und mit ihnen die europäische Kultur zutiefst prägt.⁷⁸ Portia steht im Text Heines in erster Linie als Figuration des Hellenismus, „jener Nachblüte des griechischen Geistes, welche von Italien aus, im sechzehnten Jahrhundert, ihren holden Duft über die Welt verbreitete und welche wir noch heute unter dem Namen ‚die Renaissance‘ lieben und schätzen. […] Wie blühend, wie rosig, wie reinklingend ist all ihr Denken und Sprechen, wie freudewarm sind ihre Worte, wie schön alle ihre Bilder, die meistens der Mythologie entlehnt sind!“⁷⁹ Shylock wird spiegelbildlich zu dieser hellen und klaren Figur mit ihrem „lebensheitere[n], entfaltungsstolze[n] und realistische[n] Wesen“⁸⁰ gezeichnet.
76 Zu dieser Dualität zwischen Hellenen und Nazarenern vgl. auch Kapitel VI.4. 77 Die Analyse des Antijudaismus tritt nur scheinbar in den Hintergrund, da, wie in Kapitel VI.4 noch darzustellen, diese Haltung eine Ausdrucksform jener Intoleranz ist, die sich für Heine unter der Geisteshaltung des Nazareners zusammenfasst. 78 So formuliert Heine diesen Antagonismus in der parallel zu Shakespeares Mädchen und Frauen entstehenden Denkschrift ausführlicher am Beispiel Börnes und Goethes: „[D]er Haß, der gegen diesen Mann [Goethe] in ihm [Börne] brannte und immer leidenschaftlicher entloderte, [war] nur die notwendige Folge einer tiefen, in der Natur beider Männer begründeten Differenz. Hier wirkte keine kleinliche Scheelsucht, sondern ein uneigennütziger Widerwille, der angeborenen Trieben gehorcht, ein Hader, welcher, alt wie die Welt, sich in allen Geschichten des Menschengeschlechts kund gibt und am grellsten hervortrat in dem Zweikampfe, welchen der judäische Spiritualismus gegen hellenische Lebensherrlichkeit führte, ein Zweikampf, der noch immer nicht entschieden ist und vielleicht nie ausgekämpft wird […].“ Siehe B VII, S. 17. – „Judäisch“ verweist in diesem Zusammenhang jedoch nicht auf eine bestimmte religiöse oder nationale Identität, wie Heine in diesem Zusammenhang darlegt, vielmehr gebraucht er das Wort synonym mit „christlich“ oder „nazarenisch“, nicht „um einen Glauben, sondern um ein Naturell zu bezeichnen“ (B VII, S. 18). 79 B VII, S. 262. 80 B VII, S. 18.
Shylock, der Nazarener
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Er figuriert den „ascetisch[en], bildfeindlich[en], vergeistigungssüchtig[en]“⁸¹ Nazarener, wie er auch in Disputation begegnet: „Wie trübe, kneifend und häßlich sind dagegen die Gedanken und Reden des Shylock, der im Gegenteil nur alttestamentalische Gleichnisse gebraucht! Sein Witz ist krampfhaft und ätzend, seine Metaphern sucht er unter den widerwärtigsten Gegenständen, und sogar seine Worte sind zusammengequetschte Mißlaute, schrill, zischend und quirrend.“⁸² Der, der hier „keift“, ist der von Intoleranz geleitete Nazarener. Diese Intoleranz gründet im Prinzip der Absonderung gegen den Andersdenkenden. Absonderung − Spielart der Intoleranz − ist nach Heine beispielhaft für die jüdische Geschichte, bestimmt Ursprung und Fortbestand der Juden in der Diaspora und richtet sich in den historischen Abläufen doch auch immer wieder gegen die einstigen Urheber.⁸³ Das Prinzip der Absonderung sei in besonderem Maße konstituierend für die monotheistische Ausrichtung der jüdischen Religion, so der Autor.⁸⁴ Bereits die Israeliten mussten zum Schutz ihres monotheistischen Glaubens gegen die polytheistische Götterwelt des Umfelds Gesetze der Separation schaffen. In dieser Abwehr ist, laut den Schriften Heines, der Nährboden für die wachsende Intoleranz der monotheistischen Glaubensgemeinschaften vorbereitet. Das aus dem Judentum erwachsende Christentum sollte dann als Staatsreligion das Prinzip der Intoleranz zum Werkzeug der religiösen Institutionen übernehmen und ausbauen. Das Prinzip der Absonderung, Nährboden der Intoleranz, sollte sich gegen die jüdische Existenz selbst richten.⁸⁵ Immer mehr in den Status der Minderheit gedrängt, sieht sich das Judentum zum feindlichen Fremdkörper in den gesellschaftlichen Systemen transformiert. Das Prinzip der Abgrenzung wendet sich gegen seinen Urheber und verwandelt viele Orte jü-dischen Lebens außerhalb Israels in Stätten ständiger Bedrohung. In diesem Zusammenhang muss jedoch auch erwähnt werden, dass eine pauschale Verurteilung des Judentums als Ursprung nazarenischer Denkungsart in den Heineschen Überlegungen nicht zu finden ist. Das Judentum ist auch Symbol einer möglichen Resistenz gegen die, das Prinzip der Intoleranz vertretenden Allianz von Staat und Kirche. Als eigentliche Wurzel verweigert sich das Judentum den Modifikationen und Abarten der ihr folgenden monotheistischen Religionen. Diese Strategie sichert das Überleben des jüdischen Volkes in der anhaltenden
81 B VII, S. 18. 82 B VII, S. 262. 83 „Das Judentum ist […] nach Heine verantwortlich für das Christentum und dessen Verbreitung, eingeschlossen ‚der Glaubenszwang, und all jene heiligen Greul, die dem Menschengeschlechte so viel Blut und Thränen gekostet‘.“ Siehe Bodenheimer, Schatten, S. 32. 84 Vgl. B VII, S. 40f. 85 Vgl. Bodenheimer, Schatten, S. 32f.
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Diaspora. Indem das diasporische Judentum gegen die Weltgeschichte „verhärtet“ ist, sich somit der in der Hegelschen Dialektik behaupteten notwendigen Auflösung von Minoritäten im Lauf der Geschichte entgegenstemmt, verweigert sich die Minderheit dem im Hegelschen System als natürlich gezeichneten Prozess des Aufgehens in die größere Einheit der Mehrheitsgesellschaft. Die Schriften Heines verweisen auch auf die Quelle dieses kraftvollen Entgegenstemmens: auf die Bibel und ihre Kommentierungen im rabbinischen Judentum. Die für die Dichotomie Hellenentum/Nazarenertum notwendigen Begrifflichkeiten wurden in den Schriften Heines seit der ersten Hälfte der 1830er Jahre entwickelt. Beide Begriffe sind aus dem vom Autor bereits in den Deutschland-Schriften entwickelten Dualismus von Spiritualismus und Sensualismus abgeleitet.⁸⁶ Dabei definieren die Schriften Heines nicht nur den Dualismus. Sie fordern die Synthese beider Geisteshaltungen, die Ausdruck des fortschrittlichen Menschen wäre, der durch einen demokratischen, sozialen, religiösen, erotischen und ästhetischen befreiten Geist ausgezeichnet ist.⁸⁷ In Elementargeister (1836) wird die grundsätzliche Problematik, die an diese Dichotomie geknüpft ist, formuliert. Der Text stellt die Frage, ob „der trübsinnige, magere, sinnenfeindliche, übergeistige Judäismus der Nazarener, oder […] hellenische Heiterkeit, Schönheitsliebe und blühende Lebenslust in der Welt herrschen […]“⁸⁸ soll. Ludwig Börne. Eine Denkschrift (1840) arbeitet dann ein Konzept aus, welches die Begrifflichkeiten nicht mehr einem religiösen Konzept − Monotheismus versus Polytheismus oder Judentum versus Christentum − zuordnet. Nazarenische oder hellenische Geisteshaltung wird vielmehr als eine angeborene oder angebildete Anschauungsweise definiert, jenseits eines nationalen oder religiös bestimmten Identitätsbegriffs. Shakespeares Mädchen und Frauen skizziert die zwei Typen dieses von Heine ausgearbeiteten Psychogramms der europäischen Geisteshaltungen. Shylock, als Repräsentant „des starren, ernsten, kunstfeindlichen Judäas“⁸⁹ gezeichnet, ist Figuration der Intoleranz. Dessen maskenhafte Züge unterstreichen dabei die Gegensätze dogmatischer und aufgeschlossener Denkungsart. Die Einschätzung Shylocks, orientiert an einer Einordnung des einzelnen Menschen allein gemäß seiner Geisteshaltung und nicht aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Gruppe oder Nation, zeigt in der intoleranten Haltung letztendlich eine Verbindung der Figur zu deren christlichen Widersachern. Im Sinne nazare-
86 Vgl. insbesondere Heines Buch Eins und Buch Zwei aus Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland [B 5, S. 505-591.] 87 Vgl. Höhn, Handbuch, S. 426. 88 B V, S. 685. 89 B VII, S. 262.
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nischer Geisteshaltung ist Shylock zugehörig − zu den Anhängern einer intoleranten Weltsicht. Diese Zuordnung Shylocks zu einer durch Intoleranz geprägten Denkungsart ist in den Überlegungen des Heine-Textes jedoch nicht auf die jüdische Minderheit als Ganzes ausgedehnt. Sie ist auf bestimmte Strömungen innerhalb des Judentums begrenzt, etwa die, aus säkularer Sicht, regressive Dogmatik rabbinischer Tradition. Zu bemerken ist auch, dass, indem dem Juden Shylock eine innere Geisteshaltung, und sei es eine intolerante, zugestanden wird, die antisemitisch geformte Maske des Dämons aufbricht. Indem an die Figur des Juden in der Interpretation Heines überreligiöse und transnationale Typen gebunden sind, werden die festgefügten Traditionsbilder der europäischen Literatur aufgeweicht und in neue, progressive Zusammenhänge gesetzt. Das Typische der Figur des Juden, wie es die europäische Literaturtradition entwickelt, wird in der Interpretation Heines zurückgenommen. Der Hinweis auf historisch gewachsene Beziehungssysteme zwischen Juden und Christen, die Darstellung jüdischen Selbstverständnisses und die Bindung einer inneren Haltung an die literarische Figur, die der europäischen Weltsicht verwurzelt ist, lassen Shylock aus dem Kreis der Fabelgeschöpfe heraustreten. Dass das Dämonische in der Anlage der Figur verwischt ist und ihm von der Heine-Interpretation menschliche Wesenszüge zugeschrieben werden, die sich zum großen Teil aus den soziopolitischen Umständen seiner Zugehörigkeit zu einer marginalisierten Gruppe ableiten, verdeutlicht der nachfolgende Abschnitt.
5 Wandel zur tragischen Gestalt – Shylock als Figuration jüdischen Lebens in der Diaspora Die Heinesche Deutung des Kaufmann von Venedig ist in dem Bewusstsein verfasst, dass Shakespeare den Juden aus dem christlichen Vorurteil heraus zeichnet, aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft. Das Exemplarische dieser Figur liegt jedoch auch in ihren urphänomenalen Eigenschaften. Sie beleuchtet „charakteristische menschliche Triebe und Eigenschaften, die Spannungen der Gesellschaft und das Verlangen des Menschen nach Anerkennung“. Und weiter heißt es bei Dämmrich: „Er [Shylock, Anm. d. Verf.] strahlt eine Seinswirklichkeit aus, die in ihrer Formgebung einmalig ist.“⁹⁰ Die Figur wurde bereits von Shakespeare so angelegt, dass das überkommene Bild des dämonischen Juden Risse, Leerstellen, aufweist, durch die das menschliche Antlitz Shylocks, und darüber
90 Daemmrich, Themen, S. 215.
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hinaus das verhängnisvolle Schicksal der Juden in Europa, hervorleuchtet.⁹¹ Mit diesen Rissen wird „der ganze Genius von Shakespeare“⁹² offenbar, zeigt sich dessen Werk „in einer erhabenen schönen Nacktheit, in einer Einfachheit, die mit der ungeschminkten Natur wetteifert und uns mit dem süßesten Schauern erfüllt“⁹³. In den Brüchen der Figur begegnet der Leser „jener schauerlichen Nacktheit […], die uns erschreckt und erschüttert; in den Shakespeareschen Werken sehen wir manchmal die leibhaftige Wahrheit ohne Kunstgewand.“⁹⁴ Das Kunstgewand, das Shylock umschließt, ist das aus der christlichen Theologie abgeleitete Vorurteil der Mehrheitsgesellschaft. Mit der Rede der Shakespeareschen Figur reißt das Kunstgewand des Vorurteils auf, verweist sie doch auf die von Bedrängnis beherrschte Situation der europäischen Juden in der Diaspora. Diese Risse in der Anlage der Figur werden im Kommentar des Heine-Textes soweit ausgedehnt, dass sich der Antiheld zur tragischen Figur des Stückes zu wandeln vermag,⁹⁵ dass ihm das Dämonische genommen wird und er zum Repräsentanten des Schicksals europäischer Juden avanciert. Jene Risse, die großen Monologe Shylocks im Drama Shakespeares, zitiert der Heine-Text in seinen Ausführungen zu Shakespeares Mädchen und Frauen vollständig. So tritt in der bereits in Kapitel V.3 zitierten Frage nach dem Motiv für Shylocks Beharren auf dem Pfund Herzfleisch seines Feindes das Motiv der Rache temporär in den Hintergrund, wenn jener das Menschliche von christlicher Mehrheit und jüdischer Minderheit ins Bild setzt: Er hat mich beschimpft, mir eine halbe Million gehindert, meinen Verlust belacht, meinen Gewinn bespottet, mein Volk geschmäht, meinen Handel gekreuzt, meine Freunde verleitet, meine Feinde gehetzt. Und was hat er für Grund? Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer, als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen? Sind wir euch in allen Dingen ähnlich, so wollen wirs euch auch darin gleich tun. Wenn ein Jude einen Christen beleidigt, was ist seine Demut? Rache. Wenn ein Christ einen Juden beleidigt, was muß seine Geduld sein nach christlichem Vorbild? Nu, Rache. Die Bosheit, die ihr mich lehrt, die will ich ausüben, und es muß schlimm hergehn, oder ich will es meinen Meistern zuvortun.⁹⁶
91 Vgl. B VII, S. 178f. 92 B VII, S. 185. 93 B VII, S. 185. 94 B VII, S. 46f. 95 Vgl. B VII, S. 251. 96 B VII, S. 255.
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Shakespeares Shylock erinnert seinen Gegenüber und mit diesem auch das Publikum daran, dass Jude und Christ Menschenkinder sind, dass sie gleiche Bedürfnisse haben und gleiches Leid erfahren. Die starre Maske des Fabelgeschöpfs weist menschliche Züge auf, wenn Shylock auf die Lebensnotwendigkeiten von Juden und Christen zurückkommt. Diesem Monolog Shylocks ist ein anderer vorangestellt, der nicht das Verbindende unterstreicht, sondern die fatale Beziehung zwischen Juden und Christen ins Auge fasst. Im ironischen Ton zeichnet Shylock die Situation des geschundenen und gepeinigten Juden im christlichen Umfeld: ‚Signor Antonio, viel und oftermals Habt ihr auf dem Rialto mich geschmäht Um meine Gelder, und um meine Zinsen; Stets trug ich’s mit geduldgem Achselzucken, Denn dulden ist das Erbteil unsers Stamms. Ihr scheltet mich abtrünnig, einen Bluthund, Und speit auf meinen jüdischen Rocklor, Und alles, weil ich nutz, was mir gehört. Gut denn, nun zeigt sichs, ihr braucht meine Hülfe: Ei freilich ja, ihr kommt zu mir, ihr sprecht: ‚Shylock, wir wünschten Gelder.‘ So sprecht Ihr, Der mir den Auswurf auf den Bart geleert, Und mich getreten, wie ihr von der Schwelle Den fremden Hund stoßt; Geld ist Eur Begehren. Wie sollt’ich sprechen nun? Sollt’ ich nicht sprechen: ‚Hat ein Hund Geld? Ists möglich, dass ein Spitz Dreitausend Dukaten leih’n kann?‘ Oder soll ich Mich bücken, und in eines Schuldners Ton, Demüthig wispern, mit verhaltnem Odem, So sprechen: ‚Schöner Herr, am letzten Mittwoch Spiet ihr mich an; ihr tratet mich den Tag; Ein andermal hießt ihr mich einen Hund: Für diese Höflichkeiten will ich euch Die und die Gelder leihn.‘⁹⁷
Beide Monologe der Shakespeareschen Bühnenfigur fassen oberflächlich den Blick der christlichen Gesellschaft auf die jüdische Minderheit zusammen: Der Jude, im traditionellen Gewand des Geldverleihers, sehnt den Moment der Rache herbei. Er bedeutet demnach eine latente Gefahr für sein Umfeld, was wiederum Unterdrückung und auch Gewaltexzesse gegen die jüdische Minderheit rechtfertigt. Bei genauerer Betrachtung wird dieses Bild aufgebrochen, wird auf die Geschichte der Juden in der Diaspora als ausgegrenzter Minderheit verwiesen.
97 B VII, S. 252.
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Indem das Drama Shakespeares seiner Figur die Möglichkeit zur Rede gibt, gewinnt diese menschliche Züge: Die literarische Figur ist nicht mehr nur antisemitische Projektionsfläche einer christlichen Außensicht auf die jüdische Minderheit, ist nicht länger als passive Figur christlichen Vorurteils gestaltet. Indem Shylock im Stück des englischen Dichters Züge eines menschlichen Antlitz erhält und die Maske des dämonischen Juden für kurze Zeit vom Gesicht nehmen kann, gewinnt auch das leidvolle Schicksal der Juden in der europäischen Diaspora Kontur, erhebt sich Shylock über sein Einzelschicksal und wird zur Stimme der jüdischen Minderheit. Die Interpretation Heines erkennt diese Möglichkeit der Monologe Shylocks: „[U]nd so geschah es, dass er [der Genius des Dichters, Anm. d. Verf.] in Shylock, trotz der grellen Fratzenhaftigkeit, die Justifikation einer unglücklichen Sekte aussprach, welche von der Vorsehung, aus geheimnisvollen Gründen, mit dem Haß des niedern und vornehmen Pöbels belastet worden, und diesen Haß nicht immer mit Liebe vergelten wollte.“⁹⁸ Die Rede des Protagonisten bietet der Deutung Heines die Steilvorlage, mit dem Antihelden auch das Vorurteil des christlichen Außenblicks auf die Juden in der Diaspora zu demontieren. Mit seiner dramatischen Rede beginnt sich Shylock vom Spiel der antijüdischen Vorstellungen abzuwenden und auf das Schicksal der Juden als Minderheit zu verweisen. Das menschliche Antlitz hinter der Maske des Vorurteils wird dem Heine-Text jedoch nicht allein in den Monologen der Figur sichtbar. Im Verlust der Tochter begegnet der Mensch und nicht der Dämon. Ist es nach Hans Mayer der Verlust der Tochter, der im Stück Shakespeares den „Jude[n] und Wucherer von der Rialtobrücke“⁹⁹ in „ein Monstrum ‚an und für sich‘ [verwandelt]“¹⁰⁰, so bewertet die Heine-Interpretation das Verhältnis Shylocks zu seiner Tochter im Zuge der besonderen Problematik der Minderheit in der Gegenwart des 19. Jahrhunderts und führt sie die Figur gleichsam in einen aktuellen Rahmen jüdischen Daseins – auch dies ein weiterer Schritt auf dem Weg der Figur vom Stereotypen christlichen Vorurteils hin zum literarischen Repräsentanten der Minorität. Diese Bewegung ist zunächst eine, die fort von der judenfeindlich motivierten Außensicht hin zum zwischenmenschlichen Konflikt zwischen Vater und Tochter geht. Sie zeigt Shylock nicht länger in der Gestalt des Wucherers. Sie zeigt den Vater in großer Verbundenheit zu seiner Tochter und streicht die zentrale Bedeutung familiärer Strukturen im jüdischen Leben heraus, denn „[a]us dem öffentlichen Leben, aus der christlichen Sozietät, zurückgedrängt in die enge Umfriedung häuslichen
98 B VII, S. 251. 99 Mayer, Außenseiter, S. 323. 100 Mayer, Außenseiter, S. 323.
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Glückes, blieben ja dem armen Juden nur die Familiengefühle, und diese treten bei ihm hervor mit der rührendsten Innigkeit“¹⁰¹. In der wohl nachhaltigsten Beziehung des Menschen, in dem Verhältnis von Eltern und Kind, zeigt Heine das menschliche Antlitz Shylocks unverhüllt. Wie bereits dargestellt, genoss das Familienleben innerhalb der vom Umfeld abgeschotteten jüdischen Minderheit einen besonderen Stellenwert. So bot der Rückzug in die Familie dem traditionellen jüdischen Leben einen Eigenraum innerhalb des durch die Mauern des Ghettos abgeschirmten Fremdraums in der Diaspora. Diese Mauern sind dabei nicht nur als Repressalie gegen die Juden zu verstehen, sie boten auch einen gewissen Schutz und Raum für die Bewahrung der spezifischen Traditionen.¹⁰² Jener, in Shakespeares Drama entworfenen Darstellung einer Tochter, die sich durch den Wahnsinn ihres Vaters bedroht und sich durch die Ehe mit einem Christen gerettet sieht, setzt der Text Heines ein anderes Bild entgegen: Es war kein liebloser Vater, den sie verließ, den sie beraubte, den sie verriet … Schändlicher Verrat! Sie machte sogar gemeinschaftliche Sache mit den Feinden Shylocks, und wenn diese zu Belmont allerlei Mißreden über ihn führen, schlägt Jessika nicht die Augen nieder […], sondern Jessika spricht von ihrem Vater das Schlimmste … Entsetzlicher Frevel! Sie hat kein Gemüt, sondern abenteuerlichen Sinn. Sie langweilte sich in dem streng verschlossenen, „ehrbaren“ Hause des bittermüden Juden, das ihr endlich eine Hölle dünkte. Das leichtfertige Herz ward allzusehr angezogen von den heiteren Tönen der Trommel und der quergehalsten Pfeife.¹⁰³
Erscheint Jessika im Drama Shakespeares als gerettete Seele, die mit ihrer Taufe Zugang zu den paradiesischen Verhältnisses des loci amoeni „Belmont“, des Sitzes Portias, erhält, wird sie in der Interpretation Heines schuldig an ihrem Vater und den Gesetzen ihres ererbten Glaubens – nicht aus Überzeugung an der angenommenen Religion, vielmehr aus den menschlichen Regungen der Langeweile und der Genusssucht heraus. In diesem Bruch der Tochter mit dem jüdischen Erbe und ihrer Vereinigung mit den Peinigern, allein aus gesellschaftlichem Vorteil, ist, nach Lesart des Heine-Textes, der eigentliche dramatische Sturz Shylocks entfaltet. Nicht der verlorene Prozess um die Wette oder der Verlust des Vermögens läutet den Untergang des Juden ein, sondern der Verlust des Kindes als dem zukünftigen Bewahrer jüdischen Selbstverständnisses in der Diaspora. Mit der Taufe Jessikas, die der Eheschließung notwendigerweise vorausgeht, bricht das fragile System des Miteinanders der Minderheit auf und gerät es ins Wanken. Dies
101 B VII, S. 256. 102 Vgl. Katz, Ghetto, S. 31. 103 B VII, S. 257.
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ist, gelesen im Bewusstsein eines schwindenden traditionellen jüdischen Lebens seit Beginn des 19. Jahrhunderts, der eigentliche tragische Zug der Shylock-Figur. So zerbricht die Maske des „gedrillte[n] Werwolf[s]“¹⁰⁴ endgültig, wenn Shylock, „[o]bgleich […] in der höchsten Leidenschaft des Zorns sie verwünscht und tot zu seinen Füßen liegen sehen möchte […]“¹⁰⁵, seine Tochter „liebt […] mehr als alle Dukaten und Juwelen.“¹⁰⁶ Mit diesem Gefühl des Verlustes, das zuallererst dem Kind gilt, ist Shylock nicht länger als bloßer Stereotyp eines antijüdisch gefärbten Aberglaubens lesbar. Vor dem Erfahrungshintergrund assimilierter Juden ist er vielmehr als Vertreter jener Generation zu deuten, deren Kinder zu Beginn des 19. Jahrhunderts in großer Zahl das Ghetto verließen und den Weg der Akkulturation beschritten. Wie in den in Kapitel IV genannten Textbeispielen begegnet der Leser auch hier jener Auffassung des säkularen Juden Heine, die einer allein auf Akkulturation gerichteten Anstrengung einzelner Juden ablehnend gegenübersteht. Der Gewinn, der sich für den Einzelnen aus dem Assimilierungswillen ergibt, wird auch hier nicht als gesellschaftlicher Fortschritt einer Eingliederung Einzelner in die Mehrheitsgesellschaft gezeichnet. Die soziale und kulturelle Anpassung, deren nachhaltigstes Zeichen die Taufe ist, ist auch mit Blick auf Jessika als letzter Schritt in einer durch das Leid der Diaspora verzerrten jüdischen Identität zu verstehen. Für das schmerzhafte Bewusstsein einer Auflösung des althergebrachten Lebens steht die von Heine aus dem Drama Shakespeares herausgelöste ShylockFigur. Dessen verzweifelte Suche nach dem an die Mehrheitsgesellschaft verlorenen Kind, die ihn im Text Heines bis vor die verschlossene Himmelspforte treibt, wo sie dann ergebnislos abbricht, ist Sinnbild jener Gemütslage einer Generation, die sich als letzte einer starken Bindung an den traditionellen Entwurf jüdischen Lebens in der Diaspora begreifen muss. Gewinnt Shylock im Text Heines auch ein menschliches Antlitz, an der Tragik seines Untergangs ändert sich nichts. Als Zeuge des Niedergangs seiner Kultur verlischt er. Hier liegt die ganze Tragik, welche die Heine-Interpretation der Figur des Juden zuschreibt, ist die Wandlung des Fremden ins Eigene, die Aneignung eines Ursprungstextes von der eigenen Aktualität her das diasporische Schreibverfahren exemplifiziert und ist nicht zuletzt grundlegendes jüdisches Selbstverständnis bewahrt. Das Erbe, das Shylocks Tochter stellvertretend für die akkulturierten und konvertierten Juden auf ihrem individuellen Weg in die gesellschaftliche Moderne ausschlägt, ist ein strenges Leben nach den Geboten der Tora – dem Grundpfeiler jüdischen Lebens in der Diaspora. Die Bedeutung der Gesetze 104 B VII, S. 251. 105 B VII, S. 256. 106 B VII, S. 256.
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und ihrer Auslegungen für das Überleben des altorthodoxen Judentums wird in Shakespeares Mädchen und Frauen gewürdigt und im parallel entstehenden Text Ludwig Börne. Eine Denkschrift ausführlicher reflektiert. Wenn Heine auch das rabbinische Schrifttum, insbesondere den Talmud, im Sinne der Maskilim und des Culturvereins als erstarrtes Regelwerk kritisiert, dessen Anspruch auf Normativität in der Gestaltung gegenwärtigen jüdischen Lebens dem notwendigen Vorantreiben der Emanzipation hinderlich ist, erkennt er doch den historischen Wert der Gesetzessammlung als Bewahrerin der Eigenständigkeit jüdischen Selbstverständnisses in der Diaspora an.¹⁰⁷ Wie bereits in Kapitel II ausgearbeitet, stehen die Gesetze (hebr.: Mitzwot) im Zentrum der Auseinandersetzung um ein modernes jüdisches Selbstverständnis, ist an der Diskussion um diese auch der Wandel im diasporischen Selbstverständnis jüdischer Existenz markiert. Heine, dessen Werk im Zeichen jenes von der Säkularisierung geprägten Bewusstseinswandels steht, weist die zentrale Bedeutung der Tora für das altorthodoxe Judentum nicht zurück, doch hat sie die normative Bedeutung verloren. Mit Blick auf die Geschichte der Juden in der Diaspora erklärt er die Tora, das geschriebene Wort zum „portative[n] Vaterland“¹⁰⁸ der Minderheit.¹⁰⁹ Die Bibel, „groß und weit wie die Welt“¹¹⁰, überliefert die Gebote eines religiös-sittlichen Daseins, des Schlüssels zur Erhaltung jüdischen Lebens außerhalb Israels nach traditioneller Auffassung. Die in der Tora niedergeschriebenen Ge- und Verbote und die aus ihr erwachsenen Rituale strukturierten das Leben jedes einzelnen Juden und der jüdischen Gemeinden in der Diaspora: „[W]urzelnd in die Abgründe der Schöpfung und hinaufragend in die blauen Geheimnisse des Himmels … Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, Verheißung und Erfüllung, Geburt und Tod, das ganze Drama der Menschheit, alles ist in diesem Buch … Es ist das Buch der Bücher, Biblia.“¹¹¹ Die Verehrung der Tora begründet sich für das altorthodoxe Judentum aus der identitätsstiftenden Funktion des in den fünf Büchern Mose niedergeschriebenen Gesetzes, das ihnen als Offenbarung Adonais gilt. Im Erhalt der Schrift, so die anthropologische Sichtweise Heines, ist der eigentliche Grund für den Entschluss der Juden zu suchen, die Leiden einer unterdrückten Volksgruppe in der Diaspora auf sich zu nehmen und sich gegen ein Aufgehen im jeweiligen kulturellen und 107 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 225. 108 B XI, S. 483. 109 „Im Buch an sich, nicht bloß in seinem Inhalt, sondern in seiner Existenz und Koexistenz, im Zusammenspiel von geistiger und materieller Beziehung […] ist das Überleben dieses Volkes […] angelegt. Denn das Buch vereinigt in sich die Bewahrung und zugleich Mobilität der Tradition […].“ Siehe Bodenheimer, Schatten, S. 37. 110 B VII, S. 39. 111 B VII, S. 39f.
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religiösen Umfeld der Mehrheitsgesellschaft zu wehren.¹¹² Die identitätsstiftende und existenzbewahrende Bedeutung der Tora ist auch in der feierlichen Andacht präsent, die die Protagonistin des Rabbi, Sara, bei der Pessach-Lesung aus der Tora-Rolle in der Synagoge beobachtet: Sie hatte noch nie eine so große Anzahl Glaubensgenossen gesehen, wie sie da unten erblickte, und es ward ihr noch heimlich wohler ums Herz in der Mitte so vieler Menschen, die ihr so nahe verwandt durch gemeinschaftliche Abstammung, Denkweise und Leiden. Aber noch viel bewegter wurde die Seele des Weibes, als drei alte Männer ehrfurchtsvoll vor die heilige Lade traten, den glänzenden Vorhang an die Seite schoben, den Kasten aufschlossen und sorgsam jenes Buch herausnahmen, das Gott mit heiliger Hand geschrieben, und für dessen Erhaltung die Juden so viel erduldet, so viel Elend und Haß, Schmach und Tod, ein tausendjähriges Martyrtum. Dieses Buch, eine große Pergamentrolle, war wie ein fürstliches Kind in einem buntgestickten Mäntelchen von rotem Samt gehüllt; oben, auf den beiden Rollhölzern, stecken zwei silberne Gehäuschen, worin allerlei Granaten und Glöckchen sich zierlich bewegten und klingelten, und vorn, an silbernen Kettchen, hingen goldne Schilde mit bunten Edelsteinen. Der Vorsänger nahm das Buch, und als sei es ein wirkliches Kind, ein Kind um dessentwillen man große Schmerzen erlitten und das man nur desto mehr liebt, wiegte er es in seinen Armen, tänzelte damit hin und her, drückte es an seine Brust, und durchschauert von solcher Berührung, erhub er seine Stimme zu einem jauchzend frommen Dankliede, daß der schönen Sara bedünkte, als ob die Säulen der heiligen Lade zu blühen begönnen, und die wunderbaren Blumen und Blätter der Kapitäler immer höher hinaufwüchsen, und die Töne des Diskanten sich in lauter Nachtigallen verwandelten, und die Wölbung der Synagoge gesprengt würde von den gewaltigen Tönen des Bassisten, und die Freudigkeit Gottes herabströme aus dem blauen Himmel.¹¹³
In der mystischen Verzückung Saras, ausgelöst durch das Zitieren des Psalms, wird jene durch das heilige Wort immer wieder aufs Neue belebte Verbindung Adonais mit seinem Volk lebendig. In der Gestaltung des Lebens nach den Vorgaben der Tora, dem traditionellen Verständnis nach göttliches Wort Adonais, bekundet sich die jüdische Existenz in der Diaspora als geoffenbarte Lebensordnung. Im Befolgen der Mitzwot wird der Eigenraum der Minderheit konkret, eine Art Heimat in der Zerstreuung innerhalb eines feindlich gesinnten Umfelds. Diese Auffassung des altorthodoxen Judentums von der Tora als Heimstätte des Judentums ist auch im Werk Heines zu finden: In der Bibel findet die Minderheit die Konstante ihrer Wesenseinheit. So wird formuliert: „Ein Buch ist ihr Vaterland, ihr Besitz, ihr Herrscher, ihr Glück und ihr Unglück. Sie leben in den umfriedeten Marken dieses Buches, hier üben sie ihr unveräußerliches Bürger-
112 Vgl. B VII, S. 40. 113 B I, S. 488f.
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recht, hier kann man sie nicht verjagen, nicht verachten, hier sind sie stark und bewundrungswürdig.“¹¹⁴ Auch im Text Heines wird die Judengasse, das reale Lebensumfeld der Juden in der europäischen Diaspora, nicht als die empfundene Heimstatt traditionellen jüdischen Selbstverständnisses vorgestellt. Im Wort findet die in Bedrängnis geratene Minderheit einen imaginären Fluchtort, einen transzendenten Eigenraum des angestammten Erbes. Dieser Eigenraum wächst mit der Lektüre und Kommentierung der Schrift über die Jahrhunderte − „Schrift erweist sich damit als Produkt des Fehlens einer territorialen Heimat, kann gar in gewisser Weise als ihr Ersatz verstanden werden.“¹¹⁵ Heine erklärt die identitätsstiftende Funktion der Tora für das Judentum nicht aus ihrem Status als Offenbarung Adonais. Er verknüpft sie mit dem Minderheitenstatus der Juden. Den Verfolgungen eines feindlichen Umfelds ausgesetzt, überlebte das altorthodoxe Judentum in der Tradierung der Bibel, ist das jüdische Erbe in der Lektüre und Kommentierung der überkommenen Schriften bewahrt.¹¹⁶ Den Besitz der Schrift über den Besitz von Land zu stellen und, statt Territorialkämpfe auszutragen, das tradierte Wort mit Blick auf die jeweilige Gegenwart auszulegen und ihm auf diese Weise einen aktuellen Sinngehalt zu geben, macht das Judentum scheinbar autark von den historischen Erschütterungen des Umfeldes, denn: [v]ersenkt in die Lektüre dieses Buches, merkten sie wenig von den Veränderungen, die um sie her in der wirklichen [!] Welt vorfielen; Völker erhuben sich und schwanden, Staaten blühten empor und erloschen, Revolutionen stürmten über den Erdboden … sie aber, die Juden, lagen gebeugt über ihrem Buche und merkten nichts von der wilden Jagd der Zeit, die über ihre Häupter dahinzog!¹¹⁷
So ist die eigentliche Heimstatt Shylocks, der nach der Interpretation des HeineTextes Repräsentant dieses durch die Verehrung der Tora belebten Judentums in der Diaspora ist, nicht die Börse oder das Ghetto. Das Heim ist die Bibel und mit ihr die Synagoge, als die identitätsstiftende Institution der Minderheit. Hier wird das Wort Gottes gelesen, kommentiert, überliefert. Die in den verschiedenen Heine-Texten aus der kulturhistorischen Perspektive analysierte Minderheit, welche die Tora als ihren Eigenraum begreift, steht in Kontrast zu dem vom antijüdischen Vorurteil gezeichneten dämonischen Juden.
114 B VII, S. 40. 115 Witte, Tradition, S. 10. – Vgl. auch Bodenheimer, Schatten, S. 34; Olaf Briese: Exil auf Erden. Facetten einer Zumutung in Heines Spätwerk. In: HJb 42 (2003), S. 32f. 116 Vgl. Witte, Tradition, S. 79f. 117 B VII, S. 40.
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Die Juden der Diaspora sind die Nachfahren jener Israeliten, die, so Heine, als „ein großes, ewiges, heiliges Volk, ein Volk Gottes, […] allen andern Völkern als Muster, ja der ganzen Menschheit als Prototyp dienen konnte[n] […].“¹¹⁸ In Shakespeares Mädchen und Frauen wird dieses Volk als keusch, enthaltsam, sittenrein beschrieben, seine Denkungsart als dem Abstrakten zugeneigt eingeschätzt.¹¹⁹ Als Nachfahren des israelitischen Volkes haben die Juden in der Diaspora die Aufgabe, jenes überkommene Erbe weiterzugeben, das, so ihre Tradition, dem Wüstenvolk am Sinai offenbart wurde. Nach Heines anthropologischer Einschätzung des Judentums liegt dieses Erbe nicht in der Offenbarung des Wortes Adonai − das Erbe ist ihm vielmehr ein aus der Vernunft des Menschen geborenes Gebot der Sittlichkeit. Dieses Gebot ist das eigentliche Vermächtnis, das Mose den Israeliten hinterließ, so Heine. Das Sittlichkeitsempfinden des Volkes Israel, welches die Israeliten bereits in der Antike über ihre Nachbarn erhob,¹²⁰ wird in den Texten Heines jedoch nicht als vom Judentum entwickelt proklamiert: „[Es] ist nicht Resultat einer positiven Religion oder einer politischen Gesetzgebung − nein, […] sie [die Sittlichkeit, Anm. d. Verf.] ist ein reines Produkt des gesunden Menschengefühls, und die wahre Sittlichkeit, die Vernunft des Herzens, wird ewig fortleben, wenn auch Kirche und Staat zu Grunde gehen.“¹²¹ Das Vermächtnis des Judentums ist hier frei von jedem religiösen Deutungszusammenhang gezeigt. Es ist allein Ausdruck eines angewandten Vernunftrechts.¹²² So sieht der vernunftbegabte Mensch die gesellschaftlichen Notwendigkeiten ein und dieser Einsicht gemäß handelt er. Das Vernunftrecht kommt aus dieser Einsicht, also aus der Vernunft, also aus dem Menschen selbst, er trägt es in sich. So hat der vernunftbegabte Mensch die Möglichkeit, durch Nachdenken, Überlegen und Werten das Recht zu erkennen und menschliches Miteinander nach diesem zu gestalten. Im Vermächtnis Moses ist, nach der anthropologischen Sichtweise Heines, somit bereits das von der Aufklärung geforderte selbstbestimmte Denken des Individuums angekündigt. Die große kulturelle Leistung des Volkes Israel liegt in der Fixierung und Tradierung jener aus dem Vernunftrecht abgeleiteten Gebote menschlichen Miteinanders.¹²³ Moses ist das Sinnbild dieser kulturellen Leistung, gilt er doch als jene Instanz, die Vernunftrecht zur Norm für das Zusammenleben erklärt:
118 B XI, S. 481. 119 Vgl. B VII, S. 257; B VII, S. 40. 120 Vgl. B XI, S. 486. 121 B VII, S. 43. 122 Vgl. B XI, S. 487. 123 Vgl. Witte, Tradition, S. 93. – Eine Analyse zur Darstellung der Mose-Figur in Bezug auf Heines Hegelkritik bietet Bodenheimer, Schatten, S. 41f.
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Wie klein erscheint der Sinai, wenn der Moses darauf steht! Dieser Berg ist nur das Postament, worauf die Füße des Mannes stehen, dessen Haupt in den Himmel hineinragt, wo er mit Gott spricht − Gott verzeih mir die Sünde, manchmal wollte es mich bedünken, als sei dieser mosaische Gott nur der zurückgestrahlte Lichtglanz des Moses selbst, dem er so ähnlich sieht, ähnlich in Zorn und in Liebe Es wäre eine große Sünde, es wäre Anthropomorphismus, wenn man eine solche Identität des Gottes und seines Propheten annähme − aber die Ähnlichkeit ist frappant.¹²⁴
Ähnlich wie in der Negation der eschatologischen Botschaft des Pessach Festes wird in der Auseinandersetzung mit dem Offenbarungscharakter der Mitzwot ein göttlicher Ursprung ausgeschlossen und auf die Notwendigkeit des aktiv handelnden Menschen verwiesen. Dieser ist der Schöpfer seiner Götter, gestaltet die Religion, um das allein aus seiner Vernunft abgeleitete, allgemeingültige Recht zu sanktionieren und menschliches Miteinander zu regeln − so die kulturhistorische Sichtweise Heines im 19. Jahrhundert auf die Gründerfigur des Judentums. Die Tragik Shylocks, der dieses Erbe nicht an die nächste Generation weiterzugeben vermag, wird dann zur Tragik moderner jüdischer Existenz, wenn man bedenkt, dass das Bewusstsein, um die Tradierung des Gebots der Sittlichkeit im Judentum, das Emanzipationsbegehren der Juden nachhaltig stützen könnte. Heine, als „Kämpen der Revolution“¹²⁵, begreift die Emanzipationsbestrebungen seines Jahrhunderts in der Nachfolge „jener Märtyrer, die der Welt einen Gott und eine Moral gegeben, und auf allen Schlachtfeldern des Gedankens gekämpft und gelitten haben.“¹²⁶ Indem Heine die Durchsetzung der Menschenrechte zur Aufgabe des 19. Jahrhunderts erklärt, stellt er die revolutionären Bewegungen seiner Zeit auch in Beziehung zum Selbstverständnis des diasporischen Judentums, das in Form der Gebote den Gebrauch des Vernunftrechts in den Mittelpunkt gesellschaftlichen Miteinanders stellt. Die Bewahrung der Mitzwot in der Diaspora bedeutet ein Bindeglied zwischen der erstmaligen Festschreibung des Vernunftrechts für ein Volk im Altertum und der revolutionären Auseinandersetzung um die Gültigkeit dieses Vernunftrechts für die gesamte Menschheit im 19. Jahrhundert: „Aber nicht bloß Deutschland trägt die Physionomie Palästinas, sondern auch das übrige Europa erhebt sich zu den Juden. Ich sage erhebt sich, denn die Juden trugen schon im Beginne das moderne Prinzip in sich, welches sich heute erst bei den europäischen Völkern sichtbar entfaltet.“¹²⁷
124 B XI, S. 480. 125 B XI, S. 481. 126 B XI, S. 481. 127 B VII, S. 257f.
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6 Die Suche des Traumjägers nach Shylock Shylocks Tragik unterstreicht sich auch in dessen Abgang aus dem Stück. In Shakespeares Drama geht der Protagonist ohne ein abschließendes Wort von der Bühne. Im Text Heines hingegen beschließen die einzigen Worte, die der Figur vom Schriftsteller des 19. Jahrhunderts in den Mund gelegt werden und die nicht Shakespeare-Zitat sind, die Reflexionen über Der Kaufmann von Venedig. Es ist eine Stimme, die von Schmerz verzerrt, schließlich verstummt: [G]egen Abend, wo, nach dem Glauben der Juden die Pforten des Himmels geschlossen werden und kein Gebet mehr Einlaß erhält, hörte ich eine Stimme, worin Tränen rieselten, wie sie nie mit den Augen geweint werden … Es war ein Schluchzen, das einen Stein in Mitleid zu rühren vermochte … Es waren Schmerzenslaute, wie sie nur aus einer Brust kommen konnten, die als das Martyrtum, welches ein ganzes gequältes Volk seit achtzehn Jahrhunderten ertragen hat, in sich verschlossen hielt … Es war das Röcheln einer Seele, welche todmüde niedersinkt vor den Himmelspforten … Und diese Stimme schien mir wohlbekannt, und mir war, als hätte ich sie einst gehört, wie sie ebenso verzweiflungsvoll jammerte: ‚Jessika, mein Kind!‘¹²⁸
In diesen Zeilen, welche die Reflexionen des Heine-Textes über die Figur des Juden bei Shakespeare abschließen, ist der Wandel Shylocks vom Dämon zur menschlichen Gestalt, der Wandel vom Typus des antijüdischen Vorurteils zur Figuration jüdischen Selbstverständnisses in der Diaspora und der Bruch zwischen altorthodoxem Judentum und moderner jüdischer Existenz zusammengefasst. Doch wer ist das „Ich“, welches die ersterbende Stimme Shylocks vernimmt? Dieser Ich-Erzähler tritt schon früher in den Text ein. Es versucht der tragischen Gestalt des Shakespeare-Dramas zu folgen, die sich ohne ein letztes Wort in das Urteil Portias fügt und so dem heiteren Leben der anderen Figuren im Stück Shakespeares zum Abschluss Raum gibt.¹²⁹ Mit der Suche des Ich-Erzählers nach Shylock geht die Analyse des Shakespeare-Dramas über den ursprünglichen Rahmen der Handlung hinaus, weitet das Drama um Shylock in den Raum jüdischer Existenz in der Diaspora aus. Der Ciccerone, der bisher nur Auskunft gab, ist zum „Traumjäger“¹³⁰ gewandelt, einer immer wiederkehrenden Figur der Heine-
128 B VII, S. 266. 129 „Wie der Autor dergestalt Shylock aus seiner Rolle im unparteilichen Drama eines nicht assimilierten Charakters herausführt und ins Licht seiner eigenen, über Shakespeare hinausgehenden religionsphilosophischen Deutung stellt, bricht er schon die diskursive Ruhe […] und betritt […] die Szene des Traums, die er selber spricht […].“ Siehe Briegleb, Wassern, S. 75. 130 B VII, S. 264. – Setzt man den Traumjäger mit der Figur des Träumenden gleich, so offenbart sich die Absicht hinter dieser Metamorphose des Ich-Erzählers: die „Anverwandlung
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Texte,¹³¹ um Shylock auf die Spur zu kommen. Dass der alte Jude noch immer die Orte seines Dramas aufsucht, scheint dem Suchenden gewiss. Zunächst betritt der Ich-Erzähler jenen Ort, welcher dem Protagonisten im Stück Shakespeares als Wirkungsstätte zugewiesen wurde. Doch ist Shylock auf der Börse, im Stück Shakespeares der Bühnenraum antisemitischen Vorurteils, nicht mehr auffindbar. Er entzieht sich jenem feindlichen Außenblick auf die jüdische Minderheit. Der Rialto, einstiger Schauplatz der Aktivitäten des Kaufmanns, ist jedoch nicht verlassen. Statt seiner agiert im 19. Jahrhundert dort das Oberhaupt jener von Akkulturation gezeichneten jüdischen Existenz, die in der individuellen Absicherung durch Kapital einen möglichen Weg der jüdischen Minderheit in die gesellschaftliche Moderne geht: Ich wenigstens, wandelnder Traumjäger, wie ich bin, ich sah mich auf dem Rialto überall um, ob ich ihn irgend fände, den Shylock. Ich hätte ihm etwas mitzuteilen gehabt, was ihm Vergnügen machen konnte, daß z. B. sein Vetter, Herr von Shylock zu Paris, der mächtigste Baron der Christenheit geworden, und von Ihrer Katholischen Majestät jenen Isabellenorden erhalten hat, welcher einst gestiftet ward, um die Vertreibung der Juden und Mauren aus Spanien zu verherrlichen.¹³²
Wie Klaus Briegleb in seinen Ausführungen zur Shylock-Figur unterstreicht, wird der Rialto zu dem Ort in der Traumjägersequenz, an dem verschiedene Spielarten der Akkulturation aufleuchten.¹³³ Da ist zum einen Rothschild, dessen persönli-
des Fremden im Eigenen“ und „die Positionierung [des Ich-Erzählers] im Spannungsfeld zwischen Differenz und Identität“. Siehe Markus Nölp: Traumzeit. Vom Traum und Träumen bei Heinrich Heine. In: Opitz, Differenz, S. 188. – Das Prinzip der Anverwandlung der fremden, vom antijüdischen Vorurteil gezeichneten Figur in die Figuration des diasporischen Judentums wird im Raum des Traums des Ich-Erzählers, des modernen jüdischen Selbstverständnisses, erst möglich. – Zur Bedeutung des Traums im Werk Heines vgl. Karin Füllner: „Tagesgedanken“ und „Nachtträume“. Der Traum einer großen Schiffsreise in Heines „Börne“-Buch. In: „… und die Welt ist so lieblich verworren.“ Heinrich Heines dialektisches Denken. Festschrift für Joseph A. Kruse. Hrsg. v. Bernd Kortländer/Sikander Singh. Bielefeld 2004. S. 360f. 131 Der Traum gilt als ein zentrales Motive und Thema im Werk Heines. Er übernimmt die Funktion eines spezifischen Erzählmodus, um „die Darstellung von gesellschaftlichem Fehlverhalten und die Kritik daran [zu ermöglichen].“ Siehe Grobe, Horst: Traum und Narr als zentrale Motive im Werk Heinrich Heines. Bochum 1994. S. 37. – Des Weiteren ist dargestellt worden, dass die Träume und mit ihr die Figur des Traumjägers „als literarische Träume bewußt konstruiert und in einen Text eingebettet [sind], der auf Kommunikation mit dem Leser zielt“ (Norbert Altendorf: Harzreise in die Zeit. Zum Funktionszusammenhang von Traum, Sprache, Witz und Zensur in Heines früher Prosa. In: Die verlorene Augensprache. Über Heinrich Heine. Hrsg. v. Volker Braun. Frankfurt a. M./Leipzig. S. 21). 132 B VII, S. 264. 133 Vgl. Briegleb, Wassern, S. 76.
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cher Aufstieg in die Sphäre der höchsten christlichen Duldung die Mechanismen der Ausgrenzung kompensieren mag und die vollkommene Anpassung des Assimilierten an die christliche Politökonomie vergessen lässt. Rothschild wird dabei zum Verräter am jüdischen Erbe. Eine Begegnung zwischen ihm und Shylock, der seine Tochter an die Mehrheitsgesellschaft verloren hat und dem mit dem Urteilsspruch Portias selbst die Taufe droht − auch wenn deren Vollzug in der Interpretation Heines an keiner Stelle thematisiert wird − ist nicht möglich. Shylock, der orthodoxe Jude, entzieht sich seinem jüngeren Vetter. Im Traumjäger selbst ist ein anderer Typus der Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft angedeutet. Zwar greift dieser das Akkulturationsangebot des Umfelds auf, bewertet dieses jedoch kritisch und versucht das jüdische Erbe mit dem Verweis auf die kulturelle Leistung der jüdischen Minderheit in die modernen Zeitläufe hinüberzuretten. Doch auch diesem, einerseits von Akkulturation und Taufe geprägten, andererseits um Traditionsbewahrung bemühten Ich-Erzähler, gelingt es nicht, Shylock im angestammten Raum des Shakespeare-Dramas, der Börse, ausfindig zu machen. So weitet der Jäger seine Suche nach dem Juden aus. Er verlässt den von Shakespeare vorgegebenen Schauplatz des Dramas und begibt sich zur identitätsstiftenden Institution des Judentums in der Diaspora – der Synagoge. Mit diesem zweiten Text-Ort wird die Traumjägersequenz zur Allegorie des altorthodoxen Judentums. Die Synagoge, das Zentrum jüdischen Lebens in der Diaspora, wird im Drama Shakespeares nicht als Handlungsort benannt. Dort sind allein der Rialto und das Haus des Juden die Schauplätze Shylocks. So weitet die Interpretation Heines mit dem Betreten der Synagoge den Raum um Shylock weiter aus, führt den Leser weg vom Rialto, als Ort antijüdischen Ressentiments, hin zum Zentrum jüdischer Existenz in der Diaspora:¹³⁴ „Aber ich bemerkte ihn nirgends auf dem Rialto, und ich entschloß mich daher den alten Bekannten in der Synagoge zu suchen. Die Juden feierten hier eben ihren heiligen Versöhnungstag […].“¹³⁵ Der Traumjäger betritt die Synagoge an Jom Kippur, der als heiligster und feierlichster Tag des jüdischen Jahres gilt.¹³⁶ In der Beschreibung des Gottesdienstes sind alle wesentlichen Momente und Phasen dieses Feiertages enthalten: Fasten, Rechenschaft, Vergebung, Buße, Gedenken, die unmittelbare Beziehung des leidenden Volkes zum Allerhöchsten, belebt durch das Gebet. Das erste dieser
134 Manfred Windfuhr bemerkt, dass der Autor Ende November 1828 Venedig auf seiner Rückreise von Florenz nach München berührte, an den Feierlichkeiten, die zwischen September und Oktober stattfinden, nicht teilhaben konnte. Seine Schilderungen sind daher als Fiktion zu betrachten, lassen sich biographisch nicht verorten. Vgl. DHA X, S. 479. 135 B VII, S. 264. 136 Zum Versöhnungsfest Jom Kippur vgl. ausführlich Weigl, Judentum, S. 211ff.
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Gebete ist „Kol Nidre“, das vor Sonnenuntergang gelesen wird. In „Kol Nidre“ ist die Hinwendung zu Gott mit einer öffentlichen Aufhebung aller Gelübde, Verbote, Bannsprüche, Strafen und Schwüre, die im kommenden Jahr privatim eingegangen werden, verbunden.¹³⁷ Das zukünftige Handeln gegen den Nächsten wird bereut, der Wunsch, diesen zu schädigen, als falsch eingestanden. Der Gelobende bereut und überdenkt auch sein vergangenes Handeln. Jom Kippur steht dabei am Ende der zehn Tage der Reue und Umkehr, die am Neujahrstag, Rosch ha-Schanah, beginnen. Dem Glauben im Judentum gemäß wird am Versöhnungstag auch beurteilt, wer für ein weiteres Jahr in das Buch des Lebens geschrieben wird und wer aufgrund seiner Verfehlungen daraus gelöscht wird. Nur wer zu Reue und Versöhnung bereit ist, kann dies bewirken, denn sie sind die Bedingungen zur Sühne der eigenen Schuld. So befreit der Versöhnungstag mit seinem Gebet von Sünden gegen Gott, jedoch von Sünden gegen den Nächsten erst, nachdem die geschädigte Person um Verzeihung gebeten worden ist. Der Traumjäger betritt die Synagoge am Versöhnungstag, doch nicht in der Absicht, sich mit den Betenden zu versammeln. Er bleibt distanziert und setzt seine ursprüngliche Suche nach Shylock fort. Dass er die Synagoge dabei ausgerechnet an Jom Kippur betritt, ist sicherlich kein Zufall. Ob der Ich-Erzähler auf Versöhnung mit dem „alten Bekannten“¹³⁸, dem Zeugen eines vom Untergang bedrohten religiös geprägten jüdischen Lebens in der Diaspora, aus ist, formuliert der Text nicht eindeutig. Was der Traumjäger mit seiner Jagd eigentlich beabsichtigt, bleibt ungesagt. Fakt ist, dass Shylock auch in der Synagoge nicht ausfindig gemacht werden kann.¹³⁹ Er scheint nicht anwesend am höchsten Feiertag des diasporischen Judentums, nicht bereit im kollektiven „Wir“ um eine Aufnahme ins Buch des Lebens zu bitten. Der Blick des Traumjägers auf die Versammelten ist ambivalent. Zwar werden alle wesentlichen Phasen und Momente des Feiertags aufgeführt, doch erscheinen die Gläubigen dem Traumjäger in ihren Gebetsschals, den Tallit, und ihrem rituellen Habitus „unheimlich“¹⁴⁰ und „wie eine Versammlung von Gespenstern“¹⁴¹.¹⁴² Der Ritus ist dem akkulturierten Juden fremd und damit auch nicht mehr heilig, ist ihm Ausdruck eines von Repressalien bestimmten Lebens der jüdischen Minderheit in der Diaspora. Rituelle Kleidung und die typische Kopfbewegung des jüdischen Gebetes lassen im Blick des Betrachters an das antijüdische Bild vom
137 Vgl. Weigl, Judentum, S. 213. 138 B VII, S. 264. 139 Vgl. B VII, S. 265. 140 B VII, S. 264. 141 B VII, S. 264. 142 Zur distanzierenden Allegorie der Geisteskranken vgl. B VII, S. 79f.
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geheimnisvollen Fremden denken. Doch bleibt dem von Aufklärung und Säkularisierung geschulten Blick der Ich-Erzähler die jüdische Gemeinschaft nur im ersten Eindruck eine Ansammlung von „Fabelgeschöpf[en]“¹⁴³. Nach einem weiteren Blick auf die Versammelten in der Synagoge findet der Traumjäger die pathognomonische Erklärung der Geisteskrankheit, das krankhafte Verbleiben bei einer „fixen Idee“¹⁴⁴: Indem ich, nach dem alten Shylock umherspähend, all die blassen, leidenden Judengesichter aufmerksam musterte, machte ich eine Entdeckung, die ich leider nicht verschweigen kann. Ich hatte nämlich denselben Tag das Irrenhaus San Carlo besucht, und jetzt, in der Synagoge, fiel es mir auf, dass in dem Blick der Juden derselbe fatale, halb stiere halb unstäte, halb pfiffige halb blöde Glanz flimmerte, welchen ich kurz vorher in den Augen der Wahnsinnigen zu San Carlo bemerkt hatte. Dieser unbeschreibliche, rätselhafte Blick zeugte nicht eigentlich von Geistesabwesenheit, als vielmehr von der Oberherrschaft einer fixen Idee. Ist etwa der Glaube an jenen außerweltlichen Donnergott, den Moses aussprach, zur fixen Idee eines ganzen Volks geworden, das, trotz dem, daß man es seit zwei Jahrtausenden in die Zwangsjacke steckte und ihm die Dusche gab, dennoch nicht ablassen will […]?¹⁴⁵
Die Suche nach dem alten Juden unterbrechend, nimmt der Traumjäger den Faden des ersten Shylock-Abschnitts auf, um auf das Schicksal der Juden in der Diaspora nochmals hinzuweisen: Es sind die Konsequenzen der jahrhundertelangen Verfolgungen, die den Gesichtern der Gläubigen, ihrem ganzen Verhalten eingeprägt sind. Die Zeichnung der Gläubigen in der Synagoge von Venedig findet ihr Gegenstück in der Darstellung der Einwohner der Frankfurter Judengasse im Rabbi, die als „an Leib und Seele verkrüppelt“¹⁴⁶ gezeichnet werden. Auch wird die Heilsgewissheit des diasporischen Judentums mit Blick auf die soziopolitischen Umstände der jüdischen Minderheit wiederum ad absurdum geführt. Selbst die Gewissheit, die das diasporische Judentum aus seiner Sendung zieht, alles bereit zu halten für den erwarteten Messias, scheint durch die jahrhundertelange Leidensgeschichte ausgehöhlt: „Ich will hiermit keineswegs den Wert jener fixen Idee bestreiten, sondern ich will nur sagen, dass die Träger derselben zu
143 B VII, S. 251. 144 B VII, S. 264. – Das Bild der Geisteskrankheit in der Formulierung jüdischer Existenz in der Diaspora sowie der Vergleich der Leidensgeschichte der Minderheit mit den Behandlungsmethoden einer kranken Psyche im 19. Jahrhundert findet sich auch im Gedicht Das neue Israelitische Hospital zu Hamburg (B VII, S. 420). Zur Bildlichkeit vgl. Bodenheimer, Schatten, S. 35f. 145 B VII, S. 264. 146 B I, S. 486.
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schwach sind, um sie zu beherrschen, und davon niedergedrückt und inkurabel werden. Welches Martyrtum haben sie schon um dieser Idee willen erduldet!“¹⁴⁷ Auch hier zeigt es sich, dass der von der Säkularisierung geprägte Autor nicht zum traditionellen jüdischen Selbstverständnis zurückfinden kann. Die gesellschaftliche Ausgrenzung und Unterdrückung der Minderheit schätzt er als größte Gefahr für den Fortbestand jüdischen Lebens in Europa ein. Allein im Erfolg einer politischen und gesellschaftlichen Emanzipationsbewegung, die auch auf den Prinzipien des auf den Mitzwot beruhenden Vernunftrechts basiert, sieht er eine Erlösung des diasporischen Judentums aus ihrer Bedrängnis. So schreibt Heine in Ludwig Börne. Eine Denkschrift: „[E]s ist leicht möglich, daß die Sendung dieses Stammes noch nicht ganz erfüllt, und namentlich mag dies in Beziehung auf Deutschland der Fall sein. Auch letzteres erwartet einen Befreier, einen irdischen Messias […], und dieser deutsche Befreier ist vielleicht derselbe, dessen auch Israel harret …“¹⁴⁸ Die kulturelle Leistung des traditionell geprägten Judentums in der Diaspora, die Tradierung eines auf dem Vernunftrecht basierenden Denkens, könnte im Klima gesellschaftlicher Emanzipation zur Blüte gelangen. Und nochmals betont der Schriftsteller in Ludwig Börne. Eine Denkschrift: Die Juden sind das Volk des Geistes, und jedes Mal, wenn sie zu ihrem Prinzipe zurückkehren, sind sie groß und herrlich, und beschämen und überwinden ihre plumpen Dränger. Der tiefsinnige Rosenkranz vergleicht sie mit dem Riesen Antäus, nur daß dieser jedes Mal erstarkte, wenn er die Erde berührte, jene aber, die Juden, neue Kräfte gewinnen, sobald sie wieder mit dem Himmel in Berührung kommen. Merkwürdige Erscheinung der grellsten Extreme! während unter diesen Menschen alle möglichen Fratzenbilder der Gemeinheit gefunden werden, findet man unter ihnen auch die Ideale des reinsten Menschentums, und wie sie einst die Welt in neue Bahnen des Fortschritts geleitet, so hat die Welt vielleicht noch weitere Initiationen von ihnen zu erwarten …¹⁴⁹
Sieg oder Niederlage der europäischen Emanzipationsbewegung sind ausschlaggebend für das weitere Bestehen der Minderheit. So liegt die Hoffnung der Minderheit paradoxerweise in jener Generation, die sich dem Akkulturationsangebot der Mehrheitsgesellschaft nicht länger entziehen kann, eine von Aufklärung geprägte Denkweise annimmt, jedoch die Wurzeln ihrer jüdischen Herkunft nicht durchtrennt. Der Niedergang des traditionellen religiösen Lebens jüdischer Gemeinden in Westeuropa ist zwar nicht aufzuhalten, doch besteht die Möglichkeit, dass das innere Prinzip des diasporischen Judentums, jene an das Vernunft-
147 B VII, S. 265. 148 B VII, S. 119. 149 B VII, S. 119.
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recht gebundene Denkungsart, weitergetragen wird und die Prozesse der politischen Emanzipationsbewegung vorantreibt. Shylock hingegen hat dem Akkulturationsbegehren der jüngeren Generation nichts mehr entgegenzusetzen. Für ihn bedeutet die Assimilation einzig und allein den Verlust seines Kindes an das christliche Umfeld. Doch in der Öffnung der jüdischen Gemeinden hin zur Mehrheitsgesellschaft könnte der zukünftige Schlüssel für eine Bewahrung jüdischen Lebens liegen − definiert allerdings nicht über die Religion, sondern über die Kultur und die Wissenschaften. Sollte die Emanzipation scheitern, würde das, so der Traumjäger, den Untergang jüdischen Lebens außerhalb Israels und mit ihm den Untergang des Vernunftgebots bedeuten: „Aber siegt einst Satan, der sündhafte Pantheismus, […] so zieht sich über die Häupter der armen Juden ein Verfolgungsgewitter, das ihre früheren Erduldungen noch weit überbieten wird …“¹⁵⁰ Vor dem „sündhaften Pantheismus“ wird bereits im Essay Zur Religion und Philosophie in Deutschland (1834) gewarnt. Es ist hier nicht von jenem Pantheismusgedanken¹⁵¹ Heines die Rede, welcher die Vorstellung eines absoluten göttlichen Prinzips ablehnt und an dessen Stelle den Gottmenschen und mit ihm die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit setzt. Der „sündhafte Pantheismus“ kommt einer Entfesselung des Menschen gleich, der das Ideengut der Aufklärung aber auch das auf dem Vernunftrecht basierende Denken des diasporischen Judentums ablehnt und diesem das Gesetz von der Überlegenheit des Stärkeren gegenüberstellt. In den philosophischen Strömungen der deutschen Naturphilosophie sieht Heine dieses atavistische Prinzip ausgestaltet. Der Naturphilosoph des 19. Jahrhunderts, der als Kind der Säkularisierung an die Stelle des göttlichen Prinzips den Menschen setzt, wird […] dadurch furchtbar sein, daß er mit den ursprünglichen Gewalten der Natur in Verbindung tritt, daß er die dämonischen Kräfte des altgermanischen Pantheismus beschwören kann, und daß in ihm jene Kampflust erwacht, die wir bei den alten Deutschen finden, und die nicht kämpft, um zu zerstören, noch um zu siegen, sondern bloß um zu kämpfen. Das Christentum – und das ist sein schönstes Verdienst – hat jene brutale germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch nicht zerstören, und wenn einst der zähmende Talismann, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen.¹⁵²
150 B VII, S. 265. 151 Zur Genese von „Heines bewußt kritische[r] und durchgehend spinozistische eingefärbte[r] Verwendung des ‚Pantheismus‘ als Codewort für die Befreiung von Sinnlichkeit und Religiosität im Namen naturrechtlich begründeter Selbstbestimmung“ und die damit verbundene Hegelkritik vgl. Willi Goetschel: Heines Spinoza. Ent/Mythologisierung der Philosophie als Projekt der Entzauberung und Emanzipation. In: Kruse [u. a.], Aufklärung, S. 580ff. 152 B V, S. 639.
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Würden die Prinzipien dieser Denkweise durchgesetzt werden, die zwar den Menschen aus der kirchlichen Dogmatik befreit, aber gegen die emanzipatorischen Ideale der Aufklärung gewendet sind, käme das einem Scheitern der politischen und sozialen Emanzipationsbewegung in den europäischen Staaten gleich. Gerade die jüdische Minderheit wäre von einem Scheitern der Bewegung sowie einer Orientierung der Machthabenden an einem atavistischen System der Herrschaftsausübung existenziell betroffen. Die Tradierung moralischen Denkens, auf dem jüdischen Vernunftrecht gründend, würde mit einer so gearteten Verfolgung des diasporischen Judentums, der auch durch Akkulturation nicht zu entkommen wäre, untergehen. Die zukunftsweisende Sendung des diasporischen Judentums wäre ausgelöscht, die kulturelle Leistung der Minderheit zerstört. Mit diesem Schreckensszenario wendet sich der Ich-Erzähler an Shylock. Es streitet die Spaltungsprozesse, die die jüdische Existenz mit dem Beginn der Säkularisierung ergriffen haben, nicht ab, betont aber mit dem Hinweis auf die Gefahr das Verbindende des traditionell-religiösen und des von Säkularisierung geprägten jüdischen Lebensentwurfes. Die Anhänger beider Gruppen bleiben in ihrem soziopolitischen Status eine von der Mehrheitsgesellschaft bedrängte Minderheit. Ist es diese Botschaft, die der Ich-Erzähler für Shylock bereithält, die ihn nach dem alten Juden suchen lässt? Der Text gibt hierüber keine Auskunft. Die Begegnung findet nicht statt. In dieser Verweigerung Shylocks ist die tiefe Kluft spürbar, die sich im 19. Jahrhundert in den jüdischen Gemeinden auftut. Der Graben zwischen einem religiös geprägten Lebensentwurf und dem durch Anpassung an die säkularisierte Mehrheitsgesellschaft gewählten Weg vieler Juden kommt hier zum Ausdruck. Versöhnung an Jom Kippur? Indem sich Shylock dem Ich-Erzähler entzieht, verwehrt er diesen Weg. Die Suche des Traumjägers nach Shylock führt diesen bis vor die Pforten des Himmels. Zuvor wird in jenem Besucher der Synagoge Shylock vermutet, der, „inbrünstiger betend als seine übrigen Glaubensgenossen, mit stürmischer Wildheit, ja mit Raserei hinaufbetend zum Throne Jehovas“,¹⁵³ unter seinem Tallit verborgen bleibt. Dass der Ich-Erzähler Shylock ausgerechnet in diesem Betenden vermutet, ist aus dem verzweiflungsvollen Habitus der Figur zu erklären, unterscheidet sich dieser doch von der Starre der ihn umgebenden Jom-KippurGemeinschaft. Er erinnert in seinem Drängen zu Gott an Hiob, jenem Gläubigen, der in Disput verfiel über die Gerechtigkeit Gottes, die doch gerade an Jom Kippur, dem Tag der Vergebung der Sünden, von den Gläubigen eingefordert wird. Gerechtigkeit kann Shylock an dem einst identitätsstiftenden Ort des im Niedergang begriffenen, traditionell-jüdischen Lebens in der Diaspora jedoch nicht erwarten. Auch hier, wie zu den Bacheracher Ereignissen an Pessach im 153 B VII, S. 265.
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Rabbi, betritt kein handelnder Gott die Textbühne: „Ich sah ihn nicht“,¹⁵⁴ konstatiert der Traumjäger, und es bleibt zweideutig, ob er mit dieser Aussage Shylock oder Adonai meint. An den realen Orten der Juden in der Diaspora, ihrem ökonomischen Raum und dem Zentrum ihrer Identität, der Synagoge, ist der alte Jude nicht mehr ausfindig zu machen. Der Ort des modernen Finanzwesens untersteht zwar seinem Vetter Rothschild, doch ist dieser, im Gegensatz zu Shylock, an einer Bewahrung des jüdischen Erbes nicht interessiert, steht für einen Entwurf jüdischer Existenz im 19. Jahrhundert, der von den traditionellen Wurzeln jüdischen Lebens in der Diaspora getrennt ist. Die Synagoge und deren Gemeinschaft erscheinen erstarrt, die Gläubigen leblos, und Adonai bleibt verborgen. Die erschütterte Gemeinschaft muss die Verzweiflung Shylocks anfachen, bietet sie doch keinen Ort der Bestätigung eines religiös ausgerichteten Lebens mehr. Shylock zieht sich zurück in den imaginären Raum der Legende, dem er einst entsprang. Doch gründet dieser Raum nicht mehr im antisemitischen Vorurteil, vielmehr wurzelt er in der Überlieferung des diasporischen Judentums. Shylock lässt sich am Ort der Legende, den Pforten des Himmels, nieder. Diese werden am Abend geschlossen, sodass das Beten der Gläubigen nicht mehr zu Adonai dringt.¹⁵⁵ Das Klagen Shylocks um den Verlust seines Kindes verstummt, nicht durch Erlösung, sondern vor Erschöpfung, nicht hörend auf die Worte des Ich-Erzählers, welche von der Möglichkeit eines Fortbestehens jüdischen Lebens auch unter den Zeichen der Akkulturation spricht. Shylock resigniert vor dem Schweigen Adonais. Die vom Ich-Erzähler geäußerte Hoffnung auf ein Überleben jüdischer Existenz, auch in einem von Säkularisierung geprägten Umfeld, bleibt ohne Reaktion und wird auch in der Schreckensvision des Traumjägers als gefährdet eingeschätzt. Der Fortbestand jüdischen Lebens im 19. Jahrhundert ist von Ungewissheiten belastet. Gelöst vom traditionell-religiösen Lebensentwurf schlägt sie verschiedene Wege ein, die entweder zu einer radikalen Abkehr vom jüdischen Selbstverständnis führen oder an die vage Hoffnung einer politischen und sozialen Emanzipation Europas geknüpft sind. Shylock sieht den Beginn dieses Weges, doch kann er ihn als Vertreter eines altorthodoxen Selbstverständnisses jüdischen Lebens in der Diaspora nicht mitgehen. Dem Kommentar der Shylock-Figur Shakespeares von der Aktualität des 19. Jahrhunderts her, von der Aktualität eines im Wandel begriffenen jüdischen Selbstverständnisses, bleibt die Tragik der Figur des Juden inhärent. Sie ist es, die den Shylock Shakespeares mit dem Shylock Heines verbindet. Sie bleibt die Konstante in der Neuauslegung einer Figur, deren anachronistische Maske des 154 B VII, S. 265. 155 Vgl. Kommentar Windfuhr in DHA X, S. 481.
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Vorurteils zwar zerbrochen wird und die ein menschliches Antlitz erhält, in der jedoch auch das Scheitern des Einzelnen an seinem Umfeld ausgesprochen ist und aus der heraus das Schicksal der Juden in der Diaspora gezeichnet wird. Mit seinem Kommentar macht Heine das Schicksal Shylocks lesbar für die eigene Gegenwart, bindet er an die nichtaufzulösende Tragik der Figur die Tragik jenes Konfliktes zwischen den Generationen innerhalb der jüdischen Minderheit, die am Wendepunkt jüdischer Existenz stehen, fort vom religiös geprägten Selbstverständnis und hin zu einem auf Kultur und Geschichte basierenden jüdischen Bewusstsein. Die Möglichkeit des Scheiterns, des Aufgehens der Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft, liegt in beiden Wegen: im Beharren auf das Überkommene und im Versuch einer Neuausrichtung jüdischen Lebens in der Diaspora. So zeugt die Auseinandersetzung Heines mit der Shylock-Figur von jenem „[dem] Schreibvorgang immanenten Prozeß der unaufhörlichen Transformation“, wie er sich „in der Geschichte der deutsch-jüdischen Literatur entfaltet“¹⁵⁶.
156 Witte, Tradition, S. 12.
VI Rebellion gegen die Marginalisierung – Die Geburt des Zeitschriftstellers aus dem Geist der Diaspora 1 Die Frage der Zugehörigkeit des Schriftstellers – Konstrukte des dominanten Diskurses Es ist kein einseitiger Blick des Schriftstellers auf die jüdische Minderheit, der seine Bemühungen um die jüdische Existenz prägt. An seine Beschäftigung mit der jüdischen Thematik ist häufig eine Analyse von Minderheit und Mehrheitsgesellschaft gebunden, stehen diese doch, aus der kultursoziologischen Perspektive Heines heraus, stets in Beziehung zueinander. Indem Heine die jüdische Minderheit ins Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft setzt, stellt er auch die Abschirmung des Eigenraums jüdischen Selbstverständnisses in der Diaspora in Frage, sind in seinem Werk Eigen- und Fremdräume soweit miteinander vernetzt, dass eine identitätsstiftende Trennung dieser Räume, wie sie auch vom nationalen Diskurs vorgenommen wird, erschwert ist.¹ Die vom nationalen d. h. dominanten Diskurs aufgestellte Dichotomie² von „fremd/eigen“ ist in den Texten Heines verwischt und zeugt damit von einer Offenheit des Schriftstellers bezüglich kultureller Identität, die nicht zuletzt „durch die Distanz zu Eigen- wie Fremdräumen [erworben wird]. Er erreicht damit […] eine interkulturelle Metaebene, die ihm die prinzipielle Fähigkeit zum interkulturellen Dialog eröffnet.“³ Die jüdische Minderheit immer im Verhältnis zur oder im Dialog mit der Mehrheitsgesellschaft zu sehen, die Notwendigkeit ihrer politischen und gesellschaftlichen Emanzipation bedingungslos einzufordern, sie als gleichberechtigten Teil in die Mitte der Gesellschaft zu holen − diese Sichtweise hat Auswirkungen auf das Selbstverständnis Heines als Schriftsteller.⁴ Dabei wird Heine in diesem Selbstverständnis immer wieder von Teilen deutscher Intellektueller abgelehnt, wird selbst in seinem Verständnis von Emanzipation als universalem Prozess, den nicht allein die jüdische Minderheit sondern die Gesamtgesellschaft zu
1 Vgl. Ramin, Raumorientierung, S. 198. 2 „Die Nation konstituiert sich durch Ausschluß des […] Anderen, durch spezifische Blindheit gegenüber dessen Eigenheiten, die nur vermittels einer vereinnahmenden Semantik der bedrohlichen Fremdheit, des faszinierenden Exotismus, der nostalgisch projizierten Authentizität in den Blick treten kann.“ Siehe Bronfen, Kulturen, S. 5. 3 Ramin, Raumorientierung, S. 203f. 4 Vgl. Jasper, Parnass, S. 167.
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leisten hat, auch von jüdischer Seite zurückgewiesen. Doch wie auch der Wandel des jüdischen Selbstverständnisses seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine wesentliche Projektionsfläche seines Schreibens bietet − der Emanzipations- und Akkulturationsprozess überhaupt erst die Voraussetzung dafür schafft, dass die deutsche Literatur die Werke Heines zu den ihren zählen kann − ist die Auseinandersetzung mit den politischen und sozialen Ordnungssystemen der Mehrheitsgesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für das Schreiben Heines maßgeblich. Heine kann nicht mehr eindeutig einer kulturellen Identität zugeordnet werden. Sein Schreiben ist nie nur jüdisch, ist nie nur deutsch.⁵ In seinem Schreiben ist vielmehr jenes Phänomen kultureller Hybridität konkretisiert,⁶ wonach die Existenz als Marginalisierter an kein in sich geschlossenes System gebunden ist, wonach der Fortbestand der marginalisierten Gruppe von dauernden Grenzüberschreitungen und Vermischungen mit dem Umfeld geprägt ist, nicht von undurchlässiger Separation und Isolation. Aus diesem Verständnis heraus kann auch Diaspora nicht mehr als abgeschlossenes Konzept von Heimat in der Fremde definiert werden.⁷ Mit dem Schreiben Heines wird der intellektuelle Diskurs der Mehrheitsgesellschaft, der das antijüdische Ressentiment auch im 19. Jahrhundert kräftig pflegt, mit einer: Gegenstimme [konfrontiert], die nicht mit eindeutiger Sicherheit als die authentische Stimme des fremden, unterlegenen Anderen [sprich der jüdischen Minderheit, Anm. d. Verf.] identifiziert werden kann. Diese Uneindeutigkeit verweist auf die grundlegende Arbeitsweise von Kultur, die jede Vorstellung von Homogenität, Authentizität und Essentialismus als unmöglich zurückweist. Der Nimbus kultureller Abgeschlossenheit und Überlegenheit hat daher außer der ideologischen keine weiteren Grundlagen.⁸
5 Vgl. Jasper, Parnass, S. 169. 6 Vgl. hierzu zusammenfassend den Begriff „kulturelle Hybridität“ in Bronfen, Kulturen, S. 14: „Hybrid ist alles, was sich einer Vermischung von Traditionslinien oder von Signifikantenketten verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Techniken verknüpft […]. In solcherart hybridisierten Kulturen kann nationale Identität bestenfalls noch eine unter vielen sein.“ Dabei darf kulturelle Hybridität nicht als „das freie Spiel von Polaritäten und Pluralitäten in der homogenen leeren Zeit der nationalen Gemeinschaft verstanden werden“ (Homi K. Bhabha: DissemiNation. Zeit, Narrative und die Ränder der modernen Nation. In: Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen 1997. S. 182). Ihr bindet sich vielmehr kulturelle Differenz ein, jener „Widerstreit von Bedeutungen und Werten, der im Prozeß kultureller Interpretation erzeugt wird […] und ein Ergebnis der perplexen Lebensverhältnisse in den liminalen Räumen der nationalen Gesellschaft [ist] […]“ (Bhabha, DissemiNation, S. 182). 7 Vgl. Witte, Tradition, S. 13. 8 Nghi, Hype, S. 94.
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Heines Schreiben exemplifiziert diese Uneindeutigkeit. Es unterläuft den religiös motivierten Separationsgedanken der jüdischen Minderheit, ist jedoch auch gegen den Nationalismus des 19. Jahrhunderts gewandt, der dem Konstrukt kultureller Abgeschlossenheit und Überlegenheit verfällt. Das Artifizielle in „der dualistische[n] wie statische[n] Unterscheidungen wie das Eigene/das Andere, innen/außen […]“⁹ in den Diskursen um Mehrheiten und Minderheiten tritt mit Blick auf die Diskussion um die Rechtmäßigkeit des Anspruchs Heines auf das Schriftstelleramt klar hervor. Dichtertum und Judentum werden im nationalistischen Diskurs der dominanten Kultur zum unüberwindbaren Gegensatz aufgebaut. Gerade in der deutschen Rezeptionsgeschichte der Heineschen Schriften ist das Konstruierte dieses Diskurses bezüglich des Dualismus von „fremd“ und „eigen“ offenbar, ein Dualismus, der immer wieder aufgebaut wird im Sinne eines versuchten Ausschlusses des Schriftstellers aus der deutschen Literatur.¹⁰ Dem Dualismus von „fremd“ und „eigen“ ist in der Rezeption Heines ein im nationalistisch/antijüdischen Diskurs als unüberwindlich konnotierter Gegensatz von „Jude“ und „deutscher Dichter“ eingebunden.¹¹ Der Begriff „Jude“ ist in diesem Gegensatzpaar Ausdruck jenes Stereotypen des antijüdischen Vorurteils, den Heine mit Blick auf Shakespeares Shylock zu demontieren versucht: Der ‚Jude‘ wurde geächtet; ihm kam in der christlichen Umwelt, die ihn umgab, ein ‚Paria‘Status zu. Im Rahmen solcher Tradition auf Heines ‚Judsein‘ zu bestehen, heißt, durch Emanzipation, Akkulturation und Aufklärung hindurch die Ächtung und Ausgrenzung, die dieser ‚Name‘ beinhaltet, noch aufrechterhalten zu wollen. Es heißt – wie schon seit Jahrhunderten im christlichen Abendland mit dem ‚Juden‘ geschehen −, ein Zerrbild des ‚Juden‘ Heine als ein abzuwehrendes Anderes hinstellen wollen, ihn, mit anderen Worten, zu ‚verteufeln‘.¹²
Heine, der dem Stereotypen des dämonischen Juden in Shakespeares Mädchen und Frauen ein menschliches Antlitz schafft, erfährt durch den nationalistisch/ antijüdischen Diskurs der Mehrheitsgesellschaft selbst eine Dämonisierung.¹³ Er wird jedoch im Blick der antijüdischen, später antisemitischen Gegner nicht als Geschöpf gezeichnet, das sich sogleich durch äußere und innere Missgestalt verrät. Heine ist in der antijüdischen Darstellung ein weit gefährlicherer „Dämon“ als Shylock, da er sein nichtjüdisches Umfeld durch seine Sprache zu verführen mag, die „auch das Niederträchtige und Ekelhafte verlockend erschei-
9 Nghi, Hype, S. 88. 10 Zur Rezeptionsgeschichte unter diesem Blickpunkt vgl. Jasper, Parnass, S. 183ff. 11 Vgl. Peters, Wunde, S. 63. 12 Peters, Wunde, S. 64. 13 Vgl. Peters, Wunde, S. 75.
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nen lässt“.¹⁴ Die Sprache Heines ist es denn auch, so der Argumentationsgang, die ihn als „Jude“ kennzeichne und über die der Ausschluss des Schriftstellers aus der deutschen Literatur zu rechtfertigen sei. Die Sprache des „Juden“ sei die Sprache der Verstellung, der „unergründlichen Hinterhältigkeit“¹⁵. Demzufolge könne die Dichtersprache Heines nur eine anempfundene, unechte und unorginelle sein, da ihm „das genuin deutsche Empfinden, die genuine Schöpferkraft versagt gewesen sei“¹⁶. In seiner Veröffentlichung Die Wunde Heines weist Paul Peters auf das Konstrukthafte der Argumentation des nationalistischen/antijüdischen Diskurses hin: Der Antisemitismus erschafft den ‚Juden‘ [Figuration des jüdischen Ressentiments, Anm. d. Verf.]. Sartres These trifft vielleicht nirgends so zu wie im Fall Heines: der Dichter wird, in antisemitischer Darstellung, wiederholt zum Gegenstand einer doppelten Projektion. Erstens wird ‚Heine‘ so zurechtgebogen, daß er zum Archetyp des ‚Juden‘ wird, wie der Antisemitismus ihn erschuf; in einem zweiten Schritt wird dann all das auf Heine projiziert, was, nach der antisemitischen Lehre, dem ‚Juden‘ an Bösem und Bedrohlichem zukommt. Dies geschieht wiederum an zwei Fronten: Leben und Werk. Nirgends entfachten HeineGegner eine solche dämonische Energie wie bei der Umdichtung von Heines Biographie. Denn galt, nach der damaligen Auffassung, das Werk als der genaue Abdruck des ‚Dichterlebens‘, so war das beste Mittel, das Werk zu treffen, die Destruktion des ‚Lebens‘.¹⁷
Die Strategie der Abwehr Heines als eines deutschen Schriftstellers ist im nationalistisch/antijüdischen Diskurs des 19. und 20. Jahrhunderts mit der Umschreibung seiner Biographie verfestigt.¹⁸ Die manipulierte Biographie zeigt den Autor nun als einem Bereich zugehörig: […] der jenseits der Grenzen ernst zunehmender, gleichberechtigt ‚mitredender‘ Äußerung liegt. Neben den Kategorien des ‚menschlichen‘, des ästhetischen oder politischen Diskurses schafft der Antisemit nämlich eine vierte: die des ‚jüdischen‘, die nun Heines ganzen Äußerungsbereich umfaßt und diesen, als wesentlich pariahaften, dann ausschaltet. Der ‚Jude‘ verhält sich nicht nur in der Wirtschaft, er verhält sich in jedem Bereich menschlicher Äußerung als Parasit. So ist seine Äußerung nicht in erster Linie als menschlich, politisch oder ästhetisch, sondern schlechterdings als parasitär zu verstehen.¹⁹
14 Heinrich von Treitschke: Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 1927. Zit. n. Peters, Wunde, S. 75. 15 Peters, Wunde, S. 71. 16 Peters, Wunde, S. 75. 17 Peters, Wunde, S. 75. 18 Peters, Wunde, S. 83f. 19 Peters, Wunde, S. 85.
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Dieser Blick auf den nationalistisch/antijüdischen Diskurs, wie er gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entfaltet ist, dessen Strategien sich jedoch in der bereits zu Heines Lebzeiten geführten Diskussion um seine Zugehörigkeit zum deutschen Literaturkanon²⁰ auszubilden beginnen,²¹ zeigt nicht allein das Konstrukthafte der Argumentation, die gegen Heine gewendet ist. Das Artifizielle der Argumentation kommt auch in der Abhängigkeit der Argumentation von den zeitgenössischen Diskursen zum Ausdruck. Es zeigt sich, dass die antijüdische, später antisemitische Argumentation einer ähnlichen Säkularisierung unterliegt, wie sie etwa dem innerjüdischen Diskurs um die moderne jüdische Existenz inhärent ist. So entfernt sich der Antijudaismus mehr und mehr von religiös motivierten Argumentationszusammenhängen gegen die jüdische Minderheit, nutzt vielmehr Erkenntnisse der aufstrebenden Geistes- und Naturwissenschaften, um ihre Strategie des Ausschlusses argumentativ zu füttern. Nicht allein das Selbstverständnis Heines als eines deutschen Schriftstellers ist von den Säkularisierungstendenzen des 19. Jahrhunderts geprägt, auch seine Gegner sind Kinder dieses Zeitgeistes.
20 Zum Begriff des Kanons bemerkt Wilfried Barner mit Blick auf das Phänomen des Traditionswandels: „Kanonbildung wird sich in der Regel nicht ‚egalitär‘ vollziehen, sondern mit zentralen und weniger zentralen, mit Leittexten und mit nachgeordneten Texten, die in der Traditionsgeschichte unter bestimmten Bedingungen auch ‚aufsteigen‘ oder in die Apokryphen absinken können. Nur mit Hilfe solcher interner Hierarchisierungen, die im Prinzip ständig durch externe Einwirkungen in Frage gestellt sein mögen, ist überhaupt Traditionswandel denkbar: mit den beiden Grundtypen Traditionsumbau und Traditionsbruch und mit zahllosen Mischformen.“ [Barner, Einleitung, S. XI.] Die vom dominanten Diskurs gepflegte Vorstellung eines sich abgrenzenden und in sich geschlossenen Literaturkanons erweist sich damit als falsch. Kanonbildung ist vielmehr das Ergebnis eines fließenden, von zeitgenössischen Werturteilen abhängigen Prozesses, womit die Frage nach der Zugehörigkeit Heines zu diesem Kanon eines durch Ressentiment gefärbten Urteils nicht objektiv beantwortet werden kann. 21 Hohendahl, der vier Aspekte der Heine-Kritik herausarbeitet − „(1) die Bestimmung der literarischen Tradition Heines in die deutsche Literaturgeschichte, (2) die Definition der nationalen Kulturidentität, genauer um die Frage der Zugehörigkeit Heines zur deutschen Kulturnation, (3) die ethnische Bestimmung der deutschen Kultur und Literatur, im besonderen um die Frage, ob ein jüdischer Autor wie Heinrich Heine das deutsche Volk kulturell repräsentieren darf, und (4) den Gesichtspunkt des Klassenkampfes […]“ [Hohendahl, Schriftsteller, S. 187f.] – verweist bezüglich des ethnisch-rassistischen Diskurses der Heine-Kritik auf „eine lange Tradition, die bis in die dreißiger Jahre zu¬rückreicht. Christlichkonservative Stimmen sahen in der jüdischen Emanzipation, die Heine wie auch Börne repräsentierten, eine Gefahr und reagierten mit Diskriminierung. Was die antisemitische Heine Kritik der Jahrhundertwende [1900] von den anti-jüdischen Äußerungen des Vormärz unterscheidet, ist ihre argumentative Begründung und vor allem ihre gesellschaftliche Funktion.“ [Hohendahl, Schriftsteller, S. 192.]
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2 Abwertung, Abgeschlossenheit, Überlegenheit – Strategien des nationalen und antijüdischen Lagers gegen Heine 2.1 Charakterlosigkeit – Abwehr durch die jüdische Emanzipationsbewegung Das Echo der in Kapitel IV beschriebenen Kritik Heines an der jüdischen Emanzipationsbewegung hallt weithin vernehmlich durch die Reihen politisch engagierter, akkulturierter Juden in den deutschen Staaten. Heine wird als „Nestbeschmutzer“ der jüdischen Emanzipations- und deutschnationalen Bewegung beschimpft und seine Positionierung als deutscher Autor mit dem Verweis auf mangelnden Charakter anzufechten versucht. Die Warnung vor einem einseitigen jüdischen Bemühen um gesellschaftliche Gleichstellung, die, unzureichend und unüberlegt betrieben, nicht den Schutz, sondern die Auflösung jüdischen Lebens in den deutschen Staaten bedeuten würde, wird in den Schriften Heines so engagiert ausgesprochen, dass der Schriftsteller durch den Wortführer der jüdischen Emanzipationsbewegung²², Gabriel Riesser, offiziell ausgeschlossen wird: Ich [Gabriel Riesser, Anm. d. Verf.] bin hier [in den Jüdischen Literaturbriefen, Anm. d. Verf.] genötigt, der Zeitfolge wegen, mit mir selbst zu beginnen, da ich, so viel ich weiß, der Erste war, der, schon vor mehr als sechs Jahren, sich in ganz ähnlich abwehrender Weise wie jetzt im Sinne und Geist der Juden über Heine geäußert hat. […] Meine Erörterung beschränkte sich auf die Nachweisung, daß Heine mit den Juden und die Juden mit ihm nichts zu schaffen haben. […] Das einzige Wort des Lobes, das darin über Heine vorkommt, besteht in Folgendem: ‚unverzeihliches Unrecht gegen seinen Geist wie gegen seinen Charakter‘.[…] Der Egoismus mag kalt, leichtfertig, spottend, frivol sein; das Mitgefühl ist warm und ernst. Hier ist der Punkt, welcher uns, die Vertreter der Sache der Juden, so unendlich weit von Heine trennt, daß kaum im ganzen Gebiet der Literatur sich stärkere Kontraste finden mögen, als er und wir.²³
Riesser, welcher sich an dieser Stelle rühmt, der erste Richter Heines auf Seiten der jüdischen Intellektuellen zu sein, nimmt eine repräsentative Rolle im Kampf der Nationalliberalen gegen den Dichter ein. Der deutsche Nationalliberalismus formiert sich im Zuge der Napoleonischen Befreiungskriege zu Beginn des 19. Jahrhunderts und tritt für einen konstitutionell geformten, demokratisch agierenden vereinten deutschen Staat ein.²⁴ Säkulare Juden, wie Riesser in die
22 Vgl. B VIII, S. 681. 23 Vgl. B VIII, S. 680f. 24 Vgl. B VIII, S. 682.
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Mehrheitsgesellschaft akkulturiert, sind in der nationalliberalen Bewegung von Anbeginn an überproportional präsent, da sie im politischen Engagement ihren Enthusiasmus und ihre Treue für die „deutsche Sache“ Ausdruck verleihen können.²⁵ Literarisch sind die Ziele der politischen Bewegung in der Gruppe des Jungen Deutschlands zum Ausdruck gebracht, welcher Heine zeitweise zugerechnet wird, von der er sich im Laufe ihres Wirkens allerdings mehr und mehr distanziert. „Tendenzpoesie“²⁶ sei die literarische Bewegung des Jungen Deutschlands, höhnt der Schriftsteller und missbilligt den einseitig nationalen Kurs der Autoren mit jenem chauvinistischen Unterton.²⁷ Wie die literarische wird auch die politische Strömung des Nationalliberalismus von Heine als zu beschränkt für die politische Neugestaltung Deutschlands und Europas eingeschätzt. Desgleichen sieht er das Gelingen der jüdischen Emanzipationsbewegung durch die erstarkende nationalistische Bewegung auch im konservativen Lager der Restaurationsanhänger, dieser „schwarze[n] Sekte, die von Deutschheit, Volkstum und Ureichelfraßtum die närrischsten Träume ausheckte und durch noch närrischere Mittel auszuführen dachte“²⁸, gefährdet. Wird der deutsche Nationalliberalismus von Heine als gefährlich für die Emanzipation beurteilt, gilt dies auch umgekehrt für die Einschätzung des Dichters durch seine Gegner. Die Bewegung steht in Opposition zu Heines universalen Gedanken der Gleichberechtigung, verwirft diesen als Verrat am Kern des Nationalliberalismus − „am innigen Deutschtum nämlich“²⁹ − und bezeichnet die Position Heines als „kosmopolitische Frivolität“³⁰. In den Augen der jüdischen Anhänger der nationalliberalen Bewegung bietet nicht der Kosmopolitismus, mit seiner Einschätzung des angestrebten Nationalstaates als historisch überholt, die Durchsetzung und Gewährleistung der Bürgerrechte für die Minderheit.³¹ Allein in den Grenzen eines vereinten Deutschlands sei der sichere Fortgang der
25 Vgl. Volkov, Projekt, S. 173f. 26 DHA X, S. 327. 27 Vgl. Hauschild, Heine, S. 105. – Zu Heines Positionierung zum Mythos „Nation“ vgl. Stefan Neuhaus: Dekonstruktion nationaler Mythologeme. Heinrich Heine und Deutschland. In: HJb 41 (2002). S. 1–17. 28 B III, S. 634. 29 B VIII, S. 682. 30 B VIII, S. 683. 31 Zum Kosmopolitismus vgl. ausführlicher Kapitel VI.4.2 und Kapitel VI.4.3.
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jüdischen Emanzipation gewährleistet und sei die Gewissheit gegeben, Teil der deutschen Nation³² zu sein.³³ Die Abwehr der Heineschen Argumentation geht dabei soweit, dass zum Schutz der eigenen nationalistisch verzerrten Emanzipationsideologie³⁴ antijüdisch gefärbten Äußerungen über Heine aufgenommen werden. In dem bereits zitierten Jüdischen Literaturbrief Riessers wird das Interesse der jüdischen Emanzipationsbewegung nicht nur konträr zu den Ansichten Heines gesetzt und die Sache der Juden von Heine getrennt. In einem weiteren Schritt der Argumentation gegen Heine spricht Riesser dem Schriftsteller eine tiefergehende poetische Begabung ab. Mit dem Vorwurf, Heines Schreiben sei von plakativem Charakter und würde allein zur Selbstdarstellung betrieben, findet sich Riesser in einer Reihe von Aussagen, unter denen sich auch antisemitisch gefärbte Reaktionen finden, wie etwa die des Redakteurs Gustav Pfizer:³⁵ „Es liegt der Punkt in jener Selbstsucht des Talents, die auch Herr Pfizer, wie viele andere vor ihm, mit Recht an Heine gerügt hat. Seine glänzende Fähigkeit steht für sich allein da, um seinen Witz, seine seltene Gewandtheit der Rede an ihnen zu üben; er dient nicht der Sache, die er behandelt, er will sie nur seinem Talente dienstbar machen […].“³⁶ Die Einschätzung Riessers, die in ihrer Gesamtheit Ausdruck der Verquickung von Antijudaismus und jüdischer Emanzipationsführung, Germanophilie und konstitutioneller Opposition³⁷ im Bündnis gegen Heines „kosmopolitische 32 Die Kulturwissenschaft zeigt am Fall des Konzepts Nation, dass „kollektive Identitäten keine naturwüchsigen oder metaphysischen Gegebenheiten sind, sondern daß sie spezifische kulturelle Konstitutionsbedingungen haben. […] Die Nation kann […] als imaginäre Gemeinschaft verstanden werden. Es handelt sich um eine phantasmatische Konstruktion, die auf ein fundamentales Begehren nach Sinn und Kohärenz reagiert. […] Das Konzept der Nation in Frage zu stellen bedeutet [jedoch] nicht, kollektive Identität überhaupt als unnötig abzutun“ (Bronfen, Kulturen, S. 2f.). – Zum postmodernen Nationenbegriff vgl. ausführlich Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. 2. Aufl. Frankfurt a. M./New York 2005; Eric J. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. – Natürlich ist in diesem Sinne auch das Konzept des Kosmopolitismus als Konzept, Konstrukt pluralistisch angelegter Diskurse zu verstehen. 33 Vgl. B VIII, S. 682. 34 Vgl. B VIII, S. 683. 35 Vgl. B VIII, S. 682; Gustav Pfizer in Heines Schriften und Tendenzen. In: Deutsche ViertelJahrsschrift 1 (1838). Zit. in B XII, S. 463f. – Der im Kommentar Brieglebs zitierte Ausschnitt aus der antisemitischen Polemik Pfizers richtet sich nicht allein gegen Heine. Es wird die gesamte jüdische Emanzipationsbewegung angegriffen. Der Ausschluss Heines aus der jüdischen Emanzipationsbewegung durch Riesser kann als direkte Reaktion auf die Polemik Pfizers gelesen werden. 36 B VIII, S. 680. 37 Vgl. B VIII, S. 682.
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Frivolität“ bedeutet, erteilt nicht nur der politischen Überzeugung Heinrich Heines eine Absage. Die Missbilligung ist eine doppelte, trifft sie doch neben dem politischen Engagement auch den Anspruch Heines auf das Schriftstelleramt. Die Wertung Riessers kann als das Muster in den Beurteilungen Heines durch seine Kritiker gelesen werden – eines Musters, dessen sich sowohl auf jüdischer als auch auf nichtjüdischer Seite bedient wird:³⁸ Der Vorwurf des Verrats an Deutschland und „der Sache der Juden“ bei gleichzeitiger Diskreditierung der dichterischen Begabung Heines wird zum Mechanismus der Abwehr und des versuchten Ausschlusses aus dem Umfeld der jüdischen Emanzipationsbewegung und der Nationalliberalen. Dieses Argument in der Debatte um Heine ist auf seinen Zeitgenossen Ludwig Börne zurückzuführen, jener andere Zeitschriftsteller mit jüdischem Hintergrund und jenes radikalere alter ego Heines. Heine selbst nennt den Autor in Ludwig Börne. Eine Denkschrift als Urheber jener […] Distinktion zwischen Charakter und Dichter […] und er hatte selber schon allen jenen schnöden Forderungen vorgearbeitet, die seine Anhänger später gegen den Schreiber dieser Blätter abhaspelten. In den Pariser Briefen und den erwähnten Artikeln des Réformateurs wird bereits von meinem charakterlosen Poetentum hinlänglich gezüngelt, und es winden und krümmen sich dort die giftigsten Insinuationen. Nicht mit bestimmten Worten, aber mit allerlei Winken werde ich hier der zweideutigsten Gesinnungen verdächtigt! Ich werde in derselben Weise nicht bloß des Indifferentismus, sondern auch des Widerspruchs mit mir selber bezüchtigt.³⁹
Nicht allein das Fünfte Buch in Ludwig Börne. Eine Denkschrift, das konzentriert auf die Vorwürfe des Widersachers anlässlich der Veröffentlichung von Heines De l’Allemagne antwortet,⁴⁰ der gesamte Text steht unter dem Zeichen der Auseinandersetzung mit dem Widersacher der Pariser Exilzeit.⁴¹ Wie in Kapitel VI.4 noch ausführlich darzulegen sein wird, antwortet Heine seinerseits auf die Diskreditierung mit dem Versuch einer Demontage des nationalliberalen Schriftstellers Börne. Während Börne in seiner Kampagne gegen Heine dem Widersacher feh-
38 Vgl. Peters, Wunde, passim. Peters liefert ein umfassendes Bild der antisemitischen HeineKritik in Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts. – Zur Bewertung Heines aus jüdischer Sicht vgl. Itta Shedletzky: Zwischen Stolz und Abneigung. – Zur Heine-Rezeption in der deutschjüdischen Literaturkritik. In: Conditio Judaica. Erster Teil. Hrsg. v. Hans Otto Horch/Horst Denkler. Tübingen 1988. S. 200–213. 39 B VII, S. 131. 40 Vgl. Ludwig Börnes Kritik Über Deutschland, von Heinrich Heine in Hans Magnus Enzensberger (Hrsg.): Ludwig Börne und Heinrich Heine. Ein deutsches Zerwürfnis. Frankfurt a. M. 1997. S. 61ff. 41 Vgl. zur Kritik Börnes auch Kapitel VI.4.3.
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lenden Patriotismus vorwirft, um dann im Zuge der Anspielung auf Charakterlosigkeit und Widersprüchlichkeit des Autors sowohl dessen schriftstellerische Befähigung als auch dessen politisches Urteil in Frage zu stellen, schätzt Heine die Verknüpfung von nationaler Gesinnung und „Charakter“, „als knechtische Hingebung an den Moment, als Mangel an Bildnerruhe, an Kunst“⁴², also als Kennzeichen eines verfehlten Schreibauftrags des politischen engagierten Autors ein. Dass der Einwurf Heines nicht gehört wird, dass er vielmehr in der Empörung über den polemischen Ton Heines, speziell in der Schilderung der Beziehung von Börne zu Jeanette Wohl, untergeht (untergehen muss), zeigt der hartnäckige Fortbestand jenes Vorwurfs der Charakterlosigkeit und Abwertung des Schriftstellers bis in das 20. Jahrhundert hinein.⁴³ Über die Lebzeiten Heines hinaus wird seiner Kritik sowohl an der realen jüdischen Emanzipationsbewegung als auch am stetigen Wachsen des deutschen Nationalismus nicht objektiv begegnet. Statt die provokativen Schriften Heines mit sachlicher Argumentation abzuwehren, werden den politischen Aussagen die plumpen Vorwürfe des Indifferentismus und der Frivolität entgegengehalten, wird seine Berufung als Schriftsteller auch von Seiten der Minderheit in Zweifel gezogen.
2.2 Jüdischer Vaterlandsverräter – Ausschluss durch die Nationalisten Die nichtjüdischen Kreise der nationalliberalen⁴⁴ Bewegung zeigen eine ähnliche Reaktion. Verrat am Vaterland eines nicht ausgereiften oder verirrten Dichters ist der Tenor seiner Gegner. Mit seiner Veröffentlichung Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland fordert Heine nicht nur die scharfe Kritik Börnes 42 B VII, S. 130. 43 Vgl. Peters, Wunde, S. 119–153. 44 Zur Definition des Liberalismus und der liberalen Bewegung im Werk Heines: „Für ihn [Heine] ist der Begriff ‚liberal‘ […] immer schon mehr als nur eine Bestimmung des vormärzlichen Schriftstellers. Es ist Bestandteil einer bestimmten Lebenshaltung, in der Genuß, Sinnlichkeit, Körperlichkeit […] und politisch-schriftstellerische Freiheit miteinander in Einklang stehen. Zum Gegenbild für diesen weltoffenen ‚französischen Liberalismus‘ […] wird schon früh der ‚preußische Liberalismus‘. Der preußische Liberalismus ist in Heines Augen deshalb so gefährlich, weil er die oppositionellen Rufe nach nationaler Einheit und Verfassung zu adaptieren versteht und aus ihnen Kampfbegriffe eines christlich verbrämten Nationalismus macht. Liberalismus, losgelöst von konkreten Freiheitsforderungen verkommt so zu heuchlerischem Pathos.“ Siehe Alexander Berger: Heine und seine Zeitgenossen. Strömungen und Auseinandersetzungen im deutschen Liberalismus des Vormärz. In: „Die Emanzipation des Volkes war die große Aufgabe unseres Lebens“. Beiträge zur Heinrich-Heine-Forschung anläßlich seines 200. Geburtstags. Hrsg. v. Wolfgang Beutin [u. a.]. Hamburg 2000. S. 274.
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heraus. Das Thema des Essays − die deutsche Religions- und Philosophiegeschichte − bemüht einen vielstimmigen Chor deutschnationaler Kritiker nichtjüdischer Kreise, welche die bekannten Vorwürfe der Indifferenz, der Oberflächlichkeit, der Unreife, des Unverstands und der Sittenlosigkeit über den Texten Heines ausschütten.⁴⁵ Die Rezension des Schriftstellers und Kritikers Alexander Jung im Literarischen Zodiacus. Journal für Zeit und Leben, Wissenschaft und Kunst vom Juli 1835 ist beispielhaft für die Ambivalenz in den Urteilen. Zunächst wird der bekannte Mechanismus der Abwehr in Gang gesetzt. Dem ironisch gehaltenen Essay Heines wird der Vorwurf des Vaterlandverrats entgegen gehalten, versehen mit der Schelte der Unlauterkeit − nicht ohne einen Seitenhieb auf die jüdische Abstammung des Autors: Welcher Deutsche hätte nicht einen Krieg auf dem Herzen gegen Heine und gegen alle, welche ähnliche Frevel an dem Vaterlande begehen! Wer fühlte sich nicht aufs heiligste gedrungen, Einsprache zu tun gegen eine solche Sprache des Übermuts und der Schadenfreude, der Paradoxenjagd und der gottlosesten Schöngeistigkeit! – Und wem denn nun wirklich derartiges nicht im geringsten verdrießlich ist, wer in dem unaufhörlichem Haschen nach witzigen Antithesen und Kokettieren mit französischer Leichtigkeit und Weltkälte vollen Ersatz findet, dem müsste man wirklich Rat geben, noch einmal sein Interesse für das rein Menschliche, für das, was in allen Wegen das Rechte und Ewige ist, zu prüfen. […] Herr Heine ist gegenwärtig bei den Franzosen zu Gast. – […] Und wie nun Herr Heine einer stets so offenen Tafel, einer solchen, nur Franzosen möglichen Gastfreundschaft sich würdig zu zeigen weiß, wie er nicht selten in Kreisen der feinsten Konversation die Aufmerksamkeit spannt, als dieser junge, der Sage nach – Deutsche, der mit echt französischen Witz seine Landsleute lächerlich machen versteht […].⁴⁶
45 „Für den Kampf selbst im Großen ist ein Heine nicht geeignet. Er ist dazu nicht massiv und systematisch genug. >}@ Es macht ihm Spaß, die Geheimnisse fremder Überzeugungen zu profanieren; doch tut ihm wieder leid, was er tut. >}@ Er will nur hinter den Spiegel stecken, als Schreck, als Drohung, mit der Gebärde dessen, wie er sein könnte, wenn er wollte. Stil und Witz gedeihen bei dieser Indifferenz vortrefflich.“ Siehe Karl Gutzkow in Phönix vom 11. März 1835. Zit. n. B VI, S. 919. − „Witz, Ironie, Satire >}@ werden aber zu den verderblichsten Kräften, wenn der für sie nötige Zentralpunkt, reelle Kenntnis und Vernunft, entweder gar nicht vorhanden oder aus irgend welcher Absicht aufgehoben ist. Diese Wahrheit findet bei Hrn. Heine die eklatanteste Bestätigung. Er besitzt jene Attribute in einem vorzüglichen Grade, verbindet mit ihnen ein gutes Maß von Dreistigkeit, sie zu gebrauchen, und hat die Form dieses Gebrauchs völlig in seiner Gewalt; aber es fehlen die Kenntnisse, um der Form einen Inhalt zu geben; es mangelt endlich an der gewöhnlichen Begleiterin dieser Vernunft, an eigner persönlicher Würde und Sittlichkeit: was Wunder, wenn man von einem Schriftsteller dieser Art mit Verachtung redet?“ Siehe Rezension von Heines Salon II in: Blätter für literarische Unterhaltung Nr. 109 vom 19. April 1835. Zit. n. B VI, S. 920. 46 B VI, S. 930f.
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Zunächst ist zu bemerken, dass Verrat am Vaterland nicht allein dem Autor unterstellt wird. Auch diejenigen unter den Lesern und Rezensenten, welche die Arbeiten Heines begeistert aufnehmen und als innovative Kraft der deutschen Literatur preisen, werden der Treulosigkeit gegenüber dem Menschlichen und Ernsthaften − hier gleichzusetzen mit dem Deutschen − bezichtigt. Die Strategie der Abgeschlossenheit nationalistischer Ideologie unterstreicht darüber hinaus die Franzosenfeindlichkeit, sprich die Fremdenfeindlichkeit, der Rezension. So wird dem zur Zeit der Publikation in Paris lebenden und wirkenden Heine oberflächliche Gefallsucht den Franzosen gegenüber attestiert, um die persönliche Position im Exil zu verbessern. Es wird also mit Blick auf die Lebenssituation des Schriftstellers der Vorwurf der Unlauterkeit seiner Kritik in den Raum gestellt. Des Weiteren muss die doppeldeutige Bemerkung bezüglich der Abstammung Heines, jenes „[d]er junge, der Sage nach – Deutsche“, als abwertender Verweis auf die jüdische Herkunft des Dichters gelesen werden. Der Kritik des Schriftstellers an den deutschen Verhältnissen wird in nichtjüdischen Kreisen, wie die Rezension Jungs zeigt, das antijüdische Ressentiment als Bestandteil der Abwehrstrategie entgegengesetzt. Mehr oder weniger subtil wird hier, um die eigene Argumentation zu stärken, der Zweifel an der deutschen Gesinnung Heines mit dessen jüdischer Herkunft verknüpft. Im weiteren Verlauf der Rezension gewinnt der antijüdische Ton an Schärfe. So wird, anspielend auf die Exilsituation Heines, das Bild vom ewig wandernden, heimatlosen und ausgeschlossenen Juden bemüht: Diese Art Menschen, wahre Schmarotzergeschöpfe ihres Geschlechts, mit unendlicher Gefallsucht, mit unendlichem Eigendünkel, welche ihrem Vaterland längst den Korb gegeben, bleiben zuletzt doch noch sitzen, und werden mit ihrer pretiösen Koketterie wie alte Jungfern behandelt aus dem Wege geschoben. Dann heißt es: ihre Zeit ist vorüber. Das Vaterland betrachtet sie als Ausgestoßene, das Ausland als Heimatlose, und es ist die Strafe der beleidigten Menschheit, welche sie zu ewiger Wanderschaft verdammt.⁴⁷
Den Mechanismus der Abwehr um den Verweis auf die jüdische Abstammung des Schriftstellers zu erweitern, bedeutet jedoch, ihn brauchbar zu machen für antijüdisch motivierte Aktionen gegen Heine. Das Motiv des Anempfundenen und des Unechten, der Tadel des Fehlens genuin deutscher Empfindung, dem die Texte Heines durch den Antisemiten Treitschke dann am Ende des 19. Jahrhunderts ausgesetzt sind,⁴⁸ klingen bereits 1835 in den Äußerungen Alexander Jungs an, wenn er im herablassenden Ton bemerkt: „Du hast Dich groß gesogen und gezogen an Deutschlands edelsten Geistern, die Tiefe ihres Gemüts, die 47 B VI, S. 931f. 48 Vgl. Peters, Wunde, S. 75. – Zur Rezeption durch Treitschke vgl. auch Hohendahl, Heine, S. 190f.
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Schärfe ihres Verstandes befällt Dich so oft − man sollte meinen, wie im Schlaf, nach jenen Nächten, die Du in den Boudoirs Deines religiösen Freuden-Kultus durchgeschäkert […].“⁴⁹ Die Tiefe des Gemüts in den Gedichten, die Schärfe des Verstands in den Essays Heines gründet, so Jung, nicht in ihrem Verfasser, sie ist bloß Abbild einer rezipierten literarischen Tradition. Was die antijüdisch gefärbte Kritik Jungs und die offene antisemitische Schmutztirade Treitschkes noch enger aneinander bindet, ist die letztendlich ambivalente Haltung ihres Urteils über Heine. Beide stigmatisieren dessen Werk als Ausdruck eines anempfundenen und gekünstelten Schreibens. Doch scheint es, als könnten sie sich dem Schriftsteller Heine nicht vollends entziehen, denn sie lassen keinen Zweifel an der innovativen Kraft des Lyrikers Heine.⁵⁰ So wird der Mechanismus der Abwehr unter Verweis auf die jüdische Abstammung des Schriftstellers von beiden bemüht, setzt sich jedoch nicht durch. Jung beschließt seine Rezension mit einer Huldigung des Dichters, welche die vorangegangene Kritik zurücknimmt und ad absurdum führt: „Es gibt eine Ehrenrettung für Heine […]. Nämlich die – daß man sich überzeugt, Heine müsse in allem bis dahin Vorliegenden seiner Werke nur als Dichter betrachtet und beurteilt werden, als Dichter, wie er in der Tat noch nicht gewesen, wie ihn wohl nicht leicht eine Nation wieder erzeugen wird […].“⁵¹ Statt Ausschluss der Schriften Heines liest man nun von deren Zugehörigkeit zum Kanon der deutschen Literatur. Um dem Leser diese überraschende Wende in der Argumentation schmackhaft zu machen, wird diese Zugehörigkeit begrenzt: Die Wertschätzung gehört nicht dem politischen Essayisten − nur dem Verfasser des Buchs der Lieder gewährt man Anerkennung. In der als partiell beschriebenen Zugehörigkeit Heines zu den deutschen Schriftstellern ist der Umgang nationalistischer Strömungen mit dem schwierigen Autor exemplifiziert. Im Fazit Jungs, dass die Schriften Heines selektiert zu genießen sind als die eines zugleich anerkannten und verworfenen Schriftstellers, äußert sich das Artifizielle in der vom Nationalismus aufgestellten Dichotomie „fremd/eigen“, „außen/innen“: Du hast Weisen angeschlagen auf Deiner Harfe, die Manche nachgelallt und nachgeklimpert, die keiner wieder erreicht, die Wenige verstanden, voll heiligen Tiefsinns, voll höchster Begeisterung, voll süßer Schwärmerei des Volks. […] Aber – Dir fehlt nichts als wieder ein Vaterland, welches doch nur Deutschland sein kann, denn Du bist ein echter Deutscher, wir glaubens Dir nicht, falls Du uns auch verleugnen solltest, ein Deutscher an Tiefe und Schmerz, an Ernst und Weichheit, an Liebe und Adel des Gemüts – Dir fehlt nichts, als das
49 B VI, S. 930. 50 Zu Heinrich von Treitschke vgl. Peters, Wunde, S. 76. 51 B VI, S. 932.
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Christentum, und Du hast dann auch als Mensch gebüßt, was Du als Dichter schon lange gutgemacht hast […].⁵²
Der Dichter wird dringlich aufgefordert, sich nur endlich des nationalen „Kleisters“ von Vaterlandsverklärung und christlicher Religiosität zu bedienen, um den Bruch zu kitten, den er durch kritisch-reflexives Schreiben seinen Schriften und der deutschen Literaturtradition zugefügt hat. Als Mensch, so Jung, hätte der Schriftsteller dann das erlangt, was er als Poet längst erreicht hat: Integration in die Mehrheitsgesellschaft. In der dargestellten Konstrukthaftigkeit der nationalistischen Ideologie, die Heine einerseits jedes Potenzial abspricht, ihn andererseits zu den Granden der deutschen Literatur zählt, äußert sich jene Konfrontation des dominanten Diskurses mit einer Gegenstimme, die nicht mehr per se als das Fremde und Andere identifiziert werden kann.⁵³ Trotz der jüdischen Herkunft des Schriftstellers bleibt er zugehörig, ist sein Werk den Traditionslinien und Diskursen der Mehrheitsgesellschaft eingefügt. Die Vorstellung von Homogenität, Authentizität und Essentialismus von Kultur oder Nation wird durch diese Uneindeutigkeit negiert.
2.3 Sprachliches Unvermögen – Überlegenheitsstrategie der Antisemiten Das Konstruierte einer starren, exklusiven Identitätspolitik narrativer und wissenschaftlicher Diskurse ist exemplifiziert im antisemitisch argumentierenden Widerstand gegen Heine. Die Aberkennung des Sprachvermögens des Schriftstellers, wie sie bereits bei Alexander Jung zu finden ist, wird für den im 19. Jahr52 B VI, S. 933. 53 Zu diesem Phänomen der marginalisierten Stimme aus postmoderner Sicht: Der „[…] supplementäre Raum kultureller Signifikation […] weist eine narrative Struktur auf, die für die politische Rationalität der Moderne charakteristisch ist: die marginale Integration von Individuen in einer repetitiven Bewegung zwischen den Antinomien von Recht und Ordnung. Aus der liminalen Bewegung der Kultur der Nation […] entwickelt sich der Diskurs der Minoritäten. […] Die Minorität bezieht gegenüber dem […] machtvollen Herren-Diskurs nicht einfach dadurch Stellung, daß sie ihm widerspricht oder ihn verneint. […] Indem es selbst in die Referenzbegriffe des dominanten Diskurses eindringt, widersetzt sich das Supplementäre [nach Bhabha Strategie der Einmischung von Seiten der Minorität, Anm. d. Verf.] der diesem innewohnenden Macht, zu verallgemeinern und gesellschaftliche Solidität zu erzeugen. […] Die Kraft des Supplementären besteht nicht in der Negation der bereits in der Vergangenheit oder Gegenwart vorhandenen sozialen Widersprüche, seine Stärke liegt […] im erneuten Aushandeln jener Zeiten, Begriffe und Traditionen, mit denen wir unsere ungewisse, dahingleitende Jetztzeit in die Zeichen der Geschichte verwandeln.“ Siehe Bhabha, DissemiNation, S. 172f.
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hundert rasch wachsenden Antisemitismus zu einem der zentralen Argumente gegen Heine im Besonderen und gegen deutsche Künstler jüdischer Herkunft im Allgemeinen. Die antisemitische Bewegung brüskiert das Selbstverständnis des Schriftstellers anhand rassistischer Sprachtheorie, welche die Missbilligung der Sprache Heines als eine Anempfundene und Unechte systematisch begründen soll. Unterstellt wird, dass Heine im Hinblick auf seine jüdische Abstammung die deutsche Sprache für sein Schaffen weder nutzen kann noch darf. Dabei liegen die Ursprünge der antisemitischen Argumentation im philosophischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts: dem aus der Aufklärung erwachsenden Idealismus. Sie basieren auf Überlegungen Gottfried Johann von Herders (1744–1803) zur allgemeinen Bedeutung der Sprache für die Identitätsfindung eines Volkes.⁵⁴ Herder zufolge gründet jede Sprache auf einem Substrat sinnlicher Eindrücke und Reaktionen des Menschen. Die verschiedenen Sprachen der Menschen, welche über die ganze Erde verstreut und in einzelne Familien, Stämme und Nationen geteilt sind, tragen das Gepräge ihrer verschiedenen Verhältnisse und ihrer als eindeutig definierten Identität. Das Sprechen einer fremden Sprache würde nach Herder bedeuten, artifiziell zu existieren sowie den spontanen, instinktiven Ursprüngen einer Person entfremdet zu sein.⁵⁵ Die Sprachtheorie Herders wirkt sich nicht nur für die Akzeptanz Heines als Schriftsteller hemmend aus. Sie ist für die Entfaltung der jüdischen Emanzipationsbewegung hinderlich.⁵⁶ In ihr ist die abwehrende Haltung der deutschen Öffentlichkeit gegenüber den Emanzipationsversuchen ihrer jüdischen Minderheit gespiegelt, wurzelt die rassistische Sprachtheorie des Antisemitismus. Der Aufsatz Vom Geist der hebräischen Poesie⁵⁷ des Aufklärers Herder von 1782/83 selbst ist Zeugnis der Ambivalenz im Umgang mit den Juden.⁵⁸ Herder erkennt den Tanach als identitätsstiftendes Kulturgut des Judentums an und eröffnet im Zuge der Säkularisierungstendenzen der Aufklärung neue Sichtweisen auf die Bibel und die hebräische Sprache, wie sie auch von den Maskilim vertreten
54 Vgl. Gottfried Johann Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: Werke. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1985; Shulamit Volkov: Sprache als Ort der Auseinandersetzung mit Juden und Judentum in Deutschland, 1780–1933. In: Dies., Projekt, S. 86. – Zu Herders Auffassung vom Judentum vgl. Ze’ev Levy: Judaism in the Worldview of J. G. Hamman, J. G. Herder and W. v. Goethe. Jerusalem 1994. S. 93–213; Liliane Weissberg: Juden oder Hebräer? Religiöse und politische Bekehrung bei Herder. In: Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur. Hrsg. v. Martin Bollacher. Würzburg 1994. S. 191–211. 55 Vgl. Volkov, Sprache, S. 86. 56 Vgl. Peters, Wunde, S. 65. 57 Gottfried Johann Herder: Vom Geist der hebräischen Poesie. In: Werke. Bd. 1. Frankfurt am M. 1985. 58 Vgl. Volkov, Sprache, S. 83.
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werden.⁵⁹ So erfährt die Bibel in ihrer Einschätzung als antiker poetischer Text eine bisher unbekannte Profanisierung, während das Hebräische als perfektes Medium zur Übermittlung religiöser Wahrheit gepriesen wird. Weiterhin wird der mustergültige Charakter des Tanach in Bezug auf nationale Historiographie unterstrichen, welche vom Wissen um Exklusivität und vom Mut zur Erhaltung von Gruppeneinzigartigkeit der Israeliten zeuge.⁶⁰ Im selben Aufsatz werden die diasporischen Juden als Fremde im deutschen Sprachraum ausgewiesen und angehalten, sich absolut in die als höher stehend definierte, christlich geprägte Zivilisation Westeuropas zu assimilieren und ihre so eben noch gepriesene Kultur gegen die Prinzipien der europäischen Aufklärung einzutauschen.⁶¹ An dieser Stelle ist beispielhaft jener halboffene Weg in die deutsche Gesellschaft dokumentiert, welcher den Juden im Zuge der Emanzipationsbewegung von Seiten der deutschen Öffentlichkeit angeboten wird. So suggeriert man auch innerhalb des dominanten Diskurses über das Judentum, dass nur derjenige in der deutschen Gesellschaft willkommen ist, der sein altes Erbe preisgibt.⁶² Wird in der Publikation Herders das Hebräische eng mit der Geschichte des Judentums verknüpft, so ist diese Überlegung auch im Kontext anderer Sprachen und ihrer Bedeutung als identitätsstiftendes Moment zu finden. Gerade deutsche Intellektuelle nutzen im 19. Jahrhundert die Sprachtheorien Herders zur Entwicklung eines grundlegenden kulturellen und linguistischen Nationalismus und ziehen sie zur Stärkung antisemitischer Argumentationsstränge heran. Die von Herder herausgearbeitete Relation zwischen Sprache und Nationen-Begriff erfährt im nationalen Diskurs eine solche Popularität, dass gerade sie zum neuralgischen Punkt sowohl im Findungsprozess des deutschen Staates als auch der jüdischen Akkulturation wird.⁶³ Für die akkulturationswilligen Juden an der Schwelle zur gesellschaftlichen Moderne bedeutet das Erlernen der deutschen Sprache die absolute Vorbedingung der Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft. So verlangen die deutschen Behörden seit dem 18. Jahrhundert die Einführung deutscher Familiennamen und die Abfassung privater und öffentlicher Dokumente der jüdischen Bevölkerung in deutscher Sprache.⁶⁴ Die eigene Sprache, das Jiddische, erfährt dabei eine wachsende Geringschätzung sowohl unter der deutschen Bevölkerung als auch unter der jüdischen Minorität, wird zur unangebrachten Sprache für das Bildungsbür-
59 Vgl. Volkov, Sprache, S. 85 – Zum Blick der Maskilim auf den Tanach vgl. Kapitel II.1. 60 Vgl. Volkov, Sprache, S. 85. 61 Vgl. Volkov, Sprache, S. 83. 62 Vgl. Katz, Ghetto, S. 94ff. 63 Vgl. Peters, Wunde, S. 65. 64 Vgl. Volkov, Sprache, S. 87.
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gertum und letztlich zur Sprache des Fremden par excellence degradiert.⁶⁵ Durch die Überbetonung der Bedeutung des Deutschen im nationalen Diskurs wird die Sprache zum zentralen Ort der Integration und des Ausschlusses der jüdischen Minderheit, zur fühlbaren Grenze zwischen Integrierten und Außenseitern der deutschen Gesellschaft − auch für die Einschätzung und das Selbstverständnis Heines als Schriftsteller. Da eine Wurzel des Jiddischen in der deutschen Sprache liegt, ist die Frage berechtigt, warum die Ähnlichkeit beider Sprachen nicht die Chance einer Annäherung bot, sie vielmehr die Kluft zwischen nichtjüdischer Majorität und jüdischer Minderheit zu vertiefen scheint. Paul Peters geht in seiner Studie zur antisemitischen Heine-Kritik diesem Umstand nach und zitiert den Kulturkritiker George Steiner mit der Hypothese, „daß das Principium Individuationis der Sprachen dazu führt, daß gerade verwandte und ähnliche Sprachen sich um ihrer eigenen ‚Identität‘ willen aneinander reiben und voneinander abstoßen müssen“⁶⁶. So scheint es gerade die gemeinsame Sprachwurzel zu sein, die die Abwehr des Jiddischen durch das nichtjüdische Umfeld nach sich zieht. Sowohl die jahrhundertelange Ächtung der Juden als auch die Labilität des deutschen Selbstverständnisses, als Auswirkung der Kleinstaaterei im deutschen Raum, führen dazu, dass die Ähnlichkeit des Deutschen mit dem Jiddischen eher der Zurückweisung dient als der Aufnahme und Verständigung.⁶⁷ Gerade die Verwandtschaft mit dem Deutschen lässt das Jiddische in der antisemitischen Argumentation als „Lästerung des Deutschen“ erscheinen.⁶⁸ Das Jiddische als die Sprache der Minorität wird in der deutschen Öffentlichkeit soweit dämonisiert, dass man mit ihr das Bild des feindlich gesinnten Fremden verbindet. Nur wer das Deutsche beherrscht, kann, dem Nationalismus entsprechend, auf Akzeptanz hoffen. Gerade der im 19. Jahrhundert zunehmende Antisemitismus macht die Sprache als Trennlinie zwischen Minderheit und Mehrheit aus. Man beruft sich neben rassentheoretischen Argumenten auf Herder als Autorität, um mit der Berufung auf die Wissenschaft deutschen Juden jegliche Authentizität im Umgang mit der deutschen Sprache abzusprechen, folglich ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft grundsätzlich in Frage zu stellen. Salonfähig wird dieses frühe Muster antisemitischer Argumentation durch die Reflexionen eines der bekanntesten deutschen Komponisten des 19. Jahrhunderts.⁶⁹ Im Duktus wissenschaft-
65 Vgl. Volkov, Sprache, S. 88f. 66 Peters, Wunde, S. 65. 67 Vgl. Peters, Wunde, S. 65f. 68 Vgl. Volkov, Sprache, S. 95. 69 Vgl. Peters, Wunde, S. 66.
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licher Darlegung liefert Richard Wagner dem frühen Antisemitismus mit seinem Aufsatz Das Judentum in der Musik neue Ansätze und Sprachbilder in der Degradierung der jüdischen Minderheit.⁷⁰ Während der Erstdruck 1850 noch relativ wenig Aufsehen hervorruft, löst die Neupublikation der überarbeiteten Fassung von 1869 eine starke Reaktion sowohl unter Antisemiten als auch ihren Gegnern aus.⁷¹ Bereits zu Anfang der Schrift Wagners ist der scharfe Ton in der Debatte um die Authentizität deutscher Künstler mit jüdischem Hintergrund nicht zu überlesen. Deren Sprache wird zur „Lügensprache“⁷² und Heine zum „sehr begabten dichterischen Juden“⁷³ erklärt, zum „Dichter eines Zeitalters und eines Deutschlands, in dem das Dichten selbst zur Lüge“⁷⁴ wurde, bis Heine sich selbst „zum Dichter log“⁷⁵. Der Zweifel an der künstlerischen Authentizität Heines wird als Teil eines instinkthaften beziehungsweise natürlichen Abwehrmechanismus gegen die jüdische Minderheit durch die Mehrheitsgesellschaft charakterisiert. Das Vorurteil⁷⁶ findet hier keine kultursoziologische Begründung, wie sie Heine etwa in der Demontage des Vorurteils in Shakespeares Mädchen und Frauen liefert. Es wird vielmehr psychologisiert.⁷⁷ Der Antijudaismus, so Wagner, sei Teil eines kollektiven Bewusstseins, das in der Mehrheitsgesellschaft in Form gefühlter Abneigung gegen die jüdische Minderheit zum Tragen kommt.⁷⁸ Die Abwehr von Künstlern mit jüdischem Hintergrund im Speziellen und der jüdischen Emanzipations- und Akkulturationsbewegung im Allgemeinen wird demnach als 70 Vgl. Richard Wagner: Das Judentum in der Musik. In: Jens Malte Fischer. Richard Wagners „Das Judentum in der Musik“. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus. Frankfurt a. M. 2000. S. 139–196. 71 Zur Rezeptionsgeschichte des Aufsatzes vgl. Fischer, Wagners, S. 102ff. 72 Peters, Wunde, S. 66. 73 Wagner, Judentum, S. 172. 74 Wagner, Judentum, S. 172. – Vgl. auch Peters, Wunde, S. 66. 75 Wagner, Judentum, S. 172. 76 Das Benutzen des tradierten Vorurteils für die rassistische Argumentation des Antisemitismus wird von Paul Peters als ein ihm inhärentes Prinzip beschrieben: „Noch ein Friedrich Engels war davon ausgegangen, daß der Antisemitismus eine ‚Reaktion mittelalterlicher Schichten gegen die moderne Gesellschaft‘ war, die mit diesen zwangsläufig untergehen müsse. Statt dessen erwies sich der tradierte Mechanismus der Ächtung und Brandmarkung des ‚Juden‘ als viel zählebiger als sein ursprünglicher Anlaß; er entschwand nicht mit diesem, sondern erbte sich fort gleichsam als ein kostbares Stück Überlieferung. Denn er erwies sich als äußerst elastisch und anpassungsfähig; und er fand immer neue gesellschaftliche Auftraggeber. Weit davon entfernt, mit dem Anbruch der Modernität zu verschwinden, konnte er durch die Modernität ungeahnten neuen Auftrieb erfahren.“ Siehe Peters, Wunde, S. 69. 77 Vgl. Peters, Wunde, S. 89ff. 78 Vgl. Wagner, Judentum, S. 143.
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natürlich beziehungsweise wesenhaft für das deutsche Selbstverständnis aufgefasst.⁷⁹ Jede Kritik an der antisemitischen Argumentation verstößt folglich gegen die Natur des deutschen Selbstverständnisses, entlarvt sich selbst als unnatürlich; jede Akzeptanz von Künstlern mit jüdischem Hintergrund läuft dem deutschen Selbstverständnis zuwider und zieht sowohl dessen Zersetzung als auch die der deutschen Kultur nach sich. An zentraler Stelle im Text wird die zu Zeiten Wagners schon klassische These von der Nicht-Authentizität der Juden im Umgang mit der deutschen Sprache vorgetragen: „Zunächst muß im Allgemeinen der Umstand, daß der Jude die modernen europäischen Sprachen nur wie erlernte, nicht als angeborene Sprachen redet, ihn von aller Fähigkeit, in ihnen sich seines Wesens entsprechend, eigentümlich und selbständig kundzugeben, ausschließen.“⁸⁰ Und in der Tradition Herders begründet: „Eine Sprache, ihr Ausdruck und ihre Fortbildung ist nicht das Werk Einzelner, sondern einer geschichtlichen Gemeinsamkeit: nur wer unbewußt in dieser Gemeinsamkeit aufgewachsen ist, nimmt auch an ihren Schöpfungen teil.“⁸¹ Zum Gedanken von der unbewussten, geschichtlichen Gemeinsamkeit, aus der die Sprache und das Sprachgefühl eines Volkes geschöpft sind, gesellt sich die negative Charakterisierung der Juden in der Diaspora als versprengt und wurzellos. Ihrem Wesen nach steht die diasporische Existenz, so die Argumentation Wagners, dem beschriebenen Prozess der Sprachbildung entgegen: „Der Jude stand aber außerhalb einer solchen Gemeinsamkeit, einsam mit seinem Jehova in einem zersplitterten, bodenlosen Volksstamme, welchem alle Entwicklungen aus sich versagt bleiben mußte […].“⁸² Wagner gibt eine Deutung des Phänomens der jüdischen Diaspora, um die vermeintliche Überlegenheit der Mehrheitsgesellschaft zu demonstrieren. Der von der Mehrheitsgesellschaft empfundenen und in der Argumentation Wagners negativ konnotierten Andersartigkeit der Juden werden die positiv konnotierten Merkmale der Majorität von Verwurzelung und Kontinuität gegenübergestellt. So ist der von Wagner propagierte instinkthafte Mechanismus der Abwehr für diesen nicht zuletzt aus den als konträr gezeichneten Erfahrungswelten der jüdischen Minderheit und der nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung zu erklären. Den vom Nationalismus gebrauchten und negativ definierten Kategorien des Anderen und Fremden stehen die als positiv bestimmten Eigenschaften von Verwurzelung und Kontinuität, wie sie dem Konzept von Nation durch den Nationalismus zugespro-
79 Vgl. Wagner, Judentum, S. 145 u. 147f. 80 Wagner, Judentum, S. 150. 81 Wagner, Judentum, S. 150. 82 Wagner, Judentum, S. 150.
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chen werden,⁸³ gegenüber. Im Gefühl der Abwehr, welches sich, so Wagner, im Umgang mit Vertretern der jüdischen Minderheit bei der Mehrheitsbevölkerung sogleich einstelle, sieht er seine Auffassung von der unüberwindbaren Kluft zwischen den Bevölkerungsgruppen bestätigt, sieht er das Argument der Beziehungslosigkeit der Juden und ihrer Sprache zum deutschen Umfeld bekräftigt − die seit Jahrhunderten andauernden Existenz jüdischer Gemeinden im deutschen Raum dabei ausblendend.⁸⁴ Basis der antisemitischen Argumentation sind nicht mehr die anerkannten, sprachtheoretischen Erkenntnisse Herders. Sie dienen nur zur Unterfütterung der These von der kollektiven Empfindung der Abwehr der jüdischen Minderheit. Es ist keine rationale Erklärung, sondern ein angeblich kollektives Gefühl der Deutschen, welches zwischen der jüdischen Minderheit und Mehrheitsgesellschaft geschoben wird, welches die Forderung nach Emanzipation ablehnt und den wachsenden Antisemitismus nährt. Beklemmung und Unbehagen im Umgang mit der jüdischen Minderheit, von Wagner als immanent für die deutsche Mehrheitsbevölkerung bewertet, gelten der Forschung als sozialpsychologischer Ursprung der antisemitischen Bewegung.⁸⁵ Das Gefühl des Unbehagens gilt jedoch nicht allein der Minorität. Es gilt der neuen Zeit im Allgemeinen, der gesellschaftlichen Moderne, und überträgt sich auf die jüdische Minderheit als einer sehr sichtbaren Gruppe im Modernisierungsprozess der Verhältnisse. Die Auswirkungen der gesellschaftlichen Moderne − die beginnende Industrialisierung, die politischen Umwälzungen auf dem alten Kontinent − wirken traumatisch auf das gesellschaftliche Gefüge der deutschen Staaten. Die Klage über den Verlust der traditionellen Lebenszusammenhänge, die Sehnsucht nach der untergegangenen „alten Welt“ und deren Verklärung zur „deutschen Welt“ beschafft der tradierten Ächtung und Brandmarkung der jüdischen Bevölkerung in der neuen Form des Antisemitismus ungeahnten Auftrieb. Nicht nur die in der populären Vorstellung mit den Juden verbundene Durchsetzung der Kapital- und Geldwirtschaft scheint als Folge der Industrialisierung die Minderheit in ihrer traditionellen Rolle als Makler und Finanzkapitalisten zu stärken. Die neue Zeit öffnet den Angehörigen der jüdischen Minorität als Autoren und Journalisten, als liberalen und sozialdemokratischen Politikern Bereiche des öffentlichen Lebens in der deutschen Gesellschaft, welche ihnen von jeher verschlossen waren. Die jüdische Minderheit mutet nicht nur als „Gewinner“ der neuen Zeit an. Es werden Fragen laut, ob die befremdende gesellschaftliche Ent-
83 Vgl. Anderson, Erfindung, S. 20. 84 Vgl. Wagner, Judentum, S. 146. 85 Vgl. Peters, Wunde, S. 67.
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wicklung nicht ganz und gar zurückzuführen ist auf den als geheim, allmächtig und wachsend wahrgenommenen Einfluss „der Juden“.⁸⁶ In Bezug auf die Frage der Zugehörigkeit Heines zum Literaturkanon ist die in Kapitel VI.2.2 beschriebene partielle Ablehnung des politisch engagierten Schriftstellers in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich zur Totalverweigerung einer nicht geringen Zahl deutscher Intellektueller gesteigert. Die Argumente liefert die auf Wagner zurückgehende Sprachtheorie des Antisemitismus. Heines gesamtes Werk gilt nun als Indiz seiner Fremdheit. Am Beispiel des Heineschen Schreibens wird die im dominanten Diskurs entwickelte, abwertende Kategorie des „Jüdischen“ und damit „Fremden“ und „Feindlichen“ mittels wissenschaftlich begründeter Argumentation in einem säkularisierten Zeitalter weiter ausdifferenziert.⁸⁷ Aus dem „heiligen Tiefsinn“⁸⁸, der „höchsten Begeisterung“⁸⁹, der „süßen Schwärmerei des Volks“⁹⁰, die man dem Lyriker Heine im 19. Jahrhundert noch zusprach, wird im 20. Jahrhundert der Vorwurf der Parodie, der geschickten Nachahmung, des Betrugs und der Hinterhältigkeit.⁹¹ Die Verunglimpfung der innovativen Sprache Heines, welche Alexander Jung noch Zeichen der Zugehörigkeit ist, dient nun der angestrebten Ausgrenzung. Der Tadel Heines an den deutschen Verhältnissen wird zum Ausdruck des von Wagner beschriebenen entwurzelten „jüdischen Kosmopolitismus“. Die Dissonanzen und Brüche im Werk des Schriftstellers dienen als Beweise „der Unfähigkeit des Juden“⁹² zu „wahrem, lauteren Gefühl“⁹³. Der von Heine betriebene Bruch mit dem überlieferten Konsens der Dichtersprache wird als Ausdruck des
86 Vgl. Peters, Wunde, S. 68f. 87 Vgl. Peters, Wunde, S. 86. 88 B VI, S. 933. 89 B VI, S. 933. 90 B VI, S. 933. 91 Vgl. Peters, Wunde, S. 79. Als eindrückliches Beispiel antisemitischer Hetze gegen Heine zitiert Peters die Veröffentlichung Victor Hehns Gedanken über Goethe, welche den Poeten Heine diffamieren: „Wie mancher seiner Stammesbrüder mit der Zunge so kunstreich schnalzen kann, daß man wirklich eine Nachtigall zu vernehmen glaubt >…@ – so wußte auch Heine die einfältige Treue des Volksliedes, die Phantasien und Fratzen E. Th. A. Hoffmanns und der Romantik, Goethes Herzenslaute und melodiösen Gesang mit so virtuoser Kunst nachzupfeifen, daß man sich täuschen ließ und die Simili-Steine für ächte hielt. Man glaubte an Heines Seelengrazie und bemerkte die Gemeinheit nicht, die überall >…@ hervorsah; Wie wird er sich ins Fäustchen gelacht haben, wenn treuherzig-dumme Germanen sich von solchen Stücken rühren ließen!“ 92 Adolf Bartels: Heine. Auch ein Denkmal. Dresden 1906. S. 283. 93 Bartels, Denkmal, S. 283.
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„Unvermögens des Juden schöpferisch zu sein“⁹⁴ interpretiert.⁹⁵ Heines Dichtung wird zur „fremden, gefährlichen Sprache des Juden“⁹⁶ erklärt. Sein Anspruch auf den deutschen Dichter scheint durch den „Makel der Abkunft“⁹⁷ hinweggefegt.
3 Antworten Heines auf die Verweigerung 3.1 Heine in der Traditionslinie deutscher Sprachkultur unter intellektuellen Juden Dem Vorwurf des Heimatlosen, des Fremden, des feindlich Gesinnten, wie er in den intellektuellen und wissenschaftlichen Diskursen der nationalliberalen und nationalistischen Bewegungen bezüglich Heine gepflegt wird, treten die Worte des Schriftstellers entgegen – bereits 25 Jahre vor den diffamierenden Äußerungen Wagners niedergeschrieben: „Ich weiß, daß ich eine der deutschesten Bestien bin, ich weiß nur zu gut, daß mir das Deutsche das ist, was dem Fische das Wasser ist, daß ich aus diesem Lebenselement nicht herauskann […]. Ich liebe sogar im Grunde das Deutsche mehr als alles auf der Welt, ich habe meine Lust und Freude dran, und meine Brust ist ein Archiv deutschen Gefühls […].“⁹⁸ Hier wird jene Gegenstimme hörbar, die der Kategorisierung des „Fremden/Anderen“ durch den dominanten Diskurs entzogen ist und dem Nimbus kultureller Abgeschlossenheit jede Grundlage entzieht. Das Bekenntnis des Schriftstellers zum Deutschen lässt die einstige Funktion der deutschen Sprache als bloße Schwelle gelungener Akkulturation hinter sich.⁹⁹ Wie Stephan Braese in seinem Aufsatz Die „biblische Sprache“. Deutsche Sprachkultur von Juden in Europa betont, ist bereits den Maskilim der Gedanke selbstverständlich, dass die deutsche Sprachkultur von dem bedeutendsten Medium des Judentums − dem Tanach – konstitutiv geformt wurde.¹⁰⁰ Aus dieser
94 Bartels, Denkmal, S. 283. 95 Vgl. Peters, Wunde, S. 85. 96 Bartels, Denkmal, S. 283. 97 Bartels, Denkmal, S. 283. 98 Brief Heines an Rudolf Christiani vom 7. März 1824. In: HSA XX, S. 147. 99 Vgl. Hauschild, Heine, S. 33: „Bei der sprachlichen Assimilation konnten ihn die Eltern selbst nur unvollkommen unterstützen >}@. Um so eindrucksvoller erscheint Heines Leistung, der es in wenigen Jahren zu einer rhetorischen Meisterschaft brachte, zu einer ‚Sprache‘, die – wie Walter Jens formulierte – ‚klingt, als hätten >}@ Generationen von weltgewandten Causeurs um seine Wiege gestanden‘.“ 100 Vgl. Stephan Braese: Die biblische Sprache. Deutsche Sprachkultur von Juden in Europa. In: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung. Berlin 12 (2006). S. 30.
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Perspektive heraus lässt sich die von wachsenden Teilen der jüdischen Minderheit seit dem 18. Jahrhundert praktizierte deutsche Sprachkultur nicht auf den bloßen Ausdruck eines willigen Akkulturationssubjekts reduzieren. So kann Heine in seinem Selbstverständnis als Schriftsteller auf eine Traditionslinie deutscher Sprachkultur jüdischer Intellektueller seit der Haskala zurückblicken. Moses Mendelssohns Übersetzung der Tora 1783 etwa ins Deutsche erweitert die bisherige Funktion der deutschen Sprache als eines bloßen Kommunikationsmittels zwischen einzelnen Vertretern der jüdischen Minderheit und der Mehrheitsgesellschaft. Die in das Deutsche übersetzte Bibel wird Mendelssohn zum Medium, um aufklärerisches Gedankengut und Konzepte zu untermauern,¹⁰¹ um eine bessere Kenntnis der deutschen Sprache zu vermitteln und um das Studium der Bibel in akkulturierten Kreisen zu fördern, von ihm verfolgt, um die Bindung dieser Juden an das Judentum zu stärken.¹⁰² Die Sprache in der sich die „Wissenschaftsjuden“ an den Diskursen des 19. Jahrhunderts beteiligen ist deutsch. Und indem im Zuge des Reformjudentums das Deutsche zur Sprache in den Synagogen avanciert, fungiert sie zum einen als Trägerin der Glaubensgewissheiten der jüdischen Religion, zum anderen wird ihr die Position eingeräumt, in einem Nahverhältnis zum „wirklichen Wort Gottes“ zu stehen.¹⁰³ Der deutschen Sprache werden im Zuge der Säkularisierung des 19. Jahrhunderts somit profane und religiöse Funktionen innerhalb des jüdischen Lebens selbstverständlich zuerkannt. Braese verweist in seiner Untersuchung auf eine weitere Bedeutung der deutschen Sprachkultur unter der jüdischen Minderheit. Diese Bedeutung zeigt die Durchlässigkeit und Grenzüberschreitung zwischen den Kulturen von marginalisierten Gruppen und Mehrheitsgesellschaften: So ist nicht nur die jüdische Lebenswelt durch die gesteigerte Bedeutung der deutschen Sprache beeinflusst. Auch die nichtjüdische Gesellschaft wird, so Braese, durch die Pflege deutscher Sprachkultur unter akkulturierten Juden tangiert. Hier ist es wieder Mendelssohn, der entscheidenden Einfluss ausübt. Braese zu Folge hat Mendelssohn „wesentlich mitgewirkt an jenem formativen Prozess in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, in deren Verlauf sich eine in allen deutschen Territorien verständliche Standardsprache zu entwickeln begann“¹⁰⁴. Doch die in Folge der Befreiungskriege und der Romantik einsetzende Nationalisierung und die ihr folgende Vereinnahmung der Sprache durch den Nationalismus räumt dieser im
101 Vgl. Jasper, Parnass, S. 40. 102 Vgl. Jasper, Parnass, S. 39. 103 Vgl. Braese, Sprache, S. 31. 104 Braese, Sprache, S. 31.
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Zuge der Aufklärung zu beobachtenden Teilhabe jüdischer Autoren, „die im Zwischenraum zweier Text- und Gedächtniskulturen stehen“¹⁰⁵, keinen Platz ein. Die Folgen der Verknüpfung von Sprache und Nation für die Positionierung Heinrich Heines und der jüdischen Minderheit in der deutschen Gesellschaft wurden im vorangegangenen Abschnitt bereits dargelegt. Heinrich Heine steht in der Traditionslinie deutscher Sprachkultur der jüdischen Minorität. Die deutsche Sprache fungiert nicht nur als Kommunikationsmittel und Beweis der eigenen Akkulturationswilligkeit. Sie besitzt neben diesen profanen auch über den alltäglichen Gebrauch hinausgehende Funktionen. Sie ist bereits am Ausgang des 18. Jahrhunderts Teilen der jüdischen Minderheit Trägerin ihrer Glaubensgewissheiten. Sie ist dem Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, wie anderen Intellektuellen mit jüdischem Hintergrund, selbstverständliches Medium seines Schreibens. Das am Beginn dieses Abschnitts zitierte Bekenntnis Heines zur deutschen Sprache unterstreicht die tiefe Verwurzelung des Schriftstellers in die deutsche Sprachkultur. Mit der Verwendung von Metaphern aus dem Tierreich − der Bestie, dem Fisch – ist die Assoziation eines unbewussten, impulsiven, lebendigen Umgangs mit dem Deutschen verknüpft. So wie ein Tier an sein Element und seine Affekte gebunden ist, ist der Schriftsteller an die deutsche Sprache gebunden: Er kann nicht aus seinem Element heraus. Heine setzt dem antijüdischen Vorwurf einer unechten, affektierten Sprache sein Bekenntnis zum Deutschen entgegen, welches nicht in der Ratio ansässig ist, vielmehr im Zentrum seines Herzens sitzt. Die Zerrissenheit¹⁰⁶ dieses Herzens ist nicht zuletzt aus dem als unlösbar empfundenen Dilemma zwischen gefühlter Beheimatung im Deutschen, ererbter Verwurzelung im Jüdischen und erfahrener Ausstoßung von deutscher und jüdischer Seite erwachsen. Dass sich aus dem Konflikt zwischen der innerlich gefühlten Beheimatung im Deutschen und gleichzeitig der Zugehörigkeit zu einer marginalisierten Gruppe ein neues Schreiben entwickelt, Ausdruck jenes „Raum[s]
105 Grit Schorch: Zwischen Sakralität und Säkularität. Die „Hohelied“-Übersetzung Moses Mendelssohns. In: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur. Hrsg. v. Dan Diner. Bd. 1. München 2003. S. 134. 106 Zum Begriff „Zerrissenheit“ vgl. Heine u. a. in Die Bäder von Lucca: „Ach, teurer Leser, wenn Du über jene Zerrissenheit klagen willst, so beklage lieber, daß die Welt selbst mitten entzweigerissen ist. Denn da das Herz des Dichters der Mittelpunkt der Welt ist, so musste es wohl in jetziger Zeit jämmerlich zerrissen werden. Wer von seinem Herzen rühmt, es sei ganz geblieben, der gesteht nur, daß er ein prosaisches weitabgelegenes Winkelherz hat. Durch das meinige ging aber der große Weltriß, und eben deswegen weiß ich, daß die großen Götter mich vor vielen anderen hoch begnadigt und des Dichtermärtyrtums würdig geachtet haben.“ Siehe B III, S. 405.
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da-zwischen − […], das den Hauptteil kultureller Bedeutung in sich trägt“¹⁰⁷, ist bereits dem jungen Heine bewusst. So erkennt der Schriftsteller, trotz des schwärmerischen Bekenntnisses zur deutschen Sprache, dass sein Schreiben immer auch von Seiten seines jüdischen Hintergrunds geformt sein wird: Mein erstes Buch ist auch in seiner Äußerlichkeit ganz deutsch, damals war die Liebe zum Deutschen noch nicht in mir getrübt; mein zweites Buch ist nur innerlich deutsch; doch fremdartiger ist seine Äußerlichkeit. Daß aus Unmut gegen das Deutsche meine Muse sich ihr deutsches Kleid etwas fremdartig zuschnitt, ist wahrscheinlich. Zu diesem Unmut haben triftige Gründe, gerechter Ennui, Anlaß gegeben.¹⁰⁸
Das in dieser Spannung gründende Schreiben knüpft zwar an die literarischen und philosophischen Strömungen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts an. Die Texte Heines wachsen sich jedoch mehr und mehr zu Antipoden der literarischen Tradition aus.¹⁰⁹ Das Ergebnis ist eine Lyrik und Prosa, welche die Grenzen der konventionellen deutschen Literatur sprengen und ihr einen neuen Raum öffnen wird: den Raum eines vom Emanzipationsgedanken geleiteten, die Marginalisierungstendenzen des dominanten Diskurses überwindenden, politisch engagierten Schreibens.
3.2 Satire – Heines Reaktion auf „den nie abzuwaschenden Juden“ Dass sein Schreiben nicht zu trennen ist von seinem jüdischen Hintergrund, erfasst Heine bereits zu Beginn seines Wirkens. Diese Erkenntnis wird dann bitter, wenn dieser Hintergrund benutzt wird, um ihn von Seiten seiner Kritiker in seinem Anspruch auf das Schriftstelleramt zu diskreditieren. Eine Unsicherheit im Umgang mit der jüdischen Herkunft ist insbesondere in den frühen Jahren des Schriftstellers zu verfolgen, ist es doch die jüdische Abstammung, mit
107 Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000. S. 58. – Vgl. auch den Aufsatz ders.: Die Verortung der Kultur. In: Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Hrsg. v. Elisabeth Bronfen [u. a.]. Tübingen 1997 (Stauffenburg discussion 4). S. 124: „Diese ‚Zwischen‘-Räume stecken das Terrain ab, von dem aus Strategien – individueller oder gemeinschaftlicher – Selbstheit ausgearbeitet werden können, die beim aktiven Prozeß, die Idee der Gesellschaft selbst zu definieren, zu neuen Zeichen der Identität sowie zu innovativen Orten der Zusammenarbeit und des Widerstreits führen.“ 108 Brief Heines an Rudolf Christiani vom 7. März 1824. In: HSA XX, S. 148. 109 „>M@it mir ist die alte lyrische Schule der Deutschen geschlossen, während zugleich die neue Schule, die moderne deutsche Lyrik, von mir eröffnet ward. Diese Doppelbedeutung wird mir von den deutschen Literarhistorikern zugeschrieben.“ Siehe B XI, S. 447.
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welcher die Restriktionen, die auf seiner akademischen Laufbahn liegen, von Seiten der Obrigkeit erklärt werden.¹¹⁰ Darüber hinaus steht der „nie abzuwaschende Jude“¹¹¹, jener Stereotyp des antijüdischen Vorurteils, der Anerkennung des Autors von Beginn an im Wege. Umso pathetischer fällt das Bekenntnis zum Deutschen aus. Paul Peters bemerkt hierzu, dass die eigene jüdische Herkunft und der Anspruch auf die „deutsche Dichterseele“ „wie die entgegengesetzten Pole des sozialen Universums“¹¹² auf den jungen Heine gewirkt haben müssen. Das Werk Heines, das trotz der massiven Abwehrversuche durch nationale und antisemitische Kreise deutscher Intellektueller zum Kanon der deutschen Literatur zählt, steht für eine Überwindung der im intellektuellen Diskurs der Mehrheitsgesellschaft entwickelten Pole von jüdischer Herkunft und deutschem Dichtertum, ist Ausdruck mehrfach strukturierter Kultur- und Identitätsschemata. Mit welcher Vehemenz sich der dominante Diskurs gegen diesen Anspruch Heines wehrt, dass dessen Anerkennung als Schriftsteller lange Zeit alles andere als selbstverständlich ist, handelt das vorangegangene Kapitel VI.2 ab. Im Folgenden soll eine der ersten Kritiken zur frühen, 1823 erschienenen Tragödie Almansor eingehender betrachtet und die Reaktion Heines auf diese Beurteilungen in verschiedenen Briefen vorgestellt werden. Heine wählt für den Almansor das Spanien der Reconquista als Schauplatz seines Dramas, um die Verfolgungen der andersgläubigen Bevölkerung durch die spanischen Christen literarisch auszugestalten. Dass es dem Autor nicht ausschließlich um die historische Rekonstruktion der Ereignisse auf der Iberischen Halbinsel zum Ende des 15. Jahrhunderts geht, belegt ein Brief vom 5. Januar 1823 an seinen damaligen Verleger Ferdinand Dümmler. Im Zuge der Werbung für sein Stück wird der Stoff vom Autor als „polemisch-religiös“¹¹³ eingeschätzt und die dargestellten Ereignisse als die „Zeitinteressen“¹¹⁴ betreffend eingestuft.¹¹⁵ Dass die Vergangenheit 110 Vgl. Michael Perraudin: Irrationalismus und jüdisches Schicksal. Die thematischen Zusammenhänge von Heines Ideen. „Das Buch Le Grand“. In: Kruse [u. a.], Aufklärung, S. 288. 111 Brief Heines an Moses Moser vom 14. Oktober 1826. In: HSA XX, S. 265ff. 112 Peters, Wunde, S. 59. 113 HSA XX, S. 63. 114 HSA XX, S. 63. 115 Ein Brief Heines vom 3. Mai 1823 an Moritz Embden zeigt, dass Heine die Thematisierung von Intoleranz gegenüber Minderheiten in einem höheren historischen Zusammenhang stellt und nicht allein auf die Verfolgung der Juden zielt: „Ihren Brief vom 28. April habe ich richtig erhalten und beeile mich, Ihren Wunsch, meine ‚Tragödien‘ zu sehen, in Erfüllung zu bringen, indem ich Ihnen beikommendes Exemplar als Zeichen meiner Achtung verehre. Möge das Büchlein bei Ihnen eine gute Aufnahme finden und die ethische Grundlage desselben nicht von Ihnen verkannt werden. Sie lesen in diesem Buche, wie Menschen untergehn und Geschlechter und wie dennoch dieser Untergang von einer höheren Notwendigkeit bedingt und von der Vorsehung zu großen Zwecken beabsichtigt wird.“ Siehe HSA XX, S. 82.
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zur Folie der Gegenwart wird, dass zwischen den unterlegenen, glaubenstreuen Moslems, deren Familien durch die religiöse Intoleranz der Christen angegriffen und ausgelöscht wurden, und den wieder erstarkenden Restriktionen von Seiten des Staates gegen die jüdische Minderheit in der Restaurationszeit eine Analogie besteht – ein Kunstgriff, der in Heines Werk durchgängig zu beobachten ist − wird in diesem Fall vom Schriftsteller nicht bestätigt. Sie wird aber von Seiten seiner Kritiker mit dem Hinweis auf die jüdische Herkunft des Autors gezogen. Die Rezension, welche die Verbindung zwischen der Thematik des Almansor und der jüdischen Herkunft des Autors am augenfälligsten zieht, ist im Jahrbuch der Literatur von 1825 zu finden, zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Dramas als Buchausgabe: Wir glauben, der Verfasser ist sich selbst nicht klar gewesen. Eine Polemik liegt in dem Gedichte, sie tritt aber nicht klar hervor, vielleicht, weil er sich aus äußern Rücksichten scheute, sie deutlich anzusprechen, vielleicht weil sein besserer Genius ihn von dem Ungrunde überzeugte. So viel wir wissen, bekennt sich Hr. Heine nicht zum christlichen Glauben. Seinem Unmuthe Raum zu geben, dazu bot sich freylich in der Eroberung Granadas und den nachfolgenden Verfolgungen eine Gelegenheit. […] Wir sehen auf der einen Seite den stummen Schrecken der Unterdrückten, auf der andern die Unterdrückungs- und Gewinnsucht der Sieger. Der Verfasser scheint in objektiver Höhe da zu stehen, er scheint Herr über beyde Ansichten zu seyn; aber der verhaltene Ingrimm macht sich doch zuweilen mächtiger Luft in den Ausdrücken der Unterjochten, und das Ende zeigt eine Schicksalswage, die einen entsetzlichen Hohn ausspricht. […] Boßhafte Leute könnten die Hälfte aller Verhältnisse auf unsere Zeiten anwenden; man könnte in den getauften Mauren andere Getaufte, und in dem glänzenden Gastmahl, das irgend eines Banquiers unserer Zeit erblicken, wo mit ängstlicher Sorgfalt, neben dem aufgetragenen Schweinebraten, alles vermieden wird, was an das Ehemals erinnern könnte.¹¹⁶
Die Einschätzung des Stücks durch seinen Verfasser als polemisch-religiös und die Zeitereignisse betreffend, wird durch die Rezension bestätigt. Darüber hinaus ist im Zitat das bereits beschriebene Muster der Abwehr durch den antijüdischen Diskurs angedeutet. Die Tragödie wird auf der Folie der jüdischen Herkunft des Autors gelesen und nicht, wie von Heine beabsichtigt, als ein allgemeiner Versuch interpretiert, religiöse oder anders geartete Intoleranz literarisch zu thematisieren.¹¹⁷ So belege etwa der pathetische Tonfall der Tragödie, wie der unbekannte Rezensent erläutert, dass der Autor nicht als objektive Instanz über der Handlung des Stücks stehe. Es wird vielmehr vom Rezensenten unterstellt, dass unter den pathetischen Tonfall die subjektive Erfahrung des Autors als Angehörigem 116 Eberhard Galley/Alfred Estermann (Hrsg.): Heinrich Heines Werk im Urteil seiner Zeitgenossen. Bd. 1. Hamburg 1981–1992. (Heine-Studien). – Als Verfasser wird der von Heine späterhin geschätzte Willibald Alexis angenommen. 117 Vgl. Brief Heines an Moritz von Embden vom 3. Mai 1823. In: HSA XX, S. 82.
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der jüdischen Minorität gemischt sei − als eines Ausdrucks des „Ingrimms“ über die eigene Diskriminierung. Die Mutmaßung, dass der Almansor allein als Ventil des Ungemachs über die aktuelle Situation der jüdischen Minderheit diene und nicht, wie von Heine behauptet, das allgemeine Problem der Intoleranz, welches in den Zeiten der Restauration in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft vorherrscht, zur Sprache bringe, nimmt den späteren, bereits erwähnten, antisemitischen Vorwurf an von der „Sprache der Juden“ als „Sprache der Uneigentlichkeit“ vorweg.¹¹⁸ Hinzu tritt, dass die angenommene Analogie zwischen der Situation der getauften Moslems in Granada und der akkulturierten Juden in den deutschen Staaten negativ vom Rezensenten konnotiert wird, was im verwendeten Ausdruck „boßhaft“ mitschwingt. Die versuchte Anpassung der jüdischen Minderheit an die Mehrheitsverhältnisse wird somit abschlägig vom Kritiker des Almansor bewertet. Damit wird auch das Vorhaben des jungen Heine, als deutscher Dichter jüdischer Herkunft in der deutschen Öffentlichkeit anerkannt zu werden, abgewehrt. Die Verknüpfung von Schriftstelleramt und Herkunft wird von Heine gerade mit Blick auf die eigenen Akkulturationsbestrebungen bedenklich aufgenommen. So zeugen gleich mehrere Briefe Heines vom Unbehagen des Autors über die zitierte Rezension.¹¹⁹ Heine sammelt die Kritiken zu seinem Stück, kommentiert sie und bittet Freunde und Bekannte, ihm weitere Äußerungen zum Almansor zukommen zu lassen.¹²⁰ Die Briefe des jungen Autors formulieren die Einsicht, dass das Urteil der deutschen Kritiker nicht zu trennen zu sein scheint von seiner jüdischen Herkunft. In einem Brief an Moses Moser vom 30. September 1823 schreibt Heine: Mich, mich muß man erbittern! Just zu einer Zeit, wo ich mich ruhig hingestellt habe, die Wogen des Judenhasses gegen mich anbranden zu lassen. […] Von allen Seiten empfinde ich die Wirkungen dieses Hasses, der doch kaum emporgekeimt ist. Freunde, mit denen ich
118 Vgl. Peters, Wunde, S. 66f. 119 Vgl. Brief Heines an Moses Moser vom 19. Dezember 1825: „Heute Morgen habe ich das neue July-August-September-Heft der Wiener Jahrbücher gelesen, mit innerem Mißbehagen. Es steht nemlich eine Recension darin mehr über mich als meine Tragödien. Du mußt sie lesen >}@. – Ich sehe noch schlimmeren Ausfällen entgegen. Das man den Dichter herunterreißt kann mich wenig rühren; daß man aber auf meine Privatverhältnisse so derbe anspielt, oder, besser gesagt anprügelt, das ist mir sehr verdrießlich.“ Siehe HSA XX, S. 229. – Vgl. auch Brief Heines an Moses Moser vom 9. Januar 1826. In: HSA XX, S. 233ff.; Brief Heines an Karl August Varnhagen von Ense vom 14. Mai 1826. In: HSA XX, S. 241ff.; Brief Heines an Joseph Lehmann vom 26. Mai 1826. In: HSA XX, S. 244ff. 120 Vgl. Brief Heines an Moses Moser vom 30. September 1823. In: HSA XX, S. 111ff.
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den grösten Theil meines Lebens verbracht, wenden sich von mir. Bewunderer werden Verächter, die ich am meisten liebe hassen mich am meisten, alle suchen zu schaden.¹²¹
Zwei Monate später heißt es in einem weiteren Brief an Moser: „Von meinem Oheim v. Geldern habe ich Brief erhalten, er schreibt mir daß ich am ganzen Rheinstrom jetzt eben so verhaßt sey wie ich sonst geliebt war, weil man dort sagt daß ich für die Juden mich interessire.“¹²² Nur im „geschlossenen Raum“ des privaten Briefes drückt Heine unverhohlen seinen Unmut über die, in den Rezensionen gemachten Anspielungen auf seine jüdische Abstammung aus. Im „öffentlichen Raum“ der publizierten Texte wird im Frühwerk mit verschiedenen stilistischen Mitteln gearbeitet, um zum Teil offen auf die Front der Gegner und andererseits versteckt auf die antijüdischen Hiebe zu antworten. Als eine der berühmtesten und eine der ersten offenen Reaktionen Heinescher Texte auf antijüdisch gefärbte Missbilligung gilt die Platen-Satire im Reisebild Die Bäder von Lucca (1830), die Heines Wertschätzung als Schriftsteller in Deutschland nachhaltig schädigen sollte. Der Satire, welche unverblümt auf die Homosexualität des Grafen von Platen anspielt, gehen antisemitische Diffamierungen seitens Platen voraus (Der romantische Ödipus, Frühjahr 1829). Platen sah sich wiederum durch die 1827 in Heines Die Nordsee. Dritte Abteilung veröffentlichten und von Karl Immermann verfassten Xenien angegriffen. Der Ödipus Platens versucht Heine daraufhin als „Samen Abrahams“¹²³, als „Petrark des Laubhüttenfestes“¹²⁴, als „Synagogenstolz, dessen Küsse Knoblauchgeruch absondern“¹²⁵, zu verunglimpfen, wobei das Bild der Küsse in Zusammenhang mit einer Heine unterstellten homosexuellen Neigung zu lesen ist. Die Diffamierung durch Platen und die darauf folgende Verleumdung Heines zielen direkt auf die Person und Existenz des Gegners. Im Versuch, den Gegner aufgrund seines Sexualverhaltens als Fremdkörper gesellschaftlich zu diskreditieren, respektiert Heine die bürgerliche Absonderung des Privatbereichs nicht mehr und stellt die aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein tabuisierte Homosexualität offen dar. Das Ergebnis der Tabuüberschreitung ist ein nationaler Skandal, der Heine stärkere Ablehnung und böswillige Nachrede als zuvor einbringt.¹²⁶ Die antisemitischen Äußerungen über Heine, Teil des dominanten Konsenses, finden dabei kaum Beachtung, während der unzweifelhafte Fehler Heines, Satire und sexuelle
121 HSA XX, S. 112. 122 HSA XX, S. 128 123 B IV, S. 832. 124 B IV, S. 832. 125 B IV, S. 832. 126 Vgl. Peters, Wunde, S. 60.
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Diskriminierung zu verquicken, ihm von der Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit nicht verziehen wird.¹²⁷ Kann man Platens Ausfälle als den Versuch abtun, einen unliebsamen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen,¹²⁸ geht die Offensive Heines über dieses Ansinnen hinaus, wie Gerhard Höhn in seinem Heine-Handbuch bemerkt.¹²⁹ Wie Ulrike Dedner nachweist, entwickelt Heine in seiner Reaktion auf den Angriff Platens Schreibstrategien der marginalisierten Stimme, die auch in später verfassten Texten, insbesondere in den weiter unten behandelten Schriftstellernöten, Anwendung finden, etwa: [d]ie Praxis, durch die vorgegebene Rede des Anderen hindurch zu sprechen und dabei deren Intention zu verkehren, eine Vorgehensweise, die den besprochenen Gegenstand selbst verändert. Weiterhin, die grundsätzliche Adressatenverwiesenheit solch vermittelten Sprechens, das der Dechiffrierung durch den Rezipienten bedarf, um sich zu realisieren. Der dergestalt generierte Text verwirklicht eine Überschreitung der primären Rede, die sich nicht einfach im direkten Zugriff formulieren ließe. Der Mehrwert, der in solcher Weise des Einspruchs entsteht, darf als das Produkt von Heines Kunst der Gegenkritik gelten.¹³⁰
Briefe Heines aus den Jahren 1829–1830 vermitteln dem Adressaten den Streit mit Platen nicht als persönliche Fehde oder literarische Händel. Der Streit ist dem Schriftsteller vielmehr der Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen bürgerlich-liberalem und aristokratisch-konservativem Lager: In Betreff Platens bin ich Ihres Urtheils am begierigsten. Ich verlange kein Lob, und weiß daß Tadel ungerecht wäre. Ich habe gethan was meines Amtes war. Mag die Folge seyn was da will. Anfangs war man gespannt: was wird dem Platen geschehen? Jetzt, wie immer bei Excekuzionen, kommt das Mitleid, u[nd] es heißt ich hätte nicht so stark ihn treffen sollen. […] Man merkt nicht, daß ich in ihm nur den Repräsentanten seiner Partey gezüchtigt, den frechen Freudenjungen der Aristokraten und Pfaffen habe ich nicht bloß auf aesthätischem Boden angreifen wollen, es war der Krieg des Menschen gegen Menschen, und eben der Vorwurf den man mir jetzt im Publikum macht daß ich, der Niedriggeborene, den hochgeborenen Stand etwas schonen sollte, bringt mich zum Lachen − denn das eben trieb mich, ich wollte so ein Beyspiel geben […].¹³¹
127 Vgl. Höhn, Handbuch, S. 242ff. − Erst Hans Mayer erkannte Ende des 20. Jahrhunderts in der Heine-Platen-Auseinandersetzung den erbitterten Streit zweier Außenseiter, die sich nicht solidarisch verhalten: Ein „Outsider der Abkunft“ stellt „einen Outsider der Geschlechtlichkeit“ (Mayer, Außenseiter, S. 207–223) bloß. 128 Vgl. Dedner, Nase, S. 280. 129 Vgl. Höhn, Handbuch, S. 243. 130 Dedner, Nase, S. 281. 131 Brief Heines vom 3. Januar 1830 an Karl August Varnhagen von Ense. In: HSA XX, S. 377.
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Im zitierten Brief Heines an Varnhagen wird die Methode sichtbar im Umgang mit den antisemitisch gefärbten Anspielungen seiner Gegner und darüber hinaus mit dem dominanten Diskurs der Abgrenzung: Die persönliche Diffamierung wird in die allgemeine Diffamierung eines ganzen politischen Lagers gewandelt, der Ausgegrenzte transformiert sich zur Stimme einer ganzen Gruppe. Wie Heine in einem weiteren Schreiben an Varnhagen vom 4. Februar 1830 bekennt, ist seine Platen-Satire auch Reaktion auf die judenfeindlichen Übergriffe seines Kollegen. Des Weiteren interpretiert der Brief des diffamierten Schriftstellers Aktion und Reaktion der Platen-Heine-Affäre nicht allein als unikalen, persönlichen Vorgang. Die unappetitliche Affäre ist dem Schreibenden vielmehr Ausdruck der Zeitereignisse und steht beispielhaft für die gesellschaftlichen Verhältnisse der Restaurationszeit.¹³² Indem Heine den Konflikt mit Platen aus dem Bereich der persönlichen Beleidigung herauszulösen versucht, ihn literarisch zur Metapher des Kampfes zwischen aristokratisch-reaktionärem und liberal-demokratischem Lagern verallgemeinert, ist der Angriff des Aristokraten Platen auf den jüdischen Außenseiter stellvertretend zum Angriff auf die gesamte liberale Bewegung generalisiert. Die persönlich gemeinte Herabsetzung eines um Integration bemühten, durch die jüdische Herkunft von Stigmatisierung bedrohten Außenseiters wird auf diese Weise eingebettet in die Schmähung einer ganzen politischen Haltung: des Liberalismus. Der Pfeil Platens trifft, so Heine, nicht ihn allein. Der Schuss trifft eine ganze Gruppe. Der durch die antisemitischen Übergriffe in den Fokus der Öffentlichkeit geratene Schriftsteller tritt durch die Methode der Generalisierung zurück in die Menge, lässt den persönlich erfahrenen, antijüdischen Übergriff zum Angriff auf die der Emanzipation verpflichteten bürgerlichen Ideale und ihrer Vertreter werden. Der Schriftsteller ist somit Teil einer Gruppe und übt aus dieser Position heraus rücksichtslos und schonungs-
132 „Freilich glaubt jeder seine eigene Sache zu führen, während er doch nur das Allgemeine repräsentiert. – Ich sage das, weil ich in der Platenschen Geschichte auf keine Bürgerkrone Ansprüche machen will, ich sorgte zunächst für mich – aber die Ursachen dieser Sorge entstanden aus dem allgemeinen Zeitkampf. Als mich die Pfaffen in München zuerst angriffen und mir den Juden zuerst aufs Tapet brachten, lachte ich – ich hielts für bloße Dummheit. Als ich aber das System roch, als ich sah, wie das lächerliche Spukbild allmählig ein bedrohliches Vampir wurde, als ich die Absicht der Platenschen Satire durchschaute, als ich durch Buchhändler von der Existenz ähnlicher Produkte hörte, die mit demselben Gift getränkt manuskriptlich herumkrochen – da gürtete ich meine Lenden und schlug so scharf als möglich zurück. Robert, Gans, Michel Beer und andere haben immer, wenn sie wie ich angegriffen wurden, christlich geschwiegen, klug geschwiegen – ich bin ein Anderer, und das ist gut. Es ist gut, wenn die Schlechten den rechten Mann einmal finden, der rücksichtslos und schonungslos für sich und andere Vergeltung übt.“ Siehe HSA XX, S. 385.
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los für sich und andere Vergeltung.¹³³ Heine „setzt sein Juden- und Dichtertum […] in einen direkten Bezug“¹³⁴: die antijüdischen Anspielungen Platens werden „von Heine in die Perspektive [seiner] satirischen Schreibart gerückt, womit die vermeintliche Kluft von Poet und Jude aufgehoben und abgewiesen ist.“¹³⁵ Auch wenn der Versuch, anhand der Generalisierung der Schmähung den antisemitischen Pfeil persönlicher Beleidigung von sich abzulenken, letztendlich scheitert, wovon die bereits oben erwähnten Reaktionen der Kritiker auf die Platen-Satire zeugen, exemplifiziert er jene Stimme, die in der Anschuldigung Platens als die des Anderen, Fremden auftritt. Sich als Teil einer Gruppe zu definieren, zeugt von dem Versuch, der Eindeutigkeit des Marginalisierten zu entgehen.
3.3 Schriftstellernöte – Die Konfrontation des dominanten Diskurses mit seiner Gegenstimme Die Zahl der Widersacher Heines, welche mit antijüdischem Gedankengut gegen den Schriftsteller arbeiten, wächst Mitte der 1830er Jahre in den verschiedenen politischen Lagern der Restauration und vereint sich in einer Front gegen den Autor. Aus dem Zusammenstoß zwischen Heine und seinen Widersachern ist die von Klaus Briegleb in seiner Heine-Ausgabe erstmals definierte Gattung der Schriftstellernöte¹³⁶ abzuleiten. Das Genre ist Ausdruck eines neuen, der Moderne vorauseilenden Selbstbewusstseins des politisch engagierten Schriftstellers, zeugt von dessen Kampf um die Freiheit des kritischen Wortes. Die Edition Brieglebs versammelt hierzu 53 öffentliche Erklärungen aus den Jahren 1832–1855 und konzentriert sich nicht allein auf Äußerungen Heines. Sie führt auch die Positio-
133 Vgl. Brief Heines an Karl August Varnhagen von Ense vom 4. Februar 1830. In: HSA XX, S. 384ff. 134 Dedner, Nase, S. 281. 135 Dedner, Nase, S. 281. 136 Zur Definition der Schriftstellernöte als Gattung bei Briegleb: „In den Schriftstellernöten haben wir die Elementargeschichte deutscher Heine-Überlieferung vor uns, in ihnen wird der zeitgenössische Kampf um die Motive des Autors ausgefochten; eine feindliche Wirkungsgeschichte wird während ihrer Entstehung durch die gegenkämpfenden Texte des Angegriffenen zum Thema der literarischen Produktion selbst. Deshalb gehören diese Texte als Gattung zum Werk und zu seiner literaturgeschichtlichen Überlieferung.“ Siehe B X, S. 574. – Vgl. hierzu auch Klaus Briegleb: Schriftstellernöte und literarische Produktivität. Zum Exempel Heinrich Heine. In: Neue Ansichten einer künftigen Germanistik. Hrsg. v. Jürgen Kolbe. München 1973. S. 121–159; Günter Oesterle/Ingrid Oesterle: Der literarische Bürgerkrieg. Gutzkow, Heine, Börne wider Menzel. In: Demokratisch-revolutionäre Literatur in Deutschland: Vormärz. Hrsg. v. Gert Mattenklott/Klaus R.. Kronberg 1975. S. 151–185.
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nen der Gegner des Schriftstellers auf.¹³⁷ Rede des Autors und Gegenrede seiner Kritiker werden dokumentiert und bilden das hervorstechende Merkmal der Gattung der Schriftstellernöte. Die Abfolge von Rede und Gegenrede bekräftigt die Schwierigkeiten, unter denen Heine im reaktionären System der deutschen Staaten publiziert und zeigt das ganze Ausmaß der antijüdischen Heine-Kritik. Selbst ehemals Verbündete aus dem liberalen Lager nutzen in ihrer Abwehr des politisch engagierten Schriftstellers antijüdische Ressentiments. In den Schriftstellernöten ist auch jener Schlagabtausch zwischen dominantem Diskurs und Marginalisierten um den Konflikt der Zugehörigkeit und Ausgrenzung exemplifiziert. Eröffnet wird die in der Edition Brieglebs zusammengetragene Sammlung der Schriftstellernöte mit der Vorrede zu den Französischen Zuständen.¹³⁸ Das Vorwort gilt als Urzeugnis des modernen Intellektuellen, welcher paradigmatisch öffentlichen Protest erhebt und Ärgernis auslöst − ein Vorgang, der bis in die 1850er Jahre hineinreichende Kette von Rede und Gegenrede des Schriftstellers und seiner Widersacher dokumentiert ist.¹³⁹ Für die Darstellung des Selbstverständnisses Heinrich Heines als politisch engagierten Schriftsteller, der aufgrund seiner politischen Haltung antijüdischen Ressentiments ausgesetzt ist, fokussiert sich die vorliegende Arbeit auf die Schriftstellernöte der Jahre 1837 bis 1839. Die Auseinandersetzungen mit Wolfgang Menzel und dessen Anhänger, der Verrat des nationalliberalen Lagers an Heine, sowie der Konflikt zwischen dem Schriftsteller und seinem Verleger Campe dominieren die Schriftstellernöte dieser Zeit. Um die Essays Über den Denunzianten (1837) und Der Schwabenspiegel (1839) sind zahlreiche Briefe und öffentliche Notizen Heines sowie Rezensionen und Essays seiner Kritiker gruppiert. Sie zeugen vom Phänomen der aus den unterschiedlichsten politischen Lagern zusammengesetzten Front der Heine-Gegner, welche im antijüdischen Gedankengut und in der Diffamierung des Autors vereint sind: von reaktionär über liberal bis sozialrevolutionär − in der Art der Abfertigung Heinrich Heines war man sich einig.¹⁴⁰ Im September 1835 eröffnet der Stuttgarter Literaturkritiker Wolfgang Menzel seine Kampagne gegen das Junge Deutschland und gegen dessen vermeintlichen
137 Vgl. B X, S. 573. – Heine selbst, der 1852 ein ähnliches Projekt verfolgt, sieht in der geplanten Gesamtausgabe seiner Werke für die Schriftstellernöte lediglich die Essays Über den Denunzianten (1837) und Der Schwabenspiegel (1839) vor. 138 Gerard Höhn verweist auf einen Brief Heines vom 3. Mai 1822, der über den zeitlichen Rahmen Brieglebs hinaus die Nöte des Schriftstellers thematisiert. Vgl. Höhn, Handbuch, S. 412. 139 Vgl. Höhn, Handbuch, S. 411. 140 Zur „Heine-Front“ vgl. ausführlich Kapitel VI.2.
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spiritus rector, Heinrich Heine.¹⁴¹ Die deutsche Bundesversammlung bedient sich im selben Jahr der christlich-ethischen Argumentation Menzels, um zu ihrem bedeutendsten Schlag gegen die literarische Opposition auszuholen.¹⁴² Ähnlich Menzel, erklärt auch sie den Schriftsteller zum geistigen Haupt und Anführer der Gruppe und fügt ihn durch ein nachträgliches Reskript vom 11. Dezember in die Reihe der verbotenen Schriftsteller ein. Heine reagiert auf das Verbot mit einem publizierten Brief An eine Hohe Bundesversammlung vom 28. Januar 1836. Das im juristischen Stil gehaltene Schreiben verlangt freies Geleit für den Schriftsteller nach Frankfurt, damit sich dieser in einem fairen Prozess persönlich vor der Bundesversammlung äußern und die Rücknahme des Verbots erbitten kann. Die erhoffte Wirkung bleibt aus, wie Heine in einer weiteren öffentlichen Reaktion vom 26. April 1836 mitteilt. Er weist auf die Folgen für den von Schreibverbot und Zensur betroffenen Auftrag des modernen Berufsschriftstellers hin,¹⁴³ dem folgt die Sorge bezüglich des durch das Edikt der Bundesversammlung offensichtlich gewordenen Zusammenspiels von Literaturkritik und staatlicher Unterdrückung und Zensur: Durchdrungen von Ehrfurcht für die erlauchte Versammlung, bin ich weit entfernt ihre Gerechtigkeitsliebe in Zweifel zu ziehen; ich bin vielmehr, gleich dem übrigen Publikum, überzeugt, daß sie in Irrtum geführt worden durch die Denunziation eines Schriftstellers, welcher zuerst eine staatsgefährliche Verbrüderung, benamset das junge Deutschland, klüglichst ersonnen und mich selber als Oberhaupt desselben angegeben hat.¹⁴⁴
In der Vorrede zum dritten Teil des Salons (1837) benennt er den Verleumder der jungen deutschen Literatur: Wolfgang Menzel. Veröffentlicht unter dem Titel Über den Denunzianten ist der Text eine unverhüllte Abrechnung mit dem einstigen Liberalen, der nun offen und erfolgreich das staatliche Repressionssystem unterstützt. Beispielhaft steht der Opportunist Menzel, der noch 1831 als liberales Mitglied der württembergischen Kammer auf Seiten der Opposition auftrat und auch für die jüdische Emanzipationsbewegung eingetreten war, für das Verhalten eines von Deutschtümelei und Franzosenhass geleiteten Teils der antifeudalen Opposition.¹⁴⁵ Der Abfall Menzels vom Liberalismus als Voraussetzung einer modernen pluralistischen Demokratie wird Heine zum Lehrstück über den pre141 Erste Angriffe Menzels gegen Gutzkow und Wienbarg im September und Oktober 1835 im Literatur Blatt vgl. Höhn, Handbuch, S. 378. 142 Menzel ist nicht Initiator sondern willkommener Helfershelfer einer bereits im Juni 1834 beschlossenen Initiative von Staatsseite gegen das Junge Deutschland. Vgl. Klaus Briegleb: Der „Geist der Gewalthaber“ über Wolfgang Menzel. In: Mattenklott/Scherpe, Vormärz, S. 117–150. 143 Vgl. B IX, S. 22–26; B X, S. 605f. 144 B IX, S. 22f. 145 Vgl. Höhn, Handbuch, S. 381f.
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kären Status des „Juden“ im dominanten Diskurs: wird sich auch äußerlich dem Emanzipationsgedanken angeschlossen, besteht der antijüdische Archetyp „des Juden“ im kulturellen Unterbewusstsein fort und wird im Augenblick des Konflikts oder einer empfundenen Gefahr bemüht.¹⁴⁶ Aus einer Konkurrenzsituation heraus, um Heines Anspruch auf das Schriftstelleramt abzuwehren und seinen Ruf als Journalist zu schädigen, greift Menzel zur antijüdischen Hetze gegen ihn. Dessen Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neuste Zeit (1875) zeugt davon, dass die tradierten Bilder der Judenächtung auch im Zeitalter der Säkularisierung als Projektionsfläche gegenwärtiger Existenzängste weiterdienen. Im Text Menzels werden die archetypische Bilder vom „unheimlichen, bedrohlichen, schändenden Juden“ aneinandergereiht: Daß […] die ältesten Feinde Christi, die Juden, eine ihnen so günstige Zeit benutzten, war nicht zu verwundern. Aus allen dunklen Ecken kamen sie hervor, um mit affenartigen Zähneblecken, Grinsen und Zungenherausstrecken was bisher dem Christen heilig war, zu verhöhnen, höllische Kerkopen, die Jahrhunderte lang unter dem schweren Gebälk der gotischen Kirche halberdrückt und ins Finstere verkrochen, nur scheu hervorgelugt, jetzt aber mit frechem Salto Mortale mitten in die verwilderte Gemeinde hinübersprangen und sie zur Anbetung des Goldenen Kalbs und der Vergötterung der Fleischeslust verführten.¹⁴⁷
„Heinrich Heine […]“ − so setzt der nächste Absatz ein und schafft eine direkte Verbindung zwischen dem Namen des politisch engagierten Schriftstellers und dem antijüdischen Vorurteilskatalog der Mehrheitsgesellschaft. Die Verbindung des Archaischen − die tradierte Ächtung des Juden − mit den aktuellen Konflikten des 19. Jahrhunderts ist in der antisemitischen Argumentation zur Abwehr Heines und darüber hinaus ein bekannter Mechanismus. Wie Heine auf die antijüdischen Angriffe reagiert und seinen Anspruch auf die Berufung zum Schriftsteller verteidigt, davon zeugen die Schriftstellernöte, allen voran der Essay Über den Denunzianten.¹⁴⁸ Es ist das stilistische Mittel der Umkehrung, das Heine zur Abwehr antijüdischer Hetze nutzt. Vergleicht man das obige Zitat aus der Abhandlung Menzels mit dem bereits in der Einleitung zitierten Abschnitt¹⁴⁹ aus den Memoiren Heines, 146 Zum Beispiel des „Unbehagen[s] an der Moderne“ in der Mehrheitsgesellschaft und dem daraus erwachsenden Antijudaismus vgl. Peters, Wunde, S. 67f. 147 Menzel, Wolfgang: Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neuste Zeit. Stuttgart 1875. S. 465. 148 Vgl. Peters, Wunde, S. 71ff. 149 „ [E]inst als kleines Bübchen >}@ nahm ich >}@ eine Gelegenheit wahr, meinen Vater zu befragen, wer mein Großvater gewesen sei. Auf diese Frage antwortete er halb lachend, halb unwirsch: ‚Dein Großvater war ein kleiner Jude und hatte einen großen Bart.‘ Den anderen Tag, als ich in den Schulsaal trat, wo ich bereits meine kleinen Kameraden versammelt fand,
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werden Methode und Resultat der Umkehrung antisemitischer Argumentation ersichtlich. Das dort geschilderte Erlebnis des ausgegrenzten Jungen durch seine Mitschüler besitzt eine Färbung, welche dem antijüdischen Bild des „Juden“ im Text Menzels verwandt ist. So sind antijüdische Vorurteile in der tierhaften, aggressiven, ungeordneten und nicht einschätzbaren Reaktion des deutschen Schulsaals – symbolischer Raum der deutschen Öffentlichkeit – auf die Offenbarung der Herkunft ihres Mitschülers anzitiert. Das Unheimliche und Unberechenbare zeichnet in den Memoiren jedoch nicht den Juden sondern den Deutschen aus. Aufgrund der vorgenommenen Bedeutungsverschiebung formt Heine die traditionell judenfeindlichen Bilder um zu Metaphern, welche nicht die Furcht der Deutschen vor den Juden spiegeln, vielmehr reflektieren sie die Existenzangst der von Verfolgung durch den deutschen Mob bedrohten jüdischen Bevölkerung. Die archetypischen Bilder der traditionellen Judenächtung treffen in umkehrender Wirkung ihre Urheber. Dieses Prinzip der Umkehrung ist auch kennzeichnend für das Phänomen kultureller Hybridität. Durch Umkehrung, aber auch „Verschiebung, Dezentrierung […] oder auch nur unpassenden Gebrauch dominanter Symbole und Repräsentationen im Diskurs der Marginalisierten“¹⁵⁰ entsteht diskursive Ähnlichkeit. „In dieser Wiederholung und gleichzeitigen Entstellung dominanter Diskurse entsteht eine subversive Differenz, in der hegemoniale Zeichen und Bedeutungen umgedeutet, verunreinigt, hybridisiert werden.“¹⁵¹ Diese Differenz ist es, die dem Dominanten den Nimbus von kultureller Abgeschlossenheit und Überlegenheit und dem Marginalisierten den Nimbus des Fremden, unterlegenen Anderen nimmt. Auch in der Auseinandersetzung von Wolfgang Menzel und Heinrich Heine ist dieses Bild von der Konfrontation des dominanten Diskurses und seiner Gegenstimme exemplifiziert. In der Demontage des Denunzianten findet das stilistische Mittel der Umkehrung antisemitischer Hetze beispielhafte Anwendung. Die Anklage gegen Menzel ist im juristischen Duktus gehalten. Der eigentlichen Anklage und namentlichen Nennung des Beschuldigten gehen das chronologisch gehaltene Resümee der bis dato vorgefallenen Ereignisse um den Bundestagsbeschluss und die Beschreibung der Folgen des Schreibverbots für die Existenz des Berufsschriftstellers beeilte ich mich sogleich ihnen die wichtige Neuigkeit zu erzählen >}@. Kaum hatte ich diese Mitteilung gemacht, als sie von Mund zu Mund flog, in allen Tonarten wiederholt ward, mit Begleitung von nachgeäfften Tierstimmen. Die Kleinen sprangen über Tische und Bänke, rissen von den Wänden die Rechentafeln, welche auf den Boden purzelten nebst die Tintenfässer, und dabei wurde gelacht, gemeckert, gegrunzt, gebellt, gekräht – ein Höllenspektakel, dessen Refrain immer der Großvater war, der ein kleiner Jude gewesen und einen großen Bart hatte.“ Siehe B XI, S. 576. 150 Nghi, Hype, S. 87. 151 Nghi, Hype, S. 87.
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voraus.¹⁵² Die eigentliche Beschuldigung setzt dann in Form von Fragen ein.¹⁵³ Deren Beantwortung unterstreicht, dass der Feind der liberalen Bewegung nicht, wie zu erwarten wäre, das reaktionäre, staatliche System ist. Vielmehr ist der „literarische Mouchard“¹⁵⁴ in den eigenen Reihen – dem liberalen Lager – zu suchen.¹⁵⁵ Zusammen mit dem Hinweis auf Verrat fällt der Name Menzels und folgt die ironisch gehaltene Zerschlagung des Widersachers an. So sind die Herzstücke der Menzelschen Polemik in Über den Denunzianten zitiert und liefern, auch das Schreibstrategie des Schriftstellers, die Stichworte zur Demontage des Literaturkritikers. Drei Grundwerte des restaurativen Systems schleudert die christlich-ethische, im antijüdischen Ton gehaltene Argumentation Menzels gegen die Person und das Werk Heines: Religion, Moral und Patriotismus. Im Werk Heines und in seiner Person, so Menzel, sind die genannten Grundwerte der Restauration zu den Ausflüssen der Moderne verzerrt: Gottlosigkeit, Frivolität und Verrat am Vaterland. Zu begründen sei diese „Verzerrung“ nicht zuletzt mit der jüdischen Abstammung des Schriftstellers. Im ironischen Stil der Umkehrung wird in Über den Denunzianten mit den diffamierenden Schelten des antisemitischen Polemikers abgerechnet. Eröffnet wird die Demontage mit dem Blick auf die Basis der christlichen Mehrheitsgesellschaft: die Religion. Christliche Tugenden wie Barmherzigkeit und Demut werden an der Person Menzels erprobt und für abschlägig befunden und das Bild des Opportunisten an dessen persönlicher Umsetzung christlicher Werte geschärft.¹⁵⁶ Ironisch „watscht“ der Text die Moralität Menzels ab, wobei er im Ton der Satire bemerkt, dass es schwer ist in Stuttgart nicht moralisch zu sein.¹⁵⁷ Die Konfrontation Menzels mit dem Patriotismus nimmt den größten Teil in der Demontage des schwäbischen Literaturkritikers ein. So trifft Menzel nicht nur der Vorwurf, sein Verrat an der liberalen Idee einer modernen und pluralistischen Demokratie sei gleichbedeutend mit dem Verrat am deutschen Vaterland. Der Essay Heines zeichnet den „Franzosenfresser“¹⁵⁸ darüber hinaus als Fremden, als Nicht-Deutschen. Menzel, der „altdeutsche Rassenmäkler“¹⁵⁹, findet sich nun auf selber Augenhöhe wieder mit dem von ihm diffamierten und als Außenseiter deklarierten politisch engagierten Schriftsteller. Dem antisemitischen Literaturkritiker wiederfährt in Über den Denunzianten, was Heine seit Beginn seiner Pub152 Vgl. B IX, S. 27f. 153 Vgl. B IX, S. 29f. 154 B IX, S. 30. 155 Vgl. B IX, S. 30. 156 Vgl. B IX, S. 31f. 157 Vgl. B IX, S. 32. 158 B XI, S. 455. 159 B IX, S. 33.
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likationen begleitet: die forcierte Brandmarkung als Fremdling, als Eindringling in die deutsche Gesellschaft: [D]ieser Held des Deutschtums, dieser Vorkämpe des Germanismus, sieht gar nicht aus wie ein Deutscher, sondern wie ein Mongole … jeder Backenknochen ein Kalmuck! Dieses ist nun freilich verdrießlich für einen Mann, der beständig auf Nationalität pocht, gegen alles Fremdländische unaufhörlich loszieht und unter lauter Teutomanen lebt, die ihn nur als einen nützlichen Verbündeten, jedoch keineswegs als reinen Stammesgenossen betrachten.¹⁶⁰
Zum einen ist es die Physiognomie der äußeren Züge Menzels, welche ihn im Essay Heines ironisch als Fremden stigmatisieren. Größeres Gewicht liegt auf dem inneren Wesen des Verrats. So bietet der Essay Heines den im nationalistischen Diskurs entworfenen deutschen Tugendkatalog auf. Als treu, großzügig, ehrlich und tapfer wird deutsches Wesen im Text beschrieben und im Charakter Menzels negiert.¹⁶¹ Geriert sich Menzel auch als engagierter Sprecher der DeutschNationalen, zeigt seine Persönlichkeit doch nicht eine von den „Stammesgenossen“ als deutsch definierte Eigenschaft. In seinem opportunen Verhalten ist statt Treue Verrat zu finden. Aus Großzügigkeit wird Bosheit. Verlogenheit und Feigheit treten an die Stellen von Ehrlichkeit und Mut.¹⁶² Indem der Text Heines ironisch den von den Nationalisten entworfenen Maßstab deutschen Wesens an Menzel, ihrem Sprecher, anlegt, wandelt er den Polemiker nicht nur zum vermeintlich Fremden. Auch die Konstruiertheit des Diskurses um den Begriff der Nation wird ironisch vor Augen geführt. Betrachtet man die im Text Heines aufgeführten Anschuldigungen von Verrat, Bosheit, Verlogenheit und Feigheit eingehender, wird deutlich, dass der Text Über den Denunziant mit Klassifikationen arbeitet, welche die antijüdische Bewegung in der Beschreibung des „jüdischen Wesens“ für die eigene Argumentation nutzt. So wird im Essay Heines gerade Menzel zum propagierten, deutschfeindlichen Prototypen des „Juden“ der antijüdischen Ideologie, vereinigt er in seiner Person doch alle Eigenschaften, welche das antijüdische Vorurteil dem „jüdischen Wesen“ zuschreibt. Wie im Fall Platens trifft die Anklage nicht allein die Person Menzels. Der Literaturkritiker wächst sich im Text Heines zur Allegorie für jenes unheilvolle Erstarken der Deutschtümelei aus, gespeist aus erwachendem Nationalismus, Rassismus und Antijudaismus. Die vorgeführte Genealogie des Denunzianten zeigt stellvertretend die Genese einer Bewegung, welche nicht nur das Exil Heines endgültig besiegelt, vielmehr die natürliche Anerkennung Heines als eines deut160 B IX, S. 33. 161 Vgl. B IX, S. 33–35. 162 Vgl. B IX, S. 34–35.
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schen Schriftstellers in Frage stellt. Verbindet Menzel in seinen Rezensionen den Vorwurf der Gottlosigkeit, der Frivolität und des Vaterlandsverrates des politisch engagierten Schreibens Heines mit dessen jüdischer Herkunft, gelingt es dem angeklagten Schriftsteller, die antijüdische Kritik nicht nur zu demontieren, sie vielmehr gegen die Deutschtümler zu richten: Die versuchte Schmähung des Außenseiters kehrt sich gegen ihre Urheber und ironisiert diese. Die Stimme des Marginalisierten ist nicht mehr als die des Unterlegenen zu identifizieren. Der Essay Über den Denunzianten lässt die antijüdischen Stimmen der Gegner keineswegs verstummen. Heine sieht sich in Deutschland, insbesondere seit seinem Gang ins Pariser Exil, von einer Art Rufmordkampagne bedroht, welche sich nicht nur aus der „Teutomanie“¹⁶³ von der Couleur Menzels sondern auch aus der Deutschtümelei der schwäbischen Dichter nährt. Auf Über den Denunzianten folgt 1838 Der Schwabenspiegel¹⁶⁴, welcher nicht mehr allein Menzel als Denunzianten der liberalen Idee benennt, vielmehr weitere Namen aus dem Stuttgarter Umfeld des Verleumders veröffentlicht. Unter den genannten Schwaben ist Gustav Pfizer zu nennen, der im Januar 1838 im antijüdischen Tonfall auf Über den Denunzianten reagiert und nicht nur das Werk Heines diskreditiert: Er geht einen Schritt weiter und richtet sich, in Anspielung auf die Abstammung des Schriftstellers, gegen die politischen Ziele der jüdischen Emanzipationsbewegung und ruft diese zum Ausschluss Heines auf.¹⁶⁵ Ein Resultat dieser Polemik 163 B IX, S. 38. 164 Vgl. B IX, S. 56–70. 165 Vgl. den polemischen Ton Gustav Pfizers in Heines Schriften und Tendenzen in der Zeitschrift Deutsche Viertel-Jahrsschrift 1 (1838). Zit. n. B XII, S. 463f.: „Woher stammt der Religionshaß Heines? >}@ [D]ie Juden streben, nachdem die schändlichen Bedrückungen und Verfolgungen aufgehört, mehr und mehr aller Orten nach bürgerlicher Gleichstellung mit den Christen, und haben in vielen Staaten Aussicht auf Erfüllung ihrer Wünsche. Das ist billig und vernünftig; aber Billigkeit und Vernunft sollten auch den Juden gebieten, in diesem Zeitpunkt am wenigsten durch Polemik gegen christliche Institutionen, durch Spott und Blasphemie auf das, was für heilig gilt, die ruhige Unparteilichkeit und den Gerechtigkeitssinn der Christen auf eine allzuharte Probe zu stellen: denn wie nahe liegt es zu sagen; so verstehen und anticipiren die Juden die vollkommene Freiheit! Heine ist kein Jude meht – entgegnet man uns; – der Kirche selbst, die ihn aufgenommen, fallen seine Lästerungen und Frivolitäten zur Last. Nun ja! er ist äußerlich übergetreten; aber wenn er sich auch losgesagt hat, wenn er sich gelegentlich einen Spaß erlaubt über seine Stammesgenossen >}@ so hat deswegen doch ein Theil von ihnen, und besonders diejenigen, die am lautesten die Emancipation fordern, nicht aufgehört, Heine insgeheim als den Ihrigen zu betrachten; während sie seine Unbesonnenheiten, oder welchen mildtadelnden Namen sie wählen mögen, mit Worten schelten, applaudiren sie mit Geberden seinen Lästerreden, und die Christen müssten taub und dumm seyn, wenn sie aus dem Gezischel und Geflüster nicht merken sollten, daß jene stolz sind auf den Bundesgenossen Heine. Man kann nicht verlangen, daß die Juden mit unterwürfiger Demuth als eine Gnade erbitten sollen, was ihnen zuzugestehen das vernünftige Recht gebietet; aber nur schaden kann
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ist die in Kapitel VI.2.1 beschriebene Absage der jüdischen Emanzipationsbewegung an Heine durch ihren Wortführer Gabriel Riesser, der sich in seiner Argumentation namentlich auf Pfizer beruft. Dass antijüdische und jüdische Stimmen in der Front gegen Heine vereint sind, zeigt die prekäre Stellung des Schriftstellers innerhalb der liberalen Bewegung. Verschärft wird die isolierte Stellung des Schriftstellers durch den Schwabenspiegel, der als Reaktion auf Pfizer und weitere Stimmen aus dem Stuttgarter Kreis der Nationalliberalen zu lesen ist. Ähnlich wie im Fall Menzels zeugen die Methoden Pfizers, so Heine, vom fälschenden und betrügerischen Rezensenten, wandelt die Argumentation des Schriftstellers den Gerichteten zum Richter über seine Verleumder.¹⁶⁶ Die Publikation des Schwabenspiegels ist verworren. Sie ist für Heine im Pariser Exil nur schwer nachvollziehbar und verhärtet seinen bereits geäußerten Verdacht einer Zusammenarbeit zwischen staatlicher Zensur und Nationalliberalen. Selbst Campe, sein Verleger, scheint vom Verrat am politisch engagierten Schriftsteller erfasst zu sein. Der Schwabenspiegel, als Nachrede zum geplanten zweiten Teil des Buchs der Lieder konzipiert, sollte den von der Rezension aufgemachten Bruch zwischen Poesie und Prosa schließen, um nicht nur die Anerkennung des Poeten zu untermauern, vielmehr auch die politischen Essays in ihrer Bedeutung für das Schaffen Heines zu betonen. Dennoch wird der Text, in
es ihren Ansprüchen, wenn sie, während der Geltendmachung ihres Rechts, mit den offenen Feinden des Christenthums in vertrautem Verkehr stehen und ihre Freundschaft mit denselben trotzig und hochmüthig zur Schau tragen. Wahrlich der Emancipation der Juden haben andere Bücher und andere Gesinnungen vorgearbeitet, als die Heines, und die Juden könnten nichts Besseres thun, als den lästernden Spötter zweier Religionen völlig verläugnen. Ob nicht jedoch Heine, wenn schon nicht dem Bekenntniß nach, doch der Herkunft nach Jude, in seinem Wesen und Charakter einzelne Züge von der Eigenthümlichkeit seines Volkes geerbt habe, z. B. den Witz, die Dreistigkeit etc., lassen wir dahingestellt, und bemerken nur, daß wenn sie unvorteilhaft auszeichnen, dies zum Theil auch auf die Rechnung der erlittenen Mißhandlungen kommen mag; und in dieser Betrachtungsweise würde man sich bestärkt sehen, je mehr das Verschwinden jener unvortheilhaften Züge gleichen Schritt hielte mit den Maßregeln, welche die Humanität zur Beseitigung der Beschwerden der Juden trifft oder vorbereitet, dagegen die gehässige Stimmung gegen die Juden dadurch genährt wird, ja wohl noch gesteigert werden wird, wenn die Genossen jener Nation auf dem ihnen eingeräumten Boden, statt sich friedlich anzubauen, Waffenplätze gründen und Wurfgeschosse aufführen. Möchten sie mit dem Takt und Instinkt, der sie in manchen Fällen so sicher leitet, das Juste milieu zu treffen wissen zwischen entwürdigender Kriecherei und herausforderndem Uebermuth, möchten sie auch den Schein meiden, mit einem Heine unter der Decke zu spielen, und sich überzeugen, daß das eingerissene Judaisiren in der Literatur mit dem charakterisirenden, eigenthümlichen Beigeschmack und seiner polemischschielenden Verbissenheit wohl etwa Lorbeeren zerfressen, aber keine gewinnen kann.“ 166 Vgl. B IX, S. 66.
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Absprache mit Heine, von der Lyriksammlung getrennt und Ende 1838 stark verändert im Jahrbuch der Literatur publiziert. Als treibende Kraft hinter der Trennung zwischen Lyriksammlung und Essay ist Karl Gutzkow zu nennen, Schriftstellerkollege und Vertrauter Heines sowie Mitarbeiter Campes. Die Nachrede (der spätere Schwabenspiegel) und der Zyklus Verschiedene aus der geplanten Lyriksammlung lassen Gutzkow Einspruch gegen die beabsichtigte Publikation dieser Schriften Heines erheben. Beide Texte seien eine weitere Provokation nationalliberal gestimmter Kreise und schädigten, gemeinsam publiziert, nachhaltig den Lyriker Heine, der bis dato von den Kritikern nicht angezweifelt wurde. Seine Bedenken teilt Gutzkow Heine in einem Brief vom 6. August 1838 mit, nicht ohne auf die isolierte Stellung des Schriftstellers im Exil zu verweisen und dessen daraus resultierender, angeblich falscher Einschätzung der deutschen Verhältnisse.¹⁶⁷ In der Beurteilung der Heineschen Lyrik und Prosa durch Gutzkow, dem einstigen Weggefährten, ist die geschlossene Front des dominanten Diskurses gegen den Marginalisierten spürbar. So ist der Einfluss der Polemik Pfizers auf den Brief Gutzkows nicht zu übersehen. Moralische Bedenken und nicht das liberale Ideal des freien Wortes bestimmen seine Empfehlung. Heine erinnert ihn denn auch in seinem Antwortschreiben,¹⁶⁸ der zugleich Abschiedsbrief ist, an die Autonomie der Kunst, welche gegen „die Moralbedürfnisse irgend eines verheuratheten Bürgers in einem Winkel Deutschlands“¹⁶⁹ zu verteidigen ist. Er betont seine Furchtlosigkeit vor diesen, an der Person Menzels als bigott entlarvten Kritikern.¹⁷⁰ Dennoch zieht er die Herausgabe der geplanten Lyriksammlung und ihrer Nachrede zurück. Die Verstümmelung des Schwabenspiegels führt zum endgültigen Bruch zwischen Heine und Gutzkow. Mit der starken Zensur des Schwabenspiegels ist für den Schriftsteller der Verrat seines ehemaligen Mitkämpfers bewiesen und ihm die Vermutung des wachsenden Einflusses „der schwäbischen Denunzianten“ bestätigt. Dass die Verstümmelung nicht das Werk Gutzkows ist, sondern der Druckerei des Verlags zur Last gelegt werden muss, wird Heine von Seiten seines Verlegers zwar versichert, verhindert die öffentliche Reaktion Heines auf den vermeintlichen Skandal verlagsinterner Zensur nicht.¹⁷¹ 167 Vgl. B XII, S. 469–471. 168 Vgl. B XII, S. 471–473. 169 B XII, S. 472. 170 Vgl. B XII, S. 472. 171 Vgl. Brief Julius Campes an Heine vom 25. Dezember 1838. In: HSA XV, S. 185ff. − Auf den Schwabenspiegel folgt am 8. Februar eine Erklärung Heines in der Zeitung der eleganten Welt, in der er die Autorschaft des Essays mit Blick auf die Eingriffe ablehnt und Wahlverwandtschaft zwischen den wertkonservativen und fortschrittlichen Liberalen vermutet. Vgl. B IX, S. 69f. – Am 15. Februar publiziert Campe im verlagsinternen Telegraph für Deutschland eine
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Es ist dann der Beitrag Gutzkows zum Jahrbuch der Literatur 1838, der, analog zum Schwabenspiegel veröffentlicht, das ganze Ausmaß seiner nationalistischen Gesinnung deutlich macht. Die Parallelität zu früheren Aufsätzen Menzels ist nun unverkennbar: Menzel und Gutzkow treffen sich im antijüdischen Ton gegen Heine.¹⁷² Ein privater Brief Heines, nicht ein vom Schriftsteller publizierter Text, antwortet auf die nicht mehr zu übersehende Wahlverwandtschaft der einstigen Gegner. Offen spricht der Brief des Autors die Anziehungskraft des antijüdischen Gedankenguts auf die deutschen Intellektuellen aus: Er [Gutzkow, Anm. d. Verf.] ist besessen von einem Dämon, der mir wohlbekannt ist. Ich erinnere mich, daß ich vor diesem Dämon immer Angst hatte. Es ist vielleicht ein Galgenmännlein − Zuerst hatte ihn Kotzbue, der überlieferte ihn dem Müllner, dieser dem Menzel, dieser wieder dem Gutzkow − der hat ihn vielleicht am wohlfeilsten erstanden und kann ihn nicht los werden, und wir sehen ihn bald als wahnsinnigen Halbheller im Lande herumlaufen, wenn nicht gar ihm der Teufel den Hals umdreht. Ich scherze nicht ganz; das Böse, was in ihm sitzt, erscheint mir wie Überlieferung. Er wirft mit Koth wider seinen Willen. Mich z. B. will er loben, und weiß doch nichts Besseres zu thun, als daß er die Triumphpforte, die er mir baut, mit dem alten Menzelschen Koth beklekst, von meinem Judenthume spricht, ganz á la Menzel, der mit der Losung zuerst den Pöbel gegen mich zur Bundgenossenschaft aufrief und sein eigenes Orginaldeutschthum dokumentiren wollte.¹⁷³
Ausschluss durch den Verweis auf die jüdische Herkunft des Schriftstellers – im Brief Heines wird die Strategie des dominanten Diskurses, den Gegner mit dem Verweis auf dessen Zugehörigkeit zu einer anderen, marginalisierten Gruppe zu diskreditieren, reflektiert. Im Zuge der soziokulturellen Wandlungsprozesse des 19. Jahrhunderts – Aufklärungsbewegung, Französischen Revolution und des Gegenerklärung (B X, S. 688f.), welche den Offenen Brief des Dr. Heines an Herrn Julius Campe (B IX, S. 71) nach sich zieht, datiert auf den 3. April 1839. Wie das offene Schreiben An eine Hohe Bundesversammlung, so dient auch der Offene Brief dem Schriftsteller als Ausdruck öffentlichen Protests gegen normative Kritik. Seiner Glaubwürdigkeit durch die von Campe publizierte Gegenerklärung beraubt, sieht der moderne Schriftsteller sein Amt als öffentlicher Sprecher und Kritiker der Verhältnisse erschüttert. Um diese Funktion zu schützen, nutzt er den öffentlichen Raum der Presse. Ausgeprägter noch als der Denunziant besitzt der Offene Brief judizialen Aufbau. Fakten werden genannt, ein Präzedenzfall vorgelegt, Schuldzuweisungen ausgesprochen, die Beweisführung anhand suggestiver Fragen durchgeführt. Polemisch zugespitzt, wiederholt sich die Hauptklage: verlagsinterne Zensur und Wahlverwandtschaft zwischen den fortschrittlich-liberalen und wertkonservativen Autorenkreisen. Als Beweisstücke der öffentlichen Anklage dienen private Briefe, um das widersprüchliche Verhalten der Angeklagten − den scharfen Kontrast zwischen privatem und öffentlichem Verhalten der Gegner − zu veranschaulichen und den Vorwurf der Lüge mittels der Umkehrung gegen sie selbst zu richten. 172 Vgl. B X, S. 670. 173 B XII, S. 474.
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Voranschreitens der Emanzipationsbewegung in den europäischen Staaten − ist die Stimme des Marginalisierten vom dominanten Diskurs jedoch nicht mehr mit eindeutiger Sicherheit als die authentische Stimme des fremden, unterlegenen Anderen zu identifizieren. Im Zuge der Säkularisierung jüdischen Lebens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, im Zuge der Überformung traditioneller Ordnungsmuster jüdischer Existenz durch verstärkte Orientierung an der Mehrheitsgesellschaft, löst sich der Nimbus kultureller Abgeschlossenheit und Überlegenheit auf, sowohl der Minderheit als auch der Mehrheitsgesellschaft − ohne dass die Strategie des Ausschlusses von Seiten des dominanten Diskurses aufgegeben wird. Die Schriftstellernöte Heines veranschaulichen diesen Prozess. In den Dokumenten ist die Ablehnung des Marginalisierten durch den dominanten Diskurs und der Widerstand des Ausgeschlossenen konkretisiert. In ihnen wird jenes Überlagerungsphänomen kultureller Differenz¹⁷⁴, jene Hybridität von Kultur sichtbar, die kennzeichnend ist für die (Post)Moderne: Die Stimme des Marginalisierten als solche nicht mehr eindeutig identifizieren zu können, den Anspruch auf Überlegenheit nicht mehr aufrechterhalten zu können, ist Folge einer diskursiven Ähnlichkeit des Marginalisierten mit dem Dominanten, die durch „Verschiebung, Dezentrierung, Umkehrung oder auch nur unpassenden Gebrauch dominanter Symbole oder Repräsentationen im Diskurs der Marginalisierten“¹⁷⁵ entsteht. Diese Strategien sind auch für die Texte Heines nachweisbar. Sie exemplifizieren Hybridität als Modus politischer Artikulation.
4 Exil, Wahnsinn, „weltpsychologischer Gegensatz“¹⁷⁶ – Das Echo diasporischer Existenz in der Genese des Zeitschriftstellers 4.1 Die Welt als Tollhaus – Die marginalisierte Stimme gegen den dominanten Diskurs Der Konflikt zwischen dominantem Diskurs und marginalisierter Stimme, der in den Dokumenten der Schriftstellernöte dokumentiert ist, prägt das Selbstverständnis Heines als eines politisch engagierten Schriftstellers. In Ludwig Börne. Eine Denkschrift [künftig Denkschrift] ist die Analyse des modernen Schriftstellers verdichtet. In dieser Analyse Heines geht es jedoch nicht allein um das Ausloten politischer Positionen oder um das Verhältnis von Kunst und Politik. Es geht viel174 Vgl. Nghi, Hype, S. 89. 175 Nghi, Hype, S. 87. 176 Zum Begriff „weltpsychologischer Gegensatz“ vgl. Höhn, Handbuch, S. 426.
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mehr um „etwas viel Tieferes – die Frage nach dem Wesen des Menschen und dem menschengemäßen Leben“¹⁷⁷. Die Denkschrift erschien erstmals 1840, wobei es Vorarbeiten aus den 1830er Jahren zum Text gibt. So geht die Forschung von der Entstehung des zweiten Börne-Buches, den sogenannten Helgoländer Briefen, im Herbst 1830 aus.¹⁷⁸ Die fünf Bücher der Denkschrift, die Auseinandersetzung Heines mit seinem republikanischen Antipoden und Weggefährten des politischen Exils, Ludwig Börne, setzen für das Gesamtwerk Heines ähnliche Maßstäbe wie der Rabbi. Heine versucht hier eine eigene politische wie literarische Standortbestimmung, reflektiert kritisch seine schriftstellerische Praxis und deren Beziehung zur sozialen Welt im weitesten Sinne, richtet die Beziehung zwischen künstlerischer und ideologischer Motivation neu aus.¹⁷⁹ Die Wirkung der Denkschrift auf Kritiker und Leser war jedoch verheerend für die Reputation des Schriftstellers in Deutschland. Heines Überzeugung, mit dem Börne-Buch sein bis dato „bestes Werk“¹⁸⁰ geschrieben, ein Buch von „dauerhaft historischem Werth“¹⁸¹ mit dem „Reitz eines humoristischen Unterhaltungsbuchs“¹⁸² geschaffen zu haben, mutet durch die Reaktion des breiten Publikums und durch die katastrophale Rezensionsgeschichte zunächst geradezu grotesk an. In der nationalliberal bestimmten Literaturszene zur Zeit Heines wurde die Denkschrift in erster Linie als posthume und somit besonders verwerfliche Attacke auf den Freiheitskämpfer und Patrioten Börne gelesen.¹⁸³ Der Gegensatz der Charaktere, von Heine in der Denkschrift selbst hervorgehoben und allegorisch ausgelegt, wird in den Rezensionen zu einer historischen Typologie, die Heine die Rolle des Konservativen und Börne die des Revolutionärs zuweist.¹⁸⁴ Heines Literaturbegriff wird als artifiziell und damit als reaktionär stigmatisiert.¹⁸⁵ Börne hingegen wird ihnen zum Wegbereiter der bürgerlichen Revolution.¹⁸⁶ Erst mit der Äußerung Thomas Manns' in seiner Notiz über
177 Zvi Tauber: Ästhetik und Politik. Der Streit zwischen Heine und Börne. In: Ludwig Börne. Deutscher, Jude, Demokrat. Hrsg. v. Frank Stern/Maria Gierlinger. Berlin 2003. S. 216. 178 Zur Entstehungsgeschichte vgl. Höhn, Handbuch, S. 415–417; DHA XI, S. 251–276 u. 659ff. 179 Vgl. Hauschild, Heine, S. 351ff. 180 HSA XXI, S. 348. 181 HSA XXI, S. 348. 182 HSA XXI, S. 348. 183 Vgl. Hohendahl, Heine, S. 131. 184 Vgl. Hohendahl, Heine, S. 132. 185 Vgl. Hohendahl, Heine, S. 134. 186 Vgl. Hohendahl, Heine, S. 134.
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Heine zum Börne-Text als „die genialste deutsche Prosa bis Nietzsche“¹⁸⁷ sollte eine langsame Rehabilitierung des Autors bezüglich der Schrift und deren herausragender Bedeutung für die deutsche Literatur einsetzen.¹⁸⁸ Ein nicht zu überlesender Schwerpunkt der Denkschrift ist die Auseinandersetzung Heines mit dem Programm des Republikanismus, für den Börne stritt und von dem er sich, „die Lösung der gesellschaftlichen Probleme erwartete, weil er nicht begreifen wollte, daß die Evolution von 1789 bis 1830 nicht zur Gesellschaft von freien Bürgern, sondern zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft geführt hatte“¹⁸⁹. Die Kommentierung politischer Standpunkte Börnes und Heines im autobiographischen Kolorit bildet jedoch nur einen Aspekt der Denkschrift. In ihr ist darüber hinaus, so Zvi Tauber, ein prinzipieller Streit zwischen Börne und Heine über das Wesen der Befreiung des Menschen festgehalten, der weit über eine politische Debatte hinausgeht.¹⁹⁰ Die Befreiung des Menschen ist für Heine nicht mit dem Erlangen politischer Freiheit und sozialer Gleichheit erreicht, obwohl die politische Emanzipation Motor seines Schreibens von Beginn an ist. Die Freiheit des Menschen bedeutet ihm auch eine Befreiung von moralischen Bewertungen, insbesondere die im christlich-jüdischen Monotheismus herausgebildeten. Im Sensualismus, der „gesellschaftliche[n] Befreiung der menschlichen Seele von spiritualistischer Unterdrückung“¹⁹¹ sieht er das Ideal der Freiheit verkörpert. Börne als radikaler Republikaner, der der politischen Freiheit und sozialen Gleichheit der Menschen alles unterordnet − auch die Kunst − steht nach Auffas-
187 Thomas Mann: Notiz über Heine. In: Reden und Aufsätze II (Stockholmer Gesamtausgabe). Oldenburg 1965. S. 680. – Zur Heine-Rezeption von Thomas und Heinrich Mann vgl. Volkmar Hansen: Thomas Manns Heine-Rezeption. Hamburg 1975; Hohendahl, Heine, S. 201ff. 188 Zur jüngeren Rezeptionsgeschichte vgl. Norbert Oellers: Die zerstrittenen Dioskuren. Aspekte der Auseinandersetzung Heines mit Börne. In: Zeitschrift für deutsche Philologie (ZfdPh) 91 (1972). S. 66–90; Inge Rippmann: Heines Denkschrift über Börne. Ein Doppelportrait. In: HJb 12 (1973). S. 41–70; Walter Hinderer: Nazarener oder Helene. Die politisch-ästhetische Fehde zwischen Börne und Heine. In: Monatshefte 66 (1974). S. 355–364. An den genannten Beispielen sieht man die Bewegung der Heine-Rezeption fort vom Thema der Fehde zwischen Heine und Börne und ihrer psychologischen Ausdeutung hin zur Konzentration auf den philosophisch-politischen Gehalt der Schrift. 189 Hohendahl, Heine, S. 134. 190 Vgl. Tauber, Ästhetik, S. 204. 191 Tauber, Ästhetik, S. 204. – Tauber führt dazu weiter aus: „Gemeint ist mit diesem Ideal die sinnlich sublimierte Befreiung der Menschenseele: eine Rehabilitation des sinnlichen Ausdrucks und der Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse des Menschen einschließlich der Legitimation eines sensuellen Umgangs der Menschen miteinander in ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit.“
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sung Heines für ein Menschenbefreiungspostulat, das die spiritualistische Unterdrückung der Menschen letztendlich fortführt.¹⁹² Gezeichnet wird der Streit der Schriftsteller in der Denkschrift durch die Gegensatzpaare Spiritualismus/Sensualismus, Nazarenertum/Helenismus, Intoleranz/kosmopolitische Denkungsart. Über ein Motivpaar, das von Heine auch in der Darstellung der jüdischen Minderheit im Rabbi Anwendung findet, ist dieser Streit strukturiert und wird die von Heine als überlegen gezeichnete Position des Kosmopoliten dargestellt. So besitzt das in beiden Texten Heines entwickelte Motiv des kollektiven und individuellen Leidens im und am Exil sowohl für die Entwicklung des jüdischen Sujets als auch für die Darstellung des politisch engagierten Schriftstellers eine zentrale Bedeutung.¹⁹³ Die Grunderfahrung der diasporischen Existenz, sich an der Peripherie einer Gesellschaft zu bewegen, als nicht zugehörig wahrgenommen zu werden und damit gefährdet zu sein, ist auch in der Erfahrung des politisch engagierten Schriftstellers im 19. Jahrhundert reflektiert. Als Ort des Exils kann sich in Zeiten der Restauration nur Paris anbieten, das europäische Zentrum des politischen und ökonomischen Fortschritts. Der Preis, den der Schriftsteller für die an diesem Ort gewährte Freiheit des Wortes und nicht zuletzt für das eigene Überleben zahlt, ist immens. Die Gefahr, an „den harten Treppen des Exils“¹⁹⁴ zu zerbrechen, ist im Schicksal anderer, aus Deutschland geflohener Exilanten stets präsent. Heine, der zunächst freiwillig nach Paris übersiedelt – eine Entscheidung, die von den Ereignissen der Julirevolution von 1830 getragen wird − muss spätestens 1835 vom unfreiwilligen Exil ausgehen, denn der Bundestagsbeschluss vom Dezember desselben Jahres, durch den alle Schriften des Jungen Deutschlands einem Publikationsverbot unterliegen, raubt ihm jede Möglichkeit schriftstellerischer Betätigung in seiner Heimat. Diesem Publikationsgebot wird am 16. April 1844 noch ein Haftbefehl der preußischen Behörden gegen Heine hinzugefügt, die den Dichter auf seiner letzten Reise durch Deutschland dazu zwingen, preußisches Territorium zu meiden. Diese Erfahrung der zwangsweisen Exilierung „zieht sich wie eine dunkle Grundierung durch Heines gesamtes Spätwerk.“ Bernd Witte bemerkt dazu: „In seiner Denkschrift […] entwirft er [Heine] so etwas wie eine Phänomenologie des Lebens in der Fremde.“¹⁹⁵ Wie im Rabbi wirkt auch in der Denkschrift das Thema psychischer und physischer Degeneration des Individuums im Exil als Bedeutungs- und Struk-
192 Vgl. Tauber, Ästhetik, S. 214. 193 Vgl. Jasper, Parnass, S. 177. 194 Hauschild, Heine, S. 359f. 195 Bernd Witte: Heimat Exil. Von Heinrich Heine zu Walter Benjamin. In: Benjamin und das Exil. Hrsg. v. Bernd Witte. Würzburg 2006. S. 26.
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turträger. In der Denkschrift stützt, unterstreicht, vergegenwärtigt und klärt die Verbindung von Exil und Wahnsinn die thematische Organisation des Textes. In der Verbindung von Wahnsinn und Exil ist dabei jene Überprüfung des eigenen Selbstverständnisses gestaltet, die bereits für die moderne jüdische Existenz festgestellt wurde, die jedoch auch in den Reflexionen Heines über sein Schriftstellerverständnis ausgedrückt ist.¹⁹⁶ Über den Raum des Exils, über die Schilderung der bedrückenden Folgen der Existenz als Minderheit beziehungsweise als Paria der Gesellschaft, nähert sich Heine sowohl der jüdischen Minorität als auch der Schriftstellerexistenz im 19. Jahrhundert an, zeigt die Gefahren des Ausschlusses beziehungsweise die Folgen eines auf Intoleranz basierenden Denkens auf. Minderheitenthematik und Darstellung modernen Schriftstellverständnisses werden im Werk Heines über den Raum des Exils¹⁹⁷ aufeinander bezogen. Mit dem Motiv psychischer und physischer Degeneration sind die Themen Heines auch in die europäische Literaturtradition eingebunden. Das Motiv des Wahnsinns hat markante Spuren im Kanon der Weltliteratur hinterlassen. Ob Don Quixote, Hamlet oder Faust, ob die Helden der Romantik oder die Antihelden des Expressionismus − sie alle tragen die Züge des Wahnsinns, jenes inneren Zustandes, der an der Welt verzweifelt. Dabei ist es die Welt, die zutiefst gestört scheint, sind die Symptome individueller, seelischer und geistiger Störung Übertragungen gesellschaftlicher Schieflage.¹⁹⁸ Der beschriebene innere Zustand der literarischen Figur spiegelt dabei die allgemeine Degeneration der menschlichen Verhältnisse.¹⁹⁹ Das „In-der-Welt-Sein“ ist bedroht. Das von der Figur leidenschaftlich Erhoffte ist Illusion. Auch Unterdrückung, Hunger und Armut ziehen seelische Belastungen nach sich, sie führen in den geistigen Zusammenbruch.²⁰⁰ Dabei kann der Leser häufig verfolgen, wie sich in der Figur jener Übergang von der gesicherten Wirklichkeitserfahrung zum Chaos, vom rationalen Denken zur irrationalen Idee vollzieht. In Ausrufen, Satzfragmenten, in erschreckenden
196 Vgl. Daemmrich, Themen, S. XII. – Zu den verschiedenen Dimensionen des Exils im Werk Heines vgl. Briese, Exil, S. 14–36. 197 „Unbestritten ist […], dass unter den Bedingungen des selbstgewählten Exils in Frankreich Heines Auseinandersetzung mit der jüdischen Herkunft einen neuen Status erlangte. Um 1848, im Schnittpunkt von persönlicher Krankheit, politischen Konvulsionen und neuen dichterischen Strategien, erhielt die jüdische Exilsituation neue Aktualität. Exilsituation war Judentum. Judentum war Exilsituation schlechthin.“ Siehe Briese, Exil, S. 23. 198 Vgl. hierzu auch Kapitel III.3. – Am Beispiel der literarischen Figuren im Fragment Der Rabbi von Bacherach, die entweder noch nicht oder schon der Degeneration verfallen sind, offenbart sich die gesellschaftliche Schieflage, hervorgerufen durch die Unterdrückung marginalisierter Gruppen. 199 Vgl. Daemmrich, Themen, S. 368. 200 Vgl. Daemmrich, Themen, S. 370.
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Wandlungen der Figur verdichtet sich der Wahnsinn, wird er lesbar. Der Verknüpfung von Exil und Wahnsinn kommt darüber hinaus, aufgrund ihres Gehalts von existenzieller Not, eine für den Text unerlässliche Appellfunktion zu.²⁰¹ Diese ruft Assoziationen hervor und fordert den Leser auf, die Bedeutungssphäre des Geschriebenen näher zu bestimmen und analoge Erinnerungsbilder zu überprüfen.²⁰² So bewirkt die Zusammenführung von Exil und Wahnsinn auch einen Dialog zwischen Text und Leser, an dessen Ende zum einen die kritische Überprüfung des traditionell Vermittelten stehen kann, zum anderen eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen. Wie Ingrid und Horst Daemmrich in der Einführung zu ihrem Handbuch Themen und Motive in der Literatur unterstreichen, besitzt das Zeichensystem der Motive und Themen in der abendländischen Literatur: […] die rhetorische Schlüsselfunktion des ständigen Umschaltens auf neue Stufen des Erkennens und nimmt den ontologischen Charakter des Rufens an. Es ruft auf, die in der Situation eingefangene Überlieferung des Handelns zu überprüfen, erinnert an Fehlentscheidungen und weist in die Zukunft. Es steht für Bekanntes und für noch nicht Erschlossenes und verlangt eine kritische Prüfung der bestehenden Verhältnisse.²⁰³
So kann die Verbindung von Exil und Wahnsinn bedeutsam sein für das Aufbrechen überkommener Denkweisen und somit für eine Erweiterung der literarischen Tradition sorgen. In der Linie der europäischen Literaturtradition nutzen die Texte Heines das Motiv des Wahnsinns, gebunden an den Ort des politischen Exils (beziehungsweise der Diaspora), um in der Schilderung der Protagonisten die Konflikte von Gesellschaft und Individuum zu reflektieren. Die nachfolgende Interpretation folgt dem Motiv des am Exil verzweifelnden Individuums durch die Denkschrift und versucht auf diese Weise eine Annäherung an das moderne Schriftstellerverständnis, wie es im Text von Heine am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit Börne-Figur diskutiert wird.
4.2 Ewige Winterhölle des Exils – Vom Unglück des deutschen Patrioten in Paris Die Zeichnung der Diaspora als seelisch und körperlich zerrüttend begegnete dem Leser der vorliegenden Arbeit bereits im dritten und fünften Kapitel. Die diasporische Existenz ist im Rabbi zu einer degenerierten verzerrt, der die Erfah201 Vgl. Daemmrich, Themen, S. XII. 202 Vgl. Daemmrich, Themen, S. XII. 203 Daemmrich, Themen, S. XIII.
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rung des Scheiterns inhärent ist. In Shakespeares Mädchen und Frauen trägt die antijüdisch gefärbte Maske des Protagonisten Züge des dämonisch erscheinenden Wahnsinns. An die Stelle des Dämonischen setzt erst die Rezeption Heines ein menschliches, jüdisches Selbstverständnis reflektierendes Antlitz. Und statt des rachegeleiteten Wahnsinns im Drama Shakespeares, ist es in der Interpretation Heines die Verzweiflung Shylocks über das eigene Schicksal und über das der jüdischen Minorität an der Diaspora, die den Protagonisten durch den Text Heines bewegt. Doch nicht nur Shylock, auch den im Text beschriebenen Juden in der Synagoge an Jom Kippur haftet diese Verzweiflung an. Dabei erinnern die Gläubigen den Ich-Erzähler an die Insassen einer Irrenanstalt, die alle samt dem Wahnsinn verfallen sind.²⁰⁴ Der Wahnsinn, den der Ich-Erzähler auszumachen glaubt, ist ein pathologischer, der aus der „fixen Idee“²⁰⁵ religiöser Heilsgewissheit genährt ist, so die säkulare Perspektive des Textes. Darüber hinaus wurzelt die Degeneration der jüdischen Existenz, wie auch im Rabbi, in ihrem Status als unterdrückte Minderheit. Die Physiognomie der psychischen Degeneration in der Fremde ist ebenso in der zum Rabbi parallel publizierten Denkschrift zu finden. Hier ist es nicht die jüdische Existenz in der Diaspora, die im Zentrum der Ausarbeitung steht, vielmehr ist es der politisch engagierte Mensch zu Beginn der anbrechenden Moderne, der aufgrund seiner progressiven Geisteshaltung von einem regressiven Gesellschaftssystem ins politische Exil, in die Außenseiterexistenz gedrängt wird und so in Gefahr gerät, an Körper und Geist zu erkranken. Dabei zeigt sich in der Zusammenschau beider Texte, dass die Denkschrift in der Thematisierung des Exils als Ort der Degeneration Bezug nimmt auf den Rabbi.²⁰⁶ So findet das Leid des Exils in Zusammenhang mit der jüdischen Existenz in der Diaspora bereits im Ersten Buch der Denkschrift eine Thematisierung. Es ist der Protagonist des Textes, der den Ich-Erzähler durch das Frankfurter Ghetto führt und mit dem Verweis auf die Schrecken der Diaspora an das Rabbi-Fragment und dessen Problematik erinnert: Als wir aber durch das Judenquartier gingen, schienen die schwarzen Häuser ihre finstern Schatten in sein Gemüt zu gießen. ‚Betrachten Sie diese Gasse‘, sprach er seufzend, ‚und rühmen Sie mir alsdann das Mittelalter! Die Menschen sind tot, die hier gelebt und geweint
204 Vgl. B VII, S. 264. 205 B VII, S. 264. 206 Zur Parallelität der Sequenzen vgl. Kommentar Windfuhr in DHA V, S. 600ff. Hier wird vor allem das Problem der Datierung bezüglich der entstehungsgeschichtlichen Reihenfolge beider Texte diskutiert. Die vorliegende Arbeit schließt sich dabei der Argumentation Windfuhrs an, die davon ausgeht, dass die Ausführungen zum Judenviertel in der Denkschrift auf den Äußerungen im Rabbi aufbauen, der Rabbi dem Börne-Buch also vorangeht.
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haben, und können nicht widersprechen, wenn unsere verrückten Poeten und noch verrückteren Historiker, wenn Narren und Schälke von der alten Herrlichkeit ihre Entzückungen drucken lassen; aber wo die toten Menschen schweigen, da sprechen desto lauter die lebendigen Steine.‘ In der Tat, die Häuser jener Straße sahen mich an, als wollten sie mir betrübsame Geschichten erzählen, Geschichten, die man wohl weiß, aber nicht wissen will, oder lieber vergäße, als daß man sie ins Gedächtnis zurückriefe.²⁰⁷
Ist im Rabbi an die Beschreibung des Weges der Protagonisten durch die mittelalterliche Frankfurter Judengasse ein vorausschauender Blick auf den zukünftigen Zustand dieses Ortes geknüpft, sind die Gedanken der beiden Spaziergänger durch die Judengasse zu Beginn des 19. Jahrhunderts der vergangenen Zeit jüdischen Lebens an diesem Ort zugewandt. Die Lebensfeindlichkeit dieses Ortes, an dem die Bewohner in den Jahrhunderten zuvor „sardellenartig zusammenrückten und dadurch an Leib und Seele verkrüppelten“²⁰⁸, ist zu einer totalen Ödnis ausgewachsen. Das ehemalige Ghetto, dessen Mauern im Zuge der gesellschaftlichen Umwälzungen im 18. und 19. Jahrhundert niedergerissen wurden, scheint endgültig verlassen, jüdisches Leben in der Diaspora ausgelöscht. Dieser Eindruck des verlassenen Ortes, an dem selbst die im Rabbi gezeichneten Narrengestalten jüdischer Existenz nicht mehr anzutreffen sind, verstärkt sich durch die Schilderung eines Gebäudes, das durch den Verweis auf die aus ihm hervordringende Stimme des „Rabbi Chayim“²⁰⁹ an die Synagoge des Viertels denken lässt. So erinnert sich der Ich-Erzähler in seiner Schilderung des Weges durch die Judengasse: […] eines giebelhohen Hauses, dessen Kohlenschwärze um so greller hervorstach, da unter den Fenstern eine Reihe kreideweißer Talglichter hingen; der Eingang, zur Hälfte mit rostigen Eisenstangen vergittert, führte in eine dunkle Höhle, wo die Feuchtigkeit von den Wänden herabzurieseln schien, und aus dem Innern tönte ein höchst sonderbarer, näselnder Gesang. Die gebrochene Stimme schien die eines alten Mannes, und die Melodie wiegte sich in den sanftesten Klagelauten, die allmählig bis zum entsetzlichsten Zorne anschwollen.²¹⁰
Von dem lebhaften Stimmengewirr der jüdischen Gemeinde im Rabbi ist in der Denkschrift eine einzelne Stimme geblieben, die in ihrer Gebrechlichkeit und Vereinzelung auf die Auflösung traditionellen jüdischen Lebens hindeutet. Die Synagoge, der traditionelle Ort jüdischen Selbstverständnisses in der Diaspora, bleibt im Europa des 19. Jahrhunderts verwaist zurück. Mit der Rezitation des 137. 207 B VII, S. 21f. 208 B I, S. 486. 209 B VII, S. 22. 210 B VII, S. 22.
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Psalms, dem „große[n] Exilpsalm“²¹¹, scheint die einsame Stimme des Rabbiners die letzte zu sein, die sich sehnsuchtsvoll Zions erinnert und dem prophezeiten Heimgang der Juden ins Gelobte Land harrt. Die Protagonisten der Denkschrift, in denen mit Blick auf die Biographien Heines und Börnes die akkulturierten Juden des 19. Jahrhunderts exemplifiziert sind, sind dieser Sehnsucht der jüdischen Diaspora nach Erez Israel entfremdet, wie die notwendig gewordene Übersetzung des Psalms, des berühmtesten Zionsliedes überhaupt,²¹² ins Deutsche durch den Stadtführer verdeutlicht. Zwar ist beiden Spaziergängern der Judenhass der christlichen Bevölkerung noch immer gegenwärtig, doch gehen sie an der Synagoge vorbei, ohne diese zu betreten.²¹³ Bleibt der Gang durch die ehemalige Judengasse für die beiden Protagonisten auch ein bloßer Spaziergang, ist diese Straße auch längst nicht mehr jüdischer Lebensraum, besitzt das Zitat des Psalms für die Figuren eine leitmotivische Bedeutung:²¹⁴ Erinnert der Gesang einerseits an die babylonische Gefangenschaft, an die erste jüdische Diaspora, verweist er doch auch auf das Schicksal der Protagonisten, auf deren Gang ins Exil mit der daraus erwachsenden Konsequenz des Leids. Ihr Exil erscheint somit auch „als die folgerichtige Fortsetzung einer unendlichen Geschichte der Verfolgung und des Exils durch die Mächtigen der Welt“²¹⁵. Der Protagonist des Textes, der durch das Frankfurter Judenviertel führt, ist die vom Text entworfene Börne-Figur. Ihr Gesprächspartner, derjenige, der durch das Viertel geführt wird, ist der Ich-Erzähler. Mit Blick auf die Anlage des Textes und die Thematisierung der Fehde zwischen Ludwig Börne und Heinrich Heine können diese Dialogpartner der Denkschrift als Figurationen der beiden Schriftsteller gelesen werden. Heine will jedoch nicht so sehr eine Biographie Börnes geben. Nicht dessen Person und die seine, vielmehr die Epoche und die ihr eingebundene literarisch-ideologische Zeitgeschichte stehen im Zentrum des Textes.²¹⁶ In den in der Denkschrift entworfenen Protagonisten ist wie in einem Brennspiegel jene Geschichte konzentriert. Erreicht wird die Dokumentation der Zeitgeschichte durch einen assoziativen Memoirenstil, der nicht chronologisch, vielmehr zwischen Vorausschau und Rückblick wechselnd, arbeitet.²¹⁷ Aufgrund 211 Ruth Wolf: Versuch über Heines „Jehuda ben Halevy“. In: HJb 18 (1979). S. 85. 212 Vgl. Oberhänsli-Widmer, Exil, S. 11. 213 Vgl. B VII, S. 22f. 214 Vgl. Witte, Heimat, S. 26. 215 Witte, Heimat, S. 27. 216 „An der Form der Schrift ist abzulesen, daß es sich für Heine darum handelte; an der Person Börnes und seiner Beziehung zu Heine die literarisch-ideologische Konstellation seiner Epoche zu verdeutlichen, und die eigene Position zu klären.“ Siehe Hohendahl, Heine, S. 130. – Vgl. auch Höhn, Handbuch, S. 418. 217 Vgl. Jasper, Parnass, S. 134ff.
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der kunstvollen Verschachtelung von Dokumentation, Anekdoten, Zitaten, von Porträtskizze, theoretischer Reflexion, von Traumbildern und geschichtsphilosophischen Symbolen muss der Text als eines der brillantesten Prosawerke Heines eingeschätzt werden.²¹⁸ Gerade die collagenartige Methodik verweist darauf, die Denkschrift nicht so sehr als biographisch angelegten Text zu lesen und gerade die Börne-Figur als literarisches Konstrukt, als Typus des Schriftstellers, der aus den Zeitverhältnissen des 19. Jahrhunderts erwächst, zu lesen. Dabei ist zu betonen, dass das persönliche Verhältnis zwischen Börne und Heine für die Entstehungsgeschichte des Buches von hoher Bedeutung ist, sind Leben, Wirken und Tod Börnes und dessen Auseinandersetzung mit Heine doch Voraussetzungen der Schrift.²¹⁹ Heine versucht mit der Denkschrift eine Analyse des aus den Zeitverhältnissen erwachsenden neuen Typus des Autors. Ludwig Börne selbst entwarf 1818 in seiner Ankündigung der geplanten Zeitschrift Wage diesen Typus des modernen Autors und wies diesem den Titel „Zeitschriftsteller“²²⁰ zu.²²¹ Der Text Börnes entwirft das Portrait des praktisch-engagierten Schriftstellers in der neuen bürgerlichen Gesellschaft. Die Aufgabe des Zeitschriftsteller sei es, den „Meinungskampf über Angelegenheiten des bürgerlichen Lebens zu beobachten und seinen abwechselnden Erfolg zu berichten“²²². Das politische Bewusstsein der Öffentlichkeit soll durch die Popularisierung soziologischer Themen ausgebildet werden. Diesem Entwurf des modernen Typus des Schriftstellers ist die Denkschrift gewidmet. Sie bewertet die Überlegungen Börnes von 1818 als nicht progressiv genug. Das eigene Konzept des Zeitschriftstellers wird als das überlegenere dargestellt.²²³ Das Mangelhafte des Börneschen Entwurfs wird dem Leser der Heineschen Schrift sichtbar gemacht im Scheitern der Börne-Figur, in deren psychischer und physischer Zerrüttung im Exil, denn der Protagonist, der den Ich-Erzähler durch das Frankfurter Judenviertel führt, wird in Paris dem Wahnsinn verfallen. Für die vorliegende Arbeit sind bezüglich der Physiognomie der Börne-Figur in erster Linie die Darstellung jener revolutionären Bewegungen im Pariser Exil 218 Vgl. Jasper, Parnass, S. 155ff. – Willi Jasper gibt in seinem Kapitel Polemik zwischen Tod und Exil – Börne und Heine einen konzentrierten Blick auf Thematik, Werkstatt und Aufnahme der Denkschrift. Vgl. auch Willi Jasper: Ludwig Börne. Keinem Vaterland geboren. Berlin 2003. 219 Zum Verhältnis Heine-Börne vgl. Jasper, Parnass, S. 153f.; Hauschild, Heine, S. 351–353; Höhn, Handbuch, 421f. 220 Jasper, Börne, S. 112. 221 Vgl. Jasper, Parnass, S. 108ff. 222 Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Hrsg. u. neu bearb. v. Inge Rippmann/Peter Rippmann. Bd. 1. 1964–1968. S. 676. 223 Zum Konzept des Zeitschriftstellers bei Heine vgl. ausführlich Kapitel VI.4.3.
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von Bedeutung, denen Börne selbst angehörte sowie die Opposition Heines zu diesen. In der Zeichnung der Börne-Figur als Mittelpunkt dieser politischen Bewegungen ist die Forderung des Börne-Textes von 1818 reflektiert, das politische Engagement zum Hauptkriterium des modernen Schriftstelleramtes zu erheben. Dabei können in der Analyse der Denkschrift drei thematische Schwerpunkte in der kritischen Auseinandersetzung mit den politisch Engagierten des Pariser Exils ausgemacht werden: 1) der Pariser Kreis radikaler, deutscher Republikaner, 2) der Pariser Kreis polnischer Revolutionäre, 3) der Rhein-bayrische Kreis der deutschen Revolutionsbewegung. Diese drei Themenkreise sind im Text Heines durch subjektiv-psychologische Unreife, ideologisch-politische Schwäche und praktisch-politische Ohnmacht ausgezeichnet.²²⁴ Besonders die deutschen Republikaner in Paris werden in der Denkschrift als Wirrköpfe und exaltierte Phantasten beschrieben.²²⁵ Die Börne-Figur wird als „Seele“²²⁶ dieses Kreises deutscher Exilierter in Paris bewertet, tritt als das „Organ“ der „zeitgenossenschaftlichen Passionen“²²⁷ auf. Als Sprecher der Bewegung wird die Börne-Figur dem Heine-Text gleichsam zum Typus des deutschen Republikaners im Exil. Für die Komposition dieser Figur ist das Motiv psychischer und physischer Degeneration von zentralem Stellenwert. Dabei wird der Prozess des geistigen und körperlichen Verfalls der Börne-Figur vom Ich-Erzähler dezidiert beobachtet. Folgt man dem Motiv des Wahnsinns durch den Text, ist es in allen fünf Kapiteln der Schrift zu finden, kann es gleichsam als Element der Strukturierung des Textes gelesen werden. Gleich zu Beginn des Textes gibt der Ich-Erzähler ein erstes Bild der BörneFigur. Berichtet wird von ihrer ersten Begegnung, wobei der Ich-Erzähler in der Rolle des Beobachtenden auftritt, es zu keiner Kommunikation zwischen IchErzähler und Börne-Figur kommt: Es war im Jahr 1815, nach Christi Geburt, daß mir der Name Börne zuerst ans Ohr klang. Ich befand mich mit meinem seligen Vater auf der Frankfurter Messe […]. Einst führte mich mein Vater ins Lesekabinett einer der Δ oder □ Logen […]. Während ich im Zeitungslesen vertieft lag, flüsterte mir ein junger Mensch, der neben mir saß, leise ins Ohr: ‚Das ist der Doktor Börne, welcher gegen die Komödianten schreibt!‘ Als ich aufblickte, sah ich einen Mann, der, nach einem Journale suchend, mehrmals im Zimmer sich hin- und herbewegte und bald wieder zur Tür hinausging. So kurz auch sein Verweilen, so blieb mir doch das ganze Wesen des Mannes im Gedächtnisse, und noch heute könnte ich ihn mit diplomatischer Treue abkonterfeien. ²²⁸
224 Vgl. Höhn, Handbuch, S. 418. 225 Vgl. B VII, S. 68–72. 226 B VII, S. 72. 227 B VII, S. 77. 228 B VII, S. 9.
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Die ersten Worte der Denkschrift verweisen bereits auf deren ästhetisches Verfahren: Es liegt dem Leser hier keine Biographie Börnes im eigentlichen Sinne vor, für welche etwa die richtige Datierung oder die authentischen Rede- oder Gesprächszitate höchste Notwendigkeit besitzen würden. Vielmehr werden der Denkschrift der eigene Lebensbericht und die Charakteristik des Protagonisten Börne so eingeformt, dass die Aussage des Textes gestärkt wird.²²⁹ Die kritische Deutung der Zeitgeschichte hat dabei Wahrheitsvorrang vor der Richtigkeit einzelner Tatsachen aus dem Leben oder den Begegnungen der beiden Männer.²³⁰ So ist etwa eine erste Begegnung von Börne und Heine im Jahr 1815 eher auszuschließen.²³¹ Insbesondere der Hinweis des Nachbarn im Lesekabinett auf die Anwesenheit der Börne-Figur verweist auf die Fiktion der Situation, da Ludwig Börne sich zu diesem Zeitpunkt noch Baruch nannte und erst 1818 als Theaterkritiker zu arbeiten begann sowie an Bekanntheit gewann. In der Fiktion einer flüchtigen Begegnung ist der Kunstgriff Heines verdeutlicht, eigene (zum Teil fingierte) autobiographische Elemente dem Ich-Erzähler zuzuweisen und mit der Charakteristik der Börne-Figur zu verknüpfen. Auch das Motiv des Wahnsinns im Exil besitzt in der Charakterisierung der Börne-Figur unter anderem die Funktion, ihr im Text drastischere Konturen einzuzeichnen. Dass die Eröffnungsszene aus der Perspektive der Schreibzeit 1839/1840 zu deuten ist, zeigt auch die erste Beschreibung der Börne-Figur: Er schien weder groß noch klein von Gestalt, weder mager noch dick, sein Gesicht war weder rot noch blaß, sondern von einer angeröteten Blässe oder verblaßten Röte, und was sich darin zunächst aussprach, war eine gewisse ablehnende Vornehmheit, ein gewisses Dédain, wie man es bei Menschen findet, die sich besser als ihre Stellung fühlen, aber an der Leute Anerkenntnis zweifeln. Es war nicht jene geheime Majestät, die man auf dem Antlitz eines Königs oder eines Genies, die sich incognito unter der Menge verborgen halten, entdecken kann, es war vielmehr jener revolutionäre Mißmut, den man auf den Gesichtern der Prätendenten jeder Art bemerkt. Sein Auftreten, seine Bewegung, sein Gang, hatten etwas Sicheres, Bestimmtes, Charaktervolles. Sind außerordentliche Menschen heimlich umflossen von dem Ausstrahlen ihres Geistes? Ahnet unser Gemüt dergleichen Glorie, die wir mit den Augen des Leibes nicht sehen können? Das moralische Gewitter in einem solchen außerordentlichen Menschen wirkt vielleicht elektrisch auf junge, noch nicht abgestumpfte Gemüter, die ihm nahen, wie das materielle Gewitter auf Katzen wirkt? Ein Funke aus den Augen des Mannes berührte mich, ich weiß nicht wie, aber ich vergaß nicht die Berührung und vergaß nicht den Doktor Börne, welcher gegen die Komödianten schrieb.²³²
229 Vgl. B VIII, S. 758. 230 Vgl. B VIII, S. 758. 231 Vgl. B VIII, S. 759. 232 B VII, S. 9f.
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Bereits hier, im fingierten Ersteindruck des „jungen Ich-Erzählers“ vom noch unbekannten Börne, wird die Figur des bekannten Schriftstellers im späteren Pariser Exil sichtbar. Es ist das Bild jenes Anwärters auf den Vorsitz der deutschen Republikaner, das in der Denkschrift variiert wird.²³³ Das Motiv geistiger oder körperlicher Degeneration ist in dieser ersten Charakterstudie nicht auszumachen, wird aber vorbereitet. Der Geist des „außerordentlichen Menschen“ spiegelt sich harmonisch in dessen äußeren Zügen. Dabei vorverweist der Missmut in dessen Gestus und Habitus auf eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem Bestehenden, der sich im Exil zur Verzweiflung auswachsen wird.²³⁴ Das Bild vom harmonischen Zusammenspiel äußerer und innerer Wesenszüge wird bereits im zweiten Bild der Börne-Figur aufgebrochen. Die zweite Begegnung ist im Jahr 1827, zwölf Jahre nach dem ersten Zusammentreffen, angesiedelt. Börne-Figur und Ich-Erzähler treten nun in einen ersten Dialog über das Zeitgeschehen. Thema der Gespräche sind die politische Situation in Deutschland sowie die Akkulturationsproblematik der jüdischen Minderheit. Der Ich-Erzähler entwirft darüber hinaus das geschichtsphilosophische Modell der Dichotomie von Nazarenertum und Hellenentum, deren charakterliche Zuschreibungen im weiteren Textverlauf zentrale Bedeutung in der Darstellung der Börne-Figur erlangen.²³⁵ Ort des Gesprächs über die Zeitereignisse ist Frankfurt. Hier ist auch jener, bereits besprochene Gang von Protagonist und Ich-Erzähler durch das Judenviertel angesiedelt. Die zweite Begegnung greift einen Zeitpunkt aus dem Leben Börnes heraus, zu dem dieser, wohl situiert und als Schriftsteller anerkannt, von einer, auch zukünftig, beschaulichen Existenz ausgehen kann. Die Börne-Figur, so der Ich-Erzähler, scheint „im Zenit des Wohlbehagens zu stehen.“²³⁶ Der Ich-Erzähler konstatiert, dass er: […] Mühe hatte, den Mann wieder zu erkennen, dessen früheres Aussehen mir noch lebhaft im Gedächtnisse schwebte. Keine Spur mehr von vornehmer Unzufriedenheit und stolzer Verdüsterung. Ich sah ein zufriedenes Männchen, sehr schmächtig, aber nicht krank, ein kleines Köpfchen mit schwarzen, glatten Härchen, auf den Wangen sogar ein Stück Röte, die lichtbraunen Augen sehr munter, Gemütlichkeit in jedem Blick, in jeder Bewegung, auch im Tone. Dabei trug er ein gestricktes Kamisölchen von grauer Wolle, welches ihm […] ein drollig märchenhaftes Ansehen gab.²³⁷
233 Vgl. B VIII, S. 759. 234 Zur politischen Haltung Ludwig Börnes vor 1830 vgl. B VIII, S. 759. 235 Vgl. B VII, S. 18. 236 B VII, S. 21. 237 B VII, S. 13.
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Die Börne-Figur bricht in ihrer Darstellung ironisch den Bürger biedermeierlicher Provenienz. Die Verniedlichung der Figur zum „Männchen“ mit „drollig märchenhaftem Ansehen“ − Börne selbst war zu diesem Zeitpunkt 41 Jahre alt − deutet auf das sich in der erste Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierende Konzept vom kultivierten Privat- und Familienleben des Bürgertums. Auch die Zuschreibung der Gemütlichkeit auf die Figur, jenes Gemütszustandes des Wohlbefindens, gekennzeichnet durch Konflikt- und Sorglosigkeit, erinnert an den Rückzug weiter Kreise des politisch enttäuschten und von der verantwortlichen Mitarbeit im Staate ausgeschlossenen Bürgertums in den privaten Raum der Familie.²³⁸ Dass dieser Rückzug in die politische Inaktivität der Resignation über die politischen Machtverhältnisse entspringt, zeigt sich exemplarisch an der BörneFigur. Hinter der Fassade von Gemütlichkeit und Wohlbehagen regt sich der kritische Geist des Revolutionärs. Dieser Geist ist sich seiner Fesseln, gewunden aus den Gesetzen restaurativer Machtverhältnisse und auch aus materieller Absicherung, durchaus bewusst, wie die Porzellan-Parabel²³⁹ beweist. Im Gedanken an die Folgen freier Meinungsäußerung, in der Überlegung, „daß ich in meiner Dummheit nicht zu frei schreibe und plötzlich flüchten müßte“²⁴⁰, ist die Figur des kritischen Geistes sichtbar: „Aber noch bin ich stark genug, meine Porzellanfesseln zu brechen, und macht man mir den Kopf warm, wahrhaftig, die schöne vergoldete Teekanne fliegt zum Fenster hinaus mitsamt der Zuckerdose und dem ehelichen Glück und dem Katharinenturm und der Konstablerwache und den vaterländischen Gegenden, und ich bin dann wieder ein freier Mann, nach wie vor!“²⁴¹ Hier verweist der Text eindeutig auf den Revolutionär und dessen späteren Gang ins Exil. Wie noch ausführlich darzustellen sein wird, zeigt sich in dieser Dialektik von Engagement und Resignation, welche die Börne-Figur in den Begegnungen von 1815 und 1827 charakterisiert, ein Merkmal, das Heine der Physiognomie des Zeitschriftstellers zuweist: Der Engagierte resigniert vor den Zeitverhältnissen, unternimmt den Versuch eines inneren Exils ins Private, aus dem er dann durch die Ereignisse der Geschichte, der Revolution, herausgerissen wird. 238 Vgl. Hans G. Rötzer: Geschichte der deutschen Literatur. Epochen, Autoren, Werke. Bamberg 1996. S. 172. 239 Vgl. B VII, S. 15f. – Klaus Briegleb verweist in seinem Kommentar zur Denkschrift auf einen Paralleltext der Porzellan-Parabel (B VIII, S. 778–780), die beweist, „dass Heine den stofflichen Inhalt der anekdotischen Redeweise, die Börnes Stil und seine Art, von geschichtlichen Gestalten zu sprechen, treffend charakterisiert, hier aus eigener Erfindung beigesteuert hat (in aller Offenheit für den Leser, dessen Reisebilder-Kenntnis für H. vorauszusetzen war).“ [B VIII, S. 778.] 240 B VII, S. 15. 241 B VII, S. 16.
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Wie die Betrachtung der ersten beiden Begegnungen von Börne-Figur und Ich-Erzähler zeigt, wird das Motiv des Wahnsinns in diesem Abschnitt der Denkschrift nur marginal bemüht.²⁴² Dennoch ist eine Betrachtung beider Charakterstudien für die weitere Analyse der Börne-Figur von Interesse. Der vom Ich-Erzähler in der ersten Begegnung aufgebaute Mythos um die Börne-Figur wird bereits in der zweiten Charakterstudie demontiert, um, nach Intention der Denkschrift, die unterschiedlichen politischen Tendenzen der Protagonisten schärfer herauszuarbeiten. Gerade das Motiv des Wahnsinns wird bemüht, um die Demontage des Mythos Börne „als Heros, ausgezeichnet durch ‚römische Charakterfestigkeit‘ und ein ‚schönes edles Gemüt‘“²⁴³ zu betreiben. Die Denkschrift fügt der Börne-Figur, neben dem politischen Engagement und der Dialektik von Engagement und Resignation, ein weiteres Kennzeichen des von Heine entworfenen Typus des Zeitschriftstellers hinzu: die exilische Existenz²⁴⁴. Das Leben im Exil ist für die Börne-Figur mit psychischer und körperlicher Zerrüttung verbunden. Im Ersten Buch noch im Vollbesitz körperlicher und geistiger Kraft, ist die Physiognomie der Börne-Figur im Pariser Exil grundlegend geändert. Der einleitende erste Abschnitt des Dritten Buches, welches die Wiederbegegnung von Ich-Erzähler und Börne-Figur in Paris schildert, ist allein dieser dramatischen Wandlung des Protagonisten vorbehalten: Es war im Herbst 1831, ein Jahr nach der Juliusrevolution, als ich zu Paris den Doktor Börne wieder sah. Ich besuchte ihn im Gasthof Hotel de Castille, und nicht wenig wunderte ich mich über die Veränderung, die sich in seinem ganzen Wesen aussprach. Das bißchen Fleisch, das ich früher an seinem ganzem Leibe bemerkt hatte, war jetzt ganz verschwunden, vielleicht geschmolzen von den Strahlen der Juliussonne, die ihm leider auch ins Hirn gedrungen. Aus seinen Augen leuchteten bedenkliche Funken. Er saß, oder vielmehr er wohnte in einem großen, buntseidenen Schlafrock, wie eine Schildkröte in ihrer Schale, und wenn er manchmal argwöhnisch sein dünnes Köpfchen hervorbeugte, ward mir unheimlich zu Mute. Aber das Mitleid überwog, wenn er aus dem weiten Ärmel die arme, abgemagerte Hand zum Gruß oder zum freundschaftlichen Händedruck ausstreckte. In seiner Stimme zitterte eine gewisse Kränklichkeit und auf seinen Wangen grinsten schon die schwindsüchtigen roten Streiflichter. Das schneidende Mißtrauen, das in allen seinen Zügen und Bewegungen lauerte, war vielleicht die Folge der Schwerhörigkeit, woran er früher
242 Dennoch findet sich das Motiv im Ersten Buch der Denkschrift – in der Zeichnung des Schicksals der jüdischen Minderheit in der Diaspora. Wie bereits dargestellt, werden die Folgen des Exils – die Degeneration an Körper und Seele – im Gang der beiden Protagonisten durch das Judenviertel zur Sprache gebracht. 243 Hohendahl, Heine, S. 131. 244 Zum Begriff der „exilischen Existenz“ als Zeichen des Zeitschriftstellers vgl. auch Kapitel III.2.3 und Kapitel VI.5.
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schon litt, die aber seitdem immer zunahm, und nicht wenig dazu beitrug, mir seine Konversation zu verleiden.²⁴⁵
Die Börne-Figur hat im Exil, ähnlich den Bewohnern der Frankfurter Judengasse, groteske Züge angenommen. Bis zum Ende der Denkschrift, in allen drei noch verbleibenden Kapiteln, wird die Börne-Figur immer wieder im Duktus dieser Beschreibung gezeichnet. Der Ich-Erzähler spricht in seiner weiteren Darstellung der Börne-Figur von „launische[r] Tollheit“²⁴⁶, immer wieder von „Wahnsinn“²⁴⁷, von einem Brechen „alle[r] Dämme der Geduld und Vernunft“²⁴⁸, von einer erschreckenden Sprunghaftigkeit in der Gemütslage Börnes,²⁴⁹ von „entzügelte[r] Leidenschaft“²⁵⁰, von „fliehender Besonnenheit“²⁵¹ und nicht zuletzt von der „Hölle im Exil“²⁵². Der Funke, der dem Ich-Erzähler in der ersten Begegnung von 1815 in den Augen der Börne-Figur entgegen leuchtete, ist, so suggeriert es die Denkschrift, in den Jahren des Pariser Exils zum Feuer geworden, das Körper und Geist des Protagonisten zu verzehren scheint.²⁵³ Die Zeichnung der Börne-Figur als eine an Geist und Körper erkrankte, zieht die Frage nach den Ursachen nach sich.²⁵⁴ Zunächst konstatiert der Ich-Erzähler, dass die an der Börne-Figur diagnostizierte Erkrankung von Leib und Seele kein Einzelschicksal ist, dass vielmehr das gesamte Pariser Umfeld der Börne-Figur von diesem Leiden erfasst ist. So führt der Ich-Erzähler den Leser im Dritten Buch der Denkschrift in den Salon Börnes sowie in eine politische Versammlung, die sich als Ansammlungen skurriler Geister der republikanischen Bewegung erweisen.²⁵⁵ Die Börne-Figur ist jedoch nicht bloß Teil dieser Menagerie. Sie ist, wie oben bereits erwähnt, die Stimme dieses Kreises. Ihr Argumentieren und Verhalten steht, wie der Ich-Erzähler beobachtet, nicht nur nicht „im Einklang mit dem hitzigen Treiben jener deutschen Tumultuanten [Republikaner, Anm. d. Verf.], die seit der Juliusrevolution in wilden Schwärmen nach Paris kamen“²⁵⁶. Die vom Enthusiasmus der Revolution Aufgebrachten scharen sich gleichsam um
245 B VII, S. 61. 246 B VII, S. 64. 247 B VII, S. 67. – Vgl. auch die Textbelege B VII, S. 71f., 75 u. 103. 248 B VII, S. 77. 249 Vgl. B VII, S. 63f. u. 86. 250 B VII, S. 103. 251 B VII, S. 111. 252 B VII, S. 114. 253 Zur Sonnenmetapher vgl. die Ausführungen in Kapitel IV.4.3. 254 Vgl. B VII, S. 76. 255 Vgl. B VII, S. 67f. u. 71f. 256 B VII, S. 71.
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den Schriftsteller und „schöpften ihre Inspiration aus dem Munde Börnes, der von nun an als die Seele der Pariser Propaganda zu betrachten war. Der Wahnsinn blieb derselbe, aber, um mit Polonius zu reden, es kam Methode hinein.“²⁵⁷ Dieser Einschätzung der Börne-Figur als Anführerin der deutsch-republikanischen Bewegung um 1830 in der französischen Hauptstadt ist die Darstellung der Figur als Brennspiegel des Wahnsinns der in Paris politisch Exilierten unauflöslich verbunden. Exil und Wahnsinn gehen, ähnlich wie im Rabbi, in der Beschreibung der Verhältnisse in Paris eine unauflösbare Verbindung ein. Die Frage nach den Ursachen des beobachteten Wahnsinns, der die deutschen Republikaner in Paris ergriffen hat, stellt sich jedoch nicht nur dem IchErzähler der Denkschrift. 1844, vier Jahre nach der Veröffentlichung der BörneSchrift, wird sie nochmals eindrücklich in Ludwig Marcus. Denkworte formuliert: Was ist aber der Grund, warum von den Deutschen, die nach Frankreich herüberkommen, so viele in Wahnsinn verfallen? Die meisten hat der Tod aus der Geistesnacht erlöst; […] Andere sind in Irrenanstalten gleichsam lebendig begraben; viele auch, denen ein Funke von Bewußtsein geblieben, suchen ihren Zustand zu verbergen und gebärden sich halbwegs vernünftig, um nicht eingesperrt zu werden. […] Die Anzahl derer, die mit mehr oder minder lichten Momenten an dem finstern Übel leiden, ist sehr groß, und man möchte fast behaupten, der Wahnsinn sei die Nationalkrankheit der Deutschen in Frankreich.²⁵⁸
Und bereits zehn Jahre früher, 1834, konstatiert die Deutschlandschrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland den Wahnsinn unter deutschen Exilanten in Paris und zitiert aus diesem Text zu Beginn des abschließenden Fünften Buches der Denkschrift mit Blick auf die erste Emigrationswelle politisch engagierter Deutscher nach der Französischen Revolution:²⁵⁹ Die politischen Verhältnisse jener Zeit (1799) haben eine gar betrübende Ähnlichkeit mit den neuesten Zuständen in Deutschland; nur daß damals der Freiheitssinn mehr unter den Gelehrten, Dichtern und sonstigen Literaten blühete, heutigen Tags aber unter diesen viel minder, sondern weit mehr in der großen aktiven Masse, unter Handwerkern und Gewerbs-
257 B VII, S. 72. 258 B IX, S. 175. 259 Zur Reflexion Heines über die politischen Emigranten, die um 1790 nach Frankreich kamen, vgl. Alain Ruiz: „Hier ist heiliger Boden“. Deutsche Freiheitspilger und politische Emigranten in Paris von der Revolution von 1789 bis Heinrich Heine. In: Beutin, Beiträge, S. 73ff. – Ruiz hebt bezüglich der Darstellung dieser Emigranten in Heines Darstellung Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland hervor: „Besonders eindrucksvoll ist in diesen Zeilen […] die gerade Linie ideologisch-politischer Kontinuität von weltbürgerlichen Freiheitskämpfern und -märtyrern, die er bis zu seiner Epoche zog und in die er sich selbst zusammen mit anderen politischen Frankreich-Emigranten des Vormärz […] einordnete.“ Siehe Ruiz, Freiheitspilger, S. 84.
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leuten, sich ausspricht. […] Als hier in Paris, in dem großen Menschen-Ozeane, die Revolution losflutete, als es hier brandete und stürmte, da rauschten und brausten jenseits des Rheins die deutschen Herzen. […] Ach! unsere armen Vorgänger in Deutschland mußten für jene Revolutionssympathie sehr arg büßen. […] Einige flüchteten nach Paris und sind in Armut und Elend verkommen und verschollen. […] Wir Jungen werden sie nicht vergessen […]. Viele von uns aber werden unterdessen verfault sein, daheim im Gefängnisse, oder auf einer Dachstube in der Fremde.²⁶⁰
Dass es sich in der Verknüpfung von Exil und Wahnsinn um ein immer wiederkehrendes Ineinander handelt, unterstreicht der Ich-Erzähler der Denkschrift, wenn er im Anschluss an das obige Zitat bemerkt: Obige Stelle […] schrieb ich vor etwa sechs Jahren, und indem ich sie heute wieder überlese, lagern sich über meine Seele, wie feuchte Schatten, alle jene trostlosen Betrübnisse, wovon mich meine ersten Ahnungen anwehten. Es rieselt mir wie Eiswasser durch die glühendsten Empfindungen und mein Leben ist nur ein schmerzliches Erstarren. O kalte Winterhölle, worin wir zähneklappernd leben! … O Tod, weißer Schneemann im unendlichen Nebel, was nickst du so verhöhnend!²⁶¹
Auch der Ich-Erzähler der Denkschrift ist, wie die Börne-Figur, exiliert und blickt voller Beklommenheit auf die zurückliegenden sechs Jahre dieses Exils zurück. Das in der Mitte der 1830er Jahre empfundene Unbehagen an der Exilsituation, das, trotz des noch immer lebendigen Enthusiasmus der Julirevolution, wächst, ist für den Ich-Erzähler der 1840er Jahre bereits zu jenem Schrecken des Exils verdichtet, von dem auch im Rabbi berichtet wird. Das Bild vom „Eiswasser“, welches die Seele des Exilierten durchrieselt und ihn schmerzlich Erstarren lässt, erinnert an die geistige und körperliche Ohnmacht Abrahams und Saras im Rabbi angesichts der hereinbrechenden Schrecken der Diaspora. Das Bild von der Winterhölle mit dem Tod als dem darin agierenden Protagonisten lässt an die Ödnis denken, die das Frankfurter Judenviertel im Rabbi umgibt und die in den Schutzraum jüdischen Lebens in der Diaspora vordringt. Hier wie dort bevölkern den Text Narrengestalten auf einer zum Tollhaus gewordenen Bühne menschlicher Existenz. Indem die Pariser Exilanten, insbesondere die Börne-Figur, als Sonderlinge und Exzentriker gezeichnet werden, greift die Denkschrift die im Rabbi entwickelte Zeichnung des Exils als Ort der Verzerrung und Entfremdung des Einzelnen und der Gemeinschaft auf. In der Zeichnung des Exils als destruktiven Ort ist, trotz politischer Differenzen, die unterschwellige Solidarität des Ich-Erzählers mit der Börne-Figur auszu-
260 B VII, S. 121f. 261 B VII, S. 122.
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machen.²⁶² Insbesondere die ersten Abschnitte des Fünften Buchs der Denkschrift zeugen von einer unerwarteten Anteilnahme des Ich-Erzählers an der Bedrängnis der Börne-Figur und seines Umfelds, zeigen es in der Rolle eines Schicksalsgenossen.²⁶³ Zeichnet der Ich-Erzähler die Börne-Figur und deren Anhänger größtenteils karikaturhaft, tritt er im Fünften Buch selbst als Narr in Erscheinung − als natürlicher Bewohner jener Bühne, die er vorher als Tollhaus des Exils beschrieben hat. So sitzt der Ich-Erzähler „auf einem Eckstein der Rue Laffitte an einem feuchten Herbstabend, wenn der Mond auf das schmutzige Boulevardpflaster herabstrahlt mit langen Streiflichtern, so dass der Kot vergoldet scheint […]“²⁶⁴, „ganz in rosaroten Trikot gekleidet“,²⁶⁵ dem Kostüm des Narren, und die vorübereilenden Passanten flüstern sich bei seinem Anblick mitleidig zu: „der arme Narr!“²⁶⁶. Hier zeigt sich deutlich, dass der Ich-Erzähler ein Akteur der von ihm beschriebenen Menagerie deutscher Narren im Pariser Exil ist. Doch ist es nicht die politische Überzeugung, die den Ich-Erzähler solidarisch werden lässt mit der Börne-Figur. Es ist die Situation des Schriftstellers im Exil, die Ich-Erzähler und Börne-Figur einander annähert: Glücklich sind die, welche in den Kerkern der Heimat ruhig hinmodern … denn diese Kerker sind eine Heimat mit eisernen Stangen, und deutsche Luft weht hindurch und der Schlüsselmeister, wenn er nicht ganz stumm ist, spricht er die deutsche Sprache … Es sind heute über sechs Monde, daß kein deutscher Laut an mein Ohr klang, und alles was ich dichte und trachte, kleidet sich mühsam in ausländische Redensarten … Ihr habt vielleicht einen Begriff vom leiblichen Exil, jedoch vom geistigen Exil kann nur ein deutscher Dichter sich eine Vorstellung machen, der sich gezwungen sähe, den ganzen Tag französisch zu sprechen, zu schreiben, und sogar des Nachts, am Herzen der Geliebten französisch zu seufzen! Auch meine Gedanken sind exiliert, exiliert in eine fremde Sprache.²⁶⁷
Hier zeigt sich die extremste Form des Exils, die im Werk Heines auszumachen ist: „die Vertreibung aus der Sprache, die für den Dichter die Heimat sein sollte, und es ist die Vorstufe der Vertreibung aus der Welt, die für alle Menschen die Heimat sein sollte.“²⁶⁸ Im Hinweis auf den Entzug der deutschen Sprache im Exil schafft der Ich-Erzähler jedoch auch eine Brücke zum Widersacher, sichert der BörneFigur außerhalb politischer Überzeugungen der Sympathie des Kontrahenten
262 Vgl. Hauschild, Heine, S. 357f. 263 Vgl. B VII, S. 121–127. 264 B VII, S. 125. 265 B VII, S. 126. 266 B VII, S. 126. 267 B VII, S. 124. 268 Witte, Heimat, S. 28.
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zu. Dennoch bleibt auch in dieser Sympathiebekundung eine Distanz bestehen. So wird der Ich-Erzähler zwar auch von Wahnvorstellungen ergriffen, doch sind diese der Nacht beziehungsweise dem Traum vorbehalten. Nur des Nachts, im Traum, trägt der Ich-Erzähler das Narrenkostüm „kreatürlicher Nacktheit“²⁶⁹, erscheint ihm Paris als elender Ort: Wenn ich auch am Tage wohlbeleibt und lachend dahinwandle durch die funkelnden Gassen Babylons, glaubt mirs! sobald der Abend herabsinkt, erklingen die melancholischen Harfen in meinem Herzen, und gar des Nachts erschmettern darin alle Pauken und Zimbeln des Schmerzes, die ganze Janitscharenmusik der Weltqual, und steigt empor der entsetzlich gellende Mummenschanz …²⁷⁰
Die Hymne der Exilierten, jener Psalm, der dem Ich-Erzähler auf seinem Gang mit der Börne-Figur durch das Frankfurter Judenviertel einst begegnete, ihm dort noch fremd war, ist ihm nun vertraute Introduktion seiner heraufziehenden, verzerrten (Alb)Traumwelt des Exils: O welche Träume! Träume des Kerkers, des Elends, des Elends, des Wahnsinns, des Todes! Ein schrilles Gemisch von Unsinn und Weisheit, eine bunte vergiftete Suppe, die nach Sauerkraut schmeckt und nach Orangenblüten riecht! Welch ein grauenhaftes Gefühl, wenn die nächtlichen Träume das Treiben des Tages verhöhnen, und aus den flammenden Mohnblumen die ironischen Larven hervorgucken und Rübchen schaben, und die stolzen Lorbeerbeerbäumchen sich in graue Disteln verwandeln, und die Nachtigallen ein Spottgelächter erheben …²⁷¹
Dieser verkehrten Welt vermag der Ich-Erzähler jedoch zu entfliehen und er vermag jene verzerrten Bewusstseinswahrnehmungen als Träume einzuschätzen: „[D]ie Gedanken des Tages“ machen sich, im Licht der Vernunft besehen, lustig „über die unsinnigen Nachtträume […] und mit Recht, denn ich handle im Traume oft wie ein wahrer Dummkopf“²⁷². Anders die politischen Gegner − sie erfasst der Wahnsinn auch am Tage, im Zustand vollen Bewusstseins. Paris, das Zentrum der europäischen Revolution, bedeutet ihnen kein neues Jerusalem,²⁷³ zeigt sich ihnen nicht im modernen Kleid des herbeigesehnten, gesellschaftlichen Umbruchs.²⁷⁴ Die Stadt ist ihnen
269 Witte, Heimat, S. 28. 270 B VII, S. 125. 271 B VII, S. 125. 272 B VII, S. 126f. 273 Vgl. B III, S. 601. 274 Zu Jerusalem als Chiffre für Paris im Werk Heines und der deutschen Literatur vgl. Ruiz, Boden, S. 73f.
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allein Ort der Fremde, Ort ihres Niedergangs. Die Worte des Ersten Entwurfes der Denkschrift zum Tod Börnes sind vor dem Hintergrund einer dezidierten Zeichnung des Untergangs dieser Figur im Exil ein beredtes Zeugnis Heinescher Ironie: Ludwig Börne hat glücklich vollendet, und die Freunde warens, welche über seinem Sarge die männliche Thräne vergossen und das trauernde Wort gesprochen. Der Glückliche! Er ruht auf dem blühenden Gräberhügel, im Kreise seiner Liebesgenossen, auf dem Père-laChaise, und ihm zu Füßen liegt das Jerusalem seines Glaubens, das ewige Paris … schöner kann man nicht sterben! schöner nicht begraben seyn!²⁷⁵
Im Fünften Buch der Denkschrift ist das Grab Börnes zum profanen Ort gewandelt, ist Paris seiner symbolischen Strahlkraft verlustig gegangen.²⁷⁶ Am Grab des im Exil Verstorbenen, mit dem der Verlust der Heimat auf ewig manifestiert ist, finden Ich-Erzähler und Börne-Figur ein letztes Mal zueinander, bevor jener Versuch Börnes zitiert wird, den Anspruch Heines auf das Amt des Zeitschriftsteller zu demontieren. Doch sind es allein die Umstände des Exils in der Denkschrift, die den Heilsort der europäischen Revolution für die Börne-Figur zum Ort der Entbehrung, zu einem Ort des Wahnsinns, in seiner Zeichnung der jüdischen Diaspora in den Texten Heines verwandt, werden lässt? Denn betrachtet man den Ich-Erzähler, jenen anderen Typus des Zeitschriftstellers, so offenbart sich, dass dieser zwar auch am Exil leidet, jedoch nicht in einen pathogenen Wahnsinn verfällt. Der IchErzähler, der diesem Leidensbild durch den Text hindurch folgt, diagnostiziert als Ursache des wachsenden Wahnsinns des Protagonisten eine innere Haltung, die, so die Wahrnehmung, aus spiritualistischer beziehungsweise nazarenischer Denktradition genährt ist. Im Radikalismus Börnes mit seiner Forderung nach absoluter Gleichheit und Einheit, dessen letzte Konsequenz auch die Aufhebung der Kunst als solcher bedeuten würde, da sie ihre Berechtigung nur noch in der Funktion eines pädagogischen Instruments aufrechterhalten würde,²⁷⁷ sieht der Ich-Erzähler jene nazarenische Geisteshaltung exemplifiziert, die bereits in Kapitel V.4 am Beispiel Shylocks besprochen wurde. 275 DHA XI, S. 192. 276 Vgl. B VII, S. 128. – Es „ist aber nicht zu übersehen […], daß nicht alle – wie Heine – ohne weiteres als direkte Nachkommen der nach Frankreich emigrierten ‚Jakobiner‘ betrachtet werden können, die als geistige Erben der kosmopolitischen Aufklärungsideale […] davon träumten, die Deutschen mit der ‚Grande Nation‘ im Zeichen der Prinzipien von 1789 verschmelzen zu lassen. Es ist nämlich bei nicht wenigen Vormärz-Emigranten eine mehr oder weniger prononciert ambivalente Haltung zu Frankreich zu beobachten, ein mehr oder weniger ausgeprägter Zwiespalt, der auf aus der Zeit der napoleonischen Fremdherrschaft und Befreiungskriege tradierte gallophobe Affekte zurückging.“ Siehe Ruiz, Boden, S. 87. 277 Vgl. Tauber, Ästhetik, S. 209.
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Die Börne-Figur leidet am Exil. Dieses Leid potenziert sich aber durch seine nazarenisch geprägte, sprich seine „ascetisch[e], bildfeindlich[e], vergeistungssüchtig[e]“²⁷⁸ Grundhaltung. Birgt das Exil latent das Leid des Menschen an der Fremde in sich, führt das Nazarenertum, so der Heine-Text, gewiss in den Untergang. Bereits das Erste Buch der Denkschrift, das Börne im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte zeichnet, verweist auf dessen nazarenische Anlage, dem Keim zunehmenden Wahnsinns in den folgenden Büchern.²⁷⁹ Die dort von der Börne-Figur vertretene politische Überzeugung artet im Pariser Exil zu „politische[r] Exaltation“²⁸⁰ aus, so der Ich-Erzähler. Sie begründe sich in „jenem schroffen Ascetismus […], der überhaupt bei den Republikanern gefunden wird, den sie republikanische Tugend nennen und der von der Passionssucht der früheren Christen so wenig verschieden ist“²⁸¹. In den asketischen Wertvorstellungen Börnes sieht Heine dessen fehlgeleitete Auslegung der Revolution begründet.²⁸² Denn die gesellschaftliche Entwicklung im Sinne Börnes ist der Auffassung Heines zufolge „nur die säkularisierte Fortsetzung spiritualistischer Unterdrückung, in der sich die bestehende Welt ohnehin befindet. Selbst wenn dem Menschen volle politische Freiheit und ein erhebliches Maß an gesellschaftlicher Gleichheit zuteil werden sollten, würde er doch in seinem seelischen Gefüge unterdrückt bleiben“²⁸³. Krankhafter Fanatismus und eifernder Moralismus sind zu den auffälligsten Entäußerungen des Wahnsinns ausgewachsen. Das „zufriedene Männchen“ des Ersten Buches wandelt sich durch seine „terroristische Selbstkur“²⁸⁴ in einen Fanatiker, dessen Gedanken um eine radikale gesellschaftliche Revolution in Deutschland sich in blutigen Bildern von „Amputationen“²⁸⁵ und „Operation“²⁸⁶ an Haupt und Gliedern bewegen. Jede Mäßigung ist aus den Äußerungen der Figur verschwunden. Die Bereitschaft zu Gewalt und Terror als den legitimen Mitteln zur Herbeiführung und Sicherung gesellschaftlicher Umwälzungsprozesse ist auf das Prinzip der Intoleranz gestützt, das, wie in Kapitel V.4 gezeigt,
278 B VII, S. 18. 279 Vgl. B VII, S. 18. 280 B VII, S. 18. 281 B VII, S. 18. 282 „Die materielle, das sinnliche Glück der Menschen einschließende Freiheit war für Heine nicht auf dem Weg zu gewinnen, den Börne eingeschlagen hatte, denn dieser übersah den repressiven Charakter der bürgerlichen Gesellschaft, weil er ihre asketischen Wertvorstellungen teilte.“ Siehe Hohendahl, Heine, S. 134. 283 Tauber, Ästhetik, S. 214. 284 B VII, S. 101. 285 B VII, S. 61. 286 B VII, S. 61.
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dem Nazarenertum eingebunden ist. Intoleranz ist unauflösbar mit der christlich-europäischen Kultur verknüpft. Es für die Durchsetzung der eigenen Position gebrauchen zu wollen, zeugt, so der Ich-Erzähler, von dem Paradox, dass selbst in den radikalsten Oppositionsbewegungen der Restauration eine innere Geisteshaltung dominiert, welche die europäische Geschichte, gerade in ihrer Auseinandersetzung mit den Minderheiten, schon immer prägte. Der radikale Republikanismus, figuriert in der Börne-Figur, wird: […] von Heine als Träger der alten moralisierenden Botschaft des jüdisch-christlichen Spiritualismus dargestellt, als ein in unerbittlicher Feindseligkeit gegenüber der in der Neuzeit von Goethe repräsentierten hellenistischen Schönheit befangenen ‚Nazarener‘. […] Wie die Jesuiten zu ihrer Zeit habe Börne in seinem Kampf die Lüge als Waffe eingespannt: Zwar führt er seinen Kampf im Gegensatz zu ihnen, die für den Himmel stritten, für den Menschen, doch seien der spiritualistische Zweck und die verlogenen Mittel ähnlich.²⁸⁷
Greifbar wird das Prinzip der Intoleranz als Ausdruck einer überkommenen nazarenischen Geisteshaltung dem Ich-Erzähler im wachsenden Nationalismus der deutschen Republikaner im Pariser Exil. Er entfremdet den Schriftsteller von einem Teil der in Paris versammelten antirestaurativen Opposition.²⁸⁸ Heine sieht sich in Paris einem doppelten Kampf ausgesetzt: er ficht nicht nur gegen die Restauration in den deutschen Staaten, sondern auch gegen die Deutschtümelei in den Reihen der dortigen Republikaner.²⁸⁹ Die deutschen Republikaner, „jene Repräsentanten der Nationalität“²⁹⁰, wurzeln „im deutschen Boden weit tiefer […] als die Repräsentanten des Kosmopolitismus“²⁹¹, jene Anhänger der französischen Freiheitslehre vom „Weltbürgertum“²⁹², denen sich der IchErzähler zugehörig sieht. So zielen die Republikaner zwar auf Volkssouveränität und tragen die Ideen der politischen und sozialen Revolution in die Gesellschaft. Sie knüpfen ihre Ideologie aber, zur Unterstützung des eigenen Wahrheitsanspruchs, an einen Nationalismus, welcher den althergebrachten Vorurteilskatalog des Christentums pflegt.²⁹³ Damit zerschlägt die republikanische Bewegung letztendlich nicht das grundlegende Prinzip des verhassten Systems. Intoleranz, jetzt im Mantel des Nationalismus, wird erneut zum probaten Mittel im Kampf 287 Tauber, Ästhetik, S. 214. 288 Zu den Konflikten der antirestaurativen Oppositionsbewegung deutscher Emigranten in Paris vgl. Hauschild, Heine, S. 379ff. 289 Vgl. B VII, S. 90f. 290 B VII, S. 91. 291 B VII, S. 91. 292 B VII, S. 91. 293 Zur nationalistischen (antijüdischen) Gesinnung deutscher Liberaler und Republikaner vgl. Dokumentation des Meinungsbildes über Börne und Heine in B VIII, S. 652–656.
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um die Verwirklichung politischer und sozialer Auffassungen. Kann die republikanische Bewegung das aufkeimende Nationalgefühl der Deutschen zunächst für die eigene politische Absicht, die Durchsetzung der Volkssouveränität, nutzen, wächst in ihrem Schatten jene Gesinnung heran, die durch politischen Fanatismus und eiferndem Moralismus das restaurative Lager stützt, wie das Vierte Buch der Denkschrift eindrücklich an der Person Wolfgang Menzels darstellt.²⁹⁴ In dessen nationalistischen „Beschwörungsliedern, ein Gemisch von uraltem Aberglauben und dämonischer Erdkräfte“²⁹⁵, zeigt sich der auf Intoleranz gründende Vorurteilskatalog christlicher Dogmatik, zeigt sich auch der dominante Diskurs der Mehrheitsgesellschaft als Stimme intoleranter, nazarenischer Geisteshaltung. Klar urteilt der Ich-Erzähler, wenn er in der Hinwendung der deutschen Republikaner zu einem auf Intoleranz gründenden Nationalismus das Scheitern der republikanischen Bewegung und den Fall ihres Sprechers, die Börne-Figur, in den Wahnsinn voraussieht.²⁹⁶ Fanatismus und Intoleranz, jene Prinzipien des Machterhalts der Monarchie, müssen das Streben nach einer republikanischen Regierungsform scheitern lassen, wie der Fall der Börne-Figur in den Wahnsinn in der Denkschrift verbildlicht. Satan sei nicht durch Beelzebub zu bannen, und „ihr werdet“, so der Ich-Erzähler, „wenn euch solcher Exorzismus gelänge, erst recht aus dem Feuerregen in die Flammentaufe geraten!“²⁹⁷. Im neunten Artikel der Französischen Zustände (1832) verweist der Ich-Erzähler bereits auf die politische Unreife, nicht nur der deutschen Republikaner, vielmehr der Deutschen im Allgemeinen, welche den Versuch einer Durchsetzung der republikanischen Regierungsform in den deutschen Staaten scheitern lassen wird.²⁹⁸ Die Inkonsequenz des Hambacher Festes, ausführlich im Dritten Buch der Denkschrift kommentiert, bestätigt diese Überlegung. Erst wenn ein allgemeines Demokratieverständnis, wurzelnd in den Maximen der französischen Revolution, in den deutschen Staaten entwickelt ist, kann die republikanische Regierungsform erfolgreich durchgesetzt werden. Solange das Republikverständnis den alten Prinzipien des Machterhalts verbunden ist, solange sie dem alten Dualismus von „eigen/fremd“ des dominanten Diskurses folgt, sind die Anstrengungen der antirestaurativen Opposition in Deutschland vergebens. Die Republik wird sich durchsetzen, daran zweifelt auch der Ich-Erzähler nicht, jedoch allein unter den Prämissen einer von Intoleranz befreiten Denkungsart. Der politische und religiöse Fanatismus, jenes nazarenische Element, führt die deutschen Republikaner nicht ans Ziel.
294 Vgl. B VII, S. 104f. 295 B VII, S. 105. 296 Vgl. B VII, S. 111f. 297 B VII, S. 112. 298 Vgl. B V, S. 212–215.
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Gewalt und Terror, Intoleranz und „patriotische Überspanntheit“²⁹⁹ hindern die Börne-Figur, den ganzen Weg einer auf demokratischen Prinzipien beruhenden kosmopolitischen Denkungsart zu gehen. Sie verzweifelt an ihrem „unangemessen[en]“ Revolutionsbegriff, denn, so Peter Uwe Hohendahl, Börne: […] übersieht die historischen Veränderungen in Frankreich, d. h. den Übergang zur kapitalistischen Gesellschaft mit ihren sozialen Folgen und er bleibt in einer rein politischen Definition befangen. Dieser Mangel an geschichtlicher Korrektheit zeigt sich auch in Börnes Verhältnis zum deutschen Liberalismus. Börne unterschätzt als Patriot die nationalistischromantische Komponente der deutschen Opposition (Burschenschaften), deren reaktionäre Tendenz Heine durchschaut.³⁰⁰
Basierend auf dem spiritualistischen Wesenszug der Intoleranz im Umgang mit den Realitäten des 19. Jahrhunderts ist in der Denkschrift das politische Engagement des Zeitschriftstellers in Wahnsinn umgeschlagen. Die Deformation des Protagonisten wird darüber hinaus durch eine Schicksalskomponente des modernen Schriftstellers gefestigt: durch das Leiden im und am Exil. Den Untergang der Figur sieht der Ich-Erzähler bereits am Ende des Ersten Buchs der Denkschrift voraus:³⁰¹ Als ich schon im Coupé des Postwagens saß, blickte er mir noch lange nach, wehmütig wie ein alter Seemann, der sich aufs feste Land zurückgezogen hat, und sich von Mitleid bewegt fühlt, wenn er einen jungen Fant sieht, der sich zum ersten Mal auf Meer begibt … Der Alte glaubte damals, dem tückischen Elemente auf ewig Valet gesagt zu haben, und den Rest seiner Tage im sichern Hafen beschließen zu können! Armer Mann! Die Götter wollten ihm diese Ruhe nicht gönnen! Er mußte bald wieder hinaus auf die hohe See, und dort begegneten sich unsere Schiffe, während jener furchtbare Sturm wütete, worin er zu Grunde ging. […] Armer Mann! Sein Schiff war ohne Anker und sein Herz ohne Hoffnung … Ich sah, wie der Mast brach, wie die Winde das Tauwerk zerrissen … Ich sah, wie er die Hand nach mir ausstreckte … Ich durfte sie nicht erfassen, ich durfte die kostbare Ladung, die heiligen Schätze, die mir vertraut, nicht dem sicheren Verderben preisgeben … Ich trug an Bord meines Schiffes die Götter der Zukunft.³⁰²
299 Tauber, Ästhetik, S. 214. 300 Hohendahl, Heine, S. 134. 301 Zum Bild der Schiffsfahrt als Traumbild der Lebensfahrt in Verbindung mit dem Dichtertum vgl. Karin Füllner: „Tagesgedanken“ und „Nachtträume“. Der Traum einer großen Schiffsreise in Heines „Börne“-Buch. In: Kortländer/Singh, Welt, S. 362. 302 B VII, S. 35.
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4.3 Dem Wahnsinn entronnen – Von der Überlegenheit des Kosmopoliten Ist das von Heine entworfene Bild der am Wahnsinn laborierenden Börne-Figur Ausdruck einer gescheiterten Schriftstellerexistenz oder gehört die seelische Exaltion zur Grundstimmung des modernen Zeitschriftstellers? Liest man den Aufsatz Ästhetik und Politik von Zvi Tauber scheint sich die Frage mit Blick auf die gescheiterte Existenz Börnes zu verneinen. Denn für Tauber exemplifiziert die Denkschrift klares Bild einer richtigen oder falschen Schriftstellerexistenz, vielmehr ist es das „Dilemma zwischen Gerechtigkeit und Schönheit, welches sein [Heines] gesamtes literarisches Werk begleitet“³⁰³ und auch die Denkschrift „durchweht“³⁰⁴. Nach Heines Auffassung sei die Kunst, so Tauber, per se autonom von Zeitmoden oder Zeitverhältnissen. Ihre emanzipatorische Kraft liege gerade in dieser Autonomie, wie der Schriftsteller in Lutezia formuliert: Was ist in der Kunst das Höchste? Das, was auch in allen anderen Manifestationen des Lebens das Höchste ist: die selbstbewußte Freiheit des Geistes. […] Ja, dieses Selbstbewußtsein der Freiheit in der Kunst offenbart sich ganz besonders durch die Behandlung, durch die Form, in keinem Fall durch den Stoff, und wir können im Gegenteil behaupten, daß die Künstler, welche die Freihheit selbst und die Befreiung zu ihrem Stoffe gewählt, gewöhnlich von beschränktem, gefesseltem Geiste, wirklich Unfreie sind. Diese Bemerkung bewährt sich heutigentags ganz besonders in der deutschen Dichtkunst, wo wir mit Schrecken sehen, daß die zügellos trotzigsten Freiheitssänger, beim Lichte betrachtet, meist nur bornierte Naturen sind, Philister, deren Zopf unter der roten Mütze hervorlauscht […]. Die wahrhaft großen Dichter haben immer die großen Interessen ihrer Zeit anders aufgefaßt als in gereimten Zeitungsartikeln, und sie haben sich wenig darum bekümmert, wenn die knechtische Menge, deren Roheit sie anwidert, ihnen den Vorwurf des Aristokratismus machte.³⁰⁵
Der „bornierte Freiheitssänger“ erinnert an die in der Denkschrift gezeichnete Börne-Figur, die als radikale Kämpferin für die Gerechtigkeit die Kunst zum bloßen pädagogischen Mittel instrumentalisiert, woraus als letzte Konsequenz die Aufhebung der Kunst als solcher abzuleiten wäre.³⁰⁶ Dennoch, so Tauber, verurteilt Heine nie die moralische Forderung der Radikalen, seien es Republikaner
303 Tauber, Ästhetik, S. 209. 304 Tauber, Ästhetik, S. 209. 305 B IX, S. 438. 306 Vgl. Tauber, Ästhetik, S. 209.
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oder später die Kommunisten, Gerechtigkeit durch soziale Gleichheit mit Argumenten der Sittenlehre durchzusetzen:³⁰⁷ Dieses Geständnis, daß den Kommunisten die Zukunft gehört, machte ich im Tone der größten Angst und Besorgnis, und ach! Diese Tonart war keineswegs eine Maske! In der Tat, nur mit Grauen und Schrecken denke ich an die Zeit wo jene dunklen Ikonoklasten zur Herrschaft gelangen werden: mit ihren rohen Fäusten zerschlagen sie alsdann alle Marmorbilder meiner geliebten Kunstwelt […] Und dennoch, ich gestehe es freimütig, übt derselbe [der Kommunismus, Anm. d. Verf.] auf mein Gemüt einen Zauber, dessen ich mich nicht erwehren kann […]. […] [E]in schrecklicher Syllogismus behext mich, und ich kann der Prämisse nicht widersprechen: ‚daß alle Menschen das Recht haben, zu essen‘, so muß ich mich auch allen Folgerungen fügen […].³⁰⁸
Dass Heine hier für die Forderung nach egalitärer Gerechtigkeit spricht, bedeutet im Gegenzug jedoch nicht, dass er das Prinzip des autonomen Kunstwerks aufgeben würde. Vielmehr diskutiert er in Lutezia, in der Denkschrift und in anderen Schriften dieses Dilemma zwischen Gerechtigkeit und Schönheit, für das die Schriften Heines jedoch keine Lösung bereit halten.³⁰⁹ Während in der Denkschrift die Börne-Figur strikt die moralisch-politische Seite des Dilemmas vertritt – und daran scheitert, vertritt der Ich-Erzähler das Dilemma selbst.³¹⁰ Verfällt auch dieses, hin und hergerissen zwischen dem Anspruch auf Autonomie der Kunst und dem Gerechtigkeitsstreben der Zeit dem Wahnsinn oder zerbricht sein Schriftstellerverständnis an diesem? Die Auseinandersetzung um das Selbstverständnis des politisch engagierten Schriftstellers ist in der Denkschrift erst mit dem Blick auf den zweiten Hauptakteur vervollständigt: dem Ich-Erzähler. Dieser Erzähler ist als literarische Figuration jenes Schriftstelleramtes zu deuten, wie es Heine dem politisch engagierten Autor des 19. Jahrhunderts zuweist. Dabei sind die Züge des Ich-Erzählers durch die Züge der Börne-Figur ergänzt.³¹¹ Virtuos ist dieses kontrastharmonische Spiel von Bild und Gegenbild gestaltet. Jedoch sind diese Bilder nicht einfach schwarzweiß gefärbt, vielmehr weisen sie Töne auf, die beiden Figuren innewohnen, sie verbinden. Ob sich der Entwurf des modernen Schriftstellers, den Heine als „heimliche[n] Hellene[n]“³¹² und Kosmopoliten definiert, als der erfolgreichere gestaltet, während die als Nazarener angelegte Börne-Figur an ihrer auf Into-
307 Vgl. Tauber, Ästhetik, S. 209. 308 B IX, S. 232. 309 Vgl. Tauber, Ästhetik, S. 211. 310 Vgl. Tauber, Ästhetik, S. 212. 311 Vgl. Höhn, Handbuch, S. 424. 312 B VII, S. 39.
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leranz basierenden Denkungsart zerbricht, ist im Folgenden mit Blick auf das Gestaltungselement „Wahnsinn“ zu untersuchen. In der von Heine gewählten Zusammenschau der Figuren ist die in der öffentlichen Meinung verschmolzene Einheit der Namen Börne und Heine gespiegelt, flackert jenes Bild vom alles überstrahlenden Doppelgestirn der antirestaurativen Oppositionsbewegung auf.³¹³ Für Heine bedeutete die Existenz Börnes, aufgrund sozialer und politischer Voraussetzungen der seinen ähnlich, einen permanenten Grund zur Selbstreflexion. Deshalb ist die Denkschrift nicht allein als große Auseinandersetzung Heines mit seinem republikanischen Antipoden und Weggefährten des Exils zu lesen. Sie bedeutet auch eine eigene politische und literarische Standortbestimmung des Schriftstellers, die im Ich-Erzähler figuriert ist.³¹⁴ Als Auslöser dieser Selbstreflexion Heines kann die vernichtende Rezension³¹⁵ Börnes von De l’Allemagne in der Zeitschrift Le Réformateur im Mai 1835 genannt werden, in der Heine als politisch fragwürdige Gestalt gezeichnet wird. Heine, der sich bereits kurz nach seiner Ankunft in Paris vom formalen politischen Radikalismus distanziert, muss bereits im 109. Pariser Brief vom 25. Februar 1833³¹⁶ eine Polemik Börnes gegen die von ihm publizierten Französischen Zustände (1832) hinnehmen, die auch einen grundsätzlichen Zweifel an Heines politischer und literarischer Integrität enthält.³¹⁷ Heines Distanz zur republikanischen Bewegung in Paris und seine bis zu einem gewissen Grade tolerierende Haltung gegenüber der konstitutionellen Monarchie in Frankreich wird ihm als Indifferenz und persönliche Schwäche ausgelegt. Im Reformateur tritt zum Vorwurf der ästhetischen Unzuverlässigkeit und der Charakterschwäche eine angebliche Widersprüchlichkeit der politischen Position Heines. Mit diesem Urteil begründet Börne jenen Argumentationsmechanismus des nationalen Diskurses gegen Heine, der sich bis ins 20. Jahrhundert halten sollte: Heine habe zwar literarisches Talent, aber es fehle ihm an Charakter. Die Denkschrift antwortet auf diese Vorwürfe Börnes, rechtfertigt das eigene literarische Schaffen und öffentliche Verhalten Heines.³¹⁸ Dabei lösen jedoch nicht allein die Unterstellungen Börnes eine Reflexion über die eigene schriftstellerische Praxis und deren Beziehung zur sozialen Welt im weitesten Sinne aus. Hinzu kommt im Zuge der Bundestagsbeschlüsse eine literarische und private Krise, die in einem allgemei313 Vgl. B VII, S. 128f.; Jasper, Parnass, S. 153; Hauschild, Heine, S. 351ff.; Höhn, Handbuch, S. 421. 314 Vgl. Hauschild, Heine, S. 351. 315 Vgl. die deutsche Übersetzung von Ludwig Börnes Rezension Über Deutschland, von Heinrich Heine. In: Enzensberger, Zerwürfnis, S. 61–78. 316 Vgl. Ludwig Börne: Briefe aus Paris. In: Enzensberger, Zerwürfnis, S. 45ff. 317 Vgl. Hohendahl, Heine, S. 128. 318 Vgl. B VII, S. 128–132; Hauschild, Heine, S. 352f.
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nen Prozess der Selbstbesinnung mündet und als dessen Ergebnis die Denkschrift auch zu interpretieren ist.³¹⁹ Die Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft, die Beziehung zwischen künstlerischer und ideologischer Motivation ist neu zu bestimmen, die Denkschrift Anlass hierzu.³²⁰ Wie bereits weiter oben betont, setzt die hier durchgeführte Analyse das autobiographische Element der Denkschrift in den Hintergrund und untersucht die beiden Akteure, Börne-Figur und Ich-Erzähler als Figurationen des modernen Schriftstellers. Nicht zuletzt die Gestaltung der Figuren mittels des destruktiven Phänomens des Exils unterstreicht das Typenhafte der Akteure, ihre Funktion als Vertreter einer bestimmten Geisteshaltung und politischen Überzeugung, hebt ihre stark stilisierten Züge hervor. Die an der Börne-Figur bereits demonstrierte Verbindung von Exil und Wahnsinn ist Teil des permanenten, kontrastharmonischen Spiels der Denkschrift. Auch die Zeichnung des Ich-Erzählers ist aus dieser Verbindung geschöpft. Dabei wird jedoch nicht einfach das „Gesunde“ des Ich-Erzählers gegen das „Krankhafte“ der Börne-Figur gestellt, wie zu vermuten wäre. Auch der Ich-Erzähler droht in den Wahnsinn abzugleiten. Im Gegensatz zur Börne-Figur kann sich der Ich-Erzähler jedoch dem Prozess zunehmender Umnachtung und körperlichen Verfalls entziehen. Das Zweite Buch der Denkschrift, die Helgoländer Briefe, verdeutlichen jene Gefahr und das Entrinnen aus dieser. Die Helgoländer Briefe, insbesondere ihre Entstehung und Datierung, stellen die Forschung vor beträchtliche Probleme. Hier wird sich der Überlegung von Helmut Koopmann angeschlossen, der von einer Konzeption der Texte im Oktober 1830 ausgeht und nicht von einer Entstehung der Briefe während des Aufenthalts Heines auf Helgoland im Sommer 1830, des Sommers der Julirevolution.³²¹ Koopmann deutet die Niederschrift nicht als unmittelbare Reaktion auf die Ereignisse in Paris, vielmehr seien sie Reflexion der deutschen Unruhen im Herbst 1830. So sind die Helgoländer Briefe nicht nur der Versuch, die Julirevolution zu beschreiben, auch die Wirkung jenes historischen Ereignisses auf den Ich-Erzähler, alter ego des zu diesem Zeitpunkt noch in Deutschland lebenden Schriftstellers, wird thematisiert. Unklar bleibt dennoch, inwieweit die Helgoländer Briefe dann in den Jahren 1838/40 für die Denkschrift überarbeitet worden sind. Zwischen den anderen Büchern der Denkschrift muten die Helgoländer Briefe zunächst wie ein Fremdkörper an, doch gelangt das Konzept der Denkschrift, das Ineinanderspiel von Biographie und der Darstellung der Zeitverhältnisse, mit
319 Vgl. Hauschild, Heine, S. 352. 320 Vgl. B VII, S. 102f. 321 Vgl. DHA XI, S. 251ff.
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dem Zweiten Buch erst zu seiner vollen Entfaltung.³²² Zwar tritt die Börne-Figur in diesem Textabschnitt selbst nicht in Erscheinung, doch thematisieren die Helgoländer Briefe mit der Julirevolution jenes historische Ereignis, jene Zäsur, „welche unsere Zeit gleichsam in zwei Hälften auseinander sprengte“³²³ und damit auch eine Neubewertung des Schriftstelleramtes fordert. Der endgültige Untergang der Monarchie wurde mit dem Sommer von 1830 eingeleitet und die republikanischen und demokratischen Bewegungen in Europa gingen gestärkt aus ihr hervor. Die revolutionären Eruptionen strahlten auch auf das Schicksal Börnes und Heines aus. Voller Enthusiasmus gingen beide nach Paris, ins Zentrum der Revolution, beide starben dort als Exilanten. Im Zweiten Buch findet das kontrastharmonische Spiel von Porträt und Selbstporträt eine vorübergehende Unterbrechung. Der Ich-Erzähler ist in diesem Abschnitt nicht direkt aus dem Gegensatz zur Börne-Figur gestaltet. Es wird kein unmittelbarer Dialog mit der Börne-Figur geführt oder deren Aussagen reflektiert. Doch ist der Ich-Erzähler zweifelsohne auch hier an ein Gegenüber gerichtet, was die angedeutete Briefform beweist. Sind die anderen Kapitel der Denkschrift eher der Zeichnung des radikalen Republikaners und seines Scheiterns an der eigenen Intoleranz gewidmet, sind die Helgoländer Briefe auf die Geisteshaltung und den politischen Standpunkt des Ich-Erzählers ausgerichtet. Diese Perspektive bildet die Reflexionsebene für die Zeichnung der Börne-Figur in den folgenden Büchern der Denkschrift.³²⁴ Darüber hinaus ist hier jener Typus des modernen Autors gestaltet, dessen gescheiterte Variante, nach Aussage der Denkschrift, dem Leser bereits im vorangegangenen Abschnitt begegnet. Der moderne Autor, wie er in den Texten Heines entworfen ist, besitzt bereits alle Züge des Intellektuellen.³²⁵ Wie bereits in Kapitel VI.4.2.1 ausgeführt, entwirft 322 Zur unkonventionellen Form der Briefe und ihrer Brückenfunktion zwischen dem Ersten und Dritten Buch der Denkschrift vgl. Jutta Nickel: Zur Figur biblischen Sprechens in Heinrich Heines „Briefen aus Helgoland“. In: Briefkultur im Vormärz. Vorträge der Tagung des Forum Vormärz Forschung und der Heinrich-Heine-Gesellschaft am 23. Oktober 1999 in Düsseldorf. Hrsg. v. Bernd Füllner. Bielefeld 2001 (Vormärz-Studien 9). S. 97. Im Fehlen von Adressat und Empfänger, im Fehlen jedweder eindeutigen Identifizierbarkeit der Briefe, offenbart sich deren Literarität. Ob aus dem Fehlen des Adressaten und ihrer Brückenfunktion eine Korrespondenz Heines mit einer göttlichen Instanz abzuleiten ist, wie es Nickel in ihrem Aufsatz versucht, ist jedoch fraglich, da Heine in der Linie des Culturvereins die Bibel nicht als offenbartes Wort Gottes, sondern als historisch zu verankernden Text liest. 323 B VII, S. 59. 324 Vgl. HSA XI, S. 458. 325 Der Begriff „Intellektueller“ etabliert sich erst 1898 im Zuge der Dreyfus-Affäre. Die Gestalt ist jedoch älter als der normative Wortgebrauch. Vgl. Höhn, Handbuch, S. 2. – Jürgen Habermas zeichnet in seinem Aufsatz Geist und Macht – ein deutsches Thema. Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland Heine als Beispiel eines verantwortungsvollen
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(ausgerechnet) Ludwig Börne das Portrait des praktisch-engagierten Schriftstellers in der neuen bürgerlichen Gesellschaft. Börne wählt dort den Begriff des „Zeitschriftstellers“³²⁶ − eine Wortneuschöpfung, die jedoch nicht auf Börne selbst zurückgeht³²⁷ − und fordert von diesem, den Leser zum Kritiker der bestehenden Verhältnisse auszubilden.³²⁸ Die Vorstellung von der Verantwortung des zeitgenössischen Schriftstellers, „die Aussagen der Zeit zu erlauschen, ihr Mienenspiel zu deuten und beides niederzuschreiben“,³²⁹ „als das Triebwerk selbst [zu dienen], welches die Gänge der Zeit regelmäßig erhält und ihre Fortschritte abmißt“³³⁰, ist in keinem deutschsprachigen Text des 19. Jahrhunderts so übergebührlich erfüllt wie im Werk Heinrich Heines. Von Heine wird neben der Denkschrift in der Vorrede zu Salon I [künftig Vorrede] von 1833 die grundsätzlich widerspruchsvolle Situation des Schriftstellers und Intellektuellen in der bürgerlichen Gesellschaft ausführlich besprochen.³³¹ Auffällig sind die ähnliche Szenerie und Gemütslage des Ich-Erzählers in beiden Texten, die zur Reflexion über das moderne Schriftstelleramt überleiten. Der Ich-Erzähler, sowohl der Helgoländer Briefe als auch der Vorrede, erinnert in seiner Zeichnung zunächst an die Zustandsbeschreibung der Börne-Figur gegen Ende des Ersten Buchs der Denkschrift. Die Schilderung der Börne-Figur in deren Frankfurter Umfeld verweist, wie bereits in Kapitel VI.4.2.1 dargelegt, auf jenen Rückzug ins Private, der bezeichnend ist für das deutsche Bürgertum im Zuge der erstarkenden Restauration. Auch der Ich-Erzähler der Helgoländer Briefe geriert
Umgangs mit der öffentlichen Rolle des Schriftstellers. Heine besaß, Habermas zu Folge, ein genaues Verständnis von der Aufgabe des Intellektuellen, insbesondere dessen Teilnahme an öffentlichen Diskussionen, allerdings nicht im Namen einer bestimmten Gruppe. Vgl. Jürgen Habermas: Geist und Macht – ein deutsches Thema. Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland. In: Das Junge Deutschland. Kolloquium zum 150. Jahrestag des Verbots vom 10. Dezember 1835. Hrsg. v. Joseph A. Kruse/Bernd Kortländer. Hamburg 1987. S. 15–38. – Peter Uwe Hohendahl nimmt in seiner Veröffentlichung Heinrich Heine die Argumentation Habermas’ auf, fragt aber nach dem Dichter Heine, da sich Habermas in erster Linie auf den Prosa-Schriftsteller bezieht. Hohendahl verweist zunächst auf Börnes Kritik an Heine und deren Argument eines unüberwindlichen Gegensatzes von politischem Engagement und Ästhetizismus. Das Werk Heines zeigt jedoch, trotz aller Widersprüche, dass sich diese von Börne aufgestellte Dichotomie in der Gestalt des intellektuellen Dichters synthetisiert. Vgl. Hohendahl, Heine, S. 158–181. 326 Börne, Schriften, Bd. 1, S. 676. 327 Vgl. Jasper, Börne, S. 112f. 328 Vgl. Börne, Schriften, Bd. 1, S. 669. 329 Börne, Schriften, Bd. 1, S. 670. 330 Börne, Schriften, Bd. 1, S. 667. 331 Vgl. Höhn, Handbuch, S. 328.
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sich zunächst im Duktus eines ersehnten Rückzugs aus der Tagespolitik, wurzelnd in politischer Resignation: Ich selber bin dieses Guerillakrieges müde und sehne mich nach Ruhe, wenigstens nach einem Zustand, wo ich mich meinen natürlichen Neigungen, meiner träumerischen Art und Weise, meinem phantastischen Sinnen und Grübeln, ganz fessellos hingeben kann. Welche Ironie des Geschickes, daß ich, der ich mich so gerne auf die Pfühle des stillen beschaulichen Gemütslebens bette, daß eben ich dazu bestimmt war, meine armen Mitdeutschen aus ihrer Behaglichkeit hervorzureißen! Ich, der ich mich am liebsten damit beschäftige, Wolkenzüge zu beobachten, metrische Wortzauber zu erklügeln, die Geheimnisse der Elementargeister zu erlauschen, und mich in die Wunderwelt alter Märchen zu versenken … ich mußte die politischen Annalen herausgeben, Zeitinteressen vortragen, revolutionäre Wünsche anzetteln, die Leidenschaften aufstacheln, den armen deutschen Michel beständig an der Nase zupfen, daß er aus seinem gesunden Riesenschlaf erwache … […] Ich bin müde und lechze nach Ruhe. Ich werde mir ebenfalls eine deutsche Nachtmütze anschaffen und über die Ohren ziehen.³³²
Die Zeitereignisse lassen diesen Rückzug indes nicht zu, wie der weitere Verlauf der Helgoländer Briefe offenbart. Der Romantiker, angedeutet in der Neigung zum Träumen und phantastischen Grübeln, skizziert im Dialog mit einer beseelten Natur oder im Lesen überkommener Märchen, wird in den Sog der aktuellen Ereignisse des Juli 1830 gezogen. Ein Rückzug in das Autonome der Kunst, hier durchaus dem inneren Exil vergleichbar, bleibt dem Schriftsteller im 19. Jahrhundert verwehrt. Dessen modernes, politisches Bewusstsein zwingt zur literarischen Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Hier bereitet sich das unlösbare Dilemma von Gerechtigkeit und Schönheit vor, fordert die Revolution doch ein Aufbrechen des Kunstwerks als Ghetto authentischer menschlicher Autonomie.³³³ Der Schriftsteller ist gebunden an die Zeitverhältnisse. Das Kunstwerk ist
332 B VII, S. 35f. 333 Zu Heines Sensualismus schreibt Tauber erklärend: „Im repressiv bestehenden Sein – sei es absolutistisch, wie im Deutschland des 19. Jahrhunderts, sei es bereits verbürgerlicht, wie in Frankreich – läßt sich der Sensualismus vor allem im künstlerischen Schaffensprozeß bzw. im ästhetischen Kunstwerk wahrnehmen. Diese stellen gleichsam Ghettos authentischer menschlicher Autonomie im repressiv Heteronomen der Realität dar. […] Durch die thematische Ebene der Kunstwerke, durch das sprachliche, chemische, tönende Material hindurch und darüber hinaus manifestiert sich das Kunstwerk als Ganzes samt dem mit ihm einhergehenden ästhetischen Erlebnis. Sie verwirklichen – mit Kant gesprochen – eine Autonomie, eine gleichsam eigene Gesetzgebung, die für einen (zwar begrenzten) Raum der Freiheit gilt […].“ Siehe Tauber, Ästhetik, S. 205. – Tauber betont aber auch, dass Heine „infolge seiner näheren Bekanntschaft mit den radikalen Strömungen, denen er in Paris begegnete“, begriff, „daß das Ideal des Sensualismus keine reale, in absehbarer Zukunft verwirklichbare Möglichkeit darstelle“ (Tauber, Ästhetik, S. 208).
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nicht länger autonom, ein Raum der Freiheit im Hinblick auf die gesellschaftliche Realität.³³⁴ Die Dialektik von Resignation und Engagement als Wesenszug des modernen Schriftstelleramtes ist auch in der Vorrede zu finden. So ruft der Ich-Erzähler aus: Was ich einst begehrte, ist mir jetzt unbequem, ich möchte Ruhe haben […]. Und stille Lieder wollte ich dichten […]. Es ging auch im Anfang, mein Gemüt ward wieder umfriedet von dem Geiste der Dichtung, wohlbekannte edle Gestalten und goldne Bilder dämmerten wieder empor in meinem Gedächtnisse, ich ward wieder traumselig, so märchentrunken, so verzaubert wie ehemals […].³³⁵
Zu dieser Aussage der Vorrede ist dann die Vorstellung vom geradezu zwanghaften Engagement des modernen Schriftstellers gestellt. Der leidenschaftliche Einsatz für die Ideen der Revolution, für den demokratischen Umbruch ist dem modernen Autor unausweichlich: „[N]ein, wir ergreifen keine Idee, sondern die Idee ergreift uns, und knechtet uns, und peitscht uns in die Arena hinein, daß wir, wie gezwungene Gladiatoren, für sie kämpfen. So ist es mit jedem echten Tribunat oder Apostulat.“³³⁶ Diese für den modernen Schriftsteller bestimmende Dialektik von Resignation und Engagement ist, wie bereits ausgearbeitet, auch in der literarischen Anlage der Börne-Figur zu finden. Dessen beschriebener Resignation ist mit den Pariser Ereignissen von 1830 ein Enthusiasmus gegenübergestellt, der sich an der Julirevolution entzündet und zu einer Eskalation des radikalen Republikanismus führt und sich, nach Aussage des Ich-Erzählers, zum krankhaften Wahn der BörneFigur steigert. Doch enden in der Dialektik von Resignation und Engagement des Schriftstellers nicht die Ähnlichkeiten zwischen Börne-Figur und Ich-Erzähler. Ein weiteres Element, bestimmend für Figur und Erzähler, ist die Erfahrung des Exils. Sie greift in die Dialektik von Rückzug und Engagement ein, verschiebt sie zugunsten des letzteren. So sind es die Bedingungen des Exils, die dem Schreibenden die Notwendigkeit politischen Engagements ins Gedächtnis rufen und den Rückzug ins Ästhetische, in eine autonome Kunstwelt, vereiteln. Auch in der Vorrede ist das Zusammenspiel von Resignation, Engagement und Exil zu finden. Die deutschen Auswanderer, die dem Ich-Erzähler der Vorrede begegnen, stören ihn am Ort des Rückzugs auf und stoßen ihn zurück in die Konflikte der Zeit:
334 Vgl. Tauber, Ästhetik, S. 205. 335 B V, S. 11. 336 B V, S. 10.
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Was ich einst begehrte, ist mir jetzt unbequem, ich möchte Ruhe haben […]. Und stille Lieder wollte ich dichten […]. […] Nun weiß aber jeder, daß man bei solcher Stimmung nicht immer im Zimmer sitzen bleibt, und manchmal mit begeistertem Herzen und glühenden Wangen ins freie Feld läuft, ohne auf Weg und Steg zu achten. So ergings auch mir, und ohne zu wissen wie, befand ich mich plötzlich auf der Landstraße […], und vor mir her zogen, hoch und langsam, mehrere große Bauernwagen, bepackt mit allerlei ärmlichen Kisten und Kasten, altfränkischem Hausgerät, Weibern und Kindern. Nebenher gingen Männer, und nicht gering war meine Überraschung, als ich sie sprechen hörte – sie sprachen Deutsch, in schwäbischer Mundart. Leicht begriff ich, daß diese Leute Auswanderer waren, und als ich sie näher betrachtete, durchzuckte mich ein jähes Gefühl, wie ich es noch nie in meinem Leben empfunden, alles Blut stieg mir plötzlich in die Herzkammern und klopfte gegen die Rippen, als müsse es heraus aus der Brust, als müsse es so schnell wie möglich heraus, und der Atem stockte mir in der Kehle. Ja, es war das Vaterland selbst das mir begnete […].³³⁷
Die Szene gerät nicht nur zur wehmütigen Begegnung mit dem in volkstümlicher Allegorie dargestellten Vaterland. Das Gespräch mit den Auswanderern über die politische Situation in der Heimat, deren leitmotivische Klage „Was sollten wir tun? Sollten wir eine Revolution anfangen?“³³⁸, fordert eine Antwort des Ich-Erzählers, erinnert diesen an die Aufgabe, durch literarische Agitation, die poltische und soziale Revolution zu unterstützen. Im Elend der aus Deutschland flüchtenden Menschen erkennt der Exilierte seine Verpflichtung gegenüber der Heimat, den Ideen der Revolution das Wort zu führen. Das Engagement des Schriftstellers erwacht, das exilierte Vaterland reißt ihn aus der Apathie. Ähnlich aufrüttelnd, doch anders motiviert, wirkt die exilische Existenz in den Helgoländer Briefen. Ist die Vorrede aus den ersten Jahren des Exils in Frankreich gestaltet, sind die Helgoländer Briefe nicht aus der persönlichen Erfahrung des Exils geschöpft. Das „ich ging, ohne zu wissen warum; ich ging weil ich mußte“³³⁹ ist nicht in den Helgoländer Briefen zu finden. Dennoch ist hier die persönliche Situation für den Ich-Erzähler in gewisser Weise dramatischer gestaltet. Der Ich-Erzähler der Vorrede konnte Frankreich nach 1830 als Ort des Exils, als Ort, an dem es sein Sprecheramt frei ausüben konnte, wählen. Vor den Ereignissen des Sommers 1830 existiert für den Ich-Erzähler der Helgoländer Briefe, mit Blick auf die politische Landkarte Europas und darüber hinaus, weder ein Ort des Rückzugs noch ein Ort, an dem er sein Schriftstelleramt frei ausüben kann.³⁴⁰ Die Restauration hat den europäischen Kontinent, selbst Frankreich, vor 1830 fest in der Hand. Der Traum einer auf Freiheit und Gleichheit basierenden demokratischen Gesellschaft scheint seit dem Sieg über Napoleon zu verblassen. Im Ausruf 337 B V, S. 11f. 338 B V, S. 13. 339 B V, S. 10. 340 Vgl. B VII, S. 36–39.
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des Ich-Erzählers „O Freiheit! du bist ein böser Traum!“³⁴¹ ist dessen Entmutigung und die der gesamten antirestaurativen Oppositionsbewegung zusammengefasst. In ihm ist der Status der europäischen Gesellschaft vor den revolutionären Ereignissen des Juli 1830 beschrieben. Das monarchische System scheint aufs Neue manifestiert. Das Engagement des politischen Autors ermüdet angesichts dieser Realität. Der Rückzug aus der Tagespolitik steht bevor. Dieser Rückzug bedeutet im Fall des Ich-Erzählers jedoch keine Flucht ins biedermeierlich Private oder ins Ästhetische, jene möglichen Wege eines Schriftstellers in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, den Fährnissen regimekritischen Schreibens auszuweichen. Der Ich-Erzähler nutzt einen anderen, nur auf den ersten Blick unpolitischen Reflexionsraum für sein Schreiben und folgt einer Tradition, die außerhalb der christlich-abendländischen Kultur wurzelt. Die Bibel als zentrales Dokument jüdischen Selbstverständnisses in der Diaspora vermag es, den Schreibenden aus seiner Resignation zu reißen und darüber hinaus zum Raum politischer Überlegungen zu werden. Diese Lektüre bedeutet dabei „die Deutung der Geschichte an die Figur des Lesens in einem biblischen Buch, dessen Buchstaben wiederum allegorisch als Naturschauplatz der Geschichte chiffriert sind“³⁴², zu binden. Die Intention Heines, die in der jüdischen Tradition ausgebildeten Formen der Kommentierung der Schrift in die deutschsprachige Literatur einzuführen, wird an dieser Stelle wiederum sichtbar und das eigene Schreiben als das Ergebnis eines Säkularisationsprozesses, als die Umsetzung religiöser Diskursformen ins Literarische, offenbar.³⁴³ Bereits in der Analyse der Shylock-Figur wurde auf die Bedeutung von Lektüre und Kommentierung der Tora für den Fortbestand des jüdischen Selbstverständnisses in der Diaspora verwiesen. Im geschriebenen Wort sind die Gesetze eines religiös-sittlichen Daseins bewahrt, jenes Schlüssels zur Erhaltung jüdischen Lebens nach traditioneller Auffassung. Die dort niedergeschriebenen Ge- und Verbote und die aus ihr erwachsenen Rituale strukturieren das Leben jedes einzelnen Juden und der jüdischen Gemeinden in der Diaspora.³⁴⁴ Die Tora ist ihnen ein sicherer Schutzraum ihres jüdischen Selbstverständnisses: „Ein Buch ist ihr Vaterland, ihr Besitz, ihr Herrscher, ihr Glück und ihr Unglück. Sie leben in den umfriedeten Marken dieses Buches, hier üben sie ihr unveräußerliches Bürger-
341 B VII, S. 39. 342 Nickel, Figur, S. 111. 343 Vgl. Witte, Tradition, S. 89f.; Peter Guttenhöfer: Heinrich Heine und die Bibel. In: Schlingensiepen/Windfuhr, Heine, S. 35–47. 344 Vgl. B VII, S. 39f.
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recht, hier kann man sie nicht verjagen, nicht verachten, hier sind sie stark und bewundrungswürdig.“³⁴⁵ Das geschriebene Wort der Bibel ist, wie dem jüdischen Selbstverständnis, auch dem Ich-Erzähler Schutzraum und mehr noch Raum der Freiheit³⁴⁶ für sein politisches Engagement. Diesen Schutzraum beschreibt der Ich-Erzähler in der Sprache seiner eigenen Gegenwärtigkeit, in der der Kampf um die bürgerliche Gleichstellung ausgefochten wird. Die Beschreibung zieht die Kriterien moderner Staatsbürgerschaft heran: das Recht zu leben und den Schutz vor Verfolgung und Gewaltexzessen.³⁴⁷ Dem modernen Schriftsteller wird lesend und kommentierend darüber hinaus die Bibel zum Schutzraum der eigenen politischen Überzeugung. Das Buch bietet Zuflucht vor jener „bleiernen Langeweile“³⁴⁸ der Metternich-Ära, die nicht-systemkonformes Engagement verfolgt und dem Ich-Erzähler „fast das Haupt eindrückte“³⁴⁹. „[G]roß und weit wie die Welt“³⁵⁰ gewährt die Lektüre dieses Textes dem Zeitschriftsteller die notwendige Möglichkeit politischer Reflexion. Als Dokument des Vernunftgebots pflegt die Auseinandersetzung mit der Tora nicht das apolitische Denken, versagt sie dem kritischen Zeitgeist den Rückzug ins Private. Gerade in der Bibel, dem „Notizbuch des absoluten Geistes“³⁵¹, ist der Gedanke des Emanzipationsgebots vorgedacht, der auch die Revolutionsbewegung in Europa beflügelt. Darüber hinaus entwickelt sich dem Ich-Erzähler aus seiner Lektüre der Bibel jene politische Überzeugung, die dem Nationalismus entgegengesetzt ist: der Kosmopolitismus. Die Lektüre nicht allein auf den Tanach beschränkend, findet der Ich-Erzähler im Neuen Testament jene Geisteshaltung vorgezeichnet, die für die Weiterentwicklung des Emanzipationsgedankens entscheidend ist:³⁵² Es ist ein merkwürdiges Schauspiel, wie das Volk des Geistes sich allmählig ganz von der Materie befreite, sich ganz spiritualisiert. Moses gab dem Geist gleichsam materielle Bollwerke, gegen den realen Andrang der Nachbarvölker: Rings um das Feld, wo der Geist gesäet, pflanzte er das schroffe Zeremonialgesetz und eine egoistische Nationalität als schützende Dornenhecke. Als aber die heilige Geistpflanze so tiefe Wurzel geschlagen und so hoch emporgeschossen, daß sie nicht mehr ausgereutet werden konnte: da kam Jesus Christus und riß das Zeremonialgesetz nieder, das fürder keine nützliche Bedeutung mehr hatte, und er sprach das Vernichtungsurteil über die jüdische Nationalität … Er berief alle
345 B VII, S. 40. 346 Zum Begriff vom Kunstwerk als Raum der Freiheit vgl. Tauber, Ästhetik, S. 205. 347 Vgl. Nickel, Figur, S. 109. 348 B VII, S. 39. 349 B VII, S. 39. 350 B VII, S. 39. 351 B VII, S. 46. 352 Zur Christusfigur in diesem Zusammenhang vgl. auch Bodenheimer, Schatten, S. 36f.
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Völker der Erde zur Teilnahme am Reich Gottes, das früher nur einem einzigen auserlesenen Volk gehörte, er gab der ganzen Menschheit das jüdische Bürgerrecht [Sittlichkeitsgesetz, Anm. d. Verf.] … Das war eine große Emanzipationsfrage, die jedoch weit großmütiger gelöst wurde, wie die heutigen Emanzipationsfragen in Sachsen oder Hannover … Freilich, der Erlöser, der seine Brüder vom Zeremonialgesetz und der Nationalität befreite, und den Kosmopolitismus stiftete, ward ein Opfer seiner Humanität […].³⁵³
Der säkulare Exeget findet lesend in der Bibel jenen Konflikt bezeugt, den auch seine Zeit austrägt: der Konflikt zwischen Nationalismus und Kosmopolitismus. Im Vierten Buch der Denkschrift wird der Gegensatz zwischen Kosmopolitismus und Nationalismus weiter ausdifferenziert, wenn ersterem die Schlagwörter „Menschheit, Weltbürgertum, Vernunft der Söhne, Wahrheit…“³⁵⁴, zweiterem die Schlagwörter „Vaterland, Deutschland, Glauben der Väter“³⁵⁵ zugeordnet werden, wobei erste Begriffsgruppe positiv, letztere negativ vom Ich-Erzähler konnotiert wird. Der Kosmopolit, dessen philosophisch-politischer Standpunkt den ganzen Erdkreis als Heimat betrachtet und alle Menschen als Mitbürger und Geschwister ansieht, steht konträr zu jeglichem nationalistischen Gedankengut. Der Entwurf des modernen Schriftstellers in der Denkschrift ist an den Diskurs zwischen nationaler und kosmopolitischer Weltsicht gebunden. Dabei fällt das Urteil über die Börne-Figur bezüglich deren Tendenz zum Nationalismus beziehungsweise Kosmopolitismus ambivalent aus. So schreibt der Ich-Erzähler über Börnes Menzel der Franzosenfresser: Diese Schrift ist eine Verteidigung des Kosmopolitismus gegen den Nationalismus; aber in dieser Verteidigung sieht man, wie der Kosmopolitismus Börnes nur in seinem Kopfe saß, statt daß der Patriotismus tief in seinem Herzen wurzelte, während bei seinem Gegner der Patriotismus nur im Kopfe spukte und die kühlste Indifferenz im Herzen gähnte … Ja, er [Börne, Anm. d. Verf.] war nicht bloß ein guter Schriftsteller sondern auch ein großer Patriot.³⁵⁶
Indem der Ich-Erzähler der Börne-Figur kosmopolitisches Bewusstsein attestiert, dessen literarisches Schaffen als Ausdruck kosmopolitisch gefärbten Denkens einschätzt, wird das in der Denkschrift angelegte Doppelporträt modernen Schriftstelleramtes erneut sichtbar. Im Entwurf dieses Amtes werden wesentliche Voraussetzungen den beiden Protagonisten des Textes bescheinigt: zerrissen zwischen Resignation und Engagement, gezeichnet von der Erfahrung des Exils, getragen vom kosmopolitischen Gedankengut der Revolution. Doch wie Kapitel 353 B VII, S. 41. 354 B VII, S. 91. 355 B VII, S. 91. 356 B VII, S. 110.
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VI.4.2 verdeutlicht, sinkt die Börne-Figur in den Wahnsinn. Dessen Ursache ist im Text Heines aus der nazarenischen Haltung der Intoleranz des Protagonisten begründet. Den kosmopolitischen Emanzipationsgedanken zwar aufnehmend, steht das Prinzip der Intoleranz dem konsequenten Kampf für die Idee der Gleichheit entgegen und tritt gegen ein Gesellschaftsmodell an, das nicht auf dem Konzept des Nationalstaats wurzelt. Am Unvermögen, den fortschrittlichen Weg des kosmopolitischen Emanzipationsgedanken zwar zu erkennen, doch diesem aufgrund der eigenen Intoleranz nicht konstruktiv folgen zu können, zerbricht die Börne-Figur, scheitert dieser Entwurf eines Schriftstellers, der von der regressiven Wesensart des Nazareners bestimmt wird. In der Gestaltung der Figuren ist das Element des Wahnsinns dabei grundlegend für das kontrastharmonische Spiel von Überlegenheit und Unzulänglichkeit der Antipoden. In den Helgoländer Briefen treibt der Ich-Erzähler, ähnlich der Börne-Figur von der Dialektik zwischen Resignation und Engagement bestimmt, von der Erfahrung des Exils geprägt und vom Rausch der Revolution erfasst, gefährlich nahe auf den Wahnsinn zu. So sind die Ahnungen, die der Ich-Erzähler im vierten und fünften Abschnitt der Helgoländer Briefe befallen, einerseits als Vorboten der Julirevolution zu deuten.³⁵⁷ Sie können darüber hinaus auch als Symptome jener Manie gelesen werden, die der Ich-Erzähler beim Eintreffen der Nachricht über die Pariser Ereignisse erfasst. So berichtet der Ich-Erzähler von unerklärlichen Phänomenen, von schwankenden Gemütslagen, von wunderlichen Ahnungen, von der gequälten Seele – Elemente, die als Verweis auf das Kommende den Spannungsbogen des Textes erhöhen, jedoch auch auf einen überreizten Zustand des Ich-Erzählers hindeuten, der sich im ungezügelten Enthusiasmus für die Revolution zu verlieren droht. Auch die konstatierte Langeweile zu Beginn des Zweiten Buches, die der Ich-Erzähler zur Lektüre greifen lässt, oder die Sinnestäuschungen, etwa der Kuchengeruch des Meeres, sind jenem Krankheitsbild zuzuordnen, das die Literatur des 19. Jahrhunderts vom Wahnsinnigen entwirft.³⁵⁸ Die überreizte Gemütslage, die der Ich-Erzähler von Beginn der Helgoländer Briefe an bestimmt, kulminiert mit der Ankunft der Nachrichten aus Paris in einen Enthusiasmus, der in Wahnsinn umzuschlagen droht. Empfand der Ich-Erzähler eine tiefe Befriedigung über den in der Bibel bezeugten Emanzipationsgedanken, stürzt die Lektüre der Tageszeitung den Lesenden geradezu in Euphorie über das dort Mitgeteilte: „Es waren Sonnenstrahlen, eingewickelt in Druckpapier, und sie entflammten meine Seele, bis zum wildesten Brand. Mir war, als könnte ich den ganzen Ozean bis zum Nordpol anzünden mit den
357 Vgl. B VII, S. 48 u. 50. 358 Vgl. Daemmrich, Themen, S. 369.
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Gluten der Begeisterung und der tollen Freude, die in mir loderten. […] Ich lief wie wahnsinnig im Hause herum […].“³⁵⁹ Noch eindrücklicher schildert der Abschnitt vom 10. August der Helgoländer Briefe die Wirkung der Zeitereignisse auf das Subjekt. Noch eben in die Lektüre tradierter Texte vertieft, über den Emanzipationsgedanken reflektierend, zwingt die Gegenwart den Ich-Erzähler zurück aus der eher passiven Position des Lesenden in die des agierenden Schriftstellers. Der „Gladiator“, getragen von der Gewalt der Revolution, betritt erneut die Arena der Zeitereignisse: Fort ist meine Sehnsucht nach Ruhe. Ich weiß jetzt wieder was ich will, was ich soll, was ich muß … Ich bin der Sohn der Revolution und greife wieder zu den gefeiten Waffen, worüber meine Mutter ihren Zaubersegen ausgesprochen … Blumen! Blumen! Ich will mein Haupt bekränzen zum Todeskampf. Und auch die Leier, reicht mir die Leier, damit ich ein Schlachtlied singe … Worte gleich flammenden Sternen die aus der Höhe herabschießen und die Paläste verbrennen und die Hütten erleuchten … Worte gleich blanken Wurfspeeren, die bis in den siebten Himmel hinaufschwirren und die frommen Heuchler treffen, die sich dort eingeschlichen ins Allerheiligste … Ich bin ganz Freude und Gesang, ganz Schwert und Flamme!³⁶⁰
Hier, im Bild von Schwert und Leier, im Bild vom Wort als Waffe der Revolution, ist jenes Schriftstelleramt signifiziert, das Heine dem modernen Autor zuweist. In den enthusiastischen Ausrufen und Satzfragmenten kommt jedoch auch der drohende Umschwung der Begeisterung des Ich-Erzählers in den Wahnsinn zum Ausdruck. Dass dem Ich-Erzähler diese Gefahr bewusst ist, beweisen die hierauf folgenden Äußerungen: „Ich bin ganz Freude und Gesang, ganz Schwert und Flamme! Vielleicht auch ganz toll … Von jenen wilden, in Druckpapier gewickelten Sonnenstrahlen ist mir einer ins Hirn geflogen, und alle meine Gedanken brennen lichterloh. Vergebens tauche ich den Kopf in die See. Kein Wasser löscht dieses griechische Feuer.“³⁶¹ Der Ich-Erzähler wählt für die Darstellung seiner ambivalenten Gemütslage, in der er seit Ankunft der Nachrichten aus Paris gefangen ist, eine der bedeutendsten Metaphern der europäischen Literaturtradition. So sind der Sonnenmetapher zwei unterschiedlich konnotierte Traditionsstränge eingebunden, die beide für das Verständnis der Textstelle herangezogen werden müssen.³⁶² In der Sonne als der Urkraft des Lebens, als der Quelle intensiver
359 B VII, S. 51. 360 B XII, S. 53. 361 B VII, S. 54. 362 Vgl. Daemmrich, Themen, S. 322. – Rolf Hosfeld verweist in seiner Publikation Die Welt als Füllhorn: Heine. Das neunzehnte Jahrhundert zwischen Romantik und Moderne auf eine
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Energie, ist einerseits die Eigenschaft des wohltätigen, göttlichen Lichts signifiziert, andererseits verweist die auf jenen Feuerball, der mit seiner zerstörerischen Glut Schrecken hervorruft, in dem aggressive Handlungen einzelner Figuren verbildlicht werden.³⁶³ Beiden Deutungspfaden folgt die Denkschrift. So chiffrieren die in Packpapier gehüllten Sonnenstrahlen die christliche Identifikation des Gestirns mit Gott und Christus als der zweiten Sonne.³⁶⁴ Doch verdeutlicht das profane Zeitungspapier, welches die Strahlen umwickelt, dass das Bild aus diesem religiösen Bedeutungszusammenhang gelöst ist. Die Sonnenstrahlen verkünden im 19. Jahrhundert nicht die Erfüllung eschatologischer Heilserwartung. In ihnen ist vielmehr jenes vom religiösen Dogma freie, kosmopolitische Gedankengut verbildlicht, als dessen ersten Propheten der Ich-Erzähler Jesus Christus ausmacht, für dessen Umsetzung es jedoch der Revolution und darüber hinaus des demokratischen Prinzips bedarf. Die Strahlen künden von der Emanzipation der Menschheit, dem Weltbürgertum, dem sich der Ich-Erzähler verpflichtet hat. Sie entflammen machtvoll das Bewusstsein des Ich-Erzählers. In der Urkraft des Gestirns ist dem Ich-Erzähler jedoch nicht nur die Autorität des kosmopolitischen Prinzips in der Durchsetzung der Emanzipation vergegenwärtigt. Die Glut der Sonne steht im Text auch für eine entfesselte Leidenschaft, in der sich das Individuum selbst zu zerstören droht. So werden die Sonnenstrahlen dem Ich-Erzähler zum ewigen Feuer, das die Vernunft verbrennt. Das Bild des griechischen Feuers verweist auf die dramatische Situation des Ich-Erzählers, in dem die Leidenschaft wie eine verzehrende Flamme um sich zu greifen droht.³⁶⁵ Vor dieser, den Geist verbrennenden Leidenschaft warnt bereits die Börne-Figur und verweist auf die Schwäche der Vernunft, sich dem Enthusiasmus zu ergeben: [S]obald sich eine große wahre Leidenschaft unseres Herzens bemächtigt hat, und unterdrückt werden soll, wegen des positiven Schadens, der uns dadurch bedroht, alsdann gewährt uns die Vernunft wenig Hülfe, ja, die Kanaille, sie wird alsdann sogar eine Bundesgenossin des Feindes, und anstatt unsere materiellen oder moralischen Interessen zu vertreten, leiht sie dem Feinde, der Leidenschaft, alle ihre Logik, alle ihre Syllogismen, alle ihre Sophismen, und dem stummen Wahnsinn liefert sie die Waffe des Wortes. Vernünftig,
Parallele der Sonnenstrahlenmetapher bei Heine und den Bekenntnissen des Augustinus. Heine übernimmt mit seinem Verweis auf Augustinus, so Hosfeld, einen Topos aus der Gattung der sich in den Confessiones exemplifizierenden Krisis-Viten, denen zwei Bilder inhärent sind: die Gestalt des Sünders vor der Bekehrung und die Gestalt des Gerechten nach der Krisis und Wiedergeburt. Heines Briefe aus Helgoland sind, Hosfeld zu Folge, Parodie einer KrisisVita, deren Schwelle die Julirevolution ist. Vgl. Hosfeld, Rolf: Die Welt als Füllhorn: Heine. Das neunzehnte Jahrhundert zwischen Romantik und Moderne. Berlin 1984. S. 35ff. 363 Vgl. Daemmrich, Themen, S. 322. 364 Vgl. Daemmrich, Themen, S. 322. 365 Vgl. Daemmrich, Themen, S. 156.
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wie sie ist, schlägt sich die Vernunft immer zur Partei des Stärkeren, zur Partei der Leidenschaft, und verläßt sie wieder, sobald die Force derselben durch die Gewalt der Zeit oder durch das Gesetz der Reaktion gebrochen wird.³⁶⁶
Dass die Börne-Figur sich jener Leidenschaft hingibt, die sich an der Revolution entzündet, und zerstört wird, führt Kapitel VI.4.2 aus. Die Reaktion des IchErzählers auf die Zeitereignisse ist jedoch anders dargestellt. Zwar entflammt der Ich-Erzähler für die Revolution und sammeln sich bereits alle Anzeichen eines aus der Leidenschaft für die Ereignisse drohenden Wahnsinns um den Sprechenden, doch ist zu beobachten, dass der Enthusiasmus bereits mit der ersten Nachricht über die Julirevolution geläutert wird.³⁶⁷ Aufgewühlt über die Vorgänge in Paris, ist der Ich-Erzähler über die Teilnahmslosigkeit einer Nebenfigur erzürnt, unterdrückt das aufsteigende Gefühl der Aggression gegenüber jener Ignoranz jedoch mit einem „Aber nein, keine Exzesse!“³⁶⁸ Dieser Anstrengung des Ich-Erzählers, die entfesselte Leidenschaft zu unterdrücken, werden durch Momente der Ernüchterung ergänzt, die in der Niedergeschlagenheit des Nachsatzes Neun Jahre später gipfeln.³⁶⁹ Klaus Briegleb weist in seinen Anmerkungen darauf hin, dass in der gezügelten Aggression des Ich-Erzählers gegenüber dem Andersdenkenden jene antidogmatische Analyse der Revolutionsprinzipien zum Ausdruck gebracht ist, die bestimmend ist für die Position des Ich-Erzählers im Börne-Buch.³⁷⁰ In dieser Zügelung wird auch die Überlegenheit des Ich-Erzählers gegenüber der Börne-Figur sichtbar. Toleranz statt Dogmatik als Voraussetzung für eine Durchsetzung der Emanzipation sieht der Ich-Erzähler in den Pariser Ereignissen verwirklicht, wenn die Volksmassen den einstigen Souverän nicht im Rausch der Revolution massakrieren, ihn vielmehr verschonen. Begeistert ruft der Kosmopolit aus: Die Pariser haben uns ein so brillantes Beispiel von Schonung gegeben. Wahrlich, Ihr verdient es frei zu sein, Ihr Franzosen, denn Ihr tragt die Freiheit im Herzen. Dadurch unterscheidet Ihr Euch von Euren armen Vätern, welche sich aus jahrtausendlicher Knechtschaft erhoben, und bei allen ihren Heldentaten auch jene wahnsinnige Greuel ausübten, worüber
366 B VII, S. 20. 367 Vgl. Ruiz, Boden, S. 80. – Zum gebrochenen Enthusiasmusstil auch die Form des Textes vgl. Nickel: „[D]ie in der Forschung immer wieder für authentisch gehaltene Revolutionsemphase, insbesondere der letzten Briefe […] ist durch zahlreiche Zitationen, Anspielungen und Andeutungen auf philosophische, alt- und neutestamentliche, historiographische und literarische Texte und Ereignisse erheblich gestört.“ Siehe Nickel, Figur, S. 98. 368 B VII, S. 51. 369 Vgl. B VII, S. 54, 56 u. 59f. 370 Vgl. B VIII, S. 813.
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der Genius der Menschheit sein Antlitz verhüllte. Die Hände des Volkes sind diesmal nicht blutig geworden im Schlachtgewühle gerechter Gegenwehr, nicht nach dem Kampft. Das Volk verband selbst die Wunden seiner Feinde, und als die Tat abgetan war, ging es wieder ruhig an seine Tagesbeschäftigung […]!³⁷¹
In dieser Analyse der Revolution ist nicht nur die Auffassung Heines gespiegelt, die Revolution von 1789 sowie die Juliereignisse als Elemente eines sich selbst erkennenden und selbst vervollkommnenden Prozesses zu bewerten, in ihr ist auch jenes Element politischer Freizügigkeit gezeigt, das dem politischem Fanatismus der politischen Enragés entgegensteht und in deren übereilter Radikalität der Ich-Erzähler den größten Widersacher für den Erfolg der europäischen Emanzipationsbewegung ausmacht.³⁷² Dem kosmopolitischen Denken verbunden, deutet der Ich-Erzähler die Zeichen der Julirevolution vorausschauender als die sich im Fanatismus entfesselnde Börne-Figur. Die Juliereignisse als Teil eines größeren historischen Prozesses lesend, der noch nicht zur Vollendung gekommen ist, gelingt es dem Ich-Erzähler, sich aus der Gefahr unkontrollierter Leidenschaft freizumachen und mit Blick auf die Zukunft „die kostbare Ladung, die heiligen Schätze, die mir vertraut“³⁷³ − die Prinzipien Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit − schreibend zu bewahren.
5 Pyrrhussieg des Kosmopoliten oder Leid und Exil als Voraussetzung des Schreibens 5.1 Apotheose und Märtyrertum des Dichters in Jehuda ben Halevy Doch auch wenn der Kosmopolit sich seiner Überlegenheit gegenüber dem Nazarener bewusst ist, weiß der Ich-Erzähler als Figuration des modernen Schriftstellerverständnisses um die Unüberwindbarkeit des Dilemmas von Schönheit und Gerechtigkeit (im Sinne politischer Emanzipation). Denn die Überlegenheit des Kosmopoliten ist im Verlauf der Denkschrift mit Blick auf die Zukunft des Dichtertums in Resignation umgeschlagen. Im Heraufziehen eines prosaischen Zeitalters sieht der Ich-Erzähler dieses grundsätzlich gefährdet:³⁷⁴
371 B VII, S. 51f. 372 Vgl. B VIII, S. 814. 373 B VII, S. 35. 374 Vgl. Joachim Bark: Erläuterungen. In: Heinrich Heine. Romanzero. Mit einem Nachwort, einer Zeittafel zu Heine, Erläuterungen und bibliographischen Hinweisen von Joachim Bark. 2. Aufl. München 1988. S. 246. – Zur Dichotomie zwischen Dichtertum und einem prosaischem Schriftstelleramt: „Die frühere Opposition gegen die Feier der Kunst als des höchsten Wertes
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Alle überlieferte Heiterkeit; alle Süße, aller Blumenduft, alle Poesie wird aus dem Leben herausgepumpt werden […]. – Für die Schönheit und das Genie wird sich kein Platz finden in dem Gemeinwesen unserer Puritaner, und beide werden fletriert und unterdrückt werden, noch weit betrübsamer als unter dem älteren Regimente. Denn Schönheit und Genie sind ja auch eine Art Königtum, und sie passen nicht in eine Gesellschaft, wo jeder im Mißgefühl der eigenen Mittelmäßigkeit, alle höhere Begabnis herabzuwürdigen sucht, bis auf banalste Niveau. Die Könige gehen fort, und mit ihnen gehen die letzten Dichter. „Der Dichter soll mit dem König gehen“, diese Worte dürften jetzt einer ganz anderen Deutung anheimfallen. Ohne Autoritätsglauben kann auch kein großer Dichter emporkommen. […] Wenn Dante durch die Straßen von Verona ging, zeigte das Volk auf ihn und flüsterte: ‚Der war in der Hölle!‘ Hätte er sie sonst mit allen ihren Qualen so treu schildern können? Wie weit tiefer, bei solchem ehrfurchtsvollen Glauben, wirkte die Erzählung […] aller jener Qualgestalten, die dem Geiste des großen Dichters entquollen … Nein, sie sind nicht bloß seinem Geiste entquollen, er hat sie nicht gedichtet, er hat sie gelebt, er hat sie gefühlt, er hat sie gesehen, betastet, er war wirklich in der Hölle, er war in der Stadt der Verdammten … er war im Exil!− − −³⁷⁵
Dieser abschließende Blick der Denkschrift auf die Schriftstellerexistenz verweist bereits auf eine zentrale Aussage der Poetologie des Spätwerks Heines: der Ursprung der Poesie im Leiden. Eindrücklichstes Beispiel hierfür ist das Gedicht Jehuda ben Halevy der Hebräischen Melodien des Romanzero (1851), jener Lyriksammlung, die, wie auch die späte Prosa, dem jahrelangen Siechtum des Schriftstellers unter den größten Schmerzen abgerungen ist.³⁷⁶ Bereits die Denkschrift weist auf die Exilsituation als ein zentrales Element der modernen Schriftstellerexistenz hin. Daneben ist es das Apostolat des Dichters, das in der späten Lyrik als weiteres Element der Dichterexistenz zugewiesen wird. Am Ende des Heineschen Schaffens ist es jedoch nicht mehr die Schönheit, die dem Dichter als Quelle seines Wirkens dient, sondern das Leiden des Individuums in und an der Welt. Alle drei Elemente – Auserwähltheit, Exilsituation und Leid – sind jedoch auch dem jüdischen Selbstverständnis in der Diaspora eingeschrieben. Der Wandel im diasporischen Bewusstsein ist dabei maßgeblich für die Poetologie des Spätwerks Heines. Der vom dominanten Diskurs marginalisierte Schriftsteller erklärt die Pfeiler des traditionellen diasporischen Bewusstund die damit verbundene Kritik der Indifferenz des reinen Dichters gegenüber dem Volk hatte einen guten Teil seiner Dringlichkeit verloren. Stattdessen entwickelt Heine, der sich nun mit dem radikalen Republikanismus in Frankreich und Deutschland auseinandersetzen muß, eine neue Dichotomie. Auf der einen Seite finden wir den politisch engagierten Kritiker und Ideologen, der sich für einen unmittelbaren politischen Wandel einsetzt, auf der anderen begegnet uns der Dichter, dessen Worte eine breite und auch tiefere Bedeutung haben.“ Siehe Hohendahl, Heine, S. 166f. 375 B VII, S. 141. 376 Vgl. Höhn, Handbuch, S. 136ff.; Hauschild, Heine, S. 469ff.
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seins − Auserwähltheit und Märtyrertum − zur Basis seiner Poetologie und hebt den Gegensatz von Dichtertum und marginalisierter Existenz, wie er vom dominanten Diskurs definiert wird, auf. Dennoch scheint die Autonomie der Kunst in der Apotheose des Dichters, seiner Auserwähltheit, in den Schlussstrophen des ersten Teils Jehuda ben Halevy auf:³⁷⁷ Rein und wahrhaft, sonder Makel War sein Lied, wie seine Seele – Als der Schöpfer sie erschaffen, Diese Seele, selbstzufrieden Küßte er die schöne Seele, Und des Kusses holder Nachklang Bebt in jedem Lied des Dichters, Das geweiht durch diese Gnade. Wie im Leben, so im Dichten Ist das höchste Gut die Gnade – Wer sie hat, der kann nicht sündgen Nicht in Versen, noch in Prosa. Solches Dichten von der Gnade Gottes nennen wir Genie: Unverantwortlicher König Des Gedankenreiches ist er.³⁷⁸
Das Gedicht gibt hier eine „Kurzfassung der klassischen Autonomieästhetik“³⁷⁹, zeigt die Dichtung der Dichter-Figur Halevy „nicht weltlichen, sondern göttlichen Ursprungs und [wird diese] wird nicht durch Ideen bestimmt, sondern [ist] durch göttliche Gnade geweiht“³⁸⁰. In der Gleichsetzung von Dichter und König, wie sie auch in der Denkschrift begegnet, dort unterstrichen durch ein Zitat aus
377 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 395ff. 378 B XI, S. 134f. 379 Höhn, Handbuch, S. 147. 380 Bernd Witte: Judentum als kulturelles Vermächtnis. Zu Heines spätem Gedicht „Jehuda ben Halevy“. In: Die Jahre kommen und vergehn! 10 Jahre Heinrich-Heine Universität Düsseldorf. Hrsg. v. Holger Ehlert [u. a.]. Düsseldorf 1998. S. 259. – Zur Autonomieästhetik vgl. Gerhard Sauder: Blasphemisch-religiöse Körperwelt. Heinrich Heines „Hebräische Melodien“. In: Heinrich Heine. Artistik und Engagement. Hrsg. v. Wolfgang Kuttenkeuler. Stuttgart 1977. S. 136f.
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Schillers Jungfrau von Orleans³⁸¹, zeigt sich, so Walter Hinck, „ein gegen fürstlichen Absolutismus offensives Selbstwertgefühl des Schriftstellers bürgerlicher Herkunft“³⁸². Mit der Charakterisierung der Dichter-Figur Halevy als „[a]bsolute[r] Traumweltherrscher[in] / Mit der Geisterkrone, / Ein Poet von Gottes Gnade“³⁸³, Topoi des absolutistischen Gottesgnadentums, wird die göttliche Auserwählung des Königs durch die des Dichters ersetzt,³⁸⁴ stellt sich das Dichtertum in der „Verherrlichung der Schöpferkraft […] hoch über die übrigen menschlichen Tätigkeiten […]“³⁸⁵. Wirkt auch hier im Apostolat des späten Dichters das Dilemma von Schönheit und Gerechtigkeit fort? Walter Hinck zufolge hat diese Eigengesetzlichkeit der Kunst, die sich nicht vor dem Volke rechtfertigen muss, wie die letzte Strophe des ersten Teils des Gedichts³⁸⁶ formuliert: [n]ichts gemein […] mit dem Exklusivanspruch einer esoterischen Poesie. Nach wie vor gilt der Grundsatz, den der Autor der Abhandlung ‚Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland‘ für die Philosophie vertrat, und nach wie vor gilt er nicht minder für die Dichtung: daß nämlich dem Volk nur die Kornkammern helfen, zu denen es auch den Schlüssel besitzt. […] Demokratie und Gleichheit aller vor dem Gesetz werden von Heine nicht um den Preis einer ‚Gleichheit des Stils‘ gewollt: vor Volkstribunalen […] hat sich Kunst nicht zu rechtfertigen.³⁸⁷
Mit der Apotheose des Dichters am Ende des ersten Teils des Gedichts ist, trotz des Verweises auf den personalen Gott als die einzige Instanz der Rechtfertigung, jedoch, wie Regina Grundmann betont, nicht die vielbeschworene „Bekehrung“ Heines zum jüdischen Glauben eingeleitet:³⁸⁸ Nur dem Gotte steht er Rede, Nicht dem Volke – In der Kunst, Wie im Leben, kann das Volk Töten uns, doch niemals richten. –³⁸⁹
381 „Die Könige gehen fort, und mit ihnen gehen die letzten Dichter. ‚Der Dichter soll mit dem König gehen‘, diese Worte dürften jetzt einer ganz anderen Deutung anheimfallen.“ Siehe B VII, S. 141. – Zum Zitat vgl. Friedrich Schiller: Sämtliche Werke in 5 Bde. 5. Aufl. Düsseldorf 1997. 382 Walter Hinck: Die Wunde Deutschland. Heinrich Heines Dichtung im Widerstreit von Nationalidee, Judentum und Antisemitismus. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1991. S. 253. 383 B XI, S. 136. 384 Vgl. Hinck, Wunde, S. 254; Grundmann, Rabbi, S. 396. 385 DHA III/2, S. 894. 386 Vgl. B XI, S. 135. 387 Hinck, Wunde, S. 254. 388 Vgl. Hinck, Wunde, S. 254. 389 B XI, S. 135.
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Dass das Genie nur „dem Gotte […] Rede [steht]“, zeigt die göttliche Instanz vielmehr als: […] Teil eines literarischen Kalküls, das sich zur Polemik den Gegner, zur Klage den Zuhörer, zur Blasphemie das höhere Wesen von angemessenem Rang erst erfinden muß. Wenn dieser Kontrahent die Gestalt des Gottes der Väter annimmt, so ist diese Gestalt nur deshalb der Tradition verpflichtet, weil kein Poet, ‚kein Gott […] die Welt aus dem Nichts‘ erschafft, sondern der Überlieferung das entnimmt, was er ‚gebrauchen‘ kann.³⁹⁰
Auch der Wechsel zum Personalpronomen „uns“ in der letzten Strophe des ersten Teils von Jehuda ben Halevy verweist nicht, so Grundmann, auf ein Ausloten der „eigene[n] Identität als jüdischer Schriftsteller“³⁹¹, vielmehr geht es um die Spiegelung der Dichterexistenz des lyrischen Ichs in der Dichter-Figur Halevy. ³⁹² Ein jüdisches Selbstverständnis ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung. Untrennbar verbunden mit der Apotheose des Dichters ist dessen Schicksal als Märtyrer,³⁹³ da das Genie „immer isoliert steht“³⁹⁴. Dabei ist das Märtyrertum dem Wesen des Genies inhärent,³⁹⁵ ist die „Geisterkönigskrone“³⁹⁶ des Dichters zugleich auch Dornenkrone.³⁹⁷ Jürgen Brummack unterscheidet in Heines Werk zwischen drei Märtyrer-Typen:³⁹⁸ im Frühwerk ist der „Märtyrer der Liebe“³⁹⁹ präsent, gefolgt von den politischen Schriften mit dem „Märtyrer der Idee“⁴⁰⁰. Mit dem körperlichen Zusammenbruch von 1848 ist es der „Geschlagene und Heimgesuchte“⁴⁰¹, figuriert in Lazarus, Hiob oder dem Zauberer Merlin, der „wie lebendig begraben [liegt], der Leib existiert nicht mehr, nur die Stimme ist geblieben“⁴⁰². Wie im Märtyrertum der Liebe und Idee bedeutet das Märtyrertum des heimgesuchten Dichters „eine Auszeichnung, ein besonderes Schicksal, in
390 Altenhofer, Rabbi, S. 229. 391 Maren Niehoff, Tradition, S. 320. – Vgl. auch Lutz, Verein, S. 264. 392 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 397. 393 Vgl. Höhn, Handbuch, S. 147. 394 B IX, S. 257. 395 Vgl. Benno von Wiese: Signaturen. Zu Heinrich Heine und seinem Werk. Berlin 1976. S. 175f. 396 B XI, S. 136. 397 Vgl. Sauder, Körperwelt, S. 138; Sabine Bierwirth: Heines Dichterbilder. Stationen seines ästhetischen Selbstverständnisses. Stuttgart/Weimar 1995 (Heine-Studien). S. 58. 398 Vgl. Jürgen Brummack: Das Spätwerk („Romanzero“ und autobiographische Schriften). In: Heinrich Heine. Epoche, Werk, Wirkung. Hrsg. v. dems. München 1980. S. 275f. 399 Brummack, Spätwerk, S. 275. 400 Bierwirth, Dichterbilder, S. 58. 401 Brummack, Spätwerk, S. 275. 402 DHA X, S. 318.
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dem sich das tiefste Elend mit einer Erhöhung verbindet. Der an der Welt leidende Dichter ist also nicht als Opfer der Geschichte zu verstehen. Ohne eine solche Verbindung von Auszeichnung und Leid ist Dichtertum für Heine vielmehr nicht denkbar.“⁴⁰³ Dass im Märtyrertum der Halevy-Figur das Schicksal der Dichterexistenz figuriert ist, unterstreicht die Art deren Todes an der Stätte seiner Sehnsucht: Doch ein frecher Sarazene Kam desselben Wegs geritten, Hoch zu Roß, im Bug sich wiegend Und die blanke Lanze schwingend – In die Brust des armen Sängers Stieß er diesen Todesspeer, Und er jagte rasch von dannen, Wie ein Schattenbild beflügelt Ruhig floß das Blut des Rabbi Ruhig seinen Sang zu Ende Sang er, und sein sterbeletzter Seufzer war Jerusalem! − −⁴⁰⁴
Der Todesspeer, der tief in die Brust des Dichters eindringt, ihn aber nicht an der Beendigung seines letzten Liedes hindern kann – dieses Motiv ist nicht erst in Jehuda ben Halevy zu finden.⁴⁰⁵ Bereits in der Romantischen Schule wird der
403 Brummack, Spätwerk, S. 275f. – Zur Problematik von Dichtertum − Märtyrer − Opfer vgl. Christine Ivanović: Die Wunde Erinnerung. Zur Aktualität des Gedenkens Heinrich Heine, Jehuda ben Halevi, Paul Celan. In: Goltschnigg [u. a.], Harry, S. 345–360. Ivanović unterstreicht in ihrem Aufsatz, dass sich an die Verbindung von Dichtertum und Märtyrertum im Romanzero nicht die Vorstellung der Opferrolle bindet: „So gesehen versucht Heine, ein die eigene Person mitumfassendes Dichterporträt aus dem Grund von Geschichte und Gegenwart, von Tradition und Verfall hervortreten zu lassen, dessen kaleidoskopische Vielfalt immer wieder ihren Fluchtpunkt im Martyrium findet. […] ‚Die Tradition, in die sich Heine hier selbst eingliedert, hat er selbst erfunden‘, bemerkt Aleida Assmann dazu nicht ohne kritischen Unterton: ‚Sie verbindet das Judentum mit dem Künstlertum im Stammbaum der Opfer und Gezeichneten.‘ [Aleida, Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 3. Aufl. München 2006. S. 126] Mit einer solchen Perspektivierung wird jedoch genau jene eben nicht von Heine selbst erfundene Tradition, welche dem Künstler-Juden eine Opferrolle zuschreibt, konformistisch fortgeschrieben, zu welcher sich der Romanzero zweifellos emanzipatorisch verhält. […] Als Opfer erscheint Heine in seinem Schmerz nur demjenigen, dem er als der im Geschichtsprozess Unterlegene gilt.“ Siehe Ivanović, Wunde, S. 347f. 404 B XI, S. 148. 405 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 402.
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Dichter im Exil von Pfeilen getroffen,⁴⁰⁶ wird im Frühwerk „die goldene Leier zuweilen vertauscht […] mit dem starken Bogen und den tödlichen Pfeilen“⁴⁰⁷. Neben Jehuda ben Halevy liefert im Romanzero das eindrücklichste Beispiel dieses Motivs das Gedicht Enfant perdü. In diesem, die Lamentazionen abschließenden Gedicht, der „Geschichte vom sterbenden Dichter und Kämpfer“⁴⁰⁸, räumt Heine seine eigene tödliche Verwundung ein: „Die Wunden klaffen – es verströmt mein Blut. / Ein Posten ist vakant! – Die Wunden klaffen −“⁴⁰⁹. In dem Bewusstsein des Dichters „Ich wußte, nie komm ich gesund nach Haus“⁴¹⁰ ist die Parallele zu Jehuda ben Halevy zu finden: Die ‚Urgeschichte‘ des modernen Dichters besteht darin, ‚tödlich verwundet weiter zu singen‘; sie konkretisiert sich in dem Schicksal des sterbenden Dichters und Kämpfers, der die Kontinuität seines politischen Denkens unterstreicht und dessen Einsicht, auf ‚[v] erlor’ne[m] Posten‘ zu stehen, mit der Gewissheit der Fortführung des ‚Freyheitskrieg[s]‘ […] einhergeht […].⁴¹¹
Darüber hinaus verweist das Motiv des Todesspeers auf die Apotheose des Dichters, erinnert es doch an die Kreuzigung Christi⁴¹² und stellt es eine Verbindung zur Schlemihl-Passage her, in welcher der Speer des Pinchas den Stammvater der Dichter trifft.⁴¹³
5.2 Schlemihl – Der Prototyp der Außenseiterexistenz als Stammvater der Dichter Im Schicksal Schlemihls ist Auserwähltheit und Märtyrertum des Dichters prototypisch gespiegelt. Selbst Apollo, Göttervater der Dichter, entkommt diesem Schicksal nicht:⁴¹⁴
406 Vgl. B V, S. 443. 407 B I, S. 16. 408 Höhn, Handbuch, S. 145. 409 B XI, S. 121. 410 B XI, S. 120. 411 Grundmann, Rabbi, S. 403. – Vgl. auch Ortwin Lämke: Küsse – Dichter – Helden – Schüsse. Über Motivketten und Chiffren in Heines „Romanzero“. In: HJb 43 (2004). S. 36. 412 Im Almansor wird die Passion Christi wie folgt bildlich dargestellt und kommentiert: „Hier schlug man ihn ans Kreuz, mit scharfem Speer / Durchstieß man seine Seite […].“ Siehe B I, S. 311. 413 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 402. 414 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 412ff.
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Dichterschicksal! Böser Unstern, Der die Söhne des Apollo Tödlich nergelt, und sogar Ihren Vater nicht verschont hat, Als er, hinter Daphnen laufend, Statt des weißen Nymphenleibes Nur den Lorbeerbaum erfaßte Er, der göttliche Schlemihl!⁴¹⁵
Die Bezugnahme Heines auf Chamissos 1814 veröffentlichte Novelle Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte ist nicht erst in den Hebräischen Melodien zu finden. Bereits in frühen Arbeiten des Schriftstellers gibt es Anspielungen auf den durch seine Schattenlosigkeit stigmatisierten Protagonisten, auf die Figuration des von der Gesellschaft Ausgeschlossenen.⁴¹⁶ Der poetologische Kontext, in dem die Schlemihl-Figur thematisiert wird, ist jedoch erst in den Hebräischen Melodien auszumachen. So ist die Parallele, die zwischen Dichterexistenz und Schlemihl-Figur in der Dichtung Heines geknüpft wird, in einer von der Gesellschaft vorgenommenen Marginalisierung beider Existenzen zu suchen. Peter Schlemihl ist Sinnbild des Künstlers, der von der breiten Mehrheit der Gesellschaft wegen seiner Unbürgerlichkeit, seiner fehlenden Solidität verdächtigt und tendenziell ausgestoßen wird, obwohl er, in einem höheren Sinne, im Dienste der Menschheit arbeitet. Der Begriff des Schlemihltums wird so zur Chiffre für die Unbehaustheit des Künstlers in der Moderne.⁴¹⁷ Dabei wird in der Entfaltung des Schlemihltums als Chiffre des Dichterschicksals unter Bezugnahme auf den Tanach und den Talmud auch auf jüdische Thematik verwiesen und eine Verbindung zwischen Judentum und Dichtertum geknüpft:⁴¹⁸ In der Bibel ist zu lesen, Als zur Zeit der Wüstenwandrung Israel sich oft erlustigt Mit den Töchtern Kanaans, Da geschah es, daß der Pinhas Sahe, wie der edle Simri 415 B XI, S. 153. 416 Vgl. Briefe aus Berlin (B III, S. 20); Harzreise (B III, S. 120); Brief Heines an Moses Moser vom 22. Juli 1825. In: HSA XX, S. 207; Brief Heines an Varnhagen von Ense von 14. Mai 1826. In: HSA XX, S. 243; Grundmann, Rabbi, S. 412f. 417 Vgl. Bark, Erläuterungen, S. 266f.; Helmut Mojem: Heinrich Heine. Der Apollogott. In: Wirkendes Wort 35 (1985). S. 280. 418 Vgl. Jäger, Spanien, S. 278.
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Buhlschaft trieb mit einem Weibsbild Aus dem Stamm der Kananiter, Und alsbald ergriff er zornig Seinen Speer und hat den Simri Auf der Stelle totgestochen – Also heißt es in der Bibel. Aber mündlich überliefert Hat im Volke sich die Sage, Daß es nicht der Simri war, Den des Pinhas Speer getroffen; Sondern daß der Blinderzürnte, Statt des Sünders, unversehens, Einen ganz Unschuldgen traf, Den Schlemihl ben Zuri Schadday.⁴¹⁹
Die jüdische Herkunft Schlemihls, die keinerlei Bedeutung für Chamissos Novelle besitzt, wird erst mit Jehuda ben Halevy thematisiert.⁴²⁰ Heines Darstellung ist dabei auch Kommentar des Talmudtraktats Sanhedrin 82b. Das Traktat identifiziert Simri mit dem Fürsten des Stammes Simeon, dem in Numeri 7,36 erwähnten Shelumiel, Sohn des Zuri Shadai’.⁴²¹ Dabei wird die rabbinische Vorlage von Heine im Zuge seiner poetologischen Intention grundlegend transformiert: Schlemihl ben Zuri Schadday, im rabbinischen Kommentar schuldig, trifft in der Auslegung Heines schuldlos der Zorn des Pinhas. Er wird so zum Symbol der Unschuld und des unverdienten Leids.⁴²² Diesem unschuldig Leidenden ist darüber hinaus das Zeichen der Auserwähltheit eingebunden, bedeutet sein Name doch „Gottlieb, Theophil oder aimé de Dieu“⁴²³, wie von Chamisso in einem Brief an seinen Bruder vom 17. März 1821 erwähnt.⁴²⁴ In der Figur des Schlemihl ist somit die von Auserwähltheit und Martyrium geprägte Dichterexistenz zusammengefasst, wie sie für die Poetologie des Spätwerk Heines bestimmend ist. Das Leid des Dichters ist dabei nicht „Folge, sondern Kriterium der Erwähltheit“⁴²⁵. Ausnahmestellung
419 B XI, S. 155. 420 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 416. 421 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 416. 422 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 417. 423 Zit. n. Karl Fulda: Chamisso und seine Zeit. Mit dem Porträt Adelbert’s v. Chamisso. Leipzig 1881. S. 133f. 424 „Chamisso bezieht sich auf die hebräische Bedeutung von ‚shelomi‘ [hebr. für ‚mein Heil‘] und ‚el‘ [hebr. für ‚Gott‘].“ Siehe Grundmann, Rabbi, S. 417. 425 Brummack, Spätwerk, S. 418.
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und Außenseiterposition des Dichters in der Gesellschaft, figuriert in Schlemihl, sind unlösbar miteinander verbunden. In der Akzentuierung der Herkunft Schlemihls aus der jüdischen Tradition ist jedoch nicht allein jüdisches Dichterschicksal und jüdisches Außenseitertum thematisiert:⁴²⁶ „Die Erscheinung des ‚wahren‘ Dichters, des ‚wirklichen‘ Schlemihl ist nicht an die Voraussetzung gebunden, daß er als Jude verfolgt wird; alle Dichter, gleich welcher Religion, bilden zusammen das Personal des SchlemihlMythos, befinden sich außerhalb der Gesellschaft, in deren Herrschaftsbereich zu sein sie gleichwohl gezwungen sind.“⁴²⁷ Im Schlemihl-Mythos ist allgemein das gesellschaftliche Außenseitertum reflektiert, ist die Figur Chiffre des Marginalisierten, unter der Dichter, Juden, Intellektuelle und Exilanten zu subsumieren sind:⁴²⁸ Indem der Dichter sein Außenseitertum in dem Außenseitertum aller „Söhne des Apollo“ zu spiegeln sucht, wird sie wieder hörbar, die Stimme des Marginalisierten, welche die vom dominanten Diskurs der Mehrheitsgesellschaft aufgestellte Dichotomie von „fremd/eigen“ zu lösen versucht. Heines Verknüpfung des gesellschaftlichen Außenseitertums und unverdienten Leidens von Juden, Dichtern und anderen Parias⁴²⁹ der Gesellschaft antwortet auf den versuchten Ausschluss des Schriftstellers jüdischer Herkunft aus dem Dichterkanon durch den dominanten Diskurs. Den genannten Punkten der Paria-Existenz ist die Exilsituation von Juden und Dichtern hinzuzufügen. Mit Blick auf den Romanzero, hier sind neben Jehuda ben Halevy mit den Biographien von Halevi, ibn Esra und ibn Gabriol Der Dichter Firdusi und Der Mohrenkönig zu nennen, ist das Leben in der Fremde nicht mehr nur als „die jüdische Existenzform schlechthin“⁴³⁰ manifestiert, sondern „auch als die Existenzform des Dichters in der Moderne“⁴³¹. Die Erfahrung von Fremdheit, Erniedrigung und Verfolgung, die, wie in der Denkschrift und dem Roman426 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 418. 427 Norbert Oellers: Heines „Hebräische Melodien“. In: Das Jerusalemer Heine-Symposium. Gedächtnis, Mythos, Modernität. Hrsg. v. Klaus Briegleb/Itta Shedletzky. Hamburg 2001. S. 45f. 428 Vgl. Briese, Exil, S. 24; Grundmann, Rabbi, S. 418. 429 Zum Begriff des Parias bei Heine vgl. Grundmann, Rabbi, S. 341ff.; Arendt, Tradition, S. 51: „Die ungeheure Inkongruenz zwischen der geschaffenen Natur, Himmel und Erde und Mensch, vor deren Erhabenheit alles gleich gut ist, und den gesellschaftlich fabrizierten Rangunterschieden, durch die der Mensch gleichsam der Natur ihre Macht streitig macht, dem Schöpfer ins Handwerk pfuschen will, hat etwas unmittelbar einleuchtend Komisches. Plötzlich dreht sich alles um, und nicht mehr der Paria, der von der Gesellschaft Verachtete, ist der Schlemihl, sondern die, welche in festen Rangordnungen leben, weil sie offenbar das, was die Natur großmütig gegeben, eingetauscht haben gegen die Götzen gesellschaftlichen Vorurteils.“ 430 Altenhofer, Rabbi, S. 218. 431 Grundmann, Rabbi, S. 420.
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zero thematisiert, sowohl Juden als auch Dichter teilen, wächst sich zu einer existenziellen Verwandtschaft aus, die in den Texten Heines die Begriffe „Jude“ und „Dichter“ synonym werden lässt.⁴³² Hier überwindet die Poetologie Heines jene vom dominanten Diskurs aufgemachte Dichotomie von „Judentum/Dichtertum“.
5.3 Säkularisierung diasporischen Bewusstseins als Voraussetzung der Poetologie Heines Die Verbindung von Judentum und Dichtertum äußert sich in Jehuda ben Halevy jedoch nicht allein in der Figur des Schlemihl, obgleich sie das „poetologische Herzstück“⁴³³ der Hebräischen Melodien bildet. Vorbereitet wird diese Verbindung in der Figur des Halevy selbst, unterstrichen in der Darstellung und Kommentierung jüdischen Selbstverständnisses in der Diaspora im Gedicht. Der Gedanke der Auserwähltheit, das Leiden am Exil, die Sehnsucht nach Jerusalem, sind einerseits der Dichter-Figur Halevy eingebunden und spiegeln andererseits den traditionellen beziehungsweise religiösen Zugang jüdischer Existenz zum Phänomen der Zerstreuung. Gerade die säkulare Perspektive Heines auf die jüdische Diaspora vermag es das traditionelle Bewusstsein der Minderheit um ihre Existenz in der Diaspora auf die Dichterexistenz zu übertragen und es somit in der deutschen Literatur zu konservieren. Die Übertragung dieses Bewusstseins vom religiösen auf den profanen Bereich ist in der Schilderung der Erziehung der Figur Halevys unterstrichen. So wird im ersten Teil des Gedichts einerseits die religiöse Erziehung des Knaben Halevy, sein Studium der Tora und des Talmuds als Voraussetzung seiner späteren Gelehrtheit als Rabbiner, hervorgehoben, wird das religionsphilosophische Hauptwerk Jehuda ben Halevis, Kusari, genannt,⁴³⁴ doch wird die Beschäftigung des Knaben Halevy mit der Haggada ausführlicher dargestellt, liegt der Akzent in der Darstellung des Dichters:⁴³⁵ Und Jehuda ben Halevy Ward nicht bloß ein Schriftgelehrter, Sondern auch der Dichtkunst Meister, Sondern auch ein großer Dichter.⁴³⁶
432 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 421. 433 Oellers, Melodien, S. 41. 434 Vgl. B XI, S. 131f. 435 Vgl. B XI, S. 132–134. 436 B XI, S. 143.
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Zählt das lyrische Ich auch die „Festgesänge“ und „Klagelieder“⁴³⁷ Halevis auf und weist er dessen berühmter Zionide auch eine die Juden in der Diaspora vereinende Funktion zu,⁴³⁸ stehen die Dichtungen weltlichen Inhalts in der Darstellung Heines im Mittelpunkt der Ausführungen. In der Nennung verschiedener, in der westeuropäischen Dichtertradition des Minnesangs verankerten Strophenformen, wobei nur die Ghaselen für das Werk Halevis tatsächlich nachweisbar sind, ist der Versuch Heines dokumentiert, den jüdischen Dichter Halevi in die europäische Dichtertradition zu integrieren:⁴³⁹ Der in heiligen Sirventen, Madrigalen und Terzinen, Kanzonetten und Ghaselen Ausgegossen alle Flammen Seiner gottgeküßten Seele! Wahrlich ebenbürtig war Dieser Troubadour den besten Lautenschlägern der Provence, Poitous und der Guienne, Roussillons und aller andern Süßen Pomeranzenlande Der galanten Christenheit.⁴⁴⁰
Regina Grundmann verweist darauf, dass in der primären Betrachtung der Halevy-Figur als Dichter und erst an zweiter Stelle als Talmudgelehrter und Verfasser liturgischer Texte, der säkulare Blick Heines und des Culturvereins auf die rabbinische Tradition sowie deren Einschätzung der jüdischen Literatur als „dem Gesamt-Interesse [dienend]“⁴⁴¹ zum Ausdruck kommt.⁴⁴² So ist die Auseinandersetzung Heines mit Jehuda ben Halevi Ergebnis jener Historisierung der rabbinischen Schriften, welche die Haskala anstößt und die „Wissenschaftsjuden“ des 19. Jahrhunderts ausführen. Nicht die religiöse Bedeutung des rabbinischen Schrifttums, sondern die literarische Dimension dieser Texte der jüdischen Diaspora wird betont. Mit Blick auf den Minnesang erweist sich diese Dichtung dabei
437 B XI, S. 145. 438 Vgl. B XI, S. 147. 439 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 377. 440 B XI, S. 137. 441 Zunz, Geschichte, S. 21. 442 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 378.
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als das Produkt eines regen Austauschs zwischen der jüdischen Kultur und ihrer jeweiligen Umweltkultur.⁴⁴³ Dass die Dichtung Halevis jedoch nicht einfach in die westeuropäische Literaturtradition eingereiht wird, sondern dass sie dieser zwar als zugehörig zugewiesen wird, jedoch mit Verweis auf eine von der jüdischen Existenz geprägte Traditionslinie, ist in der Jerusalem-Sehnsucht der Dichterfigur exemplifiziert. So stellt das Gedicht Heines nicht nur in der Aufzählung der gängigen Strophenformen eine Verbindung zwischen der Dichtung Halevis und des Minnesangs als Beispiel europäischer Literaturtradition her, sie nimmt auch Rekurs auf das Zentrum des Minnesangs, den Frauendienst.⁴⁴⁴ Dabei steht die Herzensdame des jüdischen Dichters konträr zum Bild der Hohen Dame des Minnesangs: Sie war keine Laura, deren Augen, sterbliche Gestirne, In dem Dome am Karfreitag Den berühmten Brand gestiftet – Sie war keine Chatelaine, Die im Blütenschmuck der Jugend Bei Turnieren präsidierte Und den Lorbeerkranz erteilte – Keine Kußrechtskasuistin War sie, keine Dokrtinärrin Die im Spruchkollegium Eines Minnehofes dozierte Jene, die der Rabbi liebte, War ein traurig armes Liebchen, Der Zerstörung Jammerbildnis, Und sie hieß Jerusalem.⁴⁴⁵
Jerusalem erscheint hier nicht als das Idol des Werbenden, ist nicht zur gleichgültigen, hochmütigen, unnahbaren oder abweisenden Minneherrin stilisiert, wie es dem literarischen Konzept des Hohen Minnesangs eigen ist.⁴⁴⁶ Mit der Zeichnung Jerusalems ist vielmehr jene Wüstenei gestaltet, wie sie dem Leser bereits im XXXIII. Gedicht des Lyrischen Intermezzos begegnet. Jerusalem ist jeglichen jüdischen Lebens beraubt, es ist als wüster Ort dargestellt, dessen Züge nichts
443 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 388. 444 Vgl. B XI, S. 137. 445 B XI, S. 138. 446 Vgl. Günther Schweikle: Minnesang. 2. korr. Aufl. Stuttgart/Weimar 1995. S. 170f.
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gemein haben, mit der traditionellen Perspektive des diasporischen Judentums auf die Stadt:⁴⁴⁷ Sie, die volkreich heilge Stadt Ist zur Wüstenei geworden Wo Waldteufel, Werwolf, Schakal Ihr verruchtes Wesen treiben – […] Auf der edlen Höhe Zions, Wo die goldne Feste ragte, Deren Herrlichkeiten zeugten Von der Pracht des großen Königs: Dort, von Unkraut überwuchert, Liegen nur noch graue Trümmer, Die uns ansehn schmerzhaft traurig, Daß man glauben muß, sie weinen.⁴⁴⁸
Die Zeichnung Jerusalems steht hier in direktem Gegensatz zu Zeichnung dieses Ortes im traditionellen rabbinischen Schrifttum, insbesondere der des Traktats Qiddushin 49b des babylonischen Talmuds, als Ort von außergewöhnlicher Schönheit.⁴⁴⁹ Der zentralen Bedeutung Jerusalems in den Schriften der jüdischen Überlieferung als Ort von Ursprung, Bund und verheißener Erlösung − „eine Bedeutung, die jüdische Gemeinden in aller Welt während der Jahrhunderte der Diaspora lebendig hielten und auf die sie ihre Hoffnungen bauten“⁴⁵⁰, steht die schmerzhafte Leere des Raums entgegen: „[d]as jüdische Gegenstück zur christlichen ‚Nachtigallenwelt‘, so Heines Diagnose, ist die Realität der Diaspora“⁴⁵¹. Diese Leere vermag nur die Poesie zu füllen: „Jerusalem – das jüdische, nicht das christliche – ist eine universale poetische Projektionsfläche.“⁴⁵² 447 Zur Bildlichkeit Jerusalems vgl. auch Briese, Exil, S. 24. 448 B XI, S. 139. 449 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 381. 450 Stefanie Leuenberger: Ortsverschiebungen. Jerusalem in der deutsch-jüdischen Literatur. In: Kümper/Rösch/Schneider/Thein, Makom, S. 107f. – Zu Jerusalem als Chiffre der Erinnerung für das jüdische Selbstverständnis in der Diaspora vgl. auch Briese, Exil auf Erden, S. 24. 451 Anne-Maximiliane Jäger verweist in diesem Zusammenhang auf ein historisches Ereignis, welches das diasporische Selbstverständnis der Juden im Mittelalter eine neue Dimension verlieh, ihr Diaspora-Verständnis radikalisierte. Mit der Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer im Jahr 1099 und ihrem Pogrom an den in Jerusalem lebenden Juden und Moslems wurde die jüdische Gemeinde in Jerusalem restlos vernichtet. „Der Begriff der Diaspora […] erhielt damit eine grundsätzlich neue Qualität, die bei Halevi ebenfalls mitzudenken ist“ [Jäger, Spanien, S. 304] und die sich auch in Heines Halevy-Darstellung spiegelt. 452 Briese, Exil, S. 26.
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Dass Jerusalem die trostspendende Funktion für die in der Diaspora lebenden Juden verloren hat, ist auch in den ersten beiden Strophen des Gedichts bezeugt. So wird aus Psalm 137 zitiert, der das „urjüdische Thema der ‚Katastrophe des Vergessens‘“⁴⁵³ der Juden in der Diaspora thematisiert: Lechzend klebe mir die Zunge An dem Gaumen, und es welke Meine rechte Hand, vergäß ich Jemals dein, Jerusalem −⁴⁵⁴
Auch wenn durch die Anführungszeichen das Gesagte unübersehbar als Diktum markiert und als übernommenes kenntlich gemacht wird,⁴⁵⁵ verdeutlicht bereits die zweite Strophe des Gedichts, dass das lyrische Ich sich nicht aus religiös motiviertem Gebot dieses Ortes erinnert: „Das eherne Erinnerungsgebot der ersten Strophe weicht mit der zweiten Strophe einer Reminiszenz dessen, der sich nur noch sehr unscharf an die kanonischen Stimmen der Tradition erinnern kann.“⁴⁵⁶ Tritt in den nächsten Strophen aus den „psalmodierenden Stimmen“ allmählich auch diejenige der Dichter-Figur Halevy hervor, die für die Verwirklichung des Psalms einsteht, so ist die Sehnsucht der Figur nach Jerusalem, wie sie in Heines Gedicht gezeichnet wird, nicht religiös aufzufassen und als eschatologisch bestimmt zu verstehen, sie ist vielmehr aus einer säkularisierten Perspektive in der Mitte des 19. Jahrhunderts heraus zu begreifen. So wird Jerusalem im Gedicht Heines und darüber hinaus in der Literatur des 19. und 20. Jahrhundert, wie Stefanie Leuenberger in ihrem Aufsatz Ortsverschiebungen. Jerusalem in der deutschjüdischen Literatur veranschaulicht: […] zum Denkraum, wo Gestalten aus der Bibel und Denkfiguren moderner Diskurse miteinander agieren. Es sind verrückte, unheimliche, allegorische Gestalten, die die Zerbrochenheit des modernen Subjekts verkörpern. In Jerusalem ist die hybride jüdisch-christliche Figur geboren, die keinen Platz am ‚Ort der Herkunft‘ mehr findet, immer weiter wandern muss […]. Wenn sie als ‚Opfer‛ und ‚Märtyrer‛ für die Rettung der Gesellschaft konstituiert wird, bildet dies einen Bestandteil literarischer Identitätsverfahren, innerhalb derer Jerusalem zum Spiegelbild für ethnische Definitionen wird […].⁴⁵⁷
Dass Heine weitere Elemente des religiös motivierten Verständnisses der Diaspora unter der jüdischen Minderheit aufgreift, sie säkularisiert und seiner Poeto453 Assmann, Erinnerungsräume, S. 120. 454 B XI, S. 129. 455 Vgl. Ivanović, Wunde, S. 351. 456 Assmann, Erinnerungsräume, S. 120. 457 Leuenberger, Ortsverschiebungen, S. 112.
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logie der modernen Dichterexistenz im 19. Jahrhundert einverleibt, bezeugt sich auch in der Funktion, die der Dichter-Figur Halevy und seiner Dichtung zugeschrieben wird:⁴⁵⁸ Ja, er ward ein großer Dichter, Stern und Fackel seiner Zeit, Seines Volkes Licht und Leuchte, Eine wunderbare, große Feuersäule des Gesanges, Die der Schmerzenskarawane Israels vorangezogen In der Wüste des Exils.⁴⁵⁹
Poesie wird hier zur neuen Offenbarungsform, stellt die Feuersäule nach Exodus 13,21–22 doch eine Offenbarungsform Adonais dar.⁴⁶⁰ Dieser wird zukünftig derselbe Wert zugemessen wie den religiösen Texten des rabbinischen Judentums, was insbesondere in ihrer Niederschrift durch den Toraschreiber, den „Zophar“⁴⁶¹, auf „der reinsten Pergamenthaut“⁴⁶² ausgedrückt ist.⁴⁶³ Die identitätsstiftende Funktion des Wortes für das diasporische Judentum wird nicht mehr allein dem religiösen, sondern auch dem literarischen Text zugebilligt. Wie im Rabbi und in der Denkschrift ist auch in Jehuda ben Halevy, ganz im Sinne der säkularen Perspektive des 19. Jahrhunderts auf die jüdische Existenz, religiös motiviertes Selbstverständnis durch ein kulturell fundiertes ersetzt. Auch das Gebot „Zachor!“ (Erinnere dich!) des diasporischen Judentums unterliegt im Gedicht Heines einer Säkularisierung im Sinne kultureller Identitätsstiftung. Erinnerungsformen, die in der jüdischen Kulturtradition gründen, treten an die Stelle traditionell-religiöser Erinnerungsformen, wie der Lektüre und Kommentierung des biblischen Geschehens.⁴⁶⁴ Thematisiert in der Frequenz vom Kästchen des Darius,⁴⁶⁵ tritt an die Stelle der religiösen, die kulturelle Über-
458 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 384ff. 459 B XI, S. 134. 460 Vgl. Regina Grundmann: Haggada als Poesie – Poesie als Offenbarung. Heinrich Heines Transformation der rabbinischen Überlieferung. In: HJb 45 (2006). S. 231. 461 B XI, S. 145. 462 B XI, S. 145. 463 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 384f. 464 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 385; Hallensleben, „Romanzero“, S. 86ff. 465 Vgl. B XI, S. 144–147.
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lieferung des diasporischen Judentums. Das Kästchen als Bild für das kulturelle Gedächtnis,⁴⁶⁶ so Aleida Assmann, steht gegen das Vergessen mit: […] ritualisierter und materialisierter Erinnerung; dazu gehören auch die Tephillin und die sog. Mesusa, Miniatur-Kästchen mit den unvergeßlichen Texten, die, kalligraphisch auf Pergament geschrieben, zur Immunisierung gegen das Vergessen verhelfen sollen. Durch Heines Verse über das persische Kästchen schimmern diese zeremoniellen jüdischen Erinnerungsformen durch. Er nähert sich ihnen, aber ersetzt sie durch ein möglichst weltliches Symbol, das er nicht mit den liturgischen Texten aus dem Deuteronomium füllt, sondern mit jüdischer Literatur, mit Jehuda Halevi.⁴⁶⁷
Jüdische Dichtung an Stelle religiöser Überlieferung des Judentums wird in Jehuda ben Halevy zur Basis eines kulturellen Selbstverständnisses jüdischer Existenz im 19. Jahrhundert.⁴⁶⁸ In dieser Transformation ist der grundlegende Wandel des diasporischen Bewusstseins exemplifiziert, der säkulare Zugang zum Phänomen der Diaspora unter den Prämissen des 19. Jahrhunderts. Dieser Bewusstseinswandel spricht sich aus in: […] Heines Fokussierung auf die weltliche Dichtung Halevys, … [in der] Betonung der Ebenbürtigkeit von jüdischer und europäischer Literatur und des kulturellen Austauschs zwischen jüdischer Kultur und der jeweiligen Umweltkultur, … [in der] Forderung nach der Emanzipation der jüdischen Dichtung von der jüdischen Theologie sowie … [im] Plädoyer für die Integration der jüdischen Kulturtradition in den europäischen Bildungskanon […].⁴⁶⁹
466 Vgl. Assmann, Erinnerungsräume, S. 121: „Kästchen und Juwel haben einen emblematischen Bezug zu Gedächtnis und Erinnerung. Das Kästchen assoziiert das Gedächtnis als Hort, Schutz und Behälter, das Juwel bezeichnet den kostbaren und versicherungsbedürftigen Inhalt der Erinnerung. […] In Heines Gedicht hat das Kästchen als Bild für das Gedächtnis eine sehr viel spezifischere Bedeutung. Es markiert neben Schutz und Kostbarkeit obendrein Auswahl, Hegung und persönliches Bekenntnis zu bestimmten Gedächtnis-Inhalten. In dieser Aufwertung wird das Kästchen zu einem Bild für das kulturelle Gedächtnis. In Heines Verwendung des Bildes wird das Element der Gedächtnis-Sicherung überlagert durch das Element der Wahl, Verbindlichkeit und Selbstverpflichtung zu einer bestimmten Tradition.“ – Christine Ivanović bemerkt ergänzend hierzu: „Es [Das Kästchen als Bild des Gedächtnisses, Anm. d. Verf.] thematisiert aber auch die prekäre Beziehung von Gefäß und Inhalt in Bezug auf den Gedächtnisprozess: Im Hinblick auf die Verwobenheit historischer und kultureller Räume, im Hinblick auf das oppositionelle Verhältnis von weltlichen und geistigen Prozessen, wie im Hinblick auf das Verfahren der Aneignung von historischem Gut.“ Siehe Ivanović, Wunde, S. 349. 467 Assmann, Erinnerungsräume, S. 121. 468 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 387. 469 Vgl. Grundmann, Rabbi, S. 389.
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Das Interesse des säkularen Juden an der jüdischen Tradition ist ein unbedingt literarisch-ästhetisches, auch wenn der Ich-Erzähler im Nachwort zum Romanzero bekennt: „Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott, wie der verlorene Sohn, nachdem ich lange Zeit bei den Hegelianern die Schweine gehütet.“⁴⁷⁰ Die Art dieses Interesses, die Aufwertung der kulturellen Überlieferung jüdischer Existenz, steht für den Wandel im Verständnis der Diaspora unter säkularen Juden im 19. Jahrhundert. In der Poetologie des Spätwerk Heines werden die Pfeiler des traditionellen diasporischen Bewusstseins, Auserwähltheit und Märtyrertum, zur Basis des modernen Dichterverständnisses. Mit ihr ist auch der Gegensatz von Dichtertum und marginalisierter Existenz aufgehoben, wie er vom dominanten Diskurs definiert wird. Heines Verknüpfung des Dichtertums mit dem gesellschaftlichen Außenseitertum, seine Ineinssetzung vom Leid der Juden, Dichter und anderer Parias der Gesellschaft antwortet auf den versuchten Ausschluss des Schriftstellers jüdischer Herkunft aus dem Dichterkanon durch den dominanten Diskurs.
470 B XI, S. 182.
Zusammenfassung Bei den Wassern Babels saßen Wir und weinten, unsre Harfen Lehnten an den Trauerweiden − Kennst du noch das alte Lied?
Das Werk Heinrich Heines resümierend betrachtend, kann die Frage, ob sich des alten Psalms noch immer erinnert wird, bejaht werden. Die Antwort auf sie gestaltet sich dabei auf verschiedenen Ebenen – kulturgeschichtlich, soziopolitisch oder poetologisch. Diese schaffen der deutschen Literatur ein unikales Beispiel modernen jüdischen Selbstverständnisses im 19. Jahrhundert. Voraussetzung dieser Antwort ist ein Bewusstseinswandel innerhalb der jüdischen Minderheit, der sich fort von einem religiösen zu einem kulturellen Selbstverständnis akkulturierter Juden bewegt. Eingeleitet wird dieser Wandel durch die Haskala und ihrer Negierung der rabbinischen Schriften als den normativen Säulen jüdischen Lebens außerhalb Israels. Das Wort der Tora als geoffenbartes anzuzweifeln und die Gesetze und Kommentierungen des rabbinischen Judentums nicht länger als absolute Norm jüdischer Existenz zu setzen, ist das Ergebnis eines langwierigen Prozesses innerhalb der jüdischen Aufklärungsbewegung, an dessen Ende auch die Negierung einer sich aus dem Willen Gottes begründenden diasporischen Existenz des Judentums steht. Es sind der Auserwähltheitsgedanke und die messianische Hoffnung der jüdischen Minderheit in der Diaspora, denen ein Partikularismus eingebunden ist, der den universalen Prinzipien der Aufklärungsbewegung entgegensteht. Diesen Partikularismus gilt es mit Blick auf eine erfolgreiche Emanzipation der Juden zu überwinden, so die Überzeugung der Maskilim. Sie arbeiteten an einer Deutung des Judentums als universaler Religion, die ihren Beitrag zur Emanzipation der Menschheit auch mit der Überwindung des traditionellen Separationsgebots der Diaspora leisten sollte. Die jüdische Existenz, die sich über die Jahrhunderte der Diaspora im normativen Gesetz und im zyklisch wiederkehrenden Ritual als außerzeitliche und ewig gültige Gemeinschaft erlebte, gerät mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert mehr und mehr unter den in dieser Zeit herausgebildeten historiographischen Blick jüdischer Gelehrter. Aus dem Separationsgebot für den Fortbestand der jüdischen Minderheit in der Diaspora entwickelt sich im Spiegel säkular geprägter Diskurse um das jüdische Selbstverständnis der Gedanke innerer Degeneration jüdischer Existenz – ein Gedanke, der im absoluten Gegensatz zum Gedanken der Auserwähltheit des Judentums steht. Auch wird die leidvolle Situation der Juden
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außerhalb Israels nicht länger als Ausdruck eines göttlichen Willens verstanden, vielmehr ist sie allein aus soziopolitischen Faktoren abzuleiten. Es ist diese sich in den Debatten jüdischer Intellektueller herauskristallisierende Perspektive auf das Phänomen der jüdischen Diaspora, die auch für die Darstellung diasporischer Existenz im Werk Heines maßgeblich ist. Heine, der sich 1822 dem Berliner Culturverein anschließt, literarisiert in seinem Werk die Perspektive des Vereins auf die jüdische Diaspora, die einen endgültigen Bruch mit dem aus der Religion begründeten Blick auf das Phänomen der Zerstreuung bedeutet. Im Banne der Hegelschen Dialektik erklären die „Wissenschaftsjuden“, wie vor ihnen die Haskala, dass das partikularistische Prinzip des altorthodoxen Judentums hinderlich für den gegenwärtigen Emanzipationsprozess sei. Das jüdische Bewusstsein soll sich fortan als ein europäisch geprägtes, also an der Mehrheitsgesellschaft ausgerichtetes, wahrnehmen. Jede traditionell religiöse Deutung der Diaspora steht dieser Forderung entgegen. Konsequenz des Engagements Heines im Culturverein ist die Einführung diasporischer Existenz als Thema in die deutsche Literatur. Heines Der Rabbi von Bacherach verknüpft deren Skizzierung mit der politischen Botschaft der notwendigen Emanzipation der jüdischen Minderheit in den deutschen Staaten. Dass das jüdische Sujet, gebunden an den neuen, wissenschaftlichen Zugang zur jüdischen Geschichte, dem Schriftsteller die Möglichkeiten seines Schreibens erweitert, führt der Rabbi exemplarisch vor Augen. Dieses Schreiben erwächst zwar einerseits aus der deutschen Literaturtradition, doch erlangt es seine Progressivität nicht zuletzt aus der von Ambivalenz geprägten Thematisierung jüdischer Existenz im 19. Jahrhundert. Dabei ist aus dem historiographischen Zugang Heines zur jüdischen Existenz dessen Bewertung der Diaspora zu erklären: das Phänomen der Zerstreuung ist Heine bloßer historischer Fakt einer verstreuten Minderheit, deren Bedrängnis aus ihrem politischen Status erwächst. So bestimmt sich ihm das Selbstverständnis der jüdischen Existenz nicht aus dem Gebot der Absonderung in der Diaspora und existiert jüdisches Leben nach Heines Lesart nicht nur an der Peripherie des europäisch-christlichen Umfelds. Ihm drückt sich in der Geschichte der Juden in der Diaspora vielmehr das gewaltsame Ineinander von Minderheit und Mehrheit aus. Dem akkulturierten Schriftsteller ergibt sich das Singuläre der jüdischen Existenz nicht aus einer religiös begründeten Auserwähltheit. Die Exemplarität der jüdischen Existenz, dessen beispielloses Leiden an einem feindlich gesinnten Umfeld, ist vielmehr aus dem soziopolitischen Status der Juden als Minderheit abzuleiten. So sind im Rabbi die in den Figuren angelegten Symptome psychischen und physischen Leids Chiffren einer gesamtgesellschaftlichen Schieflage, die durch den Einsatz für die politische Emanzipation ins Lot zu bringen ist. Die Welt als Tollhaus – mit dieser Zeichnung diasporischer Existenz schreibt Heine gegen die zeitgenössische, opti-
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mistische Konstruktion von Geschichte als einer stetigen Aufwärtsbewegung an, stellt dieser die historische Erfahrung des Scheiterns entgegen. Diese Geschichte ist im Rabbi durch die äußersten Pole diasporischer Existenz: Isolation und Renegatentum gestaltet. Sie ergeben sich aus der Lebenswirklichkeit der Juden in der Diaspora und führen beide in die psychische und physische Degeneration der unterdrückten Individuen. Mit diesen Polen ist dem politisch engagierten Schriftsteller Heine die unbedingte Notwendigkeit der Emanzipation bewusst, denn ob verfolgt oder toleriert − als aus der Mitte der Gesellschaft verdrängte Randgruppe sind die Juden immer in der Situation der Abhängigkeit, werden sie am soziopolitischen Umstand ihrer Rechtlosigkeit scheitern. Im Sinne der intellektuellen Debatte um ein modernes jüdisches Selbstverständnis ist im Werk Heines der für das diasporische Bewusstsein zentrale Antagonismus von Freiheit und Knechtschaft zum Exempel einer in der jüdischen Existenz seit Anbeginn verwurzelten Bemühung um Emanzipation gestaltet. Die Zusammenführung von diasporischem Bewusstsein und politischer Aussage besitzt ein eindrückliches Beispiel in der Darstellung des Pessach-Festes im Rabbi. Der Linie der intellektuellen Diskussion um die moderne jüdische Existenz folgend, wird hier die eschatologische Komponente Pessachs, die Gewissheit um das Eingreifen Adonais in die jüdische Leidensgeschichte, negiert. Damit wird der Mensch zum Akteur seiner Geschichte. Die torsohafte Darstellung des Pessachs im Rabbi zeugt von einem Geschichtsbild, das den Exodus als selbst initiierten und durchgeführten emanzipatorischen Akt begreift. An die Stelle des erwarteten Messias setzt der Text das Verständnis einer Zukunft, die allein aus dem Handeln des Menschen geformt ist, das Ergebnis aktiven politischen Handelns ist. In Heines Werk ist an der Auseinandersetzung mit der jüdischen Existenz in der Diaspora jedoch nicht allein die intellektuelle Debatte um das Ideal der Emanzipation exemplifiziert. In den Texten ist auch der schwierige Weg einer Durchsetzung politischer Gleichstellung beschrieben, wird die Gefahr eines Scheiterns der politischen Ziele benannt. Dem Ideal der Emanzipation wird die Realität der faktischen Entwicklung der jüdischen Akkulturation gegenübergestellt, die Szenerie eines totalen Aufgehens der Minderheit in der Majorität aufgebaut. Anspielend auf die Konzepte diasporischen Selbstverständnisses gelingt Heine die literarische Illustration jenes Scheidewegs, an dem sich das moderne jüdische Selbstbewusstsein in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts befindet. Dabei zeigt sich im Spiel mit den im kollektiven Gedächtnis der Juden verankerten Bildern der Zerstreuung der Wandel im Umgang mit dem Phänomen der Diaspora. Ohne politisches Engagement für das Vorantreiben der Emanzipation erscheint der Versuch der Juden, sich in das Umfeld der Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, ebenso aussichtslos, wie das Beharren des altorthodoxen Judentums
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auf die Heilsgewissheit des jüdischen Volkes. In der politischen Emanzipation der Minderheit liegt die Chance eines Fortbestands jüdischen Lebens in einem von Säkularisierung geprägten Umfelds. Heines Auseinandersetzung mit der jüdischen Diaspora bedeutet jedoch nicht die bloße Negierung religiösen Verständnisses dieses Phänomens. Setzt er dem Konzept der Heilsgewissheit auch die politische Emanzipation entgegen, verneint er auch den Auserwähltheitsgedanken mit Blick auf die jüdische Geschichte und zeichnet er die jüdische Minderheit nicht als eine von Adonai, sondern von ihren soziopolitischen Verhältnissen bewegte, wird sein Schreiben doch auch an den Strategien diasporischer Existenz zur Bewahrung jüdischen Selbstverständnisses geschult. Das diasporische Schreibverfahren − die Kommentierung eines Ursprungstextes von der eigenen Aktualität her – wird von Heine in die deutsche Literatur eingeführt und dort bewahrt. Exemplarisch ist diese diasporische Schreibweise an der Neuinterpretation der Figur des Juden Shylock vor Augen geführt. Eingebettet in den intellektuellen Diskurs um das moderne jüdische Selbstverständnis wird die Interpretation des ShakespeareDramas „Der Kaufmann von Venedig“ zur zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem antijüdischen Ressentiment aus kultursoziologischer Perspektive. Von der eigenen Aktualität her geschrieben, ist diese Interpretation Heines ein Verweis auf die kulturelle Bedeutung der Juden für die europäische Zivilisation sowie eine Analyse der Konflikte um Akkulturation, Abkehr vom Judentum und versuchter Bewahrung jüdischer Identität. Dabei ist für die Neubewertung der Figur das Bewusstsein des Schriftstellers, einer politisch und sozial marginalisierten Gruppe anzugehören, maßgeblich. Der Lesart des säkularen Juden gelingt es, die Figur von den grotesken Zügen des Judenhasses zu befreien, ihr ein menschliches Antlitz zu schaffen und sie schließlich zum Deutungsrahmen jüdischen Lebens in der europäischen Diaspora zu entwickeln. Wie im Rabbi negiert sich in der Analyse der Shylock-Figur jede eschatologische Botschaft des Judentums, wird dem traditionellen diasporischen Bewusstsein die Forderung nach politischer Emanzipation der Minderheit entgegengesetzt. An die Stelle des Gebots als normativer Kraft jüdischen Lebens in der Diaspora, konserviert in Lektüre und Kommentar, muss der aktive Kampf um die Durchsetzung der Emanzipation rücken. Das ist die Aufforderung an die jüdische Existenz im 19. Jahrhundert. Shylock, Figuration eines altorthodoxen jüdischen Selbstverständnisses, verblasst hingegen in den Zeitläufen. Der antisemitischen Maske entledigt, ist er dennoch dem Untergang geweiht. Als Zeuge des Niedergangs seiner Kultur verlischt er, ohne die Möglichkeit eines Fortbestands jüdischen Lebens in der von Akkulturation und Säkularisierung gezeichneten Minderheit zu erkennen. Hier liegt die ganze Tragik, welche die Heine-Interpretation der Figur des Juden zuschreibt. In ihr ist auch die Wandlung des Fremden ins Eigene, die Aneignung eines Ursprungstex-
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tes von der eigenen Aktualität her gezeigt, ist das diasporische Schreibverfahren angewandt und nicht zuletzt die Erinnerung an das traditionelle jüdische Selbstverständnis in der Diaspora bewahrt. Wie die Anwendung des diasporischen Schreibverfahrens in den Texten Heines vor Augen führt, geht die Auseinandersetzung des Schriftstellers mit der diasporischen Existenz über die Literarisierung historiographischer oder soziopolitischer Perspektiven des 19. Jahrhunderts auf das Phänomen der Zerstreuung hinaus. Die Thematisierung diasporischer Existenz, d. h. einer Existenz als Minderheit, ist im Werk Heines immer auch die Auseinandersetzung der marginalisierten Stimme mit der Abgrenzungsstrategie des dominanten Diskurses der Mehrheitsgesellschaft. Das Schreiben Heines und die Debatte um die Zugehörigkeit des Werks Heines zum deutschen Literaturkanon entlarvt die Konstrukthaftigkeit des vom dominanten Diskurs gepflegten Dualismus „das Eigene/das Andere“. Dessen Schreiben zeigt Literatur geprägt von dauernden Grenzüberschreitungen und Vermischungen von literarischen Traditionen und Diskursen. Heines Schreiben wird zur Gegenstimme der intellektuellen Diskurse der Mehrheitsgesellschaft – zu einer Gegenstimme, die nicht mehr mit eindeutiger Sicherheit als die Stimme des Anderen, des Marginalisierten identifiziert werden kann. Der Nimbus kultureller Abgeschlossenheit und Überlegenheit des dominanten Diskurses erweist sich am Bespiel Heines als ideologisches Konstrukt. Vom dominanten Diskurs des 19. Jahrhunderts und hier in erster Linie von antijüdisch gesinnten Strömungen wurde versucht, die Unterlegenheit der Minderheit, ihre Andersartigkeit und Fremdheit innerhalb der Mehrheitsgesellschaft mit dem Verweis auf das Phänomen der jüdischen Diaspora zu demonstrieren. Verwurzelung und Kontinuität, vom dominanten Diskurs positiv konnotiert, wurden der als negativ beurteilten religiösen und kulturellen Andersartigkeit der Minorität gegenübergestellt. Die Ablehnung der Minderheit und ihres Strebens nach Emanzipation wurde mittels der als konträr gezeichneten Erfahrungswelten der jüdischen Minderheit und der nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung begründet. Diesem Konstrukt des dominanten Diskurses steht jedoch die gesamtgesellschaftliche Entwicklung der deutschen Staaten entgegen, in deren Zuge seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert jüdisches Leben säkularisiert wurde und traditionelle Ordnungsmuster jüdischer Existenz in der Diaspora durch eine verstärkte Orientierung an der Mehrheitsgesellschaft überformt wurden. Mit dieser Überformung ist jedoch der Nimbus kultureller Abgeschlossenheit und Überlegenheit aufgelöst – sowohl der Minderheit als auch der Mehrheitsgesellschaft − ohne dass die Strategie des Ausschlusses von Seiten des dominanten Diskurses aufgegeben würde. Die Schriftstellernöte Heines veranschaulichen diesen Prozess. In den Dokumenten ist die Ablehnung des Marginalisierten durch den dominanten
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Diskurs konkretisiert und der Widerstand des Ausgeschlossenen zum Ausdruck gebracht. In ihnen wird jenes Überlagerungsphänomen kultureller Differenz,¹ jene Hybridität von Kultur sichtbar, die kennzeichnend ist für die (Post)Moderne. Die Stimme des Marginalisierten als solche nicht mehr eindeutig identifizieren zu können, den Anspruch auf Überlegenheit nicht mehr aufrechterhalten zu können, ist Folge einer diskursiven Ähnlichkeit des Marginalisierten, die im Text Heines durch verschiedene Schreibstrategien entsteht. Der Konflikt zwischen dominantem Diskurs und marginalisierter Stimme, der in den Dokumenten der Schriftstellernöte exemplifiziert ist, ist prägend für das Selbstverständnis Heines als politisch engagiertem Schriftsteller. Ludwig Börne. Eine Denkschrift führt den Schlagaustausch auf literarischer Ebene fort. Dabei ist die Auseinandersetzung über ein Motivpaar strukturiert, das von Heine auch in der Darstellung der jüdischen Minderheit Anwendung findet: das Thema vom Leiden im und am Exil. Es besitzt sowohl für die Entwicklung des jüdischen Sujets als auch für die Entwicklung des modernen Schriftstellerverständnisses des politisch engagierten Autors eine zentrale Bedeutung, ist wiederum auch Ausdruck der säkularen Perspektive des Schriftstellers auf das Phänomen der jüdischen Diaspora. Über den Raum des Exils beziehungsweise der Diaspora nähern sich die Minderheitenthematik und die Darstellung modernen Schriftstellverständnisses im Werk Heines einander an. Mit der Börne-Figur der Denkschrift als Typus des modernen Schriftstellers, der im Exil dem Wahnsinn verfällt, antwortet Heine auf das Prinzip der Intoleranz. Das Thema des politischen Exils, in seiner Ausgestaltung der Darstellung diasporischer Existenz folgend, ist in der Denkschrift von der soziopolitischen Perspektive Heines auf die jüdische Minderheit gelöst. Es ist neben den Umständen des Exils die dem altorthodoxen Judentum verwandte nazarenische Geisteshaltung der Börne-Figur, die letztendlich in den Wahnsinn führt. Birgt das politische Exil latent die Bedrohung der psychischen und physischen Zerrüttung, führt das Nazarenertum, so der Heine-Text, gewiss in den Untergang. So zeigt sich im wachsenden Wahnsinn der Figur das Unvermögen einer auf Intoleranz basierenden Denkungsart zu gesellschaftlichem Fortschritt, welche die Prinzipien der Französischen Revolution nicht umzusetzen vermag. Scheitert die Börne-Figur aufgrund ihres intoleranten Patriotismus an der Moderne und ihren soziopolitischen Umwälzungsprozessen, wächst der Ich-Erzähler, den Kosmopolitismus vertretend, an ihnen. Im Spätwerk Heines tritt zum Selbstverständnis des politisch engagierten Schriftstellers eine weitere Komponente: die Ineinssetzung von Dichtertum und Judentum. Mit dieser Ineinssetzung wird der Einspruch des Schriftstellers 1 Nghi Ha Kien: Hype, S. 89.
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gegen die erfahrene Marginalisierung durch den dominanten Diskurs der Mehrheitsgesellschaft erneut sichtbar. Judentum und Dichtertum − erscheinen diese Zuschreibungen dem jungen Heine noch wie die entgegengesetzten Pole des sozialen Universums, werden sie dem späteren Schriftsteller zur eigentlichen Voraussetzung literarischen Schaffens. Der Wandel im diasporischen Bewusstsein ist dabei für die Überwindung dieser Dichotomie maßgeblich. Der vom dominanten Diskurs marginalisierte Schriftsteller erklärt die Pfeiler des traditionellen diasporischen Bewusstseins − Auserwähltheit und Märtyrertum − zur Basis seiner Poetologie des modernen Schriftstellers und hebt den Gegensatz von Dichtertum und marginalisierter Existenz, wie er vom dominanten Diskurs definiert wird, auf. Heines Verknüpfung der Schriftstellerexistenz mit dem gesellschaftlichen Außenseitertum, seine Ineinssetzung vom Leid der Juden, Dichter und anderer Parias der Gesellschaft antwortet auf den versuchten Ausschluss des Schriftstellers jüdischer Herkunft aus dem Dichterkanon durch den dominanten Diskurs. In dieser Poetologie ist der grundlegende Wandel des diasporischen Bewusstseins, der säkulare Zugang zum Phänomen der Diaspora unter den Prämissen des 19. Jahrhunderts exemplifiziert. Diasporisches Bewusstsein wächst sich im Schreiben Heines zur Basis des Schriftstelleramts in der Moderne aus.
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Werkregister Almansor. Eine Tragödie 16, 197–199 An eine Hohe Bundesversammlung 205 An Edom! 82–83 Belsatzar 110–111 Brich aus in lauten Klagen 83–84 Buch der Lieder 93, 94, 110
Lamentazionen 261 Ludwig Börne. Eine Denkschrift 16, 140, 141, 150, 157, 167, 180, 214–257, 264, 270, 278 Ludwig Marcus. Denkworte 76, 230 Lutezia 120, 140, 239, 240 Lyrisches Intermezzo 93, 94, 99, 267
Der Dichter Firdusi 264 Der Mohrenkönig 264 Der Rabbi von Bacherach 12, 24–25, 75, 84–93, 99–107, 110–116, 120, 126–128, 158, 166, 170, 215, 217, 219–222, 230, 231, 270, 274–276 Der Schwabenspiegel 204, 210–213 Deutschland-Schriften 150 Die Bäder von Lucca 121, 123–126, 141, 200 Die Nordsee. Dritte Abteilung 200 Disputation 144, 147–149
Memoiren 6–8, 206–207
Elementargeister 150 Enfant perdü 261
Verschiedene 212 Vorrede zu Der Salon I 244–247 Vorrede zu Salon, 3. Band 205
Französische Zustände 204, 237, 241 Geständnisse 144 Hebräische Melodien 16, 256, 262, 265 Jehuda ben Halevy 1, 16, 256–271 Junge Leiden 110
Reisebilder 121 Reise von München nach Genua 117–118 Romantische Schule 260–261 Romanzero 256, 261, 264, 272 Shakespeares Mädchen und Frauen 13, 129, 132–161, 174, 189, 220 Über den Denunzianten 204–210 Über Polen 88–89
Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland 181, 230, 258 Zur Religion und Philosophie in Deutschland 168 XXXIII. Gedicht 93–99, 267
Personenregister Abraham 29, 114–115 Abravanel (Familie) 90–91 Abravanel, Isaak 90 Abravanel, Jehuda (Beiname Leo Hebräus) 91 Acosta, Uriel 54 Adorno, Theodor W. 17 Arendt, Hannah 113–114 Ascher, Saul 53, 56–58 Bartels, Adolf 18 Basnage, Jaques 81–82, 90 Bendavid, Lazarus 53, 58–61 Börne, Ludwig 17, 82, 180–181, 215–216, 222–225, 234, 238, 241, 244 Brod, Max 19–20, 292 Byron, George Noël Gordon Lord 110 Campe, Julius 204, 211–212 Cervantes Saavedra, Miguel de 91 Chamisso, Adelbert von 262 Cohn, Arthur 144 Daniel 47, 110–111 Dante Alighieri 256 David 92 Dohm, Christian Wilhelm 59 Döllinger, Ignatz 18 Dümmler, Ferdinand 197 Elia 114 Gans, Eduard 69–72, 76 Geldern, Simon van 200 Goethe, Johann Wolfgang von 236 Gutzkow, Karl 17, 212–213 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 69, 71–72, 85, 145 Heine, Betty (Peira Zippora, geb. van Geldern) 5–8 Heine, Samson 5 Herder, Johann Gottfried 72, 186–188, 190–191 Hirsch, Samson Raphael 143 Humboldt, Wilhelm von 66
Immermann, Karl 94–95, 200 Jehuda Samuel ben Halevi 79, 264–267 Jesus von Nazareth 130, 253, 261 Jung, Alexander 182–185, 192 Kalisch, Ludwig 110 Kant, Immanuel 57 Karpeles, Gustav 18 Kean, Edmund 133–134 Lessing, Gotthold Ephraim 131 List, Joel Abraham 62, 65, 69 Mann, Thomas 215 Marcus, Ludwig 76 Marlow, Christopher 130 Mendelssohn, Moses 53, 55–56, 58, 194 Menzel, Wolfgang 204–210, 212–213, 237 Mose 54, 57, 157, 160 Moser, Moses 66, 69, 76, 78, 82, 83, 90, 199–200 Moses ben Jakob ibn Esra 264 Nietzsche, Friedrich 216 Noah, Mordechai Manuel 79 Pfizer, Gustav 179, 210–212 Platen, Hans Heinrich August Graf von 200–203, 209 Raschi (Rabbi Salomo ben Isaak) 86 Riesser, Gabriel 177, 179–180, 2116 Rothschild (Dynastie) 123, 141 Rothschild, James Mayer de 123, 125, 139–140, 163–164, 170 Salomon ben Juda ibn Gabriol 79, 264 Schiller, Friedrich 258 Schudt, Johann Jakob 90 Shakespeare, William 130–132, 136–137 Smith, Adam 140 Spinoza, Baruch de 54–57 Steiner, George 188 Treitschke, Heinrich von 183–184
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Personenregister
Varnhagen von Ense, Karl August 202 Wagner, Richard 189–193 Witzenhausen, Josel ben Alexander 96
Wohl, Jeanette 181 Wohlwill, Immanuel 63–64, 68, 74 Zunz, Leopold 67–69, 73–74, 76–77, 79, 86, 90, 108–111