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German Pages 320 Year 2014
Astrid Henning Die erlesene Nation
Lettre
für Ilsa Nevin und Vera
Astrid Henning habilitiert an der Universität Hamburg zum Transfer von HipHop in die interkulturelle Gegenwartsliteratur. Sie unterrichtet als freie Lehrbeauftragte an den Universitäten Oldenburg und Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Identitätsforschung, Migrations- und Exilliteratur sowie Deutscher Vormärz.
Astrid Henning
Die erlesene Nation Eine Frage der Identität – Heinrich Heine im Schulunterricht in der frühen DDR
Diese Publikation wurde gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Markus Kerkmann, Münster Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1860-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
1.
Einleitung | 11 1.1 Das kulturelle Untersuchungsfeld und seine Segmente | 11 1.2 Fragestellung, Methode und ihre wissenschaftliche Tradition | 14 Das Subjekt, die Staatlichkeit und die DDR | 39 2.1 Ideologie(re)produktion im Ideologischen Staatsapparat | 42 2.2 Das Subjekt und sein Wille zum Staat | 47 2.3 Subjekt und Subjektivierung im Literaturunterricht der DDR | 6 1
2.
3.
Nationale Subjektivierung im Schreiben
über Heinrich Heine | 67 3.1 Theoretische Grundlage des dekonstruktiven Lesens | 69 3.2 Die Schule und die Schülerin als Autorin – rezeptionstheoretische Überlegungen zu Normalität und Bedeutungszusammenhang | 73 3.3 Die Diskurse der nationalen Subjektivierung | 102 3.4 Einzelanalyse | 141 3.5 Zusammenfassung | 16 1 4. Nation und Nationalismus | 163 4.1 Was ist eine Nation | 166 4.2 Nation und Emotion in der DDR | 178 4.3 Zusammenfassung | 199 5.
Nationale Identität im Spannungsfeld
der Diskurse | 203 5.1 Nationale Gemeinschaft | 205 5.2 Das national Andere | 209 5.3 Die Emotionalisierung der gedachten Gemeinschaft: eine neue Heimat im Sozialen | 217 5.4 Eine Generation mit Glücksauftrag – nationale Kultur | 221
5.5 Die Familialisierung der Arbeiterklasse – eine Familialisierung des Glücksanspruchs und Wirgefühls | 225 5.6 Der nationale Eigen-Sinn und die nationale Identität | 232 6.
Nationale Identifikation nach der systemischen Wende | 273
6.1 Nationale Identifikation im Deutschunterricht der DDR | 273 6.2 Ausblick: Die Nachhaltigkeit von nationaler Identifikation | 277 Literatur | 287
Danksagung
Das vorliegende Buch ist eine leicht korrigierte Fassung meiner Dissertation »Literatur und soziale Herrschaft. Das Konzept des Subjekts des Nationalen und die Rezeption Heinrich Heines in der DDR im Heine-Jahr 1956«, die ich im Juni 2010 am Institut für Germanistik der Universität Hamburg eingereicht habe. Eine solche Arbeit ist selbstverständlich nicht ohne vielfältige Unterstützung zu leisten. Mit besonderer Freude und an erster Stelle bedanke ich mich deshalb bei Dr. Jan Hans (Hamburg), dessen Kritik, Unterstützung, Aufmunterung und Kompetenz nicht nur für meine akademische Ausbildung und Schwerpunktbildung verantwortlich ist, sondern dessen Betreuung als Doktorvater für das Gelingen der Dissertation und ihrer Publikation für mich unerlässlich und eine kostbare Bereicherung war. Frau Prof. Dr. Ilse Nagelschmidt (Leipzig) war mir eine stets hilfreiche Betreuerin und äußerst sachverständige Informantin über die Literaturlandschaft in der DDR und die dortige Heine-Rezeption. Mein Dank gilt auch der Hans-Böckler-Stiftung, welche die Arbeit und die Publikation durch ein Stipendium unterstützte. Besonders Frau Iris Henkel hat durch ihre freundliche und unbürokratische Art eine wertvolle Unterstützung für das Zurechtfinden im Promotionsalltag geleistet. Für die unbürokratische Hilfe beim Auffinden der Schulaufsätze danke ich dem Sekretariat und dem Rektorat des Heinrich Heine Gymnasiums Haldensleben. Für die konstruktive Kritik und fruchtbare Diskussionen danke ich Dr. Tino Plümecke (Frankfurt) und Dr. Kerstin Bronner (St. Gallen). Hanno Willkomm (Hamburg) hat durch sein unermüdlich kritisches Lektorat erheblich über Brüche, Lücken und inhaltliche Auseinandersetzungen hinweggeholfen. Frau Prof. Wåghäll Nivre (Stockholm) danke ich für die Möglichkeit, meine Forschungsergebnisse einer
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internationalen Forschergruppe zur Diskussion stellen zu dürfen. Dr. Karin Füllner und Dr. Bernd Füllner vom Heinrich Heine Institut Düsseldorf verdanke ich es, meine Ergebnisse und Fragestellungen fachkundigen Heineforscherinnen vorstellen zu können und wertvolle Anregungen zu erhalten. Ein besonderer Dank geht an Hr. Jürgen Gerullis (Erfurt), der mich als Geschichtslehrer das Fragen und an Dr. Wolfgang Christian (Offenbach), der mich das Zweifeln lehrte. Frau Prof. Dr. Dorothee Wierling (Hamburg) stand mir während meines Studiums und meiner Promotion stets mit ihrer fachkundigen und freundlichen Unterstützung bei methodischen und inhaltlichen Fragen und historischen Zugängen zur DDR-Geschichte zur Seite. Frau Prof. Dr. Marianne Pieper (Hamburg) war mir während meines Studiums und meiner Promotion eine geduldige, hilfreiche, begeisternde und kompetente Beraterin für alle Fragen um die Subjekttheorie Michel Foucaults. Markus Kerkmanns geduldiger, engagierter und kritischer Begleitung, Korrektur, Diskussion und emotionalem Beistand verdanke ich eine persönliche Entwicklung entlang des Themas und eine kritische Auseinandersetzung mit den Theorien dieser Arbeit. Tu étais et tu es toujours un camarade fidèle à moi! Zu guter letzt danke ich selbstverständlich Heinrich Heine, dessen Werke mir immer wieder Inspiration, Quell der Freude und des Fragens waren.
»Schön ist die Heimat, so man sie hat,
schön
auch
besonders der Brat.« (WIGLAF DROSTE)
der
Hering,
1. Einleitung
1.1 D AS
KULTURELLE U NTERSUCHUNGSFELD UND SEINE S EGMENTE
In Billy Wilders Film »Sherlock Holmes« von 1970 nähert sich Holmes der Identität einer Klientin, die an kurzzeitiger Amnesie leidet, indem er ihre Nationalität erfragt. Von ihrer Nationalität schließt er im Handumdrehen auf ihre Herkunft, ihr Motiv und ihre Biografie. Die Selbstverständlichkeit von der Nationalität auf eine bestimmte Identität zu schließen, ist seitdem brüchig geworden. Vor allem die Migrationsbewegungen, insbesondere aber deren politische Wortmeldungen haben deutlich gemacht, dass nationale Sprache und Kultur gewechselt werden können, eine wurzelhafte Heimat in einer Nation für manche gar nicht existiert. Warum sich also dann noch mit der Kultur des Nationalen und der nationalen Identität beschäftigen? Betrachtet man Nationalismus nicht als eine bewusste, kognitive Entscheidung, sondern als eine nachhaltige und unbewusste Kultur des Alltäglichen, so kann von einem Ende des Nationalismus so lange keine Rede sein, wie sich Identitäten aus dem Gefühl von nationaler Zugehörigkeit und Abgrenzung, kurz: aus der Identifizierung mit nationalen Symbolen und Konstrukten ergeben. Ausgehend von einem solchen Verständnis von Nationalismus und nationaler Identität möchte ich mit dieser Arbeit den Blick auf die historische Verortung und innerphysische Instanz der Subjekte lenken, die ihrerseits nationale Gefühle ausbilden und somit eine gedachte Einheit zwischen sich und dem Nationalstaat herstellen. Konkret: Ich lenke den Blick auf die Wissens- und Machtpraktiken, welche Gefühle der Liebe, des Hasses, der Freude und der Trauer präsuptionieren und im selben Moment instruieren, dass diese Gefühle nicht länger indivi-
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dueller, sondern kollektiver Natur seien. Diese konkreten Wissensund Machtpraktiken sind dann im Fall der nationalen Identifizierung dafür verantwortlich, dass aus den individuellen Gefühlen ein kognitives Urteil erfolgt, wonach viele Menschen einer Gemeinschaft die gleichen Gefühle hätten, gleiche emotionale Affekte auf gleiche Impulse. Durch die kollektive Durchsetzung (und eine solche ist immer mit konkreten Machtverhältnissen verbunden) dieser Vorstellung von einer kollektiv-massenhaft geteilten Impuls-Affekt-Relation entwickelt sich im konkreten Subjekt eine emotionale Struktur, die aus der Teilhabe an dieser Kultur der Gefühle wiederum das Gefühl entstehen lässt, Teil einer Gemeinschaft zu sein, in der sich das Subjekt »zu Hause fühlt«, in der es »bei sich selbst ist«. Kurz: eine gemeinschaftliche Kultur, mit der es sich identifiziert. Aus Identifizierung mit nationalen Symbolen und der gleichzeitigen Übertragung dieser Gefühle auf ein vorgestelltes Kollektiv ist somit eine nationale Identität geworden. Das Subjekt erkennt sich selbst als nationales Wesen, bewertet seine Gefühle, seine kulturellen Handlung als Teil einer nationalen Gemeinschaft und vor allem aber: es entwickelt daraus eine eigene Lebensstruktur, eine biografische Idealerzählung, an der es sich und andere ausrichtet, die es zur Norm für das Leben erklärt, und gerade deshalb daraus politische Handlungen für sich und andere ableitet und somit auch seine politische Regierung anerkennt oder ablehnt – es hat also eine Identität, die es sich selbst als einzigartig und autonom wahrnehmen lässt. Nationale Identifikation ist im modernen Staat unabdingbarer Bestandteil für die spezifische Selbstverortung. Als nationales Subjekt, als Angehörige einer gedachten Gemeinschaft erkennt das Subjekt sich im modernen Staat selbst, fühlt sich als ICH durch eine vorgestellte gemeinsame Kultur, Sprache und durch das damit verbundene Wiedererkennen der eigenen Handlungen und Gefühle bei Anderen. Für die Effektivität dieser nationalen Subjektivierung ist die populäre Pathologisierung der Behauptungen, wonach man keine nationale Identität habe oder sich nicht mit nationalen Symbolen identifiziere, nur eines von mehreren Beispielen1. Ein Subjekt ohne Heimat, ohne nationale Anbindung ist in der politischen und sozialen Realität nur im Wahnsinns-
1
So geschehen unter anderem bei der Fußball WM 2006, wenn deutschsprachige Menschen sich für eine andere Mannschaft als die bundesdeutsche begeisterten.
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Konstrukt denkbar. Mit dieser Wahnsinns – Vernunft – Relation bindet sich das Subjekt mit seiner nationalen Selbsterkennung an den Nationalstaat und dessen politische und soziale Prämissen. Ich werde am Beispiel der nationalen Identitätskonstruktion in der frühen DDR zeigen, wie ein solcher Prozess im Austausch von Gesellschaft und subjektiver Eigenverortung aussieht und im Falle der nationalen Identifizierung in der DDR zu einem »spezifischen Nationalismus der Arbeit«2 führt. Wo aber ließe sich eine solche prozesshafte Abbildung von nationalem Impuls/Gefühl/Identifizierung und der Übertragung auf die eigene Biografie und damit auf die Struktur des eigenen Seins deutlicher ablesen, als im pädagogischen Prozess in der Schule? Wo würden Bilder, Vorstellungen, Konstrukte und vor allem Figuren und Lebensbilder als Vorbild zur Identifikation ausführlicher und dem Herrschaftsgebilde entsprechender dargestellt als in der Schule? Anders als in Betrieb, Familie oder anderen staatlichen Institutionen wird in der Schule umfangreich und kollektiv ein Subjekt angesprochen. Anders als in Medien, der Jugendgruppe, dem Betrieb, der Familie o.ä. werden Wissen, Erfahrung und Verortung hier nicht individualisiert vermittelt und gelten als Aussage in den Lerneinheiten und Prüfungsbedingungen unabhängig von individuellen Besonderheiten. Die Ausrichtung der eigenen Biografie im gesellschaftlichen Kontext ist in dieser Institution fundamental und durch die Spezifik der Schulstruktur immer kollektiv. Und wo würden Emotionen nachhaltiger angesprochen, mit den familiären Weltbildern und Wahrheitsformationen gemessen und schließlich durch Bezeugung eingeübt, wenn nicht in den Schulfächern der ästhetischen Erziehung? Es sind gerade die der Literatur und Kunst eigenen Bilder, welche eine emotionale Auseinandersetzung um und mit der eigenen Selbstverortung hervorbringen und somit Identifizierungen permanent abverlangen, die dann in den schulischen Prüfungen (Aufsätzen) erprobt und eingeübt werden. Die Effektivität der emotionalen nationalen Identifizierung und Subjektivierung werde ich mittels
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Nationalismus als abstrakte Umschreibung von kollektiven Gefühlen und Identifizierungen kennt selbstverständlich inhaltliche Differenzen – bedingt durch historische, politische und soziale Bedingungen. Die kollektive Identifikation in der DDR und ihre Unter- und Einordnung in eine nationale Vorstellung ist eng an die kulturelle Praxis der Lohnarbeit gekoppelt. Siehe dazu Kapitel 5 dieser Arbeit.
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einer diskursanalytischen Untersuchung von Abituraufsätzen3 von Schülerinnen4 aus dem ersten Nachkriegsjahrzehnt in der DDR herausarbeiten. Konkret suche ich dabei nach den Diskursen des Nationalen, ihrer Adaption und schließlich nach der Identifikation der Schülerinnen mit den nationalen Symbolen und Bildern im Werk und der Kollektivbiografie5 Heinrich Heines. Die Analyse von Schulaufsätzen bietet sich besonders dafür an, die Identifizierung mit den Symbolen und Mythen des Nationalen und deren Zusammenhang mit einer darauf aufbauenden Biografiestruktur zu klären. Denn gerade in ihnen befleißigen sich die Schülerinnen – trotz des vordergründigen Ziels einer guten Note – ihre eigene Ansicht, ihre Identität, ihre (nationalen) Wahrheiten zu behaupten, auch wenn das nicht zwangsläufig zur guten Note führt. Somit geben gerade Schulaufsätze beredt Zeugnis von der Struktur nationaler Selbstverortung, in der das Subjekt die nationale Identität zu einer eigenen erklärt.
1.2 F RAGESTELLUNG , M ETHODE UND IHRE WISSENSCHAFTLICHE T RADITION Ich verknüpfe mit meiner Fragestellung nach der Konstruktion einer nationalen Selbstverortung durch die pädagogische Vermittlung Heinrich Heines im Literaturunterricht die kulturwissenschaftlichen Fragestellungen nach Identität/Erinnerung mit den literaturwissenschaftlichen Fragestellungen nach Textlichkeit, Autorschaft und sozialer Funktion von Literatur.6 Diese Fragestellung verortet sich in der Tradition einer
3
Zum Quellenbestand siehe Kapitel 3.
4
Zugunsten einer besseren Lesbarkeit verwende ich in dieser Arbeit durchgängig das Femininum. Nur an Stellen, an denen auf die (verschwindend) geringe Beteiligung von Frauen explizit verwiesen werden soll, werde ich das Maskulinum anwenden.
5
Als Kollektivbiografie bezeichne ich eine dargestellte vorbildhafte Biografie, deren Verlauf, Reibungspunkte oder Kämpfe durch bestimmtes kulturelles Vorwissen populär sind. Siehe dazu Kapitel 3.2.2.
6
Eagelton, Terry: Was ist Kultur? Eine Einführung. Beck, München 20012; Erll, Astrid u. Nünning, Ansgar (Hrsg.): Literatur, Erinnerung, Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Wiss. Verlag, Trier 2003; Eco, Um-
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Wissenschaft, die nach der Entstehung und Werdung von Subjektivität und ihrer Rolle in der Konsolidierung und Reproduktion von Herrschaft fragt. Identität verstehe ich als einen permanenten Selbstverortungsprozess, der aus dem Wissen um sich selbst und um die Struktur und Ausrichtung seines eigenen Lebens entsteht. Dabei mache ich für eine moderne Subjektivität vier hegemoniale Identifizierungsdispositive aus: Geschlecht/Sexualität, Hautfarbe, Klasse und Nation und wähle für diese Arbeit die Analyse des Dispositivs des Nationalen. Konkret werde ich mich auf die Suche nach Emotionen des Nationalen in der pädagogischen und didaktischen Vermittlung und Aneignung von Texten Heinrich Heines in der frühen DDR begeben. Meine Arbeit ist dabei Teil einer Wissenschaft, die sich in ihrer Suche nach Erkenntnis über die Beziehungen von Subjekt und seiner Gesellschaft nicht mehr vordergründig den Strukturen und Institutionen zuwendet, sondern das Subjekt selbst in den Mittelpunkt der Untersuchung stellt. Ein Subjekt, das den wissenschaftstheoretischen Annahmen in der Tradition von Marx, Gramsci, Althusser und Foucault zufolge in den modernen (National)Staaten überhaupt erst entsteht, sich selbst als Teil des Staates anerkennt und für die Erhaltung seines Lebens seine (gute) Regierung einfordert, das dadurch beherrschbar wird und dennoch gleichzeitig eine Ermächtigung erhält, seine Beherrschung zu durchkreuzen. Meine Untersuchung ist daher dem beweglichen Subjekt gewidmet, auf dessen Oberfläche keine statischen Verblendungen stattfinden, sondern das gerade in einem permanenten, fluidalen Prozess zwischen Unterwerfung und Widerstand seine als autonom und unterscheidbar definierte Identität ausbildet. In den Aufsätzen der Schülerinnen über eine nationale Tradition mit Heinrich Heine werde ich unbemerkte Denkvoraussetzungen sichtbar machen, die sich aus alltagspraktischen Notwendigkeiten ergeben und das intellektuelle Verhältnis zur Welt und damit den Prozess der Subjektivierung strukturieren.7 Das Untersuchungsfeld Literatur spielt dabei eine besondere Rolle. Als Interdiskurs ist sie das Feld, in welchem die Schülerinnen die ver-
berto: lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. dtv, München 19942. 7
Engler, Wolfgang: Macht, Wissen und Freiheit. Was Foucaults dreifacher Bruch mit der Ideengeschichte zu sagen hat. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 38/1990, Heft 10, S. 874 – 886. Hier S. 874.
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schiedenen Diskurse anderer Felder zusammenführen, ebenso wie sie in den Bedeutungsangeboten der Literatur und ihrer ästhetischen und fiktionalen Verdichtung Wissensdispositive und Machtfelder aus anderen Diskursfeldern (Ökonomie, Geschichte, Familie etc.) wieder finden. »Literatur ist eine bestimmte Form der Verknüpfung von Wissen aus anderen Diskursen, ihre besondere Funktion, die sie zugleich von anderen Spezialdiskursen signifikant unterscheidet, besteht in der Transformation des Wissens in ›subjektiv applizierbare Vorgaben‹. Literatur erscheint damit, ganz allgemein gesprochen, zugleich als eine Form der Macht, die Diskurse auf den Menschen ausüben.«8
Kurz: In den Diskursen der Literatur bündeln sich die Wissens- und Machtstrukturen auf emotionale Weise, entlang derer sich das Subjekt positioniert, identifiziert, subjektiviert. Dass ich als interdiskursives Beispiel die Werke Heinrich Heines und dessen didaktische Bearbeitung aussuche, hat folgende Gründe: Zum einen: Heines literarische und journalistische Bearbeitung des Themas »Nation« stellt selbst einen Bruch zum hegemonialen Traditionsdiskurs von der Befreiung des Volkes mittels der Performance einer nationalstaatlichen Vereinigung im Sinne des Wartburger Festes dar. Der Meistererzählung9 von einer deutschen Nationen-Werdung steht Heines Freiheitsdiskurs vom Vaterland Europa entgegen und muss dennoch in der Schreibung einer nationalen Literaturgeschichte mit ihm verknüpft werden. Zum anderen sind es Heines Texte selbst, sowie sein Politikverständnis und seine Definition des Nationalen, die brüchig, »knirschend« und widersprüchlich sind. Auf diese Weise bieten sie der Leserin neben den Bedeutungsangeboten, die Heine selbst zu nationaler Identität und Nationalcharakteren gibt, eine besondere
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Geisenhanslüke, Achim: Foucault in der Literaturwissenschaft. In: Kammler, Clemens u. Parr, Rolf (Hrsg.): Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme. Wissenschaftsverlag der Autoren Synchron, Heidelberg 2007, S. 69 – 82. Hier S. 73f.
9
Jarausch Konrad H. und Sabrow, Martin: »Meistererzählung« – Zur Karriere eines Begriffs. In: Dies. (Hrsg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Göttingen 2002, S. 9 – 32.
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Möglichkeit die eigenen Bedeutungszusammenhänge, die eigenen Begehren, Verständnisbilder etc. in den einzelnen Werken zu entdecken und damit im permanenten Springen zwischen Adaption einer Traditionsvermittlung und deren Negation eine eigene Identität auszubilden. Dieser, hier gebündelte, Prozess der nationalen Identifizierung überwindet dabei nicht zwangsläufig eine Krise der eigenen Selbstverortung und Selbstversicherung, sondern kann diese überhaupt erst hervorrufen – da ja gerade die Brüchigkeit im Werk Heines die bis dahin bestehenden Normen und Sicherheiten in Frage stellen lässt. Gesellschaft und Staat der DDR als ein weiterer Gegenstand meiner Untersuchung ermöglichen gerade durch ihre Abgeschlossenheit einen hervorragenden Blick auf Identitätskonstruktion entlang der staatlichen Anrufung (Althusser 1977) von nationalen Emotionen. Entnationalisiert man nämlich die wissenschaftliche Beschäftigung mit der DDR, indem man die Nach-Wende Rechtfertigungspositionen verlässt, und folgt man statt der polarisierenden Frage, was die DDR war, jener, wie ein Staat und eine Gesellschaft funktionierten – so entstehen Fragestellungen, die den Wandel und die Kreativität gesellschaftlicher Formationen und sozialer Konstellationen entlang nationaler Identifizierung an sich betreffen. Wenn ich nun nach nationaler Identität in der DDR frage, so nicht um die DDR zu einer Fußnote der Geschichte zu deklarieren10, sie politisch »abzuschließen«, sondern um aus ihrer gesellschaftlichen Verfasstheit Aufschlüsse über das Werden und Sein gegenwärtiger Gesellschaften zu erlangen. Ganz im Sinne des Geschichtsverständnisses Michel Foucaults, wonach die Beschäftigung mit Geschichte nicht dazu führen kann »herauszubekommen« wie es gewesen ist, sondern wie das was ist geworden ist. Da die Aussagen der Schülerinnen, da das »Gelingen« einer pädagogischen Arbeit durch Heine bisher nicht das Forschungsinteresse der Heineforschung erregt hat, da die Frage nach dem Gelingen der nationalen Identifizierung in der schulischen Identitätsausbildung weder in der »Community« der DDR-Forschung noch der Identitätsforschung
10 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 5. Von der Gründung der beiden deutschen Staaten bis zur Vereinigung 1949 -1990. C.H. Beck Verlag, München 2008, S. 425f. und S. XVf. Zur Kritik: Insbesondere: Sabrow, Martin: In: Podium: Modell Bundesrepublik – Fußnote DDR. http://lesesaal.faz.net/wehler/exp_forum.php?rid=5. aktuell 13.07.09.
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Beachtung gefunden hat, habe ich mich für eine Aufteilung der Kapitel entschieden, die den Materialien eine besondere Aufmerksam zollt. Ich nehme daher in Kapitel 3 die Texte, die Aussagen der Schülerinnen für sich, will die Aussagen und Diskurse aufzeigen. Spätere Forschungsarbeiten mögen aus diesen Aussagen, aus diesem Material eigene Schlussfolgerungen ziehen. Ich hingegen argumentiere spiralförmig, wenn ich der Darstellung dieser Selbstzeugnisse nationaler Identifizierungen die nationale Anrufung in den staatlichen Institutionen der DDR erst anschließend (Kapitel 4) folgen lasse. Denn nur aus der Verbindung der Selbstzeugnisse mit den pädagogischen und politischen Anrufungen aus den Ideologischen Staatsapparaten ergibt sich meine Interpretation der kollektiven nationalen Identifizierung und der konkreten Identitäten entlang nationaler Erzählmuster im schulischen Schreiben über Heinrich Heine (Kapitel 5). Das Problemfeld: nationale Identität in der frühen DDR Die Grundfrage dieser Arbeit ist, wie eine Identifizierung abläuft, die Subjekte hervorbringt, welche die politische und soziale Verfassung einer Gesellschaft einfordern, billigen, kritisieren oder verändern. Kurzum: Welche Rolle Identität dabei spielt, sich in den Verhältnissen wieder zu erkennen, die im Grunde Beherrschungsverhältnisse sind. Ein Wiedererkennen das seinerseits Basis dafür ist, dass die Subjekte sich mit ihrer eigenen Beherrschung identifizieren und just dadurch zu konkreten Akteuren ihrer eigenen Geschichte und ihres Zusammenlebens werden. Gerade für die Frage nach der Gestaltung des Zusammenlebens ist es relevant nach einer Sittlichkeit zu fragen, weil diese das Zusammenleben strukturiert. Sittlichkeit offeriert dem eigenen Leben einen Sinn, der gewoben ist aus Identifikation mit den und Ablehnung der moralischen Normen einer Gesellschaft, einem Sinn, den das Individuum zur Norm für seine Beziehungen zu sich und zu anderen macht. Auf der Spur nach der Kollektivierbarkeit dieser individuellen Sittlichkeit begebe ich mich mit der Analyse der Aufsätze in das Auge des Orkans: den Bereich der Pädagogik einer ästhetischen, emotionalen Erziehung. Denn in der Analyse der Bewegungen der Schülerinnen zwischen Originaltext, dessen didaktischer und wissenschaftlicher Rezeption und ihrer eigenen Textproduktion offenbart sich ihre DDRspezifische Sittlichkeit des Zusammenlebens, ihre Sinnproduktion für ihr eigenes Leben entlang der Symbole, Figuren und Mythen des Na-
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tionalen. In dieser Offenbarung schließlich finden sich die Stepppunkte der nationalen Selbstverortung mit der Gesellschaft und/oder dem Staat DDR. Entlang der schulischen nationalen Macht- und Wissenspraktiken entspinnt sich die Identität, welche die Schülerinnen zu kommenden Staatsbürgerinnen mit einer historisch-spezifischen Affinität zu Nation und Staat werden lässt. Wenn ich mich in dieser Arbeit der Identität eines ostdeutschen Idealsubjektes nähere11, so verstehe ich Identität als permanenten Aushandlungsprozess der eigenen Verortung, als permanente Versicherung »noch bei sich selbst zu sein«, indem man Lebensmuster und moralische Sinnangebote verwirft und neu adaptiert. Damit kann Identität selbstverständlich keine einmal erworbene Eigenschaft sein.12 Die Praxis der permanenten Identitätswerdung verweist dabei keineswegs auf ein autonomes Subjekt, welches sich vollkommen losgelöst und unabhängig von den Strukturen der Sittlichkeit und der biografischen Sinnkonstruktionen seiner historischen Epoche entscheiden könne. Vielmehr verweisen die Ähnlichkeit und die Sinnverwandtschaft der Lebensbiografien und der Identifizierungen der Menschen entlang einiger weniger Identitätssymbole darauf, dass just diese Praxis eine permanente Grundlage für eine Reproduktion der gesellschaftlichen Formationen und sozialen Konstellationen ist, die auf der Seele13 des Individuums ausgetragen wird. Auf der Spur nach einer kollektiven Identität14 des Nationalen zu sein, bedeutet daher, nach einem Selbstwertgefühl durch und innerhalb
11 Mich ihm nähere insoweit, als dass in der nationalen pädagogischen Anrufung zwar immer ein gedachtes Idealsubjekt vorgestellt wurde, das den konkreten soziokulturellen, milieubedingten Differenzen, Unterschiedlichkeiten und eigensinnigen Bearbeitungen der nationalen Angebote jedoch nie vollends standhalten konnte. 12 Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999. 13 Ich verwende auch im Folgenden »Seele« im Sinne Foucaults, als einen Begriff, der nicht einen transzendentalen »Rest« im Körper beschreibt, sondern eine Fläche, ein Fluidum, in welchem die spezifischen Entscheidungen, Emotionen, Brüche, Zugehörigkeiten, Bejahungen und Verneinungen des Subjektes seine gefühlte und angerufene Identität ausmachen. 14 Obwohl das Konzept der kollektiven Identität aus einem kollektiven Gedächtnis umstritten ist und auch im Falle der DDR eingeräumt werden
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einer Nation Ausschau zu halten. Ich begebe mich also auf die Suche nach einer nationalen Identität, die in dem Maße tradiert wird, wie sich Individuen zu ihr bekennen, das heißt, sich mit der sittlichen Ordnung und den durch eine gemeinsame Verwaltung strukturierten Formen eines gemeinsamen Lebens identifizieren.15 Innerhalb des Problemfeldes Subjektivierung durch nationale Identitätsvorgaben erkenne ich im Feld der schulischen Literaturrezeption das Ringen der verschiedenen Wissensfelder und Machtverhältnisse um eine ideale Identität im Staate DDR. Es wird zu untersuchen sein, welche ästhetischen und sozialen Diskurse in der zentralen und umfassenden Ansprache der Schülerinnen durch die Pflicht des Schulbesuchs und des Literaturunterrichts am wirksamsten sind, um dauerhaft nationale Identität in den Seelen der Menschen zu verankern. Literatur16 ist durch die ihr eigene emotionale Ästhetik besonders wirkungsmächtig darin, Bilder und Symbole der Identifizierung anzubieten und in einem permanenten Prozess zu stabilisieren oder zu dekonstruieren. Ihre kaleidoskopartige Zusammensetzung von Bildern – die eben nicht nur eine Abfolge sind, son-
muss, dass unterschiedliche Erfahrungen und Biografien, bedingt aus Schicht-, oder Genderzugehörigkeit, als Sesshafte oder Umsiedlerin, es unmöglich machen von einer einheitlichen kollektiven Identität zu sprechen, möchte ich diesen Terminus dennoch verwenden. Und zwar nicht im Sinne von einer empirischen kollektiven Gemeinsamkeit, sondern im Sinne einer kollektiven Norm. Diese Norm(alität) strukturiert kollektive und individuelle biografische Erzählungen und Erinnerungen, sie ist der Angelpunkt der individuellen Ausrichtung und des Begehrens und kann somit zwar nicht empirisch verwendet werden, muss aber als normalisierende und strukturierende Denkordnung und als heuristisches Prinzip ernst genommen werden. Assman, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in den frühen Hochkulturen. C.H. Beck Verlag, München 1992. / Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1991. Zur kritischen Auseinandersetzung damit: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Metzler Verlag, Stuttgart/Weimar 2005. 15 Ondoa, Hyacinthe: Literatur und politische Imagination. Zur Konstruktion der ostdeutschen Identität in der DDR-Erzählliteratur vor und nach der Wende. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2005, S. 15. 16 Das gilt ebenso für Kunst, Film und Musik, die aber hier nicht Untersuchungsgegenstand sind.
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dern durch ihre Schnittstellen (Cuts) und deren Verbindungen in ihrer Rezeption auch Wertungen und Bewertungsangebote für die soziale Realität anbieten – erfordert eine nachhaltige Versicherung des Subjektes zu sich selbst entlang von Ablehnung und Zustimmung zu diesen Bildern. Wenn sich herausstellen wird, dass mit literarischen Texten nationale Identitäten vermittelt werden, so ist das mehr als eine oktroyierte Identitätsvorgabe. Dort bebilderte und hervorgerufene ästhetische Erfahrungen sind vielmehr kurzzeitige Fixpunkte, an denen die Praxis der Identitätswerdung ausgehandelt, verschoben und festgelegt wird. Diese Fixpunkte suche ich in den Diskursen und den Bildern der nationalen Ansprache im Heinetext ausfindig zu machen. Ich spüre dafür in den ästhetischen Bearbeitungen nationaler Vokabeln wie Heimat, Vaterland, Muttersprache oder Volk zwischen Heines Originaltexten, den Texten seiner Rezeption und schließlich den Aufsätzen der Schülerinnen über Heines Texte die Grundlagen von subjektiver Zustimmung zu staatlicher Praxis auf. Dafür ist der Blick auf die Schule als identitätskonstruierender Apparat oder als Ideologischer Staatsapparat im Sinne Althussers17 unumgänglich. In der Schule als Ideologischem Staatsapparat wird die Bedingung für das Bestehen und die Konsolidierung des staatlichen Idealsubjektes gelegt, werden die nationalen Emotionen, ihre Einübung, Verteidigung und eigensinnige Bearbeitung vollzogen. Durch Zustimmung zu und Beteiligung an Gesellschaftsstrukturen entsteht eine fortdauernde Identifikation mit der Nation, auch wenn bestimmte staatliche Institutionen wegfallen. Die grundsätzliche Ansprache und Identifizierung mit nationalen Symbolen als Basis für den »Konsens der Beherrschten« (Gramsci) zeigt sich selbst dort, wo politische und soziale Diskrepanzen in einer nationalen Gemeinschaft offensichtlich werden und das egalisierende Moment der nationalen Gemeinschaft aufbricht. Im Falle der DDR z.B. an den Demonstrationen des 17. Juni, in welchem Arbeit und die richtige Regierung Forderung der Demonstrierenden sind und die Demonstrierenden sich nur gegen den konkreten Staat und seine Institutionen (SED,
17 Ideologische Staatsapparate (ISA) sind nach Althusser jene Apparate, in denen der Staat auf vielfältige und vielstimmige Art seine kulturelle Hegemonie platziert, durchsetzt und konsolidiert. Althusser benennt als solche u.a.: Religiöse ISA, schulische ISA, familiäre ISA, juristische ISA, politische ISA, gewerkschaftliche ISA, ISA der Information (Presse, Fernsehen etc.) und kulturelle ISA (Literatur, Sport etc.).
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Staatsratsvorsitzender, Betriebsgewerkschaftsgruppen etc.) wenden. Das strukturell vermittelte und adaptierte nationale und egalisierende Prinzip (in dem Falle die Arbeit) bleibt weiterhin Begehrensprinzip der Demonstrierenden, die mit ihren Forderung nach der Absetzung Ulbrichts und der SED eigentlich eine Differenzierung innerhalb der Nation (wir und die da) ausmachen.18 Insofern lehnen die Demonstrierenden weder den Staat noch seine Institutionen im Allgemeinen ab und schon gar nicht seine Verantwortlichkeit im Sinne einer Regelung der Bevölkerung entlang von Arbeit – sie distanzieren sich lediglich von bestimmten Institutionen. Es wird zu untersuchen sein, ob diese grundsätzliche Zustimmung durch die emotionale und ästhetische Struktur der Sittlichkeit in der schulischen Reproduktion des Heinetextes bzw. des Schulkanons an sich eingeübt und etabliert worden ist. Die konkrete Zustimmung zu den staatlichen Praktiken gäbe außerdem Auskunft darüber, wie die gegenwärtige nationale NachWende Identifizierung DDR-Deutscher entstanden ist. Denn nachdem die Generation der Jugendlichen in den 1950er Jahren ihre Identität auf den klassenkämpferischen und antifaschistischen Erzählungen des jungen Staates DDR aufgebaut und sie mit den eigenen (Nach-) Kriegserfahrungen verknüpft hatte, gab sie diese Identität als Normen und Werte an ihre Kinder und Kindeskinder weiter. Diese haben ihrerseits ihre Erfahrungen und subjektiven Normen an der Verknüpfung staatlicher Ansprache und individuellem Begehren ausrichten müssen. Somit bilden die Emotionen des Nationalen der hier untersuchten Nachkriegsgeneration den Sockel eines »DDR-Identitäts-Prozesses«, der in den späteren Generationen und selbst durch die Brüche der Wendeerfahrungen Referenzstruktur für die kommenden Generationen werden sollte19, und damit auch für die Nachwendegenerationen:
18 Rössler, Jörg: Aufstand gegen die Norm. Die Arbeiterklasse der DDR und der 17. Juni 1953. Vortrag auf der Tagung: Der 17. Juni 1953 in der DDR. Freiheit und Einheit als Aufgabe. Universität Oldenburg, 14.Mai 2003. Oder: Ders.: »Akkord ist Mord, Normenerhöhung ist das Gleiche«. Eine Tradition des ökonomischen Kampfes der deutschen Arbeiterklasse und der 17. Juni 1953. In: Jahrbuch zur Erforschung der Arbeitergeschichte. Berlin, Jg. 3 2004, Heft 2, S. 4 – 17. 19 Vgl. Woderich, Rolf: Ostdeutsche Identitäten zwischen symbolischer Konstruktion und lebendweltlichem Eigensinn. Verschriftlichte Version des Referats auf der Konferenz: The German Road from Socialism to Ca-
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»Die Gesellschaft der DDR ist schon deshalb nicht passé, weil sie und die Lebensverläufe ihrer Mitglieder eine entscheidende Ausgangsbedingung der deutsch-deutschen Vereinigung sind. Es wäre töricht – obwohl dies oft genug geschieht –, die Transformation Ostdeutschlands ausschließlich im Hinblick auf die Zielgesellschaft der westdeutschen Bundesrepublik zu betrachten. Wenn auch von den Institutionen der [...] DDR wenig übriggeblieben ist, so wurden doch die bis zur Wende gelebten Leben und Mentalitäten ›übernommen‹ und wirken fort. Sie sind Ressourcen, über die die neuen Bundesbürger im Vereinigungsprozess verfügen, auf die sie zurückgreifen müssen und die sie einbringen müssen.«20
Mein Interesse an Entstehung, Etablierung und anhaltendem Erfolg eines Subjektivierungskonzeptes, welches sich mit nationalen Symbolen und Bildern identifiziert und sich in ihnen wiedererkennt, entsprang aus aktuellen (gesamtdeutschen, europäischen) politischen Motiven. Einmal der Begegnung des populär gebliebenen Nationalismus und Patriotismus, der als nachhaltige Lebens- und Sinnstruktur die politische und soziale Kultur der gegenwärtigen bundesdeutschen Gesellschaft bestimmt, wie z.B. während der Fußball WM 2006 oder der Betonung regionaler Heimatdiskurse im Standortwettbewerb. Und zum zweiten als Gegendiskurs zu den politischen Praktiken, die sich um die Praxis der Migration hangeln und in denen Heimatlosigkeit und Migration als pathologische Angelegenheit definiert werden. Das »Untersuchungsobjekt« DDR-Subjekt ist dafür nur beispielhaft. Meine eigene Biografie – in der DDR sozialisiert/emotionalisiert und in der BRD politisiert worden zu sein – bietet ein Abbild für den Wandel und die Konstruktion von nationaler Identität durch Identifikation, Ablehnung, Abgrenzung und Brüchen. Gerade die wechselnde Anrufung und Zuschreibung als immer wieder neue »Deutsche« (Nicht-richtige
pitalism. Harvard University, Centre for European Studies, June 18 – 22, 1999. Oder: Junge, Barbara u. Junge, Winfried: Die Kinder von Golzow. Eine Langzeitbeobachtung. Vertrieb: absolut Medien GmbH. Oder: Meulemann, Heiner: Werte und Wertewandel. Zur Identität einer geteilten und wieder vereinten Nation. Weinheim 1996. 20 Mayer, Karl Ulrich u. Diewald, Martin: Kollektiv und Eigensinn: Die Geschichte der DDR und die Lebensverläufe ihrer Bürger. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Bd. 46. S. 8 – 14. Bonn 1996, S. 8.
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Deutsche in der DDR, DDR-Deutsche im Westen, Gesamtdeutsche im Westen, Europäerin etc.) konfrontierte mich damit, wie sehr Identität eine Praxis ist, die durch immer wieder neue Unterwerfung/Adaption und Ablehnung/Eigen-Sinn im Verhältnis zu nationalen Diskursen entsteht. Aus der permanenten Erfahrung das national »Andere« zu sein, wurde eine Selbstverortung, eine Eigenidentität, ein sich Wiedererkennen in der konkreten Ablehnung oder Neuidentifizierung mit nationalen Sinnbildern. Und somit bieten meine eigene Seele, meine Normen und Werte sowie Zugehörigkeitsgefühle eine permanente Überprüfungsstruktur meiner Untersuchungsergebnisse. Dabei betrachte ich emotionalen und intellektuellen Zuspruch zu nationalen Welterklärungs- und Handlungsmustern, aus welchem immer dichotomisch-hierarchische Freund-Feindbilder entstehen, nicht als DDR-typisch. Und das, obwohl nationale Identität als Subjektivierungsmuster nach der Wende gerade in den ostdeutschen Bundesländern eine scheinbare Renaissance erfährt. So zeigt beispielsweise der neue bundesdeutsche Patriotismus, der sich in der kräftigen Bejahung eines nationalen Stolzes z.B. während der Fußball WM 2006 oder in der neuen Singebewegung21 äußert, dass nationale Identitäten, nationale In- und Exklusionen keine Emotionen sind, die DDR-spezifisch seien oder nur in der Rechten »Extremen« entstünden, sondern noch immer aus der Mitte der Gesellschaft kommen – also ein verallgemeinerbares Zugehörigkeitsgefühls und Identitätsmuster in modernen Staaten bestimmen.22 Und dennoch existiert eine DDR-spezifische Identifikation mit den unbestimmten und offenen Signifikanten Volk, (Ab-) Stamm(ung) und Nation. Durch die konkreten historischen Zäsuren hindurch erweisen sie sich als bedeutsam für die Identitätsbildung des modernen Subjektes in der DDR. Denn die Offenheit und Variabilität der Signifikanten Volk, (Ab)Stamm(ung) und Nation bieten die Mög-
21 Büsser, Martin: Es scheint, als sei Nation wieder cool. Interview von Michael Blatt. http://www.2010lab.tv/blog/martin-b%C3%BCsser-es-scheintals-sei-nation-wieder-cool. aktuell am 12.04.2010. Und: Nagel, Torsten: »Es ist deutsch in Kaltland«. Die Verschmelzung von Pop und Nation zum Mainstream. In: testcard. Beiträge zur Popgeschichte. Band 16 Extremismus. Ventil Verlag, Mainz 2007, S. 6 – 11. 22 Butterwegge, Christoph u.a.: Themen der Rechten. Themen der Mitte. Zuwanderung, demographischer Wandel und Nationalbewusstsein. Leske und Budrich, Opladen 2002.
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lichkeit auf vielstimmige Weise die Identifikationen und Interpretationen des Nationalen vieler Subjekte einzubringen. Die Integrationswirkung dieser Signifikanten und die aggressive Exklusionswirkung bündeln diese emotionale Eigenleistung wieder zu einer gemeinschaftlichen Bedeutung. Auf diese Weise wird die individuelle Identifikation, werden die individuellen Gründe und Emotionen, die zur Identifikation mit den nationalen Signifikanten Volk, Stamm und Nation führen, generalisiert und sind dennoch von individuellen Sinnstrukturen und Bedeutungen durchdrungen. So hält sich ein Gefühl aufrecht, trotz sich verändernder historischer Bedingungen, trotz differierender Interessen zur Nation dennoch sich selbst in ihr wiederzufinden und in ihr zu verorten – also: mit ihr identisch zu sein. Somit kann nationales Gefühl nicht statisch sein und die konkreten historischen Bedingungen führen zu einer Differenzierung nationaler Identifizierungen in den beiden deutschen Staaten – trotz (und mit) vormaliger gemeinsamer nationaler Identifikation. Subjekttheorie, die DDR und ein Subjekt des Nationalen Der wissenschaftliche Fokus auf das Subjekt hat sich im Kontext der emanzipatorischen Analysen von Marx und Freud herausgebildet. Aus diesen Erkenntnistheorien und den daraus schöpfenden Gesellschaftsanalysen entstand ein Subjektbegriff, der sich im Spannungsfeld von »innerer Natur« und gesellschaftlicher Realität bewegt. Für eine Aussage über eine Subjektivierung in der DDR, die aus den Identifizierungsangeboten einer nationalen Gemeinschaft entsteht, halte ich es für notwendig die Ansätze der marxistischen und auch der freudianischen Subjekttheorie zu berücksichtigen und sie weiter zu entwickeln. Denn schließlich bedeutet die Abhängigkeit subjektiven Bewusstseins und eines möglichen Erfahrungshorizonts von den konkreten historischen Verhältnissen23 auch, dass diese derartig »beeinflusste« »Natur« des historischen Subjekts von ihm selbst als quasi natürlich angenommen wird und er sie als sein eigenes (gesellschaftliches) Leben und
23 Marx, Karl: Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie. In: Karl Marx/Friedrich Engels – Werke Band 137. Dietz Verlag, Berlin/DDR 1971, S. 615-641.; Und: Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Suhrkamp, Frankfurt/Main 199714.
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Schicksal annimmt.24 Eine wissenschaftliche und politische Betrachtung des Subjektes nützt daher nichts, wenn nicht das Subjekt selbst und seine Zustimmung zu diesen historischen Verhältnissen untersucht werden. Deshalb soll die Auseinandersetzung in dieser Arbeit mit dem »umkämpften«25 Subjekt in der DDR beides leisten: 1.) Sie soll die historischen Regierungsverhältnisse in ihren Machtpraktiken und Wissensformen ausmachen. Denn erst in diesen Wissensformen und deren Einübung in kulturellen Praktiken formiert sich die Anrufung (Althusser 1977) der pädagogisierten Subjekte durch ihre Erzieher, Eltern oder Volkspädagogen. 2.) Diese Arbeit soll die einmal eingenommene Vogelperspektive auf das Subjekt auch wieder verlassen und die Begehrensstrukturen der Subjekte selbst, jene Emotionen wie Trauer, Freude oder Schmerz als Grundlage einer nationalen Identitätsfindung und –konsolidierung ernst nehmen. In den Diskursen der nationalen Ansprachen, in den nationalen Bildern und Signifikanten soll die Art und Weise und das Funktionieren der Identifizierungen ausgemacht und beschrieben werden. Erst in der Verbindung beider Perspektiven (der subjektiven und der äußerlichen) kann eine Aussage darüber getroffen werden, auf welche Art und Weise Herrschaft in der DDR legitimiert wurde. Meines Erachtens verweist gerade die historische Tatsache, wonach sich die nationale Identität (oder synonym die Subjektivität) keineswegs durch einen Wechsel der staatlichen und ökonomischen Verhältnisse ändert, auf die Nachhaltigkeit der nationalen Identifikation. Nimmt man diese historische Tatsache ernst, so benötigt es für die Analyse von staatlicher Herrschaft im Allgemeinen und von der DDR im Besonderen eine Methode und Theorie, welche Subjektivität a) nicht als Determination qua Geburt betrachtet und b) eine Nachhaltigkeit dieser Subjektivität erkennt, die über die Zerstörung oder Einführung von Herrschaftsinstitutionen hinaus geht. Insofern also eine Methode und Theorie, welche die Regierung der Subjekte bei der Konstituierung ihrer selbst als Subjekte durch Identifikation ansetzt. Kurzum: Ich rede von den Macht- und Subjekttheorien Foucaults, welche das
24 Naumann, Thilo Maria: Das umkämpfte Subjekt. Subjektivität, Hegemonie und Emanzipation im Postfordismus. Reihe Perspektiven. Edition diskord, Tübingen 2000, S. 19. 25 Ebda.
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Subjekt als Praxis in den Mittelpunkt des politischen und wissenschaftlichen Fokus heben. Gerade weil sich die Subjekttheorien Michel Foucaults mit der Subjektkonstruktion aus Sicht des Subjektes selbst beschäftigen, gerade weil sie seine Identifikationen, seine Begehren und Emotionen so ernst nehmen und sie zur Grundlage von Herrschaft erklären, mache ich seine Theorien zur Basis meiner Untersuchung. Ich frage wie ein Wille zum Staat, seiner nationalen Gesellschaft und deren Normen und Werte in einem Dreieck Repression – Soziales – Regierung entstand und welcher Art dieser Wille ist, der sich zwischen den Diskursen oder Feldern in den zu untersuchenden Schulaufsätzen zeigt. Ein Wille, der aus der eigenen Selbstverortung entspringen muss, der von einer Deckungsgleichheit der persönlichen Verortung mit den Nationalstaatsstrukturen ausgehen muss und just damit ein Identisch-Sein der Interessen annimmt. Da Foucault (und mit ihm die postmarxistischen Theoretikerinnen der letzten 40 Jahre) ihren wissenschaftlichen Fokus größtenteils auf das westeuropäische Idealsubjekt in kapitalistischen Gesellschaften gelenkt haben und da vor allem Foucaults Arbeiten zur Regierung der Subjekte sich auf die besondere neoliberale Regierungsform beziehen, ist es notwendig der Übertragung seiner Subjekt-, Macht- und Staatstheorie auf die frühe DDR ein eigenes Kapitel zu widmen. Um der Besonderheit der nationalen Ansprache und Identifizierung im Schulsystem der DDR Rechnung zu tragen sind drei Denkmuster bezüglich Macht und Staatlichkeit Voraussetzung. 1.) Die kulturelle Hegemonie in Anlehnung an Gramsci für die Frage nach dem Konsens der Beherrschten mit den Prinzipien ihrer Herrschaft26. Es ist zu untersuchen, ob dieser Konsens sich in den Diskursen des Nationalen über die Identifikation mit Heine findet, ob die Schülerinnen ihn immer wieder zur Referenz erklären oder ihn verlassen und somit die nationale Ansprache misslingt. Wird die Identifikation mit dem Staat oder mit der nationalen Vorbildfigur Heine abgelehnt oder adaptiert und damit eine Zugehörigkeit zum Konsens der nationalen Gemeinschaft und ihren impliziten Feindbildern manifest oder unterlaufen?
26 Zur hegemonialen Durchsetzung eines marxistisch-leninistischen Nationalund Literaturbegriffs siehe: Henning, Astrid: Heinrich Heine und Deutschsein in der DDR. Tectum Verlag, Marburg 2007.
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2.) Die Anrufung der Subjekte durch seriöse Sprecher und ihre Selbstregierung in Anlehnung an Althusser und Foucault. Welche kollektive Ansprache der Schülerinnen durch Lehrer und Wissenschaftler bzw. deren Texte ordnet und strukturiert die Identifikationen und die Selbstbekenntnisse der Schülerinnen zu den Symbolen des Nationalen und zur Identifikation mit einer nationalen Vorbildfigur Heine? Und mit welchen ästhetischen und politischen Diskursen wird Heine überhaupt erst als Vorbildfigur aufgebaut? 3.) Drittes Denkmuster ist die Beziehung der Subjekte zu sich selbst und zu anderen und die sich daraus ergebenden Kategorien von Normalität, Widerstand und Eigen-Sinn im Sinne der Gouvernementalitätsstudien Foucaults und seiner Schülerinnen. Welche Identität offenbart sich letztendlich in den Beziehungen der Schülerinnen, die hervorgegangen sind aus den pädagogisch angetragenen Symbolen, Vorbildern und Diskursen des Nationalen? In dieser Diskursanalyse sollte sich die individuelle und kollektive nationale Selbstverortung konkretisieren, die aus der kollektivierten Anrufung entspringt und hier in den Bezeugungen, in den Stellungnahmen der Schülerinnen ihrer Abstraktion enthoben und in den Seelen der Schülerinnen konkretisiert wird. Wenn ich als Grundthese formuliere, dass die Schülerinnen in der frühen DDR sich beim Interpretieren und Verfassen von Schulaufsätzen zu Heinrich Heine eine nationale Identität erschreiben, dann verbinde ich drei Prämissen aus der postmodernen Subjekttheorie. Basis der (nationalen) Identitätsschreibung bleibt innerhalb des Schulsystems die Ansprache aus Elternhaus und/oder staatlicher Institution Schule, wonach sich die Schülerin überhaupt mit nationalen Symbolen und Interessen zu identifizieren habe und diese Identifizierung dann mittels einer Sittlichkeit (im Sinne von »richtig leben«) auszufüllen habe. Der Schreibprozess ist dabei eine kulturelle Praxis, innerhalb derer die Schülerinnen im Hin- und Hergleiten zwischen den Diskursen ihre Selbstverortung und ihre sittliche Übertragung auf sich selbst einüben und beschriften. Von dort aus refigurieren sie permanent die Machtpraxis, welche den Identifizierungstrukturen vorausgegangen ist. Mit der Analyse von nationaler Ansprache und emotionaler Selbstverortung wäre letztendlich nicht nur die Frage geklärt, wie eine Identifizierung der eigenen Person mit nationalen Symbolen, Traditionen, Erzählungen und egalisierenden ethischen Werten zustande kommt und eine Ausrichtung der eigenen Biografie an diesen Kategorien ent-
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steht. Die Übertragung der Subjekttheorie Foucaults auf die konkreten Identitätsdiskurse, zu denen sich das Subjekt verhält und aus denen es selbst seine Identität erhält, gibt darüber hinaus auch zwangsläufig wieder Aufschluss über die Gesellschaft, in der das Subjekt lebt. Denn wenn bestimmte Gesellschaftstypen bestimmte Subjekte zur Norm erheben, die eine Reproduktion des jeweiligen Gesellschaftstypus am besten gewährleisten, so gilt das auch für die unterschiedlichen Entwicklungsstufen innerhalb eines Systems. Für die Konsolidierung der Nachkriegsstaaten in den 1950er Jahren normierten beide deutsche Staaten ein Subjekt, welches sich als der wahren deutschen Nation zugehörig fühlte, sich genötigt sah, den Feind im Nachbarstaat und in sich selbst zu erkennen um somit den Aufbau des jeweiligen Staates zu bejahen.27 Die Dekonstruktion der nationalen Subjektivität in der DDR mit den Theorien Michel Foucaults ist damit auch immer eine Antwort auf die Verfasstheit der Gesellschaft, in welcher wir heute leben. Denn zum einen sind die Erfahrungen und Begehren der DDR-Bürgerinnen Bestandteil der politischen und gesellschaftlichen Verfasstheit des Europa nach 1990 und seiner Regierung. Zum anderen ist die emotionale Bejahung nationaler Identifizierungsangebote und einer vorgestellten Deckungsgleichheit eigener mit gedachten nationalen Interessen keine, die dem Sozialismus, bzw. den sozialistischen Staaten vorbehalten ist – sondern ihre Entsprechung in der nationalen Subjektkonstruktion in den westeuropäischen Staaten fand. Eine Entsprechung, die in der national-patriotischen Verfasstheit vom »Europa der Vaterländer« (de Gaulle, Kohl bis hin zur populären Debatte um die Solidaritätszahlungen der Bundesrepublik an die Republik Griechenland28) mündet.
27 Zur subjektiven politischen Zuordnung entlang der Kategorie »das bessere Deutschland«: Koebner, Thomas: Das ›andere‹ Deutschland. Zur Nationalcharakteristik im Exil. In: Ders.: Unbehauste. Zur deutschen Literatur in der Weimarer Republik, im Exil und in der Nachkriegszeit, edition text und kritik, München 1992, S. 197 – 219. 28 http://www.taz.de/1/debatte/kommentar/artikel/1/der-fall-unserer-griechen. aktuell am 08.04.2010.
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Identität als kulturwissenschaftliches Untersuchungsfeld. Ein einführender Einblick in den Forschungsstand Die nationale Subjektkonzeption, die Bestimmung einer nationalen Identität ist sowohl für das deutschsprachige Feuilleton wie für die fiktionale Nachwendeliteratur quasi zum Leib- und Magenthema geworden29. In den sozialwissenschaftlichen und historischen Arbeiten der letzten Jahre verharrt die Auseinandersetzung um Identität allerdings entweder im Beschreiben einer neuen gesamtdeutschen Identität oder in den Differenzierungsanalysen zu jüdischer, türkischer etc. Identität in der neuen BRD. Anregungen, spezifisch ostdeutsche Identifizierung mit Symbolen und Interessen des Nationalen nicht zum Gegenstand einer »abgeschlossenen« DDR zu machen, sondern zur Untersuchungsgrundlage für das Funktionieren von Staatlichkeit und Nationalität an sich30, sind eher aus den französischen Universitäten und Forschungsinstitutionen entstanden. Aus Gründen der Sprachdifferenz, aber auch aus politischen Differenzen, sind sie bisher im bundesdeutschen Wissenschaftsdiskurs wenig wahrgenommen, geschweige denn rezipiert worden.31 Erst in allerjüngster Zeit manifestiert sich aus den methodischen und theoretischen Verbindungen der Fragestellungen der Alltagsgeschichte, der Machtkonzeptionen Michel Foucaults oder den Kulturanalysen Pierre Bourdieus ein wissenschaftlicher Diskurs,
29 Fischer, Gerhard: Schreiben nach der Wende: ein Jahrzehnt deutscher Literatur 1989 – 1999. Stauffenberg Verlag, Tübingen 20072. 30 So z.B.: Gravier, Magali: Good bye Honecker! Identité et loyauté dans les administrations est-allemandes (1990 – 1999). Sciences Po, Paris 2007. 31 Als herausragende Beispiele deutsch-französischer Zusammenarbeit bei der Analyse von (nationaler) Identität seien hier zwei Bände erwähnt, die jeweils aus interdisziplinären und inter-nationalen Tagungen zu diesem Thema entstanden: Kott, Sandrine und Droit, Emmanuel (Hrsg.): Die ostdeutsche Gesellschaft. Eine transnationale Perspektive. Ch. Links Verlag, Berlin 2006. Und: Francois, E. / Siegrist, H. / Vogel, J. (Hrsg.) Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich; 19. und 20. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995.
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der weniger die Institutionen des Staates, als die gesellschaftliche Verfasstheit und die sozialen Formationen der DDR in den Fokus nimmt.32 Die eigenständige Verortung seiner selbst, die Definition von sich selbst als in sich kohärentes Wesen ist ein bestimmendes Merkmal für die Moderne33 und die aus ihren Bedingungen entstandenen Nationalstaaten. Auf der Basis dieser kohärenten Selbstwahrnehmung werden gesellschaftliche Normen als sinnstrukturierende Momente wirksam, aus denen das Subjekt seine eigene Biografie formuliert und Brüche und Diskrepanzen glättet, die es ansonsten die Identifikation mit dieser Gemeinschaft in Frage stellen lassen müssten. Ausgehend von Identität, ausgehend von der eingeforderten und permanent praktizierten Selbstverortung als kohärentes Individuum und ausgehend von den Normen, welche die Praxis der permanenten Glättung einer individuellen Kohärenz strukturieren, erklärt sich die fortwährende De- und Restabilisierung von Staaten. Deshalb ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit einer nationalen Identität als Reproduktionsfeld einer gesellschaftlichen und sozialen Ordnung auch politisch so brisant – bietet sie doch immer ein Erklärungsangebot nicht nur für vergangene, sondern auch für gegenwärtige soziale Ordnungen. Insbesondere dann, wenn die Praxis der Subjektivierung/Identifizierung als Verhältnis zu sich, zu anderen und zu (institutionalisierten) Wissens- und Machtfeldern als Schlüssel für das Verstehen von sozialen Machtverhältnissen verstanden wird. Machtverhältnisse, die nicht in abstrakten Institutionen stattfinden, sondern
32 Schüle, Annegret / Ahbe, Thomas / Gries, Rainer (Hrsg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2006. Oder: Lindenberger, Thomas (Hrsg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 1999. 33 Als Beleg dafür: die literarischen Bearbeitungen einer gesellschaftlichen Realität, in welcher das kohärente Individuum entweder an der Außenwahrnehmung und Außenanforderung »zerbricht« oder die Außenwelt ordnet, um zu einer Kohärenz seiner selbst zu gelangen: Thomas Mann: Tod in Venedig, Werke des sozialistischen Realismus der Aufbaujahre der DDR oder auch der Sowjetunion, z.B. Nikolai Ostrowski: Wie der Stahl gehärtet wurde. Desweiteren: Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns, Bertolt Brecht: Die Gewehre der Frau Carrar, Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, Friedrich Schiller: Kabale und Liebe etc.
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in den Seelen und Körpern der Menschen selbst, die sich in einer sozialen Ordnung verorten und diese (re)produzieren. Gerade aber wegen der politischen Brisanz und der Aussagegenauigkeit über das Funktionieren von Macht ist es wichtig, die Praktiken des Alltags in den wissenschaftlichen Fokus zu heben. Denn erst im Einüben, Austarieren, im Wiedererkennen und Ablehnen offenbart sich, ob die Identitätsangebote aus den staatlichen Institutionen erfolgreich waren. Erst in den Alltagspraktiken wird es möglich, die Beschaffenheit dieser Wissens- und Machtfelder um eine nationale Identifizierung genau zu erkennen. Denn einmal normierte Identität bleibt nicht statisch sondern entfaltet sich erst durch eine permanente Praxis des Alltags, in welchem sich das Subjekt durch Adaption und Verneinung von Praktiken, mit denen es konfrontiert wird, als »sich selbst« erkennt und behauptet. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung um Identität ist in den letzten Jahren zu Recht kritisiert worden. Für die Kritikerinnen steht nicht nur der naturalisierende Blick auf die Identitätskrisen und ihre glättende Überwindung in einer normalisierenden Gesellschaft von Erikson und dessen Schülern zur Debatte.34 Oft scheint es, als ob auch die moderne Identitätsforschung35 die politischen Öffnungen, die durch das Loslassen von (heteronormativen, maskulinen oder sesshaften) Identifizierungen und Selbstverortungsnormen entstanden sind,
34 Erikson, Erik H: Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2000. Oder: Ders.: Jugend und Krise. Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1970. 35 Hierzu gehören die Analysen von Patchwork- oder Bastelidentität ebenso wie die politischen Arbeiten und Diskurse zur Diversity oder GenderMainstreaming. Sie alle konstatieren zwar eine Auflösung des autonomen und ganzheitlichen Subjektes, plädieren allerdings für seine Rezentrierung in einer Gesellschaft, welche die Vielgestalt und Brüchigkeit anerkennt. Z.B. Baumann, Zygmunt: Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen. Hamburger Edition, Hamburg 1997. Oder: Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1986. Oder: Ders. u. Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1994. Und: Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Rowohlt Verlag, Reinbek 1999.
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wieder schließen will. In ihrer Konzentration auf diese »Identitätskrisen« trägt sie sogar dazu bei, das Erfolgsmodell der vitalen und »normalen« Entwicklung der modernen nationalen Gesellschaft zu bestätigen36, wie z.B. die Wahl eines Schwarzen zum Präsidenten die Identität der nationalen Gemeinschaft wieder herstellen soll, nachdem eine Identitätskrise durch die Differenzierungspolitiken entlang der rich/poor und white/black Identitätslinien deutlich geworden war.37 Ich will jedoch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Der Blick auf die Brüche, der Abschied vom ganzheitlichen Subjekt und seiner einzigartigen Identität ist in der Zwischenzeit so selbstverständlich geworden, dass die Frage nach individueller Identität nicht mehr ohne den Blick auf gesellschaftliche Normen gestellt werden kann. Hierzu noch einmal kurz zur Erinnerung an den methodischen Ansatz der sozialwissenschaftlichen Identitätsforschung nach Erikson, die sowohl Grundlage von Identitätsforschung als auch von deren Kritik geworden ist: Indem er mit seiner (naturalisierenden) Methode38 die Bedeutung der Gesellschaft für eine Normierung, Formung und Entstehung von Identität hervorhebt, öffnet er den wissenschaftlichen Blick auf das Subjekt, welches nicht mehr als autonomes Wesen von einer feindlichen Umwelt »blockiert« wird.39 Stattdessen zeigt Erikson (ungewollt), wie sich eine Gesellschaft die Identitäten erschafft, die Individuen hervorbringt, die sie für ihre eigene Konsolidierung und Legitimation benötigt. Erikson »erfindet« die Adoleszenz als Zeitspanne, in der das Individuum in die Gesellschaft, ihre Normen und Ordnungen integriert wird.40 Die persönliche Entwicklung41 würde in der »Krise«
36 Jungwirth, Ingrid: Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften. Eine postkolonial und queer informierte Kritik an George M. Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman. Transcript Verlag, Bielefeld 2007. 37 http://www.n24.de/news/newsitem_4092970.html. aktuell am 17. No vember 2009. Oder: Ross Range, Peter: Hoffnungsträger Obama. Wir werden Tränen in den Augen haben. Spiegel vom 04.11.2008. 38 Und gerade in seiner Naturalisierung ist die Kritik an dem Identitätsmodell wichtig und fast schon unausweichlich. 39 Erikson, Erik H.: Kindheit und Gesellschaft. Ernst Klett Verlag, Stuttgart 19652, S. 277. 40 Jungwirth, Ingrid: Identitätsdiskurs (2007), S. 148. 41 Die bei ihm und dem von ihm entwickelten Forschungsfeld an eine »Natürlichkeit« gebunden wird.
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der Adoleszenz zu einem Akt der Ausbildung von Selbstwertgefühl zwischen Fremd- und Eigenwahrnehmung. Dabei verorte sich das Subjekt in einem Gefühl seiner selbst als Teil einer historischen Kontinuität.42 Es würde also gerade in der Phase seiner eigenen Identitätskrise zu einem Mitglied der Gesellschaft, indem an dieser Stelle durch Schule, Familie, Medien etc. vermittelte gesellschaftliche Verhaltensweisen zu individuell akzeptierten Verhaltensweisen würden.43 Eine solche Adaption wiederum sei in erster Linie dadurch möglich, dass die angebotenen Normen dem Individuum in der Phase des Bruchs seiner Identität und seines Selbstwertgefühls konkrete Sicherheiten gäben. Ich teile diese Einschätzung insoweit, als das Subjekt in den Dissonanzen zwischen den Normen und Praktiken der Gesellschaft seine eigene Zugehörigkeit und damit seine Selbstverortung ausbildet und dabei immer wieder auf vorstrukturierte Sicherheitsangebote der Gesellschaft zurückgreift. Diese permanente Selbstverortung bedingt aber keineswegs eine unabänderliche Rezentrierung des durch die verschiedenen diskursiven Ansprachen »zersplitterten« Subjektes. Die Selbstverständlichkeit, mit der gerade von den ostdeutschen Subjekten ein Loslassen von ihren identitätsbildenden Wahrheitsformulierungen gefordert wird, die Selbstverständlichkeit, mit der jene strukturierenden Sicherheitsangebote der DDR-Gesellschaft als zu überwinden betrachtet werden – eröffnet dem derart aufgeforderten Subjekt auch immer die Möglichkeit diese Überprüfung der Identifizierungsangebote auch auf die gegenwärtige Gesellschaftsformationen zu übertragen. Nun ist der analytische Blick auf die Wahrheitsformationen und Sicherheitsdiskurse, welche die Normen der Identitätspraxis bestimmen, keine hoffnungsvoll-politische Laudatio auf das Ende von staatlicher Normierung per se. Und schon gar keine Jubelarie auf die Befreiung eines autonomen Subjektes von jeglichen Machtverhältnissen. Vielmehr offenbart dieser Blick ebenso die Nachhaltigkeit solcher Formationen. Für diesen Aspekt der Betrachtung von Identitätsbildung bieten sich Literatur, Theater, Film und Fernsehen auf besondere Weise an. Denn in den Plots und deren ästhetischer Bearbeitung werden zwar kulturelle Deutungsmuster von sozialen Beziehungen dargestellt
42 Erikson, Erik H.: Jugend und Krise. Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1970, S. 12f. 43 Jungwirth, Ingrid: Identitätsdiskurs (2007), S. 160.
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und somit subversive Handlungsangebote im Falle von Dissonanzen zwischen Subjekt und gesellschaftlicher Norm offeriert. Doch ähnlich wie die Disziplin der Geschichte übernehmen diese Künste durch das Erzählen einer kontinuierlichen und einheitlichen Geschichte auch die Funktion einer Wissensvermittlung, wodurch sich das Subjekt in Raum und Zeit einer Kontinuität und Einheit verortet.44 »Das gelebte Leben ist viel wechselvoller und zusammenhangloser als die Geschichten, die wir darüber erzählen. [...] Im Zuge der narrativen Gestaltung einer ›Lebensperiode‹ lassen Erzählungen häufig Details aus und verdichten Teile [...], andere elaborieren und übertreiben sie (Überhöhung, Detaillierung, sharpening), wieder andere Teile machen sie kompakter und konsistenter (Rationalisierung), um eine kohärente und verständliche Erklärung zu liefern.«45
Die der Literatur eigenen ästhetischen Verfahren, ihre Tropen und Symboliken, und insbesondere die Verdichtung jener Verfahren vermitteln zwischen den Lebenswelten und den darin gemachten disparaten Erfahrungen und Bedeutungsmustern und strukturieren sogar die einheitliche und kontinuierliche Identitätserzählung – sowohl die des Individuums als auch, über einen Kanon, die einer nationalen gedachten Gemeinschaft. Literatur vermittelt, und das ist für den Bedeutungskontext dieser Arbeit wichtig, Erinnerungen und Zukunftsvorstellungen einer natio-
44 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in den frühen Hochkulturen. Beck, München 1992. Ein populäres Beispiel ist die Fernsehserie »Simpsons«, in welcher in jeder Folge subversive Handlungsangebote geliefert werden, wenn sich die Tochter/Schülerin/Schwester, die Mutter/Ehefrau, der Vater/Arbeiter etc. an den kulturell hegemonialen Identitätsofferten der Gesellschaft stoßen. Und dennoch löst jede einzelne Folge diese Dissonanzen im Rahmen des Glücks in der Familie auf. Nur in der Familie selbst ist es den Figuren möglich ihre Diskrepanz zur kulturell hegemonialen Identität auszubilden, auszuleben und zu festigen. 45 Gymnich, Marion: Individuelle Identität und Erinnerung aus der Sicht von Identitätstheorie und Gedächtnisforschung sowie als Gegenstand literarischer Inszenierung. In: Erll, Astrid / Gymnich, Marion, / Nünning, Ansgar (Hrsg.): Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Wissenschaftlicher Verlag, Trier 2003, S. 29 – 48. Hier S. 39.
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nalen Gemeinschaft. Diese vermitteln wiederum ein Kontinuitätsgefühl des eigenen Lebens über den Tod und die Geburt hinaus und stellen durch ihre kulturellen Identitätsnarrative ein Gefühl einer Einheit mit Lebenden, Toten und Noch-Nicht-Geborenen her. Ich fasse zusammen: Identität ist ein Prozess, eine Praxis des permanenten Werdens, des Entscheidens zwischen Diskursen, ein Prozess der Brüche und Rezentrierungen – der immer abhängig ist von den konkreten gesellschaftlichen und politischen Bedingungen. Auf diese Weise ist Identität »eine permanente Indifferenz zu sich selbst«. Die eigenen Werte, Normen und Referenzen müssen vor den sozialen und politischen Praktiken immer wieder austariert und überprüft werden, verlangen immer wieder neue Identifizierungen und Selbstverortungen. Dem eigenen Leben wird ein Sinn unterstellt und eine narrative Ordnung von Raum und Zeit beigegeben, entlang derer sich das Subjekt permanent prüft, übt, sich ständig bearbeitet, um schließlich – gleich einem Pilger – an das Ziel einer ganzheitlichen und »fertigen« Identität zu gelangen, die es allerdings nie erreichen wird.46 Insofern ist der Identitätsprozess der hier untersuchten Nachkriegssubjekte von der Art, das es in einem permanenten Prozess danach strebt vollkommen, richtig, gut, besser zu sein. Innerhalb dieser Struktur spielen die Wahrheitsaussagen darüber, was richtiges, gutes, vollkommenes Leben ist, eine bedeutende Rolle. Sie stehen als Aussagen nicht nebeneinander, sondern liegen miteinander in Wettstreit. Innerhalb
46 Dieser dialogische und auf ein Ziel hin zentrierte Prozess ist eine Besonderheit der Moderne. Das ist insofern der Betonung wert, da die Arbeiten, die sich auf diesen Identitätsbegriff stützen, ihn eigentlich zur Abgrenzung für ihre Definition des postmodernen Subjektes nutzen. Im Gegensatz zum (und hier folge ich Baumann) mobilen, flexiblen, skeptischen Subjekt der Postmoderne mit ausgeprägter Gegenwartsorientierung befindet sich das ideale und reale Nachkriegssubjekt in einem permanenten dialogischen Prozess um seine Identität, die sowohl seitens der erziehenden Gesellschaft als auch seitens des Subjektes selbst auf einen neuen, starken Menschen hinauslaufen soll. Im Unterschied zum postmodernen Subjekt ist ihm eine Festlegung seiner Selbst nichts, was es zu umschiffen trachtet, Differenzen und Ambivalenzen werden bekämpft, statt mit oder neben ihnen zu leben. Eickeldasch, Ralf u. Rademacher, Claudia: Identität. Transcript Verlag, Bielefeld 2004, S. 40. Baumann, Zygmunt: Flaneure (1997). Oder: Ders.: Unbehagen in der Postmoderne. Hamburger Edition, Hamburg 1999.
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dieser Konkurrenz verortet sich das Subjekt – immer wieder entscheidet es sich zwischen den konkurrierenden Aussagen über seine richtige Lebensführung. Diese Entscheidungen sind selten bewusst kognitive Akte – sie fallen im Zustand des Handelns und Fühlens. Und just hier kommt die Kultur des Nationalen ins Spiel – dieses Identitätskonstrukt, welches im Falle des Nachkriegssubjektes eine Kohärenz erwartet und eine subjektive Verortung im Entweder–Oder fordert und hervorbringt. Eine Kultur, die – zusammenfassend – Untersuchungsobjekt dieser Arbeit ist. Und so wird diese Arbeit schlussendlich durch die Historisierung des DDR-Subjektes die spezifischen Begehrensstrukturen herausarbeiten, die das Material bilden aus dem die konkrete nationale Verortung des Individuums zwischen den Diskursen des Nationalen aus Schule, Literatur, Familie und Nachkriegserfahrung erfolgt. Behandelt man diesen Prozess als einen nach wie vor gegenwärtigen, betrachtet man diese nationale Identifizierung nicht als eine, die mit dem Ende der DDR auch ihr Ende gefunden hätte – dann eröffnet diese Analyse eine politische Dimension gegenwärtigen eigenen und kollektiven nationalen Subjektivierungen zu begegnen und ihren Bezug auf gegenwärtige Machtverhältnisse zu hinterfragen.
2. Das Subjekt, die Staatlichkeit und die DDR
Ziel des kommenden Kapitels ist es, die staatlich-strukturellen Bedingungen zu erfassen, welche die spezielle nationale Identifizierung und damit die Subjektivierung der Schülerinnen im Literaturunterricht der DDR bedingen. Es handelt sich dabei um eine theoretische Einführung in die staatliche Konstruktion eines Idealsubjektes, das seine nationale Identität, die Normen seiner eigenen Lebensführung und die Beziehungen zu anderen Subjekten aus der Kategorie des Sozialen und der Arbeit mit der Gesellschaft der DDR entlehnt und an ihr ausrichtet. Mit Hilfe der subjekttheoretischen Überlegungen Michel Foucaults frage ich daher nach den Bedingungen, den Strukturen und der Ausgestaltung der Regierung der Menschen in der DDR – nach den Ursachen der Zustimmung der DDR-Bürgerinnen zu dieser Regierung ihrer Selbst. Diese Bedingungen bilden die strukturelle Grundlage, sozusagen die Grammatik, auf deren Basis sich das Subjekt (die Schülerin) zwischen disparaten Diskursen des Nationalen positioniert und damit sich selbst, seine eigene Identität im Schreiben der Aufsätze performativ erzählt. Die Übertragung der Subjekttheorien Foucaults auf die Verwaltung und Subjektivierung in den osteuropäischen Staaten scheint wohl deshalb so schwierig1, weil der Bedeutung des Staates in den Theorien 1
So wird die Anwendung Foucaults Subjekttheorien oder die Methode der Diskursanalyse auf die DDR noch immer gescheut. Eine Ausnahme bildet: Wedl, Juliette u.a. (Hrsg.): Selbstbilder – Fremdbilder – Nationenbilder. Historische und zeitgenössische Beispiele kollektiver Konstruktionen in Europa. Beiträge des Promotionskolleg Ost-West. http://www.ruhr-unibochum.de/ost-west-alumni/inhalt3.pdf. aktuell: 14.04.2010.
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Foucaults scheinbar eine untergeordnete Funktion für die Regierung der Bevölkerung als Ganzes und als Individuen eingeräumt wird. Dies ist jedoch nur ein Scheinwiderspruch – tatsächlich bildet Foucaults Abschied von einem Subjekt als Spielball der »Manipulationen« auch den Anfang für eine Subjektivierung in zentralistischen Staaten des »Ostblocks« – nicht unabhängig davon, dass seine Theorien auch vor dem Hintergrund einer Erfahrung mit dem zentralistischen Staat Frankreich entstanden sind. Denn die (nationale) Identität, die für die Reproduktion und Konstruktion von Herrschaft in der DDR unabdingbar ist, da sie den eigenen Staat mitsamt seiner Regierungsart als Abgrenzung zur BRD und aus der Tradition der deutschen Arbeiterklasse legitimiert, findet sich als Schnittpunkt zwischen den Diskursen nicht nur in den Institutionen der Macht, sondern in allen Feldern ihres Sprechens – in der Architektur des Palastes der Republik ebenso wie in den Bildern und der Liturgie um das Fußballtor Jürgen Sparwassers oder den Kinderliedern um die Schönheit der heimatlichen Landschaft oder über arbeitende Muttis2. Daher wird es nie ausreichend sein, Herrschaft und Macht zu erklären, indem man nur die repressive und ideologische Ansprache des Nationalen aus den Staatsapparaten untersucht. Selbst das Echo, also der manifest gewordene Widerstand, einer autonomen Subjektivität auf diese Ansprache (z.B. durch Republikflucht o.ä.) ist keine hinreichende Erklärung für die Verfasstheit von (staatlicher) Herrschaft und der Nachhaltigkeit des Nationalen als identitätstiftendes Konstrukt. Es ist das strukturierte Begehren selbst, die Emotionalität des Nationalen, die Faszination an der nationalen Identität, welche hinreichend sowohl Herrschaft selbst als auch deren Nachhaltigkeit erklärt. Herrschaft in modernen Staaten ist – das ist tatsächlich eine Binsenweisheit – nicht ausschließlich durch Repression möglich. Um ihrer
2
Die »typisch ostdeutsche« Koseform für Mutter »Mutti« impliziert in ihrer Unterscheidung von »Mama« die lohnarbeitende Frau mit. Diese frühkindliche Benennung einer elementaren Bezugsperson mit Lohnarbeit zu konnotieren, verdeutlicht m. E. die emotionale Anbindung an Arbeit als Lebensstruktur. Vor allem in der Beibehaltung dieser Kosebezeichnung über das Kleinkindalter hinaus und sogar entgegen der bundesdeutschen Normalbezeichnung offenbart sich die Verknüpfung einer grundlegenden und individuellen emotionalen Beziehung mit einem gesellschaftlichen identitätsstiftenden Lebensprinzip »Arbeit«.
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eigenen Effizienz willen benötigt eine dauerhafte Herrschaft die Subjekte selbst, welche durch ihre Inauguration der Vernunft dieser Herrschaft dieselbe legitimieren, einfordern und reproduzieren.3 Der Blick auf die Repressionen wird deshalb nicht bedeutungslos, verliert aber seine Vormachtstellung, will man das Funktionieren von Herrschaft tatsächlich verstehen. Neben dem Herrschaftszentrum SED fungieren und agieren nämlich auch in der DDR vielfältige Machtbereiche, welche ihrerseits die Subjekte erschaffen, indem sie diesen eine individuelle Zugehörigkeit zu Ordnungsabteilungen wie Geschlecht, Klasse und Nation unterstellen und die Erzählungen über ein richtiges Leben für das jeweilige Individuum entlang normativer Aussagen über diese Ordnungskriterien strukturieren. Über die Zuordnungen und Erzählungen ob des richtigen Lebens lernt das Subjekt eine Vernunft, die ihm die »Eigen-Regierung« – also die prästrukturierte normative Vorgabe über seinen Lebensverlauf – als klug und logisch erscheinen und sie zur Norm für sich und seine soziale Umwelt erheben lässt.4 Es übt die gesellschaftlichen Normen der Moral als eigene Sittlichkeit ein und lässt somit Repression als Herrschaftsmittel unnötig werden – das Subjekt hat die Moral der Herrschaft zur eigenen Sittlichkeit erhoben. Die Schule, als ein besonders wichtiger staatlicher Machtbereich, strukturiert auf effektive Weise diese scientia vivendi und insbesondere der Literaturunterricht dient zu ihrer Einübung. Seine Arbeitsobjekte (die literarischen Texte) verbinden ebenso wie die ästhetisierte Fachdidaktik (Vorlesen, Vortragen, Darstellen) Ansprache und Normierung nachhaltig miteinander. In der zentralistisch strukturierten Unterrichtsvermittlung der DDR geschieht dies, indem literarische Klassiker als traditionsbildende Vorbilder präsentiert werden und ihre Biografien und ihre Werke entlang der Kategorien Arbeit, Wohlstand und Frieden untersucht, bearbeitet und angeeignet werden. Diese Kategorien bleiben dabei nicht abstrakt, sondern basieren ihrerseits auf den Glücks- und Begehrensstrukturen der Schülerinnen selbst – was diese Arbeit nachweisen wird. In der (im 3. Kapitel folgenden) Analyse der Schulaufsätze und der Bekenntnisse der Schülerinnen zur kollektiven nationalen Traditions-
3
Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1994.
4
Vgl. Foucault, Michael: Wahnsinn und Gesellschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1996.
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figur Heinrich Heine werde ich überprüfen, ob die Schülerinnen durch die Gestaltung ihrer Beziehungen und vorgestellten nationalen Traditionen eine Identitäts-Normativität für sich und andere produzieren, welche eine Regierung der Subjekte nachhaltig strukturiert.
2.1 I DEOLOGIE ( RE ) PRODUKTION IM I DEOLOGISCHEN S TAATSAPPARAT Setzt man Gramcsis Paradigma vom Konsens der Beherrschten5 als Grundbedingung sozialwissenschaftlicher Analyse vom Funktionieren der Herrschaft, so ist auch der analytische Blick Louis Althussers auf die Ideologischen Staatsapparate (ISA) als (Re)Produktionsinstrumente dieses Konsenses folgerichtig. Mit der Fokussierung auf diese Ideologieproduktionsstätten untersucht Althusser das Wie ideologischer Reproduktion. Ideologie soll demnach nicht mehr als abstrakte Oberflächenkategorie begriffen werden, die sich hinter dem Rücken der Beteiligten abspiele und somit das falsche/verzerrte Bewusstsein von etwas sei. Stattdessen verbindet Althusser die marxistische Ideologiekritik mit der Subjekttheorie Lacans und definiert Ideologie dadurch als etwas, das gelebt wird und dadurch in einem Akt der »Freiwilligkeit« die Reproduktion der Ordnung vollzieht. Diesen Prozess der Adaption von Identitätsangeboten nennt Althusser »Anrufung«.6 In den osteuropäischen Ländern waren die ISA größtenteils staatlich kontrolliert und dadurch in ihren Aussagen und Diskurskontrollen einheitlicher, was für die Aussagen über die schulische Subjektivierung in der DDR große Bedeutung hat. In einer überschneidenden Zusammenarbeit der Apparate wurden die gesellschaftlichen ökonomischen Verhältnisse mit ihren impliziten Herrschaftsverhältnissen durch Normierung, Wissenstheoreme und Sanktionierung reproduziert. Und so war auch in der DDR im besten Falle Sanktionierung zum Herr-
5
Gramsci, Antonio: Gefängnishefte. Bd.1 Auf Grundlage der von Valentino Gerratana im Auftr. des Gramsci-Instituts besorgten Ed., hrsg. vom Deutschen Gramsci-Projekt unter der wiss. Leitung von Klaus Bochmann. Argument-Verlag, Hamburg 2002, S. 120.
6
Althusser, Louis: Ideologie und Ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. VSA, Hamburg 1977.
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schaftserhalt gar nicht mehr nötig, weil das Individuum selbst für die permanente Reproduktion seiner eigenen Unterdrückung sorgte.7 Wenn aber Sanktionierung auch in der DDR nicht ausreichendes Mittel war, um einen Konsens der Beherrschten mit dem Staat bzw. dessen Gesellschaft herzustellen, so muss es letztendlich die in den ISA hergestellte »Sittlichkeit« und Vernunft sein, die diesen Konsens hervorbrachte. In verhaltensstrukturierenden Ritualen in Schule, Familie oder Freizeitorganisation erfährt das Subjekt, dass es, um als solches zu agieren, sich den vorgefundenen Praktiken und Normierungen nicht entziehen kann. Darüber hinaus erkennt es dort die subjektkonzipierende Anrufung und Positionierung in den sozialen Praktiken bei anderen Subjekten wieder. Das Ich wird also erst einmal in den Praktiken, den Ritualen und den Wissenstheoremen der ISA angesprochen, es übt diese Praxis in denselben Apparaten ein, erkennt sie bei anderen Subjekten wieder und positioniert sich so in einer fortwährenden Praxis als derartig angesprochenes Subjekt. Insofern entstehen in den ISA gesellschaftliche Subjekte, welche sich selber als Subjekte im Sinne der angesprochenen Sittlichkeit und Vernunft wahrnehmen und auf die dementsprechenden Symbole und Ansprachen reagieren. Solche Ansprachen basieren auf Zuordnungen zu fest umrissenen Gruppen, denen sich das Subjekt nicht nur unterwirft, sondern die dem Subjekt die Möglichkeit geben sich selbst zu positionieren, sich als Subjekt zu erfahren, welches sich von anderen abgrenzt und dadurch ein fest umrissenes Außen- und Innenleben erhält. An der Beteiligung des Subjektes an seiner eigenen politischen (Re)Produktion, die Althusser dem Subjekt zuspricht, interessiert mich gerade die Lust, die Verbindung der Erfahrungen und diverser kultureller Praktiken, die das Individuum aus seiner Subjektivierung gewinnt. In der Praxis des Erkennens und Positionierens des Ichs in der Schule oder im Lesen des Literaturkanons würden sich dann nicht »einfach« Herrschaftspraktiken widerspiegeln – sie wären die Herrschaftspraktik selbst. Die Zustimmung ein nationales, geschlechtliches oder klassenspezifisches Subjekt zu sein, ist dann nicht mehr die Voraussetzung für die Effizienz von Herrschaft – sich als (nationales) Sub-
7
So fordern Arbeiterinnen selbst den Erhalt und Ausbau von Arbeitsplätzen, auch wenn die konkrete Arbeit mühsam ist, fordern Schüler und Studenten ihre (Aus)Bildung ein, die sie zu Bürgerinnen des jeweiligen Staates erziehen soll etc.
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jekt zu erkennen, ist vielmehr Herrschaft selbst. Foucault nennt diese Herrschaft des Privaten »Regieren«.8 Das Subjekt sei bei dieser Form der Herrschaftsausübung keine Oberfläche, auf der sich Ideologien abzeichneten, sondern es werde selbst zum Bindeglied zwischen den Machtbeziehungen und Herrschaftsverhältnissen, da die Herrschaftstechnologien nicht über das Subjekt hinweg sondern mittels desselben funktionieren. Macht und Herrschaft könnten somit nicht länger im Abstrakten erfahren werden, also in Institutionen oder Souveränitäten, sondern benötigten das Konkrete: den Menschen, der Objekt, Träger, Vermittler, Subjekt von Herrschaft und ihren Machtbeziehungen sei. Dieses »Regieren« findet demnach auch dann statt, wenn die Schülerinnen, deren Aufsätze hier untersucht werden, sich selbst bei der Rezeption der Heinetexte national verorten, sich beziehen und identifizieren mit den Sittlichkeits- und Vernunftangeboten nationaler Anrufung im ISA Schule. Denn gerade das beredte und freiwillig abgegebene9 Zeugnis von sich selbst und seiner eigenen nationalen Verortung offenbart, dass Herrschaftssicherung nicht allein in den Institutionen des Staates stattfindet, sondern konkret im Menschen selbst. Die Herstellung eines Konsenses der Beherrschten mit der staatlichen Sittlichkeit und Vernunft kann insbesondere in der Schule, dort wo sie auf konkrete Subjekte mit einem Willen zur eigenen Identität trifft, nicht durch eine repressive Machtausübung gesichert werden.10 Zumal man mit dem wissenschaftlichen Fokus (der auch immer ein politischer ist), fälschlicherweise davon ausgeht, dass jede Form der Ideologisierung und Regierung in den ISA der DDR nur stattfand, um
8
Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität. Bd. 1 u. 2. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2006. Darin insbesondere: Vorlesung vom 1. Februar 1978, Bd.1, S. 134 – 172.
9
Freiwillig ist in diesem Fall zwar nicht das Schreiben des Aufsatzes selbst, genauso wenig, wie der Besuch der Schule freiwillig ist. Dennoch sind die dort nachlesbaren Aussagen: »So bin ich, das und das denke ich und das behaupte ich« freiwilliger Art.
10 Etienne, Francois: Die DDR-Gesellschaft aus europäischer Perspektive. Vorwort. In: Kott, Sandrine u. Droit, Emmanuel (Hrsg.): Die ostdeutsche Gesellschaft. Eine transnationale Perspektive. Ch. Links Verlag, Berlin 2006, S. 10 – 12.
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Menschen zu unterdrücken11 und nicht, um den »neuen Menschen« zu konstruieren.12 Schließlich traf die staatliche Regierung, trafen die Ideologien vom besseren Menschen, trafen die Erziehungsmaßnahmen, die Repressionen und die Glücksversprechungen und/oder Belohnungen nicht nur eine diffuse beherrschte Bevölkerung, sondern mit den Angehörigen der SED auch die herrschenden Elite13. Des Weiteren trägt die Konzentration auf eine asymmetrische Herrschaft von der Staatsinstitution (Schule, SED etc.) zum Subjekt immer eine besondere Gefahr der posthumen Geschichtsschreibung in sich. Dabei wird doch das Gelingen oder Misslingen staatlicher Ideologisierung, wird doch der Erfolg oder Misserfolg einer nationalen Identifizierung mit den staatlichen Institutionen, seinen Kollektiverzählungen und insbesondere mit der vorgestellten und egalisierten Bevölkerung erst ersichtlich im Fortbestand nach der der Auflösung der staatlichen institutionalisierten Ansprache – im konkreten Fall also mit der Auflösung des Staates DDR. Nicht nur in der feuilletonistischen, in den privaten oder den politischen Auseinandersetzungen der letzten 20 Jahre ist deutlich geworden, dass die nationale Identifizierung der DDR-Staatsbürger nach dem »Ende« der DDR gerade erst entstanden ist.14 Die DDR-spezifischen nationalen Identitätskategorien Ar-
11 Sigrid Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945 – 1989. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1992. 12 Schließlich ist keine moderne Staatlichkeit darauf aufgebaut die Bevölkerung, welche sie konstruiert und verwaltet, zu unterdrücken, sondern staatliche Regierung entsteht und legitimiert sich immer daraus, das Wohl der konkreten Bevölkerung zu mehren, um dadurch die Bedeutung und den Reichtum des Staates zu erhöhen. Oder wie Foucault sagt: um Leben zu machen und sterben zu lassen. In: Foucault, Michel: Vorlesung vom 17. März 1976. In: Ders.: In Verteidigung der Gesellschaft Vorlesungen am Collège de France. (1975 – 1976). Suhrkamp, Frankfurt/Main 1999, S. 276 – 305. 13 Christian, Michel: Ausschließen und disziplinieren. Kontrollpraxis in den kommunistischen Parteien der DDR und der Tschechoslowakei. In: Kott, Sandrine u. Droit, Emmanuel (Hrsg.): Die ostdeutsche Gesellschaft. Eine transnationale Perspektive. Ch. Links Verlag, Berlin 2006, S. 53 – 70. 14 Rutschky, Michael: Wie erst jetzt die DDR entsteht. In: Merkur 9-10/1995, S. 851 – 861.
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beit/Wohlstand15 werden auf den neuen Staat und seine Regierung übertragen und verändern und konstruieren somit ihrerseits eine kollektive Identität eines gesamtdeutschen Idealsubjektes.16 Dennoch kann bei der Analyse staatlicher Herrschaft nicht auf die Betrachtung staatlicher Apparate verzichtet werden. Althussers Blick auf dieselben ermöglichte eine grundlegende Orientierung auf den Ideologisierungsgehalt von Schule, Familie etc. und deren Funktion für eine nachhaltige Identitätsbildung. Für die Erforschung von Wissen-Macht-Regimen muss also die Wechselseitigkeit zwischen Regierungstechniken der Apparate über das Subjekt und durch das Subjekt das Interesse der Wissenschaftlerin bestimmen. Literatur und Kunst haben in dieser Wechselseitigkeit eine Scharnierfunktion, da das Wissen um sich selbst in den ästhetischen Emotionen/Erfahrungen und durch die institutionalisierte kanonische Traditionsbildung seine nachhaltige Referenz hat.17 Dieses Wissen um sich selbst ist aber letztendlich nichts anderes als die Positionierung und das Wiedererkennen seiner Selbst in der Anrufung und in den sozialen Praktiken innerhalb der ritualisierten und tradierten Praxis nach Althusser. Ich verbinde also die Untersuchung der nationalen Anrufung in der Schule als einem Ideologischen Staatsapparat, in welchem die Herrschaftssicherung und - konsolidierung der DDR stattfand, mit den Analysen der Selbstregierung der national angerufenen Subjekte. Literatur und ihre Rezeption werden dabei zum beweglichen Bindeglied,
15 Kategorien, die nicht nur in der DDR Bedingung für die nationalstaatliche Identifizierung sind, aber die sich in ihrer Konnotation und Konklusion von anderen Staaten unterscheiden, in denen z.B. das Recht auf Lohnarbeit nicht verfassungsrechtlich verankert ist und daher nicht vom Staat alleine eingefordert werden kann. Näheres: Kapitel 4.2. 16 Henning, Astrid u. Sonnicksen, Michael: »Wir hatten auch ein 1968 – populäre Geschichtsdiskurse als Behauptung nationaler Zugehörigkeiten«. In: Aydin, Yasar u.a.: Pop Kultur Diskurs. Zum Verhältnis von Gesellschaft, Kulturindustrie und Wissenschaft. Ventil Verlag, Mainz 2010 (in Erscheinung). 17 Henning, Astrid: Die Fotografie einer Fabrik sagt noch nichts über das Wesen einer Fabrik aus. Ein Beitrag zu Erkenntnis, Literatur und Subjektivität. In: Devi Dumbadze u.a. (Hrsg.): Erkenntnis und Kritik. Zeitgenössische Positionen. Transcript, Bielefeld 2009, S. 321 – 334.
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in dem Anrufung und die Identifizierung und Entscheidung zwischen den Anrufungen der Leserin eine (nationale) Identität produzieren und durch ihre emotionale Strukturierung zu einem nachhaltigen und schicksalhaften Identitätsprozess werden.
2.2 D AS S UBJEKT
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In den Wahrheitsformulierungen und Wissenspraktiken der ISA, die das Handeln der Bevölkerung strukturieren, erfolge – so Foucault – in den modernen Staaten eine Führung der Menschen, nicht um des Führens willen, sondern um den Reichtum, den Wohlstand der Bevölkerung zu mehren, indem man die Beziehungen des Lebens (Fortpflanzung, Medizin, Verlagerung von Krieg außerhalb des Territoriums) als solche erkenne, regele und reglementiere. Dabei werde ihnen nicht gesagt, was sie tun sollen, sondern gezeigt, wie ihr Begehren, ihre Lüste, ihre Anstrengungen zu sich selbst und in den Beziehungen zu anderen in der freiwilligen Akzeptanz ihrer Regierung aufgehen. »Führung ist zugleich die Tätigkeit des ›Anführens‹ anderer (vermöge mehr oder weniger strikter Zwangsmaßnahmen) und die Weise des Sich-Verhaltens in einem mehr oder weniger offenen Feld von Möglichkeiten. Machtausübung besteht im ›Führen der Führungen‹ und in der Schaffung von Wahrscheinlichkeiten.«18
Macht und Herrschaft über jemanden sei demnach Führung der Subjekte und damit gleichzeitig die Konstitutionsbedingung des modernen Staates. Der moderne Staat behält sich mittels der Gerichtsbarkeit, des Polizeisystems, der Lenkung und Steuerung von Forschung und Lehre etc. die Sorge, den Schutz und die Lebensführung der Gesamtbevölkerung und ihrer Individuen vor.19 Von der Zeugung bis zum Tod unter-
18 Lemke, Thomas / Krasmann, Susanne / Bröckling, Ulrich: Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Suhrkamp Taschenbuchverlag, Frankfurt/Main 2000, S. 28. 19 Lemcke Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität. Argument Verlag, Hamburg 1997, S. 152.
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liegen alle Bereiche der Lebensführung nicht nur dem Schutz des Staates, sondern auch seiner verrechtlichten Definition. Indem das Subjekt sich nicht außerhalb dieser Lebensführung bewegen kann und will, akzeptiert es Sorge, Kontrolle und Verrechtlichung.20 Die Praxis der Staatlichkeit werde – so Foucault weiter – zum Begehren des freien Subjektes, seine Identität mit der Staatsräson identisch zu machen – und umgekehrt. Staatliche Sorge und staatliches Recht konstruieren also Identität und verknüpfen dieselbe unauflöslich mit dem Staat selbst. Allerdings führt diese Vereinheitlichung, dieses Identisch-Werden des Subjektes mit der Staatsräson, nicht nur zu einer permanenten Kontrolle seiner Selbst (»bin ich eine gute Staatsbürgerin?«), sondern auch zur Kontrolle derjenigen, die das Subjekt kontrollieren. Indem die Logiken des Staates von Sorge und Recht zum subjektiven Begehren geworden sind, wird auch die Regierung selbst mit ihren eigenen Normen und Wahrheitsformulierungen konfrontiert und provoziert somit auch Kämpfe gegen sie. Subjektivität bedeutet daher neben der »Unterwerfung« unter die staatlichen Regierungspraktiken der Sorge und des Rechts auch immer Handlungsreferenzen in den angebotenen Handlungsfeldern bzw. deren Bruchstellen und Öffnungen zu finden und zu nutzen. Zumal die Praktiken des Wissens und der kulturellen Erfahrung ja auch widersprüchlich sein können und das Subjekt sich zwischen ihnen entscheiden, sie verbinden oder sie verwerfen muss. Ein reziprokes Verhältnis zwischen Staat und Bevölkerung also auch im Falle der DDR? In einem Staat, der als Paradebeispiel geführt wird für die monolithische Herrschaft einer politischen Klasse, die in einem asymmetrischen Machtverhältnis den Alltag der Menschen ohne deren Zustimmung repressiv konstruiert und kontrolliert habe? Wenn die DDR nicht länger als abgeschlossenes und eindimensionales Forschungsobjekt, sondern stattdessen als Forschungsfeld mit unterschiedlichen und differenten Bereichen betrachtet wird, dann lassen sich aus den reziproken Regierungspraktiken, die in den Institutionen der modernen Staaten die Identität der Bevölkerung nachhaltig strukturieren, Reproduktionstechniken von Herrschaft erkennen. Auch die nationale Identifizierung im reziproken Schüler-Lehrer-Verhältnis würde entnationalisiert, also losgelöst von der Vorstellung einer Manipulati-
20 Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität Bd.1. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2006.
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on, die ausschließlich in Diktaturen oder als Diktatur bezeichneten Staaten stattgefunden habe. Stattdessen fänden sich in der Präfiguration und Konfiguration einer Bevölkerung der DDR Antworten auf die Lustprinzipien an Herrschaft im modernen Staat an sich. Außerdem ist gerade die Logik des Versorgens als Voraussetzung für ein identisches Interesse zwischen Subjekt und dem Staat mit dessen Institutionen eine besondere Logik der Staatlichkeit in den sozialistischen Staaten.21 Ich begreife daher den Staat DDR und seinen Ideologischen Staatsapparat Schule im Sinne Foucaults als einen beweglichen Effekt von Praktiken des Regierens (gouverner) und Denkens (mentalité). Der Staat DDR ist somit eine »dynamische Form und historische Fixierung von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen«22, in denen Machtbeziehungen und Herrschaftsverhältnisse besonders außerhalb von Repression zum Ausdruck kommen. »Der Grund dafür, dass Macht herrscht, dass man sie akzeptiert, liegt ganz einfach darin, dass sie nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge reproduziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muss sie als produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht.«23
»Der« Staat ist also keine vorgelagerte Institution, die in einer asymmetrischen Herrschaft das Handeln und Denken der Subjekte strukturiert, die er zu seinem Erhalt benötigt. Vielmehr wird unter dieser Betrachtung der Staat selbst zu einem polymorphen Gebilde, das nicht starr ist sondern in seiner Beweglichkeit von den Subjekten auch verändert wird.
21 Davon zeugen nur beispielsweise die politischen Strategien und Taktiken über die Versorgungslage der Bevölkerung, die bis in das kleinste Detail hinein Thema und Arbeit des ZK der SED waren. (Konsumgüterdebatte, Wohnungsbauprogramm etc.) 22 Lemke, Thomas/Krasmann, Susanne/Bröckling, Ulrich: Gouvernementalität (2000), S. 27. 23 Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Merve Verlag, Berlin 1978, S. 35.
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Die staatliche Führung eines Arbeitersubjektes und seines Begehren nach einer sozialer Heimat Das vorgestellte identische Interesse zwischen Subjekt und Staat stellt sich in der DDR auf besondere Weise durch die Praxis der Arbeit und der sozialen Kämpfe um sie und ihrer Bedeutungen für das individuelle und gesellschaftliche Leben dar. Die staatlichen Praktiken und Institutionen, ihre Geschichte und Wissensformationen hangeln sich entlang einer staatlichen Garantie des Rechts auf Arbeit und der Umsorgung der Arbeitenden durch Sozialpolitik – mit dem gleichzeitigen Ausschluss der Nichtarbeitenden von eben diesen Rechten und dieser Sorge. Es entsteht eine gesicherte, eingeforderte und begehrte Heimat im Sozialen, ein Begehren nach Lohnarbeit und eine Identität als Arbeitende, die mit der Staatsräson zu einer Einheit verschmelzen soll. In der Konsolidierungsphase der DDR wird den Vor- und Kriegserfahrungen der meisten Arbeiterinnen von Armut oder ihrer Androhung durch mögliche Arbeitslosigkeit eine soziale Sicherheit entgegengesetzt. Dieses Angebot entspringt dabei den tatsächlichen Erfahrungen der meisten Politiker, die selbst in den sozialen Kämpfen gegen Armut eine Identifikation mit den politischen Zielen der KPD oder SPD gefunden hatten. Und es entspricht auch den tatsächlichen Bedürfnissen jener Bevölkerungsanteile, welche die Armutserfahrungen vor und während des Krieges geteilt haben. Dem staatlichen Angebot einer Heimat im Sozialen ist daher ein verbreitetes Begehren vorgelagert, vom sozialen Staat versorgt zu werden. Unter der Vorbedingung dieses Begehrens nach einem sozialen Staat stimmt das Subjekt den staatlichen Garantien von sozialer Sorge und Verrechtlichung der Kultur der Arbeit, stimmt es seinem IdentitischSein mit anderen Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft im »Arbeiterstaat«24 zu. Gleichzeitig leitet es damit im konkreten Fall der DDR
24 Ich meine mit dieser Formulierung nicht, dass es sich im Falle der DDR tatsächlich um einen Staat handelt, in dem die Arbeiter die Herrschaft inne hatten. Unabhängig ob eines solchen faktischen Gehaltes geht es mir – in Anlehnung an Wolfgang Engler – um eine hegemoniale Kultur der Arbeit, die zur conditio sine qua non der Herrschaftspraxen, der Staatlichkeit und der privaten Beziehungen zu sich und zu anderen wurde.
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eine Stilllegung politischer Kämpfe25 innerhalb der Gesellschaft ein, um zugleich staatliche Institutionen und die Staatsräson anzurufen, die ihm diese Identität in der Gemeinschaft mit der interessensidentischen Wirgruppe sichern sollen. Dadurch wird der Staat zu einem Interessenswahrer aller Staatsbürger, seine zugesicherten Rechte und seine Staatlichkeit betrifft alle Zugehörigen der Bevölkerung. »Und wenn wir gegen die Gesellschaft die Befriedigung sozialer Rechte einklagen können, dann kann diese uns umgekehrt Verhaltensweisen vorschreiben, die sie sozial für richtig hält.«26 Innerhalb dieser reziproken Regierungspraxis des Sozialen wird das Subjekt auch nicht mehr gemäß seinen individuellen Eigenschaften bewertet und angesprochen, sondern an seiner Stellung zur Gesellschaft selbst. »Unzureichend sozialisierte Individuen sind nicht nur unzuverlässige und unberechenbare Einzelne, sondern letztlich auch gefährlich für den Bestand der Gesellschaft.«27 Diese Strukturierung des sozialen Verhaltens (und damit auch der Identifizierungsakte seitens des Subjekts) formuliert Foucault entlang einer Technik der Macht des Rassismus, deren biologische Determinierung erst eine fortgeschrittene Begriffsverengung bezüglich zweier antagonistischer und reziprok abhängiger Gruppen darstelle. Anfang des 19. Jahrhunderts, so Foucault, ersetzte die Thematik der ökonomisch-sozialen Klassen immer mehr die politische Rede von den biologisch-sozialen Klassen. In der Gesellschaft müsse eine Rasse/Klasse sich als Einzige und Wahre gerieren, Macht ausüben und die Norm vertreten gegen die, »die von dieser Norm abweichen und das biologische (und soziale – A.H.) Erbe gefährden.«28
25 Die Stilllegung der politischen Kämpfe zugunsten einer vorgestellten nationalen Einheit hat die SED nicht erfunden. Sie ist vielmehr Merkmal aller modernen Staaten, spielt für die gesellschaftlichen und privaten Beziehungen in der DDR aber selbst nach 1990 noch eine entscheidende Rolle. 26 Ewald, Francois: Der Vorsorgestaat. Übersetzt von Wolfram Bayer und Hermann Kocyba. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993, S. 123ff. 27 Pasquino, Pasquale, nach: Lemcke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Argumentverlag, Berlin/Hamburg 1997, S. 224. 28 Foucault, Michel: Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte. Mitschrift der Vorlesungen vom 21. Und 28. Januar 1976 am College de France. Merve Verlag, Berlin/West 1986, S. 26.
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Die Führung der staatsbürgerlichen29 Subjekte in der DDR erfolgte in besondere Weise entlang dieser rassistischen Trennung in der Terminologie Foucaults – die Volksfeinde, welche sich mit den Attributen kapitalistisch = nicht arbeitend, faschistisch und imperialistisch verknüpfen, lebten einerseits außerhalb des Territoriums als permanente Bedrohung, sie lebten aber auch innerhalb der Gesellschaft – vielmehr noch, sie konnten sogar Stückwerk eines einzigen sozial »richtigen« Bürgers sein, der sich unbewusst Begehrensstrukturen, Lebensentwürfen oder politischen Beigaben bedient hatte, die eine Entsprechung in den westeuropäischen Ländern hatten. Für diese sittliche Lebensführung benötigte das Subjekt einen Staat bzw. staatliche Institutionen, welche die Feinde der Bevölkerung versprach »draußen« zu halten – besser: welche er zu vernichten versprach, damit die eigene Bevölkerung erstarke und somit besser lebe. Auf diese Weise legitimierte das Subjekt nicht nur Kontrolle und Bestrafung, die der Staat über die Bevölkerung als Ganzes und im Einzelnen ausübte, sondern es verlangte auch danach. Die Gesellschaft DDR produzierte also jene Subjekte, die sie einerseits benötigte, um effiziente Machtbeziehungen jenseits von Repressionen und Gewalt ausüben zu können und derer sie andererseits bedurfte, um auf den Schutz und die Sicherheit vor jenen subjektiven Bedrohungen zu verweisen, die sie selbst erschaffen hat. Die Rahmenerzählung dieser Legitimation und Herrschaftstechnik bildete im Falle der DDR die Integration der Bevölkerung in den teleologischen und evolutionären Sieg der Arbeiterklasse mit einer gleichzeitigen Zuordnung der Feinde der Bevölkerung als Feinde eben dieser Arbeiterklasse. »Der Staat, der in der Gegenhistorie der Rassen notwendigerweise ungerecht und das Instrument einer Rasse (/Klasse – A.H.) gegen die andere war, wird
29 Hier ist es besonders wichtig zu beachten, dass die Staatszugehörigkeit zur DDR nicht an die Blut und Boden Bevölkerungspolitik der BRD angelehnt ist, sondern sich die BRD hier als Ausnahme unter den europäischen Staaten zeigt. Die Zugehörigkeit zum Staat DDR ist eine »permanent freiwillige«, an das Staatengebilde und nicht an das Territorium gebundene. Mit der Ablehnung des Staates und der Gesellschaft, mit dem Verlassen desselben ging der »Verlust« der Staatsbürgerschaft ebenso einher, wie der Erhalt derselben bei einem freiwilligen Zuzug aus dem Ausland.
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nun zum Schützer der Integrität, Überlegenheit und Reinheit der Rasse (/Klasse – A.H.). Die monistische, staatliche und biologische Idee der Reinheit der Rasse (/Klasse – A.H.) löst die Idee des Kampfes der Rassen (/Klassen – A.H.) ab.«30
Der Rassismus entlang der Kategorie Arbeit und Nichtarbeit wurde in der DDR zur beherrschenden Strategie – nicht nur um einen Konsens der Subjekte mit dem Staat herzustellen, sondern sogar um die Subjektivität des Einzelnen mit der Staatsräson zu vereinigen. Dieser Rassismus der Arbeit erfordert und konstruiert eine Subjektbildende Norm, die ohne eine spezifische Erzählung zur Identifizierung mit dieser Norm nicht auskommt. Die Sittlichkeit der Arbeit – eine normierte Führung des Lebens durch die Ideologischen Staatsapparate Der Wille regiert zu werden kann zwar entlang bestimmter Kategorien des Sozialen, des Rechts und der Gleichbehandlung in und durch staatliche Institutionen angesprochen werden. Letztendlich »entsteht« er aber im Subjekt selbst. Die Bejahung, dass der Staat alle Bereiche der sozialen Beziehungen, der Beziehungen der Menschen zu sozialen Gegenständen, wie Armut, Reichtum, Tod, Krankheit oder Leben regelt, setzt ein vorgestelltes identisches Interesse zwischen dem Souverän und dem Untertan voraus.31 Im Falle der DDR hangelte sich diese Praxis der Interessensidentität besonders an der Praxis Arbeit entlang, und das nicht nur im Sinne eines Interesse des Staates nach Arbeitskräften auf der einen Seite und eines Interesses nach Einkommen auf Seiten der Arbeitenden, sondern tatsächlich im Sinne eines gemeinsamen Interesses an einer Schönheit und Lust am Arbeiten und am Arbeitsplatz, eines Interesses an Arbeit als sittlicher Lebensführung.32 Dieses identische Interesse wurde in der Beschränkung der nichtarbeitenden Anderen und der dadurch beding-
30 Foucault, Michel: Vom Licht des Krieges (1986), S. 50. 31 Rodriguez, Encarnación Gutiérrez: Gouvernementalität und die Ethnisierung des Sozialen. In: Dies. u. Marianne Pieper (Hrsg.): Gouvernementalität. Ein sozialwissenschaftliches Konzept in Anschluss an Foucault. Campus Verlag Frankfurt/Main u. New York 2003, S. 161 – 178. Hier S. 163. 32 Engler, Wolfgang: Die Ostdeutschen als Avantgarde (2004).
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ten Wahrung der Rechte des Staatsbürgers konkretisiert. Rechte eines Staatsbürgers, den die staatlichen Institutionen erst einmal erschufen – innerhalb einer vorgestellten Gemeinschaft der Arbeitenden, deren Individuen in moralischen, juridischen und kulturellen Praktiken eine Gemeinsamkeit wähnten und fanden. Um dieses vorgestellte identische Interesse zwischen Subjekt und Staat zu sichern, brauchte es also nicht nur eine Arbeits- und Sozialpolitik, welche das Versprechen auf Wahrung der Rechte einhielt, und eine Polizeipolitik, welche die Beschränkung des Anderen sicherte, sondern auch eine fortwährende Strategie der Sittlichkeit – eine Erzählung und Normierung, angefüllt mit Wissenstheoremen, Zuordnungen und Abgrenzungen, welche das Interesse des Staates zum Interesse des Subjektes machten und somit im Zirkelschluss die Verfassung von Staat und Gesellschaft konstruierten. Normierung Foucaults Konzept der Bio-Macht33 beschreibt hervorragend Staatlichkeit als doppelte Regierungsstrategie der DDR von Führung und Begehrensstrukturierung. Normierung und ein staatlicher Rassismus strukturierten den Sinn des individuellen und kollektiven Lebens, instruierten die Prozesse der Natalität einer Bevölkerung und führten so zu einer Regierung, in welcher nicht nur der Körper, sondern das ganze Leben Zielscheibe war. Dort, wo die Prozesse und Wissensaussagen um Norm und Rassismus nationaler Art34 waren, verbanden sie das Leben und seine Sinnstruktur mit den Institutionen und der Räson des Staates. Die besondere Bedeutung der Repressionstechniken bei der Führung der Bevölkerung in der DDR bedingt jedoch, dass neben den Strategien der Bio-Macht auch die Etablierung einer Tugend des Gehorsams um des Gehorsams Willen berücksichtigt werden muss – eine Tugend, die Foucault in der Disziplinarmacht35 ausmacht. Unter der 33 Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität Band 1 – 2 (2006). 34 Im Kapitel 4.2.1 stelle ich diese nationalen Prozesse für die DDR dar. 35 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen (1994). Der Widerspruch Disziplinarmacht und Biomacht als Analysegerüst für Herrschaft und Macht in der DDR zusammenzuziehen ist nur scheinbar. Denn auch Foucault siedelt jene Biomacht, welche das Leben strukturiert, nicht jenseits von Disziplinartechniken an. Er stellt lediglich fest, dass die Disziplinen den
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Voraussetzung, dass nur der Staat und seine institutionalisierten Vertreter das Wissen bereit hielten, wie die Wahrung der staatsbürgerlichen Rechte unter gleichzeitigem Ausschluss der Nicht-Staatsbürger von diesen Rechten funktioniere, erhielt der eingeforderte Gehorsam den »Stellenwert einer Fundamentaltugend, die die Voraussetzung für den Erwerb aller anderen Tugenden (schuf)«36. Die staatlichen Institutionen der DDR formulierten ihre Rationalität aus dem Gehorsam gegenüber ihren Institutionen als »überparteilicher« Ordnung und aus dem Glück und Wohlstand der Individuen und dem Sicherheitsversprechen für alle Bürgerinnen.37 Denn schließlich galten sowohl Sozial-, Arbeits- und Repressionspolitiken für alle Bürgerinnen und nicht nur für Mitglieder der SED. Insofern ist der Volkskörper, ebenso wie der individuelle Körper der DDR-Bürgerin weniger Zielscheibe einer Disziplinierung, als der Normierung. So hatten die staatlichen Organe und die vielfältigen asymmetrischen Machtbeziehungen zwar immer noch das Ziel einer Kontrolle. Aber für die »Erziehung zum sozialistischen Menschen«38 mittels einer Bildungs-, Kultur-, Arbeits- und Familienpolitik bedurfte es einer Ordnung des »Zusammenleben(s) der Menschen in einem Raum, ihre(r) Eigentums-, Produktions- und Tauschbeziehungen, etc. (kurzum eine Ordnung) de(s) Mensch(en) als arbeitendes und wirtschaftendes Wesen, als Lebewesen.«39
Die paternalistischen Sozialstaatspolitiken der DDR waren somit nicht den Begehrensstrukturen über eine Regelung der Körper und Seelen vorgelagert, sondern ihr Resultat. Aber da die Regierenden, um gezielt den Begehren nach Wohlstand und Sicherheit nachkommen zu können, ein statistisches Wissen über die Lebensformen und -zusammensetzungen der Bevölkerung brauchten, schufen sie auch gleichzeitig Normen von Subjekten, die sie vermeintlich »nur« unter-
Körper des Menschen treffen und die Normen, der Rassismus das Leben an sich, die Struktur, den Ablauf und das Sein betreffen. 36 Lemcke, Kritik der politischen Vernunft (1997), S. 155. 37 Ebda, S. 165. 38 Ulbricht, Walter: Referat und 10 Gebote auf dem 5. Parteitag der SED, 1958. http://www.ddr-Wissen.de/wiki/ddr.pl?Zehn_Gebote_der_sozialisti schen_Moral_und_Ethik. aktuell am 08.03. 2010. 39 Lemcke, Kritik der politischen Vernunft (1997), S. 166.
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suchten. Diese Untersuchungen und Unterteilungen standen dabei immer unter der Prämisse der Lohnarbeit und des Lohnarbeiters.40 Im Unterteilen und Zuordnen, im statistischen Wissen um alle Bereiche des Lebens strukturierten die Sozialpolitiken eine Norm des Lebens und Zusammenlebens, die wiederum das lohnarbeiterliche Leben zu einem Werk machte, ihm einem Sinn gab, den das Subjekt zum »pilgerartigen« Ziel seiner Biografie erhob. Zur Norm wurde, so skizziert es Francois Ewald41, ein Idealmensch, dem kein Individuum entsprach, der aber Gesundheits-, Sexualitäts-, Kultur- und Arbeitsordnungen erfüllte und dadurch seinerseits zur gedachten Referenz aller Menschen in der Gesellschaft wurde. Dabei kommt es nicht darauf an, dass alle Individuen vor dieser Referenzstruktur gleichartig ihr Leben strukturierten und bewerkstelligten. Stattdessen benötigt gerade die Norm eine Vielstimmigkeit, welche der individuellen Abstraktion eine Objektivierung ermöglicht. Diese Normierung ist somit immer mehr Erzählung als konkrete Straf- oder Lobespraxis. Sie ist die Erzählung von der optimalen Zurichtung des eigenen Körpers und der Seele, um die prästaatlichen Begehren in einer staatlichen Politik zu erfüllen. Erzählung Als eine solche effektive Normierungsnarration erwies und erweist sich die staatliche Gründungserzählung in den Staatsapparaten der DDR um nationale Ursprungsmythen und um lebensstrukturierende Kulturen der Arbeit, des Sozialen und des Antifaschismus mitsamt ihren Kollektivbiografien, gepaart mit den Sozial- und Arbeitspolitiken. Aus den spezifischen Kriegs- und Nachkriegserfahrungen ergaben sich 40 Z.B.: Bilanz unserer Erfolge. 20 Jahre DDR in Zahlen und Fakten. Hrsg. von der staatlichen Zentralverwaltung für Statistik. Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1969. Gesammelte Statistiken: Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik. Hrsg. von der staatlichen Zentralverwaltung für Statistik. VEB Deutscher Zentralverlag, Berlin 1955 – 1990. Als Beispiel für die statistische Erfassung von gesellschaftlichen Teilgruppen und ihrer gesellschaftlichen Integration unter dem Aspekt der Erwerbstätigkeit: Die Frau in der DDR. Fakten und Zahlen. Hrsg. von der staatlichen Zentralverwaltung für Statistik. Staatsverlag der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1975. 41 Ewald, Francois: Der Vorsorgestaat (1993), S. 203f.
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Wünsche, Vorstellungen und Begehren, die das eigene Sein im sozialen Raum betrafen. Diese Kategorien der Arbeit, des Friedens und des ökonomischen Auskommens versprach der Staat DDR mitsamt seiner Sozial- und Arbeitspolitik nicht nur zu erfüllen – er konstruierte dafür eine Norm des Lebens, eine Praxis und Arbeit an sich, die (so das Versprechen) die Erfüllung prästaatlicher Begehren erwirken sollte. Und hierfür war wiederum die Arbeit an sich zwar notwendige Bedingung, aber nicht ausreichend. Als Begehrenskonstrukt um das eigene Leben im Sinne einer Erfüllung und einer Abwesenheit von Armut und sozialer Isolation, erforderte diese kollektive kulturelle Praxis einen Gehorsam gegenüber den staatlichen Institutionen, welche die Arbeit zusicherten. Das galt auch für die Institutionen, die nicht nur die Vernichtung von Arbeitslosigkeit sondern auch die Vernichtung des Nichtarbeitenden durch Inhaftierung, polizeilicher und gesellschaftlicher Gängelung, oder aber militärischer Präsenz (vor dem Klassenfeind außerhalb der Grenzen) versprachen. Die Regierung des Lebens entlang der kulturellen Praxis von Arbeit wurde so zu Macht über das Leben des Subjektes – auch im doppelten Sinne des Wortes als Macht das Leben zu machen. Und dabei zu einer kapillaren Herrschaftsform, die das Leben im Staat und den Staat für das Leben der Bürgerinnen so sehr miteinander verband, dass persönliches und kollektives Glück, Hoffnungen und Wünsche nur noch über den Staat42 realisierbar erscheinen. Vermittels einer solchen kapillaren Herrschaft ist also eine Identifizierung des Subjekts mit dem Staat entstanden. Indem aber das Subjekt sein Lebensziel, seinen Lebenssinn eng mit der Politik des Staates verknüpfte – und das geschah in der täglichen Arbeit, entlang der staatlichen Regelungen sein Leben zu organisieren, ebenso wie in der Ausrichtung der eigenen Biografie an den staatlichen Sakramenten Geburt, Schule, Arbeitsplatz und Ehe, übertrug das Subjekt auf sich selbst zielgerichtete Praktiken seiner eigenen gesellschaftlich spezifischen Verortung. Das konkrete Lebensziel und seine Verknüpfung mit den staatlichen Strukturen, bedeutet im Konkreten eine »pilgerartige« Ausrichtung seiner selbst, der eigenen Gefühle und Wünsche und der eigenen Biografie an der Erzählung einer historischen Wahrheit. Einer Wahrheit, die das richtige Leben, das Wie und Wohin betrifft und die alle
42 Über den Staat an sich, nicht über den konkreten Staat DDR.
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anderen Aussagen über diesen Weg als unvernünftig oder irrsinnig bezeichnet. Das Subjekt soll dabei diese Wahrheit nicht nur erkennen, sondern sich selbst auch derart verhalten, dass es dieser wahren Lebensführung gerecht werde und die irrsinnigen Aussagen über die eigene Biografie auch als unvernünftig einstufe.43 Es entsteht eine Beziehung zwischen Subjekt und Wahrheit44, in der die Subjekte »[...] mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mit ihren Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer Lebensführung [...] vollziehen, und zwar so, dass sie sich selber transformieren, sich selber modifizieren und einen bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft erlangen.«45
Kurz, die Ausrichtung des Lebens der Subjekte an der narrativen Struktur einer Wahrheit wie das eigene Heil zu erlangen sei, bedingt eine prozessartige Arbeit des Subjektes durch eine »Sorge um sich selbst«.46 In den Prüfungen und Übungen und Entscheidungen seiner Lebenspraxis muss es sich selbst an dem strukturierten Ziel und Sinn seines Lebens ausrichten und sich permanent neu erfinden und neu identifizieren. Erst aus diesen Praktiken, aus diesem Verhältnis des Subjektes zur Wahrheit, ergibt sich Subjektivität, die selbst nie festgelegt bleibt. Dieses prozessartige Gefühl von Identität und SelbstWahrnehmung wird durch Erfahrungen angeleitet. Erfahrung und Wahrheitsformulierungen zur Konklusion aus diesen Erfahrungen sind im Falle der DDR von der Praxis der Lohnarbeit gekennzeichnet. Wie alle modernen Staaten stellte auch die DDR eine negative Beziehung zwischen Arbeit und Armut her und verband damit umgekehrt, dass der Besitz von Lohnarbeit gleichzeitig die Abwe-
43 Sarasin, Philipp: Michel Foucault zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2005, S. 193. 44 Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjektes, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2004, S. 151. 45 Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit Bd. 2. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1986, S. 18. 46 Das betraf die Subjekte in den 1950er Jahren mehr als Subjekte der Gegenwart. Denn im Gegensatz zur eher episodischen Biografie der gegenwärtigen Subjekte war ihr Leben darauf ausgerichtet, irgendwo anzukommen, als Subjekt »fertig« zu sein, seinen Raum gefunden und seine biografische Ordnung erfüllt zu haben.
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senheit von Armut bedeute.47 Diese Erfahrung der Nachkriegsgeneration und ihrer Eltern verband sich mit der staatlichen Garantie einer zugesicherten Lohnarbeit und damit Armutsabwesenheit – so weit, so gut. Aber nicht nur der Staat und die eigene Zustimmung zu ihm und seiner gewährten Rechtlichkeit waren das Ergebnis dieser Erfahrung. Auch die eigene Persönlichkeitsstruktur und die Beziehungen der Menschen untereinander und zu ihren Verhältnissen wurden an der moralischen Festigkeit gemessen, sich dieser Verbindung von Arbeit und (jetzigem) Wohlstand zu unterwerfen. Die eigene Biografie wurde zur Narration hin zu einem Arbeitsleben, um ein Arbeitsleben und über das Arbeitsleben.48 Der Arbeitsplatz wurde zum täglichen Kampfplatz. Nicht nur für den Frieden, sondern auch für die Beweisführung, dass das Individuum sich als moralisch gefestigt erwies, der Abschaffung von struktureller Armut durch traditionelle Verbundenheit und dem Willen zur Arbeit auch gerecht zu werden. Die Lohnarbeit wurde so zur Begehrensstruktur, zum Gegenstand der Bedürfnisse individueller, sozialer und nationaler Prosperität und zur Kategorie der eigenen Lebensführung und damit der eigenen Identität49, wie der folgende Auszug aus einem narrativen Interview verdeutlicht:
47 Das Bekenntnis, wonach »working poor« als Phänomen aufzeigt, dass Lohnarbeit eben keine Garantie sei, der Armut zu entkommen, ist erst neueren Datums und muss bei der zukünftigen Bewertung von staatlicher Gleichsetzung Arbeit = Abwesenheit von Armut berücksichtigt werden. 48 Vgl.: Wierling, Dorothee, Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiografie. Ch. Links Verlag, Berlin 2002. Und: Haag, Hanna: Erinnerungen ostdeutscher arbeitsloser Frauen an die DDR-Vergangenheit. Bibliotheca Academica, Reihe Soziologie, Band 7, Ergon-Verlag, Würzburg 2010. 49 Annegret Schüle weist anhand narrativer Interviews nach, dass diese »Arbeitsbereitschaft« zumindest bei der letzten Generation der in der DDR Geborenen stark zurückging. Insbesondere die um 1970 Geborenen entziehen sich mit der Kritik am Staat auch dem Arbeitsethos, dem ihre jüngeren Geschwister nach der Vereinigung wieder folgen werden. Diese enge Verbindung Staat = Arbeit zeigt, wie sehr die Kritik an dem einen mit dem anderen verbunden werden musste, zeigt, wie elementar diese Verbindung angesehen wurde, wenn es darum ging, eine (kritische) Distanz zum Staat zur Schau zu stellen oder sogar zu äußern. Zu diesem (sehr komplexen)
60 | D IE ERLESENE N ATION »Das Interview mit Jutta Ewald, 1940 geboren und vierzig Jahre im Betrieb (einer Baumwollspinnerei – A.H.) beschäftigt, zeigt, wie sich aus den Kindheitserfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit eine hohe Arbeitsmoral entwickelt hat. Dabei grenzt sich diese Arbeiterin deutlich von der jüngeren Generation ab. Nach ihrer Darstellung war es für die Frauen der ersten Generation mit ihrem Arbeitsethos unvereinbar, dass man, nur um in der Garderobe zu rauchen, den Stillstand der Maschinen riskierte – so wie es später die Jüngeren taten. Dass die Maschinen die ganze Nacht liefen, war eine wesentliche Voraussetzung, um die Norm zu schaffen.«50
Das moralisch-vernünftige Verhältnis des Individuums zu sich selbst, zu anderen und zu den Vorschriften und Gesetzen hangelte sich demnach entlang an einem Wissen, dass die Abwesenheit von Armut nicht ohne Lohnarbeit funktioniere. Es bedingte eine Ausrichtung des eigenen Verhaltens anhand dieser Moral der Arbeit. Denn wenn man nicht lohnarbeite, so könne man auch nicht von Armut befreit werden. In der Praxis dieser Selbstführung entsteht eine Wiederholung, ein Wiedererkennen der Richtigkeit jener Moral der Arbeit. Dieses Wiedererkennen erfolgte in der DDR durch die Arbeit selbst, besser gesagt, durch den Arbeitsplatz und das Erkennen anderer Subjekte als Arbeitende. Es entstand eine selbstreferentielle Arbeiterkultur, die Identitätsbrüche immer wieder glätten konnte. »Er (der Arbeiter – A.H.) musste nichts sein, um etwas zu werden, um etwas zu sein, denn alles, was er sein und werden konnte, war er bereits: ein anerkanntes Mitglied des Gemeinwesens. Er war ökonomisch unabhängig, existentiell von vornherein gesichert und wusste von Kampf um soziale Anerkennung nur vom Hörensagen. Er konnte eine bestimmte Arbeit nicht bekommen oder wieder verlieren, [...] aber sein Dauerverhältnis zur Arbeit blieb dabei unberührt. Er mochte fremde Meinungen, fremde Interessen respektieren oder missachten, für seine gesellschaftliche Stellung war das einerlei; er ging allen Bedeutungen, Verwandlungen, Rollen voraus, die er im gesellschaftlichen Verkehr gewinnen, annehmen oder spielen konnte.«51 Thema siehe u.a.: Schüle, Annegret: Für die waren wir junge Hüpfer. In: Dies. / Ahbe, Thomas / Gries, Rainer (Hrsg.) Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive (2006), S. 169 – 192. 50 Schüle, Annegret: Junge Hüpfer (2006), S. 175. 51 Engler, Wolfgang: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land. Aufbau Verlag, Berlin 1999, S. 206.
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Innerhalb dieser moralischen Struktur praktizierte das Individuum nicht nur seine eigene Subjektivität, sondern es identifizierte die derjenigen, in denen es sich nicht wieder erkannte (Punker, »Arbeitsscheue«, Hausfrauen, aber auch nichtarbeitende Kapitalisten). Der Lohnarbeiter wurde somit die Referenzstruktur des Lebens in der DDR – der Werktätige.52 Wenn man jetzt nicht mehr fragt, wie sich staatliche Institutionen Subjekte erschaffen, die sie unterdrücken können, sondern wie sich die Subjekte in ihnen selbst eine Identität erschaffen, sich immer wieder neu identifizieren, dann findet man sowohl für die historische Analyse der DDR als auch für die literaturhistorische Fragestellung nach der Bedeutung von Literatur für eine subjektive Verortung durch Literatur in der konkreten Schulrezeption von Klassikern wichtige Impulse. Impulse, die weniger eine Antwort darauf geben, wer in den Institutionen falsch oder richtig geherrscht hat, sondern wie Macht und Herrschaft in eben diesen Institutionen – sowohl in der DDR als auch in anderen modernen Staaten – funktioniert.
2.3 S UBJEKT UND S UBJEKTIVIERUNG IM L ITERATURUNTERRICHT DER DDR Für den Werdeprozess der Subjektivität sind kulturelle Praktiken (wie im Falle der DDR die Arbeit) von großer Bedeutung. Diese Praktiken bedeuten dabei auch immer eine Entscheidung, eine bewusste Zustimmung oder Ablehnung der einen oder der anderen Praxis und ihrer moralischen Referenz. Dass sich nun Subjektivität nicht nur in Unterwerfungsprozessen, sondern auch in den Praktiken des Eigen-Sinns herstellte, ist insbesondere für das Untersuchungsfeld »Identität durch Literatur« von Bedeutung. In den literarischen Plots und ihren immanenten moralischen Weltinterpretationen wird der Leserin kein ausschließlich verborgenes Wissen offenbart. Vielmehr benötigt Literatur stattdessen die Leserin selbst als Autorin. Durch ihre Interpretation lässt sie den Text »entstehen« – was bedeutet, dass die literarische Anrufung durch die ästhetische Bearbeitung kultureller Praktiken und ihrer historischen Verortung niemals ohne ein Subjekt selbst geschehen kann. Literatur ist damit nicht Trägerin eines falschen oder richtigen
52 Vgl. Ebda., S. 200f.
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Identitätsangebots, sondern die Identifikationen mit den kulturellen Angeboten im literarischen Text stellen sich erst durch die Leserin selbst her.53 Somit ist die Frage nach Regierung und Eigensinn bei der Konfiguration einer nationalen Identität durch Literatur von besonderer Bedeutung. Schließlich übt die Schülerin gerade im Lesen, darüber Schreiben und Sprechen, in der Verknüpfung von Phantasie und eigener Lebensrealität ihre Beziehungen zu allen Formen ihres Lebens, ihrer Lebensentwürfe, das Verhältnis zu sich, zur Wahrheit, zu konstanten Emotionen der Trauer, der Hoffnung, der Liebe und des Schmerzes ein. Und es ist gerade diese Einübung, diese Praxis, welche den Prozess der Subjektivierung in Gang setzt und aufrecht erhält. Es entsteht eine Praxis der Selbstführung durch die permanente Selbstprüfung und Selbstbeherrschung innerhalb der moralischen Strukturen von einem wahren/richtigen/reinen Leben54, welche der literarische Text und die moralischen Interpretationsrahmen im Unterricht vorgeben. Dieser moralische Interpretationsrahmen ergibt sich aus der Kanonbildung und den Pädagogiken. Er verlief im Falle der DDR entlang der eschatologischen Einordnung des Einzelnen in ein humanes Menschengeschlecht entlang der Kategorie Arbeitende/Nicht-Arbeitende. Und war nicht loszulösen von einer Struktur, wonach das einzelne Leben an einem Sinn, an einer Wahrhaftigkeit als nationales Subjekt im Arbeiterund Bauernstaat ausgerichtet werden und auf diesen Sinn hinauslaufen sollte. Diese prästrukturierte kollektive Anrufung im Literaturunterricht »fütterte« die individuelle Sinnsuche nach einem »richtigen Leben« mit Lösungsangeboten. In prozessartigen Praktiken entwickelten sich die literarischen und schulischen Wissens-Macht-Komplexe zu einer Struktur der Lebenswelt des Subjektes und wurden damit zu einer Struktur der subjektiven Wert- und Identitätsstruktur. Von dort aus waren nun aber die spezifischen (Nach-)Kriegserfahrungen von Wohlstand, Arbeit bzw. ihrer Erleichterung und Freiheit von Krieg auf einem permanenten Prüfstand. In den täglichen Auseinandersetzungen
53 Vgl.: Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanzer Universitätsreden. Hrsg. von Hess, Gerhard. Universitätsverlag, Konstanz 1971. 54 Vgl. Foucault, Michel: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, Band 3. Suhrkamp Taschenbuchverlag, Frankfurt/Main 1989, S. 50.
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im Arbeitskollektiv oder der Schule, in den Eingaben oder in den marginalen öffentlichen Kundgebungen (17. Juni oder Beat-Proteste) offenbarte sich der Prozess dieser Subjektivierung in der DDR. In den Demonstrationen individueller und kollektiver Bedürfnisse wurde der Staat aufgefordert, seinen Versprechen gerecht zu werden. Die Terminologien des Sozialismus wurden an der Tauglichkeit dessen gemessen, was sie versprachen.55 Diese prozesshafte Identitätskonfiguration zwischen Unterwerfung und Eigen-Sinn wurde zum einen in den sozialen Nahbereichen eingeübt. In ihnen wurde eine Partizipation und Eigenbeteiligung der Bevölkerung nicht nur theoretisch bereitgehalten. »Arbeite mit, plane mit, regiere mit!«: Dieser theoretische Slogan, darauf verweist Lindenberger56 richtig, war nicht nur zynisch. Hier offenbarten sich Tätigkeitsbereiche, die durch Ehrenamt, Engagement im Kollektiv oder in der Schule jenen eigensinnigen Umgang mit den Herrschaftsstrategien widerspiegelten. Ehrenamtliche Tätigkeiten, wie z.B. freiwilliger Helfer der Volkspolizei, Vertrauensmann bei der Gewerkschaft oder Patin für eine leistungsschwächere Schülerin, die von vornherein auf eine Beteiligung an der Ausgestaltung der Herrschaftsstrategien ausgerichtet waren, bargen aufgrund ihrer Organisationsstrukturen weitgreifende Möglichkeiten Terminologien, Paradigmen, Sollbestimmungen oder auch Gesetze interpretativ auszulegen. Gerade in diesen Lebensbereichen sammelten sich die Machtstrukturen mit ihren Wissens- und Wahrheitsfeldern. In ihrer Praxis, in der Einübung dieser Wissens-Machtformation, verband sich die narrative Sinnstruktur mit der eigenen Biografie. Als Affirmations- und Ablehnungsprozess avancierten diese Sinnstrukturen zu einem individuellen und kollektiven Lebenssinn, der seine Logik in der Zugehörigkeit zur Arbeit und seine Heimat in der sozialen Absicherung fand.
55 Merkel, Ina: Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! Briefe an das Fernsehen der DDR. Schwarzkopf und Schwarzkopf Verlag, Berlin 2000. Oder: Mühlberg, Felix: Bürger, Bitten und Behörden. Geschichte der Eingabe in der DDR. Texte 11. Rosa-Luxemburg-Siftung. Dietzverlag, Berlin 2004. 56 Lindenberger, Thomas (Hrsg.): Herrschaft und Eigen-Sinn (1990).
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Ein wichtiger Nahbereich, in welcher die Praxis der Subjektivierung erprobt und ausgebildet wurde, war die Schule.57 Die dort stattfindende Erziehung offenbarte nicht nur eine mehr oder weniger gelungene Identifikation mit den außerschulischen staatlichen Identitätsanrufungen. Sie war auch nicht das Abbild eines permanenten Lippenbekenntnisses. Gerade dass Schülerinnen wider besseren Wissens um die Auswirkungen auf ihre Schulnote in ihren mündlichen und schriftlichen Referenzen den Wahrheitsformulierungen widersprachen oder sie mit den moralischen Strukturen außerschulischer Diskurse eigensinnig bearbeiteten – spricht für die Wirksamkeit der vorgelagerten Subjektivitätsstruktur, wonach das eigene Leben, einem Sinn folgend, an einer Wahrheit ausgerichtet werden soll. Diese Wahrhaftigkeit, dieses Bekennen und damit auch Werden einer Identität spiegelt sich nicht nur in den Aufsätzen wider – es wurde in ihrem Schreiben eingeübt und entwickelt. Denn für das Ingangsetzen des Subjektivierungsprozesses benötigt es nicht nur Praktiken, in welchem individuelle und kollektive Begehren mit dem Staat und der Nation verbunden werden, sondern auch nationale und identitätsstiftende Symbole, die rituell und sinnlich praktiziert werden. An dieser Stelle tritt die ästhetische Erziehung, tritt der Literaturunterricht mit seinem spezifischen disziplinären Arbeitsfeld in Erscheinung. Die Symbolhaftigkeit seines Arbeitsobjektes bedingt geradezu das Erlernen von Mehrdeutigkeiten von (Herrschafts-)Symbolen. Indem die Schülerin lernt, Welt- und Moraldeutungen entlang dieser Symbole zu bearbeiten, werden es Symbole selbst, an denen sie ihre eigene Identifikation, ihre eigene Weltdeutung, ihre Moralvorstellungen, kurz ihre Subjektivität unter Beweis stellt. Schließlich hat sie permanent erprobt, in den (literarischen) Symbolen Wissen aus anderen Diskursen zu verknüpfen und dieses Wissen gleichzeitig auch zu transformieren.58 Die literarische Deutung der Symbole des Nationalen (seien dies das Hambacher Fest, das Ende des Krieges, oder konkrete Architekturen wie der Palast der Republik) wurden somit zu einem Relais, in dem die Schülerin in den 1950er Jahren der DDR ihre Identifizierung darstellte, erprobte und die vorgegebenen Weltdeutungen ih-
57 Auch hier gilt wieder, dass dies kein Spezifikum der DDR ist, sondern Merkmal aller modernen Staaten, insbesondere jener mit einer Schulpflicht. 58 Geisenhanslüke, Achim: Foucault in der Literaturwissenschaft (2007).
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rerseits einer Bewertung unterzog. Das Schreiben der Aufsätze ist damit viel weniger ein Lippenbekenntnis als gemeinhin angenommen – es ist vielmehr eine emotionale Erprobung und Bearbeitung der eigenen Identität. Es zeichnet sich also ab, dass der Literaturunterricht als Analyse für Subjektivierungsprozesse gerade deswegen so vielversprechend ist, weil sich dort offenbart, dass Subjektivität sich prozessartig in kulturellen Praktiken entwickelt und sich entlang von Symbolen immer wieder befragt, Zeugnis ablegt, sich selbst erzählt und überprüft. Das Subjekt zeigt sich gerade in dieser permanenten »Indifferenz zu sich selbst«, die auf eine pilgerartige fertige Identität hinauslaufen will, als eines, »das [...] (sich) erst aus den Machtverhältnissen ergibt, das deren Voraussetzung und Resultat ist.« 59 Ich werde im Folgenden einer solchen (nationalen) Subjektivierung von Schülerinnen in ihrer schulischen Bearbeitung von Literatur nachgehen. Nicht um herauszustellen, was die nationale Identität der Schülerinnen ist, sondern, wie sie sich im Schreiben, in der sinnlichen Auseinandersetzung um Symbole, Riten, Wissens- und Machpraktiken, quasi in ihren eigenen Seelen herstellt. 60
59 Foucault, Michel: Eine Ästhetik der Existenz. In: Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch. Merve Verlag, Berlin 1984, S. 133 – 141. Hier S. 137f. 60 Lüdtke, Alf: Herrschaft als soziale Praxis. In: Ders. (Hrsg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1991, S. 9 – 63.
3. Nationale Subjektivierung im Schreiben über Heinrich Heine
Ich möchte nun diejenigen zu Wort kommen lassen, über die geredet wird, wenn von Herrschaft und darin verorteter Subjektivität die Rede ist. Diejenigen, die scheinbar das Objekt einer »Übermächtigung« (Alf Lüdtke) seien, Erziehungsobjekte eines Ideologischen Staatsapparates – die Schülerinnen. Wenn ich aber ihre Sprechakte ernst nehme, werden die Objekte Subjekte und ihre nationale Anrufung bleibt nicht länger ein ideologischer Überstülpungsprozess. Stattdessen wird sich so herausfinden lassen, wie sie die nationale Identität in den Sammelbecken von Diskursen, innerhalb derer die Schülerinnen sprechen, in actu herausbildet. Um diesen Prozess zu beleuchten, betrachte ich ein Konvolut von 40 Abituraufsätzen über Heinrich Heine aus dem »Heinrich Heine Jahr 1956« (Archiv des Heinrich Heine Gymnasiums Haldensleben) bezüglich jener Aussagen, welche die erlernte, eingeübte und adaptierte nationale Anrufung entlang nationaler Traditionsfiguren (Literaten, Politiker etc.) wiedergeben. Jene Aussagen, die davon zeugen, durch was die Schülerin glaubt in der spezifischen Gesellschaft/Community angenommen zu werden – das Reife-Zeugnis. Die Schülerin bewegt sich entlang dieser Aussagen, wenn sie die unterschiedlichen Bildungsprozesse und Erfahrungen aus den Realitätsinstitutionen Elternhaus, Peer Group, Kirchengruppe, Medien, und Schulalltag zusammenbringt, in Frage stellt, miteinander verbindet oder sie gegeneinander »ausspielt« und sich dadurch positioniert und subjektiviert. Im Zusammenprall solcher Erklärungen und Formulierungen, die knirschen, die nicht wirklich passen, offenbart sich das Zusammentreffen von auswendiger Sinnkonstruktion/Anrufung und inwendiger Sinngebung/Eigensinn und damit das, was ich als die Schnittstelle der
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Diskurse des Nationalen im Subjekt bezeichne – als die Identität der Schülerin als nationales Subjekt. Der als nationale Traditionsfigur angebotene Heinrich Heine und seine Texte »Enfant perdu« und »Deutschland. Ein Wintermärchen« sind hier nicht nur Abituraufgabe. Sie dienen den Schülerinnen als Zitatenpool, um die eigene nationale Verortung öffentlich zu vertreten, also von ihr Zeugnis abzulegen. Konkrete Textbausteine dieser Gedichte werden zu jenen Symbolen, die als Relais für die individuelle Überprüfung, Verortung und Erprobung des Wissens und der Positionierung zu den Deutungsmustern nationaler Art gelten. Es sind deshalb die dem Konstrukt »Nation« facettierenden Vokabeln, wie Vaterland, Volk oder Einheit, welche meine empirische Untersuchung nach einer nationalen Anrufung und einer daraus resultierenden nationalen Identitätsbildung in diesen Aufsätzen strukturieren. Dass Heine als »Formulierer der Schülerinnenerfahrungen« übernommen werden kann, liegt aber nicht nur in den Texten Heines selbst, sondern auch in der Kollektivierung seiner Biografie durch die spezifischen literaturwissenschaftlichen Bearbeitungen des seriösen Sprechers1 Hans Kaufmanns und der Bedeutung, die dessen Interpretation für die Literaturvermittlung im Schulunterricht hatte. Nach einer kurzen Einführung in die Methode des dekonstruktiven Lesens der Aufsätze, werde ich deshalb die didaktische Anrufung, die nationalen Wissenstheoreme in der Heinerezeption darstellen – bevor ich anschließend zur eigentlichen Analyse der Aufsätze komme.
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Eigentlich spricht Foucault von seriösen Sprechakten, und meint damit Kommunikationsakte, welche durch Verknappung und Selektion von einer Expertengemeinschaft seriös gemacht werden und in einer Wiederholung und Übertragung auf andere Bereiche als den des eigenen Forschungsfeldes zur wissenschaftlichen Referenz – zu einer Referenz des Wahren gemacht werden. Vgl.: Dreyfus, Hubert u. Rabinow, Paul: Foucault: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Beltz Athenäum, Weinheim 19942, S. 71f. Nichtsdestotrotz müssen diese Sprachakte von konkreten Personen ausgeführt werden und angesichts der personellen Situation in der marxistischen Literaturwissenschaft der 1950er Jahre ist es unumgänglich auch konkrete Personen (Sprecher) auszumachen, welche diese Sprachakte tätigten und etablierten.
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ÜBER
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3.1 T HEORETISCHE G RUNDLAGE DES DEKONSTRUKTIVEN L ESENS »Wenn wir dieses Gedicht hören, fragen wir uns unwillkürlich, wer eigentlich Heinrich Heine ist und wie wir ihn in die deutsche Literatur einordnen müssen.« (A16, S.2)
Die Entscheidung Schulaufsätze als literarische Quellen über die Selbstkonzeption von nationaler Identität zu betrachten, ergibt sich aus der wissenschaftlichen Anerkennung dieser Textform als autobiografische kulturelle Ausdrucksform, welche kulturelle und individuelle Gedächtniseffekte und damit Wissens- und Machtformationen »preisgibt« und nur durch die spezifischen Methoden der Literaturwissenschaft erfasst werden kann. Es gilt jedoch bei der Wahl dieser Quellen behutsam zu sein, denn sie, die so bereitwillig Auskunft über emotionale Deutungsmuster der Schreibenden geben, sind ein zweischneidiges Schwert für die analysierende Wissenschaftlerin. Die Rolle von Aufsätzen bei einer Leistungskontrolle für eine Notenvergabe führt zu einem doppelgesichtigen Schreiben. Die Schülerin ist bemüht den Vorstellungen der Lehrerinnen nachzukommen, um eine gute Note zu erzielen. Auch die Fragestellungen der Aufsatzthemen lenken das Schreiben und Lesen und schränken einen assoziativen Umgang mit der rezitierten Literatur ein.2 Um den Bekenntnissen über die geteilte nationale Identität auf die Spur zu kommen, benötigt es daher ein »Kämmen gegen den Strich«3.
2
Als Beispiele solcher geschlossenen Fragestellungen seien hier aus den Verordnungen des Ministeriums für Volksbildung zu den Prüfungsfragen für die Versetzungsprüfungen der Klassenstufe 9 im Jahre 1956 genannt: »Sprechen Sie über Heinrich Heines ›Deutschland. Ein Wintermärchen‹. Welche Missstände geißelt der Dichter und welches Ziel setzt er dem Kampf der fortschrittlichen Menschen« (BArch DR2/2431, Blt.4) Oder: »Wie stellt sich Heinrich Heine zum Kommunismus? Stützen Sie sich bei der Behandlung dieser Frage auf das Vorwort zur französischen Ausgabe der Lutetia.«(BArch DR2/2432, Blt.4).
3
Said, Edward: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1994.
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Aus den Symbolen des Nationalen müssen Eigenbewertungen und Stellungnahmen gelesen, die benutzten Metaphern in Äußerungen des Sagbaren und in Verklausulierungen geordnet werden. Dazu benötigt es zuerst ein Raster jener diskursiven Aussagen über das Nationale, mit denen nach den Bekenntnissen, Annahmen, Verweigerungen oder Eigensinnigkeiten zu Antikapitalismus, Antifaschismus, Einheit Deutschlands und der Arbeiterklasse und einer kämpferischen Tradition in den Aufsätzen gesucht wird. Häufig verwendete Phrasen im ähnlichen Wortlaut verweisen durch ihre Wiederholung auf Vorformulierungen. An den Rändern dieser metaphorischen Verdichtungen ist jedoch jene Identität zu sichten, die den Eigensinn, die Adaption oder die Verweigerung der schulisch vermittelten Inhalte nationaler Selbstverortung sichtbar macht. Zudem zeugen die Wiederholungen der inhaltlichen Phrasen davon, was innerhalb des schulischen und systemischen Denkrahmens sagbar ist. Diese Grenzen des Sagbaren fungieren ihrerseits als Abzäunungen der Vernunftvorstellungen, innerhalb derer sich die Schülerin selbst verorten/identifizieren kann. Jenen metaphorischen Verdichtungen gilt daher meine Aufmerksamkeit bei der Frage nach der Anrufung und der schlüssigen Adaption dieser Anrufung in die eigenen Bewertungsmuster. Dass diese Diskurse in ihrer Vielfältigkeit nicht nur in unterschiedlichen, sondern auch in einem einzigen Aufsatz auftauchen, dass sie sich in einem einzelnen Aufsatz nicht nur ergänzen, sondern auch widersprechen, verwirren etc. verweist auf die Vielfältigkeit von Bildungsprozessen, die sich im Schreiben des Aufsatzes widerspiegeln. Ich will und kann daher diese Widersprüchlichkeit, diese Verwirrung nicht glätten, sondern will gerade in ihr die biografische und emotionale Verfasstheit, das Austarieren und somit die subjektive Verortung und die Entstehung einer als einzigartig wahrgenommenen Identität zwischen Widerstand und Unterwerfung unter die vorgefundenen nationalen Diskurse analysieren. Wenn auch die Zensuren keine Bedeutung für eine erfolgte oder fehlgeschlagene Selbstverortung als Mitglied einer Nation der Werktätigen haben (auch offensichtlich »staatstreue« Aufsätze können schlecht benotet werden), so ist doch der Blick auf die von der Lehrerin bemängelte oder gelobte Ausdrucksordnung für meine Analyse aufschlussreich. Eben dort, wo die Benotung wegen schlechten Ausdrucks mangelhaft ist, lohnt sich ein Blick auf die Brüche, auf die Sprachunfähigkeit der Schreibenden. Diese Sprachunfähigkeit kann
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insbesondere im DDR-Schulsystem nicht auf Analphabetismus zurückgeführt werden. Vielmehr ist die Bruchhaftigkeit eines Satzes, sind die unlogischen Anschlüsse, sind Wiederholungen oder Wortschatzarmut Ausdrücke für Denkparameter, die in die sagbaren Paradigmen und Phrasen nicht einzuordnen sind. Wenn die eigenen Erfahrungen und die Einordnungen jener Erfahrungen in Einklang mit den ideologischen Vorgaben gebracht werden sollen, dieses aber aufgrund der spezifischen Erfahrungen oder Bewertungen nicht gelingt, so kann gerade das Nicht-Schlüssige, das Brüchige, das was »fehlendes Ausdrucksvermögen« genannt oder als »nicht erfasster Inhalt« bewertet wird, ein Ausdruck für jenen Eigensinn sein, der eine Selbstverortung beschreibt. Die Sinnkonstruktion der Schülerin deckt sich hier nicht mehr mit der Sinngebung durch die Lehrerin, die nationale Anrufung ist scheinbar fehlgeschlagen. Aber eben nur scheinbar – denn die fehlende Übernahme der offiziellen Diskurse in ihrem »richtigen« Sinn verweist auch darauf, dass der Sinngebung durch die staatliche Institution eine eigene Bedeutung, ein eigener Sinn beigefügt wird. Nation, Volk, Vaterland und Einheit können in den Aufsätzen in unterschiedlicher Bedeutung nebeneinander stehen – jener durch das Ministerium und durch den Hauptrezensenten Kaufmann (dem die Lehrerin folgt) und der durch die Schülerin selbst, die alle ihrerseits Diskurse des Nationalen auf den Heinetext übertragen, die es zu Heines Zeiten so nicht gegeben hat. Diese Bedeutungen können verknüpft, anders »falsch« verstanden, gedeutet oder »nachgeplappert« werden – und keine dieser Rezeptionsformen findet sich in Reinform in den Aufsätzen. Aber jedes Mal sind sie gesprochene individuelle Verknüpfungen der Diskurse über Nationalität und über die eigene subjektive Verortung. Beachtet man all diese Rahmenbedingungen, so ist eine genaue Textanalyse vonnöten, um jenes »Kämmen gegen den Text« bewerkstelligen zu können. Also eine genaue Analyse dessen, was wie erzählt wird. Ich lege dabei folgende erzähltheoretische Kriterien zugrunde4: Bei der Analyse der Erzählstruktur als Verweis auf jene Aussagen über Denk-und Ordnungssysteme, über die der »Text mehr weiß als der Autor« (Heiner Müller) untersuche ich die Aufsätze als eine Art von schriftlicher Rede, in der ein Vorgang als Geschehnis oder Begebenheit mitgeteilt wird. Die Einordnung und Bewertung dieses Vor-
4
Martinez, Matias u. Scheffel, Michael : Einführung in die Erzähltheorie. CH Beck Verlag, München 20023.
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gangs unterliegt dabei einerseits einer »Ausdrucksordnung«, also einer im Schulunterricht und in der Kommunikation mit der Erfahrungswelt erlernten Sprechaktkompetenz. Häufige oder seltene Benutzung von Fremdwörtern, geschriebener Dialekt, abgebrochene Sätze, »unlogische« Schlussfolgerungen oder das Bemühen um eine solche Logik sind nur einige Elemente dieser Ausdrucksordnung, die Aufschluss darüber geben, ob und wie prästrukturierte Weltbilder in der Identität der Schülerin mit dem literarischen Objekt Geltung erhalten haben.5 Als Untersuchungsraster für das Wie des Erzählens verwende ich die Kategorien der Ordnung des Erzählens, also der Perspektive, der Mittelbarkeit und der Zeit. Perspektive und Mittelbarkeit (Distanz) – insbesondere die erlebte Rede zeugen von einer emotionalen Beschreibung des Erzählenden. Generell schreibt die Autorin den Aufsatz aus einem »Fokus des Inneren« – die Erzählerin beschreibt nicht mehr und nicht weniger als die Figur, die sie beschreibt. Dabei wechselt eine homodiegetische Sicht, also eine Sicht der Selbstbeteiligung mit einer heterodiegetischen Sicht, wenn der Schreibende von früheren, einordnenden Angelegenheiten berichtet, die entweder Heines Werk oder dessen Einordnung in die Tradition der Arbeiterklasse beschreiben. Gerade im Wechsel dieser Perspektive zeigt sich eine Selbstverortung, ein Bezug zum bzw. ein Abwenden vom Beschriebenen. Auch das Wie der Zeit, Raffung oder Dehnungen verweisen auf Bedeutungszuschreibungen durch den Schüler. Eine Fülle von Beispielen, Ereignissen oder erzählten Erklärungen, wie sie in Dehnungen auftreten, macht auf die übernommene logische Konstruktion aufmerksam, auf eine Deckung von vorgegebenen Denkordnungen und eigenen Erfahrungen. Eine Raffung von Erklärungen und Erzählungen hingegen weist auf eine Benennung aus Gründen der richtigen Benotung hin und lässt auf eine fehlende Annahme dieser Argumente und Logikketten bei dem Schreibenden deuten. Diesen Grundbedingungen meines Lesens folgen nun noch einige rezeptionstheoretische Überlegungen, die der Besonderheit der biografischen und kognitiven Entwicklung der Schülerin als Autorin Beachtung zollen.
5
Kreft, Jürgen: Grundprobleme der Literaturdidaktik. UTB Verlag, Heidelberg 19822.
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3.2 D IE S CHULE UND DIE S CHÜLERIN ALS A UTORIN – REZEPTIONSTHEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN ZU N ORMALITÄT UND B EDEUTUNGSZUSAMMENHANG Die kulturwissenschaftlichen Fragestellungen nach dem Zusammenhang von Identität und Kultur bzw. kulturellen Artefakten6 haben den Blick auf die dualistische Bearbeitung von Literatur gelenkt. Der genialistisch verhafteten Einseitigkeit, nach welcher die Schülerin im Lesen und Rezipieren nichts anderes mache als die wahren und unverfälschten Gedanken der Autorin zu verstehen, sind längst Konzepte der Autorinnenschaft durch und im Lesen entgegengesetzt worden.7 Unter dem Blickwinkel subjektorientierter Fragestellungen gerät die kreative Autorinnenschaft der Leserin8 und die damit verbundene Identitätskonfiguration mehr und mehr in das Forschungsinteresse der Kulturwissenschaften. »Literarische Texte sind auf vielfältige Weise mit kulturellen Konstruktionen und Konzepten von Erinnerung und Identität verwoben. Sie greifen in ihrer ›Welterzeugung‹ (Nelson Goodman) auf Elemente der präexistenten (Erinnerungs-)Kultur zurück und entwerfen mit formästhetischen Verfahren eigenständige, symbolisch verdichtete Erinnerungs- und Identitätsmodelle. Solche literarischen Inszenierungen vermögen wiederum auf die individuellen und kollektiven Dimensionen der Erinnerungskultur zurückzuwirken und damit Vergangenheitsversionen sowie Selbstbilder aktiv mitzuprägen.«9
6
Assmann, Aleida und Assmann, Jan: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. Beck, München 1999. Und: Eagelton, Terry: Was ist Kultur? Eine Einführung. Beck, München 20012.
7
Eggert, Hartmut u.a.: Schüler im Literaturunterricht. Ein Erfahrungsbericht. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1975. Oder: Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanzer Universitätsreden. Hrsg. von Hess, Gerhard. Konstanz 1971.
8
Eco, Umberto: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. dtv, München 19942.
9
Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Erll, Astrid und Nünning, Ansgar (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft.
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Diesem Blickwinkel liegt eine Literaturdefinition zu Grunde, die sich von jener Definition stark unterscheidet, nach welcher die hier zu Wort kommenden Schülerinnen lasen, schrieben und bewerteten. Entgegen dieser Vorstellung von Literatur als einer Einbahnstraße aus der Feder des Autors in die Köpfe der Leserinnen nimmt die Idee von Literatur als kollektivem Gedächtnis und als identitätsstiftendem System nicht nur die didaktische Vermittlung sondern auch den ästhetischen Gehalt von Literatur als Kommunikationsprozess ernst. Demnach entsteht der Text selbst erst durch das Lesen, erhält durch diesen Akt der individuellen Phantasie und Identifikation mit den literarischen Gestalten überhaupt erst seine Aktualität – sowohl für den kollektiven Kanon, als auch für das lesende Individuum. »Wenn es wirklich so wäre, wie uns die ›Kunst der Interpretation‹ glauben machen möchte, daß die Bedeutung im Text selbst verborgen ist, so fragt sich, warum Texte mit den Interpreten solche Versteckspiele veranstalten; mehr noch: warum sich einmal gefundene Bedeutungen wieder verändern, obgleich doch Buchstaben, Wörter und Sätze des Textes dieselben bleiben. Beginnt da nicht eine nach dem Hintersinn der Texte fragende Interpretationsweise diese zu mystifizieren und damit ihr erklärtes Ziel ›Klarheit und Licht in die Texte zu tragen‹, selbst wieder aufzuheben?«10
Literarische Texte sind damit Reaktionen auf historisch konzipierte Wissensbestände, Denkstrukturen und Gedächtnissysteme. Aus diesem Grund erkennt die Schülerin sich im Text wieder – sie wird konfrontiert mit einer »scheinbar vertrauten Welt in einer von (ihren) Gewohnheiten abweichenden Form.«11 Indem aber die Autorin durch den literarischen Text Einblicke in diese Gewohnheiten, diese Wissensbestände und Denksysteme gibt, bleibt die sittliche Handlungs- und Weltdarstellung nicht abstrakt sondern wird sinnlich erfahrbar. Diese sinnliche Erfahrung und der Vor-
Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Walter de Gruyter Verlag, Berlin/New York 2005, S. 149 – 178. Hier S. 149. 10 Iser, Wolfgang: Appellstruktur (1971), S. 7. 11 Ebda., S. 11.
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gang des phantasievollen »Auffüllens« dieser Realitäten12 eröffnet somit Perspektiven, welche die Erfahrungen der Leserin, welche ihre eigenen Lebensumstände überprüfen bzw. mit den Vorgaben abgleichen lässt – sie werden zum Raster einer kollektiven und individuellen Sinnstiftung sowie Werte- und Rollenvermittlungen. Ein Raster, welches die Struktur der Welt- und Personenwahrnehmung und – beurteilung an sich betrifft. Diese Bewertung kann von nun an sowohl affirmativ als auch widerständig bzw. ein Konglomerat davon sein.13 Die Schülerin ist auch im Falle der Heinerezeption also beides: Leserin und Autorin. Ihre Autorinnenschaft verstärkt sich noch dadurch, dass sie nicht nur im Lesen des Heinetextes diesen gedanklich »schreibt«, sondern auch eine faktische Autorinnenschaft über ihren eigenen Aufsatz ausübt. Durch die dort verwendeten Topoi (Metaphern, Allegorien) oder Symbole bezieht sie sich auf ein vortextliches Gedächtnis, in dessen Bearbeitung (Ablehnung, Auseinandersetzung) ihre eigene Identität permanent entsteht.14 Durch Reproduktion, Verkürzung, Erweiterung und/oder Modifizierung schreiben die Schülerinnen im Lesen und der Rezeption im Aufsatz einen eigenen Text, indem sie die Originaltexte von Heine mit eigenen Wissensformationen um die dort vorgegebene kollektive und individuelle nationale Identität füllen, ergänzen oder »berichtigen«. Dabei spielen die Leerstellen in den Heinetexten um Volk, Vaterland und Heimat eine besondere Rolle für das Verständnis, die Adaption, die Verwerfung der Texte und der eigenen und kollektiven Erfahrungen. Aber nicht nur die ästhetischen Emotionen des literarischen Textes sondern auch die auf die Zeit, den Raum und die humane Ontologie bezogene Wissensformation des Schulunterrichts sind grundlegende Elemente für Normalitätskonstruktionen, derer sich die Schülerin bemächtigt und im Schreiben und Erzählen zu ihrer eigenen Weltverortung macht. Der Anspruch auf Wahrheit in den gelernten Zeichensys-
12 Zur ästhetischen Bedeutung der Leerstellen für die notwendige Unbe stimmtheit jener literarische Realität und Realitätsbewertung, -einsicht und -interpretation siehe: Iser, Wolfgang: Appellstruktur (1971), S. 21ff. 13 Ebda., S. 35. 14 Erll, Astrid; Gymnich, Marion u. Nünning, Ansgar: Einleitung. Literatur als Medium der Repräsentation und Konstruktion von Erinnerung und Identität In: Erll, Astrid u.a. (Hrsg.): Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Wiss. Verlag, Trier 2003, S. 5 – 10.
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temen, die Entwicklung der Kompetenz der Sprechakte und die Kompetenz zur Überprüfung und Behauptung von Wahrhaftigkeiten erhalten insbesondere im Deutsch- und Literaturunterricht ihre Ausbildung. Dabei müssen alle neuen Informationen, mit denen die Schülerin im Schulunterricht konfrontiert wird, durch sie selbst mit einem vorhandenen (und sich stets erweiternden) Regelsystem ins Gleichgewicht gebracht werden. Diese Informationen sind aber auch neue Problemlösungsangebote und -gebote bezüglich der vorhandenen Selbstverortung im Regelsystem. Jene Verbindung von Sprache als Wiedergabe bestehender Ordnungssysteme und ihrer Nutzmöglichkeiten zur Problemlösung, jene Zerstörung und Neuordnung des Gleichgewichts des Regelsystems kann schließlich zu einer Überprüfung und zum in Frage stellen von Objektivität und Wahrheitsanspruch der Zeichenstrukturen im Regelsystem führen. Die Schülerin »gelangt dazu, zwischen Sein und Schein, Sein und Sollen, Wesen und Erscheinung zu unterscheiden. Die Unterscheidung zwischen Sein und Schein bezieht sich auf die Objektivität, als den Modus, in dem uns die Wirklichkeit gegeben ist; Sein und Sollen ist die Unterscheidung, die sich auf die Normativität als den Modus bezieht, in dem uns gesellschaftliche Normen gegeben sind; Wesen und Erscheinung bezieht sich auf die Subjektivität der Äußerungen eines Sprechers, der sich in ihnen wesentlich zur Erscheinung bringt oder sich verbirgt.«15
In diesem Erwerb der Sprechaktkompetenz, der kognitiven Kompetenz und deren Referenzen auf die eigensinnige Überprüfung der vorgegebenen Zeichensysteme vollzieht sich die biografische Ich-Entwicklung, bei der die Schülerin sich permanent ihrer Identität vergewissern und sie überprüfen muss. Auf diese Wechselwirkung mit ihrem Ergebnis der (interaktiven) Identitätsdefinition bauen die Aufsatzthemen und Lehrplanverordnungen auf, wenn das Schreiben von Aufsätzen über bestimmte Klassiker zur Erziehung einer »ganzheitlichen sozialistischen Persönlichkeit« dienen soll.
15 Kreft, Jürgen: Grundprobleme der Literaturdidaktik. UTB Verlag, Heidelberg 19822, S. 98.
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Lehrpläne und Lehrplanverordnungen – Erziehungsgrundlagen für die Staatsbürgerseele. Seit den Beschlüssen des V. Pädagogischen Kongresses stand für SED und die zuständigen Ministerien die Ausbildung der Lehrer und Schüler im sozialistischen Staat im Vordergrund.16 Damit erhält die antifaschistische Umerziehung einen neuen Gedanken und eine neue Zielrichtung: Die Erziehung der Staatsbürger zu Loyalität und aktivem staatsbürgerlichen Handeln im Staat, dessen dauerhafte Abgrenzung von der BRD sich abzuzeichnen begann. Die bis dahin vordergründigen Erziehungsziele im Sinne des Reeducation-Gedankens werden dabei mit neuen Inhalten bestückt. Antifaschismus, Friedensliebe und Antikapitalismus sollen als Begehrensstruktur ihre Erfüllung durch den Staat DDR erfahren und der einzelne Bürger aufgrund dieser Begehren die Institutionen des Staates DDR als notwendig erachten. Dafür ist eine konkrete Strukturierung der Persönlichkeit, des Charakters vonnöten, ein »Einschreiben in die Seelen« – eben eine Erfindung einer spezifischen staatsbürgerlichen Identität. Erziehung zum Patriotismus und zur Heimatliebe. Den konkreten Lehrplananweisungen setzt das Ministerium für Kultur pädagogische und staatsbürgerliche Grundbedingungen voraus, die den Lehrerinnen quasi als Raster, als weltanschauliche Basis für die Erziehung und Bewertung der schulischen Leistung und des Reifeprozesses dienen sollen. Eine besondere Qualität erhält die grundlegende Definition eines »guten Deutschen«. Ein solcher Staatsbürger zeichne sich durch Liebe und Freude an der Arbeit aus, die ihrerseits ein weltpolitisches Bollwerk gegen Faschismus und Kapitalismus sei: »Die Werktätigen, die durch ihre Produktionstaten und durch ihre Verteidigungsbereitschaft unseren Arbeiter- und- Bauern-Staat stärken und schützen, sind gute Deutsche.«17
16 Handro, Saskia: Geschichtsunterricht und historisch-politische Sozialisation in der SBZ und DDR. (1945 – 1961). Eine Studie zur Region SachsenAnhalt. BELTZ-Wissenschaft, Weinheim 2002, S. 220. 17 Verzeichnis zentraler Vorschläge und nachgeordneter Einrichtungen zur Verleihung der »Dr. Theodor-Neubauer-Medaille« (Bronze). BArch, DR2/6944, Blatt 44.
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Und so besteht auch die charakterliche Aufgabe für die Schülerinnen, auf ihrem »Arbeitsplatz« den Frieden und den Staat zu sichern und sich durch diese Selbstverortung als verantwortungsbewusste und gute zukünftige Staatsbürgerinnen zu gerieren. »Im Kampf um den Frieden und beim Aufbau des Sozialismus vollbringen auch die Thälmannpioniere durch gutes Lernen und gesellschaftlich nützliche Arbeit hervorragende Taten. [...] Keiner ist zu klein, ein Kämpfer für Frieden und Sozialismus zu sein.«18
Mitte der 1950er Jahre werden die Anstrengungen verstärkt, die schulische (und damit charakterliche) Ausbildung der neuen Staatsbürger an die Arbeitswelt der Eltern und kommunaler Betriebe anzubinden. »Unsere Lehrer und Erzieher müssen sich in ihrer gesamten Tätigkeit von dem Prinzip leiten lassen, ein enges und herzliches Verhältnis zwischen der Jugend und den Werktätigen herzustellen. Das sind vor allem die Aktivisten und Neuerer der Produktion, die Traktoristen und Genossenschaftsbauern, die Angehörigen der Intelligenz, die Soldaten unserer Nationalen Volksarmee, unsere Volksvertreter, die Funktionäre in Staat, Wirtschaft und gesellschaftlichen Organisationen. Deshalb ist es notwendig, die Patenschaftsbewegung auf alle Einrichtungen der Volksbildung auszudehnen.«19
Aus dieser Verknüpfung von »gutem Deutschsein« mit Arbeit ergibt sich eine politisch-philosophische Grundstruktur der nationalen Identität – die Nation in der Nation.20 Denn die elementare Definition des
18 Ebda. 19 Verfügung und Mitteilungen des Ministeriums für Volksbildung 35/56. Anweisung zur Durchführung des Schuljahres 1956/1957 vom 21.Juni 1956, BArch DR2/6276, Blatt 1. 20 Diese Besonderheit nationaler Verortung hat ihre Tradition in den frühsozialistischen Schriften Büchners, des Jungen Deutschlands und der sozialistischen Arbeiterbewegung. Entgegen den Prämissen der liberalen Vormärzpolitiker und Literaten wird hier auf eine nationale Gemeinschaft der Arbeiter oder »des Volkes« gesetzt, das eine kulturelle Gemeinsamkeit durch die Praxis der Arbeit, aber auch durch eine gemeinsame Sprache, Landschaft etc. hätte. Dem Nicht-arbeitenden (Adel, Faulenzer, Kapitalist) wird die Zugehörigkeit zur Nation aberkannt, da er die eigentlichen, die
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»guten Deutschen« über die Kategorie »Arbeit« bleibt in dieser Anrufung nicht an die Staatsgrenzen gebunden und meint deshalb neben der vorgeblichen sprachlichen und kulturellen Gemeinsamkeit auch immer die Gemeinsamkeit der Arbeit als kulturelle Praxis, die die Angehörigen des »Volkes« von jenen des »Nicht-Volkszugehörigen« unterscheide. »Die Schüler sollen erkennen, daß die Bürger Westdeutschlands gute Deutsche sind, die für die Erhaltung des Friedens kämpfen, sich für den gesellschaftlichen Fortschritt einsetzen und deswegen dem Terror des Bonner Staates ausgesetzt sind. (Dies betrifft insbesondere die) Mitglieder der illegal kämpfenden kommunistischen Partei Deutschlands.«21
Die Erziehung zum Hass gegen die Feinde des Volkes22 ist grundlegender Bestandteil der patriotischen Erziehung und verdeutlicht, dass es hierbei nicht »einfach« um das Wissen über das Sein einer Nation, über die Konstitution einer gedachten Gemeinschaft geht, sondern die Charakterbildung der Schülerinnen konkret betrifft. Liebe und Hass werden auf die Nation der Werktätigen und ihre staatliche Entsprechung gelenkt: »Patriotische Erziehung in der Deutschen Demokratischen Republik heißt: die Erziehung der Kinder und Jugendlichen zur echten und tiefen Liebe zur Heimat, die in der Deutschen Demokratischen Republik zur wirklichen Heimat der Werktätigen geworden ist, zur echten und tiefen Liebe zum ganzen deutschen Vaterland und zum deutschen Volk in seinem Kampf um Frieden, Einheit und den Aufbau eines neuen Lebens; die Erziehung zur Treue und Ergebenheit gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik als dem ersten Arbeiter und Bauernstaat in der Geschichte [...]; die Erziehung zur festen Verbundenheit mit der Arbeiterklasse und ihrer Partei [...] als der führenden Kraft im nationalen und sozialen Befreiungskampf des deutschen Volkes; die Erziehung zur Liebe
wahren Angehörigen des Volkes von ihrer nationalen und sozialen Erlösung abhalte. 21 BArch, DR2/6944, Blatt 44. 22 Diskussionspapier zur Anweisung zur Durchführung des Schuljahres 1955/56 durch das Ministerium für Volksbildung vom 19.7.1955 BArch DR2/3527, Blatt 2.
80 | D IE ERLESENE N ATION und zum Vertrauen zu den bewaffneten Kräften der DDR, die den Schutz der Heimat vor allen Anschlägen des Feindes des Volkes übernommen haben.«23
Der gesellschaftliche Auftrag der Schule war damit festgelegt auf die charakterliche Erziehung neuer Staatsbürger, welche durch Liebe, Hass, Entschlossenheit, Stolz auf Arbeit, Verbundenheit und Vertrauen an die Institutionen des Staates und die vorgestellten Mitglieder der gedachten Gemeinschaft nicht nur gebunden, sondern emotional und selbstdefinierend angeschlossen werden sollten.24 Bedeutung des Literaturunterrichts für die patriotische Erziehung Für diese charakterliche Erziehung wird dem Sprach- und Literaturunterricht in den Lehrplänen und pädagogischen Diskussionen seit den 1950er Jahren eine besondere Bedeutung beigemessen. Über die kanonische Einordnung einer Nationalliteratur (in welcher die Schülerinnen eine mythische Existenz des nationalen Deutschseins seit tausend Jahren erkennen sollen25), über die Vermittlung von Fertigkeiten zur Charakterisierung von Personen in Romanen und der Fertigung von Inhaltsskizzen sollen die Schülerinnen erlernen »die in unserer Gesellschaft gültigen Maßstäbe für die Beurteilung von Menschen anzuwenden und besser zu verstehen. Besonders die Übungen im Charakterisieren sollen dazu führen, daß sich die Schüler wertvolle Menschen zum Vorbild nehmen.«26
Kurzum – die Ausbildung einer Reflexion des Verhaltens und der Charaktereigenschaften von Mitmenschen und von sich selbst wird durch emotional-ästhetische Verfahren in die Inhalte und Didaktik des Lite23 Ebda., Blatt 2f. 24 Dass diese Anforderung auf erhebliche Widerstände prallte, nicht so sehr aus offener Dissidenz gegen den Staat, sondern aus den Praxen der sozialen Differenz zwischen »Intelligenz« und »Arbeitern« zeigt anschaulich: Droit, Emmanuel: Die Arbeiterklasse als Erzieher. In: Kott, Sandrine u. Ders. (Hrsg.): Die Ostdeutsche Gesellschaft. (2006), S. 35 – 52. 25 Entwurf eines Lehrplans für die EOS für Deutsche Sprache und Literatur. Ohne Jahr. Ca. Mitte der 1950er Jahre, BArch DR2/4372, Blatt 7. 26 Ebda., Blatt 6.
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raturunterrichts gelegt. Dem liegt ein literaturwissenschaftliches Paradigma zugrunde, wonach Literatur gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegele und über das Erkennen derselben die Schülerin ihr eigenes Handeln auf der Basis einer historischen »Korrektheit« überprüfen und verbessern kann und dadurch wiederum eine Gesellschaft nach historisch teleologischer Folgerichtigkeit aufbauen kann.27 Dass dadurch auch die konkreten sozialen Umstände einer permanenten Überprüfung der Schülerin auf der Basis dieses Paradigmas unterliegen und somit auf ihre »Richtigkeit« hin beurteilt werden können, ist mehr ein ungewollter Nebeneffekt, als pädagogisches und politisches Interesse. Diese charakterliche Erziehung wird in den kanonischen literaturpädagogischen Feldern konkretisiert, wobei Literatur zum Ausdruck eines teleologischen und siegreichen Geschichtsverlaufs im Interesse der Arbeiterklasse wird. So sind Analyse, Stoffbehandlung und die didaktische Einübung einer Adaption des Vorbilds Heinrich Heine und seinem Werk genau definiert. Heine im Unterricht Heinrich Heines Werk und Biografie sollte den Lehrplanvorgaben nach in eine nationalliterarische Tradition eingeordnet werden. Ausgehend von der bürgerlichen Klassik über den klassischen Realismus und den Sturm und Drang hin zum sozialistischen Realismus und ihrem ästhetischen und politischen Höhepunkt in der sowjetischen Literatur.28 Die literaturtheoretischen Grundannahmen von der Widerspiegelung einer historisch andauernden Realität, welche der Autor aufschreibe und die Leserin zu erkennen und auf ihre eigene Gegenwart anzuwenden habe, finden ihre Entsprechung in der Verortung Heines und den Interpretationsvorgaben seiner Texte in den kämpferischen Auseinandersetzungen um Arbeit und Nicht-Arbeit.29 In den inhaltlichen Bestimmungen dessen was Heines Beitrag in diesem Kampf 27 Ebda., Blatt 1ff. 28 Ebda., Blatt 2 und 8. 29 Seine kanonische Einordnung und die Besprechung seiner Werke im Unterricht soll auf der ausführlichen Behandlung Georg Büchners »Hessischer Landbote« aufbauen. Zur Konstruktion ostdeutscher Arbeitsidentität aus dem Büchnertext siehe: Henning, Astrid: Friede den Hütten! Kampf den Palästen! Vortrag auf dem Symposium »Das Vergangene im Gegenwärtigen«. Leipziger Kreis, Leipzig 2007.
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ausmache, zeigen sich die Kerne der Diskurse, in welchen die Schülerinnen sich in ihren Aufsätzen auf Heine beziehen, wenn sie sich selbst als neue sozialistische Bürgerinnen oder überhaupt nur als Bürgerinnen eines besseren Deutschlands beschreiben: So sollen die Lehrer Heines Kampf für eine bürgerlich-demokratische Umwälzung herausstellen und seinen Patriotismus »und seinen unerschütterlicher Glaube an den Sieg des Fortschritts«30 erkennen lassen. Sie sollen Heines Bemühung um die Völkerverständigung (Deutschland – Frankreich), konkret um die Verständigung zwischen den proletarischen Klassen beider Länder betonen. Die Schülerinnen sollten insbesondere Heines Annäherung an Karl Marx und die Auswirkung des Marxismus auf Heines Schaffen und Philosophie aus den Texten interpretieren. Für die charakterliche Bildung der Schülerin und die Ausbildung ihrer eigenen Charakterurteile spielt die Diskussion um die widersprüchliche Beurteilung des Kommunismus (Vorrede zur Lutetia) eine ebenso bedeutende Rolle wie die Annäherung an Marx. Die pädagogisch angestrebte Ausbildung von Verhaltensreflexionen und Beurteilung von Charaktereigenschaften hangelt sich bei der Vermittlung von Heine als Vorbild, als Raster immer wieder daran entlang, dass Heine zwar nicht genauso gut wie Marx gewesen sei, aber durch sein Streben »Gott nachzuahmen« allein schon »gottgefällig« gelebt habe. Hier zeigt sich warum das Kollektivvorbild Heine so adaptierbar ist für die eigene Lebensweise der Schülerin. Gleich einem Heiligen im Mittelalter lebt er wie ein normal Sterblicher, erkennt im Laufe des Lebens das »Gotteswort« und strebt dann danach dem »Gotteswort« zu folgen, nicht aber gottgleich zu sein. Es ist diese Analogie zum »normalen« Leben, welche eine Identifikation möglich macht (der Text der Biografie darf nicht zu fantastisch sein, wenn die Leserin Parallelen zu ihrem Leben finden und Interesse am Text haben soll) und gleichzeitig eine Ordnung von einer (göttlichen) Obrigkeit, über die »heiligen« Vorbilder zu den Gotteskindern, oder den neuen geistigen Kindern Marx’ – den Schülerinnen aufbaut. Für das Gelingen dieser Ordnungskonstruktion ist die Bearbeitung eines Werdegangs Heines wichtig. Wie Saulus habe Heine demnach eine Wandlung unternommen, welche im Lehrplan durch den Übergang seiner literarischen Beschreibung persönlicher Erfahrungen zur Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse vermittelt
30 BArch DR2/4372, Blatt 10.
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werden soll.31 Damit ist mit der literaturhistorischen Unterrichtsvermittlung ein charakterlicher Prozess beschrieben, welchen die Schülerin vorbildhaft nachvollziehen soll: Das individuelle Bedürfnis in der gesellschaftlichen Verfassung und Veränderung der Gemeinschaft aufgehen zu lassen. Verbunden mit der Betonung von Heines permanenter Wachsamkeit gegen den Klassenfeind wird damit ein menschliches Vorbild vom Träger eines besseren Deutschlands gezeichnet. Eines besseren Deutschland, welches durch einen »großen endlichen Sieg«32 – seiner eigenen nationalen Erfüllung – dafür verantwortlich wird, die weltweite aurea aetas herbeizuführen. Dabei wird die bürgerliche/preußische/kapitalistische Nation zwar negiert, aber dennoch ständig berufen, um daraus die sozialistische Nationalisierung zu formieren. Verbunden mit der quasi-göttlichen Charakterordnung erfüllen damit Heines Biografie und sein Werk die literaturdidaktische Funktion, eine historisch-mystische Wirklichkeit des Krieges der Klassen darzustellen, daraus eine Nation der Proletarier abzuleiten, ihnen ein goldenes Zeitalter in der DDR zu versprechen und den Schülerinnen Maßstäbe charakterlicher Beurteilung mitzugeben, die sie in ihrer Gegenwart befähigen den Klassenkampf fortzuführen und den Feind zu erkennen. Ich werde im Folgenden diese Kollektivbiografie etwas näher beleuchten, da sie ja nicht nur schemenhaft in den Lehrplänen offeriert wird, sondern aus dispositiven Zusammenhängen auch Grundlage der wissenschaftlichen Interpretation wird – eine Interpretation, die mit ihrem Anspruch auf Wahrheitsgehalt und Objektivität die Wissens- und Denksysteme der Schülerinnen komplex und tiefgründig strukturieren soll. Kollektivbiografie Heinrich Heine Die großen Erzählungen, die das kollektive Gedächtnis, seine Erinnerungen und seine Bewertungen ausmachen, sind selbst Macht und mit konkreten Machtverhältnissen verbunden.33 Ihr Erzählen rechtfertigt
31 BArch DR2/4372, Blatt 11. 32 Ebda. 33 Foucault, Michel: Vorlesung vom 28. Januar 1976. In: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975 – 1976). Suhrkamp, Frankfurt/Main 1999, S. 76 – 98. Hier S. 77.
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Macht und verstärkt dieselbe in der Realität.34 Foucault erkennt in diesen Erzählungen der Macht und der Faszination an dieser Macht durch die Beherrschten drei zieladäquate Aspekte. 1.) Das Erzählen einer Traditionsachse von den Gründerhelden und ihrer Heldentaten zur gegenwärtigen Bevölkerung. Hier wird Zeugnis abgelegt von einem althergebrachten Recht der Macht des Souveräns. 2.) Die Aufzeichnung des Lebens und Wirkens der Vorfahren, bei der jede Handlung zur Verpflichtung für die Nachfolger wird und die Handlungen »unbegrenzt gegenwärtig«35 erscheinen lassen. Aus diesem Aspekt des Erzählens ergibt sich 3.) das Erzählen und Konfigurieren von tradierten Vorbildern. »Das Vorbild ist das lebende oder zum Leben wiedererweckte Gesetz; es ermöglicht, die Gegenwart zu beurteilen und sie einem Gesetz zu unterwerfen, das stärker ist, als sie selbst. Das Vorbild ist in gewisser Weise die Glorie des Gesetzes, das Gesetz, das sich im Glanz eines Namens sonnt. In der Ausrichtung des Gesetzes und des Glanzes auf einen Namen gewinnt das Vorbild Kraft und funktioniert als Verstärker der Macht.«36
Mittels der staatlichen Vermittlung einer literaturwissenschaftlichen und literaturgeschichtlichen Tradition, ihren Wissensfeldern und Vorbildern wird der Wille der souveränen Herrschaft zum Wille der Bevölkerung, da hier die emotionale Identifizierungen der Bevölkerung mit dem Willen des Staates strukturiert wird und den Individuen ein Begehren nach der Macht des Souveräns vermittelt, da nur dieser in der Lage sei, die historisch-notwendigen Aufgaben zum Wohle der »Wir-Gemeinschaft« zu erfüllen. Welches sind nun die großen Erzählungen, die im Falle der DDR die Herrschaft der SED legitimieren und die Bevölkerung durch Vorbilder und kollektive Identitätsvorstellungen an die Herrschaft des Souveräns binden sollen? An vorderster Stelle steht die Erzählung des teleologischen Geschichtsverlaufs, in welchem die Arbeiterklasse in permanenter kriegerischer Auseinandersetzung mit der Ausbeuterklasse zu ihrem vorbestimmten Sieg bestimmt ist. Der Antifaschismus ist in diesem Geschichtsverlauf die entscheidende Zäsur. Ihm kommt die
34 Ebda., S. 77. 35 Ebda., S. 79. 36 Ebda., S. 79.
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diskursive Aufgabe zu sowohl den Krieg der beiden Klassen, als auch den unausweichlichen Sieg der Arbeiterklasse zu bezeugen und zu erklären. Die diskursive Zäsur des Antifaschismus leitet eine weitere große Legitimitätserzählung der DDR ein, wonach der »Staat der Arbeiter« die folgerichtige Notwendigkeit des Geschichtsverlaufes und die Heimat der Arbeiter sei. Innerhalb dieser Erzählung fungieren die vielstimmigen Geschichten der »Ankunft« im Heimatstaat der Arbeiter. Unabhängig ob Kommunist, Sozialist, klassenunbewusster Arbeiter oder sogar Bürgerlicher – über die Praxis der Arbeit erhalten sie alle in den vielstimmigen Erzählungen der Nachkriegszeit (die sich wie ein roter Faden noch durch die politischen, pädagogischen oder ästhetischen Plots der nächsten Jahrzehnte ziehen) eine Heimat im Staat, besonders jedoch in der Gesellschaft der DDR.37 So ist die Schul- und Kulturpolitik aller Besatzungsmächte in den deutschen Zonen in den Nachkriegsjahren geprägt von der Einordnung des Faschismus und des Antifaschismus in eine Erzählung über die Geschichte des deutschen Volkes. Das betrifft ebenso die Auswahl der Klassiker, auf welche sich die Jugend im Sinne eines Vorbildes beziehen soll. Während in den westdeutschen Besatzungszonen eine direkte Linie der Klassiker zur bürgerlichen Demokratie gezeichnet wird, zieht sich die Linie in der SBZ und DDR entlang der Kämpfe der Arbeiterklasse. In diesem Kanon fungiert Heinrich Heine qua seiner Biografie neben Goethe und Schiller als Vorbildklassiker.38 Aus diesem Grund ist die vorherrschende literaturwissenschaftliche Heinerezeption jener Jahre auch biografischer Art. Gallionsfiguren dieser Verknüpfung einer Vorbildbiografie mit antifaschistischer Umerziehung sind Walther Victor und Hans Kaufmann. Letzterer verbindet in seiner Dissertation: »Politisches Gedicht und Klassische Dichtung. Heinrich Heine – Deutschland. Ein Wintermärchen.« (die zum Flaggschiff für die Rezeption auch im Literaturunterricht wurde) Heines Werk mit dessen Biografie und mit den philosophischen, teleologischen Prinzipien des historischen Materialismus. Damit stellt er Heine in eine Tra-
37 Nur paradigmatisch sei hier auf den Roman verwiesen, der dem Genre der Ankunftsliteratur seinen Namen gab: Reimann, Brigitte: Ankunft im Alltag. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 20012. (Ersterscheinung: 1961) 38 Dafür spricht vor allem die hervorgehobene Rolle, die Heine neben Schiller, Goethe und zeitgenössischen sozialistischen Schriftstellern in den Prüfungsfragen der Schulen jener Jahre einnimmt. BArch DR/2.
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ditionslinie mit dem wissenschaftlichen Sozialismus. Heine wird ein Reifeprozess zugeschrieben vom lyrischen, romantischen Schriftsteller zum romantisierenden Saint-Simonisten und schließlich zum wissenschaftlich-philosophischen Frühsozialisten. Der Reifeprozess mündet schließlich, so Kaufmann, im schriftstellerischen Werk der 1840er Jahre und damit in der Bekanntschaft zu Marx. »Sein eigenes Programm einer auf der Höhe der Zeit stehenden und hochkünstlerischen politischen Dichtung erfüllte Heine selbst am glänzendsten in der Zeit seiner Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit Karl Marx.«39
Insbesondere in dieser Kulmination wird Heine zur Vorzeigefigur zu der die Leserin Parallelen zu ihrem eigenen Leben ziehen kann. In der Parallele zu Heine, dessen philosophische Positionierung eben nicht gleich der Marx’ war, sich aber von einer liberalen oder bürgerlichdemokratischen Kritik durch die Bekanntschaft mit Marx zu einer »richtigen« historisch-dialektischen Tendenz hin entwickelt habe, soll sich die Jugendliche selbst erkennen. Ebenso wie Heine den SaintSimonismus hinter sich gelassen habe als er Marx kennen lernte, müsse nun auch das Nachkriegsindividuum alle Vorstellungen einer nichtmarxistischen Gesellschaft hinter sich lassen.40 Besonders deutlich wird diese Parallele in einer Jahreszahlenanalogie, die durch Kaufmanns Hervorhebung von Heines Schaffenshöhepunkt in der Bekanntschaft mit Marx entsteht. Zudem stellt Kaufmanns Betonung des Biografischen an sich eine Referenz für die Leserin dar, mit der sie aus der vorgestellten Biografie Heines ein Vorbild für sich abzuleiten habe. Der literarische Text Heines stünde nach Kaufmanns Analyse nie alleine, sondern erhält erst durch die biografische Entwicklung, genauer durch das politisch richtige Verhalten des Autors seine Bedeutung. Und so kann Heines Positionierung in den Jahren 1840 – 1844 nach früherer politischer Unreife, die ihren Höhepunkt in den Revolutions- und Restaurationsjahren 1848 – 1850 erfährt, als Angebot an die Leserin verstanden werden, sich durch die Bejahung der Positionie-
39 Kaufmann, Hans: Zum hundertsten Todestag des großen deutschen Dichters. In: Einheit. Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus. Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (Hrsg.). Jg. 11/1956, Heft 2, S. 137 – 148. Hier: S. 142. 40 Ich danke Dr. Jan Hans für diesen Hinweis.
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rung Heines auf die historisch richtige Seite zu stellen. Vor dem historischen Hintergrund der Leserin im ersten Nachkriegsjahrzehnt muss die Betonung der richtigen Positionierung Heines wie ein Angebot erscheinen. Ein Angebot, das dem den antifaschistischen und friedensorientierten Begehren der Jugendlichen nachkam, ebenso wie dem Begehren als Nicht-Schuldige nun eine besondere Rolle der Hoffnungsträgerinnen für die neue Gesellschaft zu spielen. Denn gerade wenn sich die Schülerin hier dem Vorbild Heines anschlösse und aus der historischen Notwendigkeit auch für sich eine Positionierung ableite, dann stünde man tatsächlich letztendlich (so wie Heine) auf der Seite der historischen Sieger. Dafür müsse man als Leserin allerdings nicht nur die Positionierung Heines anerkennen und mittragen, sondern auch anerkennen, dass die DDR sowohl Heines »Werk« vollende, dass sie legitime Nachfolgerin der mystischen Tradition zwischen Heine und der Leserin sei und dass sie als Staatengebilde im Gegensatz zum anderen deutschen Nachkriegsstaat historische Siegerin sei. Doch man würde der Bedeutung von Kaufmann nicht gerecht, würde man seine Heineinterpretation auf eine rein biografische verengen. Modellhaft verbinden das Ministerium für Kultur (Heineehrung/ Kulturbund) und das Ministerium für Volksbildung (Prüfungsaufgaben/Lehrplan) die als vorbildhaft erkannte Lebensgeschichte Heines im Austausch mit der wissenschaftlichen Heineinterpretation Hans Kaufmanns mit dem Werk Heines selbst. Durch diese Verknüpfung gelingt eine Verbindung von Heines ästhetisch-politischen Aussagen zur Nation mit der Philosophie Hegels und Marx’. In seiner Dissertation leitet Kaufmann eine Parallele der Dichtung Heines zu Marx’ »Einleitung der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« her und liest den Einfluss von Marx auf Heine an der Zielrichtung des Kampfes ab.41 Die Parallelität von Leben, Kampf und Philosophie wird durch einen permanenten Vergleich der Zitate von Marx und Heine verdeutlicht. Der schon in der Biografie hervorgehobene und zur Kollektivpraxis avancierte Reifeprozess zeige sich demnach auch im Werk selbst. Heines Gedichte, so Kaufmann, seien im Laufe seines Schaffens politischer geworden und bezögen sich immer mehr auf die Notwendigkeit, Kritik nicht liberal oder bürgerlich-demokratisch zu äußern. Stattdessen zeigten sie eine pro-proletarische, pro-kommunistische und histo-
41 Henning, Astrid: Heinrich Heine und Deutschsein in der DDR (2007), S. 84f.
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risch-dialektische Tendenz seitdem Heine Marx 1843 durch die Zusammenarbeit an den Deutsch-Französischen Jahrbüchern in Paris kennen gelernt hatte. »Die Konsequenz der Ansichten, an deren Schwelle er seit längerer Zeit stand, und damit den Anstoß zu neuer politisch-literarischer Aktivität gab, gab ihm die revolutionär-demokratische Fraktion der deutschen Opposition, vor allem Marx.«42
In enger zeitlicher Verbindung mit der Entstehung des Weberliedes wird der kämpferischen Literatur Heines eine neue Qualität zugesprochen, die in den zeitlichen Rahmen zur Marxbekanntschaft gesetzt wird und aus der dann die Inhalte der Dichtung interpretiert werden müssen. »Seine (Heines) politischen Äußerungen zeichnen sich ebenso wie seine Werke philosophischen, historischen und ästhetischen Inhalts stets durch ihren stark historisch-dialektischen Charakter aus, durch das Bemühen, in den Erscheinungen des Lebens die Entwicklungsprozesse und ihre Gesetze, das kampfreiche und widerspruchsvolle Entstehen und Vergehen aufzuspüren.«43
Der Verweis auf die biografischen Einflüsse der Zitatautorität Marx manifestiert dabei die Lesart, dass eine teleologisch-philosophische Entwicklung mit Heine vorgegangen sei und belegt zugleich, dass dieser Höhepunkt des Schaffens auf die Einsicht in die frühen Theorien von Marx zurückzuführen sei. Es ist diese Anlehnung der philosophischen und biografischen Entwicklung Heines an die historisch-materialistische Analyse Karl Marx, welche die Grundlage dafür gibt, sich als Schülerin in diesem Sinne als Angehörige der richtigen Nation zu definieren. Denn die Interpretation von Heines Werk und Biografie als ästhetisch und sozial vorbildlich wird gekoppelt an die Zustimmung zur politischen Kernaussage der marxistischen Theorie und Praxis: dem Antagonismus von Bourgeoisie und Proletariat, von Arbeit und Nicht-Arbeit.
42 Kaufmann, Hans: Heinrich Heines Gedicht »Deutschland. Ein Wintermärchen«. Eine Analyse. Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. 1956, S. 60. 43 Ebda., S. 14.
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Die Positionierung im Hauptwiderspruch Arbeit und Nichtarbeit ermöglicht eine besondere Einordnung in nationale Wertemuster der deutschen Nachkriegsstaaten: Die Anerkennung der Wahrheitsaussagen und die Verortung im Diskurs um antifaschistische Subjektivität.44 Die antifaschistische Zugehörigkeit entsprang dabei nicht mehr dem konkreten Widerstand während des Faschismus, sondern wurde verengt auf den marxistischen »Hauptwiderspruch: nämlich (den) unversöhnlichen Gegensatz [...] zwischen den grundlegenden Interessen der breitesten Volksmassen auf der einen Seite, der faschistischen Großbourgeoisie und dem Militarismus auf der anderen Seite.«45 Somit bedeutete ein antifaschistisches Selbstverständnis auch gleichzeitig die Anerkennung, dass jede kapitalistische Wirtschaftsordnung (insbesondere die der BRD und der USA) eine potentiell faschistische sei – und damit die eigene nationale Zugehörigkeit zum antifaschistischen Staat auch die Zugehörigkeit zum besseren, zum richtigen Deutschland, zur »Nation des Volkes« bedeute. Die Interpretation der Heinetexte auf der Basis dieser Kollektivbiografie und ihrer philosophisch-politischen Anlehnung an den marxistischen Hauptantagonismus ermöglicht daher eine Identifikation der Schülerin mit Heine auf der Basis eines Begehrens nach einer antifaschistischen Selbstverortung. Verbunden mit dem konkreten Handlungsauftrag, den Heines Texte selbst an die Jugend stellen, kann die Leserin sich als Akteurin für ein »besseres Deutschland« fühlen. Sie kann und soll ihr eigenes Denken, Bewerten und Handeln daran ausrichten, im Sinne der im Unterricht vermittelten Interpretation sich selbst zu positionieren. Also sich als Subjekt fühlen, das identisch ist mit einer gedachten Gemeinschaft – mit ganz bestimmten Erwartungen, Begehren und Wünschen an seine gesellschaftspolitische Gemeinschaft. Heine wird damit zu einem kollektiven Phantasma – ein (Pop)Idol, welches gerade durch das Vormarxistische, das Noch-nicht-angekommen-Sein die Begehrensstrukturen der Schülerinnen bündelt. Seine konkrete Ansprache der Jugend in ihrer Rolle als Vollenderin einer glücklichen Gesellschaft, in welcher nicht nur Wohlstand, sondern
44 Henning, Astrid: Heinrich Heine und Deutschsein in der DDR (2007), S. 46ff. 45 Heitzer, Heinz (Hrsg.): DDR-Geschichte in der Übergangsperiode (1945 – 1961). Akademie Verlag, Berlin/DDR 1987, S. 83.
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auch Befreiung der Leiber und der Seelen Realität geworden ist (Wintermärchen, Geschichte und Religion in Deutschland oder Elementargeister) pointiert das Glücksversprechen und die Glückspflicht, welches dieser Generation qua ihrer Position als Nachkriegskinder im familiären Umfeld und in der staatlichen Konsolidierung angetragen worden ist. Dieses populäre Signifikat Heine kann darüber hinaus – und die Traditionsbildung entlang der Klassiker vor allem durch Walther Victor leistet dem großen Vorschub – eine bildungsbürgerliche Lernbeflissenheit befriedigen. Eine hervorgehobene Bedeutung eines humanistischen Bildungsideals, welches einigen Schülerinnen aus ihrem Elternhaus als identitätsstiftende Kategorie vermittelt wurde, denn die Zusammensetzung der Oberschulen führte trotz der weitgreifenden Schulreformen zwischen 1946 und 195946 nicht zu einer Überrepräsentation der Arbeiterkinder an den Oberschulen.47 Die Einordnung Heines in eine Tradition der humanistischen Klassiker, die ihre Verbindung zur schreibenden Schülerin selbst findet, die Verweise in Heines Werk auf humanistische Bildungsideale und Ideale der bürgerlichen Aufklärung, die Hervorhebung von Vernunft etc., lassen Heines politische Biografie als kollektive Idealbiografie und sein Werk als einen permanenten Zitatenpool für die eigene Identitätsverortung erscheinen. Eine Identität, die dabei sowohl der humanistischen Traditionslinie aus dem Schulunterricht folgen kann (im Verweis auf die Lesebücher Walter Victors z.B. A22, S.5) als auch sich durch die
46 Solga, Heike: Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR. Akademie-Verlag, Berlin 1995, S. 102ff. 47 Zur sozialen Zusammensetzung der Gymnasien und Oberschulen in der DDR siehe: Meulemann, Heiner (Hrsg.): Werte und nationale Identität im vereinten Deutschland. Erklärungsansätze der Umfrageforschung. Leske und Budrich, Opladen 1998. Und: Kälble u.a. (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR. Klett-Cotta, Stuttgart 1994. Und: Weber-Menges, Sonja: »Arbeiterklasse« oder »Arbeitnehmer«? Vergleichende empirische Untersuchung zu Soziallage, Lebenschancen und Lebensstilen von Arbeitern und Angestellten in Industriebetrieben. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004. Oder: Solga, Heike: Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR. Akademie-Verlag, Berlin 1995.
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Betonung des bürgerlichen Bildungsideals als widerständig gegen die schulische und damit staatliche Definition verhalten kann. Eine Definition, welche die Art wie die Identität einer Staatsbürgerin zu sein habe (nämlich nicht-bürgerlich, sondern proletarisch, als Teil der Arbeiterklasse) festlegt. Ich werde nun einen Einblick geben, wie sich im Schreiben über Heines Werk im Wechselspiel zwischen Anerkennung-Finden, dem Zeugnis Heine richtig verstanden zu haben und sein Werk selbst als Zitatenpool eigener Erfahrungen zu nehmen eine Subjektivierung entlang nationaler Inhalte entwickelt und ablesen lässt. Zuvor benötigt es aber eines kurzen Ausblicks auf die nationalen Inhalte im Werk Heines, auf seine Verwendung der nationalen Signifikate Heimat, Vaterland und Nation. Denn nur in der permanenten Wechselwirkung zwischen der Interpretation von Heines Werk und Biografie als kollektiv vorbildlich durch die wissenschaftlichen seriösen Sprecher, dem Begehren der Schülerinnen und den Textinhalten selbst ist die inhaltlich konkrete Identifikation auszumachen. Heinebild und Heines Nation Die intellektuellen Diskurse im postfeudalen Europa sind eng verbunden mit der Frage nach der Bedeutung der Nationalität für die Emanzipation. In den deutschen Staaten sind in der Mitte des 19. Jahrhunderts zwei divergierende intellektuelle Strömungen auszumachen.48 Während die liberalen Vormärzliteraten, so zum Beispiel Ernst Moritz Arndt, ihr Selbstverständnis und ihre Emanzipationsansprüche mit der Forderung nach einem Nationalstaat Deutschland verbinden, fordern die Vertreter des Jungen Deutschland (ihnen voran Heinrich Heine) eine europäische Unität. Die Publikationen Heinrich Heines, die sich mit der Nation beschäftigen und dort Stellung für ein Europa als Nation beziehen, sind dabei jedoch nicht zu lösen von einem deutschen Europagedanken, mitsamt der Präferenz des (dem deutschen Nationalcharakter zugeschriebenen) Idealismus und eines deutschen Sendungsbewusstseins (am »deutschen Wesen« soll die Welt genesen).49 Das ist
48 Stauf, Renate: Der problematische Europäer. Heinrich Heine im Konflikt zwischen Nationenkritik und gesellschaftlicher Utopie. Heidelberg 1997 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; Folge 3, Band 154). 49 Ebda.
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selbst in den binationalen oder Deutschland-kritischen Schriften wie der Philosophie und Religion der Geschichte Deutschlands oder dem Vorwort des Wintermärchens zu erkennen. Heine bewegt sich also innerhalb einer öffentlichen Debatte um die Zukunft Europas, die im 19. Jahrhundert erstmals in großem Umfang die von Hegel etablierten Nationalcharaktere zu ihrer philosophischen Grundlage macht. Dabei schwankt die Auseinandersetzung zwischen einer Bevorzugung des englischen (praktischen)50, französischen (staatsmännisch-revolutionären) und deutschen (spirituell-philosophischen) Charakters bzw. dem Ideal einer Verbindung von mindestens zweien dieser Charaktere. Die Zwiespältigkeit von Heines National- und Freiheitsbild ergibt sich aus der Beurteilung seiner biografischen Erfahrungen, aus den Emanzipationsentwürfen der europäischen Linken und auch aus der Verortung in den deutschen Nationalvorstellungen seiner liberalen (und intellektuell prägenden) Zeitgenossen. Seine Deutschlandbeschreibungen sind geprägt von einem ironischen Hass auf ein altes Deutschland, auf die militärisch-preußische Reform von oben, welche die eigentliche staatsbürgerliche Freiheit nicht zulasse und auf die Herrschaft des Adels, konkret die dadurch institutionalisierte Ungleichheit qua Geburt. »Mit den deutschen Staaten, wie sie faktisch bestanden, konnotierte [...] Heine durchweg Unterdrückung, Beschränkung, Limitierung, Zensur, Haft. Das wird besonders deutlich bei den Auslassungen um [...] Preußen.«51
Diesen Deutschlandhass konzipiert Heine innerhalb eines Feldes der neuen teleologischen Geschichtserzählung, welche die Emanzipationsbestrebungen des Bürgertums nicht mehr retrospektiv erzählt, sondern einem zukünftigen goldenen Zeitalter der Zukunft unterordnet. In der Romantischen Schule beschreibt und kritisiert Heine eine Geschichte des Vergangenen, eine Propaganda des Mittelalters mit Lebensanleitung für die Gegenwart und offeriert dabei ein Geschichtsbild, welches nicht auf die Wiederherstellung eines paradiesischen Zustandes aus der Vergangenheit setzt, sondern die goldene Ära in die Zukunft verlegt.
50 Dessen Bedeutung Heine für die europäische Befreiung negiert. 51 Lützeler, Paul Michael: Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart. Piper, München 1992, S. 117.
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Wülfing weist darauf hin, dass die Verbindung von Romantik und Mittelalter in Heines Werk den pejorativen Verwendungszweck der ersteren hervorhebt. Die reaktionäre Romantik gehört demnach einem Zeitalter der Menschengeschichte an, das absolut überholt und beendigt ist. Es soll dabei nicht nur eine bestimmte Phase diskreditiert werden, sondern ein »jederzeit mögliches Denken, das im Religiösen die Reformation und im Philosophischen die Aufklärung ignoriert.«52 Diese prospektive Utopie vom Goldenen Zeitalter rekurriert aus Schlegels Suche nach einer europäischen Befreiung außerhalb des europäischen Mittelalters, aus der Interpretation der Philosophie Hegels von den Individualcharakteren der Völker und Kants und Rousseaus Definition eines Humanismus. Und sie erhält in der Feder Heines eine religiös-säkularisierte Prägung: seine Religion wird die Freiheit. »Die Freiheit ist eine neue Religion, die Religion unserer Zeit.« (Englische Fragmente). Aus der Erfahrung der Differenz zwischen dem Code Napoleon und Napoleons imperialer Praxis entwickelt Heine seine politische Praxis der europäischen Befreiung in der Zukunft. Sie ist strukturiert von der dialektischen Auseinandersetzung um Sensualismus (Rehabilitierung der Materie und der Sinne bei Anerkennung der Rechte, ja der Oberhoheit des Geistes) und Spiritualismus (»frevelhafte Anmaßung des Geistes«, repräsentiert von den Religionen durch die Verwerfung des Fleisches)53. Diesen beiden Unterscheidungsmerkmalen bei der historisch-evolutionären Entwicklung zur Freiheit setzt Heine einen Pantheismus als Leitbild vor, welcher die Befreiung des Fleisches unter Wahrung der Herrschaft des Geistes sichern soll und somit Heines Weltbild theologisch tragen und festigen soll. »Die politische Revolution, die sich auf die Prinzipien des französischen Materialismus stützt, wird in den Pantheisten keine Gegner finden, sondern Gehülfen, die ihre Überzeugungen aus einer tieferen Quelle, aus einer religiösen Synthese, geschöpft haben [...] Wir kämpfen nicht für die Menschenrechte des Volkes, sondern für die Gottesrechte des Menschen [...] wir stiften eine Demo-
52 Wülfing, Wulf: Schlagworte des Jungen Deutschland. Mit einer Einführung in die Schlagwortforschung. Schmidt, Berlin 1982, S. 93. 53 Zur genaueren Auseinandersetzung mit den politischen Kategorien Heines um Sensualismus versus Spiritualismus siehe: Heine, Heinrich: Ludwig Börne. In: Ders. Sämtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb. Bd.4, dtv, München 1997, S. 7 – 148.
94 | D IE ERLESENE N ATION kratie gleichherrlicher Götter [...] und verlangen Nektar und Ambrosia, Purpurmäntel, kostbare Wohlgerüche, Wollust und Pracht, lachenden Nymphentanz, Musik und Komödien [...].«54
Um die Befreiung des Fleisches und eine Befreiung des Geistes politisch umzusetzen, müht sich Heine um einen Verbindungsauftrag Frankreichs und Deutschlands, denn die Freiheitsreligion sei nur durch die Verbindung des einen revolutionären Partners (Frankreich) und des anderen spirituellen (Deutschland) zu gewährleisten (Religion und Geschichte Deutschlands, Französische Maler). Im politischen Aufruf zu einem goldenem Zeitalter durch die konkrete Beteiligung der Deutschen und der Franzosen etabliert Heine durch diese nationale Rollenzuschreibung im Kampf um Europas Freiheit gleichzeitig einen genuinen deutschen Nationalcharakter, dem im Emanzipationskampf des europäischen Bürgertums neben dem französischen Nationalcharakter eine dominante Rolle zukomme (Reisebilder, Briefe aus England). Im Gegensatz zu den Franzosen (nach Heine ein Volk der Tat) stellen die (ideellen) Deutschen für Heine jene Zeitgenossen dar, die als Volk des Geistes die Idee der Revolution weiter trügen und somit eine dauerhafte Veränderung der Welt (Europas) mittels des Geistes und seiner erzieherisch wirkenden Funktion ermöglichen würden. »Indessen, die Elsasser und Lothringer werden sich wieder an Deutschland anschließen, wenn wir das vollenden, was die Franzosen begonnen haben, wenn wir diese überflügeln in der Tat, wie wir es schon getan im Gedanken, wenn wir uns bis zu den letzten Folgerungen desselben emporschwingen, wenn wir die Dienstbarkeit bis in ihrem letzten Schlupfwinkel, dem Himmel, zerstören, wenn wir den Gott, der auf Erden im Menschen wohnt, aus seiner Erniedrigung retten, wenn wir die Erlöser Gottes werden, wenn wir das arme, glückenterbte Volk und den verhöhnten Genius und die geschändete Schönheit wieder in ihre Würde einsetzen, wie unsere großen Meister gesagt und gesungen und wie wir es wollen, wir, die Jünger – ja, nicht bloß Elsaß und Lothringen, sondern ganz Frankreich wird uns alsdann zufallen, ganz Europa, die ganze Welt – die ganze Welt wird deutsch werden! Von dieser Sendung und Universalherrschaft
54 Heine, Heinrich: Zur Geschichte der Religion. Mit einem Essay »Heinrich Heine und das Schulgeheimnis der deutschen Philosophie« von Wolfgang Harich. Reclam Leipzig, 19663. Zweites Buch, S. 111.
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Deutschlands träume ich oft, wenn ich unter Eichen wandle. Das ist mein Patriotismus.« 55
Zudem erhält auch der deutsche Nationalcharakter seine Blüte, seine Frucht in der Jugend und der Zukunft selbst. »Das alte Geschlecht der Heuchelei / Verschwindet Gott sei Dank heut, / Es sinkt allmählich ins Grab, es stirbt / An seiner Lügenkrankheit. // Es wächst heran ein neues Geschlecht, / Ganz ohne Schminke und Sünden, / Mit freien Gedanken, mit freier Lust – / Dem werd ich alles verkünden. // Schon knospet die Jugend, welche versteht / Des Dichters Stolz und Güte, / Und sich an seinem Herzen wärmt, / An seinem Sonnengemüte.«56
Heine ruft die Jugend als Vollenderin der nationalen Bestimmung konkret an (Wintermärchen, Reisebilder, späte Gedichte, z.B. »enfant perdu«). Sie sei die Generation, die per se jenen besseren Menschen hervorbringe, dessen Entstehung Heine in die Zukunft verlegt (Siebtes Gedicht aus dem Zyklus Seraphine)57. Vor allem aber sei die Jugend jene Generation, die Europa zu einer wirklichen Befreiung führe (des Geistes und des Fleisches, politische, soziale und moralische Emanzipation)58. Paradigmatisch zeigt sich dies im VII. Gedicht des Prologzyklus »Seraphine«: »Auf diesem Felsen bauen wir / Die Kirche von dem dritten, / Dem dritten neuen Testament; / Das Leid ist ausgelitten. // Vernichtet ist das Zweyerley, / Das uns so lang bethöret; / Die dumme Leiberquälerey / Hat endlich aufgehöret. // Hörst du den Gott im finstern Meer? / Mit tausend Stimmen spricht er. / Und siehst du über unserm Haupt / Die tausend Gotteslichter? // Der heilge
55 Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen. Vorwort. In: Ders. Sämtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb. Bd.4, dtv, München 1997, S. 574. 56 Heine, Heinrich. Deutschland. Ein Wintermärchen. Caput XXVII, Vers 516. Ebda. S. 642. 57 Heine, Heinrich: Doktrin. In: Zeitgedichte. Nach: Ders. Sämtliche Schriften. Briegleb, Band 4, S. 412. 58 Stauf, Renate: Der problematische Europäer (1997), S. 333.
96 | D IE ERLESENE N ATION Gott, der ist im Licht / Wie in den Finsternissen; / Und Gott ist alles was da ist; / Er ist in unsern Küssen.//«59
Heines Prosa und Lyrik nach 1840 offenbart, dass ihm das mystische Zeitalter nicht religiöse Utopie bleibt, sondern zum politischästhetischen Programm der Gegenwart wird. Heine spricht von der »Befreiung der menschlichen Leiber und Köpfe [...] (die) freilich auf eine so grundsätzliche Umwälzung der Verhältnisse (zielt), dass sie sich mit den bürgerlichen Vorstellungen der Zeit – insbesondere mit denen der deutschen liberalen Opposition – immer schwerer vereinbaren lassen.«60
Er erhebt die Befreiung der Leiber zu einem neuen Evangelium, welches in seinen politisch-philosophischen Vorstellungen eine bedeutende Rolle spielt. In der Schrift »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland« wird Heine später an die Bedeutung des deutschen Nationalcharakters beim Aufbau des neuen Zeitalters erinnern. Lessing wird zum Propheten desselben, der als Verbindungsglied zwischen dem »Gang der Ideen in Deutschland« und der saintsimonistischen Lehre fungiert. Diese neue Religiosität ist dabei keine tiefe und ernste. Hinck bemerkt zu Recht, dass Heine sich nicht gegen das Dogma der »positiven Religionen gewandt habe, um nun unter den Fittichen einer saintsimonistischen Kirche brav zu werden.«61 In seinem Gedicht Doktrin spielt Heine zwar die saint-simonistische Lehre an, stellt ihm aber das sinnlich-erotische Bild der Küsse der Marketenderin bei. »Schlage die Trommel und fürchte dich nicht / Und küsse die Marketenderin! / Das ist die ganze Wissenschaft, / Das ist der Bücher tiefster Sinn.//«62
59 Heine, Heinrich: Doktrin. In: Zeitgedichte. Nach: Ders. Sämtliche Schriften. Briegleb, Band 4, S. 412. 60 Stauf, Renate: der problematische Europäer (1997), S. 340. 61 Hinck, Walter: Die Wunde Deutschland. Heinrich Heines Dichtung im Widerstreit von Nationalidee, Judentum und Antisemitismus. Insel Verlag, Frankfurt/Main 1990, S. 107. 62 Heine, Heinrich: Doktrin. In: Zeitgedichte. Nach: Ders. Sämtliche Schriften. Hrsg. von Briegleb, Band 4, S. 412.
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Über diese fehlende Ernsthaftigkeit nähert man sich Heines ganzem (und widersprüchlichem) politisch-ästhetischen Verständnis von Nation. Denn dieses ist eben nicht nur prästrukturiert von den zeitgenössischen politischen und philosophischen Debatten, sondern erfährt Brüche durch die Elemente der sozialen Befreiung und der jüdischen Gleichberechtigung. Hinzu kommen die (im 19. Jahrhundert weit verbreitete) Definition von Paris als Kapitale der Moderne, die Abwägung deutscher Verhältnisse unter dem großen Paradigma dieses Revolutionsjahrzehnts und ihrer historischen Bedeutung für die Ausrichtung der Menschheitsgeschichte und nicht zuletzt die Zuwendung zum Kosmopolitismus, der insbesondere wegen der Differenz deutscher Lebenswirklichkeit und deutscher intellektuell-elitärer Entwicklung eine Betrachtung außerdeutscher Verhältnisse als möglichen Weg der Emanzipation erfordere. Insbesondere die kosmopolitische Ausrichtung, die Heines politisch-philosophischer Erwartung angelegt ist und sich aus dem Vergleich Deutschlands mit anderen europäischen Ländern ergibt, bedingt seine Kritik an den nationalistischen Tendenzen und Theorien anderer deutscher Intellektueller. Und so können nicht nur die deutschen Verhältnisse selbst, sondern auch ein deutscher Patriotismus nicht Heines Kritik und nationalpolitischer Abgrenzung entgehen. In seiner Schrift »Über den Denunzianten«, in der er sich der antisemitischen, nationalistischen literarischen Ausfälle Menzels »widmet«, will er nach eigenen Angaben »die Keime und Ursprünge seiner Teutomanie nachzuweisen«63 »Es gilt dem Publikum zu zeigen, welche Bewandtnis es hat mit jenem bramarbasierenden Heldentum der Nationalität, jenem Wächter des Deutschtums, der beständig auf die Franzosen schimpft und uns arme Schriftsteller des jungen Deutschlands für lauter Franzosen und Juden erklärt.«64
Gleichzeitig sind die Attacken auf Menzel auch Angriffe auf eine Gleichsetzung von Sittlichkeit und Patriotismus und damit auf eine Besetzung des Begriffes Patriotismus durch die »Reaktion«. »Sonderbar! Und immer ist es die Religion und immer die Moral und immer der Patriotismus, womit alle schlechten Subjekte ihre Angriffe beschönigen!
63 Hinck, Walter: Wunde Deutschland (1990), S. 144. 64 Ebda., S. 144.
98 | D IE ERLESENE N ATION Sie greifen uns nicht an aus schäbigen Privatinteressen, nicht aus Schriftstellerneid, nicht aus angebornem Knechtsinn, sondern um den lieben Gott, um die guten Sitten und das Vaterland zu retten.«65
Der Patriotismus wird damit als ein Schlagwort der Reaktion entlarvt, der mit seinem Verweis auf das Sittliche jede Freiheit unmöglich macht. »Ich verteidige Religion und Sittlichkeit, weil ich in ihnen eine Stütze der Freiheit finde; Herr Menzel aber, weil er in ihnen eine Stütze der Herrschaft sieht.«66 Die Verknüpfung dieses (reaktionären) Patriotismus mit Antisemitismus, mündet bei Heine in der sozialpolitischen Aufgabe, die er in einem Vaterland Europa erfüllt sieht. »Die Antipathie gegen die Juden hat bei den obern Klassen keine religiöse Wurzel mehr, und bei den unteren Klassen transformiert sie sich täglich mehr und mehr in einen sozialen Grolle gegen die überwuchernde Macht des Kapitals, gegen die Ausbeutung der Armen durch die Reiche.«67
Denn bei aller Bedeutung, die Heine den jeweiligen europäischen Ländern und ihren »Nationalcharakteren« für die Emanzipation Europas und der Welt gibt, und trotz des Sendungsbewusstseins, welchem er dem »deutschen spirituellen, philosophischen Charakter« zuspricht – so ist sein Ziel doch allzeit ein Europa ohne Nationen: »Die ›Verbrüderung der Arbeiter in allen Landen‹ werde den ›Träumen von germanischer, romanischer und slawischer Volkstümlichkeit ein schreckliches Ende machen‹ und ›alles Nationalitätenwesen vertilgen‹, so dass es den ›Na-
65 Heine, Heinrich: Schriftstellernöte 1832 – 1855. Über den Denunzianten. (Juli 1837). In: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Briegleb, Klaus. Band 5. dtv, München 1997, S. 611 – 623. 66 Börne, Ludwig: Menzel der Franzosenfresser. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Neu bearbeitet und herausgegeben von Inge und Peter Rippmann, Band 1–3, Melzer-Verlag, Düsseldorf 1964, S. 938. 67 Heinrich Heine: Ludwig Marcus. Denkworte. In: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Briegleb, Klaus. Band 5, München 1997, S. 175 – 191. Hier S. 184.
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tionalisten‹ und ›sogenannten Patrioten‹ nicht mehr in den Sinn kommen werde, ›an der Deutschheit der Juden zu mäkeln‹.«68
Und somit eignen sich Heines nationalpolitische Diskurse aus mehreren Gründen für eine Nationalisierung der Leserin im Nachkriegsdeutschland: 1.) Sein Geschichtsbild baut auf den historischen Erzählungen auf, die der Schülerin vertraut sind. Teleologische Struktur, Diskreditierung des Vergangenen als Anachronismus und schließlich die Ausrufung eines Goldenen Zeitalters, dessen konkrete »Vollstreckerin« die Jugend, also die Generation der Leserin selbst sei. 2.) Heines Rekurs auf einen genuinen (deutschen) Nationalcharakter, welcher das Goldene Zeitalter – die Freiheit aller Menschen – ermögliche. Die damit verbundenen Charakterurteile über einen intellektuellen Charakter aller Deutschen knüpfen für die Leserin an ein nationales Sendungsbewusstsein an, welches ihnen über Schule, Familie, aber auch innerhalb der Kriegs- und Faschismuserzählungen der Eltern präsent und vertraut ist. 3.) Die Brüchigkeit der Ironie, mit der Heine seinen Deutschlandhass und die Anrufung eines positiven Nationalcharakters verbindet, ist als ästhetisches Stilmittel besonders dazu geeignet, die Brüche der Schülerin zwischen diversen Diskursen des Nationalen zu bündeln. Die Ironie, die in Heines Lyrik und Prosa mit den 1840er Jahren zunimmt, »demonstriert, was ein wirkliches Zeitgedicht von einem Tendenzgedicht unterscheidet: den Verzicht auf populäre Aufrufe, moralische Appelle, gemeinschaftspostulierende Gesten, Parteinahme, Dogmatismus, Fanatismus und Phrasendrescherei.«69 Damit wird dieses Stilmittel zum Knotenpunkt eines Eigen-Sinns im Lesen. Die sich widersprechenden Diskurse der Kriegserzählung, der Schule, des Elternhauses können somit im Interpretieren, in der Adaption oder Aversion des Humorvollen re-zentriert oder »siegreich« gegeneinander ausgespielt werden. Diese textimmanenten Bilder des Nationalen stehen aber für die Schülerin, daran sei hier noch einmal erinnert, immer im Zusammenhang mit der im Unterricht vorgelegten Kollektivbiografie Heines, welche 68 Hinck, Wunde Deutschland (1990), S. 220. 69 Stauf, problematischer Europäer (1997), S. 326.
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selbst nicht zu lösen ist von der historischen Heinerezeption. Dass diese in der sozialistischen Germanistik innerhalb eines permanenten Wissenschafts- und Erkenntnisfortschrittsgedanken verankert ist, weist schon Reese mit seiner Phasendarstellung der Entwicklung der DDRHeinerezeption nach.70 Aus der popularisierenden Darstellung von 1945 bis 1954, wie sie paradigmatisch in den Heine-Lesebüchern Walther Victors zu finden ist, etabliert sich ab Mitte der 1950er Jahre die Hochschulgermanistik mit ihr eigenen marxistisch-leninistischen Wissenschaftskategorien. Das Werk Heines wird nun wissenschaftlich durchdrungen. Neben die Biografisierung treten philosophische und andere geistesgeschichtliche Analysekriterien. (Kaufmann, Harich). Auf diese Weise tritt die Gegenwartsrelevanz Heines in den Vordergrund der Rezeption und Vermittlung. Heine als Sozialist, als Bekenner der Revolution wird zu »unserem Heine«71, der durch eine verstärkte Betonung der Bekanntschaft mit Marx (die nun im Sinne Lukacs’ oft zur »Freundschaft« wird) zum Prophet des Kommenden wird und dadurch sowohl eine Tradition erzählt72 als auch Teil ihrer Selbst ist.73 Die DDR wird darüber zur legitimen Heimat Heines und Vollenderin seiner politischen und philosophischen Forderungen. »Das Proletariat hat Heine nicht enttäuscht. Im Jahre 1917 erhoben sich die russischen Arbeiter und Bauern, um zu jenem gewaltigen Fußtritt auszuholen, der in einem Sechstel der Erde die Herrschaft der Ausbeuterklassen ein für alle mal zertrat. Unaufhörlich ist dieser Riese seitdem gewachsen, unbeirrbar erfüllt
70 Reese, Walter: sozialistische Heinerezeption. Lang, Frankfurt/Main 1979, S. 230 – 235. 71 Ilberg, Werner: Unser Heine. Eine kritische Würdigung. Henschelverlag, Berlin 1952. 72 Rudolph, Johanna: Marschiere immer trommelnd voran!« zum hundertsten Todestag von Heinrich Heine am 17. 2.1956, Neues Deutschland 11. JG., Nr. 40 vom 16.02.1956, S. 3. 73 Nicht zufällig fällt das Abwenden von der Miseretheorie in diesen Zeitraum. Siehe: Brinks, Jan-Herman: Die DDR-Geschichtswissenschaft auf dem Weg zur deutschen Einheit. Luther, Friedrich II. und Bismarck als Paradigmen politischen Wandels. Campus Verlag, New York, Frankfurt/Main 1992.
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das internationale Proletariat seine historische Mission und geht den von Marx gewiesenen, von Heine künstlerisch gezeichneten Weg.«74
Die Akademisierung der Heinerezeption geht einher mit einer Verlagerung von Mehring auf Lukacs als dem »Hauptapostel« in der Heinerezeption. Mit Lukacs‘ Darstellung einer inhaltlichen, weil philosophisch-politischen, Gemeinsamkeit zwischen Marx und Heine als Referenz für die akademische Interpretation des Heinewerks wird die Widersprüchlichkeit Heines entbiografisiert und stattdessen in die teleologische Geschichtsentwicklung eingepasst. Heines Brüche, Ironien, Doppel- und Mehrdeutigkeiten vor allem auch in der Nationenfrage sind nicht länger Merkmal eines »merkwürdigen Charakters«, sondern Bestimmungsmerkmal der vorsozialistischen Epoche.75 »Worin man von Lukacs abwich, war in der stärkeren Hervorhebung der nationalen Komponente und dem Nachdruck auf der dialektischen Aneignung, der Integration Heines in den neuen Staat. [...] Heine wird in diesen Jahren zum wohlintegrierten Bestandteil jener progressiven Linie der deutschen Nationalliteratur, die sich nur aus der Situation des Jetzt und Hier, das heißt im Kampf um den Sozialismus wirklich produktiv verstehen lasse.«76
Trotz der biografisierten Darstellung einer gradlinigen Entwicklung Heines zum Kommunismus offeriert die Betonung seiner nationalen Brüche und Zwiespältigkeiten den Schülerinnen ein Identifizierungsangebot, bei dem gerade die Zweifel, die Brüche und das Changieren zwischen den verschiedenen nationalen Aussagen zum Sinnbild individueller nationaler Zugehörigkeit wird. Dieser Nicht-Perfektionismus, dieses Fehlen von nationaler Vollkommenheit bietet eine Identifizierungsfläche, die gerade angesichts der faschistischen Vergangenheit
74 Finck, Wolfgang: Die politische und künstlerische Entwicklung Heinrich Heines unter dem Einfluß von Karl Marx – seine Stellung zum Proletariat und zur proletarischen Revolution. Berlin 1956, S. 24. 75 Kaufmann, Hans: Heinrich Heine. Poesie, Vaterland und Menschheit. In: Ders. (Hrsg.): Heinrich Heine, Werke und Briefe in 10 Bänden, Bd. 10, Berlin 1964, S. 5 – 166. Hier S. 52. 76 Hermand, Jost: Streitobjekt Heine. Ein Forschungsbericht. 1945 – 1975. Frankfurt/Main 1975, S. 135.
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und der politischen Neufindung der Schülerinnen zur optimalen Referenz einer Arbeit an sich selbst wird.
3.3 D IE D ISKURSE DER S UBJEKTIVIERUNG
NATIONALEN
Die Verortung seiner selbst in der Nation als einem emotionalen, identitätsstrukturierendem Gebilde, in welcher das Individuum seine Souveränität an den Staat abtritt, ist kein einmaliger passiver Akt, sondern eine permanente Praxis. Aber welche staatsbürgerlichen Identitätsdiskurse, welche Aussagen über die sozialistische Persönlichkeit befinden sich in den Lehrplänen, in den Unterrichtsgestaltungen und in der literaturpädagogischen Rezeption Heinrich Heines? Was sind die objektiven Bedingungen, denen sich die Schülerin stellen muss, um ihre Identität zwischen Unterwerfung und Widerstand im nationalen Diskurs zu entwickeln? Ein Überblick über die Diskurse der nationalen Identifizierung mit Heinrich Heine verweist auf die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich die Schülerinnen schreibend identifizieren und subjektivieren konnten. Es ist das wiederkehrende Auftauchen dieser Diskurse in den Aufsätzen selbst, das ihre »Bearbeitung« im Unterricht bestätigt. Innerhalb dieser Diskurse werden die Aussagen zu Volk, Einheit und Vaterland von Heinrich Heine, der literaturpädagogischen Rezeption durch akademische Hochschulgermanistik (Kaufmann) und die Lehrerin und durch die Schülerin unterschiedlich bearbeitet. Im Aufsatz finden sich im besten Fall die Aussagen aller drei Akteure am literarischen Stoff des Nationalen. Die Schülerin interpretiert einen Heinetext – seine Aussagen sind die ersten, auf die sie sich beziehen und die sie nicht »fehl«interpretieren darf, will sie eine gute Note schreiben. Sie interpretiert sie mit den Worten, in den Einordnungen und mit Beispielen, welche die Lehrerin im Unterricht gegeben hat – und verweist so auch auf die diesbezügliche nationale Anrufung durch das Ministerium für Kultur und die nationalen Diskurse in der Hochschulgermanistik. Die Brüche, die von der Lehrerin als »falsch« kritisierte Interpretation, die Beispiele aus dem Alltag der Schülerin und eine Alltagssprache zeigen die letztendliche Beziehung der Schülerin selbst zu den Aussagen des Nationalen. Die Diskurse, in welchen ich diese Verbindung der natio-
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nalen Anrufung und Identifizierung erkennen will, benenne ich wie folgt: Talking about my Generation; Heine als Märtyrer; Kunst als Waffe; Heine steht auf dem Posten; Zitatautoritäten. Diese Diskurse tauchen vermehrt in den Aufsätzen auf, stehen in einem Zusammenhang mit einer (wie auch immer gearteten) Identifikation der Schülerin mit der Kollektivbiografie des Autors und den Erläuterungen und Einordnungen der Lehrerin auf der Basis des Lehrplans und damit der offiziellen Heineinterpretation und des offiziellen Erziehungsziels. In ihrer Verwendung, Einordnung, Erklärung oder Spezifität findet sich jene Subjektivität der Schreibenden, die aus den nationalen Anrufungen aus Text und Textvermittlung im Unterricht zwischen Unterwerfung und Widerstand entsteht. Talking about my Generation »Ein Dichter ist gestorben in der Hoffnung: ›die anderen rücken nach.‹ Das ist eine große Bitte an uns, eine große Aufgabe. Die neue Generation soll ein Werk fortsetzen, das Werk Heinrich Heines.« (A2, S.1)
Eine Besonderheit der Werke Heinrich Heines für die Identifikationsbildung einer Schülergeneration ist seine explizite Ansprache der Jugend in seinen Werken. Auch in den beiden Werken auf die sich die Schülerinnen beim Schreiben ihrer Aufsätze beziehen ist dies der Fall: In den Gedichten »enfant perdu« und »Deutschland. Ein Wintermärchen«. Der Ich-Erzähler verweist in der Klimax der beiden Gedichte auf eine generationsübergreifende Aufgabe, auf eine politische, philosophische und moralische Gemeinsamkeit der Lebenden mit den Toten und den Noch-nicht-Geborenen. In »enfant perdu« trifft sein Tod nur ihn persönlich, der sterbende Erzähler geht selbstverständlich davon aus, dass seine Gedanken und Werte von der künftigen Generation aufgegriffen werden: »Ein Posten wird vakant…«. Auch im Wintermärchen, von den Schülerinnen immer wieder als Belegquelle für eine generationsübergreifende Gemeinsamkeit und für eine konkrete Anrufung ihrer Generation mit/durch Heinrich Heine herangezogen, heißt es in Caput XXVII:
104 | D IE ERLESENE N ATION »Es wächst heran ein neues Geschlecht, / Ganz ohne Schminke und Sünden, / Mit freien Gedanken, mit freier Lust – / Dem werd ich alles verkünden. // Schon knospet die Jugend, welche versteht / Des Dichters Stolz und Güte, / Und sich an seinem Herzen wärmt, / An seinem Sonnengemüte.«77
Doch es ist nicht nur das konkrete Sprechen von einer Jugendgeneration, das es den Schülerinnen immer wieder ermöglicht, eine Identifikation zum Autor und dessen Biografie herzustellen. Das Sprechen von der Generation, das Gefühl konkret, weil als Jugendliche, angesprochen zu werden, wird ergänzt durch einen konkreten Handlungsauftrag an die jugendlichen Schülerinnen: »Seine Waffen bleiben ungebrochen« aus »enfant perdu« ist ein viel zitierter Vers und wird nicht selten positiv beantwortet mit: »Die Waffen bleiben ungebrochen«. Es sind also nicht nur Werte, Zugehörigkeiten oder politische Kategorien, durch welche sich die Schülerinnen angesprochen fühlen – es ist insbesondere ein konkreter Handlungsauftrag, der an ihre Generation geht und dessen sie sich selbst bemächtigen. »Er wußte, daß die Jugend einmal seinen Wunschtraum, die Errichtung einer Demokratie in Deutschland, verwirklichen wird. Ein Teil Deutschland(s) ist eine Demokratie, und wir werden nicht ruhen, bevor das gesamte Deutschland eine Republik ist.« (A31, S.2)
Insbesondere in der Gleichsetzung Republik = Demokratie wird deutlich, dass die Schülerin das politische Ziel Heines (eine Republik in Deutschland zu errichten) auf ihre politische Lebensrealität überträgt. Heine spricht von der Fortführung seines Kampfes durch die Jugend, und so stellt die Schülerin auch die vorgestellten und komprimierten Ziele gleich, auch wenn sie politisch andere Inhalte haben. »Er hat Recht gehabt, daß ein neues Geschlecht ganz ohne Schminke und Schande heranwachsen wird. Ist es nicht so, daß wir, die Jugend in der DDR das neue Geschlecht sind? Haben wir nicht den Posten Heines übernommen? Genau so, wie Heine sich verantwortlich gefühlt hat für die Zukunft Deutsch-
77 Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen. In: Ders. Sämtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb. Bd.4, dtv, München 1997, Caput XXVII, S. 642.
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lands, müssen wir auch dieses Verantwortungsgefühl in uns tragen.« (A19, S.7f.)
Im Text und Heines Kollektivbiografie erkennt hier die Schülerin eine Verbindung zwischen der eigenen Generation und den Toten und geriert dabei eine elementare Voraussetzung für eine nationale Identifikation mit einer gedachten mystischen Gemeinschaft. Sie bestätigt diese Verbindung: »Er hat Recht gehabt« und überträgt sie nahtlos auf die eigene Generation: »Ist es nicht so, daß wir, die Jugend in der DDR das neue Geschlecht sind?« Der Anerkennung der Schülerin, wonach mit der Ansprache Heines an die Jugend ihre eigene Generation gemeint sei, folgt ein Identifizierungsurteil auf eine Verbindung ihrer Generation mit der vorgestellten nationalen Gemeinschaft. Denn dass Heine explizit ihre Generation gemeint habe, rekurriert auf eine Adaption des Diskurses von einer nationalen Gemeinschaft über den Tod. Und so taucht in den Aufsätzen immer wieder das narrative Muster vom »tausendjährigen Deutschland« auf. Dieses transzendentale Heimatland, welches eine mystische Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten mit der immer währenden Fortschrittsbedeutung der Jugend verbindet, schließt sich nahtlos an den Jugendkult der jungen Republik und einer schulischen oder parteilichen Bildung im Nationalsozialismus an: »Besonders von der Jugend wird (der tausendjährige Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – A.H.) aufgefaßt und verbreitet.« (A1, S.2) Der Handlungsauftrag der Jugend in diesem »tausendjährigen Reich« ist dabei nicht unbestimmt, sondern die mystische Verbindung der Jugend zu dem toten Vorkämpfer (Heine) stellt sich insbesondere über den gemeinsamen Kampf um eine staatliche Einheit mit einer parallelen Feindeskonstruktion her. »Deutschland war ein ganz durcheinander gewürfelter Staat, denn es war in viele Fürstentümer zersplittert.« (A7, S.2). »Deutschland war in viele kleine Fürstentümer gespalten«. (A17, S.1, A13, S.2) »Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts war Deutschland ein vollkommen zerstückelter Feudalstaat. Eine Landkarte des damaligen Deutschlands war bunter als der Farbkasten von manchem Maler.« (A12, S.1) »In Deutschland selbst ging die Zersplitterung mehr und mehr voran.« (A21, S.2)
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Auf der Erzählung der nationalen Zerrissenheit und dem Bemühen um Einheit, welche dann die Befreiung der mythischen Gemeinschaft mit sich bringe, spielt sich die Geschichts- und Kampfespraxis ab, in welche Heine als Traditionsvorbild und schließlich auch die Schülerin eintritt. »Er (Heine) wollte kein zerstückeltes Deutschland, kein Deutschland, das einer beherrscht und die anderen, d.h. die große Masse, gehorchen.« (A21, S.3) Das Einreihen der Schülerin in den traditionellen Kampf um eine Nation erhält also konkrete soziale und politische Implikationen, für die die Schülerin sich qua einer als natürlich wahrgenommenen teleologischen Ordnung zuständig fühlt, in der ihre Generation eine ganz bestimmte historische Funktion zu erfüllen habe. Diese historische Aufgabe im Kampf um die Befreiung der Heimatnation wird durch die kanonische Ordnung des Literaturunterrichts und ihre teleologische Abfolge bestätigt. So belässt es die kanonische Einordnung (die in vielen Aufsätzen die Einleitung bildet) in eine Traditionslinie vom Humanismus (Goethe), über den Freiheitskampf (Schiller) und die Toleranz (Lessing) hin zum Befreiungskampf des Volkes (Heine, Weinert, Seghers) (z.B. A4, S.3) nicht dabei, lediglich eine mystische Verbindung des Subjekts mit einer gedachten Gemeinschaft zu konstatieren. Sie öffnet aus der Erzählung über die Rolle der Jugend in der mystischen Geschichte auch den Raum dafür, wie die angesprochene Jugend zu sein habe – antifaschistisch und staatstreu gegenüber jenem Staat, welcher das »natürliche« Erbe der mystischen Gemeinschaft fortsetze. Über die konkreten Inhalte, die Elemente des tausendjährigen Kampfes, die »Wahrheiten« der kanonischen Tradition (Goethe bis Seghers) adaptieren die Schülerinnen eine Tradition des Staates und seiner Staatsbürgerin jenseits der Miseretheorie78 und in Unschuld von preußischer und faschistischer Tradition und am Krieg: Bereitwillig adaptiert wird sie, weil auf diese Weise die Erfahrungen der familiären Eigenverantwortung am Krieg (entweder die des größeren Bruders oder des Vaters) negiert werden kann. Der Verweis darauf, dass Heine seine nationale Aufgabe erfüllt habe, indem er gegen Betrug des Volkes und dessen Verblendung schrieb, welche die »Oberen« den »Unteren« hinter ihrem Rücken »eingeimpft« haben, und die Anerkennung der gleichen nationalen Aufgabe der eigenen Generation liefert die Erklärung, wonach der »Betrug« der Oberen das eigentliche
78 Brinks, Jan-Herman: Die DDR-Geschichtswissenschaft auf dem Weg zur deutschen Einheit (1992).
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Volk verführt und dadurch die nationale Befreiung verhindert habe. Eine Erzählung der Schuldabwehr per exzellence angesichts der eigenen Verstrickungen in den Deutschen Faschismus. Die historische Tradition eines jahrhundertelangen Kampfes der »Oberen« gegen die »Unteren«, die eigene Geschichte als »Untere« wird zuerst Symbol der mystischen Gemeinsamkeit zwischen der Nachkriegsgeneration und Heine und danach Chance einer biografischen Bereinigung der Mitschuld am faschistischen Krieg. »Die Menschen in den einzelnen Staaten waren gegeneinander verhetzt, diesen Haß hatte ihnen die Obrigkeit schon beigebracht.« (A7, S.2). Es ist eine Bereinigung, die in erster Linie durch eine Differenzierung des Deutschseins entsteht – eine Differenzierung in eine Nation innerhalb der Nation79 und eine Spezifizierung der mystischen Gemeinschaft, welche die Schülerin (wie im folgenden Zitat) anerkennt. »Gleichzeitig aber erkennen wir, daß unser Vaterland nicht nur aus solchen (Schlafmützen und Reaktionären – A.H.) Vertretern bestand. Schon damals warnten und mahnten Männer wie Heine, aufzuräumen mit solchen Zuständen (vormodern und Kleinstaaterei – A.H.).« (A28, S.5)
Aus der Identifizierung mit Heine durch die Ansprache der Jugend und damit der eigenen Generation ist eine Identifizierung mit einem teleologischen nationalen Programm geworden. Das Reden, das Sich-angesprochen-fühlen von Heine, seiner Biografie und seinen Texten und schließlich das Eintreten in die spezifisch nationale mythische Gemeinschaft wird dann besonders offensichtlich, wenn die Schülerin ihre eigene Verbundenheit mit Text und Autor beschreibt und dabei sogar in die erste Person Singular wechselt: »In dieser Zeit (in Paris – A.H.) entstehen sein herrliches Poem ›Deutschland, ein Wintermärchen‹ und viele seiner Gedichte. Ich selbst habe mehrmals dieses herrliche Poem gelesen und es stets begeistert beendet. Ich kenne viele Jugendliche, die in der gleichen Weise für Heinrich Heine begeistert sind. Hier zeigt sich, daß Heine unbesiegt gefallen ist, wenn er auch starb, in seinem Vermächtnis, mit seinen Waffen, die ungebrochen sind, kämpfen wir noch heute.« (A32, S.6)
79 Die Unterscheidung von Nichtdeutschen und Deutschen entlang einer Klassenlinie.
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Diese »Rede von mir« als Erweiterung des »Sprechens von meiner Generation« erfüllt sich in den häufigen Bezügen zwischen Autorin und Heine am Schluss des jeweiligen Aufsatzes. Auch wenn dieser Bezug für die Struktur der Aufsätze obligatorisch war, wird er doch unterschiedlich behandelt. Er kann gänzlich weggelassen werden (A34) und lässt so die im Aufsatz vorgängigen Aussagen als vorwiegend äußerlich und dem Ziel der guten Note dienend erscheinen. Die Übertragung der Ansprache Heines von der eigenen Generation auf die eigene Person kann auch am Ende einer oberflächlichen Behandlung lediglich auf die Bedeutung der Kollektivbiografie für eine deutsche Wiedervereinigung hinweisen (A11, S.4). Sie kann gänzlich abstrakt bleiben und in Phrasen geschrieben sein und damit auf eine völlig »misslungene« nationale Anrufung verweisen: »Heines Bedenken, die er in seiner Vorrede zur ›Lutetia‹ äußerste, daß bei der Herrschaft des Proletariats Gewürzkrämer aus seinem ›Buch der Lieder‹ einmal Tüten für Kaffee und Schnupftabak drehen würden, waren zeitbedingt. Wir können diese Sorge heute zerstreuen, indem wir feststellen, daß die Kunst unter der Herrschaft des Proletariats in jeglichem Maße gefördert wird. So werden auch Heines Werke gedruckt und sehr viel gelesen. Heine wird bei uns gelehrt und geehrt.« (A23, S.10)
In diesem Falle ist die Verwendung der 3. Person Plural offensichtlich, die Schülerin bleibt im Allgemeinen, vermeidet die Darstellung der eigenen Parteilichkeit und »verbirgt« hinter einstudierten Phrasen, ob sie selbst in eine mystische Tradition mit der Vorbildfigur eintritt oder nicht. Das Sprechen von Heine als expliziter Vorbildfigur kann aber auch mit der antifaschistischen Anrufung verbunden werden und eine Positionierung im Sinne dieses antifaschistischen Subjektivierungsangebots hervorbringen: »Heines Verse haben nicht nur für seine Zeit Bedeutung. Wir sehen aufgezeigt (sic!), treffen sie auch für die Umstände im Faschismus zu. Sie haben sogar noch für uns ihre Gültigkeit. In Westdeutschland beginnt schon wieder eine ähnliche Entwicklung, wie zur Zeit Hitlers.« (A36, S.6 oder ähnlich: A4, S.10f.)
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Überhaupt ist die Vorbildfunktion am Ende des Textes als Klimax der verschriftlichten gedanklichen Ausführungen und als expliziter Bezug auf die Kollektivbiografie besonders deutlich zu erkennen, wenn sie so explizit betont wird: »Sein Leben ist uns stets Vorbild!« (A19, S.8). In diesem Fall zeigt sich, dass nicht nur Heine als mystische Figur zur eigenen Tradition und Wurzel wird, sondern mitsamt seinen Charaktereigenschaften die Person Heine selbst. Ich fasse zusammen. Sowohl der Text, als auch seine Interpretation im Unterricht offerieren der Schülerin eine mystische Gemeinschaft, eine gemeinsame nationale Aufgabe, die über Jahrhunderte hinweg identisch ist. Als Teil dieser nationalen Geschichte fühlt sich die Schülerin von Heine angesprochen und »erkennt« in dieser Aufgabe ihren spezifischen nationalen Handlungsauftrag: Den Kampf des Volkes gegen seine Unterdrücker. Mit dieser Ansprache glättet sie die Brüche aus unterschiedlichen nationalen Aussagen, Diskursen und Identifizierungsanforderungen, indem sie ihre Generation zum Teil der mystischen Gemeinschaft erklärt, die in der Gleichsetzung der Feinde Heines mit denen der Antifaschistinnen (zu denen ja auch die eigene Familie allein durch ihre Anstrengungen im Nachkriegsalltag erklärt werden kann) eine nationale Aufgabe ausmacht. Indem sie die nationale Aufgabe ihrer Generation auf die eigene Person überträgt und diese in das nationale Freund-Feind-Schema einordnet erkennt sie letztlich eine Identität mit der nationalen Gemeinschaft an. Die Akzeptanz einer nationalen Gemeinsamkeit, einer mystischen Verbindung und damit einer Wurzel des eigenen Seins ist aber nur das Tableau, auf welchem sich die Inhalte und kulturellen Praxen der eigenen nationalen Verortung und Subjektivierung abspielen. Ich möchte sie im Folgenden konkretisieren. Der Märtyrer Von der eigenen Generation zu sprechen und in den Gedichten Heines eine Ansprache an die eigene Generation zu erkennen, geht in den Aufsätzen einher mit der Benennung des Ich-Erzählers/Autors als Märtyrer. Durch diese besondere Benennung wird die Identifikationsfigur nicht nur Aushängeschild der eigensinnigen Bearbeitung vorgegebener Diskurse des Nationalen, sondern auch Referenz für die Identifizierung mit der Volksgemeinschaft über den Tod hinaus. Denn Heine ist ja nicht nur im Kampf für eine (bestimmte) Befreiung der
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Menschen gestorben, er gibt laut Werksinterpretation und Kollektivbiografie den Stab auf seinem Sterbelager an die Noch-nichtgeborenen weiter. Die Besonderheit von Märtyrerdiskursen besteht in der Erwählung und Bestätigung der Märtyrerpersonen vor einer größeren Sache (vor Gott, dem Kommunismus, der Demokratie, dem Vaterland etc.) und darin, dass ihre – auf das Erlangen des jeweiligen größeren Ziels ausgerichtete – Biografie nachahmenswert erscheint und während des eigenen Lebens keine Erfüllung fand, sondern die Erfüllung in die Zukunft (und damit die Realität zukünftiger Generationen) verlagert. Die Schülerinnen bedienen sich oft einer nahezu biblischen Sprache oder biblischer Metaphern, um Heines Märtyrertum zu bestätigen und damit eine emotionale Verbindung mit ihm auszudrücken. Im Aufsatz A4 beispielsweise erinnert die Beschreibung von Heines Exilleiden an das Martyrium Hiobs. Doch während Hiobs Erlösung ein göttliches Werk war, wird sie bei dieser Heineinterpretation in die Erlösung des Vaterlandes verlagert: »Wieder sind es gerade die Spottverse, mit denen der Dichter in seinen Exiljahren arbeitete und mit denen er den schwersten Schlag, den die Reaktion ihm zufügen konnte, nämlich die Verweisung aus seiner geliebten deutschen Heimat, zu parieren versuchte. Dabei war Heine stets von Zuversicht und Optimismus erfüllt und gab selbst während seiner schweren Zeit in der Matratzengruft den Glauben und die Hoffnung auf die Genesung seines Vaterlandes nicht auf«. (A4, S.9)
Heines Texte selbst – vor allem die späten Gedichte – sprechen immer wieder vom Sterben des Dichters zugunsten des aufkeimenden neuen Geschlechtes. Somit verbindet sich seine Biografie auf ideale Weise mit seinem Text selbst und den Nachkriegserfahrungen des Verlusts und/oder großen Anstrengungen der Eltern ums Überleben der Kinder. Diese Verknüpfung von Werk und Schülerinnenerfahrung tritt in Beziehung zu der Meistererzählung ob einer familialisierten Arbeiterklasse, deren beste Söhne und Töchter im Krieg umgekommen sind. So entsteht eine dreifach abgesicherte Identifizierung mit einem »großen Sohn« der deutschen Arbeiterklasse, der für die Einheit seines Vaterlands unter sozialistischem Vorzeichen gekämpft hat und gestorben ist und dessen Erbe nun im Staat DDR erfüllt werden soll (und kann). Ein Erbe, welches die Schülerin nun selbst verwirklichen soll und will,
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welches sie selbst fordert und begehrt – die Einheit Deutschlands jenseits von Besatzung und Kapitalismus. Grundlage für die Anerkennung Heines als Märtyrer durch die Schülerin ist die Anerkennung eines tatsächlichen Martyriums – eines Leidens des Dichters. Dieses Leiden wird nahezu durchgängig durch den Verlust der Heimat erklärt. Es ist der »echte« Patriotismus, der mit einem martyriumshaften Leiden verbunden ist, wenn man nicht in der Heimat ist bzw. wenn die Heimat in Gefahr ist. (A26, S.7) In dieser Konstruktion verbindet sich der christliche Märtyrerdiskurs (Leiden Christi als die höchste Liebe) mit dem nationalen Liebesbeweis. »Immer war er um die Zukunft Deutschlands und seines Volkes besorgt. [...] Immer lag ihm das Schicksal Deutschlands am Herzen. Dies plagte ihn oft so stark, daß er nachts nicht schlafen konnte.« (A16, S.3)
In der Darstellung, dass Heine wegen des Schicksals Deutschlands nicht schlafen konnte, dass er niemals an etwas anderes denken konnte, wird sein Patriotismus ein echter und wahrer. Die Schülerin verteidigt ihn gegen den Vorwurf ein Vaterlandsverräter gewesen zu sein, indem sie sein Leiden an und um Deutschland zum Maßstab für Vaterlandsliebe erklärt. (A26, S.9ff.) Diese aus dem Christentum entlehnte Gleichsetzung von größter Liebe mit Leiden erfährt ihre Nachkriegsspezifikation durch ihre Analogie zu den antifaschistischen Widerstandskämpfern. »Hätte Heine im Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt, so wäre sein Paß mit der gut bekannten Bemerkung ›vaterlandsloser Geselle‹ ›geziert‹ gewesen. Ein Adolf Hitler hätte Heine im KZ vergasen lassen, so wie er seine Werke vor der Berliner Universität verbrennen ließ. Auch damals ›schützte‹ sich die deutsche Nation gegen aufrührerische Einflüsse.« (A29, S.4, auch ähnlich: A30, S.9.)
Insbesondere in dieser Analogie wird deutlich, dass die emotionale Identifizierung mit Heines Martyrium auf jenen rassistischen Dualismus zurück greift, den Foucault als Merkmal von moderner Staatlichkeit und Regierungstechnologien ausmachte. Indem jene, die Heine die Folter des Verlustes der Heimat angetan haben, mit den Faschisten und den Feinden der jungen DDR gleichgesetzt werden, identifiziert sich die Schülerin mit einem dualistischen Weltbild, das in einer kämpferischen Wir – Sie – Konfrontation mündet.
112 | D IE ERLESENE N ATION »Bis heute noch wird Heine von jenen unverbesserlichen reaktionären Kreisen, die den Anspruch stellen, als national angesehen zu werden, als ketzerischer Jude bezeichnet und wüste Hetztiraden sollen den Geist seiner Werke zerstören.« (A29, S.4)
Auf diese Weise verbindet dieser Märtyrerdiskurs auf ideale Weise das Sprechen von der eigenen Generation in einer mystischen Gemeinschaft mit vorherigen Generationen. Eben weil Heine ein Märtyrer war ist es von Bedeutung, den Kampf gegen die gemeinsamen Feinde fortzuführen – ebenso wie das für den Märtyrertod der Antifaschisten oder (familiärer) für die Aufopferungen der Eltern während und nach dem Krieg gilt. Diese Fortführung ist dabei scheinbar unauflöslich mit einer aurea aetas des deutschen Vaterlandes verbunden, die durch den Märtyrertod bzw. das Leben des Märtyrers erst möglich wird. »Obwohl sein (Heines – A.H.) Herz einesteils voll Trauer war, war es andererseits in dem Bewußtsein, daß sein Kampf nicht umsonst war und eine bessere Zeit für Deutschland hereinbrechen wird.« (A29, S.9)
Oder: »Die Mißstände in den deutschen Ländern sind in der DDR beseitigt und sie werden auch in dem anderen Teil Deutschlands beseitigt werden.« (A29, S.10)
Oder: »dennoch wird ›sein Blut verströmen‹ und der Menschheit neue Impulse geben.« (A22, S.7)
Wie dann dieses Goldene Zeitalter aussehen soll, welche gesellschaftlichen, sozialen und politischen Attribute es haben soll, zeigen andere Aussagen innerhalb dieses Diskurses. Aber die Inauguration der Kollektivfigur Heines zu einem säkularisierten Märtyrer ist dispositive Grundlage für die Schülerin das Wohlergehen und den Schutz ihres Lebens mit einem nationalen Begehren zu verknüpfen. Denn trotz der Erfahrungen des Faschismus ist es den Schülerinnen möglich davon auszugehen, dass dieses Goldene Zeitalter in Deutschland verwirklicht werden könne, dass ein deutscher Staat, eine Berufung aufs »Deutsch-
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sein« sogar zu einer allgemeinen Befreiung der Menschen an sich führen könne. Dass dieses Urteil trotz der Kriegserfahrungen möglich ist, hat mit der Konstruktion einer nationalen Genese und Befreiung entlang von Märtyrerdiskursen zu tun. Die Unterscheidung von Nichtdeutschen und Deutschen entlang einer Klassenlinie knüpft aus dem Märtyrerleben der Kollektivfigur eine Tradition, die zwischen gutem und schlechtem Patriotismus unterscheidet und den guten für die eigene Gemeinschaft und den schlechten für die Gemeinschaft der anderen, der Feinde des Märtyrers und seiner selbst ausmacht. »Die Reaktion bezeichnete ihn als einen Franzosen, der Deutschland lächerlich machen wolle. (Auch diese Leute verwechselten sich wie später die Faschisten mit Deutschland.)« (A30, S.3)
Mit dieser Analogie wird die Vorstellung von einem Goldenen Zeitalter beibehalten. Die Tradition zur mystischen Gemeinschaft bleibt nicht nur ungebrochen, sie glättet auch die Schuldgefühle oder Schuldzuschreibungen durch die faschistische Erfahrung: Denn durch eine dichotomische Trennung der Deutschen, die ihre Entsprechung auch schon zu Heines Zeiten gehabt habe, entsteht eine Tradition von Feinden, welche nie das wirkliche Deutschland verkörpert haben sollen. Ebenso, wie es nicht die »wirklichen« Deutschen gewesen seien, die Heine verfolgten und ihn einen »vaterlandslosen Gesellen« nannten, sind es auch nicht die wirklichen Deutschen gewesen, die Faschisten waren.80 Diese Differenzierung von deutsch und deutsch entlang einer politischen Zugehörigkeit verstärkt sich noch einmal, wenn zu den tradierten Feinden noch die tradierten Freunde, Partner, Gleichgesinnten dazukommen: »Schon Heine hatte erkannt, daß den Kommunisten die Zukunft gehört. Weiterhin schrieb er in seiner ›Lutetia‹, daß seine Feinde auch die Feinde der
80 Wie andauernd diese Konstruktion war, erinnert die Verfasserin dieser Arbeit selbst, da es für sie Jahre nach der Vereinigung eine schmerzhafte – und lange von sich gewiesene – Erkenntnis war, dass in der DDR auch ehemalige Parteimitglieder der NSDAP gelebt haben mussten und auch Kader in die Verwaltung und das Militär der DDR übernommen wurden.
114 | D IE ERLESENE N ATION Kommunisten seien, und so ist ihr Sieg, den die Kommunisten zum ersten Mal im Jahre 1917 errangen, auch sein Sieg.« (A37, S.7f.)
Die Schülerin kann sich allein schon mit dem Verweis darauf, dass sie heute Heine ehrt und liest, darauf berufen, dass sie dem Martyrium Heines Rechnung zollt, welches im Faschismus seinen Klimax erfahren habe (und deshalb auch immer das Martyrium des guten Deutschen an sich ist): »Wir berichtigen also in der heutigen Zeit, indem wir Heinrich Heine gebührend würdigen, die Fehler der vorigen Generation.« (A35, S.10) Welcher Art im Einzelnen die Identifizierung mit Heine ist, ob sie im Sinne der nationalen Anrufung gelingt oder nicht – so impliziert sie jedoch immer ein Märtyrerbild, welches (anders als der frühmittelalterliche Diskurs vom passiven Märtyrer) angelehnt an die Tradition des hochmittelalterlichen Franziskus immer den kämpferischen Habitus betont. Und so kann auch die Interpretation Heines als modernem Nationalmärtyrer nur eine sein, die das Kämpferische betont. Diese Betonung wird in den Aufsätzen mittels des Terminus von der »Heiligkeit seiner Waffe – der Kunst« (A4, S.3) hergestellt, was ich im nächsten Punkt ausführen werde. Kunst als Waffe »Niemals schrieb Heine des Ruhmes wegen. Er wollte mit seinen Werken einen Beitrag zur Erneuerung seiner Heimat geben. So stand er wachsam auf seinem Posten. Sein ›Gewehr‹, seine Waffe und sein Kampfmittel war die Feder, war das Wort, der treffende Witz, Ironie und Satire.« (A28, S.6)
Ein wichtiger Diskurs in den Aufsätzen der Schülerinnen ist die kriegerische Positionierung Heines auf Seiten der Arbeiterklasse und als Feind, als Soldat gegen die Ausbeuterklasse. Sozusagen als »Scharnierdiskurs« verknüpfen die zugehörigen Aussagen sowohl die anderen Diskurse um die nationale Identifizierung mit Heine als auch die (Nach)Kriegserfahrungen und -erzählungen mit der Identitätsanforde-
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rung des neuen Staates. Der Diskurs bündelt die Auseinandersetzungen im Elternhaus und eigene pazifistische oder antifaschistische Begehren ebenso wie den Soldatenkult oder die Bewertung des Kriegsausgangs als nationale Schmach oder familiäre Schande. Und so fehlt auch in nahezu keinem Aufsatz die Analogie von Heines Leben und Schaffen als soldatische Tugend in der kriegerischen Fehde. Diese Analogie ist dann wenn sie in den Aufsätzen verwendet wird ausnahmslos der Aufhänger für eine Identifikation mit Heine und die eigene kämpferische und nationale Selbstverortung. Es ist eine Selbstverortung, die (das sei an dieser Stelle noch einmal erwähnt), dichotomisch und kriegerisch ist – eine, die mit Foucault »rassistisch« genannt werden kann, weil sie das eigene und kollektive Überleben nur in der Konfrontation und in der psychischen oder physischen Vernichtung des dichotomisch Anderen gesichert wähnt. Heines Werk wird für diese dichotomische Auseinandersetzung zur Waffe. Gerade diese Betonung des Werks Heines als soldatisches Werkzeug verweist darauf, wie sehr die Auseinandersetzung, die Identifikation mit den nationalen Attributen eine rassistische Angelegenheit im Sinne Foucaults dichotomischer Subjektkonfiguration ist81. »Ja, es handelt sich [...] um Waffen; Waffen aber nicht im eigentlichen Sinne sondern im übertragen Sinne. Es sind Waffen, deren (sic!) man sich in der Kunst bedient. In diesem Ausspruch, der von dem großen deutschen Dichter Heinrich Heine niedergeschrieben wurde, handelt es sich um die Waffen in der Literatur.« (A19, S.1f.)
Sobald das Werk Heines als soldatisches Werkzeug im dichotomischen Kampf um das eigene und kollektive Überleben anerkannt ist, wird mit der Handhabung dieser Waffe eine ethische Anleitung verbunden – eine Anleitung, die als Lebenspraxis die Seelen und Körper des Waffenträgers besetzt, da sie direkt auf die Charaktereigenschaften und damit auf das emotionale und physische Sein selbst abzielt. Heines Kunst, Kunst überhaupt und auch die Rezeption dieser Kunst avanciert in den Interpretationen und den daraus hervorgehenden Selbstverortungen zur Waffe gegen den Klassen- und Nationalfeind, die nur in den Händen des »richtigen Menschen« wirkungsmächtig ist. Und so beschreiben die Schülerinnen selbst Heines Kunst
81 Siehe Kapitel 2 dieser Arbeit.
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immer wieder als sprachlichen Ausdruck seiner charakterlichen Eigenschaften – Eigenschaften, die sich darum ranken die »sozialen und politischen Missstände« (A25, S.4) zu brandmarken und anzugehen. Diese Charaktereigenschaften, welche die Waffe tauglich machen für den dualistischen Kampf, rufen bei den Schülerinnen Bewunderung hervor und fordern zur Nachahmung (Selbstverortung) auf – insbesondere dann, wenn wie im folgenden Fall, die Schülerin die für die Aufsätze ungewöhnliche erste Person Singular verwendet: »Ich muss immer wieder Heines Mut und Ausdauer bewundern. Er konnte kaum hoffen, daß seine Verse das Volk erreichten und es zum Kampf gegen die reaktionären Kräfte in Deutschland begeisterten.« (A25, S.3)
Durch eine solche Imagination der Eigenschaften Heines, welche die Waffe Kunst erst für den dichotomischen Kampf tauglich machen, werden sowohl Eigenschaften als auch das kriegerische Werkzeug und damit letztendlich auch die kriegerische Struktur zum Begehren und zum Realitätsdepot der Schülerin: »Heine war dem Volk Vorbild und hat ihm eine starke Waffe geschmiedet. Das Volk wird diese Waffe erkennen und dann losschlagen.« (A14, S.5)
und sie wird damit zum Kampfmittel gegen den Feind der Nation – im eigenen Land: »Heines Waffe, die Satire, wird auch bei uns in der DDR noch immer als Mittel des Kampfes gegen alles Rückständige benutzt, weil wir ja leider in einer Situation leben, die der Situation zur Zeit Heines entspricht: Wir haben das zerrissene Deutschland und Menschen in Westdeutschland, die noch immer nichts aus der Geschichte gelernt haben.« (A25, S.5)
sowie der grundsätzlichen kriegerischen Auseinandersetzung eines Volkes gegen seine Volksfeinde: »Wenn wir dieses Gedicht betrachten, sehen wir, daß das Volk durch seine Werke auf seinen Kampf vorbereitet wird. Dies Gedicht soll den Haß gegen die Unterdrückung erwecken und das Volk zum Kampf aufrufen.« (A14. S.7)
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Doch welche Charaktereigenschaften imaginiert die Schülerin im Werk und der Biografie Heines und erklärt sie zum Vorbild der eigenen Charakteroptimierung? Es sind vor allem Eigenschaften des moralisch überlegenen Kriegers wie Mut, Kraft, Menschlichkeit, Fortschrittsglaube, Rechtschaffenheit und politische Weitsicht (A26, S.1f. / A28, S.1 / A5, S.3 u. 11 / A18, S.2f. / A16, S.3 / A10, S.3 u. S.2 / A21, S.5). Sie werden als Eigenschaften im dualistischen Kampf nicht nur als erfolgsversprechend eingestuft, sie werden auch in einer vulgärdarwinistischen Natürlichkeitskonstruktion zum grundlegenden Bewertungsmaßstab von falschem oder richtigem Verhalten. So habe Heine eben durch diese Eigenschaften eine »gesunde Moral« (A18, S.2) bewiesen – ein Terminus, der an rassistische »Auslese« und »Elite«-Diskurse erinnert. Durch die Annahme dieser Charaktereigenschaften als eigene Identitätsattribute (»Ich möchte so sein wie Heine«) kann sich die Schülerin nicht nur selbst aufwerten, sie ordnet sich dabei auch einem Kollektiv bei, welches in dualistischer Auseinandersetzung zu anderen Kollektiven steht. »Wir verehren Heine als einen Großen unserer Nation, weil er immer das bessere Deutschland im Sinn gehabt hat.« (A25, S.5. Hervorhebung – A.H.). Das bessere Deutschland ist immer wieder der Grund für den dualistischen Kampf (A27, S.5). Gegner in diesem Kampf sind diejenigen, die den Fortschritt hemmen: »Diese Menschen (die Heine aufklären möchte A.H.) fürchten nichts, weil sie nicht überlegen, weil sie nicht nachdenken und alle politischen, gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhänge nicht sehen, viel weniger erkennen. Durch ihr Verhalten hemmen sie den Fortschritt.« (A33, S.6.)
In dieser symbolischen Einordnung von Heines Kampf als einen Kampf für den Fortschritt rekurrieren die Schülerinnen auf den (aus wilhelminischen und faschistischen Zeiten virulenten) Diskurs des deutschen Sendungsbewusstseins. »Diese Waffe soll keineswegs zur Vernichtung der Menschheit dienen, wie in einem Krieg, sondern sie soll Instrument zur Befreiung der Menschheit sein.« (A37, S.2) Auch wenn dieser Diskurs seinen katastrophalen Brennpunkt in den beiden Weltkriegen erfahren hat, bleibt er für die Schülerinnen in den Familien- und Schulerzählungen aktuell und erhält über den aurea aetas Ausruf in den Texten Heines seine Bestätigung.
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Die Identifizierung mit diesem Sendungsbewusstsein »passt« nicht nur so gut, weil es die Bedeutung des eigenen Lebens im Kollektiv so betont, sondern ganz biografisch auch, weil es an die alten und neuen Erzählungen vom besseren Deutschland anknüpft. Es sind Erzählungen, in denen (1933 wie 1945 in beiden deutschen Staaten) vor allem die Jugend angesprochen wird und nach dem Motto »Gehet hin und lehret (und bekehret) alle Völker« eine Handlungsvorgabe des Kampfes erhält. So betont eine Schülerin, dass es die deutsche Jugend sei, welche Heines Werk und damit den Kampf für die eigene Klassennation fortsetzen solle, nicht die Jugend schlechthin, wie es Heine tatsächlich schreibt: »Seine Waffen sind nicht gebrochen. Diese Waffen sind seine Werke, seine schonungslose Kritik und Satire, die er der heranwachsenden Jugend überläßt. Die deutsche Jugend ist sein Hoffen, in ihr sieht er die Erfüllung seines so schweren lebenslänglichen Kampfes.« (A32, S.5)
Welche Rolle spielt nun die Kategorie der Nation bei dieser teleologischen und dichotomischen Erhöhung der eigenen Person/Generation/Kollektivs? Es ist vor allem die Symbolik »Volk« in den Aufsätzen, welches die Imagination der eigenen Bedeutung auf die nationale Gemeinschaft verweist. Denn mit der Verteidigung der »freiheitliche(n) Regungen des Volkes« (A4, S.4) gegen die dem Volk außen stehenden Feinde wird es überhaupt erst möglich die eigene Geschichte zu einem guten Ende zu bringen. Dabei wird »Volk« tatsächlich im Sinne Büchners verwendet – als Abgrenzung des Bürgers vom Adel, als Abgrenzung der Unteren von den Oberen, als Legitimation das eigentliche Volk zu sein, während »die da oben« nicht dazu gehören, ja sogar das eigentliche Volk permanent in seiner Existenz bedrohen. Und so kann die Schülerin auch hier wieder nahtlos ihre biografische Erfahrung und Erzählung mit der nationalen Anrufung durch den Heinetext und seine didaktische Rezeption identifizieren. Die soziale Herkunft vom »Lande«82, die Romantisierungen des Bauernstandes im »Dritten Reich« avancieren über die Symbolik »Volk« (die Heine, wie die DDR, im Sinne des Klassendualismus verwenden) zu einer Identi-
82 Wie bereits erwähnt, haben die Schülerinnen dieser Aufsätze ihre Sozialisierung in kleinstädtischer und bäuerlicher Umgebung des Nachkriegs erhalten.
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fikation mit dem eigentlichen Volk – denjenigen, die wahrhaft seien und sich verteidigen müssen gegen »die da oben«. Eine wichtige Rolle für das Gelingen dieser Verknüpfung Ich = Volk = Contra-NichtVolksangehörige spielt das politische Verständnis Heines selbst83, das in seinen Text lesbar ist und diskursiv auch das politische Verständnis der jungen DDR im Kalten Krieg prägt. Kampf und Befreiung des Volkes benötigten neben der Vernichtung des Volksfeindes immer auch die Aufklärung des Volkes, welches immer belogen worden sei, um es unterdrücken zu können. »Wie sah das deutsche Bürgertum aus? Es war bestrebt [...], um es mit Heines Worten zu sagen, das Volk mit leeren Versprechungen über ein Jenseits in den Schlaf zu lullen« (A9, S.4) beschreibt eine Schülerin die Kampfarena Heines. In dieser betrügerischen Auseinandersetzung habe Heine aber die Waffe der Kunst und der Aufklärung ergriffen, um somit zur teleologisch notwendigen Befreiung der Schülerin bzw. ihrer nationalen Gemeinschaft beigetragen. Auf diese Weise wird sogar die grundsätzliche Frage danach gelöst, ob die Schülerin sich mit Heine im Kampf gegen gemeinsame Feinde verbunden fühlt. Die oft brüchige Fragestellung, ob Heine nun Patriot war oder nicht (seine »Franzosenfreundschaft« benötigt in den meisten Fällen eine breite Erklärung und Entschuldigung), wird meist über die politische Figur der Nation in der Nation geglättet. Innerhalb dieser Figur »regiert« die Erzählung vom permanenten Kampf der einen Klasse/Nation gegen die andere, wobei der gegnerischen Nation/Klasse immer eine Absicht des Betruges, der Verblendung und der Knechtung vorgeworfen wird. Heine kann somit als Vorbild dienen, weil er das wirkliche Deutschland nie verraten habe: »Neben seinen Werken lassen uns auch die Worte ›wie in dem Lagerzelt der Freunde Schar‹ (enfant perdu – A.H.) den wahren Patriotismus des Dichters erkennen. Diese Worte sind ein Schlag gegen seine Feinde, die ihn ›Pariser Eckensteher‹ schimpften, denn mit der Freunde Schar bezeichnet Heine das wahre deutsche Volk, mit dem (er) so tief verwurzelt war.« (A19, S.5, Hervorhebung A.H.)
83 Höhn, Gerhard: »Wissenschaft der Freiheit« und jesuitische Falschmünzerei. Zu Heines Politikbegriff. In: Kruse, Witte, Füllner (Hrsg.): Aufklärung und Skepsis. Internationaler Heine-Kongreß 1997 zum 200. Geburtstag. Metzler Verlag, Stuttgart 1999, S. 33 – 46.
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Wenn also auch seine Satire, seine Ironie Deutschland galt, so sei dies doch keine Waffe gegen das wirkliche Deutschland gewesen, sondern gegen seine Feinde, die eben nicht zum Volk dazugehören: »Er kämpfte aber nicht, wie es in feudal-absolutistischen Kreisen ausgelegt wurde, gegen Deutschland. Das ist falsch. Er kämpfte gegen dieselben Herren, die behaupteten, er sei ein Vaterlandsverräter, denn sie bezeichnenden sich fälschlicherweise als Deutschland.« (A13, S.3)
Den »falschen Deutschen« werden die »Scharen« der Bauern und des Proletariats als das eigentliche Volk gegenüber gestellt (A13, S.3). Es zeigt sich also in den Aufsätzen, die sich auf den Diskurs der Kunst als Waffe beziehen, dass die Identifikation mit Heines Biografie, seinen Texten und mit seinem politischen Verständnis zu einer symbolischer Einordnung von Text, Biografie und Mensch führt, die sowohl die Genese als auch das Überleben des Subjektes mit einer gedachten Gemeinschaft der Nation verbindet. Sowohl die Herkunft als auch die Zukunft der Nation, deren unentrinnbarer Teil man sei, könne nicht ohne Kampf gesehen werden, der entweder gegen das eigene Kollektiv oder aber gegen die Feinde des Kollektivs geführt würde. Sich mit Heine zu identifizieren, seine Biografie, sein politisches Verständnis, seine Erzählungen zur eigenen Imagination zu machen, bedeutet zum einen die eigene Subjektivität eng an die Konstruktion einer Nation in der Nation zu binden und zum anderen stets nach Waffen zu suchen, die im dualistischen Überlebenskampf tauglich sind. Und somit wird die Waffe gegen die Feinde des deutschen Volkes aus den Händen des Dichters auch zur Waffe der Schülerin, die diesen Kampf – ebenso wie Heine – als Lebensaufgabe, als Lebenssinn begreifen soll oder will. (A 19, S.7) So fühlt sich die Schülerin (als Mitglied ihrer Generation) qua Geburt dazu aufgerufen den Kampf im Sinne Heines fortzuführen: »Vor allem mußten seine Werke [...] der Jugend gelten, die der Träger der Zukunft ist, die den Keim des Fortschritts in sich trägt.« (A6, S.3) Als Angehörige der »besseren Generation« hat sie die Legitimation zum dualistischen Kampf um ein »besseres Deutschland«: »Nie aber fand der Kampf um die Befreiung Deutschlands sein Ende, er dauert auch heute noch an. Für uns, die wir in einem befreiten Teile Deutschlands le-
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ben, kommt es darauf an, Heines Erbe zu sammeln und zu ehren und es als Waffe für die Befreiung ganz Deutschlands zu benutzen.« (A27, S.8.)
Oder: »Ein wichtiger Helfer und Beistand in diesem unserem Kampfe (um die Einheit Deutschlands – A.H.) ist uns unser großer Dichter Heinrich Heine. Er ist uns ein leuchtendes Beispiel dafür, wie man kämpfen soll. So werden auch seine Werke zum Eigentum des gesamten Volkes gemacht. In allen Betrieben, Bibliotheken und auch auf dem Dorfe werden sie zu Vertrauten, Freunden und Helfern aller Menschen.« (A28, S.11)
Des Weiteren: »Als ich Heines Werk noch nicht kannte, habe ich oft geglaubt, Ironie und Spott stehen den Prinzipien des Humanismus entgegen. Aber wem galten die ›brühwarmen Kugeln‹? Denen, die die Menschlichkeit unterdrückten, denen, die Heine nicht einmal Pressefreiheit gewährten, denen, die jede menschliche Regung unterdrückten. Die Satire Heinrich Heines wollte dem Humanismus Bahn brechen. [...] Seine Satire wird solange wirksam sein, bis das ›Geschlecht der Heuchelei‹ auf der Welt beseitigt ist.« (A2, S.6f.)
Diese Adaption des Krieges der Klassen als eigenen/kollektiven Überlebenskampf rekurriert auf Gefühle des Hasses oder der Liebe, die die Schülerin durch diese textliche und kognitive Auseinandersetzung einordnet und damit auch unter dem Aspekt des Nationalen bewertet. So kann diese Schülerin das Gefühl des Hasses nun auf die Feinde Heines und ihres eigenen Kollektivs übertragen, sie kanalisieren und ihm sogar eine gesellschaftlich anerkannte Bedeutung verschaffen. »Das Bedeutsame an seinem Leben und Schaffen ist, daß seine Kunst als Waffe gegen die Feinde seines Volkes weiter wirkt, jene Kunst – getragen vom Haß gegen das Absterbende und Überholte und von der festen Zuversicht, daß andere den Posten einnehmen, den Heine verlassen mußte, von dem unbeirrbaren Glauben an den Sieg der gerechten Sache (getragen)!« (A4, S.7f. – Hervorhebung A.H.)
Sowohl die kämpferische Auseinandersetzung, die dem eigenen und dem kollektiven Wohlergehen dient, als auch die Waffe der Aufklärung und Anklage muss aber in der Hand der Schülerin nicht zwangs-
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läufig auf ein Konstrukt der Nation in der Nation im Sinne der staatlichen Anrufung hinauslaufen. Sie kann sich durch die eigensinnige »Bearbeitung« des Textes und seiner Rezeption auf die nationale Einheit selbst beziehen, auf die (Wieder-)Herstellung einer einheitlichen staatlichen Verfassung: »Das Hauptziel der Bestrebungen Heines war, die Einheit Deutschlands herzustellen. Unterdessen sind bereits 100 Jahre verflossen, und dieses Ziel ist heute noch nicht erreicht. Wenn nun Heinrich Heine in der letzten Strophe seines ›Enfant perdu‹ voller Gewißheit behauptet, daß der freigewordene Platz eines Gefallenen stets durch einen anderen Kämpfer besetzt wird, so ist es heute unsere Aufgabe, den freigewordenen Platz Heinrich Heines einzunehmen, mit anderen Worten, ebenfalls für die Einheit Deutschlands zu kämpfen.« (A18, S.6)
Auch wenn die Verfasserin im weiteren Verlauf ihres Aufsatzes bezweifelt, die Kraft zu haben dieses Ziel zu verwirklichen, so entdeckt sie doch in Heines Biografie und Text für sich ein kriegerisches Werkzeug dafür, das eigene Wohlbefinden in Verbindung mit dem Wohlbefinden des nationalen Kollektivs erkämpfen zu können. Es ist bezeichnend, dass sie dabei insbesondere den Heine zugeschriebenen Charaktereigenschaften »Ausdauer, Energie, Optimismus« ein Vorbild abringt. Der Diskurs von der heiligen Waffe Kunst ist somit auch Grundlage eines weiteren Diskurses für die nationale Mentalität – nämlich jenem, wonach man als Kämpfer für die Nation mit Ausdauer und Mut auf dem Platz aushalte, den die nationale Geschichte einem zugewiesen habe: »Und gerade die schädliche Resignation, diese Furcht vor einem Rückschlag und einer Niederlage, die ihn zuweilen befiel, wenn er sich auf seinem verlorenen Posten sah, galt es für den Dichter zu überwinden. Und er hatte ein gutes Mittel dafür, ein zündendes, effektvolles Mittel – Esprit, Witz, Satire! ›Die frechen Reime eines Spottgedichts‹.« (A4, S.5f.)
Kunst und spezifische biografische Eigenschaften werden somit zu lebenspraktischen Kampfinstrumenten den historisch-nationalen Posten auszufüllen.
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Heine steht auf dem Posten »Außerdem übt (Heine) Kritik an den Nutznießern
der
Arbeit
anderer:
›Verschlemmen soll nicht der faule Bauch, was fleißige Hände erwarben.‹« (A30, S.4)
Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, die Erfahrungen der Panzer von 1953 präsent und fernab der Vorstellung von einer dauerhaften staatlichen Trennung erscheint ein besonderer Diskurs in den Aufsätzen. Er verbindet die antifaschistischen Erzählungen von Staat und Gesellschaft mit den antikapitalistischen Begehren und Erzählungen und der faschistischen und militaristischen Vergangenheit der (familiären) Gesellschaft. Ich spreche vom »Schlafmützendiskurs« – von der Interpretation Heines Biografie und seiner späten Gedichte als militärische Vorposten in einem permanenten Krieg gegen den Klassen- (und National-) Feind: den nicht arbeitenden Ausbeuter. Gegen denjenigen, der die Früchte verprasst, die andere erarbeiten. In diesem Krieg wird Heine zur Referenz der eigenen Kriegserfahrungen und der dichotomischen Selbsterfahrung, in der das Subjekt aus Abgrenzung und Identifizierung entsteht. Im Verweis der Schülerinnen auf das Gedicht »enfant perdu« wird Heine zur Vorzeigefigur, welche – permanent wachsam – die Nation der Arbeiter vor ihren Feinden beschützt. Derart zum Soldaten emporgehoben kann Heines Kollektivbiografie sogar mit Vaters oder Onkels Erzählungen vom Krieg verglichen werden (Z.B. A15). Die mögliche fehlende Anerkennung Heines als Traditionsfigur im Elternhaus kann insbesondere mit der Betonung des Soldatischen bei Heine geglättet werden. (A19, A15) Heines politischer Kampf, seine nationalen Anrufungen werden erfahrbar, nachvollziehbar und annehmbar, weil sie über die pädagogische Rezeption die schulischen und außerschulischen Diskurse des Militärischen und Faschistischen mit dem Heinetext zusammenführen. Zusammenführen in eine Subjektkonzeption, die das Subjekt über eine Differenz zum Anderen erfahren soll, in welchem es auch eine permanente Bedrohung der eigenen Person und/oder Identität sieht. Die Schülerin subjektiviert sich, indem sie sich im Schreiben mit dieser Interpretation identifiziert, indem sie sich selbst positioniert als nationales Subjekt, welches im permanenten Kampf steht, permanent
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wachsam sein will und vom Staat eine solche Wachsamkeit einfordert. Es folgt ein Bedürfnis nach Kontrolle durch Staat und Gesellschaft – eine Kontrolle anderer ob sie sich evtl. feindlich zur eigenen WirGruppe verhalten, aber auch ein Bedürfnis nach Kontrolle über sich selbst. Die Akzeptanz von öffentlicher Selbstkritik, von polizeilicher Kontrolle und evtl. sogar von einer militärischen Verteidigung der staatlichen Sorge und Verwaltung der Wir-Gruppe bündelt sich in diesem Konglomerat aus nationaler und dichotomischer Identifizierung. Am häufigsten ist diese Bewunderung der soldatischen Tugend in den Aufsätzen mit Anleihen der soldatischen Figur verbunden, die in den Erfahrungen und Erzählungen der Schülerinnen äußerst präsent ist: »Heine weiß, in diesem Kampf geht es um Sein oder Nichtsein, Leben oder Tod. Er weiß auch, daß er in diesem Kampf der Unterlegene sein wird, Hoffnung auf den Sieg hat er nicht. Deshalb ist seine Haltung desto bewundernswerter, einsam auf weiter Höhe, teils verleumdet oder unverstanden, auszuharren bis zum letzten.« (A27, S.3)
Die Schülerinnen erzählen Heine als Soldaten, der sich in einen großen Kampf um Leben und Tod eingereiht habe, weil diese Figur ihren eigenen Erfahrungen entspringt. Und so mündet die erzählerische Leistung, die Adaption und damit die Identifizierung mit einer theoretisierten Einordnung Heines in eine Tradition der Konfrontation, aus welcher das eigene (und kollektive) Klassensubjekt hervorgegangen sei, der praktischen Konfrontation, in welcher die Nachkriegskinder aufgewachsen sind. Eine Konfrontation, die durch ihre Erfahrungen mit den alliierten Soldaten, der politischen und nationalen Verortung der Eltern und den familienideologischen Praxen strukturiert ist. Diese Adaption wird fortgeführt und nicht nur die Geschichte der Nation als eine Geschichte des Kampfes »erkannt«, sondern auch das eigene Sein als konfrontative Angelegenheit naturalisiert: »Ich sehe in meinen Ausführungen über sein Wirken die ersten kleinen Anfänge (sein Werk fortzuführen – A.H.). Sie sollen eine Hochachtung seines Kampfes gegen die Zustände im damaligen Deutschland sein, sie sollen aber auch die Bestätigung sein, daß ich sein Werk gegen die verteidigen werde, die noch heute ihm sein Verdienst absprechen und ihn beschimpfen. Das können aber nur solche Menschen sein, die Heine nicht verstehen wollen, weil für sie heute
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das noch passt, was Heine damals mit seiner beißenden Ironie kritisierte.« (A2, S.1f.)
Die soldatische Figur durchzieht überhaupt alle Aussagen über den kämpferischen und wachsamen Heine. Durch die damit verknüpfte Entpersonifizierung Heines sind Anleihen am faschistischen Subjektbegriff oft kaum übersehbar – Du bist nichts, dein Volk ist alles – da Heines Biografie immer ausschließlich dem Ziel des Volkswohls untergeordnet wird.84 »Er kämpfte nicht für sich, für sein eigenes Selbst, sondern für das Wohl seines gesamten Vaterlandes.« (A28, S.2). »Obwohl er (Heine) genau wußte, daß sein Kampf zwecklos war, ließ er doch nichts unversucht, das Volk aufzuklären.« (A5, S.5)
Der Soldat – entpersonifiziert und zur Figur, zur Metapher erhoben – erhält dabei eine Scharnierfunktion in der mythischen Gemeinschaft, deren Existenz aus einer permanenten Geschichte des Kampfes, des Sieges oder des Verlustes gegen den Feind besteht: So treffen auch Heine die Angriffe seiner Gegner nur »persönlich« (A5, S.9) und können die Sache, die Geschichte, die Tradition, die gedachte Verbindung zwischen den Generationen nicht angreifen. »Die Kämpfer können vernichtet werden, nicht aber die Ideen des Befreiungskampfes.« (A5, S.9) oder: »Ein richtiger Posten achtet nicht auf sich, wenn er weiß, daß er für eine gerechte Sache kämpft.« (A21, S.6)
84 Ähnlich wie in der BRD zeigt der Diskurs »Du bist nichts, dein Volk ist alles« bis in die Mitte der 1960er Jahre eine starke Kontinuität. Was in der BRD »die« 1968er selbst zum politischen Programm erhoben – und damit den bürgerlichen Staat durchaus bestätigten, wird im zentralistisch organisierten Staat DDR zur Staatsbedrohung – die Betonung des Individuums. Die Filme »Paul und Paula«, »Heißer Sommer«, oder »Spur der Steine« zeigen durch ihre geballte gleichzeitige Entstehung den Kampf um eine hegemoniale Diskursivität, bei der das Individuum aus der Masse hervortreten soll. Die Filme, oder besser die kulturpolitische Auseinandersetzung um sie, zeigen aber auch, wie sehr dieser Diskurs im Gegensatz zum bürgerlichen Staat BRD für die DDR staatsgefährdend wirkte, wie sehr die Betonung des Individuums dem sozialistischen Programm der DDR zur Gefahr wurde.
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Des Weiteren ist die soldatische Figur mit konkreten Eigenschaften verbunden, die als »humane Werte« institutionsübergreifend (Schule, Familie, Kirche etc.) an die Jugendlichen herangetragen und als erstrebenswert und menschlich verankert worden sind. Sie, die Figur, wird menschlich, wird dadurch aus ihrer Abstraktion enthoben und somit ein emotionales Feld, in dem sich die Schülerin unterschiedliche, aber doch strukturgleiche Eigenschaften zur Identifizierung auswählt: So erfasste Heine »alle Regungen der menschlichen Seele und stand dadurch im Leben« (A5, S.3), er war patriotisch und uneigennützig, wahrhaftig (im Sinne von »sich treu bleibend«): »Wir sehen also, daß Heine auch im Exil das beherzigt, was er selbst in seinem Gedicht ›Enfant perdu‹ geschrieben hat.« (A5, S.11)
und vor allem klug und weitsichtig: »Heine gönnte sich in seinem Kampf keine Ruhe. Er konnte es nicht, weil er die politische Entwicklung in Deutschland von Standpunkt des Volkes aus sah.« (A5, S.5)
Und: »Heine war natürlich davon überzeugt, daß diese reaktionären Zustände nicht immer so bleiben. Das beweist die Tatsache, daß er schon voraus sah, daß der Kommunismus einmal kommen wird.« (A5, S.8)
Alles in allem werden Heine in den Aufsätzen Eigenschaften zugeschrieben, die ihn zum Identifizierungsobjekt machen, einem »Popstar«, der mit konkreten Eigenschaften von seinen Bewunderern »ausgefüllt« werden kann und just dadurch ein konkretes Feld an Identifzierungsbegehren ausfüllt (was ihn z.B. von einer Vorbildfigur wie Goethe oder Marx unterscheidet, deren dargestellte Biografie kein vielfältiges Eigenschaftsrepertoire bereit hält). Das Feld, aus dem dann die Vielstimmigkeit der Identifikationseigenschaften ertönt, ist im Falle dieser Identifizierungen mit Heine der soldatische Kampf. Was ist aber das Ziel dieses Kampfes, gegen wen richtet er sich? Es ist die Befreiung Deutschlands von jenen, die es nicht zu seiner vorbestimmten Freiheit, zu seinem Glück kommen lassen. Der Kampf gegen die Ausbeuter/Kapitalisten, den die Schülergeneration über die
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Verbundenheit mit den staatlichen Institutionen mit Heine teilt, ist der Kampf für die Einheit und das Goldene Zeitalter Deutschlands: »Was war dies für ein Krieg? War es eine Befreiung von einer Fremdherrschaft, von der Unterdrückung durch ein fremdes Volk? Nein, es war hier etwas viel Größeres: es ging um die Befreiung des deutschen Volkes von der Unterdrückung einer Ausbeuterschicht. Gleichzeitig war es ein Befreiungskampf von nationaler Zerrissenheit, ein Aufrütteln aus dem Dämmerzustand des ›Insichversinkens‹.« (A28, S.3) Es sind die Feinde »von Freiheit und Gerechtigkeit« (A4, S.6), gegen die man sich stellt, und deren Ideologie (»das süße[...], einschläfernde[...] ›Entsagungslied‹ vom besseren Jenseits«) (A4, S.4) man entlarvt.
Und: »Einer mußte doch wenigstens da sein, der in diesem Chaos der Kleinstaaterei, des Mystizismus, des Sichverlierens in eine schleierhafte Vergangenheit und in eine ebenso aussichtslose Zukunft wachte. Und Heine wachte, er schlief nicht, Er konnte, selbst wenn er es gewollt hätte, nicht schlafen.« (A28, S.3f.)
Im letztaufgeführten Beispiel vermittelt die Schülerin durch ihre Alltagssprache die eigenen Ängste und ein Unbehagen (»Chaos«, »Sich verlieren« etc.) angesichts eines fehlenden einheitlichen Nationalstaates. Chaos und Unsicherheit entstünden durch die Abwesenheit eines starken Staates. Der Kampf um eine staatliche Einheit wird damit zum Sicherheitsfaktor für die Schülerin, welche sich hierbei auf den soldatischen Wachposten berufen kann und seine bedingungslose Notwendigkeit für das eigene Sicherheitsgefühl anerkennt – eine Notwendigkeit, die es ermöglicht, in Heine einen Verbündeten, einen Schutzfaktor und damit auch eine Identifikationsfigur zu sehen. Diese Figur erhält ihre Brisanz vor allem dadurch, dass die Autorin diese vornationalstaatliche Verfasstheit mit der deutschen Teilung nach 1945 gleichsetzt: »Betrachten wir das Deutschland unserer Tage. Finden wir nicht ähnliche Zustände? Eine Grenze teilt auch unser Vaterland, und sie ist genau wie die zahllosen Grenzen des Deutschlands der Kleinstaaterei eine ungerechte und unberechtigte Grenze. Auch heute werden (sic!) in einem Teil unseres Vaterlandes
128 | D IE ERLESENE N ATION jede patriotische Gesinnung begraben und jegliche Auflehnung gegen die bestehenden Zustände verfolgt.« (A28, S.11)
Es ist dabei unerheblich, ob die Schülerin meint, dass die BRD oder die DDR jener Staat wäre, in welchem die »patriotische Gesinnung« begraben und verfolgt würde. Wichtig ist, dass Patriotismus in den Aufsätzen keine Phrase ist, sondern mit einem konkreten Inhalt gefüllt wird, den die Schülerinnen aus dem vorgestellten patriotischen Kampfe Heines entlehnen: der patriotische Kampf um die Befreiung des Volkes entlang der Dichotomie Arbeit – Nichtarbeit: »Alle seine Kräfte der Revolution zu widmen [...] diesem Kampf alle seine Kräfte zu widmen sah Heine als seine größte Aufgabe an. ›Friede den Hütten. Krieg den Palästen‹ hieß der Kampfspruch Büchners, den man mit dem Programm Heines gleichsetzen könnte.« (A34, S.2)
Oder: »Heinrich Heine will ›auf Erden schon das Himmelreich errichten‹, und er sagt dazu: ›Verschlemmen soll nicht der faule Bauch, was fleißige Hände erwarben.‹ Das Volk muß also schwer für einige arbeiten.« (A7, S.4)
Diese kriegsähnliche Ausbeutungssituation wird oft erzählt, wenn Heines Werk, Heines Bedeutung im Aufsatz kanonisch-historisch eingeordnet wird und somit der dichotomischen Tradition eine historische und damit mystische Bedeutung gegeben wird: »Es war doch damals so in Deutschland, daß die Arbeiter zwölf und noch mehr Stunden am Tag arbeiten mußten, wofür sie allerdings von den Fabrikbesitzern nur wenig Geld bekamen und immer nur betrogen wurden. Ähnlich war es auch in anderen Ländern, und es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn es dort schon zu Auflehnungen des Proletariats gekommen ist.« (A8, S.2)
Für diese Identifikation mit einer gedachten Gemeinschaft entlang der Unterscheidungslinie des Deutschseins von Klassen beruft sich die Schülerin auf die Konstruktion einer Betrugstheorie in Heines Werken85, wonach die herrschende Klasse Ideologie dazu verwende, die
85 Höhn, Gerhard: »Wissenschaft der Freiheit« (1999), S. 34ff.
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andere, die unterdrückte Klasse fortwährend unterdrückt zu halten. Diese Konstruktion von Ideologie war selbst diskursiver Bestandteil der Heinevermittlung im Unterricht: »Es entstanden [...] viele kleine Fürstentümer, an deren Spitze sich jeweils ein Fürst stellte. Jeder dieser Fürsten versuchte auf seine Weise das Volk zu erpressen, um sich somit Reichtum und Macht zu verschaffen. [...] er (Heine) wollte nicht, daß das deutsche Volk eingelullt wird durch das Eiapopeia vom Himmel. (Mit der Zensur aufklärerischer Schriften und der Diffamierung Heines als Nicht-Deutschem – A.H.) wollten die gierigen Machtstreber erreichen, daß dem deutschen Volk nichts über die wahren Zustände in Deutschland gesagt wurde.« (A21, S. 2, 3 und 7 – Hervorhebungen A.H.)
Diesem permanenten ideologischen Betrug der einen herrschenden Klasse gegen die eigene unterdrückte Klasse kann und soll man über eine kriegerische Selbstverortung entlang der Kategorie Arbeit – Nichtarbeit begegnen: »Den Deutschen zeigte er, daß sie nicht auf Gott vertrauen sollen, sondern schon auf Erden das Himmelreich errichten. Dazu ist es notwendig, daß sie das, was ihre fleißigen Hände geschaffen haben, selbst verbrauchen und nicht denen geben, die faul sind und sie nur beherrschen wollen.« (A21, S.4)
Die Schülerin positioniert sich selbst in diesem Kampf um den Erhalt der eigenen Klasse in einer mystischen Tradition, indem sie diesen Kampf verlängert und als permanent historisch-existent bezeichnet, da sie auf eine vortextliche Existenz dieser Selbstverortung vor Heines eigenen Schriften verweist: »Den Palästen erklärte er den Krieg, aber die Hütten werden erleuchtet werden.« (A21, S.4). Nicht nur, dass hier vom Präteritum auf die Zukunft gewechselt und damit eine lineare zeitliche Kontinuität gezogen wird deutet auf die gelungene Identifizierung mit der historisierten Gemeinschaft hin. Auch die Paraphrasierung der Losung Büchners mit eigenen Worten, statt einer wortgetreuen Übernahme lässt eine gelungene Identifikation mit dieser dichotomen Zugehörigkeitskonstruktion erkennen. Für diese Selbstverortung in der gedachten über den Tod hinaus wirksamen Gemeinschaft ist eine gedachte Tradition der Kämpfe zwischen der eigenen und der bedrohenden Klasse/Rasse notwendig, den
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die Schülerinnen immer wieder darstellen und damit als richtig bestätigen: »Schon immer gibt es Befreiungskriege und sie werden solange bleiben, wie es eine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gibt. Heine selbst hat sein ganzes Leben dem Kampf um die Freiheit gewidmet. [...] Sie (die Freiheit) ist dem Menschen angeboren und jeder hat deshalb das Recht, sie zu genießen.« (A23, S.3)
Oder: »Freiheitskriege gibt es schon sehr lange. Sie haben ihren Ursprung zu dem Zeitpunkt, als die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen begann. Heinrich Heine reihte sich in den Freiheitskampf ein.« (A32, S.3)
Dieser Kampf aufgrund der Bedrohung der eigenen Klasse und die Solidarität und Verbundenheit mit ihr lassen ein Gefühl des identischSeins der Schülerin mit den vorgestellten »Volksangehörigen« auch über den Tod hinaus entstehen. Der Kampf wird, wie der Feind, ein nationaler und er wird zur Aufgabe der Schülerin, die sich selbst als Teil der nationalen Gemeinschaft verortet. Dabei ist der nationale Kampf immer einem Sendungsbewusstsein unterstellt, denn durch ihn werde die Befreiung der Menschheit ermöglicht: »Man könnte annehmen daß (Heines Werke) in unserer Zeit geschrieben wurden, denn auch heute ist der Kampf um die Befreiung der Menschen von jeglicher Unterdrückung der erste Kampf.« (A23, S.10)
Um diesen Kampf zu führen und zu gewinnen, benötigt es einen weiteren Indikator für nationale Tugenden: Der Soldat, also das kämpfende Glied im Volkskörper, muss auch eine Verbundenheit zum völkischen Gesamtkörper empfinden – eine Verbundenheit, die in Liebe, und Begehren nach Deutschland übergehen muss. Auch dafür steht Heines Kollektivbiografie Pate: »Das Schicksal Deutschlands ließ Heine nicht zur Ruhe kommen. Als wahrer Deutscher, erfüllt von glühendem Patriotismus, machte er sich Gedanken um Deutschland, um sein Vaterland.« (A33, S.4f.)
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Und: »Aber die Stimme der Verantwortlichkeit in ihm war zu groß, er konnte nicht schweigen, weil er ein wahrer Patriot war.« (A34, S.5 – Hervorhebungen A.H.)
Es ist Heines wahrer Patriotismus, der – oftmals betont – die Identifikation mit Heine ermöglicht und in dieser Identifikation eine traditionalisierte mystische Gemeinschaft erkennen lässt, welche eine kämpferische Fehde und einen kämpferischen Habitus aller Mitglieder der mystischen Gemeinschaft (und damit auch der Schülerin selbst) bedingt. Dieser traditionalisierte Kampf bedingt letztendlich eine lebenspraktische Selbstverortung der Schülerin zwischen Miseretheorie, Antifaschismusrezeption und antikapitalistischer dualistischer Ethik. Soldatisch wachsam zu sein bedeutet zunächst einmal die politischen Verhältnisse zu erkennen, die einen knechten. In der Identifikation mit Heine erhebt sich die Schülerin dadurch zur Figur, die mehr weiß als andere und aus der Erkenntnis die Notwendigkeit ableitet, den NichtErkennenden zu erklären, was sie sehen müssten. Indem die Schülerin Heine zum einzig Sehenden erklärt und gleichzeitig offenlegt, dass über die Nicht-Sehenden »gewacht« werden muss, inauguriert sie eine Sittlichkeit, die darin besteht den anderen zu überwachen: »Er (Heine) wachte Tag und Nacht über die deutschen Spießer. Denn diese schliefen ja auch Tag und Nacht. Wehrlos nahmen sie das ihnen auferlegte Los hin.« (A36, S.3)
Was erkannt werden muss, um den wahren Patriotismus zu beweisen (und was die Schülerin Heine unterstellt), ist die konkrete und richtige historische Einordnung von Faschismus. Und so »leiht« sich die Schülerin nicht nur Heines aufklärerische Biografie, sondern findet auch in den Texten die inhaltlichen Aussagen zur eigenen zeitgenössischen Sittlichkeit, die auch deshalb national ist, weil sie sich auf das nationale Axiom des Antifaschismus stützt: »Der deutsche Michel hat sich nicht aufwecken lassen und so trat das ein, was Heine befürchtete. Im I. Weltkrieg war es so, und auch im II. Weltkrieg war es nicht anders. Im II. Weltkrieg hatte sich die herrschende Klasse verändert, die Unterdrückten schliefen aber genau noch so wie damals. Heine sagt an einer
132 | D IE ERLESENE N ATION Stelle des Gedichtes (enfant perdu – A.H.): ›Der eine fällt, die anderen rücken nach.‹ Mit diesen anderen können wir beim II. Weltkrieg die Mitglieder der KPD vergleichen. Sie schliefen nicht, sie versuchten immer wieder die deutschen Arbeiter wachzurütteln aus ihrem Schlaf. Sich zusammenschließen zum Kampf gegen den Faschismus.« (A36, S.4f.)
Dies geht so weit, dass Heine selbst zum Antifaschisten erhoben wird: »Nach dem faschistischen Umsturz wurde Heine noch aktueller, daß man ihn sogar mit Recht als antifaschistischen Schriftsteller bezeichnen kann.« (A22, A7f.) Mit seiner Biografie des langen und erfolglosen Kampfes kann er aber auch die Funktion eines Alibis annehmen, der verbriefte Nachweis, warum man selbst nicht handelt oder gehandelt habe. »Lang waren die Zeiten, in denen er Wache stand, auf die deutschen Schläfer aufpasste.« (A36, S.4) Indem Heines Wachsamkeit (wie oben) in eine historische Linie zum Faschismus und schließlich zur Nachkriegsgesellschaft gestellt wird, wird die soldatische Tugend der Wachsamkeit und Überwachung zur Grundlage, um aus der Traditionslinie zu Heine einen antifaschistischen Kampf abzuleiten und diesen mit soldatischen Tugenden inhaltlich zu füllen. In dieser sittlichen Praxis muss sich die Schülerin, die sich mit dem Kampf Heines identifizieren will und in ihm auch eine »Reinwaschung« der Schuld vom Faschismus erkennen möchte (und kann), selbst auf den Posten begeben und wachsam sein – gegen die spezifischen Feinde Heines und der Nachkriegsstaatsbürgerin, die sich auf eine antifaschistische Tradition der Anti-Misere berufen will. Heine kann in diesem Diskurs sowohl die Rolle des Vorbilds annehmen, dem die Schülerin durch konkrete Praktiken (Einforderung von Schutz und Sicherheit, Vertrauen auf die staatlichen Institutionen oder Kontrolle der Mitmenschen) im Wachsamkeitsdiskurs folgt. Wachsam sein heißt aber vor allem dem Wiedererstarken des Faschismus entgegen zu treten, indem man den anderen deutschen Staat misstrauisch beäugt und in ihm (verbunden mit der Wahrnehmung ob der personellen Kontinuitäten in den wirtschaftlichen und politischen Eliten Westdeutschlands) die Fortführung des Faschismus per se erkennt, wie im folgenden Zitat. »Das ist die Jugend, die den Dichter versteht, das sind diejenigen, die den vakanten Posten ausfüllen, die es verstehen, die von Heinrich Heine hinterlasse-
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nen Waffen richtig zu gebrauchen! [...] Und wenn wir in diesem Jahre – 1956 – den 100. Todestag des großen Realisten, Lyrikers und Satirikers Heinrich Heine begehen, dann müssen wir uns klar machen, warum dem Werke dieses Dichters noch heute eine derartig große Bedeutung beigemessen wird und warum die Waffen Heines auch in unserer Zeit noch nicht gebrochen sind. [...] Das deutsche Schläfer- und Träumertum ist Schuld daran, dass der Faschismus seine Gewaltherrschaft über Deutschland und einen Teil Europas ausbreiten konnte und daß die schwärzeste Reaktion heute in Westdeutschland schon wieder im Begriff ist, Boden zu gewinnen.« (A4, S.10f.)
Diese Wache, die quasi soldatisch ausgeführt werden soll, benötigt auch eine »Waffe«, welche den Feind abschreckt und eine Distanz zu ihm aufbaut. Die Gleichsetzung von Heines Feinden mit den Feinden der Antifaschisten und schließlich den Feinden der deutschen Befreiung/Einheit bildet die Urteilsgrundlage in einer sozialen Schicht einen kriegerischen Gegner zu sehen, den man abschreckend bedrohen und vor dem man sich – stets gewappnet – schützen muss.86 »Dieses Gedicht (enfant perdu), das während des französischen Exils entstand, zeigt uns ganz deutlich Heines Sorge um Deutschland. Es widerlegt klar die Ansichten reaktionärer Kreise, die Heine einen vaterlandslosen Gesellen ›schimpften‹. In Wirklichkeit waren solche Elemente mehr in den Reihen der Klassen zu suchen, die 2 fürchterliche Kriege über Deutschland heraufbeschworen hatten.« (A20, S.7)
Interessant ist hierbei die Deutung, dass die beiden Weltkriege in erster Linie Deutschland geschadet haben, dass also Heines Feinde = Feinde der Antifaschisten = Feinde einer deutschen Befreiung in erster Linie immer das Wohlergehen eines deutschen Volkes verhindern wollten. Daher wird es lebensnotwendig, diesen Feind permanent im Auge zu behalten und jegliche Aktion zu seiner Abschreckung und seiner Distanz als unabdingbar für das eigene (Über)leben und das eigene Wohlergehen als notwendig zu erachten. Inmitten der Gleichsetzung von Faschismus = Kapitalismus = USA finden diese Feinde auch ihre konkrete Entsprechung: 86 Von der Popularität dieses Diskurses zeugen auch die Verbreitung, die Bekanntheit und die posthume Identifizierung mit dem Gedicht »Bewaffneter Friede« von Wilhelm Busch. Ein Gedicht, das in der DDR durch alle Generationen hindurch eine große Popularität besaß.
134 | D IE ERLESENE N ATION »Aber nicht nur in vergangenen Zeiten galt Heine als Wegweiser und Berater, auch in unserem heutigen Kampf um die Einheit Deutschlands, die die Reaktionären Deutschlands und die englisch-amerikanischen Machthaber so hassen, ist er uns durch sein wertvolles Schaffen ein Vorbild.« (A22, S.8)
Bedenkt man, dass die Gleichsetzung von Faschismus und USA auch das Hören von Musik, das Tragen bestimmter Kleidung oder aber den Bezug auf US-amerikanische Demokratievorstellungen beinhaltet, so wird das Feindbild vom US-Amerikaner, der die deutsche Einheit bedroht, zum permanenten Kontrollpunkt gegenüber eigenen Verhaltensweisen und Begehren und denen der Mitmenschen.87 Der Diskurs des soldatischen Heine, der so vehement, so körperlich eine politische Positionierung entlang nationaler Grenzen konfiguriert, greift also permanent auf eine kriegerische Auseinandersetzung des eigenen Kollektivs zurück und geriert dabei eine mystische, historische Dauerkonstruktion dieser Fehde, der sich kein Mitglied dieser mystischen Gemeinschaft entziehen kann, will es das Überleben seiner selbst und seines Kollektivs sichern. Seine kollektivbiografische Übertragung auf das eigene Leben, die eigene Gegenwart, die eigenen Wünsche und Technologien ihrer individuellen und kollektiven Umsetzung wird aber noch konkretisiert, indem sie auf das Kollektiv der
87 Als Ergänzung zu diesem Antiamerikanismus, der in der Existenz des Amerikanischen eine Bedrohung der deutschen Heimat ausmacht, verweise ich beispielhaft für zahlreiche populäre Lieder jener Jahre auf folgendes: Ernst Busch: Ami, Go home! »Was ist unser Leben wert / Wenn allein regiert das Schwert / Und die ganze Welt zerfällt in Totentanz. / Aber das wird nicht geschehn, / Denn wir woll’n nicht untergehn / Und so rufen wir durch unser deutsches Land: / Go home, Ami Ami go home! / Spalte für den Frieden dein Atom! / Sag goodbye dem Vater Rhein, / Rühr’ nicht an sein Töchterlein! / Loreley, solang’ du singst wird Deutschland sein / [...] / Go home, Ami Ami go home / Laß in Ruh den deutschen Strom / Denn für deinen Way of life / Kriegst du uns ja doch nicht reif. [...] / Ami hör auf guten Rat, / Bleib auf deinem Längengrad / Denn dein Marschall bringt uns zuviel Kriegsgefahr. / Auch der Frieden fordert Kampf, / Setzt die Kessel unter Dampf, / Anker hoch, das Schiff ahoi, der Kurs ist klar.« In der Textzeile über die Lorelei findet sich darüber hinaus ein weiterer Hinweis für die populäre Verbreitung der Heinetexte für eine nationalstaatliche Identifizierung.
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Werktätigen in der DDR (in Analogie zur BRD) übertragen werden, wie ich folgend zeigen möchte. Heine stand allein – wir sind ein Kollektiv Der Diskurs des Soldatischen, im Unterricht intensiv besprochen, zielte auch darauf ab, den Schülerinnen zu vermitteln, dass Heine alleine »auf seinem Posten gestanden habe« und daran »zugrunde gegangen sei«. Im Gegensatz dazu gäbe es aber im Staat DDR und der Familie der Werktätigen eine Gemeinschaft, in welcher der historisch-anthropologische Kampf gegen den inneren und äußeren Feind nicht mehr alleine geführt werden müsse. Betrachtet man jedoch die Urteile der Schülerinnen in den Aufsätzen, so ist dieser didaktische Versuch gescheitert, den Schülerinnen eine Verbundenheit mit dem Staat DDR zu vermitteln. So wird die Erzählung von Einsamkeit und Ohnmacht bei Heine zwar betont, eine Bewertung dieser Einsamkeit im Sinne: ›Bei uns ist das anders, wir haben eine staatliche Gemeinschaft‹, erfolgt jedoch nicht. »Nur wenige wagten in gleichem Sinne wie er zu kämpfen. Keiner in gleicher Art und Weise. Er stand allein im Kampf, und ein Soldat ohne Hinterland ist gegen eine Übermacht verloren.« (A35, S.5)
Eine andere Schülerin betont, dass sie zwar Heine für sein Einzelkämpfertum ehrt, jedoch dieses Kämpfertum nicht zum eigenen biografischen Schicksal erhebt. »Gegen soviel Stumpfsinn und Philistertum, gegen so viele Fürsten und Fürstentümer allein zu kämpfen, war ein aussichtsloses Unternehmen. Aber es ist doch bezeichnend, daß Heine den Kampf nie aufgegeben hat. Wie oft können wir bei uns heute erleben: ›Ach, was soll ich als einziger dagegen etwas sagen. Das hat ja doch keinen Zweck!‹« (A2, S.2f.)
Doch auch wenn aus dem stoßseufzerartigen Ausruf am Ende des Zitats die fehlende Adaption des Kampfes als eigene Aufgabe spricht und damit auch die fehlende Adaption im Staat DDR ein Kollektiv gefunden zu haben, mit dem gemeinsam der historische Kampf gewonnen werden kann, den Heine schon geführt hatte, so wird der Kampf, den das Volk zu führen habe, nicht abgelehnt. Es bleibt unbestimmte Aufgabe des Volkes, oder der Arbeiterklasse an sich, den Kampf ge-
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schlossen weiter zu führen, den Heine begonnen habe, wie die Ausschnitte aus dem folgenden Aufsatz beweisen, nur rechnet sich die Schülerin nicht persönlich dazu: »Heine stand in seinem Kampf stets allein, und deshalb war dieser Kampf ein verlorener Kampf« (A5, S.4) »Wenn die Schicht (die Bourgeoisie – A.H) gestürzt werden soll, dann muß das ganze Volk dabei helfen.« (A5, S.4) »Heute wissen wir, daß Heines Kampf um die Befreiung der Menschheit doch Früchte getragen hat [...] Mit der weiteren politischen Entwicklung wurde die Arbeiterklasse immer stärker. Sie verstand Heines Mahnungen und richtete sich danach.« (A5, S.11.)
Wenn der Kampf Heines aber weiterhin als notwendig erachtet wird, wenn auch der Akteur konkret benannt wird, der kollektiv diesen Kampf zum Sieg führen soll, sich die Schülerin aber nicht konkret in den Kampf einbringen will – welches Urteil fällt sie dann aus der Verbindung Heine = Soldat = allein und ›der Kampf muss vom Volk der Arbeiter weiter geführt werden‹? Es ist die Akzeptanz der Fortführung des Kampfes durch die staatlichen Institutionen an sich und damit auch die Akzeptanz des täglichen Kampfes der staatlichen Institutionen gegen die Bevölkerung und die einzelnen Subjekte – zur Prävention und »Vernichtung« des Feindes. Der Feind in meinem Bett Die Akzeptanz der ideologischen und repressiven Staatsapparate als Vertreter im historischen Kampf gegen den Klassenfeind beruht besonders auf der Identifizierung der Schülerinnen mit den sittlichen Lebensweisen aus der Kollektivbiografie Heines, konkret: mit den soldatischen Tugenden der Wachsamkeit und Kontrolle des eigenen Körpers bzw. der Körper der Mitmenschen. »Jeder, der irgendwelche Werke Heines gelesen hat, findet in ihnen Hinweise und Anweisungen, die ihm helfen, ihn zu erziehen.« (A32, S.4) schreibt eine Schülerin und leitet damit eine Technologie der Selbst- und Fremdführung ein, die das eigene und fremde Verhalten an einem Freund-Feind-Muster entlang bewertet: »Schon nach seinem Gedicht ›enfant perdu‹ kann jeder entscheiden, ob er zu denen gehört, die nachrücken.«(A32, S.5) Sie unterscheidet also entlang der Traditionslinien zu Heine und dessen (nationalen) Kampf gegen die (nationalen) Feinde, wer Feind und Freund ist.
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»(Meine Ausführungen) sollen [...] die Bestätigung sein, daß ich sein Werk gegen die verteidigen werde, die noch heute ihm sein Verdienst absprechen und ihn beschimpfen. Daß können aber nur solche Menschen sein, die Heine nicht verstehen wollen [...].« (A2, S.1)
Dass dieser Diskurs nicht abstrakt bleibt, sondern zur Handlungsmaxime der Schülerin wird, bezeugt ein anderer Aufsatz, in welchem die Schülerin sich auf die gleiche Freund-Feind-Kategorie einlässt. Mit Heine habe man eine »Verantwortung denen gegenüber, die – Gefahr verkennend – sorglos in den Tag hineinleben« (A4, S.5), also eine Verantwortung den anderen zu erziehen. Besonders wichtig scheint den Schülerinnen, die sich auf diesen Diskurs beziehen, die Kategorie der Aufklärung – als das Vermitteln einer Wahrheit, eines Wissens und einer Vernunft, welches das Handeln des Gegenübers relativieren und verändern soll. Heine – oder in der Identifikation mit ihm die Schülerin selbst – muss also im Überlebenskampf der dichotomischen Auseinandersetzung permanent aufklären und agitieren, muss unablässig überzeugen und die Kategorien des vernünftigen, richtigen Lebens (Sittlichkeit) verbreiten, damit die eigentlichen Zugehörigen der Gemeinschaft nicht zum Feind überlaufen. »Das Schnarchen, also die Unaufgeklärtheit und Unwissenheit der breiten Masse des deutschen Volkes bewahrte ihn stets davor, nicht einmal die Feder aus der Hand zu legen«. (A19, S.5)
Es sind also nicht nur die Feinde außerhalb der gedachten Gemeinschaft, die ausgemacht und »unschädlich« gemacht werden müssen, auch die eigene Gemeinschaft unterliegt einer ständigen Kontrolle – für deren immer währende und nie ruhende Praxis Heine Pate steht: »Doch gerade diese Gleichgültigkeit, mit der seine Zeitgenossen alle Maßnahmen der Reaktion hinnehmen und hinunterschlucken, ist für Heine Anlaß, wachzubleiben und als ›verlorener Sohn‹ auf seinem Posten auszuharren.« (A4, S.5)
Die ausschweifenden Beschreibungen der Wachsamkeit des Soldaten Heinrich Heine werden hier zu einer Beschreibung der eigenen Wachsamkeit über die Ethik und die Praxis der Schülerin und ihrer Nachbarn selbst. Das kriegerische Prinzip, wonach der Feind zu erkennen
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ist und »unschädlich« gemacht werden muss, wird nicht an die staatlichen Institutionen in einem Stellvertreterprinzip abgegeben. Des Weiteren bedürfen das eigene Selbst und der konkrete Nachbar einer permanenten Aufklärung und Überprüfung und stehen unter ständiger Beobachtung, ob er/sie sich dem Volksgedanken gemäß richtig verhält. Ein Vernunftprinzip, das nicht nur Geheimdienste sondern auch Kontrolle in der Schule, durch den Abschnittsbevollmächtigten, im Arbeitskollektiv, aber auch zu Hause am Abendbrottisch für vernünftig und selbstgewählt definiert und sogar in der eigenen Kontrolle, Selbstzensur oder Berichtigung von Bedürfnissen mündet, die den vorgestellten Interessen der Nation widersprechen. Zitatautoritäten Bei der Strukturierung der eigenen Biografie entlang von Identifikationsverweisen zu Biografien oder Texten erweist sich jene literaturdidaktische Methode als effektiv, wonach der literarische Text einen Vergleich zum eigenen Leben biete und der Autor im Text Handlungsund Bewertungsanweisungen für die Leserinnen versteckt habe. So vergleicht die Schülerin tatsächlich alles, was sie erfährt, denkt und bewertet mit einem entsprechenden Zitat aus Text oder Biografie. Die Worte der Zitatautorität werden zu der Ordnung, in denen die Schülerin Gedanken vorformuliert findet, für die sie bisher keine eigenen Worte hatte. Auf diese Weise wird das Politikverständnis der Zitatautorität zur Verständnisordnung der Schülerin und es entsteht eine Identifizierung mit der Zitatautorität und ihrer ethischen Ordnung über den Tod hinaus. Eine Identifizierung, die ihrerseits wichtig für eine mythische nationale Gemeinsamkeit ist. Wenn Heine schon qua seiner Biografie und seines Werkes zur Zitierfläche für die gesellschaftlichen, politischen und ethischen Bewertungen wird, die die Schülerin vornimmt, so gilt das insbesondere auch für eine quasi biblische Rolle, die er durch die hervorgehobene Betonung der Freundschaft mit Marx einnimmt. Diese hervorzuheben wird mit der Verwissenschaftlichung der marxistischen Germanistik Mitte der 1950er Jahre immer wichtiger, und sie wird daher auch ausführlich in den Unterrichtsstunden besprochen worden sein, so wie sie auch in Kaufmanns kollektivbiografischer Vorlage betont wird.88
88 Vgl.: Reese, Walter: Sozialistische Heine-Rezeption (1979), S. 240.
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In den Aufsätzen erhält Marx die Referenzhoheit des Bibelautors, während Heine oder andere Schriftsteller die Funktion der Kirchenväter einnehmen. Ihre Klimax erfährt diese Zuschreibung in der Angleichung von Heines Biografie an die Theorie von Marx. Indem Heine quasi erleuchtet wird und seine eigene Biografie bzw. sein Werk seine Vollendung und Erhöhung erfährt, da er sich dem politischen Programm Marx‹ verschreibt, entsteht eine kollektive und vorbildhafte Erzählung zur biografischen und gesellschaftlichen Positionierung der Schülerin. Bevor ich dies ausführe, möchte ich einige Belege aus den Aufsätzen anführen, in denen Heines Biografie und Werk durch die Bekanntschaft mit Marx erklärt wird: »Die Begegnung mit Karl Marx ist für Heines weiteres Schaffen bedeutend. Dadurch wurde er zur politischen Arbeit veranlaßt. Als Mitarbeiter der ›Rheinischen Zeitung‹ entwickelte er gute politische Arbeit. Der revolutionäre Geist seiner meisten Werke ist auf die Zusammenarbeit mit Marx zurückzuführen.« (A1, S.6)
Die sachlich falsche In-eins-Setzung der Personen Heine und Marx, die öfter erscheint, zeigt, wie sehr die Schülerinnen die Biografie Heines an der erlernten Zitathoheit Marx ausrichten. So habe Heine als Journalist bei der Rheinischen Zeitung gearbeitet (A1), oder Sätze aus dem Kapital oder dem Manifest werden Heine zugeschrieben: »Er (Heine) war schon immer davon überzeugt, daß der Sturz der Ausbeutergesellschaft herbeigeführt und daß das Proletariat im Bündnis mit den Bauern die Herrschaft einmal übernehmen würde.« (A8, S.5). Eine andere Schülerin schreibt: »Er (Heine) war [...] nicht in der Ideologie Deutschlands (Anlehnung an die ähnlich lautende Schrift Marx’? – A.H.) befangen, sondern hatte bereits die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats erkannt und strebte das auch für Deutschland an.« (A18, S.5)
Wieder eine andere macht aus Marx und Heine beste Freunde: »In Frankreich erhielt er viele Anleitungen von Karl Marx, der sein bester Freund wurde.« (A22, S.4) Durch diese Analogie wird die Adaption oder Ablehnung der Nachkriegsschülerin von Heines Positionierung zum Kommunismus mit ihrer spezifischen familiären Kriegsbiografie möglich – es gelingt
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ihr, ihre eigene (kommunistische und/oder antifaschistische) Unvollkommenheit zu relativieren. Berücksichtigt man die Meistererzählung der antifaschistischen Reedukation bei aller nationalen und andersartigen ideologischen Anrufung in der Nachkriegszeit, wonach insbesondere die Jugend im Faschismus verführt worden sei, so offeriert gerade die Identifikation mit Heine, der ja auch nicht perfekt gewesen sei, aber den richtigen Weg eingeschlagen habe, eine optimale Identifizierungsfläche: »Die Zeit jedoch wird kommen, wo seine Gedanken verwirklicht werden, wo die Kommunisten an die Macht kommen werden. Auch das wusste Heine. Zwar hatte Heine eine zeitbedingte, falsche Vorstellung von Kommunismus, doch zwei Momente lassen ihn klar für den Kommunismus stimmen: Der Haß gegen die Reaktion und die Logik des Kommunismus (Jeder hat das Recht zu essen).« (A26, S.8)
Ebenso wie Heine kann nun die Schülerin, die zwar keine vollkommene Kommunistin ist oder deren Familie auch keine Antifaschisten waren, sich als solche behaupten, da sie doch die kommunistischen Grundprinzipien teile. Die Schülerin teilt also mit Heine das »Los« nicht wie Marx zu sein, nicht vollkommen zu sein, aber (ganz im Sinne eines gottgefälligen Lebens) ihm nachzueifern, sich zu »optimieren« und damit Teil der (antifaschistischen und sozialistischen) Volksgemeinschaft zu werden. Dabei spielen die Erfahrungen als Kriegskind eine Kollektivschuld aber auch ein kollektives Glücksversprechen nachgesagt und angetragen bekommen zu haben, die entscheidende Rolle, um eine solche Optimierung zum eigenen und kollektiven Begehren zu erklären. Denn ungeachtet einer tatsächlichen Familiengeschichte im (faschistischen) Widerstand kann die Schülerin nun – in Analogie zu Heine – sich zur Kommunistin und (oft gleichgesetzt) auch Antifaschistin erklären, in dem sie der politischen Biografisierung Heines folgt. Auffallend beschreibt eben diese Reinigung, dieses Verzeihen einer Schuld folgende Schülerin: »Man muß Heine diesen Irrtum verzeihen, seiner Zeit gemäß war er sehr weitblickend und konnte sich über die Zukunft keine anderen Vorstellungen machen.« (A6, S.9) Ob Erziehungsziel oder nicht – der umfassenden Anrufung an die Schülerin sich nach dem deutschen Faschismus als Kommunistin im Arbeiter- und Bauernstaat zu positionieren, wird durch die Parallele
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von Heines Werk und Biografie zu Marx eine Analogie geboten, in welcher das Bedürfnis der Entschuldigung und »Reinwaschung« der Schülerin bzw. ihrer Familie aufgeht. Denn ebenso wie Heine sei sie zwar mit dem Makel behaftet, in der deutschen tragischen Zäsur nicht gänzlich auf der richtigen Seite gestanden zu haben – nicht wie Marx (oder die Vertreter der Arbeiterklasse) gehandelt zu haben – aber durch das nachträgliche Erkennen der historischen Folgerichtigkeit des Kommunismus eben diese Schuld wieder gut zu machen. Es ist eine vielmals beschriebene, emotionale Struktur, wonach die Anbindung an den antifaschistischen Staat, der vielgestaltige Patriotismus aufgrund der antifaschistischen Selbstdeklaration zu einem fortwährenden Vertrauen und zu einer anhaltenden »Vater-Kind-Beziehung« zwischen den Bürgerinnen der DDR und der staatlichen Institutionen der DDR führt.
3.4 EINZELANALYSE Nachdem ich die Diskurse aufgezeigt habe, innerhalb derer die Schülerinnen ihre nationale Identifizierung schreiben, werde ich an ausgewählten Aufsätzen die konkrete nationale Identifizierung innerhalb dieser Diskurse aufzeigen. A15 – Auflösung der Kriegserfahrung in einer Zugehörigkeit zum »besseren Deutschland« Die nationale Anrufung im Heinetext und seiner pädagogischen Bearbeitung im Literaturunterricht wird im Schreiben der Aufsätze zum performativen Akt, in welchem das Subjekt seine gebrochenen Welterklärungen (entstanden aus differenten Erklärungen im Nachkriegselternhaus und in der sozialistisch-antifaschistischen Schule) glättet und rezentriert und sich selbst dadurch subjektiviert. Am folgenden Beispielaufsatz zeigt sich diese Glättung verschiedener lebensweltlicher Erfahrungen von und zu Nationalität auf hervorragende Weise. Sie findet statt, indem die Schülerin nationale Diskurse nutzt, um Aussagen anderer Diskurse zu überprüfen, zu erklären, zu ergänzen, ihnen im Sinne von wahr und falsch zuzustimmen oder sie zu verwerfen. Kurz: Im Aufbau nationaler Anrufungen auf außerschulische Erfahrungsmuster bewertet sie die Aussagen des Nationalen und identifiziert sich in dieser Bewertung – verortet und subjektiviert
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sich somit selbst zwischen Zustimmung und Ablehnung. Den Diskursen des Soldatischen, der Kriegserzählungen bzw. Kriegserfahrungen aus dem Elternhaus ordnet die Schülerin die schulisch erlernten Symbole der Heimat, des wachsamen Postens zum Schutz dieser Heimat und der vita activa als Auftrag an die Jugend bei. Den roten Faden für diese Praxis bildet die Selbstverortung der Schülerin als Soldatin im nationalen Kampfe. Bei dieser Aneignung der nationalen Anrufung tauchen auch Widersprüche auf, welche die Schülerin mit Heine als Zitierfläche glättet. Insofern wird Heines Text und seine Biografie zum Scharnier, um den Zusammenhang zwischen Erfahrungswelt der Schülerin und der schulischen und außerschulischen Anrufung herzustellen: Die Verbindung dieser konträren nationalen Diskurse zeigt sich bereits in der Einleitung. »›Enfant perdu‹ – verlorenes Kind – verlorener Sohn – verlorener Posten. Wie eigenartig mutet uns doch dieses Gedicht an. Verlorener Posten im Kriege, das ist ein Todeskandidat, der in vorderster Linie kämpft und so dem Feind und auch dem Tod am nächsten steht. Wie konnte sich jedoch der deutsche Dichter Heinrich Heine, der überhaupt nicht mit dem Gewehr in der Hand kämpfte, mit solchen Menschen vergleichen?« (A15, S.2)
In fortwährender und auffälliger Front- und Soldatensprache versucht die Schülerin Heine, dessen Waffe die Kunst gewesen sei, als kämpfenden Krieger darzustellen und damit die häuslichen Erzählungen und Erfahrung in die (schulische) Kollektivbiografie Heines zu integrieren. Dabei kann der Diskurs über Heine als wachsamen Posten gegen den Klassen- und Volksfeind die konträren häuslichen (kriegerischwilhelminisch, oft faschistisch) und schulischen Aussagen (sozialistisch, antifaschistisch) zur Identifikation mit Heine glätten. Denn beiden Aussagen, der schulischen wie der häuslichen unterliegt eine sinnstrukturierende biografische Fragestellung, die sich im Diskurs des wachsamen Posten wiederfindet: Die Frage danach was ein richtiger Deutscher sei bei gleichzeitiger Anerkennung, dass richtiges Deutschsein eine sittliche Tugend sei. Durch diese Fragestellung und ihren sittlichen Impetus wird es der Schülerin möglich (über die Identifikation mit Heine) zu einer Glättung der differenten nationalen Anrufungen zu gelangen. Diese Glättung geschieht wie folgt: Aus dem elterlichen Diskurs übernimmt sie die Aussage über die nationale Ontologie, wonach Deutschsein sich am soldatischen Kampf für sein Volk offenbare
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– und aus der Schule jene, wonach nationale Identität im Kampfe gegen den Klassenfeind auszumachen sei und damit nationalstaatliche Schutzinstitutionen wie Armee, Polizei, Verwaltung als vernünftig und für das Wohlergehen der nationalen Wir-Gruppe unabdingbar erachtet werden müssen. Aber gerade diese Verbindung bedingt auch einen konkreten Widerstand gegen die nationalen Aussagen der Eltern. Gegen sie, die Heine wohl als Vaterlandsverräter, als das Andere zum Volkszugehörigen definieren, setzt die Schülerin eine geradezu trotzige Behauptung, dass das von Heine Behauptete (nämlich die schlechten Zustände, die dem wahren Deutschland schaden und die Heine bekämpfen wollte) doch stimme. (A15, S.6) Für das Gelingen dieser Verbindung sich widersprechender Identifizierungsanforderungen zeichnet verantwortlich, dass sowohl Schule als auch Eltern in »gute Deutsche« und »Feinde des guten Deutschen« unterteilen. Mit dieser dichotomischen Struktur glättet die Schülerin eine nationale Identifizierung, die durch die widersprüchlichen Aussagen aus Schule und Elternhaus brüchig geworden ist. »Gute Deutsche« und »Feinde der Deutschen« existieren in den Erzählungen im Unterricht, wie in denen von zu Hause. Und so erfolgt eine Identifizierung mit der schulisch offerierten Biografie Heines, obwohl diese nicht im Sinne des Elternhauses ist und weil sie durch die Feind-FreundStruktur ein wesentliches Element der elterlichen Erzählung bestätigt. »Wie ist es jedoch mit Heines Werken? Er sagt, daß seine Waffen nicht gebrochen werden. Damit hat der Dichter auch vollkommen Recht (sic) behalten, denn sie sind für uns genauso von Bedeutung wie für die damalige Zeit. Heute, genau wie damals, ist Deutschland gespalten.« (A15, S.7)
Auf dieser (geglätteten) Identifizierung leitet die Schülerin eine eigene Positionierung ein, die auf eine kulturelle Praxis abzielt – eine kulturelle Praxis der vita activa, die im Nacheifern von Heines Biografie eine permanente Arbeit an sich selbst als biografisch unabdingbar erkennt. Der eigenen Biografie wird entlang der Sinnstruktur »ein guter Deutscher zu sein« eine Bedeutung gegeben, unter der Prämisse, dass das richtige Erkennen der »Deutschland-schadenden-Umstände« nicht nur Heines, sondern auch der Schülerin Angelegenheit sei. »Uns, der Jugend, wie auch damals, erwächst die Pflicht, an der Wiederherstellung eines geeinten Vaterlandes mitzuhelfen.« (A15, S.8)
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Diese Praxis siedelt die Schülerin nicht jenseits der Sinnstruktur des Elternhauses und nicht jenseits der Sinnstruktur der Schule an und dennoch wird aus ihrer Verbindung eine Eigenständigkeit – eine eigene Identität. Bestärkt und kanalisiert wird diese Glättung, indem im Unterricht die vita activa in erster Linie der Jugendgeneration – und damit der Generation der Autorin – zugeschrieben wird. »Es ist hier also wie im Kriege. Die einen fallen, und die anderen rücken nach, um weiterzukämpfen. Heinrich Heine denkt in diesem Falle an die Jugend, denn er ist sich gewiß, daß ein neues Geschlecht emporwächst, was doch dann endlich vorwärtsstürmen wird.« (A15, S.7)
Der Jugendkult des Faschismus und der deutschen Nachfolgestaaten erweist sich hier als effektiver Diskurs, um sich mit der kulturellen Praxis des Kämpfens zu identifizieren, die eigene Biografie dieser Sinnstruktur zu unterwerfen und entlang der Kategorien Freund und Feind auszumachen. Diese Eigenpositionierung, diese Subjektivierung führt im vorliegenden Fall letztendlich dazu, dass die Schülerin für sich eine biografische Sinnstruktur entwirft und das eigene Leben, das Arbeiten an sich an der Identifizierung mit dem Nationalstaat festmacht, die aus der mystischen Tradition der eigenen Generation (und Person) mit Heinrich Heine hervorgegangen ist. Konkret: Diese Identifizierung führt zu einer vita activa, bei der die Schülerin nicht nur wachsam gegen die Feinde des »wahren Deutschlands« ist, sondern darüber hinaus ein politisches Begehren nach einem vereinigten Deutschland zu ihrem eigenen Interesse macht: »Das Deutschlandproblem war sein (Heines) brennendstes Problem, was ihm über alles ging. [...] Damit hat der Dichter auch vollkommen Recht behalten, denn sie (seine Werke) sind für uns genauso von Bedeutung wie für die damalige Zeit. Heute, genau wie damals, ist Deutschland gespalten. Uns, der Jugend, wie auch damals, erwächst die Pflicht, an der Wiederherstellung eines gemeinsamen Vaterlands mitzuhelfen.« (A15, S.5f)
Indem die nationale Einheit vor der sozialen Befreiung des »Volkes« angesiedelt wird, widerspricht das Ziel dieser vita activa den nationalen Anrufung aus der Schule und glättet gleichzeitig wieder eine au-
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ßerschulische diskursive Erfahrung: Nämlich die Betonung eines einheitlichen Deutschlands als Sinn und Zweck nationaler Identität. Die Schülerin hat sich durch die sinnstrukturierenden biografisierten Fragestellungen entlang der Kollektivbiografie Heines eine eigene nationale Positionierung er-schrieben. Die unterschiedlichen Aussagen in Elternhaus und Schule darüber, ob Heine ein guter Deutscher sei, hatten diese Identifizierung mit einer gedachten mystischen Gemeinschaft brüchig gemacht. Die Sinnstruktur dieser Fragestellung in beiden Institutionen hat sie jedoch wieder geglättet. Die Schülerin hat sich in dieser »Entscheidung« zwischen den Diskursen eine eigene Identifikation erarbeitet, welche die kulturelle Praxis des Kampfes ebenso beinhaltet wie das Begehren nach einer staatlichen Vereinigung der beiden Nachkriegsstaaten. Insofern zeigen die konkreten inhaltlichen schulischen Anforderungen an die Schülerin – ihr nationales Interesse auf die DDR alleine zu konzentrieren – keinen Erfolg. Dennoch ist die nationale Identifikation insoweit gelungen, als dass sie sich auch gegen die Ablehnung Heines als Traditionsfigur aus dem Elternhaus wendet89 und über die Akzeptanz einer vita activa für das »bessere Deutschland« eine sittliche Struktur des eigenen Lebens anerkennt, wonach eine eigene nationale Identität im (dualistischen) Kampf für ein vereintes Deutschland aufgehe. A35 – Nationaler Eigensinn Ich möchte nun ein Beispiel nationaler Identitätsschreibung anbringen, in dem es nicht gelingt, die sozialistischen nationalen Identitätskategorien zur individuellen Selbstverortung zu nutzen. Dennoch wird das Prinzip des Nationalen zum Maßstab für die eigene Parteilichkeit und für die Bewertung gesellschaftspolitischer und sittlicher Praktiken. Im folgenden Aufsatz offenbaren sich die nationalen Anrufungen des Nachkriegsstaates als Reibungsfläche für die junge Schülerin, die sich aus der nationalen Gemeinschaft ausgeschlossen sieht und entlang der Kollektivbiografie Heines sich und den Lesern ihres Aufsatzes zu beweisen sucht, dass es eine Identifizierung und Verortung der eigenen Person jenseits der spezifischen nationalen Anrufungen, Symbole und Traditionen der DDR gäbe. Dabei wird Heines Werk und seine Biografie quasi zum Stichwortgeber, aus der die Schülerin die Konstruk-
89 Es ist wahrscheinlich, dass diese Ablehnung aus der faschistischen Rezeption Heines als »Jude« herrührt.
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tionen und Felder des Sagbaren schöpft, mit welcher sie sich als nationales Subjekt offenbaren kann und mit dem sie die gebrochenen nationalen Identifizierungssymbole und -felder glätten, berichtigen und wiederherstellen kann. Der Aufsatz wird ohne Umschweife eingeleitet mit einer vehementen Behauptung: »Heinrich Heine ist einer der größten und bedeutendsten Dichter der deutschen Nation.« (A35, S.2) Dieser Feststellung folgt, dass die nationale Bedeutung und damit auch der Patriotismus Heines nicht ausreichend gewürdigt würden. »Bürgerliche Literaturkritiker sagen ihm nach, daß er vor aller Welt Deutschland in den Schmutz gezogen habe.« (A35, S.2) Diese Aussage wird ergänzt durch eine klare Zurückweisung dieses Nicht-Verstehens: »Diese Menschen verstanden weder die damalige Zeit noch den Sinn von Heines Werken, oder sie wollten (ihn) nicht verstehen. Heinrich Heine zog Deutschland nicht in den Schmutz.« (A35, S.2) Stattdessen wird deutlich für Heine Partei ergriffen: »Er kritisierte in satirischer Weise, und das tat er mit Recht.« (A35, S.2) Dass hinter dieser vehementen Parteinahme nicht nur eine auswendig gelernte Phrase steckt, sondern eine persönliche Identifikation, wird an der Ergänzung deutlich – »das tat er mit Recht«. Nun wäre dies noch vollkommen im Sinne der nationalen Tradition aus dem Schulunterricht, wenn Heines patriotische Praxis nicht eine unkonkrete Liebe zum Vaterland entgegengesetzt würde, die ihren Höhepunkt in einer Jesusallegorie findet – also im christlich-abendländischen Liebesdiskurs schlechthin: »Aber das deutsche Volk vergalt ihm Gutes mit Bösem. Es schrie: ›Ans Kreuz mit ihm, er treibt schändlichen Verrat! Pfui!‹ Man verkannte seine Absichten, verstieß ihn aus seinem Vaterlande und ließ ihn elend in der Fremde umkommen. Aber Heinrich Heine liebte seine Heimat und sein Volk.« (A35, S.3)
Die Hervorhebung von Leiden, ergänzt noch durch einen Jesusvergleich, der keinesfalls im Unterricht besprochen worden sein kann, lässt vermuten, dass das Leiden und Nicht-verstanden-werden eine besondere Bedeutung für die Schülerin hat. Die Schülerin »nimmt« sich Jesus und Heine als Beleg für eine verkannte aber wahrhaftige Liebe zum Vaterland, was durch die heftige Behauptung: »Aber Heine liebte seine Heimat und sein Volk« (A35, S.3) bestätigt wird. Eine Bestätigung, die nahezu trotzig dem Nachdruck verleihen will, dass patrioti-
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sche Praxis nicht immer das sei, was die Mehrheit einer Gemeinschaft als solche formuliere und was als hegemonialer Diskurs formuliert wird. Eine Bestätigung, die zudem im weiteren Werk bei Heine ihre Zitierflächen findet: »›Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht. Ich kann die Augen nicht mehr schließen, und meine heißen Tränen fließen‹« (A35, S.4) Sowohl die sinnverändernde Überhöhung jenes Verses des Gedichts, als auch die eigensinnige Wortstellung verweisen auf die Bedeutung, welche die Verse für die Schülerin haben – Heine scheint hier die Worte zu finden, die der Schülerin »aus der Seele sprechen« – nämlich eine tiefe, schmerzvolle und nicht erwiderte Liebe zur Nation zu empfinden. Diese Liebe zu Deutschland wird noch einmal hervorgehoben, indem als schlimmste Strafe für Heines politisches Werk der Verstoß aus der nationalen Gemeinschaft beschrieben wird: »Und die deutsche Reaktion fand etwas, womit sie Heine zutiefst treffen und verletzen konnte: Seine Exmittierung (sic) aus Deutschland. Aber damit noch nicht genug. Man begann ihn totzuschweigen und seine Bücher zu vernichten. Heinrich Heine wurde aus der deutschen Literaturgeschichte gestrichen.« (A35, S.8)
Auch wenn der Aufsatz die Antwort schuldig bleibt, warum die Schülerin sich aus der deutschen Nationalgemeinschaft ausgeschlossen fühlt, ob ein bestimmtes politisches Verständnis, oder eine soziale Herkunft der Grund dafür ist – die ständige Beschreibung Heines als verstoßener Sohn ist beredt genug und zeigt, dass hier eine Kollektivbiografie vorliegt, entlang der eine Schülerin ihren eigenen Verlust, ihre Außenseiterrolle von der nationalen Gemeinschaft beschrieben findet. Dabei findet sie in der politischen Arbeit und in der biografisch vermittelten teleologischen Entwicklung Heines ein Vorbild, um die eigene Identität, die ja in der Gegenwart durch divergierende nationale Attribute brüchig geworden sein muss, wieder zu glätten. Wenn Heine verkannt worden ist, dann bin ich das wohl auch und ich muss nur an meiner Identität und meinen Diskursen der Wahrheit festhalten, dann wird die Zeit schon die Wahrheit zu Tage bringen, so der Bezug dieser Schülerin. »Heine richtete ständig Aufrufe an das deutsche Volk. Er fürchtete, daß das deutsche Volk seinen großen Augenblick, seine Chance verpassen könne. Um
148 | D IE ERLESENE N ATION diese Furcht zu verscheuchen, schrieb er in der Hoffnung, einmal müsse er doch gehört und richtig verstanden werden. [...] Man nannte ihn einen Franzosenfreund, einen Verräter des deutschen Vaterlandes und ähnlich. Aber ungeachtet dessen schrieb und kritisierte er weiter.« (A35, S.6)
Die sich wiederholende Erzählung von Heine als Rufer in der Wüste »einmal müsse er doch gehört und richtig verstanden werden« klingt hier fast nach einem Stoßseufzer, den die Schülerin ausstößt. Wiederholt wird das Durchhaltevermögen Heines betont, obwohl seine Rufe aus der Wüste nicht zum hegemonialen Diskurs wurden, weiter gerufen zu haben. Ergänzt wird diese Identifizierung mit Heines Durchhaltevermögen durch eine eigensinnige Modifikation des Soldatendiskurses: »War Heine wirklich ein ›verlorener Posten‹? Ja. Nur wenige wagten in gleichem Sinne wie er zu kämpfen. Keiner in gleicher Art und Weise, er stand alleine im Kampf, und ein Soldat ohne Hinterland ist gegen eine Übermacht verloren.« (A35, S.5)
Entgegen der Vermittlung des Diskurses im Unterricht, wonach Heine ja ein soldatischer Posten für das Volk gewesen sei, wird hier Heine zum Einzelkämpfer. Die im Unterricht vermittelte Kollektivität Heines mit anderen Vormärzliteraten, aber auch mit Marx und Engels wird nur als Lippenbekenntnis vollzogen. Stattdessen bemüht die Schülerin die Erzählung von der Dolchstoßlegende, bei der dem einzelnen, tapferen Soldaten durch die untätigen Daheimgebliebenen der Dolch in den Rücken gestoßen wurde – eine Metapher, die nicht nur vage die politische Positionierung der Schülerin erahnen lässt, sondern auch ihr Gefühl des Verlassen-worden-seins durch die Gemeinschaft zum Ausdruck bringt. Dass die Schülerin hier Heines Biografie und Werk als permanente Zitierfläche für eigene Erfahrungen und Bewertungen nutzt, wird erneut im vorletzten Satz und damit in der Zusammenfassung der Gedanken der Schülerin offenbar: »Abschließend kann ich sagen, daß nur auf wenige Dichter die Worte Thomas Manns von der Verantwortlichkeit der Sprache so zutreffen wie auf Heinrich Heine. Er hatte die Sprache, er war sich seiner Verantwortung bewußt, und er wurde ihr gerecht.« (A35, S.9f.)
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Heine »stellt« also die Worte zur Verfügung, die die Schülerin nicht hat – spricht ihr also »aus der Seele«. Zum Schluss macht der Aufsatz noch einen Bogen, in dem die Schülerin gerade durch die Identifizierung mit Heine als jemanden, der dem Mainstream widerstanden und sich dadurch als »wahrer Deutscher« erwiesen habe, als Antifaschistin performiert. »Wir berichtigen als in der heutigen Zeit, indem wir Heinrich Heine gebührend würdigen, die Fehler der vorigen Generation.« (A35, S.10) Generation bleibt hier im Singular und ermöglicht somit den Rückschluss, dass damit der Bezug auf die (faschistische) Elterngeneration gedacht wurde. Heine als Patriot anzuerkennen und in seinen Widersachern auch diejenigen zu sehen, die der Schülerin eine Integration in die nationale Gemeinschaft verwehren, ermöglicht einen Freispruch von der faschistischen Vergangenheit – und damit auch das deutliche Bekenntnis, nicht selbst Gegner der antifaschistischen Volksgemeinschaft zu sein. Die Schülerin glättet also in Anlehnung an Heinrich Heine ihre eigene nationale Verortung. Entlang der Kollektivbiografie Heines erklärt die Schülerin, dass es nicht der hegemoniale Diskurs ist, der richtig im nationalen Sinne sei. Stattdessen habe doch gerade die Biografie und die posthume Würdigung Heines bewiesen, dass der hegemoniale Diskurs geschichtsteleologisch betrachtet nicht zwangsläufig der Wahre sei. A9 – Heinrich Heine: Bürgerliche Referenzstruktur in einer antibürgerlichen Nation Eine weitere Glättung nationaler Verortungen und Identifizierungen, in welcher soziale Differenzen in einer nationalen Gemeinschaft egalisiert werden, findet sich angesichts der Konfrontation der sogenannten bürgerlichen Schichten mit der Betonung einer proletarischen Hegemonie im Nachkriegsstaat. Im folgenden Aufsatz schreibt sich die Schülerin entlang der Biografie Heines eine soziologische Zugehörigkeit á la Brigitte Reimann. Ihre intensive Betonung des Bürgerlichen, ihr Herausschreiben der bürgerlichen Zugehörigkeit und bürgerlichen Politisierung Heines mündet in einem Versuch, sich glaubhaft von der eigenen sozialen Herkunft zu distanzieren und trotz dieser sozialen Herkunft eine soziale und ideelle Heimat in der DDR zu finden. Der flüssig und eloquent geschriebene Aufsatz ist strukturiert durch eine biografische Darstellung Heines, die den geläufigen Erzählungen (Exil, Freundschaft zu Marx, proproletarische Entwicklung
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etc.) widerspricht – nicht nur weil sie nahezu ganz ausgelassen werden. Schon die Einleitung fasst Heines politische Arbeit zusammen als Kampf für eine allgemeingültige Emanzipation, die nicht expliziert wird, und daher eher an eine bürgerlich-humanistische Interpretation rührt als an eine marxistisch-proletarische, was die Lehrerin als sachlichen Fehler markiert (Heines Einsatz für »die Emanzipation«) und daher der geläufigen Interpretation im Unterricht widerspricht: »Die Gedanken der Französischen Revolution, die durch Napoleon nach Deutschland getragen wurden, ließen Heine in einer von den Fesseln des Feudalismus befreiten Zeit aufwachsen, in der ihm auch seine jüdische Abstammung nicht zum Vorwurf gemacht wurde. Als Heine sich aber, um eine Beruf zu ergreifen, etwas weiter von der französischen Grenze entfernte, spürte er die Last des feudal-absolutistischen Systems, die auf den Juden besonders stark lag, und setzte sich für die Emanzipation ein.« (A9, S.1f.)
An diese bürgerlich-humanistische Interpretation von Heines Politikverständnis schließt sich eine ausführliche Beschreibung von Heines Biografie und Politik als Entwicklungsprozess in bürgerlichen Schichten und Ideologien an: »Später geht er dann nach Berlin, wo er das Leben in den Salons kennenlernt. Hier entwickelt er sich zu einem Dichter der politischen Satire [...].« (A9, S.2) Es sind also nicht Marx und Engels als Führer der der Arbeiterbewegung, die Heine politisierten – auch nicht das revoltierende Proletariat 1848 selbst – sondern die intellektuellen Kreise der Großstadt. Eine Entwicklung, an der sich die Leserin entlang hangelt und deren Hervorhebung daher auf die soziale Herkunft der Schülerin schließen lässt, ebenso wie in dem folgenden Zitat: »Von den Freiheitsideen der Juni- und Märzrevolution ergriffen, ruft er das deutsche Bürgertum auf, dem französischen zu folgen.« (A9, S.2) Wieder ist es nicht das »Volk«, nicht das Proletariat, das von Heine angerufen wird, sondern das Bürgertum. Dieser Hervorhebung einer Parallele zwischen Heines Biografie und der eigenen, durch die vehemente und vom Unterrichtsgedanken abweichende Erwähnung derselben, folgt nun im Aufsatz der Versuch einer Distanzierung, oder besser: Eines Wissens um die Richtigkeit einer solchen Distanzierung. Dafür wird der Schülerin Heines Politikverständnis selbst zur Referenz und zum Stichwort. Ein Politikverständnis, welches sie eingangs noch mit einer Begriffsdefinition belegt
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hat, die vom proletarischen Emanzipationsbegriff abwich und auf eine ehrlich gemeinte Aussage verweist. »Er (Heine) war für eine bürgerliche Revolution, war davon aber auch überzeugt, daß der Kommunismus sich entwickeln würde, hatte aber in Beziehung auf Kunst, Kultur und Literatur im Kommunismus noch bürgerliche Ansichten.« (A9, S.3)
Die Schülerin stockt hier in ihrer ansonsten flüssigen Schriftsprache, sie überlegt, während sie schreibt, was sie sagt, wie sie es sagt. Sie ist sich dessen bewusst, dass ihre soziale Verortung – die sie auch bei Heine sieht – als bürgerlich und damit als falsch definiert wird. Dies erkannt zu haben bezeugt sie, allerdings nicht ohne mit der Aufzählung Kunst, Kultur und Literatur wichtige Bereiche einer gesellschaftlichen Konstitution für sich zu benennen und nicht ohne die bürgerliche Schichtzugehörigkeit bei Heine ständig zu betonen – was auf eine große Bedeutung für sie selbst verweist. Gesteigert wird dies noch, indem sogar an sachlich unpassender Stelle dann das Wort »Bürgerliche« plötzlich als Schimpfwort gebraucht wird, was selbst der Lehrerin eine Anmerkung wert ist. »[...] sein deutsches Vaterland aber liebte er über alles und es ist lächerlich, wie es Bürgerliche behaupten, daß Heine ein Deutschenhasser gewesen sei.« (A9, S.3) Hier wird die Differenzierung von der eigenen sozialen Schicht mithilfe der Biografie und des Politikverständnisses Heines unübersehbar. »Immer wieder versuchte er von Frankreich aus das deutsche Bürgertum und das deutsche Volk zur Revolution aufzurufen [...]« (A9, S.3) Heines politischer Adressat sei demnach das Bürgertum gewesen, welches sich aber nicht seiner Rolle gemäß verhalten habe: »Tag und Nacht dachte er an Deutschland, er konnte nicht wie die Menge der deutschen Spießer mit geschlossenen Augen durch (die) Welt gehen, und das Verhalten des deutschen Bürgertums rüttelte ihn immer wieder zum Kampfe auf.« (A9, S.4.)
Und weiter: »Wie sah das deutsche Bürgertum aus! Es war bestrebt, Adelstitel zu erlangen und darauf bedacht, um es mit Heines Worten zu sagen, das Volk mit leeren Versprechungen über ein besseres Jenseits in den Schlaf zu lullen.« (A9, S.4)
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Die nähere Erläuterung, wie denn »das Bürgertum« ausgesehen habe, wird nicht durch eine Frage eingeleitet, auch wenn am Satzanfang ein Fragewort steht, sondern durch ein Ausrufezeichen. Die Schülerin will hier also nicht fragen, sondern antworten, nicht erörtern, sondern zeigen was sie weiß. Und dieses Wissen besteht im zweiten Teil des Aufsatzes vor allem darin, zu wissen, dass das Bürgertum als politische Klasse bekämpft werden musste und muss. Über den Hader mit der eigenen sozialen Herkunft entsteht eine Integration in die nationale Gemeinschaft – unter Anerkennung des Vorrangs des Wohles der nationalen Gemeinschaft vor differenten sozialen Interessen. Als Referenz für diese »Einsicht« dient auch hier wieder Heines politisches Werk und Biografie: »So schuf er (Heine) Gedichte, in denen höchste Trauer über die Zustände in Deutschland zum Ausdruck kommt, vor allem aber Gedichte die dem reaktionären deutschen Bürgertum, das ihn immer wieder verzweifeln ließ, den Kampf ansagen, mit denen er aber auch die übrige Bevölkerung zum Kampfe ermunterte.« (A9, S.5)
Die Struktur des Aufsatzes, die Erläuterung dessen, wie Heines Biografie als eine Entwicklung aus der bürgerlichen sozialen Schicht hin zu einem gesamtdeutschen (im Sinne der Nivellierung sozialer Unterschiede) Politiker geworden sei, erschreibt sich die Schülerin eine Integration in eine nationale Gemeinschaft, welche hier insbesondere eine bürgerliche soziale Herkunft politisch marginalsieren möchte. Im Ganzen lässt die Schülerin ein Wissen um genaue ideologische Termini erkennen und bestätigt damit ihren Willen zur Zugehörigkeit noch einmal, wie das nachfolgende Zitat beispielhaft zeigt: »Nach der Zeit des Faschismus, in der er (Heine) totgeschwiegen wurde, ist er bei uns in der DDR neu emporgestiegen. Seine Gedichte sind im Vorstadium des Kommunismus, dem Sozialismus, nicht wie er glaubte untergegangen, sondern sie werden an allen Schulen gelehrt [...].« (A9, S.6)
Möglich ist hier auch, dass das Wort »emporgestiegen« auf ein vortextuelles Wissen (»Auferstanden aus Ruinen«) zurückgreift, das die Schülerin einsetzt um ihr Wissen und damit ihren Willen zur Integration durch Negation ihrer sozialen Herkunft unter Beweis zu stellen. Einen Integrationswillen, der seine abschließende und deutliche Positio-
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nierung zum Schluss des Aufsatzes erfährt. Die Schülerin verortet Heinrich Heine und sich selbst trotz des vorgestellten identischen humboldtschen Bildungsideals in der Nachkriegslandschaft auf die politische Seite der DDR: »Die hohen Preise sowie die geringe Auflage (der Heinewerke in der BRD – A.H.) kann man daher als eine bewußte Maßnahme bezeichnen, die dazu dient, die Jugend auf billige Schundlektüre hinzuweisen, um sie für [...] imperialistische Revanchekriege bereit zumachen.« (A9, S.7)
Das eigene Bildungsideal (keine Schundlektüre zu lesen) geht mitsamt einem antimilitaristischen Anspruch (keine Kriege mehr) in der Dichotomie DDR-BRD auf – und dabei vor allem in der Zugehörigkeitserklärung zur DDR. Es handelt sich hier also um einen Aufsatz der nationalen Zugehörigkeitsschreibung, in der die eigene Differenz zum Normalsubjekt anerkannt und ausgeführt wird. Die Schülerin erkennt an, dass es nach dem deutschen Faschismus die Vorherrschaft der Arbeiterklasse bräuchte, um das Wohl des deutschen Volkes zu erlangen. Sie möchte ihr anerzogenes Bildungsideal in die neue Gemeinschaft mit einbringen (keine Schundlektüre, humanistisches Emanzipationsziel etc.) und sich somit mitsamt ihrer Differenz zur Norm wieder normgerecht rezentrieren. Ähnlich, wie auch Uwe Johnson es noch 1972 beschreibt: »Denn die Einladung zum neueren Leben, die Gebärde der weit geöffneten Arme [...] hatte nicht allen Kindern gegolten. Mancher Einzelne, der sich in der neuen Gemeinschaft gerade als Individuum überantworten wollte, hatte nun zu erfahren, daß er gar nicht als Einzelner angesehen wurde, sondern als Angehöriger einer Gruppe. Diese Gruppe aber waren die Eltern, Leute der alten, der aufgegebenen Zeit. Und es war nicht die Zurücksetzung der mittelständischen und intellektuellen Minderheiten allein, der die abgestempelten Kinder entgehen wollten, oft war es auch die Prägung durch die Minderheit, der sie mißtrauten. [...] Sie sahen das höhere Stipendium für Kinder von Arbeitern und Bauern nicht nur als Selbstverständlichkeit sondern geradezu als Forderung, und ver-
154 | D IE ERLESENE N ATION suchten sie ihren Rückstand durch Fleiß aufzuholen, wurden sie in einer verordneten Diskussion mit dem ›bürgerlichen Leistungsethos‹ denunziert.«90
Für die Glättung dieser, aus sozialer Herkunft heraus brüchig gewordenen, nationalen Identität avanciert auch bei der Autorin des Aufsatzes die Biografie Heinrich Heines zur Referenz. Erst in seiner sozialen Zugehörigkeit zu einer bürgerlichen Schicht, dann über seine Politisierung aus dieser und mit den politischen und ethischen Idealen derselben und schließlich durch seine Erkenntnis sich und seiner Klasse selbst einen ethisch-politischen Kampf zu propagieren, an dessen Ziel ein goldenes Zeitalter der gesamten Menschheit/der Volksgemeinschaft steht. A1 – Rezentrierung der familienideologischen Werte Die Aufsätze sprechen nicht nur von einer Subjektivierung entlang einer nationalen Anrufung durch die Kollektivbiografie Heinrich Heines, die sich vielfältig zwischen Adaption und Ablehnung konstituiert. Manchmal zeugen sie auch nur davon, dass diese Anrufung mitsamt ihren antifaschistischen und sozialen Glücksversprechen nicht angenommen wurde. Ein besonders gutes Beispiel ist der Aufsatz A1. Er ist geprägt von einer phrasenhaften Bezeugung, die nationalstaatlichen und parteilichen Zuordnungen aus dem Unterricht verstanden zu haben, um dadurch die gute Note zu sichern und von einer negativen Bewertung der Biografie Heines. Die Bewertung der Biografie wiederum ist strukturiert von einem familienideologischen Dankbarkeitsund Autoritätsdiskurs, die Beweisführung der angeblichen Parteilichkeit offenbart eine reflexartige und redundante Verwendung klassenspezifischer Kampfbegriffe, die oft auch sachlich falsch angewendet werden. So schreibt die Autorin mehrmals, Heine habe das Großbürgertum und Junkertum bloßgestellt (A1, S.3) oder den »Verfall des Junkertums« im Gedicht »enfant perdu« (S.4) beschrieben. Dieser Klassenbegriff muss als Schlagwort aus dem Geschichts– und Staatsbürgerkundeunterricht der Bewertung der Nachkriegsgegenwart entlehnt worden sein (Kollektivierung, Enteignung etc.) und hat wohl unter
90 Johnson, Uwe: Versuch eine Mentalität zu klären. Über eine Art DDRBürger in der Bundesrepublik Deutschland. In: Ders.: Berliner Sachen. Aufsätze. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1975, S. 52 – 63. Hier S. 54f.
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dem konkreten bäuerlichen sozialen Hintergrund eine besondere Bedeutung. Abgerundet wird das phrasenhafte Lippenbekenntnis der Parteilichkeit für den Sozialismus durch die unbestimmte Schilderung des geschichtsteleologischen Werks Heines, wie »Die klare Stellungnahme zur Revolution (durch Heine – A.H.) wird klar ersichtlich.« (S.3) Oder »Für uns ist Heinrich Heine ein Revolutionär, der genau wußte, was er wollte.« (S.6) Wie vielfach an anderen Stellen des Aufsatzes bleiben solche Behauptungen ohne Erklärung oder Erläuterung. Diese Unterwerfung unter die vordergründigen schulischen Ziele nach einer guten Note und einem gesellschaftlich akzeptablen Lebenslauf entbehrt aber auch in diesem Aufsatz nicht einer eigenen Positionierung und nationalen Identifizierung. Im vorliegenden Fall erweist sich erneut, dass es insbesondere die Biografie Heines ist, die in ihrer Brüchigkeit, Vielfältigkeit und vor allem auch durch ihre didaktische Vorbildfunktion so wunderbar dazu geeignet ist, es der Leserin ermöglicht, sich an ihr durch Ablehnung oder Bewunderung zu subjektivieren. Die Auseinandersetzung dieser Schülerin mit dem ihr vorgesetzten normativen Beispiel ist geprägt von einem übergeordneten familienideologischen Diskurs – dem der Dankbarkeit und der Autoritätsanerkennung. Dieser Wertediskurs überlagert alle anderen Emotionen, welche die Kollektivbiografie Heine zur eigenen Norm werden lassen könnten. Es beginnt mit einem angedeuteten Unverständnis von Heines Verhalten gegenüber dessen Onkel Salomon Heine: »Sein Onkel ermöglichte ihm das Jurastudium, obwohl Heine abwegig darüber dachte und sich lieber mit literarischen Dingen befaßte.« (S.5) Nicht nur, dass Literatur nichts Vernünftiges sei, mit dem man sein Geld verdiene, die Wortwahl »ermöglichen« und »abwegig darüber denken« zeigt beredt, wem die Sympathie der Schülerin gilt: dem Onkel, der eine gute Ausbildung ermöglicht und nicht Heine, der das nicht zu schätzen wusste und nicht angemessen nach des Onkels (dem hier eine Vaterfunktion unterstellt wird) guten Willen gehandelt habe. Die Bewertungsstruktur »väterliche Autorität« setzt sich auch dann fort, wenn Heines politische Arbeit bewertet wird und für die preußische Regierung und deren Erlasse gegen Heine als Dichter Stellung genommen wird:
156 | D IE ERLESENE N ATION »Die fieberhafte Tätigkeit zum Gelingen (der 1848er Revolution – A.H.) und sein beißender Spott in den Werken machten ihn beim preußischen Staat verhaßt. Die Folge davon war die Ausweisung aus Deutschland, die er Preußen nie verziehen hat.« (S.5)
Entgegen der erlernten Bewertung von Heines Parisaufenthalt als Flucht vor der europäischen Restauration erscheint hier nicht Heines Praxis als vernünftig, sondern die der preußischen Regierung. Nicht nur, dass es nicht die Verfolgung von Schriftstellern des Jungen Deutschlands nach den Karlsbader Beschlüssen gewesen sei, welche den Umzug Heines bedingte, sondern hier wird Heines politischer Journalismus zum (verständlichen) Grund für die preußische Regierung ihn »auszuweisen«. Verstärkt wird die Parteinahme für den »Vater Staat« dadurch das Heine kindisches Verhalten unterstellt wird, da er nicht verzeihen konnte. Dass diesem biografisch-politischen Aspekt mit Ablehnung und Unverständnis begegnet wird, zeigt sich auch in folgendem Zitat: »Der Franzosenfreund, von den Deutschen so genannt, [...].« (S.6) Die Autorin unternimmt hier keine klare Distanzierung vom Pejorativ »Franzosenfreund«. Stattdessen ermöglicht die Verallgemeinerung »die Deutschen« eine Interpretation, wonach die Autorin sich denen, die in Heine einen »Vaterlandsverräter« sehen, zugehörig fühlt. »Äußerlich glich er wohl den Franzosen, nahm auch deren Sitten und Gebräuche an [...].« (S.6) Diese, für die inhaltliche Argumentation des Aufsatzes eigentlich zusammenhanglose Aussage, erhält ihren Sinn erst dadurch, dass die Autorin nicht gewillt ist, der Vorgabe aus dem Unterricht zu folgen, wonach Heine patriotisch richtig gehandelt habe und der gewählte Wohnort beim »Erzfeind Frankreich« kein Vaterlandsverrat gewesen sei. Die Nichtakzeptanz der Kollektivbiografie Heines gipfelt im Abschlusssatz der Darstellung der Biografie im Aufsatz: »1856 starb er, unzufrieden mit der Welt und sich selbst.« (S.6) Eine spezifische nationale Subjektivierung zeigt sich hier in der Ablehnung der Heinebiografie aus dem Willen zur Autorität und aus Dankbarkeitsgefühlen für die Elterngeneration und damit verbunden auch gegenüber dem Staat als väterliche Instanz. Dabei ist die Aversion gegen die – solcherart bewertete – Undankbarkeit und Respektlosigkeit Heines gegen Onkel und Staat ein Gefühl, welches das eigene
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Wertesystem nachhaltig bestätigt und die eigene Verortung und biografische Sinnstruktur festigt. A34 – Familialisierung der Arbeiterklasse Es gibt eine Struktur der nationalen Emotionalisierung, die zwar nur in einigen wenigen Aufsätzen offensichtlich offenbart wird, die aber als Hintergrundfläche die persönliche Identifizierung mit den konkreten nationalen Anrufungen deutlicher zeigt, als das konkrete Bekenntnis zur Heimat DDR. Eine solche Hintergrundfläche ist besonders wirkmächtig, da sie sogar jene Identifizierungen im nationalen Diskurs strukturiert, die sich vordergründig von dem Staatsgebilde DDR distanzieren. Ich spreche von der Referenz der Arbeiterklasse als der erweiterten Familie, also der vorgestellten Gemeinschaft, der sich die Schülerin zugehörig fühlt und an deren Wohl sie sowohl Regierung, Geschichte und/oder Wahrheitsaussagen misst. Für eine derartige Identifizierung bietet sich die Kollektivbiografie Heines und sein Werk hervorragend an, was am folgenden Aufsatz ersichtlich wird: In Aufsatz A34 stellt die Schülerin Heines Schaffen und Wirken zuvorderst in den Dienst des Kampfes der Arbeiterklasse. »[...] diesem Kampf (der unterdrückten Klasse gegen die Unterdrücker – A.H.) alle seine Kräfte zu widmen, sah Heinrich Heine als seine größte Aufgabe an. ›Friede den Hütten, Krieg den Palästen‹ hieß der Kampfspruch Büchners, den man mit dem Programm Heines gleichsetzen könnte.« (A34, S.1)
Dieser Ausspruch, der symbolisch die Unterteilung der Menschen entlang von Arbeit und Nichtarbeit beschreibt91, bildet sozusagen die Überschrift des Aufsatzes, sein Motto. Damit ist die Konfrontation der Arbeiterklasse gegen die Klasse der Kapitalisten die Referenzfläche, auf welcher sich die Identifikation der Schülerin mit der Biografie Heines und seinen Texten abspielt. Dass diese Identifikation auf eine kriegerische Selbstverortung in der »Familie« der Arbeiterklasse und gegen die Klasse der nichtarbeitenden Kapitalisten abzielt, offenbart sich zuerst in der Manifestierung eines bestimmten Feindbildes:
91 Henning, Astrid: Friede den Hütten! (2007).
158 | D IE ERLESENE N ATION »Alle seine (Heines) Kräfte (galten) dem Sturz der alten Gesellschaftsordnung, in der der Mensch nicht mehr Mensch sein soll, nach dem Willen der herrschenden Schichten, die eine bedingungslose Unterwerfung unter ihre willkürlichen Maßnahmen verlangen.« (A34, S.1)
Die Einschätzung, wonach es »dem Feind« darum gegangen sei, »dem Menschen« das Mensch sein abzusprechen kann im Unterricht nicht so vermittelt worden sein, da die Erklärung sonst auch in anderen Aufsätzen aufgetaucht wäre. Die Schülerin lässt jedoch die Bedrohung einer vorgestellten eigenen Gemeinschaft (denn zu den Menschenvernichtern wird sie sich nicht zurechnen) ins Unermessliche gipfeln: In der gewollten Auslöschung »der Mensch, soll nicht mehr Mensch sein«. Beachtenswert ist außerdem das Präsens am Ende des Zitats. Kampf und vernichtende Bedrohung sind damit nichts Vergangenes, sondern eine Angelegenheit, die sich aus mystischer Vergangenheit in die Gegenwart zieht und die Wir–Sie–Verortung der Schülerin prägt. Die teleologische Notwendigkeit der kriegerischen Positionierung wird in einer mystifizierten Wahrheitskonstruktion verankert, der sich die Schülerin »natürlich« stellen und in ihr positionieren muss. Welcher Art die Positionierung ist, dafür steht Heine Pate, da sein Kampf stets gegen »eine Gesellschaft gerichtet war, die zum Untergang verurteilt war, weil sie einen Gegensatz in sich barg, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, den Gegensatz der gesellschaftlichen Produktion zur privaten Aneignung.« (A34, S.3)
Es ist eine Personifizierung entlang von Arbeit, die durch die Erklärung der Phrase »Ausbeutung des Menschen durch den Menschen« mit eigenen Worten offensichtlich wird. Indem sie den geläufigen Gegensatz von Arbeit versus Kapital mit eigenen Worten erklärt (gesellschaftlich versus privat), offenbart sie eine Identifikation innerhalb dieser dichotomen Verortungen, die über das phrasenhafte Beteuern einer Parteilichkeit im Sinne einer guten Note hinausgeht. Die Parteilichkeit wird sogar noch deutlicher dadurch, dass die Schülerin hier Terminologien aus dem Kapital verwendet und diese mit eigenen Worten als Begründung für eine Behauptung anführt. Diese kriegerische Parteilichkeit für die Arbeiterklasse wird dabei zur grundlegenden Voraussetzung für Heimatliebe und für echten Pat-
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riotismus. So habe sich auch Heine als »wahrer Patriot« der Parteilichkeit für die Arbeiter niemals entziehen können. (A34, S.5) Ganz im Sinne des eingangs erwähnten Mottos des Aufsatzes, werden die der Nation Zugehörigen am Diktum der Arbeit gemessen. Angehörige der Nation sind die Bewohner der Hütten (die Arbeiter). Der Weg ist hier nicht mehr weit, um die Palastbewohner (die faulen Kapitalisten) als Nichtangehörigen des Volkes zu definieren und in ihnen eine Bedrohung für die eigene Gemeinschaft auszumachen. Dass diese Identifikation mit der Kollektivbiografie Heinrich Heines nicht abstrakt ist, dass sie nicht allein dem Wunsch nach einer guten Note entspringt, beweist eine ästhetisierte Erfahrung, die scheinbar aus der Struktur des Aufsatzes herausfällt. Denn obwohl der Aufsatz selbst eigentlich geprägt ist von einer Auseinandersetzung mit Heines Rolle und seinem Kampf für die Gemeinschaft der Arbeitenden und in der Bekämpfung der Feinde der Arbeitenden, erscheint am argumentativen Ende eine Sequenz, die eine deutliche Identifizierung der Schülerin im vorgegebenen Literatur- und damit Traditionskanon verrät. Schließlich hält ja der pädagogisch vorgegebene Traditionsrahmen Entscheidungsmöglichkeiten für die Schülerinnen bereit. Auch wenn im didaktischen Plan eine einheitliche Linie von den Dichtern der Klassik, über die Vormärzliteraten bis zur sowjetischen und schließlich antifaschistischen Literatur vorgesehen war, der eine Einheitlichkeit, eine fortführende Traditionslinie der sozialistischen Literatur und damit auch eine mystische Linie dieser Tradition suggerieren sollte, erkennt die Schülerin hier doch die Unterschiede, die Brüche innerhalb dieser Traditionslinie. Und so stellt sie, anders als die anderen Schülerinnen, Heine nicht in eine (auswendig gelernte, weil immer wiederkehrende) Tradition mit Goethe, Lessing und Keller, sondern vergleicht Heine mit Goethe. Auch wenn sie behauptet, nicht bewerten zu wollen, verbirgt sich hinter dem Verweis, dass Heine im Gegensatz zu Goethe den Klassenkampf dem Dichterruhm vorgezogen habe, doch eine Bewunderung. (A34, S.5f.) Zusätzlich attestiert die Schülerin Heine Attribute, die im Grunde dem »Dichterfürsten« Goethe zugestanden werden – nämlich universelles Wissen und ein großes Künstlertum. Diese Übertragung ist ein deutliches »Ausspielen« der beiden Traditionsfiguren gegeneinander und eine bewertende Identifizierung mit Heine zuungunsten Goethes. Damit wird der humanistischen-bürgerlichen Tradition eine Absage erteilt, die in den frühen Goetherezeption der DDR ja noch ei-
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ne bedeutende Rolle gespielt hat92 und stattdessen der vita activa im konkreten Klassenkampf zugesprochen, wie sie Heine attestiert wird. »Die Freiheit kann nur mit dem Schwert in der Hand errungen werden, das Ziel ist nicht das ›heilige Römische Reich deutscher Nation‹, sondern eine freie deutsche Republik, frei von Fürsten und Unterdrückung [...].« (A34, S.7)
Aus diesem Bruch in der Linie folgt jedoch keine Übertragung der Identifizierung mit der Arbeiterklasse auf eine mit dem »Staat der Arbeiter«. Die Schülerin bleibt im Abschlussabsatz – jener Absatz, in dem die Schülerin die Frage »was bedeutet das für uns, für meine Position im Staat DDR« erörtern soll – unverbindlich, was auch die Lehrerin kritisiert und ihr letztendlich Punktabzug bei der Bewertung einbringt. »Die Behandlung des Themas, die angeführten Zitate sind treffend. Allerdings ist der Schluß zu knapp gehalten.« (Anmerkung der Lehrerin für die Benotung – S.8) Heines Kampf habe sich, so die Schülerin, nicht in der DDR erfüllt, wie das andere Schülerinnen in ihrem Abschlussabsatz betonen, sondern müsse bis zu einem unbestimmten Ende fortgeführt werden »bis zu einem erfolgreichen Ende«. (A34, S.8) Die erfolgreiche Verortung der eigenen Person in einer Gemeinschaft der Arbeitenden wird vor allem deshalb national, weil sie den Angehörigen der arbeitenden Klasse eine Volkszugehörigkeit zu- deren Gegnern dieselbe abspricht. Aber trotzdem die Schülerin sich hier mit Heines Kampf für die Arbeiterklasse identifiziert und aus diesem eine gemeinsame Tradition und Zugehörigkeit ausmacht, ist sie nicht gewillt, diesem Kampf ein gelungenes Ende in der Staatsgründung der DDR zu attestieren, wie es die schulische Anrufung vorgesehen hatte. Der Kampf der Arbeiter ist zum gemeinsamen Kampf Heines und der Schülerin geworden, hat aber in der DDR noch kein siegreiches Ende gefunden, wie es andere Schülerinnen betonen: »(Heine) fällt als ein Unbesiegter, die Gewißheit, daß sein Kampf nicht umsonst sei, daß er fortgeführt werden würde bis zu einem erfolgreichen Ende [...].« (A34, S8.)
92 Victor, Walther: Goethe – Ein Lesebuch für unsere Zeit. Buchgemeinde, Wien 1967.
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3.5 ZUSAMMENFASSUNG Heinrich Heines Text wird im Zusammenhang mit der didaktischen Vermittlung seiner Kollektivbiografie zu einer Referenz nationaler Identität. Im permanenten Schreiben zwischen den im Unterricht besprochenen Diskursen des »richtigen« Wissens und denen des Elternhauses und/oder der eigenen (Nach)Kriegserfahrung findet ein ständiger und fließender Prozess der Öffnung und Schließung statt. Eine Öffnung vorhandener Wissensfelder, wie eine Identität entlang der nationalen Zugehörigkeit aussehen soll, und eine meist anschließende Rezentrierung des Subjekts innerhalb der symbolischen Ordnung, wobei das Nationale als Identitätskriterium nicht verlassen wird. Die symbolische Ordnung wird im Unterricht gefüllt mit konkreten Inhalten, die eine Nationalisierung bedingen: Märtyrerdiskurs, kriegerische (soldatische) Sittlichkeit des Binären mitsamt der kriegerischen Mittel und eine gedachte Gemeinschaft mit Angehörigen einer Generation oder der Arbeiterklasse. Obwohl sich die individuellen Erfahrungen in diesen Diskursen brechen, obwohl sogar im konkreten Fall der spezifischen, nationalen sozialistischen Identität eigensinnig entgegengetreten wird und der Anrufung in der staatlichen Institution Schule widersprochen wird, vollzieht sich dieser Widerspruch doch innerhalb und durch einen Rekurs auf andere Diskurse, die eine symbolische Ordnung des Nationalen wiederspiegeln. So ist zwar ein anderes Sprechen von nationaler Identität möglich, aber niemals ein Nichtsprechen. Dass diese Öffnung und Schließung nationaler Identifizierung derart gelingt, ist nicht nur der pädagogischen und didaktischen Bearbeitung des Themas im Unterricht zu verdanken, sondern hat seine Ursachen auch im Heinetext und der Heinebiografie selbst. Sein Deutschlandbild, seine Ausarbeitung der Nationalcharaktere und ihrer Funktion für ein goldenes Zeitalter der Menschheit, seine konkrete politische Konfrontation mit Funktionsträgern und Angehörigen einer Schicht, die auch den Schülerinnen als Feindbild angeboten werden und nicht zuletzt die ironische Brechung seiner Deutschlandliebe, welche Liebe und Hass auf konstruierte Volksgruppen überträgt – das alles sind ästhetische Referenzpunkte für die Schülerin. Referenzpunkte, an denen sie ihre eigene Verwirrung, ihr fehlendes Einverständnis mit der spezifischen nationalen Anrufung ebenso festmachen kann, wie sie Rezentrierungsangebote in ihnen findet.
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Bevor ich jedoch abschließend auf diese Konstruktion einer nationalen Identität mittels der ästhetischen Emotionen ausführlicher eingehe, möchte ich einen Einblick in die historisch-kulturelle Produktion von Nationalität als Identitätskriterium in der frühen DDR geben.
4. Nation und Nationalismus
Die Debatte um eine nationale Identität und ihre staatliche Verfassung lebt von Alltagsdiskursen, die eine natürliche Genese der Nation, bzw. der Heimatregion vermitteln.1 Durch diese Wechselwirkung entstehen wissenschaftliche und alltagstaugliche Wissensfelder, die sich um die Konstituierung eines Nationalstaates mitsamt seinen politischen und kulturellen Praktiken ranken und eine Identität der Bürgerin bezeichnen, die aus Fremd- und Eigenbestimmung entsteht.2 Als politische Ideologie ist sie, die nationale Identität, trotz Globalisierung, trotz Differenzierung der Lebensentwürfe und Lebensweisen so nachhaltig, weil die nationale, bzw. regionale Zugehörigkeit als »Schicksal« fungiert, dem die Einzelne nicht ausweichen könne und die eine moralische Verpflichtung der »Eingeborenen« verlangt, die weniger auf Vernunft, als auf bedingungslosen Gehorsam setzt. Gerade deshalb setzen Staaten und ihre Institutionen angesichts differenter Lebensweisen der Bürgerinnen, welche die Loyalität zum Staat immer wieder brüchig werden lassen, auf nationale Identität als einem wirkungsmächtigen Kriterium von Staatlichkeit. Die Zugehörigkeit zur (Staats)nation wird entweder entlang »objektiver« Kategorien (wie Sprache, eine gemeinsame Kultur und Geschichtsdefinition) oder subjektiver Kriterien (die als mentalitätskonzipierend, historisch bedingte Zugehörigkeiten beschrieben werden) festgemacht. Unabhängig von ihrer »Stimmigkeit« bleiben diese Krite-
1
Z.B. Die Deutschen. Ein Jahrtausend deutscher Geschichte. ZDF-Erstaus-
2
Winkler, Heinrich August (Hrsg.): Nationalismus. Athenäum Königstein/
strahlung ab 26.10.2008 wöchentlich. Taunus. 2. Erweiterte Auflage 1985. Und: Gellner, Ernst: Nationalismus. Kultur und Macht. Siedler, Berlin 1999.
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rien nur körperlos, solange das nationale Subjekt ihnen nicht zustimmt und für sich selbst daraus eine kollektive Identität ableitet. Aus diesem Grund möchte ich die spezifischen emotionalen und sozialen Bedingungen, welche eine Zustimmung zum Nationalen hervorbringen, zum Fokus der Untersuchungen um Nationalismus und Nationalität machen. Ich werde in diesem Kapitel kurz darstellen, wie abstrakte Konzepte nationaler Identität zu einer individuellen Identität werden können. Dem folgt eine Spezifizierung der nationalen Identität der DDRBürgerinnen der ersten Nachkriegsgeneration. Ich gehe davon aus, dass die Erfahrungen der Nachkriegsgeneration auf besondere Weise die Begehren nach Arbeit und Sozialpolitik mit den spezifischen antifaschistischen, antikapitalistischen und proproletarischen ideologischen Vorgaben der neuen Herrschenden in der DDR verbanden. Diese Begehren nach Arbeit und sozialer Sicherheit sind emotionale Strukturen, die für den modernen Staat an sich typisch sind. In der Verbindung mit den spezifischen ideologischen Nachkriegsangeboten seitens des Staates werden sie aber typisch für die Beziehung der DDR-Bürgerin zum Staat. Es wird, so meine These, eine Verbindung von Emotionalität, Erfahrung, kollektivem Vergessen und Erinnern in Bezug auf die vorgegebenen Wahrnehmungsraster sein, welche die Bürgerinnen der DDR die Befreiung von Armut, den Wohlstand, Frieden an die Kategorien der Arbeit und ihrer Heimat in der Gemeinschaft der (deutschen) Werktätigen suchen und finden lassen wird. Deshalb müssen sowohl die vorgegebenen Wissens- und Machtdispositive um Frieden, Arbeit, soziale Sicherheit und Glück untersucht werden, die der Staat seinen Bürgerinnen als Relationsgefühl auf sich selbst anbietet. Aber auch die konkreten historischen Bedingungen, welche ihrerseits den Erfahrungshorizont bestimmen, auf dem sowohl die Angebote seitens des Staates entstehen als auch die Angebote adaptiert oder abgelehnt werden, sollen hier Beachtung finden. Erst die Verknüpfung dieser vorgegebenen Wissens- und Machtfelder mit den konkreten Kriegs- und Nachkriegserfahrungen der jungen Staatsbürgerinnen wird den korrekten Rahmen für die Identifizierung der jungen Menschen mit diesen nationalstaatlichen Identifikationsangeboten setzen und erkennen lassen ob, wieweit und inwiefern die nationale Identität, von der die Schülerinnen in ihren Aufsätzen sprechen, auch Teil der Subjektivität, der Identität dieser Generation geworden ist. Eine Identität, die dann sogar an die folgenden Generationen tradiert wird
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und auf diese Weise eine nationale Identitätspraxis mit DDRspezifischen Zügen manifestiert. Da Wissen um sich selbst und die daraus hervorgehende Identifizierung das Produkt historischer Prozesse ist, muss auch das Wissen über die nationale Identität und über die Nation selbst in sozialen Praktiken, in Fluiden der Macht gesucht werden. Emotionalität und ihre ideologische Bearbeitung zu weltanschaulichen Urteilen ist ein solches Fluidum der (nationalen) Subjektkonstituierung. Der Emotionalität kommt dabei das »Verdienst« zu, den sozialen und politischen Erklärungsmustern über die eigene Wahrnehmung, Selbstverortung und Welt-Bewertung die Legitimität auszustellen bzw. abzuerkennen.3 Gefühle gegenüber dem Konstrukt Nation verweisen deshalb nicht nur auf die Wissensdispositive zur Herrschaftssicherung innerhalb der Nation. Ihre Beschaffenheit und ihre Relation zu Machtverhältnissen und Wissensfeldern selbst verweist auf die umfassende Konstruktion eines Subjektes mitsamt seinen Gefühlen und Kognitionen für die Etablierung und Konstituierung von Herrschaft. Vorab möchte ich eine Begriffsdefinition geben: Aus theoretischen Gründen setze ich in diesem Kapitel Patriotismus und Nationalismus gleich, da, wie sich erweisen wird, ich nicht von einem natürlichen Patriotismus und gutem Nationalismus in Abgrenzung zu einem übersteigerten Nationalismus ausgehe. Patriotismus beruht auf derselben selbstaufopfernden Liebe zu einem Vaterland, operiert mit derselben Vorstellung einer gemeinsamen Gesellschaft in der Abgrenzung zu einer anderen und beruht auf derselben Eigendefinition als Staatsbürgerin wie Nationalismus. Eine Einübung patriotischer Emotionen bildet die Grundlage dafür, überhaupt eine Verbindung zwischen sich als Person und der Nation zu sehen. Patriotismus fordert eine grundlegende Achtung vor den nationalen Symbolen, die Einwilligung in Anordnungen der nationalen Autoritäten und Übereinstimmung mit den patriotischen Gewohnheiten der überwältigenden Mehrheit.4 Eine Unterscheidung zwischen Patriotismus und Nationalismus erscheint mir da-
3
Alfes, Henrike: Literatur und Gefühl. Emotionale Aspekte literarischen Schreibens und Lesens. Westdeutscher Verlag, Opladen 1995.
4
Katz, Daniel: Nationalismus als sozialpsychologisches Problem. In: Winkler, Heinrich August (Hrsg.): Nationalismus. Athenäum Königstein/ Taunus. 2. Erweiterte Auflage 1985, S. 67 – 84. Hier S. 78.
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her lediglich eine politische, nicht jedoch eine, die auf eine gesonderte Form der emotionalen Zugehörigkeit zu einem Staat verweisen würde.
4.1 W AS IST
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Die theoretische Frage dessen, was eine Nation und ein Nationalgefühl sei, ist im Grunde immer eine Frage nach der kulturellen Praxis ihrer Mitglieder. Nationalismus und nationale Zugehörigkeit werden dabei seit der Französischen Revolution5 zur Referenz entlang derer sich Gruppen und Klassen nach ihren Bedürfnissen und sozialen Ordnungsmustern ein Staatswesen aufbauen. Als im Grunde sehr »elastischer« Signifikant ist die Nation ein Begriff, der mit strengen In- und Exklusionsmerkmalen gefüllt werden kann und sich dadurch hervorragend dazu eignet, das Werteordnungsprinzip der herrschenden Klasse/Gruppe zum Prinzip der Selbstordnung von Staatsapparaten und Bevölkerung zu machen – und zwar bis in die kapillaren Gefilde des Staatswesens hinein. Als transzendentale Sinnstiftungs- und Rechtfertigungsinstanz erhält sie quasi die Rolle eines universalistischen Religionsersatzes.6 In dieser Funktion wird die Nation zu einer sittlichen Beziehung, bei der in den nationalen Institutionen nicht nur festgelegt wird wie das Verhältnis zu »ihren« Staatsbürgern zu regeln ist, sondern auch das Individuum permanent seine Beziehung zur Nation und der Institutionen befragen und beweisen muss. Kurzum: die Nation wird zum ethischen Prinzip der Selbstsorge.7 Es ist ein Prinzip, dessen Inhalte keineswegs statisch sind, sondern immer erneuter Aushandlung bedürfen – einer Aushandlung mit sich, der Nation und vor allem aber auch gegenüber dem konstruierten Anderen, welcher nicht zur Nation gezählt wird.
5
Etwa: Winkler, Heinrich August (Hrsg.): Nationalismus. 2. erweiterte Auflage, Athenäum Verlag Königstein/Taunus 1985. Oder: Kohn, Hans: Die Idee des Nationalismus (The Idea of Nationalism) New York 1944, Frankfurt 1962.
6
Winkler, Der Nationalismus und seine Funktionen. In: Ders. (Hrsg.): Na-
7
Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjektes, Suhrkamp, Frankfurt/Main
tionalismus (1985), S. 5 – 46. Hier, S. 6. 2004.
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Diese Aushandlung von nationaler Zugehörigkeit ist immer verbunden mit sozialen Rechten8. Sie geschieht zwar immer wieder neu und hat doch Kontinuitäten, die sich aus emotionalen Bezügen zu gesellschaftlichen/nationalen Teilbereichen (Familie, Schicht, Beruf etc.) ergeben. In wechselnden und manchmal differierenden Sinngebungen aus Schule, Elternhaus, Betrieb oder Verein entstehen Erfahrungen, die sich brechen und innerhalb einer systemischen Ordnung des Nationalen wieder geschlossen werden. Das aus diesen Öffnungen und Schließungen von Wissensfeldern nationaler Identitäten entstehende Subjekt erwächst demnach aus der Verbindung von emotionalen Sinnstrukturen und kognitiven Sinngebungen. Einer Verbindung, die sich in den Schnittstellen der Diskurse widerspiegelt, derer sich das Subjekt bedient, um seine Umwelt zu erklären und zu verändern und um sich selbst als Subjekt zu erfahren. Wenn ich nun diese Beziehung und Aushandlungen zwischen nationalstaatlichen Institutionen, emotionalen Heimat- und Verwandtschaftsstrukturen und moralischer Selbstsorge auf die DDRBevölkerung übertrage, so gelange ich unweigerlich zu jenem Schnittpunkt, in dem sich eine Identität des Nationalen ausbildet. Auch wenn bis 1990 die nationale Selbstverortung der meisten DDR-Deutschen eine »gesamtdeutsche« war, muss aufgrund der differenten Inhalte und Kulturen was eine deutsche Nation sei von einer DDR-typischen nationalen Identität gesprochen werden. Diese differente Kultur kommt zwar erst nach 1990 öffentlich zum Tragen, da Ostdeutsche eine differente Nationalität zur BRD für sich selbst »entdecken«. Die kollektiven Erfahrungen zentralstaatlicher Regulation, gesellschaftspolitische Wertorientierungen, spezifische Milieu- und Lebensstilformierungen, geteilte Erfahrungsschätze und deren Abbildungen in Semantiken, Codes oder Literatur usw. geben allerdings Zeugnis von einer differenten nationalen Identität schon vor dem »Vereinigungsfrust«.
8
Noirel, Gerard: Die Tyrannei des Nationalen, Sozialgeschichte des Asylrechts in Europa. Zu Klampen, Lüneburg 1994.
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Nation durch Identifizierung Nationale Identität und Gemeinschaft ist eine Performance, die aus ökonomischen und ideologischen9 Aushandlungsprozessen entsteht und immer die Unterdrückung differenter Kulturen, Sprachen und Erinnerungen bestimmter Gruppen braucht, um eine hegemoniale Kultur, Sprache und Geschichte zu der Allgemeingültigen zu erklären. Damit ist Nation mehr als ihr einmaliges Zustandekommen, mehr als ihre Konsolidierung, ihre Kriege und mehr als die Summe ihrer sozialen Mitglieder. Als kulturelle Zurschaustellung politischer Macht und politischen Ausdrucks10 ist sie vor allem immer wieder ein Gefühl und die soziale und politische Kodierung dieser Gefühle. In diesem Sinne bedeutet Nation tatsächlich das »tägliche Plebiszit ihrer Mitglieder«11 zu sein – als ein soziales Konstrukt, welches basale Emotionen der Wut, Trauer, Freude, des Neides, der Angst etc. und familiäre Identitäts- und Sicherheitsgefühle in ein emotionales und soziales Begehren der »Nationalbürger« transformiert. Nation ist damit nicht zu lösen und auch nicht jenseits zu denken von der individuellen Bindung des Subjektes an eine vorgestellte Gemeinschaft und vor allem von der Vorstellung der nationalen Subjekte einer Gemeinschaft mit Menschen anzugehören, denen er/sie nie begegnen wird12. Für dieses fiktive Gefühl der Kollektivität, welches immer den Rückgriff auf Emotionen benötigt, die erst im Zusammenspiel mit anderen Sinnkonstruktionen
9
Breuilly, John: Nationalismus und moderner Staat. Deutschland und Europa. Erschienen in der Reihe: Kölner Beiträge zur Nationsforschung. Hrsg. von Otto Dann u.a. i.A. des Arbeitskreises für Nationalismusforschung der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln. Band 6, S-H Verlag, Köln 1999.
10 Dann, Otto: Nationale Fragen in Deutschland. Kulturnation, Volksnation, Reichsnation. In: Francois, Etienne / Siegrist, Hannes / Vogel, Jakob (Hrsg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich 19. Und 20. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995, S. 66 – 82. 11 Renan, Ernst: What is a nation? In: A. Zimmermann (Hrsg.): Modern Political Doctrines. Oxford 1939. 12 Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. 2. um ein Nachwort von Thomas Mergel erweiterte Ausgabe. Campus Verlag, Frankfurt/Main und New York 2005.
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nationale Emotionen werden, hat die kollektive Erzählung von einem gemeinsamen Erinnern und Vergessen eine zentrale Funktion13. Tradition, Geschichte, Herkunft und vor allem eine Ursprungserzählung bilden eine »erfundene Tradition«14, die dem Einzelnen das Gefühl gibt, in eine kollektive, zeitliche Abfolge eingebettet zu sein, und dadurch eine schicksalhafte Herkunft, Geburt und Dasein zu haben. Eine Herkunft, die außerhalb von rationaler Rechtfertigung und Kritik angesiedelt wird und die die Moral des eigenen Seins und die permanente Arbeit an sich auf die Nation verpflichtet. Aber diese Verpflichtung gilt nicht nur sich selbst gegenüber, sondern als Anspruch auch an die Nation und ihre weiteren Mitglieder – sie ist eine moralische Forderung, die als Teil des Aushandlungsprozesses die Essenz der Nation immer wieder mitbestimmt. Neben der Konstruktion nationaler Mythen15 und eines einheitlichen Ursprungs bestimmen zwei weitere Faktoren den Übergang von Heimat als »Zu-Hause-Gefühl« zu einer Verortung seiner Selbst und einer Identifizierung im Nationalen: Die kulturellen Ordnungen und die Landschaftskonstruktion. Kulturelle Ordnungen sind Sozialbeziehungen der Generationen, der Geschlechter, der Klassen und Schichten, sind die Alltagshandlungen, die einer Gruppe ein einzigartiges Gefühl von »Sich–zu–Hause– Fühlen« vermitteln. Es sind Praktiken des Alltäglichen, die aus den Erfahrungen der Kindheit bekannt und vertraut sind.16 Indem diese Prak-
13 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in den frühen Hochkulturen. Beck, München 1992. 14 Hobsbawm, Eric und Ranger, Terence (Hrsg.): The Invention of Tradition. Cambridge UP, New York 1983. 15 Zur politischen Bedeutung von Mythen: Marx, Karl: Der 18. Brumaire des Lous Bonaparte. In: MEW, Bd. 8, Dietz, Berlin 1975. S. 111 – 207. Oder: Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen. Rowohlt Verlag, Berlin 2009. Desweiteren: Galli, Matteo u. Preusser, Heinz-Peter (Hrsg.): Deutsche Gründungsmythen. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2008. 16 Strzelczyk weist eindringlich und notwendigerweise darauf hin, dass dieses Heimatkonstrukt als wurzelhafte Herkunft ein Konstrukt der abendländischen Nationen selbst ist und keineswegs genuin-anthropologisch für alle Menschen gilt, sondern vielmehr immer schon die Ausgrenzung des Anderen in sich trägt. Strzelczyk, Florentine: Un-Heimliche Heimat. Reibungsflächen zwischen Kultur und Nation. Iudicum Verlag, München 1999.
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tiken und Beziehungen transformiert und als Verhaltenskonzepte der nationalen Bevölkerung vereinheitlicht werden, entwickelt sich ein Gefühl nationaler Zugehörigkeit. Bestärkt wird diese Transformation von quasifamiliären Verhaltenskonzepten auf die Nation durch die Bestimmungen von »Wesenslandschaften« oder/und »Wesenscharakteren«.17 Mit der Land-Stadt-Migration des 19. Jahrhunderts setzt sich eine europäische Heimatvorstellung durch, welche nicht das konkrete Elternhaus, sondern konstruierte, nicht konkret festlegbare Landschaften mit Wesensmerkmalen meint.18 Dieser Raum ist aber nicht nur unkonkret, sondern auch ein gedachtes Bild, eine Erinnerung, ein Etwas, das selbst erst durch das Bild von ihm entsteht. Die räumlichen Heimatgefühle die ich z.B. Hamburg gegenüber besitze, sind aus den Erzählungen und Bildern der Hafenregion und einer subkulturellen Bedeutungszuweisung entstanden. Auf diese Weise werden die Vorstellung und das Bild von einem Raum Teil meiner Identität und kreieren ihrerseits einen Heimatraum. Nichts anderes ist die Transformation eben jener Wesensmerkmale einer deutschen, französischen, schwedischen etc. Landschaft. Verbindet sich diese bildliche Vorstellung eines Raumes und seiner Identifizierungsmerkmale mit den Erzählungen einer Abstammung und – auf keinen Fall zu vergessen – mit den vertrauten Praktiken der hegemonialen Schicht und Klasse dieser Region – so entsteht sowohl ein Gefühl des Gemeinsinns und Identisch-Seins auf nationaler Ebene, als auch ein Subjekt, dem genuine und gemeinschaftliche Wesensmerkmale (der ideelle Deutsche, der revolutionäre Franzose, der emotionale Russe etc.) zugeschrieben werden. Die nationale Erzählung hat damit Subjekte und Identitäten hervorgebracht, die sich auf sie beziehen, die ihr gegenüber Ansprüche, Forderungen und eine moralische Schicksalsaufgabe empfinden. Eine dialektische Affinalrelation ist entstanden.
17 Lindner, Rolf: Das Ethos der Region. In: Ders. (Hrsg.): Die Wiederkehr des Regionalen. Über neue Formen kultureller Identität. Campus Verlag, Frankfurt/Main u. New York 1994, S. 201 – 231. Hier S. 202. 18 Ipsen, Detlev: Regionale Identität. Überlegungen zum politischen Charakter einer psychosozialen Raumkategorie. In: Lindner, Rolf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Regionalen (1994), S. 232 – 255. Hier S. 233.
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Identifizierung mit der Nation Die Nation ist also, um mit Loytard zu sprechen, eine Meistererzählung der Moderne, eine Narration, welche die Loyalität der Mitglieder einer Gemeinschaft sichert, indem sie durch die Stiftung von Einheit und Ganzheit eine legitimierende Leitidee vermittelt.19 Nun ist aber gerade die Form der Erzählung, welche auf Einheit und Kohärenz setzt, eine Narration die das Objekt zum Subjekt werden lässt.20 Und so wie die Nation erst zu einer Nation wird, indem ihr Raum, ihr Gemeinsinn, ihre Herkunft, Gegenwart und ihre Zukunft in einer Abfolge der Kohärenz erzählt wird, so wird auch erst das nationale Subjekt zu einem solchen, indem es über sich selbst erzählt und seine eigene Biografie entlang den räumlichen und kulturellen Mustern, Erinnerungen und dem Vergessen der Nation erzählend ordnet. »Nationalstaaten sind immer dann erfolgreich bei der ›Nationenerfindung‹, wenn verschiedene Gruppen ihre Leben auf für sie sinnvolle Weise nach den vom Staat vorgeschlagenen Kategorien ›erzählen‹.«21
Während das nationale Subjekt also im Erzählen eines nationalen Gemeinsinns der Nation erst ihre Essenz, ihre Wahrheit, ihre Bestätigung und Legitimität gibt, »beseelt« es sich gleichzeitig als ein Subjekt, welches selbst eine Kohärenz zwischen sich und dieser nationalen Einheit begehrt. Diese Einheit löst selbst Unterschiede des Gender, der Schicht oder der Klasse auf höherer Ebene auf22. Setzt man voraus, dass dem Erzählen einer solchen Ordnung ein Wunsch nach Entität, ein Nicht-Aushalten, eine Pathologisierung des Brüchigen vorausgeht, so befreit die Performance einer nationalen Identität, insbesondere die Zustimmung zu ihr, das Individuum von einer anhaltenden (und unge-
19 Loytard, Jean Francois: Das Postmoderne Wissen. Ein Bericht. Engelmann, Peter (Hrsg.) Passagen Verlag, Wien 20055, S. 32. 20 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1973. 21 Strzelczyk, Florentine: Un-Heimliche Heimat (1999), S. 14. 22 Assmann, Alaida: Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Lindner, Rolf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Regionalen (1994), S. 13 – 35. Hier S. 22.
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wünschten) Widersprüchlichkeit, glättet wo Risse auftreten und lässt somit das Gefühl innerlicher Zerrissenheit verschwinden. »Die Nation ist ein Element in uns, dass ›mehr als wir selbst‹ (ist), etwas, das uns definiert, aber zugleich undefinierbar bleibt: wir können seine Bedeutung weder spezifizieren, noch können wir es auslöschen. [...] Die Heimat ist die phantasmatische Struktur, das Szenario, durch das die Gesellschaft sich selbst als homogene Entität wahrnimmt.«23
Die Erzählung einer nationalen Biografie, Herkunft und eines Gemeinsinns ist dabei total. Verbände, Organisationen, Institutionen und Künstler erzählen sie, um eine größtmögliche Anzahl an Teilnehmenden zu erreichen. Die Inszenierung des Nationalen bleibt dabei nicht auf den Geist beschränkt. Auch der Körper wird in der liturgischen Ausübung von nationalen Ritualen kodiert.24 Und so wundert es nicht, dass gerade im Deutsch- und Literaturunterricht, in welchem das Erzählen von und über sich und seine Tradition und Werte im Aufsatzschreiben nachdrücklich eingeübt wird, die nationale Identifizierung eine herausragende Bedeutung einnimmt. Foucault hat die Technik des Erzählens von sich, in der man anderen sich selbst »gesteht«, als einen Wahrheitsdiskurs beschrieben, dessen Wirkung sich »nicht bei dem, der ihn empfängt, sondern bei dem, dem man ihn entreißt«25 entfaltet. Das bedeutet, dass das Erzählen seiner eigenen nationalen Identität in den Schulaufsätzen, in denen immer eine gewisse Parteilichkeit abverlangt wird, eine Kohärenz, ein Einheitlich-sein mit Raum und Zeitvorstellung, kurz ein Wissen um sich und damit die Selbstwahrnehmung und Identität konstruiert.
23 Salecl, Renata: Politik des Phantasmas. Nationalismus, Feminismus und Psychoanalyse. Turia & Kant, Wien 1994, S. 14. 24 François, Etienne/Siegrist, Hannes/Vogel, Jakob: Die Nation. Vorstellungen, Inszenierungen, Emotionen. In: Dies. (Hrsg.) Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich 19. und 20. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 1995, S. 13 – 35. Hier S. 20. 25 Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit (1986), S. 167.
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Exkurs: Staatlichkeit und Nationale Identifikation Von der Beziehung der eigenen Person zur Nation mitsamt ihren Raum- und Zeitimplikationen zur Legitimierung des Staates als unausweichlich notwendigem Instrument für die nationale Gemeinschaft, bedarf es jedoch weiterer machtpolitischer und identitätskonstruierender Schritte. Da die Bejahung der nationalen Zugehörigkeit stets eine Loyalität nach sich zieht, ist sie für das Staatsgebilde als ideologischer und nationaler Klammerhaken so lukrativ. Im Gegensatz zur Loyalität zum Staat, die immer wieder brüchig werden kann, weil das Subjekt seine Bedürfnisse gegen die Interessen des Staates behaupten muss, ist die Loyalität zur Nation moralischer und schicksalhafter Natur. Indem der Staat schließlich sich selbst zur unauflöslichen Bedingung des nationalen Schicksals erklärt, werden die mystische Loyalität, die schicksalhafte Verbindung und die quasi familiäre Dankbarkeit auf den Staat übertragen. Auch Michel Foucault beschäftigt die Frage, wie der Staat die Bevölkerung mittels nationalstaatlicher Institutionen und vor allem mittels eines Versprechens von Überlebenssicherung an sich bindet. Für ihn sind die Geburt und die Konsolidierung von Nationalstaatlichkeit nicht zu lösen von der Konstruktion einer Bevölkerung. Im Gegensatz zum feudalen Reich ist für den Reichtum eines Staates nicht länger die quantitative Anzahl seiner Bevölkerung Bedingung, sondern deren Art zu leben und ihre Beziehungen zu sich und zu anderen. Dafür durchdringen die staatlichen Institutionen alle Bereiche des Lebens. Lernen, arbeiten, wohnen, lieben, Hygiene, Sexualität oder Biografien unterliegen der staatlichen Haushaltung und konstruieren ein gemeinsames Interesse des Subjektes als Einzelnem mit der Bevölkerung als Ganzem. Für die Akzeptanz jener Durchdringung der Staatlichkeit aller Lebensbereiche der Bevölkerung spielt die Politik des Sozialen eine wesentliche Rolle. Denn die Einheit von privatem mit einem nationalstaatlichen Interesse bleibt wirkungslos, wenn sie nicht mit der konkreten sozialen Erfahrung der Angesprochenen übereinstimmt. Und so kann bei der Analyse einer nationalen Staatlichkeit als reziprokem Verhältnis zwischen Staat und Bürgerin die Konstruktion einer sozialen Heimat nicht außer Acht gelassen werden. Sie, die soziale Heimat, ist es vielmehr, die in Verbindung mit den ideologischen und wissenschaftlichen Aussagen und Erklärungsmustern aus der gedachten
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Staatlichkeit eine emotional erfahrbare macht und somit die Verortung als (nationale) Staatsbürgerin ihrer kognitiven Konstruktion enthebt und sie auf das Feld des Sozialen und Emotionalen befördert. Die soziale Heimat als grundsätzliche Voraussetzung für eine Bejahung des Nationalstaates ist nicht spezifisch für die DDR, sondern für Staatlichkeit an sich seit dem aufgeklärten Absolutismus. Dennoch bedarf es ihrer Erwähnung, da ohne sie die Spezifika des DDRNationalgefühls nicht zu erklären sind. Insbesondere den Sozialstaaten mit dieser Sicherheitsgarantie gelingt eine Integration nach innen.26 Da das Gewaltmonopol bei den staatlichen Institutionen liegt, werden gesellschaftliche Konflikte sowohl durch einen Kompromiss der in den Institutionen vertreten Gesellschaftsgruppen als auch durch die hierarchisch strukturierte Autorität des Staates beigelegt. Gesellschaftliche Konflikt(Lösungen) werden daher als eine staatliche Angelegenheit erfahren, weil der Rechtsstaat durch seine Gesetze auch alle Konflikte auf sich bezieht. Die Staatsbürgerinnen können (und sollen) sich darauf verlassen, dass die Staatsgewalt (sei es durch ökonomische Beherrschung oder durch Eroberung oder Konfiskation) eine Wohlstandsvermehrung oder -wahrung der unterschiedlichen Gruppen des Staates im Auge hat. Der Ausbau von Technologie und Bürokratie trägt entscheidend zu dieser Maximierung bei. Die Bürgerin gibt damit freiwillig ihre Souveränität an den Staat ab.27 Diese Integration nach innen bedingt den Schutz vor äußeren Feinden als eine weitere Funktion des Staates. »Da der Staat Wächter nationaler Interessen ist und da er zu diesem Zweck Gewalt organisiert, versucht er Macht im Verhältnis zu anderen Staaten zu akkumulieren.«28 Insbesondere weil der Staat ein permanentes Versprechen gibt,
26 Als Beispiel für eine ähnliche Funktion der Sicherheitsgarantie im Sozialstaat »Volksheim« Schweden siehe: Enzensberger, Hans-Magnus: Schwedischer Herbst. In: Ders.: Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern. Mit einem Epilog aus dem Jahre 2006. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1987, S. 7 – 49. 27 Foucault, Michel: Vorlesung vom 14.7.1970. In: Dits et Ecrits, Band III 1976 – 1979. Hrsg. von Defert, Daniel und Ewald, Francois. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, S. 247. 28 Katz, Daniel: Nationalismus als sozialpsychologisches Problem (1985), S. 70.
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das Interesse der Bevölkerung im Einzelnen und im Ganzen zu gewährleisten, erschaffen seine Institutionen einen Feind innerhalb und außerhalb des Territoriums, vor dem die staatliche Durchdringung al29 ler Lebensbereiche zu schützen verspricht. Für dieses Schutzversprechen wird zuvor eine »andere Rasse/Klasse« konstruiert (sei es aufgrund der Hautfarbe, des Sexes oder von Lebenspraktiken), die als Ganzes und durch ihre einzelnen Mitglieder zu einer biologisierten permanenten Bedrohung der eigenen Rasse/Klasse wird.30 Während die staatlichen Institutionen sowohl eine Bedrohung der (biologisierten) Anderen konstruieren, als auch den Schutz der »eigenen« Gemeinschaft vor der »anderen« versprechen, richtet sich das Subjekt selbst in dieser Freund-Feind-Konstruktion ein, erklärt die »eigene« Gemeinschaft zur Norm und verlangt schließlich von den staatlichen Institutionen eine globale Strategie zur Reinhaltung und dem Schutz der biologisierten Gemeinschaft und zur Bestrafung derjenigen, die von ihm abweichen.31 Neben der sozialen Funktion des Staates und seiner Funktion des Schutzes muss auch die effektive Wirkung symbolischer Werte der jeweiligen Staatsnation für die nationale Identifizierung berücksichtigt werden, mit der die Bevölkerung a) emotionalisiert wird und sich somit b) über ihre Identität an den Nationalstaat binden. »Die Integration von Menschen in eine Gruppe, in eine Organisation oder in ein noch größeres System kann nur auf zwei Weisen geschehen. Auf der einen Ebene werden sie in das System durch ihre emotionale Bindung an Symbolwerte eingegliedert. Diese ›heiligen‹ Werte werden ohne Kritik akzeptiert. Sie verbinden sich gemeinhin mit der Vorstellung von der Exklusivität des Systems und einer bestimmten Mission, die das System zu erfüllen hat. Politiker können diese Symbole beschwören, um Menschen in dem System zu halten, um Abweichler zu exkommunizieren und Anhänger im Notfall zu mobilisie-
29 Foucault, Michel: (Vorlesung von 21. Januar 1976, S. 61). In: Ders.: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France. (1975 – 1976). Suhrkamp, Frankfurt/Main 1999. 30 Ebda., S. 74. 31 Dieser Vorgang ist dabei keineswegs eindimensional. Denn auch die staatlichen Institutionen, die das Andere konstruieren und den Schutz versprechen (z.B. Polizei, Wissenschaftler) entwickeln sich aus der Forderung der Gesellschaft, bzw. ihrer hegemonialen Klassen nach einem solchen Schutz.
176 | D IE ERLESENE N ATION ren. Auf der anderen Ebene werden Menschen in ein System deshalb integriert, weil sie die funktionale Interdependenz ihrer alltäglichen Handlungen sehen und sich auf dieser Grundlage eine Vorstellung von diesen interdependenten Handlungen bilden.«32
Die Anbindung an den Staat durch die Symbole erfährt ihre Vollendung durch ihre totale Inszenierung, die das Subjekt seine Handlungen, seinen Bezug auf das Symbol auch immer wieder bei anderen erkennen lässt und somit ein Wiedererkennungsgefühl, ein Zu-HauseFühlen erfährt: »Alle Inszenierungen des nationalen Kultes wurden und werden mit der größten Sorgfalt und bis in die letzten Details vorbereitet. Spezialisten, Verbände, Institutionen und oft auch Künstler führen dabei Regie. Nichts wird dem Zufall überlassen, denn es gilt ein ›totales Schauspiel‹ zu inszenieren, das die größtmögliche Zahl von Teilnehmern anspricht.«33
Diese Inszenierungen basieren auf ästhetisierten Emotionen, denn nur diese garantieren, dass die Einzelne im Teil eines großen Ganzen aufgeht und spezifische weltanschauliche, religiöse, klassen- oder geschlechtsspezifische Differenzen zurückstellt. Die Anbindung an den Staat durch die nationalen Symbole ist demnach ebenso effektiv, wie die Garantie von Schutz und Wohlstandsmaximierung. Für eine emotionale Bejahung sei, so in Abwandlung von Katz‹ Konditionierungstheorie, das Einüben von nationalen Ritualen (vor allem in der Schule) besonders hilfreich. Die Identifikation mit Nationalhelden (Beispiel: Timurbewegung, Thälmannkult, Begeisterung für Sportler, die das Land »vertreten«) ermöglicht eine Anerkennung nationaler Autoritäten und das Achten auf Verräter. Die Tiefe dieser emotionalen Bindung an nationale Symbole hängt von der Intensität der Erfahrungen und dem Grad der Wiederholungen ab. Katz verweist darauf, dass durch die permanente Kontrolle dieser Rituale und das Nichtdulden von Abweichungen diese Lernerfahrung bei den
32 Katz, Daniel, Nationalismus als sozialpsychologisches Problem (1985), S. 73. 33 François, Etienne / Siegrist, Hannes / Vogel, Jakob: Die Nation. Vorstellungen, Inszenierungen, Emotionen. In: Dies. (Hrsg.) Nation und Emotion (1995), S. 13 – 35. Hier S. 26.
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Kindern wie keine andere von der gesamten Gesellschaft so einhellig bekräftigt wird. Für den Erwachsenen bedeutet das, dass mit der Anstrengung auf Übereinstimmung mit dem patriotischen Konsens der anderen Gesellschaftsmitglieder auf die frühe Erfahrung zurückgegriffen werden kann. Diese Erfahrung verweist dann auf konkrete Handlungsund Denkparameter, die das Individuum befolgen muss, wenn es eine Beteiligung an der nationalen Gemeinschaft anstrebt. Neben der Einübung dieser Rituale vollziehen die staatlichen Institutionen einen Sozialisierungsvorgang des Kindes, in dem es sich als zugehörig zu einem bestimmten Volk begreift. »Das heranwachsende Kind entwickelt seine Identität nicht allein als Einzelperson, sondern auch als Individuum, das einer Gruppe angehört, die gemeinsame Wertungen und Orientierungen vertritt, die sich von anderen, ausländischen Gruppen unterscheiden.«34
Aber: Die emotionale Anbindung zu nationalen Symbolen ermöglicht nur dann eine vollkommene Identifizierung mit der (Staats)Nation, wenn gleichzeitig eine zweckrationale Vorstellung damit verbunden wird.35 Das Individuum muss sich von dem Zugeständnis an nationale Rituale und die Verehrung der nationalen Symbole einen Vorteil versprechen. Dieser kann ökonomischer, sozialer oder moralischer Art sein. Ich werde im Folgenden diese Verbindung von Nation, Subjekt und Staat auf die DDR übertragen. Obwohl die extrinsischen und intrinsischen Bedingungen der nationalen Identifizierung und Subjektivierung hier getrennt voneinander dargestellt werden, ist diese klare Trennung allein dem Aufbau dieser Arbeit geschuldet und vergisst nicht, dass diese Trennung bei der tatsächlichen Subjektivierung nicht möglich ist, sondern sich dort immer ergänzt, bestätigt und miteinander verschmilzt.
34 Katz, Daniel: Nationalismus als sozialpsychologisches Problem (1985), S. 78. 35 Ebda., S. 82.
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Die Konsolidierung der beiden deutschen Staaten nach der Kapitulation des Hitlerfaschismus basierte nie auf dem Ende des Sprechens von der Nation. An dessen Stelle trat in der DDR der permanente Verweis auf die faschistische Nation, die die DDR nicht mehr beherberge, bzw. der permanente Verweis auf die verführte Nation der BRD mit ihrer kathartischen Reinigung der »Stunde Null«. Das anhaltende Sprechen davon, was man nicht mehr sei bildete die Grundlage für die biografische und kollektive Erzählung was man nun sei – nämlich Volksangehörige der wahren (bürgerlich-freien oder sozialistischen) Nation. Unter diesem Grundprinzip des ehemals Gewesenen rankten sich die Lebensbereiche der Bürgerinnen der DDR entlang der nationalstaatlichen Bindekategorien Volk/Nichtvolk und Arbeit/Nicht-Arbeit. Diese Regierungstechniken basierten nicht ausschließlich auf Zwang und Repressionen, sondern auf Techniken des Wissens, der Normen und den Technologien des Selbst, die den Beherrschten als logisch erschienen bzw. die sie in einer eigensinnigen Adaption selbst reproduzierten. Die nationale Erzählung in der DDR ist dabei nicht von grundsätzlich anderer Natur, als die nationalen Erzählungen in anderen Gesellschaftssystemen und Staatsformationen. Schließlich ist die Erzählstruktur mitsamt ihren Elementen der mystischen Gemeinschaft, der Besonderheit und Ewigkeit eines abgegrenzten Raumes und einer naturalisierten Kultur der Bewohner dieses Raumes eine Erzählung, die unabhängig von der Staats- und Wirtschaftsform ihre Gültigkeit in modernen Nationalstaaten hat. Strukturell-ideologische Bedingungen Der Blick auf die Machtverhältnisse und ihre nationalen Strategien bedingt auch einen besonderen Blick auf den Staat. Wie gesagt sind weder Herrschaft und Zwang, noch ein analytischer Rückzug in seine Machtbastionen – den staatlichen Institutionen – ausreichend, um seine Funktion bei der Regierung der Menschen und der Konstruktion ihrer Subjektivität zu erklären. Staat und Nation sind vielmehr immer etwas, das von den Bürgerinnen selbst gedacht wird. Als solches wird auch Staatlichkeit gehandelt, wird der Staat gelebt, er entsteht und reproduziert sich durch die Bevölkerung, welcher er das »Leben« und die »Sicherheit« verspricht. In dieser Funktion (re-)produziert er nicht nur
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die Bevölkerung als nationales Kollektiv – er wird auch selbst ein Mittel zur Führung der Bevölkerung. In dieser dialektischen Affinalrelation schafft der Nationalstaat die Subjekte, die ihn selbst begehren und legitimiert sich permanent. Welcher Art sind diese Strategien im Falle des Staates DDR? Um dies zu klären, muss noch einmal erwähnt werden, dass die DDR als moderne Staatsnation sich auf Führungs- und Regierungsprogramme beruft und dass sie Staatsbürger schafft, wie jeder andere moderne Staat auch.36 Wesentliche Kriterien der modernen staatsbürgerlichen Regierung und der staatlichen Legitimation sind – hier folge ich Foucaults Studien zur Gouvernementalität – Rassismus, Norm und Disziplin. Rassismus Die moderne Staatsnation zeichnet sich durch eine Staatsräson aus, bei welcher ein allgemeiner Wille die privaten Interessen im konkreten Fall zwar unterlaufen kann, aber exakt dadurch den Staat zum Wahrer privater, bzw. individueller Interessen aller macht. Diese Räson bedeutet aber auch, dass im reziproken Verhältnis zwischen allgemeinem Staatswillen und dem Willen der Bevölkerung zum Staat eine Aufforderung enthalten ist, diese Staatsräson nur auf eine bestimmte Gruppe zu übertragen – auf die, solchermaßen definierten, Staatsbürgerinnen. Nationale Regierungstechniken bewegen sich also im binären Konstrukt von Zugehörigkeit und Ausschluss. Auf diese Weise bringt der Staat ein kollektives Begehren hervor, das Allgemeininteresse im Sinne der Angehörigen der »einzigen, wahren (Rasse/Klasse) zu wahren, die die Macht innehat und die Norm vertritt, gegen jene, die von dieser Norm abweichen und für das [...] Erbe eine Gefahr darstellen«37. Kurzum: Der Staat ergänzt die Integrationswirkung der Nation um einen nationalen Krieg (gerade das macht ihn – im Gegensatz zum Reich oder einem Städteverbund – zum passenden Instrument für die natio36 Zum Modernitätsdiskurs in der DDR-Forschung siehe: Kohli, Martin: Die DDR als Arbeitsgesellschaft? Arbeit, Lebenslauf und soziale Differenzierung. In: Kaelble, Hartmut (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR. Klett-Cotta, Stuttgart 1994, S. 31 – 61. 37 Foucault, Michel: Vorlesung vom 21.1.1976. In: Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de France. 1975 – 76, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1999, S. 52 – 75. Hier S. 75.
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nale Gemeinschaft) – und im Falle der DDR wurde dieser Krieg mit den Strategien des Sozialen und der Strafe geführt. Dafür benötigte es auf der einen Seite den Ausbau von Institutionen der Kontrolle und der Disziplinierung, wie der Polizei, der Schule, dem Parteifunktionär im Betrieb oder der NVA. Auf der anderen Seite wurden Arbeit und ihr Schutz zur Staatsräson – Arbeit wurde eine umfangreiche soziale Absicherung anheimgestellt und mit dem Recht auf Arbeit auch ihre Pflicht und die Bestrafung der Nichtarbeit verbunden.38 Auf diese Weise verknüpfte sich der (soziale) Allgemeinwille des Staates – den Wohlstand der Arbeiter zu schützen und zu mehren – auch immer mit einer kriegsähnlichen Regierung der Nichtarbeitenden. Diese Kriegsandrohung ging zwar in erster Linie an die Feinde der Arbeit – die nichtarbeitenden Kapitalisten auf der anderen Seite der Grenze. Da die staatlichen Institutionen die permanente Bedrohung der nichtarbeitenden Arbeiterfeinde ausmachten, musste diese auch als rassistische (weil biologisierende) Praxis den Gesellschaftskörper diesseits der Grenze durchziehen. Sei dies nun in Kampagnen gegen »Hausfrauen«, in der Ausweitung der Lebensarbeitszeit durch die Veteranenbewegung oder in der drastischen Maßnahme des § 249 StGB39. Die SED und die staatlichen Institutionen knüpften dabei nicht nur an die Selbstdefinition weiter Bevölkerungsteile der DDR an, deren »Arbeiteridentitäten« von der Weimarer Republik bis 1990 das private Interesse in der Identifizierung mit einem Allgemeininteresse ermöglichte40, sondern sie »erfanden« den Staatsbürger, dessen Staatsbürgerlichkeit und Subjektivität untrennbar mit der Identität des Werktätigen verbunden war (und ist).
38 Zur Arbeitspolitik der DDR vgl.: Kohli, Martin: Die DDR als Arbeitsgesellschaft? (1994). Und Lüdtke, Alf: »Helden der Arbeit« – Mühen beim Arbeiten. Zur mißmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR. In: Kaelble, Hartmut (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR Klett-Cotta, Stuttgart 1994, S. 188 – 213. 39 Haftandrohung, bzw. Haftvollzug bei »arbeitsscheuem Verhalten«. 40 Noll, Heinz-Herbert: Wahrnehmung und Rechtfertigung sozialer Ungleichheiten 1991 – 1996. In: Meulemann, Heiner (Hrsg.): Werte und nationale Identität im vereinten Deutschland. Opladen 1998, S. 65ff. Zur Kontinuität von Arbeiteridentitäten siehe: Lüdtke, Alf: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrung und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Ergebnisse-Verlag, Hamburg 1993.
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Mit dieser Identität der Bürgerin als Arbeitende und mit ihrem »Wille zum Staat« verband sich eine Produktion und Erfindung des Delinquenten – die Nichtarbeitenden. Dabei wurden staatliche Verwaltung, staatliche Kontrolle und Strafsysteme zum Schutz vor den (nichtarbeitenden) Kapitalisten, welche sich die Früchte der Arbeit anderer zu eigen machen wollen.41 Der Staat, und im Falle der DDR insbesondere die SED, bedient sich der ideologischen Erzählstruktur einer nationalen Gemeinschaft der Subjekte der Arbeit und verspricht in kriegerischen Strategien deren Schutz vor Delinquenten, die er selbst geschaffen hat – vor den »Feinden im eigenen Bett«. Als ideologische Grundlage diente dabei vor allem die Verknüpfung von staatlichem Antifaschismus mit der Erzählung von der Überwindung des Kapitalismus.42 Ergänzend zur konkreten Arbeitsund Sozialpolitik erfolgte eine wissenschaftliche und politische Erzählung, deren Inhalt das als vernünftig und logisch schlussrichtige Argument war, was die Grundlage von Armut sei (nämlich das Fehlen von Lohnarbeit) und welche Produktions- und Regierungsweise vonnöten seien, um diese dauerhaft abzuschaffen. Die Verbindung dieser hegemonialen Diskurshoheit mit der zentralen Kontrolle über die kriegerischen Institutionen (Schule, Militär, Fabrik, Polizei) machte die SED zur alleinigen Garantin dafür, dass die individuellen Interessen um Arbeit, Befreiung von Armut und sozialer Sicherheit im nationalstaatlichen Allgemeinwillen aufgehen konnten. Durch Repressionen und durch wissenschaftliche Diskurshegemonie als Wissende, wie die Nation reformierbar und nach dem Faschismus »heilbar« sei, haben die Mitglieder die Partei zur Disziplinarmacht dahingehend ausgestaltet, dass nur unter ihrer Führung der Aufbau des Sozialismus zur Grundlage eines antifaschistischen, pazifistischen und humanistischen Deutschlands werden konnte. Die disziplinarische Kontrollfunktion des Staates, verbunden mit einer rassistischen Staatlichkeit der eigenen Bevölkerung war in der DDR weder außergewöhnlich – Foucault verweist auf die Verbindung
41 Vgl. Foucault, Michel: Verbrechen und Strafen in der UdSSR und anderswo. In: Dits et Ecrits, (2003), S. 83 – 98. 42 Ich möchte diese Verbindung hier selbst als historische Erklärung des Faschismus nicht debattieren, sondern lediglich auf ihre Bedeutung bei der Subjektivierung der Bürgerinnen als nationale Angehörige eines Arbeiterstaates verweisen.
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von Nationalstaatlichkeit, europäischem Strafrecht und Arbeit seit dem 19. Jahrhundert43 – noch innerhalb der kämpferischen Auseinandersetzung einer Arbeiterklasse verdammenswert. Ebenso wie in anderen europäischen Staaten basierte diese Konzeption auf dem klassenkämpferischen Antagonismus Arbeit – Nichtarbeit. Ihre Besonderheit bestand aber darin, dass sie sich in dieser Konstruktion eines kapitalistischen Prinzips bediente und (und das interessiert mich besonders bei der Subjektivierung der Bürgerinnen) diesen staatlichen, ideologischen und strukturellen Antagonismus nicht nur außerhalb der staatlichen Grenzen verlegte, sondern in die Subjekte hineintrug. Die Mutter, der Nachbar, der Sohn, die Freundin – das Subjekt selbst konnte permanent zum eigenen Feind werden, das durch das Prinzip der Nichtarbeit die Bedürfnisse des Idealsubjektes unterläuft.44 Zu jenem Idealsubjekt, welches die staatlichen und die privaten Interessen miteinander verbindet, verknüpft und schließlich miteinander identifiziert. Aus diesem Grund räumt es selbst dem Staat eine große Bedeutung für die Wahrung des Allgemeinwillens ein und nimmt dafür die Einschränkung von Privatinteressen in Kauf, wenn es sie nicht sogar bei anderen Bürgerinnen und Nichtbürgerinnen verlangt.45 Norm Neben den institutionalisierten Strategien des staatlichen Rassismus, der seine Legitimität und das Begehren nach ihm aus der Klassifizierung und Unterteilung in Arbeitende und Nichtarbeitende findet46, begründet der moderne Staat (und auch die DDR) die Grundlage seiner Existenz und seine eigene Reproduktion mit Wahrheitsformulierungen und Vernunftkategorien. Diese Kategorien gebiert er selbst und sie erscheinen den Individuen in der zur Erfahrung gewordenen kulturellen Praxis als logisch, vernünftig und begehrenswert. Diese Wahrheitsformulierungen werden – da sie selbst wieder kulturelle Praxis werden
43 Vgl. Foucault, Michel: Verbrechen und Strafen in der UdSSR und anderswo (2003), S. 92. Und: Ders.: Vorlesung vom 17. März 1976 (1999), S. 302ff. 44 Foucault, Michel: Vorlesung vom 17. März 1976 (1999), S. 302ff. 45 Noll, Heinz-Herbert: Wahrnehmung und Rechtfertigung sozialer Ungleichheiten (1998), S. 72. 46 Foucault, Michel: Die gesellschaftliche Ausweitung der Norm. Dits et ecrits (2003), S. 99 – 105. Hier S. 100.
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– verbunden mit der Konstruktion von Normalität. Eine Normalität, die als Technologie der Selbstsorge zum sittlichen Prinzip des Individuums wird, auch wenn das Subjekt demselben nie zur Gänze genügt. Für diese Norm der eigenen Biografie und kollektiven Zugehörigkeit benötigt es konkrete Wissensfelder. Wissensfelder, die im zentralistisch organisierten Staat DDR geprägt waren von einer nationalen Begrifflichkeit, indem die Existenz zweier Nachkriegsstaaten als stabile Ordnung anerkannt wurde und in der die Selbstbezeichnung als antiimperialistischer und antifaschistischer Schutzwall eine Heimatnation der deutschen Arbeiterklasse darstellte. Der junge Staat DDR wurde zum Garant dafür, der Nation der Deutschen den historisch notwendigen und folgerichtigen Sozialismus zu bringen und bezog sich auf folgende Zitatautoritäten: 1.) Der Vorbildcharakter des einen sozialistischen Staates gemäß Stalin, 2.) Stalins Definition von Kultur und Sprache als gemeinschaftsstiftende Elemente, 3.) den Anspruch an den Internationalismus und die Unterstützung der Unabhängigkeitsbestrebungen nichtindustrialisierter Länder bei Lenin und 4.) das Postulat der Nation des Proletariats ohne Vaterland nach Marx und Engels und ihre Aufforderung zur Bildung einer Diktatur des Proletariats. Diese Diskursvorgabe über den nationalen Charakter der antifaschistischen und antikapitalistischen Normalität folgte außenpolitischen und innenpolitischen Voraussetzungen, auf welche die SED und ihre Staatsapparate oftmals eher reagierten, als sie agierend zu formen. Die Währungsreform in den westlichen Besatzungszonen, das Scheitern der Ministerpräsidentenkonferenz in München im Juli 1947 und schließlich die Staatsgründung der BRD führten zu einem Vorwurf an die USA »Deutschland spalten und ihre ›imperialistische Vorherrschaft‹ auf die Westzonen und möglichst auf ganz Deutschland ausbreiten zu wollen.«47 Bei diesem Angriff spielte die Kampagne gegen
47 Ernst, Helga: Die Deutsche Nation in der Sicht der DDR. Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Wirtschafts- und Sozi-
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die »verderblichen« Ideologien des Nationalismus und Kosmopolitismus48 eine große Rolle, in denen eine Basis für den Chauvinismus der Nationalsozialisten und ein Verlust der Widerstandskraft und der nationalen Selbständigkeit des deutschen Volkes gesehen wurden.49 Diesem neuen (alten) äußerem Feindbild gegen die deutsche Selbstbehauptung galt nun also wieder der Patriotismus als Schutzschild – jetzt war er nur nicht mehr auf die gesamte Bevölkerung bezogen, sondern setzte eine klare Klassenzugehörigkeit, wobei die Klasse zur Retterin der Nation und zur wirksamsten Schutzpatronin vor äußeren Feinden erhoben wurde. Damit wurde der Regierung der BRD bei jedem Integrationsvorhaben oder tatsächlichen Integrationen in westliche Bündnisse Aggressionen gegen die DDR und die UdSSR vorgeworfen. Diesem permanenten Aggressor gegenüber galt die Gründung der DDR nicht nur als Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Volkes, sondern auch als historisch bedeutsam für alle Völker Europas. Der Staat DDR wurde imaginiert als ein Bollwerk gegen Militarismus und
alwissenschaften am Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin 1977, S. 31. 48 Kulturpolitische Kampagne in der UdSSR und in der DDR ab 1948, bzw. ab 1952 – 1954. Den Initiatoren ging es darum, durch gezielte Repressions- und Gegenmaßnahmen den »Einfluss der US-amerikanischen Kultur« auf die Bevölkerung zurückzudrängen, da eine solche Kultur das Nationalgefühl des sozialistischen Staates untergrabe. Thomas Haury: Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR. Verlag Hamburger Edition, Hamburg 2002. Oder: Herf, Jeffrey: Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland. Propyläen Verlag, Berlin 1998. Auch: Becker, Maximilian (Oktober 2007): Die Kulturpolitik der sowjetischen Besatzungsmacht in der SBZ/DDR 1945–1953. Sowjetische Literatur und deutsche Klassiker im Dienst der Politik Stalins. Magisterarbeit, LMU München: Geschichts- und Kunstwissenschaften, 21. 49 In dieser Aussage finden sich wesentliche biologistische Elemente, die dem Deutschen eine Härte und Stärke zusprechen, während das verweichlichende, intellektualistische und dekadente Kosmopolitische (der Bezug auf die antisemitische Propaganda der Nationalsozialisten ist kaum zu übersehen) jene Stärke und Kraft »aussaugt«.
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chauvinistischen (deutschen) Nationalismus.50 Die deutsche Einheit unter sozialistischen und proletarischen Vorzeichen zu erkämpfen – unter der Prämisse der Führung durch die Arbeiterpartei SED – wurde nun zur Pflicht und moralischen Schicksalsaufgabe eines jeden nationalen Individuums. Auf diese Weise setzte die SED nicht nur ein Identitätsangebot (sich als proletarische, nationale Antifaschistin identifizieren zu dürfen), sondern verengte den Begriff von einer Abwesenheit von Krieg und Faschismus auf die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse. Zur Etablierung dieses Diskurses diente die Gründung der Nationalen Front (NF), welche die Wiederherstellung der deutschen Einheit, die Aufhebung der Besatzungssituation und eine einheitliche Regierung einer demokratischen Republik zum Ziel erhob. Um die nationale Vereinigung zu ermöglichen, benötigte es aber einen Kampf gegen die imperialistischen und kapitalistischen Besatzer der Westzonen. Verwirklichbar war diese Einheit unter antifaschistischer Prämisse im Diskurs der NF nur durch die Arbeiterklasse (konkreter: Der Partei der Arbeiterklasse), welche zur Vorkämpferin für einen »einheitlichen, friedliebenden und fortschrittlichen, demokratischen Staat« stilisiert wurde. Infolgedessen forcierten SED und NF bis 1957 den Aufbau des Sozialismus zur Grundlage der nationalen Vereinigung, ohne dessen Übernahme in der BRD eine Aufnahme nationaler Vereinigungsgespräche abgelehnt wurde. Die Mitarbeit der einzelnen Bürgerin an der nationalen Vereinigung bedeutete von nun an die Mitarbeit am Aufbau des Sozialismus in der DDR. Wolfgang Engler hat in seinem Buch »Die Ostdeutschen als Avantgarde«51 deutlich gemacht, wie sich jene Verknüpfung von Nation und Sozialismus als unauflösbares Gedankengebilde bei den Ostdeutschen auch nach der Vereinigung 1990 zeigt, selbst dann, wenn die Kategorie des staatlichen Antifaschismus bedeutungslos geworden ist. Die SED hat also in Zusammenarbeit mit der NF eine staatsbürgerliche Normalität erschaffen, die in den Praktiken des Wissens eine antifaschistische/antikapitalistische, männliche und weiße Arbeiteridentität zur Norm erklärt. Diese Norm, die nirgends vollendet existierte,
50 Doernberg, Stefan: Kurze Geschichte der DDR. Hrsg. vom Deutschen Institut für Zeitgeschichte. 2. durchgesehene und überarbeitete Auflage, Dietz-Verlag Berlin 1965, S. 155. 51 Engler, Wolfgang: Die Ostdeutschen als Avantgarde. Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2004.
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aber zur Praxis des Begehrens52, der Arbeit an sich selbst, zum Maßstab von Politiken und Kulturen wurde, ist der Sockel des DDRspezifischen Willens zum Staat. Der staatliche, strukturelle Rassismus entlang der Kategorie Arbeit/Nichtarbeit gestaltet(e) also eine Norm des Nationalen, eine Norm, wonach der männliche weiße Arbeiter sich vom Staat und seinen (kriegerischen) Institutionen Schutz seiner eigenen Normalität versprach, Rechte für sich ableitete, sie einforderte (und somit auch die juridische Staatsverfassung in Frage stellen konnte), und diese Norm zur emotionalen Handlungsstrategie seiner eigenen subjektiven Verortung und Identifizierung machte und eine Verfremdung zum sozialen Anderen konstruierte. Seine (vorgestellte) Normalität wurde zur Referenz, entlang der das konkrete Individuum sich permanent entschied, handelte und an sich arbeitete – seine eigene Identität ausbildete. Diese Normalität war die ideologische Grundlage jener Emotionen, welche die (nationale) Seele, die (nationale) Subjektivität der DDR-Bürgerin strukturier(t)en. Die Bürgerin forderte fortan selbst ihre eigene Regierung mittels Militär, Polizei, Schule oder Fabrik, um der Referenzstruktur »Arbeiterin« zu entsprechen. Exemplarisch zeigt sich das während meines historischen Untersuchungszeitraums am 17. Juni 1953. Detaillierte Analysen der Losungen auf Transparenten und Flugblättern ergeben, dass die Forderung der Streikenden während der Junitage nicht die Auflösung der DDR fordern, sondern die Ablösung dieser Regierung und einer Vereinigung Deutschlands unter den Vorbedingungen des Wohlstands durch Arbeitsgarantie.53 Die Bürgerinnen hatten über ihr Begehren nach Arbeit und deren staatlicher Sicherung sowohl die Vernünftigkeit einer Regierung anerkannt, die Arbeit zu ih-
52 Vgl. literarische Arbeitsbeschreibungen mit weiblichen Protagonistinnen, deren Identifizierung am männlichen Normmodell stets offensichtlich ist, meist aber auch zu konkreten Identitätsbrüchen und Problemen führt, die aber nahezu immer am Normmodell Mann = Arbeit geglättet werden. Z.B. Reimann, Brigitte: Ankunft im Alltag. Oder: Dies.: Franziska Linkerhand. Außerdem: Hein, Christoph: Der fremde Freund. Oder: Koplowitz, Jan: Der unglückselige Blaukünstler. Aus dem Bereich der Jugendliteratur: Grasmeyer, Christa: Kapitän Corinna. Oder: Dies.: Aufforderung zum Tanz. 53 Rössler, Jörg: Aufstand gegen die Norm (2003). Oder: Ders.: »Akkord ist Mord (2004).
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rem Paradigma erhob, als auch sich als Teil einer nationalen Gemeinschaft anerkannt. Eine Gemeinschaft, deren kulturell-nationales Erbe entlang einer Positionierung zum Proletariat geschrieben und erzählt wurde. Proletarisch-bürgerliches Erbe Trotz der proproletarischen und antibürgerlichen Politiken war die Debatte um das kulturelle Erbe der frühen DDR darum bemüht, das bürgerliche Erbe einer Neuinterpretation zu unterwerfen, wonach das Bürgerliche insoweit zur Tradition des sozialistischen Menschen gehören sollte, als dass es in logischer, historisch-materialistischer Reihenfolge die Vollendung der teleologischen Geschichte ermöglicht habe. So wurden jene bürgerlichen Philosophen, Wissenschaftler, Künstler, sogar Politiker zu Wegbereitern des Sozialismus, in deren Handlungen oder Texten sich eine Anlehnung an das Proletariat oder eine Ablehnung der bürgerlichen Klasse lesen ließen oder die eine strukturelle oder ideologische Wegbereitung für das Bewusstsein der revolutionären Klasse geschaffen hatten. Oder solche, wie Hegel, auf dessen Philosophie die des Diskursbegründers Karl Marx fußt. »Ins Zentrum des Geschichtsinteresses rückten in unserem Lande gerade jene Ereignisse, Prozesse, Bewegungen und Persönlichkeiten der deutschen Geschichte, die in ihrer Zeit dem Fortschritt Bahn brachen. Hier wird die deutsche Geschichte vor allem danach befragt, was sie an Bausteinen, Elementen, Voraussetzungen für den heute und hier siegreichen Sozialismus enthält.«54
Es ist für jede Marxistin-Leninistin eine Binsenweisheit, dass jede wissenschaftliche Disziplin, insbesondere jedoch die Historiographie, vom Klassenstandpunkt abhängig ist. Die Geschichtsschreibung der DDR muss in permanenter Divergenz zur Geschichtsschreibung der BRD betrachtet werden, denn die Bewertung der bürgerlichen Philosophen, Künstler oder Politiker als Figuren, die eine kulturelle Identität bebildern sollten, erfolgte vor dem Hintergrund, dass jene einen techni-
54 Schmidt, Walter: Deutsche Geschichte als Nationalgeschichte der DDR. In: Ders. u. Meier, Helmut (Hrsg.): Erbe und Tradition in der DDR. Die Diskussion der Historiker. Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1989, S. 240 – 252. Hier S. 248.
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schen, demokratischen, kulturellen oder wissenschaftlichen Fortschritt ermöglichten, welcher den Sieg der deutschen Arbeiterklasse in der DDR überhaupt möglich gemacht habe.55 In dieser Phase der Neudefinition einer bürgerlich-proletarischen Tradierung brachte Walther Victor in mehr als drei Millionen Buchexemplaren von 1950 bis 1974 den DDR-Bürgerinnen und ihren Lehrerinnen einen »linken«, weil »fortschrittlichen« Schiller, Goethe, Lessing, Herder, Kleist und Heine dar. Ihre künstlerischen und philosophischen Arbeiten für einen Humanismus und für Freiheit von struktureller Unterdrückung und ihre Wegbereitung der Philosophie Karl Marx’ galten als Kriterium für ihre Aufnahme in den sozialistischen Traditionskanon. Jener Kanon gerierte von nun an einen gemeinsamen Volkscharakter, ein gemeinsames kulturelles Erbe an Sprache und Lebensart. Während die bürgerliche Bedeutung dieser Begriffe mit einer Mythologisierung des Deutschen einhergeht56, stellt sich die sozialistische Konnotation des Volkscharakters in die Tradition einer revolutionären und proletarischen Linie, die insbesondere in den europäischen Industrienationen zu einer gesamtmenschlichen Evolution hin zu einem Siegeszug des Kommunismus führe. Bei der Erfindung dieser Tradition (und davon müssen wir 1950 angesichts der faschistischen Vergangenheit der Deutschen in beiden neuen Staaten reden) hält die intellektuelle Elite jedoch an bis dahin gültigen Symbolwerten fest, um sich eine Beteiligung und Zustimmung der Bevölkerung zu sichern. Die sprachliche und politische Kongruenz von Nation im »Dritten Reich« und in den beiden deutschen Nachkriegsstaaten kommt daher nicht von ungefähr.57 Die Erzählung einer kulturellen Identität wird demnach über die Tradierung entlang der Positionierung zur Arbeiterklasse zu einer Erzählung von der Nation in der Nation. Echtes »Deutschsein« ist nicht
55 Meier Helmut u. Schmidt, Walter: Zum marxistisch-leninistischen Traditionsverständnis in der DDR. In: Dies. (Hrsg.): Erbe und Tradition in der DDR (1989), S. 27 – 57. Hier S. 40. 56 Vgl.: Johnston, Otto W.: Der deutsche Nationalmythos. Ursprung eines politischen Programms. Metzlerscher Buchhandlung, Stuttgart 1990. 57 Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen. Reclam, Leipzig 19753. Und: Ders.: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 – 1945. Hrsg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer. Aufbau Verlag, Berlin 199810.
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länger ausschließlich an Sprache und Herkunft gebunden, obwohl diese Faktoren weiterhin eine bindende Kraft besitzen. Aber darüber hinaus erhält das richtige moralische Verhalten im Sinne des nationalen Schicksals eine bedeutende Funktion, um die Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft unter Beweis zu stellen – ganz so, wie es die bürgerlichen Figuren in den Lesebüchern Victors »vorgelebt« gehabt hätten. Das Erbe der fortschrittlichen, humanistischen Männer im gesamten deutschsprachigen Raum mündete über den Zulauf des wissenschaftlichen Marxismus – und nicht zu vergessen: dem nationalen Schicksalsschlag des deutschen Faschismus – im Arbeiter- und Bauernstaat DDR. Diese Männer wurden damit in eine Tradition des Volkes, seiner permanenten Klassenkämpfe und letztendlich dem Sieg der Arbeiterklasse gestellt. Ihr Sieg – das ist dieser Geschichtsschreibung nach die Existenz und die Gründung der DDR. Diese proletarisch-bürgerliche Traditionsvermittlung in den Schulen, den Lesebüchern, den Zeitungen und Romanen folgte dem Beschluss der SED auf dem III. Parteitag. Dort wurde neben der intensiven Auseinandersetzung mit der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und des »fortschrittlichen Erbes« als Hauptziel die patriotische Erziehung der Volksmassen beschlossen.58 Denn nur aus dieser historischen Linie würden die »Patrioten Kraft schöpfen im Kampf gegen die Spalter Deutschlands, gegen die Adenauer und Ollenhauer, eine marxistische Geschichtsdarstellung wird sie zum Kampfe um die Wiedervereinigung Deutschlands begeistern«.59 Die Verbreitung jenes nationalen Verständnisses mitsamt seiner wissenschaftlichen Aussagen wurde von nun an vordergründige Aufgabe der Kultur- und Wissenschaftspolitik. Ihr kam dabei die Bedeutung zu, jene wissenschaftlichen Aussagen auf emotionale Weise an die zukünftigen Bürgerinnen heranzutragen.
58 O.V. Leitartikel: Karl Marx – der deutschen Nation größter Sohn. In: Einheit. Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus. Hrsg. vom Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 1953, Heft 1, S. 2 - 15. Hier, S. 14. 59 Ebda.
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Die kulturelle und pädagogische Erzählung eines nationalen Gemeinsinns Kultur- und Bildungspolitik haben eine nachhaltige Wirkung bei der Regierung der Subjekte auf der Ebene des Emotionalen und der Praxen des täglichen Lebens. Die machtpolitischen Instanzen, die sie etablieren, verbinden sich mit ästhetischen Strukturen und Erzählformen und sind dadurch so wirkungsmächtig bei der Konstruktion und Etablierung identitätsstiftender Symbole und Strukturen. Ähnlich wie in den meisten europäischen Ländern war die Kulturund Bildungspolitik der DDR zentral organisiert, kontrolliert und ausgestaltet. Als wichtige Regierungstechnik bei der Umerziehung der Bürgerinnen nach dem Zweiten Weltkrieg widmete die SED ihr eine große Aufmerksamkeit, von der auch noch die Debatten über kleinste Aspekte einer Kulturpolitik zeugen, die in den Protokollen der Sitzungen des ZK der SED auftauchen. Mit der 2. Parteikonferenz verlagerten sich die Erziehungsziele hin zu einer patriotischen Erziehung im Sinne des Aufbaus einer sozialistischen Staatsmacht. So wurde die per Gesetz60 geregelte Bedeutung der Jugend für den Aufbau des Sozialismus und des Staates DDR durch entsprechende Konferenzen der Pionierleiter und Lehrer spezifiziert: Die allgemeine Heimatliebe zu einem Deutschland wurde mit einer patriotischen Erziehung auf die Werte der Arbeiterklasse und der fortschrittlichen deutschen Größen der Geschichte verbunden. Die sozialistische Gestaltung des Lebens in der DDR rückte mit der polytechnischen Ausbildung und ihren konkreten Lerninhalten in den Mittelpunkt der Bildungspolitik in der DDR. Grundlegende Direktive der patriotischen Erziehung war eine Einheit persönlicher und nationaler bzw. staatlicher Interessen. Das ist an sich eine Denkfigur wie sie jedem modernen Staat immanent ist, der sein Bestehen aus der Anerkennung und Mitwirkung der einzelnen Staatsbürgerinnen ableitet. Von Interesse ist daher nicht so sehr, dass eine Einheit von persönlichen und gesellschaftlichen Interessen proklamiert wurde, sondern vielmehr, dass jene Interessen in einer mystischen Gemeinschaft aufgingen – einer Gemeinschaft die dadurch wiederum zum teleologischen und mystischen Schicksal der jungen
60 Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der DDR und die Förderung der Jugend in Schule und Beruf, bei Sport und Erholung vom 8.Februar 1950. Und: Schulgesetz vom 3.März 1954.
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Staatsbürgerinnen werden sollte. Die kohärente Erzählung, welche die konkrete biografische Erfahrungen mit der Erzählung einer mystischen Einheit und Herkunft verbindet, ist im Falle der pädagogischen Ansprache der 1950er Jahre: der Antifaschismus. Antifaschistisch-demokratische Herkunft und Gemeinsinn »Niemals wurde die Ehre einer Nation in schändlicherer Weise mit Schmutz und Blut besudelt, niemals wurde eine Nation von ihrer herrschenden Klasse in eine größere Katastrophe geführt als die deutsche Nation durch die Herrschaft der deutschen Großbourgeoisie [...] In dem historisch kurzen Zeitraum von 1871 bis 1945 hat die deutsche Großbourgeoisie schlüssig bewiesen, daß ihre Herrschaft über Deutschland unvereinbar ist mit dem Glück des deutschen Volkes [...]. Die klassenbewussten deutschen Arbeiter haben in allen großen geschichtlichen Prüfungen, in denen die deutsche Bourgeoisie ihre Untauglichkeit zur Führung der Nation erwies, eine Politik vertreten, die nicht nur den Interessen der Arbeiter, sondern denen des ganzen Volkes diente.«61
Dieses Zitat ist beispielhaft für die Einordnung des deutschen Faschismus in die historische Bekämpfung des Proletariats durch die Bourgeoisie, flankiert von der historischen Notwendigkeit, dass die Befreiung des Proletariats notwendige Bedingung der Befreiung des deutschen Volkes an sich sei. Diese Einordnung fand in den Aufbaujahren der DDR bei der Nachkriegsgeneration einen solchen Anklang, weil dadurch die Empfindungen des Verlustes und der Niederlagen in einem konkreten Gegner aufgehen konnten. Dem Bedürfnis nach einer (individuellen) antifaschistischen Geschichte und Gesellschaft wurde eine historisch-mystische Erklärung gegeben, die zur meisterhaften Erklärung der eigenen und nationalen Unschuld am deutschen Faschismus taugte. Wie aber kam es dazu, dass diese Erzählung zur Meistererzählung wurde, obwohl 1945/46 mehr als die Hälfte der Bevölkerung in der
61 Die geschichtliche Aufgabe der Deutschen Demokratischen Republik und die Zukunft Deutschlands. In: Programmatische Dokumente der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, S. 209f. und S. 214.
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SBZ zu den Jahrgängen gehörte, die 1932 und 1933 durch ihre Stimme die Machtübergabe an die Nationalsozialisten unterstützt hatten?62 Am 11. Juni 1945 erfolgte in Berlin ein Aufruf der KPD an das deutsche Volk, welcher kommunistische Leitlinien für den demokratischen Aufbau Deutschlands vorsah. Ebenso wie ein zentraler sozialdemokratischer Aufruf fand dieser trotz darnieder liegender Infrastruktur weite Verbreitung in der Bevölkerung.63 Die zentrale Frage, die sich Politiker, Künstlerinnen oder Intellektuelle stellten, war, wie das »Dritte Reich« geschehen konnte und wie man es in Zukunft verhindern könne. Die Angehörigen der Sowjetischen Militäradministration Deutschland (SMAD) und die wenigen Antifaschistinnen, die den Faschismus im eigenen Land überlebt hatten, begannen mit einer antifaschistisch-demokratischen Reeducation des deutschen Volkes. Hierbei kam den Schulen eine besondere Rolle zu.64 Im Unterricht sollte vorrangig die Frage geklärt werden, warum die reaktionären Kräfte (Bourgeoisie) über die fortschrittlichen Kräfte (das Proletariat) siegen konnten. Diese Erzählung von der Besiegung des Proletariats war ein wesentlicher Bestandteil für jene Meistererzählung, wonach nicht die gesamte Bevölkerung Anteil am Faschismus gehabt hätte. Vielmehr war der Faschismus dieser Erzählung nach ein alleiniger Akt der Großbourgeoisie und des Finanzkapitals gewesen – eine Erzählung die auf besondere Weise die individuellen Bedürfnisse nach einer antifaschistischen Vergangenheit bediente, da die Mehrzahl der Bevölkerung sich aus schichtenspezifischen Gründen und aus Zuordnungen aus Traditionen nicht zu der »Täterklasse« zurechnen musste. Während ein Großteil der geistigen »Elite« diesem neuen antifaschistischen Vergangenheits- und Zukunftsangebot nachkam, ist der Erfolg einer solchen Identifizierung bei der Bevölkerung differenzier-
62 Zahlen: Staritz, Dietrich: Geschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Neue historische Bibliothek. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1996, S. 66. 63 Brinks, Jan-Herman: Die DDR-Geschichtswissenschaft auf dem Weg zur deutschen Einheit (1992), S. 92. 64 Zu den Umstrukturierungen der Schulen auf dem Gebiet der SBZ mitsamt der Neulehrerkultur, den Arbeiter- und Bauernfakultäten und den humanistischen, antifaschistischen Idealen siehe u.a.: Geißler, Gert: Geschichte des Schulwesens in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik 1945 – 1962. Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main 2000.
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ter zu bewerten. Für den Fokus auf ihre Perspektive darf die besondere Bedeutung der sowjetischen Befreier nicht außer Acht gelassen werden. Bei der deutschen Bevölkerung lassen sich um das Jahr 1945 eine Angst vor dem Krieg und eine Angst vor dem Frieden konstatieren. Wolfgang Engler beschreibt die Verbindung von biografischer Erfahrung und ideologischer Erzählung als Ursache für einen differenten Umgang mit den Sowjetsoldaten und einer differenten Emotion ihnen gegenüber. Angst bei den Erwachsenen und Dankbarkeit und Schuldgefühl bei den Kindern. Die rassistischen Erzählungen des deutschen Faschismus und die Erzählungen (und Erfahrungen) von einer »singulären Brutalität« bei den Vergewaltigungen war die Grundlage für die Angst vor den Soldaten der Roten Armee. Diesen Emotionen entgegengesetzt nahmen die Kinder die sowjetischen Soldaten oftmals tatsächlich als Befreier im vitalen Sinne wahr. Mit ihrem Eintreffen endeten für sie die Erfahrungen von Bombardement und Eingesperrt-sein in den Bombenkellern. Aus den differenten Wahrnehmungen durch ihre eigene Behandlung und die ihrer Elterngeneration ergab sich ein Bild für die Jüngeren, dass ihre gute Behandlung durch die Sowjetsoldaten unverdient sei und sie deshalb in einer Rückerstattungsschuld stünden.65 Die soldatische Präsenz rief permanent eine Erinnerung wach, Teil eines Volkes zu sein, welches durch den deutschen Faschismus und seinen Krieg unentschuldbare Verbrechen an der Menschheit begangen hatte.66 Jener differente Eindruck, nach dem die Jüngeren mit dem Ende des Krieges eine vitale Befreiung, die Älteren hingegen einen Zusammenbruch konnotierten, wurde Basis für eine Adaption oder Ablehnung der antifaschistisch-demokratischen Umerziehung. Dabei blieb die Definition dessen, was antifaschistisch zu nennen war, in den Händen der SED und ihrer Staatsinstitutionen. »Die SED setzt das Werk der Kommunistischen Partei fort und erfüllt das Vermächtnis der antifaschistischen Widerstandskämpfer«67 heißt es in ihrem Programm. Konkret bedeutete das, dass nur eine klassenbewusste (kommunisti-
65 Engler, Wolfgang: Die Ostdeutschen (1999), S. 19. 66 Ebda., S. 26. 67 Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Einstimmig angenommen auf dem IX. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands am 18. bis 22. Mai 1976. S. 5. Brinks, Jan-Herman: DDRGeschichtswissenschaft (1992), S. 94.
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sche) Arbeiterklasse und ihre Parteiführung einen erneuten Faschismus verhindern könnten – wie Schmid68 richtig bemerkt schließt dies einen Antifaschismus jenseits von Kommunismus aus. Dadurch erwuchs eine kollektive Aufgabe, die bis 1989 andauern sollte: Die Veränderung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Arbeiterklasse, das Zurückdrängen des bürgerlichen Einflusses auf die Bevölkerung, wo er sich nicht der Hegemonie der Arbeiterklasse unterwarf, eine engere Anbindung der kleinbürgerlichen Schichten an die klassenbewusste Arbeiterklasse und die Vermittlung der »Positionen der sozialistischen Revolution«.69 Die vorgestellte Aufgabe der Bürgerinnen in dieser Neupositionierung als Antifaschistin war von nun an primär die Anerkennung der Führung der Partei mitsamt deren Selbstdefinition als Vorhut der Arbeiterklasse und dem politischen Vorrang eines Kampfes gegen den Imperialismus.70 Für den politischen Alltag bedeutete diese integrierende (und diskriminierende) Verengung des Antifaschismusbegriffs jedoch die eigenen politischen Praxen oder die des Nachbarn stets daran zu überprüfen, ob sie der Liebe zum antifaschistischen Staat DDR dienten oder hinter jeder Adaption einer politischen oder kulturellen Praxis aus dem nicht-sozialistischen Lager eine faschistische Praxis zu vermuten.71 Der Antifaschismusbegriff als wesentliche integrierende Ideologie72 war verengt worden auf eine kulturelle und politische Bejahung des Staates DDR unter der Führung der SED.
68 Schmid, Harald: »Wir Antifaschisten«. Zum Spannungsfeld generationeller Erfahrungen und politischer Ideologie in der DDR. In: Schmid, Harald u. Krzymianowska, Justyna (Hrsg.): Politische Erinnerung. Geschichte und kollektive Identität. Königshausen und Neumann, Würzburg 2007, S. 150 – 167. 69 Herausgeberkollegium unter der Leitung von Heitzer, Heinz: DDRGeschichte in der Übergangsperiode (1945 – 1961). Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Geschichte. Studienbibliothek DDR-Geschichtswissenschaft, Band 7, Akademieverlag, Berlin 1987, S. 85. 70 Vgl.: Schmid, Harald: »Wir Antifaschisten« (2007). 71 Vgl.: Ebda., S. 162f. 72 Wierling, Dorothee: Über die Liebe zum Staat – der Fall DDR. In: Historische Anthropologie. Heft 8, 2000, S. 236 – 263.
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Antifaschismus = Antiimperialismus Mit der Ablehnung der Stalinnoten, der Gründung der beiden Staaten und der immer weiter fortschreitenden Einbindung beider deutscher Staaten in gegensätzliche Militärbündnisse veränderten sich auf der Regierungsebene die Prämissen der Nationenfrage von der antifaschistisch-humanistischen Umerziehung der Deutschen hinzu einer Vereinigung Deutschlands im Interesse seiner revolutionärsten Klasse. »Die Nationale Front des demokratischen Deutschlands (sah nun) ihre verpflichtende Aufgabe in der Erziehung aller Bürger zum sozialistischen Patriotismus [...], (zur) Liebe zum sozialistischen Vaterland.«73
Statt der antifaschistischen Erziehung wurde nun eine antiimperialistische Haltung, insbesondere gegen die USA forciert. Die signifikanten Zuschreibungen an eine Antifaschistin waren damit nicht mehr länger an den Widerstand gegen den Faschismus gebunden, sondern an das rechtzeitige Erkennen der Struktur, welche den Faschismus ermöglicht habe.74 Diese Struktur ergab sich aus der Definition des Faschismus als »offene Diktatur von Teilen des Finanzkapitals«75. Die Aussagen darüber, welche Kräfte fortschrittlich und welche reaktionär seien, sollten nach Aussagen von DDR-Geschichtswissenschaftlern dazu dienen, »die bürgerlich-demokratische Revolution unter der Führung der Arbeiterklasse«76 zu vollenden, um auf ihrer Grundlage den Sozialismus durch die Erziehung des sozialistischen Menschen aufzubauen. Die Zugehörigkeit zu den Antifaschistinnen wurde damit verengt auf den »Hauptwiderspruch: nämlich (den) unversöhnlichen Gegensatz [...] zwischen den grundlegend Interessen der breitesten Volksmassen auf der einen Seite, der faschistischen Großbourgeoisie und dem Militarismus auf der anderen Seite.«77
Bei Anerkennung dieser Aussage konnte eine Nachkriegsprävention einer faschistischen Gesellschaftsordnung nur mittels der Herrschaft 73 Rogowski, Hermann: Nationale Front zum Schutz des sozialistischen Vaterlandes. In: Schriftenreihe zur Militärpolitik, Heft 19, 1961, S. 57. 74 Vgl.: Schmid, Harald: »Wir Antifaschisten« (2007). 75 Heitzer, Heinz: DDR-Geschichte (1987), S. 83. 76 Ebda. 77 Ebda.
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der Arbeiterklasse (genauer der Herrschaft ihrer Führungspartei) erfolgen und nicht durch eine bürgerliche Demokratie nach westeuropäischem Vorbild.78 Publizistisch wurde es gefördert, den Bürgerinnen der DDR erfahrbar zu machen, dass nur in der DDR eine solche Prävention erfolge, in der BRD hingegen die alten Eliten wieder in ihre Positionen gehoben wurden.79 Der wahrnehmbare soziale Umbruch durch Bodenreformen, Enteignungen und dem Austausch der Würdenträger und höherer Parteimitglieder der NSDAP gegen neugeschulte politisch Unbelastete verstärkte das Gefühl einen antifaschistischen Staat aufzubauen, mit dessen kapitalismuskritischen Zielen sich mehr als nur die Kommunistinnen identifizieren konnten. Eine hervorgehobene Rolle in der Erzählung vom Faschismus als Dreh- und Angelpunkt der nationalstaatlichen Herkunft, Identität und Gemeinschaft hat die besondere Betonung des Widerstands der Kommunistinnen im »Dritten Reich«. Indem die (tatsächlich immense) Verfolgung der Kommunisten während des »Dritten Reiches« quasi zum Hauptziel der deutschen Faschisten deklariert und der Holocaust nie wirklich thematisiert wurde80, hatte keine andere soziale Gruppe eine »Chance« Opfer des Faschismus gewesen zu sein. Die kulturellen, sozialen und politischen Praxen der Wiedergutmachung, welche die einzelne Bürgerin vollzog, konnten demnach nur an die Ehrung der kommunistischen Opfer gebunden werden. Eine Tatsache, welche in Verbindung mit dem Personenkult um die kommunistischen Opfer (z.B. Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Ernst Thälmann, Jonny Schehr) eine weitere nationalstaatliche Komponente erhielt, da in den Ritualen ihrer Ehrung Emotionen der Liebe und der Bewunderung für diese Personen an den Staat gebunden wurden. Wie oben bereits dargestellt, bleiben alle staatlichen Programme zur nationalen Identifizierung abstrakt und wirkungslos, wenn sie nicht das konkrete Subjekt, seine Seele und seinen Körper treffen und beachten. Dabei sind die Bedingungen, unter denen das Subjekt die staat-
78 Forum. Zeitung der Studenten und der junge Intelligenz. Hrsg. Vom Zentralrat der FDJ. 22/1963, S. 4. 79 Staritz, Dietrich: Geschichte der DDR (1996), S. 70. 80 Vgl.: Schmid, Harald: »Wir Antifaschisten« (2007). Oder: Ders.: Die SED und die Juden. Rückgriff auf eine fragile Ritualisierung. In: Horch und Guck. Historisch-literarische Zeitschrift des Bürgerkomitees »15. Januar« Jg. 15/2006, Heft 56, S. 30 – 34.
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lichen Programme adaptiert keineswegs einheitlich, kennen aber doch historisch kollektive Ähnlichkeiten. Diese emotionalen Strukturen, die eine kollektive Entsprechung der Identitäten entlang der staatlichen Anrufung bedingen, werde ich folgend aufzeigen. Emotionale Bedingungen Die staatliche Transformation nationaler Gefühle in die biografischen Erzählungen und deren performative kulturelle Praxen zeigt Dorothee Wierling in einem Projekt der Oral History auf, in welchem sie Mentalitätsgeschichte, Strukturgeschichte und Biografieforschung miteinander verbindet81. In narrativen Interviews mit Personen, die im ersten Jahr der DDR geboren wurden, gelingt ihr die Beschreibung, wie eine nationale Erzählung zur Struktur der biografischen Erzählung der Subjekte und damit zu deren Biografie wird. So erzählen die befragten Personen allesamt, wie sie durch die nationalen Brüche hindurch (13. August 1961 / der Einmarsch der Warschauer Vertragsstaaten in die ýSSR / 9.November 1989) ihr Handeln, ihre Biografie werten und ausgestalten – entlang der familiären und nationalen Erzählungen zum Faschismus. Dabei werden die sozialen und nationalen Normen und Wissensfelder der Herrschenden zur Handlungsgrundlage und zur narrativen Ordnung der Lebensläufe der Interviewten selbst. Wierling arbeitet heraus, dass die Nachkriegskinder ihr Verhältnis zum Staat DDR entweder eng an das Fehlen des Vaters oder an seine Rolle als »Staatsvater« koppeln. Als Letztere bezeichnet Wierling diejenigen Männer (selten auch Frauen), die in den 1920er Jahren geboren wurden und im neuen Staat Positionen im Dienste der Partei oder des Staates einnahmen. Im Falle des fehlenden Vaters sei aus der kindlichen Auseinandersetzung eine Übertragung des Vaterwunsches auf den Staat und seine Instanzen entstanden. Die kindliche Auseinandersetzung mit den »Staatsvätern« wiederum habe zu einer besonderen Erfahrung von Repression und Autorität geführt, die das Verhältnis der Kinder zu den Autoritätspersonen und sogar zu den staatlichen Institutionen prägte. »Sie repräsentierten also den Staat gegenüber dem Kind – allerdings auf höchst ambivalente Weise, da sie auch die Kosten der eigenen Unterwerfung nicht
81 Wierling, Dorothee: Geboren im Jahr Eins (2002).
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Im Gegensatz dazu wird der Umgang mit der Mutter von einer starken Identifikation gekennzeichnet, bei der die mütterlichen Belastungen und Leidenserfahrungen in ein helfendes Mitleid münden – dem Anspruch der Mutter so viel wie möglich zur Seite zu stehen. Die Erfahrungen der Mutter werden dabei mit der Mangelsituation und den Anstrengungen aus den Kriegs- und Faschismuserfahrungen gleichgesetzt. Und so sind Emotionen wie Liebe, Mitleid und Streben nach Anerkennung in der Gesellschaft83 eng verbunden mit dem Bemühen die Leiden und die Mangelerfahrungen, die sich aus dem Faschismus ergeben haben, gesellschaftlich bekämpfen zu wollen. Diesen Emotionen hinsichtlich des eigenen gesellschaftlichen Verhaltens stehen die Emotionen in Bezug auf den Staat und seine Institutionen gegenüber – hingebende Liebe zum staatlichen Projekt, Verehrung der ermordeten Antifaschisten und aufopferndes Engagement für die staatlichen Institutionen.84 Sie alle münden in einer Aufforderung zum Glücklichsein, dass eng an die Zugehörigkeit zum neuen Staat gebunden ist. »Glück und Frohsinn, zusammen mit der Betonung von Arbeit und Aufbau, bilden nun die zentralen Werte – bleiben Liebe und Dankbarkeit doch die bestimmenden Haltungen, die den Kindern im Hinblick auf die idealisierten Gesamtmütter Klasse – Partei – Regierung unterstellt bzw. zugemutet werden.«85
82 Wierling, Dorothee: Geboren im Jahr Eins (2002), S. 111. 83 Die Zuschreibung von femininen Eigenschaften an Frauen und maskulinen Eigenschaften an Männer bedeutet nicht, dass ich diesen Zuweisungen eine »Natürlichkeit« zugrunde lege. Vielmehr möchte ich damit auch auf die historische, genderkonstituierende Differenz in den Anrufungen der Emotionen verweisen. Die Bürgerinnen werden in differierenden geschlechtskonnotierten Emotionen angerufen um bestimmte Emotionen auf Staat oder Gesellschaft übertragen zu können. Gerade die historische Erfahrung von der Mutter als der hart arbeitenden und liebenden und der strenge, aber gütige Vater ermöglicht es genderspezifische Emotionen in eine Unterteilung von Vater = Staat und Mutter = Gesellschaft vorzunehmen. Ich danke Kerstin Bronner für diesen Hinweis. 84 Wierling, Dorothee: Geboren im Jahr Eins (2002), S. 111. 85 Ebda., S. 109.
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Es ist diese Familialisierung der nationalen Gefühle, die Übertragung familiärer Emotionen als kultureller Praxis der eigenen Staatsbürgerschaft, welche die Normalität des Arbeiters mit dem staatlichen Sicherheitsversprechen so nachhaltig verbindet. Schutzversprechen und Rituale des Nationalen gerieren eine nationale Emotion, welche familiäre Gefühle nachhaltig auf eine gedachte Gemeinschaft überträgt. Diese »Heimat im Sozialen« ist in der DDR unauflösbar verbunden mit der Norm des Arbeiters. Deshalb bedeutet nationale Emotion im Falle der DDR ein nationales Gemeinschaftsgefühl zur »Klasse« der Werktätigen. Damit einher geht selbstverständlich auch eine kollektive und individuelle Identifizierung innerhalb einer gedachten Gemeinschaft von Werktätigen – unabhängig aller genderspezifischen, schichtspezifischen oder weltanschaulichen Differenzen. Ganz im Sinne der gelungenen Integration nach innen mittels nationaler Anrufung und einer Politik des Sozialen. Die von Wierling befragten Personen bestätigen mit der Erzählung ihrer Biografie die nationalstaatliche Meistererzählung. (Anti-)Faschismus, Glücksversprechen und Glücksforderung sowie nationale Gemeinschaft der Arbeiterinnen sind in ihren Biografien sowohl rückblickend als auch gegenwartsbezogen und zukunftsorientiert die Balancierstange. Brüche und Lebensverläufe hangeln entlang der kollektiven Erzählungen und werden somit zur Struktur der eigenen Positionierung und zur Struktur der Biografie.
4.3 Z USAMMENFASSUNG Die Nationalisierung der Subjekte in der DDR geschieht durch eine Erzählung, in welcher permanent von einer Verbindung von Faschismus und Kapitalismus gesprochen wird, um sich von ihr abgrenzen zu können. In der Transformation der nationalen, sozialen und kulturellen Identifizierung mit dem Staat wird für die Staatsbürgerinnen ein gedachter kameradschaftlicher Verbund von Gleichen produziert. Für das Individuum wird die Nation damit einerseits zum Objekt der antikapitalistischen und arbeitsorientierten Begierde und andererseits zum Garanten von Schutz und Sicherheit vor den Feinden der Arbeit und Arbeitenden. Die kulturellen Praxen jener Integrationsideologie werden in nationalen Emotionen kodiert und definieren ihrerseits Emotionen wie
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Schuld, Trauer, Hoffnung, Liebe oder Hass zu nationalen Kategorien. Über ihre Anrufung in Ritualen und Mythen wird aus der »gedachten Gemeinschaft« eine »emotionale Gemeinschaft«. Die Einzelne geht als Teil einer hierarchisierten und funktionalen Gesellschaft auf, in welcher andere Differenzen wie Geschlecht oder Klasse egalisiert werden. Die nationale Kodierung ist demnach auch immer ein Aspekt der Disziplinierung der Einzelnen und der Stabilisierung des Herrschaftssystems. Diese Emotionalisierung erfolgte in der DDR hauptsächlich über die Konstituierung einer Heimat als Arbeiterklasse und einem Vaterland, in welchem soziale Rechte in der Verbindung Arbeit = Abwesenheit von Armut gewährleistet werden konnten. Die Angehörigen der in dieser Arbeit untersuchten Generation waren als Angehörige der Nachkriegsjahrgänge auf eine spezielle Art vom Wissensfeld Antifaschismus = Arbeit und Wohlstand = Sozialismus »betroffen«. Verluste (insbesondere der Vaterfiguren) führten zu einer ambivalenten und abstrakten Projektion des Vaterwunsches auf den Staat und seine Instanzen. Das Miterleben der Leidenserfahrungen der Mutter hingegen, ihrer Anstrengungen in den Nachkriegsjahren und das Bedürfnis, sie helfend zu unterstützen, mündete in einer Identifikation mit der gedachten Gemeinschaft der Werktätigen und in einer Dauerbereitschaft sich an dieser Gemeinschaft als aktives, arbeitendes Individuum zu beteiligen.86 Die Umstrukturierung der nationalen Kodierung von Emotionen war dabei aber nicht nur an die Verluste und Leidenserfahrungen der Nachkriegskinder gekoppelt. Von besonderer Bedeutung dieser emotionalen nationalen Integrationsideologie war der Glücksauftrag, der in der Dreierkonstellation Staat ļ Eltern ļ Kind die familiären Gefühle der Kinder zu familiären Gefühlen für die Gemeinschaft der Werktätigen umwandeln sollte. Die Verehrung von ermordeten Antifaschisten und die Aufforderung ihrem Kampfe zu folgen, das Versprechen von Frieden, Arbeit und Wohlstand mündete in einen Glücksauftrag, den nicht nur die Kinder annahmen, sondern auch ihren Eltern vor Augen führen konnte, dass das Wohl ihrer eigenen Kinder (ihrerseits auch Hoffnungsträger für die Eltern) durch den Staat DDR gesichert war.
86 Zu der Kategorie der Arbeit als Identifikationskategorie, welche die »Dankesgeneration« von der Generation ihrer Töchter und Enkelinnen unterscheidet siehe: Schüle, Annegret: Junge Hüpfer (2006).
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Aus diesem Glücksversprechen mit einer neuen Heimat im Sozialen entstand eine bipolare Begehrensstruktur des Schutzes durch den Staat, seine Institutionen und die Einrichtungen der Gesellschaft. Diese Begehrensstruktur liest sich wie eine Bilderbuchbeschreibung der Analyse Foucaults von der dichotomischen rassistischen Auseinandersetzung im modernen Staat. Die andere Klasse wird nicht nur zur weltweiten und gleichzeitig territorial greifbaren anderen Nation, sie wird auch zur permanenten Bedrohung der Körper und Seele ihrer Widersacher und zur permanenten Aufforderung sich in den hegemonialen Bewertungs- und Handlungsmustern zu integrieren. Diese Bedrohung und die Integrationsanforderung werden neben dem Glücksversprechen und der Heimat des Sozialen zur Grundlage für jenen Willen zum Staat bzw. zu einer Gesellschaft, die ihren Schutz und ihre Sicherheit im Staat findet, den Foucault als moderne Regierung der Subjekte beschreibt.
5. Nationale Identität im Spannungsfeld der Diskurse
Sich auf Nation zu berufen, die eigene Identität an einer Zugehörigkeit zur Nation auszumachen, oder gar Nationalismus zum Prinzip der eigenen Lebensführung zu erklären, ist selten eine bewusste politische Entscheidung und Kultur. Vielmehr sind es die kulturellen Praktiken des Alltäglichen, die auf nationale Ethik hindeuten, auch dann, wenn die Handelnden selbst der Meinung sind, keine nationale/nationalistische Identität und Ethik an den Tag zu legen. Dabei ist die Differenz zwischen einer bewussten Identifizierung mit den Symbolen, Strukturen und Traditionen des Nationalen und den kulturell-unbewussten Politiken des Nationalen abhängig vom gesellschaftlichen Stellenwert des Nationalismus/Patriotismus. Während in der gegenwärtigen Republik dem permanent abverlangten Verhältnis einer nationalen Zugehörigkeit ein Bekenntnis folgen muss, nicht nationalistisch zu sein, sondern nur aufgrund einer »Natürlichkeit« der Geburt nicht anders zu können, sah das im ersten Nachkriegsjahrzehnt noch ganz anders aus. Im Sprechen über die Nation findet sich damals eine deutliche Positionierung als Staatsbürgerin des besseren Deutschlands. Inhalte dieser Positionierung waren das Jenseits von Faschismus, Krieg und Armut und ein Diesseits in und mit Arbeit. Entlang dieser Inhalte wurden individuelle und familiäre Glücksansprüche auf eine gedachte Gemeinschaft übertragen und die gedachte Gemeinschaft so zu einer emotionalen Gemeinschaft »gemacht«. Als solchermaßen Angehörige des besseren Deutschlands, mit den impliziten Ethiken und kulturellen Praktiken, wurde die eigene Identität Teil einer binären Identitätskonstruktion. Die unbewussten Handlungen sind dabei, ebenso wie die bewussten Bekenntnisse, Teil einer
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historisch-teleologischen Ordnung, in der die Geschichte der eigenen Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Identität permanent als Geschichte des Krieges erzählt wird, die es nun zu verteidigen gilt. (Z.B. »Wir haben hier alles aufgebaut und die faulen Griechen wollen unser Geld, um ihre Rente zu finanzieren«1.) Aus der gedachten und emotionalen Gemeinschaft mit der Arbeiterklasse ist eine quasi-kriegerische Konfrontation zu den Nichtarbeitenden geworden. Der Nationalismus in den unbewussten Handlungen hat eine politische Referenz bekommen. Ich werde im Folgenden die kognitiven Urteile und emotionalen Praktiken des Nationalen zusammenführen, die aus der literaturdidaktischen, schulpolitischen und staats- und familienideologischen Anrufung erfolgen und in der kulturellen Praxis des Aufsatz-Schreibens ihre Bebilderung erhalten. Wenn sich die Schülerin im Entscheiden zwischen diversen Diskursen des Nationalen eine eigene Identität des Nationalen »erschafft«, so tut sie das nicht bewusst, wie die Analyse der Aufsätze gezeigt hat. Aber sie trifft damit Entscheidungen, die für die bewusste und unbewusste Struktur ihrer Identität im staatsbürgerlichen und nationalen Gefüge Bedeutung haben. Im Dispositiv von Arbeit und dem Kriegsverhältnis zu NichtArbeit, auf dem Tableau der Positionierung als Angehörige eines besseren Deutschlands, einer Generation der Zukunft, müssen also konkrete Praktiken des Emotionalen zu einer solchen (un)bewussten Entscheidung der Schülerin führen. Was sind nun die konkreten kognitiven Referenzen, die eine emotionale Identitätsausbildung im Entscheiden zwischen Diskursen zustande bringen? Wie ist die gedachte Gemeinschaft bebildert, welche Zugehörigkeits- und Feindbilder kennt sie und welches Wissen stellt die Gemeinschaft zur Verfügung, um eine Identität zwischen Zugehörigkeit und Feindlichkeit auszubilden? Welche Gestalt haben die emotionalen Bindemittel, die eine Ethik des Nationalen zur eigenen Identität machen und darüber zu einem »spezifischen Nationalismus der Arbeit« führen?
1
Zur Anti-Griechenland-Kampagne siehe bspw.: http://www.gs-marburg. de/texte/2010-05-05bild-hetze-g.html. aktuell am 27.05.2010.
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5.1 N ATIONALE G EMEINSCHAFT Eine Nation bündelt emotionale Praktiken des »zu Hause«-Fühlens und »Sich-in-den-Kulturen-der-anderen-Wiedererkennens« zu einem, von den individuellen Interessen zweckentfremdeten Wunsch, diese vorgestellte Gemeinschaft zu erweitern und einer gemeinsamen staatlichen Verwaltung zu unterstellen. Die Nachkriegsgeneration in der DDR findet ihre Zugehörigkeit sowohl emotional als auch kognitiv in der Gemeinschaft der Werktätigen. Wierling2 hat in der Bearbeitung der lebensgeschichtlichen Interviews die Rahmenbedingungen von Zugehörigkeiten, Stabilitäten, Normalitäten und Kontinuitäten für diese Generation erschöpfend aufgezeigt. Dabei zeigt sie deutlich, wie die Erzählung des eigenen Lebenslaufes und damit die Narration der eigenen Identitätswerdung permanent entlang einer Norm austariert werden. Die Erzählung des eigenen Lebenslaufes, die Be-Schreibung der eigenen Identität wird also strukturiert von einer kulturpraktischen Norm(alität), die sich im Falle der Nachkriegsgeneration aus den politischen, mentalen oder familiären Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre speist und den großen Erzählungen über nationale Geschichte und Identität (Kapitel 3 dieser Arbeit). Nun waren diese Kriegsjahre auch in späteren Jahrzehnten in der DDR visuell deutlicher präsent als in der BRD. Schon allein deshalb konnten sich die großen Erzählungen vom teleologischen Geschichtsverlauf, der Zäsur des Antifaschismus und der vorbestimmten Ankunft in der Heimat der Arbeiter – der DDR – entlang der (Nach-)Kriegserfahrungen etablieren. Der Erfolg der derartigen nationalen Identitätserzählungen speiste sich aus den konkreten Erfahrungen der meisten Bürgerinnen. Lebensmittelkarten, Arbeiten und Wohnen in den verschiedenen Zonen, zerstörte Häuser, Umsiedlungen etc. gehörten zur täglichen Lebenspraxis. In Anlehnung an die Definition der Nation durch Stalin wurde den Kindern und Schülern, den zu Staatsbürgern zu Erziehenden, eine Liebe zur Nation in der Nation nahe gebracht, die an die Komponenten der Sprache, des Raums und einer vorgestellten gemeinschaftlichen Kultur gekoppelt war. Diese Liebe bezog sich auf die vorgefundenen Erfahrungen über Raum, Geschichte, Sprache und Kultur, welche die Schülerinnen aus dem Familienalltag mitbrachten und beinhaltete eine
2
Wierling, Dorothee: Geboren im Jahr Eins (2002).
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naturalisierte Liebe zur Heimatlandschaft, Sprache, Festritualen und zur Arbeit bzw. der deutschen Arbeiterklasse. Ich möchte hier einen Einblick in die Art und Weise geben, wie im Schulunterricht diese Raum, Geschichts-, und Kulturerfahrungen zum selbstverständlichen Bestandteil einer nationalen Identität gemacht wurden. Ausgehend von der gedachten und emotionalen Gemeinschaft mit der Arbeiterklasse erfolgte eine Konstruktion nationaler Identität, die nun konkret auf die Landschaft und Staatsgrenzen der DDR übertragen wurde und dennoch die Idee einer gesamtdeutschen nationalen Gemeinschaft aufrecht erhielt, was das folgende Beispiel aus einem Erdkundebuch durch seine häufige Verwendung des Personalpronomens »unser« beweist: »Die Schüler werden angesprochen auf ›euren Heimatort, euren Heimatkreis, euren Heimatbezirk, eure schöne Heimat‹; sie kennen die Arbeit ›unserer Werktätigen, unserer Arbeiter und Bauern‹; die ›volkseigenen Betriebe gehören dem ganzen Volk‹, ›heute gehören alle Bauern unserer Republik zu landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften‹, ›unser Staat ist ein Arbeiterund Bauernstaat, [...] unsere Arbeiter und Bauern enteigneten die Kriegsverbrecher‹, die Sowjetunion stand ›beim Aufbau unseres Staates mit Rat und Tat zur Seite‹, denn ›bis zum Jahre 1945 gab es auf unserem Gebiet noch keinen Arbeiter- und Bauernstaat‹.«3
In der Fibel – dem ersten Buch, welches die staatlichen Welterklärungsmuster konzentriert an die Kinder heranträgt – wird in Bildern und Texten die Welt als eine Nation der Arbeiter dargestellt. Eine Nation, die nicht an die Grenzen der DDR gebunden sei, sondern die Werktätigen in Gesamtdeutschland mit einbezog. »›Deutschland ist unser Vaterland. Alle arbeiten, damit es ein schönes Land wird.‹ Was haben die Menschen in Deutschland gemeinsam? ›Überall in Deutschland sprechen die Menschen deutsch. [...] Überall in Deutschland gehen die Kinder in die Schule. Sie lernen deutsch lesen und schreiben, sie spielen fröhlich zusammen und singen deutsche Lieder wie wir – Die Jungen Pio-
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Autorenkollektiv: Die Deutsche Demokratische Republik, unser sozialistisches Vaterland. Lehrbuch der Erdkunde für die 5. Klasse. Volk und Wissen, Berlin 1960, S. 12 – 18. In: Wierling, Geboren im Jahr Eins (2002), S. 123.
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niere rufen sich überall zu: ›Seid bereit! Immer bereit!‹ Alle sprechen wir dieselbe Sprache. Alle haben wir ein Vaterland: Deutschland‹.«4
Die dazugehörigen Illustrationen unterstützen die deutsche Zusammengehörigkeit über die Kategorie der Arbeit. Die dargestellten Kinder ahmen spielend die Welt der Erwachsenen nach, sie gärtnern oder bauen und ihre Berufswünsche sind Schlosser, Bauer, Bäcker, Baumeister, Traktoristin, Schaffnerin, Volkspolizistin, Lehrerin oder Ärztin. Die, am Erwachsenenbild ausgerichtete, Identifikation im Spiel oder im Berufswunsch wird durch einen Mann an der Werkbank und eine Frau, die an der Nähmaschine eine schwarz-rot-goldene Fahne näht, verbildlicht. Das Angebot einer Zugehörigkeit geschah also in dem Versuch »die Kinder davon zu überzeugen, dass die Liebe und die Arbeit der Eltern eine Entsprechung in der Liebe und der Arbeit der Republik, bzw. Partei, bzw. Arbeiterklasse findet und dass sie, die Kinder, das Objekt dieser geteilten Liebe und Arbeit sind.«5
Diese Zugehörigkeit zeichnet sich durch eine egalisierende und schichtenübergreifende gedachte Gemeinschaft aus. Denn da alle in der DDR Lebenden Werktätige waren und alle im Aufbau des Sozialismus einen Gewinn für sich und die Gemeinschaft erkennen sollten, so waren auch folglich alle sozialistische, antifaschistische Werktätige. Die Nichtsozialisten, die Faschisten waren aus dem Territorium der werktätigen Gemeinschaft verschwunden.6 Die Mitglieder der werktätigen Gemeinschaft hatten daher einen Staat erhalten. Doch da diese Liebe den Hass gegen die weltweiten Bedroher der Arbeiterklasse einschloss, konnte das Wissen über eine nationale Zugehörigkeit nicht bei der Arbeiterklasse im Territorium DDR enden. 4
Feuer, Johannes und Alt, Robert: Lesen und Lernen. Volk und Wissen, Berlin 1955.
5
Wierling, Dorothee: Geboren im Jahr Eins (2002), S. 111.
6
Haury, Thomas: Von ›den Finanzkapitalisten‹ zu ›den Zionisten‹ – das »werktätige Volk« und seine Feinde. Spezifika des Wechselspiels von kommunistischen Selbst- und Feindbildern in der frühen DDR. In: Satjukow, Silke und Gries, Rainer (Hrsg.): Unsere Feinde. Konstruktionen des Anderen im Sozialismus. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2004, S. 107 – 126. Hier S. 108f.
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Schließlich waren auch die Arbeiter anderer Länder bzw. anderer Zonen Angehörige der Gemeinschaft, wenn auch durch politische Bedingungen getrennt (Besatzungspolitik). Und so wurden »die Völker« zur antagonistischen Gegenseite einer »terroristischen Mörderinternationale von Wall Street«7. Die Schaffenden, die Arbeitenden wurden somit zur eigentlichen Nation, ihre Gegner zu grundlegend Nations- und »Volksfremden«. Hatten bei Marx und Engels noch die Arbeiter kein Vaterland, so waren nun die antagonistischen Gegner der Arbeiterklasse zu vaterlandslosen Gesellen geworden.8 »Die bourgeoisen ›Geldmenschen‹, die Händler [...], die Businessmen und Bankiers kennen nur eine einzige Bindung und ein einziges Band: Das Geld. [...] ihre ursprüngliche Heimat verwandelt sich auf ihren Börsen in ein Geldgeschäft, in eine Finanzspekulation. [...] Völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal seiner Heimat und seines Volkes, zynische Verachtung aller [...] Verpflichtungen gegenüber seiner Nation, Verschacherung und Verrat seines Volkes, darin besteht die Weltanschauung des kosmopolitischen Bourgeois.«9
Die Identifizierung mit den Angehörigen einer nationalen Arbeiterklasse geschieht, das zeigt dieses Beispiel, permanent durch das »Auge des Feindes«. Diese Feinde sind die andere Rasse im Sinne Foucaults, deren militärisch-kriegerische Auseinandersetzung von Niederlagen und Siegen geprägt ist und eine Reinhaltung der eigenen Rasse/Klasse von diesen Einflüssen bedeutet. Diese Reinhaltung kennt dabei sowohl das Überschreiten der Grenzen des Territoriums in der Verbrüderung
7
Ebda., S. 112.
8
In diesem Zusammenhang ist auch die Kampagne gegen den Kosmopolitismus seit 1949 zu sehen, in welcher die A-Nationalität aufs Engste mit einer US-amerikanischen Lebensweise (Kino, Mode, Musik, Krimis, Pornos, Comics) verknüpft wurde, die vorgeblich »Seele der Völker« – also ihre nationale Kultur töten wolle. Zur Antikosmopolitismuskampagne in der DDR u.a.: Haury, Thomas: Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR. Verlag Hamburger Edition, Hamburg 2002.
9
Hoffmann, Ernst: Die Stellung des Marxismus zum bürgerlichen Kosmopolitismus. In: Einheit. Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus. Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (Hrsg.). Jg. 4/1949, Heft 7, S. 606 – 615. Hier S. 611.
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mit den anderen Völkern (=Arbeitern), beharrt aber auf eine »natürliche« Bindung an den Heimatraum.
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Die Geschichtstheorie Michel Foucaults lenkt den Blickwinkel darauf, wie die Regierung der Körper und Seelen durch Zustimmung der Individuen ermöglicht wird. Diese Zustimmung basiert zuallererst auf Identifizierungen mit einer gedachten Gemeinschaft und dem Begehren, jene Identitäten von einem schützenden Staat gesichert zu bekommen. Aber einer Identifizierung mit einer Gemeinschaft bedeutet auch immer, ihre Grenzen und Ausgrenzungen anzuerkennen. So schreibt Foucault in »Wahnsinn und Gesellschaft«, seiner ersten großen Untersuchung zur Konstitution des Einen (bürgerlichen Subjektes) über eine Ausgrenzung eines konkreten Anderen (Wahnsinnigen, Kriminellen, Pathologischen): »Man müsste eine Geschichte der Grenzen schreiben – dieser obskuren Gesten, die, sobald sie ausgeführt, notwendigerweise schon vergessen sind -, mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie – außerhalb liegt; und während ihrer ganzen Geschichte sagt diese geschaffene Leere, dieser freie Raum, durch den sie sich isoliert, ganz genau soviel über sie aus wie über ihre Werte; denn ihre Werte erhält und wahrt sie in der Kontinuität der Geschichte, aber in dem Gebiet, von dem wir reden wollen, trifft sie ihre entscheidende Wahl.«10
Konstruiert wird also ein konkretes Freund-Feindbild, das an entscheidender Stelle die Identifizierung der Wir-Gruppe betrifft. Im Falle der DDR: Der (faschistoide und/oder kapitalistische) Nichtarbeitende.11 Auf diese Weise entsteht eine effiziente Führungsstrategie, da die Angehörigen der Wir-Gruppe zur Abwehr der Bedrohung Maßnahmen akzeptieren und einfordern, die ihr eigenes Sein, ihr Handeln betreffen. Und so gelingt es dem Staat mit seiner Freund-Feindkonstruktion nicht nur die Bevölkerung zu regieren, indem er bestimmtes Verhalten als notwendig bezeichnet, um Schutz vor dem Feind zu gewährleisten 10 Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 19814, S. 9. 11 Satjukow, Silke und Gries, Rainer: Feindbilder des Sozialismus. Eine theoretische Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Unsere Feinde (2004), S. 29.
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(Kontrolle, Gesetze, Erziehung). Auch die »andere« Gruppe wird in ihrer Anrufung als solche aufgefordert, sich in der hierarchisch höher gestellten Gruppe zu integrieren. Sie soll, wie Ingrid Jungwirth treffend beschreibt, eine Identität erlangen, die an der Identität der hegemonialen Gruppe ausgerichtet ist.12 Eine wesentliche Bedingung dieser Führung durch FreundFeindkonstruktionen ist die räumliche, die territoriale Abgrenzung. Entlang der staatlichen Grenzen wird die Zugehörigkeit und Bedrohung13 auch in der DDR dingfest gemacht. In den Schulbüchern (welche als erste Lehrmittel die Schülerinnen an einen neuen Heimatbegriff heranführen sollen) wird diese Unterscheidung insbesondere durch das Possessivpronomen »unser« etabliert. Die Überschriften in der Fibel »Lesen und Lernen«14 betonen diese Zugehörigkeiten aufs Genauste und benennen auch diejenigen, welche jene Orte der Zugehörigkeit (»unsere Republik«, »unser Rostock«...) angreifen wollen: »die Kriegstreiber im Westen [...] würden sich sogar nicht scheuen, unser Vaterland mit Atomwaffen zu überfallen.«15 Die nationale und individuelle Zugehörigkeit ist demnach eng an ein Freund-Feind-Bild der Klassenauseinandersetzung gekoppelt, die konkrete territoriale Zugehörigkeiten zugeschrieben bekommt. »Das klare Freund-Feind-Bild ist in der Klassenauseinandersetzung für den einzelnen unerlässlich, denn es gibt ihm die notwendige ideologische Orientierung und bestimmt seine persönliche Haltung unter den verschiedenen Formen des Klassenkampfes. Als Bestandteil der Ideologie und des gesellschaftlichen Bewusstseins bringt es in konzentrierter Weise die spezifischen Interessen einer Klasse oder – wie in der sozialistischen Gesellschaft – einer ganzen Menschengemeinschaft zu den verbündeten und zu den feindlichen Kräften zum Ausdruck. Es dient der Verfestigung bestimmter Lebens- und Verhaltenswei-
12 Jungwirth, Ingrid: Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften (1997), Kapitel 5. 13 Wierling, Dorothee: Geboren im Jahr Eins (2002), S. 123. 14 Feuer, Johannes und Alt, Robert: Lesen und Lernen (1955). 15 Ebda., S. 17.
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sen und beeinflusst das Gesamtsystem der politischen Einstellungen und Haltungen.«16
Diese Feindbildpräsentation soll also die sozialen Lebens- und Verhaltensweisen strukturieren und verfestigen. Einmal implantierte Feindbilder sind langlebig und es wird an ihnen in Krisen- und in Friedenszeiten als Orientierungsdiktate festgehalten. Dabei gilt es nicht nur den Feind als solches zu erkennen und ihn als Träger eines bestimmten ideologischen Feindsystems zu identifizieren. Im Regelfall erscheint die Vernichtung des Feindes als politische und moralische Notwendigkeit, die sich aus den Ängsten um die eigene körperliche Integrität speist, während die als bedrohlich empfundene Gruppe als übermächtig präsent wahrgenommen wird. Die Annahme oder Verweigerung einer solchen Bedrohungserfahrung ist also eng an das eigene Selbstwertgefühl gebunden. »Gerade diese latente und zuweilen manifeste Bedrohung des zerbrechlichen Selbst aber bildet die Nahtstelle zwischen der Selbstwertproblematik des Einzelnen und dem Angebot einer jeden Gruppe, diese Selbstwertproblematik aufzufangen. Denn in der Identifikation mit der als machtvoll und tragend erlebten Gruppe und deren Zielen besteht für den Einzelnen die Möglichkeit, das gefährdete Selbst zu stabilisieren – im Sinne phantasierter Teilhabe an Stärke, Größe und Dauerhaftigkeit.«17
Das Freund-Feindbild der marxistisch-leninistischen Weltanschauung ist dichotomisch strukturiert, gilt doch der Kampf der antagonistischen Gegensätze als unmittelbare Ursache des Fortschritts.18 Dieser »Widerspruch der gegenwärtigen Epoche« (bei Lenin noch auf den Kapitalismus selbst bezogen) wird in der Blockkonfrontation zu einem antagonistischen Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus, repräsentiert durch die Protagonisten USA und UdSSR. In dieser Auseinan-
16 Adam, Horst: Zur Entwicklung des Freund-Feind-Bildes im Staatsbürgerkundeunterricht der Klassen 7 und 8. Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde (1970), Heft 2, S. 141 – 151. Hier S. 142. 17 Satjukow, Silke und Gries, Rainer: Feindbilder des Sozialismus (2004), S. 18. 18 Dialektischer und historischer Materialismus, Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium. Berlin/DDR 1977, S. 203.
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dersetzung werden die dem Monopolkapitalismus zugeschriebenen Eigenschaften Imperialismus und Militarismus zur sinnbildlichen Bedrohung des »Friedenslagers«, das Eigentum an Produktionsmitteln wird zur Bedrohung des »Volkes«. In dieses polare Weltbild ordnen sich die beiden deutschen Staaten ein: Westberlin und die BRD als Orte des Revanchismus und Faschismus werden zu Feinden des Sozialismus und damit auch der DDR. Diese Bipolarität wird noch einmal manifestiert, indem Antifaschismus oder Faschismus zur wesentlichen Systemeigenschaft erklärt werden.19 Auf der Seite des kapitalistischen Westens steht der ausgebeutete und entrechtete Mensch – auf der Seite des sozialistischen Ostens der wissende, gerechte, bessere und aktivere Mensch. Die Klassengesellschaft im Westen auf der einen Seite, die klassenlose Gesellschaft im Osten auf der anderen.20 Die Kommunikation dieser Freund-Feind-Polarität durch Kinderzeitschriften, Schule, Lehrerinnen, Fernsehen oder Kino war in der DDR bis auf die kleinste Ebene Angelegenheit der staatlichen Regulation. Dabei ging es nicht nur darum, abstrakte Vorstellungen von Feind und Freund zu schaffen, »vielmehr musste ›das Freund-Feind-Bild mit typischen Vorstellungen, Erkenntnissen, Begriffen und Überzeugungen über gesellschaftliche Probleme, insbesondere über den Zusammenhang zwischen Imperialismus – Sozialismus und nationaler Frage‹ gefüllt werden.«21
Diese Erkenntnisse, Begriffe und Überzeugungen hangelten sich an jenen kognitiven und emotionalen Begriffen entlang, die dem speziellen Sicherheits- und Glücksbedürfnis der jungen Nachkriegsgeneration 19 Zum antifaschistischen Gründungsmythos der DDR: Siehe: Schmid, Harald: »Wir Antifaschisten«(2007). Oder: Grunenberg, Antonia: Antifaschismus – ein deutscher Mythos. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1993. Auch: Niven, Bill: Das Buchenwaldkind: Wahrheit, Fiktion und Propaganda. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 2009. 20 Zur Debatte um die klassenlose Gesellschaft in der DDR siehe: Solga, Heike: Auf dem Weg in die klassenlose Gesellschaft? Klassenlage und Mobilität zwischen den Generationen in der DDR. Akademieverlag, Berlin 1995. 21 Satjukow, Silke und Gries, Rainer: Feindbilder des Sozialismus (2004), S. 25.
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besonders nachkamen. Für das Feindbild und damit für die eigene nationale Identität durch Abgrenzung lassen sich folgende Kategorien ausmachen: (Anti)Faschismus, Nationalismus, Militarismus und Kapitalismus (der US-Amerikaner, der sich an der ausgebeuteten Welt bereichert).22 Mit ihrer Identifizierung war die Konstruktion der inneren Feinde verknüpft: Agenten und Spione im Dienste des Westens (insbesondere um 1953), Saboteure der sozialistischen Wirtschaft (Otto Murks). Im Gegensatz zum fleißigen Arbeiter waren sie faul und nachlässig und Diebe, als welche auch Republikflüchtlinge galten. Während der innere Feind eine janusköpfige Gestalt blieb (»Otto Murks« konnte als Saboteur vielerlei Gesichter haben und sich hinter jedem verstecken) und auf diese Art und Weise wenig familiäre Nähe (und damit Identifikation oder Ablehnung) aufkommen ließ, konnte bei der Bildkonstruktion der äußeren Feinde auf bereits bestehende emotionale Feindbilder zurückgegriffen werden. Der kapitalistische US-Amerikaner war schon seit den 1920er als Vertreter einer bedrohlichen und Prekarität verheißenden Moderne zum Feindbild avanciert und besteht fort in den Feindbildern der jüngsten politisch Rechtsgerichteten antisozialistischen DDR-Bürgerinnen. Bildlich stand er für alle Kapitalisten. Deren »antinationale(s), volksfeindliche(s) Treiben«23 war nicht nur ein Angriff auf den Wohlstand und den Frieden im eigenen Land – weil sie »ihren Profit mehr lieben, als ihre Nation, deshalb sind sie bereit, diese zu verkaufen [...] und skrupellos das deutsche Volk auszuliefern«24. Der Kapitalist war auch als Landesverräter ein Angreifer auf die deutsche Nation selbst. Die Figuren des ausbeutenden US-Amerikaners und der dickleibigen Kapitalisten dienten überhaupt der Unterfütterung des Sprechens von der Nation in der Nation und damit dem ungebrochenem Idiom eines einigen Deutschlands, welches sich seiner Feinde entledigen müsse, um zu seiner eschatologischen kraftvollen Entfaltung gelangen zu können.
22 Satjukow, Silke und Gries, Rainer: Feindbilder des Sozialismus (2004). 23 Neues Deutschland, 23.4.1952. 24 Zilles, Hermann: Das Verbrechen an Deutschland. In: Einheit. Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus. Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (Hrsg.). Jg.3/1948, Heft 9, S. 821 – 828. Hier S. 823.
214 | D IE ERLESENE N ATION »Die Freude und die Genugtuung des deutschen Volkes über die wiedererlangte Souveränität, über die Gründung eines selbständigen freien Deutschlands, unserer Deutschen Demokratischen Republik, wird getrübt durch die Tatsache, durch die westlichen Besatzungsmächte zerrissen (worden zu sein).«25
Es waren also die Besatzer, die Volksfremden, welche das deutsche Volk zu spalten versuchten. Unter ihrem Protektorat entstand im offiziellen Sprachgebrauch eine »Marionettenregierung«.26 Die BRD und die mit ihr verbundenen politischen und kulturellen Lebensmuster, sowie ihre Protagonisten waren somit nationale Feinde, Feinde des Volkes, volksfremde Feinde, die gleichzeitig als Träger des ausbeuterischen, kriegstreibenden US-Kapitalismus und dessen Aggression gegen das friedliebende sozialistische Lager fungierten. Denn gerade die Kooperation der westdeutschen Regierung mit den westlichen Besatzungsmächten ließ es zu, ihnen einen Verrat an der deutschen Nation und Kolonialisierungsversuche des »Vaterlandes« zu unterstellen. Dabei definierte die Regierung der DDR (wie die der BRD gleichermaßen) den eigenen Staat als das Kerngebiet der deutschen Nation. Hüben wie drüben war demnach der weltanschauliche Standpunkt mitsamt seiner Handlungs- und Denkstrukturen Grundlage dessen, was deutsch, was die richtige Nation sei. Die Bezeichnung der BRD-Regierung und der USA als Volksfeinde bedingte auch ein permanentes Heraufbeschwören eines Angriffsszenarios derselben auf das »Friedenslager des Sozialismus«. Grundlage dieser Denkstruktur ist die Imperialismustheorie des MarxismusLeninismus, welche die Wiederherstellung des Kapitalismus als nationale Katastrophe benennt, da er expansionistisch immer zum Krieg dränge, »welchem die Tendenz zur Ausprägung eines ›faschistischen
25 Pieck, Wilhelm: An der Wende der deutschen Geschichte. Antrittsrede des Präsidenten Wilhelm Pieck auf der Tagung der Volks- und Länderkammer am 11. Oktober 1949. http://www.trend.infopartisan.net/trd1099/t061099. html. aktuell am 12.03.2010. Hervorhebungen A.H. 26 So betitelte das Politbüro der SED eine Erklärung zum 7.September 1949 mit der Überschrift: »7. September 1949: Tag der nationalen Schande« und erklärte ihn zu einem historischen Datum des schimpflichen Verrats an der deutschen Nation. http://www.kpd-ml.org/doc/partei/studien–material_ddr. pdf. aktuell am 12.03.2010.
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Entwicklungsstadiums‹ innewohnt.«27 Die Verbreitung und Verbildlichung des remilitarisierten und faschistischen Feindbildes lebte in erster Linie von der Personalisierung von Menschen in wirtschaftlichen oder politischen Schlüsselfunktionen, die personell fassbar für eine Kontinuität von Faschismus und BRD standen. Die breitgefächerte Entnazifizierung, die für die DDR-Bürgerinnen bei den Neulehrern, dem Austausch der Universitätsprofessoren und den enteigneten Fabrikbesitzern anschaulich und sinnlich erfahrbar war, stand dieser Darstellung von Personen mit Nazivergangenheit gegenüber und machte den Verweis auf einen systematisierten Antifaschismus in der DDR und eine Beständigkeit des Faschismus in der BRD greifbar und glaubhaft. Demgegenüber stellte sich die DDR als moralische tabula rasa nach dem Faschismus dar: »unschuldig am Krieg, unschuldig am Faschismus. [...] Die DDR (war in dieser Darstellung) absolut rein und wird daher in den fünfziger Jahren gerne als Neugeborene dargestellt.«28 Der Antifaschismus war somit nicht nur taktisches Gefühl, sondern Ausdruck authentischen Empfindens. Gerade das machte ihn als Legitimationsgrundlage so erfolgreich. Ich folge hier Christoph Classen, der feststellt, dass der soziale Antifaschismus im Gegensatz zum wissenschaftlichen Sozialismus sogar die eigentliche Legitimationsgrundlage der DDR war, die eine Beteiligung am Denk-, Handlungs- und Freund/Feindsystem ermöglichte.29 Die Beteiligung am bipolaren Feindbild Faschismus war in der spezifischen Nachkriegserfahrung der Dreh- und Angelpunkt zum einen gegen das Alte, dessen moralische und materielle Zerstörung schwer zu leugnen war, und zum zweiten gegen den aktuellen Gegner des neu entstehenden Arbeiterwohlstands. Und damit wurde dieses Feindbild zur Legitimationsbasis
27 Gibas, Monika: »Bonner Ultras«, Kriegstreiber« und »Schlotbarone«. Die Bundesrepublik als Feindbild der DDR in den fünfziger Jahren. In: Satjukow, Silke und Gries, Rainer (Hrsg.): Unsere Feinde (2004), S. 75 – 106. Hier S. 88. 28 Gries, Rainer u. Gibas, Monika : Die Inszenierung des sozialistischen Deutschland. Geschichte und Dramaturgie der Dezennienfeiern in der DDR. In: Dies. u.a. (Hrsg.): Wiedergeburten. Zur Geschichte der runden Jahrestage der DDR. Leipzig 1999, S. 11 – 40. Hier S. 32f. 29 Classen, Christoph: Feindbild Faschismus. Zum Doppelcharakter einer Gegnerkategorie in der frühen DDR. In: Satjukow, Silke und Gries, Rainer (Hrsg.): Unsere Feinde (2004), S. 127 – 148.
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für die Führung durch die SED, indem die Kontinuität in der Wirtschaftsordnung, den Eliten und den Organen in der BRD zur Schau gestellt wurde. Der Antifaschismus als Persönlichkeitsmerkmal bekam dadurch nicht nur eine historische Dimension des Widerstandes gegen den Faschismus sondern auch eine prospektive. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Widersacher jenes Konzepts einer Gemeinschaft der Werktätigen, die dem Opfer des Faschismus durch Friedensliebe und sozialistische Arbeit gerecht werden sollten, sich nicht innerhalb der neuen Staatsnation fanden, sondern außerhalb des »Wir-Territoriums« – im Westen. (Auch die inneren Feinde waren ja vom Westen gesteuert).30 Sie waren diejenigen, die als Kapitalisten das Konzept der Ganzheitlichkeit, der Harmonie und Gemeinschaft angriffen. Dieser Angriff war dabei nicht nur auf die eigene Staatsnation festgelegt, sondern betraf auch die werktätigen Brüder und Schwestern im Westen. Der auswärtige Feind der eigenen Gemeinschaft wird somit in das soziale Feld der Bürgerin zurück geholt. Es sind jene Kapitalisten, die gleichzeitig Nazis sind und deshalb nicht nur die neue soziale Gemeinschaft angreifen, sondern auch dem Glücksversprechen im Wege stehen, welches der staatliche Antifaschismus den Kindern zu geben versucht. »Die Nazis ›flüchten aus dem Gebiet unserer Republik‹, und aus dem Westen kommt die Hetze ›gegen unsere Deutsche Demokratische Republik‹«.31 So schienen die Probleme der Nachkriegszeit (Frieden, Sicherheit und Wohlstand) weniger aus den Konsequenzen der innerstaatlichen Politik zu erwachsen, als aus »der bedrohlichen Nachbarschaft des Westens und seiner offenen Grenzen«32. Der Feind wurde gleichzeitig zur rassistischen Spiegelung des positiven Selbstbildes der »WirGruppe«. Die Erziehung zur Liebe zum sozialistischen Vaterland und zum sozialistischen Internationalismus schloss bewusst die Herausbildung des ideologischen Freund-Feind-Bildes ein. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, bleibt diese Herausbildung jedoch solange kognitiv, bis sie in ein Gefühl übergeht, in dem das Subjekt sich selbst spürt/er-
30 Satjukow, Silke und Gries, Rainer (Hrsg.): Unsere Feinde (2004), S. 20. 31 Autorenkollektiv: Die Deutsche Demokratische Republik, unser sozialistisches Vaterland. Lehrbuch der Erdkunde für die 5. Klasse. Volk und Wissen, Berlin 1960, S. 12 – 18. Hervorhebungen von A.H. 32 Wierling, Geboren im Jahre Eins (2002), S. 170.
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kennt. Dieses »Bindemittel« zwischen der gedachten Gemeinschaft und ihren »Feinden« und dem Fühlen derselben stellt in den modernen Staaten das Versprechen einer sozialen Versorgung dar.
5.3 D IE E MOTIONALISIERUNG DER GEDACHTEN G EMEINSCHAFT : EINE NEUE H EIMAT IM S OZIALEN Die Prägung von Identität und Subjektivität ist keine kognitive Tradierung, sie kann nicht durch Repressionen oder abstrakte Erklärungen an die Nachgeborenen weitergegeben werden. Dass die Kinder und Enkel der Nachkriegsgeneration sich aber mit deren nationalen Verbindungen des Sozialen und Arbeiterlichen identifizierten33, ist dadurch zu erklären, dass das sozial-familiäre Glück stets innerhalb der bewusst politischen Sphäre stattfinden musste. Familiäre Emotionen und Praktiken innerhalb nationaler und staatlicher Praktiken und Diskurse zu erleben, zu diskutieren, sich zwischen ihnen zu verorten – das war soziale Alltagserfahrung der meisten. Die Gesellschaft wurde somit zu einer erweiterten Heimat, zu einer Welt der Zugehörigkeit. »Es ist zugleich eine Welt, in der das Soziale das Ideale ist, in der die unpolitische Idylle zwar fehlt, die Politik aber selbst zum Idyll wird. Es ist eine Welt der Zugehörigkeit, der Entwurf von erweiterter Heimat. Es ist die Verniedlichung von Politik.«34
Ich möchte hier einen etwas genaueren Blick auf die Übertragung familiärer Beziehungen auf die Nation und den Staat werfen. Dafür betitele ich die diskursive Erweiterung der familiären Zugehörigkeitsgefühle mit dem Schlagwort »Familialisierung der Arbeiterklasse«. Wolfgang Engler beschreibt in seinem Buch: »Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land« die Bedeutung der Arbeitskollektive für das soziale Leben der DDR-Bürgerinnen. Als wichtiger Bestandteil der modernen Arbeitsgesellschaft sind sie, die Kollektive und ihrer immanenten Beziehungen, ähnlich wichtig, wenn nicht wichtiger
33 Wie in der Einzelanalyse des Aufsatzes A 34 gezeigt wurde. 34 Wierling, Geboren im Jahr Eins (2002), S. 122.
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für eine individuelle und kollektive Biografie als die Beziehungen in und zur Familie.35 »Als persönlich greifbare Ausschnitte aus der ansonsten unpersönlichen Organisationswelt sprachen sie (die Kollektive – A.H.) den ganzen Menschen an, seine Gefühle, Gedanken und Interessen. Als stabile Zusammenhangsformen mit langer Lebensdauer nötigten sie zu beständiger Aufmerksamkeit, zur Rücksichtnahme auf andere, zu Absprachen und Kompromissen. Als gesellschaftliche Schnittflächen zwischen Staat und Individuum erfüllten sie drei Aufgaben zugleich: die appellierten an die Leistungs- und Folgebereitschaft des einzelnen, sie schützten das wohlverstandene Eigeninteresse ihrer Mitglieder, und sie förderten den mitmenschlichen Austausch jenseits der Privatsphäre.«36
Die nationale Identität in der DDR schließt also an die nationale Anrufung der Arbeit als Gemeinsinn stiftende Praxis des letzten Jahrhunderts an. Berufsethos, die Idee einer höheren Qualität der nationalen Produkte als der ausländischen und sogar die Vorstellung einer egalisierenden Wirkung der Praxis Arbeit in Bezug auf innergesellschaftliche Differenzen und Konflikte sind grundlegende nationale Identitätsmerkmale bis in die heutige gesamtdeutsche Gesellschaft hinein. Mit dem Ende des Krieges, verstärkt seit der Gründung der Republik, erhielt das Lob der Arbeit eine Dimension, die den Ausführungen Marx‹ zur Arbeit diametral entgegenstand. Aus seinen Ausführungen zur Arbeit als dem Reich der Notwendigkeit37 entwickelte sich ein Lob der Arbeit, das eine unrühmliche deutsche Tradition hat.38 Die Arbeit wurde vielmehr selbst das Reich der Freiheit, in welchem der Einzelne (Arbeits-)Dienst am Kollektiv leistet und über diesen Dienst, dieses Opfer sich selbst erhöht und – fast schon im katholischen Sinne – rei35 Dies gilt in modernen Gesellschaften insbesondere für die Jugend, je nach Entwicklung der Gesellschaft hat es stärkere Auswirkungen auch auf die anderen Lebensphasen. 36 Engler, Wolfgang: Die Ostdeutschen (1999), S. 282. 37 Marx, Karl: Kritik des Gothaer Programms. In: MEW, Bd. 19 Dietz Verlag, Berlin 1972, S. 15 – 32. Hier S. 19. Und: Ders.: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie III. In: MEW, Bd. 25, Dietzverlag, Berlin/DDR, 1983. 38 Lüdtke, Alf: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrung und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Ergebnisse Verlag, Hamburg 1993.
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cher und wahrhaftiger wird.39 Paradigmatisch zeigt sich dies in der »Held der Arbeit Kampagne«, die, obwohl eine rein propagandistische Angelegenheit, dennoch einzelne Individuen kannte, deren Ideen, Arbeiten, Aufopferungen freiwilliger Art waren und erst im Nachherein in das Korsett einer angeblichen Bewegung gepresst wurden. Das gemeinsame Erlebnis, Mitglied einer Gesellschaft der Werktätigen zu sein, durch diese Anerkennung als Arbeitende zu bekommen (denn das soziale Leben spannte sich um den Arbeitsplatz und das Kollektiv), führte letztlich zu kollektiven Deutungen, aus denen ihrerseits emotionale Gemeinschaften entstanden. Wolfgang Engler verweist richtig auf die Bedeutung der Erfahrung von sozialer Sicherheit, sozialem Eingebundensein und sozialer Anerkennung durch die Arbeitsplatzgarantie. »Er (der werktätige Mensch) musste nichts sein, um etwas zu werden, nichts werden um etwas zu sein, denn alles, was er sein und werden konnte, war er bereits: ein anerkanntes Mitglied des Gemeinwesens.«40
Mehr noch: das gesamte kulturelle und soziale Umfeld war am kulturellen Habitus, an Geschmack und Vorlieben des arbeitenden Menschen – des Werktätigen ausgerichtet. Arbeit zu haben wird somit mit Geborgenheit gleichgesetzt. Eine Geborgenheit, welche die Eltern an ihre (Nachkriegs)Kinder übertragen, die auf diese Weise ihre familiären Gefühle, ihr Selbstbewusstsein mit dem des Staatswesens verbinden: Also eine emotionale Gemeinschaft eingehen. »Dabei dürfte den meisten entgangen sein, wie sehr ihr neues Selbstbewusstsein (als Werktätige) mit eben dem Staatswesen zusammenhing, das sie herausforderten. Und doch war es so. Dass viele ihrer selbst sicherer, sich ihrer unverzichtbaren Stelle im Ganzen bewusster geworden waren, hing zweifellos mit der langjährigen Erfahrung, dem mehr und mehr selbstverständlichen Umgang mit Arbeitsplatzgarantie und sozialer Sicherheit zusammen. Man konnte
39 Jäger, Andrea: Das Reich der Notwendigkeit. Die Gründerzeitliteratur der DDR arbeitet am Mythos Arbeit. Deutsche Gründungsmythen. Hrsg. von Matteo Galli und Heinz-Peter Preusser. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2008, S. 157 – 168. 40 Engler, Wolfgang: Die Ostdeutschen (1999), S. 206.
220 | D IE ERLESENE N ATION nicht wirklich scheitern, aus der Gesellschaft herausfallen und war sich darüber im Klaren.«41
Arbeit als Reich der Freiheit, in dem sich familiäre Selbstwertgefühle wiederfinden, führt zu einer emotionalen Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Werktätigen (die jede kulturellen, ökonomischen oder Genderunterschiede egalisiert) und erfüllt so das Merkmal eines egalisierenden Nationalismus. Grundlage dieses Gefühls der unauflöslichen Verbindung von Arbeit und Sozialleben sind die Gleichheitserwartungen und egalitären Praktiken in der Arbeits- und Sozialpolitik – eine erfahrene Gleichheit im Ergebnis und nicht als Chancengleichheit. Engler hat hervorragend aufgezeigt, dass diese Gleichheit im Ergebnis die Menschen mit »Wahrnehmungen, Urteilen und Gefühlen aus(gestattet hat), die selbst geringfügige Unterschiede registrieren und Energien freisetzen, die auf deren Einebnung trachten, auf möglichst vollständigen Ausgleich.«42 Es ist diese egalisierende Praxis des Ausgleichs, die eine Spezifik der emotionalen Gemeinschaft der DDR ausmacht. So stellt Engler weiterhin fest, dass »die ›Ostdeutschen‹ nach 1989 in so großer Zahl zu Ostdeutschen wurden, jene unter ihnen ausdrücklich eingerechnet, die [...] die DDR ablehnten, wenn nicht verabscheuten, hängt ganz entscheidend mit dieser für ehedem Gleiche kaum erträglichen Asymmetrie der sozialen Blicke zusammen.«43
Wie konnte nun die gedachte Gemeinschaft aus der Erfahrung einer sozialen Gleichheit zu einer emotionalen Gemeinschaft werden? Wo war der Übergang der staatlichen Arbeits- und Sozialpolitik, die die Bürgerin an den neuen Staat binden sollte, zur individuellen und gefühlten Adaption? Will man das Gelingen dieses Übergangs vom Denken einer nationalen Gemeinschaft zum Fühlen einer nationalen Gemeinschaft erklären, so müssen Gefühle des Hasses, der Liebe, der Trauer und Freude und deren historisch-soziale Konstruktion in den Blickpunkt der Untersuchung rücken.
41 Ebda., S. 61. 42 Engler, Wolfgang: Avantgarde (2004), S. 30. 43 Ebda., S. 32.
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5.4 E INE G ENERATION MIT G LÜCKSAUFTRAG – NATIONALE K ULTUR In Julia Schochs Roman »Mit der Geschwindigkeit des Sommers« spricht die Erzählerin ganz sachlich davon, wie die letzte Generation der in der DDR Geborenen Glück nur mit dem Erreichen konsumierbarer Dinge verbindet. Eine Praxis, die angesichts der schnellen Erfüllbarkeit dieser Wünsche nach der Vereinigung zu einer breiten Utopielosigkeit geführt habe. Während die Aufbaugeneration also noch meinte, qua ihrer Existenz eine bessere Welt aufbauen zu können,44 »verfügten die Nachgeborenen nur noch über Träume, deren Inhalt sich auf für D-Mark zu erwerbende Waren reduzierte.«45 Diese historisch variablen Glücksvorstellungen haben dennoch eins gemeinsam: Den Gedanken Sokrates’, dass Glück durch eine richtige Lebensweise erlangt werden könne.46 Dadurch wird Glück gerade in seiner Verbindung von Privaten und Öffentlichen zu einer Technik oder Praxis, die das Leben des Einzelnen bezüglich seiner Umwelt strukturiert. Die historisch spezifische Definition dessen, was Glück sei und wie man es erlangen könne, ist daher äußerst bedeutsam für die Techniken der Regierung einer Bevölkerung als Ganzes und in ihren Einzelteilen. Dabei macht es durchaus einen Unterschied von Glück, Unglück oder Abwesenheit von Glück zu sprechen. Denn die spezifische Verantwortung, die dem/denjenigen zugesprochen wird, welches/welcher als Ursache für das Gelingen oder Nichtgelingen haftbar gemacht wird, bedingt auch die eigene politische und soziale Positionierung gegenüber dem verantwortlich Gemachten. Die »langgezogene« Nachkriegsgeneration47, deren Angehörige jene Schülerinnen sind, deren nationale Positionierung im Schreiben
44 Vgl. dafür z.B. die Romane Christa Wolfs »Nachdenken über Christa T.« und »Der geteilte Himmel«. 45 Meyer – Gosau, Frauke: Wir sind zu früh. In: Literaturen. Heft 05/09, Friedrich Verlag, Berlin, S. 26 – 29. Hier S. 28/Sp.2. 46 Diese ethische Definition von Glück ist dabei keineswegs anthropologisch. Das mittelniederdeutsche >gelucke< bezeichnet einen guten Ausgang einer Angelegenheit, der nicht an das Talent oder die Lebensführung gekoppelt ist. 47 Ich danke an dieser Stelle Frau Prof. Wierling, die mich auf die wissenschaftlich kaum bearbeiteten Unterschiede der Nachkriegsgenerationen der
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der Aufsätze untersucht wurde, möchte ich gerade wegen dieses Bezugs von Glücksversprechen – Glücksanspruch – Glücksgefühl – Verantwortlichkeit »Dankesgeneration« nennen. Sie, die entweder in den allerletzten Kriegsjahren oder in den Nachkriegsjahren geboren wurden, zeichnet eine besondere Beziehung zur Gesellschaft der DDR mit ihren sozialen und arbeitspolitischen Angeboten und Glücksversprechungen aus. Grundlage für diese Spezifik sind auch hier die Kriegsund Nachkriegserfahrungen ihrer Eltern (Flucht, Bombardierung, Hunger, evtl. KZ oder Gefangenschaft und Angst vor der Besatzung.) Diese Nachkriegserfahrung bildete einen fruchtbaren Humus, um das Geschichtsbild der SED auch zur emotional gefühlten Tradition zu machen und daraus eine emotionale Gemeinschaft abzuleiten. Indem, wie oben beschrieben, die Opfer unter den Kommunisten48 quasi zur alleinigen Opfergruppe stilisiert wurden, konnte die konkrete Trauer um kollektive und familiäre Opfer (und seien sie »nur« im erhöhten Arbeitsaufwand zu finden, die Nachkriegsmangelsituation abzuschwächen) auf die Staatsräson übertragen werden. Die Opfer der Kommunisten in emotionalen Ritualen zu betrauern bedeutete, eine Stellvertretung für die eigenen Verlusterfahrungen zu erhalten. Die Übertragung der eigenen Verlusterfahrungen auf einen kollektiven Verlust der »großen Söhne der Arbeiterklasse« ermöglichte somit eine Handlungsbereitschaft das dargebrachte Opfer zu sühnen, indem man den Staat, welcher durch sein politisches Programm diese Opfersühne zur Staatsräson gemacht hatte, liebte und verteidigte. Auf dem V. Parteitag vorgetragene Gedichte zeigen diese Verbindung besonders ausdrucksstark: Die Pioniere danken dort
beiden deutschen Nachkriegsstaaten aufmerksam gemacht hat und auf die Bedeutung des länger anhaltenden Bezugs der Ostdeutschen zum Krieg bei der Generationendefinition hingewiesen hat. Aufgrund der besonderen Nachkriegssituation in der SBZ/DDR braucht die Zugehörigkeit zu dieser Generation nicht nur auf eine frühste Kindheit im Krieg selbst begrenzt werden, sondern bezieht auch die diejenigen ein, die in den ersten zehn Jahren nach dem Krieg geboren wurden. 48 Tatsächlich hatte keine politische Gruppe so viele Opfer unter den deutschen Faschisten zu verzeichnen wie die Kommunisten. Siehe: Schmid, Harald: »Wir Antifaschisten« (2007).
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»den Genossen der Partei der Arbeiterklasse (insbesondere für die wirtschaftlichen und technischen Fortschritte der letzten Jahre) Das danken wir Euch / und wir dankenތs dem Blut, /das für die Freiheit vergossen / die Helfer der Sowjetunion, /Ernst Thälmann und viele Genossen. / Wir haben es gut. / Doch der große Kampf / ist heute noch nicht zu Ende. / Drum nehmt uns ran! / Wir sind nicht zu klein. / Wir wollen die jüngsten Genossen sein.«49
Das Zitat zeigt auch, wie eng diese Opferehrung und ihre Verengung auf die ritualisierte Verehrung der kommunistischen Opfer mit einem Glücksversprechen des Staates einher ging. »Wir haben es gut« macht deutlich, dass den Kindern eine frohe Zeit, eine gute Zeit vorherbestimmt ist, die mit »dem Blut, das für die Freiheit vergossen«, also dem Märtyrerblut der Antifaschisten erkauft wurde. Die Nachkriegskindergeneration war Hoffnungsträger derer, die in Ost- und Westdeutschland den nicht-faschistischen Menschen »formen« wollten. Ihre Anbindung an das neue Staatssystem, ihre Konfrontation mit der Hoffnung auf den neuen Menschen war eng verbunden mit dem »Angebot« des Glücksversprechens, das der Staat und seine Institutionen mitsamt ihrer Verknüpfung mit der Partei der neuen Generation machten. Ihren spezifischen Kriegs- und Nachkriegserfahrungen gemäß versprachen Staat und seine Institutionen eine Zukunft, die dem Opfer ihrer Eltern gerecht, auf einer antifaschistischen Staatsordnung aufbaute. Und gerade aus der Übertragung der Liebe und Dankbarkeit dieser Kinder zum (Nach-)Kriegsopfer ihrer Eltern und deren Arbeit50 erfolgt die emotionale Anbindung an die Nation und an den Staat. Denn die Wahrnehmung der Eltern als Opfer des Krieges, verknüpft mit dem spezifischen Glücksgefühl aus der familiären Dankbarkeit für die Liebe und Arbeit der Eltern wird auf die Liebe und Dankbarkeit der gesamten Arbeiterklasse projiziert. So berichtet eine Erzieherin von einem Beispiel, bei dem ein Vater eines Kindergartenkindes das Dach repariert habe.
49 Gedichte auf dem V. Parteitag der SED. Aus: Einsteigen Pioniere – in unseren Pionierexpreß. Zum 10. Jahrestag der Pionierorganisation Ernst Thälmann. Verlag Junge Welt, Berlin 1958. 50 Gemeint sind hier die Anstrengungen der Eltern entweder über ihre Lohnarbeit oder die Reproduktionsarbeit ihre Kinder zu ernähren und glücklich zu machen. Siehe dazu: Wierling, Dorothee, Geboren im Jahr Eins (2002), S. 112.
224 | D IE ERLESENE N ATION »Sie erklärt den Kindern, wie viel Mühe diese Arbeit gemacht hat. Warum hat der Vater das wohl getan? ›Weil mein Vati gut ist und ich mich erkälten kann‹, lautete die Antwort der stolzen Tochter. ›Ich sagte nun, dass er es für uns alle getan hat und besonders auch für Ingeborg, weil er sich um sie sorgt.‹«51
Die Dankbarkeit für das aufopfernde Leiden ist also nicht mehr nur an die Kriegserfahrungen gebunden, sondern wird auch auf die aufopfernde Arbeit, den Beruf der Eltern übertragen. Mit ihr verbindet sich die Dankbarkeit gegenüber jenem Glücksversprechen auf Frieden, materielle Sicherheit und Bildung. Jenes Versprechen kann nämlich einerseits nur durch die Arbeiterinnen eingelöst werden (für welche die Eltern beispielhaft stehen), benötigt aber andererseits auch die Sphäre der Politik. Diese wird im obigen Zitat durch den Verweis hergestellt, der Vater habe das Dach für alle Kinder repariert. Hier verschmilzt die Dankbarkeit und das Glücksversprechen gegenüber den Eltern mit der politischen Welt – dem antifaschistischen, proletarischen Kollektiv und seiner Entsprechung in den Institutionen des Arbeiter- und Bauernstaates. Und somit wird auch hier aus der gedachten Gemeinschaft der Arbeitenden eine emotionale Gemeinschaft, die in den nationalen Ritualen und in den staatlichen Praktiken der Sozial- und Arbeitspolitik permanent reproduziert wird. Zumal – dies wird ebenfalls in dem o.g. Gedicht der Jungen Pioniere auf dem V. Parteitag deutlich – aus dem Glücksversprechen auch eine Verpflichtung entsteht: »Doch der große Kampf ist heute noch nicht zu Ende / Drum nehmt uns ran! / Wir sind nicht zu klein. / Wir wollen die jüngsten Genossen sein.« Die Angehörigen der Dankesgeneration tauchen in der Nomenklatur der DDR selten auf.52 Der Aufstieg in die höchsten Ämter war ihnen durch die Angehörigen der »Aufbaugeneration«, also der um 1925 herum Geborenen, verbaut. Den aktiven Widerstand 1989 und in den 1970er Jahren leisteten vor allem ihre jüngeren Geschwister oder ihre Kinder.53 Sie hingegen waren es, die vom Staat DDR und seinem Kollektiv ein einhelliges Friedens- und Wohlstandsversprechen erhielten,
51 BAP, R-2, Bd. 3448, Blt. 152. 52 Fulbrook, Mary: Generationen und Kohorten in der DDR. Protagonisten und Widersacher des DDR-Systems aus der Perspektive biografischer Daten. In: Schüle, Annegret u.a.: DDR – generationengeschichtlich (2006), S. 113 – 130. Hier S. 121ff. 53 Ebda., S. 122.
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das mit den frühkindlichen Kriegserfahrungen gepaart gerade dazu führte, einen Lebens- und Arbeitspathos aufzubauen, der eng an eine kollektive Identität zur sozialistischen Arbeiterklasse gebunden war. Dabei gaben ihre Eltern selbst diese Dankeskonstruktion an sie weiter. Denn Dankbarkeit, an sich immer ein Bindemittel zwischen den Generationen, wird im Falle dieser genealogischen Staffelübergabe auf die Gesellschaft übertragen, welche durch Arbeits- und Sozialpolitik sowohl den Eltern als auch den Kindern ein Wohlstands- und Friedensversprechen erfolgreich geben konnte. Diese Dankeshaltung macht sie weniger zu Widersacherinnen des Staates, wenn auch nicht immer zu seinen ganzheitlichen Protagonistinnen. Dass diese emotionale Positionierung selbst staatliche Herrschaftspraxis ist, ist vielfach durch das reziproke Verhältnis der staatlichen Anrufungen mit den Praktiken der Bürgerin, die sich auf den Staat bezieht, bewiesen worden. Dennoch möchte ich die konkrete asymmetrische Praxis der Staatsapparate darstellen, da ja deren Adaption letztlich ausschlaggebend ist für eine gelungene Herrschaft mittels der Identität des Nationalen.
5.5 D IE F AMILIALISIERUNG DER A RBEITERKLASSE – EINE F AMILIALISIERUNG DES G LÜCKSANSPRUCHS UND W IRGEFÜHLS Grundlage des sozialistischen Projektes DDR war von Anbeginn eine Entfaltung und Vervollkommnung des Menschen entlang der und durch die Arbeit.54 Aus dem Komplex der Selbstbezeichnung als »Arbeiter- und Bauernstaat« über das verfassungsrechtlich garantierte Recht und die gesellschaftlich-moralische Pflicht zur Arbeit bis zum Kult des Arbeiters in Bauwerken, Liedern, Bildern oder Literatur spricht die Grundidee, das Leben und die Persönlichkeit der Menschen an Arbeit auszurichten und ihre Interessen und Identitäten an ihr entlang zu strukturieren. Insofern erweist sich die DDR als eine Arbeitsgesellschaft, nicht im Sinne ihrer Produktivität, sondern im Sinne der Subjektivierung ihrer Bürgerinnen.
54 U.a.: Lüdtke, Alf: »Helden der Arbeit«(1994), S. 189.
226 | D IE ERLESENE N ATION »Der Begriff der ›Arbeitsgesellschaft‹ soll deutlich machen, daß moderne Gesellschaften besonders stark über Arbeit integriert werden. Arbeit ist in ihnen nicht nur – wie in allen Gesellschaften – die Quelle von materiellem Überleben und Wohlstand, sondern (in der Form der betriebsgebundenen Lohnarbeit) auch die zentrale Quelle der Strukturierung von Interessen, Institutionen und Identitäten.«55
In Verbindung mit der sozialen Rolle, welche der Arbeitsplatz für die Betriebsangehörigen in der DDR ausfüllte56, führte die ideologische Aufwertung der Arbeit und des Menschen als arbeitendem Wesen zu einem Netzwerk und Selbstwertgefühl, das der Funktion und Rollenverteilung einer Familie ähnelte.57 Die individuelle und kollektive Orientierung am Wert »Arbeit« ist dabei weniger mit dem Arbeitsprozess, weniger mit der konkreten Tätigkeit verbunden, als damit, den Arbeitsplatz als sozialen Ort und sich selbst als soziales Wesen zu erkennen.58 Martin Kohli macht auf einen besonders spannenden Aspekt dieser Verbindung von sozialem Netzwerk und Selbstwertkonstruktion aufmerksam. So sei in der DDR einem Aspekt, der für eine Modernisierung wichtig ist, besonders Vorschub geleistet worden: Die schwin-
55 Kohli, Martin: Die DDR als Arbeitsgesellschaft? (1994), S. 38. 56 »In der DDR war die Arbeitsstätte ›ein wichtiger sozialer Ort mit vielfältigen sozialen Funktionen und Versorgungsaufgaben. Den Betrieben (insbesondere den größeren) waren zahlreiche Einrichtungen zugeordnet: Kinderkrippen und -gärten, Erholungseinrichtungen, Betriebsberufsschulen, Institutionen der Erwachsenenbildung und medizinische Betreuung; die Vergabe von Wohnungen [...], Urlaubsplätzen, Kuren, die Delegierung zum Studium erfolgten z.T. über den Betrieb. Kulturelle Aktivitäten, Freizeitgruppen wurden durch die Betriebe gefördert. Nicht selten dominierten größere Betriebe das kommunale Leben.‹« Kohli, Martin: Die DDR als Arbeitsgesellschaft? (1994), S. 43. 57 Diewald, Martin: Informelle Beziehungen und Hilfeleistungen in der DDR: Persönliche Bindungen und instrumentelle Nützlichkeit (Projekt »Lebensverläufe und historischer Wandel in der ehemaligen DDR«, Arbeitsbericht 4), Berlin 1993. 58 Voskamp, Ulrich u. Wittke, Volker: Fordismus in einem Land – das Produktionsmodell der DDR. In: Sozialwissenschaftliche Informationen Heft 19, Friedrich Verlag, Berlin 1990, S. 177.
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dende Bedeutung der Familie für die Lebensverläufe zugunsten von Orientierungen an Gleichaltrigen.59 Die Ausrichtung des Lebenslaufes entlang eines Erwerbslebens, das im Falle der DDR eng verbunden war mit vorgängigen, parallelen und nachgängigen Netzwerken (Jugendverbände, Patenbrigade, Kollektiv, Arbeitseinsätze in der Ferienzeit, Veteranenarbeit etc.), überträgt vormalige Bedeutung und Orientierungen (an) der Familie insbesondere für Jugendliche auf gleichaltrige (politische) Netzwerke, die entlang der Arbeit ausgerichtet sind. Damit offenbart sich schon, dass das Gelingen der modernisierenden Übertragung familiär organisierter und strukturierter Rollen und Biografien abhängig ist vom historischen Glückskonstrukt, welches der Staat durch seine Arbeits- und Sozialpolitik befriedigt und produziert. Besondere Bedeutung kommt dabei der perfekten Verknüpfung der Beziehungen zwischen den Interessen der Staatsapparate, der Eltern und der Kinder zu. »Einmal wurde die Identität der Interessen von Eltern und Regierung zum Wohle der Kinder unterstellt; zweitens ging es um die Liebe und Sorge der Regierung für die Kinder, die darauf mit Beglückung und Dankbarkeit reagierten; und schließlich wurde dieses Kinderglück den Eltern demonstriert zur Verstärkung der Interessenidentität mit der Regierung.«60
Der Staat verkörperte auf diese Weise für die Heranwachsenden nicht Herrschaft sondern Geborgenheit, Glück und Frohsinn. Diese Geborgenheit stellte sich in erster Linie durch die Verbindung zum DDRKollektiv der Werktätigen her. Die Anbindung an die Arbeiterklasse war über die Verknüpfung zu den arbeitenden Eltern einfach zu bewerkstelligen. Aber auch die Pionierorganisation und der Aufbau einer Tradition zu den bürgerlichen deutschen Literaten und Philosophen sollte eine solche Anbindung zur Arbeiterklasse leisten. Mit dem Versprechen von Geborgenheit, Glück und Frieden an die Kinder verband sich aber nicht nur die Chance diese an den neuen Staat der Arbeiter anzubinden – auch den Eltern, bei denen eine ideologische und handlungsorientierte Bereitschaft im neuen System mitzuarbeiten nicht voraus gesetzt werden konnte, wurde somit über das Glück der Kinder suggeriert, dass der neue Staat, die neuen Herrschenden, ihr persönliches Lebensglück bestens garantieren konnten. 59 Kohli, Martin: Die DDR als Arbeitsgesellschaft? (1994), S. 52. 60 Wierling, Dorothee: Geboren im Jahr Eins (2002), S. 107.
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Befreiung und Glücksauftrag, der die Kinder dazu erhob, die Leiden aber auch die Verbrechen ihrer Eltern durch ihr eigenes Leben »aufzuheben«, waren allerdings nicht nur auf die Zukunft ausgerichtet. Zugleich banden sie die Kinder an eine Vergangenheit, an eine faschistische Herkunft, die von nun an immer präsent sein sollte. Mitte der 1950er Jahre unternahm das Ministerium für Volksbildung verstärkt Anstrengungen, die Kinder zu »glühenden Patrioten« der Arbeiternation zu erziehen. Das beinhaltete die »Erziehung zur Heimatliebe, zur Liebe zu unserem Arbeiter- und Bauernstaat und seiner Regierung und zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands«.61 Familiäre Gefühle wie Liebe, Anerkennung, Dankbarkeit und Opferbereitschaft wurden damit als Topoi für den geforderten Bezug zum Staat, seinen Institutionen und zu seiner Gesellschaft verwendet. Die Erweiterung der Familienbeziehungen in die Gesellschaft hinein bedeutete eine konkrete Erziehung zu unmittelbarem Heimatbezug und implizierte eine Kollektivität und Liebe zur Arbeiterklasse. »Im Zentrum stand das Ziel, einen emotional aufgeladenen Begriff von Heimat zu vermitteln, der über Natur, Sprache, Festrituale und Arbeit die Einbettung in eine quasi organische Zugehörigkeit vermittelte, die über Familie, Kindergemeinschaft, Arbeiterklasse und politische Organisation bis zum Gemeinwesen ›DDR‹ erweiterte Kreise einer solchen Zugehörigkeit erfahrbar machen und miteinander verknüpfen sollte.«62
Die Grundlage der Gefühle der Achtung und Dankbarkeit für die Arbeiterklasse findet sich in der staatlich gelenkten Begegnung mit den Arbeiterinnen. Besuche und Ausflüge in die Arbeitswelt (Bahnhof, Baustellen, Fabriken etc.) fungieren als quasinatürliches Mittel, die Begegnung mit den Arbeiterinnen als Heimatverbundenheit zu erfahren. Als vorrangige Institution zur Übertragung der familiären Welt auf die anderen Kollektive der Heimat – insbesondere der Arbeiterklasse – müssen die Kindergärten und Schulen gelten. Erzieherinnen und Lehrerinnen bauten auf Gefühle, die bisher der Familie vorbehalten waren, um eine Zugehörigkeit zu »unserem« Staat und »unserer« Gesellschaft
61 Programm zur Verbesserung der patriotischen Erziehung. S. 2. BAP R-2, Bd. 6076, unfoliert. 62 Wierling, Dorothee: Geboren im Jahr Eins (2002), S. 103.
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aufzubauen und um diejenigen, welche die Arbeiterklasse und »ihren« Staat attackierten, als Angreifer familiärer Kollektivität zu stigmatisieren. Der Kindergarten tritt dabei als erste Erweiterung der familiären Welt zu anderen Kollektiven auf.63 Auf diese Art und Weise werden Staat und seine Instanzen nicht so sehr mit Macht und Unterdrückung assoziiert, sondern mit Geborgenheit und Zugehörigkeit. Zwischen der Partei, dem Staat und seinen Institutionen auf der einen Seite und den Kindern auf der anderen Seite wird somit eine Interessensidentität beschworen, die nicht nur die Kinder selbst erreichen sollte, sondern auch ihre Eltern. Die 1948 neugegründete Pionierorganisation »Ernst Thälmann« suchte die Kinder und ihre Eltern durch Familialisierung der Politik zu politisieren. Insbesondere die Liebe der Kinder sollte sich auf die Heimat, die Wahrheit, den Frieden und den Fortschritt richten. So hieß es beispielsweise in den Sprechchören bei Aufmärschen bundesweiter Pioniertreffen: »Wir lieben unsere Republik, sie weist den Weg zu Deutschlands Glück; Gesundheit, Schaffenskraft und Glück, für unseren lieben Wilhelm Pieck; Vater, Mutter lieben wir, achtet, ehrt sie, Pionier.«64 Den Pioniergesetzen entsprechend sollten die Kinder ihre Liebe auf die Heimat, die Wahrheit, den Frieden und den Fortschritt richten. Diese Forderung arbeitete aber gleichzeitig mit einem Glücksversprechen, dass sich aus der Besonderheit der Nachkriegsgeneration ergab – dem Versprechen dem Opfer der Eltern eine erlösende Zukunft entgegenzusetzen. So wurde der wichtigste Kult, dem die Jungen Pioniere huldigen sollten, ein Glück verheißender Opferkult – der Thälmannkult, dessen Namen die Organisation seit 1952 trug. Sein Tod stand beispielhaft für die Opfer, welche die Kinder an ihren Eltern erfahren hatten, es stand beispielhaft für ein Opfer, welches der deutsche Faschismus abverlangt hatte und es war ein Opfer, welches durch Nachahmung ein Glück verhieß. »Ernst Thälmann [...] Dieser Name verpflichtet Euch, stets zu lernen, zu arbeiten und zu kämpfen, wie Ernst Thälmann es tat! Strebt danach, solche glühenden Patrioten zu werden wie Ernst Thälmann, der unsere Heimat so heiß liebte! Werdet treue, unerschrockene, opfermutige Kämpfer für die Sache der Arbei-
63 Ebda. 64 BAP, R-2, Bd. 6067, unfoliert.
230 | D IE ERLESENE N ATION terklasse, wie Ernst Thälmann es war! [...] Ihr, die Jungen Pioniere habt das große Glück, die Früchte des Kampfes Eurer Väter und Mütter und ihrer Arbeit zu ernten.«65
Ernst Thälmann wird zum Paradebeispiel, zum permanenten Rückgriff auf das proletarisch-antifaschistische Opfer im Faschismus, für die Verluste und die Leiden der Eltern – aber auch für die Mahnung und die individuelle Notwendigkeit diesem Opfer durch Loyalität zur werktätigen Elterngeneration gerecht zu werden – die das Opfer erbracht hatten, damit die Kinder glücklich sein können. In der Ansprache zur Namensgebung der Organisation sind alle Formeln der Klassenverbundenheit, der Heimatliebe und der Opfernachahmung, aber auch des Glücks enthalten. »Junger Pionier, sei glücklich – denn Du lebst in der Deutschen Demokratischen Republik. Schön ist unser Vaterland. Unsere Werktätigen bauen Dir neue Schulen. Deine Lehrer sind Dir gute Freunde und Helfer. Sie lehren Dich, Dein Volk und Deine Heimat zu lieben und das Leben zu meistern [...] und jedes Jahr schenkt Dir die Regierung frohe Feiertage [...] So sorgt sich unsere Republik um Dich, so liebt sie alle Kinder.«66
Dieses glückliche Zukunftsversprechen sollte die Kinder und mit ihnen die Eltern an die Schutz und Geborgenheit versprechende Regierung binden – nicht nur mit Worten, sondern auch in ihren Taten. Zwar zeigte diese Erziehung wenig Erfolg, das Opfer und den Glücksanspruch auf die konkreten Institutionen zu übertragen (eine emotionale Verbindung zur Pionier- oder FDJ-Organisation blieb über die Bereiche der privaten Netzwerke fragmentarisch). Aber die emotionale Übertragung jener Redeweisen und Handlungsweisen auf den kollektiven Lebensraum ist auch bei den lebensgeschichtlichen Interviews in Wierlings Arbeit zu erkennen. Ernst Thälmann wird, losgelöst von seiner propagandistischen Funktion, zur Identifikationsfigur. »Teddy, (der Spitzname Thälmanns – A.H.) der vielgeliebte Teddy,
65 Vorwärts Junge Pioniere für eine glückliche Zukunft, BArch JA-IZJ, Blt. 3422, S. 5f. 66 5 Jahre Pionierorganisation Ernst Thälmann, BArch JA-IZJ, Blt. 2840, S. 25.
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das Wort Teddy, das hab ich geliebt.«67 Aber auch in den sogenannten Bandenbildungen seit Ende der 1950er Jahre zeigt sich der erfolgreiche Niederschlag der Redeweisen und Handlungsmuster aus der Pionierorganisation. In ihnen, die als proletarisch-urbaner Freiraum der Kinder von der Erwachsenenwelt existierten, nutzten sie (die sich in der Abgrenzung von den vorgegebenen Institutionen oftmals durch US-amerikanische Namensgebung auszuzeichnen versuchten) bestehende Rituale und Formen, wie »unterschriebener Ausweis, Gesetze (nach Form der ›Pioniergesetze‹), regelmäßige Zusammenkünfte, Erfassung der Mitglieder auf Klassenbasis.«68 Auch sie hatten schriftliche Regeln, wie »nicht zu stehlen, keine Leute zu belästigen und die Pioniergesetze einzuhalten (sic!)«.69 Dieser selten politisch definierte Freiraum vom institutionalisierten Leben70 war also sogar in seinem Eigen-Sinn, in seiner Loslösung von der Pionierorganisation und damit vom Kontrollsystem geprägt von den Formen und Sprachweisen der Organisation und ihrer Werte, derer sie sich aus Gründen der »Langeweile« zu entziehen suchten. Aus der vermittelten Dankbarkeit und dem Zukunftsversprechen entstehen somit nicht so sehr eine solidarische Verbundenheit mit den Institutionen des Staates, sondern eine Sympathie mit den Opfern des Faschismus und eine Übertragung familiärer Gefühle auf die Klasse der Werktätigen. Aus dem Pathos der Ehrung des Opfers und der emotionalen Gemeinschaft mit den Werktätigen entstehen Wahrnehmungsmuster und Handlungsweisen, die als kulturelle Praktiken eine unbewusste Identität und Identifizierung in und mit einer emotionalen nationalen Gemeinschaft bedingen. Dies gilt solange, wie diese gedachte Gemeinschaft den Opferpathos und das kulturelle und politische Aufgehoben-Sein der Werktätigen in der Gesellschaft garantiert. Selbstverständlich können diese Bewertungsmuster selbst Grundlage
67 Interview Bärbel Johnas, Transkript S. 93. In: Wierling, Dorothee: Geboren im Jahr Eins (2002), S. 111. 68 Wierling, Dorothee: Geboren im Jahr Eins (2002), S. 159. 69 Ebda., S. 161. 70 »(D)ie Hauptaktivität der Kinder [...] schien [...] im Anschleichen und Tarnen, im Bau von Unterständen und Verteidigungsanlagen zu bestehen. Manche spielten auch einfach Ball. Auf Befragen gaben sie an, sie wollten lediglich unter sich sein, hier störe sie keiner und dieses Leben mache ihnen Spaß.« Ebda.
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dafür werden, die gesellschaftliche Realität zu überprüfen und bei dem Befinden, dass diese dem Opferpathos und der Werktätigenkultur und Politik nicht gerecht werde, die emotionale nationale Identität wieder aufzuheben.71 Diesen Werde-Prozess der nationalen Identität werde ich nun anhand der Aufsätze belegen. Wie gelingt die nationale Anrufung in der schulischen Vermittlung von Literatur und ihrem Kanon? Welche pädagogischen und ästhetischen Praktiken führen dazu, dass die Schülerinnen sich auf bestimmte Weise zwischen den verschiedenen und manchmal sogar differierenden Diskursen des Nationalen entscheiden? Wie werden im Unterricht die Brüche geglättet, die einer nationalen Identität im Sinne des Staates entgegenstehen? Und welche nationale Identitätsstruktur zeigt sich dort, wo die Brüche weder durch Didaktik, durch Politik noch durch die ästhetische Referenz der Werke Heines geschlossen werden – sondern Risse im kollektiven Identitätsdiskurs bleiben?
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Der Übergang von der gedachten nationalen Gemeinschaft zur emotionalen Gemeinschaft, das gefühlte Beteiligtsein am nationalen Ganzen erfährt seine Ausprägung im modernen Staat zwischen Schule/Staat und Familie.72 Zwischen den Aussagen und Diskursen, zwischen differierenden Rollenzuweisungen und Biografiestrukturen muss die Schülerin sich immer dann als Subjekt mit Identifikationen und Abgrenzungen behaupten, wenn ihre Positionierung erfragt wird. Nun spielt diese Abfrage der Positionierung in den Nachkriegsstaaten eine große Rolle. Das Beweisen einer demokratischen oder sozialistischen
71 Dafür müssen die politischen Praktiken der Streiks, der Ausreise oder des »kleinen Widerstands« benannt werden. 72 Zur Bedeutung der Schulpflicht für die Entstehung einer gefühlten historischen Gemeinsamkeit siehe auch: Bude, Heinz: Die 50er Jahre im Spiegel der Flakhelfer- und der 68er Generation. In: Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. Schriften des Historischen Kollegs 58. Oldenbourg Verlag, München 2003, S. 145 – 158. Hier S. 145ff.
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Läuterung führt zu einer Positionierung der Schülerin, bei der sie sich entscheiden muss und innerhalb derer ihre nationale Identität und Emotion strukturiert wird. Ist diese Emotionalisierung aber erfolgt, so muss sie permanent gegen Brüche verteidigt werden. Da der Beweis einer nationalen Zugehörigkeit nicht mehr in einer militärischen Kampfpraxis, auf dem Schlachtfeld stattfinden kann (wie z.B. bei den antifaschistischen Vorbildern), nutzen die Schülerinnen narrative Muster für die Praxis der Nationalitätsbekundung. In Bezeugungen, Selbstdarstellungen, im biografischen Erzählen, in der Teilnahme an nationalen Ritualen, in der Bezichtigung des »antinationalen Anderen« – überall dort, wo »man sich selbst« innerhalb einer nationalen Erzählung oder Handlung fühlt, existiert nationale Identitätspraxis. Da diese Praxis selten vom Individuum als solche wahrgenommen wird, wird die konkrete kämpferische Praxis derer, die sich »für die Nation stark gemacht« haben, zum Verehrungsobjekt. Deren Handlungen, die eine Befreiung und Einheit der emotionalen Gemeinschaft gegenüber dem nationalen Feind erwirkt haben, werden zu Ersatzhandlungen für die Schülerin, die eine nationale Identität entwickelt hat. Die nationale Positionierung der Schülerin im Schreiben eines Aufsatzes über einen »Nationalhelden«, über Heinrich Heine, der mit seiner Biografie und seinen Texten zur Traditionsfigur und Vorkämpfer für den neuen Staat gemacht wurde, ist daher immer wieder geprägt von ästhetischen Ersatzhandlungen73. Im Schreiben, Lesen, Interpretieren wird die vergangene (nationale) Tat Heines zu einer Ersatzhandlung der Schülerin, in der sie ihr eigenes Begehren nach Handlung wiederfindet. Damit interpretiert sie aber nicht nur im Nachhinein Heines Biografie als nationale Performance. Die ästhetische Ersatzhandlung ist vielmehr selbst ein emotional-diskursives Bündel, in welchem durch Verehrung, vorgestellter Nachahmung und Übertragung
73 Unter ästhetischen Ersatzhandlungen verstehe ich, dass im Schreiben, Lesen, Malen oder Film-Sehen das Subjekt selbst eine Handlung spielt, die für die Dauer des Aktes Realität ist, auch wenn die Handlung rein geistiger Natur und nicht körperlicher Art ist. Diese Handlungen werden aber Teil der Erinnerungen oder der Referenzen, die dann auch auf körperliche Akte übertragen werden – in zwischenmenschlichen Kommunikationen übernimmt das Subjekt dann Teile der Handlungen, die es zuvor in alleiniger Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Instrument eingeübt oder kennengelernt hat.
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auf die eigene Person/Generation eine nationale Identität bestätigt oder gebrochen und wieder geglättet wird. Wie zeigt sich nun diese Deutung von Heines Biografie als nationaler Performance, die ihrerseits der Schülerin eine Identifikationsgrundlage bietet? »Aus diesem Gedicht (enfant perdu) erkennen wir, daß Heine stets für Freiheit eintrat, nie den Mut sinken ließ, sei es, wenn er z.B. kein Geld hatte, wenn er in Frankreich weilte und nicht nach Deutschland zurück konnte, oder wenn er in der Matratzengruft unter den schwierigsten Bedingungen immer wieder seine Werke für die Einheit Deutschlands, für Freiheit und Gerechtigkeit schrieb.« (A14, S.5)
In den Aufsätzen, das zeigt dieses Beispiel, werden Heines Leiden und sein »Lebensziel« dargestellt, als hätten sie keinen anderen Zweck gehabt, als die Einheit Deutschlands herbeizuführen. Wie in den meisten anderen Aufsätzen verschwindet im obigen Zitat das Individuum Heine völlig vor der nationalen Figur. Stets trat er für die Freiheit ein, nie ließ er den Mut sinken oder hörte auf, sein deutsches Heimatland zu lieben. Indem Heine entpersonifiziert wird, seine Biografie und sein Körper zur Fläche für eine Verehrung wird, wird aus der Verehrung selbst eine ästhetische Ersatzhandlung für die eigene Person. »Dreißig Jahre hielt er im Kampf um die Befreiung der Menschheit treulich aus, und obwohl er wußte, daß er allein niemals siegen wird, gab er diesen Kampf nicht auf. Ist das nicht ein Zeichen von ungeheurer Energie, mit der er kämpfte? Vergleichen wir uns doch in dieser Hinsicht einmal selbst mit Heine. So verspüren wir doch täglich, wieviel Überwindung und Selbstbeherrschung es kostet, beispielsweise eine Mathematikaufgabe, deren Lösungsweg ein wenig kompliziert ist, zu lösen. Vielmehr geben wir es bereits nach einigen Versuchen auf. Aber das erleben wir nicht nur bei der Lösung einer Mathematikaufgabe, sondern bei vielen anderen Dingen, mit denen wir täglich umgehen. Heine aber hat sein Ziel nicht aufgegeben [...].« (A18, S.2f.)
Auch wenn die Schülerin konstatiert, dass sie es nicht schafft diese Charaktereigenschaften immer »einzuhalten«, so erklärt der Vergleich dennoch, dass sie diese Zielstrebigkeit auf eine Idee, diese Aufopferung um der Idee willen schätzt und ihm gerne nacheifern würde. Die-
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se Übertragung der Handlungen Heines auf die eigene Person findet sich auch in weiteren Aufsätzen: »Sein (Heines – A.H.) Kampf ist umso mehr zu werten und zu achten, da er nicht durch die hoffnungslosen Aussichten resignierend aufgab. Dreißig Jahre unentwegter Kampf mit Wort und Feder – eine heldenhaftige und beispielhafte Tat, die sich der Mensch zum Beispiel nehmen sollte [...].« (A29, S.4)
Oder: »Ja. Nur wenige wagten in gleichem Sinne wie er zu kämpfen. Keiner in gleicher Art und Weise. Er stand allein im Kampf, und ein Soldat ohne Hinterland ist gegen eine Übermacht verloren.« (A35, S.5)
Heines Biografie, seine Arbeit und Handlungen werden für die Schülerin zum Ersatz für die eigene (als ungenügend wahrgenommene) Perfektion. Ob dadurch nun ein Bestreben, eine Arbeit an sich nach Vervollkommnung der eigenen Bedeutung für die nationale Gemeinschaft erreicht wird, ist nicht möglich generalisierend auszusagen. Was aber aus allen drei Zitaten abzulesen ist, ist die Gedankenleistung, aus einer interpretierten nationalen Biografie eines Klassikers eine Überprüfung der eigenen Biografie zu machen. Aus der Beschreibung Heines nationaler Biografie spricht eine schwärmerische Verehrung, deren Prinzip immer ein Phantasma ist, das eigene Leben dem des Verehrten ähnlich zu machen.74 Dieser phantasmatischen Verehrung entspricht auch eine weitere ästhetische Ersatzhandlung, die typisch ist für eine emotionale Verschmelzung der Leserin mit dem vorgestellten Autor. Literatur und Autor sollen für die Leserin, die sich mit ihm identifiziert, Lebenshilfe bieten, sollen die Worte, die Sprechordnung liefern, die bisher nur als gefühlte Brüche für die Schülerin erfahrbar waren. »Besondere Bedeutung erlangten die Gedichte, die uns eine Lebenshilfe geben, indem sie ein richtiges Problem erläutern und einen Ausweg zeigen.« (A14, S.2) Da sich die Schülerin mit dem Leben und den Aussagen des Autors identifiziert, da sie in seinen Handlungen phantasmatische Referenzen
74 Vgl.: Bonz, Jochen: Die Subjektposition King Girl. Über ein nicht nur von Mädchen eingenommenes Verhältnis zu Pop. In: Ders.: (Hrsg.): Popkulturtheorie. Ventil Verlag, Mainz 2002, S. 94 – 118.
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erkennt »ebenso zu sein«, werden seine Worte und Taten, ebenso wie seine (interpretierten) Charaktereigenschaften zum Vorbild. »Ich muss immer wieder Heines Mut und Ausdauer bewundern.« (A25, S.3) Diese Charaktereigenschaften, diese Taten und Worte werden somit zu einer Struktur, an der entlang die Leserin für sich Markierungen für ihre eigene Lebensgestaltung erkennt: »Jeder, der irgendwelche Werke Heines gelesen hat, findet in ihnen Hinweise und Anweisungen, die ihm helfen, ihn erziehen.« (A32, S.4). In dem, was die vorgegebenen Zitatautoritäten (Marx, Engels, konkret aber Heine) sagen, findet die Schülerin eine Bestätigung dessen, was sie selber denkt, wofür sie »nicht die richtigen Worte« hat, deren Logik sie sich nun aber anschließt und damit auch den Kontext der Logiken übernimmt. (A18, S.5, A33, S.4) Ästhetische Ersatzhandlungen sind also ein wichtiges Prinzip von Biografisierung und Identitätsentwicklung. Die eigene Biografie wird an den Werten, Charaktereigenschaften und Taten des verehrten Autors überprüft und ausgerichtet – »ich will so mutig, so tapfer sein, wie Heine, ich will so für das Beste der Menschheit und der Heimat kämpfen wie er«. Diese Verehrung ist aber immer auch ein Prinzip von Literatur, Musik, Sport, Film an sich – kurz, von Medien, deren Distribution auf populäre Adaption angewiesen ist. Und so führt die biografisierte Rezeption Heines im Literaturunterricht, führt seine Darstellung als Kollektivvorbild zu einer Popularisierung. »Nationalstar Heine« steht mit seinen imaginierten und entpersonifizierten Handlungen und für ein Begehren der Schülerin in eben seinem Sinne national »aufrecht« zu sein. Die Verehrung Heines ist somit zweierlei. In der Verehrung seiner Biografie und seiner Charaktereigenschaften findet ein Ersatz für die eigene Biografie statt, eine Stellvertreterhandlung. Eng verknüpft mit dieser Stellvertreterhandlung im ästhetischen Prozess des Lesens, Schreibens, Interpretierens und vor allem Fühlens ist das phantasmatische Prinzip, zukünftig ebenso zu handeln wie Heine. Aus der Deutung, wonach diese und jene Handlung und Eigenschaften Heines nationaler Art seien, ist das emotionale Gefühl geworden, eben solche nationalen Handlungen zu vollziehen, sich ebenso wie Heine zu verhalten. Ich werde nun die einzelnen konkreten Emotionen veranschaulichen, die in der Nachahmung und im Phantasma zur DDR-spezifischen nationalen Biografisierung und Identität führen.
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Eine emotionale Gemeinschaft mit den Arbeitenden eingehen Erstes Prinzip der DDR-spezifischen nationalen Identifizierung bleibt die emotionale Gemeinschaft mit den Werktätigen, das Erkennen einer Familie mit der ihr impliziten vorgestellten kollektiven Erfahrungen, Kulturen und Wertmustern. Diese gedachte Gemeinschaft, die mittels der familialisierten Strukturen eine emotionale geworden ist, lässt aus kulturellen Praktiken, Identifizierungen und Abgrenzungen eine vaterländische Zugehörigkeit werden. Eine arbeiterliche Identität zu haben, sich mit den Werktätigen in einer gemeinsamen Kultur zu wähnen – zeugt in den Augen der Schülerinnen von Patriotismus als positivem Wert: »Das zeigt ganz klar, daß er (Heine – A.H.) ein wirklicher Patriot war, und somit wird die Phrase vom Vaterlandsverräter zerschlagen. Ein Mensch, der immer an sein Vaterland denkt, für es arbeitet und schafft, liebt es auch.« (A3, S.7 – Hervorhebung A.H.)
Aus der Arbeit selbst – so behauptet hier die Autorin – erwachse eine emotionale Verbindung zu einem nationalen Raum und dessen Bevölkerung. Patriotismus und Arbeit sind von da an nicht mehr zu trennen, sie bedingen sich gegenseitig. Auf diese Weise wird Arbeit als kulturelle und soziale Praxis zum Axiom für echte Vaterlandsliebe – und Nichtarbeit zur Vorbedingung für das Gegenteil. Und so erwächst aus der conditio sine qua non »Arbeit = echte Vaterlandsliebe« die Abgrenzung zu einem »Anderen«. Arbeit und Nichtarbeit werden zur Definitionsgrundlage für die Zugehörigkeit zum Volk. Dichotomie Arbeit – Nichtarbeit und Identifizierung Identität bedingt, wie oben schon ausgeführt, nach einer Identifizierung mit etwas auch immer eine Abgrenzung zum Anderen. Für die Konstruktion einer gedachten und emotionalen Gemeinschaft mit den Arbeitenden sind deshalb die Feindbilder besonders bedeutsam. Heinrich Heines Adaption des dichotomischen Hütten–Paläste–Bildes Büchners schafft die Worte, das Beispiel für die von den Schülerinnen gefühlte dichotome Identität.
238 | D IE ERLESENE N ATION »›Wir wollen auf Erden glücklich sein und wollen nicht mehr darben, verschlemmen soll nicht der faule Bauch, was fleißige Hände erwarben.‹ Diese Worte ließen natürlich die dicken faulen Bäuche wild werden.« (A3, S.4, ähnlich: A30, S.4)
Diese Metapher vom faulen Bauch und den fleißigen Händen, manchmal sogar konkret verbunden mit der Losung Büchners, versinnbildlicht eine binäre Identitätsstruktur. Die Unterdrückung des Arbeitenden durch den nichtarbeitenden Kapitalisten wird als Feindbild in der Alltagssprache der Schülerin widergespiegelt und beweist dadurch, dass sie nicht auswendig gelernte Phrase ist, sondern die Schülerin sich mit ihm identifiziert. »So versuchte er (Heine) immer wieder den deutschen Michel wachzurütteln. Da dies aber von der herrschenden Klasse verboten war, sah er sich gezwungen, ›sein Gedankenschiff mit Wimpeln zu beflaggen.‹ Aber auch die Verbote konnten ihn nicht von seinem Ziel abhalten. Den Palästen erklärte er den Krieg, aber die Hütten werden erleuchtet werden.« (A21, S.4, ähnlich A13 S.3, sowie A17, S.2)
Aber Heines Werke sind nicht nur Angebot einer dichotomen Identität. Ganz im Sinne des teleologischen historischen Materialismus des frühen Marx75 führt die Geißelung der produzierenden Klasse zu einer Veränderung der Verhältnisse, die in revolutionäre Zustände münde. (A34, S.3) In einer solchen revolutionären Situation stehe Heines eigene Positionierung in der (historischen) Familie der Arbeiterklasse für selbstverständliche Überwindung dieser Knechtung des Arbeiters durch die nichtarbeitenden Kapitalisten. So habe Heine mit seiner Person eine Politik geführt, die »gegen eine Gesellschaft gerichtet war, die zum Untergang verurteilt war, weil sie einen Gegensatz in sich barg, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, den Gegensatz der gesellschaftlichen Produktion zur privaten Aneignung einzelner Menschen [...].« (A34, S.3)
Eine andere Schülerin ordnet Heines Politik gleich in die binäre Kampfstruktur entlang der Zugehörigkeit von Arbeit oder Ausnutzung
75 Marx, Karl: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort. In: MEW, Bd. 13, Dietz Verlag, Berlin, S. 7 – 11. Hier S. 9.
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dieser Arbeit ein, in der sie auch konkrete Auswirkungen für die unterdrückte Klasse der Arbeitenden betont: So lebte und kämpfte Heine dafür »alle seine Kräfte der Revolution zu widmen, dem Sturz der alten reaktionären Gesellschaftsordnung, in der der Mensch nicht mehr Mensch sein soll nach dem Willen der herrschenden Schichten, die eine bedingungslose Unterwerfung unter ihre willkürlichen Maßnahmen verlangen, [...]. ›Friede den Hütten, Krieg den Palästen‹ hieß der Kampfspruch Büchners, den man mit dem Programm Heines gleichsetzen könnte.« (A34, S.2)
Der Mensch soll in diesem Zitat nach dem Willen derer, die die Arbeitskraft anderer ausnutzen, ohne selbst zu arbeiten nicht mehr Mensch sein, soll sich bedingungslos unterwerfen – das ist die Beschreibung einer Bedrohung der Entmenschlichung von Angehörigen der Wir-Gruppe, die sich an der Dichotomie Arbeit – Nicht-Arbeit entlang hangelt. Bezeichnend ist, dass die Schülerin diesen kriegerischen Zustand ins Präsens setzt, also die Gefahr der körperlichen Auslöschung der »Hüttenbewohner«, als der Arbeitenden durch die »Palastbewohner« – die Nichtarbeitenden für aktuell hält. Die Verknüpfung von Arbeit mit einem positiven Patriotismus und das binäre Freund-Feind-Bild entlang Arbeit und Nichtarbeit sind also unabdingbare Voraussetzung für eine DDR-spezifische emotionale Identität. Wie aber wird sie in der konkreten Heinerezeption im literaturdidaktischen Prozess hergestellt? Der literaturdidaktische Prozess um und mit Heine Für die Abgrenzung zum Feind der Arbeiter eignet sich Heines Betrugstheorie besonders gut. Denn der Feind des Arbeiters sei ja nicht nur jemand, der den Arbeiter selbst unterdrücken wolle, sondern er strebe auch danach, den Arbeiter in diesem Unterdrückungsverhältnis zu halten – ein Umstand, der Wachsamkeit gegen den Feind ebenso bedingt wie das Axiom, dass dessen Argumenten nicht zu trauen sei. »Heine nennt die Unterdrücker und Kriegstreiber ›verdächt’ger Gauch‹, das besagt, daß Heine ihre verlogenen Versprechen genau erkannte. Diese bereicherten sich auf jegliche Art und hatten nur ein Wort für das Volk über, wenn sie dies wieder einmal betrügen wollten.« (A14, S.3)
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Das Feindbild »Kirche« erhält in dieser binären Identitätsstruktur eine wichtige Funktion. Nicht nur, dass sie als Heines Feind, welchen er zu bekämpfen trachtete, stets erwähnt wird, sie wird auch zum Gehilfen des dichotomen Gegners: »Wenn die Menschen nach ihrer Lehre (dem christlichen Glauben) leben und handeln, dann werden sie im Jenseits tausendfach dafür belohnt. Die herrschende Klasse aber genießt das Leben schon auf der Erde. Sie vergnügt sich und lebt von dem, was sie vom Volke erpresst und geraubt hat.« (A17, S.4)
Oder: »Er (Heine) wollte nicht, daß das deutsche Volk eingelullt wird durch das Eiapopeia vom Himmel. [...] Den Deutschen zeigte er, daß sie nicht auf Gott vertrauen sollen, sondern schon auf Erden das Himmelreich errichten. Dazu ist es notwendig, daß sie das, was ihre fleißigen Hände geschaffen haben, selbst verbrauchen und nicht denen geben, die faul sind und sie nur beherrschen wollen.« (A21, S.3f. – ähnlich: A30, S.6)
Die Interpretation und Einbettung dieses Politikverständnisses muss im Unterricht über eine Diskussion um konkrete Handlungen erfolgt sein. Denn in mehreren Aufsätzen schlussfolgern die Schülerinnen aus dieser Abgrenzung zum Feind und dessen betrügerischer Konfrontation zur eigenen emotionalen Gemeinschaft, dass eine Aktivität im hussitischen Sinne, also der Zwangsläufigkeit von gewaltsamer Bekämpfung von Unrecht, daraus erfolgen müsse. Erst durch diese Struktur (die sich ja auch in anderen Kollektivbiografien aus dem Unterricht, den Filmen etc. ergibt) erkennt die Schülerin ein kämpferisches Leben als unabdingbare Notwendigkeit an, wie das folgende Beispiel beweist: »Es war doch damals so in Deutschland, daß die Arbeiter zwölf und noch mehr Stunden am Tage arbeiten mußten, wofür sie allerdings von den Fabrikbesitzern nur wenig Geld bekamen und immer nur betrogen wurden. Ähnlich war es auch in anderen Ländern, und es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn es dort schon zu Auflehnungen des Proletariats gekommen ist.« (A8, S.2)
Zur Begründung von Pflicht und Notwendigkeit zur Bekämpfung des Gegners wird wiederum die Kollektivbiografie Heines herangezogen:
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»Dreißig Jahre lang hat er gekämpft, gekämpft gegen Not und Elend, Schmach und Unterdrückung des deutschen Volkes, gegen Bevorrechtung der sogenannten ›besseren Oberschicht‹ für die Freiheit des deutschen Volkes.« (A19, S.4)
Erneut entpersonifiziert wird Heine zum Star, dessen Charisma daraus besteht, pausenlos über den nationalen Feind aufgeklärt und ihn dadurch bekämpft zu haben. Für diese emotionale Verbindung der Schülerin zum verehrten »Star« leisten die Emotionen Hass, Liebe und Leiden eine beachtliche Rolle. Sie, die im Unterricht von der Lehrerin und durch die Diskussion mit anderen Schülerinnen zum Antriebsmotor Heines erklärt worden zu sein scheinen und von den Schülerinnen als eigene Emotionen zum Erfahrungsschatz gehören, werden zum Bindemittel, um die binäre nationale Identität entlang einer kämpferischen Auseinandersetzung zu strukturieren: »Wenn wir dieses Gedicht betrachten, sehen wir, daß das Volk durch solche Werke auf den Kampf vorbereitet wird. Dies Gedicht soll den Haß gegen die Unterdrückung erwecken und das Volk zum Kampf aufrufen.« (A15, S.3)
Oder: »Heine schreibt selbst in seinem politischen Glaubensbekenntnis, dem Vorwort zur französischen Ausgabe der ›Lutetia‹, daß für ihn zwei Punkte für den Sieg des Proletariats, der einmal kommen wird, stimmen [...]. Die beiden Stimmen sind einmal die Logik und dann der Haß gegen jegliche Unterdrückung, gegen die Menschen, die ihre uneingeschränkte Herrschaft ausführen und dabei soviel Elend anrichten.« (A23, S.9)
Ergänzend zur Emotion des Hasses, aus der eine individuelle und kollektive gefühlte Identität entsteht, tritt eine für die Nachkriegsgeneration typische Emotion hinzu, welche ein Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft der Arbeiter zu einer Identifizierung mit dem neuen Staat ermöglicht. Es ist die Emotion des Leidens: Die Opfer der Eltern und der familialisierten Arbeiterklasse sind mit echter Liebe verknüpft worden. Ist diese Bedingung von der Schülerin akzeptiert, so erkennt sie im symbolischen Leiden Heines die Opfer und Liebe der (erweiterten) Familie wieder. »Hier kommt Heines echter Patriotismus zum Ausdruck. Er liebte sein Vaterland sehr, und um ihm zu helfen, mußte er leiden.« (A26, S.7) Diese emotionale Angleichung schafft es auch
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christliche Diskurse zu bündeln, indem das Leiden ohnehin als unübertrefflicher Liebesbeweis gehandelt wird. Die Figur Heine erhält dabei im Schreiben der Schülerin Christusgleiche Züge: »Aber das deutsche Volk vergalt ihm Gutes mit Bösem. Es schrie: ›Ans Kreuz mit ihm, er treibt schändlichen Verrat! Pfui!‹ Man verkannte seine Absichten, verstieß ihn aus seinem Vaterlande und ließ ihn elend in der Fremde umkommen.« (A35, S.3)
Oder: »Sein Blut und damit seine Kraft floß dahin.« (A27, S.5, ähnlich: A28, S.7)
Es sind diese konkreten familiären Emotionen Liebe, Hass und Leiden, die (oft übertragen auf einen »Märtyrer« Heine) den antifaschistischen Gründungsmythos und Glücksversprechen zu emotionalen Identitätsmerkmalen der Schülerin werden lassen. Heine wird in der literaturkanonischen Vermittlung im Unterricht in eine Linie mit den antifaschistischen Opfern bzw. den familiären Opfern des Faschismus gerückt. Und so erfolgt auch die Bestätigung seiner nationalen Zugehörigkeit aus der Verbindung Leiden – Opfer – (Anti-)Faschismus: »Um Heine [...] unschädlich zu machen, sagte man, daß er Franzose und kein Deutscher sei. Damit wollten die gierigen Machtstreber erreichen, daß dem deutschen Volk nichts über die wahren Zustände gesagt wurde. Sie wollten sich Reichtum und Macht verschaffen [...]. Deshalb wurden auch die Werke Heines von Hitler verboten. Auch er wollte nichts von einer Revolution, von dem Frieden für die Hütten wissen.« (A21, S.7)
Die Nähe der Argumentation »Heine war ein Deutscher« und »Deshalb wurden seine Werke von Hitler verboten« suggeriert einen Zusammenhang von authentischer Nationalzugehörigkeit mit Leiden unter dem Faschismus. Auf diese Weise entsteht eine emotionale Adaption des Antifaschismusmythos bei den Schülerinnen über die Bearbeitung der populären Biografie Heines. Die gefühlte Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse, hervorgerufen durch die Übertragung familiärer Gefühle und binärer Identitätsbilder, schafft eine nationale Identitätskonstruktion. Eine nationale Identität, die auf den »antifaschistischen Arbeiterstaat« gerade-
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zu maßgeschneidert passt. Denn diese Identifizierung mit der staatseigenen Räson verlangt nun, dass der Staat das nationale Subjekt vor dem Feind der Arbeiter schütze bzw. dass das eigene Glück und Wohlbefinden über die Befreiung vom Nichtarbeitenden (Nicht durch die Befreiung von Arbeit!) gesichert werde. »So bezeichnet sich (Heine) in der ersten Zeile seines Gedichtes (enfant perdu) als ein ›verlorener Posten im Freiheitskriege.‹ Was war das für ein Krieg? War es eine Befreiung von einer Fremdherrschaft, von der Unterdrückung durch ein fremdes Volk? Nein, es war etwas viel Größeres: es ging um die Befreiung des deutschen Volkes von der Unterdrückung einer Ausbeuterschicht.« (A28, S.3)
Statt der Befreiung eines Volks, gekennzeichnet durch Sprache und Raum von einem anderen, ist die Befreiung von der »Fremdherrschaft« durch die Nichtarbeitenden zum kollektiven Ziel geworden, für dessen Erfolg nationale Vorbilder Pate stehen. Und so ist die literaturdidaktische Bearbeitung von Heines Position zur Arbeiterklasse mittels der Inhalte Betrugstheorie, Abgrenzung vom Feind und Gleichsetzung von Arbeiter und Volkszugehörigen zu einer individuellen und kollektiven Praxis geworden, die das eigene Wohlergehen an eine nationalstaatliche Regierung bindet. Besonders erfolgreich ist diese Anbindung dann, wenn diese nationalstaatlichen Kämpfe im »Heimatstaat« DDR als erfüllt angesehen werden. »Auch in einem Teil Deutschlands, dem ehemaligen Land der Träumer und Spießbürger, führte (die proletarische Revolution – A.H.) zum Siege. Damit sind Heines Ziele verwirklicht worden. Es herrschen nicht mehr Untätigkeit einzelner, Ungerechtigkeit und Ausbeutung.« (A30, S.10)
Heines (und damit aller Märtyrer) Ziel und Kampf sei damit im »besseren Deutschland« aufgehoben und erfüllt – ebenso, wie dieses neue »bessere Deutschland« die Garantie verspricht auch zukünftig vor den Feinden der emotionalen Arbeitergemeinschaft zu schützen. Im besseren Deutschland aufgehen Heimat durch Familie und Raum Die Schülerin hat also durch Übertragung der Familienzugehörigkeit auf die Arbeiterklasse und ihre Märtyrer die Nation als eine erweiterte
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emotionale Gemeinschaft anerkannt. Indem sie zusätzlich ihre zufällige Geburt und die Räume, in denen sie sich bewegt, die sie erkennt und in denen sie sich »zu-Hause« fühlt, an den Raum ihrer vorgestellten Ahnen bindet, wird diese Landschaft Heimat. Die eigene Familie spielt also eine große Rolle dabei, einen umrissenen Raum mit seinen – als spezifisch erachteten – Landschaften als einen Ort zu betrachten, an den man auf mystische Weise gebunden sei. Raum, Landschaft und die Anbindung derselben an eine mystische familiäre Herkunft spielen in den Aufsätzen eine besondere Rolle, um die emotionale Gemeinschaft mit Heine als Mitglied der nationalen Gemeinschaft zu bezeugen. Die Beschreibungen der Landschaftsbilder aus dem »Wintermärchen«, aber auch der Besuch Heines bei seiner Mutter sind erzählte Referenzen für diese emotionale Gemeinschaft. Und so wird die Liebe zur Heimat, ihrer Landschaft und den familiären Implikationen zur Grundlage, sich »zu-Hause« zu fühlen, »bei sich selbst zu sein«, kurz: Sich identisch zu fühlen mit einem Raum, den man mit vorgestellten Gemeinschaftsangehörigen (Heine) über den Tod hinaus teilt. Im Schreiben über Heine macht die Schülerin das Leben und Lieben dieses Heimatraums zum selbstverständlichen Zwecke eines jeden Deutschen. Demnach war Heine »ein offenherziger Deutscher, der seine Heimat überaus liebte und den Zweck seines Lebens erkannt hatte. So zog es ihn aus dem Exil, also aus Frankreich, immer wieder nach Deutschland, zu seiner Mutter, in seine Heimat.« (A15, S.5)
Dieser »Zweck des Lebens« – die (familiär erklärte) Liebe zu einem vorgestellten gemeinsamen Raum, naturalisiert die moralische Bindung an die nationale Gemeinschaft und macht Loyalität zu ihr zu einer unabdingbaren und »natürlichen« Aufgabe für das Individuum.76 Ergänzt wird diese Verbindung vom Menschen zu seiner Heimat dadurch, dass diese »natürliche« Liebe zum Heimatraum Voraussetzung für ein Goldenes Zeitalter sei. Bedingungslose Liebe und Opferbereitschaft sind ästhetische Ersatzhandlungen, aus denen die Schülerin eine Gewissheit nährt, in einem »besseren Deutschland« zu leben und somit für sich und die Nation zu einer teleologischen Erfüllung 76 Eickelpasch, Rolf und Rademacher, Claudia: Identität. Transcript Verlag, Bielefeld 2004, S. 72.
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gefunden zu haben. Diese ästhetische Ersatzhandlung speist sich in erster Linie aus der kollektivbiografischen Auseinandersetzung um Heines Exil. Durchgängig wird beschrieben, dass es die opferbereite Liebe gewesen sei, die Heine dazu gebracht habe, seinen Heimatraum zu verlassen. Diese Loyalität wiederum sei Voraussetzung gewesen, um überhaupt das (teleologisch notwendige) Goldene Zeitalter für die nationale Gemeinschaft einläuten zu können. »Seine (Heines – A.H.) ganze Sehnsucht galt Deutschland, aber einem besseren Deutschland, das frei ist von Ungerechtigkeit und Knechtschaft.« (A30, S.4. ähnlich: A25, S.6)
Dieses »bessere Deutschland« wiederum ist nun auf dem gemeinsamen Territorium der Schülerin und Heinrich Heines wahr geworden, auch wenn das endgültige Ziel – die aurea aetas der Heimat noch nicht vollständig verwirklicht ist. »Heines Waffe, die Satire, wird auch bei uns in der DDR noch immer als Mittel des Kampfes gegen alles Rückständige benutzt, weil wir ja leider in einer Situation leben, die der Situation Heines entspricht: Wir haben das zerrissene Deutschland und Menschen in Westdeutschland, die noch immer nichts aus der Geschichte gelernt haben. Wir verehren Heine als einen Großen unserer Nation, weil er immer das bessere Deutschland im Sinn gehabt hat.« (A 25, S.6)
Seine vollständige Verwirklichung erführe das bessere Deutschland aber nur unter der Bedingung, dass der eine Teil (Westdeutschland, wo man »noch immer nichts aus der Geschichte gelernt habe«) sich den Erkenntnissen und Bedingungen des anderen Teils Deutschlands anschlösse. Entgegen Heines politischem Verständnis vom »Vaterland Europa« wird hier das deutsche Vaterland vorgestellter Garant einer sozialen und politischen Befreiung – und damit zum Goldenen Zeitalter für die mystische Gemeinschaft der Toten und Lebenden auf diesem Territorium. Die Heimat wird also über das Schreiben einer gemeinsamen moralischen Praxis und durch den Bezug auf ein Territorium zur notwendigen Folge der Geschichte. Auf ihrem Territorium vollziehen sich Tradition und Fortschritt (z.B. A33, S.2) und bildet sich somit eine
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mystische Gemeinschaft, die ein »Sich selbst fühlen«, also eine Identität mit dem Sein, gewesen sein und Werden der Nation ermöglicht. Die Rezeption Heines, insbesondere das Konstrukt des Soldatischen, ist eine besonders geeignete ästhetische Form, diese mystische Geschichte auf das konkrete Territorium des »Vaterlandes« zu übertragen. »›Es ist eine gar zu schlechte Zeit und wer die Kraft und den freien Mut besitzt, hat zugleich die Verpflichtung in den Kampf zu treten.‹ So äußerste sich H. Heine einmal. [...] Er fühlte sich verpflichtet das verschlafene und verträumte Deutschland wachzurütteln, [...]. Er hatte die Triebkräfte in der Entwicklung erkannt und stand auf der Seite des Fortschritts. Deshalb kritisierte er äußerst stark diejenigen Kräfte, die den Fortschritt hemmten [...] vor allem das reaktionäre Preußen.« (A26, S.1f.)
Wie in diesem Zitat wird der unbestimmte Begriff »das reaktionäre Preußen« in den Aufsätzen immer wieder zum Sammelbecken für alles, was dem Fortschritt im Wege stand – und deshalb auf dem Territorium vom Vertreter der nationalen Gemeinschaft bekämpft werden musste. Aus diesem Kampf ergibt sich zweierlei: Zum einen bedeutet dieser Kampf gegen das Alte, das Reaktionäre, das oft unbestimmte Vergangene ein wahrer Patriot zu sein (A26, S.7). Zum anderen setzt es den Heimatraum in die größere Geschichte, die durch das Opfer jener ermöglicht wurde, die im Kampf gegen »das Reaktionäre« zu Märtyrern wurden und der Heimat zum Leben verhalfen. »Aus den Opfern, die ihr Leben für die Freiheit gegeben haben, erwächst den Menschen neue Kraft. Sie können mit neuem Mut in den Kampf eintreten.« (A17, S.5) Diesen Opferdiskurs verknüpfen die Schülerinnen immer wieder mit den Opfern des Faschismus und übernehmen damit ein grundlegendes Identitätsangebot des neuen Staates in ihm und seiner Gesellschaft die Sühne und die notwendige Nachfolge jener (familiären) Opfer zu sein: »Heine tritt [...] für die Gleichheit aller Nationen ein, besonders für eine Annäherung von Deutschland und Frankreich. Diese Werke hätten den Kampf der Antifaschisten unterstützt, sie hätten Außenstehende in Gegnerschaft zum Nazireich gebracht.« (A20, S.6)
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Oder: »Hätte Heine im Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt, so wäre sein Paß mit der gut bekannten Bemerkung ›vaterlandsloser Geselle‹ ›geziert‹ gewesen. Ein Adolf Hitler hätte Heine im KZ vergasen lassen, so wie er seine Werke vor der Berliner Universität verbrennen ließ.« (A29, S.4)
So wie das als Heimat definierte Territorium zur mystischen Gemeinsamkeit wird, wird über die Opferverbindung die DDR zum wahren Deutschland, zum Interessenswahrer »deutscher Interessen«. Das bessere Deutschland grenzt sich gegen den Faschismus deutlich ab. Diese Abgrenzung bedeutet in letzter Konsequenz eine deutliche Differenzierung von der Bundesrepublik, da dort die Menschen wohnen, »die noch nichts aus der Geschichte gelernt haben.« (A28) Indem die »schlechten Traditionen«, die sich auf dem Heimatraum »abgespielt« haben, auf ein Territorium außerhalb der Staatsgrenzen übertragen werden, kann die Schülerin sich im selben Atemzug von ihnen befreien. Konkret: Die Übertragung einer gemeinschaftlichen aurea aetas zwischen Heine und der Schülerin auf einen gemeinschaftlich gedachten Heimatraum wird zum Befreiungsakt vom Faschismus: »Unsere Generation, die mit Stolz auf Heinrich Heine und sein Werk blickt, kann erkennen, wo die wirklichen ›Narren‹ im damaligen Deutschland zu suchen waren. Wir finden sie in den Menschen, die schon im Zollverein eine Einheit für das Vaterland sahen, die mit Stolz auf ihre ›Hegemonie im Luftreich des Traums‹ blickten, die alle Hoffnung auf den, die mittelalterlichen Zustände wiederherstellenden, Kaiser Barbarossa setzten, und in solchen Leuten, die im Preußentum das Glück Deutschlands begründet sahen. Gleichzeitig aber erkennen wir, daß unser Vaterland nicht nur aus solchen Vertretern bestand. Schon damals warnten und mahnten Männer wie Heine, aufzuräumen mit solchen Zuständen.« (A28, S.5)
Die gedachte und emotionale Gemeinschaft mit Heinrich Heine wirkt hier wie ein Persilschein. Denn wenn es immer Menschen gegeben hat, die gegen die Feinde des Volkes auf dem Territorium kämpften, dann kann man sich auch getrost von der Misere verabschieden, dass von »deutschem Boden nur Schreckliches ausging«. Dieses »Schreckliche«, konkret: der Faschismus, wird aus dem Heimatraum vertrieben und somit die eigene Biografie, die vorgestellte und gefühlte mystische
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Verbindung der eigenen Person mit Lebenden und Toten bereinigt. Fortan kann sich die, als Teil der Nachkriegsgeneration angesprochene, Person mit ihren spezifischen (Nach)Kriegserfahrungen just in diesem nationalen Raum und seiner staatlichen Verwaltung zu Hause fühlen. Die eigene Generation ist hier zu Hause Als Angehörige der Nachkriegsjugend im »besseren Deutschland« zu leben bedeutet, den Glücksanspruch und das Glücksversprechen der Eltern und Regierenden auf eine gedachte Gemeinschaft zu übertragen und ihn zum ethischen Prinzip zu machen. Heines Anrufung der Jugend wird dafür zum emotionalen Ausdruck, zum Stichwort für diese emotionalen Empfindungen. Referenz für diese gelungene Übertragung ist Heines Wintermärchen: »Es erwächst in ihm (Heine) der Glaube an eine neue Generation, die endgültig mit dem alten bricht und etwas Besseres aufbaut. Heine kommt zu dem Schluß: ›… fällt auch der eine, so rücken doch immer wieder andere nach.‹ Fest glaubt er an eine schönere Zukunft Deutschlands, aufgebaut von der Generation, von der er in seinem Meisterwerk ›Deutschland. Ein Wintermärchen‹ sagt: ›es wächst heran ein neu‹ Geschlecht, ganz ohne Schmink und Sünde, mit freien Gedanken und freier Brust.‹« (A28, S.8)
Diese Referenz bestätigt nicht nur den gelungenen Glücksauftrag durch den Staat, die Gesellschaft und die Familie, wonach sich in der Nachkriegsjugend alle nationalen Glücksvorstellungen vereinigen sollen, sie wird selbst sogar zum Schmelzpunkt des nationalen teleologischen Sieges: »Vor allem mußten seine Werke deshalb der Jugend gelten, der Generation, die der Träger der Zukunft ist, die den Keim des Fortschritts in sich trägt.« (A6, S.4)
Oder: »Vor allem die Jugend wird es einmal sein, davon ist Heine überzeugt, die seinen Kampf zu einem siegreichen Ende führen wird.« (A9, S.5, ähnlich A15)
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Diese Übertragung erhält ihre nationale Komponente insbesondere dadurch, dass Heines Ansprache nicht als Anrufung an die Jugend schlechthin, sondern als Anrufung an die deutsche Jugend interpretiert wird. (z.B. A32, S.5) Dass dieser Glücksanspruch für die eigene Generation als nationales Projekt ausschließlich in der DDR, besser: im antifaschistischen Staat verwirklicht werde, zeigt folgendes Zitat besonders deutlich: »ist es nicht so, dass wir, die Jugend in der DDR das neue Geschlecht sind? Haben wir nicht den Posten Heines übernommen?« (A19, S.8)
Aus dem Glücksauftrag an die Jugend, aus dem Versprechen des glücklichen Lebens im »besseren Deutschland« ist deshalb – und das meine ich mit sittlichem/ethischem Prinzip – auch eine Handlungsaufgabe geworden. »Genau so, wie sich Heine verantwortlich gefühlt hat für die Zukunft Deutschlands, müssen wir auch dieses Verantwortungsgefühl in uns tragen.« (A19, S.8)
Vom Glücksversprechen des Staates und seiner Gesellschaft an die Nachkriegsgeneration adaptiert die Schülerin ein moralisches Bekenntnis, eine sittliche Aufgabe. Sie will »wachsam« sein gegen die Feinde des »besseren Deutschland«. Dieses Selbstbekenntnis ist eine identitätsbildende kulturelle Praxis, bei der das nationale Wohl und Wehe zum Schicksal des Subjektes wird, dem es sich mit seiner eigenen Biografie verpflichtet. Im Falle der Nachkriegsgeneration kann diese nationale Aufgabe nicht ohne den Diskurs von der Einheit des Heimatraums definiert werden. Ich habe oben gezeigt, dass im Unterricht der 1950er Jahre der Heimatraum »Deutschland« noch nicht erschöpfend mit den Grenzen der DDR gleichgesetzt wird. Nordsee, Ostsee, Ruhrgebiet oder Gebirge werden immer noch als gesamtdeutsche Landschaften dargestellt und den Kindern als Heimatraum offeriert. Die vielfältige Betonung von Heines Beitrag zur Einheit Deutschlands und die Notwendigkeit sich diese »nationale Aufgabe« zu Eigen zu machen, wird jedoch an sozialpolitische Inhalte gebunden: »Er (Heine – A.H.) wußte, daß die Jugend einmal seinen Wunschtraum, die Errichtung einer Demokratie in Deutschland, verwirklichen wird. Ein Teil
250 | D IE ERLESENE N ATION Deutschland ist eine Demokratie, und wir werden nicht eher ruhen, bevor das gesamte Deutschland eine Republik ist.« (A32, S.2)
In diesem Zitat überträgt die Schülerin die nationalpolitische Aufgabe Heines »Deutschland zu einer Republik zu machen« auf die eigene nationale Aufgabe »Deutschland unter sozialem Vorzeichen zu vereinigen«. Sie unterstellt, dass die BRD weder die Heimat Heines sei, noch in ihr die nationale Aufgabe (demokratische Republik zu werden) erfolgt sei. Verstärkt wird dies durch die sachlich falsche Bezeichnung, wonach die BRD keine Republik sei. Heimat und Erfüllerin der nationalen Frage sei demnach ausschließlich die DDR. Dabei wird das Ziel der Einheit nicht aufgegeben »Wir werden nicht eher ruhen, bevor das gesamte Deutschland eine Republik ist« – aber die nationale Frage wird mit der sozialen verbunden. Denn nicht räumliche Einheit um der Einheit willen wird zum Ziel erklärt, sondern eine Einheit, in der sich die nationale Frage der Befreiung des Volkes erfüllt habe. Im Zusammenhang mit den Diskursen des Sozialen und des Arbeitens wird diese nationale Aufgabe als Handlungsmuster des eigenen Werdens zur Struktur, die das Wie der eigenen Politik und der Anforderung an die Politik des Staates und seiner Gesellschaft bestimmt. Der literaturdidaktische Prozess um und mit Heine Die hervorstechendste Kategorie für eine literaturdidaktische Anrufung und Etablierung einer gefühlten Identität mit einem Heimatraum im neuen Staat ist die Anschlussfähigkeit der Heimatdiskurse an die Diskurse des Nationalen aus der faschistischen Erzählstruktur. Nationale Frage, aurea aetas und das Sendungsbewusstsein, das jeweils von der erhöhten Bedeutung einer deutschen »Rasse« für das Wohl der Menschheit ausgeht, verbinden sich hier nahezu nahtlos mit der neuen Loyalität zum Heimatraum und mit den neuen nationalen Feindbildern. »Heine sagte einmal über die Rasse der stolzen Germanen, daß sie sich im Reich des Traums, im Himmelreich, am wohlsten fühlen und deshalb die Freiheit auf Erden wie ihre Großmutter lieben. Was sollten sie denn auch weiter machen. Wenn sie versucht hätten, die Freiheit wie ihre Braut zu lieben, dann wäre der von Gottes Gnaden eingesetzte Kaiser mit seinen Getreuen gekommen und hätte gezeigt, was ein preußischer Adler für Krallen hat.« (A3, S.3f.)
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Das faschistische Erzählen von der großen Aufgabe der Deutschen wird hier in einen neuen Zusammenhang gestellt. Zuerst müsse sich das Volk selbst von seinen Unterdrückern befreien und würde just darüber seiner teleologischen Aufgabe gerecht werden. »Heine richtete ständig Aufrufe an das deutsche Volk. Er fürchtete, daß das deutsche Volk seinen großen Augenblick, seine Chance verpassen könne.« (A35, S.6) Dieses Sendungsbewusstsein, in den faschistischen Nationaldiskursen der Eltern präsent, wird in der neuen nationalstaatlichen Ordnung nicht gebrochen, sondern in die dualistische Klassenidentität des neuen Staates eingefügt. Dieses ungebrochene, lediglich verschobene Nationalgefühl spiegelt sich in einer permanenten Betonung wieder, wonach der gemeinsame nationale Feind Heines und der Schülerin kein echter Deutscher sei: »Bis heute noch wird Heine von jenen unverbesserlich reaktionären Kreisen, die den Anspruch stellen, als national angesehen zu werden, als ›ketzerischer Jude‹ bezeichnet und wüste Hetztiraden sollen den Geist seiner Werke zerstören.« (A29, S.4)
Oder: »Die Reaktion bezeichnete ihn als einen Franzosen, der Deutschland lächerlich machen wollte. (Auch diese Leute verwechselten sich wie später die Faschisten mit Deutschland).« (A30, S.3)
Für diesen Anschluss an die binäre Identitätskonstruktion kommt Heines biografisierten Kampf um Einheit (z.B. A16, A17, A19) eine weitere Funktion der Ersatzhandlung zu. Denn schließlich habe die konkrete Benennung seiner Feinde, die dann mit den eigenen gleichgesetzt werden, ja die Lösung der nationalen Frage zum Ziel gehabt, bei der die Einheit des Vaterlands durch den Ausschluss der Nationalfeinde bewerkstelligt werden sollte. (A19, S.7) Schließlich bildet auch in diesem Punkt der nationalen Identitätsbildung die Emotion Liebe eine Schlüsselreferenz. Liebe, die Übertragung eines familiären Gefühls auf die gedachte Gemeinschaft, wird gerade für die Identifikation mit Heine als Teil der eigenen Gemeinschaft zum Kristallisationspunkt für seine Zugehörigkeit zum deutschen Volk.
252 | D IE ERLESENE N ATION »Erst im Gefängnis merkt man, was Freiheit ist und erst im Ausland fühlt man, wie lieb man sein Vaterland hat. Das erkannte und empfand auch Heine. Seine Werke, die in der Emigration entstanden, sind also von der Liebe zu seinem Volk und zu seinem Vaterland, von dem Haß gegen die Feinde des Volkes und von dem Willen, seinem Vaterland zu helfen und es zu befreien, erfüllt.« (A26, S.9f.)
Dabei wird der Anspruch durchaus ernst genommen, Patriotismus zu entmilitarisieren, aber ungebrochen zwischen Liebe zur Heimat und »Achtung« der »fremden Völker« genauestens unterschieden: »Neben seiner (Heines – A.H.) Liebe zu Deutschland und den deutschen Menschen wurzelte in ihm tiefe Verehrung für das französische Volk.« (A33, S.3 Hervorhebung A.H.)
Der biografische Bruch von Heines Exil, gepaart mit den schlechterdings nicht zu tilgenden Sequenzen des Deutschlandhasses und der Frankophilie, wird im Unterricht über die Emotion der Liebe aufbereitet, wonach Heines Exil für ihn immer einen Identitätsbruch bedeutet habe, ein Leiden und Verlust, und sich seine Identität als Ganzes nur herstellen ließe, wenn er im Heimatraum des »besseren Deutschlands« leben könne. »Die Annahme, daß Kulturen natürlicherweise in räumlich abgegrenzte Einheiten ›gesperrt‹ sind, [...] prägt auch, wie Menschen und Gruppen wahrgenommen werden, die sich wandernd neue Heimaten suchen oder die zur Flucht gezwungen sind. Deplatzierung, Exil oder Migration gilt als ›pathologisch‹, Kulturen und kulturelle Identitäten werden vielmehr als stabile und organisch strukturierte Ganzheiten gedacht. Seßhaftigkeit und Kontinuität erhalten so Vorrang gegenüber dem Nomadentum oder Wandel von Kulturen.«77
Florentine Strzelczyks Beschreibung ist ein hervorragender Verweis darauf, wie Exil auch im Falle der diskursiven Identitätsfindung entlang einer literarischen Kollektivbiografie als Identitätsbruch wahrgenommen wird. Die Schülerinnen bestätigen durch die Bezeugung dessen, dass Heine im Exil stets gelitten und sich nach seiner Heimat verzehrt habe, dass das Sein im »Heimatterritorium« zu einer unabdingbaren Voraussetzung für eine »gesunde« Identität gehöre. Aus dieser Be77 Strzelczyk, Florentine: Un-Heimliche Heimat (1999), S. 12.
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stätigung wird ihrerseits eine Manifestation der eigenen unauflöslichen Anbindung an den Heimatraum und eine Anerkennung binärer Zugehörigkeit entlang territorialer Grenzen. Darauf zu beharren, dass der Mensch für ein »besseres Deutschland« eintreten und die nationale Frage zum Schicksal der eigenen Biografie machen müsse, ist analog zu dem Ausspruch Ernest Gellners: »Der Mensch braucht eine Nation, wie er eine Nase und zwei Ohren braucht.«78 Das heißt, die Schülerin akzeptiert stillschweigend eine unausweichliche historische Verbindung zwischen ihr und der vorgestellten Geschichte der Nation. Die eigene Person erhält dabei einen territorialen Raum, den sie als Heimat begreift, der sie mitsamt der dazugehörigen Landschaft, der gesprochenen Sprache und den dort vorherrschenden kulturellen Praktiken einen Nimbus von Exklusivität verleiht. Innerhalb dieses Raumes habe sich eine Tradition, eine Geschichte zugetragen, die zu einer Schicksalsgemeinschaft geführt habe. Die nationale Ansprache der Staatsapparate in der jungen DDR knüpft an diese Erzählungen einer Kultur und eines Heimatraums nahtlos an. Biografische Gleichsetzungen, wie die Feinde Heines als Feinde der Nachkriegsgeneration, wie das Bild einer nationalen Schicksalsgemeinschaft oder eines Erweckungserlebnisses, einem Dornröschenkuss, aus dem die Nation entstand (»antifaschistische Revolution 1945« und Heines Weckruf an den »deutschen Schläfer« (Bsp.: A26, S.29) sind literaturdidaktische Mittel um die Vorstellung »eine Nation haben zu müssen« auf den Staat DDR zu übertragen und somit die Staatsräson zu einer moralischen Angelegenheit der Schülerin werden zu lassen. Teil einer kriegerischen Geschichte sein »Schon ewig gibt es Befreiungskriege, und sie werden solange bleiben, wie es eine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gibt.« (A23, S.3)
78 Gellner, Ernst: Nationalismus und Moderne. Rotbuch, Berlin 1991, S. 15.
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Das Wissen um sich selbst und um die eigene Gruppe ist nur der erste Teil von Identitätsbildung. Der zweite, das ist die permanente Versicherung des Anderen, des Gegenüber, welches die eigene Normalität und das eigene Sein bestätigt. Insofern ist die eigene Identitätswerdung stets ein kriegerischer Zustand. Im Prozess der Identität, wie er sich auch im Schreiben der Schülerinnen äußert, spiegeln sich somit permanente Machtstrukturen und -kämpfe. Foucault beschreibt diese Machtstrukturen als eine Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln. Die Institutionen der Macht transportieren und reproduzieren einen immerwährenden »alten« Krieg, indem das Wissen um die Wahrheit des richtigen Lebens, des folgerichtigen Geschichtsverlaufs etc. einerseits zur überlebenswichtigen Angelegenheit für das Subjekt und seine Wir-Gruppe wird und andererseits dem Anderen das Wissen um das richtige Leben abspricht, sein Wissen als unwahr und als hinderlich für das Überleben einstuft.79 Will die Schülerin in ihrem Reifezeugnis also beweisen (und der Beweis wird ihr abverlangt), dass sie in der Lage ist richtig und falsch, wahr und gelogen zu erkennen und daraus ein Weltbild zu formulieren und zu bestätigen, dass im Sinne der eigenen Wir-Gemeinschaft ist, so muss sie sich permanent bekennen, verteidigen, sich messen und ihr Gegenüber beurteilen. Dieses Darstellen und Performieren des eigenen richtigen Wissens um den Weg und das Ziel, wie die Wir-Gruppe zu ihrem Heil gelangt, wird im Erzählen derselben zu einem Lebenssinn. Die Schülerin hat sich mit den Aussagen entlang der Wahrheitsproduktion identifiziert und sie zu ihrem eigenen Bewertungsmuster gemacht. Die Einen und der Andere Die binäre nationale Identität ist in ihrer moralischen Praxis immer von kriegerischer Struktur. Das Erzählen der eigenen Identität, des eigenen »Herkommens« bedeutet auch immer, dass etwas anderes nicht so sei, nicht identisch mit den Sitten, Bräuchen, Regelungen der eigenen Gemeinschaft ist und eine potentielle Gefahr für die eigene (soziale) Identität ausmache. Für die Nachkriegskinder und ihre nationale Verortung in der SBZ und DDR wird die binäre Identitätsstruktur entlang einer Geschichte der (Klassen)Kämpfe ausgerichtet. Die junge Staatsbürgerin erkennt
79 Foucault, Michel: Vorlesung, 7. Januar, 1976. In: Dits et ecrits (2003), S. 213 – 231.
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und erzählt sich selbst und ihre Zugehörigkeit zum Staat der Arbeitenden als Positionierung in einer »immer währenden Geschichte des Krieges«. Diese Positionierung zieht eine sittliche Praxis nach sich, die darauf aus ist, für den Erhalt der eigenen sozialen Identität in Verteidigungsstellung zu gehen und entweder die staatlichen Institutionen der Verteidigung als vernünftig und »notwendig« zu akzeptieren oder in Alltagspraxen der Abneigung, des Überzeugens, Denunzierens etc. diese Identität zu sichern. In jedem Fall identifiziert das Subjekt ab diesem Moment mit der Nation als Teil der eigenen Identität und der eigenen Biografie. Am prägnantesten zeigt sich der Erfolg dieser nationalen Ethik im Falle der hier untersuchten pädagogischen Vermittlung in der Kategorie des Soldatischen bei der Erstellung eines Literaturkanons (Hervorstechend: A35). Nicht nur dass der Literaturkanon an sich bereits eine strukturierte Darstellung einer kriegerischen Geschichte ist, innerhalb derer sich die Leserin positioniert. Im konkreten Fall wird eine Figur (Heine) zum Kollektivvorbild aufgebaut und mit soldatischen Eigenschaften ausgestattet, die in der Tradition des Kampfes eine Vorbildfunktion erhalten. »›Kunst ist Waffe‹ ist ein Wort, dessen Gültigkeit auf Jahrhunderte zurückgeht. Schon im Mittelalter gab es mutige Menschen, die die Kunst dazu verwandten, politische oder soziale Mißstände anzuprangern [...] wie im ›Helmbrecht‹ der Niedergang des Rittertums und die gesunde Schaffenskraft der Bauern treffend charakterisiert und gegenübergestellt wurden. [...] Auch für die Klassik war die Kunst ein machtvolles Kampfmittel [...] Wieviel mehr aber mußte es für jene Dichter sein, die aktiv im Kampf um die Befreiung ihres Volkes standen, wie Heinrich Heine [...] später Erich Weinert, Anna Seghers und Johannes R. Becher! Für diese Dichter war die Kunst nur Waffe, Waffe im Schreibe(n) gegen Reaktion, Spießertum und soziale Ungerechtigkeit.« (A4, S.2f.)
Seit dem Mittelalter – also seit »ewigen Zeiten« – gibt es demnach eine Fehde, die das Volk gegen seine Ausbeuter führt und die auszutragen der Schriftsteller Waffen liefert. In der nationalen binären Auseinandersetzung wird die Kunst zu einer Waffe, die »heilig, für geweihte Zwecke bestimmt« (A4, S.3) ist und damit eine Sinnstruktur für das eigene Leben bereit hält. Die Identifikation mit dem Literaturkanon und der vorgegebenen Wurzel des eigenen Seins wird also zu einer
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ästhetischen Emotion, mittels derer die Schülerin sich im binären nationalen Kampf positioniert. »Wir berichtigen also in der heutigen Zeit, indem wir Heinrich Heine gebührend würdigen, die Fehler der vorigen Generation.« (A35, S.10)
Oder: »Das Bedeutsame an seinem (Heines – A.H.) Leben, ist, daß seine Kunst als Waffe gegen die Feinde seines Volkes weiterwirkt, jene Kunst – getragen vom Haß gegen das Absterbende und Überholte und von der festen Zuversicht, daß andere den Posten einnehmen, den Heine verlassen mußte, von dem unbeirrbaren Glauben an den Sieg der gerechten Sache.« (A4, S.7)
Das Lesen und die Verwurzelung in einem ästhetischen Kanon strukturiert demnach eine kriegerische, binäre Identifizierung, die der nationalen Identität eigen ist. Was sich unter den historischen Bedingungen stets verändert, ist die Zielrichtung bzw. das Feindbild. So fehlt in nahezu keinem Aufsatz, der die soldatische Figur als Kollektivvorbild für die eigene nationale Identität nutzt, eine Aufzählung der Feinde des Soldaten: »Reaktionäre, Spießer, soziale Ungerechtigkeit«. Hinter dieser Aufzählung offenbart sich eine DDR-spezifische nationale Identität, die das Selbst und das Andere entlang einer Heimat im Sozialen konstruiert und erkennt. Der offizielle Sprachgebrauch »Reaktionär, Spießer« für »den Feind« bleibt im häufigen Gebrauch in den Schulaufsätzen äußerst unbestimmt. Seine einzige Bestimmung ist die »soziale (Un)Gerechtigkeit« als private und öffentliche (Un)Glücksvorstellung. Da der »Feind der sozialen Heimat« aus den unbestimmten staatlichen Beschreibungen vom »Reaktionär und Spießer« übernommen wird, können die eigenen und familiären Begehren nach Abwesenheit von sozialer Ungerechtigkeit auf die staatlichen Institutionen übertragen werden, die vor dem Feind schützen sollen. Die anerkannte Notwendigkeit der staatlichen Schutzfunktion wird noch einmal dadurch betont, dass der Feind nicht passiv ist. Denn die Waffe, mit welcher der Krieg um die binäre Identität ausgetragen werde, steht nicht nur der eigenen Gemeinschaft zur Verfügung, sondern auch dem Gegner:
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»Nicht immer jedoch ist Heine in diesem Kampf der Überlegene! Nicht immer ist nur er es, der die harten Schläge pariert. Er selbst wird oft genug getroffen von der stolzen Überlegenheit der sich ihrer unumstößlichen Machtposition voll bewußten Reaktion! Auch für den Gegner von Freiheit und Gerechtigkeit ist die Kunst ein Mittel zum Kampfe, wenn auch [...] zum ungerechten Kampf.« (A4, S.6f.)
Die Tradition, die Herkunft und damit das Sein der nationalen Identität wird als unabdingbarer und schicksalhaft vorgeschriebener Kampf zwischen den Klassen erzählt, geschrieben und wahrgenommen. In diesem Kampf muss sich die nationale Bürgerin positionieren, muss ihre schicksalhaft vorgeschriebene Rolle erfüllen und somit jede Auseinandersetzung mit der Nation nicht nur zu einem Konflikt mit den Gesetzen, sondern auch mit der moralischen Anforderung an sich selbst machen. Für diese Verortung wird Heinrich Heine nicht nur zu einer »Wurzel« aus der Vergangenheit – seine Kollektivbiografie wird zur »Vermittlerin« und Referenz einer mystischen, dann sozialen und schließlich moralischen nationalen Gemeinschaft. »Der Kampf um Heinrich Heine geht weiter wie um einen Lebenden. [...] Heinrich Heine lebt noch nach seinem Tode in den Herzen der fortschrittlichen Menschen ganz Europas weiter. So wurden im Jahre 1919 viele seiner revolutionären Werke in einer Massenauflage herausgegeben, die den Revolutionsteilnehmern als Leit- und Mahnworte dienen sollte. Nach dem faschistischen Umsturz wurde Heine noch aktueller, daß man ihn sogar mit Recht als antifaschistischen Schriftsteller bezeichnen kann.« (A22, S.7f. – ähnlich A23, S.9)
In diesem Falle offenbart sich in aller Deutlichkeit, dass die nationale Identität entlang der konkreten Kampfesgeschichte der Arbeiterklasse erzählt wird. Die Schülerin verortet sich in diesen Kämpfen selbst: »Der Name Heinrich Heine ist uns ein Kampfruf in den heißesten Kämpfen der Gegenwart.« (Hervorhebung durch A.H.) Mit der Verwendung des Personalpronomens uns adaptiert sie die kämpferische Geschichte der Nation, ausgehend von Zugehörigkeiten und Feindmustern als ihre eigene. Mittels der ästhetischen Ersatzhandlung – der Verehrung Heines – passt sie Heines Kampf um das Nationale ihrer eigenen Biografie an und findet in der literarischen Beschreibung desselben eine Lebenshilfe für die moralische nationale Schicksalsaufgabe der Gegenwart:
258 | D IE ERLESENE N ATION »Aber nicht nur in vergangenen Zeiten galt Heine als Wegweiser und Berater, auch in unserem heutigen Kampf um die Einheit Deutschlands, die die Reaktionären Deutschlands und die englisch-amerikanischen Machthaber so hassen, ist er uns durch sein wertvolles Schaffen ein Vorbild. Mit Recht sagt Franz Mehring: ›Der Name Heinrich Heine ist uns ein Kampfruf in den heißesten Kämpfen der Gegenwart‹.« (A22, S.8)
Die ästhetische Ersatzhandlung wird noch einmal konkretisiert, wenn sie aus dem kämpferischen Identitätskonstrukt eine Aufforderung an die eigene Generation ableitet. So ist ja Heines soldatischer Kampf mittels der Kunst ein solcher, den die Generation der Schülerinnen weiterführen soll und will: »›Es wächst heran ein neues Geschlecht, ganz ohne Schminke und Sünden!‹ Das ist die Jugend, die den Dichter versteht, das sind diejenigen, die den vakanten Posten auffüllen, die es verstehen, die von Heine hinterlassenen Waffen richtig zu gebrauchen!« (A4, S.8 ähnlich A15 und A14)
Dieses »richtige Gebrauchen« hat einen konkreten Inhalt, ein konkretes Ziel. Die Waffen werden gebraucht für eine Befreiung oder einen Schutz der eigenen Volksgemeinschaft gegen ihre Feinde. »Heine war dem Volk Vorbild und hat ihm eine starke Waffe geschmiedet. Das Volk wird diese Waffe erkennen und dann losschlagen.« (A14, S.4) Auf diese Weise wird die Semiotik von »Volk« zu einer kriegerischen Wahrheit. Eine Maßeinheit, an welcher die Schülerin die Richtigkeit ihrer eigenen Identität bekennen muss – gleich einem moralischen Obersten Gerichtshof: »Wer einmal in seinen (Heines, A.H.) Gedichten angeklagt wurde (und die Schülerin hat bereits herausgearbeitet, dass dies »Bürgerliche, Klerus, etc.« sind, A.H), muß sich dem Gericht stellen und wird von dem Volksgericht verurteilt werden.« (A14, S.3)
Die Metapher von der »Kunst als Waffe« und ihre Einbettung in Heines Kollektivbiografie mit soldatischen Eigenschaften verleiht also der kämpferischen Identität auf der Basis von Zugehörigkeit und Ausschluss ein moralisches Instrument und erklärt den Kampf ums Nationale zur Schicksalsaufgabe. Insbesondere die Verknüpfung von Biografie und Werk, wie sie der biografischen Interpretation eigen ist,
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eignet sich hervorragend eine dichotomische Identität emotional aufzubauen: »(Meine Ausführungen) sollen eine Hochachtung (Heines) hartnäckigen Kampfes gegen die Zustände im damaligen Deutschland sein, sie sollen aber auch die Bestätigung sein, daß ich sein Werk gegen die verteidigen werde, die noch heute ihm sein Verdienst absprechen und ihn beschimpfen. Das können aber nur solche Menschen sein, die Heine nicht verstehen wollen, weil für sie heute das noch passt, was Heine damals mit seiner beißenden Ironie kritisierte.« (A2, S.1f.)
Im weiteren Verlauf des Aufsatzes wird deutlich, dass die Schülerin Heine insbesondere für seine politische Arbeit um die »Einheit Deutschlands« ehrt (A2, S.5). Die kriegerische Identität hat ein konkretes moralisch-nationales Ziel erhalten. (A2, S.3). Dabei wird das nationale Ziel – in dem Falle die Einheit Deutschlands unter sozialem Vorzeichen – zu einer teleologischen Angelegenheit der Menschheitsgeschichte. Ganz im Sinne der Erzählung des Kalten Kriegs, wonach der jeweilige deutsche Staat die Grundlage dafür sei, dass die Menschheit ihr Goldenes Zeitalter erreicht habe (den Sozialismus, den die DDR in ihren Erzählungen mit ihrer Existenz verteidige und die freiheitliche Demokratie, welche die BRD ihrerseits in ihren Erzählungen verkörpere und verteidige), wird der nationale Kampf ein Kampf für die Menschheit: »Die Kraft (für seinen Kampf – A.H.) schöpft er (Heine) aus seinem Bewußtsein, für eine gerechte Sache zu kämpfen, für das Wohl der Menschheit.« (A27, S.3)
Oder: »Zu Glück und Zufriedenheit für jedermann kann man nur durch eine Revolution gelangen, von deren Notwendigkeit Heine fest überzeugt war.« (A27, S.7)
Mit dieser Erhöhung des nationalen Kampfes, dem eine unausweichliche aurea aetas für alle Menschen folgen wird, entsteht ein nationaler Sendungsauftrag, an dem die eigene Biografie Anteil hat und der vor allem anschlussfähig ist an das nationale Sendungsbewusstsein aus den
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soldatischen Erzählungen der Eltern, Großeltern und Geschwister. (A28, S.2, A29, S.2) Die Schülerinnen beschäftigen sich in ihren Aufsätzen immer wieder mit dem Konstrukt des nationalen Kämpfers/Soldaten und erklären dessen Moral zu einer eigenen schicksalshaften Identität, indem sie ihr Sein und ihre Herkunft mit der Nation gleichsetzen. Diese kämpferische nationale Identität verbindet die (Nach)Kriegserfahrungen perfekt mit den neuen kriegerischen Nationalitätskonstruktionen im Kalten Krieg. Für das Gelingen der Erzählung einer nationalen Tradition, in der sich die Schülerin »zu Hause« fühlen soll, ist der soldatische Erzählduktus im Literaturunterricht besonders geeignet. Und dass diese Erzählung von Erfolg gekrönt ist, die eigene Identität in einem nationalen Kampf aufgehen zu lassen, davon zeugt die breitflächige Identifikation mit Heine als einem nationalen Kämpfer/Soldaten, der sich nahezu pausenlos auf der Hut vor dem nationalen Feind befindet. Auf dem Posten bleiben Die Metapher von Heine, der auf dem wachsamen Posten steht, verstehen auch die Schülerinnen bildlich. »›Enfant perdu‹ – verlorenes Kind – verlorener Sohn – verlorener Posten. Wie eigenartig mutet uns doch dieses Gedicht an. Verlorener Posten im Kriege, das ist ein Todeskandidat, der in vorderster Linie kämpft und so dem Feind und auch dem Tod am nächsten steht. Wie konnte sich jedoch der deutsche Dichter Heinrich Heine, der überhaupt nicht mit dem Gewehr in der Hand stand, mit solchen Menschen vergleichen?« (A15, S.2)
Dennoch wird das Bild, welches diesem Gleichnis zugrunde liegt – der Soldat -stilisiert und durch eine Identifizierung mit ihm auch real (insbesondere A15). In dieser Identifizierung bedeutet es sich wie ein Soldat zu verhalten, indem man eine wahrhaftige Verbindung der eigenen Person mit der Nation unter Beweis stellt und damit auch seine moralische Überlegenheit demonstriert. »Nicht immer sind Waffen das Ausschlaggebende. [...] Ein weiterer wichtiger Faktor nämlich ist die Moral [...]. Voraussetzung ist natürlich, daß es sich um eine gesunde Moral handelt [...]. Alles in allem also sind gute Waffen und eine gesunde Moral Vorbedingungen für das Bestehen eines Kampfes.« (A18, S.2)
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Die moralische Überlegenheit macht die schicksalhafte Verbindung zwischen Person und Nation zu einer vita activa. Ganz im Sinne der Bürgerlichen Aufklärung erscheint auch die sozialistische Staatsbürgerin dem historischen Feind vor allem moralisch überlegen. Ihrer historischen Bestimmung wird sie folglich dadurch gerecht, dass sie eine moralische Praxis zur Sinnstruktur ihrer Biografie macht – im Sinne von: ich arbeite permanent an mir, um ein besserer Mensch zu werden. Dass diese vita activa als sittliche Identitätspraxis adaptiert wird liegt daran, dass dem ihr innewohnenden Glücksanspruch durch die vorgegebene Handlung eine logische, eine schlüssige Erfüllungsoption offeriert wird (A6, S.3 u. S.5). Der spezifische Glücksanspruch und das Glücksversprechen an die Nachkriegsgeneration bedingt also eine soldatische Wachsamkeit, eine moralische Handlungsstruktur, derer sich die Schülerin nicht entziehen kann, wenn sie ihr eigenes Wohlergehen, ebenso wie ihre Herkunft und ihr Sein mit der Nation verbunden hat. Was aber heißt diese Übernahme einer soldatischen vita activa für die eigene Identitätspraxis? Zuerst einmal ermöglicht diese Selbstwahrnehmung als Soldat des Nationalen bzw. die Identifikation mit Heine als einem solchen, dass eine bestimmte Moral Erkennungsmerkmal ist, um Zugehörige und Feinde zu unterscheiden. Die Zugehörigkeit ist dabei weniger von konkreten politischen Bekenntnissen abhängig, als davon, dass derjenige, in dem sich die Schülerin wieder erkennt, sein Sein ebenso unauflöslich mit der Nation verbindet: »Sein ganzes Denken, sein Tun widmet er seinem deutschen Volk, das er so liebt [...].« (A10, S.2) Da dieses Erkennen sich beim Gegenüber nur in seinen Worten und Taten offenbart, so gilt es sich selbst und den Nachbarn permanent dahingehend zu überprüfen, ob er/sie/man selber noch zur Gemeinschaft dazugehört. Die Metapher von Heine als Soldat verdeutlicht das besonders gut. Denn gerade weil Heine ja nicht mit dem Schwerte kämpft, muss etwas anderes seine moralische Praxis, seine vita activa, seine nationale Handlung bestätigen: Und diese andere Praxis ist die Aufklärung (A33, A6) und Wachsamkeit ob eines Fehlverhaltens des Gegenüber, des möglichen Feindes: »Auf der Wacht, also auf Posten stand er vor allem in Bezug auf die deutschen Schläfer und Träumer. Diese Menschen kümmerten sich nicht um Politik, um das Geschehen, um die feudale Reaktion, oder gar um die Lehren von Marx und Engels [...].« (A15, S.3f.)
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Oder: »Das Schnarchen, also die Unaufgeklärtheit und Unwissenheit der breiten Masse des deutschen Volkes bewahrte ihn stets davor, nicht einmal die Feder aus der Hand zu legen, die er immer wie ein Schwert gegen Preußen erhob.« (A19, S.5, ähnlich A36, A37)
Es gilt also für das nationale Subjekt, dass es eine Verantwortung hat gegenüber denjenigen, »die – die Gefahr verkennend – sorglos in den Tag hineinleben« (A4, S.5 auch: A36, S.3), denjenigen, die die Einheit Deutschlands und damit die Vollendung des Werkes Heines gefährden (A18, S.6). Kurz – es gilt, mit seinem eigenen Begehren, Fühlen und Handeln den Feind der Nation auszumachen, auch wenn dieser sich nur in der kleinsten Begehrensregung zeigt. Und diese Begehrensregung ist oft schnell ausgemacht, steht doch der nationale Feind westlich der Staatsgrenzen – wodurch jede konsumistische oder politische Begierde als nationalfeindlich gebrandmarkt werden und moralisch verurteilt werden kann. »Heines Verse haben nicht nur für seine Zeit Bedeutung. Wie schon aufgezeigt, treffen sie auch für die Umstände im Faschismus zu. Sie haben sogar noch für uns ihre Gültigkeit. In Westdeutschland beginnt schon wieder eine ähnliche Entwicklung wie zur Zeit Hitlers.« (A36, S.6)
Wie in diesem Zitat zu erkennen ist, wird die nationale moralische Frage stets mit dem Antifaschismusversprechen auf der einen Seite und dem Schrecken des Faschismus durch den Nationalfeind verbunden. Und so entsteht über die Identifikation mit einem soldatischen Heine über die Metapher des wachsamen Soldaten eine emotionale Handlungsstruktur, die an das Glücksversprechen des Nachkriegsstaates DDR mit seinem speziellen Bezug zum Antifaschismus unauflöslich gekoppelt ist. Heines Biografie wird zum Zeugnis einer vita activa, welche die eigene Person an die Nation in einer schicksalhaften, mythischen Weise bindet – als Vorstellung, dass diese Bindung schon vor der Geburt festgelegt sei und nach dem Tode Bestand haben wird. Ein deutlicher Beleg ist die immer wieder kehrende und im obigen Zitat dargestellte Verbindung von Heine mit den antifaschistischen Märtyrern. Folglich haben Heine, die Antifaschisten und die Schülerin selbst die gleichen Feinde gehabt und stünden mit ihrer vita activa da-
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für, diese Feinde als Nationalfeind zu brandmarken und das »wahre Volk« vor ihnen zu schützen. Der literaturdidaktische Prozess Der besondere Erfolg dieser binären Identitätskonstruktion liegt in der Kompatibilität des neuen Sprechens von der bedrohten Heimat mit dem dualistischen und rassistischen Nationalismus aus der Kriegs- und Vorkriegszeit. Grundlage ist ein Denken, wonach der Verlust der Heimat auch immer einen Verlust an Identität bedeute. Die Aufsätze sind von einer Vehemenz und alltagssprachlicher Empörung geprägt, ob der Behauptung, dass Heine seine Identität als Deutscher aufgegeben und sich zum Vaterlandsverräter gemacht hätte. Stattdessen wird die unauflösliche Verbindung von Identität und Nation durch eine vehemente Leidenserfahrung Heines betont und bestätigt. Mittel für diese moralisch-nationale »Reinwaschung« Heines ist die Definition seiner Migration als Exil. Die Migration Heines nach Paris, also zum »Erzfeind«, wird posthum zum Exil gemacht, in dem sein deutsches Herz weint und leidet, kurzum, seine Identität zerrissen ist. »Wieder sind es gerade die Spottverse, mit denen der Dichter in seinen Exiljahren arbeitete und mit denen er den schwersten Schlag, den die Reaktion ihm zufügen konnte, nämlich die Verweisung aus seiner geliebten deutschen Heimat, zu parieren suchte.« (A4, S.9)
Oder: »Heine mußte Deutschland verlassen, seine Werke wurden verboten ›- ach, ich kann’s nicht leugnen / Die Wunden klaffen – es verströmt / mein Blut.‹ Hier kommt Heines echter Patriotismus zum Ausdruck. Er liebte sein Vaterland sehr, und um zu helfen, mußte er leiden.« (A26, S.7)
Migration ist demnach etwas, das die Identität wahrlich zerreißt. Eine neue Heimat außerhalb der Nation zu finden, wird als unmöglich erklärt. An diese Denkordnung, die eine Einheit der Person außerhalb ihrer nationalen Grenzen nicht kennt, schließt sich die ebenfalls wilhelminische und faschistische Erzählung vom »Erzfeind Frankreich« an. So könne Heine – und damit »ein Deutscher« – gar nicht mit sich selbst im Reinen sein, wenn er beim Erzfeind lebe. Frankophobe Elemente zeigen sich immer wieder, wenn Heines nationale vita activa
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beschrieben wird und sollen eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von Frankophilie mit echtem deutschem Patriotismus untermauern. »Die Last des deutschen Volkes wurde, als Napoleon Deutschland besetzte, noch größer. [...] Es war der ständig wachsende Wille der Menschen, sich von Napoleon zu befreien.« (A12, S.2, ähnlich A29, S.3)
Der »Beweis« für eine eigene echte deutsche Identität entlang frankophober Differenzierungen ist selbst dann erkenntlich, wenn die Schülerin sich nicht mit der nationalen Kollektivbiografie Heines einverstanden erklärt und ihre national-moralische Überlegenheit durch Ablehnung derselben zur Schau stellt: »Seine Feder brachte eine so beißende Satire hervor, daß man den Haß verschiedener Menschen auf Heine wohl verstehen kann. [...] indem er sich über Kaiser Rotbart lustig macht, und nicht zuletzt über den deutschen Michel lacht, sind gute Beweise seiner Spottgedichte, in denen man wirklich die Luft von Paris spürt.« (A12, S.5f.)
Diese frankophoben Begründungen (die ironische Konnotation für echte Pariser Luft ist kaum zu übersehen) für »echte deutsche Moral« werden von der Lehrerin in keinem Aufsatz angestrichen oder kommentiert. Dies lässt darauf schließen, dass diese Denkstruktur konform ist mit den didaktischen Ambitionen ob einer nationalen Identität im Nachkriegsdeutschland. Dass die nationale Anrufung so nahtlos gelingt und sich in weiten Teilen mit den Ordnungsmustern und Identitätsmustern der Schülerinnen deckt, zeigt sich auch in der breitflächigen Verwendung von Lingua Tertii Imperii (LTI), die in keinem Fall von der Lehrerin kritisiert wird. Von sprachlichen Anleihen an der »Blut – und Boden– Ideologie« der Nationalsozialisten: »gesunde Schaffenskraft der Bauern« (A4, S.2), über die Entmenschlichung des Feindes (A13, S.6), bis hin zum romantischen Erlösungsgedanken des Vaterlandes (A22, S.6) – die Sprachstruktur des »Dritten Reiches« durchdringt alle Bereiche der nationalen Identitätsbeschreibungen. Und so stellen nicht einmal antisemitische Sequenzen einen Bruch mit der neuen nationalen Identitätsbeschreibung dar. Im folgenden Zitat unterläuft der Schülerin eher ein antijüdisches Bekenntnis.
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»Schon seine etwas zweifelhafte Geburt und die Tatsache, daß er Jude war, legten ihm viele Schwierigkeiten auf den Weg seines späteren Lebens. Vielleicht sind das auch die Faktoren, die Heinrich Heine zu dem machten, was er wurde.« (A31, S.2)
Was im Verlauf des Aufsatzes deutlich wird, dass die Schülerin eine Identifizierung mit Heine nicht annimmt, wird hier eingeleitet – die Herkunft, die Geburt sind zweifelhaft und auch die spätere Entwicklung Heines, zu der die Schülerin ein distanziertes Verhältnis einnimmt, wird mit dem Biologismus »dass er Jude war« erklärt. In dieser ungebrochenen Übernahme antisemitischer oder sprachstruktureller Elemente in das neue Sprechen von nationaler Identität offenbart sich, dass die antifaschistische Anrufung von den Schülerinnen mit einem Eigen-Sinn belegt wird. Zwar machen die Rückgriffe auf die vorgegebene nationale mystische Identität und die Einordnung dieser Identität in eine kriegerische Erinnerungskultur und nationale Praxis es leicht, dass die Kinder der Nachkriegsgeneration eine Gleichsetzung ihrer Person mit der neuen nationalen Gemeinschaft eingehen. Aber diese Verschränkung bedeutet auch, dass die »neue« nationale Identität bei aller Angleichung der privaten Begehren und Selbstverortung an die nationale Erzählung und Institutionalisierung des Nachkriegsstaates, grundlegende Nationalversprechen bereits unterläuft: Die LTI als Bindeglied für die gelungene nationale Identität zwischen den Diskursen des Elternhauses, den Kriegserfahrungen und -erzählungen und den Diskursen eines antifaschistischen Nachkriegsstaates ist ihrerseits ein Zeichen dafür, dass das neue Sprechen von nationaler Identität jene kriegerische Struktur nicht auflöst, die der neue Staat durch sein offizielles Friedensbekenntnis zu beenden versprach. Auch die kriegerische Struktur einer nationalen Familialisierung der Arbeiterklasse löst nicht das Versprechen einer egalisierenden emotionalen Gemeinschaft ein. Der Nichtarbeitende bleibt weiterhin ein moralischer nationaler Feind, den es außerhalb und innerhalb der nationalen Grenzen auszumachen und zu besiegen gilt, wie die Aufsatzsequenzen der Intellektuellenfeindlichkeit belegen: »Er (Heine – A.H) kritisierte in satirische Weise [...] Deutschland [...] vertreten durch [...] die Herren Offiziere, die Studenten, die Westphalen.« (A35, S.35)
Was mit den Westphalen gemeint ist, ist hier nicht ersichtlich – evtl. ist das eine Anbiederung an die Lehrerin, um eine gute Note zu be-
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kommen, in dem die Schülerin eine Region in der BRD, die im Wintermärchen Heines genannt wird, als Feinde Heines und damit als nationale Feinde beschreibt. Das Feindbild »die Studenten« kann aber kein Angebot an die Lehrerin sein, eine Referenz aus den im Unterricht behandelte Werken Heines ist nicht ersichtlich. Hier muss die eigene Intellektuellenfeindlichkeit in der Definition eines Volksfremden und Volkszugehörigen aufgehen. Die gelungene emotionale Zugehörigkeit zu einer »Arbeiterklasse« bedeutet hier auch, den nichtarbeitenden Intellektuellen als Volksfeind zu betrachten. Eine Schlussfolgerung, die sich mit der oben aufgeführten dualistischen Identitätskonstruktion um Arbeit deckt. Das Aufgreifen von nationalen Symbolen, Strukturen und Erzählungen vor 1945 hat aber nicht nur eine die Staatsräson der DDR unterlaufende Funktion. Vielmehr stellen die Rückgriffe auf einen Personenkult und einen genuinen Nationalcharakter den nationalen Mythos, der das Subjekt mit seiner ganzen Person an die Nation bindet, nicht in Frage sondern bestätigen ihn. Die Verehrung von Personen, denen ein für das Heimatland spezifischer Charakter zugeschrieben wird, dient dazu, Nationalcharaktere auszumachen und festzulegen und die eine Vorstellung aufrecht zu erhalten, wonach es eine genuine nationale charakterliche Eigenschaft gäbe, die als Tradition über den Tod hinaus Gemeinschaft suggeriert. »Trotz (dem sich die) einfachen Menschen [...] nichts unter Freiheit vorstellen konnten, gab es auch welche, die sehr gut wußten, was die Hauptaufgabe sein muß, um das Los der Menschen zu erleichtern und eine neue Welt aufzubauen. Zu ihnen gehören Menschen, die einen hervorragenden Weitblick hatten und die ihre Ideen wirklich mit ganzer Kraft verfochten. Ich möchte nur an Jahn, Gneisenau und Scharnhorst erinnern, dann an Marx und Engels und nicht zuletzt an Heine.« (A12, S.3)
Auffällig ist hier, dass neben der vordergründigen Bejahung von Vorbildern, welche eine gute Note versprechen (Marx, Engels, Heine) preußische Offiziere der Reformära als wirkliche nationale Vorbilder erzählt werden. Neben dem Umstand, dass die Schülerin hier gerade Vorbilder wählt, die symbolisch für eine deutsche Nationalwerdung gegen den »Erzfeind« Frankreich stehen, beweist der Versuch mit dem Vorführen nationaler Vorbilder eine gute Note zu bekommen, dass die Anerkennung einer nationalen Führerfigur als »richtige« parteiliche
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Positionierung gewertet wurde. Eine solche Führerfigur symbolisiert und kulminiert alle Vorstellungen eines genuinen nationalen Charakters. Als Symbol für eine schicksalhafte nationale Kultur und Idee sammelt er (meist ist die Figur männlich) alle Imaginationen von einer mystischen und immer währenden gemeinsamen Idee der Nation. Und somit ist nicht nur die Akzeptanz Heines als charismatisches Vorbild für ein Nationalschicksal erfolgreich im Sinne der staatlichen Bildungsinstitutionen (Bsp.: A22, S.5), sondern der Umstand, dass Schülerinnen sich überhaupt charismatische Vorbilder suchen, in denen sie einen Nationalcharakter gebündelt und widergespiegelt sehen. Die Rezeption von Heines Ausarbeitung der Nationalcharakterbilder in den »Englischen Fragmenten« stellt dafür den perfekten pädagogischen Rahmen her: »In seinen (Heines) englischen Fragmenten zieht er einen für die Deutschen treffenden Vergleich: die Engländer lieben die Freiheit wie ihre Frau, die Franzosen lieben sie wie ihre Braut, aber die Deutschen lieben sie wie ihre Großmutter. Diese Gegenüberstellung ist für die Deutschen typisch. Ruhig und von Natur aus langsam, kümmert er sich wenig um Freiheit, er hofft vielmehr, sie falle ihm in den Schoß.« (A27, S.6, ähnlich: A3, S.3)
Die Schülerinnen unternehmen hier eine beachtliche, nahezu kollektive, seitens der Schule nicht intendierte und zudem eigen-sinnige Diskursverknüpfung. Die binäre, kriegerische Identität wird verknüpft mit der soldatischen Pflicht diese gegen einen Nationalfeind zu verteidigen und unter Berücksichtigung des »deutschen Nationalcharakters« eine einheitliche Nation zu erkämpfen: Der Nationalcharakter gleicht dabei dem spitzwegischen Genie und findet sich durchaus auch in Heines Werk (z.B. Geschichte der Philosophie und Religion in Deutschland, Deutsche und europäische Romane). Er ist der Schläfer und Träumer, der quasi aus seiner essentiellen Wurzel heraus einen Führer braucht, der ihm zu seiner befreienden nationalen Einheit verhülfe. Eine Einheit, die den unwissenden, kleinen Mann schützt und seine Feinde »draußen hält«. »Das Hauptziel der Bestrebungen Heines war, die Einheit Deutschlands herzustellen. Unterdessen sind bereits 100 Jahre verflossen, und dieses Ziel ist heute noch nicht erreicht. Wenn nun Heinrich Heine in der letzten Strophe seines ›Enfant perdu‹ voller Gewißheit behauptet, daß der freigewordene Platz ei-
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Und hier gelingt auch die Verbindung der moralischen Struktur der eigenen Biografie, welche wie oben erwähnt, das Glücksversprechen für die eigene Person und die erweiterte Familie der nationalen Gemeinschaft gewährleisten soll. Denn die Bestrebungen Heinrich Heines um eine nationale Einheit – für ein aurea aetas – sind auch im Text Heines nicht ohne vita activa zu denken. Das »Schwert der Revolution« wird eingesetzt auf dem Schlachtfeld der Aufklärung. Nur durch diesen Kampf, diese vita activa, kann letztendlich Frieden erreicht werden: »Wenn wir es dahin bringen, daß die große Menge der Gegenwart versteht, so lassen die Völker sich nicht mehr von den Lohnschreibern der Aristokratie zu Haß und Krieg verhetzen, das große Völkerbündniß, die heilige Allianz der Nationen, kommt zu Stande, wir brauchen aus wechselseitigem Mißtrauen keine stehenden Heere von vielen hunderttausend Mördern mehr zu füttern, wir benutzen zum Pflug ihre Schwerter und Rosse, und wir erlangen Friede und Wohlstand und Freiheit. Dieser Wirksamkeit bleibt mein Leben gewidmet; es ist mein Amt.«80
Und so erweist sich auch in diesem Punkt der nationalen Anrufung, dass das Werk Heines selbst eine Referenz bietet, um die moralische Struktur des Lebens der Schülerin an die Nation zu binden. Aufklärungspathos, vita activa und die Konstruktion eines Nationalcharakters, der für die Art und Weise der vita activa notwendig ist, werden zur Referenz, den nationalen Anrufungen zu entsprechen, zu widersprechen oder sie eigen-sinnig zu adaptieren. In jedem Fall erweisen sie sich aber als wirkungsmächtige ästhetische Bilder, die eine Identifizierung der Schülerin mit der nationalen Komponente bedingen. Der Wille zum Staat Wie die Erzählstruktur von der schicksalhaften Verbindung eines genuinen Nationalcharakters hin zur Notwendigkeit eines einheitlichen 80 Heine, Heinrich: Französische Zustände. In: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Brieglib, Klaus. Band 3. dtv, München 1997, S. 89 – 279. Hier S. 91.
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Nationalstaatsgebildes beweist, bestätigen die Schülerinnen Renans Paradigma von der Nation als täglichem Plebiszit. Ich habe oben erläutert, wie die Identifizierung mit der Nation zu einem Wille zum Staat wird. Im Falle der DDR geschieht dies in erster Linie über die »Nationalität der Arbeiterklasse und der sozialen Antifaschisten«. Die Institutionen des Staates werden somit ebenso wie die moralischen und disziplinarischen Verhaltenskodexe zum Ziel und Zweck der nationalen Identifizierung und ihrer sinnstrukturierten Biografie. In den Schlusssequenzen der Aufsätze zeigt sich das Gelingen dieser Verknüpfung von nationaler Identität mit dem Staat DDR. Demnach scheint die Effektivität des nationalen Begehrens ohne Staat nicht mehr möglich. Die, nach dem Krieg wieder hergestellte, staatliche Ordnung steht zum einen für das Ende der Zerrissenheit von Nation und Identität. Der Staat ist in diesen Aufsatzsequenzen etwas, das als natürliche Ordnung das Ende von Unsicherheit und Angst bedeutet: »Einer mußte doch wenigstens da sein, der in diesem Chaos der Kleinstaaterei, des Mystizismus, des Sichverlierens in eine schleierhafte Vergangenheit und in eine ebenso aussichtslose Zukunft wachte. Und Heine wachte, er schlief nicht, Er konnte, selbst wenn er es gewollt hätte, nicht schlafen.« (A28, S.3f.)
Kleinstaaterei, also die nicht vorhandene staatliche Einheit der Nation, wird hier konkret mit »Chaos«, »Sich – verlieren« gleichgesetzt und bestätigt auf drastische Weise, was viele andere Schülerinnen durch ihre pejorative Verwendung von Kleinstaaterei ebenso meinen: Dass eine Zerrissenheit der staatlichen Nation auch eine Zerrissenheit ihrer eigenen Person bedeute. Der verlorene, der abgespaltene Raum erscheint auch als Abspaltung von der eigenen Identität. (A7, S.2 / A17, S.1 / A13, S.2 / A12, S.1 / A21, S.2). Auf diese Weise wird die staatliche Verwaltung, die die Regelung der Versorgung, des Verkehrs etc. Sicherheiten gewährt, zu einer Erfahrung, in der Staatlichkeit als Teil der eigenen (ganzheitlichen) Identität wahrgenommen wird. Im Bewusstsein, Teil einer Staatsnation zu sein, fühlt sich die Schülerin »bei sich selbst«. Und dies nicht nur aufgrund der Erfahrung, sondern weil sich diese mit der Schicksalsvorstellung mischt, die eigene mystische Gemeinschaft habe immer auf eine nationale Einheit hingewirkt.
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Zum zweiten erweist sich die DDR in den Aufsätzen über die Zäsur des deutschen Faschismus als staatliche Erfolgsstory des »ewigen« Kampfes einer antifaschistischer Nation. »Heinrich Heines Kampf ist nicht umsonst gewesen. Wohl geriet Deutschland noch in viele finstere Situationen, erinnert sei nur an den ersten Weltkrieg und an die faschistische Herrschaft in Deutschland. Nie aber fand der Kampf um die Befreiung Deutschlands sein Ende, er dauert auch heute noch an. Für uns, die wir in einem befreiten Teil Deutschlands leben, kommt es darauf an, Heines Erbe zu sammeln und zu ehren und es als Waffe für die Befreiung ganz Deutschlands zu benutzen.« (A27, S.8)
Der Faschismus – der hier eine Katastrophe für Deutschland und nicht für Europa oder die konkreten (anationalen) Opfergruppen ist – wird zum Scharnier zwischen nationaler Identität und Legitimität des Staates. Die gesamte binäre Identitätsstruktur steckt in dieser Konklusion, wonach Heines Kampf sich im Faschismus widerspiegele und unter antifaschistischen Vorzeichen heute als nationaler Kampf weitergeführt werden müsse. Dabei ist der Kampf gar nicht auf den antifaschistischen Inhalt gerichtet. Vielmehr gilt es Heines Erbe zu sammeln und ehren und es als Waffe für die Befreiung ganz Deutschlands zu nutzen. Antifaschismus ist vielmehr zum Zweck geworden, den »nationalen Verrat« der Faschisten zu bereinigen und die Nation ihrer aurea aetas zuzuführen. Dieser »Zweck-Antifaschismus« offenbart sich besonders in der vehementen Betonung dessen, dass die nationale Aufgabe, im Erbe Heines, die Einheit Deutschlands sei. »(J)edoch in einem Teil Deutschlands triumphiert bereits die Wahrheit. Niemand verfolgt in der DDR den, der sich gegen etwas auflehnt, das unserem Leben nicht entspricht. Vor uns allen steht die Aufgabe, Deutschlands Einheit zu erringen.« (A28, S.11)
Der neue Staat wird mittels seiner binären Struktur zum Vollender der deutschen Bestimmung: »Wie sehr hatte doch Heine bei der Verfassung zum Vorwort der ›Lutetia‹ recht gehabt: ›Der Kommunismus wird die alte Gesellschaftsordnung, in der die Habsucht gedieh, in der der Mensch vom Menschen ausgebeutet wurde,
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vernichten, er wird sie zertreten, wie ein Stiefel eine Kröte am Wegesrand zertritt.« (A29, S.10)
Während also der Nationalismus seine effektive Vollendung im neuen Staat erfährt, ist damit noch keineswegs eine Akzeptanz der Teilung des Staates erfolgt. Im Gegenteil: Gerade die Verschmelzung von nationalem Schicksal und staatlicher Einheit untergräbt die Akzeptanz einer deutsch-deutschen Koexistenz und einer Konzentration der eigenen nationalen Identität auf einen deutschen Teilstaat. Das Einheitsbedürfnis bleibt als Anspruch vehement, wird aber mit den sozialen und arbeiterlichen Begehren und Versprechen des Nationalstaates gekoppelt. So zerstört das Abreißen eines deutschen Landstrichs vom andern weiterhin die Identität, die es doch immer noch benötigt, wenn man gegen die weiterhin existenten exogenen Feinde stark sein will. »Betrachten wir uns das Deutschland unserer Tage. Finden wir nicht ähnliche Zustände? Eine Grenze teilt auch unser Vaterland, und sie ist genau wie die zahllosen Grenzen des Deutschlands der Kleinstaaterei, eine ungerechte und unberechtigte Grenze. Auch heute werden (sic!) patriotische Gesinnung begraben und jegliche Auflehnung gegen die bestehenden Zustände verfolgt.« (A28, S.11)
Die Teilung des Heimatraums sei, dieser Schülerin zufolge, den Feinden der Heimat dienlich, denen, die jede »patriotische Gesinnung begraben«. Darüber hinaus schafft gerade die Verbindung von Staat und Nation ein Gefühl dafür, dass von der staatlichen Spaltung der Nation auch der eigene Körper und die Psyche betroffen seien. Insbesondere das Versprechen einer Befreiung der Nation in einer staatlichen Einheit muss an die vitale Befreiungserfahrung nach dem Krieg anknüpfen und deshalb die gesamte nationale Erzählung eines kriegerischen, binären Kampfes, der in der aurea aetas mündet, als eigenes Bedürfnis, eigene Erfahrung und kollektives Schicksal erscheinen lassen (z.B. A29).
6. Nationale Identifikation nach der systemischen Wende
6.1 N ATIONALE I DENTIFIKATION IM D EUTSCHUNTERRICHT DER DDR Die Analyse der Schulaufsätze über Heinrich Heine hat gezeigt, welche Bedeutung die Institution Schule dafür hat, familiäre Gefühle auf eine vorgestellte mystische Gemeinschaft zu übertragen und dem Subjekt ein Widererkennen und sich identisch fühlen in der nationalen Gemeinschaft zu vermitteln. Literatur ist für das Gelingen dieser nationalen Subjektivierung ein effektives Relais. Insbesondere solche Texte wie die Heinrich Heines, die nicht eindimensionale tendenzielle Welterklärungsmuster anbieten, sondern in ihrer ästhetischen und intelligiblen Konstruktion vielstimmig, brüchig, gar widersprüchlich sind, eignen sich für eine kollektive Wiedererkennung in den nationalen Erzählmustern besonders. Obwohl Heines Nationen- und Politikverständnis nicht dem nationalen Prinzip der jungen DDR entsprach, waren seine Narrationen doch insoweit kompatibel, als dass konkrete Bilder und Muster die Jugendlichen der Nachkriegsgeneration besonders ansprachen und auf deren außerschulische Erfahrungswelt übertragbar waren. Und so kommt auch die Aufnahme Heines in den Literaturkanon der jungen DDR nicht von ungefähr.1 Es ist von Seiten der politisch Linken der BRD oft zurecht
1
Da, wo sich die Heimat, Volks- und Staatsvorstellungen von BRD und DDR gleichen, weil sie dem gleichen modernen Staats- und Nationenbegriff unterliegen, gleichen sich auch der Kanon und die Kollektivbiografien. Insbesondere bei Goethe und Schiller, deren Adaption als Kollektivbiogra-
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betont worden, dass Heines Texte erst in den späten 1960ern im Unterricht der BRD behandelt wurden, dass Lehrer, die Heine im Deutschunterricht behandelten vom Berufsverbot bedroht waren.2 Liest man allerdings, so wie Jöst3, aus der puren Tatsache, dass Heine in der DDR zum Kanon gehört habe etwas Emanzipatives, so wird man weder den Texten Heines, noch der Frage nach der ideologischen Funktion von Schule und Deutschunterricht gerecht. Darüber hinaus spricht die kritik- und inhaltslose Gegenüberstellung einer faktischen Aufnahme Heines in den Kanon der DDR gegenüber dem Verschweigen Heines in der BRD für ein Verharren im hegemonialen Diskurs der Literaturinterpretation der 1920er – 1960er. Diese Untersuchung hat bewiesen, dass Heines Politikverständnis, seine Betrugstheorie, seine Ansprache der Jugend und seine Bedeutungszuweisungen an Nationalcharaktere und an eine Vereinigung deutscher Lande für die aurea aetas der Menschheit eine Identifizierung mit nationalen Narrationen ermöglichten und strukturierten. Die Schülerinnen changierten zwischen den Narrationen Heines, den schulischen Diskursen des Nationalen und denen des NachkriegsElternhauses. Um aus diesen verschiedenen und auch divergierenden Diskursen Erklärungsmuster für ihre eigene nationale Identifizierung, ja für ihre Subjektivität als Mensch, dessen Seele und Körper nicht von Nationalität getrennt werden könne, zu machen, wurden ihnen Biografie und Texte Heines zum Interdiskurs. Aus diesen »entliehen« sich die Schülerinnen jene Worte und Erklärungen, mit denen sie ihre eigene nationale Identifizierung benannten, erklärten und schließlich behaupteten – kurzum: Mit denen sie sich als nationale Subjekte wahrnahmen und solchermaßen von sich sprachen. Die zentralen Diskurse der nationalen Identifizierung mit und durch die Texte Heinrich Heines waren das Feind-Freundschema entlang der Erkennungspraxis »Arbeit«; die vita activa als Soldat für die national-staatliche Vervollkommnung, also für das bessere Deutschland und die Bedeutung der eigenen Generation für die nationale aurea
fie allerdings abstrakt bleibt und lediglich eine Identifikation nach sich zieht im Sinne »alle Deutschen kennen Goethe«. 2
Bsp.: Jöst, Erhard: Schwimmen im Ozean. Astrid Henning auf der Suche nach »Heinrich Heine und Deutschsein in der DDR«. literaturkritik.de 2007/07.
3
Ebda.
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aetas. Erst in der schulischen Einübung wurden sie zu – für diese Generation – kollektiven, identitätsbildenden Diskursen. Und erst durch die historischen Zäsuren (Mauerbau, Prag 1968, systemische Wende 1989) hindurch wurden sie zur bestimmenden Praxis, welche die kollektiven und individuellen Lebensläufe performativ strukturierte. Das Freund-Feind-Schema aus der nationalen Anrufung entlang der Praxis Arbeit ist der offensichtlichste und durch die sozialen und politischen Zäsuren der DDR (1953/1976/1989-90) der nachhaltigste Diskurs – vielleicht auch deshalb, weil er so selbstverständlicher Diskurs aller modernen Staaten ist: Über die Identifikation mit Heines politischer vita activa, die nachhaltig und richtig das nationale Fortkommen, den nationalen Sieg vorangebracht habe, erschrieben sich die Angehörigen der Nachkriegsgeneration eine mystische, nationale Tradition. In einer »immerwährenden« kriegerischen Geschichte identifizierten sich die Schülerinnen mit Heine als Angehörigem des Volks der Arbeiter. Diesem Volk gegenüber steht das Nicht-Volk der Nichtarbeitenden. Aus der eigenen Positionierung im »ewigen« nationalen Kampf der Arbeiter entstand eine Erhabenheit der Nachkriegsgeneration aus der Praxis der Arbeit heraus gegenüber den Nichtarbeitenden.4 Diese subjektive Erhöhung und dieses Emotionsmuster wirken strukturierend auf die gesamte Biografie, auf die Körper und Seelen dieser Generation, da die neuen Staatsbürgerinnen sich immer wieder in der dichotomen Konfrontation Arbeit-Nichtarbeit wiedererkennen und vor allem dabei das Hochgefühl der Erhabenheit wieder erleben. Dieses Wieder-Erleben ist gekennzeichnet durch eine kollektive Erfahrung eben jenes Erhabenheitsgefühls. Insbesondere der Nachkriegsgeneration sprechen die staatlichen Institutionen in der Konsolidierung des antifaschistischen Nachkriegsstaates eine herausgehobene Rolle zu. Der ihnen überantwortete Glücksauftrag und das Glücksversprechen, durch die Garantie von Lohnarbeit auf Dauer von Armut und Krieg befreit zu sein, verband sich in der schulischen Identitätsausbildung mit der konkreten Ansprache der Jugend durch Heinrich Heine. Sowohl Heine selbst, als auch die staatliche Institutionen maßen der Jugend eine bedeutende Funktion bei der Befreiung (entweder der Nation oder der Menschheit) zu. Eine Aufgabe, welche die Schülerin vermischte, indem sie ihrer Generation die historische Aufgabe über-
4
Moses, Stefan: Abschied und Anfang. Ostdeutsche Portraits 1989 – 1990. Edition Cantz, Ostfildern bei Stuttgart 1991.
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trug, mittels der nationalen Befreiung eine politische und soziale Befreiung der Menschheit an sich zu erreichen. Und so lieferten Heines Anrufung der Jugend und seine eigene Zukunftsorientierung im Zusammenhang mit dem Glücksversprechen des Staates an die Jugend die Grundlage für ein sittliches Bekenntnis. Die Schülerinnen haben die staatliche Verwaltung und Regierung entlang von Arbeit akzeptiert, für gut befunden und sie zum Maßstab ihrer Biografie und der jeweiligen politischen Regierung gemacht, an dem sie dieselbe auch immer wieder maßen (1953/1989/Montagsdemonstration 2004). Sie wähnten sich nicht nur aufgrund des Versprechens von und dem Wiedererkennen in der Praxis der Arbeit im besseren Deutschland zu leben, sie machten sich auch die Vereinigung Gesamtdeutschlands unter den politischen Inhalten des besseren Deutschland zur eigenen politischen und biografischen Aufgabe. Über das Wiedererkennen der eigenen Praxis in den Handlungen, Normen und Strategien der anderen entstand also eine Familialisierung der Arbeiterklasse, für deren mystische Tradition und historische Wahrheit Heinrich Heine mitsamt seiner Biografie Pate stand. In der staatlichen Umsetzung, Verwaltung und Regierung dieser Arbeiterklasse erkannte die Schülerin nicht nur eine gelungene Umsetzung des Lebens, Kämpfens und vor allem Leidens Heines, sondern fühlte sich darin zu Hause, bei sich selbst. Bei allen politischen und sozialen Diskrepanzen war der Staat DDR zum besseren Deutschland geworden, dessen nationale und soziale Inhalte zur Norm und Direktive für die nationale Selbstverortung bis in den Vereinigungsprozess der beiden deutschen Staaten werden sollte. Den Vereinigungsprozess Deutschlands als individuelles Schicksal zu betrachten und in ihm den Sieg der Wir-Gruppe der Arbeiter zu erkennen, hat sich in den Aufsätzen als wesentliches Resultat der nationalen Verortung zwischen den schulischen, elterlichen und literarischen Diskursen erwiesen. Sowohl in den Aufsätzen, die den nationalen Anrufungen der staatlichen Institutionen folgten, als auch in denen, in welchen ihnen widersprochen wurde, spielte Heines Betonung der deutschen Einheit für die soziale und politische Befreiung eine bedeutende Rolle für die nationale Identifizierung der Schülerinnen. Seine Biografie und die Betonung des Leidens im Exil verfestigten die Vorstellung, dass ein Leben außerhalb der Heimat zum Zerreißen der Seele, des Ichs führe. Und so konnte zwar die Vokabel Nation durch die historischen und sozialen Strukturen hindurch durch die Vokabel Hei-
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mat ersetzt werden – als identitätsstiftendes Zeichen blieb sie immer virulent. Denn trotz Austausch der Vokabel wurden die Inhalte zum konstituierenden Element der subjektiven Darstellung, Selbstverortung, des Norm- und Wertemusters und zur performativen Biografiegestaltung. Die Schülerinnen haben sich in ihren Aufsätzen mit den schulischen und literarischen nationalen Aussagen identifiziert, haben an ihnen ihre bisherigen Identifikationen mit nationaler Subjektivität und mit Wissen um den Inhalt des Nationalen bestätigt, gebrochen oder geglättet. Ob nun in Ablehnung oder Adaption dieser textimmanenten nationalen Anrufung (und damit ist auch der Text von Heines Biografie gemeint) ist diese Identifikation im Prozess des Schreibens zu einer schicksalshaften Identität geworden. Im Behaupten und Einüben derselben haben die Schülerinnen ihre Biografie mit der Nation und ihrer staatlichen Vertretung gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung ist aber nicht nur abstrakt, sie benötigt auch eine sittliche Struktur in Bezug auf das eigene Leben. Die Schülerinnen versprachen in ihren Aufsätzen eine Arbeit an sich selbst, eine Vervollkommnung ihrer selbst – unabhängig, ob sie die staatlichen Vorgaben der nationalen Identifizierung teilten und unabhängig davon, ob sie Heines Angebote zur nationalen Identifizierung ablehnten oder adaptierten. Diese Arbeit an sich sollte nun zur strukturellen Grundlage ihrer Lebensbiografien werden – zur Grundlage Erlebnisse, neues Wissen, Brüche und Erfahrungen einzuordnen und sich immer wieder zu versichern, dass sie sie selbst als Subjekt sind, indem sie sich im konkreten Fall entlang dieser strukturierten Moral ausrichteten, entschieden und neu-identifizierten. Wie nachhaltig diese Struktur der eigenen Biografie entlang dieser national-sozialen Moral sein konnte, soll ein kurzer Ausblick zeigen, der sowohl einen Blick auf die Inhalte nationaler Identifizierung entlang von sozialer Heimat und Arbeit auch nach der Vereinigung wirft, als auch daraus Forschungsfragen aufwirft, die aus den Erkenntnissen dieser Untersuchung hervorgehen.
6.2 A USBLICK : D IE N ACHHALTIGKEIT NATIONALER IDENTIFIKATION
VON
Sherlock Holmes aus Billy Wilders Film hätte es heute wesentlich schwerer, die Identität einer Klientin aus ihrer Nationalität abzuleiten
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als vor 40 Jahren. Nicht nur, dass Sprache, Kultur und sogar Hautfarbe gewechselt werden kann – das postmoderne Subjekt unterscheidet sich ganz grundsätzlich vom modernen Subjekt dadurch, dass eine Einheitlichkeit seiner biografischen Identität nicht mehr ausgemacht werden kann. Da postmoderne Identitäten ohnehin kurzlebigen und episodischen Charakter haben, da das postmoderne Subjekt aufgrund seiner flexiblen und mobilen Struktur5 mehrere Identitäten zu haben scheint, ist eine Grenzziehung entlang Zugehörigkeiten und Andersartigkeiten problematisch geworden, ebenso wie feste nationale Identitätszuschreibungen.6 Kann man angesichts dessen, dass eine Ostdeutsche ihre Herkunft nur noch als kurzlebige Episode in ihrem Leben begreift, angesichts dessen, dass Herkunft oder Wahlheimaten nur Punkten auf der biografischen Erzählebene gleichen, vom Ende nationaler Identitäten sprechen? Die vorliegende Arbeit hat gezeigt, wie flexibel, wie wandelbar der Begriff der nationalen Zugehörigkeit ist und just dadurch immer wieder Gefühle der Identifizierung in sich integriert und aufgehen lässt. Und so ist der Begriff »Nation« aufgrund des Internationalisierungsanspruches und der Faschismusaufarbeitung der »68er« längst einem Identifikationsdiskurs gewichen, in dem sogar die episodische und mobile Subjektstruktur des neuen Jahrtausends integrierbar ist: Ich spreche vom Diskurs der Heimat. Simone Costagli verweist auf die Rehabilitierung des Heimatbegriffes in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren anstelle des problematisch gewordenen Begriffs der Nation.7 Dieser setzt sich seit der
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Baumann, Zygmunt: Flaneure, Spieler, Touristen (1997).
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Allerdings gilt es bei dieser Definition postmoderner Lebensformen ein Stadt-Land-Gefälle zu berücksichtigen. Zwar reichen die konkreten ökonomischen und kulturellen Anforderungen an eine postmoderne Identität mitsamt einem postmodernen Erwerbs-Arbeitsleben selbstverständlich auch in ländliche Gebiete herein. Die Faszination, die freiwillige Adaption und somit auch Reproduktion dieser Kultur findet sich aber vorwiegend in der Stadt – die allerdings ihrerseits mit einer hegemonialen Definitionsmacht die Kultur anderer Lebensformen ihr unterordnet.
7
Costagli, Simone: Ein glücklicher Ausgang für die deutsche Geschichte? Heimat 3 und die Romantik als Gründungsmythos des wiedervereinigten Deutschland. In: Galli, Matteo u. Preusser, Heinz-Peter (Hrsg.): Deutsche Gründungsmythen (2008), S. 235 – 244. Hier S. 235.
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Vereinigung 1990 immer weiter durch und offenbart sich in populären Filmen (»Heimat« von Edgar Reitz), Popsongs (Paul van Syk und Peter Heppner: »Wir sind Wir«, Mia: »Was es ist« oder Peter Fox: »Haus am See«) oder der Förderung des Dialektsprechens an bundesdeutschen Schulen. Und so kommt es auch nicht von ungefähr, dass sich die nationalen Identifizierungen Ostdeutscher nach der Vereinigung an der Verbindung von Heimatregion, Liebe und regionalistischen Identitäten entlang hangeln. Eröffnet der Begriff »Heimat« doch die Möglichkeit, die emotionalen Wiedererkennungsgefühle des Nationalen beizubehalten, auch wenn die konkrete Lebensbiografie der nationalen Identität Hohn zu sprechen scheint. Symbolisch für die Glättung des durch systemische Wende 1989/90 und die faschistische Vergangenheit Deutschlands brüchig gewordenen Begriffs Nation ist eine vierteilige Dokumentation mit dem Titel »Meine DDR«, ausgestrahlt im Januar und Februar 2009 in der ARD. Spannend ist hier nicht, dass die am häufigsten auftauchende Erzählung der Zeitzeuginnen einen Bruch, eine Abwendung, eine Verachtung des Staates DDR beinhaltet, sondern dass alle ihr Aushalten, ihr Bleiben, ihre mentale, emotionale und intelligible und/oder emotionale Identifizierung mit dem nationalen Gebilde der DDR über die Betonung der Heimat erklären, begründen und rechtfertigen. Und vor allem: Dass diese Begründung und Rechtfertigung, diese Neuidentifizierung besonders von der Generation getragen wird, die in der vorliegenden Arbeit bereits ihre Identifizierung äußerte. So erklärt Bettina Wegener im Teil 3 der Dokumentation ihre Identifikation mit dem Sozialismus und ihre Anrufung der Regierenden, diesen einzulösen8, interessanterweise am Heinedenkmal in Berlin folgendermaßen: »Ich habe Heine geliebt, weil er sein Land so geliebt hat. Ich hab mein Land geliebt, aber nicht die Regierung. Aber die Menschen in diesem Land, ich mochte die sehr. Die Menschen waren solidarischer.«
In der emotionalen Gemeinschaft, in einer emotionalen Anbindung an »die« Menschen (die Fr. Wegener keinesfalls alle einzeln kennen
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Bettina Wegener: »Die Genossen mit der Gitarre auf den guten Weg bringen«. In: Meine DDR. Folge 3 »Der schöne Schein der Diktatur«. Ein Film von Michael Heuer. CineCentrum Produktion NDR 2008.
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kann) fühlt sie sich zu Hause, fühlt sie sich bei sich selbst und glättet ihre Wendeerfahrungen durch eine semantische Neubesetzung des Begriffes Nation zu Heimat bei Beibehaltung des Inhalts. Denn obwohl das Wort Nation auf die nationale Gemeinschaft der DDR nicht mehr passt, können die Inhalte, das Sich-wieder-Erkennen, die mystische Gemeinschaft und die Abgrenzung zum Anderen beibehalten werden, wenn »Heimat« als Sammelbegriff für diese Gefühle und Identifizierung des Nationalen gebraucht wird. Im Zusammenhang mit der Neubenennung und inhaltlichen Beibehaltung nationaler Identitäten »retten« die Angehörigen der ostdeutschen Nachkriegsgeneration (wie die Dokumentation beweist) nicht nur ihre brüchig gewordene nationale Identifizierung. Indem konkrete Diskurse der nationalen Identifizierung behauptet werden, erzählen die hier Befragten gleichzeitig wieder ihre Erhabenheit. Aus der regionalen Identifikation und damit verbundenen Bedeutungszuweisungen wird jetzt nach der Wende die soziale und politische Ebenbürtigkeit zu den Westdeutschen herzustellen versucht.9 Während also einige Diskurse der nationalen Anrufung aus der Schulzeit durch die biografischen Zäsuren wegfallen, erfahren andere gerade durch diese biografischen Zäsuren eine Neubetonung, eine Verstärkung und damit auch eine erneute Bedeutung bei der Identifizierung und Subjektivierung der betreffenden Generation nach der deutschen Vereinigung. Neben dem, schon bei Fr. Wegener aufgezeigten, Wiedererkennen des Selbst in der mystischen Gemeinschaft (auch bei dem Lehrer Detlef Scheibe, der betont, dass durch die Erfolge seiner Heimat – Sparwasser, Schierminski, internationale Anerkennung der DDR, Sigmund Jähn – sein Ich sich gut angefühlt habe, dass er sich in diesen Momen-
9
Vgl.: die Klage einer Frau aus Baden-Württemberg, die in Ost-Berlin geboren wurde und deren Bewerbung mit dem Vermerk »Ossi« abgelehnt wurde. Die Frau hatte in Stuttgart geklagt und darauf verwiesen, dass Ossis eine eigene Ethnie seien, und deshalb nach Art. 3 GG nicht diskriminiert werden dürften. Auch wenn die Frau sich selbst ursprünglich gar nicht mehr als Ossi bezeichnet hatte (sie betonte, dass sie seit 1988 in der BRD lebte und baden-württembergische Kultur zu ihrer Eigenen gemacht habe), muss sie sich auf ihre heimatliche Herkunft beziehen, um ein Recht einzuklagen. (u.a. http://www.rbb-online.de/nachrichten/vermischtes/2010_04 /sind_ossis_eine_ethnie.html. aktuell am 10.05.2010)
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ten des nationalen Erfolgs bei sich selbst gefühlt habe. »Es gibt meinem eigenen Leben die größere Legitimität«10) ist es vor allem der Diskurs der nationalen Identifizierung entlang der Praxis Arbeit, der nationale Identität in der neuen Begrifflichkeit Heimat aufgehen lässt: Obwohl die Familialisierung mit der Klasse der Werktätigen in keiner Folge der Dokumentation explizit genannt wird (Wir – der Arbeiterund Bauernstaat), zieht sich der Stolz auf die geleistete Arbeit wie ein roter Faden durch die vier Teile, mit jeweiligem Schwerpunkt auf eine Generation. Zwar weist Wierling zu Recht darauf hin, dass das Glücksversprechen vom steigenden – und dem Kapitalismus gleichem – Wohlstand durch mehr Arbeit an die Kriegs- und Nachkriegskinder nicht zufriedenstellend eingelöst11 und in den darauffolgenden Generationen immer weiter ausgehöhlt wurde. Die Identifizierung mit der Arbeit ist aber dennoch nachhaltig und vor allem – sie kennt weiterhin ein Wir, welches das ostdeutsche Subjekt, die ostdeutsche Arbeiterin meint. Elfriede Wojaczek-Steffke (Tiermedizinerin und Zeitzeugin der Kriegs- und Nachkriegskinder, der »Dankesgeneration«) steht nur beispielhaft für die vielstimmigen Erzählungen, man habe trotz widrigster Bedingungen gute Arbeit geleistet.12 Wojaczek-Steffke betont dabei sogar die wirtschaftliche Rentabilität einiger LPGen, weil die Leute gut gearbeitet hätten und widerspricht dadurch einem hegemonialen Nach-Wende-Diskurs von der Unwirtschaftlichkeit der Kollektiv- und Planwirtschaft. Edgar Most (Jahrgang 1940/Bankdirektor) kommt über die Erzählung vor der Kamera über seine Arbeit vom Ich zum Wir zurück. Bei einer Besichtigung des ehemaligen petrochemischen Kombinats erzählt er von der sozialen und kulturellen Gleichheit der unterschiedlichen Berufe. Bauarbeiter und Bankbeamte hätten dieselben Bedingungen gehabt: »man lief rum, wie die auch und man war ja auch ein Bau-
10 Detlef Scheibe, Lehrer. In: Meine DDR. Folge 3 (2008). 11 Wierling, Dorothee: Wie (er)findet man eine Generation? Das Beispiel des Geburtsjahrganges 1949 in der DDR. In: Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert (2003), S. 217 – 228. 12 Elfriede Wojaczek-Steffke (Tiermedizinerin). In: Meine DDR. Folge 1 »Träume und Illusionen« Ein Film von Tom Ockers. CineCentrum Produktion NDR 2008.
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arbeiter.«13 Auch wenn Most direkt im Anschluss diese Identifizierung relativiert: »man fühlte sich mit deresgleichen auf einer Stufe. Und man hatte Revolution im Bauch, man wollte was bewegen« entsteht eine wieder aufkeimende Identifizierung von der er selbst sagt, dass die sich erst durch eine neue Lebensrichtung aufgelöst hätte (er ist aus Schwedt weggegangen und hat durch eine neue Anstellung eine neue Identifizierung angenommen). Im Laufe der Erzählung wird das »Wir Arbeiter« immer häufiger bei ihm und mit Gefühlsäußerungen des Glücks begleitet (Strahlen in den Augen, Verve beim Sprechen). Die wieder hervor-erzählte Identifizierung führt letztendlich zu einer Dankbarkeit ob der ermöglichten Aufstiegsmöglichkeit. Als er das (privatisierte) Werksgelände nicht betreten darf meint er: »wir wollen nischt klauen, wir wollen eigentlich, dass die nachfolgenden Generationen, wenn sie mal drüber nachlesen und nachblättern, auch sagen: wer, was ham denn die damals geleistet nach ´m Krieg. Und darum geht’s doch. Da würde, jeder normale Betrieb müsste stolz drauf sein, wenn er ausgewählt wird, dass er für sowas dokumentiert wird.« 14
Ob nun in Edgar Mosts erzählerisch wieder hergestellten Identifizierung mit dem Werk und seinen Arbeitern oder in hervorgehobenen Berufsethos Rolf Henrichs (Bergmann und Jurist/Jahrgang 1944) oder Uschi Geschwandtners (Pelztierzüchterin, Melkerin und Meisterin im Fischfangkombinat Saßnitz/Jahrgang 1947) – die Betonung der Arbeit als erhabenes Gefühl, aus welchem eine vorgestellte Gemeinschaft mit anderen Arbeitern und Arbeiterinnen im Osten Deutschlands entsteht, ist den Erzählungen der Zeitzeuginnen durchgängig. Und es bestimmt die Sequenzen von einer Erzählung der eigenen Identität, der Ganzheit und des Selbstgefühls.15 Erst bei der letzten Generation, der um 1970 Geborenen, bricht sich das, die Erzählung von der Gemeinschaft durch
13 Edgar Most (Bankdirektor). In: Meine DDR. Folge 2 »Im Schatten der Mauer«. Ein Film von Gunther Scholz. CineCentrum Produktion NDR 2008. 14 Ebda. 15 Ingrid Stolte (Bauingenieurin: »die Arbeitskraft der Frau wurde gebraucht, ich war voller Energie, ich ging darin auf [...]« In: Meine DDR. Folge 3 (2008).
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Arbeit wird ersetzt durch individualisierte Freiheitssehnsüchte und Konsumbegehren.16 Aus der nachhaltigen Identifizierung mit den politischen und sozialen Strukturen einer nationalen Gemeinschaft durch die kulturelle Praxis »Arbeit« hatte sich bereits in den Schulaufsätzen ein Muster ergeben, das die nationale Identifizierung mit der Gesellschaft der DDR strukturierte. Auch bei den Befragten der Dokumentation erwächst aus der Identifizierung mit der nationalen/heimatlichen Gemeinschaft durch Arbeit ein nationales Freund- Feind-Muster entlang der Kategorie Frieden und Antifaschismus: Detlef Scheibe erklärt das kriegerische Freund-Feind-Muster und seine explizite Bindung an den Friedensgedanken zur Grundlage für seine Überzeugung zum Staat und zum Sozialismus.17 Hagen Koch (Angehöriger des Wachregiments des Ministeriums für Staatssicherheit) bekräftigt: »Der Mauerbau war eine friedenssichernde Notwendigkeit.«18 Das Freund-Feind-Muster zur eigenen Identifizierungsangelegenheit zu machen, bleibt nicht nur der Nachkriegsgeneration vorbehalten. Auch Janet Oldinski (Jahrgang ca. 1970/Studentin) macht sich dieses binäre Muster zur eigenen Lebensstruktur: »Ich hab dran geglaubt, ich hab wirklich (äh) dran geglaubt, dass das, was ich gelernt habe, dass (äh) dass das was Richtiges, dass das was Gutes ist. Dass das etwas ist, was alle Menschen wollen. Ähm. Nämlich für die Schwachen da sein, ne? Also keiner ist besser als der andere. Ich hab gedacht, dass das etwas ist, was, ja, wofür sich’s lohnt einzustehen.« 19
Gerade an Janet Oldinski, Vertreterin der letzten Generation, die in der DDR geboren und sozialisiert wurde, offenbart sich die Nachhaltigkeit der nationalen Identifizierung. Ihre Positionierung und Verortung zu und in einer Gemeinschaft entlang der Kategorien Arbeit und Frie-
16 Insbesondere Jan-Josef Liefers (Schauspieler). In: Meine DDR. Folge 4 »Tanz auf dem Vulkan«. Ein Film von Kathrin Pitterling. CineCentrum Produktion NDR 2008. Auch (bedingt durch die Anhäufung von Opfern der Stasi) In: Meine DDR. Folge 3 (2008). 17 Detlef Scheibe (Lehrer) In: Meine DDR. Folge 3 (2008). 18 Hagen Koch (Kartograph und Angehöriger des Wachregiments des Ministeriums für Staatssicherheit). In: Meine DDR. Folge 1 (2008). 19 Janet Oldinski (Studentin). In: Meine DDR. Folge 4 (2008).
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denssicherung offenbart die sittliche Struktur, die »Arbeit an sich« – die gleiche sittliche Struktur, wie bei der Nachkriegsgeneration, die selbst innerhalb der vordergründigen Glücksvorstellungen nach Konsum- und individuellen Gültigkeit behält. Der Anspruch, das Individuum im Kollektiv aufgehen zu lassen, und sich den sittlichen Prinzipien der nationalen Gemeinschaft zu unterwerfen, um dadurch eine Befreiung der Menschheit an sich zu erwirken, wird deutlich in der performativen Erzählung ihrer Biografie. Demnach habe sie, ungeachtet der sozialen Veränderungen während ihrer Lebenszeit in der DDR, eine sittliche Struktur entwickelt, eigene Unzulänglichkeit im normativen kollektiven Sinne nicht als Grund für einen Bruch mit der nationalen Gemeinschaft zu nehmen, sondern die Zweifel zu glätten, auszuräumen, nichtig zu machen. Sie möchte »weiter an sich arbeiten«20. Die Studentin Oldinski wird zum Symbol für die Nachwendegeneration, an der sich – analog zur Nachkriegsgeneration – untersuchen ließe, wie nachhaltig die emotionale Strukturierung einer nationalen und heimatlichen Identifizierung ist, die in der Generation ihrer Eltern begründet wurde. Die nationale Identität und Identifizierung der Wende und Nachwendegeneration brächte im Zusammenhang mit der kaum mehr gestellten Frage nach den neuen nationalen Inhalten in den Schulen der Berliner Republik21 Aufschlüsse über die strukturelle nationale Anrufung, die sich in der populären Faszination von MännerFußball WM, nationalgeschichtlicher Kinofilme oder nationalen Popsong-Bewegungen widerspiegeln. Die ARD-Produktion »Meine DDR« endet mit der Erzählung von Janets gelungener Integration in den Westen, sie hat all ihre Identifikationen mit dem Staat DDR aufgegeben, hat sich sogar taufen lassen. Die sozialen und politischen Konnotationen von Nation, mit denen sich ihre Großeltern in der Schule identifizierten, sind untauglich ge-
20 Ebda. 21 Huisken, Freerk: Erziehung im Kapitalismus. Von den Grundlügen der Pädagogik und dem unbestreitbaren Nutzen der bürgerlichen Lehranstalten. VSA-Verlag, Hamburg 2001. Oder: Kuhlemann, Frank-Michael: Zentralabitur im Fach Geschichte. Kritische Bestandsaufnahme und Perspektiven für die Zukunft am Beispiel Nordrhein-Westfalens 2005 – 2007. In: GUW, 2008/Heft 4, S. 204 – 217. Auch: Prokasky, Herbert: Das Eigene und das Fremde. Ein komparativer Ansatz zu einem Geschichtsunterricht in weltbürgerlicher Absicht. In: GuW, 2007/Heft 2, S. 76 – 89.
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worden. Dennoch haben sie ihre Inhalte nicht verloren. Im Konstrukt der Heimat existieren sie nach wie vor und geben den Ostdeutschen Enkelinnen die Möglichkeit, die nationalen Identifikationen ihrer Großeltern fortzuführen. Janet kehrt zur Hochzeitsfeier (mit ihrem westdeutschen Mann) in ihr Heimatdorf zurück, Bilder des Glücks, ein lachendes Paar und Rosenblätter beenden die Erzählung über die DDR und ihre Subjekte. Aus dem Off ertönt die Bemerkung: »Es war ihr wichtig, für die Hochzeit nach Stanberg zurück zu kehren«. Heimat bleibt damit das emotionale Gebilde, welches die Ganzheit, die Echtheit, die Authentizität des Subjektes bezeugt und garantiert. Im Gegensatz dazu bedeutet der Verlust der Heimat auch einen Verlust an sich selbst. So erzählt Wegener über ihre Gefühle bei ihrer Ausreise 1976 »da ist irgendwas gestorben und das hab ich auch nie wieder gekriegt«. Indem Heimat als identitätssichernder Faktor aufrecht erhalten wird, indem Heimatlosigkeit pathologisiert wird, werden die DDRspezifischen nationalen Wir-Sie-Konstruktionen nicht hinfällig, die das Subjekt als Kriterien guten und richtigen Lebens und Regierens ansetzt. Im Ersetzen des Konstrukts nationaler Identität durch Identität durch Heimat stabilisiert sich die DDR-spezifische Norm der Arbeit als subjekt- und gesellschaftsbildende Praxis und erfährt gleichzeitig ihre soziale Befriedigung, da sie in die individuellen Rückzugsbereiche der Einzelnen verlagert werden. Die Anerkennung einer (sic!) ostdeutschen Identität über das Konstrukt der Heimat, die gleichberechtigt neben der einer westfälischen, bayerischen oder hanseatischen Identität steht und in der Vielstimmigkeit der einen Nation aufgeht, kann keineswegs im Interesse einer Arbeit wie der vorliegenden sein. Es gilt nicht, wie Winkler beispielsweise propagiert, eine Lösung der »deutschen Frage«22 durch Anerkennung einer ostdeutschen Identität zu finden, sondern die staatliche und nationale Identifikation der zeitgenössischen Staatsbürgerinnen zu Tage zu bringen, um gegenwärtige Regierungstechniken und Machtstrategien aufzuzeigen und zu erklären.
22 Winkler, Heinrich August: Die deutsche Frage ist gelöst, die europäische Frage ist offen. 60 Jahre Bundesrepublik: Rückblick und Ausblick. In: GWU 2009, Heft 60. S. 490 – 494.
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Irina Gradinari Genre, Gender und Lustmord Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa Oktober 2011, 378 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1605-7
Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart Februar 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4
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Lettre Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Februar 2012, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
Roger Lüdeke (Hg.) Kommunikation im Populären Interdisziplinäre Perspektiven auf ein ganzheitliches Phänomen Oktober 2011, 348 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1833-4
Stephanie Waldow (Hg.) Ethik im Gespräch Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute Februar 2011, 182 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1602-6
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Lettre Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende
Kentaro Kawashima Autobiographie und Photographie nach 1900 Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald
Dezember 2011, ca. 364 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9
August 2011, 314 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1764-1
Sandra Evans Sowjetisch wohnen Eine Literaturund Kulturgeschichte der Kommunalka
Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/ Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes »Divina Commedia«
Juni 2011, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1662-0
Markus Fauser (Hg.) Medialität der Kunst Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne Mai 2011, 290 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1559-3
Evi Fountoulakis, Boris Previsic (Hg.) Der Gast als Fremder Narrative Alterität in der Literatur März 2011, 274 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1466-4
Sabine Frost Whiteout Schneefälle und Weißeinbrüche in der Literatur ab 1800 November 2011, ca. 330 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1884-6
Dezember 2011, ca. 244 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1
Ines Lauffer Poetik des Privatraums Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit September 2011, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1498-5
Henrike Schmidt Russische Literatur im Internet Zwischen digitaler Folklore und politischer Propaganda April 2011, 738 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 43,80 €, ISBN 978-3-8376-1738-2
Philipp Schönthaler Negative Poetik Die Figur des Erzählers bei Thomas Bernhard, W.G. Sebald und Imre Kertész August 2011, 348 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1721-4
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