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German Pages 326 [328] Year 2006
Friedemann Buddensiek Die Einheit des Individuums
W G DE
Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Jürgen Mittelstraß, Dominik Perler
Band 70
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Die Einheit des Individuums Eine Studie zur Ontologie der Einzeldinge von Friedemann Buddensiek
Walter de Gruyter · Berlin · New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN-13: 978-3-11-018852-3 ISBN-10: 3-11-018852-X Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© Copyright 2006 by Walter de Gruytcr G m b H & Co. KG, D - 1 0 7 8 5 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. J e d e Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. D a s gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Alikroverfilmungen und die Kinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in G e r m a n y Rinbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Für Christian Dornauer, Markus und Thorsten Dönges
Schulze
Vorwort Für vielfältige Hilfe, die mir während der Arbeit an dieser Studie zuteil geworden ist, möchte ich danken. Für sehr nützliche Diskussionen, Anmerkungen und Hinweise zu verschiedenen Fragen und Teilen dieser Arbeit gilt mein herzlicher Dank Jens Kulenkampff, den Teilnehmern des Erlanger Montags-Kolloquiums, den Teilnehmern meiner Seminare zur Ontologie, Dag Nikolaus Hasse und, über viele Jahre hinweg, Alexander Brungs und Wolfgang Ertl. Ein herzlicher Dank gilt auch Dominik Perler und Christof Rapp für wertvolle Anregungen und ein sehr hilfreiches Gespräch. Für fachwissenschaftlichen Rat danke ich Charly Gaul, Ralph Rübsam und Tobias Studer. Ausgesprochen fruchtbar für das Vorankommen war ein Aufenthalt am Center for Hellenic Studies in Washington D.C. während des akademischen Jahres 2002 / 2003. Am Center konnte ich zu verwandten Themen im Bereich der antiken Philosophie arbeiten, mit Gewinn auch für meine systematischen Überlegungen. Mein Dank gilt hier allen, die diese wunderbare Zeit möglich gemacht haben. Die vorliegende Studie ist die veränderte Fassung einer Arbeit, mit der ich mich im November 2004 an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg habilitierte. Dominik Perler und Christof Rapp danke ich sehr für die Übernahme der externen Gutachten, Jens Kulenkampff für die des internen Gutachtens, ihm, Maximilian Forschner und Andreas Haug für die Organisation des Verfahrens sowie Ingrid Hülß für wichtige Hilfe an entscheidender Stelle. Ingo Günzler und Andreas Rauh haben beim Korrekturlesen der Endfassung sehr gute Hilfe geleistet. Dafür gilt ihnen mein herzlicher Dank, wie auch meinen Kollegen in Würzburg insgesamt für die angenehme Arbeitsumgebung, die die Endüberarbeitung wesentlich erleichterte. Den Herausgebern danke ich schließlich für die Aufnahme der Arbeit in die Quellen und Studien. Würzburg, im März 2006
Friedemann Buddensiek
Inhalt 1. Einleitung 1.1 Ausgangsfragen 1.2 Lösungsversuche 1.3 These 1.4 Prozedere 2. Methodologische Aspekte der Individuation 2.1 Neue Fragen - alte Antworten? Fragen zur Individuation 2.2 Herausgreifen
1 1 4 7 8 15 15 18
2.2.1 Die Einheit des Herausgegriffenen 2.2.2 Die Ebene des Herausgegriffenen: Deskriptive und revidierende Metaphysik
20 21
2.2.3 Realismus: Zugriff auf die Welt 2.2.4 Praktisches Interesse
24 28
3. Das Herausgreifen von Organismen 29 3.1 Ein weiter Organismusbegriff 30 3.2 Organismen als Selbstorganisierer 33 3.2.1 Zu einer alternativen Verwendung von »Selbstorganisation« . 34 3.2.2 Selbstorganisation und Spontaneität der Bewegung? 35 3.2.3 Reorganisation: Was wird erzeugt? 36 3.2.4 Selbstorganisation und Zweckgerichtetheit 38 3.2.5 Grenzen des Selbstorganisierers 39 3.3 Zirkel des Zugriffs? 40 3.3.1 Ein methodologischer Zirkel? 41 3.3.2 Herausgreifen trotz mereologischen Zirkels? 44 3.4 Zur Verwendung von »Teil« 49 3.4.1 Der Zuschnitt der Teile 49 3.4.2 Zur kategorial liberalen Verwendung von »Teil«
51
3.4.3 Temporale oder temporäre Teile?
52
4. Vage Gegenstände 4.1 Was sind vage Gegenstände? 4.2 Argumente gegen die Annahme vager Gegenstände 4.2.1 Ein Argument gegen vage Identität 4.2.2 Der Sorites
54 55 57 57 58
χ
Inhalt 4.2.3 Antworten auf den Sorites 4.2.3.1 Verzicht auf Gegenstände 4.2.3.2 Widerlegungsversuche 4.2.3.3 Argumente gegen die Anwendbarkeit auf Organismen 4.2.3.4 Wechsel der Perspektive 4.3 Fazit
59 60 61 61 66 68
5. Abgrenzung nach oben: Individuen und umfassendere Entitäten 5.1 Soziale Organismen 5.1.1 Der Autarkie-Einwand 5.1.2 Der Einwand der sozialen Handlungen 5.1.3 Der Zwang-Einwand 5.1.3.1 Abschwächung des Zwangs 5.1.3.2 Keine Kategorie-Änderung durch Zwang 5.1.3.3 Externe und interne Determiniertheit 5.2 Anstückung 5.3 Zwischenfazit 5.4 Spezies als Individuen? 5.5 Riesen-Individuen? 5.6 Fazit
69 72 73 76 78 79 81 83 85 94 94 104 105
6. Abgrenzung nach unten: Individuen und ihre Teile 6.1 Reduktionismus 6.2 Zur Frage der Wahrheit und Relevanz des Reduktionismus 6.3 Selbständigkeit trotz Reduktion? 6.4 Einwände 6.5 Fazit und Programm
106 107 109 112 115 118
7. Emergenz 7.1 Was ist ontologische Emergenz? 7.1.1 Allgemeine Probleme ontologischer Emergenz 7.1.2 Probleme ontologischer Emergenz für die Individuität . . . . 7.2 Van Inwagens »neue Gegenstände«: black boxes? 7.2.1 Van Inwagens Organismen 7.2.2 Eine Analyse der black boxes 7.2.3 Probleme der black boxes 7.2.3.1 Ontologische Überforderung der Organismen 7.2.3.2 Verletzung der kausalen Geschlossenheit 7.3 Fazit
120 122 123 126 132 133 135 137 137 139 139
Inhalt
xi
8. Das Kausalitätskriterium ontologischer Priorität 8.1 Ein Kausalitätskriterium der Existenz 8.2 Kritik an dem Argument für das Kriterium 8.2.1 Das Argument der Ko-Lokation 8.2.2 Falsche Zuordnungen 8.2.2.1 Das Problem der »Verteilung« der Eigenschaften . . . . 8.2.2.2 Das Problem der materiellen Konstitution der Eigenschaften 8.2.2.3 Das Problem der kausal relevanten Eigenschaften . . . . 8.2.3 Wer erfüllt das Kriterium: Aktualitäten oder Dispositionen? 8.2.4 Fazit der Argumentkritik 8.3 Das Kausalitätskriterium als Kriterium ontologischer Priorität . . 8.4 Fazit
141 142 146 147 148 148
9. Der Begriff der Funktion 9.1 Weshalb Funktionen? 9.2 Anfänge der Diskussion des Begriffs 9.3 Der ätiologische Funktionsbegriff 9.3.1 Wrights Konzeption 9.3.2 Millikans Konzeption 9.3.3 Probleme des ätiologischen Funktionsbegriffs 9.3.3.1 Existenzerklärung als Ziel 9.3.3.2 Die Verbindung von Funktion und Selektion 9.3.3.3 Der Sumpfmensch: Funktionierender ohne Funktion? 9.3.3.4 Types and Tokens 9.4 Der systemische Funktionsbegriff 9.4.1 Cummins'Konzeption 9.4.2 Probleme des systemischen Funktionsbegriffs 9.4.2.1 Funktion von Teilen ohne Funktion des Ganzen? . . . . 9.4.2.2 Inflation der Systeme und Funktionen? 9.4.3 Ein erweiterter systemischer Funktionsbegriff 9.4.3.1 Kriterien für die Wahl der Systeme 9.4.3.2 Systemische Fehlfunktionen 9.5 Zwischenbemerkung zur functional unity bei Hoffman und Rosenkrantz 9.6 Fazit
157 159 164 172 172 176 177 179 179
150 151 152 153 154 155
184 188 192 192 193 193 195 197 199 202 204 208
Xll
Inhalt
10. Die Einheit des Individuums 212 10.1 Vorbereitung: Zusammenpassen und Nicht-Zusammenpassen . 2 1 7 10.2 Selbständigkeitsbeitrag der Teile als Zugehörigkeitskriterium . . 223 10.2.1 Das Problem der Integration »überflüssiger« Teile 225 10.2.2 Die Integration »überflüssiger« Teile: Selbständigkeit durch Perspektivenbildung 227 10.2.3 Relevanz der Perspektive für die Individuität 230 10.2.4 Selbständigkeit und kausale Geschlossenheit 233 10.2.5 Priorität der Einheit gegenüber der Selbständigkeit . . . . 237 10.3 Veränderung und Identität des Gefüges 238 10.4 Individuitätsgrade vs. Individuitätsstandards 244 10.4.1 Individuitätsstandards 245 10.4.2 Unteilbarkeit und Grade von Individuität 248 10.5 Probleme 252 10.5.1 Das Leontios-Problem 254 10.5.2 Das Agaven-Problem 261 10.5.3 Das Koma-Problem 267 10.5.4 Das Problem indifferenter Aktivitäten 270 10.5.5 Das Ausdehnungs-Problem 272 10.5.6 Das Wellen-Problem 275 10.5.7 Das Verschiedenheits-Problem 276 10.6 Schluß: Das Individuum als Funktionsgefüge 278 10.6.1 Zur Relevanz der Rede vom Funktionsgefüge 279 10.6.2 Die Einheit und die Unteilbarkeit des Individuums . . . . 282 10.6.3 Rückblick 283 10.6.3.1 Funktionsgefüge, kausale Relevanz und neue Entitäten 284 10.6.3.2 Funktionsgefüge in der Abgrenzung nach unten und oben 285 10.6.3.3 Funktionsgefüge vs. vage Objekte 287 10.6.3.4 Funktionsgefüge als Gegenstände des Herausgreifens 288 10.6.4 Merkmale und Besonderheiten der Individuenkonzeption 289 Literaturverzeichnis
293
Personenregister
307
Sachregister
310
1. Einleitung 1.1 Ausgangsfragen Die Fragen »was gehört zu mir?« und »was ist Teil von mir?« sind merkwürdige Fragen: Was zu einem Menschen gehört und was nicht, zeigt sich doch, so könnte man meinen, unmittelbar, etwa wenn wir einen anderen Menschen oder uns selbst ansehen. Fangen wir jedoch an zu überlegen, was das ist, was wir da sehen, fällt die Antwort nicht mehr so leicht. D e n n dann stoßen wir bald auf die Frage, weshalb denn von dem Gesehenen eines als zugehörig, d. h. als Teil, anzusehen sein sollte, anderes hingegen nicht. O d e r wir stoßen auch auf die verwandte Frage, ob und gegebenenfalls inwiefern diese oder jene Aktivität als zu uns gehörend und in unser eigenes Leben integriert angesehen werden sollte. Diese Fragen führen wiederum zur Frage, ob wir immer noch je ein Individuum sind, wenn dieser oder jener Teil nicht mehr zu uns gehört bzw. wenn diese oder jene Aktivität keine unserer eigenen Aktivitäten mehr ist: W i e kann jemand als Individuum, d. h. als etwas Unteilbares, den Verlust jenes Teils oder den Fortfall jener Aktivität überleben? U n d gleiches gilt für Ergänzungen: Wie kann man, wenn man ein Individuum ist, etwa eine Fähigkeit erwerben und dann immer noch ein Individuum sein? W i e kann zu etwas Unteilbarem etwas so hinzukommen, daß dieses Unteilbare nach der Ergänzung immer noch unteilbar ist? Fragen wie diese führen zur Frage dieser Studie, nämlich wie sich die Einheit des Individuums fassen läßt, und genauer: wie sich die Einheit von Individuen, die materielle Gegenstände sind, begrifflich fassen läßt. Fragen der Zugehörigkeit und der Einheit treten mit Blick auf Entitäten verschiedener Arten oder Kategorien auf, nämlich in bezug auf materielle Teile (Partikeln, 1 Zellen, Organe etc.), Dispositionen 2 (Vermögen, Fähigkeiten,
1
Ich verwende den Ausdruck »Partikel« als feminines Substantiv (zu »particular). Bei Bezeichnung eines materiellen Teilchens sehen die üblichen Wörterbücher zusätzlich und zuerst neutrale Verwendung vor.
2
Es handele sich bei einer Disposition (in einer noch zu weiten Bestimmung) um eine materielle Struktur, die Voraussetzung dafür ist, daß bestimmte Ereignisse oder Prozesse oder Aktivitäten eintreten oder vorliegen können (vgl. zur Diskussion Armstrong et al. 1996, Mumford 1998 und für sprachliche Beobachtungen Ryle 1949: Kap. 5).
2
1. Einleitung
Fertigkeiten, Neigungen, Tendenzen etc.), Aktivitäten (sowie Prozesse, Ereignisse etc.) oder Eigenschaften (oder Instanzen von Eigenschaften): kurz, in bezug auf alles, was in irgendeiner Weise einem Individuum zukommt oder ihm zuzuordnen ist. Entsprechend umfassend sind die Fragen also zu verstehen, und entsprechend inklusiv muß die Antwort auf sie ausfallen. Materielle Individuen verdienen unsere Aufmerksamkeit nun aus mehreren Gründen: (1) Zu diesen Individuen gehören in jedem Fall alle Lebewesen und mit den Lebewesen dann auch wir selbst. Als Individuen können wir nun aber schon unseres Selbstverständnisses wegen ein Interesse an der Frage haben, was es heißt, ein Individuum zu sein, und was das wiederum dafür heißt, daß bestimmte Teile, Dispositionen oder Aktivitäten zu uns gehören. Eine Klärung dieser Frage ist für unsere Handlungen und für die Gestaltung unseres Lebens von unmittelbarer Relevanz, und vermutlich haben die meisten von uns Ansichten zu dieser Gestaltung, die auch die Frage der Zugehörigkeit von Teilen berühren. (2) Vor allem aber ist das Interesse an materiellen Individuen durch ein elementares, selbstzweckhaftes Interesse an der Frage begründet, was es gibt. Unter den Dingen, von denen wir sagen, daß es sie gebe, treffen wir vielfache Unterscheidungen, so ζ. B. zwischen Teil und Ganzem oder zwischen Artefakt und Organismus oder zwischen Organismus und sozialer Gruppe oder auch, abhängig von der zugrundeliegenden Theorie, zwischen Eigenschaft und Eigenschaftsträger. Individuen nehmen unter den Dingen, von denen wir zu sagen bereit sind, daß es sie gebe, nun zumindest unseren Anfangsintuitionen nach einen prominenten Platz ein. Sie nehmen diesen prominenten Platz insofern ein, als der Begriff des Individuums uns in die Lage versetzt, besondere beobachtbare Regelmäßigkeiten und Strukturen der Wirklichkeit zu fassen: Wir können ein grundlegendes Interesse daran nehmen, das, was es gibt, begrifflich zu fassen, und das gilt dann gerade auch für Individuen. Doch es stellt sich nicht nur die Frage, weshalb materielle Individuen unsere Aufmerksamkeit verdienen, sondern auch die Frage, weshalb die Einheit dieser materiellen Individuen von besonderem Interesse sein soll: (1) Tatsächlich unterscheidet sich die Frage nach der Einheit des Individuums inhaltlich nicht von der Frage, was es heißt, ein Individuum zu sein. Vielmehr ergibt sich die erste Frage bei einer Analyse der zweiten. Individuität, d. h. die Eigenschaft, ein Individuum zu sein, läßt sich nämlich aufgliedern in die Eigenschaft, Einheit zu besitzen, die Eigenschaft, diachrone Identität zu besitzen, sowie die Eigenschaft, verschieden von anderem zu sein. Unter diesen Eigenschaften sind die beiden letzten diejenigen, die üblicherweise im Zusammenhang der Individuation diskutiert werden. Die erste Eigenschaft ist jedoch die grundlegende: Etwas ist verschieden von anderem, weil es in sich
1.1 Ausgangsfragen
3
a b g e s c h l o s s e n ist, d. h. weil es E i n h e i t b e s i t z t ; es ist a b e r nicht in s i c h a b g e s c h l o s s e n , weil es v o n a n d e r e m v e r s c h i e d e n ist. U n d e b e n s o gilt: E t w a s b e s i t z t d i a c h r o n e Identität, weil es in sich a b g e s c h l o s s e n ist; es ist nicht in sich a b g e s c h l o s s e n , weil es d i a c h r o n e Identität b e s i t z t ( w o m i t ich nicht b e h a u p t e , d a ß es E n t i t ä t e n o h n e Identität gibt, sondern nur, daß es keine Identität o h n e E n t i t ä t gibt). 3 D a ß die F r a g e n a c h der E i n h e i t des I n d i v i d u u m s g r u n d l e g e n d ist, läßt sich a u c h a n h a n d des B e i s p i e l s einer o n t o l o g i s c h e x t r e m e n P o s i t i o n illustrieren. N e h m e n wir einmal an, alles, w a s es gibt, bilde z u s a m m e n ein I n d i v i d u u m . A u c h in d i e s e m F a l l - d. h. a u c h d a n n , w e n n es nichts v o n d i e s e m I n d i v i d u u m V e r s c h i e d e n e s gibt - m ö c h t e n w i r in d e r L a g e sein a n z u g e b e n , w a s dieses I n d i v i d u u m z u e i n e m I n d i v i d u u m m a c h t . D i e I n d i v i d u i t ä t eines I n d i v i d u u m s ist u n a b h ä n g i g d a v o n , o b es e t w a s v o n i h m V e r s c h i e d e n e s gibt u n d w a s dies g e g e b e n e n f a l l s ist. (2) U n t e r d e n n e u e r e n O n t o l o g e n hat z u m B e i s p i e l P e t e r v a n I n w a g e n ( 1 9 9 0 ) die A u f f a s s u n g vertreten, es g e b e n u r O r g a n i s m e n u n d P a r t i k e l n (ζ. B .
3
Möglicherweise wird man die Rede von einer Eigenschaft des Individuum-Seins für keinen sehr glücklichen Einfall halten: Sowenig wie Sokrates-zu-sein eine Eigenschaft von Sokrates ist, ist Individuum-zu-sein eine Eigenschaft von Individuen. Allerdings zeichnen sich Individuen als solche durch Einheit oder Selbständigkeit aus, und hierbei handelt es sich um Merkmale von Individuen als solchen. Ich ziehe »Individuität« für die Erfassung dieser Merkmale dem Ausdruck »Individualität« vor, weil dieser häufiger zur Bezeichnung des Besonderen oder der Einmaligkeit verwendet wird, d. h. zur Bezeichnung der qualitativen Verschiedenheit von Individuen im Vergleich miteinander. Das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen einer derartigen Verschiedenheit spielt für meine Überlegungen zur Individuation nicht die wichtige Rolle, und es könnten sich bei Verwendung des Ausdrucks »Individualität« Erwartungen einstellen, die ich nicht erfüllen kann und möchte. Soweit ich sehe, ist die Verwendung von »Individuität« durch »individuitas« terminologisch nicht fixiert. Tertullian verwendet»individuitas« zur Bezeichnung der Ungetrenntheit oder Untrennbarkeit (s. etwa Adv. Marc. IV 22.4 [IV 278.31 Moreschini], Adv. Prax. 22.4 [206.18 Scarpat], An. 51.2 [69.6 Waszink]). Boethius verwendet den Ausdruck einmal zur Bezeichnung der Unteilbarkeit (s. Cons. 4, 6 [15], 66), Anselm verwendet ihn einmal zur Bezeichnung des Getrennt-Seins einer Person von anderen (s. Cone. Virg. X [151.7 Schmitt]). Eine weiteres Beispiel für die Verwendung des Ausdrucks findet sich im bekannten Kapitel zur diachronen Identität in Hobbes' De Corpore (2.7.11; 106.26, 107.2 Schuhmann). »Individuitas« bezeichnet dort den Grund oder das Fundament für das Vorliegen diachroner Identität. Im OED (5.225) wird Hobbes' Verwendung des Ausdrucks als eines der Beispiele für die dritte von drei Bedeutungen von »individuity« angeführt, die umschrieben wird als: »The quality that constitutes an individual, whether as distinct from other individuals, or as continuously identical with itself«. Die erste Bedeutung ist: »The quality or character of being indivisible«, die zweite: »The quality of being individually owned«.
1. Einleitung
4
die, aus denen Organismen sich zusammensetzen), nicht aber Artefakte: Ein Artefakt etwa der Art Α sei in Wirklichkeit nur ein Α-weise zusammengesetztes Aggregat aus Partikeln von geeigneter Art; demgegenüber gehörten Organismen zu dem, was es gibt, und zwar deshalb, weil sie in gewisser Weise etwas »Neues« darstellten und nicht nur ein Aggregat aus Partikeln seien. Für unsere Motivation in bezug auf die Frage nach der Einheit des Individuums ist nun zwar nicht diese Auszeichnung von Organismen gegenüber Artefakten von Interesse, aber doch die Behauptung, daß Aggregate jedenfalls nicht zu jenen Entitäten gehören sollen, von denen gesagt werden kann, daß es sie gibt. Solche Entitäten, von denen dies gesagt werden kann, zeichnen sich nämlich - so sind wohl Implikationen jener Auffassung zu verstehen - dadurch aus, daß sie eine besondere Art von Einheit besitzen, welche Aggregaten nicht zukommt. O b man nun Artefakte zu solchen Entitäten hinzurechnet oder nicht: Wesentlich, und unseren Intuitionen nach wohl auch plausibel, 4 ist die Annahme, daß sich Organismen unter anderem durch eine bestimmte Art von Einheit auszeichnen und nicht bloß Aggregate sind. Dann liegt aber die Frage nahe, von welcher Art von Einheit hier die Rede ist. (3) Wenn wir ein Interesse an der Frage nehmen, was es - auch für uns, mit Blick auf unsere Lebensgestaltung - heißt, ein Individuum zu sein, so dürfte dies ein Interesse an der Frage nach sich ziehen, was es ist, das uns zu etwas macht, das in einem bestimmten Sinn Einheit besitzt und nicht etwas in sich Getrenntes ist. Und auch die Frage, welche Teile, Dispositionen oder Aktivitäten zu uns gehören, ist tatsächlich die Frage danach, inwiefern diese Entitäten zu etwas gehören, das Einheit besitzt.
1.2
Lösungsversuche
Auf die Frage, ob und inwiefern ein bestimmter Teil zu einem gegebenen Organismus gehört, bzw. die Frage, wie sich die Einheit eines Individuums fassen läßt, kann es nun verschiedene Antworten geben. Einige führe ich hier zur Illustration an: (1) Die auf den ersten Blick nächstliegende Antwort auf die Zugehörigkeitsfrage weist schlicht auf das Angewachsensein des in Frage stehenden Teils hin. Doch dieser Hinweis ist nicht hilfreich. Zum einen kann manches angewachsen sein, ohne daß wir das auf solche Weise Zusammengewachsene als Individuum ansähen. Beispiele für solchermaßen Zusammengewachsenes sind siamesische
4
Zum Umgang mit Intuitionen in der Ontologie siehe Kanzian 2003.
1.2 Lösungsversuche
5
Zwillinge oder ein Tumor und sein Träger. Zum anderen erfaßten wir mit diesem Kriterium etwa Dispositionen oder Aktivitäten nicht, da sie nicht angewachsen sind (und doch sollen sie zu ihrem Träger gehören). (2) Ein Präzisierungsversuch gegenüber (1) könnte darin bestehen, Zugehörigkeit als Zugehörigkeit zu einer »natürlichen« Einheit zu fassen (mit »Einheit« im Sinn von »unity«). Auch das wäre aber nicht hilfreich. Denn gerade auch »natürlich« oder »Natur« bezeichnen ihrerseits etwas zu Erklärendes, nicht - und zwar auch nicht, wenn »Natur« beschwörend verwendet wird - etwas Erklärendes. Vor allem aber trägt der Verweis auf eine natürliche Einheit nichts zur Lösung eines der Probleme bei, von denen wir ausgegangen sind, nämlich des Problems, daß wir es bei jenen in Frage stehenden Individuen mit Dingen zu tun haben, die sich auf verschiedene Weise verändern. Gehört etwa - so ließe sich das Problem umformulieren - jedes neu Hinzugewonnene auch zur natürlichen Einheit, oder ist jedes solches Hinzugewonnene schon eine Störung dieser Einheit? Und wie verhält es sich im Fall des Verlusts eines Teils: Liegt die natürliche Einheit dann nicht mehr vor? Und gälte das gleicherweise für jeden Teil? (3) Eine traditionelle, ζ. B. aristotelische, Antwort, die mit (1) und (2) verwandt, aber weit differenzierter als jene Antworten ist, besteht darin zu sagen, daß zu mir schlichtweg das gehört, was zu mir gehört, insofern ich ein Mensch bin. Diese Antwort kann zweierlei, miteinander Verwandtes besagen, nämlich zum einen, daß mir als Mitglied einer Art bestimmte Teile oder Dispositionen zukommen; und zum anderen, daß mir diese Dinge wesentlich, d. h. meiner artspezifischen Essenz nach, zukommen. Auch diese Antwort ist jedoch nicht hinreichend informativ. Zum einen ist, wie der anhaltende Streit darüber zeigt, schon nicht klar, was eine Art ist (siehe Abschnitt 5.4). Ferner ist nicht klar, wie sich genau und nicht-willkürlich angeben läßt, welches die Eigenschaften sind, aufgrund deren etwas zu einer bestimmten Art gehört, und warum es diese Eigenschaften sein sollen. Außerdem ist - insbesondere im Fall von Arten, die nur ein Mitglied haben (wie es ζ. B. direkt nach dem Entstehen oder unmittelbar vor dem Aussterben einer Art vorkommen kann) - nicht klar, weshalb das Individuum für sein Individuum-Sein auf Art-Mitgliedschaft angewiesen sein sollte und woher die Art die ontologische Kraft bekäme, dafür etwas auszutragen. Der zu erwartende Verweis auf eine spezifische oder essentielle Vernunftbegabtheit des Menschen als Kriterium für die Teil-Zugehörigkeit ist ebenfalls nicht hilfreich, selbst wenn wir von den Schwierigkeiten absehen, die die Rede von Arten und artspezifischen Essenzen mit sich bringt. So ist zunächst nicht klar, welchen Nutzen ein derart allgemeines Kriterium hätte. Wie muß das Kriterium strukturiert sein, damit es alle vernünftigen Aktivitäten erfaßt, ohne
6
1. Einleitung
in mehrere Kriterien zu zerfallen? Und vor allem: Wie käme dieses Kriterium für den Fall der Veränderung auf, der am Anfang unserer Überlegungen stand, wonach ein Mensch vor und nach der Veränderung - zum Beispiel im Fall des Erwerbs einer Disposition oder der Aktualisierung einer Disposition - ein Individuum ist? Gäbe es so etwas wie eine Standardessenz? (Und was, wenn nicht?) Wer erfüllte den Standard und wer nicht? Und was hieße es für die Individuität, den Standard überzuerfüllen oder zu verfehlen oder zwischen Erfüllung und Nicht-Erfüllung zu wechseln? Der Zweifel an der Brauchbarkeit von Arten oder artspezifischen Essenzen als Individuationskriterien ist nicht gleichbedeutend mit einem Zweifel an der Brauchbarkeit von individuierenden Sortaltermen. Daß wir mit Hilfe von Sortalen etwas klassifizieren, individuieren und identifizieren können, ist Voraussetzung dafür, daß wir über Einzeldinge überhaupt sprechen können. 5 Doch verdankt sich die Möglichkeit, Individuen durch Sortale herauszugreifen, Merkmalen, die diese Individuen haben. Individuen verdanken diese Merkmale nicht dem Umstand, daß sie durch Sortale herausgegriffen werden können. Ferner sind die Dinge, mit denen wir hier zu tun haben, gerade auch aufgrund ihrer Flexibilität kompliziertere, vielfältigere Entitäten, die in ihrer Vielfältigkeit durch Sortale längst nicht erfaßt werden. Sollte dann ihre Vielfältigkeit nichts mit ihrer Individuität zu tun haben? Und schließlich: Selbst wenn wir uns in einer möglichen Welt zum Beispiel mit »Mensch« nur auf Entitäten bezögen, die untereinander und über die Zeit hin alle genau dieselben Merkmale haben, wüßten wir immer noch nicht, was die Einheit einer solchen Entität ausmacht. (4) Eine alternative Antwort, wie sie sich ähnlich etwa bei Mark Heller (1990) findet, besteht darin, die herkömmlichen Individuen als vierdimensionale Knoten oder Verdichtungen im Kausalgeflecht dieser Welt anzusehen, und zwar als solche Verdichtungen, die wir praktischerweise oder infolge psychologisch zu erklärender Bedürfnisse unseres Selbstverständnisses als »Individuen« bezeichnen. In diesem Fall ergäben sich für das Erfassen der Flexibilität kaum Schwierigkeiten: Man betrachtete sie einfach als interne Veränderungen der Knoten oder Verdichtungen. Andererseits stellte sich hier die Frage der Zugehörigkeit nicht mehr, weil es mit Blick auf solche Knoten nicht sinnvoll wäre, danach zu fragen. Solche Knoten hätten keine Grenzen, sondern würden nach außen hin lediglich mehr und mehr ausdünnen oder auch mit den Wirkungsbereichen anderer solcher Knoten interferieren. In ontologischer Hinsicht würde hier daher auf einen Begriff des Individuums besser verzichtet, da es nichts Unteilbares gäbe, das sich durch Einheit auswiese: Allenfalls gäbe es dort,
5
Zur Diskussion der Relevanz von Sortalen siehe Rapp 1995: vor allem Teil IV.
1.3 These
7
wo wir üblicherweise Individuen annehmen, willkürlich begrenzte vierdimensionale Materiestücke, und zu einem »Individuum« gehörte dann alles, was man in jenen Raum-Zeit-Bereich willkürlich mit aufnimmt. Auch diese Antwort ist jedoch nicht hilfreich. Sie erfaßt nämlich jenes Merkmal nicht, durch das sich Individuen dank ihrer Einheit auszeichnen, nämlich das Merkmal der Selbständigkeit. Diese Selbständigkeit ist aber gerade der Grund für die beobachtbaren Regelmäßigkeiten in der Welt, die wir üblicherweise mit Individuen verbinden und deren Strukturen wir erfassen wollen. Sie ist der Grund dafür, daß Individuen sich zum Beispiel nicht wie Wellen überlagern oder durcheinander hindurchlaufen können. Im Unterschied zu etwaigen Verdichtungen im Kausalgeflecht der Welt sind Individuen Gefüge besonderer Art, nämlich solcher Art, daß sie in der Konfrontation mit der Welt nicht auf den Zeitpunkt oder Zeitraum der Interaktion beschränkt sind, sondern ihr stets als etwas diachron Ganzes gegenüberstehen.
1.3 These Dies führt nun direkt zu jener Alternative zu den genannten Lösungsvorschlägen, die ich zur Diskussion stellen möchte. Die Frage »was ist Teil von mir?« ist gleichzeitig mit der Frage zu behandeln »wie läßt sich die Einheit eines Individuums, das ein materieller Gegenstand ist, angesichts der Flexibilität dieses Gegenstands fassen?« Denn genau dann, wenn wir angeben können, wie sich diese Einheit fassen läßt, haben wir ein Kriterium dafür, ob und weshalb etwas Gegebenes zu einem Individuum dazugehört oder nicht dazugehört.6 Ich will in dieser Studie nun für die folgende These zur Einheit des Individuums argumentieren. Ein Individuum, das ein materieller Gegenstand ist, ist ein Funktionsgefüge. Dieses Gefüge wird durch den kausalen Beitrag aller seiner Teile konstituiert, die ihrerseits durch das Leisten ihres Beitrags als Teile identifizierbar sind und die mit dem Leisten des Beitrags ihre Funktion ausüben.
6
Wir besitzen damit allerdings kein Kriterium für die Angabe dessen, Teile welcher Art in welchem Umfang vorhanden sein müssen, damit ein Individuum vorliegt. Selbst wenn es ein solches Kriterium gäbe, würde dieses Kriterium uns im Hinblick auf das Problem der Flexibilität nicht weiterhelfen: Offenbar könnte ein Individuum ohne eine ganze Reihe von Teilen, Fähigkeiten oder Aktivitäten, die ihm de facto, d. h. ausgehend von der Beobachtung eines bestimmten Individuums, zuzuordnen sind, existieren. Ein solches Kriterium wäre also kein Kriterium für das, wofür wir ein Kriterium benötigen, nämlich für die Zugehörigkeit von Teilen, wie es ζ. B. die nicht-lebensnotwendigen Teile sind.
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1. Einleitung
Im Leisten ihres Beitrags interagieren und kooperieren die Teile auf solche Weise miteinander, daß ein persistierendes, kohärentes und gegebenenfalls flexibles Gefüge gebildet wird, das dank seiner Struktur der Welt als etwas synchron und diachron Ganzes selbständig gegenübertreten kann. Die Einheit des Individuums besteht in der synchronen und diachronen Kohärenz dieses Gefüges. In dieser kurzen und allgemeinen Fassung bildet die These offenbar nur eine grobe Orientierung, die zudem noch nicht sehr informativ ist. Die inhaltlich interessanten Entscheidungen, die hier zugrunde liegen, lassen sich jedoch nur in einer Diskussion von Detailfragen erörtern und darstellen.7
1.4 Prozedere Für die detaillierte Erarbeitung der Konzeption von Individuen als Funktionsgefügen ist also eine größere Reihe von Schritten erforderlich. Diese Schritte skizziere ich hier und nehme dabei die wichtigeren Teil-Thesen der Untersuchung auf: Kapitel 2 erörtert in vorbereitender Absicht Probleme, die sich für jedes Individuationsprojekt durch die Frage ergeben, was es heißt, daß wir etwas in ontologischer Hinsicht herausgreifen. Zunächst ist dafür die Wahl der Individuationsfrage zu begründen. Diese Frage wird die Frage nach der Einheit eines Individuums sein, und erst nachgeordnet wird es um die üblicherweise gestellte Frage nach der Verschiedenheit des Individuums gegenüber anderen Entitäten gehen. Sodann ist die generelle Frage der Möglichkeit, des Verfahrens und der Absicht unseres Zugriffs auf die Strukturen der Wirklichkeit zu erörtern. Diesen Zugriff halte ich prinzipiell für möglich (und bin insofern »Realist«), wenn der Bezug dieses Zugriffs auf die Phänomene bei aller Abstraktheit des Unterfangens nicht verlorengeht. Denn nur bei Berücksichtigung dieses Bezugs hat das Unterfangen die Chance, zu den Strukturen der Wirklichkeit zu führen. Schließlich komme ich auf die gängige, meines Erachtens aber nicht sehr hilfreiche Unterscheidung zwischen beschreibender und revidierender Metaphysik zu sprechen. Kapitel 3 bis Kapitel 8 betrachten Individuen als Gegenstände des Herausgreifens. In Kapitel 3 geht es um den Zuschnitt des Bereichs der hier zur Diskussion stehenden Individuen. Da dieser Bereich (durch Setzung) die Organismen umfaßt, ist näher zu klären, was mit »Organismus« gemeint ist.
7
Eine thesenartige Auflistung von Elementen der Konzeption von Individuen als Funktionsgefügen findet sich in Abschnitt 10.6.4.
1.4 Prozedere
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»Organismus« verstehe ich durchwegs in einer weiten Bedeutung des Ausdrucks, welche die Gesamtheit der Teile, Dispositionen (Fertigkeiten etc.) und Aktivitäten eines Lebewesens umfaßt und etwa auch mentale Zustände einschließt. Da Organismen ferner - auch nach herkömmlicher Auffassung Selbstorganisierer sind, »Selbstorganisation« aber in verschiedener Bedeutung gebraucht wird und der Begriff der Selbstorganisation im weiteren für das Verständnis der Selbständigkeit eine wichtige Rolle spielen wird, ist zu klären, was hier unter »Selbstorganisierer« zu verstehen ist. Und schließlich ist in methodologischer Hinsicht zu erörtern, wie wir im Fall solcher Selbstorganisierer zugleich das Ganze und seine Teile ontologisch herausgreifen können, sowie das, was unter »Teil« zu verstehen sein soll. In Kapitel 4 gehe ich auf das Problem vager Gegenstände ein. Organismen haben offenbar keine fixierten Grenzen - was das Herausgreifen erschwert - , und sie scheinen vage Gegenstände zu sein: So läßt sich theoretisch Partikel für Partikel etwa eines menschlichen Organismus fortnehmen, ohne daß klar wäre, ab welcher Wegnahme dieser Mensch zu existieren aufhörte. Dieses Vagheitsproblem hat Anlaß gegeben, die Existenz von Organismen überhaupt zu bezweifeln (siehe Heller). Da mit den Organismen dann aber auch unsere zu diskutierenden Individuen verschwänden, müssen wir etwas zu jener vermeintlichen Vagheit sagen. Tatsächlich läßt sich nun bei einem Verständnis von Individuen als Funktionsgefügen für die einzelne Partikel sehr wohl angeben, ob sie zu diesem Gefüge gehört oder nicht: Kriterium dafür ist, ob sie einen Beitrag zur Einheit und Selbständigkeit des Gefüges leistet. Mit diesem Perspektivenwechsel - von der Frage nach der Möglichkeit der Teil-Wegnahme zur Frage nach einem Beitrag zur Selbständigkeit - stellen sich Vagheitsprobleme für Organismen nicht mehr. Wichtige Voraussetzung dafür sind jedoch die Priorität oder Unabhängigkeit der Individuen gegenüber Arten sowie die Unterscheidung von Flexibilität und Vagheit. Kapitel 5 erörtert die Frage, wie sich die in Frage stehenden Individuen gegen umfassendere Entitäten abgrenzen lassen, wie es etwa soziale Organismen, aber zum Beispiel auch Spezies sind. Diese Abgrenzung ist notwendig, weil man der Auffassung sein könnte, daß die ontologisch vorrangigen Einheiten jene umfassenderen Entitäten seien und daß unsere Individuen nur als Teile jener Entitäten aufzufassen seien, oder weil man meinen könnte, daß diese Auffassung zumindest eine Option sei, deren Wahl allein von unserem Interesse abhänge, nicht von vorgegebenen Strukturen der Wirklichkeit. Als Teile zeichneten sich die Individuen aber nicht durch Selbständigkeit und Einheit aus, oder besser gesagt: Die Entitäten, die sich nun dadurch auszeichneten und Anspruch auf Individuitätszuschreibung hätten, wären eben die umfassenderen Gefüge. Die Argumente, die für derartige Positionen zu sprechen scheinen, lassen sich jedoch
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1. Einleitung
entkräften. Für die dafür zu etablierende Selbständigkeit der Individuen treffe ich die vorläufige Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Determiniertheit und vertrete die These, daß Organismen zumindest letzterer nicht oder nicht vollständig ausgesetzt sind. (Darauf komme ich später zurück und gebe »Selbständigkeit« dann einen präziseren Sinn.) Allerdings können Individuen in anderer Hinsicht ihrerseits umfassendere Entitäten sein - so etwa im Fall der Ergänzung (d. h. der »Anstückung«) eines Organismus durch einen Herzschrittmacher. Das Zugehörigkeitskriterium des Beitrags zur Einheit und Selbständigkeit des Gefüges zwingt uns jedenfalls, solche Ergänzungen als Teile des Individuums zuzulassen, und der mögliche Einwand, der auf die Artifizialität solcher Teile - und, mit ihr verbunden, ganzer Individuen - verweist, verfängt nicht. Umfassende Entitäten ganz anderer Art, für die zuweilen Anspruch auf ontologische Priorität gegenüber Einzeldingen oder sogar auf den Status des Individuum-Seins erhoben wird, sind Spezies. Allerdings besteht hier keine Einigkeit mit Blick auf das, was eine Spezies ist. Ferner tragen die Argumente für die Annahme, Spezies ihrerseits seien Individuen, nicht, und es gibt keinen Grund, Organismen als ihnen gegenüber ontologisch nachrangig zu betrachten. Ein weiterer Punkt betrifft schließlich umfassendere Entitäten wie ζ. B. große Pilzgebilde, die ebenfalls nicht zur Auffassung von Organismen als Individuen zu passen scheinen. Hier besteht die Lösung darin, daß diejenigen Einheiten dieser Gebilde, die im Fall einer Abtrennung selbständig weiterleben könnten und die in diesem Weiterleben nicht beeinträchtigt wären, auch dann als Individuen anzusehen sind, wenn sie noch mit anderen Einheiten zusammenhängen. Kapitel 6 betrifft die »Abgrenzung gegen unten«, d. h. das Verhältnis von Individuen zu ihren Teilen. Die Frage ist hier zunächst die, ob Individuen uns ontologisch nicht abhanden kommen, wenn sie ohne Verlust auf ihre Teile und deren gegenseitige Relationen reduzierbar sind (diese ontologische Reduzierbarkeit sei argumenthalber angenommen, ohne daß ich mich-wenn nur die kausale Geschlossenheit des Physischen bewahrt bleibt - auf sie verpflichte). Tatsächlich aber verschwindet das Individuum mit der Reduktion nicht: Reduktion heißt nicht Eliminierung, ein Baum ist nicht deshalb weniger ein Baum, weil er die Summe seiner Teile und ihrer gegenseitigen Relationen ist. Doch bleibt dann noch die Frage, weshalb Entitäten einer bestimmten Ebene, nämlich der Ebene der Organismen, ausgezeichnet sein und herausgegriffen werden sollten. Sie sind nun deshalb ausgezeichnet und als etwas Besonderes herauszugreifen, weil nur auf der Ebene der Organismen Selbständigkeit vorliegt, und zwar insofern, als nur Selbsterhalter sich als diachrone Ganze in ein Verhältnis zu ihrer Umwelt setzen können und als das, was sie sind, nicht auf den Zeitpunkt oder Zeitraum des jeweiligen Kontakts begrenzt sind.
1.4 Prozedere
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Kapitel 7 bildet den ersten von zwei Schritten einer Erörterung der gegenteiligen Ansicht, wonach die in Frage stehenden Individuen nicht reduzierbare, sondern emergente Entitäten seien. Mit Lebewesen, so die Ansicht van Inwagens, kommt etwas »Neues« in die Welt. Wenn dies jedoch einen ontologischen Sinn von »Emergenz« impliziert - was es wohl soll - , stehen unsere Individuen zum einen in der Gefahr, kausal losgelöst zu sein und die kausale Geschlossenheit des Physischen zu verletzen (dazu dann Kapitel 8). Zum anderen stehen sie in der Gefahr, unanalysierbare black boxes zu sein (hierzu Kapitel 7). Letzteres wäre jedoch wiederum deshalb ungünstig, weil wir dann wenig über Individuen erfahren könnten, d. h. insbesondere auch wenig über ihre Einheit und ihre Selbständigkeit. Tatsächlich aber - so ist dem zu begegnen - hat der Umstand, daß im Fall des Organismus die Gesamtheit der Teile und ihrer gegenseitigen Relationen eine persistierende Struktur ergibt und als solche der Welt gegenübertritt, nichts Rätselhaftes an sich: Denn es handelt sich nur um diejenige spezielle Zusammenfügung von Teilen - unter vielen möglichen anderen Zusammenfügungen mit anderen Ergebnissen - , die dank der Selbsterhaltung eine persistierende Struktur ergibt. Daß mit Organismen als kohärenten und selbständigen Gefügen etwas Neues in die Welt kommt, ist Erklärungen zugänglich. Kapitel 8, der zweite Schritt der Emergenz-Erörterung, nimmt die Frage der kausalen Besonderheit auf. Diese Besonderheit hat neuerdings wieder Merricks (2001) mit der These »to be is to have non-redundant causal powers« ausdrücklich gefordert. Nach Merricks' Interpretation dieser These soll es keine Entitäten geben, deren kausale Wirksamkeit auf die der Teile und ihrer Relationen reduzierbar ist: Starke, ontologische Emergenz wird zur Existenzvoraussetzung. Damit kämen uns jedoch - ungünstigerweise - alle jene Organismen abhanden, die keine nicht-reduzierbaren Merkmale aufweisen, und das heißt nach Merricks sogar: alle Organismen, die nicht Bewußtsein besitzen. Alle diese Organismen wären allenfalls reduzierbare Verdichtungen im Kausalgeflecht der Welt. Tatsächlich aber - so hier die Antwort - trägt das Argument zugunsten der kausalen Nicht-Redundanz der bewußtseinbesitzenden Organismen nicht, und so sind wir zumindest nicht aufgrund dieses Arguments zur Akzeptanz der Beschränkung dessen, was es gibt, auf Bewußtseinsbesitzer berechtigt oder gezwungen. Wenn wir nun aber auf der anderen Seite das Kausalkriterium doch ernst nehmen - was wir sollten - , wonach materielle Individuen nicht im Kausalgeflecht der Welt aufgehen, sondern etwas kausal Eigenständiges sind, und wenn zugleich alle Organismen solche Individuen sein sollen, ohne daß ihnen jene kausale Nicht-Redundanz im Merricks'schen Sinn zukommt und ohne daß die kausale Geschlossenheit verletzt wird, dann müssen wir die Selbständigkeit anders fassen.
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1. Einleitung
In Kapitel 9 und Kapitel 10 geht es nun darum, dies zu tun, und das heißt zu klären, was das Herausgegriffene, nämlich das Individuum, ist. Gegenstand von Kapitel 9 ist eine Erörterung dessen, was es für einen Teil heißt, einen Beitrag zu einem Gefüge zu leisten, d. h. nach herkömmlicher Auffassung: seine Funktion auszuüben. Etwas ist genau dann Teil des Gefüges, wenn es in diesem Gefüge eine bestimmte interaktive oder kooperative Rolle übernimmt: Teil-Sein heißt Funktion-Haben. »Funktion« bringt dabei den dynamischen Aspekt zum Ausdruck, wonach die Funktion einem Teil auch dann zukommt, wenn dieser Teil gerade nicht seinen Beitrag leistet. Funktionen helfen den Organismus konstituieren, sie sind der »cement of the individual«.8 Mit »Teil-Sein«, »Beitrag-Leisten« oder »Funktion-Ausüben« kann jedoch Verschiedenes gemeint sein. Häufig wird dabei der Besitz von Funktionen, und damit auch das Teil-Sein, von überindividuellen Entitäten abhängig gemacht - mit fatalen Folgen für die Einheit und die Selbständigkeit des Individuums. Daher ist genau zu klären, was wir plausiblerweise mit »Funktion« meinen können und worauf wir uns mit der Verwendung des Ausdrucks verpflichten. Dabei wird sich herausstellen, daß der weiter verbreitete ätiologische Funktionsbegriff (ä la Wright [1973] oder Millikan [1984]) auch schon unabhängig von der Relevanz eines Funktionsbegriffs für das Verständnis von Individuen mit zu vielen Schwierigkeiten behaftet ist und daß aus systematischen Erwägungen die Wahl eines (im Anschluß etwa an Davies [2001]) modifizierten systemischen Funktionsbegriffs naheliegt. Kapitel 10 setzt die verschiedenen Überlegungen in einer Erörterung dessen, was es für ein Individuum heißt, ein Funktionsgefüge zu sein, zusammen. Ausgangspunkt der Überlegungen war die Frage, wie sich entscheiden läßt, ob gegebene Teile zu einem gegebenen Organismus gehören. Kriterium hierfür sollte der Beitrag des in Frage stehenden Teils zur Einheit und zur Selbständigkeit des Gefüges sein. N u n ist näher zu klären, welche Bedingungen für das Gegebensein von Einheit und Selbständigkeit eines - möglicherweise flexiblen Gefüges erfüllt sein müssen: Was ist das, was durch den Beitrag der Teile zustande kommt? Mit Blick auf die Einheit des Gefüges geht es um einen Beitrag der Teile zur Kohärenz des sich selbst erhaltenden Gefüges: Die Teile müssen diachron und synchron in bestimmter Weise zusammenhängen. Hinsichtlich der Selbständigkeit sind Organismen - als Selbstorganisierer und Selbsterhalter, die aus diesen Teilen bestehen - in der Lage, der Welt als
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Wie schon aus meiner Realismus-Annahme deutlich wird, möchte ich mich mit dieser Formulierung, welche sich an eine Formulierung Humes anlehnt, nicht auf »ideas« und deren gegenseitige Verhältnisse beziehen, sondern auf Strukturen der Sache; zu Humes Formulierung s. Abstract 662, s. ferner Treatise 2.3.1, 406.
1.4 Prozedere
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synchron und diachron Ganze gegenüberzutreten. Sie sind als Selbsterhalter dank ihrer Struktur, auch in der Konfrontation mit der Welt, auf die Erhaltung ihrer Struktur bezogen. Damit sind sie nicht auf den Zeitpunkt oder Zeitraum des Gegenübertretens beschränkt und sind daher dann durch ihre Umwelt auch nicht strikt determiniert. Der Umstand, daß Organismen der Welt als solche Ganze gegenübertreten, ist im weiteren nun gerade auch für die Relevanz und die Integriertheit der nicht-lebensnotwendigen Teile relevant: Je nach kognitiver bzw. mentaler Ausstattung eines solchen Gefüges und je nach Nutzung dieser Ausstattung ist es dem Gefüge möglich, über die elementare Selbsterhaltung hinaus eine zeitübergreifende Perspektive in bezug auf die Welt und auf sich selbst im Verhältnis zur Welt zu entwickeln, einzunehmen oder zu erweitern - eine Perspektive, durch die es die Unabhängigkeit vom Zeitpunkt oder Zeitraum des Gegenübertretens vergrößert und zusätzliche Selbständigkeit erhält. Die Konzeption von Individuen als (möglicherweise flexiblen) Funktionsgefügen hat eine Reihe von Konsequenzen. Mit Blick auf die Frage der Vereinbarkeit von Veränderung, Unteilbarkeit und diachroner Identität folgt, daß Veränderung - in Ermangelung fester, ontologisch tragfähiger Standards - so umfassend vorliegen kann, wie dies die Erhaltung der Selbständigkeit zuläßt und gegebenenfalls auch erforderlich macht. Selbständigkeit kann nun aber in höherem oder geringerem Maß vorliegen, und da Individuität unmittelbar von Selbständigkeit abhängt, ergeben sich damit dann auch Grade der Individuität: Etwas kann mehr oder weniger Individuum sein. Diese ungewöhnliche Behauptung wird verständlicher, wenn wir das Individuum als Gefüge ansehen, das sich durch das Modell einer diachronen Struktur illustrieren läßt, die aus Punkten und Verbindungen besteht, so daß alle Punkte direkt oder indirekt miteinander verbunden sind, während die Zahl der Punkte und der Verbindungen variieren kann. Der Bindungsgrad gibt hierbei den Grad der Einheit an, und diese Einheit ist insofern etwas Unteilbares - wiewohl zugleich Veränderliches - , als das Trennen einer Verbindung den Grad der Individuität mindert (und mit ihr den Grad der Fähigkeit, sich selbst in ein Verhältnis zur Welt zu setzen). Die diachrone Identität eines solchen Unteilbaren besteht dann in der kohärenten Geschichte des (möglicherweise) veränderlichen Selbständigen. Die anschließende Erörterung einer Reihe von Problemen gibt - auch im Rückblick auf die vorausgehenden Kapitel - Gelegenheit zur Präzisierung, etwa mit Blick auf die Zugehörigkeit von Teilen, die destruktiv im Hinblick auf die Selbständigkeit des Gefüges sind, dessen Teile sie zu sein scheinen, oder mit Blick auf die Frage nach dem gegenseitigen Verhältnis von Individuen insbesondere dort, wo ein Individuum das andere »unterjocht«. Einer der wichtigen Punkte ist hier, daß ein und derselbe Teil unter Aspekten zu betrachten sein
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1. Einleitung
kann und daß ein und dieselbe Aktivität unter Umständen verschiedene kausale Rollen haben kann. Der Schlußabschnitt verbindet dann die einzelnen Elemente der Individuenkonzeption in einem Uberblick. Dieses gesamte Projekt ist offenkundig sehr breit angelegt: Viele seiner Teile und Aspekte bilden schon je für sich genommen einen umfassenden Untersuchungsgegenstand. Eine Folge der Breite ist die fehlende Detailliertheit in systematischer Hinsicht und, damit verbunden, in der Auseinandersetzung mit Literatur. Welchen Zweck kann ein solches Projekt haben? Es kann vernünftigerweise nicht den Zweck haben, eine Art »Ubertheorie« bei gleichzeitiger Nichtbeachtung der Theoriebestandteile zu liefern: Ein derartiges Unterfangen wäre bestenfalls naiv. Vielmehr kann es nur darum gehen, eine Frage interessehalber herauszugreifen - hier nämlich in dem Hauptinteresse daran, zu verstehen, was Individuen sind - und diese Frage zum Zweck ihrer Erörterung und Beantwortung mit der Behandlung zumindest der wichtigsten relevanten Fragen aus verwandten Theoriebereichen zu verknüpfen. Im vorliegenden Fall ist diese Betrachtung weitergreifender Zusammenhänge deshalb nötig, weil sich der Bereich, dem die eigentliche Aufmerksamkeit gelten soll, nicht unabhängig von den anderen Bereichen betrachten läßt - sei es, weil die Theorie zum Kernpunkt systematische Unterstützung aus anderen Bereichen benötigt, sei es, weil sie nur durch ein Austarieren mit anderen Bereichen tragfähig wird. Damit wird kein vollständiges Theorienetz geknüpft, sondern es wird ein ausgewählter Punkt des Netzes in Beziehung zu bestimmten anderen Punkten gesetzt, die ihrerseits wiederum nur soweit wie nötig in das für sie relevante N e t z eingeordnet werden. Doch auch im Kern des Projekts selbst bleiben Lücken. Dies betrifft etwa die Beschreibung und Einordnung einzelner ontologischer Kategorien sowie diese Kategorien insgesamt, wozu ich kaum etwas sage (und wozu ich im folgenden Kapitel kurz Stellung nehme). Ferner sage ich kaum etwas zum zeitlichen Anfang und zum zeitlichen Ende materieller Individuen. Wo es um die »Anstückungen« geht, sage ich - wiewohl dies angebracht wäre - nichts zu sozialen Beziehungen. Und insbesondere sage ich, von Andeutungen abgesehen, nichts zu einem zweiten Hauptinteresse, das hinter meinen Überlegungen steht (und das eine ganz traditionelle Verbindung aufnimmt), nämlich zur Einheit des Individuums, sofern diese für ein gutes Leben relevant ist. Es soll und kann hier nur darum gehen, auf ontologischer Seite eine Individuenkonzeption zu entwickeln, deren Teile in ihrem Zusammenhang eine gewisse Stabilität besitzen und die sich als Konzeption günstigenfalls auch in ethischer Hinsicht ergänzen läßt.
2. Methodologische Aspekte der Individuation Gegenstand meiner Überlegungen ist die Frage, wie sich die Einheit jener Individuen, die materielle Gegenstände sind, begrifflich fassen läßt. Diese Frage verstehe ich als die Frage nach dem Kriterium, anhand dessen sich entscheiden läßt, was zu einem dieser Individuen dazugehört und was nicht. Für diese Frage beanspruche ich Priorität vor der Frage nach der Verschiedenheit von Individuen mit dem Argument, daß die Einheit einer Sache Voraussetzung für Verschiedenheit dieser Sache gegenüber anderen Sachen ist. Mit beiden Fragen - derjenigen nach der Einheit wie derjenigen nach der Verschiedenheit befinden wir uns im Bereich der Frage, wie sich Gegenstände individuieren lassen. In diesem Kapitel geht es um einige grundlegende methodologische Aspekte der Behandlung der Frage nach der Einheit. Diese Aspekte betreffen den Zugriff auf den zu behandelnden Gegenstand. Dabei geht es in einem knapp gehaltenen Abschnitt zunächst um jene Frage selbst, d. h. genauer, um das Verhältnis jener Frage zu den traditionell gestellten Fragen der Individuation: Weshalb verfolge ich jene Frage nach der Einheit oder Zugehörigkeit als Individuationsfrage, ohne dabei jenen traditionell gestellten Fragen und den entsprechenden Individuationskriterien nähere Aufmerksamkeit zu schenken (2.1)? Die Behandlung der Frage nach der Einheit setzt sodann einen bestimmten Zugriff auf die Welt voraus. Deshalb ist in methodologischer Hinsicht zu fragen, was wir tun, wenn wir auf etwas in der Welt ontologisch zugreifen oder es ontologisch herausgreifen (2.2).
2.1 Neue Fragen - alte Antworten ? Fragen zur
Individuation
Wenn wir uns mit der Frage, was Individuen sind, und mit der Individuations Problematik beschäftigen, sehen wir uns mit einer Reihe von traditionellen Individuationskriterien konfrontiert. Diese Kriterien wurden vor einiger Zeit von Jorge Gracia erneut einander gegenübergestellt. Nach denjenigen Kriterien, die Gracia für die Gegenüberstellung auswählt, zeichnen sich Individuen durch Unteilbarkeit, durch Verschiedenheit, durch die Fähigkeit, etwa eine Spezies in mehreres zu teilen, durch Identität, durch Nicht-Prädizierbarkeit oder durch Nicht-Instanziierbarkeit aus. Gracia übernimmt seinerseits das zuletzt genannte
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2. Methodologische Aspekte der Individuation
Kriterium: Individuum ist danach genau das, was nicht-instanziierbar ist.1 Da es mir in erster Linie um die Frage der Einheit des Individuums geht, gehe ich kurz auf Gracias Bemerkungen zum ersten Kriterium - dem Kriterium der Unteilbarkeit - ein. An diesem Kriterium wird sich ein Problem aufzeigen lassen, das auch für die übrigen Kriterien besteht, nämlich das Problem, daß das Kriterium - bei ontologisch weitreichender Voraussetzung - in relevanter Hinsicht nicht informativ ist. Gracia diskutiert zwei Arten der Unteilbarkeitsauffassung, nämlich die Auffassung, wonach Individuen absolut unteilbar seien, und die Auffassung, wonach sie relativ unteilbar seien. Absolute Unteilbarkeit besagt, daß etwas in jeder Hinsicht unteilbar ist; relative Unteilbarkeit besagt, daß etwas in einer bestimmten Hinsicht unteilbar ist. Als Individuitätskriterium tauge nun - so Gracia -absolute Unteilbarkeit sicher nicht, und zwar schon deshalb nicht, weil es Individuen gibt, die offenkundig teilbar sind. Für die relative Unteilbarkeit zieht Gracia die traditionelle Auffassung heran, der zufolge etwas genau dann ein Individuum ist, wenn es nicht in gleichartiges teilbar ist. (Gracia bezieht sich hier auf Suärez als Vertreter dieser Auffassung.) Als Gegenbeispiele gegen dieses Kriterium relativer Unteilbarkeit führt Gracia homogene Substanzen und collections an: Entitäten beider Arten seien - wiewohl Individuen - in gleichartiges teilbar.2 Allerdings ist die Wahl dieser Beispiele nicht besonders geschickt. Wenn einerseits homogene Substanzen (wie ζ. B. Wasser) oder bestimmte Quantitäten homogener Substanzen und andererseits auch bestimmte Ansammlungen als Individuen akzeptiert werden sollten, dann scheint es sich bei diesen Individuen zumindest um solche zu handeln, die sich ontologisch von Individuen, wie es z.B. Einzeldinge sind, unterscheiden. Einzeldinge besitzen Einheit nicht kraft Zuschreibung, sondern unabhängig von solcher Zuschreibung, während jene homogenen Substanzen (ζ. B. Wasser-»Pakete«) Einheit in keiner interessanten, von uns unabhängigen Weise besitzen. Andererseits führt auch die Annahme, daß Individuen - wie jene Einzeldinge - als solche nicht in gleichartiges teilbar sind, bei der Erörterung der Frage danach, worin ihre Einheit besteht, nicht sehr viel weiter. Und das gilt nun - dem Ergebnis nach - auch für die Annahme der Nicht-Instanziierbarkeit als Individuationskriterium wie auch für die übrigen Kriterien. Die wesentliche Schwierigkeit liegt im Fall der relativen Unteilbarkeit (und entsprechend auch bei den übrigen Kriterien) in dem Umstand, daß Individuation hier über das Verhältnis des Einzelnen zur Art bzw. zum Universale erfolgt: Einzelnes zu
1
Gracia 1988a: 27.
2
S. Gracia 1988a: 29-31 und Gracia 1982: 2-6 (auch für Stellenverweise zu Suärez).
2.1 Neue Fragen - alte Antworten?
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sein hängt demnach von einem bestimmten Verhältnis des Einzelnen zur Art bzw. zum Universale ab. Damit aber erhalten die relevanten Arten oder Universalien erhebliche ontologische Kraft, von der wiederum nicht klar ist, woher sie rührt. Jedenfalls dürfte sie nicht, auch nicht zum Teil, auf die Individuen, die von ihrem Verhältnis zu jener Art oder zu jener Universalie her Individuen sind, zurückgeführt werden, da sonst ein ontologischer Zirkel entstünde.3 Allerdings können wir nur dann überhaupt in jenen Zirkel geraten, wenn wir dessen Ausgangsvoraussetzung akzeptieren, nämlich die Annahme, es sei sinnvoll oder zumindest korrekt, sich so auszudrücken, daß sich die Art oder die Universalie Mensch in Menschen teilen lasse, daß sich ein Mensch aber nicht in Menschen teilen lasse. Die Diskussion dieser Annahme bzw. ihres ersten Teils werde ich nicht aufnehmen. Denn selbst wenn sich diese Annahme zufriedenstellend erläutern lassen sollte und selbst wenn sich in der Folge dieser Erläuterung auch für jenen Zirkel ein Angriffspunkt gewinnen lassen sollte, so stehen wir nach wie vor vor der Eingangs- und Hauptfrage, aufgrund welcher Kriterien im Fall bestimmter materieller Gegenstände etwas zu einem Individuum dazugehört und anderes nicht. Gracias Kriterien helfen dabei nicht weiter. Die hier gegebene Darstellung dieser Kriterien wird der Detailliertheit der historischen Diskussion offenkundig nicht gerecht. Andererseits ist es nicht sinnvoll, eine angemessenere Erörterung anzustellen, die selbst in stark verknappter Form noch sehr umfassend sein müßte und doch nur das Ergebnis erwarten ließe, daß meine Frage des Dazugehörens der Teile nicht zu einer solchen Individuationsdiskussion, wie sie etwa von Gracia geführt wird, paßt, daß sie aber gleichwohl eine Frage ist, die in den Bereich der Individuationsproblematik fällt.
3
Auch ein Versuch, auf einen ontologisch starken (etwa im Sinn von »prioritären«) Artbegriff auszuweichen, erschiene nicht vielversprechend. Hier käme vielmehr noch das weitere Problem hinzu, daß in der theoretisch-biologischen Diskussion zum Speziesbegriff, wie sie in den letzten Jahrzehnten geführt wurde, keinerlei Einigkeit darüber besteht, was als Art gelten soll. Diejenigen Arten, die Gegenstand jener Diskussion sind, sind nun aber zugleich die, unter die die in Frage stehenden Individuen etwa Gracia zufolge fallen sollen, nämlich eben jene materiellen Gegenstände, die Organismen sind. (Auf Probleme, die sich im Zusammenhang mit Arten ergeben, werde ich später noch einmal zu sprechen kommen; s. u. Abschnitt 5.4.) Damit soll wiederum nichts über die Plausibilität der Annahme natürlicher Arten gesagt sein. Es soll nur darauf hingewiesen sein, daß im Fall biologischer Entitäten nicht hinreichend klar ist, was die Art, der sie untergeordnet werden, ist bzw. was jener Aspekt an dieser Art ist, unter dem die Art nicht als Universale anzusehen ist.
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2. Methodologische Aspekte der Individuation
2.2
Herausgreifen
Die Standardantwort auf die Frage, was wir tun, wenn wir Ontologie betreiben, besteht darin, daß Ontologie die grundlegenden Strukturen der Wirklichkeit beschreibt. Was es jedoch ist, worauf der Anspruch abzielt, der mit dieser Antwort verbunden ist, ist unter anderem aus folgenden Gründen nicht klar: (1) Wir können nicht erwarten, daß die Wendung »grundlegende Strukturen der Wirklichkeit« allerorts auf die gleiche Weise verstanden wird - gesetzt, daß ihr Gebrauch überhaupt akzeptiert wird. O b wir etwa Sachverhalte, Ereignisse oder herkömmliche Substanzen als ontologisch grundlegend ansehen, hängt jeweils von vielen Vorentscheidungen ab - insbesondere auch von Entscheidungen darüber, was ontologisch geleistet werden soll - , und es ist nicht damit getan, jeweils kategorial »rivalisierende« Ontologien mit einem Federstrich zu beseitigen. Das heißt nicht, daß es beliebig wäre, welche Ontologie wir wählen. Im Gegenteil - es heißt, daß es ein sehr mühsames Unterfangen ist, für das, was ontologisch geleistet werden soll, die geeigneten Kategorien zu finden.4 (2) Doch selbst wenn wir uns für das, was ontologisch geleistet werden soll, auf eine bestimmte Kategorie als grundlegende Kategorie einigen könnten, stehen wir vor dem weiteren Problem, daß meist noch längst nicht klar ist, wie diese Kategorie ihrerseits begrifflich zu fassen ist. (3) Und auch wenn dies klar wäre, stünden wir immer noch vor dem größten Problem, nämlich dem Problem, wie der Weg zu jener Kategorie aussieht, das heißt, wie wir von unserer Konfrontation mit der Wirklichkeit, deren grundlegende Strukturen zu erfassen Gegenstand unserer ontologischen Bemühung ist, zu jener Kategorie gelangen und - hier schließt sich der Kreis der Probleme - was es überhaupt ist, das wir in der Vielfalt des Wirklichen, mit der wir konfrontiert werden, erfassen wollen.
4
Gerade weil ich mich in meinen Ausführungen in herkömmlichen Kategorien zu bewegen scheine, möchte ich nicht den Eindruck erwecken, als machte ich mein Projekt von diesen Kategorien abhängig. So wäre es vielleicht auch möglich, die Ausführungen mit monokategorialen Systemen zu verbinden, sofern diese auf nicht-basaler Ebene eine »Rekategorisierung« vorsehen, wie etwa Seibt dies im Ausgang von dynamischen Massen vorsieht (vgl. 1995: 373-379). Meine Skepsis gegenüber der ontologischen Relevanz von Spezies (s. 5.4) verpflichtet mich nicht auf eine gleiche Skepsis gegenüber Universalien, und wenn ich gleichwohl der Annahme von tropes zuneige, verpflichte ich mich damit noch nicht auf die Annahme, tropes für die basale Kategorie zu halten (für eine Konzeption, die tropes für entsprechend basal hält, siehe unter den neueren Arbeiten ζ. B. Trettin 2000; für eine Konzeption, die tropes auf physikalische Felder unterschiedlicher Intensitäten zurückführt und solche Felder als basal annimmt, siehe von Wächter 2000a: Kap. 4, und 2000b: 316-318).
2.2 Herausgreifen
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Mir geht es im Folgenden um bestimmte grundlegende Strukturen. 5 Das heißt, es geht nicht um alle eventuell grundlegenden Strukturen und auch nicht um das gegenseitige Verhältnis aller dieser Strukturen. D i e in Frage stehenden Strukturen sind jene, auf die wir im Ausgang von bestimmten phänomenalen Besonderheiten stoßen. Diese Besonderheiten treten dort auf, w o wir zugleich von »Organismen« sprechen. U m Besonderheiten handelt es sich insofern, als Organismen eine gewisse synchrone und diachrone Kohärenz sowie gewisse Regelmäßigkeiten aufweisen: Sie erscheinen im Vergleich zu ihrer U m w e l t als stabile Gefüge permanenter und wiederkehrender Eigenschaften, d. h. als Gefüge, die bei aller Veränderung in gewisser Hinsicht diachrone Identität besitzen. 6 Ferner scheint mit ihnen etwas vorzuliegen, das als Ursprung von Veränderung auftritt. Außerdem bilden diese phänomenalen Besonderheiten einen der Gründe, weshalb Organismen und ihre Teile und Merkmale auch Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung sind. Menschliche Praxis fühlt sich im Ausgang von den Phänomenen des Alltags wie auch der Wissenschaft veranlaßt, auf Organismen als etwas Besonderes zuzugreifen. 7 Ein solcher Anlaß
5
Es handelt sich bei der folgenden Einschränkung um eine zweifache Einschränkung: Zum einen beschränke ich mich unter den allgemeinsten Kategorien auf Individuen, zum anderen beschränke ich mich unter den Individuen auf materielle Individuen. Der zweiten Beschränkung wegen ließe sich mein Vorhaben auch als Projekt einer »regionalen Ontologie« im Sinne Husserls (Ideen, § 9) beschreiben.
6
Simons bemerkt zur Rede von »diachroner« und »synchroner« Identität, daß sie sich nicht auf verschiedene Arten von Identität beziehe, sondern nur verschiedene Fragen bzw. Behauptungen zum Ausdruck bringe (s. 1987:183 Anm. 4). Wenn Kausalität eine Voraussetzung diachroner Identität ist, dann könnte man geneigt sein, diachrone und synchrone Identität nicht für Identität derselben Art zu halten. (Carroll / Wentz etwa diskutieren den spezifischen »causal character of identity-over-time«, 2003: 326.) Unklar ist allerdings — und daraus ergeben sich vermutlich Simons* Bedenken —, wie es verschiedene Arten von Identität geben könnte. Selbst wenn nun Kausalität Voraussetzung für diachrone Identität ist, heißt dies nicht, daß sie ein Merkmal diachroner Identität wäre. Von daher ist es tatsächlich angemessener, die Unterscheidung zwischen synchroner und diachroner Identität als eine Unterscheidung zwischen den beteiligten Gegenständen oder Gegenstandsaspekten anzusehen, nicht als eine Unterscheidung zwischen Identitätsarten.
7
Mein Verweis auf die wissenschaftliche Praxis stützt sich auf den Umstand, daß etwa die Biologie die Teile oder Merkmale eines Organismus, die sie als Gegenstand wählt, nur als Teile oder Merkmale eines Organismus (d. h. auch: einer persistierenden Struktur) begreifen kann, wenn sie diese Merkmale oder Teile verstehen möchte: Der Organismus ist hierfür die zugrundeliegende Struktur. Das Argument von der wissenschaftlichen Praxis hat in der Forschung allerdings auch zu einer entscheidenden Einschränkung des ontologischen Inventars geführt. So gehört Eider zufolge das und
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2. Methodologische Aspekte der Individuation
ist nicht mehr - aber auch nicht weniger - als ein Indikator dafür, daß hier auch etwas ontologisch Besonderes vorliegt. Trotz dieses Anlasses könnte man sich bei dem so veranlaßten Ubergang von der Phänomenologie zur Ontologie einigen Schwierigkeiten ausgesetzt sehen.
2.2.1 Die Einheit des Herausgegriffenen Zum einen könnten Phänomene uns im Prinzip auch zu solchen Entitäten führen, die als Komplexe zwar Organismen ähneln, die tatsächlich aber keine synchrone oder diachrone Kohärenz besitzen oder die trotz etwaiger Kohärenz nicht die Einheit aufweisen, die bei der Annahme von Individuen unterstellt wird. (Ein Beispiel für letzteres sind etwa Siphonophoren, d. h. Staatsquallen wie etwa die Portugiesische Galeere, auf die später noch einzugehen sein wird.) Zumindest zu einem Teil läßt sich diese Schwierigkeit beheben: Sowohl die Beobachtung der Alltagsphänomene wie auch die wissenschaftliche Praxis führt in den meisten Fällen zu Strukturen, die jene Einheit aufweisen und die als solche Strukturen Grundlage für jene Phänomene sind. Der Umstand, daß dies sich in den meisten Fällen so verhält, ist gerade die Grundlage dafür, daß wir uns in manchen Fällen täuschen, nämlich dort, wo unsere begründete Erwartung nicht erfüllt wird. Als empirische Plausibilisierung für die Annahme, daß das gemeinsame Auftreten in den meisten Fällen tatsächlich mit dem Vorhandensein von Einheit verbunden ist, sei hier nur der Verweis auf die hohe Unwahrscheinlichkeit eines rein kontingenten, doch stets wiederkehrenden gemeinsamen Vorkommens
nur das zu diesem Inventar, was Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung sein kann. Das schließt s. E. Artefakte, evolutionär entstandene Verhaltensweisen und Organe ein, nicht aber individuelle Organismen (vgl. Eider 1996:191f.). Das Argument, das er vorbringt, ist jedoch nicht unmittelbar klar: Organismen einer Spezies bilden, so meint er, keine natürliche Art, da sie tatsächlich nicht dieselben Merkmale haben; wenn sie aber keine natürliche Art bilden, können sie nicht legitimerweise Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung sein (vgl. ebd.: 200-202). Selbst wenn Eider sein Argument etwas feingliedriger präsentiert, selbst wenn man gegen ihn nicht vorbrächte, was vorzubringen naheläge (nämlich daß sich sein Argument gleichermaßen gegen die Annahme der von ihm akzeptierten Entitäten richte), und selbst wenn man sich schließlich nicht an seinem starkem Artbegriff störte, so wäre längst nicht klar, was dieses Argument für das ontologische Inventar austrägt. Wenn es nur einen einzigen Gegenstand gäbe, so würde dieser Gegenstand das Inventar konstituieren selbst wenn es einem hinzugedachten Beobachter mangels Vergleich nicht möglich wäre, wissenschaftliche Aussagen über jenen Gegenstand zu machen.
2.2 Herausgreifen
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jener Phänomene angeführt: Wenn die Entitäten, die Teilen jener zusammenhängenden Phänomengebilde entsprechen, kausal nicht miteinander verknüpft sind, ist es schlichtweg nicht zu erwarten, daß jene Gebilde in der Häufigkeit auftreten, in der sie dies tun. Es wäre sehr verwunderlich, wenn ζ. B. Organismen auch nur in der Minderzahl der Fälle je zwei Entitäten zuzuordnen wären, die zufälligerweise in all diesen Vorkommnissen gemeinsam auftreten, ohne in relevanter Hinsicht kausal miteinander verknüpft zu sein.
2.2.2 Die Ebene des Herausgegriffenen: Deskriptive und revidierende Metaphysik Die Annahme, ausgehend von bestimmten Phänomenen ließen sich Strukturen von ontologischer Priorität herausgreifen, und die darin implizierte Annahme, daß dieses Herausgreifen ontologisch erfolgreich sein könne, könnte sich ferner dem Einwand ausgesetzt sehen, daß dieses Herausgreifen zwar die traditionellen mittelgroßen, trockenen Objekte erfasse, daß das aber mit der Wirklichkeit, um deren Strukturen es doch gehen solle, nichts zu tun habe. Diese Wirklichkeit sei nämlich adäquat nur auf physikalischer, und genauer: auf atomarer oder subatomarer Ebene zu beschreiben, und wenn wir etwas ontologisch erfolgreich herausgreifen wollen, dann könne es sich dabei nur um Strukturen dieser Ebene handeln. Auf die hier auftretende Reduktionismus-Problematik gehe ich später näher ein. An dieser Stelle sei zur Orientierung nur so viel dazu vermerkt, daß eine etwaige Reduzierbarkeit von Gegenständen diese nicht eliminiert und daß von vornherein jedenfalls keine Ebene vor der anderen ontologisch ausgezeichnet ist. Ferner sei darauf hingewiesen, daß phänomenalen Unterschieden - die für uns der Anlaß zu bestimmten Einteilungen der Welt waren - auch auf der Ebene physikalischer Feldzustände Unterschiede entsprechen müssen: Anderenfalls wäre das Auftreten jener phänomenalen Unterschiede nicht zu erklären. Das allein genügt schon, den ontologischen Strukturen, die jenen phänomenalen Unterschieden zugrunde liegen, ontologische Relevanz zuzuschreiben. Insbesondere genügt es auch dafür, der Rede von diachroner Identität z.B. eines Organismus einen ontologischen Sinn zu geben: Die diachrone Identität eines Baumes und sein Persistieren (bei aller sonstigen Veränderung) mit Verweis darauf zu leugnen, auch Bäume ließen sich angemessen nur durch Feldzustände beschreiben, taugt als Einwand gegen die Annahme jener Identität insofern nicht, als auch die Beschreibung durch Feldzustände für die phänomenalen Kontinuitäten aufkommen muß. Viele Phänomene lassen sich nur durch einen Wechsel auf die Mikrostruktur etwa des in Frage stehenden Gegenstands physikalisch erklären. Der Wechsel
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2. Methodologische Aspekte der Individuation
der Ebene ist aber nur dann plausibel, wenn die entsprechende Erklärung erbracht wird, und das kann wiederum nur der Fall sein, wenn die korrespondierende Mikrostruktur in ihrer Gesamtheit zur Erklärung herangezogen wird. Dann aber haben wir es nicht mit einzelnen »Teilchen« oder Zuständen zu tun, sondern mit Komplexen von Zuständen. Und es sind diese Komplexe, nicht die einzelnen Teilchen, die etwa für die diachrone Identität eines Baumes zuständig sind. Die Betrachtung einzelner Teilchen oder Zustände ist in diesem Zusammenhang nur dann relevant, wenn diese Betrachtung im Verbund der Betrachtung des gesamten Komplexes erfolgt. Wird das Teilchen isoliert betrachtet, wird das zu Betrachtende verändert. Dies betrifft ferner auch die Frage, ob die hier vorgenommene ontologische Erörterung der deskriptiven oder der revidierenden Metaphysik zuzuordnen sei. Was mit dieser Unterscheidung, die auf Strawson zurückgeht, gemeint ist, ist für sich genommen nicht ganz klar.8 Nach Strawson geht es der deskriptiven Metaphysik darum, die »actual structure of our thought about the world« zu beschreiben, der revidierenden Metaphysik hingegen darum, »to produce a better structure«.9 Dann aber ist die vorliegende Erörterung — darin wohl einer Vielzahl anderer realistischer Ontologien ähnlich - weder deskriptiv noch revidierend:10 Denn realistischen metaphysischen Bemühungen geht es nicht um die Struktur des Denkens über die Welt, sondern um die Struktur der Welt oder Wirklichkeit, d. h. um eine Struktur, die auch dann besteht, wenn sie nicht Gegenstand einer Instanz von Denken ist. Daß uns diese Struktur nur als gedachte zugänglich ist, impliziert nicht, daß sie nur als gedachte Struktur existiert (daß es der Struktur also intrinsisch wäre, gedacht zu werden).11 So erheblich die sprachlichen, psychologischen und anderen Prägungen unseres Zugriffs auf die Struktur sind, so wenig erscheint es beliebig, welche Aussagen über diese Struktur wir für wahr halten und welche nicht. Es ist unser Zugriff, der geprägt ist - und entsprechend unsere Beschreibung - , nicht aber die Struktur, und es ist nicht zulässig, aus dem Umstand, daß unsere Beschreibung der Struktur durch unseren Zugriff entsprechend geprägt ist, darauf zu schließen, daß diese Beschreibung nur durch unseren Zugriff geprägt ist.
8
Dies, wie auch Probleme der Strawson'schen deskriptiven Metaphysik (wie ζ. B. das Problem der von Strawson angenommenen zeitlichen und interlinguistischen Invarianz der grundlegenden Begriffe), hat im einzelnen etwa Susan Haack (1978,1979) erörtert.
9
Strawson 1959: 9.
10 Vgl. als Beispiel für eine ähnliche Reserviertheit gegenüber jener Unterscheidung Sider 2001: xiv-xv. 11 Für diese Kritik vgl. etwa auch Seibt 1995: 357.
2.2 Herausgreifen
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W o r u m es ontologischen B e m ü h u n g e n geht, ist eine angemessene B e schreibung der Struktur der W e l t oder, zumindest, eines Teilbereichs dieser Struktur. E s geht also zugleich um eine Beschreibung findung einer angemessenen
wie auch um die A u f -
Beschreibung. 1 2 D i e Suche nach der Angemessen-
heit wird aber eine Revision vorhandener Beschreibungen mit sich bringen (wobei »Revision« unter anderem einen gänzlichen U m - oder N e u b a u , einen Ausbau oder eine Präzisierung von vorhandenen Ansätzen bezeichnen kann). Diese Revision sollte jedenfalls aber nicht mit einem Wechsel der Beschreibungsebene gleichgesetzt werden - etwa so, als finde eine Revision schon dann statt, wenn die Ontologie der Alltagsgegenstände mittels jenes Ebenenwechsels d u r c h eine O n t o l o g i e der physikalischen Mikrostrukturen ersetzt wird. 1 3 E s ist zumindest unergiebig, wenn verschiedene Ebenen der Betrachtung gegeneinander ausgespielt werden, und es ist nicht klar, weshalb schon der E b e n e n wechsel »Revision« heißen sollte. D a s wiederum heißt nicht, daß aus der
12 Der Verweis auf die Annahme fehlender »Angemessenheit« als Motiv revidierender Metaphysik findet sich ebenfalls bei Haack (1978: 95, 97). Zu den drei Voraussetzungen, die Löffler (2001: 246) für revidierende Metaphysik herausarbeitet, gehören die folgenden beiden: (1) Das Begriffssystem, mit dem die grundlegenden Strukturen erfaßt werden sollen, ist nicht das, das unserem gewöhnlichen Denken zugrunde liegt. (2) Das neue Begriffssystem »habe ontologische Priorität über das alte [Begriffssystem - F. B.] insofern, als Aussagen, die im alten, aber nicht mehr im neuen System formulierbar sind, von vornherein keine Wirklichkeitsgeltung haben können«. Demnach geht es bei revidierender Metaphysik unter anderem darum, den obsoleten Bereich der nicht-revidierten Metaphysik zu identifizieren und zu eliminieren. Die schwierige Aufgabe ist dann die zu klären, was als obsoleter Bereich gilt. 13 In diesem Sinn würde jedoch Strawson ein Projekt als »revidierend« bezeichnen, das einen anderen begrifflichen Rahmen etwa in der Absicht wählt, eine naturwissenschaftlich (ζ. B. physikalisch) angemessene Ontologie zu entwickeln (so etwa Haack 1978: 82, die als Beispiel für ein solches - im Strawson'schen Sinne - revidierendes Projekt die Ereignisontologie in Whiteheads Concept of Nature anführt und diskutiert). Blickt man im übrigen gerade auf diese Gegenüberstellung von Ontologien wie derjenigen Strawsons und derjenigen Whiteheads, so zeigt sich, daß der Fall der Unterscheidung zwischen deskriptiver und revidierender Metaphysik auch schon deshalb etwas komplizierter liegt, weil jedenfalls in diesen beiden Fällen ein Bezug auf eine traditionelle Position einer »aristotelischen« Substanztheorie vorliegt (und zwar als akzeptierte Position oder als Gegenposition), deren Beschreibung der Feinkörnigkeit der tatsächlichen ousia-Theorie etwa von Met. VII-IX kaum nahekommt. So scheint Whitehead selbst die Theorie der ersten Substanz der Kategorien für die für Aristoteles einschlägige Theorie gehalten zu haben (s. etwa Process and Reality·, xiii, 21, 50 etc.). Für eine Auseinandersetzung mit Whiteheads Substanz-Kritik s. etwa Gram 1982; für einen verbindenden Vergleich zwischen aristotelischer ousia und Whiteheads Begriff der Entität s. etwa Fetz 1981: v. a. 209-249.
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2. Methodologische Aspekte der Individuation
Betrachtung der einen Ebene (ζ. B. der Ebene der physikalischen Mikrostruktur) nicht doch erheblicher Nutzen für die Beschreibung einer anderen Ebene (ζ. B. der Ebene der Alltagsgegenstände) gezogen werden könnte. Doch auch wenn dieser Ebenenvergleich Konsequenzen für die Beschreibungen einer der beiden Ebenen hat, so handelt es sich um eine Revision eben auf dieser einen Ebene, ohne daß jedoch die Revision ihrerseits im Wechsel der Ebene bestünde. Doch könnte man hier nun meinen, daß - entsprechend den verschiedenen Ebenen -verschiedene Ontologien angemessen seien. So scheint auf physikalischer Mikroebene eine Ontologie, die auf Ereignissen aufbaut, angemessener zu sein, während man vielleicht meinen könnte, daß der Ebene der Alltagsgegenstände eine Substanzontologie angemessener sei. Beides aber könne nicht zutreffen, und deshalb könne auch nicht beides angemessen sein. Allerdings gilt auch hier zunächst wieder, daß verschiedene Ebenen nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Angenommen, wir wüßten, was Ereignisse sind, bzw. angenommen, wir könnten uns auf einen Ereignisbegriff einigen,14 so dürften wir von einer Ereignisontologie unter anderem verlangen, daß sie auch Alltagsgegenstände zu erfassen imstande ist. Und dazu wird sie am ehesten dann imstande sein, wenn sie dem Umstand gerecht wird, daß es Strukturen gibt, in denen Elemente verschiedener Kategorien miteinander in bestimmter Weise verbunden sind. Wenn sie diesen Gegenständen nicht Rechnung zu tragen vermag, handelt es sich eben nicht um eine Ontologie, die diese Gegenstände erfaßt.
2.2.3 Realismus: Zugriff auf die Welt Des weiteren könnte man noch den Einwand erheben, daß die angenommene Möglichkeit eines Zugriffs auf die Welt sowie die angenommene Möglichkeit, begründetermaßen bestimmte Strukturen herausgreifen zu können, von der Illusion ausgeht, wir hätten einen Zugriff auf »die« Welt. Dieser Einwand kann zumindest auf zwei verschiedene Weisen zu verstehen sein. Zum einen kann er solipsistischer oder auch radikal skeptizistischer Natur sein. Zum anderen kann er besagen wollen, daß unser Zugriff nicht auf die Welt, sondern nur auf unsere Erfahrung erfolgen kann. Einwände der ersten Art beunruhigen mich nicht: Hier genügt mir als Antwort der Verweis auf die Selbstwiderlegung des Skeptikers, die sich dann ergibt, wenn er mich von seinen Einwänden überzeugen möchte. (Offensichtlich
14 Zur Diskussion vgl. etwa Stoecker 1992 und Kanzian 2001.
2.2 Herausgreifen
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ist diese Antwort etwas flüchtiger Ausdruck einer dezisionistischen Position. Grundlage der entsprechenden Setzung - wenn auch nicht die Lösung des Problems - ist zumindest die Möglichkeit, vom Skeptiker, aber auch vom Solipsisten oder vom Berkeley'schen Idealisten, den Aufweis zu verlangen, daß sich die Phänomene mit den gewählten Kategorien oder dazu alternativen Kategorien nicht erfassen lassen.) Was die Einwände der zweiten Art betrifft, so kann ich mich mit dem Vertreter dieser Einwände - wie mir scheint: hinreichend weit - darüber verständigen, daß unsere Erfahrungen bestimmte Gegenstände zum Inhalt haben, die für ihn Erfahrungsgegenstände, für mich Gegenstände sind, und daß diese Gegenstände oder Erfahrungsgegenstände bestimmte Strukturen aufweisen, die sie in der Gesamtheit der beobachtbaren Strukturen herausheben. Mir genügt es dabei, daß hinreichend viele Erfahrungen verschiedener Menschen vergleichbar sind und daß wir zutreffende oder auch nicht zutreffende (und gegebenenfalls auch mehr oder weniger zutreffende) Aussagen über die in Frage stehenden Strukturen der Gegenstände oder Erfahrungsgegenstände machen können. Diesen zweiten Punkt hervorzuheben ist auch deshalb von Belang, weil sich an ihm zeigt, daß der Zugriff auf die Wirklichkeit wie auch deren Einteilung und Sortierung nicht beliebig ist. Wenn wir versuchen, die Rede von »Struktur« inhaltlich zu füllen, und wenn wir dafür - wie oben angedeutet - ζ. B. annehmen, daß die in Frage stehende Struktur sich dadurch auszeichne, daß bestimmte Entitäten so ineinandergreifen, daß dieses Ineinandergreifen etwas konstituiert, das sich über die Zeit hin erhält, dann können wir bestimmte Phänomene besser erklären, wenn wir diese Struktur als grundlegend ansehen, als wenn wir eine andere Einteilung der Wirklichkeit wählen. Für das, was an einem bestimmten phänomenal ausgezeichneten Ort passiert, können wir diejenige Struktur besser verantwortlich machen, die ζ. B. dem Baum - der sich phänomenal (ζ. B. als Gleichbleibendes in der Veränderung) auszeichnet - als ganzem zugrunde liegt, als wenn wir Strukturen als grundlegend annehmen, die ζ. B. Baumhälften oder bestimmten Farbflecken entsprechen. Es ist nicht beliebig, welche Zuschnitte wir wählen. Natürlich können wir auch ζ. B. Baumhälften als grundlegende Strukturen wählen: Niemand ist auf ontologisch sparsame oder sogar attraktive Zuschnitte verpflichtet. Aber solche Zuschnitte sind dann eben nicht attraktiv, und sie werden attraktiv nur dann, wenn sie gute Gründe für sich haben.15
15 Gelegentlich wird ontologischen Bemühungen das Quine'sche Diktum entgegengehalten »To be is to be the value of a variable« (Quine 1939: 708; vgl. 1948:13: »To be assumed as an entity is [...] to be reckoned as the value of a variable. [...] to be is to be in the range of reference of a pronoun.«). Und mit Hilfe dieses Diktums wird jenen
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2. Methodologische Aspekte der Individuation
Als weiteres ist zu beachten, daß wir die phänomenale Grundlage des Zugriffs oder des Herausgreifens angemessen umfassend wählen. So bildete ζ. B. eine Beschränkung auf Sinnesdaten bekanntermaßen eine unangemessen schmale Basis. Zu den relevanten Phänomenen gehören vielmehr etwa auch Daten wahrnehmungspsychologischer Natur wie auch solche Daten, die Ergebnis erster begrifflicher Verarbeitungen sind. Das Herausgreifen von Einzeldingen geht nicht oder nicht zuerst etwa auf deren farbliche Unterscheidung gegenüber einem Hintergrund zurück und auch nicht nur auf das gemeinsame Auftreten verschiedener Sinnesqualitäten - auch wenn solche Unterschiede eine gute Hilfe darstellen können.16 Doch selbst wenn »Herausgreifen« in diesem weiten Sinn als Bezeichnung einer Operation aufgefaßt wird, die perzeptionelle, psychologische und auch begriffliche Elemente in sich vereint, scheinen wir noch vor einem Problem zu stehen. Denn wenn wir einmal annähmen, die ontologisch zu beschreibende Welt enthielte genau einen Gegenstand, so wäre nicht klar, wie sich dieser Gegenstand beschreiben ließe, wenn dem Beschreiben eine Operation des Herausgreifens vorausgehen muß: Herausgreifen setzt Hintergrund oder Kontrast voraus und wäre demnach nicht möglich, wenn es keinen Hintergrund oder Kontrast gibt. (Das Problem ließe sich nicht durch den Hinweis auflösen, daß im Beispiel der Ein-Gegenstand-Welt doch immerhin noch ein Beobachter
Bemühungen dann der Vorwurf einer gewissen Beliebigkeit oder Fruchtlosigkeit gemacht. Quine selbst macht es sich allerdings nicht so leicht, denn ihm zufolge gibt es, bei aller Experimentierfreude, eben durchaus Kriterien für die Wahl zwischen verschiedenen Ontologien (s. etwa Quine 1948: 16-19). Er hält mit jenem Diktum nicht die Wahl einer Ontologie für obsolet: Es ist offenbar nicht beliebig, was als VariablenEinsetzung gewählt wird. 16 Auch dezidierte Empiristen haben zumindest das Spektrum unseres Gewahrseins entsprechend weit gewählt. So sind etwa Russell zufolge Gegenstände unseres Gewahrseins einerseits die Sinnesdaten, andererseits aber eben auch die eigenen Gedanken, Gefühle und weitere Gegenstände mit abstrakterem logischen Charakter< (vgl. 1905: 41; 1914: 130). Allerdings hat dies bei Russell dann gleichwohl nicht, jedenfalls nicht längerfristig, zur Wahl einer entsprechend umfassenden Basis des Herausgreifens im Zusammenhang von Individuationsbemühungen geführt. So beschränkt sich Russell später wieder auf einen individuierenden »complete complex of compresence« (1948: 322), wobei die compresence allem Anschein nach nur Sinnesqualitäten umfaßt. Wenn ich hier kritisch auf Russell als auf einen dezidierten Empiristen dem Umstand zum Trotz verweise, daß die entsprechenden Theorien längst nicht mehr als aktuell anzusehen sind, dann auch deshalb, um meine eigene Rede vom »Herausgreifen« von dem empiristischen Verfahren jener »primitiven« Art abzugrenzen und sie so auch klassischen Standardkritiken zu entziehen, wie sie sich etwa schon bei Popper (1935: u. a. 52f., entspricht 1973: u. a. 61), Quine (1951) oder Sellars (1956) finden.
2.2 Herausgreifen
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hinzukomme, der als Hintergrund seiner eigenen Herausgreifens-Operation fungieren könne. Denn hier ließe sich das Beispiel wiederum so modifizieren, daß eben der Herausgreifende selbst der einzige Gegenstand ist, so daß das Herausgegriffene keinen »Hintergrund« besäße.) Tatsächlich besteht das genannte Problem - Herausgreifen ohne Kontrast - jedoch nicht. Herausgreifen müssen wir etwas für den vorliegenden ontologischen Zweck, nämlich die Behandlung der Frage der Einheit des Individuums, nur dann, wenn es einen Hintergrund gibt, von dem das herauszugreifende Individuum erst einmal unterschieden werden muß. Wenn es diesen Hintergrund nicht gibt, können wir direkt der Frage nach der Einheit des vorliegenden Gegenstands nachgehen. Herausgreifen ist ein Zugriff auf den ontologisch zu behandelnden Gegenstand, es ist aber nicht diese Behandlung selbst. Das Anliegen, das nun dem Herausgreifen gerade der Struktur des Organismus zugrunde liegt, besteht darin, mehr über diese Struktur zu erfahren, und genauer: mehr darüber zu erfahren, was diese Struktur zu einer Struktur macht. Was das Verhältnis der Struktur zu anderen Strukturen betrifft, so geht es mir nur dort um ein Argument für die ontologische Priorität dieser Struktur, wo innerhalb einer Familie von Kategorien diesbezüglich Konkurrenz aufkommen könnte, nämlich innerhalb der Familie materieller Entitäten, d. h. zwischen Teilen, Einzeldingen und übergeordneten Gefügen. Und wiewohl ich annehme, daß Strukturen dieser Art für einen Großteil dessen verantwortlich sind, was die Wirklichkeit jedenfalls auf der Erde ausmacht, gehe ich der möglichen Frage der ontologischen Priorität, die andererseits im Verhältnis etwa zwischen Einzeldingen, Sachverhalten, Ereignissen oder Eigenschaften vermutet werden könnte, nicht nach (und zwar aus Gründen der notwendigen pragmatischen Beschränkung nicht). Allerdings könnte man einwenden, daß diese Beschränkung unausgesprochen nun doch schon zuviel voraussetzt. Wenn ich etwa von »Struktur« (im angedeuteten Sinn), »Interaktion« oder »Kausalgefüge« spreche, nehme ich etwas an, das Eigenschaften besitzt, ferner nehme ich Ereignisse an, wenn ich von »Interaktion« oder »Kausalität« spreche, ganz abgesehen davon, daß es die Rede von »Kausalität« ihrerseits noch mit ganz anderen Tiefen und Untiefen begrifflicher Unklarheit zu tun hat. Ist das ontologische Werkzeug fein genug, wenn diese Kategorien einfach vorausgesetzt werden und wenn sie und ihr Verhältnis etwa zu jenem Begriff der Struktur nicht vorab erörtert werden? Warum sollte gerade der Begriff der Struktur oder der des Kausalgefüges solche Prominenz erhalten? Ist hier überhaupt noch von grundlegenden Strukturen die Rede? Beschäftigungen mit verschiedenen Kategorien wie den genannten stehen nicht in einem Konkurrenz-, sondern in einem ergänzenden Verhältnis zuein-
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2. Methodologische Aspekte der Individuation
ander. Ontologie beschreibt, bildlich gesprochen, die Einrichtung der Welt, und die Gegenstände dieser Einrichtung sind nicht von nur einer Art. Zudem, weiterhin bildlich gesprochen, durchdringen sie sich und sind in je verschiedener Hinsicht aufeinander angewiesen. Sofern Ontologie die Gegenstände ihrer Beschreibung im Ausgang von Phänomenen wählt, ist nun ein prominenter Gegenstand die Persistenz - das Gleichbleibende in der Veränderung. Der Rückgriff auf Persistierendes ist wesentlicher Bestandteil unseres Ordnens der Welt, und so scheint die Beschreibung dessen, das dafür ontologisch verantwortlich ist, vordringlich, zumindest aber legitim. Würde diese Beschreibung aus dem Aufgabenkatalog der Ontologie gestrichen, würde ein umfangreicher Teil der Einrichtung der Welt nicht erfaßt.
2.2.4 Praktisches Interesse Ein weiterer Einwand gegen das Verfolgen ontologischer Absichten und gegen Bemühungen wie die des ontologisch motivierten Herausgreifens betrifft schließlich die Motivation, die mit diesen Bemühungen verbunden ist. Weshalb, so könnte man fragen, sollte man ein Interesse an einer Tätigkeit haben, die - wie es scheint - zu nichts anderem als eben zu einer Einteilung der Welt führt? Selbst wenn sich diese Einteilung als eine angemessene Einteilung erweisen sollte, ist nicht klar, weshalb sie überhaupt vorgenommen wird. Herausgreifen, so der Einwand, ist zugleich ein Interesse-Nehmen. Wenn aber nicht klar ist, weshalb dieses Interesse bestehen sollte, ist auch nicht klar, weshalb man Bemühungen wie die des Herausgreifens auf sich nehmen sollte. Wie schon in der Einleitung angedeutet, hat nun aber der ontologische Zuschnitt eine erhebliche praktische Relevanz. Denn es spielt für die Praxis - zumindest idealerweise - eine erhebliche Rolle, ob wir angeben können, was zu einem Individuum aufgrund welcher Kriterien dazugehört und was nicht, oder ob wir dies nicht angeben können; und ferner spielt es eine erhebliche Rolle, zur Auswahl welcher Teile oder Aktivitäten welche Kriterien führen. Dies spielt dann eine erhebliche Rolle, wenn zu den in Frage stehenden Individuen zum einen wir selbst gehören, zum anderen jene Individuen, mit denen wir es darüber hinaus in der Welt zu tun haben. Es geht, in ganz grundlegender Weise, um unser Selbst- und Weltverständnis. Handeln ohne dieses Verständnis ist blind. Der Verweis auf diese Relevanz soll wiederum nicht besagen, daß Ontologie praktische Relevanz besitzen muß, um interessanterweise betrieben werden zu können. Vielmehr soll er nur besagen, daß die Relevanz besteht unabhängig davon, ob sie als Motivation dient oder nicht.
3. Das Herausgreifen von Organismen Worauf greifen wir zu, wenn wir materielle Individuen herausgreifen? Und unter welchen Bedingungen tun wir dies? Das Herausgreifen zielt hier intuitionsgemäß zuerst auf Organismen, d. h. auf Selbstorganisierer, und Organismen sollen die empirische Basis für die weiteren Überlegungen zur Individuität sein (ohne daß damit jedoch unterstellt sei, daß nur Organismen Individuen seien). Gegenstand dieses Kapitels sind daher - in vorbereitender Absicht - einige Fragen, die sich zu Organismen stellen, sofern sie etwas Herausgegriffenes sind. Dabei geht es zunächst um eine vorläufige Präzisierung des gewählten Zuschnitts. Für diesen Zuschnitt lege ich einen weiten Organismusbegriff zugrunde, dem zufolge »Organismus« die Gesamtheit der Teile, Dispositionen, Fähigkeiten und Aktivitäten eines Lebewesens in ihrer Interaktion bezeichnen soll (3.1). 1 Da Organismen zudem Selbstorganisierer sind - eine Annahme, die der traditionellen Auffassung dessen, was Lebewesen sind, folgt - , ist vorab zumindest über jene Aspekte von Selbstorganisation etwas zu sagen, die Anlaß zu Irritationen geben könnten (3.2). Sodann komme ich, in Aufnahme der Problematik des zweiten Kapitels, auf methodologische Probleme des Herausgreifens zu sprechen, nämlich solche Probleme, die sich speziell für den Fall materieller Gegenstände ergeben und denen zufolge das Herausgreifen dieser Gegenstände auf einem Zirkel zu beruhen scheint (3.3). Im Zusammenhang der Diskussion über das Herausgreifen und Herauszugreifende gehe ich schließlich auf einige Annahmen ein, die meiner Rede von »Teil« zugrunde liegen (3.4). Die Erörterungen dieses Kapitels haben nur die Aufgabe der Orientierung und Stellungnahme. Sie sollen die Darlegung meiner Individuenkonzeption vorbereiten. Sie gehen daher (v. a. in den Abschnitten 3.1 bis 3.3) auch nur in dieser Zielrichtung über das Gros der Literatur hinaus. 2
1
Ferner sollen Organismen, insofern sie Individuen sind, auch durch Artefakte erweiterbar sein (zur entsprechenden Rede von der »Anstückung« s. u. 5.2).
2
Zur Selbstorganisation vgl. etwa Kratky / Wallner 1990, Krohn / Küppers 1990, Paslack / Knost 1990, Paslack 1991, Yates 1987 (v. a. zum Entstehen von Ordnung und organisierten Systemen); noch nicht einsehen konnte ich Feltz et al. 2006.
3. Herausgreifen von Organismen
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3.1 Ein weiter
Organismusbegriff
Organismen sind seit alters Musterbeispiele für Individuen. Wenn Aristoteles diskutiert, was eine ousia ist, hat er im Bereich materieller Gegenstände die Formen oder Strukturen vor allem von Lebewesen im Blick. Artefakte werden in erster Linie zur Veranschaulichung herangezogen, ohne daß Aristoteles sich darauf festlegen wollte, daß auch für ihre Form oder Struktur der Status, eine ousia zu sein, berechtigterweise angenommen werden könnte.3 Musterbeispiele sind Organismen hier deshalb, weil sie anderem Seienden zugrunde liegen und weil sie sich durch das auszeichen, was für materielle Individuen kennzeichnend zu sein scheint, nämlich durch eine bestimmte Form von ontologischer Priorität und Unabhängigkeit. Was sind Organismen? Und was macht sie zu Individuen? Organismen sind vergleichsweise stabile dynamische Systeme, die aus Materie- und aus FormTeilen bestehen, deren Interaktion Selbsterhaltung ermöglicht und eine Voraussetzung für sie ist. Organismen sind ferner »offene Systeme, die kontinuierlich mit ihrer Umwelt in Wechselbeziehung stehen«,4 was üblicherweise so verstanden wird, daß sie Energie und Materie mit ihrer Umwelt austauschen.5 Organismen zeichnen sich schließlich dadurch aus, daß sie sich bei bestimmten außergewöhnlichen Störungen, wie ζ. B. bei bestimmten Verletzungen, selbst reparieren können oder daß sie bei normalen Störungen angemessen (ζ. B. ausgleichend) reagieren können.6
3
Tatsächlich ist der Fall noch um einiges komplizierter, da zumindest umstritten ist, wie Aristoteles' eigene, definitive Antwort auf die Frage lautete, was eine ousia ist. Für Aristoteles' Zweifel hinsichtlich der Substanzialität von Artefakten s. etwa An. II 1, 412all-13, Met. VII17, 1041b28-30, VIII2,1043a4f. und VIII 3,1043b21-23, für ihre Substanzialität s. hingegen XII 3,1070a5f.
4
Campbell 1997: 10.
5
Campbell 1997: 10. In ihrer Knappheit beinahe schon wieder instruktiv sind die Einträge »Organismus« und »Organismen« im Lexikon der Biologie (s. Sauermost / Freudig 2002: X 277). Dort heißt es in der relevanten Passage zu »Organismus«: »[...] 1) das Lebewesen; /Leben, -Organismen. 2) Gesamtheit der /Organe des lebenden /Körpers. /Organsystem.« Und zu »Organismen«: »[...] Lebewesen (/Leben) als physiologische Einheiten, mit dem charakteristischen Zusammenwirken aller /Organe bzw. (bei Einzellern) aller /Organellen. /Mikroorganismen, /modulare Organismen, /Modellorganismen.«
6
Reparatur schließt nicht nur das Heilen von Wunden ein, sondern - im Fall mancher Lebewesen (jedoch nicht im Fall von Säugetieren) - die Wiederherstellung ganzer Körperteile; so im Fall von Süßwasserpolypen und Plattwürmern, die etwa einen neuen Kopf bilden können, aber auch im Fall von Salamandern und Molchen, die etwa einen
3.1 Ein weiter Organismusbegriff
31
Die Offenheit einerseits und - in gewisser Hinsicht - die Fähigkeit zur Selbstwiederherstellung andererseits sind notwendig für das Fortbestehen, d. h. die Persistenz des Organismus: Persistenz setzt einen gewissen Grad an Ordnung und Strukturiertheit voraus, die Aufrechterhaltung bzw. die Wiederherstellung von Ordnung ist aber sowohl auf die Regulierungsfähigkeit des Organismus als auch auf Energie angewiesen, die der Organismus aus der Umwelt aufnehmen können muß.7 Allerdings sind nun auch die vorhandenen Sinnesorgane Teile des Organismus, so daß zu den Wechselbeziehungen, in denen der Organismus mit der Umwelt steht, Sinnesreizungen mit hinzukommen. Ein derart weites Verständnis von »Organismus« geht vermutlich über biologische Intuitionen hinaus. Andererseits ist nicht von vornherein klar, weshalb eine engere Auffassung akzeptiert werden sollte, der zufolge ein Organismus lediglich eine aus Teilen bestehende, sich selbst erhaltende Energie-Verwertungsmaschine ist. Doch für das Folgende fasse ich den Begriff des Organismus sogar noch weiter, indem ich nämlich einen Begriff zugrunde lege, dem zufolge ein Organismus - ζ. B. im Fall des Menschen-alle einander zugeordneten Aktivitäten und die entsprechenden Dispositionen und Teile umfaßt, also nicht nur die im engeren Sinne organischen Teile. Organismen gelten gemeinhin als sich selbst erhaltende und sich permanent selbst herstellende Systeme (ich spreche der Kürze halber auch von »selbstherstellenden Systemen«). Es handelte sich nun aber um eine ganz merkwürdige Individuenkonzeption, wenn ein Individuum (wie ζ. B. ein einzelner Mensch) als etwas angesehen würde, das in einem Teil (nämlich jenem Teil, den die Körperteile bilden) aus einem selbstherstellenden System und in einem anderen Teil aus irgendwie gearteten Zusätzen zu jenem selbstherstellenden System besteht: Es ergäbe sich so insgesamt ein kohärentes System, das nur partiell selbstherstellend ist. Selbstherstellend zu sein ist nicht eine beliebige Eigenschaft ζ. B. des Menschen, sondern eine Eigenschaft, der er seine Persistenz und seine diachrone Einheit verdankt. Selbstherstellung umfaßt alles, was ein Mensch »tut«, d. h. alle Aktivitäten, die (in Verbindung
verlorenen Schwanz, ein Bein, die Linse des Auges, die Netzhaut oder sogar eine Herzkammer nachbilden können. Die Fähigkeit, eine zerstörte Herzkammer nachzubilden, ist im Fall von Säugetieren bisher etwa bei einer bestimmten genetisch veränderten Mäuseart nachgewiesen worden (s. Hobom 2002, mit Verweis u. a. auf Leferovich et al. 2001). Ein größerer Teil der Stammzellforschung beschäftigt sich gerade mit dem Problem der entsprechenden Nutzung von Stammzellen im Fall von Säugetieren. 7
Eine Vielzahl an Literaturbelegen für zahlreiche »>Kategorien< des Organischen« findet sich bei Köchy 2003: 249-256.
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3. Herausgreifen von Organismen
mit den entsprechenden Dispositionen und Teilen) ihm zugeschrieben werden können, denn alle diese Aktivitäten, Dispositionen und Teile machen ihn aus, und nichts anderes als er selbst wird hier hergestellt. Worum es hier m. E. gehen sollte, ist nicht ein möglicher Streit um die Angemessenheit dieser weiten Verwendung von »Organismus«, sondern die Frage, was - ζ. B. im Fall des Menschen - als selbstherstellendes System gilt, d. h. was zu diesem System dazugehört und durch welche Individuenkonzeption sich die Einheit dieses Systems fassen läßt. Ich komme kurz auf einen Einwand zu sprechen, der sich hier stellt, für dessen Beantwortung ich aber um einiges vorgreifen muß. Man könnte nämlich einwenden, daß es durchaus um die Angemessenheit der Verwendung des Ausdrucks »Organismus« gehe, wenn das, was durch ihn bezeichnet wird, eine ontologisch zweifelhafte Entität ist. Der eben vorgeschlagenen liberalen oder weiten Verwendung liege - so der Einwand - zunächst eine Verwechslung von »Organismus« und »Lebewesen« zugrunde, und meine Rede von »Organismus« anstelle von »Lebewesen« sei Ausdruck einer biologistisch verengten Sicht auf Lebewesen. 8 Dem hielte ich nochmal entgegen, daß es mir nicht um den Ausdruck geht, sondern darum, alles zu erfassen, was zu einem Individuum gehört. Wirklich problematisch - so der mögliche Einwand weiter - werde es nun aber dort, wo ich Anstückungen an Organismen als Teile von Individuen akzeptiere, wenn die angestückten Dinge ihrerseits Artefakte sind (s. u. 5.2). Problematisch sei das unter anderem deshalb, weil ich hier Entitäten mit verschiedenen Persistenzbedingungen miteinander zu einer Entität verknüpfe und weil dann nicht klar ist, welche Persistenzbedingungen für die Entität gelten, die sich aus der Verknüpfung ergibt. (Die Persistenz von Artefakten zeichne sich etwa durch die »Kontinuität ihrer spezifischen Form oder Funktionsfähigkeit« und der dafür erforderlichen Struktur aus, die Persistenz organischer Körper hingegen - so ein möglicher Vorschlag - durch die permanente Aktualisierung ihrer Fähigkeit zum Stoffwechsel.) 9 Meine Liberalität auch in diesem Punkt verdankt sich - allgemein gesagt dem Umstand, daß es mir um die Beschreibung von Individuen geht, nicht um die Beschreibung von Lebewesen oder Organismen (hier im nicht erweiterten Sinn des Ausdrucks »Organismus«): Es kann, muß sich aber nicht treffen, daß nur Lebewesen oder daß nur solche Organismen Individuen sind, und wenn
8
Zur Unterscheidung der Begriffe s. etwa Schark 2005: 247-253.
9
Für das Zitat zur Artefakt-Persistenz s. Schark (2005: 192), für die Persistenz organischer Körper vgl. Schark (2005: 274-277).
3.2 Organismen als Selbstorganisierer
33
es sich so träfe, wäre dies lediglich eine empirische Tatsache. Mir scheint es nun aber ratsam, das Vorliegen von Individuität nicht vom Vorliegen von Lebendigkeit abhängig zu machen, und zwar deshalb, weil nicht klar ist, weshalb man das tun sollte. Man muß nicht Theorien artifizieller Intelligenz anhängen, um sich etwa einen Roboter vorstellen zu können, der, einmal zusammengebaut, für seine Selbsterhaltung und Reorganisation sorgt (etwa durch Selbstreparatur inklusive der Herstellung der dafür benötigten Teile, Selbstreinigung, eigenständige und gesteuerte Versorgung mit Energie) und der sich damit in ein elementar selbständiges Verhältnis zur Welt setzt. Es ist nicht augenfällig, weshalb dieser Roboter kein Individuum sein sollte. (Die sehr viel weiter reichende mögliche - polemische - Gegenfrage, ob wir dann etwa auch RoboterRechte akzeptieren müßten, wäre zu verneinen, hätte ihr Fundament aber auch in Eigenschaften von Individuen anderer Arten, die für die Individuität dieser Individuen zwar eine wichtige Rolle spielen, nicht aber für Individuität überhaupt.) Meine Liberalität im Hinblick auf die Verknüpfung von Entitäten, die unter verschiedene Persistenzbedingungen fallen, verdankt sich dem Umstand, daß die auf solche Weise verknüpften Entitäten eben »Selbständigkeitseinheiten« bilden.
3.2 Organismen
als
Selbstorganisierer
Der Auffassung von Organismen als Selbstherstellern oder -organisierern entspricht zu einem gewissen Teil bereits die antike Auffassung von Lebewesen als Selbstbewegern - wobei »Selbstbewegung« in einem weiten Sinn zu verstehen ist und etwa Selbsterhaltung oder eben Selbstorganisation mit einschließt. Allerdings ist das, was mit »Selbstorganisation« gemeint ist, näher zu bestimmen, und das insbesondere auch wegen der ontologischen Konsequenzen, die verschiedene Annahmen für die Individuenkonzeption hätten, wenn sie, wie man meinen könnte, mit dem Begriff der Selbstorganisation verbunden wären bzw. nicht verbunden wären. Ich beginne mit einer Bemerkung zur wichtigsten alternativen Verwendung von »Selbstorganisation«, nämlich der Verwendung, in der der Ausdruck das Von-Selbst-Entstehen einer Sache bezeichnet (und die im Anschluß keine weitere Rolle mehr spielen wird; 3.2.1). Sodann komme ich auf die eventuelle Annahme einer etwaigen »Spontaneität« von Bewegung als constituens von Selbstorganisation zu sprechen (3.2.2). Ferner behandele ich die Frage, was es ist, das im Fall von Selbstorganisation hergestellt wird. Hierbei gehe ich insbesondere auf die Frage ein, wie mit dem möglicherweise allgemeinen Charakter von Strukturen und Strukturelementen im Verhältnis zur Organisa-
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3. Herausgreifen von Organismen
tion des Selbstorganisierers umzugehen ist (3.2.3). Außerdem k o m m e ich kurz auf die Frage zu sprechen, ob Selbstorganisation Zweckgerichtetheit impliziert (was sie nicht tut; 3.2.4). Ich schließe den Abschnitt mit einer Bemerkung zum Verhältnis von Selbstorganisiertem und dessen Grenze (3.2.5).
3.2.1 Zu einer alternativen Verwendung von »Selbstorganisation« »Selbstorganisation« bezeichne den Prozeß des beständigen und eigenständigen Reorganisierens und Wiederherstellens einer vorhandenen Struktur. Damit unterscheidet sich die Verwendung des Ausdrucks von einer anderen verbreiteten Verwendung. In dieser alternativen Verwendung bezieht sich »Selbstorganisation« auf einen Vorgang, der darin besteht, daß sich, ausgehend von einem bestimmten Material und auf der Grundlage bestimmter Komplexitätszusammenhänge, bestimmte Systeme neuer Art selbst entwickeln, oder eben: selbst neu organisieren. »Selbstorganisation« heißt diese Entwicklung deshalb, weil sich die neuen bzw. neuartigen Systeme spontan, d. h. von selbst, entwikkeln. 1 0 (Das System kann sich hingegen nicht selbst entwickeln, und zwar schlicht deshalb nicht, weil es noch nicht existiert.) Diese Verwendung von »Selbstorganisation« soll im Folgenden deshalb keine Rolle spielen, weil mit ihr die für Selbsterhaltung relevanten Aspekte nicht erfaßt werden: Es geht bei dieser alternativen Verwendung ja gerade um eine entscheidende Veränderung, nämlich das Entstehen eines neuartigen Systems oder Organismus. 1 1
10 Vgl. Kauffman (1995: vii): »The order of the biological world [...] is not merely tinkered, but arises naturally and spontaneously because of these principles of selforganization - laws of complexity that we are just beginning to uncover and understand.« Kauffman 1995 ist ein populärwissenschaftliches Pendant zu Kauffman 1993. Wiewohl beide Werke »self-organization« im Untertitel anführen, enthalten sie keine Definition des Begriffs. Eine entsprechende Definition findet sich hingegen bei Camazine et al. (2001: 8): »Self-organization is a process in which pattern at the global level of a system emerges solely from numerous interactions among the lower-level components of the system. Moreover, the rules specifying interactions among the system's components are executed using only local information, without reference to the global pattern.« Dabei seien emergierende Eigenschaften oder Muster solche, die sich unerwartet aus der Interaktion der Systemkomponenten ergeben (ebd.). 11 An der Heiden et al. 1989 setzen diesen Begriff der Selbstorganisation zu demjenigen in Beziehung, den ich hier sonst gebrauche und der mit dem Begriff der Selbsterhaltung verbunden ist. An der Heiden et al. zufolge zeichnen sich selbst organisierende Systeme durch die spontane Ausbildung von Strukturen aus. Teilklasse der selbstorganisierenden Systeme seien wiederum die selbstherstellenden Systeme, die sie auch
3.2 Organismen als Selbstorganisierer
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A u f einen Aspekt dieses auf die Entstehung bezogenen Verständnisses von »Selbstorganisation« sei dennoch hingewiesen. Ihm zufolge sind bestimmte Ausgangsbedingungen und bestimmte (Komplexitäts)-Gesetze ausreichend für das Entstehen einer bestimmten Ordnung oder Struktur: Ordnung, so die These, entstehe »von selbst« - es ist nicht etwa Selektion, die für Ordnung verantwortlich ist. Selektion wähle (so diese Auffassung) nur unter den F o r m e n aus, die aufgrund bestehender Komplexitätsgesetze entstanden sind. 12 Auf diesen Aspekt hinzuweisen ist hier deshalb angebracht, weil Individuen unten als Funktionsgefüge verstanden werden sollen, die Rede von »Funktion« jedoch vielfach mit Selektion in Verbindung gebracht wird. Tatsächlich werden sich Individuen, auch sofern sie Funktionsgefüge und Selbstorganisierer sind, als unabhängig von Selektion erweisen.
3.2.2 Selbstorganisation und Spontaneität der Bewegung? Man könnte annehmen, daß Selbstorganisation, sofern sie Selbstbewegung ist, irgendeine Art von Bewegungsursprung im Selbstbeweger voraussetzt. Dies ist unproblematisch, solange es nicht mehr bedeutet als die Annahme, daß es Teile des Organismus gibt, die mehr als andere Teile des Organismus steuernde Funktion haben - wie es etwa für das zentrale Nervensystem zutrifft. Hingegen soll mit der Rede von »Selbstbewegung« nicht die Annahme einer Spontaneität von Bewegung suggeriert werden. O b Lebewesen zu spontanen Bewegungen in der Lage sind oder ob ihren Bewegungen immer andere Ereignisse innerhalb oder außerhalb des Organismus vorausgehen, welche jene nachfolgenden Bewegungen determinieren, ist eine Frage, der ich hier nicht nachgehe. 1 3 Vielmehr genügt mir ein Verständnis von Selbstbewegern als Gefügen von Bewegungen oder Aktivitäten, die sich dadurch auszeichnen, daß sie sich - gegebenenfalls durch Selbststeuerung - als dieses jeweilige Gefüge selbst
»autopoietische Systeme« nennen. Ein selbstherstellendes System sei »ein thermodynamischer, stoffwechselnder Prozeß mit einem autonomen Rand« (1989: 207). Ein selbst erhaltendes System wiederum sei »ein selbstherstellendes System, das auf Dauer in einer fluktuierenden Umwelt existieren kann, obwohl die Fluktuationen permanent seinen Rand und seine internen Strukturen lokal destruieren« (1989: 209): Selbsterhaltende Systeme sind »berandete makroskopische Prozesse [...], die thermodynamischen Fluktuationen ausgesetzt sind und sich dennoch aufgrund ständiger materieller und energetischer Erneuerung dauerhaft erhalten können« (1989: 210). 12 S. Kauffman 1995: vii, 8,25 und öfter. 13 Siehe hierzu aber auch unten den Abschnitt 5.1.3.3 sowie ferner 10.2.4.
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3. Herausgreifen von Organismen
erhalten können (etwa dadurch, daß sie sich benötigtes Material eigenständig beschaffen, es aufnehmen und verarbeiten können). Die Idee hierbei ist nicht die eines spontanen, selbständigen Bewegungsanfangs, sondern die der Fähigkeit zur selbständigen Regulierung und Erhaltung.
3.2.3 Reorganisation: Was wird erzeugt? Selbstorganisation ist ein Reorganisieren einer vorhandenen Struktur. Reorganisation impliziert Reproduktion. Was hier, in gewisser Hinsicht, hergestellt wird, sind Bestandteile, die ausgeschiedene Bestandteile ersetzen sollen. In bezug auf Art und Menge des erforderlichen Ersatzes gibt es »Vorgaben«, denen ein Programm zur geregelten Ersatz-Produktion entspricht. Es sind also bestimmte Strukturen (in einer näher zu bestimmenden Weise) vorhanden, denen die neu zu produzierenden Bestandteile entsprechen müssen. In traditioneller Redeweise könnten wir sagen, daß die Form, in einer bestimmten Weise, existiert, aber stets aktualisiert oder verwirklicht werden muß. Weniger traditionell gesprochen würden wir sagen, daß die Interaktionen der vorhandenen Komponenten des vorliegenden Systems komplexen gesetzesartigen Relationen entsprechen, so daß bei bestimmten äußeren Vorgaben und bei Vorliegen des entsprechenden Programms bestimmte Teile erzeugt und in eine bestimmte Stelle in der vorgegebenen Struktur eingesetzt werden. Die Anknüpfungsmerkmale der Struktur sind die Einsetzungsbedingungen für die Teile. In beiden Fällen - der traditionellen Theorie von Form und Materie ebenso wie der Theorie, die von Komplexitätsgesetzen ausgeht - liegt in einer bestimmten Weise eine Struktur vor, der die zu produzierenden Bestandteile entsprechen müssen. N u r unter Berücksichtigung dieser Entsprechung werden die in Frage stehenden Bestandteile »neu« geschaffen. Es wird etwas geschaffen, das einen bestimmten Platz einnehmen kann: Es werden - sofern es um die Reorganisation als solche geht nicht neue Plätze, d. h. Strukturen oder Strukturelemente geschaffen. Allerdings treten nun zwei Probleme auf, nämlich (1) zum einen das Problem, das sich durch den scheinbar allgemeinen Charakter der Einsetzungsbedingungen ergibt; und (2) das Problem, das sich für die Reproduktion im Fall einer sich verändernden Struktur ergibt. (1) Dem zuerst genannten Problem zufolge scheint die Schwierigkeit zu bestehen, daß allem Anschein nach Allgemeinem-wie es Einsetzungsbedingungen sind - kausale Relevanz zugewiesen wird. N u n kann aber die in Frage stehende Struktur nicht eine Anordnung von Typen selbst sein, da Typen nur einen logischen Raum einnehmen und nur in ihm in Verhältnissen zueinander stehen. Typen sind nicht kausal wirksam.
3.2 Organismen als Selbstorganisierer
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Tatsächlich scheint sich dieses Problem relativ leicht lösen zu lassen. Denn die Einsetzungsbedingung ist nichts anderes als eine Kombination der Umgebungsbedingungen für die Einsetzung, die Umgebungsbedingungen sind aber nur in entsprechenden Instanzen wirksam. Es sind konkrete Strukturelemente, die vorgeben, was an einer bestimmten Stelle eingesetzt werden kann, und es sind konkrete Partikeln, die infolge entsprechender Merkmale eingesetzt werden können (bzw. nicht eingesetzt werden können). Die Rede von einer »Kombination von Umgebungsbedingungen« verlangt nicht, daß Typen miteinander kombiniert würden. Vielmehr ist nur verlangt, daß Tokens bestimmter Typen kausal und raumzeitlich derart aufeinander bezogen sind, daß sie Einsetzungen von Tokens anderer Typen ermöglichen. Die Konzeption von Struktur, die der Rede von Selbstorganisation zugrunde liegt, ist unabhängig von der Frage, ob diese Struktur allgemein oder individuell ist. Sie ist insofern unabhängig, als sich Selbstorganisation in relevanter Hinsicht mit beiden Konzeptionen verbinden läßt und die spezifischen Probleme der Allgemeinheit bzw. der Individualität der Struktur keine Probleme sind, die die Selbstorganisation als solche betreffen. ( O b wir bereit oder genötigt wären, ζ. B. tropes als Strukturelemente anzunehmen, hängt von unserer Beurteilung von tropes ab, nicht von unserer Beurteilung der Selbstorganisation. O b wir andererseits bereit oder genötigt wären, Strukturelemente als Instanzen von Typen anzunehmen, hängt wieder von unserer Beurteilung etwa der Möglichkeit der Instantiation ab, nicht von unserer Beurteilung von Selbstorganisation.) (2) Das weitere Problem für die Annahme einer i?e-Organisation besteht darin, daß die bisherige Beschreibung selbstherstellender Systeme nicht die mögliche Änderung von Systemen oder Strukturen (wie ζ. B. auch von Organismen) erfaßt. Eine solche Änderung kann sich insbesondere dann ergeben, wenn wir - wie eingangs dargelegt - einen sehr weiten Organismusbegriff wählen, nämlich einen Organismusbegriff, dem zufolge ein Organismus - ζ. B. im Fall des Menschen - nicht nur die organischen Teile umfaßt, sondern alle einander zugeordneten Aktivitäten samt den entsprechenden Dispositionen und Teilen. Solche Strukturveränderungen liegen etwa im Fall des Verlustes eines Körperteils oder des Erwerbs neuer Fähigkeiten vor, in anderer Hinsicht aber auch schon beim Wechsel der Aktualisierungen der vorhandenen Vermögen. Wenn wir Individuen ontologisch erfassen wollen, müssen wir auch solche Entitäten zu erfassen versuchen, die sich auf die eben genannte Weise ändern. In der Rede von Organismen als selbstherstellenden Systemen ist dieser Umstand, wie es scheint, nicht berücksichtigt. Selbst wenn die Begriffe der Selbstherstellung oder Selbstorganisation zentral für das Verständnis von Organismen sind, bleibt also ein - den Phänomenen nach entscheidender - Erklärungsrest. Und es ist nicht nur eine Lücke, sondern immerhin der Kern der Auffassung von Organismen
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3. Herausgreifen von Organismen
als Individuen - d. h. als Entitäten, die sich durch Einheit auszeichnen der hier ungeklärt bleibt. Späterhin werde ich vorschlagen, eben diesen Kern durch den Begriff des Kausal- bzw. Funktionsgefüges zu fassen - einen Begriff, der gerade auch dem Umstand der möglichen Veränderung der relevanten Struktur Rechnung tragen soll. Der Gedanke der i?e-Produktion bzw. der Wiener-Herstellung wird hinter dem Gedanken der Selbstherstellung zurücktreten: Es wird in erster Linie darauf ankommen, daß ein Selbstorganisierer seine eigene kausale Geschichte erzeugt - was er auch dann tun kann, wenn diese Geschichte eine starke Veränderung des Selbstorganisierers beinhaltet.
3.2.4 Selbstorganisation und Zweckgerichtetheit Eine weitere Annahme könnte mit der Rede von »Selbstorganisation« verbunden scheinen, nämlich die Annahme einer Zweckgerichtetheit der Organisation. Wenn etwas sich selbst organisiert, so kann dies - so die Annahme - nur dann der Fall sein, wenn das ständige Organisieren auf einen Zweck, nämlich die Herstellung oder Erhaltung der Entität, gerichtet ist. Diese Annahme hätte offenkundig erhebliche ontologische Konsequenzen. Tatsächlich soll sie aber für meine Individuenkonzeption keine Rolle spielen. Das heißt, es soll mit der Wahl des Organismus als Selbstorganisierer weder behauptet noch geleugnet werden, daß ein Organismus etwas zweckmäßig Eingerichtetes sei, und dies soll schon deshalb nicht behauptet oder geleugnet werden, weil uns für die entsprechende Behauptung oder Leugnung das Fundament fehlt. Damit soll andererseits nicht in Abrede gestellt sein, daß die Annahme von Zweckmäßigkeit zumindest heuristischen Zwecken dienen könne. Die Überlegung, wie etwas, das auf natürliche Weise entstanden ist, auf geplante Weise zusammengebaut worden wäre, hilft in vielen Fällen bei der Auffindung bestimmter Strukturen oder Eigenschaften wie auch bestimmter Zusammenhänge.14 Doch das ist ohne ontologische Relevanz.
14 Dieser Einfall ist nicht neu. Kant etwa zufolge ist die Annahme einer Sache als »Naturzweck« Voraussetzung dafür, daß die Idee des Ganzen (dieser Sache) als Grund der Erkenntnis der systematischen Einheit die Form und Verbindung der Teile bestimme (vgl. Kant, KU, § 65, Β 291 [AA V, 373.19-25]). Naturzweck oder zweckmäßige Einrichtung als heuristischer Begriff bzw. Ordnungsbegriff ermöglicht uns erst das Verständnis einer Sache und ihrer Zusammensetzung. Das zweckmäßige Ergebnis wird als etwas betrachtet, das insofern ein »organisiertes und sich selbst o r g a n i s i e r e n d e s
3.2 Organismen als Selbstorganisierer
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3.2.5 Grenzen des Selbstorganisierers W i r sind an der Einheit von Individuen interessiert, und Organismen sollen unsere paradigmatischen Individuen sein. D a es nun bei der Frage nach der Einheit um die Frage geht, was aufgrund welchen Kriteriums zu einem Individuum dazugehört und was nicht, könnte man dies so verstehen, als ginge es um die Frage, welches die Grenzen
eines betrachteten Gegenstands sind. Diese
Annahme wäre aber dann falsch, wenn sie implizierte, daß es vordringlich
um
die Grenzen des Gegenstands geht. Vielmehr werden die Grenzen im Ausgang von den Prozessen der Selbstherstellung bestimmt, d. h. über jenen Bereich, in dem die Aktivitäten, die für die Selbstherstellung der Entität relevant sind, vorkommen. D i e Vordringlichkeit jenes Bezugs auf Grenzen könnte man jedoch in bestimmten Formulierungen selbstorganisations- oder systemtheoretischer Provenienz behauptet finden. So heißt es etwa bei Maturana und Varela: »Autopoietic machines are unities because, and only because, of their specific autopoietic organization: their operations specify their own boundaries in the processes of self-production.«15 U n d bei Luhmann heißt es: »Als Ausgangspunkt jeder systemtheoretischen Analyse hat, darüber besteht heute wohl fachlicher Konsens, die Differenz von System und Umwelt zu dienen. Systeme sind nicht nur gelegentlich und nicht nur adaptiv, sie sind strukturell an ihrer Umwelt orientiert und könnten ohne Umwelt nicht bestehen. Sie konstituieren und sie erhalten sich durch Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Umwelt, und sie benutzen ihre Grenzen zur Regulierung dieser Differenz. Ohne Differenz zur Umwelt gäbe es nicht einmal Selbstreferenz, denn Differenz ist Funktionsprämisse selbstreferentieller Operationen. In diesem Sinne ist Grenztrhaltung (boundary maintenance) Systemerhaltung.«16 W e n n wir annehmen, daß Lebewesen Systeme sind, so ist der Umstand, daß sie Grenzen besitzen und daß sie mit ihrer U m w e l t interagieren, von empirischer, nicht von prioritärer ontologischer Relevanz. In ontologischer Hinsicht scheint es zumindest möglich, daß ein materieller Gegenstand zwar Grenzen besitzt, daß er aber gleichwohl nicht in Interaktion mit seiner U m w e l t steht,
Wesen« ist, als jeder Teil so gedacht wird, als sei er durch alle übrigen da, als existiere er um ihrer und um des Ganzen willen und als bringe er die anderen Teile hervor (ebd.: Β 29If. [AA V, 373.35-374.8, zit. 374.6f.]). 15 Maturana / Varela 1980: 81. 16 Luhmann 1984: 35.
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3. Herausgreifen von Organismen
ζ. B. dann, wenn es keine Umwelt gibt. Die Bestimmung der Grenzen des Selbstorganisierers hängt von der Bestimmung der Zugehörigkeit der Aktivitäten bzw. Teile ab, die für die Selbstorganisation relevant sind. Die Erhaltung der Differenz erscheint somit als eine Folge der Organisation des Gegenstandes, nicht aber als ein constituens. Daß Systeme sich durch »Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Umwelt« konstituieren und erhalten, trifft bei (und nur bei) Beschreibungsindifferenz zu: Das heißt, es trifft nur zu, wenn bestimmte Interaktionsprozesse, die das System konstituieren, als beschreibbar auch in Begriffen ihrer Folge, nämlich der Differenzkonstituierung, aufgefaßt werden. Dies führt uns auf einen Punkt zurück, der bereits in der Einleitung hervorgehoben wurde: Unter den drei Fragen, die sich zur Individuationsproblematik ergänzen, nämlich den Fragen der Einheit, der Verschiedenheit und der Identität, spielt üblicherweise die Frage nach der Einheit des Individuums nicht die wichtigste Rolle. Dennoch hängt die Klärung der Identitätsbedingungen und eben auch die der Verschiedenheitsbedingungen wesentlich von der Klärung der Einheitsbedingungen ab.17
3.3 Zirkel des Zugriffs? Nach der Behandlung dieser Vorannahmen über den herauszugreifenden Gegenstand ist noch einmal auf Probleme des Herausgreifens als solchen zurückzukommen, und zwar im speziellen Zusammenhang der Behandlung materieller Gegenstände. Hierbei geht es näherhin um die Möglichkeit des Herausgreifens angesichts des Problems, daß das Herausgreifen ein Zugreifen auf einen bestimmten Gegenstand in begrifflicher Hinsicht ist, daß dabei aber an begrifflichen Verhältnissen zumeist schon vorausgesetzt wird oder zu werden 17 Damit läßt sich auch die Annahme einordnen, der zufolge Ränder (eines Systems) bzw. Randkriterien gesetzt (d. h. vom Wissenschaftler gewählt) werden, und zwar nur nach Zweckmäßigkeitskriterien, so daß die gewählten Randbedingungen für die Konstruktion eines Systems »keinerlei besonderen ontologischen Status im Hinblick auf >Autonomisierung< von Systemen« haben (Schwegler 1992: 47f.). Ränder haben die autonomisierende Wirkung tatsächlich nicht - wenn auch aus anderen Gründen nicht. Ränder sind vielmehr die Folge von Strukturen, die sich aufgrund der (beobachtbaren) Interaktion der Teile durch Selbständigkeit auszeichnen. S. a. An der Heiden et al. (1989: 217): »Die funktionale und operationale Einheit und Geschlossenheit selbsterhaltender Systeme und ihrer Träger (dies sind im Falle des Lebens die Organismen) begründet eine bemerkenswerte >Eigengesetzlichkeit< dieser Systeme, die wir als Autonomie bezeichnen wollen.«
3.3 Zirkel des Zugriffs?
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scheint, was erst noch zu gewinnen wäre. So scheinen wir ζ. B. beim Herausgreifen von natürlichen Gegenständen einen Begriff der Einheit vorauszusetzen - und zwar notwendigerweise vorauszusetzen - , der erst noch zu entwickeln wäre. Diesepetitio bezeichne ich als »methodologischen Zirkel« (3.3.1). E i n daran anschließendes methodologisches Problem ergibt sich dadurch, daß wir beim Zugriff auf Phänomene, die materiellen Gegenständen entsprechen, auf etwas zugreifen, das als ein Einheitliches oder als ein Ganzes verstanden wird, das Teile hat. Das Problem besteht hier darin, daß wir zugleich auf ein aus Teilen bestehendes Ganzes zugreifen wie auch auf Teile, die Teile eines Ganzen sind. Was, so ist zu fragen, ist der Ansatzpunkt unseres Herausgreifens? D e r entsprechende Zirkel soll im folgenden »mereologischer Zirkel« heißen (3.3.2). Auf diese beiden Zirkel komme ich nun zu sprechen, und zwar zunächst auf den methodologischen Zirkel.
3.3.1 Ein methodologischer Zirkel? E i n Beispiel für einen methodologischen Zirkel findet sich - jedenfalls dem ersten Anschein nach - bei Maturana. D e r Zirkel scheint darin zu bestehen, daß eine Einheit das ist, worauf wir zugreifen, daß die Einheit zugleich aber durch unser Zugreifen entsteht. 1 8 So definiert Maturana das, worauf wir zugreifen, nämlich die autopoietische
(oder: selbstherstellende) Organisation,
wie folgt:
»Die autopoietische Organisation wird als eine Einheit definiert durch ein Netzwerk der Produktion von Bestandteilen, die 1. rekursiv an demselben Netzwerk der Produktion von Bestandteilen mitwirken, das auch diese Bestandteile produziert, und die 2. das Netzwerk der Produktion als eine Einheit in dem Raum verwirklichen, in dem die Bestandteile sich befinden.«19 18 Die vermeintlichen Probleme entstehen hier im übrigen nicht durch eine herkömmliche K»i'f-«w£;y-Verwechslung: Es geht nicht um Einheit im Sinn von »unit«. Ferner entstehen die Probleme nicht durch eine ««zf;y-»»!£;y-Verwechslung, wonach »unity« zum einen eine Entität bezeichnet, die sich durch Einheit auszeichnet, zum anderen eine Eigenschaft dieser Entität. 19 Maturana / Varela / Uribe 1982: 158. Die etwas dunkle Formulierung (»F wird als G durch Η definiert«) kann entweder besagen, daß die autopoietische Organisation eine bestimmte Einheit ist, nämlich jene Einheit, die durch ein Netzwerk gebildet wird, das in der Produktion von Bestandteilen besteht. Oder sie kann besagen, daß die autopoietische Organisation, insofern sie eine Einheit ist, als Netzwerk (etc.) definiert wird (vgl. auch Maturana 1982a: 141). Wenn ich solche Ungenauigkeiten hier weitgehend ignoriere, dann nur deshalb, weil es mir um die Frage nach einem konstruktiv verwendbaren Kern der Konzeption geht. Maturana schreibt im übrigen Selbstorganisa-
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3. Herausgreifen von Organismen
Einheit fungiert hier als Definiens der autopoietischen Organisation. Einheit wird ihrerseits wiederum wie folgt definiert: »A unity is any entity (concrete or conceptual) separated from a background by a concrete or conceptual operation of distinction.« 20
Maturana versteht Einheiten (im Sinn von »unities«) als Entitäten, die durch unseren Zugriff gegenüber einem Hintergrund unterschieden werden. Zugleich aber war Einheit etwas, worauf wir zugreifen, und genauer: Sie war dasjenige, wodurch autopoie tische Organisation definiert ist. Demnach greifen wir auf etwas zu, und durch diesen Zugriff entsteht eine Einheit; andererseits greifen wir auf ein autopoietisches System zu, das - als Netzwerk, nicht wegen unseres Zugriffs - eine Einheit ist, und wir greifen darauf zu, weil es eine Einheit ist. Kurz: Der Zugriff konstituiert die Einheit, die Einheit ist Grundlage für den Zugriff, oder: keine Einheit ohne Zugriff, kein Zugriff ohne Einheit. Ich spitze diesen Zirkel zu, um Maturanas Zugang deutlicher davon abheben zu können. Maturana scheint nämlich nur darauf hinweisen zu wollen, daß unser epistemischer Zugriff auf Einheiten, d. h. auf Entitäten, die sich durch Einheit auszeichnen, phänomenbezogen und begrifflicher Art ist. In aller Regel unterscheiden sich die Vorgänge, die im Fall solcher Entitäten - und damit auch im Fall von Selbstorganisierern - gegeben sind, phänomenal von ihrer Umgebung. Und diese prima facie Unterschiede lassen sich auch begrifflich fassen.
tion, Selbstregulierung oder Selbststeuerung Zellen ebenso wie Lebewesen zu. Allerdings sei ein Lebewesen ein autopoietisches System »höherer Ordnung«, d. h. ein »System, dessen Autopoiese die Autopoiese der es realisierenden gekoppelten autopoietischen Einheiten notwendig bedingt« (Maturana / Varela 1982: 212). 20 Maturana 1975: 315 (mit meiner Korrektur von »of« zum zweiten »or« - s. a. Maturana 1982a: 139). Vgl. ferner die Definition von »unity « im Glossar zu Maturana / Varela 1980:138: »that which is distinguishable from a background, the sole condition necessary for existence in a given domain. The nature of a unity and the domain in which the unity exists are specified by the process of its distinction and determination; this is so regardless of whether this process is conceptual or physical.« Die angeführten Definitionen umfassen vermutlich zu vieles: Selbst wenn sie sich - wegen entity - nur auf Dinge beziehen, umfassen sie nämlich noch immer auch jeden beliebigen unterscheidbaren Haufen (Blätterhaufen, Seen, Wolken, etc., und bei Einschluß nicht nur von Dingen ζ. B. auch Geräuschcluster), d. h. alles, was von seiner Umgebung unterscheidbar ist. Haufen aber sind Aggregate, keine Einheiten. Der möglichen Entgegnung, die Bestimmung von Einheit sei notwendig allgemein gehalten, da jede Art von Einheit unter diese Bestimmung fallen soll, ist hier mit dem Hinweis auf den Unterschied von Allgemeinheit einer Bestimmung und ihrer Unterbestimmheit zu antworten: Unterbestimmtheit liegt vor, wenn zu vieles erfaßt wird; Allgemeinheit der Bestimmung liegt vor, wenn mehreres - idealerweise: das Gewünschte - erfaßt wird.
3.3 Zirkel des Zugriffs?
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Maturanas oben angeführte Definition von »unity« ist offenkundig pragmatischer Art, nämlich insofern, als »unity« über eine »operation of distinction« erfaßt wird. Erst in den danach zitierten Passagen versucht Maturana das zu bestimmen, wodurch Einheit sich auszeichnet. 21 Das aber entspricht, jedenfalls in einer wichtigen Hinsicht, dem oben geschilderten Verfahren des Herausgreifens: Herausgreifen war dort ein Zugreifen auf einen Gegenstand, nicht aber die ontologische Behandlung dieses Gegenstands. A u f Individuen, d. h. »Einheits-Besitzer«, greifen wir zunächst aufgrund von Phänomenen zu, ohne mit diesem Zugriff schon etwas über die Konstitution der Einheit zu sagen. Es trifft sich eben für Entitäten, die sich durch Einheit auszeichnen, daß sie auf eine bestimmte Weise herausgegriffen werden - was aber nicht heißt, daß sie dadurch k o n s t i t u i e r t würden. Demnach hätte nur die eine Hälfte des Zirkels Bestand, nämlich die Abhängigkeit des Herausgreifens vom Vorliegen von Einheit. Das Bestehen von Einheit hinge hingegen nicht von einem Herausgreifen ab. Vielmehr ist etwas dann eine Entität, die sich durch Einheit auszeichnet, wenn eine bestimmte Interaktion der Komponenten vorliegt. So heißt es etwa auch bei Maturana:
21 Nicht überall läßt sich eine so vergleichsweise glatte Interpretation Maturanas geben. So meint er anderenorts etwa, daß eine »unity may be treated as [1] an unanalyzable whole endowed with constitutive properties, or [2] as a composite entity with properties as a unity that are specified by its organization and not by the properties of its components« (Maturana / Varela 1980: 138, meine Numerierung). Hier wäre u. a. zu klären, ob die Disjunkte [1] und [2] im alle Einheiten zutreffen sollen oder ob auf jede Einheit eines oder höchstens eines der beiden Disjunkte zutrifft. Ferner, und speziell zu [1]: Was heißt es, daß etwas »nicht-analysierbar« ist? Daß der Begriff, unter den es fällt, keine Teile hat? Daß es prinzipiell nicht in Bestandteile zerlegbar ist? Daß es für uns nicht in Bestandteile zerlegbar ist? Und wie kann etwas ein nicht-analysierbares Ganzes sein und zugleich mit konstitutiven Eigenschaften versehen sein? Zumindest sofern das Ganze diese Eigenschaften besitzt, scheint es doch analysierbar zu sein. Wenn wir in einem bestimmten Fall von »Einheit« sprechen, müßten wir dafür plausible Gründe angeben können: Wir können nicht plausiblerweise behaupten, etwas sei eine Einheit, und es zugleich als black box behandeln. Und zu [2]: Die Formulierung dieses Disjunkts ist wegen zweimaligem »as« sprachlich unklar. In der (autorisierten) deutschen Übersetzung lautet der entsprechende Passus: »Eine Einheit kann [...] als ein zusammengesetztes Gebilde [behandelt werden - F. B.], das als Einheit Eigenschaften aufweist, die durch seine Organisation und nicht durch die Eigenschaften seiner Bestandteile bestimmt sind« (Maturana 1982a: 139). Ist nun gemeint, daß etwas »als Einheit Eigenschaften aufweist« (so die deutsche Version) oder daß etwas Eigenschaften besitzt, die eine Einheit bilden (so im Anschluß an die englische Version)? Beide Versionen sind erläuterungsbedürftig. In jedem Fall ist es nicht hilfreich, daß der Ausdruck »unity« in der Erläuterung zum Begriff unity verwendet wird.
3. Herausgreifen von Organismen
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»The organization of a composite system constitutes it as a unity and determines its properties as such a unity, specifying a domain in which it may interact (and be treated) as an unanalyzable whole. [...] [W]henever the organization of a unity changes the unity changes, it becomes a different unity«.22 U n d weiter: »The unity, the whole, is the result of the interactions of the components through the realization of the organization that defines it«.23 Demnach kommt Einheit durch Interaktion zustande. Organisation konstituiert ein System als eine Entität, die Einheit besitzt. 2 4 Einheit ist etwas, das es in der Welt und unabhängig von unserem Zugriff gibt.
3.3.2 Herausgreifen trotz mereologischen Zirkels? D e r zweite der zu behandelnden Zirkel, nämlich der mereologische Zirkel, besteht darin, daß wir sowohl auf Teile wie auch auf etwas Ganzes zugreifen, Teile und Ganzes aber wechselseitig definiert sind: D i e Teile einer Sache (ζ. B . eines Organismus) sind vom Ganzen her zu bestimmen, das Ganze dieser Sache wird hingegen durch die Teile konstituiert. 2 5 Auf den Fall des Organismus übertragen heißt dies, daß ein Organismus aus Teilen (ζ. B. Organen) besteht und daß die Teile, aus denen er besteht, eben die Teile des Organismus sind. Ein H e r z zum Beispiel, das nicht Teil eines Organismus ist, ist nur im homonymen Sinn des Wortes ein Herz, und nur als Teil eines Organismus wäre es tatsächlich ein Herz; ein Organismus aber ist etwas, das Teile - wie ζ. B. ein H e r z - besitzt. 2 6 W o kann hier das Herausgreifen ansetzen?
22 Maturana 1975: 316. 23 Maturana 1975: 324. 24 S. a. Maturana 1982a: 140f., 149. 25 An der Heiden et cd. zufolge ist es möglich, »daß ein selbstherstellendes System gar nicht aus identifizierbaren Komponenten besteht« (1989: 213). Auch das befreite uns allerdings noch nicht vom in Frage stehenden Zirkel. Denn für dessen Bestehen genügt es anzunehmen, daß es in einem bestimmten Fall Teile gibt. 26 Das Herz-Beispiel ist zu modifizieren. Denn man könnte einwenden, daß ein Herz aus einem Organismus ζ. B. herausgenommen, unter geeigneten Bedingungen vorübergehend gelagert und dann demselben oder auch einem anderen Organismus wieder eingepflanzt werden kann. Es wäre - so der Einwand - nicht einzusehen, weshalb jenes Herz während seines Getrennt-Seins vom Körper nicht ein Herz im eigentlichen Sinn des Wortes sein sollte. Das Herz, von dem im Einwand die Rede ist, bleibt - so die
3.3 Zirkel des Zugriffs?
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Wenn wir mit diesem Zirkel konfrontiert werden, dürfen wir uns nicht schon davon irritieren lassen, daß ein Organismus Teile auf verschiedenen Ebenen der Betrachtung hat, wie ζ. B. Organe, Zellen etc. Ferner dürfen wir uns nicht davon irritieren lassen, daß ein und derselbe Materieverbund Teil des Organismus unter Umständen in verschiedener Hinsicht sein kann, nämlich dann, wenn dieser Materieverbund verschiedenen Funktionen zugrunde liegt. Und schließlich dürfen wir uns nicht davon irritieren lassen, daß sich der mereologische Zirkel auch auf andere Ebenen des Organismus übertragen läßt, nämlich ζ. B. auf die Ebene von Herzmuskel und Herzmuskelzelle (etwa: ein Herzmuskel ist etwas, das bestimmte Teile besitzt, ζ. B. Herzmuskelzellen; eine Herzmuskelzelle ist aber Zelle und Teil eines Herzmuskels). Zu beachten ist bei dieser Übertragung nur, daß die Teile beider Ebenen wiederum Teile des Organismus sind. Alle diese Punkte betreffen nicht den Zirkel als solchen. Nehmen wir nun zwei Ebenen an, nämlich die des Organismus und die beliebig gewählte Ebene von Teilen des Organismus, so läßt sich der mereologische Zirkel nun nicht durch einen Hinweis auf, oder ein Argument für, die Priorität einer der beiden Ebenen auflösen: Für den Zirkel als solchen ist es etwa auch unerheblich, ob wir eine holistische oder emergentistische Auffassung von Organismen haben oder eine reduktionistische Auffassung. Denn selbst wenn wir einmal annehmen, daß das Ganze Priorität besitze, so ist es dennoch etwas, das aus Teilen besteht. Von Teilen bzw. den Entitäten, die dann Teile sein sollen, kann ich andererseits wiederum nur ausgehen, wenn ich sie als Teile von etwas betrachte. Ich komme auf zwei Versuche der Zirkelvermeidung zu sprechen. (1) Zum einen gehe ich kurz auf Bertalanffys Versuch ein, dem Zirkel mittels Hinweis auf einen »Stufenbau« des relevanten Systems zu entgehen. (2) Dann komme ich auf einen Versuch zu sprechen, der den Zirkel durch einen externen Zugriff aufbricht. (1) Für seinen Versuch, den Zirkel zu vermeiden, definiert Bertalanffy den (lebenden) Organismus wie folgt:
Modifikation - während des Herausgenommen-Seins ein potentieller Teil, und zwar so lange, wie seine Funktionalität besteht. Der Punkt, auf den es oben ankommt, ist aber ein anderer, nämlich daß das Herz - ob aktualer oder potentieller Teil - als das, was es ist, auf einen Organismus mit bestimmten Eigenschaften bezogen ist. Daß das Herz nicht losgelöst von einem geeigneten Organismus besteht, hängt damit zusammen, daß ein Herz eben nicht nur eine Gesamtheit von Röhren, Klappen oder Gewebe ist. Vielmehr ist ein Herz etwas, das bestimmte Funktionen erfüllt oder zumindest erfüllen kann.
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3. Herausgreifen von Organismen »Ein lebender Organismus ist ein Stufenbau offener Systeme, der sich auf Grund seiner Systembedingungen im Wechsel der Bestandteile erhält.«
»Stufenbau« bezeichnet die traditionell angenommene Schichtung verschiedener Ebenen (subatomar, atomar, molekular etc.). »Offenes System« bezeichnet ein System, das im Materieaustausch mit der es umgebenden Welt steht. 2 Bertalanffy legt nun Wert auf die Feststellung, daß die von ihm gegebene Definition nicht zirkulär sei.29 Trifft das zu? Wenn die Definition nicht zirkulär sein soll, darf sie nicht auf den Begriff des Organismus zurückgreifen - dann aber auch nicht auf den Begriff des Bestandteils: Denn was wäre ein Teil, wenn nicht ein Teil von etwas? Auch aus einem anderen Grund stellt sich die Definition als zirkulär dar. Bertalanffy definiert den Organismus als einen »Stufenbau offener Systeme«. Damit diese Definition brauchbar ist, muß klar sein, was als »Stufe« gilt und wie die einzelnen Stufen zusammenhängen. Nehmen wir an (wie es Bertalanffy anzunehmen scheint), eine Stufe sei eine bestimmte Ebene, deren materielle Bestandteile so ausgetauscht werden (oder: sich so austauschen), daß die Ebene eine bestimmte Persistenz aufweist. Dann wäre diese Erklärung einer Stufe zumindest verdeckt zirkulär, nämlich insofern, als sie auf dem Begriff der Selbsterhaltung beruht. U m zu wissen, was unter den Begriff »selbsterhaltend« fällt, müssen wir wissen, wie wir jenes »selbst« bestimmen können: Was gehört zu Bertalanffys »Stufe« oder »Ebene« und was nicht? (2) Wie im Fall der scheinbarenpetitio des zuvor erörterten methodologischen Zirkels können wir auch den mereologischen Zirkel nicht mit den durch ihn selbst gegebenen Mitteln auflösen. Für die Beantwortung der Frage, worin die Einheit eines Individuums, das ein materieller Gegenstand ist, besteht, können wir aber zumindest wieder einen epistemischen Zugang zu den relevanten Entitäten und Teilen herstellen. Wieder gehen wir von bestimmten Phänomenen aus, die in ihrer Verbindung eine gewisse Persistenz und Regelmäßigkeit aufweisen, d. h. wir wählen wieder einen Zugang im Ausgang von Phänomenen, und versuchen dann, die ontologische Struktur zu fassen, die diesen Phänome-
27 Bertalanffy 1949: 124. 28 Bertalanffy selbst hält die Definition, wiewohl für »wissenschaftlichf..]«, so doch für »sicher nicht erschöpfend« (1949:124). Berücksichtigt werden müsse ferner der »historischef..] Charakter« lebender Systeme (ebd.). Damit bezieht sich Bertalanffy auf den Umstand, daß ein Organismus nicht als etwas auf einen bestimmten Zeitpunkt Eingeschränktes zu betrachten ist, sondern daß er »Züge der früheren Geschichte nicht nur seiner individuellen Existenz, sondern auch der Geschichte der Generationen, von der e[r] herstammt«, trägt (ebd.: 107). 29 S. Bertalanffy 1949: 124.
3.3 Zirkel des Zugriffs?
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nen am besten entspricht. Die Phänomene sind der externe Bezugspunkt für den Zirkel und dessen Elemente, und zwar die Phänomene insgesamt, d. h. das strukturierte Gefüge von Phänomenen, das sich als Gefüge von gewisser Persistenz und Regelmäßigkeit von umgebenden Phänomenen abgrenzt: Der Gegenstand des Herausgreifens ist sowohl das Ganze (jenes Gefüges) wie auch dessen Teile (die Differenzen im Gefüge). (Daß der Ausgang von Phänomenen im übrigen eine komplexere Angelegenheit ist, als es diese Skizze zu erkennen gibt, ist schon weiter oben bemerkt worden.) Nun könnte man jedoch einwenden, daß wir - wenn wir auf diese Weise zwar einen Zugriff auf Individuen und ihre Teile gewonnen haben - immer noch mit den Ergebnissen des Herausgreifens zu tun haben, nämlich eben mit Individuen und ihren Teilen. Und sobald wir uns auf ontologischer Ebene befinden, sehen wir uns wieder mit dem Zirkel zwischen Teil und Ganzem konfrontiert. Das Herausgreifen glückte vielleicht noch, das begriffliche Fassen des Herausgegriffenen aber gelingt nicht mehr, jedenfalls nicht zirkelfrei. Und tatsächlich könnte eine zirkelfreie Definition von Teil und von Ganzem auch nicht gelingen.30 Doch sind diese Definitionen im vorliegenden Zusammenhang auch nicht das Ziel. Für die Rede von Teil und Ganzem genügt die Veranlassung durch den empirischen, phänomenalen Befund. Auf der ontologischen Ebene geht es hingegen um die Frage, welches Kriterium sich für die Zugehörigkeit des Teils (d. h. dessen, was auf phänomenaler Ebene Teil ist) zum Ganzen entwickeln läßt. Dieses Kriterium des Dazugehörens ist auf der ontologischen Ebene der Bezugspunkt für den Zirkel und dessen Elemente. Dieser Bezugspunkt ist nun die Selbständigkeit der Entität: Von ihr her bestimmt sich auf ontologischer Ebene, was ein Teil ist und was das Ganze ist. Der mereologische Zirkel steht so zwischen dem Zugriff auf der Grundlage des phänomenalen Kriteriums beobachtbarer Regelmäßigkeit und Persistenz und dem Zugriff auf der Grundlage des ontologischen Kriteriums der Selbständigkeit. Der Zirkel wird zwar nicht aufgelöst, doch ist er greifbar, sofern seine Pole zwischen das phänomenale und das ontologische Kriterium »eingespannt« sind. Da der Zirkel nicht aufgelöst wird, bleibt jedoch die Frage, wie wir isoliert über Teile sprechen können, ohne dabei zu vergessen, daß es Teile sind. Hierfür
30 Die Wechselseitigkeit der Bestimmung findet sich etwa schon in Aristoteles' Bestimmung von »Teil« und »Ganzem«. Danach ist Teil u. a. das, wohinein das Ganze zerlegt werden kann oder woraus es sich zusammensetzt (Met. V 25, 1023bl9f.), das Ganze hingegen ist das, wovon kein Teil, aus dem es seiner Natur nach besteht, fehlt (Met. V 26,1023b26f.). S. a. die Wechselseitigkeit der Bestimmung von »Organismus« bzw. »Organismen« und »Organ« im Lexikon der Biologie (Sauermost / Freudig 2002: X 276f.).
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3. Herausgreifen von Organismen
ist, im Fall der Rede von Teilen, auf der ontologischen Ebene der Umstand relevant, daß wir von ihnen isoliert reden können, ohne daß dadurch ihre Selbständigkeit oder Getrenntheit suggeriert würde (oder werden müßte). Wenn wir ζ. B. von der Lunge als einem Teil sprechen, genügt es, wenn wir sie als etwas verstehen, das für den Gasaustausch »zuständig« ist. Das heißt, es genügt zu wissen, wofür sie zuständig ist, und für die Diskussion auf der ontologischen Ebene genügt es meist sogar schon zu wissen, daß sie für etwas zuständig ist. Selbst wenn wir in manchen Fällen wissen wollen, warum ein Teil wie die Lunge tut, was er tut, und selbst wenn wir für die Beantwortung auf die funktionale Umgebung jenes Teils blicken müssen, werden wir hier meist mit einem Schritt oder mit wenigen Schritten zufrieden sein. Eine Erklärung der Tätigkeit der Lunge, die auf die Verschmelzung der Keimzellen zurückgeht, wäre ebenso nutzlos wie die, wonach sie tut, was sie tut, weil dies zum guten Leben beiträgt. Selbst wenn wir also für die Erklärung der Tätigkeit der Lunge auch auf unmittelbare »Nachbarfunktionen« zurückgreifen, so greifen wir doch nicht auf die Gesamtheit des Funktionsgefüges zurück. Die Beschreibung enthält wie die beschriebene Sache - Leerstellen oder Synapsen, an die die Funktionen anderer Träger anknüpfen. Ein Organismus wäre dann dasjenige, in dem diese Leerstellen oder Synapsen gefüllt sind: Für die Beschreibung des Teils / wird jedoch lediglich angenommen, daß es, neben /, einen »Rest-Organismus« gibt, d. h. eine Art black box, deren Input und Output zu den Synapsen von l paßt. Mit der Beschreibung von l wird nicht die Bestimmung davon vorausgesetzt, was das Ganze ist, dessen unselbständiger Teil l ist. Mit der Annahme der Unselbständigkeit wird aber zugleich angenommen, daß l ein Teil von etwas ist. Auf diese Weise können wir über unselbständige Teile ohne Bezug auf das zugehörende Ganze sprechen, ohne zugleich das Ganze auf die Teile selbst zu reduzieren. Die Rede von Teilen ist in jener isolierten Betrachtung fernerhin auch deshalb möglich, weil sie nicht so gemeint ist oder gemeint sein muß, als seien wir in der Lage, aus Teilen das entsprechende Ganze zusammenzusetzen unabhängig davon, ob wir annehmen, das Ganze sei mehr als seine Teile, oder ob wir das nicht annehmen. Wäre sie so gemeint, würden wir uns eine Fähigkeit zu komplexer Kombination zuschreiben, die wir de facto nicht besitzen.31 Man könnte zwar meinen, daß wir, wenn wir Teile isoliert betrachten, auch in der Lage sein sollten, sie zum Ganzen zusammenzusetzen. Doch wir betrach-
31 Vgl. McLaughlin 1989: 143, 150, mit Verweis auf Kant, KU, § 75, Β 337f. (AA V, 400.13-21).
3.4 Zur Verwendung von »Teil«
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ten sie auch als isolierte Teile nur zusammen mit ihren Fähigkeiten oder Eigenschaften, die sie mit dem Gefüge, das das Ganze ist, verbinden. U m von »Selbstorganisation« und von »Organismus« sprechen zu dürfen, ist nicht verlangt, daß wir die Zugehörigkeitseigenschaften der Teile und deren Art der Kombination a prion bestimmen können. Was verlangt wird, ist lediglich ein Kriterium - wie eben das des Beitrags zur Selbständigkeit - , anhand dessen sich angeben läßt, ob ein gegebener Teil, der als Phänomen zum Gefüge von Phänomenen gehört, die einem gegebenen Organismus zuzuordnen sind, auch ontologisch zu jenem Gefüge gehört.
3.4 Zur Verwendung
von »Teil«
Über das Gesagte hinaus sind noch einige allgemeine bzw. zusammenfassende Bemerkungen zu meiner Rede von »Teilen« angebracht. Drei Punkte hebe ich hier hervor. Der erste Punkt betrifft den Zuschnitt von Teilen (3.4.1). Der zweite Punkt betrifft die kategorial liberale Verwendung von »Teil« (3.4.2). Der dritte Punkt betrifft schließlich die Frage der Annahme temporaler oder temporärer Teile (3.4.3). Meine Bemerkungen zu diesen Punkten haben nur die Aufgabe einer Orientierung.
3.4.1 Der Zuschnitt der Teile Zum ersten Punkt, nämlich dem Zuschnitt von Teilen. Angenommen, wir haben es mit materiellen Entitäten zu tun: Was gilt in diesem Fall als Teil? Drei Unterpunkte sind hier relevant: die »Echtheit« (1), die Funktionalität (2) und die Transitivität des Teil-Seins (3). (1) Zum ersten meine ich mit »Teil« nur einen echten Teil. Die reflexive Beziehung, in der etwas von sich selbst Teil ist, berücksichtige ich nicht weiter. (2) Mit »Teil« beziehe ich mich ferner, sofern es um materielle Teile geht, nur auf nicht-willkürliche Schnitte, nämlich auf Funktionseinheiten. Das heißt, ich beziehe mich hier mit »Teil« etwa nicht auf eine Hälfte eines längs durchtrennten Organismus, bei dessen Durchtrennung auch Funktionseinheiten durchschnitten werden. Das heißt nicht, daß jene Hälfte nicht Teil eines Organismus wäre. Es heißt nur, daß meine Rede von »Teilen« sich grundsätzlich auf Funktionseinheiten beschränkt, bei denen es plausibel ist, davon zu sprechen, sie leisteten einen Beitrag für den Erhalt oder die Selbständigkeit des Organismus. Analog gilt dies auch für Fähigkeiten, Dispositionen oder Aktivitäten: Auch hier sollen prinzipiell nur Funktionseinheiten gemeint sein.
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3. Herausgreifen von Organismen
Nun leisten in gewisser Hinsicht zwar auch die Körperhälften einen Beitrag zum Erhalt des Organismus: Würde eine Körperhälfte weggenommen, hörte der Organismus auf zu bestehen. Doch läßt sich die Bevorzugung von Funktionseinheiten gegenüber willkürlichen Schnitten damit rechtfertigen, daß sich das Teil-Sein der willkürlichen Schnitte dem Teil-Sein der Funktionseinheiten verdankt: Wollte man angeben, worin der Beitrag eines willkürlichen Schnitts, der nicht mit einer Funktionseinheit deckungsgleich ist, besteht, müßte man auf die Funktionseinheiten, die er umfaßt, zurückgreifen. Umgekehrt müßte die Bestimmung des Beitrags der Funktionseinheiten nicht auf den Beitrag jenes willkürlichen Schnitts zurückgreifen. Mit der Beschränkung auf Funktionseinheiten ist man näher an der Bestimmung des Teil-Seins, wenn dieses im Beitrag-Leisten begründet ist. Zugleich geht mit der Nicht-Berücksichtigung von willkürlichen Schnitten keine relevante Information verloren. Und schließlich hat die Einschränkung auf Funktionseinheiten den Vorteil, daß Teile nicht in Beziehung zu unmittelbaren Umgebungen gesetzt werden müssen, die selbst weder der ganze Organismus noch Funktionseinheiten dieses Organismus sind. (So muß ζ. B. das Herz nicht als Teil jener willkürlich geschnittenen Körperregion angesehen werden, die etwa einem Quader entspricht, in den sich das Herz geometrisch einschreiben läßt. Man kann das Herz zwar als Teil jener Region ansehen. Doch läßt sich diese Region ihrerseits teils vollständigen, teils unvollständigen Funktionseinheiten des Organismus zuordnen - nämlich dem Herz und hier unvollständigen angrenzenden Teilen - , und ihr Teil-Sein beruht auf dieser Zuordnung.) Es scheint nun, als ließe sich diese Bevorzugung von Funktionseinheiten gegenüber willkürlichen Schnitten nur dort durchhalten, wo es Funktionseinheiten gibt, und als verliere sie etwa auf einer molekularen Ebene an Plausibilität. Doch tatsächlich läßt sich auch hier die Bevorzugung physikalischer oder chemischer Einheiten rechtfertigen, nämlich insofern, als als Einheit auch in diesem Fall wieder das aufzufassen ist, das einen möglichst direkten Beitrag zur Bildung oder Erhaltung komplexerer Einheiten leistet, die ihrerseits zum Erhalt oder zur Selbständigkeit des Organismus beitragen.32 (3) Und schließlich nutze ich in meiner Rede von »Teilen« die Transitivität der Teilbeziehung insofern aus, als ich der Abkürzung wegen ohne Zusätze auch ζ. B. von einer Zelle als einem Teil des Organismus spreche, obwohl zwischen Zelle und Organismus weitere Ebenen von Teilen liegen. 32 Insgesamt beziehe ich mich mit »Teil« auf eine Einheit, bei welcher sich plausiblerweise danach fragen läßt, ob sie ein Teil des Organismus sei - im Unterschied zu einer materiellen Entität, die nur Teil des Organismus ist. Zu dieser Unterscheidung s. etwa Simons 1987: 232-236.
3.4 Zur Verwendung von »Teil«
51
3.4.2 Zur kategorial liberalen Verwendung von »Teil« Z u m zweiten Punkt, nämlich zur kategorial liberalen Verwendung von »Teil«. D i e Ausgangsfrage, was Teil von etwas ist, sollte sich auf alles beziehen, was einem Individuum in irgendeiner Weise prinzipiell zugeordnet werden kann - unabhängig von der Kategorie des Zugeordneten. 3 3 D a m i t sollen neben materiellen Teilen auch Dispositionen (im weitesten Sinn) oder auch Eigenschaften einbezogen sein. N u n sprechen wir etwa bei Eigenschaften oder deren Instanzen traditionellerweise jedoch nicht von »Teilen«. Inwiefern sind sie also in die Ausgangsfrage mit aufgenommen, wenn ihre Aufnahme nicht von der Aufhebung der herkömmlicherweise angenommenen kategorialen Verschiedenheit dieser Entitäten abhängig gemacht werden soll? W o r a u f es bei der Beantwortung der Ausgangsfrage in diesem Punkt ankommt, ist nur dies, daß die Instanzen jener Kategorien einen Beitrag zur Selbsterhaltung und Selbständigkeit des Individuums leisten. D i e Art des Beitrag-Leistens wird - je nach Kategorie - verschieden ausfallen. F ü r eine angemessene Beschreibung des Beitrags wäre eine angemessene Beschreibung der verschiedenen Entitäten zu liefern - was offenbar eines hohen Aufwands bedürfte, ohne daß die angemessene Beschreibung für die hier relevante Tatsache, daß der Beitrag vorliegt, mehr als nur interessant wäre. Es liegt nun nahe, den Beitrag einer Entität über ihr Verhältnis zum verursachenden R e k t u m einer relevanten Kausalbeziehung zu bestimmen. W e n n ein solches R e k t u m ein Ereignis ist, liegt es nahe, den Beitrag jener Entität über ihr Verhältnis zum relevanten Ereignis zu bestimmen. Wie hoch aber auch hier der Aufwand wäre, zeigt etwa die Diskussion zum Begriff des Ereignisses. U n d selbst wenn wir eine angemessene Bestimmung des Ereignisbegriffs besitzen, haben wir die Frage, wie jene Entitäten verschiedener Kategorien ihren Beitrag leisten, noch nicht geklärt. Davon abgesehen leisten aber nicht einmal Entitäten derselben Kategorie notwendigerweise auch einen Beitrag derselben Art. Farbmerkmale etwa können als abschreckendes Merkmal dienen, sie können aber auch bloße Nebenfolge der Struktur eines Körperteils sein, ohne selbst einen Beitrag zum Erhalt oder zur Selbständigkeit des Organismus zu leisten. Eine Klärung dieser Fragen zum Beitrag der Entitäten verschiedener Kategorien ist hier nicht möglich. Es läßt sich aber zumindest ein Verfahren für den Umgang mit ihnen entwickeln: Es ist - in einem konkreten Fall - nicht zu untersuchen, wie eine Instanz einer Kategorie einen Beitrag leistet, sondern ob sie einen Beitrag leistet. Dies läßt sich prüfen, indem die in Frage stehende
33 Siehe Abschnitt 3.1.
52
3. Herausgreifen von Organismen
Instanz gedanklich in relevanter Hinsicht verändert wird und indem dann geprüft wird, ob diese gedachte Veränderung Konsequenzen für den Erhalt oder die Selbständigkeit des Organismus hätte. W e n n nein, dann handelt es sich nicht um eine für den Organismus relevante Entität. W e n n ja, dann ist zu prüfen, ob die Konsequenzen direkt auf die Veränderung der Entität zurückgehen oder ob sie nur darauf zurückgehen, daß zusammen mit der Veränderung der Entität andere Entitäten ebenfalls geändert werden, welche ihrerseits Konsequenzen für den Erhalt oder die Selbständigkeit des Organismus haben. (So ist ζ. B. die Veränderung der Farbe der Leber unter bestimmten gedachten Licht- und Umgebungsbedingungen für sich genommen unerheblich für den Organismus. W e n n sie aber mit bestimmten Strukturveränderungen der L e b e r - O b e r f l ä c h e einhergeht, so ist die Farbveränderung - und mit ihr die Farbe — in der T a t relevant für den Organismus, wenn auch nur als Nebenfolge.) I m letzteren Fall würde man sagen, daß die Entität als notwendiges Akzidens in die Gesamtheit dessen, was das Individuum konstituiert, integriert ist. Zusammenfassend gesagt: Auch wenn ich mich meist auf die Rede von materiellen Teilen beschränke, sollen also die Instanzen anderer Kategorien mit einbezogen sein. Meine Einschränkung erfolgt lediglich der Abkürzung wegen.
3.4.3 Temporale oder temporäre Teile? Z u m dritten Punkt, nämlich zur Frage der Annahme temporaler oder temporärer Teile. Diese Frage bezieht sich darauf, ob materielle Individuen zeitliche Teile {temporal parts) besitzen oder ob sie bestimmte Teile zeitweilig (als temporary parts) besitzen. D i e Rede von »zeitlichen Teilen« wird in der Regel mit einer vierdimensionalistischen Auffassung von Gegenständen verbunden: Danach haben Gegenstände neben den drei räumlichen Dimensionen eine vierte zeitliche Dimension. E i n Gegenstand ist, nach vierdimensionalistischer A u f fassung, nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt oder während eines bestimmten Zeitabschnitts ganz da, wenn er noch zu einem anderen Zeitpunkt existiert, der von jenem Zeitpunkt verschieden ist und der nicht in jenen Zeitabschnitt fällt. N a c h dreidimensionalistischer Auffassung ist der Gegenstand zu jedem Zeitpunkt ganz vorhanden. 3 4 D i e Diskussion zur Annahme bzw. Ablehnung zeitlicher Teile und zur Frage, welche drei- oder vierdimensionalistische Konzeption angemessen sei, 34 Für die Rede davon, ein »kontinuierlicher Gegenstand« (ein continuant) sei zu einem bestimmten Zeitpunkt ganz vorhanden, s. etwa Wiggins 1980: 25 Anm. 12 bzw. 2001: 31 Anm. 13.
3.4 Zur Verwendung von »Teil«
53
ist in neuerer Zeit sehr intensiv geführt worden. 3 5 F ü r meine Ausführungen zur Individuität muß ich mich - auch angesichts der Unabsehbarkeit einer E n t scheidung jener Diskussion - auf die knappe Annahme beschränken, daß ein Organismus ein Individuum ist, das zu verschiedenen Zeitpunkten existiert und das zu diesen Zeitpunkten dasselbe Individuum ist. 36
35 Vgl. etwa die Darstellung bei Sider 2001 sowie die Diskussion bei Schark(2005:41-75). 36 Damit akzeptiere ich nicht jede beliebige Konzeption, die im Rahmen der Dimensionalitätsdiskussion vorgeschlagen worden ist. So ist etwa - um ein prominenteres neueres Beispiel anzuführen - die Siages-Konzeption, die Hawley entwickelt hat, meines Erachtens wenig plausibel. Diese Konzeption ist in gewisser Hinsicht zwischen einer drei- bzw. vierdimensionalistischen Konzeption angesiedelt: Wenn wir etwa das Beispiel eines sich in Veränderung (ζ. B. durch Deformierung) befindenden Tennisballs heranziehen, so liegt hier - jener Konzeption zufolge - nicht ein Tennisball vor, sondern eine Reihe von stages, von denen jede für sich ein Tennisball ist und zu anderen benachbarten stages (soweit vorhanden) in geeigneter Beziehung< steht. Stages sind hier als so grob- bzw. feinkörnig anzusehen, wie es der Möglichkeit der Veränderung und der ihr zugrunde liegenden Zeitstruktur entspricht (so Hawley 2001: 41-53). Unplausibel ist diese Konzeption vor allem deshalb, weil nicht klar ist, wie sie für die Verbindung der stages (ζ. Β. der Tennisball-stages) aufkommen könnte (vgl. diese Kritik auch schon bei Dale 2002). Angesichts dieser Eigenständigkeit der stages hat Merricks (2003) kritisiert, daß Hawley - entgegen dem Versprechen des Titels ihres Buchs How Things Persist - eben nichts zur Persistenz von Dingen sagt, ja daß sie, wenn sie ihre Stages-Konzeption aufrechterhalten möchte, gerade behaupten müßte, daß Dinge (im Alltagssinn von »Ding«), die in stages zerfallen, nicht persistieren. Ähnliche Probleme ergeben sich für Chisholms ens successivum: Der Ausschluß zeitlicher Teile und die Annahme, Gegenstände hätten ihre Teile notwendigerweise, führen ihn zur Annahme, es gebe - im Fall unserer herkömmlichen Gegenstände etwas, das als stand-in diene, nämlich die eigentliche, unveränderliche Entität, die in Verbindung mit anderen solchen Entitäten jenen herkömmlichen Gegenstand (das ens successivum) bilde (vgl. Chisholm 1979: 154). Chisholm würde von vornherein nicht sagen, daß Dinge persistieren. Doch der Preis dafür ist hoch: Für jede Veränderung auch für jede Veränderung auf atomarer oder subatomarer Ebene - müßte er ein neues stand-in annehmen. Außerdem könnte auch seine Konzeption nicht für den kausalen Zusammenhang verschiedener Zustände aufkommen.
4. Vage Gegenstände Organismen und andere materielle Gegenstände scheinen sich unter anderem dadurch auszuzeichnen, daß sich nicht bis aufs einzelne Molekül hin angeben läßt, was zu ihnen gehört - d. h. materieller Teil von ihnen ist - und was nicht, und daß nicht klar ist, bis zu welchem Molekül Moleküle vom Organismus fortgenommen werden könnten, ohne daß der Organismus aufhörte, dieser Organismus oder ein Organismus zu sein.1 Sind Organismen also vage Gegenstände in dem Sinn, daß die Zugehörigkeit der materiellen Teile nicht klar bestimmt ist? Vorausgesetzt, daß Organismen etwas sind, das es gibt, können sie nur dann vage Gegenstände sein, wenn es vage Gegenstände gibt. Zum einen wird nun häufig - unter anderem im Zusammenhang mit Sorites-Argumenten - angenommen, daß die materiellen Gegenstände der herkömmlichen Ontologie vage sind. Zum anderen wird - auch wegen der Sorites-Argumente - in der Regel bezweifelt, daß es vage Gegenstände gibt.2 Zweierlei kann aus diesem Zweifel folgen: zum einen die Annahme, daß alle Gegenstände nicht-vage sind; zum anderen die Annahme, daß es keine Gegenstände gibt (da Vagheit nicht zu vermeiden wäre). Beides wäre, wenn Organismen nur vage Gegenstände sein können, mit der Schwierigkeit verbunden, daß uns mit diesen Gegenständen auch die Organismen abhanden kämen. Deshalb ist ein Blick auf Tragfähigkeit der Argumente gegen die Annahme vager Gegenstände zu werfen. Ich gehe dafür zunächst auf die Frage ein, was vage Gegenstände sind (4.1). Anschließend komme ich auf Argumente gegen die Annahme vager Gegenstände zu sprechen (4.2).
1
Ich beziehe mich hier auf materielle Teile, weil sie einen Hauptgegenstand der Diskussion um die Vagheit von materiellen Gegenständen bilden. Andere Teile (im weiten Sinn von »Teil«) - wie ζ. B. Eigenschaften oder Aktivitäten - sind mit hinzuzudenken, sofern sie ebenfalls Gegenstand von Vagheits-Uberlegungen sind.
2
Vgl. Russell 1923: 85: »things are what they are, and there is an end of it. Nothing is more or less what it is, or to a certain extent possessed of the properties which it possesses«; sowie Dummett: »the notion that things might actually be vague [...] is not properly intelligible« (1978:260), aber auch, Bezug nehmend auf dieses Zitat: »I should like now to withdraw this remark. [...] It is not apparently absurd to suppose [...] that the physical world is in itself such that the most precise description of it that even omniscience would yield might yet involve the use of expressions having some degree of vagueness« (Dummett 1981: 440).
4.1 Was sind vage Gegenstände? 4.1 Was sind vage
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Gegenstände?
Ein vager Gegenstand sei ein Gegenstand, der aufgrund fehlender eindeutiger räumlicher Grenzen infolge vager Teilzugehörigkeit nicht identifizierbar ist.3 Die entsprechende Unbestimmtheit soll hier nicht jene Fälle einschließen, in denen der Gegenstand zwar physikalisch eindeutig bestimmbar oder bestimmt ist (angenommen, es gebe solche Fälle), in denen es uns aber gleichwohl nicht möglich ist, ihn zu identifizieren. Es soll nicht um die Unsicherheit gehen, in der wir uns bei der Identifizierung eines Gegenstands befinden, sondern um die Frage, ob ein Gegenstand selbst vage ist. Zu beachten ist schließlich noch, daß vage Gegenstände nicht dasselbe sind wie Gegenstände mit flexiblen Grenzen. Angenommen, die Lunge wäre ein präzise bestimmter (nicht-vager) Gegenstand, so wäre sie im Fall der für sie spezifischen Aktivität gleichwohl ein Gegenstand mit flexiblen (räumlichen) Grenzen. Diese Grenzen wären aber nicht vage, sondern wären für jeden Moment genau bestimmt. Organismen scheinen nun Beispiele für vage Gegenstände im angeführten Sinn zu sein: Ihre Grenzen sind nicht genau festgelegt und lägen sie faktisch fest (in dem Sinne, daß eindeutig ist, welches ihre Teile sind), wäre nicht zu sehen, weshalb die Gegenstände nicht auch andere Grenzen haben könnten. Dann aber ist die in Frage stehende Vagheit ontologisch, nicht epistemisch oder semantisch bedingte Vagheit, d. h. nicht Vagheit, die in einem faktischen oder prinzipiellen
3
Vgl. Evans (1978): »objects about which it is a fact that they have fuzzy boundaries«. Sainsbury unterscheidet zwischen verschiedenen Arten von Vagheit von Objekten: Ein Objekt χ ist kompositional vage genau dann, wenn »x is such that for some y it is vague whether^ is part of x« (Sainsbury 1989:101). Ein Objekt χ ist ferner modal vage genau dann, wenn gilt: χ ist derart, daß es für eine Welt y vage ist, ob χ in y existiert. Ein Objekt χ ist temporal vage genau dann, wenn gilt: χ ist derart, daß es für eine Zeit y vage ist, ob χ zur Zeit y existiert. Ein Objekt χ ist individuativ vage genau dann, wenn gilt: χ ist derart, daß es für irgendein y vage ist, ob y identisch mit χ ist (ebd.). Die oben gegebene Definition von »vager Gegenstand« läßt sich auf die Fälle modaler, temporaler und individuativer Vagheit insofern anwenden, als diese von kompositionaler Vagheit her zu verstehen sind. Siehe ferner Burgess: »the ordinary macroscopic satisfiers of sortal predicates are fuzzy in spatio-temporal extent. A vague macroscopic object would be explained as a set of precise objects; as, precisely, the set of objects it could become under the various possible ways of making the part-whole relation perfectly precise« (Burgess 1990: 281). Eine auf den ersten Blick von der oben gegebenen Bestimmung abweichende Bestimmung findet sich etwa bei Zemach, dem zufolge ein Gegenstand genau dann vage ist, wenn er im Hinblick auf eine Eigenschaft F unbestimmt (»indeterminate«) ist, d. h. weder F noch nicht-/7 ist (s. Zemach 1991: 323). Die von Zemach angeführten Beispiele beziehen sich alle jedoch auf Fälle von Gegenständen, deren Grenzen unbestimmt sind.
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4. Vage Gegenstände
Mangel an Wissen über den Gegenstand oder in faktischer oder prinzipieller Unschärfe des Begriffs, unter den er fällt, begründet wäre. Ontologisch ist diese Vagheit deshalb, weil es aufgrund der Beschaffenheit der Welt und der Dinge unbestimmt ist, was zum Gegenstand dazugehört und was nicht. Epistemische und semantische Unschärfe kann zur ontologischen Unschärfe noch hinzukommen (wahrscheinlich kommt sie immer mit hinzu). Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht um Fakten, die uns nicht zugänglich sind oder deren begriffliche Fassung uns Schwierigkeiten bereitete. Und selbst wenn es solche Fakten gibt, verursachen nicht sie das eigentliche Problem, nämlich das der Abgrenzung des Organismus: Dieses Problem ist ein ontologisches, nicht eines, das sich etwa mit Hilfe eines Mikroskops lösen ließe. Bisher habe ich von Materie-Teilen und von materieller Vagheit gesprochen. Man könnte nun meinen, daß die mit dieser Vagheit verbundenen Probleme auch für zeitliche Teile gelten, wenn wir solche Teile annehmen (was ich am Ende des vorigen Kapitels offenlassen wollte). Wir könnten dann ζ. B. fragen, ob Sokrates bei Wegnahme eines »Zeit-Moleküls« immer noch Sokrates bzw. ein Mensch gewesen wäre. Falls wir das bejahen und wir keine mereologischen Essentialisten über zeitliche Teile sind, könnten wir weiterhin fragen, bis zur Wegnahme welchen Zeit-Moleküls er Sokrates (bzw. ein Mensch) geblieben wäre.4 Zwei Fälle sind hier der Zuspitzung wegen zu unterscheiden. Zum einen der Fall, in dem wir uns einen Lebensabschnitt des erwachsenen Sokrates ansehen und uns fragen, ob von diesem Abschnitt zeitliche Teile weggenommen werden können, ohne daß Sokrates aufhörte, Sokrates zu sein. Zum anderen der Fall, in dem wir uns den Sokrates, der soeben den Schierlingstrank zu sich genommen hat, ansehen und uns fragen, bis zu welchem Zeitpunkt Sokrates noch existiert.5 Mit dem ersten Fall geraten wir in die Auseinandersetzung zwischen Dreiund Vierdimensionalisten sowie in die unergiebige Auseinandersetzung um die Möglichkeit einer Individuation von zeitlichen Teilen oder stages. Wichtiger ist jedoch der zweite Fall. Bei diesem Fall handelt es sich - trotz der Beschreibung des Falls - aber nicht um einen Fall zeitlicher Vagheit. Vielmehr haben wir es mit einem Fall materieller Vagheit zu tun, und zwar insofern, als
4
Daß die Formulierung des Problems zeitlicher Vagheit bei dreidimensionalistischer Auffassung schwieriger ist, heißt offenbar nicht, daß das Problem nicht besteht.
5
Dafür spiele es keine Rolle, ob wir einen Verlauf des Sterbens im Blick haben, wie er idealisiert bei Piaton beschrieben wird, oder den historischen Verlauf, der mit der Lähmung des Atemzentrums einherging und weit qualvoller gewesen sein dürfte (so etwa Leven 2005).
4.2 Argumente gegen vage Gegenstände
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sich die Frage, ob Sokrates noch existiert, hier nicht auf die Fortdauer seines Lebens bezieht. Sie bezieht sich vielmehr darauf, ob das Gefüge, das Sokrates konstituiert, noch reichhaltig genug ist, um die Rede davon, daß Sokrates existiere, zu rechtfertigen. Weil dieser Fall der interessantere Fall ist, beschränke ich mich auf die Diskussion materieller Vagheit.
4,2 Argumente gegen die Annahme vager
Gegenstände
Die Annahme vager Gegenstände ist mit einer Reihe von Problemen verbunden. Wenn Organismen tatsächlich vage Gegenstände sind, sind sie von diesen Problemen unmittelbar betroffen. Zunächst gehe ich kurz auf Probleme der vagen Identität ein (4.2.1). Dann komme ich auf Sorites-Argumente zu sprechen (4.2.2).
4.2.1 Ein Argument gegen vage Identität Vage Gegenstände implizieren, wie es scheint, vage Identität. 6 Zugleich scheint die Annahme vager Identität mit der Annahme vager Gegenstände nicht vereinbar. Somit gerieten wir mit der Annahme von vagen Gegenständen - und mit der Annahme von Organismen, wenn diese vage Gegenstände sind - in Schwierigkeiten. Es ist allerdings nicht ganz leicht, auch nur eine akzeptable Illustration f ü r das Problem zu finden. In einem Beispiel von Read stellt es sich wie folgt dar: 7 Angenommen, Mount Everest und Gaurisankar seien zwei vage Gegenstände
6
Ein prominenter Vertreter vager Identität ist etwa Peter van Inwagen. In Material Beings nimmt er vage diachrone Identität an, weil er diese für die Konzeption seines Gegenstände konstituierenden Lebens benötigt (vgl. 1990: 228, 241f.). Vgl. dagegen etwa Cowles (1994). Ich werde später auf van Inwagens Konzeption der Gegenstandskonstitution zu sprechen kommen (s. u. Abschnitt 7.2).
7
Die Präsentation des Arguments findet sich bei Read (1995: 177). Es handelt sich bei ihr um eine Ausformulierung der Grundidee des Arguments von Evans (1978); s. a. Salmon 1981: 243f. Zur Diskussion, die sich an Evans anschloß, vgl. u. a. Lewis 1988, Garrett 1988, Burgess 1989, Johnsen 1989, Parsons / Woodruff 1995, Williamson 2002, Monaghan 2004, Noonan 2004 sowie den Überblick in Hyde 2000. Vgl. auch die Inbezugsetzung von vagen Gegenständen und vager Identität bei Garrett: »The thesis that there can be vague objects is the thesis that there can be identity statements which are indeterminate in truth-value (i. e. neither true nor false), the singular terms of which do not have their references fixed by vague descriptive means« (Garrett 1988: 130).
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4. Vage Gegenstände
(etwa weil es unbestimmt sei, wo ein Berg beginne und aufhöre) und es sei unbestimmt, ob sie identisch seien (da es unbestimmt sei, ob ihre Halbschatten dieselben seien). In diesem Fall hätte Mount Everest die Eigenschaft, unbestimmt Gaurisankar zu sein - eine Eigenschaft, die Gaurisankar nicht habe. Also ist Mount Everest nicht Gaurisankar - entgegen der Annahme, sie seien vage identisch. Also führt die Annahme vager Gegenstände in einen Widerspruch. So weit die Problemillustration bei Read. Vermutlich hat Read hier die alte Legende im Sinn, wonach »Mount Everest« und »Gaurisankar« denselben Berg aus verschiedener Perspektive bezeichnen.8 Nur des Beispiels halber einmal angenommen, das sei so: Was zeigt dann das Argument? Ist es tatsächlich ein Argument gegen die Annahme vager Gegenstände? Die argumentative Verwendung der Selbstidentität stützt sich auf die Annahme, daß etwas notwendigerweise mit sich selbst identisch ist: Etwas kann nicht, auch nicht in manchen Fällen, nicht mit sich selbst identisch sein - es kann zu ein und demselben Zeitpunkt nicht andere Eigenschaften haben als die, die es hat. Wenn nun eine der Prämissen des Arguments behauptet, daß es unklar sei, ob die Halbschatten des Mount Everest und des Gaurisankar dieselben seien, so wird damit jedoch anderes behauptet, als der Vertreter vager Gegenstände behaupten müßte. Für ihn ist nämlich klar, daß diese Halbschatten, welche es auch immer sind, für den Mount Everest und den Gaurisankar dieselben sind: Es handelt sich bei »Mount Everest« und »Gaurisankar« lediglich um zwei verschiedene Namen für ein und dieselbe, freilich vage, Sache. Doch damit sind vage Gegenstände noch längst nicht etabliert - und ebenso auch Organismen nicht, wenn sie vage Gegenstände sind. Wichtigstes Argument gegen die Annahme solcher Gegenstände scheinen nun Sorites-Argumente zu sein.
4.2.2 Der Sorites Auf zwei Weisen läßt sich das Problem, das der Sorites für vage Gegenstände bildet, verdeutlichen. (1) Zum einen führt die Anwendung des Sorites zu einem absurden Ergebnis: Angenommen, wir hätten einen Laubhaufen von »normaler Größe« vor uns, so ließe sich ein Blatt wegnehmen, ohne daß dadurch der 8
Aus den allgemein zugänglichen Koordinaten für die Gipfel beider Berge ergibt sich eine ungefähre Distanz von 58 km. Beide Berge wurden jedoch bis ins 20. Jahrhundert hinein - und werden (s. Read's Beispiel) in Philosophie-Lehrbüchern bis heute miteinander identifiziert.
4.2 Argumente gegen vage Gegenstände
59
Haufen aufhörte, Haufen zu sein. Dies ließe sich bis zum letzten Blatt fortsetzen, so daß auch nach Wegnahme des letzten Blatts der Haufen nicht aufhörte, Haufen zu sein - was offensichtlich falsch ist. Andererseits ist nicht nichtwillkürlich eine Grenze für die Wegnahme der Blätter angebbar. (Dieser Sorites soll »subtraktiver Sorites« im Unterschied zum »additiven Sorites« heißen, der mit der Addition von Partikeln operiert. D e r Einfachheit halber sei in beiden Fällen von »Sorites« die Rede.) 9 (2) Zum anderen läßt sich unter Zuhilfenahme des Sorites ein
Widerspruch
formulieren. 1 0 N e h m e n wir an, einem vagen Gegenstand α werden wiederholt Teile entnommen, so muß es einen Punkt geben, an dem kein Teil mehr entnommen werden kann, ohne daß α aufhört zu existieren. W e n n es diesen Punkt nicht gibt, läßt sich die Entnahme von Teilen beliebig weit fortsetzen (so daß a u. a. auch dann noch vorliegt, wenn kein Teil mehr von α vorliegt). W e n n es diesen Punkt gibt, hat α aber, entgegen der Ausgangsvoraussetzung, eine präzise Grenze: Die Annahme vager Gegenstände ist in sich widersprüchlich. Wird nun der Organismus als ein Haufen von Partikeln - die in seinem Fall in Beziehung zueinander stehen - betrachtet, bedeutet dies, daß auch im Fall des Organismus nicht nicht-willkürlich angebbar ist, w o die G r e n z e für eine Wegnahme von Partikeln zu ziehen ist: Es ist dann nicht nicht-willkürlich angebbar, ab der Wegnahme welcher Partikeln der Organismus aufhört zu existieren.
4.2.3 Antworten auf den Sorites Es gibt verschiedene Reaktionen auf den Sorites. Die wichtigsten sind: Man akzeptiert den Sorites für den Organismus und zieht die Konsequenzen daraus für den Begriff des Organismus bzw. für die Annahme von Organismen (1). Man könnte versuchen, den Sorites aufzulösen (2). Man könnte bestreiten, daß sich der Sorites auch auf den Organismus anwenden läßt (3). Diese drei A n t wortversuche erweisen sich jedoch als unzulänglich. Eine erfolgsversprechende
9
S. Barnes 1982: 34 Anm. 21 (mit Verweis auf die entsprechende Terminologie). Eine Auflistung neuerer Literatur zum Sorites bietet etwa Needle 2003. Für neuere Sammlungen von Texten zur Vagheits- und Soritesproblematik s. etwa Horgan 1995, Keefe / Smith 1996, Philosophical Topics 28.1 (2000) oder Graff / Williamson 2002, für einen neueren Überblick zur Diskussion s. insbesondere auch Williamson 2003. Zur Geschichte des Sorites s. etwa Moline 1969 und Buldt / Schmidt 1995; s. ferner die Fragmente 1236-1243 bei Hülser (1987/88 IV: 1736-1761).
10 So etwa Heller 1990: 76.
60
4. Vage Gegenstände
Antwort auf den Sorites scheint hingegen in einem Wechsel der Perspektive zu liegen: Für den Umgang mit dem Sorites ist nicht der Organismus der maßgebende Ausgangspunkt, sondern die Partikel (4).
4.2.3.1 Verzicht auf Gegenstände Eine mögliche Konsequenz aus dem Sorites ist die Ablehnung vager Gegenstände und somit auch die Ablehnung von Organismen, wenn sie vage Gegenstände sind. So handelt es sich etwa nach Heller (der gerade mit Sorites-Argumenten in seiner Etablierung von vierdimensionalen Materiestücken operiert) bei den Gegenständen der Standard-Ontologie lediglich um »konventionelle Gegenstände«, d. h. um Gegenstände, die nur unserer Konvention nach bestehen (und die eben vage sind). Der Umstand, daß sich bei diesen Gegenständen nicht nicht-willkürlich angeben läßt, wo bei einer konsekutiven Wegnahme von Teilen der in Frage stehende Gegenstand aufhört zu existieren oder aufhört, der zu sein, als er der zuvor angesehen oder klassifiziert wurde, bringe »conceptual difficulties in the extreme«11 für die Annahme vager Gegenstände mit sich. Heller zieht daraus die Folgerung, daß ausschließlich vierdimensionale Materiestücke als das, was es gibt, anzunehmen seien.12 Für andere, wie ζ. B. Unger,13 besteht die Konsequenz aus dem Sorites im Verzicht auf die Annahme von konventionellen Gegenständen überhaupt. Gegen diese skeptische oder - im Fall Ungers - »nihilistische« Auffassung läßt sich verschiedenes einwenden. Zum einen ist es uns de facto möglich, eindeutig und mit Erfolg (in Wort und Tat) auf herkömmliche Gegenstände Bezug zu nehmen. Zum anderen ermöglicht uns die Annahme der Gegenstände der herkömmlichen folk-ontology am besten (und jedenfalls besser als die Annahme vierdimensionaler materieller Raum-Zeit-Würmer), die Phänomene und deren Strukturen und Regelmäßigkeiten zu erklären. Zum dritten wäre es, wenn es sich bei der folk-ontology nur um Konventionen handelt, höchst erstaunlich, wie gut diese Konventionen zur Erklärung der Phänomene und zum Umgang mit ihnen passen. Der Nihilist wird hier jedoch wiederum einwenden, daß all diese Punkte das zu Zeigende bereits voraussetzen. Wir benötigen nicht nur eine pragmatische, sondern auch eine ontologische Antwort.
11 Heller 1990: 70. 12 S. Heller 1990: u. a. 47f., 106-108. 13 Vgl. Unger 1979.
4.2 Argumente gegen vage Gegenstände
61
4.2.3.2 Widerlegungsversuche Es ist verschiedentlich versucht worden, den Sorites zu widerlegen. Entweder richten sich diese Versuche gegen die Annahme der Wahrheit von (oder der) Prämissen des verwendeten modusponens, gegen den modusponens als solchen oder, wegen (vermuteter) fehlender Wahrheitsbewahrung, gegen die Zulässigkeit der wiederholten Anwendung des modus ponens}* Supervaluationisten ζ. B. wenden ein, daß die Zuschreibung eines in seinem Bezug als vage angesehenen Prädikats F nur in einem bestimmten Bereich von Anwendungsfällen wahr bzw. falsch sei, während es Fälle der Anwendung von F gibt, die »dazwischen« liegen und für die die entsprechenden Aussagen weder wahr noch falsch sind. Ferner könnten Vertreter einer mehrwertigen Logik den unter Verwendung von F gebildeten Aussagen entsprechend verschiedene Wahrheitswerte zuordnen. (Ein Unterschied liegt zwischen diesen beiden Ansätzen dann vor, wenn supervaluationistische Konzeptionen keine Mehrwertigkeit annehmen.) Solche Versuche umgehen jedoch das (durch den Sorites verdeutlichte) eigentliche Problem, nämlich zu bestimmen, was zu einem Organismus gehört und was nicht. Wenn F in einer relevanten Hinsicht vage ist, so liegt dies, jedenfalls im Fall des Organismus, am Gegenstand, der ein Organismus ist, nicht am Prädikat »Organismus«.
4.2.3.3 Argumente gegen die Anwendbarkeit auf Organismen (1) Versuch, auf formale Teile auszuweichen. Man könnte schließlich bestreiten, daß sich der Sorites auch auf den Organismus anwenden lasse, weil bei dieser Anwendung unrichtigerweise vorausgesetzt werde, daß der Organismus ein Haufen von Partikeln sei oder daß er nur ein Haufen von Partikeln sei. Vielmehr handele es sich bei ihm, so der mögliche Einwand, um ein Funktionsgefüge, das aus formalen Teilen bestehe. Bei einem derartigen Funktionsgefüge lassen sich nun aber nicht beliebig Partikeln wegnehmen: eine Wegnahme von Partikeln, die etwa das Schlagen des Herzens beendet, ist die äußerste - und scharfe Grenze, bis zu der sich Partikeln wegnehmen lassen, und somit ist sie auch die Grenze des Organismus. (Dies wäre dann, so der Einwand weiter, noch dahingehend auszubauen, daß das Herz für sich allein nicht bestehen könnte,
14 Vgl. für einen kurzen Überblick einiger Hauptargumente Keefe / Smith 1996a: 9-14 und Sainsbury 1995: 32-46.
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4. Vage Gegenstände
daß also die Wegnahmebeschränkung sich auch auf andere Organe bezieht.) Es läßt sich, so der Einwand, genau angeben - und anhand eines E K G zeigen - , wann Herzstillstand eintritt: Einen Zwischenbereich gibt es nicht. Dieser Auffassung zufolge wäre auch das, was man »Liliput-Sorites« nennen könnte, kein Problem. Dieser Sorites verkleinerte einen Organismus in allen seinen Teilen durch gleichzeitige Wegnahme so, daß dadurch die Funktionsfähigkeit nicht beeinträchtigt wird. Auch in diesem Fall wird man sagen können, daß es einen definitiven Punkt gibt, an dem die Funktionsfähigkeit nicht mehr gegeben ist bzw. von dem aus ein Prozeß in Gang gesetzt wird, der das Funktionieren schließlich zum Erliegen bringt. Man wird, so diese Auffassung, vielleicht nicht angeben können, welches das »letzte wegnehmbare« Molekül ist, doch spielt das schlichtweg keine Rolle: Die Funktionsfähigkeit, so die Antwort, liegt entweder vor oder sie liegt nicht vor. Ahnlich könnte man auf den entsprechenden »Riesen-Sorites« reagieren. Dieser Sorites könnte zwei Formen annehmen: zum einen als »echter RiesenSorites«, wonach - unter Berücksichtigung der entsprechenden Proportionen allen funktionstragenden Teilen so viel an Partikeln hinzugefügt wird, daß die Gesamtfunktion erhalten bleibt, während der Gesamtorganismus beliebig weit wächst. Dieser Sorites hat zwar mit echten Riesen zu tun, ist aber nicht wirklich ein Sorites: Das beliebige Anwachsen ist ein physiologisches Problem - es ist kein logisches oder ontologisches Problem für den Begriff des Organismus. Zum anderen könnte der Riesen-Sorites die Gestalt eines »begrenzten Riesen-Sorites« annehmen, wonach - wieder unter Berücksichtigung der entsprechenden Proportionen - den funktionstragenden Teilen so lange Partikeln hinzugefügt werden, bis die physiologisch zulässige scharfe Grenze erreicht ist (beurteilt etwa anhand des Kriteriums, daß nach Überschreitung dieser Grenze bestimmte funktionstragende Teile aus anderem Material sein müßten). Auch in diesem Fall bilde - so der Einwand gegen den Sorites-Vorwurf - der Sorites kein Problem: Obwohl wir wieder nicht aufs Molekül genau angeben können, wo die Grenze liegt, spiele dies doch keine Rolle. Sind damit vage Gegenstände etabliert? Wohl kaum. Qua Funktionsgefüge ist der Organismus in der Tat etwas, das aus formalen Teilen besteht, d. h. aus Teilen, die eine bestimmte Beschaffenheit besitzen, kraft deren sie Teile des Gefüges sind, das der Organismus ist. Der Organismus ist nicht ein Haufen aus Partikeln. Der Sorites, der sich auf materielle Teile und deren Wegnahme bezieht, trifft insofern nicht das, was ein Organismus ist. Allerdings läßt sich der Sorites nun ebenso leicht auf formale Teile anwenden. Das heißt, es könnte auch mit Blick auf formale Teile oder mit Blick auf Funktionen die Frage gestellt werden, ob ein Organismus auch nach Fortnahme einer bestimmten Teilfunktion noch ein Organismus ist. Daß dies nicht nur eine
4.2 Argumente gegen vage Gegenstände
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theoretische Übung wäre, zeigt die Diskussion um den zeitlichen Anfang und die Diskussion um das zeitliche Ende des Organismus vor allem im Fall des Menschen. Für den Fall des Anfangs des Organismus ließe sich solch ein Sorites etwa wie folgt formulieren: Das Vorliegen einer Funktion bzw. eines einzigen formalen Teils reicht nicht für das Vorliegen des Organismus, die Hinzufügung einer einzigen Funktion (bzw. eines einzigen formalen Teils) führt ebenfalls noch nicht zu einem Organismus etc. Dieser Sorites bezieht sich hier nicht mehr auf quantitative, sondern auf »qualitative« Hinzufügung (oder eben: auf formale Teile). (Einem eventuellen essentialistischen Einwand hierauf, es handele sich bei derlei »reduzierten« Organismen nicht oder noch nicht um Instanzen einer je bestimmten Art, würde der Sorites-Vertreter mit Gleichgültigkeit begegnen.) Der Vertreter der Annahme von Funktionsgefügen könnte erwidern, daß es keineswegs klar sei, ob Funktionen in dieser Weise additiv behandelt werden können: Vielmehr werde durch die Funktion auf das Ganze, dessen Teil der Träger dieser Funktion ist, verwiesen. Damit sei dann aber auch eine Grenze für die Addition gegeben: Die Grenze liege dort, wo mit dem Vorliegen der verschiedenen Funktionen die Selbsterhaltungsfähigkeit oder die Selbständigkeit des Ganzen erreicht ist. Der Sorites, so die Erwiderung, ist auf das Funktionsgefüge nicht anwendbar. Hier würde wiederum der Sorites-Vertreter nicht akzeptieren, daß das Ganze - einmal zugestanden, es gebe dergleichen - gerade so und nicht anders festzulegen ist: Dies müßte erst noch gezeigt werden. Wenn Selbsterhaltungsfähigkeit oder Selbständigkeit die Grenze bildet und zum Kriterium gemacht wird, wird bereits vorausgesetzt, was gezeigt werden soll: Um die Selbsterhaltung oder die Selbständigkeit wovon geht es hier? Ferner könnte der Sorites-Vertreter einwenden, daß sich Funktionen de facto addieren (und subtrahieren). Deutlich wird dies im Fall dysfunktionaler Teile: Das faktische Funktionieren der einzelnen Teile kann sich im Verhältnis so zueinander verändern, daß dies zu Störungen oder sogar zum Tod des Gesamtorganismus führt. Wo, so der Sorites-Vertreter, liegt in diesem Fall die Grenze für die Veränderung der Funktion? Diese Frage bezieht sich sowohl auf die Addition oder Subtraktion von Funktionen als auch auf die Grenze der Abschwächung oder Intensivierung des faktischen Funktionierens des Trägers einer bestimmten Funktion. Und auch wenn wir annähmen, daß wir das Funktionsgefüge eines Organismus nur um bestimmte Funktionen verringern könnten, so wäre es doch fraglich, ob wir das Resultat der Verringerung immer noch für einen Organismus halten. Oder soll nur der nicht wegnehmbare Rest der Organismus sein? Dann aber stellte sich die Frage, ob wir tatsächlich Augen oder Gesichtssinn
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4. Vage Gegenstände
verlieren können oder jene Teile des Gehirns (oder einige dieser Teile), die wir für das Bewußtsein verantwortlich machen oder wesentlich mit ihm in Verbindung bringen, ohne daß sich das Individuum, dessen Teile sie sind, in relevanter Hinsicht verändert. Außerdem wäre fraglich, was die weggenommenen Funktionen mit Blick auf den Organismus waren: Gehörten sie dazu?15 Außerdem, so der Sorites-Vertreter, könnten neue Funktionen hinzugefügt werden, etwa in Verbindung mit der Hinzufügung zusätzlicher Körperteile. Wo wäre hier die Grenze? Bei der Hinzufügung welcher Funktion würde das Ganze (oder: der Haufen) aufhören zu leben (d. h. Organismus zu sein)? (Der Sorites-Vertreter würde ferner noch hinzufügen, daß diese Veränderungen im faktischen Funktionieren von materiellen Veränderungen begleitet sind, welche der ursprüngliche Gegenstand des Sorites waren.) Wenn Organismen vage Gegenstände sind, vage Gegenstände aber dem Sorites ausgeliefert sind, läßt sich die Annahme von Organismen bisher also nicht dadurch festigen, daß, erstens, eine Unterscheidung von Materie- und Form-Teilen getroffen wird, daß, zweitens, eine Zuordnung des Sorites zu den Materie-Teilen erfolgt und daß, drittens, Organismen auf Form-Teile als Konstituenten festgelegt werden. (2) Versuch, auf Arten auszuweichen. Ein traditioneller Versuch, dem Sorites über formale Teile zu begegnen, könnte schließlich noch in der Ansetzung eines ontologisch starken Artbegriffs bestehen. Danach ist das, was ein Gegenstand ist, (und sind entsprechend auch seine Identitätsbedingungen) durch seine Artzugehörigkeit festgelegt. Gegenstände sind dann, zumindest in ihren essentiellen Eigenschaften, keine vagen Gegenstände. Um diesen Vorschlag richtig bewerten zu können, ist zunächst zwischen einer Art als ontologisch relevanter Entität und dem Begriff, der dieser Art korrespondiert, zu unterscheiden. Wenn ein bestimmter Begriff insofern vage sein sollte, als nicht eindeutig bestimmt ist, was unter ihn fällt, so ist dies zunächst eine Eigenschaft des Begriffs - so wie es traditionellerweise für eine
15 Die Anwendung des Sorites auf formale Teile spricht auch gegen den Versuch, den etwa Wheeler unternimmt, nämlich einen Davidson'schen Ansatz gegen den Sorites ins Feld zu führen: Nach Wheeler werden die Ereignisse auf der Makroebene (ζ. B. die Aktivitäten einer Person) nicht von denen der Mikroebene (ζ. B. dem Verhalten der Partikeln) bestimmt, und zwar deshalb nicht, weil die Ereignisse der Makroebene wesentlich von Überzeugungen, Wünschen etc., die die Person hat, verursacht werden, diese Uberzeugungen (etc.) aber nicht durch die Gesetze der Mikroebene erfaßt werden können (s. Wheeler 1986: 342-348). Wie der Sorites über formale Teile aber zeigt, steht auch für die Makroebene in Frage, beim Vorliegen welcher Merkmale eines Merkmalsgeflechts etwas ζ. B. eine Person ist.
4.2 Argumente gegen vage Gegenstände
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Eigenschaft des Begriffs gehalten wird, daß etwas unter ihn fällt oder daß nichts unter ihn fällt. Die eventuelle Vagheit eines Begriffs ist nicht notwendigerweise Reflex der Vagheit etwa der Art, der der Begriff korrespondiert. Vielmehr kann sie ζ. B. auch epistemisch begründet sein. Die Bestimmtheit, um die es bei dem Vorschlag geht, der hier zu diskutieren ist, ist jedoch die Bestimmtheit der Art als ontologischer Entität.ib Es ist nun nicht klar, was uns zur Annahme eines ontologisch starken Artbegriffs berechtigt, auf den der Versuch, gegen den Sorites auf Arten auszuweichen, angewiesen wäre. Der Speziesbegriff bietet jedenfalls keine Grundlage dafür, und zwar schon deshalb nicht, da auch schon ein oberflächlicher Blick auf die Diskussion zu diesem Begriff zeigt, daß überhaupt nicht klar ist, was eine Spezies ist.17 Doch selbst wenn es klar wäre, was unter »Spezies« zu verstehen ist, wäre nicht klar, weshalb der Begriff der Spezies als Grundlage für die Annahme eines ontologisch starken Artbegriffs dienen können soll und weshalb er nicht bloß die Folge aus der Beobachtung bestimmter Merkmale oder Verhaltensweisen einzelner Individuen sein soll. Es ist nicht klar, wie es möglich sein sollte und weshalb es angenommen werden sollte, daß eine Spezies, selbst wenn sie eine ontologisch relevante Entität sein sollte, ontologische Kraft besitzen können sollte. Auch der Verweis auf artspezifische essentielle Eigenschaften führt hier ontologisch nicht weiter. Denn wenn Artzugehörigkeit vom Besitz bestimmter solcher Eigenschaften abhängen sollte, ist zumindest nicht klar, wie dies zu verstehen ist. Dies ist deshalb nicht klar, weil nicht klar ist, was solche essentiellen Eigenschaften sein könnten, weil zudem nicht klar ist, welcher Art Arten sein müssen, damit essentielle Eigenschaften Artzugehörigkeit begründen können, weil schließlich nicht klar ist, ob Arten solcherart sein können, und weil zuletzt nicht klar ist, ob essentielle Eigenschaften jene Begründungsleistung erbringen könnten.
16 Wenn Husserl zufolge die »Vagheit der Begriffe« (im Fall der »morphologischen« Begriffe) darauf zurückgeht, daß die »anschaulichen Dinggegebenheiten«, die sie »in ihren anschaulich gegebenen Wesenscharakteren« zum Ausdruck bringen, »fließende« sind, so hat er dabei Begriffe im Auge, die Unterbestimmtes zum Ausdruck bringen (seine Beispiele sind: »gezackt«, »gekerbt«, »linsenförmig«, »doldenförmig«; s. Ideen: 155; §74). Es erscheint fraglich, ob hier tatsächlich von »fließenden Dinggegebenheiten« die Rede sein sollte: Es handelt sich bei dem hier Erfaßten vielmehr um physikalisch genau Bestimmbares, so daß die in Frage stehende Vagheit nicht auf die Dinge oder ihre Gegebenheiten zurückgeht, sondern auf semantische oder epistemische Unbestimmtheit. 17 Vgl. dazu unten den Abschnitt 5.4.
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4. Vage Gegenstände
Die Antwort auf solche Fragen wird auch dadurch nicht erleichtert, daß solche essentiellen Eigenschaften eines Lebewesens mit Blick auf die ArtKonstituierung nicht mit jenen Eigenschaften zu verwechseln sind, deren Vorliegen für das Lebewesen lebensnotwendig ist.18 Sofern etwa der Besitz der Fähigkeit, Stoffwechsel zu betreiben, sowie die Ausübung dieser Fähigkeit Eigenschaften sind, handelt es sich um lebensnotwendige, nicht um essentielle Eigenschaften. Und doch könnte die Grenze zwischen dem Bereich der lebensnotwendigen Eigenschaften und dem Bereich der essentiellen Eigenschaften unscharf sein. Ahnliche Schwierigkeiten dürften sich schließlich auch für den Ubergang zum Bereich akzidenteller Eigenschaften ergeben. Selbst wenn wir also Gründe für die Annahme essentieller Eigenschaften haben sollten, führen diese Eigenschaften uns im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter, wenn unser Fortschritt mit Blick auf die Konstituierung der Art auf scharfe Grenzen zwischen lebensnotwendigen und essentiellen Eigenschaften angewiesen ist. Doch auch wenn wir Artzugehörigkeit schon durch den Besitz lebensnotwendiger Eigenschaften begründet sähen, stünden wir noch vor dem weiteren Problem, daß wir zunächst definieren müßten, was das in Frage stehende Leben ist: Es ist jedenfalls nicht von vornherein klar, was vorliegen muß, damit ein Leben einer bestimmten Art vorliegt. Die Definition von »Leben« darf nun aber nicht artabhängig sein, wenn Artzugehörigkeit durch den Besitz jener lebensnotwendigen Eigenschaften gerade erst begründet werden soll. Selbst wenn Arten ontologisch relevant sein sollten, führen sie mit Blick auf die Probleme der Vagheit nicht weiter.
4.2.3.4 Wechsel der Perspektive Wie kann man dem Sorites in seiner Anwendung auf Materie- und auf FormTeile nun begegnen? Der Weg, der hier zu wählen ist, besteht in einer Änderung der Blickrichtung auf das Problem. Die Frage, die mit Blick auf einen Organismus und seine Teile zu stellen ist, ist nicht die Frage: »Könnte ich noch eine Partikel bzw. deren Funktion fortnehmen und trotzdem noch einen Organismus behalten?« Die Frage, die zu stellen ist, ist vielmehr die Frage, ob sich für eine beliebige Partikel bzw. deren Funktion angeben läßt, ob sie zum Organismus gehört oder nicht.
18 Beide Bereiche von Eigenschaften sind zudem von solchen notwendigen Eigenschaften zu unterscheiden, wie es ζ. B. die Eigenschaft der Selbstidentität ist oder die Eigenschaft, einen raum-zeitlich fixen Geburtspunkt zu besitzen.
4.2 Argumente gegen vage Gegenstände
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Die erste Frage ist deshalb eine merkwürdige Frage, weil sie bereits voraussetzt, daß ein Organismus etwas klar Begrenztes sei, für das sich klare Vollständigkeitskriterien angeben ließen. Es ist aber nicht klar, weshalb das angenommen werden sollte. Das heißt, es ist nicht klar, weshalb angenommen werden sollte, daß die Welt so beschaffen sei, daß es für die Zugehörigkeit von Teilen feste Standards gebe, die erfüllt sein müßten, damit ein Organismus gegeben ist. Vielmehr ist es so, daß das Vorliegen möglicher persistierender Strukturen die Zusammenwirkung von Teilen bestimmter Beschaffenheit voraussetzt, daß aber nicht auf irgendeine Weise vorgegeben ist, wie diese Strukturen beschaffen sind, d. h. etwa wie umfassend, wie stabil oder wie eigenständig sie sind. Partikeln können zur Stabilität und zur Eigenständigkeit beitragen, und sie sind Teile des Organismus, wenn sie das tun. Das heißt, sie sind Teile des Organismus genau dann, wenn sie einen Beitrag zur Stabilität oder zur Eigenständigkeit des Gefüges, das der Organismus ist, leisten. Dann aber läßt sich für jede identifizierbare Partikel zumindest im Prinzip angeben, ob sie zum Organismus gehört oder nicht. Dies läßt sich - zumindest im Prinzip deshalb angeben, weil die in Frage stehende Partikel in kausaler Interaktion mit Teilen des Organismus steht oder nicht steht und weil sie, wenn sie in Interaktion mit jenen Teilen steht, eben zur Stabilisierung oder zur Eigenständigkeit des Organismus beiträgt oder nicht beiträgt. Die Heranziehung der Selbständigkeit als Kriterium der Zugehörigkeit ist hier insofern etwas anderes als das Ausweichen auf formale Teile, als bei diesem Ausweichen nicht etwa nur Selbständigkeit als Standard angenommen wurde, sondern auch ein Standard für Selbständigkeit, von dem dann wiederum nicht klar war, weshalb er so und nicht anders festgelegt sein sollte. Ein derartiger Standard wird mit dem Wechsel der Perspektive nicht mehr angenommen: Selbständigkeit tritt in Graden auf, so daß durch den Beitrag einer Partikel nicht ein bestimmter Zustand erreicht werden muß, damit von der Partikel gesagt werden kann, sie gehöre zum Organismus dazu bzw. gehöre nicht dazu. Mit diesem Wechsel erzielen wir zumindest einen - m. E. relevanten Teilerfolg in der Auseinandersetzung mit dem Problem der Vagheit. Was wir nicht gewonnen haben, ist ein Kriterium für die Bestimmung dessen, Entitäten oder Gefügen welchen Typs Selbständigkeit noch zugeschrieben werden kann und welchen nicht mehr. 19 Dazu zwei Anmerkungen: Zum einen bilden Entitäten wie ζ. B. Helium-Atome oder Viren für jede Individuationsbemühung Probleme. Diese Probleme ergeben sich nicht erst aus der Annahme von Graden von Selbständigkeit. Zum anderen haben wir mit dem Wechsel der Perspektive
19 Siehe auch unten die Diskussion in 6.4.
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4. Vage Gegenstände
dennoch insofern etwas gewonnen, als nun nicht mehr jede gegebene Entität dem Vagheitsvorwurf ausgesetzt ist, und das ist nicht weniger als ein Anfang der Rettung der Dinge. Für die Selbständigkeit eines gegebenen Organismus spielt es keine Rolle, ob es andere Entitäten gibt, deren Selbständigkeitsstatus zumindest ungewiß ist.20
4.3 Fazit Wie sich zuletzt zeigte, müssen wir Organismen trotz ihrer scheinbar vagen Grenzen und trotz der scheinbaren Vagheit der Zugehörigkeit formaler Teile nicht als vage Gegenstände auffassen. Tatsächlich besitzen Organismen nämlich keine vagen, sondern nur flexible Grenzen, d. h. Grenzen, die sich diachron räumlich verändern oder zumindest verändern können. Trotz dieser flexiblen Grenzen läßt sich für eine beliebige Partikel jederzeit zumindest im Prinzip angeben, ob sie zum Organismus gehört oder nicht. Kriterium hierfür ist die Leistung eines Beitrags zur Eigen- oder Selbständigkeit des Organismus. Organismen sind veränderliche, aber nicht vage Gegenstände. Insofern sind sie von Problemen, die es bei Annahme vager Gegenstände und deren Identität gibt, nicht betroffen.
20 Für die weitere Diskussion siehe unten 10.4.
5. Abgrenzung nach oben: Individuen und umfassendere Entitäten Eines der Hauptprobleme für Individuationsbemühungen ist das Problem der Abgrenzung des zu Individuierenden von solchen Dingen, die nicht zu ihm gehören. Oftmals wird dieses Problem, nämlich das der Unterscheidung, als das eigentliche Individuationsproblem angesehen. In jedem Fall muß eine Konzeption der Individuation, die von der Einheit des Individuums und deren Grundlegung ausgeht, auch dieses Problem der Abgrenzung zu erfassen versuchen. Selbst wenn dieses Problem nicht als Ausgangsproblem angesehen wird, bleibt seine Lösung immer noch ein Testfall des Individuationserfolgs der Konzeption. Die Grundfrage bei der Frage der Abgrenzung ist die, ob etwas selbständig ist oder ob es Teil von etwas ist. Im ersten Fall ist es, insofern es selbständig ist, abgetrennt und abgrenzbar, im zweiten nicht. Es geht also darum zu entscheiden, ob etwas Teil von etwas ist oder nicht. Nun ist mit Ausnahme der Gesamtheit der existierenden Dinge in gewisser Hinsicht alles Teil von etwas, nämlich von dieser Gesamtheit. Die ontologisch relevante Frage - deren Beantwortung uns ontologisch primäre Entitäten liefern soll - ist jedoch nicht die Frage nach diesem Teilverhältnis, sondern danach, welche Entitäten als selbständig gelten können und welche das nicht können. Die Frage danach, ob etwas Teil von etwas ist oder nicht, soll hier also als Frage danach verstanden werden, ob etwas ontologisch selbständig oder unselbständig ist. Daß Selbständigkeit oder Unselbständigkeit zu relevanten Kriterien der Individuität werden, ist Folge der unausgesprochenen, und wichtigen, Vorannahme, daß, in dem hier verwendeten Sinn von »selbständig«, nichts Selbständiges Teil von etwas anderem Selbständigen sein kann. Könnte Selbständiges Teil von Selbständigem sein, ergäbe sich eine ontologische Konkurrenz, die die Selbständigkeit gerade wieder in Frage stellte. Die Frage nach der Selbständigkeit soll nun in zwei Hinsichten gestellt werden, nämlich mit Blick auf das Verhältnis eines bestimmten Gegenstands zu Entitäten, die ihn in gewisser Hinsicht umfassen, und mit Blick auf das Verhältnis dieses Gegenstands zu Entitäten, die er umfaßt. Im ersten Fall spreche ich vereinfachend von der »Abgrenzung nach oben«, im zweiten Fall von der »Abgrenzung nach unten«. Im ersten Fall geht es um das Verhältnis des Gegenstands zu umfassenden Entitäten, wie ζ. B. das Verhältnis eines
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5. Abgrenzung nach oben
einzelnen Menschen zu sozialen Organismen, die ihn umfassen. Im zweiten Fall geht es um das Verhältnis ζ. B. des einzelnen Menschen zu den Teilen, d. h. insbesondere zu den »Partikeln«, aus denen er besteht. In beiden Fällen geht es um die Frage, ob bzw. weshalb die ontologische Ebene des einzelnen Menschen gegenüber den anderen (höheren oder niederen) Ebenen ontologische Priorität besitzt. Ziel dieses Kapitels und der folgenden Kapitel ist es, Abgrenzungen und Sortierungen vorzunehmen. Diese Abgrenzungen sollen der weiteren Vorbereitung der Diskussion zur Auffassung, Individuen seien Funktionsgefüge, dienen. Die Kapitel streben keine Vollständigkeit der Diskussion der zu behandelnden Probleme an. Im vorliegenden Kapitel geht es um die Abgrenzung nach oben. Dazu einige Erläuterungen: Für Individuen wie die in Frage stehenden Organismen stellt sich die Frage nach ihrer Selbständigkeit gegenüber umfassenden Entitäten zunächst in zwei Hinsichten, nämlich zum einen im Hinblick auf eventuelle Materiestücke, die an diese Individuen angrenzen (und so das Problem der »materiellen Anstückung« bilden), zum anderen im Hinblick auf soziale wie auch biologische Gefüge, deren Teile jene Individuen sind - wie ζ. B. sozial begründete Lebensgemeinschaften, symbiotische Verhältnisse oder auch Ökosysteme. Angrenzende Materiestücke sind ζ. B. die Brille, die ich trage, oder die Zahnfüllungen, die ich habe, oder ein Herzschrittmacher, der mich am Leben hält, oder der Mensch, den ich anfasse oder auch - angenommen, ich wäre ein siamesischer Zwilling - der Mensch, mit dem ich zusammengewachsen bin. (In diesen Fällen der Berührung eines anderen Menschen geht es noch nicht um den sozialen Aspekt, der hier ebenfalls vorliegt.) Der Fall sozialer Organismen oder sozialer Gefüge und der der Ökosysteme unterscheidet sich vom Fall angrenzender Materiestücke, und zwar zunächst dadurch, daß die Teile eines sozialen Gefüges oder die eines Ökosystems sich nicht oder nicht notwendigerweise oder nicht notwendigerweise fortwährend physikalisch berühren. Die Teile bilden das soziale Gefüge oder das Ökosystem nicht durch Berührung. In beiden Fällen stellt sich jedoch die Frage, ob die Teile in ontologischer Hinsicht Priorität besitzen oder ob das Ganze diese Priorität besitzt, und diese Frage läßt sich in die Frage übersetzen, bei Gebilden welcher Ebene wir angemessenerweise von »Individuum« sprechen. Im folgenden soll zunächst der Fall der sozialen Gefüge behandelt werden - inklusive symbiotischer und entsprechender Verhältnisse (5.1). Im Anschluß daran gehe ich auf den zuerst angeführten Fall der Abgrenzung bei »materieller Anstückung« ein (5.2). In beiden Fällen, wenn auch in verschiedener Hinsicht, wird das Selbständigkeitskriterium einzelne Organismen als Individuen auszeichnen (Zwischenfazit 5.3).
5. Abgrenzung nach oben
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Schließlich sind zwei besondere Fälle der Abgrenzung nach oben zu erörtern, nämlich das Verhältnis von Individuum und Spezies (5.4) sowie die etwaige Individuität von Riesen-Entitäten wie ζ. B. großen Pilzgewächsen (5.5). Der eigentlichen Diskussion dieser Probleme schicke ich hier eine kurze Bemerkung zu zwei extremen Positionen voraus. Die erste Position ist die des Universalismus. Dem Universalismus zufolge läßt sich aus beliebigen gegebenen materiellen Entitäten nichts zusammensetzen, weil diese Entitäten schon, sobald sie gegeben sind, etwas zusammensetzen. 1 Das heißt, sie können nicht erst noch zu etwas zusammengefügt werden, und zwar deshalb nicht, weil sie bereits zu etwas zusammengefügt sind. Einer noch radikaleren Version des Universalismus zufolge trifft das Zusammengesetzt-Sein auch auf alle Instanzen verschiedener Kategorien zu. 2 Auf diese Weise erhalten wir einen »Super-Gegenstand«, der aus allem besteht, was es gibt, und unsere gewöhnlichen Organismen sind nur Teile dieses Super-Gegenstands. Van Inwagen wendet gegen diesen Universalismus einerseits ein, daß es Gegenstände gibt, die untereinander nicht verbunden sind und die schlichtweg nichts zusammensetzen. (Dies ist freilich nur die Formulierung der nichtuniversalistischen Gegenposition.) Zum anderen wendet er ein, daß die Atome oder Partikeln, aus denen ein bestimmter Mensch besteht, über die Zeit hin (etwa zwischen i, und t2) vollständig ausgewechselt werden und daß dieser Mensch somit zu t2 neu zusammengesetzt ist. 3 Der Universalist könnte versucht sein, mit dem Gegeneinwand zu antworten, daß van Inwagens Annahme der Neu-Zusammensetzung auf der Voraussetzung formaler (oder personaler) Identität beruhe - d. h. auf einer Voraussetzung, die zumindest ein Universalist nicht notwendigerweise akzeptieren wird. Doch stellt sich angesichts dieses Gegeneinwands wiederum die Frage, ob die Nicht-Akzeptanz formaler Identität durch den Universalisten tatsächlich ein Problem des Nicht-Universalisten (oder van Inwagens) ist. Die Annahme formaler Identität hilft uns immerhin, offenkundige Unterschiede begrifflich zu fassen: Der Begriff der formalen Identität gehört zu jenem Repertoire begrifflicher Strukturen, mit deren Hilfe wir Einteilungen der Welt in ihre Strukturen und Regelmäßigkeiten vornehmen können, die - wie sich an ihrer Plausibilität oder gegebenenfalls am Mangel an Plausibilität zeigt jedenfalls nicht völlig willkürlich sind. Der Universalist verschenkt viel an ernstzunehmenden ontologischen Möglichkeiten.
1
So die Definition von »Universalismus« bei van Inwagen (1990: 74).
2
Van Inwagen nennt diese Universalismus-Version »Super-universalism« (1990: 74).
3
Vgl. van Inwagen 1990: 74f.
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5. Abgrenzung nach oben
Die zweite, geringfügig weniger extreme Position könnte man - wiewohl sie anders motiviert ist - als »Lebens-Universalismus« bezeichnen. Ihr zufolge sind alle Lebens-Prozesse im Prinzip nur Teile eines einzigen Gesamtlebensprozesses. Dieser Prozeß zeichnet sich durch die Kontinuität des Randes aus, der durch das Leben (d. h. jenen Gesamtprozeß) gegen das thermodynamische Ungleichgewicht im Verhältnis zur Umwelt aufrechterhalten wird.4 Für unsere herkömmlichen Organismen heißt dies, daß sie »strenggenommen keine eigenständigen Prozesse [sind - F. B.], da ihr Rand die kontinuierliche Fortsetzung des Randes der ihnen vorhergehenden Zellen und Organismen ist.«5 Sie sind »die Träger des Lebensprozesses und realisieren damit dessen Selbsterhaltung«.6 Die ontologischen Implikationen dieser Position sind nicht ganz klar. Sie könnten zumindest auch darin gesehen werden, daß Organismen - als Träger von etwas (nämlich des Lebensprozesses) - ontologisch posterior sind. In jedem Fall ist es wichtig, Ursache und Wirkung korrekt zuzuordnen. Der Rand (eines Organismus) ist die Folge einer bestimmten (Gesamt)-Aktivität des einzelnen Organismus. Und ebenso ist der »Gesamt-Rand« in der lebensuniversalistischen Auffassung die Folge der gesamten Aktivitäten der einzelnen Organismen, und zwar die Folge der Aktivitäten, die diese einzelnen Organismen als solche auszeichnen. Der ontologische Status eines Organismus wird nicht davon berührt, ob es über ihn hinaus noch weitere Organismen gibt oder gab oder geben wird. Daher erscheint es nicht vielversprechend, einen einzelnen Organismus als Teil jenes Gesamt-Lebensprozesses zu begreifen. Das heißt nicht, daß es nicht doch in anderer Hinsicht sinnvoll ist, von diesem Prozeß zu sprechen. Doch ist der einzelne Organismus nicht der Träger dieses Prozesses, sondern seine Voraussetzung. So weit die Bemerkung zu den extremen Positionen.
5.1 Soziale
Organismen
Der Diskussion sozialer Organismen sind zwei Vorbemerkungen voranzuschicken. Zum einen könnte man zur Verwendung des Ausdrucks »sozialer Organismus« meinen, es handele sich hier um eine äquivoke Verwendung des Ausdrucks »Organismus«. Und man könnte versucht sein, daraus den Schluß zu ziehen, daß der soziale Organismus von vornherein nicht die ontologische
4
Vgl. An der Heiden et al. 1989: 204-207.
5
An der Heiden et al. 1989: 205.
6
An der Heiden et al. 1989: 210. An der Heiden et al. fassen ihrerseits Individuen Teilprozesse jenes Gesamtprozesses oder -systems auf (vgl. ebd.: 211).
als
5.1 Soziale Organismen
73
Bedeutung haben könne, die ihm im vorliegenden Abschnitt argumenthalber einmal zugeschrieben wird. E i n solcher Schluß verfehlte aber den Punkt, u m den es geht. Zweifelsohne gibt es soziale Gefüge - unabhängig davon, wie sie benannt werden. U n d es ist, wie ζ. B. auch die Geschichte der politischen Theorie zeigt, nicht von vornherein abwegig anzunehmen, jemand könne auf die Idee kommen, soziale Gefüge seien gegenüber ihren Mitgliedern die ontologisch grundlegenden Entitäten. Zum anderen ist die Bedeutung des Ausdrucks »sozialer Organismus« insofern unbestimmt, als es soziale Organismen verschiedener Komplexität gibt. Außerdem können solche sozialen Organismen ineinandergeschachtelt sein wie es sich etwa bei sozialen Verbünden wie Partnerschaft, Familie, G r o ß familie, dörfliche Gemeinschaft etc. ergeben kann. W e n n ein sozialer Organismus gegenüber seinen Mitgliedern ontologische Priorität besitzen soll, dann wäre demnach - vor der eigentlichen Begründung für diese Prioritäts"Annahme - zunächst zu klären, von welchem sozialen Organismus und von welchen Mitgliedern bei dieser Annahme ausgegangen wird. W e n n ich gleichwohl allgemein von »sozialer Organismus« spreche und keine nähere Angabe zur Ebene mache, dann deshalb, weil das relevante Argument davon unabhängig durchgeführt werden kann. Was könnte jemanden zu der Annahme veranlassen, ein soziales Gefüge besitze gegenüber seinen Teilen ontologische Priorität? Drei Hauptgründe könnte man für diese Annahme anführen, nämlich das Fehlen individueller Autarkie (5.1.1), das Vorliegen sozialer Handlungen (5.1.2) und das Vorliegen sozialen (institutionellen, politischen oder anderen) Zwangs (5.1.3).
5.1.1 D e r Autarkie-Einwand N i c h t nur, aber im besonderen Maße auch für den Fall des einzelnen Menschen gilt, daß er durchwegs auf das Zusammenleben mit anderen Menschen wie auch auf das Vorhandensein materieller Mittel angewiesen ist (für Exemplare anderer Arten gilt Entsprechendes). Unserer »Natur« nach, meint Aristoteles, sind wir politische Lebewesen, d. h. Lebewesen, die in einer geordneten Gemeinschaft zusammenleben. 7 W i r sind dies aufgrund fehlender »individueller« Autarkie. In extremen Fällen können wir zwar, meint er, auch einzeln leben - wofür etwa Zufall verantwortlich sein kann oder auch die besondere Eigenheit eines 7
Vgl. Politik 12,1253a3-4, und insgesamt Politik 12. Ich erwähne Aristoteles hier, weil er gerade auch Autarkie zum Kriterium des guten Lebens macht (s. NE 17,1097b6-16, X 7,1177a27-bl).
5. Abgrenzung nach oben
74
Menschen, die ihn unfähig zum Zusammenleben mit anderen Menschen macht. D e n n o c h wäre ein solches Leben nicht eines, das der »Natur« des Menschen entspricht. »Autarkie«, so sei hier angenommen, bezeichne jenen selbstgenügsamen oder unabhängigen Zustand von einzelnen Lebewesen oder einer Gruppe von Lebewesen innerhalb eines geographisch abgegrenzten Bereichs, denen alle erforderlichen sozialen Beziehungen sowie alle Mittel zum Uberleben dauerhaft zur Verfügung stehen. Für die nähere Bestimmung dessen, wann genau es der Fall ist, daß Autarkie vorliegt, sind die einzelnen Bedürfnisse, die zu befriedigen sind, anzugeben. 8 F ü r diese Angabe wiederum ist ein Standard zu setzen. Dieser Standard ist für viele antike Philosophen mit Blick auf den Menschen das gute Leben. 9 Heute besteht aber offenbar keine Einigkeit darüber, welches der Standard ist. W i e vage die Autarkie-Kriterien für den Fall des Menschen sind, läßt sich etwa durch eine Inbezugsetzung der relevanten Parameter veranschaulichen. Nehmen wir drei einander zugeordnete Skalen, nämlich eine Skala, auf der Werte von »unmittelbar lebensnotwendig« bis »ein gutes Leben garantierend« aufgetragen sind, 10 eine zweite Skala, in der W e r t e von »nur im gemeinschaftlichen Verbund zu erreichen« bis »ohne Mithilfe anderer genauso gut (oder besser) als durch ihre Mithilfe zu erreichen« aufgetragen sind, und eine dritte Skala, die die Lebensdauer umfaßt. Es dürfte nun kaum möglich sein anzugeben, w o hier genau die Grenze zur Autarkie zu ziehen ist. Allerdings dürfte es zumindest Fälle geben, in denen es unstrittig ist, daß ein individueller Mensch für die Erfüllung unmittelbar lebensnotwendiger Bedürfnisse auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen ist, w o ihm also Selbständigkeit in gewisser Hinsicht zu fehlen scheint. O d e r es dürfte Fälle geben, in denen es unstrittig ist, daß ein Individuum einer bestimmten A r t auf die Hilfe anderer Individuen dieser A r t angewiesen ist. Dieser Fall der Abhängigkeit läßt sich dann auch noch auf andere F o r m e n des Zusammenlebens
8
Vgl. etwa den Ausgangspunkt der Entwicklung der Teile der Polis oder politeia in Piatons Politeia II, 369b.
9
Vgl. wiederum Aristoteles' Bemerkung, daß die politische Gemeinschaft um des Lebens willen entstehe, um des guten Lebens willen aber bestehe {Pol. 12,1252b29f.). S. ferner die ausführlichen Diskussionen zur philia in NE VHIf. und EE VII sowie insbesondere die dortigen Ausführungen zur autarkeia in EE VII 12 und NE IX 9.
10 Es soll hier nichts davon abhängen, daß diese Skala mit Begriffen operiert, die wir allenfalls auf das Leben von Menschen anwendeten. Es genügte auch, eine Skala anzusetzen, die mit Begriffen besseren und schlechteren Lebens operiert, was sich etwa dadurch erläutern läßt, daß wir eine freie Haltung von Tieren im Unterschied zu ihrer Käfighaltung als für sie besser ansehen.
5.1 Soziale Organismen
75
ausdehnen, nämlich auf solche zwischen Individuen verschiedener Arten. Für diesen weiteren Fall ließe sich den angeführten drei Skalen eine vierte Skala hinzufügen, auf der Werte von »selbständig und >ungestört< lebend« über »in Symbiose lebend« bis »parasitär lebend« aufgetragen sind. (Auf symbiotische und andere Verhältnisse werde ich weiter unten noch einmal zurückkommen.) Der Autarkie-Einwand läßt sich, angesichts der Vagheit der Kriterien und in der Absicht, diesem Einwand möglichst weit entgegenzukommen, nun wie folgt fassen: Es gibt diesem Einwand zufolge Organismen, die für den Erhalt ihres Lebens auf andere Organismen derselben oder anderer Art angewiesen sind und bei denen daher das Selbständigkeitskriterium nicht auf individueller Ebene erfüllt oder erfüllbar ist. Als Antwort auf den Autarkie-Einwand läßt sich zum einen ein Gegeneinwand vorbringen (1), zum anderen läßt sich der Versuch machen, die individualistische Position (der zufolge Individuen wie ζ. B. einzelne Menschen ontologische Priorität besitzen) zu stärken (2). (1) Der Gegeneinwand besagt, daß der Autarkie-Einwand einen Autarkiebereich wählt, der nicht leistet, was er leisten müßte, und daß der Einwand auch in einem Versuch der Nachbesserung keinen besser geeigneten Autarkiebereich angeben könnte. So sind etwa einzelne Menschen noch auf ungleich mehr angewiesen als nur auf soziale, ökonomische oder andere materielle Unterstützung. Und doch würde man es nicht für plausibel halten, daß all das, worauf ein Mensch angewiesen ist und was er für sein Leben verwendet, in der Summe etwas bildet, dessen Teil er ist und das ontologische Priorität besitzt. (Man würde dies deshalb nicht für plausibel halten, weil hierbei ζ. B. auch Nahrung, Sauerstoff und dergleichen mit einzuschließen wäre.) Und selbst wenn ein entsprechend umfassender Autarkiebegriff gewählt würde, gäbe es vermutlich immer noch etwas anderes, auf das der autarke Komplex angewiesen ist: Mindestens würde das System die Erde (samt Mond) und die Sonne umfassen müssen, ganz abgesehen von der Abhängigkeit des Sonnensystems von seinen Entstehungsbedingungen. Das wäre aber kaum noch ein besser geeigneter Autarkiebereich. (Für eine Präzisierung dieser Antwort siehe unten 10.5.6). (2) Für die Stärkung der individualistischen Position kann hier nur ein Anfang gemacht werden. Danach verwechselt der Autarkie-Einwand Autarkie und Selbständigkeit als Konstituenten ontologischer Priorität. Autarkie, als Situation etwa einer Gruppe von Menschen, ist, traditionell gesprochen, ein Akzidens dieser Gruppe und - über die Gruppe vermittelt - der Mitglieder der Gruppe. Selbständigkeit bezieht sich hingegen auf die für Individuen wesentliche Eigenschaft, Prinzip von Aktivitäten zu sein. Autarkie ist die Verfügbarkeit materieller Güter und sozialer Beziehungen. Selbständigkeit ist ein VerfügenKönnen, das einer Fähigkeit zum Aktiv-Sein und zum Handeln entspricht.
76
5. Abgrenzung nach oben
Autarkie als Situation und Selbständigkeit als Prinzip gehören zu verschiedenen Kategorien. (Worin Selbständigkeit genauerhin besteht, ist später zu klären. Dieser Klärung zufolge wird sie sich - so viel sei hier vorweggenommen - als diejenige Eigenschaft des Individuums erweisen, die das Individuum in die Lage versetzt, als etwas, das als Selbstorganisierer über den Zeitpunkt der unmittelbaren Interaktion mit der Welt hinaus existiert, der Welt als etwas Eigenständiges gegenüberzutreten.)
5.1.2 Der Einwand der sozialen Handlungen Ein weiterer Einwand von Seiten des Vertreters ontologisch primärer sozialer Organismen könnte sich auf Überlegungen stützen, wie sie in Theorien sozialer Handlungen angestellt werden, nämlich Überlegungen im Zusammenhang mit Theorien der joint actions. Beispiele solcher joint actions sind Tanzen, Mannschaftsrudern, Orchesterspiel, Entscheidungsfindung eines Komitees etc.11 Zwei Fälle sind (für den hier interessierenden Punkt) zu unterscheiden, nämlich zum einen der Fall, in dem sich durch das gemeinsame Handeln - wie angenommen wird - etwas Neues ergibt, das nicht auf die Einzelhandlungen reduzierbar ist; zum anderen der Fall korporierten Handelns - wie etwa der des Einleitens juristischer Schritte einer Regierung gegen ein Unternehmen 1 2 - , in dem eine Korporation als handelndes Subjekt auftritt (oder aufzutreten scheint). Ein Beispiel für den ersten Fall führt Seumas Miller an: »[T]wo people could each be moving their own body in such a way as to realise the collective end of dancing together. Here the combination of the (intentional) bodily movements of each agent are constitutive of their dancing together, but only partially constitutive. The additional constitutive element is the relation between the bodily movements of one agent and those of the other. The bodily movements of the agents combine to constitute a pleasing totality. It is pleasing partly in virtue of the coherence - as opposed to the summation - of the combining elements.« 13
Einige Vertreter von joint actions nehmen nun sog. »Wir-Intentionen« an, d. h. Intentionen, die in Sätzen des Schemas »ich beabsichtige, daß wir...« oder »wir
11 Diese Beispiele aus Miller 1992: 275,/οίΗί aciiowsspieleninsoziologischenund v. a. in ökonomischen Theorien eine größere Rolle. Mir geht es hier nur um den ontologischen Kern solcher Handlungen. Für eine umfassende Darstellung zu sozialen Handlungen oder joint actions s. Miller 2001; s. ferner die entsprechenden Beiträge in Meggle 2002. 12 Dieses Beispiel bei Miller 1995: 52. 13 Miller 1992: 278.
5.1 Soziale Organismen
77
beabsichtigen, daß ...« zum Ausdruck kommen. Und darüber hinaus ist sogar von »joint mental state[s]« (der Handelnden einer joint action) und von »collective intentions«, die primitiv und nicht auf individuelle Intentionen reduzierbar seien, die Rede.14 Zumindest in manchen dieser Fälle, so die Vermutung, scheint es Entitäten zu geben, die dem Individuum übergeordnet sind. Zur Antwort auf den Einwand der sozialen Handlungen. Alle jene Fälle bedürfen in ontologischer Hinsicht größter Sorgfalt. Daß etwa im Fall des Tanzens eine Relation zwischen den Handelnden mit hinzukomme, trifft zu. Relationen wie diese sind aber ihren Relata ontologisch nachgeordnet. Die Annahme einer »pleasing totality« ist ontologisch leer: Es gibt lediglich die Freude des einen Tanzpartners und die Freude des anderen sowie unter entsprechenden Umständen auch die jeweilige Freude von Beobachtern des Tanzens. Es gibt keinen Grund, mehr als diese individuellen Vorkommnisse von Freude anzunehmen. Und auch »Wir-Intentionen« oder »korporierte Intentionen« dürfen ontologisch nicht als über-individuelle Entitäten angesehen werden, denn es gibt keinen Grund, solche Entitäten anzunehmen, und es spricht vielmehr alles gegen ihre Annahme - wie etwa schon das Problem, wo denn der Träger solcher Intentionen sei. (Es soll hierbei nicht behauptet werden, daß alle Vertreter entsprechender joint-actions-Theor'ien solche Entitäten annähmen.15 Es soll lediglich für hinreichende Vorsicht geworben werden, daß aus der Verwendung praktikabler abkürzender Redeweisen nicht merkwürdige Entitäten folgen.) Ontologisch gesehen existieren soziale Organismen und die ihnen zuzuordnenden »Handlungen« nur vermittelt über Individuen und deren Handlungen, Erwartungen, Absichten etc.16
14 Für »joint mental states« s. Cohen / Levesque / Smith (1997: 87); für »we-intentions« s. Tuomela / Miller (1988) oder Gilbert (1997: 65); für »collective intentions« s. Searle 1990. Bratman, ein Vertreter solcher »we-intentions« (oder »shared intentions«), meint selbst, daß sie ein »interlocking web of the intentions of the individuals« seien (1997: 49 - meine Hervorhebung). Für eine Diskussion einzelner Ansätze vgl. Miller 1995. 15 Allerdings müßte genau geklärt werden, was in den angeführten Fällen ζ. B. ein »plural subject of intention« (Gilbert 1997: 66) sein kann oder welches die ontologischen Implikationen sind, wenn es heißt, daß die in einem solchen Subjekt verbundenen Personen »jointly committed to X-ing as a body« seien (ebd.: 69; zur Kritik s. etwa Bittner 2002). Ferner wäre zu klären, wie man es sich vorzustellen hat, daß eine shared intention auch dann noch vorliegen kann, wenn ihr bei keinem ihrer (ehemaligen) Träger mehr eine persönliche Intention entspricht (s. diesen Fall bei Gilbert 1997: 68). 16 Nicht jeder wird diesen Reduktionismus akzeptieren. So werden ζ. B. Vertreter der Luhmannschen Theorie sozialer Systeme ihm nicht zustimmen, und zwar schon deshalb nicht, weil Individuen, d. h. hier: psychische Systeme, nach Auffassung dieser Theorie eben nicht Teile sozialer Systeme sind und die jeweiligen autopoietischen
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5. Abgrenzung nach oben
Der Vertreter der Annahme ontologischer Priorität auf Seiten sozialer Organismen könnte diesem Reduktionsversuch entgegenhalten, daß - gesetzt, der Versuch sei erfolgreich - er sich auch auf die angeblich ontologisch primären einzelnen Lebewesen anwenden ließe: Auch im Fall eines solchen Lebewesens, so sein Einwand, lassen sich dessen Handlungen auf Aktivitäten seiner Teile reduzieren. Diesem Einwand läßt sich jedoch entgegenhalten, daß es gerade nicht der Fall ist, daß sich jene Handlungen auf Aktivitäten der Teile reduzieren lassen. Dies deshalb nicht, weil die Aktivität der Teile nur als solche, d. h. als Aktivität von nicht-selbständigen Teilen zu verstehen ist. Die Selbständigkeit des Organismus läßt sich nicht auf eine Selbständigkeit seiner Teile reduzieren, weil diese Teile nicht selbständig sind.
5.1.3 Der Zwang-Einwand Ein weiterer Einwand des Vertreters der Annahme ontologisch primärer sozialer Organismen würde darauf verweisen, daß zumindest in einigen sozialen Organismen erheblicher Zwang auf die Mitglieder des sozialen Organismus ausgeübt wird. Dieser Zwang, so der Einwand, beraube die Mitglieder der ihnen als Individuen zugeschriebenen Selbständigkeit - sie werden zu de-facto-Teilen des sozialen Organismus. Drei mögliche Antworten auf den Zwang-Einwand bieten sich an. (1) Die erste Antwort besteht im Versuch einer Abschwächung der Zwangstärke, (2) die zweite Antwort bringt das Problem eines Kategorienwechsels zur Sprache, und (3) die dritte Antwort hebt die Relevanz der Selbstdetermination hervor.
Mittel - Bewußtsein und Kommunikation - nicht aufeinander reduzierbar sind (s. Luhmann 1984:288f., 367). Vereinfachend gesagt, verhalten sich jener Theorie zufolge psychische und soziale Systeme eher wie etwas Aneinandergrenzendes, das zur Grenze hin aneinander angepaßt werden muß (vgl. Luhmanns »binäre Schematisierung«, 1984: 311). Doch diese Auffassung ändert nichts an der Tatsache, daß es das System ohne seine Träger nicht gibt. Das System kann sich nur durch den Beitrag des Einzelnen konstituieren, und das, was vom Einzelnen aus ins System eingeht, hört nicht auf, seine (des Einzelnen) Aktivität, Erwartung, Absicht etc. zu sein. In jedem Fall wäre von Seiten der Luhmannschen Theorie zu klären, welches und was denn der Referent des logischen Subjekts in Aussagen ist, die sozialen Systemen Aktivitäten zuschreiben, und welches und was die Relata in entsprechenden Beschreibungen von Kausalzusammenhängen sind.
5.1 Soziale Organismen
79
5.1.3.1 Abschwächung des Zwangs D e r erste Erwiderungsversuch auf den Zwang-Einwand könnte also im Versuch einer Abschwächung bestehen. So wendet sich etwa J a c k Wilson gegen die Annahme, soziale Organismen seien Individuen, 17 mit dem Argument, dies sei deshalb nicht der Fall, weil soziale Organismen nicht jenes M a ß an Integriertheit,
kausaler
d. h. innerer Interaktion, aufwiesen, wie es etwa für biologische
Organismen und deren Teile gegeben sei. Die einzelnen Zellen eines biologischen Organismus seien »unterjocht«, während selbst in totalitären Gesellschaften das Verhalten des Einzelnen nicht in dieser Weise diktiert sei. In totalitären Gesellschaften verliere der Teil dieser Gesellschaft nicht seine Individualität (d. h. in unserer Terminologie: seine »Individuität«). 18 Wilsons Argument kann auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden. Entweder will er sagen, daß es eine Frage des Grades
der »Eingebundenheit«
der Teile ist. O d e r er will sagen, daß im Fall des sozialen Organismus Eigenständigkeit (der Teil-Individuen) gegeben ist, im Fall der Teile des biologischen Organismus hingegen nicht. Wilsons Formulierung legt ersteres nahe: Die Auffassung, in einer totalitären Gesellschaft gehe unsere Individuität verloren, »seems to be overstating the degree to which such social structures actually dictate our behavior. A player is not integrated into a team in the same way a cell or an organ is integrated into a body.«19 Die Art oder der Grad der Eingebundenheit, nicht das Vorliegen der Eingebundenheit selbst macht demnach den Unterschied. A u f diesen Versuch, dem Zwang-Einwand mittels Abschwächung zu begegnen, könnte der Vertreter des Einwands wiederum damit antworten, daß im angeführten Beispiel ein ganz bestimmter Fall herausgegriffen werde, nämlich ein Fall von Lebewesen, die im Prinzip in der Lage sind, selbständig,
17 S. Wilson 1999a: 107. - Wilson spricht tatsächlich von »funktionalen« Individuen. Unter den verschiedenen Begriffen von »Individuum«, die er unterscheidet (ebd.: 60), ist der des funktionalen Individuums der einzige, in bezug auf den es zumindest diskutierbar ist (und der einzige, in bezug auf den er es diskutiert), ob soziale Organismen unter ihn fallen können. 18 Diese Bemerkung ist notwendig, da Wilsons Annahme sonst einen Einspruch erfahren wird, der den Punkt, um den es ihm geht, verdeckt: Natürlich, würden wir sagen, verlieren Mitglieder einer totalitären Gesellschaft ihre Individualität. Worum es Wilson (und uns) hier aber geht, ist die Frage, wie wir bestimmte Entitäten ontologisch plausibel erfassen können. 19 Wilson 1999a: 107.
80
5. Abgrenzung nach oben
d. h. nicht vollständig durch Umgebungsbedingungen bestimmt, zu handeln. Doch ungeachtet der Frage, ob dies für diesen besonderen sozialen Organismus (nämlich etwa eine totalitär organisierte Gesellschaft) tatsächlich zutrifft, stellt sich zumindest die Frage, wie sich der Fall für andere soziale Organismen darstellt. Einige der von Wilson für funktionale Individuität angeführten Beispiele lassen Zweifel daran aufkommen, daß soziale Organismen als solche jene Eigenständigkeit zulassen. Eine Siphonophoren-Kolonie (wie etwa die Portugiesische Galeere) ist dem äußeren Anschein nach ein einzelnes, einer Qualle ähnelndes Lebewesen. Doch tatsächlich besteht eine einzelne solche Kolonie aus einer Vielzahl von Lebewesen (Polypen und Medusen), die im Rahmen der Kolonie unterschiedliche, sehr spezifische Aufgaben übernehmen und die arbeitsteilig strikt spezialisiert sind (für Beutefang, Nahrungsverwertung, Verteidigung, Fortpflanzung, Auf-demWasser-Treiben-Lassen). Zudem hängen sie physiologisch auf solche Weise zusammen, daß die einzelnen Bestandteile nicht selbständig ihren Ort wechseln können und daß das Ganze den Anschein von Geschlossenheit erweckt. In diesem Fall scheint der soziale Organismus das Verhalten seiner Teile ebenso vollständig zu bestimmen, wie dies der biologische Organismus in bezug auf seine Teile tut. In bestimmten Fällen von Arten von sozialen Organismen, nämlich bei denen der Bienen und Wespen sowie bei den Ameisen und Termiten, weisen die einzelnen Lebewesen ebenfalls kein besonderes Maß an Eigenständigkeit auf. Hier sind die einzelnen Lebewesen zwar nicht lokal in der Weise eingebunden, wie dies für Mitglieder von Siphonophoren-Kolonien oder für einzelne Zellen eines komplexeren Organismus der Fall ist, doch macht dies - so könnte man meinen - für die begriffliche Erfassung keinen Unterschied: Das Verhalten des einzelnen Lebewesens ist nichtsdestoweniger wesentlich vom sozialen Organismus bestimmt. Einen ebenfalls schwierigen Fall stellen in Schwärmen lebende Tiere dar (sei es, daß sie dauerhaft in Schwärmen leben - wie etwa bestimmte Arten von Fischen - , sei es, daß sie zeitweilig in Schwärmen leben - wie etwa bestimmte Vogelarten). Schwieriger zu entscheiden ist es schließlich, ob bzw. inwiefern bestimmte Fälle von Symbiosen ebenfalls soziale Organismen bilden, die sich (als ganze) als funktionale Individuen erfassen lassen. Diesem Hinweis auf sozial oder biologisch eng gebundene Lebewesen läßt sich nicht mit dem Einwand begegnen, daß solche sozialen Organismen, im Unterschied zu einzelnen Lebewesen, verstreute Objekte seien, d. h. Gegenstände, die keinen räumlichen Zusammenhang aufweisen. Tatsächlich sind in ihrer physikalischen Feinstruktur nämlich alle Organismen - Lebewesen wie soziale Gefüge - verstreute Objekte: Sie unterscheiden sich hinsichtlich der
5.1 Soziale Organismen
81
Verstreutheit nur dem Grad nach. Wenn man dies nicht akzeptiert - etwa weil es physikalisch doch Kontakt auf der Ebene der Feinstruktur gebe so müßte man dies konsequenterweise ebenfalls wieder auf alle Organismen ausdehnen: Auch bei sozialen Organismen besteht nämlich physikalischer Kontakt zwischen den Teilen dieser Organismen (etwa in Form von Masseanziehung). Das Abschwächungsargument erfaßt somit jedenfalls nicht alle interessanten Fälle.
5.1.3.2 Keine Kategorie-Änderung durch Zwang Wie verhält es sich also mit dem Einwand, dem zufolge soziale Organismen ihre Mitglieder in solcher Weise determinieren, daß bei ihnen von Eigenständigkeit allem Anschein nach nicht mehr plausiblerweise die Rede sein kann? Hier ließe sich zumindest für den Fall des Menschen ein besseres als das von Wilson vorgebrachte Argument anführen, die Bindung eines Individuums durch ein soziales Gefüge sei nie so strikt wie die Bindung eines Teils durch den biologischen Organismus. Es geht bei der Frage, ob etwa totalitär strukturierte Gesellschaften Individuen sind oder nicht, nämlich nicht um die Frage, ob solche Gesellschaften ein bestimmtes (für Individuität ausreichendes) Maß an kausaler Integriertheit aufweisen. Es genügt vielmehr, auf den o n t o l o g i s c h e n Umstand zu verweisen, daß keine Entität ihre ontologische Kategorie wechseln kann. Wie auch der Vertreter des Zwang-Einwands zuzugestehen bereit sein dürfte, ist es einem einzelnen M e n s c h e n p r i n z i p i e l l möglich, unabhängig oder eigenständig zu leben. Er ist für sein Uberleben keineswegs (und gerade nicht) auf ein totalitär strukturiertes System angewiesen, das seinen Bekundungen und Handlungen zufolge die soziale Struktur dem Individuum überordnet. Und wenn es ihn trifft, Mitglied eines solchen Systems zu werden, so ändert dies an seinem ontologischen Status nichts. Man könnte nun versucht sein, diese Antwort auf den Fall der Siphonophoren zu übertragen und darauf zu verweisen, daß nicht alle Arten von Medusen und nicht alle Arten von Polypen Kolonien bilden bzw. daß nicht alle aus Polypen und Medusen gebildeten Kolonien eine entsprechend strikte Arbeitsteilung und Unterordnung der Teile aufweisen.20 Da Individuität biologische 20 Bertalanffy (1942: Bd. 6.1,104) zufolge sind Polypen der Klasse der Hydrozoen »meist koloniebildend«, während Polypen der benachbarten Klasse der Scyphozoen »meist einzellebend« seien. Von den Medusen wiederum heißt es, daß sie »im Gegensatz zum Polypen fast stets einzellebend« seien (ebd.: 99), wobei die Medusen der Siphonophoren eben eine wichtige Ausnahme bilden. Bertalanffy (ebd.: 94) zufolge kommt es
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5. Abgrenzung nach oben
Kategorien nicht überspringt oder wechselt, hätten im Rückschluß auch die Polypen und Medusen der Siphonophoren, nicht die aus ihnen gebildeten Kolonien, als Individuen zu gelten. Doch diese Antwort ist unbefriedigend. Die Frage nach der ontologischen Priorität (der Polypen bzw. der Medusen oder der Kolonie) sollte sich nämlich unabhängig von der Existenz anderer Polypen bzw. Medusen stellen, und zwar nicht etwa, weil wir so tun müßten, als wüßten wir von diesen anderen Polypen oder Medusen nichts, sondern deshalb, weil Klassen generell keine ontologische Kraft haben. Es finden sich immer noch unterschiedliche Auffassungen darüber, ob es sich bei Siphonophoren um Individuen oder um Kolonien von Individuen handelt,21 wiewohl häufig betont (oder, ohne Angabe von Gründen, behauptet) wird, daß es keine Individuen seien. Soweit ich sehe, läßt sich die Frage, auf welcher Ebene - der der Polypen bzw. Medusen oder der der Siphonophoren plausiblerweise von »Individuum« die Rede ist oder auf welcher Ebene ontologische Priorität vorliegen soll, kaum beantworten. Während Selbständigkeit notwendig für das Vorliegen von Individuität ist, ist es schwer zu entscheiden, ob dem einzelnen Polypen oder der einzelnen Meduse in irgendeiner Hinsicht Selbständigkeit zuzuschreiben ist. Ebenso ist es schwer zu entscheiden, wie etwa der Umstand zu bewerten ist, daß sich die Beschreibung der Funktion der Teile der Siphonophore nicht oder nicht wesentlich von der Beschreibung der Funktion der Teile (Zellen oder Teile von Organen) höherer Organismen unterscheidet. Die Fortpflanzung der Portugiesischen Galeere als ganzer ähnelt ebenfalls derjenigen anderer Organismen: 22 Nicht ihre einzelnen Polypen oder Medusen pflanzen sich fort, sondern die für die Reproduktion zuständigen Polypen geben in dicht besiedelten Gewässern Gameten ab, aus deren Vereinigung Larven entstehen, die sich dann wiederum asexuell vermehren und ausdifferenzieren. Siphonophoren bilden also einen besonderen und schwierig zu entscheidenden Fall. Die Schwierigkeit ist jedoch nicht auf die Individuenkonzeption zurückzuführen, sondern auf die Unklarheit, welche Merkmale den in Frage stehenden Entitäten zuzuschreiben sind.
zumindest »selten« vor, daß »sich mehrere, erst getrennte Polypen zu einer Kolonie [vereinigen]«. Und weiter heißt es, daß »[ursprünglich [...] alle Polypen einer Kolonie gleichwertig [sind], sie ernähren sich selbständig, erzeugen die Fortpflanzungszellen oder -tiere usw.« (ebd.: 95). 21 Vgl. den populärwissenschaftlichen Link zu »Siphonophores« bei Wrobel. Bertalanffy zufolge wird »[d]as Einzeltier [...] hier nur zum Funktionsteil eines höheren Ganzen, die Staatsquallen stellen also Individuen höherer Ordnung dar« (1942: Bd. 6.1, 99). 22 Siehe Kurlansky 2002.
5.1 Soziale Organismen
83
5.1.3.3 Externe und interne Determiniertheit I m Unterschied zum schwierigen Fall der Siphonophoren stellt sich der Fall staatenbildender oder sozialer Insekten anders dar und ist, wie es scheint, weniger problematisch. Hier ist zunächst eine Unterscheidung zu treffen, die auch später noch eine Rolle spielen wird. E i n Organismus kann intern oder extern determiniert sein (s. hierzu auch 3.2.2 und 10.2.4). Interne Determination liegt vor, wenn eine Aktivität des Organismus durch den der Aktivität vorausgehenden Zustand des Organismus determiniert ist. Externe Determination liegt vor, wenn der Organismus Gegenstand einer äußeren Verursachung ist. D e r relevante Punkt ist hierbei, daß der Organismus - ohne daß wir ihm deshalb schon Freiheit zusprechen müßten - nicht in allen seinen Aktivitäten extern determiniert ist, wie dies sonst ein Gegenstand als physikalischer Gegenstand ist (etwa im klassischen Fall der Energieübertragung bei aufeinanderstoßenden Billardkugeln). 2 3 A u c h im Fall interner Determination ist es - so sei einmal angenommen - strikt determiniert, wie ein Organismus sich - ausgehend vom vorausgehenden Zustand - unter bestimmten Umweltgegebenheiten verhalten wird. D o c h ist es das Verhalten des Organismus: Es liegt bei ihm als Verursacher, auf eine bestimmte Weise zu reagieren, so wie es bei ihm liegt, Nahrung aufzunehmen und zu verwerten, zu wachsen, den Körper in einen Ruhe- oder Wachzustand zu versetzen etc. Es liegt ebenfalls bei ihm, sich in den Zustand, der einer bestimmten Reaktion vorausgeht, zu versetzen, und zwar auch dann, wenn es zutreffen sollte, daß ein Zustand den nächsten strikt determiniert. Es liegt auch in diesem Fall insofern bei ihm, als die Zustände nichts von ihm Verschiedenes sind. Die Unterscheidung von äußerer und innerer Determiniertheit läßt sich nun auch auf den Einzelorganismus als Teil eines sozialen Gefüges anwenden. Auch dieser kann, wie ζ. B. eine einzelne Biene im Fall eines heftigen Windstoßes, extern strikt determiniert werden. In anderen Fällen, wie ζ. B. in der Reaktion
23 Der Begriff der Energieübertragung diente (unter den Diskussionen etwas neueren Datums) etwa in der Kausalitätskonzeption von Fair (1979) als Analysans kausaler Relationen (s. a. Vollmer 1986: 44-46). Mit dem Verweis auf Energieübertragung werden freilich längst nicht alle Arten von Kausalbeziehungen erfaßt, so ζ. B. nicht mentale Verursachung, Verursachung durch Information oder Verursachung durch Unterlassen (s. Birnbacher 1995: 96-99). Für die Ausführungen oben genügt es anzunehmen - und mehr soll nicht behauptet werden - , daß Energieübertragung dann determinierend ist, wenn sie (anders etwa als im Fall von Wahrnehmungen) als nichtverarbeiteter Impuls wirksam ist und wenn diese Wirkung nicht durch Gegenmaßnahmen abgeblockt werden kann.
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5. Abgrenzung nach oben
auf einen vorgeführten Bienentanz, ist die einzelne Biene nicht extern determiniert, vielmehr liegt es hier - unbeschadet einer internen Determiniertheit bei ihr, auf eine bestimmte Weise zu reagieren. Insofern ist die Biene selbständig, und Teil eines sozialen Gefüges zu sein, wie es ein Bienenvolk ist, impliziert keine Determiniertheit, die mit Selbständigkeit unvereinbar wäre.24 Dieser Schritt verschafft uns wiederum einen Zugriff auf weitere biologische Phänomene, nämlich die der symbiotischen, kommensalen und parasitären Verhältnisse (im folgenden sei der Einfachheit halber immer eine Zweierbeziehung angenommen) wie auch auf das Phänomen Ökosystem.25 In symbiotischen (mutualistischen) Beziehungen macht sich ein Symbiont die Arbeit oder das Produkt des jeweils anderen Symbionten zunutze. Insofern er dies tut, agiert er selbständig, und zwar selbst dann, wenn er - was für viele symbiotische Verhältnisse zutrifft - sich den Symbiose-Partner nicht aussuchen kann. Bei karpotischen und kommensalen Verhältnissen, in denen nur einer der Partner von der Beziehung profitiert, während der andere lediglich nicht beeinträchtigt wird, liegt der Fall ganz ähnlich. Auch hier agieren beide Partner selbständig. Der Fall parasitärer Beziehungen stellt sich insofern schwieriger dar, als hier die Vielfältigkeit der Arten der parasitären Beziehungen eine Rolle spielt: Bei
24 Eine wichtige Ergänzung zu diesem Versuch der Rettung der Selbständigkeit kann ich erst später anfügen (s. 10.5.5). Hier ist hingegen eine Anmerkung zu Dawkins angebracht: Dawkins meint zu bestimmten Arbeiterbienen (jenen, die als eine Art »food störe« dienen), daß ihr Individuumsein unterjocht sei (»their individuality is subjugated«, 1989: 171). Zur Ameisen-, Bienen- bzw. Termitengesellschaft als jeweils ganzer meint er, sie erlange »a kind of individuality at a higher level« (ebd.). Zur Erläuterung stellt er die Aufgaben der Teile jener Gesellschaft den Aufgaben der Teile eines Organismus gegenüber (ebd.: 171f.). Es ist nicht ganz klar, ob bzw. wieweit er diese Gegenüberstellung als eine Gleichsetzung versteht. Eine spätere Passage legt diese Deutung nahe, wenn er ein Wolfsrudel und eine Bienenkolonie unter Hervorhebung der entsprechenden Unterschiede der Integriertheit voneinander abhebt, so daß offenbar die Bienenkolonie, nicht aber das Wolfsrudel dem Organismus entspreche (vgl. ebd.: 255f.). Der interessante Punkt ist allerdings ein anderer, nämlich daß manches, was heute ζ. B. Teil einer Zelle eines Organismus ist, der Endosymbiontentheorie zufolge (s. Campbell 1997: 568f.) entwicklungsgeschichtlich aus symbiotischen Verhältnissen hervorgegangen ist. Demnach können Entitäten entwicklungsgeschichtlich ihr Individuumsein verlieren und zugleich einen Teil ihrer Funktionen beibehalten. Dies scheint aber die oben vorgebrachte Behauptung zu unterlaufen, Entitäten könnten nicht ihre Kategorie - und somit auch nicht ihren Individuen-Status - wechseln (s. 5.1.3.2). Offenbar haben wir es hier mit einem ontologisch schwierigen Fall zu tun. Zumindest dies läßt sich aber dazu sagen, nämlich daß die oben in Anspruch genommene Kategorienfixiertheit sich nur auf individuelle Entitäten erstrecken sollte. 25 Zur Information vgl. Campbell 1997: u. a. 1229-1230.
5.2 Anstückung
85
parasitären Beziehungen, die zum Tod des Wirts führen, liegt offenkundig eine relevante Beeinträchtigung der Selbständigkeit des Wirts vor. Dennoch dürfte es auch hier wohl angemessen sein, bis zum Tod des Wirts von »Selbständigkeit« des Wirts zu sprechen: Denn so lange hält sich das organische Gefüge des Wirts aufrecht (auf diesen Fall komme ich unten noch einmal zu sprechen, s. 10.5.5). Zuletzt läßt sich die Selbständigkeitskonzeption auch auf die »Teile« oder Mitglieder der Lebensgemeinschaft eines Ökosystems übertragen. 26 Auch hier stellt die Annahme, diese Mitglieder handelten selbständig, kein Problem dar, wenn wir die fehlende Autarkie nicht mit fehlender Selbständigkeit verwechseln. Zusammenfassend läßt sich zur Frage des Verhältnisses von Individuum und sozialem Gefüge sagen, daß es keinen Grund gibt, Individuen in ontologischer Hinsicht als Teile jener Gefüge aufzufassen. Vielmehr ist die Selbständigkeit der Individuen Grund, sie gegenüber den Gefügen, die aus ihnen bestehen, als ontologisch prioritär anzusehen. So ist die fehlende Autarkie bestimmter Individuen kein Beleg für fehlende Selbständigkeit; Autarkie und Selbständigkeit gehören vielmehr zu verschiedenen Kategorien. Auch soziale Handlungen sind kein Beleg für die ontologische Priorität des sozialen Gefüges; vielmehr sind sie ihren Trägern, nämlich den Individuen, ontologisch nachgeordnet. Ferner hebt auch Zwang von Seiten des sozialen Gefüges die prinzipielle Selbständigkeit der Träger dieses Gefüges nicht auf: Er führt nicht zur Änderung der relevanten Kategorie. Und wenn schließlich ein Organismus intern strikt determiniert ist, liegt es doch bei ihm, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten. Es gibt allerdings problematische Fälle wie etwa die Siphonophoren. Das Problem, auf welcher Ebene es sich hier um Individuen handelt, ergibt sich aber nicht aus der Individuitätskonzeption, die das Individuumsein an die Selbständigkeit einer Entität bindet, sondern aus der Schwierigkeit zu entscheiden, auf welcher Ebene die Merkmale der Selbständigkeit vorliegen.
5.2 Anstückung Es gibt nun weitere umfassende Gebilde oder Konglomerate, bei denen sich die Frage der Integriertheit und der Selbständigkeit und damit die Frage der ontologischen Priorität stellt. Mit »Konglomerat« sei hier eine Materie-Zusammenfügung gemeint, die aus einem Lebewesen und zusätzlicher »angestückter« Materie besteht, d. h. aus Materie, die an das Lebewesen angrenzt. 26 »Lebensgemeinschaft« bezeichne hier die Gesamtheit der »Organismen, die ein bestimmtes Gebiet bewohnen« (Campbell 1997: 1158), d. h. die lebenden Teile oder Mitglieder eines Ökosystems.
86
5. Abgrenzung nach oben Materielle Anstückung dieser Art zeichnet sich dadurch aus, daß materieller
Kontakt, genauer: eine physikalische Beziehung, vorliegt. Beispiele umfassen etwa meine Brille, wenn ich sie trage, meine Zahnfüllungen, einen Herzschrittmacher, der jemandem eingesetzt wurde, oder, im Fall siamesischer Zwillinge, einen Menschen, mit dem ein anderer Mensch zusammengewachsen ist. W i e zuvor stellt sich wieder die Frage, ob die Teile ontologische Priorität besitzen oder ob das Ganze bzw. die Summe der Teile diese Priorität besitzt. D i e Antwort, die zuvor gegeben wurde und die auf die Selbständigkeit des Individuums verwies, scheint in den hier angeführten Fällen vielleicht nicht auf den ersten Blick zureichend. Offenkundig ist etwa die Brille nicht ein organischer Teil von mir, sondern lediglich ein Werkzeug, das ich benutze und das mich in bestimmten Aktivitäten unterstützt: Das Werkzeug - so könnte man meinen - ist etwas, das ich, insofern ich etwas Selbständiges bin, benutzen kann, es ist aber nicht Teil von etwas Selbständigem. D o c h wie verhält es sich mit dem Herzschrittmacher? H i e r könnte man jedenfalls Anfangsintuitionen haben, denen zufolge es sich in diesem Fall tatsächlich um einen Teil seines Besitzers handelt. (Man könnte diese Intuitionen haben, weil der Herzschrittmacher in gewisser Hinsicht »eingebaut« ist und weil Eingebaut-zu-sein ein triviales oder intuitives Kriterium dafür zu sein scheint, daß etwas ein Teil von etwas ist.) Diese Anfangsintuition würde zudem durch den Umstand gestützt, daß der Diskussion hier generell ein sehr weiter Organismusbegriff zugrunde gelegt wird und daß es nur plausibel ist, auch einen dem angepaßten Begriff des Organischen zu verwenden. 2 7 27 Hershenov etwa spricht sich gegen die Einbeziehung von Artefakten aus (2005: 47f., unter Bezug auch auf Olson 1997: 135). Etwas sei nur dann einzubeziehen, wenn es »caught up in a »common lifeAlle Systeme mit der Mikrostruktur [C„ ..., C n ; Λ] haben F< ist ein wahres Naturgesetz, aber (b,) die Art und Weise, wie sich die Teile C „ ..., C„ verhalten, wenn sie auf die Weise R angeordnet sind, läßt sich nicht aus den allgemeinen einfachen Gesetzen und den allgemeinen Interaktionsgesetzen ableiten, die für diese Teile gelten; oder (b2) es gibt kein allgemeines Brückenprinzip, dem zufolge S die Makroeigenschaft Fhat, wenn sich seine Teile C„..., C„ so verhalten, wie sie es tun, wenn sie auf die Weise R angeordnet sind.« »Brückenprinzip« impliziere hier lediglich eine gesetzesmäßige Korrelation der »höheren« Eigenschaft und der realisierenden, zugrundeliegenden Struktur.
124
7. Emergenz
wurde, zutrifft, daß mit emergenten Entitäten »neue kausale Kräfte« verbunden sind, d. h. kausale Kräfte, die auch im Prinzip nicht aus den Gesetzen, die für die Teile und deren Relationen gelten, ableitbar sind. Diese Annahme hat etwa Kim den Emergentisten zugeschrieben: Demnach müßten Emergentisten der Auffassung sein, daß emergente Entitäten mit jenen neuen kausalen Kräften verbunden sind, wenn sie sich, wie sie es beabsichtigen, gegen den Epiphänomenalismus abgrenzen wollen. Bei einem Epiphänomen machte es in kausaler Hinsicht keinen Unterschied, ob es vorliegt oder nicht (mit cetens-paribusAnnahme). 4 Das Fehlen der entsprechenden Entität wäre irrelevant. (Es wäre irrelevant, weil die Entität nicht in den Ablauf der Ereignisse eingreift.) Gegen die Annahme solcher irrelevanten Entitäten spricht neben anderem vor allem auch das Prinzip der Sparsamkeit. Mit der Annahme neuer kausaler Kräfte auf der emergenten Ebene träte nun nicht nur der Fall ein, daß das kausale Verhalten auf der emergenten Ebene nicht vollständig durch die Gesetze erfaßt wird, die für die Teile und ihre Relationen gelten. Darüber hinaus ergäbe sich auch eine Konkurrenz-Situation der beiden Ebenen, denn das Verhalten der so-und-so angeordneten Teile folgt nach wie vor den für diese Teile geltenden Naturgesetzen, auch wenn auf der emergenten Ebene in irgendeiner Weise zusätzliche Gesetze gelten sollten. Für diese zusätzlichen Gesetze ist aber auf der zugrundeliegenden Ebene kein Platz.5 Ein
4
Kim (1999: 22) spricht davon, die emergenten Eigenschaften hätten »causal powers of their own« (s. ferner 1999: 8, 22; und Alexander 1920: II 8f.; Kim spricht bei der Auszeichnung emergenter Eigenschaften durch eigene kausale Wirksamkeit auch von »Alexander's dictum«, s. Kim 1993a: 348; Kim meint damit, in seiner eigenen Formulierung, die Formel »7b be real is to have causal powers«·, Alexanders Ablehnung des Epiphänomenalismus gründet allerdings nicht, wie Kims Zitat von Alexander suggeriert, auf dem Fehlen eigener Wirksamkeit der Epiphänomene, sondern auf der Falschheit seiner empirischen Voraussetzungen, s. Alexander 1920: II 8f.); siehe ferner auch Beckermann (1996: 16 u. 18), der (unter Verweis auf Schiffer 1987) zwischen »robusten« und »nicht-robusten« Eigenschaften unterscheidet: Eine robuste Eigenschaft zeichne sich im Unterschied zur nicht-robusten dadurch aus, daß sie »einen eigenen Beitrag zur Welt leistet« (1996:16); für die Zuschreibung der Annahme neuer kausaler Kräfte an die Emergenz-Vertreter siehe auch Brüntrup 1998: 144f.
5
Beckermann formuliert das Problem zunächst als ein Problem der Unvollständigkeit (vgl. Beckermann 2000:139f.; 2001:242): »Unvollständig« sind die Gesetze der Mikrooder zugrundeliegenden Ebene insofern, als sie nicht alles erfassen, das auf dieser Ebene passiert. Mir scheint, daß der Fall noch ungünstiger liegt (bzw. sich noch dramatischer beschreiben läßt), nämlich deshalb, weil die physikalischen Gesetze die Situation vollständig beschreiben, so daß das Verhalten der emergenten Eigenschaft nur mit ihnen kollidieren kann (Beckermann spricht später selbst von der Zerstörung der »Homogenität der grundlegenden Gesetze der Physik«, s. 2001: 245).
7.1 Was ist ontologische Emergenz?
125
solches unterschiedliches Verhalten kann es offenkundig nicht geben: Wenn man ein solches Verhalten unterstellte, müßte man zugleich annehmen, daß der Gegenstand nicht »wüßte«, wie er sich in einer bestimmten Situation verhalten sollte. Dieses Problem besteht auch für den Fall, daß man entsprechend die Eigenschaft eines bestimmten Teilbereichs des Gegenstands wählt, die auf der »höheren« Ebene gegenüber den korrespondierenden zugrundeliegenden Teilen des Gegenstands (und deren Relationen) emergiert. Auch hier dürfen sich der Ausschnitt der höheren Ebene und der korrespondierende Ausschnitt der zugrundeliegenden Ebene in ihrem kausalen Verhalten nicht unterscheiden. Mit der Annahme kausal wirksamer emergenter Entitäten würden wir also - wie Jaegwon Kim argumentiert - vor dem Dilemma stehen, daß diese Entitäten zwar wirksam sein sollen, daß sie dies zugleich aber nicht können, da sie anderenfalls die kausale Geschlossenheit des Physischen verletzten.6 Dann bleibt aber nur der Ausweg, sie für Epiphänomene zu halten oder eine dualistische Position einzunehmen (wobei auch im letzteren Fall die kausale Geschlossenheit des Physischen nicht garantiert wäre). Beide Auswege wären aber mit den erklärten Absichten der Emergentisten unvereinbar.7
6
Humphreys hält dem reduktionistischen Anti-Emergenz-Argument bezüglich der kausalen Geschlossenheit entgegen, daß diesem Argument zufolge Eigenschaften höherer Ebenen (wie ζ. B. der biologischen oder chemischen, also nicht nur der mentalen Ebene) generell nicht kausal wirksam auf der physikalischen Ebene werden könnten (vgl. Humphreys 1997a: 3). Diese Entgegenhaltung folgt allerdings keineswegs aus der relevanten Prämisse des von Humphreys referierten Reduktionismus-Arguments, aus der sie wohl folgen soll und die lautet (s. ebd.: 1): »If an event χ is causally sufficient for an event y, then no event x* distinct from χ is causally relevant to y (exclusion).« Dies folgt deshalb nicht, weil (ontologische) Reduktion nicht gleichzusetzen ist mit (ontologischer) Elimination, weshalb den Eigenschaften oder sonstigen Entitäten jener sog. »höheren« Ebenen auch nicht die kausale Wirksamkeit abgesprochen werden muß: Es handelt sich lediglich um Komplexitätsunterschiede.
7
Für dieses Argument s. etwa Kim (1993a: 353-356). Brüntrup versucht - ohne sich selbst entsprechend festlegen zu wollen - , Emergenz-Theorien trotz der Probleme, die in Anbetracht der kausalen Geschlossenheit entstehen, als wenigstens diskussionswürdig zu präsentieren. Die Richtung, die er (mit aller Vorsicht) dafür vorschlägt, sähe unter anderem eine Unterminierung der Annahme der kausalen Geschlossenheit durch eine Duale-Aspekte-Theorie vor, die ihrerseits (unter anderem) eine Art von Verursachung durch Information als Information vorsieht (vgl. Brüntrup 1998: 146-150).
126
7. Emergenz
7.1.2 Probleme ontologischer Emergenz für die Individuität Für die Frage der Einheit des Individuums spielte die Konkurrenz der Ebenen dann eine Rolle, wenn das Individuum ein Kausal- bzw. Funktionsgefüge ist und wenn zugleich einige der Eigenschaften (oder Fertigkeiten oder Aktivitäten), die dem Individuum zukommen sollen, ontologisch emergente Eigenschaften (oder Fertigkeiten oder Aktivitäten) sein sollen.8 Die Rolle, die die Konkurrenz der Ebenen spielt, ist eine zweifache, entsprechend den externen und den internen kausalen Relationen, die für das Individuum bestehen. Ich konzentriere mich hier auf die internen Relationen. (Auf externe Relationen läßt sich die Diskussion leicht übertragen.) Als Kandidaten für solche Eigenschaften gelten üblicherweise mentale Eigenschaften, und insbesondere Qualia. Mit Qualia ist bekanntlich eine umfassende Diskussion verbunden.9 Diese betrifft zunächst die Frage, ob man Qualia akzeptiert oder nicht. Wenn man sie akzeptiert, stellt sich die Frage, ob sie emergente Eigenschaften sind. Wenn sie emergente Eigenschaften sind, stellte sich fernerhin die Frage, ob sie tatsächlich ontologisch emergente Eigenschaften sind oder ob sie lediglich epistemisch emergente Eigenschaften sind (wobei »epistemisch emergent« sich auf unser Vermögen oder Unvermögen zur Reduktion oder eindeutigen Identifizierung beziehen soll). Für die vorliegende Individuations-Diskussion spielt nur die Frage der ontologischen Reduzierbarkeit der emergenten Eigenschaften eine Rolle. Und genauer: Emergente Eigenschaften wie ζ. B. Qualia sind dann und nur dann ein Problem, wenn sie sich in kausaler Hinsicht nicht einfügen lassen und wenn sie zugleich eigene Wirksamkeit besitzen. Das heißt, die Annahme von emergenten Eigenschaften, die nicht in kausaler Hinsicht (und insofern auch nicht im oben angeführten Sinn) emergent sind, wäre mit einer Individuenkonzeption verträglich, der zufolge ein Individuum ein Kausal- bzw. Funktionsgefüge ist. Es wäre in diesem Fall eine andere Frage, wodurch sich solche emergenten Eigenschaften dann noch auszeichnen könnten, wodurch sie sich »bemerkbar« machen würden und welche Rolle sie für das Individuum spielen könnten.10 Doch das ist nicht ein Problem, das hier behandelt werden müßte. (Dies deshalb
8
Die Rede von »Kausal- bzw. Funktionsgefüge« ist so zu verstehen, daß Kausalgefüge der weitere, Funktionsgefüge der engere Begriff ist.
9
Zur gesamten Qualia-Diskussion s. etwa Heckmann / Walter 2001.
10 Der Qualia-Vertreter könnte hier vielleicht darauf verweisen, daß sich entsprechende Eindrücke auf eine bestimmte Weise »anfühlen« oder daß sie bestimmte »Erlebnisse« sind. Doch das wäre eben schon wieder mit Wirksamkeit verbunden.
7.1 Was ist ontologische Emergenz?
127
nicht, weil ich solche Eigenschaften zwar zulassen könnte, sie aber für die Individuenkonzeption nicht anzunehmen brauche.) Wie können wir nun mit solchen Eigenschaften des Individuums umgehen, die im Verdacht der kausal relevanten Emergenz stehen? Dazu zwei Punkte. Zum ersten benötigten wir hier nähere Auskünfte vom Emergenz-Vertreter. So wäre von ihm der Nachweis zu verlangen, daß jene Eigenschaften kausal relevant sind. Wenn nicht gezeigt wird, daß ζ. B. Qualia kausale Relevanz besitzen, muß man sie auch nicht als etwas kausal Relevantes akzeptieren. Wenn sie kausal relevant sind, ist ferner der Nachweis zu verlangen, daß jene Eigenschaften in einer Weise kausal relevant sind, durch welche sie in Konkurrenz zur physikalischen Geschlossenheit stehen. Wenn dies nicht gezeigt wird, besteht kein Anlaß zur Annahme, daß sie jene Geschlossenheit verletzten. Wenn sie jene Geschlossenheit verletzten, müßte der Emergenz-Verteter schließlich zeigen, wie jene Eigenschaften mit den übrigen Eigenschaften zusammenhängen. Wenn hier kein Zusammenhang besteht, kann mindestens einer von beiden Bereichen nicht zum Individuum dazugehören - eine auch für den EmergenzVertreter unliebsame Konsequenz. Bei diesen Forderungen an den Emergenz-Vertreter handelt es sich nicht um eine wenig inspirierte Beweislastverschiebung. Vielmehr wird verlangt, daß der theoretische Aufwand, der mit der Annahme ontologisch emergenter Entitäten verbunden ist, ernst genommen wird: Es handelt sich um Entitäten, die nicht leichthin angenommen werden sollten. Für den weiteren Umgang mit solchen (vermeintlich) emergenten Eigenschaften soll nun angenommen sein - dies ist jedenfalls das einzig taugliche Prozedere - , daß sie sich ohne Verletzung der kausalen Geschlossenheit integrieren lassen. Wenn sie sich nicht integrieren lassen, haben wir es bei der in Frage stehenden Gesamtheit von Eigenschaften nicht mehr mit den Eigenschaften eines Individuums zu tun. Zum zweiten ist es für den Umgang mit emergenten Eigenschaften für die Konzeption von Individuen als Funktionsgefügen, für die ich argumentieren möchte, wichtig zu beachten, daß viele Eigenschaften, die als »emergent« bezeichnet werden, dies jedenfalls nicht im angeführten ontologischen Sinn sind. Am ehesten ließen sie sich noch unter jenen Begriff von Emergenz einordnen, den Achim Stephan in seiner Diskussion der verschiedenen Emergenz-Theorien als Begriff der »schwachen Emergenz« bezeichnet hat.11
11 Vgl. Stephan 1999: 66-72 (zur Unterscheidung zwischen »schwacher«, »synchroner« und »diachroner« Emergenz). Auf den Umstand, daß Emergenz meist schwache Emergenz sei, macht etwa auch schon Wimsatt aufmerksam. Er liefert die folgende Definition emergenter Eigenschaften (1997: S373): »An emergent property is - roughly - a system property which is dependent upon the mode of organization of the system's
128
7. Emergenz
Schwache Emergenz zeichnet sich Stephan zufolge durch drei Annahmen aus: die Annahme eines physischen Monismus, dem zufolge nur physische Entitäten bzw. aus ihnen Zusammengesetztes angenommen werden; die Annahme sog. »systemischer Eigenschaften«, d. h. solcher Eigenschaften eines bestimmten Systems, für die gilt, daß »kein Bestandteil des Systems eine Eigenschaft dieses Typs hat«;12 und die Annahme synchroner Determiniertheit, welche den Eigenschaften eines Systems dann zukommt, wenn sie gesetzmäßig von den Eigenschaften der Bestandteile und deren Anordnung abhängen.13 Beispiele für systemische Aktivitäten, Dispositionen oder Eigenschaften seien etwa »atmen«, »Schmerzempfindung haben« oder »Flugfähigkeit«.14 Dabei muß schon ein Beispiel wie »Flugfähigkeit« nicht irritieren: Während es zutrifft, daß eine derartige Eigenschaft keinem Teil eines Lebewesens oder eines flugfähigen Gegenstands zukommt, sondern nur dem jeweiligen System als ganzem, ist diese Eigenschaft zugleich als komplexe Eigenschaft zu verstehen, die genau die Eigenschaft eines komplexen Gefüges ist, insofern dies ein solches Gefüge ist, das sich aus Teilen zusammensetzt, die von bestimmter Beschaffenheit sind und die in bestimmten Relationen zueinander stehen. Es bleibt hier - anders als im Fall der ontologisch emergenten Eigenschaften - kein ontologischer Rest. Um die These zu illustrieren, es handele sich bei vielen Fällen von Emergenz nur um schwache Emergenz, führe ich einige Beispiele an. Die Anführung dieser Beispiele dient gleichzeitig dem Zweck, uns einige Punkte zu vergegenwärtigen, die wir bei der Konfrontation mit scheinbar ontologisch emergenten Eigenschaften berücksichtigen müssen. (1) Im Campbell, dem Standard-Handbuch zur Biologie, wird wie selbstverständlich angenommen, daß es emergente Eigenschaften gibt: »Mit jeder Stufe in der Hierarchie biologischer Ordnung treten neue Eigenschaften auf, die auf den einfacheren Organisationsebenen noch nicht vorhanden waren also eine neu auftauchende Qualität. Diese sogenannten EMERGENTEN ElGEN-
parts.« Und meint (ebd.): »This is compatible with reductionism, and also common.« Weiterhin schlägt auch er als Verfahren für die Diskussion vor, alle Fälle von Emergenz, die durch jene Definition erfaßt seien, schon einmal als unproblematisch beiseite zu lassen, um so den Blick für etwa verbleibende Fälle zu schärfen (ebd.: S373 und S382; s. ferner Wimsatt 1986). 12 Stephan 1999: 67; s. a. 21. Für die These, schwache Emergenz sei alles, was wir an Emergenz finden können, vgl. etwa Rueger 2000. 13 Ich verstehe die Rede von »gesetzesmäßiger Determiniertheit« so, daß damit nomologische Determiniertheit gemeint ist, bei der es sich - nach Hüttemann 2004: 79 - um wechselseitige Determiniertheit der relevanten Faktoren handelt. 14 Vgl. Stephan 1999: 15, 20f., 26-30, 66f.
7.1 Was ist ontologische Emergenz?
129
SCHÄFTEN [...] resultieren aus Wechselwirkungen zwischen den Komponenten {Synergismus). Ein Proteinmolekül zum Beispiel besitzt Merkmale, die keines seiner Atome aufweist, und eine Zelle ist auf jeden Fall mehr als nur ein Sack voller Moleküle.« 15 Die hier diskutierten emergenten Eigenschaften sind systemische Eigenschaften, d. h. Eigenschaften, die das System besitzt, die aber nicht einem seiner Teile zukommen. Zugleich liegt der Annahme dieser Eigenschaften ein physischer Monismus zugrunde, wonach nichts weiter angenommen wird als physische Entitäten und das aus ihnen Zusammengesetzte. U n d schließlich hängen die systemischen Eigenschaften gesetzesmäßig von den Eigenschaften der Bestandteile und deren Anordnung ab, sind also, wie es weiter oben hieß, »synchron determiniert«. Damit erfüllen sie die von Stephan aufgestellten Kriterien schwacher Emergenz. Hingegen wäre nicht erkennbar, daß aus den für die Teile des Systems geltenden Naturgesetzen nicht folgt, daß das System (oder der relevante Bereich des Systems), das eine bestimmte Struktur aufweist, die systemische Eigenschaft habe. Es ist, allem Anschein nach, nur eine epistemische, nicht eine ontologische Frage, ob aus dem Verhalten der Teile innerhalb des Systems auf die systemische Eigenschaft geschlossen werden kann oder nicht. D a n n aber erfüllen die hier in Frage stehenden Eigenschaften nicht die Kriterien ontologischer Emergenz. (2) Als ein Beispiel für physikalische Emergenz führe ich ein Beispiel von Paul Humphreys an. Humphreys führt aus, daß es sich bei Phasenübergängen (etwa von flüssig zu fest) um makroskopische Phänomene handelt, die gegenüber der E b e n e der Mikrokomponenten qualitativ neu sind und nur durch die Interaktion der Komponenten zustande kommen. Phasenübergänge (d. h. Änderungen der Aggregatszustände) seien nichts, was die Mikrokomponenten jenes Aggregats auszeichnet: 16 »It is their collective relationship to each other that changes across the [...] phase transition.« 17 Humphreys spricht in diesem Fall explizit von »emergent phenomenon«. 1 8 In diesem Fall haben wir es mit diachroner
Emergenz zu tun, insofern
Eigenschaften zu einem bestimmten Zeitpunkt neu auftreten. Auch hier handelt
15 Campbell 1997: 4. 16 Vgl. Humphreys 1997b: 343. 17 Humphreys 1997b: 343. 18 Humphreys 1997b: 342. Humphreys übernimmt die Rede von »Phänomenen« wie auch die Rede von »collective phenomena« von Sewell (1986: 3). Auch Sewell zufolge sind kollektive Phänomene solche Phänomene, die die »cooperation of enormous numbers of particles« (ebd.) voraussetzen.
7. Emergenz
130
es sich aber nicht um ontologische Emergenz. Aus den Naturgesetzen, die für die Teile gelten, und aus den Beschaffenheiten der Teile läßt sich der Aggregatzustand sowohl für den Zeitpunkt vor der Änderung bestimmen wie auch, sofern die relevanten Änderungsbedingungen bekannt sind, für den Zeitpunkt nach dem Eintritt jener Bedingungen. Es gibt nichts im Zusammenhang mit diesen Phasenübergängen, was nicht durch das gegenseitige Verhalten der Aggregatskomponenten erklärbar wäre. Wiewohl dieser Fall relativ klar liegt, verdient hier, wie auch in allen anderen Fällen, ein Punkt erneute Aufmerksamkeit, nämlich die Einführung und Verwendung des Ausdrucks »Phänomen«. Der Umstand, daß wir es bei emergenten Eigenschaften zwangsläufig mit Phänomenen zu tun haben, sollte nicht Anlaß zur Annahme geben, auch ontologische Emergenz habe es als solche mit Phänomenen zu tun: Wie die in Frage stehende Entität erscheint-, ist für die Frage, ob ontologische Emergenz vorliegt oder nicht, gänzlich unerheblich, und die Perspektive, die wir auf den Gegenstand einnehmen, und auch der etwaige Wechsel dieser Perspektive hat mit ontologischer Emergenz nichts zu tun. Wenn es ontologische Emergenz geben sollte, träte sie etwa auch dann auf, wenn wir die Perspektive auf den in Frage stehenden Gegenstand nicht wechseln. (Dieser Umstand ist noch aus einem weiteren Grund von Bedeutung: Wenn ich Individuen als Kausal- bzw. Funktionsgefüge betrachte und wenn diese Betrachtung mit einem »näher Hinsehen« verbunden ist, dann impliziert dies eben nicht eine Veränderung des Betrachteten.) (3) Ein Beispiel für biochemische Emergenz findet sich in einem Forschungsbericht von Gavin {et al.) zur Untersuchung von Hefe-Proteomen (d. h. zur Gesamtheit der Proteine eines Hefe-Pilzes). Dort heißt es: »At the biochemical level, proteins rarely act alone; rather, they interact with other proteins to perform particular cellular tasks. These assemblies represent more than the sum of their parts by having a new >functionfunctionmetaphysische< Emergenz (s. ebd.: 132).
132
7. Emergenz
konzeption bildete dies wiederum ein Problem, weil wir es bei ontologisch emergenten Eigenschaften mit Eigenschaften zu tun hätten, die sich nicht in die Einheit des Gefüges, das das materielle Individuum ist, integrieren ließen. D a es konkurrierende Bereiche von Kausalität innerhalb eines Individuums nicht geben kann, bleibt bloß der pragmatische Ausweg, scheinbar ontologisch emergente Eigenschaften nicht als solche anzusehen, sondern sie vielmehr als Eigenschaften anzusehen, deren Träger als Träger dieser Eigenschaften zumindest im Prinzip reduzierbar ist und mit seiner kausalen Rolle ins Gesamtgefüge integrierbar ist. De facto würde es sich dann bei jenen Eigenschaften lediglich um schwach emergente Eigenschaften handeln, die für die Integration des Gefüges kein Problem bilden. Die angeführten Beispiele für schwach emergente Eigenschaften klammern offensichtlich den schwierigen Fall mentaler Eigenschaften aus. Auch für diese gilt jedoch, daß sie kausal integriert sein müssen, wenn sie Teil des Gefüges sein sollen, das das Individuum ist. Wählte man den dualistischen Ausweg, hätte man es jedenfalls nicht mehr mit einem Individuum zu tun.
7.2 Van Inwagens
»neue Gegenstände«·,
black boxes?
Die bisherigen Ausführungen sollten verschiedenes leisten. Zum einen sollte verdeutlicht werden, was wir im eigentlichen Sinn meinen, wenn wir von ontologisch »emergenten« Eigenschaften oder Entitäten sprechen. Zum anderen sollte verdeutlicht werden, welches der Preis ist, den wir mit der Annahme solcher Entitäten zu zahlen bereit sein müßten. Schließlich sollte illustriert werden, was wir üblicherweise meinen, wenn wir von »emergenten« Entitäten sprechen. Damit soll nun ein Zugriff auf die vermeintliche black box hergestellt sein, die Organismen unter der Bedingung zu sein scheinen, daß mit ihnen etwas Neues in die Welt kommt. Solche black boxes könnte man jedenfalls in den von van Inwagen eingeführten komplexen Individuen sehen. Für meine Individuenkonzeption wäre es jedoch ungünstig, wenn wir es bei Individuen tatsächlich mit solchen nicht analysierbaren black boxes zu tun hätten. Ich beginne diesen Abschnitt mit einem Überblick über die van Inwagen'sche Theorie zur »Neuheit« von Gegenständen (7.2.1). Ich gehe kritisch auf die van Inwagen'sche Annahme ein, es handele sich bei Organismen um solche neuen Gegenstände (7.2.2). Und schließlich gehe ich auf Probleme ein, die sich mit van Inwagens Neuheits-Forderung ergeben (7.2.3).
133
7.2 Van Inwagens »neue Gegenstände
7.2.1 Van Inwagens Organismen Peter van Inwagen hat also in Material
Beings
unter anderem die These ver-
treten, es gebe nur Organismen und Partikeln (oder simples): Außer Organismen und Partikeln habe nichts sonst Anspruch auf die Zuschreibung von Existenz. Simples
werden von van Inwagen schlicht postuliert. Ihnen gilt nicht sein
Hauptinteresse, und es bleibt offen, worum genau es sich bei ihnen handelt. Mit Organismen kommen nun, van Inwagen zufolge, neue Gegenstände in die Welt. 2 2 E r diskutiert - unter dem Stichwort der »special question«,
composition
d. h. der Frage nach den notwendigen und hinreichenden Bedingun-
gen der relevanten Zusammensetzung-die Kriterien, welche die entsprechenden Zusammensetzungen erfüllen müssen, damit eben tatsächlich etwas Zusammengesetztes existiert und ein neuer Gegenstand in die Welt kommt. 2 3 Verschiedene Arten von, wenn wir so wollen: »mechanischem«, Zusammensein einfacher Dinge scheiden von vornherein aus. 24 Dies gilt für den bloßen K o n t a k t von simples
ebenso wie für bestimmte festere Bindungen (wie etwa
Verschraubung, Verleimung etc.). Kontakt liege - so van Inwagen - nämlich schon zwischen atomaren simples
nicht tatsächlich vor, er könne also nicht
notwendig für Zusammensetzungen größerer Objekte sein. Andererseits ist das Vorliegen festerer Bindungen auch nicht hinreichend, um aus zwei Dingen eines zu machen: So macht etwa Verleimung oder eine vergleichbare Verbindung zwei Personen nicht zu einem Gegenstand. Van Inwagens Antwort auf die special composition simples
question
lautet nun, daß
genau dann etwas zusammensetzen, wenn ihre Aktivität ein
Leben
konstituiert, d. h. ein Leben eines konkreten biologischen Organismus. 2 5 Spezifisch für diese A r t der Zusammensetzung ist eine bestimmte Reorganisationsfähigkeit des Zusammengesetzten, nämlich eine Fähigkeit, die den F o r t bestand des Zusammengesetzten garantiert. »Leben« ist für van Inwagen ein
22 Vgl. van Inwagen 1990:98. Für die Wendung »neuer Gegenstand« s. etwa van Inwagen (1990:35,37,57,58). Für Diskussion zu Material Beings vgl. etwa Eklund 2002, Hirsch 1993, Horgan 1993, Persson 1993, Rosenberg 1993, Sanford 1993, Sider 1993 und die Darstellung und die Antworten von van Inwagen (1993a-c). Für einen Uberblick zur neueren »Dead. fioify«-Diskussion s. etwa Hershenov 2005 (in dieser Diskussion geht es in etwa darum, ob der menschliche Körper den Tod des Menschen, dessen Körper er ist, übersteht, bzw. darum, ob nach dem Tod des Menschen dort, wo bis zum Tod der Körper des Menschen war, ein Körper vorliegt). 23 S. van Inwagen 1990: 30f. 24 Vgl. van Inwagen 1990: 33-37, 56-60. 25 Vgl. van Inwagen 1990: 82f., 91.
134
7. Emergenz
count noun, das das individuelle Leben eines konkreten biologischen Organismus bezeichnet: Leben in diesem Sinn ist ein rein biologisches Ereignis, das innerhalb der Oberfläche eines Organismus stattfindet und sich über die gesamte Dauer der Existenz dieses Organismus erstreckt. Van Inwagen liefert zwei Versionen einer Illustration dessen, was er unter »Leben« versteht (eine genauere Bestimmung weist er den Biologen zu). Der ersten Version der Illustration zufolge sollen wir uns einen Club vorstellen, der sich unter anderem dadurch auszeichnet, daß er erwünschte neue Mitglieder kidnappt und zur loyalen Mitgliedschaft zwingt und daß er andere Mitglieder wieder hinauswirft, so daß niemand lange Mitglied des Clubs bleibt. Das einzige, das stabil ist, ist die Verfassung (die constitution) des Clubs, welche eine komplexe Menge von Dispositionen und Absichten ist, die durch gewissenhafte Indoktrination neuer Mitglieder erhalten bleibt. Beim Ausscheiden eines jeden Mitglieds muß der Verfassung entsprechend jeweils möglichst gleichwertiger Ersatz gefunden werden. Daß der Club sich dabei allem Anschein nach nicht verändert, liegt an der internal causation, d. h. an den kausalen Beziehungen, die zwischen seinen Mitgliedern bestehen, nicht an irgendeiner externen Überwachung oder Steuerung.26 In der zweiten Version der Illustration werden die Club-Mitglieder durch Automaten ohne Bewußtsein ersetzt. Das Kapern ist jetzt auf die Bestandteile der nicht zum Club gehörenden Automaten gerichtet, die dann wieder nach Bedarf zusammengesetzt werden. Alle Automaten bestehen aus letzten Standard-Komponenten (verschiedener Typen). 27 Von anderen sich selbst erhaltenden Ereignissen - wie ζ. B. einer Flamme oder einer Welle - unterscheidet sich jenes »homöodynamische Ereignis«, welches das Leben ist, van Inwagen zufolge dadurch, daß es ein »gut-individuiertes« Ereignis ist. Es ist ein solches Ereignis, weil es »self-directing« ist.28 Bei Flammen oder Wellen ist dies hingegen nicht oder nicht unter allen Umständen der Fall. Wellen können ferner einander begegnen und dabei durcheinander hindurchlaufen, während Leben »eifersüchtige« Ereignisse sind, die niemals dieselben raum-zeitlichen Koordinaten haben können. 29 26 Vgl. van Inwagen 1990: 83f. 27 Vgl. van Inwagen 1990: 85f. 28 Vgl. van Inwagen 1990: 87. 29 Vgl. van Inwagen 1990: 88f. Van Inwagen zieht selbst den Vergleich zu Locke. Für Locke ist das einzelne Leben eine kontinuierliche Anordnung und Organisation von Partikeln, die solcher Art ist, daß die Partikeln den lebenden Körper bilden und daß durch die Anordnung der Fortbestand des lebenden Körpers gewährleistet ist. Die Teile jenes Körpers haben an einem gemeinsamen Leben teil (vgl. Essay 2.27.4). Van Inwagen zufolge unterscheidet sich seine eigene Konzeption von Lockes Konzeption
7.2 Van Inwagens »neue Gegenstände«
135
Van Inwagens Antwort auf die special composition question ist unter anderem deshalb bemerkenswert, weil sie nur lebende Organismen zur Klasse der zusammengesetzten Dinge rechnet. Van Inwagen sagt nicht, daß es keine Artefakte gebe, sondern nur, daß es gegenwärtig nur jene Organismen gibt: Er will nicht ausschließen, daß es künstlich hergestellte Dinge geben könnte, die genau die hier relevanten Eigenschaften jener Organismen haben - und diese Organismen wären dann Artefakte. 30 Van Inwagen würde hingegen - ζ. B. angesichts eines Tischs - sagen, daß es diesen Tisch dort nicht gibt, sondern daß es dort nur »tischweise arrangierte einfache Dinge« gibt. (Und er würde sagen, daß der Satz »dort steht ein Tisch« in bestimmter Hinsicht in etwa vergleichbar ist dem Satz »die Sonne geht unter«: Es sind mögliche und praktikable Tatsachenbeschreibungen, die wir verstehen und verwenden, die wir aber nicht wörtlich zu nehmen haben.) Die in einem Tisch enthaltenen simples setzen demnach also nichts zusammen: Daß wir gewohnt sind, jenes tischweise arrangierte Zusammensein bestimmter simples »Tisch« zu nennen, ist lediglich Konvention. Die übliche Auffassung, daß sich dort ein Tisch befinde, erlaube nicht den Schluß darauf, daß es dort tatsächlich etwas gebe, das jenen Raum exakt ausfülle.31
7.2.2 Eine Analyse der black
boxes
Ein Organismus zeichnet sich, auch nach van Inwagen, durch Selbstorganisation aus: Er ist ein sich selbst steuerndes Kausalgefüge, sein Leben ist ein selfdirecting event. Wird der Organismus dadurch zu einer black box? Inwiefern, wenn überhaupt, können wir sagen, daß der Organismus doch etwas anderes als die Summe seiner Teile und deren Relationen sei? Van Inwagen zufolge soll es offenkundig die Verfaßtheit oder formbewahrende Organisation des Organismus sein, die, dank des internen Kausalgefüges und der dadurch gewonnenen Stabilität des Organismus, mehr als ein bloßes Aggregat und insofern etwas Neues ist. Doch liegt hier tatsächlich etwas Neues vor? Zunächst läßt sich beobachten, daß Additionen von Partikeln zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Bei sehr vielen solcher Additionen passiert über die Addition hinaus nichts weiter, wiewohl die Resultate in ihren additiven
darin, daß es s. E. für Locke nur so-und-so organisierte Materie-Anhäufungen gebe, für van Inwagen hingegen nur den einzelnen Organismus (vgl. van Inwagen 1990:144). 30 Vgl. van Inwagen 1990: 137f. 31 Vgl. van Inwagen 1990: 99-106 sowie insgesamt sein Kapitel 13.
136
7. Emergenz
Eigenschaften voneinander abweichen. Bei einer sehr kleinen Teilmenge der Menge der möglichen Additionen der Partikeln ergibt sich jedoch eine persistierende Struktur. Dabei ist es nicht nur das gemeinsame Vorhandensein der Partikeln, welches zu dieser Struktur führt. Vielmehr müssen auch, als weitere Einschränkung, bestimmte Relationen zwischen diesen Partikeln bestehen. Wenn wir einmal bereit sind, von einer »Summe« von Partikeln und Relationen zu sprechen und wenn wir annehmen, und S2 seien solche Summen, die typidentische Partikeln in verschiedener Anordnung enthalten, so ist festzustellen, daß sich die Summe Sl als solche von der Summe S2 als solcher ontologisch nicht unterscheidet. In beiden Fällen liegen Additionen von Partikeln vor, die in Relation zueinander stehen, und der Umstand, daß diese Additionen vorliegen, privilegiert keine dieser beiden Summen als solche. Dies gilt auch für den Fall, daß, was angenommen sei, mit dem Vorliegen von Su nicht aber mit dem Vorliegen von S2, ein Organismus gegeben sei: Auch in diesem Fall unterscheiden sich Sl und S2 nicht, insofern sie Additionen sind. Und doch unterscheidet sich der Organismus, der in besteht, von S2, nämlich dadurch, daß er die Fähigkeit zur Selbsterhaltung besitzt: Seine Zusammensetzung hat in anderer Weise Rückwirkungen auf seine Partikeln, als dies bei S2 der Fall ist. Im Fall von S2 besteht nämlich keine solche Rückwirkung auf die Partikeln, daß mit bestimmter Regelmäßigkeit Partikeln durch andere typidentische Partikeln mit dem Effekt ersetzt werden, daß das aus den Partikeln zusammengesetzte Ganze von gleichbleibender Struktur ist. Das Neue, das mit dieser Selbsterhaltung vorliegt, birgt wieder jedoch kein Rätsel in sich: Auch der Organismus ist nichts anderes als die Summe der Teile von bestimmter Beschaffenheit und deren gegenseitigen Relationen (unter Berücksichtigung bestimmter Gesetze der Zusammensetzung). Der Unterschied gegenüber anderen Summen aus Teilen und Relationen besteht nur darin, daß im Fall des Organismus jeweils bestimmte Beschaffenheiten der einzelnen Teile aufgrund bestimmter Interaktionsgelegenheiten kausal wirksam werden können und zwar auf solche Weise, daß sie einen Beitrag zum Fortbestand des Ganzen liefern können. Die Teile können in dieser Verbindung ihr Potential nutzen bzw. ihr Potential kann genutzt werden. Das, was hinzukommt, ist die Aktualisierung ihrer kausalen Wirksamkeit bzw. eines bestimmten Bereichs ihrer kausalen Wirksamkeit. Auch mit Blick darauf ist jedoch zu beachten, daß auch bei Artefakten die kausale Wirksamkeit der Teile aktualisiert wird. Anderenfalls hielte etwa ein Tisch nicht zusammen oder täte dies bei geringster Störung nicht mehr. Allem Anschein nach handelt es sich nur um einen Unterschied der Komplexität der kausalen Beziehungen. Dann aber sind Organismen nur etwas Komplexes, nicht aber etwas Unanalysierbares.
7.2 Van Inwagens »neue Gegenstände«
137
7.2.3 Probleme der black boxes Nun ist es nicht nur so, daß es bisher keinen Grund gibt zu meinen, Organismen seien etwas Neues im van Inwagen'schen Sinn und sie existierten nur deshalb, weil sie etwas derartiges Neues wären. Es ist vielmehr auch so, daß wir Organismen ontologisch überforderten, wenn sie nur etwas derartiges Neues sein könnten. Es ist zum einen nicht zu sehen, inwiefern sie dieses Neue sein könnten (1). Zum anderen ginge mit der Annahme eines solchen Neuen wiederum eine Verletzung der kausalen Geschlossenheit einher (2).
7.2.3.1 Ontologische Überforderung der Organismen Diese Beschreibung einer Situation, in der die Möglichkeit ontologischer Reduktion auf Teile und deren Relationen vorliegt, scheint nun für die Auszeichnung von Organismen als Individuen und für die Zuschreibung ontologischer Priorität Probleme mit sich zu bringen. Sie scheint solche Probleme jedenfalls dann mit sich zu bringen, falls van Inwagens Begründung für die Beschränkung des Mobiliars der materiellen Welt auf simples und Lebewesen Plausibilität besitzt. Van Inwagen meint nämlich, daß die simples nur dann etwas zusammensetzen, wenn das Zusammengesetzte ein Leben besitzt. Und er scheint zu meinen, daß bloße Aggregate kein Leben besitzen. Vielmehr wird verlangt, daß durch die Zusammensetzung der simples ein neuer Gegenstand entsteht. Allein der Umstand, daß das Zusammengesetzte von selbsterhaltender Struktur ist, wobei die Elemente dieser Struktur in gegenseitigen Kausalbeziehungen stehen, scheint aber noch keinen hinreichenden Grund dafür zu bieten, im Vorliegen einer solchen Struktur einen neuen Gegenstand zu sehen. Es liegt nämlich über die Teile und deren Relationen hinaus nichts weiter vor. Oder anders gesagt: Wenn zwei Entitäten α und b miteinander in kausale Beziehung treten, so gibt es mit dem In-Beziehung-Treten zwar insofern etwas Neues, als eben diese bestimmte Interaktion vor dem In-Beziehung-Treten nicht gegeben war. Doch dieser Umstand ist zum einen ontologisch nicht sonderlich interessant - oder ist dies jedenfalls insofern nicht, als eine vollständige Beschreibung der Interaktions-Situation mit Hilfe allein des Verweises auf die intrinsischen und relationalen Eigenschaften von α und b gegeben werden kann. Zum anderen genügte jedenfalls für van Inwagen das bloße - sei es auch ein regelmäßiges In-Beziehung-Treten von α und b nicht für die Konstitution eines neuen Gegenstands. Denn α und b könnten ebenso als Teile eines bloßen Aggregats miteinander in kausal relevante Beziehung treten und würden dabei doch keinen
138
7. Emergenz
neuen Gegenstand hervorbringen oder zusammensetzen. Selbsterhaltung eines Organismus scheint nun aber nichts anderes als eine relativ komplexe Summe von ««-^-Beziehungen zu sein. Dies kann für van Inwagens Auszeichnung von Lebewesen dreierlei bedeuten. Entweder sind seine Auszeichnungskriterien tatsächlich ontologisch schwache Kriterien, d. h. Kriterien, die auch schon von bestimmten Aggregaten (aus Teilen, die von bestimmter Beschaffenheit sind und die in bestimmten Relationen zueinander stehen) erfüllt werden, und zwar insofern sie solche Aggregate sind. Oder seine Kriterien sind stärkere Kriterien, nämlich solche, die, entgegen seiner eigenen Annahme, nicht von Lebewesen erfüllt werden. Oder er nimmt für die Konstituierung eines neuen Gegenstands noch ein weiteres, nicht näher bestimmtes Kriterium an, das jedoch auch von Lebewesen erfüllt wird. Es hilft nicht viel weiter, daß van Inwagen das Resultat einer Zusammensetzung aus simples nicht einfach als etwas »Neues« bezeichnet, sondern als »neuen Gegenstand«. Denn wiewohl die Referenz des Ausdrucks »Gegenstand«, wie einmal angenommen sei, hier nicht das Problem ist, erhellt die bloße Verwendung des Ausdrucks in ontologischer Hinsicht nichts. De facto sagt van Inwagen, daß die einen Anhäufungen von Teilen einen Gegenstand bilden und daß die anderen dies nicht tun. Wenn es hierbei nur um die Feststellung geht, daß nur solche simples, die von bestimmter Beschaffenheit sind und in bestimmten Relationen zueinander stehen, etwas zusammensetzen, das über die Zeit hin von gleichbleibender Struktur ist, daß also etwas Bestimmtes auf der Ebene der Teile und ihrer Relationen vorliegen muß, damit sie etwas bilden, das persistiert, dann deutet dies eher in Richtung der ersten Interpretation (d. h. der Interpretation, der zufolge die Auszeichnungskriterien ontologisch schwache Kriterien sind). Damit soll wiederum nicht gesagt sein, daß Persistenz nicht ein wichtiges Kriterium für die ontologische Auszeichnung bestimmter Entitäten sei. Ganz im Gegenteil: Wenn wir die allgemeinen Strukturen der Wirklichkeit begrifflich fassen wollen, werden wir an phänomenalen Regelmäßigkeiten ein besonderes Interesse nehmen, zu denen dann auch Persistenz gehört. Was jedoch irritiert, ist der Umstand, daß van Inwagen bestimmte Zusammensetzungen (nämlich Organismen) vor anderen Zusammensetzungen als etwas auszeichnet, das es gibt, obwohl hier allem Anschein nach nur eine Komplexitäts-Differenz vorliegt. (Und genauer: Es irritiert, daß er jene Zusammensetzungen, wie ζ. B. Organismen, als etwas auszeichnet, von dem wir nicht nur in alltäglicher Redeweise, sondern mit guten ontologischen Gründen sagen können sollen, daß es dies gibt.) Es ist also nicht klar, weshalb bestimmte Zusammensetzungen, nämlich solche, die in bestimmter Weise persistieren, die selbständig sind und
7.3 Fazit
139
die zu den faßbaren Regelmäßigkeiten der Welt beitragen, im Hinblick auf ihre Existenz ausgezeichneten Status besitzen sollten. Van Inwagen meint nicht nur, daß diese Zusammensetzungen etwas ontologisch Besonderes seien, sondern daß es, neben den simples, überhaupt nur diese Zusammensetzungen gibt: Nur diese Zusammensetzungen, nicht aber auch andere (wie ζ. B. gewöhnliche Artefakte), die keine Lebewesen sind (und daher für van Inwagen auch nicht einmal Zusammensetzungen sind), haben Anspruch auf die Zuschreibung von Existenz.
7.2.3.2 Verletzung der kausalen Geschlossenheit Wie im Fall emergenter Eigenschaften drohte auch im Fall emergenter Objekte die kausale Geschlossenheit des Physischen verletzt zu werden. Dies jedenfalls dann, wenn die in Frage stehenden Objekte mehr sind als die Summe ihrer Teile und deren Relationen. Wenn, wie im Fall emergenter Eigenschaften, »neue kausale Kräfte« auch im Fall dieser Objekte auftreten sollen, werden wir wieder, wie im Fall jener Eigenschaften, mit einer Konkurrenz-Situation verschiedener Ebenen kausaler Wirksamkeit konfrontiert. Diese Konkurrenz bestünde darin, daß in den externen Kausalbeziehungen die Teile des Objekts und ihre Relationen ein Relatum bestimmter Wirksamkeit bildeten, während das emergente Objekt ein Relatum anderer, davon verschiedener Wirksamkeit bildete. Wie zuvor »wüßte« der Gegenstand nicht, wie er sich in bestimmten Kausalbeziehungen verhalten sollte.
7.3 Fazit Organismen sind spezielle Zusammensetzungen, nämlich insofern, als sie selbsterhaltende Strukturen und etwas Selbständiges sind. Die Auffassung, Organismen seien solche spezielle Zusammensetzungen, könnte jedoch von seiten des Vertreters eines ontologischen Emergentismus vereinnahmt bzw. kritisiert werden. Die Vereinnahmung unterstellte, Organismen seien, insofern sie etwas Selbständiges sind, etwas Neues, das nicht auf die Teile des Organismus und ihre Relationen reduzierbar ist. Die Kritik würde entsprechend vorgebracht, wenn Organismen nichts derartiges Neues sind. Nun ist es nicht wünschenswert, daß Organismen etwas derartiges Neues sind (und entsprechend ist die Vereinnahmung durch den Emergentisten nicht wünschenswert). Zum mindesten verletzten sie damit die kausale Geschlossenheit des Physischen, und zwar intern (weshalb sie dann keine kausalen Gefüge,
140
7. Emergenz
die Individuen sind, mehr sein könnten) und extern (womit konkurrierende Kausalbereiche auch für die Interaktion des Organismus mit der Umwelt aufträten). Es gibt nun aber auch keinen Grund, Organismen als etwas derartiges Neues aufzufassen. Der Umstand, daß sie spezielle Zusammensetzungen sind, besagt nicht mehr als eben das - nämlich daß sie solche Zusammensetzungen sind. Speziell sind sie als Zusammensetzungen deshalb, weil in diesen Zusammensetzungen bestimmte Potentiale der Teile so genutzt werden, daß eine sich selbst erhaltende Struktur besteht, die der Welt gegenübertreten kann. Daß die Organismen dabei in ihre Teile und deren Relationen analysierbar sind, ändert nichts daran, daß sie als etwas Selbständiges ausgezeichnet sind. Daß sie als etwas Selbständiges ontologisch ausgezeichnet sind, beruht nicht auf ontologischer Emergenz. Daß sie als Systeme Eigenschaften aufweisen, die ihre Teile für sich genommen nicht aufweisen, daß sie also schwach emergent sind, ist unproblematisch.
8. Das Kausalitätskriterium onto logischer Priorität Van Inwagens Kriterium für die Existenz komplexer Gegenstände bestand, wie Kapitel 7 zeigte, darin, daß ein solcher Gegenstand ein Leben sei. Dieses Kriterium erwies sich als Kriterium der Existenz als nicht plausibel. Zugleich läßt sich nun aber aus diesem Kriterium ein akzeptables Kriterium für ontologische Priorität gewinnen, d. h. für die Auszeichnung von Gegenständen, die in einem Prioritätsverhältnis zu anderen Dingen stehen, nämlich sowohl zu den Teilen, die sie zusammensetzen als auch zu den »höheren« Gefügen, die von ihnen abhängen. Diese Priorität bzw. - auf der anderen Seite - Abhängigkeit liegt in der Selbständigkeit begründet, die den komplexen Gegenstand auszeichnet. Diese Selbständigkeit kommt dadurch zustande, daß es sich beim Gegenstand um ein Kausalgefüge bestimmter Art handelt, nämlich um eines, das sich selbst organisiert. Als Selbstorganisierer ist das Gefüge kausal selbständig, es tritt der Welt als etwas Eigenständiges gegenüber. Als Ursprung von Organisation erlangt es einen Zugriff auf die Welt und hat die Fähigkeit auch zu ihrer Organisation. In gewisser Hinsicht könnte man bei einem Organismus von einem »Kausalitätszentrum« sprechen. Das Vorliegen eines solchen Zentrums begründet ontologische Priorität. Kausalität wird zum Prioritätskriterium. Im folgenden diskutiere ich einen Vorschlag von Trenton Merricks, der seinerseits gerade der kausalen Wirksamkeit die Fähigkeit zuschreibt, besondere ontologische Priorität zu begründen. Merricks' Vorschlag zufolge ist nichtredundante Wirksamkeit Existenzkriterium für materielle Gegenstände, und solche Wirksamkeit liegt ihm zufolge nur dann vor, wenn der in Frage stehende Gegenstand mentale Eigenschaften besitzt. Wäre dieser Vorschlag in der von Merricks präsentierten Version plausibel, beträfe das zum einen die Kriterien für Individuität. (Es beträfe sie insofern, als das Individuitätskriterium der Selbständigkeit eines Kausalgefüges eine solche Reduzierbarkeit des Gefüges auf seine Teile und deren Relationen vorsah, daß die kausale Geschlossenheit des Physischen bewahrt bleibt.) Zum anderen würde einer Vielzahl tatsächlicher Individuen die Individuität abgesprochen. Der Vorschlag ist in Merricks' Version jedoch mit einer Reihe von erheblichen Problemen behaftet. Nach einer Präsentation des Vorschlags und seines zentralen Arguments (8.1) gehe ich auf die wichtigsten Probleme ein; dabei wird sich zeigen, daß der Vorschlag in dieser Version nicht zu halten ist (8.2).
8. Kausalitätskriterium
142
Anschließend greife ich das Kausalitätskriterium in konstruktiver Absicht auf und erörtere, wie sich Merricks' Vorschlag der nicht-redundanten Wirksamkeit mit einer Reduzierbarkeit, die die Geschlossenheit des Physischen bewahrt, vereinbaren läßt (8.3).
8.1 Ein Kausalitätskntenum
der Existenz
Ähnlich wie van Inwagen schlägt Merricks - in Objects
and Persons
- ein
Existenzkriterium vor. Während dieses Kriterium bei van Inwagen im Fall komplexer Gegenstände darin bestand, daß etwas ein »Leben« ist, schlägt Merricks - in einer Zuspitzung des van Inwagen'schen Kriteriums Relevanz
kausale
als notwendiges und hinreichendes Kriterium für die Annahme der
Existenz dessen vor, was es im Bereich makrophysischer Gegenstände gibt. 1 F ü r makrophysische Gegenstände (wie auch für Ereignisse) gelte: »to be is to have causal powers«. 2 Eine weitere notwendige Bedingung für die Annahme von etwas, das es gibt, ist die Vermeidung von Überdeterminiertheit. Das heißt, es können nicht zwei verschiedene hinreichende Ursachen für ein und denselben Effekt auftreten, sondern es kann höchstens eine hinreichende Ursache wirksam sein. » T o be is to have causal powers« wäre von daher zu verstehen als »to be is to have non-redundant causal powers«. 3 Diese Kriterien werden nun Merricks zufolge - jedenfalls mit Sicherheit - nur von mit Bewußtsein begabten Organismen erfüllt (wie ζ. B. Menschen, Hunden, Delphinen). 4 Sie werden nicht von Teilen solcher Organismen oder von Artefakten erfüllt. Gründe für die Leugnung der Existenz von Artefakten sind für Merricks: (1) D i e Redundanz ihrer (scheinbaren) kausalen Wirksamkeit, die de
facto
nichts anderes sei als die Wirksamkeit der Atome, die den Gegenstand zusammensetzen. (2) Das Problem der Vagheit: Artefakte müßten vage Gegenstände sein die es aber nicht gibt. So sei die Grenzziehung für die maximale Wegnahme von Atomen willkürlich, und »unakzeptierbar« sei es, anzunehmen, die Wegnahme eines einzigen Atoms mache den Unterschied zwischen Gegenstand und N i c h t Gegenstand, zwischen Existierendem und Nicht-Existierendem.
1
Dieses Kriterium ist nicht neu. Heil (2003: 75) verweist hierfür etwa auf Piaton Sophistes 247d8-e4; s. a. oben 124 Anm. 4 den Verweis auf »Alexander's dictum« bei Kim.
2
Merricks 2001: 81.
3
Vgl. Merricks 2001: viii, 56.
4
Vgl. Merricks 2001: 114.
8.1 Kausalitätskriterium der Existenz
143
(3) Das P r o b l e m der K o - L o k a t i o n : D i e Annahme von Artefakten und vergleichbaren Gegenständen schlösse die Annahme ein, es sei möglich, daß an ein und demselben O r t zwei verschiedene Gegenstände (mit verschiedenen Persistenzbedingungen) vorliegen, nämlich ζ. B. die Lehmstatue und der Lehmklumpen, aus dem sie besteht. Diese Annahme wäre Vertretern der Annahme von Artefakten aber unwillkommen, während zugleich die üblichen Auswege aus dem Ko-Lokations-Problem nicht überzeugen. Willkürlich wäre es jedenfalls auch, einem von beiden Gegenständen - dem Klumpen oder der Statue - bevorzugt Existenz zuzusprechen (abgesehen davon, daß beide Entitäten schon nicht einmal das Existenzkriterium nicht-redundanter kausaler Wirksamkeit erfüllen). 5 Im folgenden werde ich mich auf die Diskussion von (1) beschränken. Mit Blick auf (2) habe ich weiter oben schon zu zeigen versucht, daß dem Vagheitsverdacht durch Änderung der Perspektive zu begegnen ist. Darüber hinaus werde ich weiter unten erörtern, inwiefern das Individuitätskriterium der Selbständigkeit uns durchaus erlaubt, mit Blick auch auf ein einzelnes A t o m zu fragen, ob es zur Selbständigkeit des Ganzen beiträgt oder nicht. Zu (3) werde ich insgesamt nicht viel sagen, da ich auf Artefakte nicht gesondert eingehe. Herkömmliche Artefakte erfüllen vermutlich nicht das Individuationskriterium der Selbständigkeit und es ist nicht klar, ob ihnen in irgendeiner Hinsicht Einheit zukommt. D e n n o c h sage ich nichts über die Existenz
von
Artefakten. Es genügt mir, sie dann als ontologisch posterior aufzufassen, wenn sie das Selbständigkeitskriterium nicht erfüllen. Mit Blick auf (1), nämlich das Existenzkriterium nicht-redundanter kausaler Wirksamkeit, hat Merricks nun zu zeigen, daß dasjenige, was seines Erachtens existiert - wie ζ. B. Personen - , kausal nicht redundant ist. I m wesentlichen stützt sich Merricks für den Nachweis ζ. B. unserer Existenz auf die These, daß wir kraft unseres Bewußtseins kausal wirksam sind (oder sein können) und daß diese Wirksamkeit nicht kausal redundant ist. Dieses A r g u m e n t ist im K e r n nicht sonderlich stark. Merricks versucht zunächst zu zeigen, daß keine Notwendigkeit
bestehe bzw. daß wir keinen Grund haben für die Annahme,
daß die durch Bewußtsein verursachten Effekte vollständig durch die uns konstituierenden Partikeln samt deren gegenseitigen Relationen verursacht seien. V o n daher seien diese Effekte nicht oder nicht begründeterweise dem Vorwurf der Uberdeterminiertheit ausgesetzt. D e n für Merricks entscheidenden, wiewohl schwachen Zug bildet dann eine Beweislastverschiebung, nämlich zu Lasten der Gegenposition, d. h. jener Position, der zufolge wir Bewußtseins-
5
Vgl. Merricks 2001: für (1) 60-62, für (2) 33-34, für (3) 38-42.
144
8. Kausalitätskriterium
eigenschaften ohne Verlust insofern reduzieren können, als die Geschlossenheit des Physischen bewahrt bleibt. Die Last besteht darin, daß der Reduktionist die Nicht-Existenz von Organismen, die mit Bewußtsein begabt sind, sowie die mikrophysische kausale Geschlossenheit nachweisen müßte.6 Wiewohl man gegen dieses Argument einwenden wird, daß Merricks' Vorgehen lediglich auf die Behauptung hinauslaufe, es gebe Bewußtseinseigenschaften, kraft deren wir nicht-redundant kausal wirksam seien, müssen wir einen Blick auf jenen Teil seines Arguments werfen, der allem Anschein nach für die Plausibilität jener Behauptung aufkommen soll. Diesem Argument oder Argumentteil zufolge könnte man nämlich meinen, daß Merricks gezeigt habe, daß es mit dem Vorliegen von Bewußtsein eine unabhängige, d. h. nicht reduzierbare Eigenschaft gebe, selbst wenn er explizit nur zeigen wollte, daß wir nicht annehmen müssen, daß die Wirkungen des Bewußtseins durch die Wirkungen der uns konstituierenden Partikeln vollständig erklärt seien. Man könnte dies deshalb meinen, weil Merricks eigentlich zwar nur eine reduktionistische These widerlegen möchte, weil er aber diese Widerlegung zugleich als Begründung für eine nicht-reduktionistische Prämisse seines weiteren Arguments verwendet.7 Wenn man Merricks nun in diesem Gedankengang folgte, könnte man vorschnell zur Ansicht gelangen, daß die Existenz von etwas erwiesen sei, das nicht-redundant wirksam ist, und man könnte dann, ebenfalls vorschnell, Merricks' Ansicht teilen, daß es einen Erfüller des Existenzkriteriums nichtredundanter Wirksamkeit gebe. Der Hauptfehler bestünde dann in der Ver-
6
Merricks wendet sich in diesem Schritt zunächst gegen die Annahme, daß alles, was ein menschlicher Organismus verursacht, auch durch die ihn konstituierenden Partikeln verursacht wird - was dem Kriterium nicht-redundanter Kausalität zufolge die Existenzannahme für den Organismus in Frage stellte (2001: 107f.). Er meint nun (sinngemäß) - und darin besteht der Hauptzug seines zweiten Argument-Schritts - , daß insbesondere mentale Wirksamkeit keine kausale Redundanz impliziert und daß wir die Existenz mentaler Verursachung annehmen müssen, wenn wir - was uns nicht gelinge - die Nicht-Existenz nicht nachweisen können (ebd.: 114). Hierfür stützt er sich im wesentlichen auf Plausibilitätsargumente (>Wissen um die eigene Existenz ist sicherer als das Wissen um die Existenz einer Statue< [ebd.: 119f.]; Erste-PersonEvidenz [ebd.: 131]; >es sind Personen, die denken und sprechen< [ebd.: 121f.]; anders als bei der Beseitigung einer Statue als solcher müßte bei der Beseitigung einer Person eine kausale Lücke geschlossen werden [ebd.: 122]). Die Argumente sind mit Blick auf das zu Zeigende offenbar nicht sonderlich stark.
7
Die reduktionistische These, die Merricks widerlegen möchte, ist im unten präsentierten Argument die These (o), die Begründung ist die Konklusion (»), die nicht-reduktionistische Prämisse ist (m,).
8.1 Kausalitätskriterium der Existenz
145
wechslung des Umstands der Erfüllung des Kriteriums mit dem Gegebensein seiner Relevanz. Damit aber kämen uns alle Entitäten abhanden, die keine Erfüller des Kriteriums sind. Dies beträfe alle Entitäten, die keine kausal nichtredundanten Merkmale aufweisen, und das schlösse Merricks zufolge auch alle Organismen ein, die kein Bewußtsein besitzen. Man könnte dann meinen, daß alles, was es gibt, entsprechende Eigenschaften aufweisen muß. Von den unerwünschten Konsequenzen dieser Annahme abgesehen - viele Individuen wären keine Individuen mehr - ergäben sich mit der Annahme von Entitäten, die sich durch solche Merkmale auszeichnen, Probleme für die kausale Geschlossenheit des Physischen. Und das beträfe die verbliebenen Individuen, sofern sie als Kausalgefüge aufgefaßt werden. Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit Merricks' Argument gegen die reduktionistische These. Dieses Argument - Merricks' Step-oneargument - bildet einen der Hauptschritte seiner Begründung der ausschließlichen Existenz bewußtseinsbegabter Lebewesen. Zugleich ist dieses Argument dasjenige Argument in Merricks' Ausführungen, das die kausale Geschlossenheit des Physischen betrifft. In diesem Step-one-argument geht es nun um den Schluß auf die folgende These N\ (N) »There is some property F such that a human's causing effect Ε in virtue of (existing and) being F does not all by itself give one a reason to believe that that human's constituent atoms cause Ε in virtue of their intrinsic properties and spatiotemporal and causal interrelations.«8 Hierfür nimmt Merricks als eine von zwei Prämissen die folgende an: (M) »There is some intrinsic property F such that: (m,) An object's existing and being F is not, of metaphysical necessity, implied by the existence and intrinsic properties of, and spatiotemporal and causal interrelations among, that object's constituent atoms.« Und: »(m1) Humans cause things in virtue of (existing and) being F.«9 Ich konzentriere mich hier auf den problematischen Teil des Arguments, nämlich auf die Frage der Wahrheit von (w,). (m2), d. h. die These, daß Menschen kraft einer intrinsischen Eigenschaft F etwas verursachen, kann Merricks zugestanden werden. Die Wahrheit von (m,) soll nun, Merricks zufolge, mittels reductio der These (o) gezeigt werden:10
8
Merricks 2001: 89.
9
Merricks 2001: 89, meine Ersetzung von (a) durch (m,) und (b) durch (m 2 ). Das voll-
ständige Argument hat die modus-ponens-Struktur 10 Vgl. Merricks 2001: 94f.
Μ - Ν, Μ =* Ν.
8. Kausalitätskriterium
146
(ο) Wenn bestimmte Atome einen Bewußtsein besitzenden Gegenstand zusammensetzen, so setzen auch alle die Atome, die jenen intrinsisch gleich sind und untereinander dieselben Relationen wie jene aufweisen, einen solchen Gegenstand zusammen. Aus (o) folgt (ρ) Eine bestimmte Menge derselben Teile Τ (mit denselben Relationen untereinander) setzt vor (T tl ) und unmittelbar nach (T ü ) der Amputation eines Fingers/(eines Bewußtsein besitzenden Menschen a) einen Bewußtsein besitzenden Gegenstand zusammen. Ferner gilt (,q) Tü und aü (d. h. α vor der Amputation) sind nicht identisch, da ad noch /besitzt,/aber nicht Teil von Ttl ist. Aus ( ρ ) und {q) folgt (r) Vor der Amputation liegen zwei Bewußtsein besitzende Gegenstände (nämlich Tti und aü) vor. Nun gilt aber (s) (r) ist falsch. Aus (s) folgt, da (q) wahr ist, (t) (ο) ist falsch. Aus (t) folgt («) (m,) ist wahr.
8.2 Kritik an dem Argument
für das
Kriterium
Drei Kritikpunkte gegen Merricks' Argument seien hier vorgebracht. Zum einen trägt Merricks' antireduktionistisches Argument nicht, die Reduktionisten müßten (unerwünschte) koinzidierende Gegenstände akzeptieren. Es trägt deshalb nicht, weil die von ihm kritisierte Reduktion vom Ganzen auf die Teile (entgegen seiner eigenen Voraussetzung) gegenstandsverändernd wäre, was Reduktionen ihrem eigenen Verständnis nach nicht sind (8.2.1). Zum anderen trägt sein Argument zugunsten konstitutionsunabhängiger mentaler Eigenschaften nicht, weil es auf der Heranziehung solcher materiellen Teile beruht, die von vornherein irrelevant für das Vorliegen der in Frage stehenden mentalen
8.2 Kritik
147
Eigenschaften sind (8.2.2). Zum dritten ergeben sich für Merricks' Kausalitätskriterium der Existenz sowohl dann Probleme, wenn die kausal relevante Entität eine Disposition ist, als auch dann, wenn jene Entität eine Aktualisierung der Disposition ist (8.2.3). Ich schließe diesen Abschnitt mit einem Fazit aus der Kritik an Merricks' Argument (8.2.4).
8.2.1 Das Argument der K o - L o k a t i o n Merricks unterstellt als (unakzeptable) Konsequenz aus (o) die These der K o - L o k a t i o n von Gegenständen. Dieser These zufolge liegen an ein und demselben O r t zur selben Zeit mehrere Gegenstände vor, und zwar deshalb, weil die-und-die A t o m e einen Gegenstand zusammensetzen und weil ferner diese Atome, auch wenn sie mit einem hinzukommenden weiteren A t o m verbunden sind, immer noch denselben Gegenstand zusammensetzen, ohne daß die erste Zusammensetzung verschwunden w ä r e . " D e m ließe sich unter anderem entgegenhalten, daß Gegenstände, die in anderen Gegenständen enthalten zu sein scheinen, eben keine Gegenstände, sondern Teile von Gegenständen sind. Teil des Gegenstands ist alles das, was einen Beitrag zu dem Kausalgefüge leistet, das der Gegenstand ist. Die »enthaltenen Gegenstände« zeichnen sich als Teile des Kausalgefüges nicht durch jene Selbständigkeit aus, die dem »umfassenden« Gegenstand zukommt. F ü r die Interpretation von (o) bedeutet dies, daß wir es in den Stadien vor und nach der Amputation des Fingers / eben nicht mit derselben Menge von Teilen ( Γ ) zu tun haben: N a c h der Amputation des Fingers ist die Menge von Interaktionen, in denen die Teile der Menge ( Τ ) stehen, eine andere als vor der Amputation. Diese Interaktionen als irrelevant anzusehen - was Merricks tun müßte - verkürzt sie um einen wesentlichen Teil der Aktivitäten, die dem Gegenstand zugeordnet sind: Gegenstände oder sonstige Entitäten von ihren Aktivitäten zu trennen bedeutet, eine inakzeptable ontologische Verkürzung vorzunehmen. D a n n aber trifft in Merricks' Argument für (m,) die Prämisse ( ρ ) nicht zu (d. h. (p) beschreibt nicht den für das Argument relevanten Sachverhalt), und zwar eben deshalb nicht, weil es dieselbe Menge Γ vor und nach der Amputation nicht gibt. Die Falschheit von (o) ist somit nicht gezeigt.
11 Das puzzle, das hier vorzuliegen scheint, ist dem puzzle verwandt, in dessen Erläuterung üblicherweise die Katze Tibbies mit und ohne Schwanz auftritt. Es geht auf Geach (s. 1980: 215) zurück, der sich seinerseits auf Wilhelm von Sherwood bezieht.
148
8. Kausalitätskriterium 8.2.2 Falsche Zuordnungen
Ein weiteres Problem für Merricks' Argument für ( m j besteht in folgendem: Der von ihm als Amputat gewählte Teil/(ein Finger) ist offensichtlich kein Teil jenes Bereichs eines Organismus, dessen Teile - nach üblicher (wie auch nach reduktionistischer) Auffassung - Bewußtsein ausmachen oder (schwächer formuliert) so sind, daß Bewußtsein vorliegt. Selbstverständlich ist dies Merricks klar, und jener spezifische Teil ist absichtlich so gewählt. Ihm geht es bei der Wahl dieses Beispiels vermutlich darum zu zeigen, daß Bewußtsein bei verschiedenen Materie-Anhäufungen vorliegt, von dieser Verschiedenheit aber nicht berührt wird. Jedoch ist zu fragen, ob letzteres tatsächlich zutrifft. Denn es ist nicht zu sehen, weshalb man für das Argument die Wahl nicht-relevanter Materie-Teile akzeptieren sollte: Tatsächlich kann das Argument nur dann argumentative Kraft bekommen, wenn es um jene Materie-Teile geht, die in irgendeiner Verbindung mit den vermeintlich nicht-reduzierbaren Eigenschaften stehen (also ζ. B. um bestimmte Teile des Gehirns). Merricks würde möglicherweise einwenden, daß der Gegenstand (der Mensch) die Eigenschaft hat, mit Bewußtsein ausgestattet zu sein: Es ist nicht ein bestimmter Teil des Gehirns, der diese Eigenschaft hat, sondern der menschliche Organismus. Dies müßte er jedenfalls sagen, da es sonst einen Teil des Organismus gäbe, der nicht bewußtseinsbegabt wäre und der somit das Kriterium nicht-redundanter Kausalität nicht erfüllte, so daß ihm Existenz abzusprechen wäre. Diesem möglichen Einwand stellten sich drei Probleme. Das erste Problem besteht in Merricks' »Verteilung« der mentalen Eigenschaften auf bestimmte materielle Teile (1). Das zweite Problem besteht in Merricks' impliziter Voraussetzung, Teile setzten Eigenschaften zusammen (2). Das dritte Problem besteht in der - hier relevanten - Unklarheit des Verhältnisses von Eigenschaft und kausaler Wirksamkeit (3).
8.2.2.1 Das Problem der »Verteilung« der Eigenschaften Es ist nun nicht klar, ob wir Merricks' möglichen Einwand akzeptieren dürften, daß nicht bloß ein bestimmter Teil des Gehirns, sondern der gesamte Mensch die Eigenschaft habe, mit Bewußtsein ausgestattet zu sein. Es könnte vielmehr sein, daß es sehr wohl richtig ist zu sagen, daß ein bestimmter Teil des Gehirns Bewußtsein hat. Genauer: Es könnte sein, daß Bewußtsein eben genau in jenen Teilen des Gehirns zu lokalisieren ist, in denen es der Reduktionist üblicherweise ansiedeln würde.
8.2 Kritik
149
Was dies für Merricks' Argument bedeutet, können wir uns anhand eines Beispiels verdeutlichen. Der menschliche Organismus habe die Eigenschaft, zehn Finger zu haben. Wenn ich nun einige Haare dieses Organismus abschneide, beeinträchtigt dies nicht die Eigenschaft des Organismus, zehn Finger zu haben. Also - so müßte Merricks schließen - spielt die Verschiedenheit der materiellen Anhäufungen für den Besitz dieser Eigenschaft keine Rolle, die Atome setzen den Organismus nicht zusammen, insofern er Träger dieser Eigenschaft ist. Das aber ist - zumindest in einer bestimmten Hinsicht - absurd. Denn offenkundig spielt die materielle Zusammensetzung eine Rolle für den Besitz der Eigenschaft, zehn Finger zu haben. Nur spielt nicht jede materielle Zusammensetzung des Organismus (oder jede Verschiedenheit dieser Zusammensetzung) diese Rolle, sondern nur jene, die die zehn Finger unmittelbar betrifft. Auf solche Bereiche müßte sich Merricks' Argument beschränken. Betrachten wir also solche Materie-Anhäufungen, die in Verbindung mit Bewußtsein stehen. In diesem Fall wäre es bei Wegnahme von Teilen gerade nicht der Fall, daß das Materie-Konglomerat nach der Wegnahme noch einen Gegenstand mit Bewußtsein zusammensetzte. Die Falschheit von (o) wäre nicht erwiesen, die Wahrheit von (m ,) nicht gezeigt. Es ist dann weiterhin zu fragen, was die Merricks'schen Materiehaufen jeweils tatsächlich zusammensetzen. Ttl und/setzen also einen Menschen mit Bewußtsein (vor der Amputation) zusammen, Tü (d. h. jener gedachte »Gegenstand« innerhalb von aü) setzt nichts zusammen, Tl2 setzt einen Menschen mit Bewußtsein und ohnef zusammen. In all dem liegen keine Rätsel. Von daher ist es auch kein Rätsel, wenn Merricks sagen kann, daß a, also Merricks' Mensch mit Bewußtsein, den Verlust eines Fingers überlebt. 12 Das ist nicht verwunderlich, denn der Organismus besitzt den Finger nicht, insofern er Bewußtsein besitzt (oder insofern er Haare besitzt). Merricks kann das Problem der Distribution der Eigenschaft nicht durch das Zugeständnis umgehen, daß vielleicht doch nur das Gehirn jener Ort ist, an dem wir Bewußtsein lokalisieren - selbst wenn (so würde er insistieren müssen) die Atome des Gehirns nicht das Bewußtsein zusammensetzen oder von solcher Art sind, daß allein aufgrund ihrer Beschaffenheit und ihrer Relationen Bewußtsein vorliegt. Denn dies hätte für ihn zumindest insofern unangenehme Konsequenzen, als er nun das, das es gibt, auf jenen Körperteil beschränken müßte, in dem Bewußtsein lokalisiert ist: Alles das, was wir sonst noch zum Organismus rechnen (und was auch Merricks dazurechnet), wäre (wegen kausaler Redundanz) nichts anderes als eine Anhäufung von Materie.
12 Vgl. Merricks 2001: 96.
150
8. Kausalitätskriterium
Nun könnte Merricks einwenden, daß der Reduktionist jedenfalls aber nicht angeben könnte, welche Atome denn die Person zusammensetzen: Personen seien eben nicht von solcher Art, daß sie von Atomen zusammengesetzt werden könnten. Hier würden wir Merricks vermutlich zustimmen: In der Tat sind Personen nicht von solcher Art, daß Atome sie zusammensetzen. Allerdings ist dies aus einem anderen Grund nicht der Fall als dem, an den Merricks zu denken scheint. Hier komme ich zur zweiten Erwiderung.
8.2.2.2 Das Problem der materiellen Konstitution der Eigenschaften Wir haben bisher bestimmte Formulierungen verwendet, die uns wenigstens merkwürdig vorkommen müßten, nämlich dort, wo davon die Rede war, das Gehirn (oder ein bestimmter Teil von ihm) habe Bewußtsein. Wäre das Gehirn aber tatsächlich von solcher Art, daß es Bewußtsein haben könnte? Eher und konventioneller würden wir sagen, daß das Gehirn »Träger« oder »Sitz« des Bewußtseins ist (wobei es an dieser Stelle nicht auf die Theorien, die hinter solchen Formulierungen stecken, ankommen soll). Solche Träger haben aber das, was sie tragen, nicht in der Bedeutung von »tragen«, wie wir (einmal angenommen und nicht sehr elegant) »tragen« in »χ trägt die Eigenschaft F« oder (wenigstens etwas korrekter) »x ist Träger der Eigenschaft F« verwendeten. Diese Unterscheidung wird nicht dadurch aufgehoben, daß wir für χ statt »Gehirn« »menschlicher Organismus« einsetzen. Die Frage, um die es hierbei geht, ist die Frage, wie das Verhältnis von Eigenschaft und Eigenschaftsträger darzustellen ist. Der Hintergrund dieser Frage wiederum ist die Frage, ob wir es von den Atomen in kategorialer Hinsicht verlangen dürften, Eigenschaften zu bilden. Das ist nun offenbar nicht der Fall, und doch scheint dies gerade das zu sein, was sie Merricks zufolge leisten müßten und worin sie versagen. Versagen könnten sie aber nur, wenn wir ihnen eine prinzipiell (d. h. zuerst eben: auch in kategorialer Hinsicht) lösbare Aufgabe zugewiesen hätten. Sie können Eigenschaften nun deshalb nicht bilden, weil Eigenschaften nicht solche Entitäten sind, die durch Zusammensetzung gebildet werden könnten: Die Atome a v ..., a n können einen Körper zusammensetzen, der 1,80 m groß ist, sie können aber nicht die Eigenschaft des Körpers bilden, 1,80 m groß zu sein (noch können ihre individuellen Größen jene Eigenschaft zusammensetzen, da sich Eigenschaften auch nicht durch Addition gewinnen lassen). Und doch wäre dies eine Eigenschaft, die sie Merricks zufolge bilden können müßten, wenn ihnen im Fall mentaler Eigenschaften Versagen bei der Bildung dieser Eigenschaften vorgeworfen werden können sollte. Atome oder sonstige Teile können nicht Eigenschaften, sondern
8.2 Kritik
151
nur Strukturen bilden (jedenfalls sofern Strukturen physische Entitäten sind). Diese Strukturen mögen dann bestimmte Eigenschaften haben, doch sind diese Eigenschaften nicht das, was die A t o m e bilden. Was Merricks mit Blick auf mentale Eigenschaften zu zeigen hätte, wäre das, daß die A t o m e nicht jene Strukturen bilden, aufgrund deren etwas Bewußtsein hat. Die Verschiedenheit der Materie-Anhäufung in Merricks' Beispiel (mit Finger / ohne Finger) kann also die Eigenschaft des menschlichen Organismus, Bewußtsein zu besitzen, schon deshalb nicht beeinträchtigen, weil MaterieAnhäufungen Eigenschaften nicht zusammensetzen können, sondern nur Strukturen bilden können, aufgrund deren Eigenschaften vorliegen. Ferner kann jene Verschiedenheit jene Eigenschaft auch schon deshalb nicht beeinträchtigen, weil diese Verschiedenheit nicht jenen Bereich des Organismus betrifft, dessen Zusammensetzung jene Strukturen bildet, dank deren - jedenfalls dem Reduktionisten zufolge - wir jenem Menschen Bewußtsein zuschreiben. W e n n wir dies nun auf den Merricks'schen Fall anwenden wollen, müßten wir also zunächst fragen, was es (zumindest Merricks zufolge) für ein Individuum heißt, eine Person zu sein. F ü r ihn scheint dies etwa zu heißen: B e w u ß t sein zu besitzen. N i c h t zusammengesetzt werden zu können ist für die Eigenschaft, Bewußtsein zu besitzen, aber nicht insofern unmöglich, als sie diese spezifische Eigenschaft ist, sondern ist für sie - wie auch für jede andere Eigenschaft - schon qua Eigenschaft nicht möglich. 13
8.2.2.3 Das Problem der kausal relevanten Eigenschaften E i n hier anschließendes Problem entsteht mit Merricks' Forderung an die Eigenschaften, kausal relevant zu sein. Nicht jeder sähe ein Problem in der Rede von kausal relevanten Eigenschaften: 1 4 Immerhin schreiben wir Entitäten 13 Der Grund, weshalb Merricks Personen nicht für zusammensetzbar hält, scheint hingegen dualistischer Natur zu sein: Personen wären danach für Zusammensetzungen etwa deshalb nicht erreichbar, weil sie Entitäten einer anderen Ebene sind. Das dürfte für ihn auch der Grund sein, weshalb Personen dem Sorites nicht ausgeliefert sind (vgl. Merricks 2001:125f.). Dies sind sie tatsächlich nicht, aber nicht deshalb nicht, weil sie Entitäten einer anderen Ebene wären, sondern weil Eigenschaften und auch Organismen dem Sorites nicht ausgeliefert sind. 14 Für die Auffassung von Eigenschaften als powers oder Dispositionen s. Heil (2003: 76 und insgesamt Kapitel 8-11). Shoemaker stellt das Verhältnis von powers und Eigenschaften wie folgt dar: »When a thing has a power conditionally upon the possession of certain properties, let us say that this amounts to its having a conditional power« (1980: 115). Eigenschaften sind dann wiederum »clusters of conditional powers« (ebd.).
152
8. Kausalitätskriterium
Eigenschaften zu und nehmen an, daß es sie gibt und daß sie einen Unterschied in der Welt machen. U n d schließlich ist es auch für meine Individuenkonzeption wichtig, Eigenschaften, sofern sie einen Unterschied machen, mit einzuschließen, wenn es um die Frage geht, was aus welchen Gründen einem Individuum als Teil - im entsprechend weiten Sinn v o n »Teil« - zuzuschreiben ist. Allerdings wäre die Rede von der »kausalen Relevanz von Eigenschaften« dann genau zu klären, wenn es gerade auf den Zusammenhang zwischen einer Eigenschaft und der ihr zugeordneten kausalen Relevanz ankommt, und diese Klärung liefert Merricks nicht. 1 5
8.2.3 W e r erfüllt das Kriterium: Aktualitäten oder Dispositionen? N o c h ein weiterer Punkt erschwert die Akzeptanz von Merricks' Argument gegen (o) und für (M). Sein Existenzkriterium nicht-redundanter Kausalität bezieht sich auf das Vorliegen entsprechender powers. Sein Argument für dieses Kriterium scheint sich jedoch an aktuale
kausale Beziehungen zu halten
(vgl. M). Weshalb soll nun einer Entität Existenz zugeschrieben werden? Wegen der power oder wegen ihrer Aktualisierung? Ginge es - entsprechend Merricks' Argument
- um das Vorliegen aktualer
kausaler Wirkung, stünden wir vor dem Problem, daß die in Frage stehende Entität möglicherweise nur unterbrochen existierte - dies jedenfalls dann, wenn sie nicht fortwährend kausal wirksam ist. Ein Problem wäre dies deshalb, weil zeitlich diskontinuierliche Gegenstände nicht ohne weiteres akzeptabel sind. Merricks könnte einwenden, daß jene Entität in irgendeiner Weise doch immer wirksam sein wird. D o c h darauf läßt sich zum einen erwidern, daß, sofern es sich um Wirksamkeiten verschiedener
Bereiche oder Arten handelt, zumindest
noch Angaben zu den Identitätsbedingungen jener Entität fehlen, wenn diese Entität ihre Existenzbedingung fortwährend auf verschiedene Weise erfüllt. Z u m anderen läßt sich erwidern, daß jedenfalls Merricks zufolge nur ganz bestimmte Wirksamkeiten nicht-redundant sind, und für diese Wirksamkeiten, also etwa Wirkungen kraft mentaler Eigenschaften, stellt sich das Problem der Wirkungsunterbrechung dann in jedem Fall.
15 Der Klärungsbedarf besteht zudem unabhängig davon, welche Auffassung wir vom ontologischen Status von Eigenschaften haben. Der Versuch etwa von Campbell, für die Akzeptanz von tropes mit dem Argument zu werben, diese könnten im Unterschied zu realistisch aufgefaßten Eigenschaften eine kausale Rolle übernehmen (vgl. Campbell 1981: 480f.; 1990: 22f., 122), erforderte nähere Erläuterungen dazu, wie sie diese Rolle ontologisch und physikalisch übernehmen können sollen.
8.2 Kritik
153
Ginge es hingegen - entsprechend Merricks' These - um das Vorliegen eines bestimmten Vermögens, das als Erfüllung des Existenzkriteriums gelten soll, so wäre etwa zu fragen, inwiefern dieses Vorliegen auch dann als Erfüllung des Kriteriums gelten können soll, wenn - wie einmal angenommen sei - das Vermögen niemals aktualisiert wird. Es ist zumindest nicht offenkundig, wie das entsprechende Vermögen in diesem Fall Existenz begründen können sollte. Damit sei nicht gesagt, daß das unmöglich sei, sondern nur, daß es nicht von vornherein klar ist. Ein Klärungsversuch könnte hier vielleicht den Umweg über die Art des in Frage stehenden Gegenstands nehmen, dessen Vermögen nie aktualisiert wird, das gleichwohl aber die Annahme rechtfertigen soll, es gebe jenen Gegenstand. Bei diesem Umweg würde die Existenzbegründung, die bei artgleichen Gegenständen durch die Aktualisierung des entsprechenden Vermögens gegeben sein soll, für unseren Gegenstand übernommen, dessen in Frage stehendes Vermögen niemals aktualisiert wird. Ein derartiges Verfahren wäre jedoch schon deshalb untauglich, weil es Arten eine ontologische Aufgabe zuwiese, von der nicht klar wäre, wie sie von diesen übernommen werden könnte. Nicht-aktualisierte, doch angeblich Existenz begründende Vermögen bleiben, zumindest für die Merricks'sche Konzeption, ein Problem.
8.2.4 Fazit der Argumentkritik W o stehen wir nun? Die von Merricks in (Μ) aufgestellte Behauptung der Existenz einer kausal nicht-redundanten Eigenschaft F (Bewußtsein oder, genauer, bewußtseinsbesitzend) ist durch sein Argument nicht erhärtet worden. Damit ist auch die Wahrheit der Konklusion des Step-one-argument, das (M) verwendet, nicht erwiesen. Es liegt damit andererseits aber auch kein Argument vor, das die kausale Geschlossenheit in Frage stellte. Die bloße Behauptung von (M) kann ihrerseits nicht den Nachweis dafür ersetzen, daß wir - als menschliche Organismen mit Bewußtsein - vom Argument der Überdeterminiertheit nicht betroffen wären, daß also die Bedingung der Nicht-Redundanz kausaler Wirksamkeit im Fall bewußtseinsbegabter Entitäten erfüllt sei. Andererseits ist auch die Widerlegung des sie stützenden Arguments noch keine Widerlegung der Behauptung. Merricks selbst müßte nun aber jenen Nachweis führen (d. h. den Nachweis, daß Bewußtsein nicht-redundant wirksam ist). Er müßte ihn deshalb führen, weil er seinerseits aufgrund dieses Arguments Existenzbehauptungen aufstellt, nämlich zuungunsten von Artefakten und Teilen von Organismen. Merricks kann sich nicht darauf zurückziehen zu sagen, daß die Konklusion (deren Erschließung nicht gelang) trotzdem wahr sei - indem er etwa sagte, es gebe
154
8. Kausalitätskriterium
nach wie vor keinen Grund zu glauben, Bewußtsein sei (gegenüber den Atomen) kausal redundant. Er kann sich deshalb nicht darauf zurückziehen, weil er (1) entweder ein erhärtendes Argument für die kausale Nicht-Redundanz bewußtseinsbesitzender Gegenstände vorbringen muß (2) oder, soll die Anwendung nicht willkürlich erfolgen, darauf verzichten muß, das Argument auf andere Fälle anzuwenden, (3) oder schließlich darauf verzichten muß, bewußtseinsbesitzende Organismen als Gegenstände anzunehmen. (1) wählt er - wenn auch nicht mit Erfolg - , weil ihm (2) und (3) nicht willkommen sein dürften.
8.3 Das Kausalitätskriterium
als Kriterium ontologischer
Priorität
Inwiefern kann nun Merricks' Vorschlag für die Unterstützung meiner Individuenkonzeption nutzbar gemacht werden, wenn nicht-redundante kausale Wirksamkeit nicht als Existenzkriterium dienen kann? Zunächst besteht Merricks' Verdienst darin, einen Umstand in Erinnerung gerufen zu haben, der bei Individuationsbemühungen nicht immer im Vordergrund steht, nämlich das Vorliegen von Kausalität und deren Relevanz für die Konstitution von Gegenständen: Materielle Gegenstände interagieren mit anderen Gegenständen und bestehen selbst aus Teilen, die ihrerseits miteinander agieren. Kausale Wirksamkeit nicht zu berücksichtigen stellte eine ontologische Verkürzung da, die den in Frage stehenden Gegenstand wesentlich verändert. Ein weiteres Verdienst besteht darin, kausale Wirksamkeit als Mittel ontologischer Zuspitzung herausgearbeitet zu haben, d. h. als ein Mittel, das zur ontologischen Auszeichnung von Entitäten einer bestimmten Ebene dienen kann. Dafür spielt gerade (1) das Kriterium der kausalen Wirksamkeit sowie (2) das Kriterium der Nicht-Redundanz dieser Wirksamkeit eine Rolle. (1) Kausale Wirksamkeit liegt dort vor, wo wir einer Sache eine bestimmte Aktivität - im Unterschied zu Passivität - zuschreiben können. Dies ist dann der Fall, wenn eine Entität nicht oder nicht nur Gegenstand kausaler Einwirkung ist, sondern wenn sie ihrerseits auch Subjekt kausalen Wirkens ist. Das ist wiederum dann der Fall, wenn sie der Welt als etwas Selbständiges und Abgeschlossenes gegenübertreten kann. Dieses Kriterium der Selbständigkeit wird nun jedoch nicht von Teilen von Organismen, sondern nur von Organismen selbst erfüllt. (2) Organismen erfüllen aber auch das Kriterium kausaler Nicht-Redundanz - wenn auch auf andere Weise als von Merricks angenommen - und zeichnen sich dadurch gegenüber ihren Teilen aus, aber auch gegenüber umfassenderen Gefügen, die aus ihnen bestehen. Ihre kausal relevante Selbständigkeit läßt sich zwar durch Bezug auf die Interaktion der Teile vollständig erläutern, doch liegt
8.4 Fazit
155
sie eben nur dann vor, wenn die Teile in der entsprechenden Weise interagieren, und das heißt: den Organismus bilden. Nur in der Gesamtheit ihrer Interaktionen bilden die Teile etwas, das, in fortwährender Selbstverursachung, persistiert und das der Welt als etwas Eigenständiges gegenübertritt. Auf der anderen Seite gibt es - auf der Ebene umfassenderer Gefüge (wie ζ. B. sozialer Organismen) - keinen entsprechend selbständigen Träger kausaler Wirksamkeit. Durch die Interaktion der Organismen entsteht auf jener Ebene keine zusätzliche Selbständigkeit. Wenn wir etwa davon sprechen, daß Regierungen oder Konzerne handeln, haben wir keinen Grund, dies so zu verstehen, daß es nicht Individuen, d. h. einzelne Organismen, wären, die da handeln (und für ihr Handeln verantwortlich sind). Die »Aktivität« jener umfassenderen Gefüge ist kausal redundant. Die Gefüge besitzen keine ontologische Priorität. Im Fall des Organismus soll also nicht-redundante kausale Wirksamkeit vorliegen. Diese Wirksamkeit begründet seine Selbständigkeit bzw. Eigenständigkeit und somit seine ontologische Priorität gegenüber seinen Teilen sowie gegenüber etwaigen umfassenderen Gefügen. Dennoch, d. h. unbeschadet seiner kausalen Nicht-Redundanz, soll der Organismus auf solche Weise reduzierbar sein, daß die Geschlossenheit des Physischen bewahrt bleibt. Doch das ist kein Widerspruch. Reduzierbarkeit war nichts anderes als Identifizierbarkeit: Demnach war der Organismus nichts anderes als die Summe seiner Teile und ihrer kausal relevanten Relationen. Gleichwohl besitzt er den Teilen gegenüber Priorität, denn nur der Organismus bzw. nur die Teile in dem Verbund, der der Organismus ist, weisen jene Geschlossenheit auf, mit der sie der Welt gegenübertreten können. Nur in diesem Verbund bilden die Teile eine Struktur, die persistiert. Die einzelnen Teile dieser Struktur bzw. des Organismus sind und bleiben, für sich betrachtet, Objekte kausaler Einwirkung, und zwar infolge ihrer kausalen Unselbständigkeit und Unvollständigkeit. Wenn sie sich jedoch in geeigneter Weise ergänzen, nämlich so, daß jeder Teil einen bestimmten Beitrag zur Struktur leistet, ergibt sich etwas, das in sich so geschlossen ist, daß es der Welt gegenübertreten kann. Kausale Nicht-Redundanz impliziert nicht Nicht-Reduzierbarkeit: Beides ist auseinanderzuhalten.
8.4 Fazit Merricks' Kriterium nicht-redundanter Kausalität taugt nicht als Existenzkriterium. Es taugt aber als Mittel ontologischer Zuspitzung: Eine bestimmte Ebene von Kausalgefügen besitzt insofern ontologische Priorität, als den Entitäten dieser Ebene, und nur ihnen, Selbständigkeit und die Fähigkeit, der Welt gegenüberzutreten, zukommt.
156
8. Kausalitätskriterium
Mit dieser Feststellung ist aber allenfalls die Richtung angedeutet, in der nach einer Erläuterung der Einheit des Individuums zu suchen ist. Dazu, weshalb eine Entität sich qua Kausalgefüge durch Einheit bzw. Unteilbarkeit auszeichnet, ist noch nichts gesagt, und es ist auch mehr dazu zu sagen, was ein solches Kausalgefüge sein soll. Da dies wesentlich etwas damit zu tun hat, daß das Individuum ein Funktionsgefüge ist, komme ich zunächst auf den Begriff der Funktion zu sprechen.
9. Der Begriff der Funktion Materielle Individuen, wie ζ. B. Organismen, sind dynamische Strukturen, deren Teile und Elemente auf solche Weise interagieren, daß die Struktur in gewisser Weise erhalten bleibt und eine gewisse kausale Abgeschlossenheit und Selbständigkeit gegenüber der Umwelt aufweist. Die Teile, die ihrerseits wiederum voneinander abhängen, haben - in zu erläuternder Hinsicht - die Funktion, einen spezifischen Beitrag zur Bildung und Aufrechterhaltung jenes Gefüges zu leisten. Insofern läßt sich, mit Blick auf den ganzen Organismus, von einem »Funktionsgefüge« sprechen. Wenn das Ineinandergreifen verschiedenartiger Aktivitäten, die ingesamt dem Bereich der Teile (mit »Teil« im weiten Sinn) zugeordnet sind, für das Bestehen der einzelnen verschiedenartigen Aktivitäten und der Gesamtaktivität des Organismus erforderlich ist und wenn dieser Organismus deshalb als »Funktionsgefüge« zu bezeichnen ist, liegt es nahe, dieses Funktionsgefüge als etwas Unteilbares, das heißt: als Individuum anzusehen. Funktionen sind der »cement of the individual«·} Um besser zu verstehen, was ein Individuum ist, müssen wir verstehen, was Funktionen sind. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels sage ich zunächst nun etwas mehr dazu, weshalb ich den Begriff der Funktion heranziehe. Hauptgrund ist, daß der Begriff der Funktion den Beitrag eines Teils zum Gesamtgefüge erfaßt, daß sich durch die Diskussion dieses Begriffs zugleich aber auch die Art dieses Beitrags genauer bestimmen läßt, und dies auch mit Blick etwa auf herkömmliche unausgesprochene Vorannahmen zur Art des Beitrags - Vorannahmen, die ihrerseits Folgen für das Verständnis des Begriffs des Individuums haben (9.1). Im zweiten Abschnitt des Kapitels gehe ich auf Vorläufer der gegenwärtigen Diskussion zum Funktionsbegriff ein, nämlich auf Untersuchungen von Hempel und Nagel.2 Zum einen lassen sich an diesen Vorläufern bestimmte Probleme - insbesondere einer funktionsabhängigen Existenzerklärung und einer teleologischen Interpretation - im Vorausblick auf einen ätiologischen Funktions-
1
Diese schon in der Einleitung erwähnte Formel ist eine Übertragung einer Formulierung von Hume, s. Abstract 662, s. ferner Treatise 2.3.1,406.
2
Für eine umfassende Darstellung der Diskussion zum Funktionsbegriff s. McLaughlin 2001 und Davies 2001 sowie die Sammelbände von Allen et al. 1998, Ariew et al. 2002, Buller 1999 und Hull / Ruse 1998.
158
9. Der Begriff der Funktion
begriff verdeutlichen. Diese Probleme zu verdeutlichen ist zweckmäßig, da auch der ätiologische Funktionsbegriff - gegenüber dem systemischen Funktionsbegriff der prominentere von beiden Begriffen - von ihnen betroffen ist. Zum anderen läßt sich aus der Funktionsanalyse, die sich bei jenen Vorläufern findet, ein nützlicher Kern im Hinblick auf einen systemischen Funktionsbegriff herausarbeiten, nämlich dort, wo die Funktionsausübung als Beitrag zu einer bestimmten Systemaktivität begriffen wird (9.2). Im dritten Abschnitt des Kapitels stelle ich, ausgehend von Wright (1973), den ätiologischen Funktionsbegriff dar und gehe auf Probleme ein, die mit diesem Begriff verbunden sind. Für den ätiologischen Funktionsbegriff ist der Umstand kennzeichnend, daß die Funktion die Präsenz und Existenz des Funktionsträgers erklärt und daß sie normativ zu verstehen ist. In beidem liegen zugleich die Hauptprobleme bei der Annahme dieses Funktionsbegriffs. Die Erörterung dieser Probleme wird zeigen, daß der ätiologische Funktionsbegriff gravierende unerwünschte Implikationen hat und daß er andererseits explanatorisch nicht leistet, was er leisten will. So ergibt sich zum einen aus der Analyse dieses Begriffs, daß ein Individuum letztlich aus Teilen besteht, die in ihrem Teil-Sein von etwas abhängen, das ontologisch von ihnen und vom Individuum verschieden ist (nämlich von numerisch von ihnen verschiedenen, früheren Funktionsbesitzern). Zum anderen erfaßt die beabsichtigte Begründung von Funktionen nicht alle tatsächlichen Funktionsträger, und die beabsichtigte Begründung von Funktionsnormen durch die »richtige« Selektionsgeschichte überzeugt nicht. Und schließlich läßt sich nicht einmal eine zufriedenstellende Deutung im Hinblick auf die beteiligten Tokens und Types einer ätiologischen Funktionsanalyse geben (9.3). Im vierten Abschnitt des Kapitels stelle ich den systemischen Funktionsbegriff dar und gehe auch hier auf Probleme ein, die mit diesem Begriff verbunden sind. Für den systemischen Funktionsbegriff ist der Umstand kennzeichnend, daß die Funktion eines Teils eines umfassenderen Systems für die Analyse einer Fähigkeit oder Disposition dieses Systems herangezogen wird und daß in dieser Analyse die Zuschreibung der Funktion deskriptiv zu verstehen ist, d. h. daß sie nicht als Zuschreibung einer Norm zu verstehen ist, die nicht ausschließlich durch den Beitrag zur fraglichen Fähigkeit des umfassenderen Systems begründet wäre. Hauptproblem bei der Annahme dieses Funktionsbegriffs ist die scheinbare Beliebigkeit bei der Wahl der umfassenden Systeme, die eine entsprechende Beliebigkeit von Funktionszuschreibungen zu implizieren scheint. Ein weiteres Problem scheint in der Erklärung von Fehlfunktionen zu liegen. Es wird sich allerdings zeigen, daß sich die Probleme durch eine Modifizierung des ursprünglichen systemischen Begriffs beheben lassen (9.4).
9.1 Weshalb Funktionen?
159
I m fünften Abschnitt des Kapitels füge ich - im Anschluß an die Präsentation der beiden Funktionsbegriffe zum Z w e c k der Illustration wie auch in vorausblickender Absicht - eine Erörterung zu jener Rede von »funktionaler Einheit« ein, die sich bei H o f f m a n und Rosenkrantz findet. D o r t haben wir es mit einer Verbindung des Begriffs der Funktion mit dem der Einheit zu tun. Deutlich zeigt sich hier die Relevanz der Wahl eines angemessenen Funktionsbegriffs für die Plausibilität der Verbindung der beiden Begriffe (9.5). I m letzten Abschnitt k o m m e ich im Schluß aus den vorangegangen E r ö r t e rungen zu dem Ergebnis, daß wir - auch weil jene Probleme, die sich (über die in (9.4) behandelten Probleme hinaus) für den ätiologischen Begriff ergeben, für den systemischen Begriff nicht bestehen und weil der systemische Begriff nicht weniger zu leisten vermag als der ätiologische Funktionsbegriff - mit dem modifizierten systemischen Begriff ein Mittel für die Beschreibung des Individuums als Funktionsgefüge gewinnen (9.6).
9.1 Weshalb
Funktionen?
Es sind mindestens drei Gründe, die sich im Fall der Teile eines Organismus für die Rede von »Funktionen« anführen lassen, und von diesen Gründen soll der dritte der ausschlaggebende sein. (1) Zum einen nimmt die Rede von »Funktionen« gewisse Alltagsintuitionen auf, die den Teilen eines Organismus Funktionen zuweisen. U n d auch in fachspezifischen, wie ζ. B. medizinischen, Kontexten ist wie selbstverständlich davon die Rede, etwas habe eine Funktion. D i e diesen Redeweisen zugrunde liegenden Annahmen werden insbesondere im Fall der sog. »Fehlfunktionen« handlungswirksam, nämlich dann, wenn jene Teile aufgrund einer Fehlfunktion als möglicher Handlungsgegenstand betrachtet werden. (2) Zum zweiten nimmt der Versuch, Organismen als Funktionsgefüge zu verstehen, traditionelle, nämlich antike Überlegungen auf. 3 Piaton führt als
3
Für Piaton siehe Politeia I, 352e3, 353a4f., alOf.; daß für Piaton hier das Pferd als Nutztier, nicht als Organismus, Beispiel eines Funktionsträgers ist, geht aus dem unmittelbaren Kontext hervor: ergon des Pferds ist gerade das, was man nur mit dem Pferd oder mit ihm am besten bewerkstelligen kann. Für Aristoteles siehe Meteorologie IV 12, 390al0-12: ά'παντα δ' εστίν ώρισμένα τω έργω- τά μεν γαρ δυνάμενα ποιεΤν το αυτών έργον αληθώς έστιν εκαστον, οίον οφθαλμοί ε! ορά. Für weitere Diskussion zu Aristoteles' ergon-Begriff siehe Buddensiek (1999: 104-147) und Müller 2003, für neuere Diskussionen zum ergon-Argument der NE siehe etwa Tuozzo 1996, Lawrence 2001 und Stemmer 2005. Es ist, wie gerade Tuozzos Interpretation zeigt,
160
9. Der Begriff der Funktion
Beispiele für Funktionsträger Organe, Artefakte, Nutztiere und die Seele des Menschen an. Funktion ist ihm zufolge diejenige Aufgabe, die man nur mit dem jeweiligen Funktionsträger oder mit ihm am besten erfüllen kann, bzw. diejenige, die nur dieser Funktionsträger oder der Träger am besten im Vergleich mit anderen Funktionsträgern erfüllen kann. Nach Aristoteles wiederum wird alles durch die Funktion bestimmt: Die Angabe der Funktion ist Teil der Angabe dessen, was etwas ist. Zu beachten ist bei diesem Funktionsbegriff jedoch dessen historischer Kontext. Dieser Kontext ist auch der Kontext einer Theorie des guten Lebens. Nicht nur Teile, Artefakte oder anderweitig auf ein System bezogene Entitäten sind dieser Auffassung zufolge Funktionsträger, sondern - im Unterschied zu neueren Funktionskonzeptionen - das System selbst, dem sie als Funktionsträger zugeordnet sind, ist Funktionsträger. Deutlich wird dies dort, wo Aristoteles von der »Funktion des Menschen« spricht.4 Standard des Funktionierens ist hier das gute Leben, welches für Aristoteles in der »bestmöglichen« Aktualisierung der menschlichen Fähigkeiten besteht. Diese bestmögliche Aktualisierung zeichnet sich unter anderem durch die hierarchische, auf eine übergeordnete Aktivität hin ausgerichtete Kohärenz der entsprechenden Aktivitäten aus. Individuum zu sein heißt hier: die menschlichen Aktivitäten so geordnet zu haben, daß sie in einem bestimmten Zusammenhang stehen. Das antike Verständnis von Funktionen sieht also eine enge Verbindung der Funktion von etwas mit dem vor, was der Funktionsträger i s t , und mit dem, was es für den Funktionsträger heißt, sich als das, was er ist, gut zu verhalten. Insgesamt verstehen wir dieser Auffassung nach von der Funktion her, was etwas ist, und wir stoßen hier schon auf die Vorstellung von der Kohärenz der Funktionen, die später durch die Rede vom »Funktionsgefüge« aufgenommen werden soll. (3) Zum dritten, und vor allem, soll durch die Rede von »Funktionen« der Umstand erfaßt werden, daß die Teile eines Organismus in der Interaktion miteinander eine bestimmte Art von Beitrag liefern, nämlich einen Beitrag zur Persistenz und Selbständigkeit des Organismus. Voraussetzung für die Persistenz und Selbständigkeit ist wiederum die Kohärenz der Teile bzw. ihrer Aktivitäten: Dann und nur dann wenn die Teile eine Einheit bilden, ist die Persistenz und Selbständigkeit des Organismus garantiert. Wenn sich dies so
sicher vorschnell, zu meinen, das Argument sei »obviously invalid« (McLaughlin 2001: 202). Zur Verbindung von Form und Funktion bei Aristoteles siehe ferner Liske 1985: 248-256. 4
Siehe N E 1 7 , 1 0 9 7 b 2 2 - 1 0 9 8 a 2 0 .
9.1 Weshalb Funktionen?
161
verhält, ist der Beitrag, den die Teile liefern, elementare Voraussetzung für die Einheit des Individuums. Dieser Beitrag aber ist die Funktion des Teils. Auch dieser dritte Grund für die Rede von Funktionen ist allem Anschein nach trivial. Um so wichtiger ist es jedoch gerade, jenen Umstand bewußt zu machen, nämlich daß Teile einen Beitrag liefern und daß dieser Beitrag Voraussetzung für die Einheit des Individuums ist. Denn es ist schon nicht mehr trivial zu bestimmen, was mit »Beitrag liefern« gemeint ist. Ein Verständnis dessen, was damit gemeint ist, ist aber elementare Voraussetzung für ein Verständnis der Einheit des Individuums. Wenn nun der Beitrag die Funktion des Teils ist, gilt ebenso, daß das Verständnis der Einheit des Individuums ein Verständnis davon voraussetzt, was mit »Funktion« gemeint ist. Eine hinreichend gründliche Behandlung des Begriffs der Funktion ist wiederum deshalb notwendig, weil unter »Funktion« Verschiedenes verstanden wird - mit sehr verschiedenen Konsequenzen. Diese Konsequenzen betreffen insbesondere die Frage einer Verbindung von Funktionen und Normen sowie die Frage der eventuellen Relevanz der Herkunft möglicher normativer Funktionen. Je nachdem wie die Antwort auf diese Fragen ausfällt, wird das Verständnis von »Beitrag« variieren - und damit auch das Verständnis dessen, wozu dieser Beitrag geleistet wird. Am Verständnis des Begriffs der Funktion zeigt sich, wie jemand den Begriff des Individuums versteht. Diesen Punkt kann man sich auch auf etwas andere Weise klarmachen. Die meisten von uns haben vermutlich Ansichten darüber, ob ζ. B. das Herz eines Menschen eine Funktion hat. Und viele von uns würden vermutlich sagen, daß das Herz eine Funktion hat. Dem liegen - bewußt oder nicht - bestimmte Annahmen über das, was ein Herz ist, zugrunde: Nur auf der Grundlage solcher Annahmen läßt sich behaupten, daß das Herz eine Funktion hat. Nun betreffen solche Annahmen nicht nur das Herz, sondern entsprechend alle Teile, von denen angenommen wird, daß sie eine Funktion haben. Damit beziehen sich solche Annahmen aber auch auf das, wovon die Teile Teile sind, nämlich das Individuum. Deshalb ist Klarheit über solche Annahmen und ihre Implikationen erforderlich. Solche Klarheit ist insbesondere auch dort erforderlich, wo jene Annahmen starke Normen oder »natürliche« Normen ansetzen - wie es im Fall von Funktionszuschreibungen wohl oft geschieht. Auch von daher hilft uns ein Blick auf das, was Funktionen sind, bei einem Zugriff auf das, was ein Individuum ist. Im übrigen ist von »Funktion«, und nicht von »Beitrag«, im folgenden deshalb die Rede, weil »Funktion« besser jenen dynamischen Aspekt erfaßt, der mit der - traditionell gesprochen - Aktualisierung der Dispositionen verbunden ist, durch die die Teile gekennzeichnet sind. Genauer gesagt: Es geht um eine Präzisierung dessen, was mit »Beitrag« gemeint ist. Nehmen wir einmal
9. Der Begriff der Funktion
162
(verkürzend) an, der Beitrag meiner H a n d zu jenem Gefüge von Aktivitäten, das der Organismus ist, bestünde darin zu greifen, so erfüllte die H a n d auch im Fall des Greifens ihre Funktion nicht, wenn sie dann greift, wenn sie es nicht soll, oder wenn sie zwar zum richtigen Zeitpunkt greift, dies aber mit unangebrachter Intensität tut. D i e Rede von » F u n k t i o n « erfaßt den Umstand am besten, daß einzelne Teile für die Leistung ihres Beitrags nicht fortwährend aktiv sein müssen oder dürfen (unbeschadet der Tatsache, daß manche Teile durchaus fortwährend aktiv sein müssen) und daß die Intensität ihres Beitrags wechseln kann. Ferner trägt jene Rede dem damit verbundenen Umstand Rechnung, daß Teile eben Dispositionen besitzen, was wiederum notwendig für das Zustandek o m m e n ihrer Aktivitäten ist: 5 D i e Rede von »Funktion« soll auch dem dispositionalen Aspekt der Teile gerecht werden. Das wiederum ist Voraussetzung dafür, daß der Organismus als etwas Persistierendes aufgefaßt werden kann: Einfach gesagt, ist die Annahme von Dispositionen Voraussetzung für die Annahme einer strukturellen Verbindung der zeitlich unterbrochenen Aktivitäten eines Teils. In jedem Fall müssen Individuationsbemühungen diesem dynamischen Aspekt Rechnung tragen. 6 Ich schicke hier noch eine Vorbemerkung voraus, und zwar zu methodologischen Problemen, die sich für eine Klärung des Begriffs der Funktion ergeben. F ü r die Klärung des Begriffs der Funktion scheinen sich im besonderen zwei Wege anzubieten, nämlich der der Analyse der alltagssprachlichen Verwendung und der der Entwicklung des Begriffs von bestimmten Anforderungen her. Welcher W e g ist einzuschlagen?
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Für eine neuere Diskussion zu Dispositionen siehe etwa Mumford 1998; siehe dort auch die Verbindung von Dispositionen und funktionalen Charakterisierungen: »A disposition ascription [...] is a functional characterization of a property: it is the classification of a property according to its functional role« (1998: 75).
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Wiewohl die aristotelische Identifizierung von Seele und Form eine ähnlich dynamische Auffassung von der Rolle der Form vermuten läßt, und zwar sofern es die »Auswirkungen« der Form betrifft, scheint mir, daß die Rede von der Form heute eher Gefahr läuft, als Rede über etwas Statisches mißverstanden zu werden. Für eine »dynamische[..] Auffassung der Form« siehe Liske (1985: 244-248, hier 246). Diese Auffassung ist jedoch nicht so zu verstehen, als sei die Form bei Aristoteles selbst einer Dynamik unterworfen. Vielmehr ist sie so zu verstehen, daß die Dynamik von der Form ausgeht und in ihr ihre Grundlage hat. Auch Leibniz scheint seine substantiellen Formen als dynamische Formen in einem besonderen Sinn zu verstehen: Ihre Natur bestehe in der Kraft, sie seien »forces primitives, qui ne contiennent pas seulement 1 'acte ou le complement de la possibilite, mais encor une activite originale« (Systeme Nouveau, 479).
9.1 Weshalb Funktionen?
163
Mit Blick auf eine Analyse im Ausgang von einer alltagssprachlichen Verwendung des Ausdrucks wäre zu fragen, welches die ausschlaggebende alltagssprachliche Verwendung ist (falls es eine gibt). Ferner wäre zu fragen, weshalb eine alltagssprachliche Verwendung für die Klärung des Begriffs ausschlaggebend sein sollte. Es könnte ζ. B. sein, daß eine Analyse der alltagssprachlichen Verwendung von unserer Rede über Artefakt-Funktionen ausgeht und das entsprechende Funktionsverständnis auf natürliche Dinge und deren Teile überträgt, ohne daß die Übertragung begründet würde - mit möglichen Problemen insbesondere für die Normativität von Funktionen. Die fruchtbarere Alternative besteht m. E. darin, einen Begriff der Funktion ausgehend davon, was er leisten soll, zu entwickeln. Die hierfür erforderliche Auseinandersetzung mit der vorhandenen Begriffsdiskussion ist nicht mit einer Analyse einer alltagssprachlichen Verwendung zu verwechseln. Vielmehr geht es darum, durch diesen Begriff Strukturen der Wirklichkeit zu erfassen, für die es sich wiederum trifft oder auch nicht trifft, daß sie durch alltagssprachliche Verwendungen erfaßt werden. Es kann sich hier nun auch herausstellen, daß der Begriff Verschiedenes leisten soll und daß es von daher angemessen ist, verschiedene Funktionsbegriffe zu verwenden. Zu prüfen ist in einem solchen Fall allerdings noch, ob es auch Unterschiede in der Struktur der Wirklichkeit sind, infolge deren jene verschiedenen Begriffe anzunehmen sind.7 Falls wir es in der herkömmlichen Diskussion zum Funktionsbegriff nur mit verschiedenen Projekten zu tun haben, so rechtfertigte dies allein die Annahme unterschiedlicher Wirklichkeits-
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Neander hat dafür plädiert, im Fall von Funktionen von einer Begriffsanalyse (conceptual analysis) auszugehen, wobei »Begriffsanalyse« den Versuch bezeichne, »to describe certain features of the relationship between utterances of the term under analysis, and the beliefs, ideas, and perceptions of those who do the uttering. It involves trying to describe the criteria of application that the members of the linguistic community generally have (implicitly or explicitly) in mind when they use the term« (1991: 170, für das Plädoyer s. 168f.). Neander unterscheidet diesen begriffsanalytischen Ansatz von einem Ansatz, der eine »theoretische Definition« zum Ausgangspunkt nimmt, bei welcher es sich um einen Versuch handele, »to explain some aspect of the thing referred to, or some aspect of the relationship between utterances of the term and the actual world« (ebd.: 170). Tatsächlich ist nicht zuerst die Beobachtung interessant, wie die Mitglieder der relevanten »linguistic community« einen Ausdruck verwenden, sondern welche Phänomene bzw. Strukturen sie durch diesen Ausdruck zu erfassen versuchen. Das heißt genauer: Jene Verwendung des Ausdrucks ist zwar zunächst Ausgangspunkt für die Eingrenzung des relevanten Phänomenbereichs, worum es aber - auch den Mitgliedern jener Sprachgemeinschaft - geht, ist die richtige Erfassung jener Phänomene.
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9. D e r Begriff der Funktion
strukturen jedenfalls nicht. So ist etwa das Projekt, dem Cummins und Millikan nachgehen, ein je verschiedenes: Cummins geht es um die Einschränkung der Verwendung des Funktionsbegriffs auf systemanalytisch relevante Zusammenhänge; Millikan geht es bei der Verwendung des Funktionsbegriffs darum, den Grund für eine Naturalisierung bestimmter sprachlicher und mentaler Phänomene zu legen.8 Gegenstand sind aber in beiden Fällen bestimmte Strukturen in der Welt, und zwar jene Strukturen, die vom spezifischen Zusammenhang zwischen Teilen und Ganzem betroffen sind. Die Auffassungen unterscheiden sich darin, wie der Zusammenhang zu beschreiben ist, nicht aber darin, um welchen Zusammenhang es geht.
9.2 Anfänge der Diskussion des Begriffs Die neuere Diskussion zum Funktionsbegriff beginnt - jedenfalls im angelsächsischen Raum - mit den eher »funktionskritischen« Untersuchungen von Carl Gustav Hempel und Ernest Nagel. 9 Obwohl diese Untersuchungen nicht mehr neueren Datums sind, gehe ich auf sie etwas näher ein, und zwar deshalb, weil sich in Auseinandersetzung mit ihnen einige der relevanten Punkte und Probleme gut entwickeln lassen. Ausgangspunkt und Untersuchungsmaterial sind für Hempel wie für Nagel, mit unterschiedlichen Gewichtungen, Verwendungen von Funktionsbegriffen in verschiedenen Wissenschaften, wie etwa Anthropologie, Soziologie, Psychologie oder Biologie. Beiden Ansätzen ist gemein, daß sie als Ziel einer Funktionsanalyse den Schluß auf das Vorkommen eines bestimmten Funktionsträgers annehmen, daß sie dies zugleich kritisch sehen und daß sie verlangen, daß die Funktionsanalyse eine Erklärung für das Vorliegen des Funktionsträgers liefert. Dies ist für die Diskussion, die an Hempel und Nagel anschließt, insofern relevant, als auch dort oft als Ziel einer Funktionsanalyse jene Erklärung des Vorkommens eines bestimmten Funktionsträgers angenommen wird. Das wiederum ist relevant, weil damit Auswirkungen auf den Funktions&egrz^" verbunden sind. Es besteht nun ein Unterschied, ob ein Funktionsbegriff so gewählt wird, daß durch ihn lediglich ein bestimmter Beitrag des Funktionsträgers zu einer
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Siehe Cummins 1975 und Millikan 1984.
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Siehe Hempel 1965 und Nagel 1961. Wright (1973: 153) verweist kurz auf Hempel, Cummins 1975 verweist auf Hempel und Nagel, McLaughlin 2001 schließlich nimmt beide als Ausgangspunkt seiner umfassenden Darstellung der Diskussion.
9.2 Anfänge der Diskussion des Begriffs
165
umfassenderen Aktivität erfaßt wird, oder ob er so gewählt wird, daß er an eine Existenzerklärung gekoppelt ist (wobei diese zweite Festlegung auch zusätzlich zur ersten erfolgen kann). Während die Funktion in beiden Fällen dieselbe sein kann - ζ. B. Blut zu pumpen als Funktion des Herzens - , ist der ontologische Rahmen dieser Funktion jeweils ein anderer. Ein Unterschied besteht unter anderem darin, daß die Funktion bei jener Kopplung an Existenz in der Regel teleologisch aufgeladen wird. Dieser »Kopplungs«-Auffassung zufolge existiert etwas, um eine bestimmte Funktion zu erfüllen: Es gibt einen Zweck der Existenz des Funktionsträgers. Bei systemischer Funktionsauffassung spielt Teleologie hingegen keine Rolle. Ferner besteht ein Unterschied darin, daß in der ätiologischen Auffassung eine bestimmte Art des Zustandekommens angenommen wird: Funktionsträger ist etwas nur dann, wenn es auf jene Art zustande gekommen ist. Auch diese Annahme spielt für die systemische Funktionsauffassung keine Rolle. Wie zu erörtern sein wird, gingen Hempel und Nagel und die an sie anschließende Diskussionen zum ätiologischen Funktionsbegriff auf je verschiedene Weise mit der teleologischen Aufladung um. Teils wurde die entsprechende Funktionsanalyse gleich für fehlerhaft erklärt (Hempel), teils wurde die implizierte Teleologizität nivelliert (Hempel und Nagel), teils wurden Mechanismen für die Realisierung der Teleologie und die des Funktionsträgers genannt (Wright) und weiterentwickelt (Millikan). In der gegenwärtigen Diskussion scheint jedenfalls die Auffassung vorzuherrschen, daß die Kopplung von Funktionszuschreibung und Existenzerklärung Teleologizität des Funktionsbegriffs einschließt. Für den Funktionsbegriff heißt das aber, daß die Welt in einer bestimmten Weise, nämlich teleologisch, verfaßt sein muß, damit Funktionen überhaupt vorliegen können. Die Schwierigkeiten, die sich hieraus ergeben, liegen sowohl im Problem der Annahme natürlicher Normen, die mit der Annahme der Teleologie verbunden ist, als auch im Problem der Annahme teleologischer Kausalität. Beiden Problemen versuchte und versucht man durch Bezug auf Evolution und Selektion als den besten Kandidaten für eine realistische Normenbegründung und einen teleologischen Mechanismus zu begegnen. Da es sich bei der frühen Diskussion um eine Grundlegung des Funktionsbegriffs handelt, ist sie im folgenden mit einiger Genauigkeit darzustellen. Hierbei gehe ich zunächst (1) auf Hempels, dann (2) auf Nagels Analyse ein. (1) Hempel - wie auch Nagel - geht es im Kern darum, die Annahme eines Unterschieds zwischen Wissenschaften, die sich auf die Verwendung eines Funktionsbegriffs durch die einen und die Nicht-Verwendung eines solchen Begriffs durch die anderen dieser Wissenschaften stützt, als unbegründet zu erweisen. Hempels Vorgehen besteht dabei in dem Versuch, die Ungültigkeit
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9. Der Begriff der Funktion
des in Funktionsanalysen verwendeten Schlusses nachzuweisen. Dieser Schluß erfolge, so Hempel, vom Funktionieren eines Systems auf das Vorliegen eines bestimmten, für das Funktionieren des Systems erforderlichen Funktionsträgers. Der Schluß ist insofern ungültig, als logisch nicht ausgeschlossen ist, daß es für eine bestimmte Funktion, die für das Funktionieren des Gesamtsystems erforderlich ist, verschiedenartige Funktionsträger geben könnte: Vielfache Realisierbarkeit der Funktion ist nicht ausgeschlossen. Allenfalls ist ein Schluß auf irgendeinen Träger dieser Funktion zulässig. Zudem kann das in der vorgestellten Funktionsanalyse verwendete Argument nicht einmal leisten, was es leisten soll, nämlich das Vorkommen eines bestimmten Funktionsträgers zu erklären. Es kann dies deshalb nicht, weil eine solche Erklärung verdeutlichen müßte, wie es zum Auftreten des Funktionsträgers kommt, es müßte also eine kausale Erklärung liefern. Das geschieht aber nicht. So weit Hempel.10 Nun ist Hempels Analyse jedoch nicht kohärent. Er präsentiert nämlich zunächst ein Grundmuster funktionaler Analyse, bei der es keineswegs um jenen Schluß auf die Existenz eines bestimmten Funktionsträgers geht und der er später immerhin heuristischen Wert zuspricht. Vielmehr geht es in der präsentierten Analyse um den Beitrag, den ein Funktionsträger für die Erhaltung oder Entwicklung der »proper working order« des Systems (des Individuums oder der Gruppe) liefert, dessen Teil der Funktionsträger ist.11 Wie auch Hempel selbst anmerkt,12 sind die zentralen Begriffe - wie etwa System oder auch proper working order- zumindest unscharf. Doch handelt es sich, wie zu ergänzen ist, um begriffliche Unschärfe, nicht aber um einen Fehlschluß, und zwar deshalb nicht, weil hier kein Schluß, sondern nur die Analyse eines Beitrags (des Funktionsträgers) vorliegt. Hinzu kommt, daß im weiteren Verlauf von Hempels Arbeit der Eindruck entsteht, daß er die Bestimmung einer solchen proper working order und mit ihr die funktionale Analyse doch nicht prinzipiell für unmöglich hält.13 Angenommen, Funktionsausübungen seien nun tatsächlich Beiträge zu einer (näher zu bestimmenden)proper working order: Welche Konsequenzen ergäben sich daraus für den Funktionsbegriff bzw. dessen Anwendung? Zunächst wäre die Menge der Systeme, in denen Funktionen eine Rolle spielen und Funktionsträger auftreten, auf Systeme beschränkt, denen eine proper working order
10 Hempel 1965: 297, 309f. Zum Verweis auf vielfache Realisierbarkeit siehe auch Cummins 1975: 743-747, sowie McLaughlin 2001: 75. 11 Siehe Hempel 1965: 305f., 329-330. 12 S. Hempel 1965: 306, 319-321. 13 Vgl. Hempel 1965: 323-325.
9.2 Anfänge der Diskussion des Begriffs
167
zukommen kann. McLaughlin interpretiert dies so, daß von einer Funktionsausübung verlangt werde, dem System einen Nutzen zu bringen oder zu seiner »welfare« beizutragen. Daraus folgert er wiederum, daß in Hempels Konzeption Artefakte als Systeme, in denen Funktionen auftreten, ausgeschlossen sind14 (was unseren Intuitionen über Funktionen nicht entspräche). Mir scheint jedoch, daß diese Interpretation nicht zwingend ist. Während wir bei Artefakten durchaus von proper working order sprechen können, ist es - mit McLaughlin - in der Tat ungewöhnlich, ihnen welfare-Fähigkeit zuzuschreiben. Doch das spricht nicht gegen die Zuschreibung einer proper working order, sondern gegen den Schluß von proper working order auf welfareFähigkeit. Dies ist relevant, weil der hier verwendete Funktionsbegriff in seiner Grundlegung nicht den unplausiblen Zug enthält, bestimmte Entitäten als Funktionsträger auszuschließen, die wir üblicherweise als klare Fälle von Funktionsträgern ansehen würden, nämlich Teile von Artefakten.15 Abgesehen davon, daß mit der Annahme, Funktionsausübungen seien Beiträge zu einer proper working order, der Bereich der zu berücksichtigenden Systeme enger gefaßt wird (und zwar gegenüber dem Bereich aller Systeme überhaupt), nämlich als Bereich derjenigen Systeme, für die es solch eineproper working order gibt, ist die weitere Konsequenz aus dieser Annahme eine nur schwach normative Aufladung des Funktionsbegriffs, nämlich relativ eben zur proper working order des Systems. Dieser Zustand ist der von Hempel diskutierten Konzeption zufolge mit der Selbstregulierung des Systems verknüpft. Die Schwierigkeit, die hier auftritt, ist die der hinreichend genauen Bestimmung des Systems und der zulässigen Spannbreite von Zuständen, die durch die Selbstregulierung erreicht werden. Hempel ist selbst jedoch relativ optimistisch, daß sich diese Bestimmung für biologische Systeme vergleichsweise gut treffen läßt.16 Ein weiteres Merkmal von Hempels Analyse ist die Nivellierung der Teleologizität (jedenfalls in einem starken Sinn von »Teleologizität«).17 Funktionale Analysen, sofern sie nicht von vornherein auf ungültigen Schlüssen beruhen, implizieren - Hempel zufolge - keine teleologische Auffassung der
14 Siehe McLaughlin 2001: 69. 15 Zudem wäre es Hempels Anliegen nicht angemessen, ihn in diesem Punkt festzulegen: Selbst wenn er welfare-nahe Redeweise verwendet, ist das nicht so zu verstehen, als ließe er nur welfare-i'ihige Systeme als Profiteure von Funktionsausübungen zu; vielmehr ist die Tatsache, daß er sein Augenmerk (unausgesprochen) auf welfare-fähige Systeme richtet, nur dem Umstand geschuldet, daß sein Beitrag zuerst in einem soziologisch ausgerichteten Sammelband erschienen ist. 16 Siehe Hempel 1965: 317-319, 324. 17 Siehe Hempel 1965: 325-329.
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9. Der Begriff der Funktion
Welt. So ist etwa Selbstregulierung und die mit ihr vorliegende Rückkehr in bestimmte Ausgangszustände kein Faktum, das teleologisch zu erklären wäre, sondern eines, das allein durch vorhandene Dispositionen erklärbar ist. Sie ist nichts weiter als ein Effekt vorhandener Dispositionen, wobei diese Dispositionen weder dazu da sind, diese Effekte hervorzubringen, noch diese Effekte hervorgebracht werden, um Selbstregulierung zu bewirken. (2) Auch Nagel will einen vermeintlichen Grund für die Annahme einer grundsätzlichen Verschiedenheit bestimmter Wissenschaften eliminieren, nämlich derjenigen Wissenschaften, die einen »zweckhaften Charakter« oder ein »zielgerichtetes Verhalten« ihres Gegenstands unterstellen und analysieren, und derjenigen Wissenschaften, die dies nicht tun. Ein solcher Charakter oder ein solches Verhalten werde etwa in der Biologie für Organismen bzw. die sie erhaltenden Lebensprozesse angenommen, wobei als Ziele Selbstregulierung, -erhaltung und -reproduktion unterstellt werden.18 Für den Begriff der Funktion ist dies insofern relevant, als unterstellt wird, daß der Gegenstand teleologischer Analyse, wie sie Nagel zufolge etwa in der Biologie unternommen wird, eben die Funktionen von lebenswichtigen Prozessen und Organen für die Aufrechterhaltung der charakteristischen Aktivitäten lebender Wesen seien.19 Nagel beansprucht nicht, Allgemeingültiges über alle Funktionsbegriffe zu sagen. Vielmehr greift er jenen Begriff heraus, an dessen Verwendung sich jene Unterscheidung bestimmter Wissenschaften zeigen soll. Nagel zufolge ist die Ausübung einer Funktion ein Beitrag zu einer charakteristischen Aktivität des Systems, dessen Teil der Funktionsträger ist. Die Funktionsausübungen der Strukturen des Organismus erhalten (»sustain«) die Aktivitäten des Organismus als ganzen.20 Im unmittelbaren Kontext der Rede von Selbstregulierung, -erhaltung und -reproduktion lassen diese Äußerungen vermuten, daß auch Nagel zufolge die Funktionskonzeption einen Begriff einer solchen Funktion enthält, deren Ausübung die selbsterhaltende Gesamtaktivität des Organismus unterstützt und zu einer proper working order des Systems beiträgt.21 18 Siehe Nagel 1961:400. Es geht mir hier nicht um die (merkwürdige) Unterstellung, daß die Biologie tatsächlich Zielgerichtetheit annehme und analysiere. Es geht mir nur um die Erörterung eines entsprechenden Funktionsbegriffs. 19 So Nagel 1961: 401. Eine - keine Vollständigkeit beanspruchende - Auflistung verschiedener Funktionsbegriffe führt Nagel später an, siehe 1961: 522-525. 20 Siehe Nagel 1961: 400f„ 405. 21 Man könnte meinen, daß Nagels Begriff diesen Bezug auf eint proper working order (oder, nach McLaughlin, die welfare) des Systems gerade nicht impliziert und von daher offen ist für eine Interpretation, der zufolge Funktionsausübungen das System
9.2 Anfänge der Diskussion des Begriffs
169
I m Unterschied zu Hempel versucht Nagel nun nicht, die teleologische Analyse als fehlerhaft zu erweisen. Vielmehr argumentiert er für die These, daß alle teleologische Redeweise ohne Verlust in nicht-teleologische Redeweise übersetzbar sei: Das Satzschema »die Funktion von χ (als Teil von y) ist, y in die Lage zu versetzen zu ...« sei verlustfrei übersetzbar etwa in das Schema ~»y m a c h t . . . nur, wenn y χ enthält«. 2 2 Funktionsaussagen sind danach immer in Konditionalaussagen übersetzbar. Zwei Fragen schließen sich an diese These an: die nach der Wahrheit der These und die Frage nach Auswirkungen für den Funktionsbegriff. E i n offenkundiges Problem, das Nagel selbst anführt, besteht in der R ü c k übersetzbarkeit, d. h. in der Möglichkeit der Ubersetzung nicht-teleologischer in teleologische Redeweise oder Analyse. Diese Rückübersetzung müßte möglich sein, da die Ubersetzung verlustfrei, d. h. ohne Verlust an sachlichem Gehalt, erfolgen sollte. D a n n aber, so auch Nagel, ist nicht zu sehen, weshalb die nicht-teleologisch formulierten Aussagen ζ. B. der Physik - etwa ihre Gesetze oder Erklärungen - nicht ihrerseits in teleologisch formulierte übersetzbar sein sollten. 2 3 Nagels Antwort lautet, daß sich solche Übersetzungen tatsächlich bilden lassen, etwa dort, w o Minimierungen (ζ. B. einer Strecke, die das Licht zurücklegt) oder Maximierungen eine Rolle spielen: E i n Übersetzungsschema dieser Art lautete etwa »... proceeds in such a manner as to minimize or maximize some magnitude ...«. 24 D o c h selbst wenn das akzeptiert würde, lassen sich nicht alle nicht-teleologisch formulierten Aussagen in dieser Weise umformen, so daß zumindest eine Erläuterung angeführt werden müßte, auf welchen Bereich von Aussagen die Übersetzbarkeitsthese zutreffen soll. So seien etwa die folgenden Aussagen (a) und (b) verlustfrei ineinander übersetzbar bzw. rückübersetzbar:
nur bei irgendeinem Ziel unterstützen müssen, ohne daß dies schon die proper working order wäre. Allerdings scheint es im hier relevanten Bereich biologischer Systeme schwierig, zwischen einem Beitrag zu einer charakteristischen Aktivität eines solchen Systems und einem Beitrag zu einer proper working order des Systems zu unterscheiden. 22 Siehe Nagel 1961:403. 23 Siehe Nagel 1961:406. 24 Nagel 1961: 407.
9. Der Begriff der Funktion
170
(a) Die Funktion des Chlorophylls in Pflanzen ist es, Pflanzen in die Lage zur Durchführung von Photosynthese zu versetzen.25 (b) Eine Pflanze ist nur dann zur Durchführung von Photosynthese in der Lage, wenn sie Chlorophyll enthält. Nicht hingegen sind die folgenden Aussagen (c) und (d) ineinander übersetzbar: (c) Ein Wirbeltier-Organismus ist nur dann zur Aufnahme von Sauerstoff fähig, wenn er ein Herz enthält. (ιd) Die Funktion des Herzens ist es, den Wirbeltier-Organismus zur Aufnahme von Sauerstoff zu befähigen. Während (c) zwar in relevanter Hinsicht uninformativ, aber wahr ist, ist (d) falsch. Der entscheidende Unterschied zwischen (c) und (d) besteht darin, daß die Funktionsaussage (d) einen kausalen Zusammenhang behauptet, während die Konditionalaussage (c) dies nicht tut. Die Ubersetzung der Funktionsaussage in eine nicht-teleologische Aussage ist also nicht in allen Fällen verlustfrei möglich. Nun könnte Nagel einwenden, daß Aussagen wie ζ. B. (c) nicht zur Diskussion stehen. Vielmehr gehe es um empirisch gegebene und überprüfbare Sachverhalte. Doch dieser Einwand ist nur zulässig, wenn zu den auszuwählenden, zulässigen Aussagen die relevanten Kriterien für die Auswahl zulässiger Konditionalaussagen mitgeliefert werden. Dann aber handelt es sich eben nicht mehr nur um eine Konditionalaussage, sondern um ein mehr oder weniger erweitertes Theoriestück. In jedem Fall wird dieses Theoriestück auch Aussagen über den relevanten Kausalzusammenhang enthalten.26 Für den Begriff der Funktion bedeutet der Übersetzungsverlust im Fall teleologischer Aussagen, daß sich auch die Rede von Funktionen, wenn sie an teleologische Implikationen gebunden ist, nicht in der von Nagel vorgeschlagenen Weise verlustfrei ersetzen läßt bzw. daß eine solche Ersetzung jedenfalls dann nicht möglich ist, wenn die Rede von Funktionen die für die Selbstwiederherstellung relevanten kausalen Zusammenhänge doch erfassen sollte. Ein solcher Zusammenhang wird jedoch etwa erfaßt, wenn Blut zupumpen als Funktion des Herzens angegeben wird. Daher legt sich eine Trennung von funktionalistischer und teleologischer Redeweise nahe. Bei Berücksichtigung
25 Vgl. Nagel 1961: 403. 26 Nagel selbst räumt der teleologischen Erklärung gegenüber ihrer nicht-teleologischen Formulierung eine »surplus meaning« und eine >weitere Konnotation< ein (vgl. 1961: 421).
9.2 Anfänge der Diskussion des Begriffs
171
der übrigen Ausführungen Nagels gelangte man damit zu einem Funktionsbegriff, der am ehesten dem letzten jener sechs Funktionsbegriffe entspricht, die Nagel an späterer Stelle anführt.27 Diesem Begriff zufolge bezeichnet »Funktion« »the contributions it [i. e., some item - F. Β.] makes (or is capable of making under appropriate circumstances) toward the maintenance of some stated characteristic or condition in a given system to which that item is assumed to belong.«
Der Begriff ist insofern noch reicher, und steht näher an Hempels Begriff, als es bei ihm nicht nur um die Aufrechterhaltung eines bestimmten Charakteristikums oder Zustands innerhalb eines Systems geht, sondern um die Aufrechterhaltung des Systems selbst. Es ist nun nicht Willkür, die zur Wahl eines derart reichen Funktionsbegriffs führt. Vielmehr liegt dieser Wahl die Annahme zugrunde, daß sich nur mit Hilfe eines solchen Begriffs bestimmte Tatsachen angemessen erfassen lassen. Zu diesen Tatsachen gehören aber gerade auch die für die Selbstwiederherstellung relevanten kausalen Zusammenhänge innerhalb des Systems. Auch liegt bei einem Funktionsbegriff, der diese Zusammenhänge erfaßt, noch keine normative Aufladung in einem starken Sinn vor. Selbstwiederherstellung - und mit ihr Selbsterhaltung - wird bisher nur als Effekt bestimmter Aktivitäten des Systems gesehen: Sie ergibt sich aufgrund der Strukturen des Systems. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die in den frühen Analysen vorgebrachte Kritik, die üblichen Verwendungen des Begriffs der Funktion legten kein Argument für die Existenz des Funktionsträgers vor, ins Leere läuft, daß dies gleichwohl aber nicht irritieren muß. Denn die Absicht jener Verwendungen scheint eine andere zu sein - wie es auch in jenen frühen Analysen deutlich wird. Es scheint nämlich vielmehr darum zu gehen, daß die Funktion als der Beitrag eines Teils etwa zu einer proper working order, Selbstregulierung oder charakteristischen Aktivität eines Systems anzusehen ist, daß es also nicht um ein Existenzargument geht. Hierbei bildet dann die Erfassung des relevanten kausalen Zusammenhangs den Kern jeder Funktionsanalyse. Ferner läßt sich das Problem der eventuell angenommenen teleologischen Konnotation funktionaler Redeweise entschärfen, und zwar nicht durch die irrige Annahme der verlustfreien Ubersetzbarkeit von teleologischer in nicht-teleologische Redeweise, sondern vielmehr durch die Abtrennung funktionaler von (starker) teleologischer Redeweise.
27 Vgl. Nagel 1961: 522-525. 28 Nagel 1961: 525.
9. D e r Begriff der F u n k t i o n
172
9.3 Der ätiologische
Funktionsbegriff
In diesem Abschnitt stelle ich den ätiologischen Funktionsbegriff zunächst etwas umfassender jener einfachen F o r m nach dar, in der er von Wright eingeführt wurde (9.3.1). Dann gehe ich kurz auf Differenzierungen ein, die der Begriff bei Millikan erfahren hat (9.3.2). Anschließend k o m m e ich etwas ausführlicher auf Probleme zu sprechen, die mit dem ätiologischen Funktionsbegriff verbunden sind (9.3.3).
9.3.1 Wrights Konzeption Die bis heute bestimmende Diskussion zum Funktionsbegriff beginnt mit der von Larry Wright vorgestellten Konzeption des ätiologischen Funktionsbegriffs. D e m ätiologischen Funktionsbegriff zufolge ist die Funktion eines Funktionsträgers der G r u n d dafür, daß dieser Funktionsträger vorhanden ist. Genauer heißt es dazu bei Wright: »The function of X is Ζ means [...] (a) X is there because it does Z, (b) Ζ is a consequence (or result) of X's being there.«29 So bedeutet ζ. Β. »die Funktion des Herzens ist es, Blut zu pumpen«: Das H e r z ist da, weil es Blut pumpt, und Blut zu p u m p e n ist ein Resultat dessen, daß das H e r z da ist. »Because« ist hier Wright zufolge ätiologisch zu verstehen: D u r c h »because« bzw. »weil« werde der Grund für die Existenz des Funktionsträgers (als Funktionsträger) angezeigt, »because« sei »in its ordinary, conversational, causal-explanatory sense« zu verstehen. 30 Es soll erklärt werden, »how the thing with the function got there«?1 Dies ist der wichtige Punkt: Funktionsanalysen dienen - dem ätiologischen Funktionsbegriff zufolge - der Erklärung des
29 Wright 1973: 161. Wright zufolge kann »ist vorhanden« ergänzt werden durch »dort wo es ist« oder durch »in etwas«, oder es kann wie »es existiert« zu verstehen sein. Ahnlich flexibel ist »tut« zu verstehen: Es kann auch für »kann tun« oder für »tut üblicherweise« oder für »kann üblicherweise tun« stehen (ebd.: 153, 158, 160f.). »Ist da« muß verstanden werden als »ist entstanden« (oder ähnliches), um dem »WirbelEinwand« zu begegnen, dem zufolge die Wright'sche Analyse auch auf einen Stock, der einen Wirbel verursacht und von diesem Wirbel festgehalten wird, zuträfe, obwohl wir in diesem Fall nicht von der Funktion des Stocks, den Wirbel zu erzeugen, reden wollten (s. McLaughlin 2001: 98 und 225 Anm. 34). 30 Wright 1973: 157. 31 Wright 1973: 156.
9.3 Der ätiologische Funktionsbegriff
173
Vorhandenseins des Funktionsträgers. Zu dieser Konzeption sind zunächst einige Erläuterungen anzuführen. Daran anschließend werde ich auf eine Reihe von Kritikpunkten und Modifikationen der Theorie eingehen. Mit seiner Konzeption der Funktionsanalyse glaubt Wright, unter anderem zwischen der Funktion eines Funktionsträgers und bloß akzidentellen Folgen seiner Präsenz oder Aktivität unterscheiden zu können. 32 So würden wir intuitiv bei der Aktivität des Blutpumpens von der Funktion des Herzens sprechen, bei der Erzeugung von Pumpgeräuschen hingegen nur von einer akzidentellen Folge der Herzaktivität. In das Schema eingesetzt heißt das, daß die Pumpgeräusche nicht der Grund für das Vorhandensein des Herzens sind, sein Blutpumpen hingegen schon. Der zweite Teil der Analyse (b) wird angefügt, damit die Analyse nicht auch bloße Mittel zur Funktionserfüllung erfaßt. So sei es - Wright zufolge - die Funktion von Sauerstoff im Körper, Energie zu produzieren (genauer müßte es heißen: zur Umwandlung von Energie beizutragen), und deshalb sei er im Blut vorhanden. Er sei nicht im Blut vorhanden, um sich mit Hämoglobin zu verbinden. Und doch könnte man, wenn die Analyse nur aus (a) bestünde, die Verbindung mit Hämoglobin für seine Funktion halten, denn diese Verbindung gibt einen Grund für das Vorhandensein von Sauerstoff im Blut an.33 Bei Hinzunahme von (b) ist diese Funktionszuschreibung nicht mehr möglich: Die Verbindung mit Hämoglobin ist nicht ein Resultat des Vorhandenseins von Sauerstoff im Blut, sondern eine Voraussetzung. Weil nun das Gegebensein eines bestimmten Individuums α kausal nicht auf a's eigenes Tun zurückgehen kann, muß Wright etwas voraussetzen, auf das das Gegebensein von α in diesem Fall kausal zurückgeht. Dafür verbindet er (für den Bereich der Biologie) seine Funktionsanalyse mit dem Begriff der natürlichen Selektion und hält es sogar für eine Empfehlung der ätiologischen Analyse, »that it both accounts for the propriety of, and at the same time elucidates the notion of, natural selection.«34 Wright sieht im Begriff der natürlichen Selektion eine Erweiterung des Begriffs jener Selektion, die vorsätzlich und gezielt vorgenommen wird, um einen bestimmten Vorteil (oder ähnliches) zu erzielen, und die er »consequence-selection« nennt. 35 So ist die Funktion des Herzens das, was zu seiner Selektion geführt hat, und es wurde deshalb ausgewählt, weil es vorteilhaft ist, daß es vorhanden ist.
32 Wright 1973: 141f., 156. 33 Siehe Wright 1973: 159, 161. 34 Wright 1973: 162. 35 Wright 1973: 163.
174
9. D e r Begriff der Funktion
Mit dieser Analyse von Funktionszuschreibungen vermeidet Wright eines der Probleme, die sich in der Hempelschen Analyse ergaben:36 Hempel zufolge sollten Funktionsanalysen in einem Schluß auf das Vorkommen des Funktionsträgers bestehen und so das Vorkommen dieses Funktionsträgers erklären, ohne daß das Explanans jedoch tatsächlich eine kausale Erklärung enthielt. Wrights Analyse beabsichtigt, gerade diese kausale Erklärung zu liefern, und führt dafür die Konzeption der Selektion in die Funktionskonzeption ein. Wrights Analyse will des weiteren einen einheitlichen Funktionsbegriff liefern, d. h. einen Begriff, der sowohl natürliche Funktionen als auch ArtefaktFunktionen erfaßt.37 Diese Einbeziehung von Artefakt-Funktionen hat die Konsequenz, daß in Wrights Konzeption der Funktionsanalyse nicht auf umfassende Systeme als Bezugsrahmen für Funktionen Bezug genommen wird. Dies - so vermutlich Wrights Grund - deshalb nicht, weil sich, wie er meint, bei Artefakten die relevanten Systeme nur willkürlich zuschneiden ließen.38 Die Bestimmung von Funktionen ist unabhängig von der Bestimmung von Systemen, deren Teil Funktionsträger (möglicherweise) sind. Die Einbeziehung von Artefakt-Funktionen scheint jedoch nicht nur zu einem Verzicht auf die Berücksichtigung von umfassenden Systemen zu führen, sondern auch zu einem Verzicht auf eine »welfare«-Klausel: Selbst wenn Artefakte als Systeme angesehen würden, schiene es nicht sinnvoll, sie als Systeme anzusehen, denen es »gut gehen« kann oder für die zumindest die Ausübung der Funktion eines ihrer Teile immer nützlich ist.39 Doch dieser Verzicht wäre für Wrights ätiologischen Funktionsbegriff problematisch. Denn es ist nicht zu sehen, wie vom Nutzen einer bestimmten Funktion (eines Systemteils) für das System noch abgesehen werden könnte, nachdem die Konzeption der natürlichen Selektion in die Funktionskonzeption aufgenommen wurde:40 Die Annahme von Selektion fußt gerade auf der Annahme der relativ größeren Nützlichkeit eines Funktionsträgers für das System, dessen Teil er ist. Wright scheint den Nutzen (für das System) als notwendige Bedingung (dafür, daß dem Systemteil eine Funktion zugeschrieben werden kann) deshalb
36 Siehe auch McLaughlin 2001: 94. 37 Siehe Wright 1973: 142f., 163. 38 Vgl. Wright 1973: 151f.; siehe auch McLaughlin 2001: 100, und 102 zum entsprechenden Verzicht auf umfassende Systeme bei Millikan. 39 Dies ist aus der Kritik von Wright (1973: 145) an Canfield (1963/64) zu entnehmen. Vgl. auch McLaughlin 2001: 94, 96. 40 Vgl. hierzu auch McLaughlin 2001: 97, 100.
9.3 Der ätiologische Funktionsbegriff
175
ausschließen zu wollen, weil im Fall von Artefakten ein solcher Nutzen nicht vorliegt. Doch das ist keine zufriedenstellende Begründung. Zum einen können Artefakte auch ihrerseits als Teile eines Systems angesehen werden, für das ihre Funktionsausübung von Nutzen ist, nämlich eines Systems, das aus Artefakt und Artefakt-Nutzer besteht. Wright scheint als System-Kandidaten nur das Artefakt oder den Nutzer anerkennen zu wollen.41 Doch wird nicht klar, weshalb man solch einen eingeschränkten Systembegriff akzeptieren sollte. Zum anderen kann - und muß nach Wright wohl sogar - für Artefakte ein ähnlicher Selektionsmechanismus angenommen werden wie für Organismen. Dann aber könnte man ebenso sagen, daß ζ. B. der Sekundenzeiger der Uhr selektiv vorteilhaft für die Existenz von Uhren ist und somit der Uhr selbst nützt: Uhren werden in der Herstellung mit einem Sekundenzeiger versehen, weil dies den Absatz fördert. (Auf die auftretenden Probleme der TokenBestimmung gehe ich später ein.)42 Damit soll nicht gesagt sein, daß wir den Begriff der Selektion für die Analyse des Funktionsbegriffs tatsächlich heranziehen sollten. Es soll nur gesagt sein, daß - entgegen Wrights Ansicht - die Berücksichtigung der Artefakt-Funktion nicht als solche den Verzicht auf eine welfare-Klausel impliziert, oder daß sie dies jedenfalls nicht unter der Wright'schen Voraussetzung eines Selektionsbezugs tut. Als Fazit ist zu Wrights Funktionskonzeption so weit festzuhalten, daß ihr zufolge die Funktion, vermittelt über Selektion, die Existenz des Funktionsträgers begründet; daß sie einen einheitlichen Funktionsbegriff wählt; und daß sie keinen System- und welfare-Bezug enthält. Festzuhalten ist ferner, daß der letzte Punkt nicht aus Wrights Funktionsanalyse selbst folgt und daß er von daher von ihr abtrennbar ist. Zur Frage, was eine Funktion ist, sagt Wright - jedenfalls explizit - nichts. Eine Wright'sche Funktionsausübung scheint zumindest in einer normativen spezifischen Aktivität eines Systemteils zu bestehen, deren Vorliegen ein Vorteil für das umfassende System ist. Normativ ist diese Aktivität insofern, als nur die Erfüllung bestimmter Ausführungsstandards Selektionserfolg garantiert, dieser Erfolg aber konstitutiv für das Zustandekommen des Funktionsträgers ist.
41 Vgl. Wright 1973: 145. 42 Siehe unten 9.3.3.4 (2).
9. Der Begriff der Funktion
176
9.3.2 Millikans Konzeption Eine Weiterentwicklung des ätiologischen Funktionsbegriffs findet mit Millikans sog. »direct proper function« statt: »A function Ζ7 is a direct proper function of χ if χ exists having a character C because by having C it can perform i7«.43 Das, so Millikan, k o m m e dem nahe zu sagen, χ existiere, um F zu vollbringen. Millikan stellt ausdrücklich die Verbindung zur (selektiv wirksamen) Evolution her: »Putting things intuitively, products of evolution have in common with various other kinds of products the fact that they are reproduced or continue to be proliferated because they, rather than certain other things, have been associated with certain functions. If certain other things had correlated better with these functions, the chances are these other things would have been reproduced or would have proliferated instead.«44 D i e Ausübung einer Funktion ist demnach in selektiver oder evolutionärer Hinsicht insofern vorteilhaft, als frühere
Ausübungen dieser Funktion (d. h.
Ausübungen durch frühere Funktionsträger) der Weiterverbreitung von Genen desjenigen Organismus nützten bzw. für sie mitverantwortlich waren, dessen Teil der Funktionsträger ist. 45 N a c h Millikan heißt eine Funktion zu haben·, eine bestimmte Geschichte zu haben. Die Funktion von α hängt nicht von a's aktuellen Fähigkeiten ab, sondern nur davon, ob die Vorfahren von α diese Fähigkeiten hatten und ob die Fähigkeiten reproduktiv vorteilhaft waren. D i e Verlagerung der Funktionsbegründung in die Vorgeschichte des Funktionsträgers ist wiederum entscheidend dafür, daß wir überhaupt von »Fehlfunktionen« sprechen können, d. h. dafür, daß wir sagen können, etwas erfülle seine Funktion schlecht oder gar nicht. N u r die frühere reproduktiv vorteilhafte Aktivität setzt die F u n k t i o n s - M j m z fest. 46 43 Millikan 1984: 26. 44 Millikan 1984: 27. 45 Siehe Millikan 1989: 288f.; s. entsprechend (für biologische Funktionen) Neander: »It is the/a proper function of an item (X) of an organism (Ο) to do that which items of X's type did to contribute to the inclusive fitness of O's ancestors, and which caused the genotype, of which X is the phenotypic expression, to be selected by natural selection« (1991: 174). 46 Vgl. Millikan 1984: 17, 29, 42f., 1989: 296. Zur Rede von »Norm« vgl. auch Millikans Ausführungen zu »normal explanations« (etc.), womit nicht etwa »normale« Erklärungen, sondern »normbezogene« Erklärungen gemeint sind (s. Millikan 1984:33f.).
9.3 D e r ätiologische Funktionsbegriff
177
Millikan nimmt eine Differenzierung der verschiedenen relevanten Reproduktionsverhältnisse vor.47 Die Ergebnisse dieser Differenzierung sind in erster Linie jedoch nur für Millikans weitergehendes Vorhaben relevant, nämlich das Vorhaben einer Naturalisierung auch adaptierter sprachlicher und mentaler Funktionen. Für meine Erörterung genügt es festzuhalten, daß Millikan auch etwa zwischen dem Herz von α und den Herzen der Vorfahren von α eine relevante reproduktive Verbindung sieht, auch wenn nicht ein Herz ein anderes erzeugt. Das zu akzeptieren fällt m. E. dann nicht schwer, wenn man bereit ist, differenziertere Reproduktionszusammenhänge und -beschreibungen zu akzeptieren. Millikans Funktionsanalyse ist insofern differenzierter als Wrights Analyse, als sie - um vieles detaillierter als ich dies hier darstelle - die unterschiedlichen Arten von Zusammenhängen zwischen einem Funktionsträger und seinen Vorfahren berücksichtigt. Sie ist pointierter, indem sie die Funktionszuschreibung ausschließlich von der »richtigen« Vorgeschichte eines Funktionsträgers, d. h. vom »richtigen« Verhältnis des Funktionsträgers zu seinen Vorfahren, abhängig macht und die Funktionsnorm ausschließlich unter Bezug auf Selektion begründet.
9.3.3 Probleme des ätiologischen Funktionsbegriffs Auch wenn die Darstellung der ätiologischen Konzeption bei Millikan wie auch in der Diskussion, die an Millikan anschließt, differenzierter ist, als es hier wiedergegeben werden kann, ergeben sich für diese Konzeption, wie auch schon für deren frühere Fassung durch Wright, einige größere Probleme. Das erste Problem betrifft die bereits erörterte Annahme, die Zuschreibung einer Funktion habe die Existenzerklärung des Funktionsträgers zum Ziel (1). Das zweite Problem betrifft die vermeintliche Verbindung von Funktion und Selektion. Diesem Problem zufolge werden - in der Konsequenz - Individuen, sofern sie durch Teile konstituiert werden, die Funktionsträger sind, als Individuen von etwas abhängig gemacht, das ontologisch von ihnen verschieden ist, nämlich von ihren Vorfahren (2). Das dritte Problem betrifft das Problem der Funktionsetablierung durch die Geschichte, d. h. durch die Vorfahren des Funktions-
47 Vgl. vor allem Millikan 1984: 19-25. Für den Übergang zu adaptierten Funktionen siehe Millikans Kapitel 2 »Adapted Devices and Adapted and Derived Proper Functions« (1984: 39-49). Eine Darstellung zu diesem weiteren und eigentlichen Vorhaben gibt Detel 2001a: 468-473, siehe zu Millikan auch Stange 2000:149-160; siehe ferner Detel 2001b: 616-620 zu Problemen der Normativität u. a. bei Millikan.
9. Der Begriff der Funktion
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trägers und ihren relevanten Reproduktionserfolg. Das Problem liegt hier zum einen darin, daß der erste tatsächliche Funktionsträger kein Funktionsträger sein kann (weil es noch keine entsprechende Geschichte für ihn gibt). Z u m anderen liegt das Problem darin, daß auch jene Geschichte nicht das leistet, was sie angeblich leistet, nämlich die Etablierung der relevanten F u n k t i o n s n o r men (3). Das vierte Problem betrifft schließlich die grundsätzliche Schwierigkeit der korrekten Identifizierung und die Bestimmung des Verhältnisses der Tokens oder Types, auf die die ätiologische Funktionsanalyse Bezug nimmt. Letztlich wird hier keine zufriedenstellende Zuordnung von Tokens bzw. Types möglich sein (4). Bevor ich jedoch auf diese Probleme eingehe, ist eine kurze Bemerkung zum Begriff der Selektion und dazu, wie er heute verstanden wird, angebracht. O h n e ausdrücklich eine Definition geben zu wollen, bezeichnete Darwin (in der Erstauflage des Origin) mit dem Ausdruck »natural selection« die »preservation of favourable variations and the rejection of injurious variations«. 4 8 Hierbei beruht für Darwin die Wahl des Ausdrucks »Selektion« auf der Analogie zwischen Mensch und Kunst einerseits und G o t t und N a t u r andererseits. 4 9 Kritik an der Verwendung des Ausdrucks setzte sehr bald nach der Erstauflage des Origin (1859) ein, so daß Darwin schon in der dritten Auflage (1861) darauf antwortete: »Several writers have misapprehended or objected to the term Natural Selection. [...] Some have even imagined that natural selection induces variability, whereas it implies only the preservation of such variations as occur and are beneficial to the being under its conditions of life. [...] I mean by Nature, only the aggregate action and product of many natural laws, and by laws the sequence of events as ascertained by us.«50 Darwin zufolge ist natürliche Selektion nur Bewahrung bzw. Auszeichnung bestimmter Merkmale aufgrund von Naturgesetzen (sie ist für ihn selbstverständlich kein willkürlicher Eingriff einer imaginären N a t u r in das natürliche Geschehen oder eine aktiv vorgenommene Auswahl). Heute würde man sagen, daß natürliche Selektion eine Prämierung oder Sanktionierung eines Merkmals ist und daß sie eine direkte Abhängigkeit der Produktivität bzw. Überlebensfähigkeit des Trägers des Merkmals von dieser Prämierung bzw. Sanktionierung impliziert (unter bestimmten Bedingungen und bei Vererbbarkeit des ver-
48 Darwin, Origin (1859): 81. 49 Vgl. Hodge 1992: 213. 50 Darwin, Ongin (1861): 164f.
9.3 D e r ätiologische Funktionsbegriff
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änderten Merkmals). 51 Selektionsi/rac& äußert sich in bestimmten Umgebungsbedingungen, die eine vorkommende Veränderung prämieren oder sanktionieren. Klarerweise geht es nicht um aktive Druckausübung oder aktive Einflußnahme.
9.3.3.1 Existenzerklärung als Ziel Die erste Schwierigkeit, die sich nun für Wrights Funktionsbegriff ergibt, ist bereits von der Diskussion Hempels und Nagels her bekannt. Sie betrifft wieder die Absicht, die mit einer Funktionszuschreibung verbunden ist. Wright zufolge geht es bei dieser Zuschreibung um die Erklärung des Vorkommens des Funktionsträgers. Im Unterschied zu Hempel und Nagel liefert die modifizierte Konzeption mit der Einbeziehung der Selektion allerdings auch einen Mechanismus für das Zustandekommen des Funktionsträgers. Es läßt sich jedoch, wie schon bei Hempel und Nagel, bezweifeln, daß das gewählte Erklärungsziel tatsächlich die Existenz des Funktionsträgers ist (und nicht etwa die Erklärung der Fähigkeit eines Gesamtsystems). N u r wenn dies das Ziel wäre, würde man aber auch an einen Mechanismus, wie möglicherweise die Selektion, denken müssen, der die Existenz »verursacht« oder, wie es korrekter wäre zu sagen, der das Zustandekommen des Funktionsträgers erklärt. Die Plausibilität der Annahme, Funktionszuschreibungen seien mit dem Ziel der Existenzerklärung verbunden, entsteht für Wright durch die Gleichsetzung zweier Ausgangsfragen, nämlich der Frage, was die Funktion von χ ist, und der Frage, warum (ζ. B.) Organismen χ besitzen, d. h. wie es dazu kam, daß Organismen χ besitzen. 52 Diese Gleichsetzung wird jedoch nicht begründet.
9.3.3.2 Die Verbindung von Funktion und Selektion Wie eingangs gesagt, stellen Wright und Millikan ausdrücklich eine Verbindung ihrer jeweiligen Funktionsanalyse zur natürlichen Selektion her. Wenn Funktionen aber tatsächlich an eine entsprechende Vorgeschichte gebunden sind und
51 Nach Endler 1992: 220f. 52 Siehe Wright 1973: 155. Zur Kritik an Wrights Verbindung von Funktionszuschreibung und Existenzerklärung siehe auch schon Boorse. Boorse hebt seinerseits die Verbindung des Leistens eines Beitrags zu einem bestimmten Ziel und des Besitzes einer Funktion hervor (vgl. 1976: 70, 78, 82). Die Verbindung wird weiter unten besondere Relevanz bekommen.
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9. Der Begriff der Funktion
wenn Individuen Funktionsgefüge sind, dann sind Individuen als solche, in näher zu erläuternder Weise, an jene Vorgeschichte gebunden. Mit dieser Anbindung ist nicht die Tatsache gemeint, daß materielle Individuen auch infolge von Evolution ihre je spezifischen Eigenschaften aufweisen. Vielmehr ist die Tatsache gemeint, daß diese Individuen ontologisch, d. h. als das, was sie sind, von Entitäten abhängen, die von ihnen verschieden sind. Der ontologische Preis jener Verbindung von Funktion und selektionärer Vorgeschichte ist damit aber vergleichsweise hoch. 53 Andererseits ist nicht ganz klar, was diese Verbindung tatsächlich auszutragen vermag und ob das, was sie austrägt, bestimmte Intuitionen über den Begriff der Funktion erfaßt. Natürliche Selektion setzt quantitative Veränderung einer Population oder Teilpopulation aufgrund einer reproduktionsrelevanten Merkmalsveränderung voraus. Das entsprechende Merkmal soll, weil reproduktiv vorteilhaft, natürlich selektiert sein und als solches Funktionsträger sein. Vergleichen wir damit folgenden Fall: Einige, aber nicht alle Exemplare der Art 5! verändern sich durch Mutation so, daß eine Art S2 und eine Art S 3 entstehen, deren Exemplare sich jeweils fortpflanzen, während sich die Exemplare der Art ganz wie bisher fortpflanzen (der Art-Unterschied sei etwa durch Nicht-Kreuzbarkeit von S2und S 3 -Individuen feststellbar). N u n sei angenommen, daß die .^-Individuen eine geringfügig höhere Reproduktionsrate als die S t -Individuen aufweisen, die S 3 -Individuen hingegen eine etwas geringere Reproduktionsrate als die -Individuen, ohne daß jedoch eine Veränderung der Reproduktionsrate der -Individuen vorläge. Weitere Fälle lassen sich bilden, wenn man statt »geringfügig höhere Reproduktionsrate« einsetzt: »eine höhere / deutlich höhere (etc.) Reproduktionsrate«. Ferner sei angenommen, daß die Mutation ein bestimmtes Merkmal betrifft - ζ. B. die Färbung ( C „ C 2 , C 3 , mit den Instanzen c„ c2, c3) bestimmter Buntbarsche - , das attraktionsrelevant und von daher reproduktionsrelevant ist.
53 Man könnte einwenden, daß - da Selektion sich auf Arten, nicht auf Individuen bezieht und da Funktionszuschreibungen dem ätiologischen Funktionsbegriff zufolge an das Vorliegen natürlicher Selektion gebunden sind - Individuen von eventuellen Problemen, die sich mit der Anbindung von Funktionszuschreibungen an natürliche Selektion ergeben, unbehelligt blieben. Darauf läßt sich erwidern, daß nur Individuen bzw. Individuenteile Funktionsträger sein können. Individuen bestehen aus Teilen, die als Teile Funktionsträger sind. Sofern ein Individuum als Gefüge durch oder auch durch seine Teile konstituiert wird, wird es durch Funktionsträger konstituiert. Mit der Art und Weise der Funktionsbestimmung steht und fällt auch die Bestimmung der Teilzugehörigkeit.
9.3 Der ätiologische Funktionsbegriff
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Im Erfüllen der Funktion soll sich nun ein selektiver Vorteil ausdrücken anderenfalls läge (der ätiologischen Funktionserklärung zufolge) χ nicht wegen des Merkmals ζ vor. Impliziert nun selektiver Vorteil auf der einen Seite selektiven Nachteil auf der anderen? Wenn nein, wüßte man nicht, was »Vorteil« heißt. Wenn aber ja, dann könnte die gleichbleibende Reproduktionsrate der Exemplare von sowohl nachteilig sein (nämlich gegenüber anwachsender Reproduktionsrate der Exemplare von S2) als auch vorteilhaft sein (nämlich gegenüber abnehmender Reproduktionsrate der Exemplare von S3). Läge dann die Funktion - je nach Betrachtungsweise - einmal bei den Exemplaren von vor (nämlich gegenüber den Exemplaren von 53) und einmal bei den Exemplaren von S2 (nämlich gegenüber den Exemplaren von 5,)? Verbindet man den Funktionsbegriff auf diese Weise mit dem Selektionsbegriff, wird Funktion zu einer Cambridge-Eigenschaft, d. h. zu einer Eigenschaft, die ohne »reale« Veränderung des Eigenschaftsträgers auftreten und verlorengehen kann. Dies deshalb, weil es letztlich nur von der relativen Höhe der Reproduktivität abhängt, ob etwas als durch natürliche Selektion ausgewählt und von daher als Funktionsträger gilt. Den entsprechenden Funktionsbegriff könnte man »relational« nennen: Die Funktion ist insofern relational, als ihre Zuschreibung wesentlich von der relativen Höhe der Reproduktionsrate abhängt. Die Relation, die hier zur Diskussion steht, ist nicht die des Funktionsträgers zu seiner Umwelt, sondern die Relation des Funktionsträgers zu anderen Organismen, mit denen er nicht in kausal relevanter Verbindung steht.54 Eine solche Auffassung der Funktion als relationaler Funktion steht jeder Intuition entgegen, die wir über Funktionen haben. Dies insofern, als wir jedenfalls im Fall intrinsischer Funktionen üblicherweise erwarteten, daß mit einem Wechsel vom Funktionieren zum Nicht-Funktionieren eine tatsächliche Veränderung der Sache oder eine Veränderung der für die Sache kausal relevanten Umwelt einhergeht. Wenn ferner eine Funktionsausübung der Beitrag ist, den ζ. B. ein Teil eines Organismus zur Selbstorganisation dieses Organismus leistet, und wenn die Leistung des Beitrags Bedingung für das Teil-Sein ist, dann ist bei Annahme
54 Der Vertreter der ätiologischen Konzeption könnte sich auch nicht korrekterweise darauf berufen, daß »Selektion« Auswahl von Arten mit bestimmten Merkmalen und gleichzeitiges Zugrundegehen der relevanten Arten ohne diese Merkmale bedeute. Der gegenwärtige Gebrauch von »natürlicher Selektion« wird bei weitem nicht so eng gefaßt. Hier genügt als eine der Bedingungen für die Rede von »natürlicher Selektion« auch schon das Vorliegen einer direkten Relation zwischen dem Auftreten des reproduktiv vorteilhaften Merkmals und (erhöhter) Paarungsfähigkeit, Fruchtbarkeit etc. (vgl. Endler 1992: 220).
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9. Der Begriff der Funktion
von relationalen Funktionen (im genannten Sinn) das Teil-Sein in gleicher Weise wie das Funktion-Sein relativ zu Vorgängen, die Entitäten betreffen, die vom Organismus und seinen Teilen echt verschieden sind und die mit ihm in keinem kausalen Zusammenhang stehen. Das anzunehmen ist unplausibel, und der Preis, den eine Konzeption materieller Individuen hier zu zahlen hätte, wäre sehr hoch. Hierauf würde der Vertreter des ätiologischen Begriffs antworten, daß für diese Kritik der Rahmen der ätiologischen Konzeption entscheidend verändert wurde, nämlich insofern, als die Rede von einem »Beitrag« in der ätiologischen Funktionskonzeption nicht vorgesehen war. Allerdings leuchtete es nicht ein, wie der Beitrag für das System irrelevant sein kann, wenn andererseits der Nutzen des Funktionsträgers selektionsrelevant ist: Selektionsrelevant zu sein heißt, einen Beitrag zu liefern, aufgrund dessen sich ein System besser behaupten kann. Ferner folgte das Beiseitelassen eines System- und welfare-Bezugs nicht aus der ätiologischen Konzeption als solcher. Dann aber ist die Berücksichtigung eines solchen Bezugs mit der Konzeption zumindest verträglich. Um die Relationalität des Funktionsbegriffs zu vermeiden, könnte der Vertreter des ätiologischen Funktionsbegriffs nun unter anderem folgenden Vorschlag machen. Bei der Funktion der Farbe C, und der Funktion der Farbe C 2 handelt es sich nicht um verschiedene Funktionen: Wenn auch beide Farben verschieden sind, haben sie dieselbe Funktion, nämlich die der Attraktion des Paarungspartners. Auf diesen Vorschlag läßt sich erwidern, daß die Aussage »die Färbung hat die Funktion der Attraktion des Paarungspartners« in relevanter Hinsicht unpräzise ist. Nehmen wir zur Erläuterung den Fall des Herzens: »Das Herz hat die Funktion, Blut zu pumpen« ist in relevanter Hinsicht unpräzise, nämlich insofern, als Blutpumpen (bzw. das, was wir gegebenenfalls homonym »Blutpumpen« nennen) so vorliegen kann, daß durchaus nicht davon die Rede sein kann, daß es sich um die Funktionsausübung des Herzens handelt. Dies nämlich dann nicht, wenn Blut mit viel zu hohem oder zu niedrigem Druck bzw. viel zu hoher oder zu niedriger Frequenz gepumpt wird, sowie auch dann nicht, wenn Blut gepumpt wird, das zur Versorgung des Organismus nicht geeignet ist.55 Es wäre nicht die Funktion des Herzens, ungeeignetes Blut zu pumpen 55 Zwei Anmerkungen sind hier angebracht: (1) Die Grenze für »zu hoch« (etc.) ist unscharf, doch es genügt hier, einen Fall angeben zu können, in dem der Druck eindeutig zu hoch ist. Dies ist etwa der Fall, in dem der Druck zur Zerstörung des Systems führt. (2) Es könnte kontraintuitiv erscheinen zu sagen, das Pumpen von »falschem Blut« sei kein Pumpen von Blut, wie auch zu sagen, Pumpen in falscher Frequenz sei kein Pumpen. Nun ist Blut aber nicht nur durch verschiedene Stoffe ange-
9.3 D e r ätiologische Funktionsbegriff
183
- dies wäre nämlich kein Blut (oder Blut nur noch in einem homonymen Sinn von »Blut«) wie es auch kein Pumpen wäre (oder Pumpen nur in einem homonymen Sinn von »pumpen«), wenn das, was, wenn es »richtig« geschähe, Pumpen wäre, zu schnell, zu langsam, zu stark oder zu schwach geschieht. »Malfunctioning« ist nicht »functioning«. Ähnlich ist die Funktion der Färbung nicht die der Attraktion des Paarungspartners, sondern die des Paarungspartners, welcher ein Individuum mit den Merkmalen einer bestimmten Art ist, und zwar zu einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten Zweck etc. Insofern, als die Farbe C, und die Farbe C2 nicht Individuen derselben Art anziehen sollen, ist auch ihre Funktion nicht dieselbe. (Man könnte einwenden, daß Blutpumpen sowohl die Funktion des individuellen Spitzmausherzens ist wie auch die des Herzens des individuellen afrikanischen Elefanten. Beide Herzen hätten somit dieselbe Funktion. Tatsächlich handelt es sich dabei - allenfalls - um eine Funktion desselben Typs. Typen von Funktionen sind Typen, nicht Funktionen. Typen haben ihrerseits bestimmte logische Funktionen, während die in Frage stehenden Funktionen organische, systembezogene Funktionen sind.) Nun könnte der Ätiologe weiter einwenden, daß gerade die Millikan'sche Präzisierung das Problem bloß relationaler Funktionen umgehen hilft. Nach Millikan kam es für die Zusprechung einer Funktion nur auf die richtige Vorgeschichte an: Eine Funktion F hat der Funktionsträger χ genau dann, wenn die Vorfahren von χ die Funktion F besaßen und wenn die Ausübung von F reproduktiv vorteilhaft war. χ selbst hingegen muß die Funktion nicht einmal mehr ausüben, um sie dennoch zu haben, und die Ausübung von F kann sogar nachteilig für χ sein, ohne daß F den Funktionsstatus verlöre.56 Die positive Korrelation zwischen /-Besitz und reproduktivem Vorteil muß nur für die Vorfahren von χ bestanden haben. Die Exemplare der Art, deren Mitglied auch χ ist, werden, solange es sie gibt, ihre Funktion nicht verlieren können. Allerdings ist der Preis, der für diese Verlagerung der Funktionsetablierung in die Vorgeschichte zu zahlen ist, wieder vergleichsweise hoch. Denn während sich dank dieser Verlagerung Fehlfunktionen noch mit erfassen lassen, wird die Konzeption doch zumindest jenen Fällen nicht gerecht, in denen χ de facto aufgehört hat, die Funktion F zu besitzen und auszuführen. Bei einem Organisreichertes Wasser, sondern Blut ist das, was in einem Organismus (u. a.) die Sauerstoffversorgung der Zellen vornimmt bzw. ermöglicht. Eine Flüssigkeit, die das an gleicher Stelle - bei aller sonstigen Ähnlichkeit mit Blut - nicht tut, ist kein Blut. 56 Vgl. den zweiten Teil der Millikan'schen Definition von »proper functions« (Millikan 1984: 28). Zur Kritik vgl. McLaughlin 2001: 108, mit Verweis auf einen Modifizierungsversuch von Godfrey-Smith 1994.
9. Der Begriff der Funktion
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musteil, dessen artgleicher »Vorfahre« in seiner spezifischen Aktivität R e produktionsvorteile einschloß, dessen eigene gleichartige Aktivität infolge der sonstigen Entwicklung des Organismus bzw. der Umgebung des Organismus für den Fortbestand dieses Organismus und für seine Fortpflanzung aber eher hinderlich oder sogar kontraproduktiv ist, sprechen wir nicht mehr davon, daß der Organismusteil seine Funktion ausübe, wenn er in jener ehemals spezifischen Weise aktiv ist. Zumindest erfaßte eine solche Zusprechung einer Funktion nicht mehr jene Intuitionen über den Begriff der Funktion, denen zufolge die Ausübung der Funktion eines Teils zumindest im Prinzip von Vorteil für den Organismus ist, dessen Teil der Funktionsträger ist. Das hier vorliegende Problem läßt sich weiter zuspitzen. W e n n eine F u n k tion etwas ist, das durch und nur durch eine bestimmte Vorgeschichte charakterisiert ist, sind Individuen Funktionsgefüge, die als das, was sie sind, durch etwas von ihnen Verschiedenes charakterisiert sind. Das anzunehmen ist aber nicht plausibel. V o n anderen Problemen abgesehen, könnte ein Individuum dann nämlich aus Teilen bestehen, die - einige oder alle - aktuell keinen Beitrag zur Selbstorganisation des Individuums liefern und möglicherweise sogar nicht einmal mehr liefern können. Es wäre zumindest nicht ausgeschlossen, daß diese Teile nichts weiter als ein Aggregat bilden. E i n Aggregat aber ist kein Individuum. U n d schließlich könnte man sogar Teile beliebiger Arten zu einem »Individuum« zusammenfügen, sofern deren Vorläufer nur die richtige G e schichte aufweisen. Dann führt die Annahme von Teilen ohne aktuellen Beitrag sehr wahrscheinlich zu ganz merkwürdigen Individuen.
9.3.3.3 D e r Sumpfmensch: Funktionierender ohne Funktion? D i e Annahme, Funktionen lägen dann und nur dann vor, wenn eine entsprechende Vorgeschichte gegeben ist, sieht sich ferner einem Einwand ausgesetzt, den man - in Übernahme entsprechender Gedankenexperimente - den »Sumpfmensch-Einwand« nennen könnte. Dieser Einwand besteht in dem Hinweis auf die bekannte fiktive Figur eines »Sumpfmenschen«, der instantan entsteht, aber in jedem Molekül und jedem Strukturelement einem realen Menschen gleicht. Dieser Sumpfmensch scheint ein schlagendes Gegenbeispiel auch gegen Millikan zu sein, wenn es bei ihr heißt: »Having a proper function depends upon the history of the device that has it, not upon its form of dispositions.«57
57 Millikan 1984: 29.
9.3 D e r ätiologische Funktionsbegriff
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Nach Millikan hätten die Teile des Sumpfmenschen keine Funktionen. 58 Millikan will das Gegenbeispiel nun jedoch aus mindestens zwei Gründen nicht gelten lassen: (1) Zum einen sei dieser Fall fiktiv, (2) zum anderen ließen sich so Fehlfunktionen (d. h. Nicht-Erfüllungen von Funktionen) nicht erklären bzw. es ließe sich, entgegen unserer Praxis, nicht sinnvoll von solchen Fehlfunktionen sprechen. Die Rede von »Defekten« setze Normen voraus, für deren Setzung wiederum die richtige Art von Geschichte zu haben erforderlich sei.59 (1) Der Vorwurf der Fiktionalität des Beispiels ist dann ernst zu nehmen, wenn in diesem Beispiel das Problem, über das wir sprechen, in relevanter Hinsicht verändert wird. Und in der Tat müßten offenkundig eine Reihe von Naturgesetzen anders aussehen, d. h. die Welt müßte ingesamt anders aussehen, wenn ein Sumpfmensch reale Möglichkeit sein soll. Allerdings könnte der Sumpfmensch-Vertreter erwidern, daß dies lediglich ein empirisches Problem sei: Die empirische Unwahrscheinlichkeit eines Auftretens des Sumpfmenschen sage nichts über eine logische Unmöglichkeit des Beispiels und allein durch diese ließe sich das Beispiel abweisen. 60 Unabhängig davon, ob man diese Erwiderung für erfolgsversprechend hält, ist der Punkt, um den es geht, aber ein anderer. Und hier zeigt sich das eigentliche Problem, das für die Ätiologen in diesem Punkt besteht: Das Problem besteht darin, daß der erste Träger einer Funktion kein Funktionsträger sein kann, da 58 Man vergleiche auch Kitcher: »In speaking of the origination of an entity in an organism, I [...] mean to refer to the mutational and developmental history that lies behind the emergence of the entity [...] in the process that culminates in the initial fixation of that entity in members of the population« (1998: 264 Anm. 8; mit »process« ist wohl der Prozeß der Selektion gemeint). Man könnte vermuten, hinter Kitchers doppeldeutiger Rede von »origination« (Entstehung, Hervorbringung) stehe eine Auffassung von Geschichte als etwas Formendem. Daß die Doppeldeutigkeit wohl kein Zufall ist, zeigt sich auch in Kitchers Gebrauch von »designed« (1998: 258f.), nämlich als »mit einem Design versehen sein« und »geplant sein«, wie auch in seinem Gebrauch von »fixation«, was, wie es scheint, Prozeß und Produkt bezeichnet. Bigelow / Pargetter vertreten einen »historischen« Funktionsbegriff, der ausschließlich zukunftsbezogen ist: Funktionen sind danach über ihren Beitrag zur Fitness bzw. zum Uberleben eines Systems in einer bestimmten Umgebung charakterisiert, und zwar auch dann, wenn sie zum ersten Mal ausgeübt werden: Es bedarf nicht einer vorgängigen Geschichte, sondern nur des Überlebensbeitrags, Funktionen sind über künftige Ereignisse charakterisiert (1987: 189, 191f„ 195). 59 Siehe Millikan 1989: 292, 295f., 299 ; siehe auch Neander 1991: 178-180. 60 Der Sumpfmensch-Vertreter könnte nicht auf den - einmal als historisch angenommenen - Fall Adams als weiteres Beispiel ausweichen, da die Entstehung Adams in relevanter Hinsicht eher der Entstehung eines Artefakts gliche, so daß die Grundlage für die Funktionszusprechung hier von vornherein eine andere wäre.
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9. Der Begriff der Funktion
die Funktion, die er trägt, mangels adäquater Vorgeschichte keine Funktion sein kann. Dies ist der Punkt, der durch das Sumpfmensch-Beispiel deutlich werden sollte. Dabei geht es nicht eigentlich darum, daß ein ganzer Organismus instantan entstehe - das wird kaum vorkommen. Nicht ganz unrealistisch ist aber die Annahme der Möglichkeit des Auftretens eines Merkmals, das Teil eines Organismus ist und das als erster Teil in der Spezies-Geschichte des Organismus und seiner Teile eine Eigenschaft aufweist, die zu besitzen von Vorteil für das Uberleben und eventuell für die Fortpflanzung des Organismus ist. Gleichwohl wäre, den Ätiologen zufolge, die Aktivität, die aus dieser Eigenschaft folgt, nicht als Ausführung einer Funktion aufzufassen. Das aber erscheint unplausibel. Und es erscheint noch unplausibler, im Fall eines baugleichen Nachfahren jenes Organismus dem entsprechenden Merkmal eine entsprechende Funktion dann doch zuzuordnen.61 Eben dieses Problem zeigt sich an zentraler Stelle der Millikan'schen Konzeption, wenn es in der Definition der proper function unter anderem heißt: »In part because there existed a direct causal connection between having the character C and performance of the function F i n the case of these ancestors of m, C correlated positively with F over a certain set of items S which included these ancestors and other things not having C.«62
Woher, so würde der Sumpfmensch-Vertreter fragen, haben die Vorfahren von m die entsprechende Funktion? Angesichts dieses Problems eines Sumpfmensch-Merkmals, das zwar einen funktionsspezifischen Beitrag zu leisten scheint, das aber als (im entsprechenden Zusammenhang) erstmalig auftretendes Merkmal seiner Art nach ätiologischer Auffassung dennoch kein Funktionsträger ist, da es keine entsprechende Vorgeschichte hat, hat Peter McLaughlin als Ausweg vorgeschlagen, daß sich der von Ätiologen geforderte feedbackMechanismus auch anders bestimmen lasse. Es lasse sich nämlich mit Blick auch schon auf ein und dasselbe Token ein solcher Mechanismus finden. Dafür müsse es nur der Fall sein, daß das in Frage stehende Token einen nützlichen Effekt für den Organismus besitze und daß dieser wiederum (im feedback-Mechanismus) das Token fortwährend neu zusammensetze.63 Allerdings stehen wir dann - wie auch McLaughlin feststellt - vor der neuen Frage, ob denn die Funktion auch schon im ersten Fall der Leistung des Beitrags bzw. der Erbringung des nützlichen Effekts eine Funktion habe. Und hier meint
61 Für diese Kritik siehe auch McLaughlin 2001: 108-112. 62 Millikan 1984: 28. 63 Siehe McLaughlin 2001: 163-168.
9.3 D e r ätiologische Funktionsbegriff
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McLaughlin nun, daß das Token »had no function before it was reproduced and has one afterward«.64 Dies erscheint nun aber nicht weniger problematisch als die ätiologische Funktionszuschreibung im Fall verschiedener Tokens: Weshalb sollten die nicht-relationalen Eigenschaften eines Tokens, das Teil eines Organismus ist, davon abhängen, ob es gerade vom Organismus erstmalig hervorgebracht wurde oder ob es von ihm reproduziert wurde? Während es eine wichtige und m. E. zutreffende Prämisse McLaughlins ist, daß als Teil nur dasjenige angesehen wird, was durch Interaktion integriert ist, spricht nichts dagegen, daß die Interaktion bereits mit dem ersten Auftreten des Teils oder Merkmals beginnt und daß von daher auch die Funktion mit jenem Auftreten vorliegt. Daß wir dies nur im nachhinein feststellen können, ist ein epistemisches, nicht ein ontologisches Problem. Allerdings geben wir mit dem Abweisen der Forderung, Funktionszuschreibung setze feedback bereits voraus, auch das Kernstück der ätiologischen Konzeption auf. Angesichts der in diesem Abschnitt erörterten Probleme dieser Konzeption, ist dieser Preis aber nicht zu hoch, zumal auf der anderen Seite immer noch nicht klar ist, weshalb man das Ziel, das die Ätiologen funktionalen Erklärungen zuweisen - nämlich die Existenz- oder Präsenzerklärung eines Merkmals - akzeptieren sollte. (2) Was das Problem der Herkunft der Normen angeht, die wir auch in der Rede von Fehlfunktionen voraussetzen, so wäre zu fragen, (a) ob und gegebenenfalls inwiefern die Geschichte für eine Setzung von Normen hinreichend ist. (b) Ferner wäre zu fragen, ob Geschichte notwendig für diese Normensetzung ist. (a) Gegenüber der Annahme einer normensetzenden Geschichte bestehen größere Vorbehalte. So müßte gezeigt werden, was »Geschichte« hier anderes bezeichnen könnte als eine bloße Abfolge von Ereignissen. Derlei ist aber etwas rein Faktisches, das sich rein deskriptiv beschreiben läßt: Es gibt keine historischen Prozesse (bzw. es gibt in historischen Prozessen nichts) über jene Ereignisabfolge hinaus. Bloße Ereignisfolgen sind nicht normsetzend.65 Selbst wenn es der Fall sein sollte, daß Ereignisse bestimmter Typen häufiger oder auch sehr viel häufiger auftreten als solche anderer Typen, läßt dies lediglich die Feststellung zu, daß Ereignisse bestimmter Typen häufig oder sehr häufig auftreten. Eine Normsetzung ergibt sich dadurch nicht. (b) Die Rede von »Fehlfunktionen« ist normativ. Normen müssen begründbar sein, doch ist nicht klar, weshalb eine bestimmte Geschichte dafür erforderlich sein sollte. Einen alternativen (und erklärtermaßen spekulativen)
64 McLaughlin 2001: 172. 65 Siehe dazu auch Davies 2001: 62.
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9. Der Begriff der Funktion
Hume'schen Versuch der Erklärung für die Annahme von N o r m e n im Zusammenhang mit Funktionen unternimmt etwa Paul Sheldon Davies: Die mit dem Funktionsbegriff üblicherweise verbundenen N o r m e n seien tatsächlich epistemische Normen, d. h. Normen, die durch eine bestimmte Erwartungshaltung auf Seiten des Beobachters entstehen. Fehlfunktionen verletzen Normen nur insofern, als in ihrem Fall die Erwartung des Beobachters nicht erfüllt wird. 66 Diese Normen sind aber Normen anderer Art. O b dies schon überzeugt oder nicht - zumindest handelt es sich bei dieser Normbegründung nicht prima fade um eine weniger plausible Begründung als im Fall der Begründung durch eine bestimmte Geschichte: Deren Erfordernis ist jedenfalls nicht erwiesen.
9.3.3.4 Types and Tokens Grundsätzliche Probleme ergeben sich für die ätiologische Konzeption schließlich aus dem Fehlen einer genauen Unterscheidung von Types und Tokens sowie einer ontologischen Überlastung der in Frage stehenden Types. Vorwegnehmend illustrieren läßt sich eines der Probleme etwa durch einen Teil der Wright'schen Funktionsanalyse, wonach » X hat die Funktion 2 « unter anderem heiße: »X is there because it does 2 « . Damit kann offenkundig nicht gemeint sein, daß ein bestimmtes Token χ - mittels Ausübung seiner Funktion - Grund für sein eigenes Vorhandensein ist. Doch Wrights Formulierung schließt dies nicht aus, und wie wir sehen werden, ist eine konsistente Interpretation der Wright'schen Funktionszuschreibung kein leichtes Unterfangen. 67
66 Siehe Davies 2001: 5, 75,152f., 175-178, 183; siehe auch unten 9.4.3.2. Im Unterschied zum Vertreter eines selektionsbegründeten Funktionsbegriffs erhebt der Vertreter eines systemischen Funktionsbegriffs - so Davies - erst gar nicht den Anspruch, für (nicht-epistemisch begründete) Fehlfunktionen aufkommen zu wollen: Tokens, die eine bestimmte Funktion nicht ausüben können, gehören schlichtweg nicht zu dem Typ, dessen Tokens jene Funktion ausüben (ebd.: 21 lf.). Davies vermutet zugleich eine Ambiguität in der Rede von »trait«, dem die selected-functions-Theorie die Funktion bzw. Fehlfunktion zuschreibt (vgl. Davies 2000b: 21f., 26-28). 67 Man könnte noch eine andere, wohlwollendere Lesart der Wright'schen Funktionserläuterung wählen, nämlich eine, der zufolge »x ist da, weil es ζ tut« nicht mehr besagen soll als das, daß χ nicht mehr weiterbestünde, wenn es aufhörte, ζ zu tun. Doch dies ist nicht der Sinn, den »ist da« Wright zufolge haben soll. Das wird auch durch Wrights Beispiele für die Erläuterung von »is there« deutlich: »keeping food out of the windpipe is the reason the epiglottis is where it is«, »animals have hearts because they pump blood«, »keeping snow from drifting across roads [...] is why there are snow fences« (Wright 1973: 158). Es geht Wright wohl tatsächlich darum, daß die
9.3 Der ätiologische Funktionsbegriff
189
(1) Eine ontologische Überforderung von Typen. Neander zufolge sind Funktionen primär nicht den Tokens zuzuschreiben, sondern den Typen, unter die die Tokens fallen: »Biological proper functions belong primarily to types and only secondarily to tokens because natural selection does not operate on individuals or their biological parts and processes.«68
Inwiefern können die in Frage stehenden Funktionen zu Typen »gehören«? Typen sind nicht die Arten von Entitäten, die biologische oder kategorial verwandte Funktionen besitzen könnten. Es ist nicht die Funktion des Typs Herz, Blut zu pumpen. Es ist ein Merkmal jedes Tokens des Typs (der Herzen), eine bestimmte Funktion (Blut zu pumpen) zu besitzen und auszuüben, und dieses Merkmal bestimmt gegebenenfalls die Typzugehörigkeit. Ein die Typzugehörigkeit bestimmendes Merkmal ist aber in anderer Weise ein Merkmal des Typs, als es ein Merkmal der relevanten Tokens ist: Typen pumpen kein Blut, und sie können auch nicht die Funktion haben, Blut zu pumpen. Typen eignen sich nicht als Träger biologischer Funktionen. Es ist ferner eine etwas lockere Redeweise, von biologischen »proper functions« zu sagen, sie »gehörten« primär zu Typen, nur sekundär zu Tokens. Was heißt hier »gehören«? Was heißt »primär gehören zu« im Unterschied zu »sekundär gehören zu« ? Und inwiefern sollten Funktionen primär zu Typen, sekundär zu Tokens gehören können? Neander scheint nun, wenn sie Typen Funktionen zuschreibt, von der Annahme auszugehen, Populationen seien Typen.69 Doch tatsächlich sind sie dies nicht, wie auch Typen keine Populationen sind. Sehen wir uns einige Unterscheidungsmerkmale an. »Population« wird definiert als »Gruppe sich untereinander fortpflanzender Individuen [...], die einer bestimmten Art angehören und ein gemeinsames geographisches Verbreitungsgebiet aufweisen.«70 »Gruppe« bezeichnet hier eine soziale Einheit (ggf. auch eine bloß lockere Einheit), Typen aber sind keine sozialen Einheiten. Es kann Typen ohne zugehörige Tokens geben, nicht aber Gruppen ohne Mitglied, und vermutlich müssen Gruppen sogar mehr als ein Mitglied besitzen. Ferner kann ein Individuum, im Prinzip, die Gruppe (oder die Population) wechseln, ohne sich anders jeweiligen Funktionsträger entstanden sind oder gemacht wurden, um die Funktion zu erfüllen, nicht darum, daß sie nur deshalb weiterbestehen, weil sie ihre Funktion erfüllen. 68 Neander 1991: 174. 69 Siehe Neander 1991: 174. 70 Campbell 1997: 444.
9. Der Begriff der Funktion
190
als in seiner räumlichen Relation zu seiner alten und seiner neuen Gruppe bzw. Population verändern zu müssen. Hingegen kann etwas nicht den Typ wechseln, wenn es sich nur seiner räumlichen Relation (zu anderen Tokens) nach verändert. Selbst wenn wir räumliche Relation in speziellen Fällen als typkonstituierend zuließen, ist ein Typ-Wechsel, der jenem Gruppen-Wechsel entspräche, nicht möglich, und prinzipiell kann ein Populationsmitglied zu einer Population, nicht aber ein Token zu einem Typ eine räumliche Relation besitzen. (2) Probleme der Tokens-Bestimmung. Doch auch dann, wenn sich die Funktionsanalyse auf Tokens bezieht, ergibt sich für die Ätiologen kein günstigeres Bild. So besteht eines der Hauptprobleme für die Wright'sche Analyse von Funktionsaussagen in der Unklarheit hinsichtlich der tatsächlich verwendeten Tokens. Dem Wright'schen Funktionsbegriff zufolge ist der erste Teil (A) von (C) »die Funktion von h ist/« unanalysiert zu verstehen als: (A) h ist da, weil es/tut. Es seien nun hx... hn Tokens von Η (ζ. Β. Herzen), wobei h1... hm Merkmale der Vorfahren des Besitzers von ha seien. Es seien mx, ... ma genealogisch aufeinander folgende Individuen der Art Μ (ζ. Β. Menschen) und Besitzer je eines Tokens von H, wobei mu... mm Vorfahren von mn seien. Es seien schließlich / , .../ n Tokens einer selektiv vorteilhaften Funktion F (ζ. B. Tokens der Funktion Blut-Pumpen), wobei/, .../ m Funktionen von Funktionsträgern seien, die im Besitz der Vorfahren des Besitzers des Funktionsträgers von fn sind. Mit diesen Festlegungen ist der ätiologische Funktionsbegriff - für den Fall der Teile von Organismen - vermutlich wie folgt zu analysieren: h2 von m2 (d. h. Herz2 von Mensch2) ist da, weil m2 von mx abstammt und mx das Token hx von Η aufweist bzw. entwickelt hat und weil ein Token von Η zu besitzen selektiv vorteilhaft für Tokens von Μ ist, weil wiederum ein Token von Η zu besitzen zum Vorliegen eines Tokens von F führt, welches selektiv vorteilhaft ist. Das heißt: h2 ist da, weil m2 da ist; m2 ist da, weil m, da ist und weil m, hx besitzt, hj aber zum Vorliegen von/, führt, das Vorliegen von/, aber selektiv vorteilhaft ist, so daß durch mx m2 entsteht, welches seinerseits h2 besitzt. Danach wäre (C) »die Funktion von h ist/«ihrem ersten Teil {A) nach zu verstehen als (Λ,): (ax)
h2 ist da, weil hxfx getan hat.
Nehmen wir noch den zweiten Teil der Wright'schen Erläuterung dessen hinzu, was (C) »die Funktion von h ist/« heiße, nämlich: (B) f ist eine Folge des Vorliegens von h.
9.3 Der ätiologische Funktionsbegriff
191
Dann ist (a,) unter geeigneter Interpretation von (Β) zu ergänzen durch (bx) f2 ist eine Folge des Vorliegens von h2.71 Für die Ermittlung der möglichen Verhältnisse ist nun noch das Analysandum (C) »die Funktion von h ist / « zu interpretieren. Bei dieser Interpretation ist zu berücksichtigen, daß die Funktion eines bestimmten h nur eine Tätigkeit oder unmittelbare Wirkung von h selbst sein kann. Es wäre zumindest unplausibel zu sagen, die Funktion eines bestimmten Herzens sei das Schlagen eines anderen Herzens. Daher ist für die Interpretation von »die Funktion von h ist / « die Kombination von hx und f2 (wie klarerweise auch die Kombination von h2 und /]) ausgeschlossen. Es ergeben sich kombinatorisch nun mehrere Interpretationsmöglichkeiten für ( C ) »die Funktion von h ist / « , von denen, wie man sich klarmachen kann, nur die folgende überhaupt diskutabel ist: ( q ) »Die Funktion von h2 ist f2« heißt: (a,) h2 ist da, weil hx fx getan hat; (bx)f2 ist eine Folge des Vorliegens von h2. Beispiel: »Die Funktion von Herz 2 ist Blutpumpen 2 « heißt: (ax) Herz 2 ist da, weil HerZj Blutpumpenj vollführt hat; (bx) Blutpumpen 2 ist eine Folge des Vorliegens von Herz 2 . N u r für diese Interpretation trifft es zu, daß die Terme des Analysandum (h 2 und f2) auch im Analysans auftauchen und daß die Teile des Analysans in bezug auf das Analysandum (zumindest im Prinzip) informativ sind. D o c h wiewohl dies somit noch die am wenigsten problematische Analyse sein dürfte, ist auch hier noch immer nicht klar, weshalb die Tatsache, daß sich die Existenz von h 2 der Tatsache verdankt, daß bxfx getan hat, Grund für die Annahme von f2 als Funktion von h 2 sein sollte. Es ist noch immer nicht zu sehen, weshalb die Tatsache, daß die Herzen der Vorfahren von b2 Blut pumpen, die Tatsache sein soll, die Blut zu pumpen auch im Fall von b2 zur Funktion seines Herzens macht. Es fehlt eine Begründung. Insgesamt betrachtet ergibt sich für Wright das Problem, daß zum einen Typen keine kausal-relevanten Funktionen haben können und daß derartige Funktionen es demnach nur mit Tokens, nicht mit Typen zu tun haben können. Zum anderen läßt sich für Wrights ätiologische Analyse von Funktionsaussagen aber auch keine befriedigende Token-Interpretation geben. Wenn aber auch keine Token-Interpretation möglich ist, kommt der ätiologischen Funktionsanalyse der Gegenstand abhanden.
71 Bei Verwendung von (b 2 ) ( / , ist eine Folge des Vorliegens von ht) und (b3) ( f 2 ist eine Folge des Vorliegens von h x ) würde die Analyse uninformativ. (b 4 ) ( / , ist eine Folge des Vorliegens von h2) wäre schon kausal nicht möglich.
192
9. Der Begriff der Funktion
9.4 Der systemische
Funktionsbegriff
Neben dem ätiologischen Funktionsbegriff (samt seinen Varianten) ist der andere, weit weniger populäre Hauptkandidat für einen Funktionsbegriff der sog. »systemische Funktionsbegriff«. 72 Früher prominenter Vertreter dieses Funktionsbegriffs ist Robert Cummins. Diesen Funktionsbegriff stelle ich hier zunächst kurz dar (9.4.1). Anschließend komme ich auf Probleme zu sprechen, die sich für diesen Begriff ergeben. Bei diesen Problemen geht es um eine eventuelle Funktion des Gesamtsystems, um die nicht-willkürliche Bestimmung der möglichen Bezugssysteme für Funktionen sowie um die Deutung von Fehlfunktionen (9.4.2). Im dritten Abschnitt gehe ich auf einen erweiterten systemischen Funktionsbegriff ein, der von Davies auch in Auseinandersetzung mit jenen Problemen entwickelt wurde (9.4.3).
9.4.1 Cummins' Konzeption Cummins zufolge ist die Funktion von χ der Beitrag, den χ zu einer bestimmten (Aktualisierung einer bestimmten) Fähigkeit eines Gesamtsystems leisten kann, dessen Teil χ ist. Der Verweis auf Funktionen der Teile dient der Erklärung dieser Fähigkeit: Die Fähigkeit wird in die Teilfunktionen analysiert. Dabei besitzt das Gesamtsystem nicht auch selbst wiederum eine Funktion, und es geht auch nicht um eine Gesamtaktivität dieses Systems, sondern nur um eine ausgewählte und zu erklärende Fähigkeit des Gesamtsystems. Es geht ferner nicht um die Erklärung der Präsenz eines Funktionsträgers, sondern um die Analyse eines Systems, als dessen Teil der Träger in Ausübung der Funktion zu einer bestimmten zu analysierenden Fähigkeit dieses Systems beiträgt. 73 Die Funktion erklärt, warum etwas etwas kann. Es kann etwas, weil es aus den und den Teilen mit den und den Fähigkeiten besteht. Dies, nämlich: weshalb das System etwas kann, herauszufinden, verlangt, daß die Teile bekannt sind oder ermittelt werden, denen sich bestimmte, für die Aktivität des Systems relevante Teilfunktionen zuweisen lassen. Das Anliegen bei der Heranziehung des Funktionsbegriffs besteht dennoch nicht in der Auffindung dieser Teile oder der Teilfunktionen, sondern die Funktion dient der Analyse der entsprechenden Aktivität oder Fähigkeit des Systems. Allerdings kann die Annahme von Funktionen bei der Analyse einer Systemfähigkeit auch heuristischen Wert
72 Ich übernehme den Ausdruck »systemisch« von Davies (s. etwa 2001: xiii). 73 Vgl. Cummins 1975: 752-765.
9.4 D e r systemische Funktionsbegriff
193
haben: Wenn wir wissen wollen, wie es zu einer gegebenen Fähigkeit oder Aktivität eines Systems kommt, kann es sein, daß erst noch zu untersuchen ist, aus welchen Teilen das System besteht, und die Frage nach der zu untersuchenden Aktivität oder Fähigkeit kann den Weg der Systemanalyse mitbestimmen.
9.4.2 Probleme des systemischen Funktionsbegriffs Wie für den ätiologischen Funktionsbegriff so ergibt sich auch für den systemischen Begriff eine Reihe von Problemen. Ich greife hier zwei dieser Probleme heraus, nämlich zum einen das Problem der Annahme von Funktionen von Systemteilen bei gleichzeitiger Annahme von funktionslosen Systemen (1). (Dieses Problem besteht auch im Fall der herkömmlichen Konzeptionen ätiologischer Funktionen. Ich diskutiere es nur für den Fall systemischer Funktionen, da diese für das weitere relevant sein werden.) Zum anderen, und in der Hauptsache, werde ich auf das damit verschränkte Problem der »Inflation« möglicher Systeme und möglicher Funktionen von Systemteilen eingehen (2).
9.4.2.1 Funktion von Teilen ohne Funktion des Ganzen? Funktionen werden in der systemischen Konzeption auf Teile eines Systems beschränkt: Etwas hat nur dann eine Funktion, wenn es Teil eines Systems ist. Systeme selbst haben nur dann eine Funktion, wenn und insofern sie ihrerseits Teile eines umfassenderen Systems sind. Organismen hätten demnach nur dann eine Funktion, wenn sie Teil eines umfassenderen Systems sind. Ein solches System könnte etwa ein soziales Gefüge sein. Doch gibt es Organismen, die nicht in sozialen Gefügen leben. Und man könnte den Fall konstruieren, daß bestimmte Organismen auch nicht anderweitig Teil eines Gefüges sind - etwa eines Ökosystems, einer Nahrungskette oder ähnlicher Systeme - , so daß sie nicht einmal in solchen Systemen eine »Funktion« haben. 74 Cummins zufolge hat das Ganze deshalb keine Gesamtfunktion, (a) weil sich dann entweder ein Regreß ergibt: Es müßte diese Funktion Funktion wiederum im Hinblick auf ein weiteres Ganzes sein, da Funktionszuschreibungen nicht autonom sind; oder das Ganze hat deshalb keine Gesamtfunktion, 74 Vgl. dazu auch Amundson / Lauder (1998: 231), die bei systemischen Funktionskonzepten solche, die ein Gesamt-Zz'e/ des Organismus oder Systems vorsehen, unterscheiden von solchen, die dies nicht tun.
194
9. Der Begriff der Funktion
(b) weil sonst die Funktionsanalyse nicht mehr funktioniert. Wie ist die Begründung (b) Cummins zufolge zu verstehen? Wenn dem ursprünglichen Gesamtsystem eine Funktion zugeschrieben werden soll, könnte sich das Problem ergeben, (&,) daß schlicht nicht klar ist, welche dies sein sollte; ferner könnte sich das Problem ergeben, (b2) daß nicht klar ist, welches ein plausibler Kandidat für das umfassende System ist, innerhalb dessen jenes Gesamtsystem seinerseits Funktionsträger sein soll.75 Wie ist Cummins' Ablehnung der Funktion des Gesamtsystems zu bewerten? Voraussetzung für diese Ablehnung ist die Annahme, Funktionszuschreibungen seien nicht autonom, sondern erfolgten immer relativ zu einem umfassenden System. Cummins liefert für diese Annahme keine Begründung, d. h. er liefert auch keine Begründung für die Regreß-Annahme (dies schwächt die Begründungen (a) und (b2)). Ferner wird der Punkt nicht diskutiert, wonach es nicht klar sei, welches die Funktion des Gesamtsystems sei. Die Vermutung, daß dies nicht klar sei, rechtfertigt für sich nicht die These, es gebe eine solche Funktion nicht (dies schwächt die Begründung (b,)). Tatsächlich ist nun die Ablehnung einer Gesamtfunktion in gewisser Hinsicht fragwürdig. Denn es scheint zumindest plausibel, in einem Fall wie dem des Organismus so etwas wie eine »reflexive« systemische Funktion anzunehmen, d. h. eine Funktion, die eine Eigenschaft oder Fähigkeit des Systems ist und die in der Selbstorganisation und Selbsterhaltung des auf sich selbst bezogenen Systems besteht.76 Die Selbstorganisation und -erhaltung des Organismus ist keine Aktivität, die bloß einem Teil des Organismus zuzuordnen wäre. Vielmehr handelt es sich um ein Gefüge der Aktivitäten des Organismus, welche in bestimmter Weise ineinandergreifen. Dieses Gefüge kann Bestand haben, aber auch defekt sein oder versagen: Mit Blick auf Selbstorganisation und Selbsterhaltung funktioniert der Organismus gut oder schlecht. In diesem Fall scheint es daher nicht unplausibel, dem System als ganzem eine Funktion zuzuordnen. Sie ihm nicht zuzuordnen hieße, den Organismus von seiner Selbstorganisation und Selbsterhaltung zu trennen: Selbstorganisation und -erhaltung wären nicht mehr als Ergebnis der Aktivität des Organismus anzusehen. Mit der Zuschreibung dieser reflexiven Funktion muß andererseits nicht etwa das Herstellen eines standardisierten Aktivitätsgefüges als Kriterium der 75 Siehe Cummins 1975: 753f. 76 Während McLaughlin Organismen als solchen zwar ebenfalls keine Funktionen zuschreiben möchte, nimmt er aber doch Systeme an - wie es Organismen sind die kraft ihrer Selbstreproduktion einen Selbstbezug aufweisen, der den Funktions-Regreß anhält (vgl. McLaughlin 2001: 211).
9.4 D e r systemische Funktionsbegriff
195
Funktionserfüllung angenommen werden, wie es vermutlich in der platonischen oder aristotelischen Funktionskonzeption als Kriterium angenommen wird. So muß im Fall des Menschen nicht angenommen werden, daß das Aktivitätsgefüge, das der Funktion des Menschen entspricht, sich an solchen Standards des guten Lebens orientieren müßte, die etwa bestimmte Formen theoretischer Betrachtung vorsähen. Die Annahme solcher »hohen« Standards bedürfte vielmehr einer weiteren Begründung, welche sich nicht aus der Annahme einer Organismusfunktion ergibt. Mit der Annahme reflexiver Funktionen soll des weiteren nicht behauptet werden, daß alle Funktionen von Teilen ohne weiteres der Selbstorganisation oder Selbsterhaltung dienen. Das ist etwa bei bestimmten Fortpflanzungsaktivitäten offenkundig gerade nicht der Fall. Cummins weist hier auf die sog. ».Szg-Äing-Reproduktion« hin, in deren Fall der individuelle Organismus die Reproduktionsaktivität oder mit ihr verbundene Aktivitäten nicht überlebt. Beispiele sind hierfür das entsprechende Verhalten bestimmter Lachse oder auch das Aufblühen der Agave. 77 Auf diese Fälle werde ich später zurückkommen. 7 8
9.4.2.2 Inflation der Systeme und Funktionen? Hieran schließt das zweite Problem an. Dieses Problem besteht in der scheinbaren Willkür beim Herausgreifen jener Disposition des Gesamtsystems, zu der bzw. zu deren Aktualisierung der funktionierende Teil kraft seiner Funktion einen Beitrag liefert. So könnte es scheinen, daß - dem systemischen Funktionsbegriff zufolge - Wolken etwa die Funktion zu regnen haben oder daß der Stoßzahn des Narwals die Funktion der Mobilitätsverringerung hat. 79 Häufig wird in diesem Zusammenhang auch auf das Beispiel der Herzgeräusche als möglicher Funktion des Herzschlags verwiesen. Die offenkundige Willkür der Funktionszuschreibung besteht hier deshalb, weil es noch keine Kriterien für die Wahl des umfassenden Systems gibt, zu dessen Disposition oder Aktivität der funktionierende Teil beiträgt. Wenn das umfassende System nicht bestimmt ist, kann jede beliebige Aktivität eine Aktivität des Systems sein, für die es Teile des »Systems« gibt, so daß diese Teile qua Funktion zu jener Aktivität beitragen. Wenn aber jede Aktivität als Aktivität eines Systems gelten kann, werden Systeme inflationär. Die Inflation
77 Siehe Cummins 1975: 755; Campbell 1997: 1200. 78 Siehe unten 10.5.2. 79 Diese Beispiele bei Davies 2001: 73, mit Verweis auf Millikan 1989 und Matthen 1988.
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9. D e r Begriff der Funktion
von Systemen umfaßt dann insbesondere auch unerwünschte Systeme, so etwa hybride Systeme, die aus mehreren Entitäten bestehen (und möglicherweise auch aus mehreren Entitäten verschiedener Kategorien), oder Systeme, zu deren »funktionierenden« Teilen ein Tumor gehört.80 Cummins' Konzeption scheint Fehlfunktionen nicht erfassen zu können. Die Inflation der Systeme bedingt rückwirkend wiederum eine der Dispositionen bzw. Aktivitäten und, vermittelt dadurch, eine der Funktionen. Was wir also benötigen, ist eine Bestimmung der Kriterien für Systeme bzw. für das Herausgreifen von Systemen. Cummins begegnet dem Inflationsvorwurf (in bezug auf das Herz-Beispiel) mit der Forderung, Funktionszuschreibungen müßten ein Erklärungsinteresse bedienen. Genauer: Der Erklärungswert der Analyse, die auf Funktionen der Teile zurückführt, entspreche (a) dem Ausmaß, in dem die analysierenden Fähigkeiten weniger komplex (»sophisticated«) als die analysierten Fähigkeiten sind; (b) dem Ausmaß, in dem die analysierenden Fähigkeiten typverschieden von den analysierten Fähigkeiten sind; (c) der relativen Komplexität der Organisation von Bestandteilen oder Prozessen, die dem System zugeschrieben wird.81 Danach ließe sich zwar auch das Herzschlaggeräusch als Funktion des Herzschlags angeben, nur wäre das, da ohne Erklärungsinteresse, eben irrelevant. Ist das eine befriedigende Erwiderung? Davies kritisiert daran, daß die Erfüllungsbedingungen für (a) und (b) nicht spezifiziert werden.82 Zumindest was (a) betrifft, liegt ein Problem in dem Umstand, daß die in Frage stehende Komplexität epistemischer Art ist, daß aber keineswegs klar ist, daß die Systemaktivität als solche (ζ. B. das Zeit-Anzeigen einer Uhr) komplexer wäre als die zugrundeliegenden Teilaktivitäten. Darüber hinaus ist nicht klar, weshalb die in (a) und (b) genannte Verschiedenheit für die Zuordnung von Funktionen relevant sein sollte. So könnte sich zeigen, daß Typ-Verschiedenheit irrelevant für jene Zuordnung ist. Insgesamt sind Cummins' Ausführungen zu diesen Punkten etwas knapp gehalten. Ich vermute zumindest, daß ihm nicht die Auffassung zugeschrieben werden sollte, daß die Zuordnung von Funktionen nur von unserem Erkenntnisinteresse sowie unserer Erkenntnisfähigkeit abhänge. Denn Komplexitätsoder auch Typ-Unterschiede scheinen zumindest nicht ausschließlich subjekti80 So die Kritik bei Amundson / Lauder (1998: 232) und Neander (1991: 181). GodfreySmith stellt es hingegen als ein wichtiges Merkmal der Cummins'schen Analyse heraus, daß es Uberall dort, wo es Systeme gibt, auch Funktionen geben kann: Die Existenz eines Systems könne »a matter of choice or convention« sein (Godfrey-Smith 1996: 16f.). 81 Siehe Cummins 1975: 763f. 82 Siehe Davies 2001: 80f.
9.4 D e r systemische Funktionsbegriff
197
ven Interessen und Fähigkeiten geschuldet: Vielmehr scheint Interesse Funktionen vorauszusetzen. (Allerdings ist es doch ungewiß, ob man aus Cummins tatsächlich einen Realisten über Funktionen machen sollte.) 83 Als kritisches Fazit zum systemischen Funktionsbegriff ist so weit festzuhalten, daß das Abweisen von Systemfunktionen der allem Anschein nach plausiblen Annahme reflexiver Systemfunktionen entgegensteht; daß die Auswahl von Systemen, deren Teile Funktionen besitzen sollen, noch nicht vom Willkür-Verdacht befreit ist (sei es vielleicht auch nur infolge der Knappheit der Cummins'schen Darstellung der Konzeption); und daß infolge dieser Auswahlprobleme insbesondere auch Fehlfunktionen als solche nicht erfaßt zu werden scheinen.
9.4.3 Ein erweiterter systemischer Funktionsbegriff Gemeinhin nimmt man an, daß es sich beim ätiologischen und systemischen Funktionsbegriff um verschiedene Begriffe handelt. Das sagt allerdings noch nicht sehr viel, denn diese Verschiedenheit könnte, wie Davies klarmacht, von verschiedener Art sein: (a) es kann sich bei den zugehörigen Theorien um konkurrierende Theorien handeln; (b) es kann sich bei ihnen um einander ergänzende Theorien handeln; (c) die Theorien können in irgendeiner Weise durch eine allgemeinere Theorie gefaßt werden; (d) und schließlich kann eine Theorie die andere einschließen. 84 Letzteres ist nun Davies' eigener Vorschlag. Diesem Vorschlag zufolge soll die systemische Funktionstheorie jene Merkmale der evolutionären oder selected-functions-Theorie einschließen, die nach Davies' Auffassung bewahrenswert sind. Zunächst weist Davies darauf hin, daß die beiden Theorien von vornherein Verschiedenes leisten sollen: Während es in der evolutionären Funktionstheorie darum geht zu erklären, weshalb χ (ein Funktionsträger) da ist, geht es in der
83 Gelegentliche Bemerkungen und Beispiele Cummins' könnten die Vermutung entstehen lassen, er sei Realist über Funktionen - so ζ. B. sein Beispiel von den PinguinFlügeln, die zwar nicht mehr nützlich (fürs Fliegen) seien, gleichwohl aber die Funktion hätten, den Pinguin fliegen zu lassen (vgl. Cummins 1975: 755). Seiner eigenen Funktionskonzeption nach dürfte Cummins das eigentlich nicht behaupten (so McLaughlin 2001: 124). Mir scheint jedoch der Umstand zu beachten zu sein, daß Cummins dieses Beispiel (wie auch andere Beispiele) noch im kritischen Teil seiner Arbeit anführt: Er bewegt sich mit diesem Beispiel auf dem Grund der kritisierten Theorie, ohne es sich selbst zu eigen machen zu müssen. 84 Siehe Davies 2000a: 85, 89.
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9. Der Begriff der Funktion
systemischen Funktionstheorie darum zu erklären, wie eine bestimmte Fähigkeit zu einem bestimmten System gehört bzw. in ihm ausgeübt wird. 85 Schon das, nämlich daß die Theorien Verschiedenes leisten sollen, ist ein starker Hinweis darauf, daß die Theorien nicht konkurrierende Theorien sein können. Allerdings läßt sich allein daraus noch nicht folgern, daß sie auch nur miteinander verträglich wären. Und eine noch stärkere These ist es, daß eine Theorie in der anderen enthalten sei. Davies begründet diese stärkere These nun wie folgt: Der systemischen Theorie zufolge ist die Funktion von χ jene Rolle, die χ in einem System, dessen Teil es ist, für die (relevante) Aktivität des Systems oder für das (relevante) Produkt auf der Ebene des Systems spielt. Solche Produkte, so Davies, können etwa auch Veränderung oder Widerstand gegen Veränderung oder Tendenz zum Stillstand sein. Eine derartige Veränderung kann ζ. B. auch eine Population (als System) in entsprechender Umgebung 86 in bezug auf sich selbst hervorbringen, und zwar in Abhängigkeit von bestimmten kausal relevanten veränderlichen, vererbbaren Zügen der Komponenten des Systems (d. h. der Populationsmitglieder oder -teile). Veränderung der Population ist einfach nur eine der möglichen Veränderungen. Möchte man - im Hinblick auf die systemische Funktion-wissen, welche »evolutionäre« Rolle ein bestimmtes Merkmal spielt, sind innerhalb der Gesamtpopulation zunächst bestimmte Teilpopulationen nach ihrem jeweiligen Reproduktionserfolg zu unterscheiden. In diesen, so Davies, ist dann nach den reproduktionsrelevanten Komponenten zu suchen, und dies läßt sich (»rekursiv«) solange wiederholen, bis jener Zug, der die gesuchte Erklärung liefert, gefunden ist. 87 Vorzüge dieser einschließenden Funktionskonzeption bestehen Davies zufolge unter anderem darin, daß systemische Funktionen ontologisch und epistemisch grundlegend sind. 88 In ontologischer Hinsicht besteht der Vorzug der Zugrundelegung der systemischen Funktionen unter anderem darin, daß - so jedenfalls verstehe ich Davies - mit den so begründeten selektiven Funktionen keine Erzeugung von Normen einhergeht, da diese spezielleren Funktionen
85 Siehe Davies 2000a: 88, 101. 86 Das heißt in einer »selektionsrelevanten« Umgebung: Gibt es keine solche Umgebung, findet auch keine Selektion statt. Es könnte zwar irgendeine andere Art von Populationsveränderung stattfinden, doch ist das nicht das, was hier zu erklären ist. 87 Siehe Davies 2000a: 90-93. 88 Siehe Davies 2000a: 96-102. Ein weiterer Vorzug besteht nach Davies, ebd., in der theoretischen Vereinheitlichung.
9.4 Der systemische Funktionsbegriff
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der Systemkomponenten verweisen. In epistemischer Hinsicht besteht ein Vorzug darin, daß dem Umstand Rechnung getragen wird, daß die Entdeckung selektiver Funktionen systemische Funktionen voraussetzt. Eine der wichtigen Annahmen von Davies ist nun die, daß als System auch eine sich verändernde Population gelten kann. Hierbei wird zunächst vorausgesetzt, daß eine solche Population ein System ist. Ist es aber zulässig bzw. sinnvoll, sich auf solche Systeme einzulassen? Gilt hier nicht doch wieder Millikans Kritik an Cummins, wonach Cummins' Zugriff zu viele Systeme bzw. zu viele Funktionen zuläßt? Hier sollte man nicht allzu künstliche Probleme erzeugen: Wenn man sich verändernde Populationen als Systeme auffassen möchte bzw. wenn die Populationsveränderung dasjenige ist, was man begreifen möchte, kann es durchaus zweckmäßig sein, auf die Reproduktion von Teilen dieser Population als Funktion im Hinblick auf die Populationsveränderung Bezug zu nehmen. Doch auch dieses Zugeständnis an Davies behebt das Problem der Inflation der Systeme noch nicht (1). Und darüber hinaus besteht auch bei Davies' systemischen FunktionenprwM facie das Problem der Erfassung von Fehlfunktionen (2). Auf beide Punkte gehe ich jetzt näher ein.
9.4.3.1 Kriterien für die Wahl der Systeme Davies versucht den Verdacht der Willkür der Auswahl der Systeme auszuräumen. Ihm zufolge kommen als Funktionsträger nur solche Merkmale in Frage, die Teil eines hierarchisch organisierten Systems sind. Dadurch, so Davies, sei die Promiskuität des Funktionsbegriffs ausgeschlossen.89 Unter dem Gesichtspunkt der Hierarchizität ist der systemische Funktionsbegriff, Davies zufolge, nun wie folgt zu bestimmen. Ein funktionstragendes Merkmal {»item«) Μ habe die systemische Funktion F genau dann, wenn die Voraussetzungen (a) bis (e) erfüllt sind: (α) Μ ist zur Ausführung von F fähig. (b) Die Analyse Α (von System S in seine Komponenten) erfaßt die zu erläuternde Systemfähigkeit C angemessen in Begriffen der organisierten strukturellen und interaktiven Fähigkeiten der Komponenten der »unteren« Organisationsebene.
89 Davies 2001: 4, 36, 73f., 82. - Dazu, wie dies Gegenbeispiele (ζ. B. das Regnen als Funktion der Wolken, die Mobilitätsverringerung als Funktion des Narwal-Stoßzahns) gegen den systemischen Funktionsbegriff ausschließt, s. ebd.: 94-97.
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9. Der Begriff der Funktion
(c) Μ gehört zu den Komponenten, die von Α erfaßt werden und zu C beitragen. (d) Α erfaßt C zum Teil durch Bezug auf die Fähigkeit von Μ zur Ausführung von F. (e) Α spezifiziert die physischen Mechanismen, die die jeweiligen systemischen Fähigkeiten instantiieren.90 Für angemessen hält Davies das Auswahlkriterium der Hierarchizität deshalb, weil sich entsprechende Hierarchien im Bereich natürlicher Phänomene vor allem bei Organismen finden. Vorteilhaft ist es, so Davies, weil es bei entsprechenden Systemen einen Zugang zu zunächst nicht offen hervortretenden Mechanismen liefert sowie die Fokussierung auf bestimmte Fähigkeiten und Mechanismen dieser Systeme erlaubt.91 Beide Punkte, nämlich der der phänomenalen Angemessenheit der Beschränkung auf hierarchische Systeme und der Punkt des Zugangs bzw. der Fokussierung, beanspruchen nicht mehr, als die Einschränkung plausibel zu machen. Durch sie wird nicht ausgeschlossen, daß Teilen beliebiger Systeme Funktionen zugeschrieben werden können. Das heißt, sie liefern kein zwingendes Argument gegen eine Inflationierung der Systeme und Funktionen. Sie beanspruchen lediglich, jene inflationäre Zuschreibung als uninteressant zu erweisen. Dies ist, wie mir scheint, nicht etwa eine Schwäche des Davies'schen Ansatzes, sondern ein Vorzug. Denn es wäre tatsächlich aussichtslos, wollte man nicht nur durch bloße Setzung eindeutig festlegen, was als System gilt und was nicht. Zugleich entspricht der Umstand, daß das graduelle Kriterium der Interessantheit an das Vorliegen bestimmter Strukturen gebunden ist, dem individuierenden ontologischen Zugriff auf die Welt, der sich etwa auf bestimmte Regelmäßigkeiten erstreckt, nämlich insofern, als es auch hier Grade, nämlich Grade der Individuität zu geben scheint (s. 10.4.2). Der zweite Punkt, nämlich der des Zugangs bzw. der Fokussierung, weist Zuschreibungen von systemischen Funktionen untersuchungsleitende Funktion zu: »the immediate goal is to provide entree into the structure of the system«. 92 Die systemische Funktion liefere eine »preliminary map with which to parse the system and study its functional parts«. 93 Die weitere Forschung und
90 Siehe Davies 2001: 89. 91 Siehe Davies 2001: 87. 92 Davies 2001: 158. 93 Davies 2001:160.
9.4 Der systemische Funktionsbegriff
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Spezifizierung führe dann, so Davies, zur Revision oder Ausdehnung der anfänglichen vorläufigen Einteilungen sowie andererseits zur Erläuterung, wie die spezifischen physischen Merkmale auch die Instantiierung der in Frage stehenden Systemfähigkeit bewerkstelligen. 94 Zumindest im Prinzip scheint die Bestimmung des Systemkriteriums (als Hierarchiekriterium) nun aber auch für die Erfassung von reflexiven Funktionen von Systemen offen. W e n n etwa Selbsterhaltung die Funktion F des Systems S ist, so ist dies nur dann der Fall, wenn das System dazu fähig ist. D i e »Fähigkeit« C, zu der F beiträgt, könnte etwa die Selbständigkeit des Organismus sein. Diese Selbständigkeit wäre durch eine Analyse mit Blick auf die strukturellen und interaktiven Fähigkeiten der Komponenten der unteren Organisationsebene zu erfassen. Zu diesen Komponenten gehört in gewisser Hinsicht auch die Selbsterhaltung (wobei es offenbleiben kann, ob es noch weitere Komponenten gibt). Die Analyse nimmt auf die Selbsterhaltung Bezug und spezifiziert die ontologischen »Mechanismen«, die die Selbständigkeit begründen. Davies wäre mit dieser ontologischen Ausdehnung allerdings kaum glücklich. Dies deshalb nicht, weil Selbsterhaltung oder Selbstperpetuierung s. E . nicht die F u n k t i o n eines Systems ist: Ihm zufolge schiene die hierarchische Struktur, die in Funktionsanalysen erfaßt wird, wohl nicht vorzuliegen. Darauf ließe sich jedoch erwidern, daß zwischen der Selbsterhaltung und der Selbständigkeit ein Ordnungsverhältnis besteht oder daß es zumindest
mchipnma
facie abwegig ist, ein solches Ordnungsverhältnis anzunehmen. Das aber genügt, um das Verhältnis für einen plausiblen (und interessanten) Analysekandidaten zu halten. 95
94 Vgl. Davies 2001: 160. Davies (ebd.: 163f.) übernimmt hier von Bechtel / Richardson 1993 die Rede von der Dekomposition und Lokalisation und verweist für beide Teilstrategien schon auf Cummins (1983; vgl. etwa 28-31). 95 Kritisch zu einer Perpetuationsbedingung siehe Davies 2001: 103f., ferner 37f. Wenn ich recht sehe, führt Davies Beispiele an, bei denen solche Perpetuierungen nicht vorliegen. Doch das sagt nichts darüber, daß sie in anderen Fällen nicht doch die Funktion eines Systems sein könnten. Zumindest ein erster Ansatz zu einer reflexiven systemischen Funktion scheint sich auch bei Davies zu finden, nämlich dort, wo der Population die Fähigkeit zur Veränderung oder eben auch zum Widerstand gegen Veränderung zugeschrieben wird. Der hier interessante Punkt ist nicht der, daß Populationen diese Fähigkeit besitzen, sondern der, daß diese Fähigkeit zur »Selbstbehauptung« als systemische Fähigkeit angesehen wird. Selbstbehauptung oder Selbsterhaltung läßt sich nun aber am besten als ein permanentes »Sich-selbst-Hervorbringen« des Systems verstehen: Das System sorgt für, oder funktioniert in bezug auf, seine eigene Zukunft, die Persistenz des Systems ist eine Funktion des Systems. (Bei Annahme eines Vierdimensionalismus würde man entsprechend sagen, daß zeitliche Teile - oder
202
9. D e r Begriff der Funktion
9.4.3.2 Systemische Fehlfunktionen Ein wesentlicher Unterschied des Begriffs der systemischen Funktion gegenüber dem ätiologischen Begriff ist die Abhängigkeit des Vorliegens der Funktion vom Vorliegen der Fähigkeit zu ihrer Ausübung. Während es etwa bei Millikan für die Zuschreibung einer Funktion nur auf die evolutionäre Vorgeschichte des Funktionsträgers bzw. seiner Vorfahren ankam, spielt diese Vorgeschichte im Fall des systemischen Begriffs keine Rolle. Damit wird das Problem des »ersten Funktionsträgers« (siehe oben zum Sumpfmenschen) vermieden. Ferner wird das Problem einer fragwürdigen überindividuell begründeten Normierung vermieden: Etwas hat nicht deshalb die Aufgabe, F zu tun, weil seine Vorfahren F taten (und F zu tun reproduktiv vorteilhaft war). Doch das scheint uns nur auf das Problem zurückzuführen, daß wir, wie schon bei Cummins, Fehlfunktionen nicht erfassen können: Indem Funktionen von vorhandenen Fähigkeiten abhängig gemacht werden, scheinen uns Funktionswowie« abhanden gekommen zu sein. Das heißt, etwas scheint nicht mehr gut oder auch nicht mehr schlecht funktionieren zu können. Hier greift nun wieder die bereits erwähnte Spezifizierung von Davies hinsichtlich der Art von Normen, mit denen wir es im Fall von Funktionen zu tun haben. Davies zufolge handelt es sich lediglich um epistemische Normen, die durch eine Erwartungshaltung auf Seiten des Beobachters entstehen. Zuschreibungen von Fehlfunktionen sind de facto Ausdruck der Nicht-Erfüllung von Beobachter-Erwartungen. Man könnte jedoch einwenden, daß es Fehlfunktionen eben auch unabhängig von den Erwartungshaltungen eines Beobachters gebe. Wenn ein Hund in seinem Geruchssinn beeinträchtigt ist, funktioniert dieser Geruchssinn eben nicht gut: Ob dies beobachtet wird oder nicht und ob dies den Erwartungen eines Beobachters entspricht oder nicht, sei, so der Einwand, irrelevant. Dem ist die Frage entgegenzuhalten, welche Fälle gemeint seien, wenn es heißt, daß der Geruchssinn nicht gut funktioniert. Es könnte der Fall gemeint sein, daß der Geruchssinn insofern besser funktionieren könnte, als er bei diesem individuellen Hund vorübergehend eingeschränkt ist. Es könnte ferner
zeitliche Gesamtquerschnitte - des Systems weitere zeitliche Teile generieren. Auch wenn man diese Theorie akzeptiert, wird man gleichwohl diese zeitlichen Teile von denjenigen Teile, welches ζ. B. die Organe sind, unterscheiden wollen. Und dann läßt sich auch bei vierdimensionalistischer Grundannahme für das System, zumindest insofern es aus den Organen und vergleichbaren Teilen besteht, festhaken, daß es sich selbst permanent neu generiert. Sollte der Vierdimensionalist dies nicht akzeptieren, könnte er auch das Phänomen der Selbstorganisation nicht erfassen.)
9.4 Der systemische Funktionsbegriff
203
der Fall gemeint sein, daß der Geruchssinn bei diesem individuellen Hund einmal besser funktioniert hat, jetzt aber dauerhaft eingeschränkt ist. Und es könnte schließlich der Fall gemeint sein, daß der Geruchssinn dieses Hundes temporär oder dauerhaft nicht so gut funktioniert wie der Geruchssinn anderer artgleicher Hunde. Doch in allen diesen Fällen ist der Hund nichts anderes als das, was er ist - so etwa die Summe seiner Teile (mit »Teil« im weiten Sinn) und deren Relationen, inklusive seiner Fähigkeiten etwa auch zur Selbstregeneration oder zur Entwicklung weiterer Fähigkeiten. Der Hund ist jedenfalls in dem, was er ist, ontologisch nicht davon abhängig, was andere Hunde seiner Art sind. (Etwas pointiert könnte man auch sagen, daß ontologische Phantomschmerzen eben keine Entitäten kreieren.) Man könnte nun weiter einwenden, daß im Fall des Geruchssinns des Hundes eine Fehlfunktion doch zumindest mit Blick auf die Selbstorganisation, Selbsterhaltung oder Selbständigkeit vorliege, und zwar hier doch beobachterunabhängig. Darauf ist zunächst wieder zu erwidern, daß der Hund - auch als Selbstorganisierer - nichts anderes ist als etwa die Summe seiner Teile. Selbständigkeit kann sich verringern oder - die entsprechenden Voraussetzungen gegeben - steigern. Doch für den Hund ist - auch ontologisch - nur der Selbständigkeitsgrad relevant, den er mit seinen Mitteln, d. h. mit seinen Teilen, prinzipiell erreichen kann. Ein imaginärer Selbständigkeitsstandard ist für den Hund ontologisch irrelevant. Doch möglicherweise geht an dieser Stelle die Erklärung von Fehlfunktionen über ihre Erklärung als Verletzungen epistemischer Normen hinaus. Denn im Hinblick auf die erreichbare Selbständigkeit kann ein Organismus unter Umständen hinter der ihm möglichen Nutzung seiner Fähigkeiten zurückbleiben. Insofern Teile dieses Organismus im Hinblick auf seine ihm mögliche Selbständigkeit und im Verbund mit den anderen Teilen einen Beitrag leisten könnten, den sie nicht leisten und der zu einer Steigerung der Selbständigkeit führte, erfüllen sie ihre Funktion nicht oder nicht im möglichen Maß. Allerdings ist nicht leicht zu sehen, welche konkreten Fälle diese Beschreibung erfaßt, d. h. wann es tatsächlich der Fall ist, daß ein Organismus hinter der für die Selbständigkeit relevanten Nutzung seiner Fähigkeiten zurückbleibt. (Möglicherweise kommen hier nur Fälle bewußtseinsbegabter Organismen in Frage.) Wenn es solche Fälle gibt, sind sie aber im Hinblick auf den Status von Funktionsnormen unproblematisch. Denn es wird nur angenommen, daß die Teile eines Organismus in ihrer Funktionserfüllung auf die Selbständigkeit des Organismus bezogen sind. Sofern sich daraus Funktionsnormen und mögliche Normverletzungen ableiten, sind die in Frage stehenden Normen bedingte Normen, die nicht über das Individuum hinausweisen.
204
9. Der Begriff der Funktion
9.5 Zwischenbemerkung zur functional unity bei Hoffman und Rosenkrantz Ich füge zum Zweck der Illustration eine Zwischenbemerkung zur Rede von »funktionaler Einheit« ein, welche sich bei Hoffman und Rosenkrantz in Substance: Its Nature and Existence findet. Hier haben wir es mit einer direkten Verbindung des Begriffs der Funktion mit dem der Einheit zu tun. Deutlich zeigt sich dabei die Relevanz der Wahl eines angemessenen Funktionsbegriffs für die Plausibilität der Verbindung der beiden Begriffe. Hoffman und Rosenkrantz liefern eine umfassende Beschreibung der Einheit des biologischen Organismus. Sie nehmen für diese Beschreibung ein regulatives Prinzip, einen »master-part«, an, das die übrigen Teile steuert oder subordiniert (nämlich, wo vorhanden, das zentrale Nervensystem).96 Diesem Prinzip kommt eine besondere Rolle in der »unification or organization of an organism's parts« zu. Ferner unterscheiden sie zwischen lebensnotwendigen (vitalen) und nichtlebensnotwendigen Teilen.97 Als Teile kommen etwa Organe, aber auch Partikeln wie ζ. B. Wasser-Moleküle in Frage. Letztere sind Teile, wenn sie »engage in, or causally contribute to, fundamental biological activities«.98 Teile sollen ferner auch angefügte Teile sein können, wie etwa ein Buckel eines Pferdes oder eine funktionslose Seitenkette einer Aminosäure. Dies sind genau dann Teile, wenn sie aufgrund des geerbten genetischen Materials mit Teilen verbunden (»joined and connected«) sind, die ihrerseits einen Beitrag zu den biologischen Aktivitäten des Organismus leisten. Teile sollen ferner natürliche Transplantate, nicht aber artifizielle Ersatzorgane sein können.99 Ein für Hoffman und Rosenkrantz zentraler Gedanke besteht nun - auch im Anschluß an Aristoteles - darin, für das Verständnis des Prinzips der Organisation der Organismusteile den Begriff der funktionalen Einheit heranzuziehen:
96 Vgl. Bertalanffy, dem zufolge Zentralität im Fall eines Individuums dann vorliegt, wenn »gewisse Teile gegenüber anderen eine führende Rolle gewinnen und so das Verhalten des Ganzen bestimmen« (1949: 56). Vom zentralen Nervensystem spricht er als dem »hauptsächlichefn] Organ der Individualisierung« (1937: 114). Der Gedanke eines zentralen, integrierenden Organs ist natürlich nicht neu. 97 Siehe Hoffman / Rosenkrantz 1997:121-128, Zitat 124. Ferner werden mit Hilfe dieses Prinzips u. a. problematische Fälle von Individuation wie ζ. B. parasitäre oder symbiotische Verhältnisse (ebd.: 139f.) oder der Fall der siamesischen Zwillinge (ebd.: 147149) gelöst, und zwar nach dem Kriterium des Vorliegens eines master part. 98 Hoffman / Rosenkrantz 1997: 128, siehe auch 138. 99 Vgl. Hoffman / Rosenkrantz 1997: 129, 132-134, 142-144.
9.5 functional unity bei Hoffman / Rosenkrantz
205
»Our account, like Aristotle's, sees the key to understanding the organization of the parts of organisms in their functional unity, that is to say, in logical and causal interrelationships among the natural functions of those parts.«' 00
Und später heißt es: »functional connectedness is a causal relation whose instantiation is, together with the satisfaction of the maximization condition, logically necessary and sufficient for the unity of the basic biotic parts of an organism.«101
Dies führt schließlich zum »principle of organization for the parts of an organism«: »(P 0 ) (Discrete biotic entities P,... Pn are organized into an organism at a time t) (at t, P,... P„ are functionally united).« 102
Hoffman und Rosenkrantz würden damit ihrerseits biologische Organismen als Funktionsgefüge auffassen. Allerdings verwenden sie einen ätiologischen Funktionsbegriff, 103 und mit diesem Begriff läßt sich, wie oben erörtert, das Funktionsgefüge nicht fassen. Denn dem Ätiologen geht es prinzipiell - wenn er konsequent ist - um die Anbindung der Funktion an die Vorgeschichte des Funktionsträgers, nicht um den mit der Ausübung der Funktion tatsächlich erbrachten Beitrag oder den Kontext dieser Beitragsleistung. Mit der Wahl des ätiologischen Begriffs setzen sich Hoffman und Rosenkrantz damit dann jedoch den oben angeführten Einwänden gegen den Begriff aus. Dies betrifft (1) zum einen das Problem der Herkunft der Funktion eines Tokens, (2) zum anderen die Probleme des ersten und des letzten Funktionsbesitzers. 104 (1) Hoffman und Rosenkrantz zufolge soll ein bestimmtes Herz eine Funktion nur dann besitzen, wenn der Umstand, daß dieses Herz eine bestimmte Funktion besitzt, die materielle Struktur dieses Herzens erklärt.105 Die
100 Hoffman / Rosenkrantz 1997: 101. 101 Hoffman/Rosenkrantz 1997:135. Die maximization condition besagt, daß der master part alle Teile eines Organismus erfaßt, die »functionally unified!« sind (ebd.: 130). 102 Hoffmann / Rosenkrantz 1997: 145. 103 Vgl. Hoffman / Rosenkrantz 1997: 102-104. 104 Siehe oben 9.3.3.4 zum Token-Problem, 9.3.3.3 zum Problem des ersten Funktionsträgers. Hoffman und Rosenkrantz ignorieren die Diskussion zum Funktionsbegriff weitgehend. Cummins' systemischen Begriff erwähnen sie nicht. 105 »[A] heart possesses the function of pumping blood in a body of a certain kind only if this heart's having the macroscopic or cellular structure that it has, i. e., its being a compressible sac of muscular tissue, is explained by this heart's having the function or capacity to pump blood« (Hoffman / Rosenkrantz 1997: 104).
206
9. Der Begriff der Funktion
»explanatorische Beziehung«, die hier zwischen Strukturbesitz und Funktionsbesitz vorliegt, ist nach Hoffman / Rosenkrantz' eigenem Bekunden eine »historische«; weiter meinen sie: »the process of selection [...], which explains O's having S in terms of O's having the function or capacity in question, occurs prior to O's existence.«106 Wie soll also der Umstand, daß etwas eine Funktion besitzt, seine Struktur erklären können? Ein bestimmtes Strukturmerkmal ist selektiert worden, da sich dieses Merkmal - in einem früheren Vorkommnis - in der von ihm verantworteten Aktivität als reproduktionsvorteilhaft erwiesen hat. Daraus soll abgeleitet werden, daß eine Aktivität gleichen Typs die Funktion des vorliegenden Nachfolger-Tokens ist. Doch auch wenn eine bestimmte frühere Aktivität eines Tokens das jetzige Vorliegen eines typgleichen Tokens erklärt, ist - wie die Token-Diskussion zeigte - noch immer nicht klar, weshalb das jetzt vorliegende Token jene Aktivität zur Funktion haben soll. Und dann ist erst recht nicht klar, wie der angenommene derzeitige Funktionsbesitz die Struktur des Funktionsträger-Tokens erklären können soll. Vielmehr ist es so, daß sich der Funktionsbesitz durch die Merkmale, kraft deren ein Token zur Selbstorganisation und Selbsterhaltung des Gefüges, dessen Teil es ist, beitragen kann, für jedes Token neu bestimmt. Wenn sich hingegen die Struktur eines Teils von seinem Funktionsbesitz ableiten lassen soll und der Funktionsbesitz auf die Funktionsausübung eines anderen Tokens des gleichen Typs zurückgehen soll, es aber unklar ist, wie er darauf zurückgehen kann, und wenn ferner die Einheit des Organismus als Einheit seiner Teile eine funktionale Einheit sein soll, so daß das Teil-Sein offenbar von der Funktion abhängen soll, während zugleich (nach Hoffman und Rosenkrantz) auch die Struktur eines Teils von seiner Funktion abhängen soll, dann bleibt zumindest unklar, wie sich nach dieser Vorstellung die Einheit eines materiellen Gefüges konstituiert. Schon hier zeigt sich daher die Relevanz der Wahl des Funkdonsbegriffs für die Plausibilität der Verbindung der Begriffe von Einheit und Funktion. (2) Wie es sich schon in der Diskussion des ätiologischen Funktionsbegriffs zeigte, kann die ätiologische Funktionsanalyse nicht für die Funktion eines Merkmals im Fall des ersten Auftretens dieses Merkmals aufkommen. Dies betrifft nun auch Hoffman und Rosenkrantz, die das Vorliegen einer Funktion im Fall jenes ersten Auftretens schlicht leugnen. Sie tun dies insofern geschickt, als sie von der Rede von »Funktion« zur Rede »etwas ist da für« übergehen und
106 Hoffman / Rosenkrantz 1997: 104 (mit Ο für object, S für structure).
9.5 functional unity bei Hoffman / Rosenkrantz
207
zugleich (wie schon an früherer Stelle) unterstellen, daß Funktionsträger späterer Generationen für die Ausübung ihrer Funktion da seien, dies sich aber vom Erstbesitzer des in Frage stehenden Merkmals nicht plausiblerweise behaupten lasse.107 Tatsächlich aber läßt es sich von keinem natürlichen Funktionsträger korrekterweise behaupten, daß er für die Ausübung seiner Funktion da sei. Ferner können und müssen H o f f m a n und Rosenkrantz Funktionen - die aus der Vorgeschichte des einzelnen Organismus stammen - selbst dort noch annehmen, w o deren Ausübung kontraproduktiv für diesen Organismus ist. Diesen Punkt nehmen sie nur insofern auf, als sie es als »intuitively plausible« bezeichnen, daß etwas, das eine ererbte Funktion habe, diese bei veränderten Umweltbedingungen eben auch bloß haben könne, sie aber nicht mehr ausübe.108 Was aber wäre etwa die Aktivität, die unter diesen Bedingungen ausgeübt wird und die typidentisch mit der früheren N u t z u n g der funktionstragenden Fähigkeit ist? Wäre sie eine Ausübung der Funktion oder nicht? Die zweite Alternative könnten H o f f m a n und Rosenkrantz aus Gründen der systematischen Konsistenz nicht akzeptieren. Die erste Alternative kommt ihnen aber offenbar ungelegen - deshalb ihre Formulierung, die dem Problem ausweicht. Ebenso unklar bleibt, weshalb hier auf einmal Umweltbedingungen für die Funktionsausübung eine Rolle spielen sollten (was sie in diesem Fall nach ätiologischer Voraussetzung nicht dürften). Es bleibt notwendigerweise unklar, weil H o f f m a n und Rosenkrantz den Fall aufgrund ihrer sonstigen Annahmen nicht anders als durch eine dJ-Aoc-Entscheidung erfassen können. Auch in diesen Problemen zeigt sich die Relevanz der Wahl eines geeigneten Funktionsbegriffs für die Plausibilität der Verbindung der Begriffe von Funktion und Einheit. Im Fall des Tokens, das wir intuitiv als Erstbesitzer einer Funktion bezeichnen würden, soll nach H o f f m a n und Rosenkrantz keine Funktion vorliegen können. Dann aber hätten wir ein Gefüge, das einem Nachfolger-Gefüge baugleich sein kann, ohne dieselbe funktionale Einheit wie dieses Nachfolger-Gefüge zu besitzen. Auf der anderen Seite soll der Letztbesitzer einer Funktion jene funktionale Einheit auch dann noch aufweisen können, wenn die Funktionsausübung kontraproduktiv geworden ist. Beides ist zumindest nicht plausibel. 109
107 Vgl. Hoffman / Rosenkrantz 1997: 117. 108 Vgl. Hoffman / Rosenkrantz 1997: 117. 109 Es ist auch auffällig, daß Hoffman und Rosenkrantz in ihrem Funktionsbegriff changieren, nämlich dort, wo es ihnen auf die tatsächliche Beitragsleistung ankommt. So können sie Wasser-Molekülen aufgrund ihres kausalen Beitrags zu fundamentalen biologischen Aktivitäten des Organismus eine Funktion zuschreiben, aber zugleich meinen, daß diese Moleküle »do not literally have natural functions« (1997:128). Oder
208
9. D e r Begriff der Funktion M i t der A k z e p t a n z eines s y s t e m i s c h e n F u n k t i o n s b e g r i f f s k ö n n t e n H o f f m a n
u n d R o s e n k r a n t z die g e n a n n t e n P r o b l e m e v e r m e i d e n . D e r E i n w a n d , d e n sie v e r m u t l i c h gegen einen s o l c h e n W e c h s e l des Begriffs v o r b r ä c h t e n - d a ß n ä m l i c h der systemische Begriff keinen N a t u r b e z u g aufweise
v e r f i n g e n i c h t , da er
lediglich eine näher zu bestimmende Auffassung v o n » N a t u r « voraussetzt. T a t s ä c h l i c h ist d e r s y s t e m i s c h e B e g r i f f n i c h t w e n i g e r n a t u r b e z o g e n u n d , w i e D a v i e s z e i g t e , s o g a r g e e i g n e t , P h ä n o m e n e w i e die n a t ü r l i c h e S e l e k t i o n z u erfassen. D e r V o r z u g eines W e c h s e l s b e s t ü n d e f ü r H o f f m a n u n d R o s e n k r a n t z d a r i n , d a ß sie s i c h m i t d e m s y s t e m i s c h e n B e g r i f f auf das, w o r a u f es i h n e n eigendich a n k o m m t , k o n z e n t r i e r e n k ö n n t e n , n ä m l i c h auf den Beitrag v o n T e i l e n z u e i n e m G e f ü g e , das s i c h d u r c h E i n h e i t a u s z e i c h n e t . 1 1 0
9.6
Fazit
F a s s e n w i r die Ü b e r l e g u n g e n dieses K a p i t e l s z u s a m m e n . M a t e r i e l l e I n d i v i d u e n b e s i t z e n T e i l e , die in i h r e m Z u s a m m e n w i r k e n das I n d i v i d u u m bilden: D i e T e i l e leisten e i n e n B e i t r a g z u m F o r t b e s t a n d u n d z u r Selbständigkeit des Individuums. Sie sind T e i l e , w e i l sie diesen B e i t r a g leisten. D a s L e i s t e n des B e i t r a g s l ä ß t s i c h
sie können von Strukturen, die nicht durch natürliche Selektion, sondern spontan zustande gekommen sind, meinen, daß diese keine »full-fledged natural function« haben (ebd.: 139). Was aber ist hier eine Funktion im nicht wörtlichen Sinn von »Funktion«, und was ist eine nicht-vollständige oder nicht-vollwertige Funktion? Vielleicht würden Hoffman und Rosenkrantz antworten, daß jene Moleküle eine Funktion, aber eben keine natürliche Funktion haben. Doch dann müßten sie immer noch erklären, was es heißt, eine solche nicht-natürliche Funktion zu haben, und wie ein Träger einer solchen Funktion mit Trägern von natürlichen Funktionen so interagieren kann, daß sich die gewünschte Einheit daraus ergibt. Daß es sich hier um eine willkürliche Unterscheidung handelt, wird deutlich, wenn Hoffman und Rosenkrantz ein »emergence-of-functionality principle« einführen, mit dem sie Teile ab einer bestimmten Komplexität als Träger natürlicher Funktionen auszeichnen und dabei auf eine bestimmte Molekül-Grö/?e verweisen, wie sie etwa im Fall eines D N A oder RNA-Moleküls gegeben ist (s. ebd.: 113). 110 Eine der Konsequenzen eines solchen Wechsels bestünde darin, daß dann auch artifizielle Teile Teile eines Individuums sein können. Das ist aber nur ein Vorteil, da sich in diesem Zusammenhang auch die künstliche Unterscheidung zwischen Artefakten (Produkten eines Menschen, wie ζ. B. ein Haus) und Naturprodukten (etwa Produkten von Tieren, wie ζ. B. ein Nest oder ein Spinnennetz) zurechtrücken ließe. Im übrigen sprechen auch die Ausführungen von Hoffman und Rosenkrantz zu Genotyp-begründeten natürlichen Arten zusammengesetzter Substanzen (s. 1997:188191) nicht gegen einen Wechsel des Funktionsbegriffs.
9.6 Fazit
209
als die Ausübung der Funktion des jeweiligen Teils auffassen und wird de facto so aufgefaßt. Funktionen sind der »cement of the individual«. Die Verbindung zwischen Teil-Sein und dem entsprechenden BeitragLeisten ergibt sich daraus, daß Teile genau dann Teile sind, wenn sie »eingebunden« sind. Sie sind eingebunden genau dann, wenn sie jenen Beitrag leisten (und insofern mit den übrigen Teilen interagieren) bzw. wenn sie die Strukturen aufweisen, aufgrund deren die Leistung des Beitrags bei Bedarf erfolgt. Nach systemischem Funktionsverständnis ist das Leisten des Beitrags zugleich die Ausübung der Funktion. Teil-Sein heißt, eine Funktion zu besitzen. Nach ätiologischer Konzeption dürften Teil-Sein und Beitrag-Leisten ebenfalls gleichzusetzen sein. Dies müßten die Ätiologen jedenfalls annehmen, da nicht zu sehen wäre, wie Teile Teile eines Individuums sein könnten, wenn nicht kraft ihres Beitrag-Leistens. Zugleich sind die Ätiologen jedoch nicht bereit, das Gegebensein eines Falls von Teil-Sein und Beitrag-Leisten mit dem Vorliegen von Funktionen zu verbinden. Wie oben erörtert wurde, ist diese Trennung mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Dem ätiologischen Funktionsbegriff zufolge heißt eine Funktion zu haben eine Vorgeschichte bestimmter Art zu haben. Probleme ergaben sich hier daraus, daß Merkmale {items), die als erste ihres Typs in der evolutionären Geschichte eines Organismus einen reproduktiv vorteilhaften Beitrag zum Gefüge des Organismus liefern, im Unterschied etwa zu baugleichen Nachfolgern merkwürdigerweise trotz Leistung ihres Beitrags keine Funktion haben. Das heißt, es ist nicht etwa unklar, ob diesen ersten Beitragsleistern eine Funktion zuzuschreiben ist, sondern es ist - nach ätiologischer Auffassung unzulässig, dies zu tun. Auf der anderen Seite konnten - als Folge aus dem ätiologischen Begriff - Individuen aus Teilen bestehen, die zwar noch eine Funktion haben, sie aber nicht mehr ausüben: Hierfür sollte es genügen, daß die Vorfahren dieser Teile Funktionsträger und Funktionsausübende waren. Ferner impliziert die ätiologische Konzeption die problematische Annahme, daß die Eigenschaft Funktionsbesitz einem Merkmal Μ nicht aufgrund dessen Struktur, sondern aufgrund des evolutionsgeschichtlichen und genealogischen Verhältnisses des Merkmals zu anderen, typidentischen und numerisch verschiedenen, Merkmalen zukommt. Jene anderen Merkmale sollten den Funktionsbesitz von Μ begründen können, weil sie etwas Bestimmtes taten. Das aber konnten sie nur tun, weil sie eine bestimmte Struktur aufwiesen - die aber auch in ihrem Fall nicht dazu führt, Funktionsbesitzer zu sein. Es ist nun ganz unklar, wie dann in irgendeinem Fall der Erwerb oder die Übertragung der Eigenschaft Funktionsbesitz erfolgen könnte. Außerdem wird durch die ätiologische Anbindung von Funktionen an ihre evolutionäre oder selektive Vorgeschichte Funktionsbesitz leicht zu einer Cambridge-Eigenschaft: Funktionen können
210
9. Der Begriff der Funktion
demnach aufhören, Funktionen zu sein, wenn sich in der Umgebung des Organismus, dessen Teilen sie zukommen, Veränderungen ergeben, nämlich Veränderungen in bezug auf andere Organismen, zu denen der Funktionsträger in keiner für ihn kausal relevanten Beziehung steht. Unter anderem aufgrund derartiger Probleme ist die Annahme eines ätiologischen Funktionsbegriffs unangebracht. Ferner wird der Begriff nicht einmal einem der Hauptanliegen gerecht, derentwegen er eingeführt wurde, nämlich dem Anliegen, Fehlfunktionen zu erfassen. Denn die Normen, deren Verletzung im Fall von Fehlfunktionen vorliegt, lassen sich, wie etwa Davies klargemacht hat, in der Regel auch als epistemische Normen, nämlich als Normen unserer Erwartung ansehen. Daß ein bestimmtes Herz nicht mehr funktioniert, heißt nicht, daß es der Geschichte seiner Vorfahren nicht mehr gerecht wird, sondern daß innerhalb eines Gefüges oder einer Struktur ein bestimmter Beitrag nicht mehr geleistet wird, dessen Leistung wir hier erwarten würden - was im vorliegenden Fall zur Konsequenz hat, daß das Gefüge nicht mehr weiterbesteht. Und sofern es sich bei der Funktionsausübung um die Leistung eines Beitrags zur Selbständigkeit handelt und dieser Beitrag doch als Erfüllung einer N o r m angesehen werden sollte, die nicht epistemisch, sondern ontologisch begründet ist, handelte es sich allenfalls um eine bedingte N o r m , die ontologisch unproblematisch ist und die etwa auch vom Vertreter des systemischen Funktionsbegriffs akzeptiert würde. Die für uns wichtige Konsequenz daraus, daß wir - schon wegen seiner Unannehmbarkeit - nicht an den ätiologischen Funkdonsbegriff gebunden sind, besteht darin, daß sich Teilen von Individuen dann Funktionen zuschreiben lassen, wenn diese Teile einen Beitrag leisten und mit den übrigen Teilen des Individuums interagieren - also eben Teile sind. Eine weitere wichtige Konsequenz besteht darin, daß Organismen und die Interaktionen, aus denen sie gebildet werden, nicht an irgendeiner Stelle »reale N o r m e n « aufweisen oder solchen N o r m e n als Grundlage dienen können müssen. Insgesamt läßt sich festhalten, daß eine Auffassung von Individuen als Funktionsgefügen durch einen Verweis auf den ätiologischen Funktionsbegriff nicht wirksam geschwächt oder widerlegt wird. Was den systemischen Funktionsbegriff angeht, so gab es zwei Hauptprobleme, nämlich zum einen das Problem der Erklärung von Fehlfunktionen. Dieses wurde, wie eben gesagt, durch den Hinweis auf epistemische N o r m e n entschärft. Zum anderen stellte sich das Problem der Inflation von Systemen und daher auch von Funktionen. Dieses Problem ließ sich durch Davies' Beschränkung auf hierarchisch strukturierte Systeme eingrenzen. Diese Beschränkung ist nicht, wie es bei Cummins noch der Fall zu sein schien, zuerst interessebedingt; vielmehr interessieren wir uns für solche Strukturen deshalb
9.6 Fazit
211
in besonderem Maß, weil diese Strukturen einen prominenten Platz in der Welt einnehmen. Die Beschränkung ist zwar von einiger Unschärfe. Doch das spiegelt gerade die Tatsache angemessen wider, daß die existierenden Strukturen eben von solcher Art sind, daß sich der Bereich, den sie bilden, nicht mit größerer Schärfe festlegen läßt. Festzuhalten gilt es weiter, daß sich der systemische Funktionsbegriff auf reflexive Funktionen ausdehnen läßt - eine Ausdehnung, die sich gerade durch Davies' Fokussierung auf hierarchisch strukturierte Systeme als Bezugssysteme für Funktionsausübungen nahelegt-, so daß etwa auch schon Selbstorganisation eine Funktion des Organismus ist. Nutznießer der Ausübung dieser Funktion ist der Organismus selbst: Das, was durch die Ausübung dieser Funktion zustande gebracht wird, ist die diachrone Identität und die Selbständigkeit und insofern der Organismus als Individuum. Ein Vorzug dieser Ausdehnung des Funktionsbegriffs liegt darin, daß die Funktionen der Teile des Organismus über die Leistung oder Funktion des Organismus an ihn gebunden werden. Es ist nicht eine beliebige Leistung oder Fähigkeit des Organismus, zu der sie beitragen, deren Verhältnis zu den anderen Fähigkeiten des Organismus aber unklar bliebe, sondern eine Leistung, die den Organismus selbst konstituiert. Funktionsausübungen sind Beiträge, die den Organismus konstituieren helfen.
10. Die Einheit des Individuums Wie läßt sich nun die Einheit des Individuums begrifflich fassen? Ausgangspunkt der Überlegungen dazu sei die Frage, anhand welchen Kriteriums sich bestimmen läßt, ob eine gegebene materielle Entität, eine Disposition oder eine Aktivität Teil eines gegebenen Organismus ist (mit »Teil« in der weiten Bedeutung). Organismen als solche sind Selbstorganisiererund Selbsterhalter. Die Behandlung der Frage der Teilzugehörigkeit wird sich daher am Bezug der in Frage stehenden Entität zum Selbstorganisierer bzw. -erhalter orientieren. Ein Selbsterhalter zeichnet sich durch Abgeschlossenheit aus, und das heißt in seinem Fall: durch innere Einheit und, wo nötig, Selbständigkeit nach außen. Als Teil eines solchen Selbsterhalters wird nun etwas dann und nur dann gelten können, wenn es Teil dieses Selbstorganisierers bzw. -erhalters ist, insofern dieser ein Selbstorganisierer bzw. -erhalter ist. Daher wird etwas insofern und nur insofern ein Teil sein können, als es ein Teil des Selbstorganisierers bzw. -erhalters ist, und das heißt: insofern als es in den Selbstorganisierer bzw. -erhalter integriert ist. Integration eines Teils liegt dann und nur dann vor, wenn er einen Beitrag zur Selbstorganisation und -erhaltung des Organismus - und in der Folge davon zur Selbständigkeit - leistet. Ein solcher Beitrag wird ein Beitrag zur inneren Einheit und, wo nötig, zur Selbständigkeit nach außen sein. Das Leisten dieses Beitrags ist die Ausübung der Funktion des Teils. Damit wir nun entscheiden können, ob eine bestimmte gegebene Aktivität eines Teils ein solcher Beitrag und eine solche Funktionsausübung ist, müssen wir wissen, ob und gegebenenfalls wie sie in die Gesamtheit der Aktivitäten des Abgeschlossenen integriert ist und auf welche Weise sie etwas für die Abgeschlossenheit austrägt. Für die Beantwortung dieser Frage wird aber vorausgesetzt, daß das Abgeschlossene ein Gefüge ist, dessen Abgeschlossenheit durch die Beiträge oder Funktionsausübungen seiner Teile konstituiert wird, und das heißt, es wird vorausgesetzt, daß das Abgeschlossene ein Funktionsgefüge ist.1 Sehen wir uns dies etwas näher an:
1
Der Begriff des Gefüges spielt, auch in Verbindung mit dem Begriff der Funktion, etwa bei Hartmann eine große Rolle. Ein Gefüge ist ihm zufolge »die innere Verbundenheit und gegenseitige Bedingtheit der bewirkenden Momente« (Hartmann 1950: 434). Ein Gefüge im spezielleren Sinn ist das »dynamische Gefüge«, welches als »Gebilde«
10. Die Einheit des Individuums
213
Trivialerweise kann χ nur dann Teil von ζ sein und zu ζ gehören, wenn ζ Teile hat. Und genauer: χ kann im hier relevanten Sinn nur dann zu ζ gehören, wenn ζ so geformt ist, daß es kein Aggregat ist, sondern eine Entität, die sich durch Einheit auszeichnet. Nur dann nämlich kann χ integriert sein in z. Die Einheit von ζ ist Voraussetzung dafür, daß etwas in nicht-aggregativem Sinn Teil von ζ sein kann. (Die hier zur Diskussion stehenden Teil-Ganzes-Verhältnisse sollen auch den folgenden Fall einschließen. Es sei χ Teil von y und y sei Teil von ζ - etwa: χ sei ein Herzmuskel, y sei ein Herz, ζ sei ein Organismus. In diesem Fall ist χ nur deshalb Teil von y, weil y Teil von ζ ist.) Wesentlich dafür, daß ζ sich durch Einheit auszeichnet, ist - neben seiner synchronen Einheit - auch die diachrone Einheit. Diese Einheit kann bei einem offenen System, wie ζ es angenommenerweise sei, aber nur durch permanente Selbstorganisation oder -erhaltung zustande gebracht werden. Für seine diachrone Einheit muß ζ seine Erhaltung selbst zustande bringen, weil es sich bei Fremderhaltung nicht durch Einheit auszeichnet. Für die Bestimmung der Zugehörigkeit einer gegebenen Entität (einer gegebenen Partikel, Aktivität, Disposition etc.) zu einem gegebenen Organismus ist demnach zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen die Einheit jenes Organismus gegeben ist, zu der jene Entität gehören soll. Als eine der Voraussetzungen ist bereits das Vorliegen der Fähigkeit zur Selbsterhaltung und deren Aktualisierung angeführt worden. Im Fall materieller Gegenstände ist diese Selbsterhaltung infolge der Offenheit des Systems aber nur als permanente Selbstorganisation möglich: χ ist dann Teil von ζ (oder χ ist dann Teil von y und y Teil von z), wenn χ (bzw. y, und χ vermittelt durch y) zur Selbstorganisation von ζ beiträgt.
definiert wird, d. h. als etwas, das »Begrenzung und Gestalt hat, sich von anderem ihm Nebengeordneten abhebt, weder zeitlich noch räumlich ohne weiteres in anderes übergeht und sich auch im allgemeinen Fluß des Realen als zusammenhaltend erweist« (ebd.: 442). Ein spezieller Fall eines dynamischen Gefüges ist dann wiederum das organische Gefüge. Solche Gefüge sind alle Organismen. Dem Umstand, daß sie Gefüge sind, verdanken sie ihre Unteilbarkeit (ebd.: 515f.). Die Teile eines solchen Gefüges »sind Glieder mit verschiedenartiger Funktion im Ganzen« (ebd.: 515), und ein »organisches >Glied< ist von vornherein das, was es ist, durch seine Stellung im Ganzen des Gefüges«. »Jedes Glied >hat< nicht nur seine Funktion im Ganzen und ist durch diese bestimmt; es >ist< vielmehr wesentlich diese Funktion im Ganzen« (ebd.: 516). Hartmann sagt nichts dazu, was Funktionen sind. Ferner sagt er nichts dazu, wie sich nicht-lebensnotwendige Teile integrieren lassen oder wie sie sich zum Individuum verhalten, und auch nichts dazu, ob sie Funktionen haben. Siehe ferner Hartmann 1940: 230f., 242f., 329-341; zur (nicht näher spezifizierten) Rede vom »Gefüge des Lebens« siehe Bertalanffy 1937.
214
10. Die Einheit des Individuums
Einen Beitrag zur Selbstorganisation zu leisten scheint - auf den ersten Blick - jedoch nur ein hinreichendes Kriterium für die Zugehörigkeit eines Teils zu einer umfassenden Entität zu sein. Wie etwa der Fall des Menschen zeigt, gibt es - jedenfalls dem Anschein nach - Teile (Aktivitäten, Dispositionen etc.), die dieses Kriterium nicht erfüllen und die dennoch - unseren Intuitionen nach Teile eines Menschen sind: Nicht alles, was ein Mensch tut, ist ein Beitrag zu seiner Selbstorganisation (oder genauer: zu seiner Selbstorganisation nur in der biologischen Bedeutung des Wortes). Da wir nun auch für einen Menschen angeben können wollen, ob ein gegebener Teil zu ihm gehört oder nicht zu ihm gehört, müssen wir das Kriterium präzisieren. Präzisieren zum einen deshalb, weil es nicht darum gehen kann, ein zusätzliches Kriterium einzuführen. (Dies deshalb nicht, weil sich ansonsten eine Entität ergäbe, deren Teile zu ihr aus verschiedenen Gründen gehören. Im Fall einer solchen Entität wäre nicht klar, inwiefern die Teile, die aufgrund der verschiedenen Kriterien zu dieser Entität gehören, miteinander zusammenhängen.) Zum anderen muß uns an einer Präzisierung deshalb gelegen sein, weil das Kriterium des Selbstorganisationsbeitrags gerade nicht aufgegeben werden soll. (Dies deshalb nicht, weil das Leisten eines Beitrags zur Selbstorganisation zumindest ein intuitiv plausibles Kriterium für die Zugehörigkeit ist.) Die Präzisierung des Kriteriums nimmt ihren Ausgang von der Frage, wovon die Selbstorganisation Organisation ist und was es ist, das sie zustande bringt. Der Vorschlag, der im folgenden erörtert werden soll, besteht darin, daß das Organisierte und Zustandegebrachte die Selbständigkeit der in Frage stehenden Entität ist. Selbstorganisation (in der hier relevanten weiteren Bedeutung des Wortes) besteht im permanenten Hervorbringen einer Entität, die sich durch Selbständigkeit auszeichnet. Und dasjenige und nur dasjenige, das zu diesem Hervorbringen einer auf solche Weise ausgezeichneten Entität beiträgt, ist Teil dieser Entität. Dieser Vorschlag, den Beitrag zur Selbständigkeit als Zugehörigkeitskriterium anzusehen, nimmt das Kriterium des Selbstorganisationsbeitrags auf: Wenn etwas zur Selbstorganisation (im engeren, biologischen Sinn) beiträgt, trägt es auch zur Selbständigkeit bei, und zwar deshalb, weil diese Selbstorganisation Voraussetzung für Selbständigkeit ist. Wenn etwas zur Selbstorganisation (in der weiteren Bedeutung des Wortes, die alle Teile umfaßt) beiträgt, trägt es insofern zur Selbständigkeit bei, als diese Selbstorganisation eben das Hervorbringen und Erhalten einer selbständigen Entität ist. Ferner stellt auch die Wahl dieses präzisierten Kriteriums einen direkten Bezug zur Einheit des Individuums her, und zwar insofern, als die Selbständigkeit einer Entität nur dort vorliegen kann, wo es sich um eine Entität handelt, und insofern, als Selbständigkeit notwendige Voraussetzung für das Vorliegen von Einheit ist. Während ersteres trivialerweise der Fall ist, ist letzteres deshalb
10. Die Einheit des Individuums
215
der Fall, weil beim Fehlen von Selbständigkeit entweder keine Entität vorliegt oder eine nicht-selbständige Entität. Wenn keine Entität vorliegt, liegt trivialerweise auch keine Entität vor, die sich durch Einheit auszeichnet. Wenn eine nicht-selbständige Entität vorliegt, dann kann dies nur eine Entität sein, die fremd-organisiert ist oder die Teil von etwas ist. Wenn sie fremd-organisiert ist, besitzt sie keine Einheit: Sie ist vielmehr wesentlich abhängig von Entitäten und Vorgängen, die nicht Teil von ihr sind. Wenn die nicht-selbständige Entität andererseits Teil von etwas ist, besitzt sie aufgrund ihrer Unabgeschlossenheit keine Einheit: Sie ist das, was sie ist, nur als Teil von etwas. Daher liegt dann und nur dann, wenn Selbständigkeit gegeben ist, eine Entität vor, die sich durch Einheit auszeichnet, d. h. ein Individuum. Nur dann aber, wenn wir das Individuum als ein Gefüge verstehen, dessen Einheit und Selbständigkeit durch die Beiträge bzw. Funktionsausübungen seiner Teile konstituiert wird, d. h. wenn wir das Individuum als ein Funktionsgefüge verstehen, können wir seine Teile als integrierte Teile ansehen und ihre Zugehörigkeit zum Individuum bestätigen. Selbständigkeit besteht darin, daß sich das Gefüge - mittels der Funktionsausübungen seiner Teile - selbst organisieren kann, daß es in gewisser Hinsicht und in gewissem Maß abgeschlossen und resistent gegenüber äußeren Einflüssen ist, daß es der Welt eigenständig gegenübertritt und daß es einen aktiven Zugriff auf die Welt und die äußeren Einflüsse besitzt. Selbständigkeit kann nun jedoch in höherem oder geringerem Maß vorliegen. Dann aber gibt es, sofern sich Individuen als solche durch Selbständigkeit auszeichnen, Individuen, die im Vergleich miteinander oder auch für sich betrachtet verschiedene Grade von Individuität aufweisen. Im Fall des für sich betrachteten Individuums gibt es die verschiedenen Grade von Individuität nicht etwa, weil bestimmte Teile mehr oder weniger dicht zum Gefüge, das das Individuum ist, gehörten, sondern weil das Gefüge infolge seiner Beschaffenheit insgesamt in einem veränderlichen, dichteren oder weniger dichten Verhältnis zur Welt steht, das sich, je nach Perspektive, eher als Verhältnis der Abhängigkeit (das heißt hier: der Unselbständigkeit) oder der Unabhängigkeit (das heißt hier: der Selbständigkeit) beschreiben läßt. Das Gefüge steht in diesem veränderlichen Verhältnis zur Welt, weil seine Teile in der Ausübung ihrer Funktion in bestimmter Weise zusammenwirken, nämlich so, daß sie eine Entität bilden, die neben synchroner Einheit auch diachrone Einheit besitzt, und weil die Art der Zusammenwirkung zugleich ermöglicht, daß sich das Gefüge insgesamt verändert, d. h. sich »zusammenzieht« oder »erweitert«. Dies ist von grundlegender Bedeutung, wenn eine Individuenkonzeption den Phänomenen Rechnung tragen soll, denn zu diesen gehört auch das Phänomen der fortwährenden Veränderung eines Individuums.
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10. Die Einheit des Individuums
Die entsprechenden Ausführungen zu diesen Überlegungen sind den Abschnitten dieses Kapitels wie folgt zugeordnet: Der erste Abschnitt enthält einige vorbereitende Überlegungen zu Aspekten des Zusammenpassens und des Nicht-Zusammenpassens von Teilen. Bei diesen Überlegungen geht es um die Entwicklung eines reichhaltigeren Bildes der Interaktion bzw. Störung der Interaktion der entsprechenden Aktivitäten eines Gefüges. Wichtig ist es, schon hier auf verschiedene Arten von Konflikten hinzuweisen, die für die Frage der Zugehörigkeit von Teilen je verschiedene Probleme aufwerfen werden (10.1). Im zweiten Abschnitt beginne ich mit der Erörterung des Zugehörigkeitskriteriums. Dieses Kriterium bezieht sich auf den Beitrag, den ein Teil zur Selbständigkeit des Gefüges erbringt, dessen Teil er ist. In der Behandlung des Kriteriums gehe ich dabei von der Erörterung des bloßen Zusammenpassens zur Frage über, aus welchem Grund etwas Teil des Gefüges ist. Diese Frage ermöglicht nämlich eine Diskussion des Beitrags und der Integration auch der nicht-lebensnotwendigen Teile (auf welche ich mich hier vor allem beziehe). Diese nicht-lebensnotwendigen Teile (Aktivitäten etc.) erweisen sich insofern als besonders wichtig für die Selbständigkeit, als sie die Perspektive erweitern helfen, mit der der Organismus bzw. der Urheber der Aktivitäten der Welt gegenübertritt und mit der er der Welt gegenüber etwas Selbständiges und etwas überzeitliches Ganzes ist. Etwas Selbständiges ist er aber genau dann, wenn er sich durch Einheit auszeichnet (10.2). Wenn wir, so der dritte Abschnitt, Perspektivenerweiterungen zulassen, lassen wir auch Veränderungen des entsprechenden Gefüges zu. Auf die Frage, in welchem Ausmaß wir Veränderungen zulassen angesichts der Probleme, die sich durch Veränderungen des Gefüges für dessen Identität ergeben, gehe ich im dritten Abschnitt ein. Tragfähige Beschränkungen sind hier weder bei Ansetzung eines stabilen Strukturkerns noch unter Verweis auf eine Sortalabhängigkeit des Individuums erhältlich. Tatsächlich ist Veränderung in solchem Umfang möglich, wie das Vorliegen von Selbständigkeit dies zuläßt. Solange diachrone Kohärenz gewährleistet ist - was der Fall ist, wenn Selbständigkeit vorliegt - , können die möglichen Veränderungen beliebig radikal ausfallen (10.3). Mit der Zulassung von Veränderungen, so der vierte Abschnitt, lassen wir auch Grade von Selbständigkeit und damit von Einheit bzw. Individuität zu. Das irritiert aber: Nichts kann, so würden wir annehmen, mehr oder weniger Individuum sein. Doch andererseits werden gerade auch feste Individuitätsstandards den beobachtbaren Veränderungen der Gefüge nicht gerecht. Individuitätsgrade lassen sich nun am besten unter Verweis auf die Bindungsgrade einer dynamischen Struktur erfassen. Je nachdem, wie eng oder wie locker die Struktur in ihren internen Verbindungen gebaut ist, ist es ihr mehr oder weniger
10.1 Zusammenpassen und Nicht-Zusammenpassen
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möglich, sich in ein Verhältnis zur Welt zu setzen: Ihre Selbständigkeit - und damit ihre Individuität - hängt vom Grad der internen Bindung ab (10.4). Im fünften Abschnitt gehe ich ausführlicher auf eine Reihe von Problemen ein, die sich für die Auffassung von Individuen als Funktionsgefügen und für die Integration bestimmter Teile ergeben. Zu den Präzisierungen, die sich hier für die Individuenkonzeption ergeben, gehört unter anderem die Annahme möglicher verschiedener kausaler Rollen einer Aktivität (so daß gegebenenfalls ein und dieselbe Aktivität des Gefüges unter einer kausalen Rolle etwa schädigend, unter einer anderen kausalen Rolle aber kontinuitätsstiftend sein kann). Zu den Präzisierungen gehört ferner eine individuitive Einordnung von Fortpflanzungsaktivitäten sowie aller Aktivitäten, die etwa dem Nachwuchs eines Akteurs zugute kommen und die nicht zuerst zur Selbständigkeit des Akteurs beizutragen scheinen. Außerdem gehört zu den Präzisierungen die Annahme, daß verschiedene Funktionsgefüge unter Umständen - und in gewisser Hinsicht - körperliche Teile gemeinsam haben können. Es gehört zu den Präzisierungen des weiteren die Annahme (als theoretisches Gegenstück zur Annahme kausaler Rollen), daß ein Selbständiges im Fall der Benutzung durch ein anderes Selbständiges unter einem Aspekt Teil (und also nicht Individuum) und dabei zugleich unter einem anderen Aspekt noch Selbständiges (und also Individuum) sein kann (10.5). Im Schlußabschnitt fasse ich einige Überlegungen zusammen, nämlich Überlegungen zum Individuum als Funktionsgefüge und zur Einheit und Unteilbarkeit des Individuums. Ich setze die Individuenkonzeption in ein Verhältnis zu den vorbereitenden Kapiteln zwei bis acht und fasse schließlich die besonderen Merkmale der Konzeption zusammen (10.6).
10.1 Vorbereitung:
Zusammenpassen
und
Nicht-Zusammenpassen
Im vorliegenden Kapitel will ich den Versuch unternehmen, den Begriff der Einheit besser zu fassen. Eine der Schwierigkeiten, die sich für diesen Versuch ergeben, liegt darin, daß jeder Versuch zu erläutern, was mit »Einheit« gemeint ist, auf die eine oder andere Weise den Begriff der Einheit schon voraussetzt. So bleibt nur die Hoffnung, daß die Erläuterung bestimmter Aspekte - ζ. B. die Erläuterung von Bedingungen von Einheit - selbst bei Voraussetzung des Begriffs dem besseren Zugriff auf jenen Begriff noch dienen kann. N u r einem dieser Aspekte widme ich mich im vorliegenden Abschnitt, nämlich dem Aspekt des Zusammenpassens bzw. Nicht-Zusammenpassens von Teilen eines Gefüges, das sich durch Einheit auszeichnet oder auszeichnen könnte. Ziel ist dabei die Entwicklung eines etwas reichhaltigeren, nicht-trivialen Bildes insbesondere
218
10. Die Einheit des Individuums
davon, was mit »nicht-zusammenpassen« gemeint ist. Die Überlegungen dieses Abschnitts bilden dabei nur einen ersten Ausgangspunkt: Sie werden später (so in 10.5) zu präzisieren sein. Eine notwendige Voraussetzung dafür, daß vom Vorliegen von Einheit eines Gegenstands die Rede sein kann, besteht darin, daß die vorhandenen Teile des Gegenstands nicht oder zumindest in bestimmter Hinsicht nicht gegeneinander operieren. (»In bestimmter Hinsicht« deshalb, weil es sich für manche Teile etwa von Organismen herausstellen kann, daß ihre Funktionen in anderer Hinsicht einander entgegengesetzt sind oder zumindest teilweise einander entgegenwirken, ohne daß der Organismus für seinen Fortbestand auf eine der beiden Funktionen verzichten könnte. In diesem Fall ist das entsprechende Austarieren notwendig für den Erhalt des Organismus.) Es genügt jedoch nicht, daß die Teile nicht gegeneinander operieren. Vielmehr müssen sie, damit Zusammenhalt - und das heißt: Einheit - entsteht, in bestimmter Weise zusammenwirken: Nur dann können sie ihren Beitrag leisten, d. h. ihre Funktion ausüben. Ein Gefüge zeichnet sich demnach dadurch aus, daß seine Teile in gewisser Weise zusammenwirken oder zusammenpassen. Das kann heißen, daß die diesen Teilen korrespondierenden Aktivitäten in einem hierarchischen permanenten oder temporären Unterstützungsverhältnis zueinander stehen, so daß eine Aktivität bestimmter Art für die Aktivitäten anderer Arten als »einheitsstiftender« Bezugspunkt und Selbständigkeitsgarant fungiert (als eine Art von »Fokus-Aktivität«). Oder es kann heißen, daß die Aktivitäten sich gegenseitig so austarieren, daß kein Teil unkontrolliert durch die anderen Teile aktiv ist, sondern daß der Umfang der Aktivität eines bestimmten Teils vom jeweiligen Umfang der übrigen Aktivitäten der anderen Teile abhängt. Eingeschlossen ist in beiden Fällen der Fall eines Teils, der verbindende oder vermittelnde Funktion zwischen den anderen Teilen hat. Sehr viele Teile oder Aktivitäten sind von solcher Art. Für die Frage des Zusammenpassens und der Integrierbarkeit bestimmter Teile bilden die nicht-lebensnotwendigen Aktivitäten etwa eines Menschen gegenüber den lebensnotwendigen Aktivitäten mit Blick auf die Einheit des Individuums das größere und interessantere Problem, und sie bilden ein Problem insbesondere dort, wo sie im Konflikt miteinander stehen und nicht zusammenwirken oder zusammenpassen, dennoch aber Aktivitäten eines Individuums sein sollen. Der Fall des Nicht-Zusammenpassens ist hier vermutlich noch am einfachsten zu fassen und zu illustrieren, und auf diesen Fall (mit Blick auf die nicht-lebensnotwendigen Aktivitäten) werde ich mich in diesem Abschnitt konzentrieren. Sehen wir uns hierfür zunächst jene bekannte Anekdote an, die Piatons Sokrates in der Politeia erzählt:
10.1 Zusammenpassen und Nicht-Zusammenpassen
219
»Aber«, wandte ich ein, »ich hörte einmal eine Geschichte, welche ich für wahr halte. Leontios, der Sohn des Aglaion, ging vom Piräus außen entlang der Nordmauer zur Stadt und sah dort beim Henker die Leichen liegen; nun empfand er zugleich Lust, sie anzusehen, gleich wieder verabscheute er es und wandte sich ab, kämpfte lang mit sich und hüllte sein Haupt ein, schließlich aber erlag er der Begierde und lief mit aufgerissenen Augen hin zu den Leichen und rief: >Da, ihr Unseligen, sättigt euch an dem schönen Anblick!«.«2 F ü r Piatons Sokrates steht diese Passage im Kontext der Einführung eines bestimmten Seelenteils, und insofern ist die Passage für uns nicht interessant. 3 Zugleich kann sie aber als eine sehr anschauliche Illustration derjenigen inneren Zerrissenheit herangezogen werden, welche nicht zum N u t z e n des Gesamten ist. Es können nicht zwei Aktivitäten Teil desselben Gefüges sein, die miteinander in einem solchen Konflikt stehen. Wenn ein Teil oder eine Aktivität nicht mit den übrigen Teilen zusammenhängt, liegen dort, w o wir von einem »Individuum« sprechen wollten, in einer bestimmten Hinsicht - und vereinfacht gesprochen - (mindestens) zwei nicht-kohärente Aktivitäten bzw. Aktivitätsbündel vor. Das »Individuum« ist - wieder vereinfacht gesprochen - gespalten, es ist nicht eines, sondern mehrere, und somit kein Individuum. Man könnte einwenden, daß im Fall des Leontios gerade auch jener Konflikt integriert werden müsse. Etwa: D e r Mensch sei nun einmal ein Individuum von solcher Art, für das solche Konflikte typisch seien. Oder: In der Wahrnehmung jenes Konflikts erfahren wir uns selbst als etwas, das hin und her gerissen ist - die Erfahrung könnten wir aber nicht machen, wenn es nicht etwas Ü b e r greifendes und Integrierendes gäbe, das jene Erfahrung macht. D e r erste Einwand läuft ins Leere: N i c h t der T y p oder die Art konstituiert einen Menschen, sondern Menschen konstituieren T y p e n bzw. Arten (einmal angenommen, es sei korrekt zu sagen, T y p e n bzw. Arten ließen sich k o n stituieren). D e r zweite Einwand hingegen verdient eine etwas genauere B e handlung. Diese bedarf jedoch ihrerseits einiger weiterer Erörterungen, und ich k o m m e unten (im Abschnitt 10.5.1) auf den Einwand zurück. D o r t wird dann auch Gelegenheit sein zu erörtern, wie die behauptete Separatheit der
2
Politeia IV, 439e5-440a4, in der (von mir modifizierten) Übersetzung von Vretska.
3
Es gibt eine Diskussion dazu, ob die Politeia-Passage Teil eines Arguments für die Etablierung von Seelen-Teilen (Woods 1987) ist oder Teil eines Arguments für die Klassifikation psychischer Phänomene oder Aktivitäten (u. a. Cooper 1984; zum Thema des inneren Konflikts in der Antike siehe auch Price 1995). Mir geht es bei der Heranziehung der Passage nicht um eine Festlegung auf eine altertümliche FakultätenPsychologie, sondern nur um die Illustration eines inneren Konflikts, der für die Einheit des Individuums relevant ist.
220
10. Die Einheit des Individuums
Aktivitäten bzw. Aktivitätsbündel und die behauptete Gespaltenheit des »Individuums« präziser zu beschreiben ist. An dieser Stelle zu jenem zweiten Einwand nur dies: Der Umstand, daß wir uns in manchen Fällen als etwas, das hin und her gerissen ist, erfahren, trägt für sich genommen noch nichts für die Frage aus, ob bestimmte Konfliktteile Teile des Individuums sind, und das Vorliegen einer übergreifenden Wahrnehmung als solches integriert noch nicht das, was wahrgenommen wird, in etwas, das sich durch Einheit auszeichnet. Es gibt nun - unabhängig vom speziellen Fall des Leontios - mehrere Arten möglicher Konflikte. So können zum Beispiel nicht beliebig viele Aktivitäten gleichzeitig ausgeführt werden, so daß ein Konflikt darüber vorliegen kann, welche der Aktivitäten wann und wie lange auszuführen sind. Die Konflikte, um die es hier geht, betreffen zum Beispiel den Fall der Entscheidung darüber, ob eine bestimmte Zeit mit Fußballspielen oder mit Golfen zugebracht werden soll, oder etwa auch den Fall, ob eine bestimmte Zeit mit Fußballspielen oder mit Klavierspielen zugebracht werden soll. Die Reihe von Konflikten solchen Typs ließe sich fortsetzen. Immer geht es dabei um die Frage, wie eine bestimmte zur Verfügung stehende Zeit verbracht bzw. genutzt werden soll. Der jeweilige Konflikt entsteht aus der Begrenztheit der Zeit. Ein zweiter Fall sei durch ein Gedankenexperiment illustriert. Es sei ein Fall angenommen, in dem Begrenztheit der Zeit nicht vorliege, so daß allen Aktivitäten verschiedener Arten beliebig viel Zeit zur Verfügung stehe. Dennoch könnte auch in diesem Fall ein Konflikt über die Ausführung einer einzelnen Aktivität einer bestimmten Art entstehen, unabhängig vom Vorliegen oder der Ausführung anderer Aktivitäten. Einen Grund für einen derartigen Konflikt könnte ζ. B. die Aufnahme bestimmter Nahrungs- oder Genußmittel bilden. Der Konflikt betrifft auch hier den Handlungsinhalt, aber in anderer Weise als im Fall der Begrenztheit der Zeit. Während sich dort mit der Begrenzung auch der Konflikt aufheben ließ, ist im vorliegenden Fall nicht die Begrenztheit der Zeit dasjenige, das den Konflikt verursacht. Vielmehr kommt der Konflikt dadurch zustande, daß die in Frage stehende Aktivität das Gefüge generell stört. Bestimmte Genuß- oder Nahrungsmittel zu konsumieren oder solchen Umständen ausgesetzt zu sein, die die Sinneswahrnehmung dauerhaft verändern, ist nicht mit späteren Aktivitäten anderer Arten vereinbar. Bewußtseinstrübung oder -Veränderung hat negative Auswirkungen auf Aktivitäten, die auf Koordination angewiesen sind, andere Aktivitäten wirken sich negativ auf die Kondition aus, und die Beeinträchtigung der Sinneswahrnehmung erlaubt bestimmte Wahrnehmungen nicht mehr. Die entsprechende Aktivität läßt sich innerhalb des Gefüges nicht - auch nicht sukzessive - neben die anderen (oder bestimmte der anderen) Aktivitäten stellen oder sogar mit ihnen verbinden. Der Konflikt entsteht aus der Inkonsistenz der Aktivitäten.
10.1 Zusammenpassen und Nicht-Zusammenpassen
221
Damit ist zumindest eine notwendige Bedingung für die Bestimmung dessen gegeben, was »zusammenpassen« heißt: Die physiologischen Zustände, die mit den Aktivitäten verbunden sind oder aus ihnen folgen, dürfen sich nicht ausschließen. Dies gilt, übertragen, für alle Aktivitäten, nämlich insofern, als Aktivitäten diachron dann nicht zusammenpassen, wenn sie sich gegenseitig ausschließen. Sie schließen sich dann aus, wenn die Folgen der einen Aktivität mit dem Vorliegen oder der Durchführung einer anderen Aktivität nicht vereinbar sind. (Wichtig ist, daß unter diese sich ausschließenden Aktivitäten nicht die konstruktiv miteinander konkurrierenden, sich zum Nutzen des Ganzen austarierenden Aktivitäten etwa bestimmter Teile eines Organismus mit eingeschlossen sind: Diese Aktivitäten schließen sich gerade nicht gegenseitig aus.) Man könnte gegen die These (wonach Aktivitäten sich dann gegenseitig ausschließen, wenn die Folgen der einen Aktivität mit dem Vorliegen oder der Durchführung einer anderen Aktivität nicht vereinbar sind) oder gegen die Relevanz dieser These einwenden, daß Dispositionen nicht unveränderbar seien. Tatsächlich genügt es aber schon, daß sie nur schwer veränderbar sind, um die entsprechenden Aktivitäten als Aktivitäten zu bezeichnen, die nicht zusammenpassen: Wenn ich eine bestimmte Disposition erworben habe, deren Vorliegen der Ausübung einer bestimmten Aktivität im Weg steht oder sie auch nur erschwert, dann passen die die Disposition formende Aktivität und die durch diese Disposition erschwerte Aktivität nicht zusammen. (Offenkundig gibt es hier sehr viele Grenzfälle, zumal auch »schwer« oder »erschwert« nicht bestimmt sind, und es gibt offenbar Aktivitäten, die »besser« zusammenpassen, und solche, die »weniger gut« zusammenpassen. Doch das Kriterium des Zusammenpassens sollte - wie jetzt zu ergänzen ist: zunächst (s. S. 223) - auch nur eine notwendige Bedingung für die Zugehörigkeit von bestimmten Teilen bzw. ihren Aktivitäten zum Individuum sein.) Einige weitere Präzisierungen sind noch erforderlich. (1) Vermutlich würden wir sagen können, daß Aktivitäten des Typs Φ, die zu einer bestimmten Disposition άλ führen, mit der bestimmte andere Aktivitäten des Typs X nicht oder nur schwer vereinbar sind, auch dann nicht zu diesen Aktivitäten X passen, wenn die Disposition dx zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr oder nur noch in einer Weise vorhanden sein sollte, daß d1 keine Schwierigkeit mehr für die Ausübung von X-Aktivitäten darstellt. (2) Nicht nur erworbene Dispositionen oder Neigungen haben Auswirkungen auf spätere Aktivitäten. Auch das NichtErwerben von Dispositionen hat solche Auswirkungen: Wenn ich nicht bestimmten Aktivitäten nachgehe, durch die ich bestimmte Fertigkeiten erwerbe, kann ich, zu einem gegebenen späteren Zeitpunkt, jene Aktivitäten nicht ausüben, die jene Fertigkeiten voraussetzen. (3) Ferner geht es nicht nur
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10. Die Einheit des Individuums
um Dispositionen, sondern ζ. B. auch um Aktivitäten, die bestimmte Mittel und äußere Güter betreffen: Die Verwendung von finanziellen Mitteln heute macht morgen Aktivitäten unmöglich, die dann auf dieselben Mittel angewiesen wären. (4) Wiewohl ich hier vorwiegend vom Fall des Menschen ausgehe, sollen die Präzisierungen sich auch auf Organismen aller möglichen Arten beziehen: Auch bei Tieren haben erworbene Dispositionen oder der Umgang mit zur Verfügung stehenden Mitteln Einfluß auf spätere Aktivitäten. (5) Der Fall des Leontios war ein bestimmter Fall von Inkonsistenz und von daher auch von Inkohärenz, die zu Verlust an Individuität führt. Neben solchen Fällen, die sich hier mangelnder Selbstkontrolle verdanken, gibt es weitere Fälle von Inkohärenz. Solche Fälle liegen etwa mit dem Auftreten bestimmter Formen von Schizophrenie oder auch von multipler Persönlichkeit vor. Je komplexer ein Lebewesen in seiner physiologischen oder seiner psychischen Struktur ist, desto größer dürfte die Vielfalt an möglichen Inkohärenzen sein. Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich ein etwas reichhaltigeres, nicht-triviales Bild zumindest davon, was mit »nicht zusammenpassen« gemeint ist. Relevant ist das auch deshalb, weil im Folgenden - diesem Bild entsprechend - verschiedene Arten von Konflikten zu berücksichtigen sein werden. Relevant ist dies ferner, weil für das Bild keine Normen besonderer Art eingeführt werden müssen: Während die Rede von »nicht zusammenpassen« normativer Art ist, sind die angenommenen Normen doch nur von solcher Art, daß sich ihre Erfüllung oder Nicht-Erfüllung allein aus den strukturellen Eigenschaften der involvierten Entitäten und aus unseren Erwartungen an sie ergibt. Es handelt sich also, wenn man so will, um »schwache« Normen. Welche von zwei Aktivitäten, die im genannten Sinn nicht zueinanderpassen, gehört nun zum Individuum und welche nicht? Ist es überhaupt sinnvoll zu sagen, eine von beiden Aktivitäten habe nicht als Aktivität des Leontios zu gelten? Das anzunehmen wäre allem Anschein nach absurd. Ferner - einmal angenommen, es gebe solche konfligierenden Aktivitäten - könnte es sich auch so verhalten, daß sich sogar die Gesamtheit der Aktivitäten in zwei etwa gleich große Bereiche teilt, so daß wesentliche Teile eines Menschen miteinander in Konflikt stehen. Wäre es auch hier - so ließe sich jene Frage nach der Zugehörigkeit fortführen - der Fall, daß einer der beiden Bereiche von Aktivitäten nicht mehr als Aktivitätsbereich desjenigen zu gelten hätte, der die entsprechenden Handlungen vollzieht? Kaum weniger problematisch scheint der Ausweg, daß sie zwar Aktivitäten des Leontios bzw. des Akteurs seien, daß dieser aber kein Individuum mehr sei. Doch wird die Antwort, im Extremfall, in gewisser Hinsicht in diese Richtung gehen. Im Fall entsprechender extremer Inkohärenz ist »Leontios« nicht mehr der Name eines Gegenstandes, sondern eines Aggregats. Und
10.2 Selbständigkeitsbeitrag als Zugehörigkeitskriterium
223
Leontios ist im Extremfall nicht mehr ein Mensch - sofern Mensch zu sein Individuum zu sein impliziert sondern er wird »Mensch« nur noch in homonymem Sinn genannt. Konflikt - wie ζ. B. im Fall des Leontios - ist offenbar also ein schwieriges und zentrales Problem für jede Individuenkonzeption. Ich komme nach der Behandlung der Selbständigkeit als Zugehörigkeitskriterium noch einmal darauf zurück (siehe unten 10.5.1).
10.2 Selbständigkeitsbeitrag
der Teile als
Zugehöngkeitskriterium
Die Beobachtung, daß die Teile, Dispositionen und Aktivitäten eines Individuums zusammenpassen müssen, führt in der Behandlung der Frage, welche Teile zum Individuum gehören und wie sie dazugehören, allerdings noch nicht sehr viel weiter. Die Beantwortung der Frage, ob gegebene Teile zusammenpassen oder nicht, gibt uns lediglich erste, wenn auch wichtige Hinweise darauf, ob diese Teile Kandidaten dafür sind, Teile des Individuums zu sein. Näher betrachtet ist aber das Kriterium des Zusammenpassens weder ein hinreichendes noch ein notwendiges Kriterium. Hinreichend ist es (jedenfalls ohne weitere Präzisierung) deshalb nicht, weil zumindest im Prinzip Teile untereinander zusammenpassen können, die in ihrer Verbindung nicht mit anderen Teilen oder Verbindungen von Teilen zusammenpassen, wie auch deshalb nicht, weil im Prinzip bestimmte Teile zusammenpassen können, ohne daß sie plausiblerweise als Teile des Individuums angesehen werden könnten. Notwendig ist das Kriterium insofern nicht, als aus einem Nicht-Zusammenpassen zweier Teile nicht geschlossen werden darf, daß beide nicht Teile des Individuums sind. Wir benötigen für die Bestimmung der Zugehörigkeit gegebener Teile zu einem gegebenen Individuum ein präziseres Kriterium. Für die Ermittlung dieses Zugehörigkeitskriteriums ist es zweckmäßig, die Frage zu wechseln, nämlich von der Frage »gehört ein gegebener Teil zu einem gegebenen Organismus?« überzugehen zur Frage »was trägt das Vorhandensein einer bestimmten Aktivität oder die Aktualisierung einer gegebenen Disposition für einen Organismus aus?«. Die erste Frage zielt auf das bloße Sich-Einfügen eines Teils (einer Disposition, einer Aktivität) ab. Die zweite Frage zielt auf den Grund des Sich-Einfügens des Teils ab, nämlich darauf, welche Funktion der Teil innerhalb des Gefüges, dessen Teil er sein soll, für dieses Gefüge hat. Diese Funktion ist zunächst eine unmittelbare, etwa für ein Herz Blut zu pumpen. D o c h auch diese unmittelbare Funktion ist nur deshalb eine Funktion, weil durch die Ausübung dieser Funktion das Vorliegen jener Eigenschaft zustande kommt, die für das Bestehen des Organismus als Individuum notwendig und hinreichend ist, nämlich das Vorliegen von Selbständigkeit. N u r wenn wir
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10. Die Einheit des Individuums
Individuen als Funktionsgefüge auffassen, verstehen wir, weshalb und wie die Teile zum Individuum gehören, und wir verstehen nur dann, was es heißt, daß Individuen Funktionsgefüge sind, wenn wir die Funktionen der Teile darin sehen, daß sie ihren jeweiligen Beitrag zur Selbständigkeit des Individuums erbringen. Die Behandlung der Frage nach dem Austrag des Vorhandenseins bestimmter Aktivitäten ist zugleich die Behandlung der Frage, wie sich scheinbar »überflüssige« Aktivitäten als Aktivitäten eines Individuums integrieren lassen. Diesen, d. h. den nicht-lebensnotwendigen Aktivitäten (und den entsprechenden Teilen, Dispositionen oder Fähigkeiten) gilt auch in diesem Abschnitt wieder das Hauptaugenmerk, und zwar nur deshalb, weil sie die schwieriger zu integrierenden Fälle bilden. Diese Fokussierung scheint mit einer Verlagerung des diskutierten Bereichs von Individuen auf den Bereich des Menschen verbunden zu sein. Doch diese scheinbare Verschiebung ist nur dem Umstand geschuldet, daß es im Fall des Menschen offensichtlich ist, daß wir es mit einer größeren Zahl solcher nicht-lebensnotwendigen Aktivitäten zu tun haben. Mit dieser Beobachtung ist aber nichts Negatives gesagt (und soll nichts Negatives gesagt sein) über die Individuität nicht-menschlicher Lebewesen. Mit Blick auf die nicht-lebensnotwendigen Teile und Aktivitäten stelle ich im ersten Abschnitt zunächst das Problem dar, das sich für die Individuität mit der Frage der Integration solcher Teile und Aktivitäten ergibt (10.2.1). Im zweiten Abschnitt stelle ich drei Fälle dar, in denen die Aktualisierung von Dispositionen, die zu nicht-lebensnotwendigen Aktivitäten führt, für die Individuität relevant ist (10.2.2). Im dritten Abschnitt erörtere ich die Frage, was die Perspektivenerweiterung, die sich aus jenen Aktivitäten ergibt, für die Individuität austrägt. Der Austrag wird hier darin bestehen, daß die Erweiterung es dem Besitzer der Perspektive ermöglicht, sich in ein aktiveres, unabhängigeres Verhältnis zur Welt zu setzen (10.2.3). Im vierten Abschnitt gehe ich - einen Schritt zurücktretend und in Uberleitung zu den nächsten, problematischen Teilen des Kapitels - auf die Frage ein, wie es denn allgemein zu verstehen sei, daß etwas Selbständiges unter Wahrung der kausalen Geschlossenheit existiere. Der Punkt wird sein, daß sich das Selbständige als etwas bestimmtes Ganzes in ein Verhältnis zur Welt setzt (10.2.4). Im fünften Abschnitt komme ich schließlich auf das Verhältnis von Selbständigkeits- und Einheitsbeitrag zu sprechen (10.2.5), und zwar deshalb, weil die Frage nach der Einheit des Individuums Priorität besitzen sollte, mit der Erörterung des Selbständigkeitsbeitrags aber der Eindruck entstehen könnte, es gehe zuerst um Selbständigkeit.
10.2 Selbständigkeitsbeitrag als Zugehörigkeitskriterium
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10.2.1 Das Problem der Integration »überflüssiger« Teile Betrachten wir nun etwa den Fall eines Individuums, das die Dispositionen dv ..., d1Q besitzt, von denen aber nur dv d2 und d} aktualisiert werden. Die daraus resultierenden Aktivitäten φ, χ und ψ, so sei weiter angenommen, hängen zusammen und bilden ein persistierendes Aktivitätsgefüge. Weshalb sollten dann die übrigen Dispositionen aktualisiert werden, und weshalb sollten die entsprechenden Aktualisierungen als Teile des Individuums angesehen werden? Die Frage nach der Notwendigkeit der Aktualisierung für die Individuität läßt sich weiter zuspitzen. Angenommen, zumindest bestimmte Pflanzen seien Individuen, und angenommen, es wäre sinnvoll zu sagen, Pflanzen und Menschen hätten Dispositionen bestimmter Typen gemein, nämlich so, daß der Mensch alle Dispositionen der Pflanze besitzt (entsprechend etwa der aristotelischen Vorstellung vom auxetikon,phytikon oder threptikon): Weshalb sollte Individuität im Fall des Menschen nicht auch schon mit der Aktualisierung dieser Dispositionen gegeben sein? Oder es sei, wenn man will, eine entsprechende Gemeinsamkeit zwischen Dispositionen des Menschen und Dispositionen bestimmter Arten von Tieren angenommen (dies schließe etwa Dispositionen der Wahrnehmung, der Instinkte oder sonstiger elementarer Uberlebensmechanismen ein): Weshalb sollte für den Menschen nicht schon mit der Aktualisierung dieser Dispositionen Individuität gegeben sein? Welche Rolle können nicht-lebenswichtige Aktivitäten für die Individuität spielen? Was ist das »Mehr«, das durch diese Aktivitäten hinzukommt? Wozu sollte jemand, der die Fertigkeit dafür besitzt, Klavier spielen, während jemand, der die Fertigkeit nicht besitzt, gleichwohl ein Individuum ist oder sein kann? Inwiefern trägt Klavierspielen zur Einheit bei? Zunächst scheint es, als ob solche nicht-lebensnotwendigen Dispositionen bzw. Aktivitäten auf zweierlei Weise Teil des Individuums sein könnten. Zum einen könnten die in Frage stehenden Dispositionen bzw. ihre Aktualisierungen als »anstückbar« erscheinen. In diesem Fall ließen sie sich dem Kern, der aus lebenswichtigen Dispositionen bzw. Aktualisierungen besteht, hinzufügen, und zwar auf solche Weise, daß das entstehende größere Dispositionsbündel wiederum ein Individuum ist. Zum anderen könnten die in Frage stehenden Dispositionen und Aktualisierungen von solcher Art sein, daß durch sie die Einheit des Individuums erst gebildet wird. Beide Auffassungen wären, zumindest in dieser schlichten Form, jedoch problematisch. Der erste Fall ist problematisch, weil hier ein »größeres« Individuum ein »kleineres« Individuum als echten Teil hätte. Da Individuen aber nur abgeschlossene oder selbständige Entitäten sein können, kann tatsächlich eines von beiden »Individuen« kein Individuum sein: Entweder gehörten die zusätzlichen
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10. Die Einheit des Individuums
Teile nicht wirklich zu ihm, was unplausibel wäre, da dann eben nicht-lebenswichtige Dispositionen und Aktivitäten kein Teil des Individuums wären, dem sie doch zugeordnet werden. Oder es ist erst das »größere« Individuum ein Individuum, welches dann auch nicht-lebenswichtige Dispositionen und Aktivitäten umfaßte. Dies wäre der zweite oben angeführte Fall. Dieser zweite Fall ist wiederum aus anderen Gründen problematisch. Obwohl Arten in der vorliegenden Untersuchung keine prioritäre ontologische Funktion erhalten sollten, scheint folgender Fall dennoch unplausibel zu sein: Wenn wir zwei artgleiche Individuen α und b betrachten, von denen α alle Dispositionen besitzt, die b besitzt, und zusätzlich noch eine nicht-lebenswichtige Disposition dx besitzt, die b nicht besitzt, so wäre b ohne diese Disposition Individuum, α hingegen nur mit ihr. Das aber ist unplausibel. Und dennoch ist dieser Fall der Dispositionen-Differenz ein Fall, der auch durch eine nicht-artbezogene Individuitätskonzeption erfaßt werden muß. Dies nicht deshalb, weil jedes Lebewesen mit allen »seinen« Dispositionen oder Aktivitäten uneingeschränkt ein Individuum wäre - was anzunehmen ja etwa im Fall des Leontios nicht oder nicht ohne weiteres plausibel wäre. Vielmehr soll die Individuitätskonzeption solche unterschiedlichen Fälle wie den von a und b erfassen, die sich nicht durch Inkonsistenzen, wie sie im Fall des Leontios vorliegen, auszeichnen und die auch nicht durch »Lücken« oder »Mängel« gekennzeichnet sind. Fälle wie α und b müssen erfaßt werden, wenn ein artunabhängiger Individuitätsbegriff entwickelt werden soll, der dem Umstand gerecht wird, daß nur wenige Entitäten - wenn überhaupt irgendwelche - genau die gleichen intrinsischen Eigenschaften aufweisen und daß also, wenn es sinnvoll sein soll, von »Individuen« zu sprechen, Individuen auch dann entsprechende Unterschiede im Vergleich miteinander besitzen können müssen, wenn wir sie ein und derselben Art zuordnen. Die gesuchte Erläuterung muß zwei Perspektiven berücksichtigen, nämlich eine Innen- und eine Außenperspektive. Die Innenperspektive, auf die ich zum Teil oben bereits eingegangen bin,4 betrifft die Kohärenz der Teile des Individuums. Die Außenperspektive, auf die nun näher einzugehen ist, betrifft das Verhältnis des Individuums zur Außenwelt. Sofern es eine für das Individuum relevante Außenwelt gibt, sind beide Perspektiven für seine Individuität von Belang und beide Perspektiven müssen ihrerseits in einem Zusammenhang miteinander stehen.
4
Siehe oben 10.1; siehe ferner unten 10.2.5.
10.2 Selbständigkeitsbeitrag als Zugehörigkeitskriterium
227
10.2.2 Die Integration »überflüssiger« Teile: Selbständigkeit durch Perspektivenbildung Im folgenden erörtere ich drei Fälle, in denen die Aktualisierung entsprechender Dispositionen relevant für die Individuität ist. Im ersten Fall geht es um Aktualisierungen, die zu Perspektivenerweiterungen führen, indem sie relevante Strukturen sichtbar machen (1). Im zweiten Fall geht es um entsprechende Perspektivenerweiterungen durch aktive Beschäftigung mit relevanten Strukturen (2). Im dritten Fall schließlich geht es um entsprechende Perspektivenerweiterungen durch praktische Aktivität (im engeren Sinn) (3). (1) Eine Erklärung, wie sich die entsprechenden nicht-lebensnotwendigen Dispositionen und ihre Aktualisierungen integrieren lassen, kann unter anderem von einer Erklärung davon ausgehen, worum es sich bei der jeweiligen Fertigkeit handelt, das heißt davon, zu erklären, was diese Fertigkeit »für« das Individuum ist. Sehen wir uns als Beispiel den Fall der Aktivität des Klavierspielens an. Vermutlich sind es verschiedene Gründe, derentwegen wir Klavier spielen, und insofern kann Klavierspielen je Verschiedenes »für uns« sein. Diese U n t e r schiede können zudem diachron für einen einzelnen Menschen wie für verschiedene miteinander verglichene Menschen bestehen. Das ist aber unproblematisch, da in diesem Fall Klavierspielen eben verschiedene Funktionen übernimmt. In vielen Fällen wird Klavierspielen vielleicht etwas mit Freude zu tun haben, etwa Freude an abstrakter Struktur und deren Hervorbringung oder an Ausdruck von »emotionalem Gehalt« oder auch - ein spezieller Fall - an spieltechnischer Koordination. Diese Fälle überlagern sich zum Teil etwa mit jenen Fällen, in denen der Zweck des Spielens im Ausgleich, der Erholung oder Ablenkung besteht. D a Klavierspielen sich zudem nicht auf den M o m e n t des tatsächlichen Spielens beschränkt, sondern »im Kopf« gespeichert wird - etwa indem bestimmte spieltechnische Kombinationen oder bestimmte Tonfolgen oder -kombinationen gespeichert oder auch aktiv »im K o p f « durchgespielt werden
ist die Funktion, die es hat, auch nicht auf die unmittelbare Dauer
des Spielens beschränkt. Worauf es ankommt, ist das bleibende, stets neu abrufbare, oder sich aufdrängende, Gewahrsein etwa der Struktur oder des emotionalen Gehalts der Musik. Dieses Gewahrsein hat nun aber zur Folge, daß die sonstige Wahrnehmung der Welt in einer bestimmten Weise modifiziert oder »gefärbt«, d. h. in eine bestimmte Perspektive gesetzt wird. 5 Die Welt, in
5
Vgl. Kant, Anthropologie, AA VII, 173.33-174.13, wonach wahrgenommene, an sich bedeutungslose Bewegungen ζ. B. eines Kaminfeuers oder eines Baches die Einbildungskraft beleben und ihr eine bestimmte Art von Vorstellungen vermitteln. Ebenso solle Musik den Nicht-Kenner in eine Stimmung versetzen können, die ihm in einer
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10. Die Einheit des Individuums
dem uns zugänglichen bzw. von uns gewählten Ausschnitt, erscheint anders. Es geht um eine Veränderung der Zuordnung der subjektiven Gewichtungen. Ein wesentlicher Aspekt dieses auf solche Weise gewonnenen und geformten Zugriffs auf die Welt ist das Gewahrsein der vorhandenen Wahrnehmung. Für das gegenwärtige Vorhaben spielt es dabei keine Rolle, Lebewesen welcher Arten wir ein solches Gewahrsein zuzusprechen bereit sind. Relevant ist nur, daß es Fälle solchen Gewahrseins gibt. Dieses Gewahrsein ermöglicht die Ordnung der Wahrnehmung, d. h. das Inbeziehungsetzen von Wahrnehmungen, darüber hinaus aber auch von Einstellungen, von Wünschen etc. Es versetzt in die Lage, in gewisser Hinsicht Gründe und Ursachen der eigenen Wahrnehmungen (etc.) zu erkennen und sie zu ordnen und zu steuern. Es ermöglicht im Idealfall ein integriertes Bild der Welt, des Individuums selbst und des Verhältnisses des Individuums zur Welt. Im Fall des Gewahrseins ist der Grad des den Wahrnehmungsinhalten Ausgeliefertseins geringer als im Fall des NichtGewahrseins. Nicht-lebensnotwendige Aktivitäten, oder zumindest einige von ihnen, haben also mit Blick auf das Individuum unter anderem die Funktion, bestimmte Perspektiven erzeugen oder verstärken zu helfen, indem sie etwa bestimmte Dinge, Strukturen oder Sachverhalte sichtbarer machen, dadurch andere in den Hintergrund treten lassen und so insgesamt zu Gewichtungen des Wahrgenommenen führen. Das Gewahrsein dieser Wahrnehmungen ermöglicht wiederum die reflektierte Ordnung der Wahrnehmungen und der daraus resultierenden Wünsche und Einstellungen. Kurz: Jene Aktivitäten können zu einer handlungs- und einstellungsrelevanten Öffnung und Ordnung von Perspektiven führen. Ähnliches gilt für eher rezeptive Tätigkeiten wie etwa für bewußtes oder auch aufmerksames Zuhören bei Musik. 6 Es gilt ebenso für andere Aktivitäten, seien es eher aktive oder eher rezeptive. So lassen sich auch für den Fall ζ. B. sportlicher Aktivitäten ähnliche Beobachtungen anstellen - hier kommt es möglicherweise auf bestimmte Bewegungsabläufe, ein bestimmtes Körpergefühl
besonderen Weise das Verfolgen bestimmter Gedanken ermögliche. (Dies deshalb, so Kant, weil die Aufmerksamkeit von bestimmten sinnenfälligen Gegenständen abgezogen werde.) 6
Damit soll nicht behauptet sein, daß jeder Fall von Rezeption ζ. B. von Musik eine Horizonterweiterung impliziere. Das ist sicher nicht der Fall. (Zu berücksichtigen wäre ferner jener Fall, in dem Musikrezeption nicht einer Horizonterweiterung im angegebenen Sinn dient, es aber gerade auch beabsichtigt ist, daß sie dies nicht tut.) Oben soll nur behauptet werden, daß eine Perspektivenveränderung, die eine Perspektivenerweiterung ist, in bestimmten Rezeptionsfällen möglich ist.
10.2 Selbständigkeitsbeitrag als Zugehörigkeitskriterium
229
oder bestimmte Nachwirkungen an, gegebenenfalls aber auch auf die mit einem Sieg oder die mit sozialer Aktivität verbundene Selbstwahrnehmung. Auch hier stellen sich die Welt und das Individuum dem Individuum in einer bestimmten Weise dar, und diese Darstellung überdauert gegebenenfalls die Dauer der sportlichen Aktivität und ist, von gesundheitsrelevanten Wirkungen abgesehen, in vielfältiger Hinsicht handlungswirksam. Beispiele wie das Klavierspielen oder die sportliche Aktivität betreffen zunächst verschiedenartige psychologische, nicht ontologische Fakten. Gleichwohl sind diese Fakten auch ontologisch relevant: D e r psychologische Zustand eines Lebewesens ist selbst auch ein ontologisches Faktum, nämlich insofern, als es ihn gibt. D i e Relevanz für das Gefüge, das das Individuum ist, zeigt sich darin, daß die jeweiligen Perspektiven Verhaltens- und handlungswirksam sind. Sie betreffen das Verhältnis des Individuums zur U m w e l t unmittelbar. E i n Individuum, das mentaler Zustände fähig ist, würde nicht durch einen Begriff des Individuums erfaßt, der jene Zustände nicht mit erfaßt. (2) Perspektive läßt sich durch nicht-lebensnotwendige Aktivitäten nun allerdings auch auf andere Weise gewinnen, nämlich etwa durch eine direkte Beschäftigung mit den Strukturen der Welt als solchen bzw. mit Teilbereichen solcher Strukturen. Dies gilt für wissenschaftliche Tätigkeit, wenn ihr Gegenstand hinreichend umfassend gewählt ist, aber auch für bestimmte kreative künstlerische und literarische Aktivität und - in Überschneidung mit dem vorigen Fall - deren Rezeption. 7 Bei all diesen Aktivitäten geht es, in je verschiedener Weise, um einen Bezug zu Strukturen der Welt. 8 Diese Aktivitäten öffnen und erweitern als Zugriff auf die Strukturen der Welt jedoch nur dann
7
Je nach Gegenstand und Zugang dazu kann die Rezeption ζ. B. eines musischen oder eines literarischen Werks Perspektivenveränderung durch Färbung oder durch Struktur-Vermittlung veranlassen. Für den Fall des Musikwerks hängt dies davon ab, ob jemand eher analytischer oder eher emotionaler Hörer ist. Man vergleiche die Verschiedenheit des Zugangs, den man etwa zu Bachs Ciaccona aus der d-Moll-Partita haben kann, die hier als Beispiel besonders gut geeignet ist: Die Möglichkeit eines emotionalen Zugangs erschließt sich unmittelbar, während sich der analytische Zugang etwa auf die bloße musikalische Struktur des Werks beziehen kann (ohne daß es dabei schon um Zahlensymbolik oder um eine auf andere Weise eingewobene Weitsicht des Komponisten gehen müßte; zu letzterem s. Thoene 2003). Besondere und bekannte Beispiele für Strukturvermittlungen im Fall eines literarischen Werks finden sich vielfältig in Prousts Recherche. Und auch Filme können offenbar, erweiternd oder verengend, auf sehr verschiedene Weise Perspektivenveränderung bewirken - ebenso wie auch etwa, in erweiternder Hinsicht, Gemälde.
8
Zu diesen Aktivitäten ist natürlich auch mathematische Aktivität zu rechnen: Auch sie weist - bei aller Abstraktheit ihres Gegenstands - einen Bezug zur Welt auf.
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10. Die Einheit des Individuums
auch Perspektiven, wenn die gewonnene Perspektive in subjektiv nachvollziehbarer Weise mit der sonstigen Welt-Perspektive desjenigen, um dessen Aktivitäten es geht, verbunden ist. Anderenfalls handelt es sich bei dem Zugriff auf neue Strukturen nur um Versatzstücke. (3) Die Erwähnung kreativer Aktivität führt zu einem weiteren Bereich von nicht-lebensnotwendigen Aktivitäten, deren Ausführung wieder in anderer Hinsicht Perspektive vermittelt und uns in ein Verhältnis zur Welt setzt, nämlich dem Bereich, zu dem etwa handwerkliche Aktivitäten, aber auch Aktivitäten des Umgangs mit Gegenständen der Natur gehören. Hier versetzen wir uns durch den praktischen U m g a n g mit der Welt in ein Verhältnis zu ihr. A u c h hier muß der Akteur die entsprechende Aktivität in ein Gesamtgefüge seiner Aktivitäten einordnen können, da es sich anderenfalls lediglich um ein Versatzstück von Aktivität handelt. Wie diese Einordnung vorgenommen wird, ist eine andere Frage. E s scheint jedenfalls möglich, daß Einheit der Aktivitäten schon dann vorliegt, wenn es sich dem Akteur zeigt, daß die Aktivitäten ein Ganzes bilden. D a f ü r ist es nicht nötig, daß der Akteur eine Theorie dieser Einheit besitzt.
10.2.3 Relevanz der Perspektive für die Individuität Worin besteht nun aber der Austrag der neu gewonnenen Perspektive oder des theoretischen oder praktischen Zugriffs auf die Welt für die Individuität? E s ist schließlich eine Sache, etwa die Horizonterweiterung durch bestimmte Aktivitäten festzustellen. E s ist eine andere Sache, diese Horizonterweiterung in Verbindung mit Individuität zu bringen. Alles Gewahrsein der Welt oder des Individuums selbst ist für sich genommen, so scheint es, kein Garant für die Unteilbarkeit des Individuums. Eine mögliche Antwort besteht aus mehreren Schritten. D e r erste Schritt besteht in der Annahme der Möglichkeit der Einheit des Bewußtseins, und genauer: in der Annahme der möglichen Ordnung der Wahrnehmungen und Einstellungen, des Bewußtseins dieser Ordnung und der Fähigkeit zur Herstellung, Erhaltung oder Veränderung der Ordnung. Die Erklärung der Verknüpfung der Wahrnehmungen und Einstellungen zu einer O r d n u n g des Bewußtseins ist nicht mehr Aufgabe der Ontologie. Für sie genügt es, die Möglichkeit der Kohärenz unserer Erfahrung anzunehmen. Der zweite Schritt besteht in der Annahme der Möglichkeit der Einheit des handelnden Subjekts. D a s handelnde Subjekt zeichnet sich dadurch aus, daß seine Handlungen in Beziehung zueinander stehen oder stehen können und daß das Subjekt sie in diese Beziehung setzt oder setzen kann. N u r wenn die
10.2 Selbständigkeitsbeitrag als Zugehörigkeitskriterium
231
Handlungen in einer Beziehung stehen, die tatsächlich eine Einheit bildet, können es die Handlungen eines Individuums sein. Im Fall tatsächlich fehlender Einheit haben wir es allenfalls mit mehreren handelnden »Teil-Subjekten« zu tun. A u c h dies ist nicht zuerst eine ontologische These, sondern ein Befund, der Phänomene betrifft, die dem Bereich der Psychologie und dem der H a n d lungstheorie zuzuordnen und dort zu erklären sind. F ü r den vorliegenden Z w e c k genügt es auch hier wieder, festzuhalten, daß es Entitäten gibt, die jene K o h ä r e n z aufweisen, und daß das Vorliegen jener Kohärenz einen für das jeweilige Gefüge relevanten Unterschied für sein Verhältnis zur Welt macht. D e r entscheidende Schritt ist der dritte. D i e Erweiterung der eigenen Perspektive, deretwegen die in Frage stehenden nicht-lebensnotwendigen Dispositionen aktualisiert werden sollen, ermöglicht unter »normalen« Bedingungen zunächst, Fremdbestimmungen als solche zu erkennen und ihnen zu begegnen. Was einem zu widerfahren scheint, muß nicht in jedem Fall als Widerfahrnis akzeptiert werden. Die Perspektivenerweiterung ist damit zugleich - auf der Grundlage der Einheit des Bewußtseins und der Einheit des handelnden Subjekts - eine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten. Das Gewahrsein dieser Erweiterung ist insofern relevant, als der Handelnde dessen gewahr ist, daß er es ist, der diese weiteren Möglichkeiten hat. D e r wichtige Punkt hierbei ist, daß es nicht zuerst um eine Alternative geht wie die, daß man, statt φ zu tun, φ auch nicht tun könnte, oder wie die, daß man statt φ auch χ tun könnte. Vielmehr geht es darum, Horizonte zu öffnen, zu erweitern oder zu verschieben, das heißt darum, die Alternative φ oder nicht-φ oder die Alternative φ oder χ in erweiterte, vielschichtig strukturierte handlungsrelevante Kontexte einzubetten. Auf diese Weise wird ein gewisses Maß an Unabhängigkeit oder Selbständigkeit hinzugewonnen. Mit der Perspektive erweitert sich für das Individuum die Möglichkeit, in ein bewußtes und gesteuertes Verhältnis zur Welt zu treten. Es erhält die Möglichkeit, seinen eigenen O r t in der Welt und die Möglichkeiten, die mit diesem O r t verbunden sind, zu sehen. U n d dies zu leisten, nämlich die Perspektive zu schaffen und zu nutzen, ist die wesentliche Funktion nicht-lebensnotwendiger Aktivitäten für das Individuum, dessen Aktivitäten sie sind. Zwei Einwände könnten sich hier ergeben. Zum einen der Einwand, daß gerade auch enge, weniger umfassende Perspektiven sehr stabil sein können. A u c h in solche Perspektiven ließen sich, so der Einwand, mentale Gehalte kohärent einordnen. Weshalb sollten also bestimmte mentale Dispositionen so aktualisiert werden, daß die Erweiterung der Gesamtheit mentaler Gehalte zu einer umfassenderen Perspektive führt? Hierauf ist zu erwidern, daß sich die Bedeutung der Rede von der Einheit des Bewußtseins nicht darin erschöpft, daß vorhandene mentale Gehalte nur
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10. Die Einheit des Individuums
zusammenpassen und in logisch konsistenter Beziehung zueinander stehen. Vielmehr geht es mit Blick auf die Perspektive darum, daß das Subjekt, das mit Bewußtsein versehen ist, versteht, weshalb es welche mentalen Gehalte und die jeweiligen Einstellungen zu ihnen hat und gehabt hat, wie es zu einer eventuell gegebenen Veränderung der Gehalte und Einstellungen gekommen ist und, unter Umständen, zu welchen solchen Veränderungen es kommen könnte. Das heißt, die üblichen Standards subjektiver Rationalität müssen erfüllt sein. Die entsprechenden Begründungszusammenhänge können der Sache nach verschieden umfassend sein. Das heißt aber nur, daß die Einheit der Gesamtheit mentaler Gehalte in verschiedenen Graden vorliegen kann. Es heißt nicht, daß Einheit vollständig schon bei »dünner« Kohärenz gegeben wäre. Mit Blick auf die Steigerbarkeit der Einheit ist es nicht beliebig, wo die Perspektivenbildung aufhört. Bei einer sehr umfassenden Perspektive werden sich zudem wohl weniger Änderungen ergeben als bei einer weniger umfassenden Perspektive. Die Perspektive wird stabiler sein. Sie wird einen festeren Stand auch im Verhältnis zur Welt ermöglichen. Als zweiten könnte man den Einwand erheben, daß Individuität den Vorgaben nach doch nicht über das Außenverhältnis des Individuums bestimmt werden sollte: Dann aber sollte auch die Frage, weshalb mentale Dispositionen zu aktualisieren sind, nicht unter Bezug auf das Außenverhältnis beantwortet werden müssen. Offenbar ist es nicht ganz leicht, einen entsprechenden Fall zu konstruieren. Doch könnte man sich etwa eine spinozistische Substanz bestimmter Art vorstellen, die auch in ihren mentalen Gehalten nicht auf eine Außenwelt verwiesen ist: Weshalb sollten in diesem Fall mentale Dispositionen aktualisiert werden? Eine Antwort könnte in die Richtung gehen, daß durch mentale Aktivität die Einheit der Substanz erst zustande kommt oder - bei Vorliegen eines materiellen Substrats - erhöht wird. Einheit setzte dann eine kohärente Verbindung mentaler Gehalte voraus. Zu aktualisieren wären alle mentalen Gehalte, die jene Einheit unterstützen oder erhöhen. Vermutlich wäre für die Bildung der Kohärenz wiederum eine umfassende Perspektive erforderlich (und zwar hier eine umfassende Innenperspektive). Das Individuum wäre darauf angewiesen, daß die mentalen Teile umfassend zu jener Perspektive beitragen - dazu beizutragen wäre ihre Funktion. Wiewohl das Modell ganz spekulativ ist, hat es doch den Nutzen, die Notwendigkeit der Kohärenz der mentalen Gehalte zu unterstreichen. Offenbar wäre es aber nicht hilfreich, die weiteren Erörterungen auf dieses Modell zu beschränken. So weit die Erörterung der Einwände. 9
9
Siehe auch unten 10.2.5.
10.2 Selbständigkeitsbeitrag als Zugehörigkeitskriterium
233
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Perspektivenveränderung hilft, ihren Besitzer »unabhängiger« zu machen. Sie tut dies, indem sie ihn in einen Zustand versetzt, in dem er Handlungsoptionen gegenüber vergangenen, gegenwärtigen oder künftigen Ereignissen hinzugewinnt. Die jeweils relevante Veränderung gegeben, muß er nicht mehr in einer bestimmten Weise reagieren und verliert insofern bestimmte Abhängigkeiten. Die Perspektivenveränderung hebt die Unmittelbarkeit auf und setzt ihn in ein anderes Verhältnis zu seiner Umgebung, nämlich in ein solches Verhältnis, in dem er die Möglichkeit hat, Handelnder zu sein.
10.2.4 Selbständigkeit und kausale Geschlossenheit Durch die entsprechende Perspektivenerweiterung gewinnen wir an Selbständigkeit. Jedoch geht es nur um einen Zugewinn an Selbständigkeit: In einem gewissen Maß liegt Selbständigkeit, und damit Individuität, bei jedem Selbstorganisierer schon vor. Der Determinismus-Einwand, der hier erhoben werden könnte, ist schon oben aufgenommen worden (siehe oben 5.1.3.3). Dort wurde zwischen interner und externer Determiniertheit unterschieden. Für die Annahme von Selbständigkeit genügt es nun, daß ein Selbstorganisierer nicht vollständig extern determiniert ist. Ob er intern vollständig determiniert ist oder nicht, spielt für die Zuschreibung von Selbständigkeit insofern keine Rolle, als es im Fall interner Determiniertheit nicht etwas von ihm Verschiedenes ist, wodurch er determiniert würde. Doch die hier angenommene Vereinbarkeit von kausaler Geschlossenheit des Physischen, der Offenheit eines Systems und seiner Abgeschlossenheit und Selbständigkeit bedarf näherer Erläuterung. Denn, so könnte eingewandt werden, es trifft doch einfach nicht zu, daß Organismen, die offene Systeme sind, abgeschlossen sind, und wenn sie nicht abgeschlossen sind, Abgeschlossenheit aber Voraussetzung für Selbständigkeit ist, dann sind Organismen auch nicht selbständig. Organismen stehen in ständigem Kontakt mit ihrer Umwelt, und sie stehen unter ihrem ständigen Einfluß. Kein Organismus kann sich dieser Umwelt entziehen, und vieles, wenn nicht alles, von dem, was ein Organismus tut, ist als Reaktion auf diese Umwelteinflüsse und als Auseinandersetzung mit ihnen zu verstehen. Organismen sind tatsächlich nichts anderes als Teile dieser Umwelt. Es gibt keine Kausalitätsinseln, sondern nur umfassende Kausalitätsgeflechte, und diese Geflechte sind von solcher Art, daß die Unabgeschlossenheit des Organismus nicht nur dann vorliegt, wenn der Organismus wie eine Billard-Kugel angestoßen würde und sein Determiniertsein auf solche Weise zeigte. So der Einwand.
10. Die Einheit des Individuums
234
Die Rede von »Abgeschlossenheit« und von »Selbständigkeit« - so ließe sich eine Erwiderung beginnen - ist nun aber nicht so zu verstehen, als impliziere sie die Annahme strikter Getrenntheit oder Isoliertheit des Organismus gegenüber einer gegebenen Umwelt. »Abgeschlossenheit« heißt vielmehr, daß der Organismus nicht oder nicht beliebig ergänzbar ist, daß er als Organismus nicht teilbar ist, daß er sich nicht, im Unterschied etwa zu einem Wassertropfen, in Gleichem auflösen oder in Gleiches teilen kann und auch daß er nicht, im Unterschied etwa zu einander begegnenden Wellen, durch einen anderen Organismus hindurchlaufen kann. »Abgeschlossenheit« heißt nicht, daß der Organismus keine externen Reize aufnähme, sondern heißt, daß er in bestimmter Weise mit diesen Reizen umgehen kann. Abgeschlossenheit ist gerade die Voraussetzung dafür, daß der Organismus bei aller Offenheit, die er als offenes System aufweist, im Umgang mit der Umwelt seine Struktur bewahren oder sie gegebenenfalls selbst verändern kann. »Abgeschlossenheit« bezieht sich auf die strukturelle Verfassung des Organismus, die diese Bewahrung und Eigenständigkeit ermöglicht. V o n »Selbständigkeit« sprechen wir, wenn der Organismus, dank seiner Abgeschlossenheit, in einem aktiven Verhältnis zur Welt steht, das heißt in einem Verhältnis, in dem er im Rahmen des ihm Möglichen über die U m w e l t in für ihn relevanten Hinsichten verfügen kann. G a n z traditionell verstanden, ist diese Verfügungsfähigkeit zumindest dort gegeben, w o der Organismus Unterscheidungsfähigkeit besitzt und sich zu dem von ihm Unterschiedenen positiv oder negativ verhalten kann. 1 0
10 Man könnte die Formulierung »aktives Verhältnis zur Welt« und die gleich folgende Formulierung »Sich-zur-Welt-in-Beziehung-setzen-Können« mit Wilsons Rede von »agents« verknüpft sehen (vgl. sein Genes and the Agents of Life: The Individual in the Fragile Sciences: Biology, 2005). Wilson (ebd.: 6f.) zufolge ist ein agent »an individual entity that is a locus of causation or action. It is a source of differential action, a thing from which and through which causes operate.« Allerdings bezieht er in den Bereich der agents alles kausal Relevante mit ein (der Begriff des agent sei mit dem der Ursache verbunden, aber nicht mit ihm identisch): zum einen physical agents wie zum Beispiel Elementarteilchen, gewöhnliche sichtbare Gegenstände (Bälle, Tische etc.), aber auch tektonische Platten und Sterne; zum anderen biological agents wie zum Beispiel Proteine, Gene, Zellen, Organismen, Teilpopulationen, Spezies und Stämme; und schließlich social agents wie zum Beispiel einzelne Menschen, Gruppen, Institutionen und Netzwerke. Alle diese agents seien Individuen. Gegen die Verknüpfung von Wilsons dgeni-Begriff und meiner Konzeption des Organismus, der sich in ein Verhältnis zur Welt setzt, spricht nun aber gerade diese Beliebigkeit seiner agewi-Zusprechung und seine Annahme, alle diese agents seien Individuen. Vermutlich ist »Individuum« hier in einem (nicht näher präzisierten) weiten Sinn zu verstehen, da er sich an späterer Stelle immerhin gegen die These (von Ghiselin und Hull) ausspricht, Spezies seien Indivi-
10.2 Selbständigkeitsbeitrag als Zugehörigkeitskriterium
235
D e r Grund für dieses Sich-zur-Welt-in-Beziehung-setzen-Können liegt jedoch tiefer, und er erfaßt auch solche Lebewesen, die sich nicht durch diese Fähigkeit, sich selbst in ein Verhältnis zur Welt zu setzen, auszeichnen - oder nicht durch eine ausgeprägte solche Fähigkeit - , nämlich etwa auch Pflanzen oder niedere Tiere. W e n n die einzelne A m ö b e mit einem Gegenstand k o n frontiert wird, so wird dieser Gegenstand aufgenommen, wenn er zur A m ö b e , insofern sie ein Organismus ist, paßt. Kriterium dafür, ob der Gegenstand in dieser Weise zur A m ö b e paßt, ist die Selbsterhaltung der A m ö b e . Infolge ihrer Struktur, welche solcher Art ist, daß Selbsterhaltung stattfindet, bringt die A m ö b e sich selbst - als sich erhaltendes System, das über den Zeitpunkt oder Zeitraum der Konfrontation mit jenem Gegenstand hinaus existiert - im Verhältnis zum Gegenstand als etwas, das aufzunehmen oder nicht aufzunehmen ist, in der Situation der Aufnahmeentscheidung mit ein und setzt sich auf diese Weise in ein Verhältnis zu ihrer Umwelt. 1 1 Vergleichen wir damit ein einzelnes Molekül, das mit einem Gegenstand, ζ. B. einem anderen Molekül, konfrontiert wird. W e n n dieses Molekül mit jenem Gegenstand konfrontiert
duen (ebd.: 113-115). Des weiteren ist Wilsons Gebrauch von »action« nicht klar: agents sollen ihm zufolge nicht mit Ursachen identisch sein, Handlungen schrieben wir den meisten seiner agents aber ebenfalls nicht zu. Wodurch also zeichnet sich das Tun dieser agents aus? Für eine Besprechung von Wilson siehe Weber 2005. 11 Der Gedanke, daß ein Individuum insofern selbständig ist, als es als ein diachron Ganzes der Welt gegenübertritt, findet sich - in bezug auf die biologischen Teile bzw. Anlagen - etwa auch schon bei Hartmann. Die Selbständigkeit kommt ihm zufolge dadurch zustande, daß mit den Anlagen - d. h. nach heutigem Verständnis: dem genetischen Programm - »eine besondere aktive Autonomie des Gefüges selbst, kraft deren die Bedingungen des eigenen Fortbestehens immer wieder hergestellt werden«, begründet wird (Hartmann 1950: 549). Mit den Anlagen ist ein »geschlossener Ursachenkomplex« gegeben und somit ein »System von >DeterminantenGenen< ausgeht, bestimmt fortlaufend die Auslese derjenigen äußeren Ursachenmomente mit, die aus der jeweiligen Ganzheitsdetermination des Entwickelungsstadiums und aus seiner Wechselwirkung mit der umgebenden Welt in den Prozeß hineinspielen dürfen« (ebd.: 699). Dazu, daß hier - entgegen Hartmanns Ansicht - keine besondere Kausalitätskategorie vorliegt, siehe Morgenstern (1992: 156f.). Wichtig scheint mir, daß sich die Geschlossenheit des in Frage stehenden Systems (anders als Hartmann dies anzunehmen scheint) nicht eigentlich den Genen, sondern der spezifischen Struktur des Systems verdankt.
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10. Die Einheit des Individuums
wird, bringt sich das Molekül nicht als zu erhaltendes System im Verhältnis zum Gegenstand als einem Gegenstand ein, mit dem etwa eine Verbindung eingegangen werden kann oder nicht eingegangen werden kann. Bei dieser Konfrontation geht es ausschließlich darum, ob Molekül und Gegenstand physikalisch zusammenpassen oder nicht, es geht nicht um die Erhaltung des Moleküls als System. Insofern steht das Molekül, anders als die Amöbe, in keinem Selbständigkeitsverhältnis zu seiner Umwelt. D o c h könnte eingewandt werden, daß das Molekül ebensogut wie die Amöbe »entscheiden« kann, ob es einen Teil aufnimmt oder nicht: Wenn es für bestimmte Partikeln Platz hat, wird es sie aufnehmen, wenn aber nicht, dann nicht (oder nur unter Zwang). Die Struktur des Moleküls bestimmte demnach - ebenso wie in ihrem Fall die Amöbe - die Auf nahmeentscheidung. Tatsächlich aber bringt sich das Molekül in die Aufnahmeentscheidung gerade nicht als etwas diachron Ganzes ein: Nämlich insofern nicht, als es nicht bei ihm liegt, sich in einen bestimmten, strukturerhaltenden Zustand zurückzuversetzen. Die Amöbe hingegen ist als Selbsterhalterin dank ihrer Struktur auch auf die künftige Erhaltung ihrer Struktur bezogen. Als Besitzerin einer solchen Struktur bringt sie sich in der offensiven und defensiven Konfrontation mit der Welt als etwas diachron Ganzes ein: In dieser Konfrontation ist sie dank ihrer Struktur nur auf die Erhaltung der Struktur aus. Und sie würde auch nicht, insofern sie diese Struktur besitzt, in ein umfassenderes System eingebaut werden können - während dies dem Molekül gerade seiner Struktur wegen widerfahren kann. Dieser Unterschied zwischen Systemen, die sich in ein Verhältnis zur Welt setzen können, und solchen, die dies nicht können, wird auch dadurch nicht unterlaufen, daß auch im Fall der Systeme der ersten Art, nämlich der Lebewesen, physikalische Faktoren immer eine Rolle spielen. Worum es geht, ist vielmehr das, daß eine Beschreibung, die in einem gegebenen Verhältnis von Lebewesen und Umwelt nur die vorliegenden physikalischen Faktoren oder Beziehungen einer Situation erfaßt, in relevanter Hinsicht unvollständig ist. Diese Unvollständigkeit ist auch dann noch gegeben, wenn zusätzlich zur rein physikalischen auch noch die Reiz-Reaktions-Ebene jenes Verhältnisses mit erfaßt wird. Denn zumindest bestimmte Reiz-Reaktionen eines Lebewesens verstehen wir nur, wenn wir als das Reagierende das Lebewesen ansehen, das sich in der Reaktionssituation als sich erhaltendes System einbringt, nämlich insofern, als das Lebewesen sich selbst in ein Verhältnis zu jenen Reizen und den hervorgerufenen Körperreaktionen setzen kann. Abgeschlossenheit und Selbständigkeit stehen nicht im Gegensatz zur kausalen Geschlossenheit. N u r ist diese kausale Geschlossenheit im Fall eines Lebewesens als etwas Komplexeres zu beschreiben, und zwar insofern, als in diesem Fall infolge der Struktur des Lebewesens das System als etwas synchron
10.2 Selbständigkeitsbeitrag als Zugehörigkeitskriterium
237
und diachron Ganzes das kausal Relevante ist. Dies ist auch dann zu berücksichtigen, wenn man meint, es gebe nur mehr oder weniger umfassende Kausalgeflechte: Denn auch dann müßte man angeben, welche Rolle Organismen in diesen Geflechten spielen, wenn die Beschreibung der Phänomene nicht hinter den Phänomenen zurückbleiben soll.
10.2.5 Priorität der Einheit gegenüber der Selbständigkeit Der Ausgangsannahme nach sollte die Frage der Einheit des Individuums Priorität vor der Frage der Selbständigkeit des Individuums besitzen, und zwar deshalb, weil ein Individuum als solches nicht notwendigerweise vom Gegebensein einer Außenwelt abhängen soll und weil Selbständigkeit, sofern sie Selbständigkeit gegenüber einer Außenwelt ist, von der Einheit des Individuums abhängt. 12 Im - rein theoretischen - Fall völliger Unabhängigkeit eines Individuums von einer Außenwelt bestünde die Ausübung der Funktion der Teile (inklusive der mentalen Teile) nicht in ihrem Beitrag zur Selbständigkeit gegenüber jener Außenwelt, sondern in ihrem Beitrag zur Erhaltung und zur Einheit des Individuums. Doch wie verhält es sich im - faktisch gegebenen - Fall einer Außenperspektive? Erhalten die mentalen Dispositionen und Aktivitäten (wenn wir uns einmal auf diese Teile beschränken) hier nun eine andere Funktion, nämlich die Funktion, zur Selbständigkeit gegenüber der Außenwelt beizutragen? Wenn der Beitrag zur Einheit (entsprechend der Priorität der Frage der Einheit) tatsächlich Priorität vor dem Beitrag zur Selbständigkeit besäße, wäre es möglich - so ein eventueller Einwand - , daß mit der so gebildeten Einheit zwar größtmögliche Kohärenz vorliegt, daß aber, sofern es um den Bereich der darin enthaltenen mentalen Perspektive geht, diese Perspektive nichts mit der Welt zu tun hat. Dann aber - so der Einwand - wäre es zumindest dann plausibler anzunehmen, daß der Beitrag mentaler Aktivitäten doch der Selbständigkeit dienen muß, wenn das Individuum in einem eigenständigen Verhältnis zur vorhandenen Welt stehen können soll. Allerdings verwechselt dieser Einwand das, wie ein Teil - hier eine durch den mentalen Gehalt bestimmte Aktivität - zustande kommt, mit dem, was dieser Teil ist. Einheit kann nur Einheit von etwas sein, und das heißt für den Bereich des Mentalen: von mentalen Gehalten und Einstellungen dazu. Mentale
12 Siehe oben S. 232.
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10. Die Einheit des Individuums
Gehalte kommen in vielen Fällen durch perzeptive Aufnahme, Formung und Speicherung zustande. Die Einheit des Mentalen wird aus dem auf diese Weise Gewonnenen gebildet. Wenn ein Organismus nun in einem Verhältnis zur Welt steht, wird er sich mit seinen Wahrnehmungen auf diese Welt beziehen und aus ihnen perzeptive Gehalte gewinnen, sei es, daß er sich um diese Wahrnehmungen bemüht, sei es, daß er ihnen ausgesetzt ist. Je besser die perzeptiven und die darauf aufbauenden mentalen Gehalte geordnet sind, desto angemessener und kohärenter wird seine Perspektive in bezug auf die Welt sein und desto kontrollierter wird das Verhältnis sein, in das er zur Welt tritt. Die Einheit, die er im Bereich des Mentalen hier bildet, ist aber die Voraussetzung für die Perspektive und damit für die Selbständigkeit in diesem Bereich. Sie kann dies jedoch nur dann sein, wenn die Bildung der Einheit sich auf jene Gegenstände bezieht, die Gegenstände der Perspektive sein werden. Eine Einheit des Mentalen, die sich etwa auf halluzinatorische oder fiktionale Gegenstände bezieht, erfüllt diese Voraussetzung nicht. Eine Konkurrenz zwischen Einheitsbeitrag und Selbständigkeitsbeitrag liegt nicht vor.
10.3 Veränderung und Identität des Gefüges Mit der Hervorhebung der These, daß ein Organismus, der sich durch Einheit auszeichnet, etwas Selbständiges sei, erhalten wir Zugriff auf ein Problem, dem sich Individuationskonzeptionen mit Blick auf die Phänomene immer ausgesetzt sehen, nämlich das Problem der möglichen Veränderung von Individuen. Organismen verändern sich fortwährend. Manche Veränderungen bestehen in Wiederholungen oder Zyklen von Aktivitäten, andere bestehen in nur einmal auftretenden Aktivitäten. Manche Veränderungen sind vorübergehend, andere sind permanent, manche vollziehen sich in einem Augenblick, andere erstrecken sich über einen längeren Zeitraum oder sogar über das ganze Leben. Zu diesen Phänomenen muß eine Individuationskonzeption etwas zu sagen haben anderenfalls ist es keine Konzeption, die sich auf materielle Individuen bezieht. Ein Hauptproblem für die Individuation ist hier - dem Anschein nach - die diachrone Identität des sich ändernden Gefüges: Inwiefern handelt es sich bei einem entsprechend variierenden Gefüge zu verschiedenen Zeiten um ein und dasselbe Gefüge? Und wenn es nicht ein und dasselbe ist: Wie könnte dann die Rede von einem Individuum sein? Das Problem läßt sich auch von jenem extremen Fall her verdeutlichen, in dem ein Gefüge von Aktivitäten vorliegt, das von einem zum nächsten Zeitpunkt immer nur partielle Identität aufweist, und zwar so, daß nach einer Reihe von Zeitpunkten keine Aktivität desselben Typs mehr vorliegt wie zu Beginn des Vorliegens des Gefüges (so daß wir also
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einen Wechsel der für das Gefüge konstitutiven Eigenschaften etwa von F, G, Η über G, Η, I zu I, J, Κ erhalten). Hier handelt es sich - wenn wir alle relevanten Teile sich einem entsprechenden Wechsel unterziehen lassen - um einen Fall, den wir nicht ohne weiteres als Fall eines Individuums betrachten würden. W o ist dann aber nicht-willkürlich die Grenze der Variabilität eines Gefüges zu setzen? 13 Zwei Antworten scheinen sich nahezulegen. Zum einen könnte man ein empirisches Kriterium wählen, das angibt, in welchem Umfang Veränderung faktisch möglich ist (1). Zum anderen könnte man versuchen, eine Sortalbezogenheit von Individuen als Kriterium der Veränderbarkeit heranzuziehen (2). Ich gehe hier zunächst auf diese beiden Antwortversuche ein. Danach komme ich auf die Selbständigkeitserhaltung und -Unterstützung als dritten Antwortversuch zu sprechen (3). (1) Das empirische Kriterium ließe sich wie folgt entwickeln. Wenn wir mit Blick auf materielle Gegenstände von »Individuen« sprechen, beabsichtigen wir damit, bestimmte Strukturen in der Welt zu erfassen. Bei diesen Strukturen handelt es sich um solche Strukturen, denen auf phänomenaler Ebene wahrnehmbare Regelmäßigkeiten (nämlich Iterationen oder Kontinuen) entsprechen. Diese Regelmäßigkeiten sind nicht deshalb als Hinweise auf ontologisch relevante Strukturen von Belang, weil sie wahrnehmbar sind. Sie sind vielmehr deshalb von Belang, weil den entsprechenden Strukturen kausale Wirksamkeit zuzuordnen ist und weil wir von dieser Wirksamkeit her einen erheblichen Teil sonstiger Veränderungen und Zustände in der Welt verstehen können. Uber diese Regelmäßigkeiten hinaus können wir, so der Vorschlag weiter, dem Gefüge, das diese Strukturen bilden, Veränderungen nur deshalb zuordnen, weil wir innerhalb des Gefüges bzw. der korrespondierenden Phänomene jene Regelmäßigkeiten (Iterationen, Kontinuen) identifizieren können. Die Zuordnung können wir vornehmen, weil auf phänomenaler Ebene Verbindungen zwischen den Regelmäßigkeiten und den Veränderungen bestehen und weil auf ontologischer Ebene die Veränderungen bzw. deren Resultate das Gefüge konstituieren helfen. Die diachrone Identität des flexiblen Gefüges ist hier
13 Das Problem, um das es hier geht, ist nicht das Problem vager Identitäten. Die in Frage stehenden Entitäten sind diachron flexibel, aber nicht vage: Jedenfalls muß sich - wenn wir es mit einem Individuum zu tun haben - für jede Partikel angeben lassen, ob sie, fortwährend oder zeitweilig, zur Selbständigkeit des Gefüges beiträgt oder nicht. Ferner ist die Frage nach der nicht-willkürlichen Grenze der Variabilität zu unterscheiden von der epistemischen Frage, in welchem Umfang Veränderung möglich, d. h. akzeptabel, ist, wenn wir ein Individuum über die Zeit hin identifizieren können wollen.
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10. Die Einheit des Individuums
faktisch die Identität eines Strukturkerns. Diesem Kern sind etwa bestimmte biologische Elementarfunktionen und -aktivitäten zuzuordnen. Ihm schließen sich flexibel Strukturelemente an. Der Verweis auf einen stabilen Strukturkern bezieht sich wie gesagt auf ein empirisches Kriterium. Dieses Kriterium leistet aber gerade nicht, was das gesuchte Kriterium leisten soll, nämlich eine Hilfe für die Bestimmung dessen zu bieten, in welchem Umfang Veränderung der Teile im Fall des Vorliegens eines Individuums möglich ist. Und insbesondere hilft es nicht, zu bestimmen, welche Veränderungen unter ganz anderen faktischen Bedingungen möglich wären. (2) Der Verweis auf eine Sortalabhängigkeit des Individuums ist eine weitere Standardantwort auf die Frage nach der diachronen Identität und der Bandbreite der Variabilität. Allerdings ist nicht leicht anzugeben, worin diese Sortalabhängigkeit besteht und was der Verweis auf sie tatsächlich austrägt. Ist ein Individuum etwa genau dann über die Zeit hin dasselbe, wenn es ein Mensch ist? Sicher ist es dasselbe, wenn es ein Mensch ist. Nur ist zum einen nicht klar, welche Bedingungen es erfüllen muß, um ein Mensch zu sein. Zum anderen ist nicht klar, weshalb es ein Mensch sein bzw. bleiben muß, um ein Individuum zu sein. Wenn Mensch zu sein heißt: bestimmte Eigenschaften zu besitzen, dann ist noch nicht klar, weshalb nur der Besitz dieser Eigenschaften die Identität des Individuums garantieren sollte, während sich das Individuum in anderer Hinsicht durchaus verändern darf. Der Sortalbezug hilft uns, faktisch in der Welt zurechtzukommen, d. h. mit den hinreichend klaren Fällen diachroner Identität umzugehen, und er leistet dies deshalb, weil die Welt sich in der Eigenschaftskonstitution der Dinge relativ geordnet verhält, so daß unsere Sortierung weitgehend erfolgreich ist.14 Und vielleicht ist es ja unter den bestehenden Naturgesetzen und unter den bestehenden Mechanismen der Selbstorganisation tatsächlich nicht möglich, daß etwas die Eigenschaften verliert, die als konstitutiv für einen Menschen angesehen werden, und daß es gleichwohl die für ein Individuum konstitutive Selbständigkeit behält.
14 Meine Individuenkonzeption ist mit einer Sortalabhängigkeit der Identifizierbarkeit vereinbar. Weniger wüßte ich jedoch eben mit einer Sortalabhängigkeit der Identität anzufangen. Wenn Wiggins (1980: ν) in diesem Zusammenhang meint, »nothing whatever is to be made of bare continuity«, so ist das zwar richtig, doch ist zugleich unklar, was es denn mit Blick auf die Dinge der Welt hieße, etwas aus ihnen zu machen. Daraus, daß sich manche Dinge für eine Beschreibung bestimmter Art anbieten, folgt eben nicht, daß sich alle Dinge auf diese Art beschreiben ließen oder lassen müßten.
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D o c h darauf zu verweisen trifft nicht das Problem. D e n n damit dieser Verweis auf die Sortalabhängigkeit etwas austrägt, müßte prinzipiell ausgeschlossen sein, daß die Naturgesetze und Mechanismen, die die Kontinuität des Individuums betreffen, ζ. B. in einer anderen Welt solcher A r t sein könnten, daß das Individuum unter Erhalt seiner Selbständigkeit fortbesteht und sich gleichwohl in den sortal-relevanten Eigenschaften ändert. 15 U n d selbst wenn eine Welt solcher Bauart prinzipiell ausgeschlossen werden könnte, ist immer noch zu überlegen, welchen Erklärungswert der Verweis auf das Sortale hat. Gegenstände fallen unter Sortalterme, weil sie Individuen mit bestimmten Eigenschaften sind. Sie sind nicht Individuen, weil sie unter Sortalterme fallen. U n d so werden wir wieder auf die Ausgangsfrage zurückverwiesen, nämlich die Frage, in welchem Umfang Veränderung für ein Individuum möglich ist.
15 Für die »These von der Sortalabhängigkeit der Persistenz von Individuen« (Schark 2005: 127) spricht Schark zufolge unter anderem, daß als Alternative nur ein SuperEssentialismus (wonach einer Sache alle ihre Eigenschaften wesentlich sind) oder ein Anti-Essentialismus (wonach einer Sache alle ihre Eigenschaften akzidentell sind) bliebe - mit den jeweiligen radikalen Konsequenzen für die Veränderlichkeit des entsprechenden Gegenstandes (s. ebd.: 82, im Anschluß an Furth 1988: 204). Der Perdurantist, gegen den sich Schark hier wendet, könnte, sofern er Anti-Sortalist ist, jedoch dagegenhalten, daß der betreffende Gegenstand genau die Eigenschaften hat, die er hat, ohne daß dies hieße, daß er zu allen Zeitpunkten dieselben Eigenschaften hat. Entsprechend der perdurantistischen Annahme zeitlicher Teile hieße eine Eigenschaft zu besitzen für einen Gegenstand, diese Eigenschaft zu einer bestimmten Zeit oder während eines bestimmten Zeitraums zu besitzen. Radikaler (sortal-verletzender) Wechsel von Eigenschaften ist dabei möglich. Dies schließt sogar den Science-FictionFall eines Wechsels von Eigenschaften ein, bei dem übergeordnete Sortale (wie ζ. B. das Sortale Lebewesen) »verletzt« werden - etwa wenn die Teile eines Organismus Schritt für Schritt durch artifizielle Teile ersetzt werden und sich die Struktur des so entstehenden Artefakts radikal gegenüber der Struktur des Organismus verändert. Ein Individuum wäre dieser Gegenstand, solange er sich durch Selbständigkeit auszeichnet: Nur diese Eigenschaft kann er nicht verlieren, ohne aufzuhören, dieses Individuum zu sein. Dieses Individuum überlebte zum Beispiel, wenn es eine mentale Geschichte besitzt, keinen radikalen Wechsel in dieser Geschichte. Sortalisten sähen üblicherweise die individuitive Abhängigkeit von solchen Eigenschaften nicht als Grundlegung für Sortalabhängigkeit an. Doch selbst wenn sie dies täten, könnte ich ihnen nicht entgegenkommen, wenn die Klärung des ontologischen Status von Sortalen nicht ergibt, wie Individuen in irgendeiner Weise von ihnen abhängig sein können. (Im Hintergrund der Annahme der Sortalabhängigkeit stehen vielleicht Annahmen über die »Natur« einer Sache. Doch wäre nicht klar, was dieser Natur-Verweis begründbar anderes besagen könnte, als daß die Natur einer jeden individuellen Sache eben das ist, was diese individuelle Sache ist - was weniger informativ ist, als Sortalisten es für die Sortalabhängigkeit benötigen.)
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(3) Eine Begrenzung der Variabilität ergibt sich nun aus dem Kriterium der Individuität - dem Vorliegen von Selbständigkeit - und aus den Voraussetzungen für die Erfüllung des Kriteriums, nämlich dem Vorliegen von Selbsterhaltung und Selbstorganisation. Veränderung ist so weit möglich, wie die Selbständigkeit des Individuums dies zuläßt.16 Und die aktive Veränderung von Seiten des Individuums ist dementsprechend dann Teil von ihm, wenn sie zur Selbständigkeit (beziehungsweise, als Voraussetzung dafür, zur Selbstorganisation oder Selbsterhaltung) beiträgt und wenn die durch sie erzeugte Veränderung im Rahmen der Variationsbreite von Veränderung liegt, innerhalb deren dieses Individuum besteht. Radikale Selbstveränderung ist dadurch nicht ausgeschlossen. Einschränkungen für den Grad der Veränderung ergeben sich zum einen dadurch, daß Selbständigkeit gegeben sein muß und daß das Individuum für das Vorliegen von Selbständigkeit diachrone Kohärenz aufweisen muß. Letzteres wird durch das Vorliegen einer Geschichte des Individuums gewährleistet, und das heißt: durch das Vorliegen von Kontinuität bzw. durch das Vorliegen eines internen kausalen Zusammenhangs des Gefüges. Für diese kohärente Geschichte muß es innerhalb der Struktur immer etwas zeitlich Ubergreifendes und Verbindendes geben: Es darf keinen vollständigen Bruch geben. Einschränkungen für den Grad der Veränderung ergeben sich zum anderen dadurch, daß die Veränderung die Stabilität des Individuums nicht gefährden darf: Denn diese Stabilität ist dafür erforderlich, daß das Individuum äußeren Ereignissen, d. h. Ereignissen, die ζ. B. keine Aktivitäten der Struktur sind, gegenübertreten kann, und zwar - im Fall der Integration - als etwas Integrierendes, nicht als etwas, das integriert wird. 17 Zu klären, welchen Gesetzen solche Strukturen oder Systeme folgen müssen, damit die Selbständigkeit angesichts der Veränderung gewährleistet ist, ist Aufgabe kybernetischer, kombinatorischer bzw. systemtheoretischer Überlegungen. Zu berücksichtigen ist bei dieser Klärung, daß die Anforderungen an
16 Diese unbestimmte Formulierung soll die zwei möglichen Arten von Veränderung erfassen, nämlich jene Veränderung, die vom Individuum selbst ausgeht (seine »aktive« Veränderung), und jene Veränderung, die ihm widerfährt. Für Veränderungen beider Arten gilt, daß das Individuum genau so lange vorliegt, wie Selbständigkeit vorliegt. 17 Für eine Geschichte ist es nicht sinnvoll zu fragen, ob sie diachron dieselbe sei. Sinnvoll zu fragen ist nur, ob herausgegriffene Teile einer Geschichte Teile derselben Geschichte sind. Dies ist dann der Fall, wenn jene Teile für die Selbständigkeit verantwortlich sind und wenn sie kraft ihrer Kohärenz jene Selbständigkeit verursachen. Insofern kann auch bei fehlender diachroner Eigenschaftsidentität von einem Individuum die Rede sein.
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die Selbständigkeit des Individuums in einer statischen Umwelt vermutlich andere sind als in einer sich verändernden Umwelt: So könnte in einer sich radikal ändernden Umwelt das Individuum für den Erhalt seiner Selbständigkeit auf radikale Eigenveränderung angewiesen sein, während eine derartige Eigenveränderung in statischer Umgebung unter Umständen auch eine Schwächung der Stabilität nach sich ziehen könnte. Wenn es also um die Frage geht, bis zu welchem Ausmaß von Veränderung noch ein Individuum vorliegt, so kann Veränderung - jedenfalls im Prinzip sehr weit gehen, nämlich so weit, wie noch etwas Selbständiges vorhanden ist. Aus dieser Großzügigkeit gegenüber individuitiv zulässiger Veränderung folgt nicht die Beliebigkeit solcher Veränderung. Das heißt, es folgt nicht, daß es für Individuen keinen Unterschied mache, in welchem Ausmaß sie sich verändern. Denn Veränderung kann größere, gleichbleibende oder geringere Selbständigkeit zur Folge haben. Die Frage, in welchem Umfang Veränderung im Fall des Vorliegens eines Individuums möglich ist, ist demnach durch die Frage zu ergänzen, unter welchen Bedingungen Veränderung höhere oder geringere Selbständigkeit zur Folge hat. 18 Man wird jedoch einwenden, daß diese Liberalität gegenüber Veränderung doch gerade das Ausgangsproblem der diachronen Identität - oben illustriert am Beispiel des Wechsels der für das Gefüge konstitutiven Eigenschaften - nicht erfaßt, und zwar auch nicht durch den Hinweis auf das Vorliegen einer kohärenten Geschichte. Gibt es also Individuen ohne diachrone Identität? Nun, das gerade nicht. Im Beispiel oben ging es um den Wechsel von (F, G, H)tl über (G, H, I)a zu ( / , / , K\y Dabei lag diachrone Identität in bezug auf Teile des Gefüges vor, und zwar von tx zu t2 und von i 2 zu t 3 , nicht aber von tt zu ty Die Frage nach diachroner Identität ist für uns hier nun nur dann interessant, wenn wir es beim in Frage stehenden Gefüge während des gesamten Zeitraums, in den die betrachteten Zeitpunkte fallen, mit einem selbständigen Gefüge zu tun haben: Die Selbständigkeit darf nicht unterbrochen werden. Dann aber müssen sich die Selbständigkeit und die wechselnden Merkmale des Gefüges so zueinander verhalten, daß die Selbständigkeit den Verlust eines Merkmals, ζ. B. von F, übersteht und daß ein hinzugewonnenes Merkmal, ζ. Β. I, sich so integrieren läßt, daß es zur vorliegenden Selbständigkeit beiträgt. Diachrone Identität liegt hier nun jedoch nicht nur zwischen Teilen des Gefüges, beschränkt auf bestimmte Zeitpunkte, vor. Die für das Individuum als solches relevante diachrone
18 Ich komme unten auf das Problem zu sprechen, das sich aus dem vollständigen Bruch vorhandener mentaler Aktivität bei gleichzeitiger körperlicher Kontinuität ergibt. Bei diesem Problem haben wir es offenbar mit einem Spezialfall von Veränderung zu tun (siehe unten 10.5.3).
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10. Die Einheit des Individuums
Identität liegt vielmehr im Hinblick auf die Selbständigkeit vor. Die Merkmale - oder sonstigen Merkmale - wechseln, nicht aber die Selbständigkeit: Sie bleibt ein und dieselbe, auch wenn sie in verschiedener Form besteht. (Offenbar ist das eine eher gewagte Konstruktion. Doch haben wir es bei beobachtbaren Individuen eben mit Entitäten zu tun, die sich durch Kontinuität auszeichnen, dadurch, daß sie veränderlich sind, und dadurch, daß sie sich stets in ein Verhältnis zur Welt setzen können. Diese drei Faktoren muß eine Individuenkonzeption erfassen. Ob es radikale Veränderungen wie im Fall des Beispiels gibt, ist eine empirische Frage. Die Konzeption muß aber auch solche extremen Fälle berücksichtigen, solange keine sachlichen Gründe dagegensprechen.) Eine Frage, die den möglichen Grad der Veränderung betrifft, ist schließlich noch die Frage, wie spezifisch Fähigkeiten und ihre Ausübungen zu fassen sind - ob also, und gegebenenfalls wie weit, ζ. B. rationale Aktivität zu differenzieren ist, um von Aktivitäten verschiedenen Typs sprechen zu können. Vermutlich wären entsprechende Differenzierungsbemühungen aber nicht sehr erfolgreich und blieben zudem auf einer sehr abstrakten Ebene. Zu entscheiden zu versuchen, ob und ggf. inwiefern mein Lesen einer bestimmten Cechov-Erzählung eine andere Aktivität ist als mein Lesen einer anderen Cechov-Erzählung, ob und ggf. inwiefern mein Hören einer Bach-Partita eine andere Aktivität ist als mein Hören eines Messiaen'schen Orgelwerks, ob und ggf. inwiefern mein Betrachten eines bestimmten Flecks in Vermeers Ansicht von Delft eine andere Aktivität ist als mein Betrachten eines anderen Flecks im selben Gemälde: Das wäre nicht nur unergiebig, sondern offenkundig ein ganz merkwürdiges Unterfangen. Keine Individuationsbemühung würde oder müßte derartige Differenzierungsversuche unternehmen.19
10.4 Individuitätsgrade
vs.
Individuitätsstandards
Wir haben bisher nicht nur verschiedene Grade der Veränderung (bis hin zu extremen Graden) als vereinbar mit dem Vorliegen von Individuität, d. h. der Eigenschaft, ein Individuum zu sein, angesehen. Mit der Annahme des Zugehörigkeitskriteriums, dem zufolge etwas dann Teil des Individuums ist, wenn es integriert ist und zur Selbständigkeit des Gefüges beiträgt, haben wir auch die Möglichkeit eingeräumt, daß Selbständigkeit - in Abhängigkeit von den beitragenden Teilen - in verschiedenen Graden vorliegt. Wenn Selbständigkeit 19 Mit einer Beschränkung der Aktivitäts-Differenzierung - wenn man sie denn in Angriff nähme - auf eine sehr abstrakte Ebene wäre im übrigen nicht die Akzeptanz einer ontologischen Funktion von Typen für diesen Zusammenhang verbunden.
10.4 Individuitätsgrade vs. Individuitätsstandards
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konstitutiv für Individuität ist, ist es demnach möglich, daß auch Individuität in Graden vorliegt. (Verschiedene Individuitätsgrade können sowohl bei Individuen vorliegen, die wir verschiedenen Arten zurechnen, etwa bei a t und b t als Mitgliedern der Art Α bzw. Β; als auch bei Individuen derselben Art, etwa bei und a2\ sowie schließlich auch zu verschiedenen Zeitpunkten bei ein und demselben Individuum, etwa bei αλ zu tl und zu t 2 .) Grade von Individuität anzunehmen widerstrebt uns: Üblicherweise nehmen wir an, daß etwas ein Individuum ist oder daß es kein Individuum ist. Individuum zu sein heißt, unteilbar zu sein, und nichts kann mehr oder weniger unteilbar sein. Und doch soll Einheit, sofern sie in der Unteilbarkeit des Individuums besteht und sofern ihr Vorliegen hinreichend und notwendig für das Vorliegen von Individuität ist, in höherem oder geringerem Maß vorliegen können. Während nun die Annahme von Graden von Selbständigkeit vielleicht noch plausibel erscheinen dürfte, ist es die Annahme von »Graden der Einheit«, die uns an Individuitätsgraden irritiert. Ich komme hier zunächst auf Alternativen zur Annahme von Einheitsgraden zu sprechen, nämlich auf die Annahme von Individuitätsstandards (10.4.1), und erläutere dann, wie sich jene Annahme von Graden insbesondere auch im Blick auf die Auffassung von Individuen als etwas Unteilbarem verständlich machen läßt (10.4.2).
10.4.1 Individuitätsstandards Nehmen wir einmal an, es gäbe keine Grade von Einheit und Selbständigkeit. Dann stellte die Veränderung der Menge integrierbarer oder zu integrierender Teile, sofern es sich um ein und dasselbe Individuum handelt, ein Problem dar. Es böten sich hier nun - bei Verzicht auf die Annahme von Graden - drei Auswegversuche. (1) Zum einen könnte man Einheit und Selbständigkeit als Individuitätskriterium ablehnen. (2) Zum anderen könnte man auf Individuitätskriterien überhaupt verzichten. (3) Zum dritten könnte man feste Standards der Individuität zu etablieren versuchen. (1) Wenn Einheit und Selbständigkeit als Individuitätskriterium abgelehnt würden, zugleich aber Individuen angenommen werden sollen, müßte man Individuen akzeptieren, die sich nicht durch Einheit auszeichnen oder die, trotz Einheit, als Individuen nicht selbständig sind. Die erste Möglichkeit entfällt: Individuen, die sich nicht durch Einheit auszeichnen, gibt es nicht. Und auch die zweite Möglichkeit entfällt, denn es ist nicht zu sehen, wie etwas, insofern es unselbständig ist, sich noch durch Einheit auszeichnen könnte. (2) Bei einer allgemeinen Aufgabe von Individuitätskriterien stünden wir vor dem Problem der Nicht-Beschreibbarkeit phänomenaler Unterschiede und
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10. Die Einheit des Individuums
der Strukturen, denen sie entsprechen. Defacto machen wir aber Unterschiede etwa zwischen einzelnen Organismen oder zwischen Organismen und ihren Teilen. Und es steht nicht die Unterscheidbarkeit zur Diskussion, sondern die angemessene Beschreibung der i/e-/kcio-Unterscheidung. (3) Als interessanter erweist sich der dritte Ausweg aus der Ablehnung wechselnder Grade von Einheit, Selbständigkeit und Individuität. Dieser Ausweg besteht in der Etablierung fester Individuitätsstandards. Auch solche Standards müßten Kriterien sein, mit deren Hilfe sich in bezug auf einen gegebenen Teil oder eine gegebene Partikel entscheiden ließe, ob er bzw. sie zu einem gegebenen Organismus dazugehört oder nicht dazugehört. Wenn diese Standards nicht solche Kriterien wären, wären sie keine Individuitätsstandards. Wie könnten solche Standards aussehen? Als eine Individuentheorie, die entsprechende fixe und allgemeingültige Standards vorgibt, könnte - etwa für den Menschen - dem Anschein nach eine Theorie des guten Lebens in Frage kommen. Dies jedenfalls dann, wenn in einer derartigen Theorie externe Bezugspunkte gewählt werden, d. h. etwa solche Bezugspunkte, wie sie im Fall theoretischer Beschäftigung eines Menschen mit bestimmten Gegenständen vorliegen. Anhand solcher Bezugspunkte ließe sich feststellen, ob eine bestimmte Aktivität vorliegt oder nicht. Diese Aktivität bildete dann einen Standard für die übrigen Aktivitäten des Menschen, sofern diese unterstützende Funktion hätten. (Als Beispiel sei hier die aristotelische Theorie des guten Lebens angeführt, und zwar interpretiert als elitäre Theorie, die das gute Leben in einer rationalen Aktivität theoretischer oder praktischer Ausrichtung bestehen läßt, welche nur sehr wenigen erreichbar ist.) Allerdings müßte auch bei dieser Theorie genauer angegeben werden, um welche Gegenstände es sich handelt, warum es diese Gegenstände sein sollen und welcher Art das Verhältnis ist, in dem ein Mensch zu diesen Gegenständen steht. Letztlich funktionieren wird die Standardsetzung nur dann, wenn sich zeigen ließe, daß die Welt so beschaffen ist und daß wir so beschaffen sind, daß unsere theoretische Beschäftigung auf eine bestimmte Ordnung von Dingen zielt, so daß von daher klar würde, was als Aktivität zu uns gehört und was nicht. Unabhängig davon, daß dies schon in praktischer Hinsicht kein durchführbares Projekt wäre, stehen wir im Fall solcher Standardbegründung vor dem größeren Problem, daß es bei Annahme solcher Standards kaum Individuen zu geben scheint, und zwar deshalb nicht, weil infolge äußerer Umstände und eigener begrenzter Fähigkeiten kaum ein Individuum zur Beschäftigung mit jenen Gegenständen in der Lage sein dürfte. Und auch bei großzügiger Auslegung der Standards wären immer noch sehr viele Individuen nicht mit erfaßt, nämlich alle diejenigen Individuen nicht, die jener Beschäftigung nicht nachgehen.
10.4 Individuitätsgrade vs. Individuitätsstandards
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Wollte man nun jedoch die Standards so ansetzen, daß sie deutlich mehr Individuen umfassen, so ergäbe sich wiederum ein anderes Problem. Denn ganz gleich w o der Standard angesetzt wird, d. h. ganz gleich welche Beschäftigung theoretischer oder rein perzeptiver Art mit welchen Gegenständen aus welchen Gründen als Standard festgesetzt wird, weist jede solche standardmäßige Beschäftigung gegenüber »höheren« Standards einen Unterschied auf. D a wir mit der »niedrigeren« Festsetzung des Standards möglichst viele Individuen erfassen wollten, wird es Individuen geben, denen eine theoretische Beschäftigung über den niedrigeren Standard hinaus möglich ist. 20 F ü r die Individuen, denen jene Beschäftigung mit »höheren« Gegenständen möglich ist, stellt sich dann die Frage, wie sich diese Beschäftigung in die Gesamtheit ihrer Aktivität so integrieren läßt, daß die Gesamtaktivität die eines Individuums ist: W i e läßt es sich vermeiden, daß zu einer »Grundbeschäftigung«, die den (niedrigeren) Standard für Individuität erfüllt, noch eine andere, nicht-integrierte Aktivität mit hinzukommt? Das Dilemma für diese Konzeption besteht darin, daß der allgemeine Standard nicht verschoben werden kann, ohne daß andere Individuen nicht mehr erfaßt würden, daß aber bei Nicht-Verschiebung des Standards manche Individuen nicht-integrierte Aktivitäten aufweisen, die zugleich einen wesentlichen Bereich ihrer Gesamtaktivität auszumachen scheinen. Wechselnde Standards sollten dieser Konzeption zufolge wiederum nicht zugelassen werden, da sich sonst Grade von Individuität ergäben. D i e Unbrauchbarkeit fester und allgemeingültiger Individuitätsstandards zeigt sich des weiteren auch darin, daß für verschiedene Arten verschiedene solche Standards angenommen werden müßten, wenn es Individuen verschiedener Arten geben soll. Dabei wäre aber zum einen wieder nicht klar, woher Arten die dafür erforderliche ontologische Kraft erhalten und wie sie diese ontologische Funktion übernehmen können. Zum anderen ist wiederum nicht klar, wie solche festen Standards - auch im Fall nicht-menschlicher Individuen - die Verschiedenheit und Flexibilität der individuellen Gefüge erfassen könnten.
20 Die Rede von »höherem« und »niedrigerem« Standard ist eine sehr unglückliche Behelfsredeweise. Sie soll keine akzeptierte Bewertung der fraglichen Gegenstände und der entsprechenden Beschäftigungen zum Ausdruck bringen. Da jedoch die zu diskutierende Theorie solche Hierarchisierungen samt Bewertungen vornimmt, läßt sie sich nicht ohne Verwendung des entsprechenden Vokabulars erörtern.
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10. Die Einheit des Individuums
10.4.2 Unteilbarkeit und Grade von Individuität Wir geraten mit der Annahme fester Individuitätsstandards also in erhebliche Schwierigkeiten. Vielversprechende Alternativen, die der Flexibilität von Gefügen gerecht werden, liegen im Bereich solcher Standards zumindest nicht auf der Hand. Und so könnte die Annahme von Graden von Individuität nicht mehr ganz so abwegig erscheinen, wenn die Individuenkonzeption der Veränderlichkeit der Gefüge Rechnung tragen soll. Doch wie läßt sich nun dem Widerstreben begegnen, das auf der Annahme beruht, daß Individuen unteilbar sind, Unteilbarkeit aber eben keine Grade aufweist? Es war oben bereits von »dünnerer« Kohärenz die Rede (s. 10.2.3). Sie ist jetzt durch die Rede von »dichterer« Kohärenz zu ergänzen. Die Vorstellung, die der Rede von Individuitätsgraden nun zugrunde liegt, ist die, daß Teile des materiellen Gegenstands untereinander unterschiedlich verbunden sein können, nämlich entweder direkt oder über »Umwege«. Für mentale Zustände oder Ereignisse heißt dies etwa, daß sie eben in unmittelbarem Zusammenhang miteinander stehen können oder daß ihr Zusammenhang durch weitere mentale Zustände oder Ereignisse vermittelt wird oder daß ein Zusammenhang zwischen ihnen nicht durch mentale Zustände oder Ereignisse, sondern durch physiologische Zustände oder Ereignisse vermittelt wird, die mit mentalen Zuständen oder Ereignissen nichts zu tun haben. Zur Gruppe der letztgenannten Fälle gehören solche, bei denen zwischen den in Frage stehenden mentalen Zuständen oder Ereignissen keine direkte operativ wirksame Verbindung besteht.21 Wichtig ist bei dieser Vorstellung, daß sie unabhängig von der näheren Bestimmung der physikalischen Realisierung mentaler Zustände oder Ereignisse ist, solche Zustände oder Ereignisse aber gleichwohl integriert. Die Vorstellung läßt sich durch das Modell einer dynamischen Struktur veranschaulichen, die aus Punkten und deren Verbindungen besteht. Für die Punkte und ihre Verbindungen gelte nun folgendes: (1) Alle Punkte, die zur Struktur gehören, stehen in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit allen anderen Punkten der Struktur. (2) Die Punkte können im Vergleich zu anderen Punkten unterschiedliche Bindungsgrade (oder: Verknüpfungsdichte) aufweisen. (3) Bindungen können sich über die Zeit hin quantitativ und qualitativ ändern. 21 Damit sollen nur solche Fälle noch mit erfaßt werden, bei denen - sofern es um den Bereich mentaler Aktivitäten geht - zumindest jene indirekte Verbindung besteht. Fälle, in denen echt separate Bereiche mentaler Aktivität vorliegen, werden unten erörtert (siehe 10.5.3 zum Koma-Problem).
10.4 Individuitätsgrade vs. Individuitätsstandards
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(4) D e r Bindungsgrad eines Punkts kann sich über die Zeit hin ändern. (5) Punkte können zur Struktur hinzukommen oder aus ihr verschwinden. 22 V o n zwei Strukturen, die im Vergleich miteinander in der jeweiligen Gesamtheit ihrer Punkte unterschiedliche Bindungsgrade aufweisen, besitzt die Struktur mit dem höheren Bindungsgrad einen höheren Grad an Kohärenz. Gleichwohl sind in beiden Fällen alle Punkte miteinander verbunden: Es sind Individuen, die sich durch unterschiedliche Kohärenz auszeichnen. W e n n nun direkt verbundene, zusammenwirkende Teile getrennt werden, wird ihre Kohärenz aufgehoben und damit in einem bestimmten Maß die Einheit des Individuums. N a c h wie vor sind zwar alle Teile, die zum Individuum gehören, miteinander verbunden. Es besteht aber zwischen bestimmten Teilen eine vormals bestehende unmittelbare und wirksame Verbindung nicht mehr. Angesichts der Rede von »Bindungsgraden« stellt sich die Frage, ob den Graden von Individuität auch Grade des Teil-Seins entsprechen. K ö n n e n Teile mehr oder weniger Teil sein - so wie etwas mehr oder weniger Individuität aufweist? Das anzunehmen ist nun weder möglich noch nötig. Es ist nicht möglich, weil der Beitrag der Teile, dank dessen sie Teile sind, vorliegt oder nicht vorliegt. Es ist nicht nötig, Grade des Teil-Seins anzunehmen, weil der Beitrag, auch wenn er umfassender oder weniger umfassend ausfällt, eben ein Beitrag ist: Sobald ein Beitrag vorliegt und die Integration des Beitragenden gewährleistet ist, ist das Beitragende ein Teil. D e r Effekt, den ein Beitrag etwa für das Bestehen des Gefüges haben kann, kann sehr verschieden ausfallen. D o c h auch wenn ein Teil deshalb wichtiger sein sollte als ein anderer Teil, ist jener nicht mehr Teil als dieser. (Wichtige Teile werden vermutlich eher den Kern des persistierenden Gefüges bilden als weniger wichtige. O b sich dies so verhält, ist jedoch je eine empirische Frage, und meine Individuenkonzeption als solche schließt weder eine »hierarchisch« noch eine »demokratisch« organisierte Teil-Struktur aus.) Man könnte hier den Einwand anschließen, daß zumindest bei Grenzfällen nicht klar sei, ob ein Beitrag vorliege oder nicht, so daß es, wenn schon keine Grade des Teil-Seins, so doch zumindest Vagheit des Teil-Seins gebe. Auf diesen Einwand wäre zu erwidern, daß nicht klar sei, was als Grenzfall gelten könne: Sobald das Vorliegen einer Entität für ein Gefüge einen Unterschied zugunsten seiner Einheit und Selbständigkeit macht, haben wir es nicht mit einem G r e n z fall zu tun. D o c h der Einwand ließe sich erweitern, und zwar im Hinblick auf
22 Hiermit ist der Spezialfall, der in Verbindung mit dem Koma-Problem erörtert wird, nicht ausgeschlossen, nämlich der Fall, in dem ein Punkt Teil zweier voneinander verschiedener Strukturen sein kann, von denen keine die andere einschließt.
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den zeitlichen Beginn und das zeitliche Ende des Gefüges: Zumindest an diesen zeitlichen Grenzen des Gefüges geht die Vagheit des Teil-Seins mit der Vagheit des Vorliegens des Gefüges einher. 23 Dieses Problem, das auch die Frage danach einschließt, ab welchem und bis zu welchem Zeitpunkt ein Selbsterhalter vorliegt, konnte auch zuvor in der Erörterung der Vagheit nicht gelöst werden. Ergebnis dort war, daß sich für jedes gegebene Gefüge entscheiden läßt, ob eine E n t i t ä t T e i l dieses Gefüges ist oder nicht ist (siehe oben 4.2.3.4). Es blieb jedoch offen, wie sich der zeitliche Anfang und das zeitliche Ende eines Selbsterhalters nicht-willkürlich bestimmen lassen. A u c h die mögliche Replik, der Beginn etwa des Schlagens des Herzens oder das Ende der Gehirnaktivität ließen sich doch sehr genau bestimmen, verfinge als Antwort zum einen deshalb nicht, weil die behauptete Genauigkeit v o m gewählten Maßstab abhängt, und zum anderen deshalb nicht, weil die genannten Aktivitäten in diesem Fall nur kraft Festsetzung als hinreichend für Selbsterhaltung gelten. D a ß sich hier begrifflich keine klare Grenze angeben läßt, hat nun aber gerade mit dem Umstand zu tun, daß Individuität in Graden vorliegt. Das Entstehen und Vergehen eines Individuums kann sich - empirisch betrachtet - wohl auch in gewissen Sprüngen oder Stufen vollziehen. D e r Sache nach aber haben wir es nicht mit einem Vorgang zu tun, der eine eindeutige zeitliche Grenze aufwiese. Diese Annahme eines Ubergangs - anstelle einer Stufung - wird zum einen den Phänomenen gerecht, zum anderen spiegelt sie die vielfältigen Schwierigkeiten wider, die sich in diesen Fällen für menschliches Handeln dort (insbesondere im Bereich der Medizin) ergeben, w o es klarer Abgrenzung bedürfte. Zugleich wird aber durch die Annahme auch das angegebene Kriterium der Teilzugehörigkeit nicht unterlaufen. Dieses Kriterium besagte, daß etwas genau dann Teil ist, wenn es zur Einheit und Selbständigkeit des Gefüges beiträgt, dessen Teil es ist. Damit sind alle Fälle erfaßt, in denen ein Gefüge vorliegt, und es sind alle Teile dieses Gefüges erfaßt: Was immer als Gefüge gelten kann, hat Teile, für die sich eindeutig angeben läßt, daß sie Teile des Gefüges sind. Individuen sind demnach etwas, das seiner konstituierenden Eigenschaft, nämlich der Individuität nach, in Graden vorliegen kann. 24 Das heißt aber nicht,
23 Siehe oben in 4.2.3.3 die Erörterung und Kritik des Versuchs, angesichts des Sorites auf formale Teile auszuweichen. 24 In traditioneller Redeweise könnten wir sagen, daß ein Kompositum mehr oder weniger durchformt ist, ohne daß wir damit sagen müßten, daß etwas mehr oder weniger ousia sei. (Für die Frage, ob und gegebenenfalls in welcher Hinsicht Aristoteles im Fall von composite Grade von Einheit annimmt - obwohl Einheit nicht akzidentellerweise zukommt - und wie diese Annahme gegebenenfalls zu verstehen ist, wäre auch Met.
10.4 Individuitätsgrade vs. Individuitätsstandards
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d a ß w i r es m i t vagen G e g e n s t ä n d e n zu tun hätten: Tatsächlich läßt sich für j e d e g e g e b e n e Partikel u n d für jedes gegebene G e f ü g e - i m P r i n z i p jedenfalls feststellen, o b eine Einbindung der Partikel in das Funktionsgefüge vorliegt oder o b sie n i c h t vorliegt. E i n e A n m e r k u n g ist z u m o b e n angeführten M o d e l l einer d y n a m i s c h e n S t r u k t u r n o c h angebracht. D i e R e d e v o n P u n k t e n u n d i h r e n V e r b i n d u n g e n ist der A n s c h a u l i c h k e i t w e g e n so gewählt, daß sie n u r auf einer E b e n e vorliegt. D a m i t ist n i c h t ausgeschlossen, d a ß es i m Fall eines I n d i v i d u u m s verschiedene E b e n e n - ζ. B . des M e n t a l e n und des P h y s i s c h e n - g e b e n k a n n . D o c h s c h e i n t es n u r auf der G r u n d l a g e w e i t r e i c h e n d e r A n n a h m e n m ö g l i c h , die R e d e v o n G r a d e n der Individuität auf die A u s w i r k u n g e n des V o r l i e g e n s s o l c h e r E b e n e n V 6,1016a32-bll oder auch X 1, 1052a20-28 zu berücksichtigen.) Thomas von Aquin nimmt für die Erörterung - und Bejahung - der Frage, Utrum Dens sit maxime unus (STh Ia q l l art4), offenbar an, daß unus auch in geringerem Maße oder Grade vorliegen kann. In meiner Annahme von Individuitätsgraden geht es ferner um etwas anderes als in der Rede von »Graden der Individualität«, die sich bei Schopenhauer findet. Schopenhauer bezieht sich damit, grob gesagt, auf Grade der qualitativen Verschiedenheit von Individuen im Vergleich miteinander (vgl. etwa Welt I 2.26,155-157). Gegen die Annahme von Graden von Individuität spricht sich Hartmann aus - mit nicht ganz klarer Begründung: Alle Lebewesen seien Individuen »in gleicher Weise, also keineswegs die einen mehr als die anderen«. Diese Gleichheit ist »gerade durch ihre allgemeinen Züge« begründet: »die Individuen einer Art stehen qualitativ koordiniert da«. »Individuum« sei eine »rein quantitative Kategorie«, und ein »jedes Individuum ist Repräsentant einer Art, die Artcharaktere machen seine Wesensbestimmtheit aus. [...] Die geringfügigen Abweichungen der einzelnen Exemplare voneinander und vom durchschnittlichen Artcharakter verschwinden dagegen.« (Hartmann 1950: 515). Wie dieses Verschwinden vonstatten geht oder wie sich der Durchschnitt eines Artcharakters bestimmt, wird nicht gesagt. Gegen die Annahme von Graden von Individuität spricht sich ferner auch Simons aus (s. 1987: 290, 326, 331): Es gebe nur »degrees of warrant for accepting the existence of an individual composed of certain parts« (ebd.: 331). Simons (ebd.) führt für die Grade der Akzeptanzrechtfertigung biologische Beispiele an, so etwa Schwämme. Ein anderes oft angeführtes Beispiel sind die Siphonophoren. Simons ist zuzustimmen, daß es unklar ist, ob es sich hier um Individuen handelt (s. dazu oben S. 82). Es sind allerdings nicht dies die Fälle, in denen ich von »Individuitätsgraden« spreche. Und so zu sprechen scheint mir - gegen Simons - dort angebracht, wo wir es mit Unterschieden im Vorliegen jener Eigenschaften zu tun haben, die für das Individuum als solches konstitutiv sind, nämlich insbesondere mit Unterschieden der Selbständigkeit. Simons meint, hier handele es sich nur um Grade der Integrität oder Integriertheit (s. 1987: 326). Doch Selbständigkeit und Integriertheit sind im Fall materieller Gegenstände direkt miteinander verbunden, nämlich insofern, als von der Integriertheit der Grad der Fähigkeit, sich in ein Verhältnis zur Umwelt zu setzen, abhängt. Wenn das Individuum unabhängig von diesen Graden sein soll, müßte man zumindest angeben, wodurch es sich als Individuum auszeichnet.
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zurückzuführen. Vielleicht hat das Vorliegen der Ebenen entsprechende Konsequenzen: D a n n wäre die einfache dynamische Struktur entsprechend zu modifizieren. Es scheint aber nicht geraten und auch nicht notwendig, das Vorliegen von Individuitätsgraden von entsprechenden Voraussetzungen abhängig zu machen. 2 5
10.5 Probleme V o r dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen dieses Kapitels gehe ich nun auf einige Probleme ein, die sich für jede auf Lebewesen bezogene Individuationsbemühung ergeben. Einen Teil dieser Probleme habe ich - knapp oder ausführlicher - schon einmal angesprochen. Hier geht es darum zu prüfen, wie sich diese Probleme zur vorliegenden Individuenkonzeption verhalten, welche die Individuen als Funktionsgefüge versteht. D i e Auseinandersetzung mit den Problemen gibt vor allem auch Gelegenheit zur Präzisierung der Konzeption. D i e Konzeption erweist sich ihrerseits insofern als fruchtbar, als sie eine konsistente Beschreibung der Phänomene ermöglicht. I m folgenden werde ich allerdings zur Vermeidung von Verdoppelungen weniger explizit von der Funktionsausübung sprechen, sondern überwiegend vom Beitrag, den ein Teil zur Selbständigkeit des Gefüges leistet. D a aber das Leisten dieses Beitrags gerade die Ausübung der Funktion eines Teils ist, insofern dieser ein Teil des Funktionsgefüges ist, ist die Konzeption des Individuums als Funktionsgefüge eben das, worum es tatsächlich geht. Ich gebe hier zunächst einen Uberblick über die erörterten Probleme und die Lösungsversuche: Das erste Problem - das »Leontios-Problem« - ist das Problem des Verhältnisses selbstzerstörender Aktivitäten zu jenem Individuum, das ihr Urheber zu sein scheint: Sind sie Teile des Individuums oder sind sie keine Teile? W i e könnten sie Teile sein, wenn sie nicht nur nicht zur Selbständigkeit beitragen, sondern ihr sogar entgegengerichtet sind? U n d wie könnten sie nicht Teile sein, wenn sie doch - wie es scheint - vom Individuum als Akteur ausgehen? D i e Lösung wird darin bestehen, daß die problematischen Aktivitäten auf ihre kausale Rolle hin zu prüfen sind: Sofern sie kontinuitätsstiftend in Hinsicht auf die Kontinuität des selbständigen Gefüges sind, tragen sie zur Selbständigkeit
25 Es wird unten (10.5.1) in der Erörterung der zerstörungstragenden und zugleich kontinuitätsstiftenden Aktivitäten um die Verschiedenheit der kausalen Rollen jener Aktivitäten gehen. Auch dort könnte sich die Darstellung der entsprechenden ModellStruktur aber auf eine Ebene beschränken.
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und Einheit des Gefüges bei und sind Teil des Gefüges. Sofern sie in dieser Hinsicht destruktiv sind, sind sie nicht Teil. Die Konzeption vom Individuum als Funktionsgefüge läßt sich so weit aufrechterhalten (10.5.1). Das zweite Problem - das »Agaven-Problem« - ist das Problem des Verhältnisses »konstruktiv« selbstzerstörender Aktivitäten zu ihrem Urheber. Allgemeiner geht es um das Problem, wie Aktivitäten eines Individuums, die zum Entstehen und Aufwachsen oder zum Weiterbestehen eines gleichartigen Individuums führen können und die das erzeugende Individuum in bestimmten Fällen zugleich beeinträchtigen, schädigen oder in der Folge sogar zu seinem Tod führen, in das Funktionsgefüge, das das Individuum ist, als Teile integriert sein können. Die vergleichsweise traditionelle, doch modifzierte Lösung wird darin bestehen, daß - unter Vermeidung der Annahme der Relevanz überindividueller Entitäten wie ζ. B. Arten - mit der Weitergabe bzw. Bewahrung bestimmter typidentischer struktureller Teile (im Fall von Organismen: der Gene) etwas Eigenes bestehen bleibt, das auf spezifische Weise der Welt gegenübertritt (10.5.2). Das dritte Problem - das »Koma-Problem« - ist das Problem, das sich aus einer Diskontinuität des Mentalen für die individuelle Integriertheit ergibt. Wie, so ist hier zu fragen, verhält es sich mit der Individuität, wenn einem organischen Gefüge, das zeitliche Kontinuität aufweist, diachron separate mentale Bereiche oder »Geschichten« zuzuordnen sind? Die - zunächst irritierende Lösung wird darin bestehen, daß in diesem Fall das organische Gefüge als Körper so vieler Individuen anzusehen ist, wie es separate und in sich jeweils kohärente mentale Bereiche gibt. Nur auf den ersten Blick haben wir es hier mit sich zum Teil überlagernden Funktionsgefügen zu tun (10.5.3). Das vierte Problem - das Problem »indifferenter Aktivitäten« - ergibt sich für Aktivitäten, die ihren Urheber nicht schädigen, aber auch nicht zu seiner Selbständigkeit beitragen. Mangels Alternative wird die (unbefriedigende) empirische Lösung in der Abweisung solcher Aktivitäten bestehen (10.5.4). Das fünfte Problem - das »Ausdehnungs-Problem« - betrifft den Fall der Anstückung selbständiger Entitäten. Eine solche Anstückung liegt etwa vor, wenn ein Organismus einen anderen Organismus benutzt, um seine eigene Selbständigkeit zu erhalten oder zu steigern: Die angestückten Entitäten sollten selbständige Entitäten sein, nichts Selbständiges kann aber Teil eines Selbständigen sein. Die Lösung nimmt die Rede von kausalen Rollen (aus 10.5.1) auf und ergänzt sie durch die Rede von Teilen-unter-Aspekten. Dies erlaubt die gleichzeitige Erhaltung von Selbständigkeit auf seiten des Benutzten wie in gewisser Beziehung auch seine Anstückung auf seiten des Benutzers. Auch bei dieser Interaktion von Funktionsgefügen haben wir es nicht mit einer Überlagerung solcher Gefüge zu tun (10.5.5).
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Das sechste Problem - das »Wellen-Problem« - bezieht sich auf die Frage, wie sich Selbsterhalter, die Individuen sind, von Selbsterhaltern, wie es ζ. B. Wellen sind, unterscheiden. Die Antwort wird darin bestehen, daß sich Individuen dank ihrer Strukturen nicht überlagern oder sich nicht zertrennen können, und zwar auch deshalb nicht, weil die jeweilige Struktur so gebaut ist, daß sie der Welt als etwas überzeitliches Ganzes gegenübertritt und daß sie als die Struktur, die sie ist, in der Konfrontation mit Fremdem wie auch mit Artgleichem bewahrt bleibt, solange die Struktur eben besteht. Individuelle Organismen, nicht aber Wellen, sind Funktionsgefüge (10.5.6). Das siebte Problem - das »Verschiedenheits-Problem« - geht einen großen Schritt zurück zu den Eingangsvoraussetzungen. Angenommen wurde, daß wir ein Individuum ontologisch herausgreifen und analysieren können. Doch ist diese Voraussetzung angesichts des Problems der Identität der Ununterscheidbaren gerechtfertigt? Eine tragfähige Antwort auf diese Frage kenne ich nicht, und ich kann nur darauf hinweisen, daß sich dieselbe Frage für jede Individuenkonzeption stellt, daß also nicht nur die hier vorgestellte Konzeption ihr ausgeliefert ist (10.5.7).
10.5.1 Das Leontios-Problem Die vorläufige Erörterung des Konflikts - des Hin-und-Her-Gerissen-Seins - , in dem sich Leontios befindet, führte zu der Annahme, »Leontios« sei im vorliegenden Fall eigentlich nicht der Name eines Individuums, sondern allenfalls der eines Konglomerats oder Aktivitätsbündels (siehe 10.1). In jener Erörterung ging es lediglich darum, die Verschiedenheit möglicher Konflikte aufzuzeigen. Für sich genommen ist die vorläufige Lösung, »Leontios« nur als Name eines inkohärenten Bündels aufzufassen, aber offenbar ganz unbefriedigend. Zum einen kann es innere Konflikte geben, die zu einem Resultat führen, das ohne den Konflikt nicht erreicht worden wäre und das einen konstruktiven Beitrag zur Selbständigkeit des Individuums bildet. In diesem Fall müssen die entsprechenden Aktivitäten dem Individuum als Teil zugeordnet werden. Auch ein Scheitern an einem inneren Konflikt kann sich in längerfristiger Hinsicht als entsprechend konstruktiv erweisen, so daß selbst ein Fall eines nicht zu einer Lösung geführten Konflikts aus Konfliktaktivitäten besteht, die doch mittelbar konstruktiv sind. Jene vorläufige Erörterung hatte aber auch solche Konflikte noch nicht richtig erfaßt, die nicht zu einem Ergebnis führen, das allem Anschein nach einen konstruktiven Beitrag zur Selbständigkeit bildet. Zu klären sind dabei
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nicht bloß Konfliktfälle als solche. Was hier ingesamt zu klären ist, ist vielmehr das Verhältnis destruktiver Aktivitäten zum Individuum: Sind solche Aktivitäten Teil eines Akteurs, der ein Individuum ist, oder sind sie es nicht? Im Hinblick auf destruktive, d. h. selbstbeschädigende oder selbstzerstörende Aktivitäten sind zunächst Unterfälle zu unterscheiden, nämlich zum einen der Fall rein »destruktiver« Selbstbeschädigung oder -Zerstörung, zum anderen der Fall »konstruktiver« Selbstbeschädigung oder -Zerstörung. Als Beispiel für letzteres sollen bestimmte Reproduktionsaktivitäten gelten, wie ζ. B. die .Sig-ifowg-Reproduktionsaktivität der Agave oder die Wanderaktivität von Exemplaren bestimmter Lachsarten, die ebenfalls im Zusammenhang mit der Reproduktion stehen. Die Bezeichnung »konstruktiv« soll nur zum Ausdruck bringen, daß durch die in Frage stehende Selbstzerstörung etwas anderes hervorgebracht wird bzw. daß die Selbstzerstörung für das Hervorbringen von anderem in Kauf genommen wird. Es soll in diesem Abschnitt nun um die destruktiv selbstbeschädigenden oder -zerstörenden Aktivitäten gehen. Man könnte hier meinen, daß es zumindest für den Fall dieser Aktivitäten klar sei, daß sie nicht Teil des Individuums seien: Wie könnte etwas - so die mögliche Frage - , das eine Sache schädigt, Teil dieser Sache sein? Und doch könnte sich gerade hier ein Einwand ergeben. Jene Aktivitäten tragen zwar in keiner Weise zur Selbständigkeit, Selbstorganisation oder Selbsterhaltung bei. Doch sie unterscheiden sich etwa von Tumoraktivitäten dadurch, daß letztere - wie es scheint - die Aktivitäten einer anderen Entität oder jedenfalls organismusexterne Aktivitäten sind, erstere aber Aktivitäten, die eben eigene Aktivitäten des Organismus sind. Dann aber ist es nicht ohne weiteres klar, weshalb solche Aktivitäten als Aktivitäten des Organismus nicht Teil des Organismus sein sollten. Selbstdestruktive Aktivitäten etwa im Fall eines Menschen sind nicht weniger Aktivitäten dieses Menschen, und man könnte diese Aktivitäten dem Menschen deshalb als seine Teile zuschreiben wollen, weil er ihr Urheber ist.26 So weit der Einwand. Sehen wir uns jene Aktivitäten näher an. Zunächst träfen wir oder träfen einige von uns im Fall rationaler Lebewesen eine Unterscheidung zwischen
26 Im Zuge dieser Zuschreibung dürfte nicht einfach das Zugehörigkeitskriterium des Selbständigkeitsbeitrags in ein Kausal- oder Urheberkriterium umgewandelt werden. Würde eine solche Umwandlung als Erweiterung verstanden, müßte jenes Kriterium verschiedene, nicht vereinbare Fälle erfassen, nämlich den Fall des Selbständigkeitsbeitrags sowie den Fall der Selbstzerstörung. Würde jene Umwandlung als Ersetzung verstanden, konkurrierten ebenfalls selbständigkeitsfördemde und selbstzerstörende Aktivitäten. Es geht bei jener Zuschreibung nur um die Intuition, daß Aktivitäten eben demjenigen zuzuschreiben sind, der allem Anschein nach ihr Urheber ist.
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Selbstzerstörung, die in der Absicht der Vermeidung oder Aufhebung eines Übels (ζ. B. der Vermeidung oder Aufhebung unerträglicher, nicht beseitigbarer Schmerzen) erfolgt, und Selbstzerstörung, die nicht in dieser Absicht erfolgt. Selbstzerstörende Aktivitäten zur Vermeidung oder Beseitigung eines entsprechend relevanten Übels ließen sich nun als Aktivitäten auffassen, die das Ziel haben, eine bestehende oder drohende Desintegration aufzuheben oder zu vermeiden. Selbstzerstörung wäre hier die Folge, nicht aber das Ziel der Aktivität. Im Extremfall - dem der Selbsttötung - nutzt der Akteur seine Selbständigkeit in einem Ausdruck von Souveränität, um sich der nicht kontrollierbaren Desintegration zu entziehen. Aber auch weniger extreme Fälle, nämlich solche der partiellen Selbstzerstörung - oder besser: der Selbstbeschädigung - , sind dem Bereich selbstzerstörender Aktivitäten dieser Art zuzuordnen. Hierzu gehören schon alltägliche Aktivitäten wie etwa das Abschneiden von Fingernägeln oder von Haaren. In diesen Fällen scheint es plausibel, anzunehmen, daß es sich nicht tatsächlich um Selbstbeschädigung handelt. Es gehören aber auch extreme Fälle echter Selbstbeschädigung zu jenem Bereich von Aktivitäten, wie etwa eine Amputation von Körperteilen. 27 Selbstbeschädigungen beider Arten haben, sofern sie nicht Ausdruck autoaggressiven Verhaltens sind, auf die eine oder andere Weise Selbständigkeitsförderung zur Folge, ζ. B. auch schon dadurch, daß sie das Weiterleben des Individuums ermöglichen. Die entsprechenden Aktivitäten lassen sich ohne weiteres als Teile des Individuums ansehen. D o c h wie sind nun Aktivitäten, die im eigentlichen Sinn selbstzerstörend sind, einzuschätzen-wie etwa Aktivitäten, die Ausdruck von autoaggressivem Verhalten oder von Suchtverhalten bestimmter Arten sind, oder Aktivitäten, die zu den oben nicht erfaßten Fällen von Selbsttötung gehören? Sind solche Aktivitäten - sofern Aktivitäten als Teile angesehen werden können - dem Akteur wirklich nicht als seine Teile zuzuschreiben? Wie verhält es sich etwa mit Aktivitäten eines Akteurs, die wohlgeordnet auf ein Ziel aus sind, das völlige oder partielle Selbstzerstörung zur Folge hat, und zu denen es keine weitere, konfligierende Aktivität des Akteurs gibt: Sollten die Aktivitäten auch in diesem Fall nicht Aktivitäten des Akteurs sein? Immerhin scheint es doch einen integrierten Akteur zu geben, dem diese Aktivitäten eindeutig zuzuordnen sind.
27 Im Fall der Amputation soll von »eigener Aktivität« bei selbständig vorgenommener Amputation - etwa mit dem Ziel zur Befreiung aus einer extremen Notlage - die Rede sein. In einem umfassenderen Sinn könnte Amputation auch dann als eigene Aktivität gelten, wenn sie an einem Patienten vorgenommen wird, um ihn von einem vorhandenen oder drohenden extremen Übel zu befreien oder davor zu bewahren, und wenn sie zugleich nur auf seine Zustimmung hin erfolgt.
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Tatsächlich mögen die Aktivitäten in diesen Fällen vielleicht noch unter der Bedingung als Aktivitäten des Akteurs gelten, daß »Akteur« jenes System bezeichnet, von dem die Aktivitäten - in räumlicher Hinsicht - ausgehen. Doch damit ist nichts über das Vorliegen eines Akteurs oder über den Grad der Integriertheit des Akteurs gesagt. Sofern jene Aktivitäten schädigende Aktivitäten sind, können sie nicht die Aktivitäten eines Individuums sein. Sie können dies deshalb nicht sein, weil ein Besitzer von Selbständigkeit als solcher seine Selbständigkeit nicht verletzen kann. Drei Fälle sind zu unterscheiden. Handelte jemand unwissentlich seiner Selbständigkeit entgegen, könnte dies (a) gegen seinen Willen oder (b) - im Prinzip (so daß er sich etwa bei nachfolgender Aufklärung und Befragung entsprechend äußerte) - in Übereinstimmung mit seinem Willen geschehen. Im Fall (a) handelte er gegen sich selbst: Er handelte als etwas Nicht-Integriertes, und die entsprechende Aktivität wäre ihm nicht zuzuordnen, insofern er ein Individuum ist. Der Fall (b) hingegen wäre so einzuordnen wie (c) der Fall wissentlichen Handelns gegen die eigene Selbständigkeit.28 Auch der Fall solchen wissentlichen Handelns kann nun aber kein Fall der Aktivität eines Individuums sein, und zwar deshalb nicht, weil dies eine Aktivität wäre, die gegen die Selbständigkeit gerichtet ist, die für das Individuum konstitutiv ist. Eine Aktivität, die gegen die Selbständigkeit eines Selbständigen gerichtet ist, kann nicht die Aktivität eines Selbständigen sein. Dies jedenfalls dann nicht, wenn es nichts gibt, das übergreifend die verschiedenen Aktivitäten mit Blick auf den Selbständigkeitsbeitrag zusammenhält (wie es etwa im Fall der Selbsttötung zur Vermeidung eines relevanten Übels gegeben sein sollte). Wenn jene destruktiv selbstzerstörenden Aktivitäten nun nicht die Aktivitäten eines Selbständigen sind, bleibt immer noch die Frage, wie ihr Verhältnis zum Selbständigen, d. h. zum selbständigen Akteur, zu beschreiben ist, wenn es einen solchen Akteur gibt. Man könnte zunächst meinen, daß jene Aktivitäten, da es ja um ihr Teil-Sein geht, eben nicht als Teile anzusehen seien. Doch was heißt es, daß sie nicht als Teile anzusehen seien, wo sie doch in einem unmittelbaren Kausalverhältnis zu jenem Akteur stehen und nicht von selbst geschehen? Das unmittelbare Kausalverhältnis ist hier nicht eines, das dem Kausalverhältnis etwa zwischen zwei Ringern vergleichbar wäre: Es gibt in diesem Fall keine zwei Akteure, die gegeneinander kämpften. Der Umstand, daß die Aktivitäten in jenem unmittelbaren Kausalverhältnis stehen, hat zur Folge, daß nicht einfach die zerstörende Aktivität abgetrennt 28 Der Fall unwissentlichen Handelns in prinzipieller Übereinstimmung mit dem Willen liegt etwas komplizierter, er läßt sich mit einigen Modifikationen aber wie der Fall entsprechenden wissentlichen Handelns einordnen.
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werden kann. Selbst wenn - wie es oben in den Bemerkungen zum Gebrauch von »Teil« (s. 3.4.1) ausgeführt wurde - ein Teil als eine Funktionseinheit anzusehen ist und selbst wenn sich die in Frage stehende Aktivität als F u n k tionseinheit zumindest insofern abgrenzen läßt, als auch kontraproduktive Aktivitäten als Funktionseinheiten angesehen werden können: selbst wenn dies alles akzeptiert wird, ist noch ganz unklar, was es heißt, einen solchen »Teil« - oder besser: ein solches Konglomerat ζ. B. von Ereignissen - abzutrennen. Sollte es heißen, daß man nur dieses Konglomerat herausgreift? Das ließe sich nicht plausibel durchführen. Angenommen, ich schädigte mich mit Hilfe meiner Hand, ζ. B . indem ich mir selbst eine Verletzung zufügte: Welches wäre dann das Konglomerat von materiellen Entitäten und Aktivitäten, das - dem Selbständigkeitskriterium zufolge - vom Ganzen abzutrennen oder aus ihm herauszunehmen ist? Eine Beschränkung der Abtrennung nur auf die verantwortliche mentale Aktivität schiede aus, da mentale Aktivitäten kausal mit physischen Ereignissen verbunden sind. (Gleichgültig, wie das Verhältnis von Mentalem und Physischem beschrieben wird, wird gerade im vorliegenden Fall ja angenommen, daß eine Kausalbeziehung besteht.) W i e ginge denn, so wäre zu fragen, das Zerschneiden der Kausalbeziehung vor sich? Weshalb sollten etwa die schädigenden Körperbewegungen von der Herausnahme verschont bleiben, während die kausal dahinter liegende mentale Aktivität herausgenommen wird? Es ist schließlich nicht nur meine Absicht, sondern auch die Bewegung meiner Hand, die mich schädigt. Wenn sich schließlich keine der relevanten Bewegungen unabhängig voneinander herausnehmen läßt, stellt sich ferner die Frage, wie ζ. B. unterstützende Aktivitäten des Kreislaufs zu bewerten sind: A u c h diese leisten ihren Beitrag zur Schädigung, wären also herauszunehmen, wenn nichts Schädigendes Teil des Selbständigen sein kann. Dann aber läßt sich kein schädigendes Konglomerat bei gleichzeitiger Bewahrung eines integrierten Restakteurs isolieren und herausnehmen. F ü r eine Lösung des Problems der Trennung oder Herausnahme ist nun zunächst zu beachten, daß die bisherige Erörterung dieses Problems den Umstand unberücksichtigt gelassen hat, daß das Individuum etwas ist, das - je nach Auffassung - zu verschiedenen Zeitpunkten oder über die Zeit hin existiert. Zum zweiten ist zu beachten, daß sich - so das Ergebnis oben - kein Teil oder keine Entität aus dem synchron betrachteten Kausalgefüge herausnehmen läßt. Zum dritten ist zu beachten, daß sich innerer Widerstreit - wie etwa im Fall des Leontios - in gewisser Hinsicht als Abfolge von Aktivitäten beschreiben läßt: Versuchte man zu erfassen, was im Fall des Leontios mit Leontios passiert, insofern er ein Kausalgefüge ist, wird man zumindest durch Piatons Beschreibung darauf verwiesen, daß eine solche Abfolge vorliegt. Zum vierten ist schließlich zu beachten, daß zugleich mit der Abfolge von Aktivitäten
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in gewisser Hinsicht Kontinuität des Mentalen wie auch des Physischen vorliegt. (Wobei es hier genügt, auf diese Kontinuität zu verweisen; ob man die Kontinuität des Mentalen traditionell durch die Kontinuität des Bewußtseins oder des Gedächtnisses erklärt oder ob man auf eine andere Erklärung zurückgreift, ist für die weitere Erläuterung an dieser Stelle unerheblich.) Zu erläutern ist nun, wie ein Akteur zu bestimmten Zeiten sich selbst schädigt, so daß das, was zu diesen Zeiten als Schädigendes vorliegt, bei gleichzeitiger Kontinuität des Individuums nicht Teil des Individuums ist. Für die Bildung der Kontinuität ist die Verbindung als solche relevant, d. h. auch die Verbindung, die den Punkt vor dem Beginn der schädigenden Aktivität und den Punkt nach dem Ende der schädigenden Aktivität umfaßt. Für diese Verbindung ist es in gewisser Hinsicht gleichgültig, wo sie vorliegt oder welche kausalen Wirkungen sie über die relevante Aktivität hinaus hat oder wie sie aufrechterhalten wird. Für das Vorliegen der Kontinuität ist nur relevant, daß die Verbindung vorliegt. Die Verbindung kann zudem von verschiedener Art sein. Es kann ζ. B. eine Verbindung von solcher Art sein, wie sie in der Aktivität des Kreislaufs vorliegt. Es kann auch eine solche Verbindung sein, die in einer Kontinuität relevanter Bewußtseinsinhalte besteht (wobei diese Kontinuität ζ. B. insofern anderer Art ist als die Kontinuität der Kreislaufaktivität, als sie in der Beziehung von Episoden auf Episoden besteht, nicht aber in einer durchgängigen Bewußtseinsaktivität). Im Unterschied zur kontinuitätsgarantierenden Aktivität kommt es im Fall der schädigenden Aktivität nun gerade auf die kausalen Wirkungen der Aktivität an, von der die Schädigung ausgeht. Es ist hier nicht gleichgültig, wo die Schädigung vorliegt - vielmehr kommt es gerade darauf an, daß die Aktivität eben etwas Bestimmtes schädigt. Die kontinuitätsgarantierende und die schädigende Aktivität können unter Umständen zwei verschiedene Aktivitäten sein. Es kann sich bei der kontinuitätsgarantierenden und der schädigenden Aktivität aber auch um dieselbe Aktivität in verschiedener Verwendung handeln - so ζ. B. im Fall der Kreislaufaktivität. »Verschiedene Verwendung« heißt hier, daß die Aktivität verschiedene kausale Rollen einnimmt: Sie leistet Verschiedenes. Der Unterschied, auf den es hier ankommt, ist nicht unter Bezug auf die Unterscheidung zwischen feinkörniger und grobkörniger Ereignisauffassung zu beschreiben. Vielmehr geht es tatsächlich um verschiedene kausale Rollen der in Frage stehenden Aktivität. »Verschiedene kausale Rollen« bezeichnet die kausalen Rollen einer Aktivität χ etwa in dem Fall, in dem (1) χ durch φ verursacht oder mitverursacht wird und seinerseits ψ verursacht oder mitverursacht und in dem (2) χ ω verursacht oder mitverursacht, wobei φ, χ und ψ etwa zeitliche Segmente der Kreislaufaktivität sind, während ω die Schädigung oder Minderung der Selbständigkeit ist (mit »Schädigung« bzw. »Minderung« je nach konkretem Fall
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im Prozeß- oder Produktsinn); Ki ist die kausale Rolle von χ im Fall (1), und K2 ist schließlich die kausale Rolle von χ im Fall (2).29 (Es ist möglich, aber nicht notwendig, daß χ und ω verschiedene Aktivitäten sind; relevant ist nur, daß χ jene verschiedenen kausalen Rollen hat.) Was heißt es also - angesichts dieser Überlegungen und Bestimmungen einen Teil herauszunehmen? Im Fall der Kreislaufaktivität lassen sich die verschiedenen Aktivitäten - nämlich die als Teil zum Individuum gehörende und die als Schädigendes vom Individuum zu trennende Aktivität - physikalisch nicht trennen. So kann »herausnehmen« nur heißen, daß bei einer Aktivität wie der Kreislaufaktivität für den Fall ihrer Zurechnung zum Individuum davon abzusehen ist, daß sie die Schädigung unterstützt.30 Für den Fall etwaiger paralleler mentaler Aktivitäten richtet sich die Antwort auf die Frage der Herausnahmemöglichkeit nach den kausalen Auswirkungen und eventuellen Verflechtungen der mentalen Ereignisse. Für den Fall, daß sie kausal miteinander verflochten sind, wird die Antwort der im Fall der Kreislaufaktivität gegebenen Antwort ähnlich sein. Für den Fall einer echten kausalen Separatheit beider Ereignisse würde man möglicherweise das kontinuitätsstiftende Ereignis uneingeschränkt als Teil ansehen, das schädigende Ereignis uneingeschränkt herausnehmen und die dem schädigenden mentalen Ereignis korrespondierenden physischen Ereignisse als schädigende Ereignisse herausnehmen, sie aber, sofern sie kontinuitätsgarantierende Ereignisse sind, als Teil ansehen. Ist nun, wenn wir auf das Problem am Anfang dieses Abschnitts zurückblikken, »Leontios« der Name eines Individuums oder der eines Konglomerats?
29 Der Fall ist zu unterscheiden vom bekannten Fall der Metallkugel, die sich dreht und sich erwärmt (dieses Beispiel bei Davidson 1980: 178f.). Bei Davidson sind die beiden Ereignisse nicht oder nicht explizit kausal miteinander verbunden. (Davidson, ebd., äußert sich zur Unterscheidung der in diesem Fall vorliegenden Ereignisse etwas zurückhaltend. Siehe dazu auch Kanzian [2001: 55-58 u. 61], mit Verweis auf Quine [1985:167], der die beiden Ereignisse miteinander identifiziert, und Meixner [1997:105 n. 4], der die Ereignisse im abgewandelten Beispielfall einer »Scheibe, die genausolange fliegt, wie sie rotiert«, unterscheidet.) Im oben beschriebenen Fall kommt es gerade auf die kausale Verbindung in Kt sowie in K2 an. Intuitiverweise unterschieden wir in K, und K2 nicht zwei verschiedene Aktivitäten (etwa zwei verschiedene χ), sondern eben nur verschiedene kausale Rollen. 30 In gewisser Hinsicht besteht hier eine Parallele zum Koma-Problem (s. 10.5.3). Dort haben wir es mit Individuen zu tun, die sich bestimmte Körperteile teilen. Ein solcher Körperteil hat seinerseits verschiedene kausale Rollen, nämlich im Hinblick auf die Individuen, deren gemeinsamer Teil er ist. Der oben erörterte Fall ist diesem Fall insofern (und nur insofern) parallel, als auch oben die Aktivität χ verschiedene kausale Rollen besitzen kann.
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Die Antwort hängt davon ab, in welchen kausalen Rollen die relevanten Aktivitäten, Teile oder sonstigen Entitäten herangezogen werden. »Leontios« kann der N a m e eines Konglomerats sein, wenn jene kausale Rolle mit einbezogen wird, unter der die Aktivitäten das Individuum schädigen oder zerstören: Nichts Selbständiges kann seine Selbständigkeit beeinträchtigen. »Leontios« kann aber auch im Fall des selbstzerstörenden oder -beschädigenden Konflikts der N a m e eines Individuums sein, wenn sich sein Bezug zum einen auf jene Aktivitäten (materiellen Teile, Entitäten etc.) beschränkt, die einen Beitrag zur Kontinuität und Kohärenz des Individuums leisten; und wenn sich der Bezug des Namens außerdem - im Fall der Aktivitäten mit kausalen Rollen, von denen einige im Konflikt mit der Selbständigkeit des Individuums stehen auf Aktivitäten in jener kausalen Rolle beschränkt, unter der sie ebenfalls einen Beitrag zur Kontinuität und Kohärenz des Individuums leisten. Das Bild vom Individuum, das sich ingesamt so ergibt, entspricht dem Bild vom Individuum als Funktionsgefüge. Jeder Teil des Individuums ist ein Teil, der einen Beitrag zur Selbständigkeit und Einheit des Gefüges leistet, d. h. seine Funktion erfüllt. Es gibt keine nicht-integrierten Teile. Die Auffassung, das Individuum sei ein Funktionsgefüge, schärft ihrerseits wiederum den Blick dafür, was als zu integrierender Teil anzunehmen ist. 31
10.5.2 Das Agaven-Problem Die Aktivitäten, bei denen das Verhältnis zum Individuum bisher noch nicht klar ist, sind die oben als »konstruktiv« bezeichneten selbstzerstörenden Aktivitäten. Dies sind Aktivitäten, die nach herkömmlicher Auffassung Konstruktives oder Produktives zum Ziel haben, deren Ausführung aber für den Akteur partiell oder vollständig selbstzerstörend ist bzw. den Tod zur Folge hat. Zu diesen Aktivitäten gehören die Ä'g-Äiwg-Reproduktion der Agave, das 31 Es gibt, mit Blick auf die vorgeschlagene Einordnung von selbstzerstörenden oder -beschädigenden Aktivitäten offenbar eine Vielzahl schwieriger Fälle. Einer dieser Fälle ist ζ. B. der folgende: Einem Akteur seien zwei konkrete Aktivitäten zuzuordnen, φ und ψ. φ trage zur Selbständigkeit des Akteurs bei, dies aber in geringerem Maße als ψ, und φ verdränge zugleich ψ. In diesem Fall wäre φ selbständigkeitsfördernd (und daher Teil des Akteurs) und selbständigkeitsmindernd (und daher nicht Teil des Akteurs). Hier ließe sich - wie man sich durch einen Blick auf die Konsequenzen der Alternative leicht verdeutlichen kann - meine vorgeschlagene Einordnung konsequenterweise nur so ergänzen, daß der Beitrag zur Gesamtselbständigkeit des Akteurs ausschlaggebend sei, daß also φ, sofern und solange es ψ verdrängt, als schädigend anzusehen ist (doch siehe unten 10.5.4).
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Aufsuchen des Laichplatzes im Fall bestimmter Lachse (sofern der Lachs in der näheren zeitlichen Folge aufgrund von Erschöpfung durch die Wanderung stirbt), aber auch jede Form altruistischen Verhaltens - wie etwa das Spenden eines Organs oder der Freitod eines Menschen für einen anderen Menschen. (Es geht hier nicht um die Diskussion, ob bzw. inwieweit es echten Altruismus gibt. Es genügt schon, daß es Aktivitäten oder Verhaltensweisen gibt, die den individuellen Akteur schädigen und aus denen sich kein anderweitiger Nutzen für diesen Akteur ergibt.) Im Fall des Lachses und im Fall der Agave werden alle vorhandenen Ressourcen oder Energien für die Fortpflanzung (bzw. - im Fall des Wanderns - für die Herstellung der Voraussetzungen dafür) aufgebraucht. Gleichwohl wäre es intuitiverweise unplausibel, die an dieser Reproduktion beteiligten Teile und die zu ihr führenden Aktivitäten nicht als Teile bzw. Aktivitäten des Individuums anzusehen. Unplausibel schiene dies selbst dann, wenn die Aktivitäten den Tod zur Folge haben. Die Agave und der Lachs sind keine Einzelfälle und sie können zur Illustration eines allgemeineren Problems herangezogen werden. Dieses Problem betrifft die Gesamtheit jener Aktivitäten von Individuen, die der Erzeugung, dem Austragen und Gebären eigenen Nachwuchses sowie der postnatalen Pflege und Aufzucht dieses oder auch fremden artverwandten Nachwuchses dienen. Inwiefern, so ist zu fragen, können diese Aktivitäten unter den Kriterien des Einheits- und Selbständigkeitsbeitrags dem Individuum, das sie ausübt, zugeordnet werden? Biologisch sind diese Phänomene wohl als Ausdruck des »Versuchs« der beteiligten Gene zu werten, das eigene Weiterbestehen oder die eigene Vervielfältigung zu organisieren. 32 Doch wie sind die Aktivitäten und die ihnen zugrunde liegenden Strukturen ontologisch einzuordnen? In welchem Verhältnis stehen die Gene insgesamt zum Organismus als Individuum? Wie lassen sich Fortpflanzungsaktivitäten in das Gefüge des Organismus als Individuum integrieren?"
32 Ähnlich gilt dies auch für die Fälle scheinbar altruistischen Verhaltens von Organismen, wie es etwa im Fall der unfruchtbaren Arbeiterbiene vorliegt: Auch hier geht es um den »Versuch« der Beförderung des Weiterbestehens bzw. der Vervielfältigung typgleicher Gene. Zu diesem Verhalten siehe Campbell 1997: 1306-1308, sowie insgesamt Dawkins 1989. (Von »Versuch« kann natürlich nicht im eigentlichen Sinn die Rede sein: Korrekt ist es zu sagen, daß die entsprechenden Strukturen weiterbestehen oder nicht weiterbestehen bzw. daß sie sich vervielfältigen bzw. nicht vervielfältigen etc. und daß sie dies tun, wenn es eben möglich ist.) 33 Die Frage, wie sich die Gene zum Organismus als Individuum verhalten, bezieht sich auch auf »kontraproduktive« genetisch bedingte Strukturen oder Dispositionen - so etwa auf Strukturen, die mitursächlich für Erbkrankheiten sind, oder auch mental relevante genetische Veränderungen (zu diesen siehe für eine Zusammenstellung
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Im folgenden beschränke ich mich im wesentlichen auf die Frage, wie sich die Integration der entsprechenden Aktivitäten fassen läßt. Ich unterstelle dabei, daß diese Erörterung auch das Problem der Integration der Strukturen (inklusive der relevanten Gene) einschließt, die diesen Aktivitäten zugrunde liegen, denn die Integriertheit der Strukturen dürfte sich unmittelbar in der Integriertheit der Aktivitäten zeigen. Wie lassen sich also jene Aktivitäten integrieren? Ein erster Antwortversuch könnte von der Annahme ausgehen, daß Individuen das, was sie sind, als Mitglieder einer Art sind: Sie verdanken ihre Individuität ihrer Artzugehörigkeit, konstitutiv für die Artzugehörigkeit ist die Weitergabe der Gene. Gegen diesen Versuch ist einzuwenden, daß der ontologische Status und die ontologische Relevanz von Arten noch immer bestenfalls unklar ist. Weder ist nämlich klar, was die Artzugehörigkeit für die Individuierung austrägt, noch ist klar, daß sich in der Fortpflanzungstätigkeit ein Status der Art zeigte, dank dessen die Art dem Individuum gegenüber ontologische Priorität besitzt. Vielmehr verhält es sich so, daß sich Arten ihrerseits durch Individuen konstituieren, die sich durch bestimmte Eigenschaften und Aktivitäten auszeichnen. Ein zweiter Antwortversuch könnte auf das genetische Programm und die sich daraus ergebenden Strukturen des Individuums verweisen. Es sei einfach genetisch so angelegt, daß der individuelle Organismus Strukturen ausbilde, die gegebenenfalls für bestimmte Prägungen zugänglich sind und die bei entsprechenden Umgebungsbedingungen zu jenen Aktivitäten führen. Diesen Erklärungsversuch halten wir gewöhnlich für plausibel (wenn einmal von der Ungenauigkeit der Beschreibung abgesehen werden kann). Und doch leistet er nicht, was er leisten soll: Er bietet nämlich keine Erklärung dafür, wie sich jene Fortpflanzungsaktivitäten integrieren lassen. Hätten wir es - um den relevanten Punkt an einem anderen Fall zu betrachten - mit einem Organismus zu tun, der ein Programm besitzt, das selbstzerstörende Aktivität, nicht aber Erhaltung oder Reproduktion vorsieht, hätten wir keinen Grund, Aktivität und Programm - für sich genommen - als Teil des Organismus und als etwas, das in den Organismus integriert ist, anzusehen. Weshalb sollten dann aber genetisch veranlaßte Strukturen und Aktivitäten nur deshalb, weil sie programm-
neuerer Spezialuntersuchungen Science 310 / 5756; siehe dort den Verweis auf entsprechende Arbeiten zu genetisch bedingten Erscheinungen von Schizophrenie, Erscheinungen des Tourette-Syndroms und Erscheinungen von Dyslexie). Im Hinblick auf solche kontraproduktiven Strukturen und ihre genetischen Voraussetzungen ist die Frage der Zugehörigkeit im Prinzip wie im Fall des Leontios-Problems zu beantworten: Sie sind dann und nur dann (und insofern) Teil, wenn sie neben ihrer faktischen kontraproduktiven auch eine kontinuitätsstiftende kausale Rolle haben.
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gemäß Reproduktion zur Folge haben können, als Teile des Individuums betrachtet werden? In beiden Fällen - dem der programmierten Fortpflanzung und dem der programmierten Selbstzerstörung - ist nicht zu sehen, wie jene Strukturen und Aktivitäten zur Selbständigkeit des Individuums beitragen. An diesem Einwand könnte ein dritter Antwortversuch ansetzen. Dieser Antwort zufolge ist jeder Versuch einer Erklärung der Aktivitätsintegration zum Scheitern verurteilt, und zwar deshalb, weil es nichts Integriertes gibt, wenn hier als Integriertes nur ein selbständiges Individuum in Frage kommt. Vielmehr bedienen sich die Gene - so die Antwort - des Organismus als eines Vehikels für ihre Replikation (ä la Dawkins), als Vehikel ist der Organismus aber nichts Selbständiges und nichts Integriertes. Erwidern läßt sich darauf, daß es eben der Organismus ist, der der Welt gegenübertritt, nicht seine Teile und auch nicht sein Programm. Die Gene sind vielmehr genauso Teile des Organismus wie jeder andere Teil: Sie fügen sich - im Idealfall - in das Gefüge ein, dessen Teile sie sind, sie lassen sich nach Bedarf, auch graduell, aktivieren und deaktivieren. Daß der Organismus unter anderem dank der Gene entsteht, sagt noch nichts darüber, was der Organismus ist. Und auch aus einem anderen Grund ist es unangemessen zu sagen, daß die Gene sich des Organismus für ihre Replikation bedienen. Dank der Gene bilden sich bestimmte Strukturen. Diese Strukturen ermöglichen letzdich auch die Weitergabe typidentischer Gene. Das heißt aber nicht, daß die Gene sich jener Strukturen (und insgesamt des Organismus) bedienen, sondern nur, daß sich jene Strukturen entsprechend entwikkeln. Außerdem ist die Formulierung »sich einer Sache bedienen« auch schon aufgrund ihrer teleologischen Implikationen unangemessen: Bedienen kann sich etwas einer anderen Sache nur zu einem bestimmten Zweck, solche teleologischen Annahmen sind im vorliegenden Fall aber nicht gerechtfertigt. Einem vierten Antwortversuch zufolge wäre die Gesamtheit des Organismus - inklusive seiner Gene - als ein Gefüge zu betrachten, dank dessen Struktur oder Organisation es sich im Fall der Fortpflanzung eben so fügt, daß bestimmte Aktivitäten vorliegen und daß bestimmte Teile übrigbleiben. Auch hier wird jedoch wieder nicht geleistet, was geleistet werden soll: Fügen kann sich infolge bestimmter Strukturen manches - doch das heißt nicht, daß das, was sich fügt oder was sich ergibt, zu jenen Strukturen auch so in Verbindung steht, daß sich ingesamt etwas Integriertes ergibt. Darauf kommt es für die Einheit des Individuums und für die Teilzugehörigkeit aber gerade an (und eben deshalb soll das Individuum als Funktionsgefüge verstanden werden). Einem fünften Antwortversuch zufolge wären jene Fortpflanzungsaktivitäten deshalb Teil des Organismus, weil der Organismus nur dank vorausgehender typgleicher Aktivitäten entstanden ist. Diesem Versuch ist mit dem Hinweis auf die sich ergebenden Token-Probleme zu begegnen: Vergleichbar dem Fall
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der Token-Probleme des ätiologischen Funktionsbegriffs (nämlich der Funktionsübertragung vom Vorgänger-Token auf ein Nachfolger-Token) stellt sich auch hier wieder die Frage, wie sich die Selbständigkeitsförderung und Integration der einen Aktivität χ (der Weitergabe der Gene) dem Vorliegen einer selbständigkeitsfördernden (weil hervorbringenden) Aktivität φ gleichen Typs verdanken können soll. Zum einen ist die hervorbringende Aktivität φ nicht Teil des entstehenden Individuums, zum anderen ist nicht klar, was das Verhältnis jener Aktivität φ zum Individuum für die Frage der Integriertheit der Aktivität χ (nämlich der Weitergabe der Gene) austrüge. Einem sechsten Antwortversuch zufolge wäre die Fortpflanzungsaktivität als eine »Fokus-Aktivität« integriert: Alle anderen Aktivitäten sind auf diese Aktivität bezogen und sind nur um ihretwillen da. Zu erwidern ist darauf zum einen, daß die Rede von »dasein für« wieder eine unerwünschte teleologische Konnotation hat. Zum anderen gibt es empirische Gegenbeispiele gegen die Annahme, daß Fortpflanzungsaktivität generell Fokus-Aktivität wäre. Dann aber müßte zumindest für die Fälle, in denen sie es nicht ist, erklärt werden, wie sie sich integrieren läßt. Zum dritten wäre nicht jede Fokus-Aktivität eine Aktivität, die wir als Teil eines Individuums ansehen würden (so etwa nicht die destruktiv-selbstzerstörende Aktivität). Wie läßt sich nun die Aktivität integrieren? Diese Frage bezieht sich auf die Fortpflanzungsaktivität von Organismen aller Arten (sowie die gegebenenfalls zugehörende Rahmenaktivität, wie es die Wanderaktivität im Fall des Lachses ist) sowie auf die Aktivitäten, die in unmittelbarer Verbindung zur Fortpflanzungsaktivität stehen (so etwa die Aktivitäten des Aufziehens des neu entstandenen Organismus). Teile sind diese Aktivitäten, wenn sie zur Selbständigkeit dessen beitragen, wovon sie Teile sind. Es scheint nun nur plausibel, sie als Aktivitäten desjenigen Organismus anzusehen, der ihr Urheber ist. Wären sie nicht Aktivitäten und Teile dieses Organismus, stellte sich auch die Frage nach der Zugehörigkeit der sie stützenden Strukturen. Wir müßten so einen größeren Teil aus dem entsprechenden Individuum herausschneiden, und zwar unter Absehung dessen, daß wir mit dem Zuschnitt von Individuen insbesondere der Regelmäßigkeit von Phänomenen gerecht werden wollten - einer Regelmäßigkeit, der auch das Vorliegen von Fortpflanzungsaktivitäten unterliegt. Die Aktivitäten sollen also Aktivitäten des Organismus sein. Als Aktivitäten des Organismus sind sie Teile des Organismus. Teile sind sie aber nur, wenn sie unmittelbar oder mittelbar zur Selbständigkeit beitragen. Aktivitäten hingegen, die den Tod des Organismus zur Folge oder Nebenfolge haben, können deshalb nicht zur Selbständigkeit beitragen, weil mit dem zeitlichen Ende des Organismus nichts mehr besteht, das selbständig ist. Sind jene
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Aktivitäten also doch keine Teile, und das, obwohl wir sie jenen phänomenalen Regelmäßigkeiten zuordnen wollten, die mit dem Begriff des Individuums erfaßt werden sollten? Mit der Fortpflanzung bleibt etwas bestimmtes Eigenes in der Welt. Dieses Eigene zeichnet sich dadurch aus, daß es jenem strukturellen Teil (nämlich dem Set von Genen) typidentisch ist, dem der Organismus in relevanter Hinsicht seine Existenz verdankt. (»Strukturell« bezieht sich hier lediglich auf jene Eigenschaft des Teils, kraft deren er an entscheidender Stelle für die Ausprägung der Struktur des Organismus verantwortlich ist.) In gewisser Hinsicht ist der Organismus das, was jener strukturelle Teil ist. Das, was in der Welt bleibt, ist insofern etwas Eigenes, als es - dank der Typidentität (oder weitgehenden Typähnlichkeit) zusammen mit der kausalen Verbindung - die strukturell relevante Information über das Individuum ist, die - dank ihrer Verkörperung in der Genstruktur - ihrerseits struktureller Teil eines Individuums werden kann. Insofern dieses Eigene in der Welt bleibt, bleibt etwas, das der Welt gegenübertritt, und zwar auf solche Weise, daß mit ihm bestimmte Möglichkeiten gegeben, andere ausgeschlossen sind. Doch damit bleibt weder das erzeugende Individuum bestehen, noch liegt etwas zeitlich überindividuell Bestehendes vor. Weder handelt es sich um Selbsterhaltung des strukturell relevanten Teils noch um teilweise Selbsterhaltung des Individuums. Das Übrigbleibende ist für sich genommen kein Anwärter auf Individuität und es steht nicht in Konkurrenz zum Individuum. Dieser Antwortversuch wird kaum ungeteilte Zustimmung finden. D o c h vermeidet er zumindest die Probleme der vorausgehenden Antwortversuche. Im Fall des ersten Antwortversuchs war der Zusammenhang von Art und Individuum problematisch, weil er nicht nachvollziehbar die Priorität der Art und die individuitive Relevanz der Art voraussetzte. Im Unterschied dazu ist der letzte Antwortversuch vereinbar mit der Annahme, Individuen konstituierten Arten und seien ihnen gegenüber ontologisch prioritär, ohne daß er sich damit auf weitergehende Annahmen zum ontologischen Status von Arten festlegte. Der Antwortversuch vermeidet mit dem spezifischen Bezug auf strukturelle Teile zum zweiten die Willkür der Auswahl bestimmter Teile eines gegebenen Programms für die Integration. Zum dritten vermeidet er die Schwierigkeit, daß bei der Betrachtung des Organismus als Vehikel für die GenReplikation der Umstand unberücksichtigt bleibt, daß es der Organismus ist, der der Welt gegenübertritt, und daß Gene Teile des Organismus sind. Zum vierten bemüht sich der Antwortversuch, die Aktivitäten tatsächlich als Aktivitäten eines Integrierten zu erfassen: Er betrachtet sie nicht einfach als Folge eines mehr oder weniger beliebigen Geschehens. E r vermeidet zum fünften Token-Probleme, die sich dort ergeben, wo aus der Relevanz von
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Eigenschaften oder Aktivitäten bestimmter Teile auf die Relevanz anderer, typidentischer oder -ähnlicher Teile geschlossen wird. Und zum sechsten ist der Antwortversuch mit der Konzeption einer Fokus-Aktivität so weit und nur so weit verträglich, wie dies für eine nicht-teleologische Erfassung der hier in Frage stehenden Fortpflanzungsaktivitäten nötig ist.
10.5.3 Das Koma-Problem Im Anschluß an die Erörterung der Integration konstruktiv oder destruktiv selbstzerstörender Aktivitäten stellt sich als weiteres das Problem, wie sich bestimmte andere Veränderungen zur Integriertheit des Gefüges, das das Individuum ist, verhalten. Allgemein war vom Grad der Veränderung, soweit sie mit der Individuität eines Individuums verträglich ist, oben schon die Rede (s. 10.3). Das Problem, um das es nun geht, ist das Problem einschneidender Veränderungen des Mentalen. Dieses Problem soll unter anderem auch den folgenden Fall erfassen: (1) Die durch die mentalen Gehalte Mx konstituierte Geschichte G,34 wird zum Zeitpunkt i, unterbrochen, ab i, entsteht ein neues mentales Gefüge M2, das die Geschichte G 2 konstituiert, wobei die Unterbrechung zu t1 so ausfällt, daß kein Rückbezug von M2 auf Mx vorliegt. In diesem Fall haben wir es im Bereich des Mentalen nicht mehr mit einer Geschichte zu tun, sondern mit mehreren Geschichten. Haben wir es also auch mit einer entsprechenden Anzahl von Individuen zu tun, und das, obwohl wie angenommen sei - nur ein Körper vorliegt?35 Und um wie viele Geschichten handelt es sich dann im folgenden komplexeren Fall: (2) Die durch die mentalen Gehalte Mx konstituierte Geschichte G, wird zum Zeitpunkt £, vollständig unterbrochen, die durch die mentalen Gehalte M2 konstituierte Geschichte G2 beginnt mit £„ und G2 wird ab einem bestimmten späteren Zeitpunkt t2 seinerseits durch G j (a) unterbrochen oder (b) ergänzt, wobei sich die G 3 konstituierenden mentalen Gehalte Mi in den Fällen (a) und (b) so zu Mx verhalten, daß Λ/j sich nahtlos an Mx anschließt oder sich zumindest so darauf bezieht, daß eine Kohärenz von Gehalten vorliegt? Für eine Interpretation, der zufolge in diesen Fällen mehrere separate Geschichten vorliegen, wäre anzunehmen, daß die Kontinuität der organischen 34 »Geschichte« bezeichnet hier eine kohärente Folge von mentalen Gehalten, die auf die eine oder andere Weise in einem Bewußtsein miteinander verbunden sind. 35 Die anhaltende Diskussion, zu der dieses Problem gehört, ist auch in diesem Fall ausgesprochen umfassend. (Vgl. etwa die Einträge in der Bibliographie von Chalmers, dort u. a. 3.7).
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Aktivität für die Etablierung des Individuums nicht hinreicht. Nach Auffasssung dieser Interpretation käme zu jener organischen Kontinuität eine weitere Ebene von mentalen Aktivitäten hinzu, deren Kontinuität dann notwendig für die Konstitution von Individuität ist, wenn sie vorliegen. Das heißt, wenn sie vorliegen, müssen sie in einem Kontinuitätszusammenhang stehen. Wenn sie vorliegen und nicht in diesem Zusammenhang stehen und wenn sie zugleich separaten Aktivitätsbereichen zugeordnet sind, innerhalb derer sie je nach Bereich in einem Kontinuitätszusammenhang stehen, liegen so viele Geschichten wie separate Bereiche vor. Die Relevanz des Mentalen für die Kontinuität und die Separatheit der Geschichte des gesamten Gefüges anzunehmen ist dann plausibel, wenn sich das jeweilige Gefüge - wie angenommen sein sollte - auch durch die Integration der vorhandenen mentalen und physiologischen Teile bzw. Aktivitäten auszeichnet. Was Fall (1) betrifft, kämen auf übergeordneter Ebene zwei Möglichkeiten in Betracht: Es könnte sich insgesamt um eine Geschichte oder um zwei Geschichten handeln. Für den Fall, daß es sich um eine Geschichte handelt, dürfte die soeben behauptete Relevanz nicht bestehen. Sie könnte aber nur unter der Bedingung nicht bestehen, daß das Vorliegen von Individuität - entgegen der Voraussetzung - tatsächlich unabhängig von den gegebenen mentalen Teilen ist. Für den Fall, daß es sich um zwei Geschichten handelt, wäre das organische Gefüge, das der Körper ist, zu ίλ (oder einem anderen Zeitpunkt zwischen dem Vorliegen von Μλ und M2) trotz der offenkundigen Kontinuität ebenfalls als unterbrochen zu betrachten, wobei der Zeitpunkt der Unterbrechung mit Blick auf das organische Gefüge willkürlich zu setzen wäre. Sowohl im ersten wie auch im zweiten Fall erweist sich die Interpretation als unhaltbar: Im ersten Fall wird die entscheidende Voraussetzung verletzt, im zweiten Fall wird etwas Kontinuierliches, dessen Kontinuität in anderen Fällen als hinreichend für das Vorliegen von Individuität gilt, willkürlich als nicht-kontinuierlich betrachtet. Der Fall (2) stellt einen noch komplexeren Fall als der Fall (1) dar. Er bildet gegenüber (1) in gewisser Hinsicht dann einen neuen Fall, wenn er wie folgt interpretiert wird: Das Gefüge, das M i enthält, und das Gefüge, das Λ/3 enthält, bilden durch die Kontinuität des Körpers zusammen mit dem Körper ein Gefüge. Dieses Gefüge wird jedoch während der gesamten Zeit des Vorliegens von Μ2 (α) klar oder (b) nicht klar abgegrenzt unterbrochen. Neu ist an diesem Fall, daß er etwas in zeitlicher Hinsicht Nicht-Kohärentes (Mt und M}) als konstitutiv für die Individuität eines Gefüges annimmt.36 Doch auch in diesem
36 Der Fall des nicht klar abgegrenzten Übergangs von M1 zu M} bildet ein Sonderproblem, das sich ebenfalls nur ausgehend von der Lösung zu (1) her lösen ließe.
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Fall verdankt sich die eigentliche Schwierigkeit schon dem Problem aus Fall (1), wonach zwischen der individuitiven Konstitutivität des Mentalen und der Kontinuität des organischen Gefüges zu wählen ist, keine dieser Wahlentscheidungen aber plausibel erscheint. Der nächstliegende Ausweg scheint nun vorderhand darin zu bestehen, daß die als »entscheidend« bezeichnete Voraussetzung nicht aufrechterhalten werden kann, nämlich die Voraussetzung, daß mentale Aktivitäten dann notwendig für die Konstitution von Individuität sind, wenn sie vorliegen. Dies bedeutete nicht, daß mentale Aktivitäten für Individuität nichts austragen. Es bedeutete nur, daß der Organismus für das Vorliegen von Individuität auch dann nicht auf sie angewiesen ist, wenn sie Teil von ihm sind. Der Preis für die Aufgabe der Voraussetzung wäre allerdings hoch, und zwar insofern, als wir ein Gefüge mit verschiedenen separaten, in sich kohärenten Bereichen mentaler Aktivität als ein Individuum zu betrachten hätten. Daß der Preis hoch und vermutlich unbezahlbar ist, zeigt sich etwa auch dort, wo sich »separat« nicht auf diachrone, sondern auf synchrone Separatheit bezieht. Synchrone Separatheit läge etwa bei einem Organismus vor, der simultan zwei echt verschiedene Bereiche mentaler Aktivität besitzt - wie es etwa bei einem Organismus mit zwei getrennt voneinander funktionierenden Gehirnen der Fall sein könnte. Hier erschiene es nicht sehr plausibel, nur ein Individuum anzunehmen. Zugleich aber könnte man in diesem Fall - im Unterschied zum Fall diachroner Separatheit - nicht einmal einen willkürlichen Schnitt in der organischen Kontinuität vornehmen und den separaten Bereichen mentaler Aktivität verschiedene zeitliche Abschnitte der organischen Geschichte zuordnen. Der scheinbare Ausweg erweist sich als nicht gangbar. Der zweite Ausweg könnte darin bestehen, daß im Fall des Vorliegens separater Bereiche mentaler Aktivität Bestandteile ein und desselben Körpers als Bestandteile des Körpers zweier Individuen anzusehen sind. Dieser Vorschlag ist zumindest ungewöhnlich, und Plausibilität erhielte er allenfalls dann, wenn sich die Alternative zu diesem Vorschlag als nicht gangbar erwiesen hat. Das ist nun aber der Fall. Die Ungewöhnlichkeit dieses zweiten Vorschlags läßt sich vielleicht durch den Hinweis auf zwei Vorzüge mindern. 37 Zum einen gibt uns der Vorschlag
37 Gegen den Vorschlag könnte vorgebracht werden, daß er die oben (s. 5.2) ins Spiel gebrachte Konzeption der Anstückung unterläuft. Wie könnten, so dieser Einwand, zwei Individuen körperliche Bestandteile gemeinsam haben? Dies ließe sich mit Verweis auf das Beispiel der Ballonfahrt beantworten: Dort sollte es unerheblich sein, welcher Teil des Auftriebs welchem Baiionpassagier zugeordnet wird - solange nur jeder Passagier den erforderlichen Auftrieb-Anteil erhält. Ebenso ist es im Fall der
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im Fall synchroner Separatheit der Bereiche mentaler Aktivität bei gleichzeitigem Vorliegen nur eines organischen Gefüges 3 8 die Möglichkeit, etwa die verschiedenen Grade des Zusammengewachsenseins, die bei siamesischen Zwillingen vorliegen können, in der Individuitätskonzeption zu erfassen, ohne willkürlich über den Individuitätsstatus der Zwillinge befinden zu müssen. Zum anderen hilft der Vorschlag im Hinblick auf diachrone Separatheit, den besonders schwierigen Fall des kontinuierlichen Ubergangs von M2 zu
bei
gleichzeitigem Vorliegen nur eines organischen Gefüges einzuordnen (s. oben den Fall (2), Unterfall (b), in dem M3 M2 ergänzt und zugleich in Bezug zu Μi steht). Beispiel hierfür wäre etwa der Fall, in dem nach einer Verletzung relevanter Teile des Gehirns bestimmte mentale Funktionen noch ausgeübt werden, aber erst nach einer gewissen Zeit wieder Erinnerung an die mentalen Gehalte eintritt, die vor der Verletzung dem Bewußtsein zugänglich waren. D e r Vorzug besteht im Fall dieser Deutung zuletzt auch darin, daß sie die Unmöglichkeit erfaßt, bestimmten Geschichten mentaler Aktivität bestimmte Geschichten organischer Aktivität so zuzuordnen, daß die graduelle Aufhebung der Separatheit im Bereich des Mentalen mit einer graduellen Aufhebung der Separatheit im Bereich des Organischen verbunden ist: U n m ö g l i c h wäre diese Zuordnung schon deshalb, weil im Bereich des Organischen keine Separatheit vorliegt, aber auch deshalb, weil diese Zuordnung, wenn es sich - wie angenommen sei - um eine eindeutige Zuordnung handelt, die Vornahme gradueller diachroner Schnitte des Organischen verlangte.
10.5.4 Das Problem indifferenter Aktivitäten Man könnte fernerhin den Einwand vorbringen, daß es zumindest im Fall des Menschen, möglicherweise aber auch im Fall anderer Lebewesen,
indifferente
Aktivitäten gebe, d. h. Aktivitäten, die allem Anschein nach einem bestimmten Organismus zuzuordnen sind, die jedoch nicht zur Einheit und Selbständigkeit dieses Organismus beitragen, sie aber auch nicht beeinträchtigen. Solche
gemeinsam verwendeten Körperteile im Prinzip unerheblich, welchem der beiden Individuen welcher Anteil ζ. B. am Pumpen des gemeinsamen Herzens zugeordnet wird - solange nur jedes Individuum den nötigen Anteil erhält. 38 Ich spreche hier vereinfachend von nur einem organischen Gefüge. Damit berücksichtige ich auch den Extremfall von Zusammengewachsensein. Die Ausführung oben läßt sich leicht auf weniger extreme Fälle übertragen - ζ. B. eben auf alle Paare siamesischer Zwillinge (welche verschiedene Grade von Zusammengewachsensein aufweisen).
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Aktivitäten hätten, da sie keinen Selbständigkeitsbeitrag leisten, keine Funktion, und sie wären nicht Teil eines Funktionsgefüges. Da das Individuum nichts anderes als ein Funktionsgefüge ist, wären sie somit, entgegen allem Anschein, auch nicht Aktivitäten des Individuums. Dann aber entspräche die Individuenkonzeption nicht den Phänomenen. Dieser Einwand übersieht, daß die Reichweite möglicher Funktionszuschreibungen tatsächlich sehr umfassend ist. In jedem Fall umfaßt sie auch Ruhe-, Erholungs- oder Entspannungsaktivitäten, d. h. alle Aktivitäten, die dem körperlichen und psychischen Wohlbefinden dienen. Nur wenn keine dieser Funktionen und auch nicht irgendeine andere Funktion der in Frage stehenden Aktivität (in irgendeiner ihrer kausalen Rollen) zuzuordnen sein sollte, wäre die Aktivität tatsächlich kein Teil des Gefüges von Aktivitäten, das dem Individuum als Funktionsgefüge entspricht.39 Gibt es solche indifferenten, funktionslosen Aktivitäten? Es scheint nicht so: Zum einen ist empirisch nicht zu sehen, für welche nicht-schädigende Aktivität es möglich sein sollte, daß sie sich nicht in den Funktionszusammenhang der übrigen Aktivitäten eines Gefüges einordnen ließe. Zum anderen - indifferente Aktivitäten einmal akzeptiert - nähme jede gegebene indifferente Aktivität einer Aktivität, die konstruktiv im Hinblick auf Selbständigkeit ist, den Platz weg. Dann aber handelte es sich bei indifferenten Aktivitäten de facto um schädigende Aktivitäten.40 Diese zweite Antwort macht die Bewertung der Aktivität nun allerdings von der Bewertung anderer, nicht-vorliegender Aktivitäten abhängig. In der Konsequenz gälte für viele gegebene Aktivitäten, die einen konstruktiven Beitrag zur Selbständigkeit leisten, daß sie eigentlich
39 In diesem Zusammenhang ist eine Anmerkung zu Dispositionen angebracht: Auch Dispositionen (Fähigkeiten etc.) sind - für sich betrachtet - indifferent im Hinblick auf einen Beitrag zur Selbständigkeit. Strikt betrachtet wären sie somit, wenn sie nicht aktualisiert sind bzw. genutzt werden, nicht Teile eines Individuums. Nun wird man allerdings (auch bei nicht-teleologischer Betrachtungsweise) Dispositionen - sofern man bereit ist, Dispositionen anzunehmen - als Voraussetzungen für bestimmte Aktivitäten ansehen. Sie leisten nicht fortwährend einen Beitrag, ja vermutlich ist es nicht einmal korrekt zu sagen, sie leisteten zeitweilig einen Beitrag. Damit aber bestimmte selbständigkeitsunterstützende Aktivitäten ausgeübt werden können, müssen die entsprechenden Dispositionen vorliegen. Und hier kann es sich empirisch so treffen, und in den meisten Fällen dürfte es sich so treffen, daß das Vorliegen einer Disposition nur kontinuierlich möglich ist. Dispositionen leisten demnach auf ihre Weise ihren Beitrag, nicht als potentielle Teile, sondern indem sie Aktivitäten ermöglichen, und sie sind auch im nicht-aktualisierten Zustand Teil, weil sie nur so vorliegen können. 40 Für diese Lösung siehe oben Anmerkung 31.
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schädigende Aktivitäten sind und daß sie als solche auch keine Teile des Gefüges sind. Dies gälte insofern, als sich diese Aktivitäten in der Vielzahl der Fälle durch »bessere« Aktivitäten ersetzen ließen (wobei »besser« sich auf den Umfang des Selbständigkeitsbeitrags bezieht). Mit einigem Unbehagen möchte ich mich auf die erste, empirische Antwort beschränken. Denn die zweite Antwort verlangte eingehende Diskussionen zu weiteren Fragen, die hier nicht geführt werden können. So wäre etwa zu diskutieren, was es ontologisch heißt, daß etwas - z.B. eine Aktivität - vorliegen könnte, und wie sich das, was da vorliegen könnte, ontologisch zu dem verhält, was vorliegt und was gegebenenfalls ersetzt werden können soll. Zu diskutieren wäre ferner, ob das Gefüge, bei dem eine solche ersetzende Aktivität vorliegt, noch dasselbe Gefüge ist (und, falls nein, was es ist, worüber wir dann diskutieren). Diese Diskussionen wären wiederum vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um mögliche Gegenstände zu führen. 41 Die empirische Antwort bereitet ihrerseits offenkundig deshalb Unbehagen, weil sie eben keine in der Sache begründete Antwort ist. Für die Haltbarkeit der Individuenkonzeption stellt aber der Verweis und die Beschränkung auf diese Antwort noch kein ernsthaftes Problem dar.
10.5.5 Das Ausdehnungs-Problem In der Diskussion der Abgrenzung der Individuen nach oben und unten wurde der Vorschlag diskutiert, auch materielle Anstückungen seien unter Umständen als Teile von Gefügen zu betrachten, und zwar dann, wenn diese Anstückungen zur Erhaltung oder zur Selbständigkeit des Gefüges beitragen und auf die eine oder andere Weise integriert sind.42 Heißt dies in der Konsequenz nicht aber auch, daß unter denselben Umständen ein Gefüge g, ein anderes Gefüge g2 vereinnahmen kann, nämlich dann, wenn g1 sich die Aktivität von g2 für die Steigerung der Selbständigkeit zunutze macht und die Aktivität von g2 gewissermaßen zur Aktivität von g, wird? Ein Beispiel für auf solche Weise interpretierte Verhältnisse könnte man etwa in Aristoteles' Auffassung vom »natürlichen« Sklaven als lebendigem Besitz und Werkzeug sehen (wobei es hier ausschließlich um den ontologischen Aspekt des Beispiels, nicht um seine ethische Bewertung geht).43
41 Zu possible objects siehe etwa Yagisawa 2005. 42 Siehe oben Abschnitt 5.2. 43 Siehe Pol. I 4, 1253b32-33, 1254all-17; siehe auch EE VII 9, 1241bl7-24.
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Diesem Problem läßt sich etwa wie folgt begegnen: Lebewesen sind Selbstorganisierer. Kein Selbstorganisierer kann aber aus anderen Selbstorganisierern bestehen. Die Aktivitäten eines Selbstorganisierers sind immer seine eigenen, und das gilt etwa auch für solche, die ihm befohlen werden. Aktivitäten, die mit dem Selbstorganisierer qua physikalischem Gegenstand ausgeführt werden, sind hingegen keine Aktivitäten des Selbstorganisierers, sondern des Ausführenden. Wenn wir uns etwa den - allerdings ganz unschönen - Fall einer Schildkröte, die als Schlagwerkzeug benutzt wird, ansehen (auch hier geht es nur um den ontologischen Aspekt des Beispiels, nicht um seine ethische Bewertung), so spielt es für den Gebrauch als Schlagwerkzeug keine Rolle, ob es sich um eine lebendige Schildkröte oder lediglich um einen Schildkrötenpanzer handelt. Bei Verwendung der Schildkröte als Schlagwerkzeug wird die Schildkröte für die Dauer der Verwendung qua materieller Teil dem Benutzer angestückt.44 Als Selbstorganisierer hingegen bleibt sie, sofern sie bei jener mißbräuchlichen Benutzung nicht nachhaltig geschädigt wird, ein selbständiges Gefüge. Wenn Funktionen Beiträge von Teilen zur Einheit und Selbständigkeit des Organismus sind, solche Beiträge aber auch von angestückten Teilen wie ζ. B. Herzschrittmachern geleistet werden, wenn andererseits aber in ontologischer Hinsicht kein sachlich begründeter Unterschied zwischen den verschiedenen möglichen Anstückungen zu machen ist, dann ist die Akzeptanz von Teilenunter-Aspekten eine Konsequenz aus der Auffassung von Individuen als Funktionsgefügen. Teile-unter-Aspekten nehmen wir häufig, wenn nicht immer an, wenn wir von »Teilen« sprechen. Wenn ich Teil einer Gruppe von Menschen bin, bin ich nicht oder nicht notwendigerweise dank aller meiner Eigenschaften Teil dieser Gruppe, sondern nur dank bestimmter Eigenschaften. Zugleich kann ich dank anderer Eigenschaften Teil einer anderen Gruppe sein.45
44 Ich will mich oben nicht auf Fälle beziehen, in denen ein Fall vorsätzlicher Tierquälerei vorliegt. Ich denke vielmehr etwa an einen Fall völliger Gedankenlosigkeit (im Hinblick auf die Schildkröte als solche) oder den Fall einer extremen Notsituation. Mit der Verwendung des Beispiels will ich ausdrücklich nicht behaupten, daß die entsprechende Verwendung der Schildkröte gerechtfertigt sei. Sollte im übrigen der soeben ausgeschlossene Fall eines vorsätzlichen Tierquälens gegeben sein, handelte es sich bei dieser Aktivität von vornherein nicht mehr um eine Aktivität, mit der ein externer materieller Teil angestückt würde. Dies deshalb nicht, weil die Aktivität des Tierquälens prinzipiell keine Aktivität ist, die zur Selbständigkeit des Akteurs beitragen könnte. 45 Für die Konzeption von Individuen als Funktionsgefügen bedeutet dies eine weitere Präzisierung. Teile sind Teile des Individuums dank ihres Beitrags zur Einheit und Selbständigkeit des Individuums. Die materiellen Entitäten, die die Teile sind, sind dies unter bestimmten Aspekten. Sie können darüber hinaus andere Eigenschaften haben, die für die Teil-konstituierende Eigenschaft Voraussetzung sind oder die unerheblich
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10. Die Einheit des Individuums
Das Gegenstück zur Rede von Teilen-unter-Aspekten auf seiten der angestückten Entität ist - im Fall angestückter Organismen - die Rede von der Verschiedenheit kausaler Rollen, die bereits oben eingeführt wurde (s. 10.5.1). Mit diesen Differenzierungen (nämlich von kausalen Rollen bzw. von Teilen unter Aspekten) läßt sich nun auch ein Problem besser fassen, das weiter oben unter dem Titel »Zwang-Einwand« erörtert wurde (s. 5.1.3). Bei dem Einwand handelte es sich um einen Einwand zugunsten der Annahme ontologisch primärer sozialer Organismen: Wird, so der Einwand, auf Mitglieder eines sozialen Organismus starker Zwang ausgeübt, können diese Mitglieder ihre Selbständigkeit verlieren. Dann aber, so der Einwand, verlieren sie auch ihre Individuität. Eine der Erwiderungen auf diesen Einwand unterschied zwischen externer und interner Determiniertheit. Der Punkt, auf den es dabei ankam, war, daß es beim Individuum liegt, auf eine bestimmte Weise zu reagieren, jedenfalls solange es sich »nur« um sozialen Zwang handelt. Dies läßt sich jetzt ergänzen: Es sollten Aktivitäten - und es sollte gegebenenfalls auch schon eine Aktivität verschiedene kausale Rollen im Hinblick auf das Gefüge, das ihr Urheber ist, haben können (so 10.5.1). Ebenso kann einem Gegenstand als ganzem eine kausale Rolle aufgezwungen werden (er wird extern determiniert oder instrumentalisiert), während zugleich die Teile (Aktivitäten etc.), die ihn als Gefüge konstituieren (welches gerade extern determiniert wird), kontinuitätsstiftend sein können. 46 Die Unterscheidung verschiedener kausaler Rollen
dafür sind. Die Farbe des Herzens (etwa bei Tageslicht) ist unerheblich für den Beitrag des Herzens. Sie ist lediglich Folge aus dem Material, das der Leistung des Beitrags zugrunde liegt. Sollte das Herz durch ein künstliches Herz ersetzt werden, könnte sich mit dem Material die Farbe ändern, ohne daß sich etwas an dem zu erbringenden Beitrag änderte. 46 Die Annahme von kausalen Rollen und Teilen-unter-Aspekten enthält auch eine Antwort auf ein verwandtes Problem, das oben (s. 5.2) angesprochen wurde, nämlich das Problem parasitärer Verhältnisse. Auch für diese Verhältnisse gilt, daß zu unterscheiden ist zwischen der kausalen Rolle einer Aktivität, unter der diese Aktivität kontinuitätsstiftend zugunsten des Wirts - und dementsprechend sein Teil - ist, und der kausalen Rolle dieser Aktivität, unter der sie selbständigkeitsfördernd zugunsten des Parasiten - und dementsprechend sein Teil - ist. Und auch eine Ergänzung der Antwort auf den Autarkie-Einwand (s. 5.1.1) ist nun möglich. Dem Einwand wurde entgegengehalten, daß Autarkie niemals erreichbar sei und deshalb auch nicht als Individuitätsbedingung tauge: Mindestens seien wir Menschen etwa auf die Atmosphäre, die Erde und das Sonnensystem angewiesen. Diese Antwort läßt sich nun präzisieren: Wiewohl wir auf jene umfassenden Systeme angewiesen sind, sind doch die Aktivitäten, die uns konstituieren, nicht unter jeder kausalen Rolle Teile jener umfas-
10.5 Probleme
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erlaubt hiermit - bei selbständigkeitsfähigen Entitäten - selbst im Fall externer Determiniertheit die Zuschreibung von Selbständigkeit. Sie ist - dank der Annahme von Teilen-unter-Aspekten - zugleich aber auch mit der Annahme der Anstückung vereinbar, wenn es sich bei der Benutzung des Gegenstands um einen Beitrag zur Selbständigkeit des Benutzenden handelt.
10.5.6 Das Wellen-Problem D i e Annahme, die eben im Hintergrund der A n t w o r t auf das Anstückungsproblem stand, daß nämlich Selbstorganisierer nicht aus Selbstorganisierern bestehen oder sie als Teile enthalten, ist noch näher zu erläutern. D e n n Gefüge wie Wellen oder bestimmte Wirbel - so etwa der G r o ß e Rote Fleck des Jupiter erhalten sich selbst, sind aber nicht strikt von typgleichen Gefügen abgegrenzt. 47 Wodurch unterscheiden sich Individuen von solchen Gefügen? Weshalb ist der G r o ß e R o t e Fleck kein Individuum? D e r Hauptunterschied zwischen komplexen selbsterhaltenden Ereignissen, wie es Wellen sind, und einem selbsterhaltenden Ereignis, wie es a life ist, besteht nach van Inwagen darin, daß sich Wellen überlagern können, Fälle von Leben hingegen nicht. 4 8 U n d dies ist tatsächlich der entscheidende Unterschied zwischen verschiedenartigen Fällen von Selbstorganisation: Wellen können sich addieren oder sie können übereinanderlaufen; eine Welle kann sich teilen, und Wirbel können sich überlagern. D a n n aber können Wellen oder Wirbel keine Individuen sein. Denn Organismen können sich nicht überlagern, ein Organismus kann sich als solcher nicht zertrennen. D i e Prozesse, die im Fall eines Organismus vorliegen, bilden ein Gefüge solcher Art, das nicht durch ein Gefüge ebensolcher Prozesse ergänzbar oder seinerseits in weitere Gefüge zerlegbar ist.
senderen, überindividuellen Systeme. Diese Präzisierung setzt nicht voraus, daß sich jene umfassenden Systeme ihrerseits durch Selbständigkeit auszeichnen (das tun sie nicht). Der Punkt ist nur, daß Organismen trotz ihres Angewiesen-Seins auf jene Systeme eigene Aktivitäten und Teile besitzen können. 47 Der Fleck wurde (den allgemein zugänglichen Informationen zufolge) in den 1660ern entdeckt (als Entdecker wird meist Robert Hooke angegeben, gelegentlich aber auch Giovanni Domenico Cassini). Die veränderlichen Ausmaße des Flecks betragen ca. 24.000 auf 11.000 km, als größte Ausdehnung wurden 1880 Ausmaße von 40.000 auf 14.000 km beobachtet. Bei diesem Fleck handelt es sich um einen meteorologischen Wirbel, der sich auf der Jupiter-Oberfläche oszillierend bewegt. 48 Siehe van Inwagen 1990: 88f.; siehe oben Abschnitt 7.2.
276
10. Die Einheit des Individuums
Allerdings kann sich ein Organismus auf bestimmte Weise teilen - so ζ. B. im Fall asexueller Reproduktion der Amöbe und eventuell können sich auch zwei Organismen zu einem Organismus verbinden. In beiden Fällen ist dies aber nur unter Voraussetzung einer strukturellen Umformung möglich, bei der die Struktur der Ausgangsorganismen bzw. des Ausgangsorganismus in relevanter Hinsicht zerlegt wird, und diese Voraussetzung besteht für die Überlagerung von Wellen gerade nicht. Die Struktur des Organismus (und damit der Organismus) kann im Fall der Trennung oder der Fusion nicht bewahrt werden, weil die Struktur eben so gebaut ist, daß sie sich als die Struktur, die sie ist, auch bei aller eventuell auftretenden internen Veränderung bewahrt und daß sie der Welt als etwas überzeitliches Ganzes gegenübertritt. Der Unterschied zwischen Organismen und Wellen zeigt sich dann dementsprechend auch darin, daß die Organismen, nicht aber die Wellen, im Fall der Konfrontation mit anderen Gegenständen als Entitäten auftreten, die sich aufgrund ihrer Struktur als etwas diachron Ganzes einbringen und nicht auf den Zeitraum oder Zeitpunkt der Konfrontation begrenzt sind (siehe 10.2.4). Aufgrund derselben Beobachtungen sind auch soziale Organismen nicht als Individuen aufzufassen. Sofern sie als Selbsterhalter und -organisierer betrachtet werden, sind sie dies nicht im eigentlichen Sinn von »Selbsterhalter«, sondern sie sind vielmehr solche Selbsterhalter, die sich überlagern, addieren und trennen können, und deshalb sind sie keine Individuen. Ihre Struktur kann sich beliebig verändern, sie treten äußeren Entitäten nicht notwendig als etwas diachron Ganzes gegenüber. De facto sind es nur ihre individuellen Träger, die nicht auf den Zeitpunkt oder Zeitraum einer Konfrontation begrenzt sind. Aus dem gleichen Grund fallen schließlich auch Kristalle aus dem Bereich möglicher Individuen heraus. Wiewohl sich diese Entitäten infolge ihrer physikalischen Struktur selbst organisieren, gibt es hier de facto keinen individuellen Träger dieser Organisation. »Selbstorganisation« heißt hier vielmehr, daß sich etwa vorhandene Kristalle infolge ihrer Struktur in ganz bestimmter Weise ergänzen lassen. N u r unselbständige Fragmente können sich aber in dieser Weise addieren oder einbauen lassen, und sie können dies nur deshalb, weil sie im Fall der Addition oder des Einbauens nicht als Selbsterhalter auftreten.
10.5.7 Das Verschiedenheits-Problem Ein Funktionsgefüge läßt sich von Entitäten, die nicht zu ihm gehören, mit Hilfe des Kriteriums des Beitrags zur Einheit und Selbständigkeit des Gefüges unterscheiden: Wird es etwa mit einer entsprechenden Entität konfrontiert, so läßt sich anhand des Beitragskriteriums entscheiden, ob sie ein Teil des Indivi-
10.5 Probleme
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duums ist oder nicht. Dafür, daß dies eine erfolgreiche Individuationsbemühung wird, wird allerdings schon vorausgesetzt, daß es uns auf phänomenaler Ebene gelungen ist, ein potentielles Individuum zu identifizieren. Wir können nur dann darauf vertrauen, daß diese vorausgehende Identifizierung nicht ganz falsch liegt, wenn wir darauf vertrauen können, daß die Phänomene in etwa die ontologischen Strukturen widerspiegeln. Das verlangt ohne Zweifel eine gehörige Portion an Vertrauen. Zugleich ist dieses Verfahren jedoch das einzige Verfahren, das Individuationsbemühungen nicht zu rein theoretischen Bemühungen werden läßt. Dennoch stellt sich auch für dieses Verfahren die Frage nach dem ontologischen Zugriff auf Individuen: Aufgrund welcher Kriterien können wir auf ontologischer Ebene ein Individuum herausgreifen? In zugespitzter Form zeigt sich dieses Problem im Problem der Identität der Ununterscheidbaren: Im Fall dieser Ununterscheidbaren gelingt es uns nicht, Ununterscheidbares, von dem wir glauben, daß es unterscheidbar sei, zu unterscheiden. Max Black hat dieses Problem mit Hilfe des bekannten Modells zweier Kugeln veranschaulicht, die sich in einem sonst nichts enthaltenden Bezugssystem befinden und genau die gleichen Eigenschaften aufweisen.49 Die beiden Kugeln lassen sich innerhalb des Bezugssystems allem Anschein nach nicht individuieren. Für unsere Individuenkonzeption stellt sich in der zugespitzten Form das gleiche Problem, nämlich das Problem, wie sich zwei Individuen, die sich in allen Eigenschaften gleichen, unterscheiden lassen. Was, so die Frage, macht sie zu zwei Individuen? Eine der schwächsten Antworten (nicht auf Black, sondern auf das Problem) stammt von Russell. Russell setzt ein Individuum aus Bündeln gleichzeitiger und dem gleichen Ort zugeordneter (Sinnes)-Qualitäten zusammen und spricht von einem »complete complex of compresence«.50 Der Punkt, auf den es hier ankommt, ist nicht der der Plausibilität einer solchen Individuenkonzeption, sondern Russells anschließende Versicherung, daß es, wiewohl logisch nicht ausgeschlossen, »very improbable« oder »empirically so exceedingly improbable« sei, daß exakte Gleichheit oder Wiederholung solch eines Bündels vorkomme.51 Das ist insofern unbefriedigend, als es sich beim Problem der Individuation um ein ontologisches Problem handelt, dessen Lösung wir ungern in kontingenten Fakten sehen würden.
49 Siehe Black 1952, sowie, für weitere Diskussion dazu, die Literatur bei Forrest 2002. 50 Russell 1948: 312. 51 Russell 1948:313. Die Leibniz'sche Variante der Individuation durch minimale Unterschiede ist um etliches scharfsinniger, aber eben auch nicht ohne Leibniz'sche Theorie zu haben; zum Prinzip siehe Discours §9, AA VI/4 B, 1541.11-13.
10. Die Einheit des Individuums
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Einen Ausweg aus dem ontologischen Problem, der nicht wiederum mit größerem ontologischen Aufwand verbunden wäre, kenne ich nicht. U n d ebensowenig weiß ich, wie eine Antwort auf den Einwand lauten könnte, wonach mit dem Zugriff auf das Individuum ontologisch vorausgesetzt werde, was ontologisch erst noch zu begründen wäre. E i n Verweis auf tropes haecceitates
oder
erscheint mir in zweierlei Hinsicht nicht hilfreich. 5 2 Zum einen
müßte man erläutern, was eine trope bzw. was eine haecceitas
ist, was einigen
Aufwand erforderte. Zum anderen hätte man das Problem nur verschoben, da man nun erklären müßte, wodurch sich etwa zwei gleiche tropes unterscheiden. Zu sagen, ihr Unterschied sei primitiv, d. h. grundlegend, wäre jedenfalls keine erhellende Antwort. Es bleibt allem Anschein nach nur der Hinweis, daß alle Individuationskonzeptionen dem Black-Problem ausgesetzt sind: G a n z gleich welche ontologischen Entitäten jeweils angenommen werden, muß ihr U n t e r schied unter Annahme eines Modells wie etwa des Kugel-Modells erklärt werden können, und der eventuelle Verweis auf die Primitivität der individuierenden Merkmale ist nur eine Verweigerung dieser Erklärung.
10.6 Schluß: Das Individuum als Funktionsgefüge Ich schließe mit einer Zusammenfassung der wichtigen Punkte der vorgeschlagenen Individuenkonzeption. I m ersten Abschnitt verdeutliche ich noch einmal die Relevanz der Rede vom »Funktionsgefüge«. D u r c h die Rede von » F u n k tion« läßt sich der Beitrag des Teils für die Selbsterhaltung, Selbständigkeit und Einheit des Gefüges besser fassen. J e nachdem wie wir Funktionen und Funktionsausübungen verstehen, verstehen wir auch das Individuum, dessen Teile sich in ihrer Funktionsausübung in das Gefüge einbinden, das das Individuum ist. Mit der Auffassung vom Individuum als Funktionsgefüge erhalten wir zugleich eine angemessene Grundlage für den ersten Ausgangspunkt, nämlich das Herausgreifen bestimmter phänomenaler Regelmäßigkeiten: Diese Regelmäßigkeiten verdanken sich gerade dem entsprechenden Gefüge der Teile und ihrem Funktionieren (10.6.1). Im zweiten Abschnitt verbinde ich den Begriff
52 Für tropes als Lösung des Problems siehe etwa Campbell (1981:482f.), für die Diskussion und Annahme von haecceitates siehe etwa Adams (1979) sowie Rosenkrantz (1993: u. a. 77-81 für den Bezug auf Black, 87 für die Einführung des »baecceity criterion« und 97 für die These, daß dieses Kriterium das Individuationskriterium liefere). Zur Kritik an dem Vorschlag von Liske (1999) für eine Individuation durch »reale«, kontextualisierte Eigenschaften siehe Rapp 2000. Für den Versuch, das Prinzip der Ununterscheidbaren mit Hilfe dynamischer Massen zu stützen, siehe Seibt 1995: 380-382.
10.6 Schluß: Das Individuum als Funktionsgefüge
279
des Funktionsgefüges mit dem der Einheit des Individuums und den Begriff der Einheit mit dem der Unteilbarkeit. Die Einheit besteht in einem bestimmten Zusammenhang der Teile, deren Verbindung - den zu erfassenden Phänomenen entsprechend - in verschiedenen Graden vorliegen kann. Jede Auflösung einer Teilverbindung bedeutet partielle Zerstörung, und insofern sind Individuen unteilbar, obwohl sie sich in ihren Teilverbindungen verändern und diese Veränderung überdauern können (10.6.2). Der dritte Abschnitt gibt einen Rückblick auf die vorbereitenden Kapitel 2 bis 8 und setzt die Auffassung vom Individuum als Funktionsgefüge zu einigen der dort angestellten Überlegungen in Beziehung (10.6.3). Im vierten Abschnitt fasse ich die wesentlichen Merkmale bzw. Besonderheiten der Individuenkonzeption in Stichpunkten zusammen (10.6.4).
10.6.1 Zur Relevanz der Rede vom Funktionsgefüge Individuen, die materielle Gegenstände sind, sind Funktionsgefüge. Sie sind Gefüge, insofern sie aus Teilen bestehen, die sich ihrer Struktur nach voneinander unterscheiden (nämlich so, daß es zu jedem Teil einen strukturverschiedenen Teil gibt), die in einem kausalen Verhältnis zueinander stehen und die aufgrund ihrer verschiedenen strukturellen Eigenschaften so interagieren, daß sie eine persistierende und als solche identifizierbare Gesamtheit bilden, die der Welt als etwas Eigenständiges gegenübertritt, das nicht auf den Moment der Konfrontation mit ihr eingeschränkt ist. Das in Frage stehende Gefüge ist demnach nicht nur ein strukturelles, sondern ein dynamisches Gefüge: Das Gefüge wird nur dann angemessen beschrieben, wenn die im Fall der Interaktion vorliegenden Veränderungen mit erfaßt werden. Dieses dynamische Gefüge ist ein Funktionsgefüge insofern, als die Gesamtheit nur persistiert, wenn die Teile ihren Beitrag leisten, d. h. wenn sie gemäß ihrer strukturellen Eigenschaft zu bestimmten Zeiten in bestimmter Intensität aktiv sind. Das Leisten dieses Beitrags wird traditionellerweise als die Ausübung der Funktion aufgefaßt. Die Teile haben diese Funktion auch dann, wenn sie gerade nicht aktiv sind. Dies läßt sich durch die Verwendung von »Funktion« besser ausdrücken als durch die Rede von »Beitrag leisten«, und zwar deshalb, weil durch »Funktion haben« nicht nur der zu leistende Beitrag, sondern auch die Besonderheit der Dauer, Frequenz und Intensität und insgesamt die relevanten Umstände des Beitrag-Leistens mit erfaßt werden. Zugleich läßt sich durch die Klärung dessen, was es heißt, eine Funktion zu haben, klären, was es heißt, ein solches Gefüge zu sein, und somit was es heißt, ein Individuum zu sein. Denn es ist zu klären, was es heißt, einen Beitrag zu
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10. Die Einheit des Individuums
leisten, wenn ein Individuum aus Teilen, die einen Beitrag leisten, besteht. Je nachdem, wie das, was es heißt, einen Beitrag zu leisten, ontologisch gefaßt wird, d. h. welche ontologischen Implikationen in der Rede vom »Beitrag leisten« enthalten sind, wird auch das Individuum ontologisch gefaßt, das durch diese Beiträge gebildet und erhalten wird. Die Klärung des Funktionsbegriffs (s. Kapitel 9) hilft uns insbesondere, das durch die Funktionen konstituierte Gefüge als etwas zu begreifen, das ontologisch nicht von einem überindividuellen Zusammenhang her zu verstehen ist. Im Unterschiede dazu implizieren die platonische, die aristotelische oder die ätiologische Rede von Funktionen eine je verschiedene Gesamtsicht der Welt, deren Teile Individuen auf bestimmte Weise sind bzw. zu der Individuen in einem bestimmten Verhältnis stehen. Von diesem Teil-Sein bzw. von diesem Verhältnis her sind Individuen nach derartigen Auffassungen auf verschiedene Weise, doch immer als etwas Abhängiges zu begreifen. Dies gilt im Fall Piatons, traditionell interpretiert, für das Verhältnis von Funktionen zu überindividuellen Standards, was um so relevanter ist, als Funktionen hier auch Individuen, nicht nur ihren Teilen, zukommen. Damit aber werden Individuen als das, was sie sind, in ein bestimmtes Verhältnis zu jenen Standards gesetzt, da sie ontologisch eng an jene Funktionen geknüpft sind. Ähnliches gilt für Aristoteles, wo ebenfalls ein sehr enger Zusammenhang zwischen dem, was etwas ist, und seiner Funktion hergestellt wird. Materielle Individuen, oder wahrnehmbare ousiai, sind als das, was sie sind, nur scheinbar unabhängig. Tatsächlich hängen auch sie von jener ousia ab, von der alles andere abhängt, nämlich dem Unbewegten Beweger (s. Met. X I I 7, etwa 1072bl4). Darüber, wie diese Abhängigkeit aussieht und wie sie ontologisch zu fassen ist, wüßte man gerne mehr. Auch hier scheint es sich zumindest so zu verhalten, daß die Funktion das Individuum als das, was es ist, in einer bestimmten Weise an die Welt bindet: Etwas erfüllt seine Funktion als das, was es ist, genau dann, wenn es sich in bestimmter Weise in die Welt einfügt, und die Teile eines Individuums erfüllen ihre Funktion genau dann, wenn sie den entsprechenden Beitrag zu diesem Einfügen leisten. Auch unabhängig von einer Entscheidung über die Allgemeinheit oder Individualität aristotelischer Formen werden materielle Gegenstände hier, vermittelt über die auszuübende Funktion, in relevanter Hinsicht durch überindividuelle Faktoren bestimmt.53
53 Möglicherweise wird man Aristoteles individualistischer lesen wollen. Wenn dies - auch unter Berücksichtigung von Met. XII und unter Berücksichtigung der genealogischen Aspekte des eidos - gelingen sollte, würden sich vermutlich mehr Ubereinstimmungen von Individuen als Funktionsgefügen und aristotelischen ousiai ergeben, als es oben zum Ausdruck kommt.
10.6 Schluß: Das Individuum als Funktionsgefüge
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Eine überindividuelle Konstituierung findet sich schließlich auch im Fall des ätiologischen Funktionsbegriffs, der die Funktionalität von Teilen von Entitäten abhängen läßt, die von jenem Individuum verschieden sind, dessen Teile die Teile sind. So sind die ontologischen Implikationen des ätiologischen Funktionsbegriffs und seiner verschiedenen Prägungen insofern erheblich, als hier in der Konsequenz das Teil-Sein von Dingen und Entitäten abhängig gemacht wird, die mit der Entität, um deren Teil-Sein es geht, in ontologischer Hinsicht nichts zu tun haben. Daß die Diskussion zum Begriff der Funktion diesem ätiologischen Begriff, nicht der platonischen oder der aristotelischen Konzeption, gegolten hat, ist dem Umstand geschuldet, daß diesem Begriff heute größere Aufmerksamkeit widerfährt, dem Umstand, daß er dem Anschein nach eine gute Verankerung in den Phänomenen und in unseren herkömmlichen Intuitionen besitzt, dem Umstand, daß er mit dieser Verankerung einen Zugang wählt, der dem Zugang, den ich für die Entwicklung der Konzeption von Individuen als Funktionsgefügen wähle, gleicht, sowie dem Umstand, daß eine Diskussion der historischen Konzeptionen ein anderes Projekt wäre. In positiver Hinsicht sollte die Diskussion des Funktionsbegriffs mit der Modifikation des systemischen Funktionsbegriffs eine Alternative zum ätiologischen Begriff bieten, und zwar mit der weiteren Absicht, daß wir auch in dieser Hinsicht aus der Klärung des Funktionsbegriffs eine Klärung dessen gewinnen, was es heißt, ein Gefüge zu sein. Es ist das Kennzeichen der Funktion nach systemischem Verständnis, daß der Funktionsträger etwa zu einer Eigenschaft oder Disposition oder Fähigkeit des Systems beiträgt, dessen Teil er ist. Das Besondere des Beitrags im Fall des vorliegenden Gefüges liegt nun zuerst darin, daß dieser Beitrag letztlich als Beitrag zur Erhaltung des Gefüges aufzufassen ist. »Letztlich« deshalb, weil der unmittelbare Effekt ζ. B. der Ausführung der Herzfunktion konkreter ist, letztlich aber die Erhaltung des Systems zur Folge hat. Ferner liegt das Besondere des Beitrags darin, daß der Beitrag zur Erhaltung des Gefüges ein Beitrag zu dessen Selbsterhaltung, zu seiner Einheit und zu seiner Selbständigkeit ist, und zwar deshalb, weil das Gefüge genau dann besteht, wenn es sich selbst erhält oder organisiert und wenn es sich durch Einheit und Selbständigkeit auszeichnet. Wir verstehen nun das Gefüge insofern vom systemischen Funktionsbegriff her, als wir für ein phänomenal gegebenes System Funktions-Ausführungen dem systemischen Begriff nach als Erbringungen von Leistungen für eine Eigenschaft, Disposition oder Fähigkeit des Systems ansehen können: Das oder einiges von dem, was die Teile, die jenem herausgegriffenen System dem Anschein nach zugeordnet werden können, beobachtbar und mit Regelmäßigkeit tun, ist als das Leisten eines solchen Beitrags anzusehen. Dann aber müssen wir weiter klären, um den Beitrag zu welcher Eigenschaft (etc.) es letztlich geht.
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10. Die Einheit des Individuums
Letztlich sind dies die Eigenschaften, derentwegen wir dieses bestimmte System aus der Vielfalt der Phänomene herausgegriffen haben und die sich in bestimmten Regelmäßigkeiten zeigen. Wir werden also mit solchen Regelmäßigkeiten konfrontiert, wollen sie begrifflich fassen und begreifen sie nur dann, wenn wir ihnen ein Gefüge von interagierenden Teilen zugrunde liegen sehen, zu dessen Bestehen die Teile beitragen und das seinerseits jene Abgeschlossenheit aufweist, die der Begrenztheit des in Frage stehenden Phänomens entspricht. Diese Abgeschlossenheit liegt auf ontologischer Ebene genau dann vor, wenn sich das Gefüge durch Einheit und Selbständigkeit auszeichnet, das heißt, wenn es ein Individuum ist. Im Fall der nicht-individuellen Gefüge wiederum führt uns die systemisch aufgefaßte Funktion deshalb nicht zu individuellen Gefügen, weil wir hier von vornherein ein anderes System herausgreifen und durch den Bezug auf Funktionen der Teile ein anderes Merkmal als das der Selbsterhaltung - oder, auf phänomenaler Ebene, der Regelmäßigkeit des Herausgegriffenen als ganzen verständlich machen wollen. Solche Gefüge können ebenfalls als Funktionsgefüge aufgefaßt werden, doch ist die Annahme von systemischen Funktionen hier nicht auf Merkmale eines abgeschlossenen, selbständigen Systems bezogen.
10.6.2 Die Einheit und die Unteilbarkeit des Individuums Wenn die individuellen Gefüge sich nun durch Einheit und Selbständigkeit auszeichnen, wie läßt sich dann die Einheit des Individuums genauer fassen? Und in welchem Verhältnis steht die Unteilbarkeit des Individuums dazu? Individuen zeichnen sich durch Einheit aus. Wenn es sich bei einem Individuum um einen materiellen Gegenstand handelt, ist die Einheit ein Zusammenhang von interagierenden und kooperierenden Teilen, die durch die spezifische Leistung ihres Beitrags, nämlich die Ausübung ihrer Funktion, ein Gefüge konstituieren und kraft ihres Beitrags zu diesem Gefüge gehören. Das Gefüge, oder Funktionsgefüge, zeichnet sich dadurch aus, daß es sich durch die Interaktion und Kooperation seiner Teile selbst erhält und organisiert. Es ist ein Selbstorganisierer, der sich dank der Interaktion und Kooperation seiner Teile durch Abgeschlossenheit und Selbständigkeit auszeichnet und sich als Ganzes in ein Verhältnis zur Welt setzt. Die Einheit ist - den Phänomenen entsprechend - flexibel insofern, als Zahl und Art und Verbindungsgrad der interagierenden und kooperierenden Teile de facto variieren (s. auch 10.4.2), und zwar sowohl im Vergleich verschiedener Individuen miteinander wie auch im Vergleich verschiedener Zeitpunkte des Lebens ein und desselben Individuums miteinander.
10.6 Schluß: Das Individuum als Funktionsgefüge
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N u r unter Verminderung der Einheit und der Selbständigkeit lassen sich Teile des Funktionsgefüges wegnehmen bzw. direkte Verbindungen zwischen ihnen trennen. Teilung geht also mit einem graduellen Verlust an Individuität einher, und materielle Individuen sind insofern unteilbar, als Teilung diesen Verlust bedeutet. D i e endgültige Zerstörung des Gefüges ist dann nichts anderes als die weitestmögliche Teilung. Diese Auffassung von »Unteilbarkeit« trägt dem Umstand Rechnung, daß Individuen, die materielle Gegenstände sind, de facto teilbar sind und daß die Rede von »Unteilbarkeit« also einen spezifischen Sinn haben muß. Dieser Sinn berücksichtigt neben der Teilbarkeit der materiellen Gegenstände als solcher, daß Individuen nach bestimmten Teilungen dennoch weiterbestehen können - eben mit geringerem Individuitätsgrad - und daß dadurch gleichwohl etwas zerstört wird, das das Individuum als solches betrifft. 5 4
10.6.3 Rückblick D i e Konzeption des materiellen Individuums als Funktionsgefüge trägt nun auch für jene Überlegungen etwas aus, durch die die Diskussion des Begriffs der Funktion und des Funktionsgefüges vorbereitet wurde. D e m Rückblick auf einige dieser Überlegungen stelle ich wieder einen Überblick voran: (1) Kausalität spielt für die Rede v o m Funktionsgefüge gerade auch im Fall des Verhältnisses des Gefüges zur U m w e l t eine besondere Rolle: Das Gefüge setzt sich kraft seiner Struktur als etwas diachron Ganzes in ein Verhältnis zur Welt und entzieht sich auf diese Weise einer vollständigen externen Determination. Mit einem solchen Gefüge liegt etwas »Neues« und »Eigenständiges« in der Welt vor, ohne daß dies jedoch als etwas stark Emergentes anzunehmen wäre und ohne daß seine Reduzierbarkeit von vornherein ausgeschlossen wäre. (2) D i e Auffassung vom Individuum als Funktionsgefüge macht ferner die Abgrenzung nach unten besser verständlich: N u r nämlich auf der E b e n e des Individuums haben wir es mit einem Gefüge zu tun, das sich durch Einheit und
54 Die Auffassung trägt ferner etwa auch dem Umstand Rechnung, daß Arten keine prioritäre ontologische Funktion haben und daß schon von daher, unabhängig von weiteren schwerwiegenden sachlichen Problemen, eine der prominenten traditionellen Erklärungen für die Unteilbarkeit von Individuen entfällt, wonach materielle Individuen insofern unteilbar seien, als sie nicht in Gleiches zerlegbar seien - wie es etwa für Arten in bezug auf ihre Mitglieder zutreffe. Siehe etwa Boethius, in Is., ed.pnm. 116, 47.2-11 oder in Cat. 174B (vgl. dazu und zu Boethius insgesamt Gracia 1988b: 65-121) sowie Suärez, Disp. Met. V, sea. 1, 3 [/. 13-23; p. 146 Berton].
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10. Die Einheit des Individuums
Selbständigkeit auszeichnet. Durch Einheit und Selbständigkeit grenzt sich das Individuum auch nach oben ab, d. h. zum Beispiel gegen soziale Organismen, deren Teil es gegebenenfalls ist. Nicht die sozialen Organismen sind selbständig, sondern ihre individuellen Träger. Verschiedene soziale Organismen können sich - anders als Individuen - auf verschiedene Weise miteinander verbinden oder sich trennen, ohne daß dies für ihre individuellen Träger von ontologischer Relevanz wäre, und sie sind als das, was sie sind, vollständig von ihren Trägern abhängig. (3) Die Auffassung vom Individuum als Funktionsgefüge läßt sich des weiteren an den Umgang mit vermeintlich vagen Gegenständen anbinden. Angesichts der Vagheitsprobleme war die Frageperspektive von der Frage, ob ein Gegenstand nach Wegnahme bestimmter Teile noch ein Gegenstand der Art Α ist, zur Frage hin zu verändern, ob eine gegebene Entität Teil eines gegebenen Gefüges ist (was sie ist, wenn sie einen Beitrag zu dessen Selbständigkeit leistet). Es geht nicht um die Erfüllung eines Standards ζ. B. einer natürlichen Art, sondern um den Beitrag im Hinblick auf Gefüge, die möglicherweise veränderliche Gefüge sind. Die vorgeschlagene Individuenkonzeption eröffnet die Möglichkeit für diese Veränderung der Frageperspektive. (4) Die Auffassung vom Individuum als Funktionsgefüge erlaubt es demnach, die Flexibilität des Gefüges zu erfassen, wie dies auch den Phänomenen entspricht: Sie hilft beim Ordnen der Welt. Demgegenüber ist die Kategorisierung des Herausgegriffenen eine nachgeordnete Aufgabe, die der vorgeschlagenen Individuenkonzeption gerecht werden muß - etwa indem sie den Unterschied zwischen Dispositionen und deren Aktualisierungen erfaßt.
10.6.3.1 Funktionsgefüge, kausale Relevanz und neue Entitäten Die Konzeption von Individuen als Funktionsgefügen berücksichtigt den Umstand, daß Individuen, die materielle Gegenstände sind, in einem kausalen Verhältnis zu einer gegebenen Umwelt stehen. Sie berücksichtigt diesen Umstand zum einen insofern, als das Kriterium für die Zugehörigkeit der Teile deren Beitrag zur Einheit und Selbständigkeit des Gefüges ist, dieser Beitrag aber ein kausaler Beitrag ist. Zum anderen berücksichtigt die Konzeption den Umstand, daß sich das durch die Interaktion und Kooperation seiner Teile gebildete Gefüge als Ganzes und als etwas, das sich selbst erhält, in ein Verhältnis zur Umwelt setzt. In drei Hinsichten spielt Kausalität für das Funktionsgefüge eine Rolle: in der Teilzugehörigkeit, in der Interaktion der Teile und im Selbstverhältnis des Gefüges zur Umwelt. Insofern die Interaktion und Kooperation der Teile die
10.6 Schluß: Das Individuum als Funktionsgefüge
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synchrone und diachrone Einheit und Selbständigkeit des Gefüges konstituieren, kommt - in van Inwagen'scher Redeweise - etwas »Neues« in die Welt, nämlich etwas, das sich in der jeweiligen Interaktion mit dieser Welt als etwas einbringt, das über den Zeitpunkt oder Zeitraum der Interaktion hinaus existiert und das von daher nicht ein determinierter Punkt im Kausalgeflecht der Welt ist, sondern etwas, das sich in ein Verhältnis zur Welt setzen kann. Es ist etwas ontologisch Prioritäres, weil es ein Funktionsgefüge ist. Es ist dieses Prioritäre zudem unbeschadet des Umstands, daß das Gefüge - wie angenommen sei ohne Verlust auf seine Teile und deren gegenseitige Relationen reduzierbar ist, denn diese Reduktion impliziert nur einen Wechsel der Beobachtungs- und Beschreibungsebene. Relevant ist, daß nur die Gesamtheit der Teile samt deren gegenseitigen Relationen der Welt auf jene Weise gegenübertreten kann. Ich habe nichts dazu gesagt, was Kausalität ist. Für die Konzeption von Individuen als Funktionsgefügen genügt mir jedoch die basale und beobachtbare Tatsache, daß es hinlänglich identifizierbare Faktoren in der Welt gibt, deren Vorliegen bzw. Nicht-Vorliegen in der Welt Unterschiede für das Vorliegen wiederum anderer hinlänglich identifizierbarer Faktoren macht. Mit dem in Frage stehenden »Neuen« kommt nun jedoch nicht etwas undurchschaubar Emergentes in die Welt. Organismen sind keine black boxes. Die Konzeption von Individuen als Funktionsgefügen ermöglicht es uns vielmehr, der Rede vom »Neuen« einen erläuterbaren Sinn zu geben, indem wir uns mit ihr auf die spezifischen Beiträge der Teile, das dadurch Zustandegebrachte, nämlich die Einheit und die Selbständigkeit, und das sich daraus ergebende Verhältnis zur Welt beziehen, durch das sich Individuen auszeichnen.55
10.6.3.2 Funktionsgefüge in der Abgrenzung nach unten und oben Der Begriff des Funktionsgefüges hilft bei der Abgrenzung des Individuums nach unten, d. h. bei der Abgrenzung des Individuums gegenüber seinen Teilen (s. Kapitel 6). Für das Verständnis des Verhältnisses des Individuums zu seinen Teilen war es - wie eben gesagt - zunächst wichtig, den Übergang vom Individuum zu seinen Teilen bzw. zu den Partikeln »unterer« Ebenen nicht als Veränderung des Gegenstands, sondern nur der Perspektive auf diesen Gegenstand anzusehen. Reduktion reduziert den Gegenstand nicht auf seine Teile, sondern sie stellt einen Übergang von einer Ebene auf eine andere Ebene dar,
55 Siehe dazu oben Abschnitt 7.2 und 7.2.1.
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10. Die Einheit des Individuums
die alle Teile und alle Beziehungen, die zwischen den Teilen dieser anderen Ebene bestehen, umfaßt. Wenn wir Teile dieser anderen Ebene isoliert betrachten, so betrachten wir Fragmente, deren Funktion zwar darin besteht, zur Einheit und zur Selbständigkeit des Gefüges beizutragen, die selbst als Fragmente aber einbindbar und daher nicht selbständig sind. Zugleich liegt ihr Eingebunden-Werden nicht bei ihnen, und bei der Konfrontation mit möglichen Bindungspartnern liegt der - metaphorisch gesprochen - »Bindungsentscheidung« nicht das Interesse an der Selbsterhaltung des Teils zugrunde, sondern entweder überhaupt kein Interesse (sondern nur physikalisches Zusammenpassen) oder ein Interesse des übergeordneten Individuums. Die Teile sind grundsätzlich unvollständig und unabgeschlossen und, im Fall von Zellen und höheren Teilen, abhängig. Daher sind sie nicht ontologisch prioritär. Individuen unterscheiden sich von diesen Teilen unter anderem dadurch, daß sie Funktionsgefüge sind, nämlich insofern, als Individuen Teile besitzen, deren Interaktion und Kooperation zu Einheit und Selbständigkeit des Gefüges führt, während die Teile des Individuums keine solchen Teile besitzen. 56 Wenn man einen Teil wie ζ. B. ein Herz herausgreift, so ist auch dieses Organ ein Gefüge, das aus Teilen besteht, die in bestimmter Weise kooperieren und interagieren. Doch ist diese Gesamtheit von Aktivitäten nur dann als Kooperation und Interaktion zu sehen, wenn das Herz seinerseits als Teil des Organismus betrachtet wird. Isoliert betrachtet hätten wir es - wenn überhaupt mit etwas - nur mit einem fragmentarischen Aktivitätenbündel zu tun. Der Begriff des Funktionsgefüges hilft ferner bei der Abgrenzung des Individuums nach oben (s. Kapitel 5). Die Träger sozialer Organismen sind Individuen, und jenseits dieser Individuen mit ihren Gewohnheiten, Konventionen, Erwartungen oder Normen gibt es keine prioritäre Entität: Soziale Organismen existieren nur in ihren Trägern, und sie sind ihrerseits Funktionsgefüge nur insofern, als die Träger, die sich als Selbsterhalter in ein Verhältnis zu jenem sozialen Gefüge setzen, selbständig bestimmte Funktionen übernehmen. Mit den Gewohnheiten, Konventionen, Erwartungen oder Normen der Träger kann sich dieses Gefüge jederzeit grundlegend verändern. So kann es sich ζ. B. teilen, mit anderen Gefügen verbinden, mit ihnen überlagern, kurz: Es kann all das tun, was selbständige Entitäten nicht tun können, und dies zudem, ohne daß diese Änderung einen ontologisch relevanten Effekt auf die Träger oder ehemaligen Träger haben müßte. Ein Funktionsgefüge im strengeren Sinn besteht hingegen aus Teilen, die nicht selbständig und abgeschlossen 56 Genauer: Die Teile, die ζ. B. das Herz besitzt, tragen zur Einheit und Selbständigkeit des Gefüges bei, nicht aber zur Einheit und Selbständigkeit des Herzens, weil dieses nämlich keine solche Einheit oder Selbständigkeit besitzt.
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sind und die durch ihre Interaktion und Kooperation etwas Selbständiges und Abgeschlossenes konstituieren. Im Fall der sozialen Organismen sind aber bereits die Träger selbständig und abgeschlossen (»abgeschlossen« in dem Sinn, daß sie sich als ganze und als zu erhaltende in ein Verhältnis zur physischen und sozialen U m w e l t setzen), so daß sie zwar möglicherweise äußerem Zwang in verschiedenen Graden ausgesetzt sind, daß aber dieser Zwang nicht mit externer Determiniertheit zu verwechseln ist, der ein Organismus gegebenenfalls als materieller Gegenstand ausgesetzt ist. Zwang - sofern es nicht physikalischer »Zwang« ist - ist kein Anlaß für den Organismus, seine ontologische Kategorie zu wechseln, d. h. von einem prinzipiell selbständigen zu einem prinzipiell unselbständigen Wesen zu werden.
10.6.3.3 Funktionsgefüge vs. vage O b j e k t e Ausgangsfrage dieses Kapitels ist die Frage, anhand welchen Kriteriums sich bestimmen läßt, ob ein gegebener Teil zu einem gegebenen Organismus gehört. D i e Frage ist nicht, ob ein Gegenstand noch ein Gegenstand einer bestimmten A r t oder eines bestimmten Typs ist, wenn wir diesen oder jenen Teil wegnehmen. Diese Frage zu stellen wäre deshalb keine fruchtbare Frage, weil es nicht möglich ist, nicht-willkürlich die Grenze anzugeben, nach der gefragt ist. Schon im Abschnitt zu den vagen O b j e k t e n hatte dieses Problem zu einem Wechsel der Perspektive geführt: D o r t ging es nicht mehr darum, wann ein bestimmter Organismus vorliegt, sondern darum, ob ein gegebener Teil zur Selbständigkeit des Gefüges, dessen Teil er ist, beiträgt (s. Kapitel 4, v. a. 4.2.3.4). D i e entsprechenden Mittel gegeben, ließe sich nun im Prinzip für jede identifizierbare Partikel unter Beobachtung ihrer Wirksamkeit angeben, ob sie zur Einheit und zur Selbständigkeit des Gefüges beiträgt. Dieser Perspektivenwechsel ist mit der den Phänomenen entsprechenden Annahme von veränderlichen Gefügen verbunden. Gefüge sind flexibel, aber nicht vage. D u r c h die Auffassung von Individuen als flexiblen Gefügen wird diese Lösung des Vagheitsproblems - wie es sich in den verschiedenen SoritesProblemen zeigt - erleichtert. D e n n Individuen werden hier nicht als etwas betrachtet, das von einem vorgegebenen Standard her zu verstehen ist, in bezug auf den zu fragen wäre, ob er bei Wegnahme dieser oder jener Partikel oder dieses oder jenes Teils noch erfüllt sei. U n d gerade die Annahme eines solchen Standards öffnete jenen Vagheitsvermutungen die Tür. Zudem bildete die Setzung präziser Standards auch wegen der mit ihr verbundenen Willkür ein Problem. Mit einem Verweis etwa auf Arten oder auf einen anderweitig begründeten Standard wird diese Willkür nicht vermieden, denn auch hier bleibt
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10. Die Einheit des Individuums
im Detail unklar, ζ. B. welche Eigenschaften in den Standard mit aufgenommen werden sollen und welche nicht. Außerdem besteht keine Einigkeit über die für den Artbegriff als solchen relevanten Merkmale, und es sind Zweifel hinsichtlich der ontologischen Kraft der Art angebracht, die erforderlich wäre, wenn die Art als ontologisch relevanter Standard fungieren können sollte. Ferner ist unklar, wie es um die Individuität eines Gegenstands im Fall des Abweichens von diesem Standard steht. Der Verzicht auf die Annahme ontologisch prioritärer überindividueller Standards im Fall der Konzeption von Individuen als Funktionsgefügen vermeidet jene Schwierigkeiten. Und zugleich trägt die Konzeption eines flexiblen Gefüges den Phänomenen der veränderlichen Gegenstände Rechnung.
10.6.3.4 Funktionsgefüge als Gegenstände des Herausgreifens Gehen wir noch einen weiteren Schritt zurück, nämlich zum Problem des Herausgreifens als solchen (s. Kapitel 2 und 3). Wir greifen bestimmte Ausschnitte der Welt aufgrund phänomenaler Regelmäßigkeiten heraus. Diese Regelmäßigkeiten betreffen gleichbleibende Strukturen wie auch veränderliche, aber wiederkehrende Strukturen. Zugleich sind diese Regelmäßigkeiten häufig mit Veränderungen des Herausgegriffenen verknüpft, die nur einmalig oder nur selten auftreten, sei es vorübergehend oder für längere Zeit, oder mit Veränderungen, die sich stetig vollziehen, wie auch solchen, deren Resultat permanent ist. Auch hier bietet uns der Begriff des Funktionsgefüges eine Hilfe, nämlich insofern, als er es uns erleichtert, diese klassische »Einheit in der Vielfalt« zu verstehen. Denn er erlaubt uns, die Flexibilität des Gefüges und der Zugehörigkeit der Teile begrifflich zu fassen, indem die Teile auf die Einheit und Selbständigkeit des Gefüges bezogen werden. Der Begriff des Funktionsgefüges hilft uns beim Ordnen der Welt. Doch welches ist nun der hier zugrunde gelegte kategoriale Rahmen? Ist es ein traditioneller, ein alltagssprachlich geprägter oder ein grundlegend neuer Rahmen? Die Frage, ob der Begriff des Funktionsgefüges in deskriptiver oder revidierender Absicht eingeführt wird, ist insofern nicht die interessante Frage, als ihre Beantwortung vom gewählten Ausgangspunkt des Betrachters sowie vom kategorialen Rahmen abhängt, den er wählt. Die Frage, um die es geht und vor der als Hintergrund - wenn überhaupt die Frage nach der deskriptiven oder revidierenden Absicht zu stellen wäre, ist die Frage, wie sich die Einheit materieller Individuen und die Zugehörigkeit ihrer Teile zu ihnen fassen läßt. Einheit und Zugehörigkeit lassen sich nur fassen, wenn wir bestimmte generelle Unterschiede berücksichtigen, wie etwa
10.6 Schluß: Das Individuum als Funktionsgefüge
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den Unterschied, der traditionellerweise als der Unterschied zwischen - nicht mythisch zu verstehender - Disposition (bzw. Fähigkeit oder Fertigkeit) und entsprechender Aktualisierung (bzw. Aktivität) gefaßt wird. Ob dieser Unterschied mit Hilfe einer monokategorialen Ontologie oder mit Hilfe von Elementen einer mehrkategorialen Ontologie angemessen erfaßt werden kann, ist dabei eine zweitrangige Frage: Was zählt, ist, ob der Unterschied ζ. B. zwischen Sehvermögen und Sehen erfaßt wird. Es ist ein Vorzug der Konzeption von materiellen Individuen als Funktionsgefügen, daß sie für verschiedene kategoriale Konzeptionen zumindest so weit offen ist, wie die Erfassung des dynamischen Aspekts des Gefüges dies erlaubt. Diese Offenheit ist nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln, sondern bedeutet nur, daß die Entscheidungen über die zu wählenden Kategorien innerhalb des vorgegebenen Rahmens zu fällen sind, daß sie aber eben eine andere Erörterung verlangen. Ob wir also etwa Prozesse bzw. Ereignisse, Zustände, Sachverhalte oder individuelle oder allgemeine Eigenschaften akzeptieren und was wir, wenn wir sie akzeptieren, jeweils darunter verstehen, aber auch ob wir Einzeldinge drei- oder vierdimensional auffassen, sind weitergehende Fragen, die auch, aber nicht nur, im Hinblick auf das Gefüge zu erörtern sind, deren Erörterung für die Erörterung des Gefüges aber nicht vorausgesetzt wird.
10.6.4 Merkmale und Besonderheiten der Individuenkonzeption Durch die Konzeption der materiellen Individuen als Funktionsgefüge gewinnen wir eine reichhaltige Konzeption materieller Einzeldinge, die sich insbesondere durch die folgenden Punkte auszeichnet: Die Konzeption erfaßt allgemeine Strukturen der Wirklichkeit und ist von daher eine ontologische Konzeption. Sie beruht jedoch nicht auf expliziten Annahmen über zulässige (und nicht-zulässige) ontologische Kategorien und deren gegenseitige Verhältnisse und ist somit offen für verschiedene kategoriale Konzeptionen, sofern diese Konzeptionen Unterschiede erfassen - wie ζ. B. zwischen Dispositionen und Aktualisierungen - , die für die Beschreibung eines persistierenden dynamischen Gefüges und seiner Veränderung erforderlich sind. Die Konzeption nimmt ihren Ausgang von der Frage der Einheit des Individuums, nicht von dessen Verschiedenheit oder diachroner Identität. Sie kombiniert, unter Bezug auf die Frage der Einheit, aus systematischen Gründen eine Reihe von oft getrennt stattfindenden Diskussionen zur Selbstorganisation, zum Funktionsbegriff, zur »kausalen« Individuenkonzeption (in van Inwagens und Merricks' Sinn), zur Reduktion und Emergenz sowie zum Begriff der Spezies.
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10. Die Einheit des Individuums
Die Konzeption faßt Individuen als Funktionsgefüge. Sie erfaßt damit die Kontinuität des Individuums und seine (eventuell vorhandene) Veränderlichkeit, die in der Variabilität des Vorliegens der Dispositionen, Aktualitäten oder anderer Merkmale und in der Variabilität des Vorliegens der kausal relevanten Verbindungen zwischen diesen Merkmalen besteht. Sie wird, indem sie die möglichen Veränderungen berücksichtigt, den Phänomenen gerecht, die wir begrifflich fassen wollen. Die Konzeption faßt die Einheit des Gefüges als synchrone und diachrone Kohärenz der Teile eines Selbsterhalters. Sie hebt die Relevanz des Beitrags der Teile des Individuums zur Einheit und Selbständigkeit des Gefüges, das dieses Individuum ist, besonders hervor, und tut dies, weil das, was es heißt, jenen Beitrag zu erbringen, d. h. seine Funktion auszuüben, für das Verständnis des Individuums grundlegend ist. Sie enthält mit dem Kriterium des Beitrags der Teile zur Selbständigkeit und Einheit, auch gegen Vagheitsvermutungen, ein Kriterium für die Zugehörigkeit der Teile. Sie verwendet für die Erfassung des Beitrags einen modifizierten systemischen, nicht einen ätiologischen Funktionsbegriff und vermeidet damit bestimmte überindividuelle, normative Abhängigkeiten des Individuums. Die Konzeption grenzt das Gefüge als etwas Selbständiges und von daher ontologisch Prioritäres zugleich gegen die Ebene seiner Teile wie gegen die Ebene umfassender Gefüge ab, wie es ζ. B. soziale Organismen sind. Sie setzt das Gefüge als etwas Selbständiges in ein nicht-deterministisches Verhältnis zur Welt, in welchem sich das Gefüge seiner Umwelt gegenüber mit der de facto (nicht teleologisch) auf Selbsterhaltung gerichteten diachronen Interaktion und Kooperation seiner Teile als ein synchrones und diachrones Ganzes einbringt. Sie berücksichtigt dafür gerade auch die nicht-lebensnotwendigen Teile eines Gefüges, welche zu einer Perspektive beitragen, die es dem Gefüge in besonderer Weise erlaubt, der Welt eigenständig gegenüberzutreten. Die Konzeption enthält, ausgehend von der unterschiedlichen Dichte der Verknüpfung der Teile des Gefüges und von seiner eventuellen Veränderlichkeit, die Annahme von Graden von Selbständigkeit. Sie legt dieser Annahme die Annahme von Graden von Individuität zugrunde, d. h. von Graden der Eigenschaft, die Individuen als solche auszeichnet. Sie macht sich nicht die Annahme zu eigen, Individuen seien als solche von überindividuellen Standards abhängig, wie ζ. B. von Arten oder artspezifischen Essenzen. Die Konzeption macht mit der Berücksichtigung der einzelnen Merkmale und Verbindungen das Gefüge gegenüber Emergenz-Annahmen durchsichtiger und ist zugleich informativer als etwa Hellers Theorie, die alle materiellen Gegenstände nur als vierdimensionale Materiestücke betrachten kann. Sie ist offen für - aber (bei Wahrung der kausalen Geschlossenheit des Physischen)
10.6 Schluß: Das Individuum als Funktionsgefüge
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nicht abhängig von - Reduktionen, sofern diese die relevanten Faktoren berücksichtigen, nämlich die Teile samt deren gegenseitigen Relationen. Zugleich räumt sie aber dem Individuum im Hinblick auf die Kausalbeziehungen der Welt einen besonderen Platz ein - nämlich eben den eines Selbständigen, das der Welt als etwas Ganzes gegenübertritt. D i e Konzeption enthält keine besonders »ungewöhnlichen« Existenzannahmen oder -einschränkungen und ist somit inklusiver als etwa Merricks' Theorie, die die Teilhabe an Bewußtsein als Existenzkriterium annimmt und alles andere, das komplex ist und nicht bewußtseinsbesitzend, wegen angeblicher kausaler Redundanz aus dem Bereich dessen, was es gibt, ausschließt. Sie enthält nur insofern explizite Annahmen über den ontologischen Status von Artefakten, als sie die herkömmlichen unter ihnen als etwas Unselbständiges ansieht und als sie Artefakte, wie ζ. B. artifizielle Nachbauten von Organismen, als Individuen zulassen müßte und könnte, wenn diese sich durch Einheit und Selbständigkeit auszeichnen. V o m Sein dürfen wir nicht aufs Sollen schließen. Dennoch besitzen ontologische Theorien praktische Relevanz - so wie unsere Auffassungen darüber, was ein Individuum ist, praktische Relevanz für uns und unsere Mitmenschen besitzen. W e n n wir unangemessene Auffassungen darüber haben, diese aber handlungswirksam werden lassen, werden wir oder die davon betroffenen Individuen in der Welt möglicherweise weniger gut zurechtkommen, als wenn wir angemessenere Auffassungen haben. N i c h t jede Auffassung ist gleichermaßen angemessen. Auch deshalb denken wir etwa darüber nach, was Individuen sind. D e r Konzeption von Individuen als Funktionsgefügen zufolge gewinnen wir an Selbständigkeit durch die Kohärenz unserer Fertigkeiten, mentalen Gehalte und Aktivitäten sowie durch die Perspektive, die wir kraft dieser Merkmale und ihrer Kohärenz einnehmen und erweitern können. D u r c h die Perspektive können wir uns in ein umfassenderes, nicht-determiniertes Verhältnis zur W e l t setzen und dadurch einen umfassenderen Zugriff auf das Gefüge, das wir sind, - d. h. auf unser Leben - erhalten. Ferner können wir auch andere Lebewesen zumindest als etwas Besonderes betrachten und behandeln und insbesondere anderen Menschen die entsprechenden Chancen geben, die letztlich die Chancen auf ein gutes Leben sind.
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Personenregister Adaras, R. Μ. 104, 185,278 Alexander, S. 124,142 Allen, C. 157 Amundson, R. 193,196 An der Heiden, U. 34,40,44, 72 Anselm 3 Ariew, A. 157 Aristoteles 5,23,30,47,73,74,96,111,159, 160, 162, 195, 204, 225, 246, 250, 272, 280-281 Armstrong, D. Μ. 1 Ayala, F. J. 107 Bach, J. S. 229,244 Barnes, J. 59 Bechtel, W. 201 Beckermann, A. 110,123,124 Berkeley, G. 25 von Bertalanffy, L. 45,46, 81, 82, 204, 213 Bickle, J. 110 Bigelow, J. 185 Birnbacher, D. 83 Bittner, R. 77 Black, M. 277,278 Boethius, Α. M. S. 3,283 Boogerd, F. C. 131 Boorse, C. 179 Brandon, R. N. 95, 98 Bratman, Μ. E. 77 Broad, C. D. 123 Brogaard, B. 98 Brüntrup, G. 124,125 Buddensiek, F. 159 Buldt, B. 59 Buller, D. 157 Burgess, J. Α. 55,57 Camazine, S. 34 Campbell, K. 152,278 Campbell, Ν. A. 30, 84, 85, 128, 129, 189, 195,262
Canfield, J. 174 Carroll, J . W . 19 Cassini, G. D. 275 Cechov, Α. P. 244 Chalmers, D. 267 Chisholm, R. 53 Cohen, P. R. 77 Cooper, J. Μ. 219 Cowles, D. 57 Cummins, R. 164, 166, 192-197, 199, 201, 202, 205,211 Dale, J. 53 Darwin, C. 178 Davidson, D. 64,260 Davies, P. S. 12,157,187,188,192,195-202, 208,210,211 Dawkins, R. 84,262,264 Detel, W. 177 Donoghue, M. J. 98 Dummett, M. 54 Dupre, J. 95 Eklund, M. 133 Elder, C. L. 19,20 Endler, J. A. 179,181 Evans, G. 55, 57 Fair, D. 83 Feltz, B. 29 Fetz, R. L. 23 Forrest, P. 277 Frenking, G. 116 Freudig, D. 30,47 Furth, M. 241 Gallois, A. 101 Garrett, B . J . 57 Gavin, A.-C. 130,131 Geach, P. T. 92, 147 Ghiselin, Μ. T. 96-98, 234 Gilbert, M. 77 Godfrey-Smith, P. 183,196
308
Personenregister
Gracia, J. J. E. 15-17,283 Graff, D. 59 Gram, M. S. 23 Haack, S. 22,23 Hartmann, N. 99-101,212, 213, 235,251 Hawley, K. 53 Heckmann, H.-D. 126 Heil, J. 142,151 Heller, M. 6, 9, 59, 60,290 Hempel, C. G. 157,164-167,171,169,174, 179 Hershenov, D. 86, 87, 133 Hirsch, E. 133 Hobbes, T. 3 Hobom, B. 31 Hodge, M.J. S. 178 Hoffman, J. 159,204-208 Hooke, R. 275 Horgan, T. 59,133 Hoyningen-Huene, P. 107 Hull, D. L. 95-98,157,234 Hülser, K. 59 Hume, D. 12,157,188 Humphreys, P. 125,129 Husserl, E. 19,65 Hüttemann, A. 111,112,118,120,128 Hyde, D. 57 Johnsen, B. 57 Jones, R. H. 107 Kant, I. 38,48,227,228 Kanzian, C. 4,24,260 Kauffman, S. A. 34, 35 Keefe, R. 59,61 Khriachtchev, L. 116 Kim, J. 110, 124,125, 142 Kitcher, P. 185 Knost, P. 29 Koch, W. 116 Köchy, K. 31 Kratky, K. W. 29 Kriz, W. 88 Krohn, W. 29 Küppers, G. 29 Kurlansky, Μ. B. 82 Lambert, D . M . 98 Lauder, G. V. 193,196
Lawrence, G. 159 Leferovich, J. M. 31 Leibniz, G.W. 162,277 Leven, K.-H. 56 Levesque, H. J. 77 Lewis, D. 57 Liske, M.-T. 160, 162,278 Locke, J. 86,134, 135 Löffler, W. 23 Lowe, E.J. 101,102 Luhmann, N. 39,78 Matthen, M. 195 Maturana, H. R. 39,41-44 Mayden, R. L. 95 Mayr, E. 95,96 McLaughlin, P. 48,157, 160,164,166-168, 172,174, 183,186, 187, 194,197 Meggle, G. 76 Meier, R. 95 Meixner, U. 260 Merricks, T. 11,53,121,141-155,289,291 Messiaen, O. 244 Miller, K. 77 Miller, S. 76,77 Millikan, R. G. 12, 164, 165,172, 174,176, 177, 179,183-186,195,199, 202 Mishler, B. D. 95, 98 Moline, J. 59 Monaghan, P. X. 57 Morgenstern, M. 235 Müller, J. 159 Mumford, S. 1,162 Nagel, E. 157, 164, 165,168-171,179 Neander, K. 163, 176, 185, 189, 196 Needle, J. 59 Noonan, H. W. 57 Olson, Ε. Τ. 86 Pargetter, R. 185 Parsons, Τ. 57 Paslack, R. 29 Persson, I. 133 Platnick, Ν. I. 95 Piaton 56, 74, 142, 159, 195, 218, 219, 258, 280, 281 Popper, K. 26 Price, A.W. 219
Personenregister Primas, Η. 110 Proust, Μ. 229 de Queiroz, K. 95 Quine, W. V. O. 25, 26, 111, 260 Rapp, C. 6,278 Read, S. 57,58 Richardson, R. C. 201 Robinson, D. 101 Rosenberg, J. F. 133 Rosenkrantz, G. S. 159,204-208,278 Rueger, A. 128 Ruse, Μ. 157 Russell, Β. 26,54,277 Ryle, G. 1 Sainsbury, R. M. 55, 61 Salmon, Ν. U. 57 Sanford, D. H. 133 Sarkar, S. 107 Sauermost, R. 30, 47 Schark, M. 32,53,241 Schiffer, S. 124 Schmidt, B. 59 Schopenhauer, A. 251 Schwartz, J. 111 Schwegler, H. 40 SearleJ. R. 77 Seibt, J. 18,22,278 Seilars, W. 26 Sewell, G. L. 129 Shoemaker, S. 92,151 Sider, T. 22,53, 133 Simons, P. 19,50,109,251 Smith, I. A. 77 Smith, P. 59,61 Spinoza, B. 232 Stange, C. 177 Stemmer, P. 159 Stephan, A. 122,127-129 Stoecker, R. 24
309
Strawson, P. F. 22,23 Suarez, F. 16,283 Tertullian, Q . S. F. 3 Theriot, E. C. 95 Thoene, H. 229 Thomas de Aquino 251 Trettin, Κ. 18 Tuomela, R. 77 Tuozzo, Τ. M. 159 Unger, P. 60 Uribe, R. 41 van Inwagen, P. 3,11,57,71,103,114,121, 122,132-135,137-139,141,142,275,285, 289, 290 Varela, F. J. 39,41-43 Vermeer, J. 244 Vollmer, G. 83 von Wächter, D. 18 Wallner, F. 29 Walter, S. 110,126 Weber, M. 235 Wentz, L. 19 Wheeler, Q . D. 95 Wheeler, S. C. 64 Whitehead, Α. Ν. 23 Wiggins, D. 52,101,240 Williamson, Τ. 57,59 Wilson, Β. Ε. 97 Wilson, J. 79-81,97,105 Wilson, R. A. 95,234,235 Wimsatt, W. C. 107,110,127,128 Woodruff, P. 57 Woods, M. 219 Wright, L. 12, 158, 164, 165, 172-175, 177, 179, 188, 190, 191 Wrobel, D. 82 Yagisawa, T. 272 Yates, E. F. 29 Zemach, Ε. M. 55
Sachregister Abgeschlossenheit; Begriff der ~ 234; kausale ~ durch Interaktion von Partikeln 120, 157; offenes System und - des Selbständigen 233; Selbständigkeit als ~ 212,215 Abgrenzung / Abgegrenztheit; nach oben 69-105; nach unten 106-119; Selbständigkeit als Kriterium für —heit 69 Amöbe; s. a. Fortpflanzung, asexuelle 101103; als Selbsterhalterin der Welt gegenübertretend 235f., 276 Angewachsensein 4f.; s. siamesische Zwillinge; Krebs Anstückung 10,70,85-94; Begriff der ~ 85f.; scheinbar fehlende Integriertheit bei ~ 86f.; aktives Verfügenkönnen über ~ 91 93; Beitrag der - zur Selbständigkeit als Teil-Kriterium 87f.; gleichzeitige ~ desselben durch verschiedene Individuen 90, 269f.; Konkurrenz um ~ 91; scheinbares Problem für natürliche Einheit 89; Problem der Allumfassendheit der ~ 91; Problem der ~ von Selbständigem 93f., 272-275 Armillaria 104 f. Art; s. a. Spezies; kein ontologisch starker —Begriff 65; konstituiert aus Individuen 65,103,263; Individuität nicht abhängig von Artzugehörigkeit 263 Artefakte; s. a. Anstückung 85-94; Roboter bei Selbständigkeit Individuen 32f., 89, 135; ~ als Teile von Organismen 29,32f., 175, 208, scheinbar fehlende Integriertheit 86f.; Funktionen von ~n 174; natürliche ~ 208 Autarkie; Begriff der ~ 74; fehlender Standard für ~ 74; fehlende ~ nicht als Problem für Selbständigkeit des Individuums 73-76; Verwechslung von Autarkie und Selbständigkeit 75f.
Autopoiesis 41; s. a. Selbstorganisation Beitrag leisten 157, 161, 209, 212, 279, 281; ~ als Ausübung der Funktion (s. a. dort) 161f., 280 Deskriptive vs. revidierende Metaphysik 21 24, 288 Determiniertheit; s. a. Gegenübertreten; kausale Rollen; Teil (s. dort T.e unter Aspekten); Zwang externe und interne ~ 83-85, 94; nicht zwischen Teil und Ganzem 112; Individuum nicht extern determiniert, kann sich als diachron Ganzes einbringen 285 Disposition; Begriff der — 1; — / Aktualisierung und das Existenzkriterium kausaler Nicht-Redundanz 152f.; Funktion bei Vorliegen der ~ 162, 207 Dreidimensionalität 52f., 201f. Dynamische Massen 18, 278 Eigenschaft; ~ und Eigenschaftsträger 150f.; kausale Relevanz von ~en 151 f.; keine ontologische Relevanz artspezifischer essentieller ~en 65f. Einheit; s. a. Individuität; Individuum; Organismus; Selbständigkeit; Teil Individuums, ~ des Kap. 10; 282; ~ in der Kohärenz der Teile 8,248f., 279,290; ~ als Individuationskriterium 16; ~ hinreichend und notwendig für Selbständigkeit 214f.; ~ Voraussetzung für Abgrenzung nach unten und oben 283f.; ~ als Gegenstand des Herausgreifens 42-44; unit vs. unity 41; »natürliche« ~ 89 Funktion, ~ und 159; Verständnis der ~ abhängig von Verständnis der Funktion 161; ätiologisch funktionale Einheit 204-208, Probleme wie bei ätiologischer Funktion 205
Sachregister Einheit und Diskontinuität des Mentalen 253, 267-270 Emergenz 120-140; s. a. Geschlossenheit des Physischen; Reduktion Begriff der ontologischen ~ 122f., 131; Begriff der epistemischen - 1 2 2 Probleme ontologischer ~ 123-125; Problem der Integration von Emergentem 121, 139f.; kausale Konkurrenz 124-126, 131f., 139; Problem für die Individuität 126-132 schwache ~ 127-131; Individuum nicht ontologisch emergent 11,283; ~ und mentale Eigenschaften 126f. Endosymbiontentheorie 84 Ereignis; feinkörnig, grobkörnig 259; —Ontologie 24 Existenzkriterium; Problem der Neuheit / Emergenz als ~ 121, 137-139; Problem bei ~ nicht-redundanter kausaler Wirksamkeit 121,142f., 152-154 Fehlfunktionen 176; s. a. Funktion; Geschichtsabhängigkeit nach ätiologischer Auffassung Voraussetzung für ~ 185, 187: epistemische Normen 187f., 202f., 21 Of.; ontologische Einordnung 202f. Form 159f., 162 Fortpflanzung 99,217; asexuelle ~ 101-103, 276; nicht individuitätserhaltend 101-103; »destruktive« - 253,261-267; Big-BangReproduktion (Agave, Lachs) 195, 153, 261-267; Problem der Integration der ~sAktivität 262-267; Problem des Selbständigkeitsbeitrags 265f. Funktion; s. a. Beitrag leisten; Fehlfunktionen; Funktionsbezugspunkt, -gefüge, -träger; Individuum weshalb Rede von - 157,159-161; ~ zeigt uns, was etwas ist 160, 279f.; ~ als cement of the individual 12,157,209 Funktion, Ansprüche an Begriff der ~ 158, 163f., 197f.; methodologische Probleme der Klärung des Begriffs der ~ 162-164; Ziele der ~s-Analyse (Existenzerklärung, Systemanalyse) 158,172f., 192f.
311
(Funktion) ätiologischer Begriff der ~ 158,172-177, ~ und Existenzerklärung 157f., 164166, 177-179, —Haben heißt Geschichte / —ausübende Träger-Vorfahren haben 176-178,209 Probleme des ätiologischen Begriffs 158, 177-191,205-208; bei Existenzerklärung als Ziel 179; bei Verbindung von ~ und Selektion 179-181; bei Abhängigkeit des Funktionsträgers von Externem 158, 180-182, 206, 209f., 280 und von Uberindividuellem 281; für ~s-Besitz auch noch bei Kontraproduktivität 183f., 207,209; bei ~s-Losigkeit bei ~s-Erst-Besitzer 184-187, 206-209; bei Relativität bei —Zuschreibung aufgrund von Reproduktionserfolg 180f.; Types-und-TokensProbleme 188-191,205f. systemischer Begriff der ~ 158, 192f., 197-201, schließt ätiologischen Begriff ein 198f. Probleme des systemischen Begriffs 158, 193-197; bei ~ eines Gesamtsystems 192-194; für Wahl der Bezugssysteme 192,199-201,211; für Erklärung von Fehlfunktionen 192, 202f., 21 Of. Einheit, ~ und 159, 204-208 Beitrag des Teils zur Persistenz / Selbständigkeit, ~ als 160f., 168,171,223, 281, ~ als Beitrag zur proper working order 166-168,171, zur Selbstorganisation 171,182, zur welfare 167,182, zu charakteristischer Aktivität des Systems 168, 171 Normativität, - und 158,161,165,175f., 210; nach ätiologischem ~s-Begriff keine N o r m bei ~s-Erstbesitzer 185, 187; epistemische Normen 187f., 202f. Teleologie, ~ und 157, 165, 170f. Funktionsbezugspunkt; umfassendes System (nicht) als - 174f., 194,197, hierarchisch strukturiertes System als ~ 199-201; Problem der Bestimmung des Systems als ~ 195-197, 199-201,211
312
Sachregister
Funktionsgefüge 157, s. a. Kap. 10.6; Individuum als ~ 7f., mittels modifiziertem systemischen Funktionsbegriff 159 Funktionsträger; System als ~ (reflexive Funktion) 160,194,211, System nicht als ~ 174,192-194; Persistenz als Funktion des Systems 201 f. Gegenübertreten 234; s. a. Selbständigkeit Selbständigkeit als strukturbedingte Fähigkeit von Selbsterhaltern, der Welt ~ zu können 106,113,118-120; —Können dank Selbsterhaltungsbezug / Perspektive 216, 231, 235f.; im Unterschied zu Wellen / sozialen Organismen / Kristallen 7,254,276; sich als diachron Ganzes einbringen 7, 13,236,279, 283, 285 Gene, genetisches Material 99,102,104,176, 234f., 253,262-266 Geschlossenheit des Physischen 110, 113, 120f., 124f.; Verletzung durch Existenzkriterium der Neuheit 121,139; Problem für ~ bei Emergenz der Kausalität 145, 155; Abgeschlossenheit des Selbsterhalters nicht im Konflikt mit ~ 236f. Grenzen / Ränder des Organismus, von nachgeordnetem Interesse 39f. Großer Roter Fleck des Jupiter 275 Gutes Leben 4,14, 74,160,246,291 Herausgreifen 8f., 15-28; phänomenale Besonderheiten / Regelmäßigkeiten als Gegenstand des ~s 7,19,25f., 43,46f., 278, 282, 288; praktisches Interesse 28; Probleme des ~s 18, 20; methodologischer Zirkel 41-44; mereologischer Zirkel 4449
Individuität; Begriff der ~ 2f.; Einheit / Selbständigkeit als Kriterien für ~ 69, 105, 223, 245; ~s-Grade 13, 215f., 222f., 244-246,248f., 251f.; -s-Standards 245247,287f. Individuum; s. a. Abgrenzung; Einheit; Organismus; Selbstorganisation; Selbständigkeit; Unteilbarkeit Art / Spezies, ~ unabhängig von 100f., 203; Einheit, Frage nach ~ als Frage nach 2; Einheit des ~s Kap. 10, 282; Funktionsgefüge, ~ als 7, 157, 161, 224, 279281,284f., 287; ~ nicht T. von ~ 93; Veränderung des ~s und Problem diachroner Identität 238-244 Intuition 4, 117 Kategorien; Wahl der ~ 18, 27, 288f. Kausale Rolle; Verschiedenheit der ~n einer Aktivität 93f., 217; zur Lösung des destruktive-Teile-Problems 252f., 259-261 Kausalität 83; s. a. Emergenz; Probleme bei Nicht-Redundanz der ~ als Existenzkriterium 121,141-156; übertrumpfende, konkurrierende Effekte 88; ~ als Kriterium ontologischer Priorität 11, 113f., 154f.
Hybride Individuen s. Riesen-Individuen Identität; diachrone / synchrone ~ 19; Problem der diachronen ~ bei Veränderung 238-244; möglicher Veränderungsgrad nur von Erhaltung der Selbständigkeit abhängig 242; numerische ~ nicht bei asexueller Fortpflanzung 101-103; ~ der Ununterscheidbaren 254,276-278; vage ~ 57f.
Klassen vs. Spezies 96-98 Koinzidenz / Ko-Lokation 109, 143, 146, 147,149 Krebs 5, 89,104 Kristalle 276 Leben; im Unterschied zu Prozessen wie Wellen / Flammen 134; kein universaler ~s-Prozeß 72 mentale Eigenschaften; s. a. Emergenz; Perspektive; - nicht konstitutionsunabhängig 148-152; Diskontinuität der ~ und Einheit 253, 267-270 mögliche Gegenstände 272 Natur; »natürliche« Einheit und Angewachsensein 5,89; Funktionszuschreibung, vs. -bezug von 208; Sortalität und ~ 241 Normativität; s. Art; Funktion; Individuität Ökosystem 70, 84f.
Individuation; Frage nach Einheit als ~sFrage 2f., 15-17,40, 69
ontologische Priorität; Frage nach ~ 70; ~ von Individuen gegenüber sozialen
Sachregister Organismen 85; begründet durch Selbständigkeit 105f.; durch kausale Wirksamkeit 141-156 Organismus; s. a. Einheit; Herausgreifen; Individuum; Selbstorganisation; soziale Organismen; Wellen weiter Begriff des - 9,29-33; Merkmale von ~en 30 Selbstorganisierer, ~ als 33-40, 139; als Regenerierer 30f.; als Selbständiges 105f., 117, 139; kann über Teilaufnahme entscheiden 117; kausal nichtredundant (und nicht-emergent) wirksam 154f.; (nichts) Neues in der Welt / nichts anderes als Zusammensetzung 120, 135-140 prioritär gegenüber umfassenderen Gefügen, ~ als 9,69-105; prioritär gegenüber Teilen 106-119 Artefakte ergänzbar, ~ durch 32f., 208; ~ nicht als Vehikel für Gen-Replikation 264 Parasiten 84, 93f., 204, 274 Persistenz 31f., 138; ~ als Funktion des Systems 201f.; ~ von Teilen in Interaktion bewirkt 120,138,155,279; - und Sortalabhängigkeit 241 Perspektive 227-233; —Konsumierung als Funktion nicht-lebensnotwendiger Teile 231; - relevant für Selbstverhältnis zur Welt 228,226-231; Innen— grundlegend, prioritär für Außen— 237f. Priorität; s. ontologische ~ Realismus 8,24f. Reduktion; s. a. Emergenz; Begriff der epistemologischen / ontologischen ~ 107f.; ~ nicht Eliminierung 10,106-108, l l l f . , 285f.; ~ von Eigenschaften vs. ~ vom Ganzen auf Teile 110f., 118; — impliziert nicht ontologische Priorität zugunsten von Teilen 106; ~ und Selbständigkeit 112-115; Problem der multiplen Realisierbarkeit 110 Riesen-Individuen; zerlegbar in Individuen 104f. Roboter 33, 89
313
Selbständigkeit; s. a. Autarkie; Einheit; Gegenübertreten; Individuum; Perspektive; Selbstorganisation; Vollständigkeit Begriff der ~ 76,120,215,234; ~ als Individuitätskriterium 105f., 214f., 223; Grade der ~ 67, 215f., 244f. Beitrag zu ~ als Kriterium für Teil-Sein 67,87,216; ~ als Kriterium für Unterscheidung von Teil / Ganzem 47,69, 114; nichts Selbständiges Teil von Selbständigem 69, 93, 114, 253, 272275 - als Abgeschlossenheit 215; Veränderung und ~ 238-244; kausale Wirksamkeit und -121,154f.; nichts Selbständiges schädigt seine ~ 257, 261; Reduktion und ~ 112-115,119-121 Selbstorganisation (Selbstherstellung); Begriff der ~ 31,34,214; als Voraussetzung für Persistenz / diachrone Einheit 31; ~ verschieden von Von-selbst-Entstehen 34; ~ ohne Spontaneität 35f.; ~ und Veränderung 37, 38; ~ und Selbständigkeit 139,214; - als reflexive / nicht-standardisierte Funktion des Organismus 194f., 201,211 Selbsttötung 256 Selektion, natürliche 173, 178f. Siamesische Zwillinge 4, 70, 270 Siphonophoren (Staatsquallen) 20, 80-82; Individuitätsstatus unklar 82 Sorites 58-68; s. a. Vagheit Sortale 6,216, 240f. Soziale Handlungen 76-78 Sozialer Organismus 70, 72-85; s. a. Autarkie; Determiniertheit; soziale Handlungen; Organismus; Zwang Begriff des - 72f.; Beispiele 80, 84; keine ontologische Priorität gegenüber Individuen 73-85,286; keine eigene kausale Wirksamkeit 155 Soziale Systeme 77f. Spezies; s. a. Art; Unklarheit des —Begriffs 65, 95; Verschiedenheit der —Begriffe 95f.; ~ nicht als Individuen 10, 94-103, v. a. 98-103; ~ nicht als Uber-Individuum
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Sachregister
99-101; Spezies und Klassen 96-98; ~ ohne Selbständigkeit 99, 103; ~ nicht Akteur von Selbsterhaltung 99 Substanzontologie 24 Sumpfmensch; (nicht) ohne Funktion 184187 Symbiose 70, 84,204 Teil; s. a. Einheit; Fortpflanzung; Gene; Herausgreifen; Individuum; Organismus; Perspektive; Selbständigkeit; Selbstorganisation; Vagheit weiter Begriff von ~ 51 f.; kategoriale Verschiedenheit von ~en 51f.; Transitivität von ~en 50; - hier als echter Teil 49; ~ vs. ein ~ 50; temporaler vs. temporärer ~ 52f.; artifizieller vs. natürlicher ~ 89 Funktionseinheit, - als 12, 49f.; ~ als Funktionsträger 157f., 209; Beitrag als Funktion des ~s 161, 209, 212, 223, 279; —Kriterium im Beitrag zum Erhalt des Organismus 50,67,212,281, zur Selbstorganisation 212, 214, zur Selbständigkeit 87f., 209,214,281,286 Selbständiges kein ~ 93, 115, 253; ~ als Nicht-Selbständiges 47,69,286; keine eigene »Entscheidung« über Bindung 114f., 235f., 286; ontologischer / Selbständigkeitsstatus von aktualem Bindungsstatus unabhängig 116; wegen Unabgeschlossenheit keine Einheit 215 Teil und Ganzes 44-53; - ohne Priorität gegenüber Ganzem 106-119; kein kausal determinierendes Verhältnis zum Ganzen 112 gemeinsamer ~ verschiedener Individuen 269f.; ~e unter Aspekten, mit verschiedenen kausalen Rollen 217,253, 273f. Integration problematischer ~e; nichtlebensnotwendige ~e wegen Perspektive zu integrieren 13, 216, 224-232; indifferente ~e 253,270-272; Konflikt von —en 218-223; konstruktiv-de-
(Teil) struktive Teile (s. a. Fortpflanzung) 253, 255, 261-267; fremdbezogene Aktivitäten 262-267; destruktive ~ (s. a. kausale Rollen) 252f., 256-261; Konstruktivität / Destruktivität relativ 261, 271f.; Abtrennbarkeit von destruktiven -en 257f., 260f. Vagheit des —Seins und zeitliche Grenzen des Gefüges 250; keine Grade des —Seins 249 Teleologie; ~ ohne Relevanz für Selbstorganisation 38; heuristischer Wert der ~ 38; ~ und Funktion 165, 170f. Tokens und Types; Bestimmungsprobleme für ~ bei ätiologischer Funktion 178, 188-191,205f. Tropes 18,37, 152, 278 Universalien 18, 36f. Universalismus / Super-Universalismus 71 Unteilbarkeit; ~ nicht als IndividuationsKriterium 16; ~ des Individuums trotz Veränderlichkeit 279, 283; Teilung des Individuums nur unter (partiellem) Individuitätsverlust 283 Vagheit 54-68; s. a. Sorites; ontologische vs. epistemische ~ 55f.; zur ~ der Identität 57f., 239; ~ hinsichtlich zeitlicher Grenzen / Teile 56,250; Individuen als Funktionsgefüge nicht vage 287f. Verstreute Objekte 80f. Vierdimensionalität 6f., 52f., 56,201f., 241 Vollständigkeit und Selbständigkeit 91f. Wellen 7, 134, 234, 254,275f. Zusammenpassen / Nicht-Zusammenpassen von Teilen 216-223 Zusammensetzung 133-135 Zwang; s. a. Determiniertheit; Siphonophoren; sozialer Organismus ~ nicht als ontologisches Problem für Selbständigkeit 78-85; ~ verändert nicht die Kategorie 81f., 287; ~ und Teileunter-Aspekten / kausale Rollen von Aktivitäten 274