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German Pages 260 [217] Year 2013
Mit Beiträgen von Bärbel Frischmann, Sabine Gruber, Veronika Hoffmann, Benedikt Kranemann, Francisca Loetz, Vasilios N. Makri des, René Roux, Jörg Rüpke, Birgit Schäbler, Sabine Schmolinsky und Katharina Waldner.
ISBN 978-3-402-15850-0
VIFR 9 Kracke/Roux/Rüpke (Hgg.) Die Religion des Individuums
Wie werden Religionen von Einzelnen angeeignet? Inspiriert durch Fragen der Historischen Anthropologie nach sozialen und nationalen Identitäten wie durch die religionsgeschichtliche Frage nach religiöser Individualisierung geht dieser Band einem zentralen Problem (nicht nur!) europäischer Religionsgeschichte nach. Es geht nur scheinbar um die bloße Übernahme, die Rezeption von religiösen Traditionen und Praktiken durch Einzelne. Die Veränderungen in solchen Aneignungen sind mehr als individuelle Variation. Was oft einfach nur defizitär oder gar falsch erscheint, ist vielfach strategisches Handeln. Damit bleiben solche Aneignungen nicht marginal für die jeweilige religiöse Tradition. Vielmehr sind es solche individuellen Vorstellungen und Praktiken, die zum Gesamtbild einer Tradition beitragen und sie verändern. Individuelle Religion, so die Kernthese dieses Bandes, ist ein zentraler Faktor religionsgeschichtlicher Dynamik. Das betrifft zentrale Texte und Rituale, es betrifft Alltagsreligion und den breiteren kulturellen Kontext, es betrifft schließlich zentrale Glaubensvorstellungen, Gottesbilder und religiöse Normensysteme. Der Bogen, den die Beiträge schlagen, reicht vom frühen Griechenland und die mittelmeerische Antike über das Hochmittelalter und die Reformationszeit bis in das Ägypten des 19. und 20. Jahrhunderts und ost- wie westeuropäische Theologie der Gegenwart.
Bärbel Kracke René Roux Jörg Rüpke (Hgg.)
Die Religion des Individuums
Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt Band
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Die Religion des Individuums Herausgegeben von Bärbel Kracke, René Roux, Jörg Rüpke unter Mitarbeit von Karoline Koch
Die Religion des Individuums Herausgegeben von Bärbel Kracke, René Roux, Jörg Rüpke unter Mitarbeit von Karoline Koch
Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt Band 9
Gefördert durch Mittel des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt
© 2013 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54, Abs. 2, UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Gesamtherstellung: Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. KG Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier ∞ ISBN 978-3-402-15850-0
Inhalt Bärbel Kracke, René Roux, Jörg Rüpke Einleitung: Die Religion des Individuums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Jörg Rüpke Religiöse Individualität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Katharina Waldner Jenseitsvorstellungen als individuelle Aneignung von Religion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 René Roux Individuelle Aneignung von Heiligen Schriften in der christlichen Antike: Einige Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Vasilios N. Makrides Orthodoxes Christentum und Individuum: Verhängnisvolle Affäre oder produktive Interaktion? . . . . . . . . . . . 63 Benedikt Kranemann Liturgie und ihre individuelle Rezeption: Das Beispiel des Weihnachtsfestes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Sabine Schmolinsky Judas und Hermann: Konversionen vom Judentum zum Christentum im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Francisca Loetz Was man mit Gott anstellen kann: Blasphemie in der frühneuzeitlichen Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Sabine Gruber Religiöse Prätexte bei Clemens Brentano. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Birgit Schäbler Der Islam der Modernisten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
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Inhalt
Bärbel Frischmann Nietzsches Kritik der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Veronika Hoffmann Gehört der Zweifel zu religiösen Überzeugungen?. . . . . . . . . . . . . 167 Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Die Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Interdisziplinäres Forum Religion der Universität Erfurt . . . . . . . 206 Die bisherigen Bände der Reihe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
Bärbel Kracke René Roux Jörg Rüpke
Einleitung: Die Religion des Individuums Religionen treten häufig als Glaubenssysteme oder Organisationen in den Blick, sei es in ihrer internen Struktur und Geschichte, sei es in ihren kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten. Diese Betrachtung gilt auch für frühere Bände dieser Reihe.1 Der vorliegende Band und die ihm zugrundelegende Ringvorlesung haben dagegen eine Umkehr der Per spektive vorgenommen und fragen: Wie werden Religionen von einzelnen angeeignet? Inspiriert war die Frage der Aneignung zum einen durch Arbeiten der Historischen Anthropologie, wie sie in Erfurt Alf Lüdtke mit diesem Begriff zu sozialen und nationalen Identitäten im zwanzigsten Jahrhundert vorgenommen hat.2 Zum anderen standen Arbeiten der Erfurter Kolleg-Forschergruppe „Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive“ im Hintergrund, die weniger nach individuellen Ausformungen von Religion, als nach deren strukturellen Folgen, nach ihrer religionsgeschichtlichen Dynamik fragt.3 Eine solche „Aneignung“ hat, legt man den Begriff der „appropriation“ von Michel de Certeau zu Grunde, zwei Seiten: Sie bezeichnet die Übernahme, die Rezeption von Traditionen und Praktiken, konzentriert sich dabei aber auf die Veränderungen, auf die unvollständige, phantasievolle und fast zwangsläufig subversive Praxis und Vorstellungen des Einzelnen. Solche Aneignungen sind aber nicht marginal für die Tradition, das heißt für die langfristige Gestalt der gesellschaftlichen Praxis, sondern sie konstituieren diese, sie tragen zu ihrem Gesamtbild bei und verändern es. Das Interdisziplinäre Forum Religion und die Mitwirkung von Kolleg(inn)en aus Zürich und Bayreuth ermöglichte, die Fragestellung in großer fachlicher Breite und historischer Tiefe, wenn auch konzentriert auf den europäischen, mediterranen und vorderasiatischen Raum, zu verfolgen. Religionswissenschaft und Geschichtswissenschaft, Liturgiewissenschaft und Kirchengeschichte, Literaturwissenschaft und Systematische Theologie, aber auch die Soziologie leisten dazu Beiträge. Immer wieder wurde im Rahmen der Diskussionen deutlich, wie fruchtbar
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Bärbel Kracke, René Roux,Jörg Rüpke
das Gespräch mit der empirischen Psychologie ist, wenn das auch in diesem Band nicht zu leisten war. Hier bleiben Aufgaben interdisziplinärer Zusammenarbeit offen. Das erste Kapitel „Religiöse Individualität“ ( Jörg Rüpke) bietet eine Einführung in die Begriffe und diskutiert vor allem die Konzepte „Individualität“ und „Individualisierung“. Deutlich wird in dieser Diskussion zum einen, wie wichtig es ist, die soziale Einbettung des Individuums im Blick zu behalten: Individuierung und Sozialisierung sind als biographische Prozesse zwei Seiten einer Medaille. Zum anderen gilt es, die Schwierigkeiten einer historischen Forschung nicht zu unterschätzen, die ein vergangenes „Selbst“ in den Blick nehmen will und doch immer nur auf dessen nach außen gerichtete Repräsentationen in textlicher oder anderer medialer Form trifft. Trotz dieser methodischen Schwierigkeiten erlaubt der Blick auf individuelle Aneignung von Religion aber neue Perspektiven und Einsichten: Für die antike, griechisch-römische Religionsgeschichte werden in einem raschen Durchgang zahlreiche fruchtbare Ansatzpunkte identifiziert. Im zweiten Kapitel stellt Katharina Waldner die Entwicklungen der Jenseitsvorstellungen im archaischen und klassischen Griechenland und ihre Widerspiegelung in Bestattungspraktiken dar und weist ausführlich auf gewisse Ähnlichkeiten mit der heutigen pluralistischen Situation in mittel- und nordeuropäischen Ländern hin. Mit dem sechsten Jahrhundert v. Chr. erscheint in Griechenland eine Neuerung in der Vorstellung über das Leben nach dem Tod: während bei Homer grundsätzlich alle Toten eine elende Schattenexistenz in der Unterwelt führen und Bestattungsrituale der Abgrenzung zwischen beiden Welten dienen, verbreitet sich in der Folgezeit die Vorstellung eines individuellen Schicksals der Seelen, die nach dem Tod zur Rechenschaft gezogen werden. Platon stellt sich die menschliche Seele als unsterblich vor und neue Mysterienkulte versprechen jetzt ihren Anhängern durch ihre Rituale ein besseres Leben nach dem Tod. Die daraus resultierende Vielfältigkeit von Vorstellungen und Ritualen zeigt das Fehlen eines einheitlichen Deutungssystems im Polytheismus und erinnert an heutige postchristliche Gesellschaften, in denen Bestattungspraktiken und Jenseitsvorstellungen immer mehr Ausdruck individueller Suche werden. Im dritten Kapitel zeigt René Roux den Beitrag der antiken rhetorischen Bildung zur individuellen Aneignung biblischer Texte. Da die heiligen Schriften der Christen und besonders das Alte Testament zunächst ein Fremdkörper in der römischen Kultur der Kaiserzeit waren, haben
Einleitung: Die Religion des Individuums
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die Kirchenväter aus der klassischen Rhetorik konzeptuelle Instrumente gewonnen, die eine Brücke zum richtigen Verständnis und zur Aneignung der neuen Inhalte bildeten. Der Glaube an die göttliche Autorschaft in Verbindung mit der klassischen Auslegungsregel, nach der ein Autor durch sich selbst erklärt werden muss (auctorem per auctorem), ermöglichte die Bibel als eine Einheit zu betrachten und machte die Interpretation des Alten Testaments im Lichte des Neuen legitim und nachvollziehbar. Darüber hinaus galt es überall einen gotteswürdigen Sinn zu finden (da der Autor Gott ist, kann der Text keine echten „Schwächen“ enthalten: wenn es so aussieht, muss ein anderer Grund gefunden werden) und in jedem Text eine an sich persönlich gerichtete Aussage zu entdecken. Das vierte Kapitel „Orthodoxes Christentum und Individuum: Verhängnisvolle Affäre oder produktive Interaktion?“ behält eine chronologisch lange Perspektive auf das Christentum bei. Vasilios N. Makrides erläutert die heutige in orthodoxen Kreisen sehr verbreitete Kritik am Individualismus und an den Individualisierungsprozessen, die aufs Engste mit dem lateinischen Christentum verbunden seien und als typisches und negatives Merkmal der Entwicklung Westeuropas gewertet werden. Mit seiner Betonung der Innerlichkeit hat das Christentum als solches einen wichtigen Beitrag für die Individualisierungsprozesse geleistet. Freilich hat sich der lateinische Westen in diesem Bereich anders als die Orthodoxie entwickelt, man denke an die historische Bedeutung der „Confessiones“ des Augustinus und an große Ereignisse wie die Renaissance oder die Reformation, die zum modernen Individualitätsbegriff geführt haben. Um konstruierte Polarisierungen zwischen Ost und West zu vermeiden, darf man aber nicht übersehen, dass Individualisierungsprozesse auf praktischen und reflektierten Ebenen trotz verfochtener Überlegenheit der östlichen Gemeinschaftlichkeitstradition auch im orthodoxen Osten stattfinden. Die Spannung zwischen Gemeinschaft und Individuum in einer religiösen Feier beleuchtet Benedikt Kranemann im fünften Kapitel „Liturgie und ihre individuelle Rezeption: Das Beispiel des Weihnachtsfestes“. In seinem historischen Abriss über die Gestaltung des Weihnachtsgottesdienstes wird deutlich, dass es neben der kirchlichen Feier, die klaren Ordnungen folgt, stets ganz persönliche Bedeutungen gibt, die dieser Feier bzw. dem Fest zugeschrieben werden. Dies lässt sich zum Beispiel an Gebeten und Liedern ablesen. Das Verhältnis zwischen dem, was Kirche unter einem Fest versteht und was die einzelne Person meint, kann
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dabei durchaus spannungsgeladen sein. Gerade die Veränderungen des Weihnachtsgottesdienstes über die Zeit seit dem vierten Jahrhundert bis heute verdeutlichen, dass Liturgie und deren individuelle Rezeption in einem dynamischen, sich wechselseitig beeinflussenden Verhältnis zueinander stehen. Sabine Schmolinsky behandelt im sechsten Kapitel einen hochmittelalterlichen, um 1130 verfassten Text, der in der ersten Person Singular die Konversion vom Juden („Judas“) zum christlichen Priester „Hermann“ reflektiert. Interessant ist dieser Text weniger durch seine einzelnen Motive als vielmehr durch seinen Duktus insgesamt: Konversion erscheint als eine individuelle Aneignung von Religion, eine in einem komplexen biographischen Prozess in einer konkreten Umwelt sich vollziehende Handlung. Es geht nicht einfach um den Wechsel von einer religiösen Gruppe in die andere, etwa vermittelt durch signifikante Mitglieder der neuen Gruppe, sondern um die Selbstorientierung eines Individuums. Als Analyse-Instrument erweist sich der Begriff der „Person“ mit seiner antiken Vorgeschichte der „Maske“ als besonders hilfreich. Historisch bedeutsam ist der Text, so zeigt die Autorin, wohl weniger als Ego-Dokument eines tatsächlich historischen Konvertiten. Entfaltet hat er seine Wirksamkeit eher als Muster für individuelle Reflexion und „Konversion“ in einer monastischen Gemeinschaft im westfälischen Cappenberg. „Was man mit Gott anstellen kann: Blasphemie in der frühneuzeitlichen Schweiz“ lautet der Titel des siebten Kapitels. Vor allem anhand von Gerichtsakten über Blasphemie-Vorwürfe und Blasphemie-Prozesse fragt Francisca Loetz, aus welchen Motiven und mit welchem Nutzen einzelne zum Mittel der Schmähung eines Gottes greifen konnten, dessen Existenz nahezu allen als selbstverständlich galt: Intellektueller Atheismus war jedenfalls nicht der zentrale Kontext frühneuzeitlicher Gotteslästerung. In der Untersuchung von Fallbeispielen wird die Funktionsbreite des Lästerns und Fluchens ersichtlich. So kann es sich um überbietende Provokationen im Streit um größere Ehre unter Männern handeln; in heiter-geselliger Runde können Grenzen des Sagbaren ausgetestet, in ausgewählten Formulierungen kann besonderes theologisches Wissen von Nichttheologen in Anspruch genommen werden. Aneignung und Ablehung religiöser Tradition erfolgen, so machen die Beispiele deutlich, situationsspezifisch und individuell. In achten Kapitel untersucht Sabine Gruber unter der Überschrift „Religiöse Prätexte bei Clemens Brentano“ Art und Zielrichtung von
Einleitung: Die Religion des Individuums
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Brentanos Adaptionen religiöser Quellen, nimmt sich also ein in der Form von Literatur religiös produktives Individuum zum Gegenstand. Anhand einiger markanter Beispiele wird die in der Literaturwissenschaft vertretene Meinung, Brentano habe Stoff der antiken und christlichen Mythologie mit solchem aus heidnisch-germanischer Tradition bedenkenlos geklittert, in Frage gestellt: Die Vielfalt der Prätexte in Brentanos Gedichten ändert nichts an der Tatsache, dass sie originäre Schöpfungen seiner Phantasie sind. Die hier analysierten Gedichte zeigen seinen unterschiedlichen Umgang mit religiösem Quellenmaterial, der sich kaum auf eine einfache Formel bringen lässt. Die zweifache Intention des Autors, sprachkünstlich und religiös-erbaulich, lädt zur interdisziplinären Untersuchungen dieser Texte ein. Birgit Schäbler stellt im neunten Kapitel „Der Islam der Modernisten“ drei Protagonisten vor, die wesentlich die islamische Moderne im neunzehnten Jahrhundert begründet haben: Dschamal al-Din al-Afghani, Muhammad Abduh und Muhammad Raschid Rida. Das zentrale Anliegen dieser Reformer war es, eine Rückbesinnung auf die in den ersten Jahrhunderten des Islam praktizierte selbstständige Auseinandersetzung eines jeden Muslims mit dem Koran anzuregen. Damit sollte das Prinzip der Nachahmung als Kernstück einer seit dem zwölften Jahrhundert vorherrschenden traditionellen Auslegung des Koran, das sie als Ursache für die Rückständigkeit der islamischen Welt identifiziert hatten, überwunden werden. Durch Unabhängigkeit von der traditionellen Geistlichkeit, die individuelle Aneignung und aktive Gestaltung des Glaubens sollte auch die Gesellschaft insgesamt modernisiert werden, da der der wahre Islam als vernunftbetonte Religion Wahrheitssuche und Wissenschaft einschloss. Erneut einen einzelnen Denker und dessen radikalisierende Aneignung von Religion nimmt das zehnte Kapitel „Nietzsches Kritik der Religion“ in den Blick. Nietzsches Religionskritik ist im Blick auf die monotheistischen Religionen umfassend und vernichtend: Sie sind ein Phänomen von Dekadenz und Niedergang. Bärbel Frischmann zeichnet diese Kritik in ihrer Argumentation auch mit Blick auf institutionelle Details wie Priester nach. Sie bleibt aber in dieser Rekonstruktion nicht stehen, sondern fragt nach der Position dieser Kritik im Rahmen von Nietzsches Philosophie insgesamt. Hier plädiert Frischmann für einen perspektivischen Zugang: Die in viele Richtungen radikale Kritik zielt nicht auf eine neue Dogmatik, sondern auf ein Infragestellen des Herkömmlichen, die einer je individuellen Aneignung, einer je eigenen Per-
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spektive bedarf. Mit aller Kraft, aber auch in heiterer Fröhlichkeit bietet Nietzsche lediglich seine eigene Wahrheit. Im Schlusskapitel betrachtet Veronika Hoffmann das Verhältnis von Zweifel und Glauben. Sie erörtert die Frage „Gehört der Zweifel zu religiösen Überzeugungen?“ vor dem Hintergrund narrativer Beispiele und theoretischer Ansätze. Es wird deutlich, dass sowohl in Geschichten über Gläubige als auch in theoretischen Positionen jedes Verhältnis von Glauben und Zweifel möglich ist. So zeigen Narration und Theorie, dass Glaube ohne Zweifel möglich (Katharina von Alexandrien) und die Abwesenheit von Zweifel sogar notwendig für den Glauben gehalten wird (Franz Hettinger). Demgegenüber steht die eher soziologische Position, dass durch Zweifel erst eine Distanzierung zum Glauben möglich wird, die notwendig ist, um Toleranz für unterschiedliche religiöse Überzeugungen entwickeln zu können (Peter Berger und Anton Zijderveld). Eine dritte Position sieht Glauben nicht durch Zweifel grundsätzlich erschüttert, Zweifel führt also nicht etwa zu Nichtglauben (Mutter Teresa von Kalkutta), wohl kann er aber eine potentielle Gefahr für die individuelle Aneignung von Religion darstellen ( Jürgen Werbick). * Unser Dank gilt allen Beiträgerinnen und Beiträgern für die Mitwirkung an der Ringvorlesung und der Publikation sowie jenen Studentinnen und Studenten, die die Diskussion der am Anfang stehenden Vorträge beförderten und zu Klarstellungen und Akzentuierungen verhalfen. Karoline Koch hat die Beiträge redaktionell vereinheitlicht und sorgfältig Korrektur gelesen und so trotz mehrfacher Verzögerungen das Erscheinen des Bandes im Folgejahr der Ringvorlesung ermöglicht. Der Universität Erfurt gilt unser Dank für die finanzielle Unterstützung von Ringvorlesung und Drucklegung.
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Religiöse Individualität1 Individuum und Moderne In der Religionswissenschaft scheint selbstverständlich geworden zu sein, Religion nicht nur aus der Warte von Religionsgemeinschaften und religiösen Traditionen, sondern auch aus dem Blickwinkel eines Individuums zu betrachten. Das gilt in doppelter Hinsicht:2 (1) Religion scheint primär zur Sache von Individuen geworden zu sein, die aus einem breiten Spektrum religiöser Angebote – ob in der Gestalt von religiösen Gruppen und Organisationen oder nur in massenmedialer Gestalt, als Buch oder im Internet – auswählen und so ihre persönliche Religiosität gestalten. (2) Zugleich scheint aber auch das Individuum immer mehr zur Sache der Religion, zu ihrem Thema geworden zu sein, nicht nur als Träger von individuellen Jenseitserwartungen, von ‚Heil‘ und Objekt von ‚Seelsorge‘, sondern als Adressat von spezifischen Ritualen, von religiösen Weiterbildungsangeboten und Subjekt von spirituellen Erfahrungen. Plausibilität gewinnen solche Diagnosen der ‚Privatisierung von Religion‘ in einer Vielzahl von Studien der letzten Jahrzehnte, als Gegenwartsdiagnosen mithin. ‚Individualisierung‘ gilt als ein Merkmal der Moderne – weit über Religion hinaus. Indessen zeigt sich schnell, dass solche Phänomene außerhalb der ‚westlichen Welt‘, die sich gerade mit der Selbstbeschreibung als ‚Moderne‘ von anderen absetzen möchte, durchaus kritisch betrachtet werden. Aber auch innerhalb dieser westlichen Moderne ist religiöse Individualität ungleich verteilt. Vor allem aber verschließt die Verknüpfung von Moderne und religiöser Individualität den Blick auf vergleichbare Phänomene in früheren Epochen, so dass der Fokus auf Individualität nur eine beschränkte Rolle in der Untersuchung der Dynamik religionsgeschichtlicher Prozesse gespielt hat. Individualisierung So geläufig der Begriff des Individuums ist, der aus der lateinischen Übersetzung Ciceros des griechischen Begriffes der Atome stammt (individua
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im Plural), so problematisch erweist er sich, wenn er akzentuiert gegen Gesellschaft und gesellschaftliche Konformität gestellt und historisch befragt wird. In diesem Moment wird Individuum zu einem normativen Begriff: Man soll individuell sein, und der heute erreichte Individualismus ist das Ergebnis eines Prozesses von Individualisierung, der die westliche Moderne epochal von der Alten Welt wie geographisch-kulturell von der nicht-westlichen Welt unterscheidet. Das hat nun besonders für den Entwurf einer Religionsgeschichte Bedeutung. Im Blick auf die westliche Vormoderne zum Beispiel werden mit dem Begriff der Polisreligion – der Identität von politischer Struktur einer griechischen oder römischen Stadt des Mittelmeerraums – oder dem Begriff der religiösen Einheit des mittelalterlichen Europas Gegenbilder zu einer der Säkularisierungsthese verpflichteten Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften entworfen: In diesen trete im Unterschied zur Vormoderne Religion als kollektive und öffentliche Erscheinung zunehmend zurück – mit einer wichtigen Folge: Wo nicht von einem grundsätzlichen Rückgang von Religion ausgegangen wird, wird Religion vor allem in individuellen Formen aufgefunden, ja kann zur „unsichtbaren Religion“ werden.3 Der historische Verlauf dieses Prozesses wird sehr unterschiedlich rekonstruiert und datiert. Nach dem schon im neunzehnten Jahrhundert entworfenen Bild ist das Individuum ein Produkt der Renaissance, die erstmals, und zwar mit dem Rückgriff auf die vorchristliche Antike, ein Heraustreten aus der eigenen Tradition ermöglicht habe. In dem so eröffneten Raum der kritischen Distanz konnten prinzipielle philosophische, ästhetische, sprachliche, institutionelle und eben auch religiöse Alternativen formuliert, ja organisiert und praktiziert werden. Das betrifft die erneute Etablierung des Platonismus neben dem Aristotelismus, die Aufwertung von Volkssprachen zu Schriftsprachen (Italienisch beispielsweise tritt neben das Lateinische), die Gründung von Akademien und den Entwurf von Idealstaaten. Wenn man bereits hier – und das bleibt umstritten – Paganismus nicht nur als ästhetische Form, sondern als religiöse Alternative sieht,4 ergäbe sich ein Strang religiöser Individualisierung, der in spätmittelalterlichen Frömmigkeitspraktiken weiteren Spielraum erhielte, bevor die Reformation im sechzehnten Jahrhundert Religion zum Gegenstand individueller Wahlentscheidung machte und dem Individuum entsprechende Freiräume schuf. Gerade die Folgezeit zeigt aber eine charakteristische Paradoxie von Individualisierungsprozessen: Die Institutionalisierung religiöser Individualität erzeugte neue Normen und Einengungen, die nur schwer zu bilanzieren sind. Faktisch
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zementierten die Konfessionalisierungsprozesse bis in das achtzehnte Jahrhundert hinein Gruppengrenzen und sicherten die Internalisierung spezifischer konfessioneller Normen ab, sie schufen keine frei wählbaren religiösen Optionen. So bleibt für uns die inhaltliche Füllung religiöser Individualisierung typischerweise schwammig oder stützt sich auf einzelne textliche Befunde – etwa die Formulierung von Menschenrechten im rechtsphilosophischen Diskurs der Europäischen Aufklärung –, die sich nur schwer in eine Genealogie der jüngeren Religionsgeschichte als zentraler Faktor einfügen lassen. Die Abgrenzung gegenüber anderen, insbesondere asiatischen Kulturen mit Hilfe des normativ aufgeladenen Begriffs des Individuums funktioniert für die Religionsgeschichte in vergleichbarer Weise.5 Zwar hatte etwa der französische Indologe Louis Dumont Ansätze religiöser Individualisierung auch im indischen Raum im Phänomen der asketischen Entsagung diagnostiziert. Seinen Ausgangspunkt bildete dabei die Annahme, dass sich in traditionalen Gesellschaften Individualismus nur in deutlicher Opposition zur Gesellschaft, und das heißt in Gestalt außerweltlich orientierter Individuen zeigen könne.6 Der indische Individualismus blieb aber langfristig folgenlos, da es nicht wie in Europa zu der theokratischen Radikalisierung gesellschaftlicher Ordnungsvorstellung kam, die erst weltlicher Macht eine religiöse Autorität (Kirche und Papst) überordnete und dann Religionsfreiheit des Einzelnen in der institutionalisierten Gestalt der Gesellschaft selbst verankerte. Im orientalistischen Stereotyp beherrschten asiatische Despotie und kollektive Akteure wie die ‚Kasten‘ das Bild,7 bis hin zu der Unterstellung, dass bestimmten außereuropäischen, eben vormodernen Kulturen sogar die Möglichkeit fehle, den Interessensgegensatz von ‚Selbst‘ und ‚Gesellschaft‘ zu denken – was Melford Spiro überzeugend problematisiert hat.8 Für die klassische, als ‚kollektiv‘ charakterisierte Religion der vormodernen und vorchristlichen Antike haben jüngere Arbeiten ähnliche Ergebnisse erbracht. So zeigen die umfangreichen antiken Diskussionen über religiöse Devianz und die Versuche der rechtlichen Normierung religiösen Verhaltens die Wahrnehmung und Akzeptanz einer umfangreichen religiösen Individualität, die sich in ganz unterschiedlichen Formen äußert.9 Die Kritik des Selbstbildes westlicher Intellektueller von der exzeptionellen Individualisierung der ‚Moderne‘ könnte nahelegen, auf die Begriffe ‚Individuum‘, ‚Individualität‘, ‚Individuierung‘ (der lebensgeschichtliche Prozess der Übernahme der vollen Mitgliedsrolle einer Ge-
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sellschaft) und ‚Individualisierung‘ (die sozialstrukturelle Absicherung weiter Spielräume für Individualität) für eine religionswissenschaftliche und religionsgeschichtliche Beschreibungssprache ganz zu verzichten. Die zuletzt genannten Befunde empfehlen diese Konsequenz nicht. Gerade ihrer polemische Prägung verdanken diese Begriffe ihre Kraft, in vormodernen und nicht-westlichen Kulturen den Blick auf Phänomene zu lenken, die in der verbreiteten kollektivierenden Perspektive auf diese Kulturen zu wenig Beachtung gefunden haben. Zugleich gilt es aber, die Begriffe mit ihren komplexen Assoziationen aufzulösen, nach Formen, Typen und Phänomenen zu fragen, die sich an ethnographischen oder textlichen Befunden verifizieren lassen. Das soll exemplarisch an der Religionsgeschichte der mediterranen Antike vorgeführt werden. Es verlangt aber in einem vorangehenden Schritt eine erneute, sorgfältigere Analyse der verwendeten Begriffe. Individualität als analytischer Begriff Alltagssprachlich findet ‚Individualität‘ als ein Begriff Verwendung, der Unterschiede markiert: die Unterschiedenheit eines Menschen zu anderen, vor allem aber eines Menschen zur Gesellschaft. Der Begriff weist dabei zwei Seiten auf. (1) Zunächst eine objektive Seite. Es geht um Differenzen zwischen Individuen und zwischen Individuen und Gesellschaften bis hin zu Devianz und Weltablehnung: Das Handeln von einzelnen wird als Verstoß gegen allgemeinverbindliche Normen gewertet. (2) Weniger dramatisch lässt sich Individualität als die Wahrnehmung und Ausübung von Wahlmöglichkeiten verstehen: Das Handeln des einzelnen ist nicht mehr durch die Normen einer Tradition und Gruppe bestimmt. Auch das beschreibt eher den Regelfall denn eine Ausnahme. Unterschiede zwischen Individuen können schon dadurch entstehen, dass die einzelnen jeweils unterschiedliche Kombinationen von Rollen leben, Knoten jeweils anderer Netzwerke darstellen. Das legt nahe, mit Georg Simmel10 die Entwicklung und Verbreitung von Individualität historisch mit der gestiegenen Zahl berührter sozialer Kreise durch die Kontaktdichte in Städten in Verbindung zu bringen. Historisch ließe sich daraus die Hypothese entwickeln, dass sich Phänomene von Individualität weit eher in Städten und urbanen Zentren als in dörflichen face-to-face-Gemeinschaften finden lassen. Sozial wird man sie dann auch eher in lokalen Eliten finden, die in überregionale Kommunikationen
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eingebettet sind, und eher unter Migrantinnen und Migranten denn unter kleinen ortsfesten Populationen, ohne damit die schon genetisch vorgegebene Individualität jedes Menschen zu bestreiten. Der zuletzt gegebene Hinweis deutet auf ein grundsätzliches Problem: Wo sind Unterschiede folgenlose Ausprägungen von Variabilität, wo machen sie einen Unterschied für das Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft? Solche Variationen müssen ja weder die Reproduktion der Gesellschaft noch die Sozialisation, die lebensgeschichtliche Integration des Einzelnen in die Gesellschaft berühren! Das Kriterium für ‚Individualität‘ wird aus diesem Problem der Evaluation objektiver Differenzen gerne auf der subjektiven Seite gesucht: Gegeben ist eine qualifizierte Individualität erst, wenn der einzelne Handlungsträger, das Subjekt, in ein Selbstverhältnis eintritt und die Differenz dieses Selbst reflektiert gegenüber der Gruppe, den Traditionen oder der Vielzahl von Rollen, die es einzunehmen hat. All diesen gegenüber gilt es Identität, auf Deutsch: Je-Selbigkeit auszubilden. Solche Konzepte des ‚Selbst‘ können mit unterschiedlichen Konzepten wie ‚Seele‘ oder ‚innerer Mensch‘ weiter ausgestaltet werden; religiös ist die Rolle der Kommunikation mit oder der Präsenz des Göttlichen in diesem Selbst von großer Bedeutung. Aber wie soll man diese Reflexion greifen? Typische Quellenlagen für religionsgeschichtliche Forschung legen daher einen – wie gleich zu zeigen sein wird – problematischen Ausweg nahe. Natürlich könnte man die Diagnose von Individualität von ihrem textlichen Niederschlag abhängig machen. Schon für die Antike spielen philosophische Reflexionen auf das ‚Selbst‘ seit Platon eine wichtige Rolle.11 Von dort lassen sich wichtige Stränge in die Philosophie der hellenistischen Schulen von Stoa und Epikur, in die biblisch inspirierten Vorstellungen jüdischer Denker der hellenistischen Epoche (insbesondere Philon von Alexandria) und in die mittel- und neuplatonische Philosophie (und deren Rezeption im Christentum) verfolgen.12 Näheres Hinsehen zeigt aber, dass diese Reflexionen sich zumeist gar nicht für ein einzelnes, unterschiedenes, sondern für ein generalisiertes Individuum und Selbst interessieren. Wo es um die Reflexion auf die individuelle Lage zu gehen scheint, geht es wohl eher um die Besinnung auf Pflichten, die sich aus klaren gesellschaftlichen Positionen ergeben.13 Umgekehrt erlauben aber konforme Verhaltensweisen keinen Schluss auf fehlende Reflexivität: Traditionales Verhalten kann ja durchaus eine bewusste Wahl darstellen, wie gerade fundamentalistische Bewegungen zur Genüge demonstrieren.
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Überwunden scheint das Problem des generalisierten Individuums als Inhalt der Reflexion in autobiographischen Reflexionen, die über bloße Ereigniserzählungen hinausgehen. Entsprechend hat man immer wieder den spätantiken Bischof Augustinus als Beginn von Autobiographie und Individualität identifiziert. Doch auch dieses Kriterium für qualifizierte Individualität ist problematisch. Die Annahme, dass autobiographische Reflexion einen unverfälschten oder wenigstens privilegierten Zugang zum Individuum gewähre, da ja hier Objekt und Subjekt der Untersuchung in eins fielen, ist selbst ein Topos der ‚Moderne‘-Topik.14 Autobiographien sind nämlich in literaturwissenschaftlicher Perspektive Konstruktionen eines Selbst, die von dem Autor oder der Autorin angeboten werden, und nicht einfache Durchblicke auf dessen oder deren gegebenes Selbst. Das so erzeugte Selbst ist zunächst einmal literarische Fiktion; empirisches Datum ist nur die Tatsache, dass solche Fiktionen vorgenommen und rezipiert werden – ein zur Charakterisierung der jeweiligen Epoche keineswegs uninteressanter Befund. Erweist sich der Zugang über die subjektive Seite für einen Zugriff auf vergangene Individualität somit als schwierig, öffnet auch die schon angesprochene objektive Seite keinen Königsweg. Bloße Devianz ist noch kein individualitätsgeschichtliches Datum, wenn sie auch als Schlüssel zu gewollter individueller Variation und Diskursen über die Legitimität und Grenzen individueller Kompetenz und Varianz dienen kann, da sie über gesellschaftlich akzeptierte Varianz hinausgeht. In dieser Situation sind einige Befunde aus der Moderne hilfreich. In einer Untersuchung religiösen Verhaltens und religiöser Überzeugungen in den Vereinigten Staaten von Amerika hat Richard Madsen aufgewiesen, dass ‚Individualität‘ nicht schlechthin Merkmal ‚moderner‘ Religion ist, sondern selbst Optionscharakter besitzt. ‚Individualität‘ als Deutungsmuster wie als Verhaltensform wird dabei in erster Linie von mobilen Angehörigen der weißen Mittelschicht gewählt und durch das eigene Engagement und dessen soziale Folgen bestätigt.15 ‚Individualität‘ ist dabei allerdings keine beliebige Option, sondern trägt hegemonialen Charakter, ist im Blick auf die gesamte Gesellschaft eine dominante und mit dem Anspruch auf Vorherrschaft ausgestattete Lebensform. Diese Position gilt es zu beachten, wenn biographische Prozesse betrachtet werden, in denen Individuen ‚Individualität‘ als Vollmitglieder ihrer Gesellschaft erwerben. ‚Individuierung‘ als ein solcher Prozess jedes einzelnen ist damit ein Aneignungsprozess. Er ist ebenso von den kommunizierten Idealen und der durch sie erfolgenden Prägung konkreter Erfahrungen
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abhängig wie von den Spielräumen individueller Lebensführung und den dadurch tatsächlich ermöglichten Differenzerfahrungen, die ihrerseits auf die Kommunikation zurückwirken. Für die religionswissenschaftliche Verwendung des Individualitätsbegriffes hat das wichtige Konsequenzen. Es scheint wenig fruchtbar, konkrete Situationen und Personen auf das Vorhandensein von religiöser Individualität hin zu untersuchen. Was jeweils als ‚Individualität‘ bezeichnet wird, umfasst verschiedene Phänomene, die von der ungewöhnlichen Kombination verschiedener Gottheiten über rituelle Innovationen und kompetitives Spenden bis hin zu Reflexionen über das eigene Verhältnis zu traditionellen Verhaltensweisen reichen. Die Unterstellung, dass all diese Phänomene nur unterschiedliche Ausprägungen ein und desselben Merkmals Individualität seien, ist selbst ein Postulat: Es ergibt sich aus jener Theoriebildung, die eine einheitliche Individualitätsskala als Gradmesser der Modernisierung benötigt. Wenn man dagegen Individualität primär als Differenzbegriff versteht, geht es gerade darum, den Raum zwischen Kollektivem und individuellen Akteuren sowie die Strukturierung dieses Raumes vom einzelnen her präzise auszuloten. Dann legt es sich nahe, zunächst nach Formen und Variablen in der Individuierung zu fragen. Die Beschreibung von Individualität orientiert sich dann ebenso an Unterschieden individuellen Verhaltens wie an der dem Handelnden zugemuteter oder von ihm geleisteter individueller Begründung einer Wahl, auch wenn diese konforme und anscheinend traditioneller Handlungsmuster betrifft – wie etwa die Fortsetzung blutiger Opfer trotz philosophischer Kritik daran. Inwieweit unterschiedliche Formen sich gegenseitig verstärken, zu langfristigen Institutionen oder zu tradierbaren und reproduzierbaren Modellen werden, ist historisch kontingent und kann unter dem Stichwort von Individualisierungsprozessen untersucht werden. Dass diese einheitlich und gerichtet seien, ist erneut Postulat: Die mediterrane Spätantike etwa weist ebenso intensive Reflexionen über individuelle religiöse Alternativen wie Wahlmöglichkeiten auf, ist aber zugleich von zunehmender gesetzlicher Normierung und gewaltsamem Zwang zu lokaler religiöser Konformität geprägt. In diesem Sinne ist weder vormoderne Individualität schon Frühform oder Vorläufer ‚moderner‘ Individualität noch lässt sich ‚moderne‘ Individualität als etwas prinzipiell von außer-moderner Individualität Unterschiedenes erweisen. Das ist kein Plädoyer für den Verzicht auf den Begriff. Seine Verwendung stellt eine Vergleichbarkeit zwischen Phänomenen unterschiedlicher Epochen und Kulturen her, die zu einer näheren Be-
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trachtung einlädt, die das Individualisierungs-Stereotyp der Moderne gerade verhindern will. Praktiken religiöser Individualität in der Antike Wie die vorangegangene Diskussion bereits deutlich gemacht hat, sind wir nur schwer in der Lage, anhand von Selbstzeugnissen individuelle Begründungen für als wählbar angesehene Handlungen zu greifen; vorhandene Zeugnisse lassen zwar vermuten, dass auch traditionelle und konforme Handlungen Resultat solcher Reflexionen und Entscheidungen gewesen sind, aber das lässt natürlich keinen Rückschluss auf die vorangegangene Konzeptionalisierung der Entscheidungssituation als Wahlsituation zu. Daher muss sich die Suche nach antiken Praktiken und Formen von Individualität und entsprechenden Individuierungsprozessen auf Bereiche deutlicher Varianz konzentrieren. Das wird im folgenden für den Bereich religiösen Handelns unternommen, der hier im Mittelpunkt steht. Für die Kulturen des antiken Mittelmeerraums der griechisch-römischen Epoche dürfte Religion derjenige Handlungsbereich gewesen sein, der für die meisten Menschen den weitesten Spielraum in Quellen noch fassbarer Individualität, das heißt auf Dauer gestellter Institutionalisierung und mediatisierter Kommunikation, geboten hat. a) Kultkombinationen. In Gesellschaften, in denen die übermenschlichen, teilweise transzendenten Steuerungsmächte in vielen Zusammenhängen als ein Mehrzahl von Gottheiten konzipiert wurden, also in diesem Sinne polytheistisch sind, boten sich erhebliche Wahl-, ja Gestaltungsmöglichkeiten für die Kommunikation mit „dem Göttlichen“ oder „den Unsterblichen“ – zwei durchaus verbreiteten Formen der Vorstellung und Anrede (theoretischer Atheismus dagegen bildete eine extreme Ausnahme). Zwei sehr unterschiedliche Handlungsfelder sind hier zu nennen. Das eine betrifft den Hauskult, wie er in archäologischen Befunden in Städten wie Ostia und Pompeji, aber auch in ländlichen Villen nachgewiesen ist. Mit dem Ausdruck bezieht man sich insbesondere auf kleine Schreine, Kultnischen oder Altäre, zum Teil sogar nur gemalte Kultstätten und deren Ausstattungen mit Statuetten von Gottheiten. Wählt man einen gewissermaßen statistischen Zugang, der die Befunde zusammenfasst, ist das Ergebnis in den verschiedenen untersuchten Regionen und Orten wenig überraschend. Die Präsenz der dominierenden Gottheiten
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lässt sich leicht mit Verweis auf typische Zuständigkeitsbereiche dieser Gottheiten und lokale Traditionen erklären. Aber der Blick auf die Einzelbefunde, die Kombinationen von Gottheiten und die unterschiedlichen Materialien, Alter und Herkunftsorte der Statuetten in einem Haus, erweist den individuellen Charakter dieser Sammlungen. Selbstverständlich erfolgte die Wahl durch die möglicherweise mehreren daran Beteiligten nicht in freiem Zugriff auf einen Katalog des Pantheon. Tradierte Objekte standen neben neu erworbenen, die nur aus vorhandenem Angebot, Handel oder lokaler Produktion, ausgewählt werden können; die Präsenz in lokalen öffentlichen Kultstätten dürfte ein große Rolle gespielt haben, nur gelegentlich eine durch Texte vermittelte Kenntnis einer Gottheit; eigenes Reisen kann einen Einfluss gehabt haben. Insofern ist die archäologische gewonnene Momentaufnahme Ergebnis eines längeren biographischen (unter Umständen sogar Generationen übergreifenden) Prozesses, in dem Wahlentscheidungen getroffen, aber auch eingeübt worden waren. Die Wahrnehmung der je unterschiedlichen Zusammenstellungen anderer Haushalte, das heißt der Ergebnisse der Wahlentscheidungen anderer, dürfte dafür eine wichtige Rolle gespielt haben, mehr aber noch die öffentlich zugänglichen Dokumente dramatisierter Wahlentscheidungen anderer: Dedikationen, Votivgaben und -inschriften in Tempeln oder gar die Teilnahme an entsprechenden Ritualen der Gelübdeeinlösung, an Weihungen – das zweite hier anzusprechende Handlungsfeld. Das konnte zufällig passieren. So bekommt im zweiten Jahrhundert n. Chr. Aelius Aristides von Asklepios den Auftrag, in sein Heiligtum zu gehen, „Opfer darzubringen und heilige Gefäße aufzustellen und sämtlichen Mitbesuchern des Heiligtums geweihte Anteile (des Opfers) zuzuteilen“.16 Die Einbindung von Kindern in solche Rituale, etwa in Chören zur Aufführung von Hymnen, ließ solche Prozesse früh einsetzen.17 Die Ausbildung von Individualität erfolgt in einem gesellschaftlichen Kontext. Die Formulierung eines Gelübdes und – im Falle der Gewährung der Bitte durch die angesprochene Gottheit – die Einlösung des Gelübdes durch die Stiftung eines Weihmonumentes (mag es auch noch so klein sein) als Gabe an die Gottheit oder als Erinnerung an ein vergängliches Dankritual an die Gottheit ist typischerweise ein Krisenritual. Die Krise und ihre Behandlung müssen nicht „hochindividuell“ sein; die Reaktion auf eine Krankheit, Missernte, die Gefahren einer bevorstehenden Geburt, Heirat oder Freilassung (von Sklaven) kann gesellschaftliche Routine sein. Und doch spricht die Bandbreite der Gestaltungen und der
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individuellen Kombinationen dafür, dass es sich hier um ein Feld handelt, in dem individuelle Kompetenz zugestanden wurde. Die Anrufung ortsfremder Gottheiten weist das ebenso aus wie Weihinschriften, die den Stifter oder die Stifterin über seine familiäre Position und Karriere charakterisieren. Die anfangs angesprochene religiöse Kompetenz wird aber in der Verknüpfung verschiedener Gottheiten deutlich, die zu immer neuen Kombinationen führen, oder in originellen Namensbildungen. In beiden Fällen dürfte das Interesse dahinter gestanden haben, den göttlichen Beistand möglichst präzise zu fassen. Für Karthago sind so ebenso die singuläre Kombination Juno, Minerva, Bellona wie eine Diana Caelestis Augusta zu nennen; Dedikanten wendeten sich an so weit entfernte Gottheiten wie die Venus vom sizilischen Berg Eryx wie an den in Thrakien verehrten Heros.18 Das sind ebenso Zeugnisse individueller religiöser Spekulation wie von Praktiken, die nicht mehr durch die unmittelbare Umwelt geprägt sind. Man könnte hier von einer kultpragmatischen Individualität sprechen. Auch hier darf Individualität aber nicht im Sinne von isoliertem Handeln verstanden werden.19 In unbekanntem Umfang waren in die überlieferten Endergebnisse ebenso priesterliche Beratung wie handwerkliche Traditionen und Kenntnisse eingeflossen. Es ist für dieses Zusammenspiel sicher bezeichnend, dass wir gerade in den am stärksten elaborierten Inschriften einzelner, den sogenannten kleinasiatischen „Beichtinschriften“ das enge Zusammenspiel von Auftraggeber beziehungsweise Auftraggeberin und Priestern am jeweiligen Heiligtum auch im Text fassen können.20 b) Intensivierung religiöser Praxis. Auch wenn theoretischer Atheismus keine verbreitete Option darstellte, blieb die Möglichkeit der Nichtteilnahme. Angesichts der Überlieferungsprobleme lässt sich das verbreitete Fehlen von Kulteinrichtungen in Häusern kaum auswerten. Sicher sagen lässt sich dagegen, dass selbst die größten Anlagen in den allermeisten Städten keine Möglichkeit zur Teilnahme aller an öffentlichen Ritualen boten. Die Amphitheater und Zirkusanlagen der Kaiserzeit boten hier noch den größten Raum; für die christlichen Titelkirchen der Stadt Rom dürfte selbst am Ende des vierten Jahrhunderts das Platzangebot die Größenordnung von viereinhalbtausend Plätzen nicht überstiegen haben.21 Vermutlich erreichte die Teilnahme einen quantitativen Höhepunkt an einigen dezentral gefeierten Festtagen. Aber religiöse Praxis ließ sich auch über Teilnahme an Ritualen hinaus steigern. Erneut sind zwei Felder zu bedenken. Komplexe Kulte und religiöse Organisationen forderten Arbeitsteilung und Spezialistenrollen, die von
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Sklaven mit Funktionen wie Schlächter oder Protokollant über Assistentinnen und Assistenten im Kindesalter bis hin zu Kultmusikern und Priestern reichten. Für römische Städte waren diese vielfach eng mit sozialem Prestige und politischen Funktionen verknüpft und lassen sich kaum als Indizien religiöser Individualität deuten. Dennoch konnte es auch hier zu einzelnen sehr individuellen Aneignungen solcher Rollen kommen, die zu Konsequenzen in der Lebensführung führten, die bemerkt wurden. Ich rechne hierzu die schnelle Demissionierung mehrerer Priester wegen ritueller Details noch im dritten Jahrhundert v. Chr., grundsätzliche Verhaltensänderungen nach der Übernahme eines Flaminates oder die Unterbrechung militärischer Aktivitäten in Kleinasien als Begleithandlung eines Priesters zu rituellen Aktivitäten seiner Kollegen in Rom zu Beginn des zweiten Jahrhunderts v. Chr.22 Der Individualität dieser religiösen Intensivierung tut die Tatsache keinen Abbruch, dass politische Motive mit im Spiel waren. In Anbetracht der eingeschränkten Betätigungs- und Aufstiegsmöglichkeiten spielten religiöse Berufsrollen und Ehrenämter für Frauen oder Freigelassene vermutlich eine größere Rolle. Das lässt zumindest die Zuspitzung der Charakterisierung einer Person auf Ehren- oder Grabinschriften auf eine solche Rolle vermuten, ob es sich hier um Tempelhüter oder Priesterinnen handeln mag.23 Versuchsweise könnte man dieses religiöse Phänomen mit „expressiver Individualität“ ansprechen. Während sich für die zuletzt genannten Rollen eine gewisse Frequenz in den religiösen Aktivitäten vermuten lässt, muss das für die Mitgliedschaft in den meisten religiösen Vereinen, die eine Initiation oder mehrere Durchgangsrituale forderten und sich durch esoterische Rituale und Erzählungen auszeichneten, nicht in gleicher Weise gelten. Die Zusammenkünfte scheinen vielfach auf wenige Tage im Jahr begrenzt gewesen zu sein, könnten dann aber – zumindest als Norm – höheren Verpflichtungscharakter besessen haben. Wichtig sind diese in der Forschung unter „elective cults“ verhandelten Gruppen deswegen, weil ihre Existenz selbst bekannt und im Einzelfall auch mit Ritualen verbunden war, die vor den Augen der Öffentlichkeit vollzogen wurden. Hier wurden also institutionalisierte Optionen – Erweiterungen und Intensivierungen eher denn Alternativen zur üblichen Praxis – bereitgehalten. Individualisierung und – im erfassten Bereich – die solche Individualisierung phänomenologisch einebnende Institutionalisierung stehen in einem paradoxen Verhältnis zueinander.24 Anerkannte religiöse Virtuosenrollen wie die christlichen Einsiedler oder mönchischen Koinobiten finden sich außerhalb der bisher bespro-
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chenen Formen kaum. Wenigstens hinzuweisen ist hier auf die Rolle des Philosophen mit seiner konsequenten Lebensführung, die Fleischverzicht und besondere Kleidung einschließen kann und in der Kaiserzeit in einigen Gestalten – ich denke hier etwa an Apollonios von Tyana – deutlich religiöse Züge gewann.25 c) Individuelle Offenbarungen und Biographisierung der Autorschaft. Tausende von Inschriften geben, oft in reduziertester Form – ex visu, „aufgrund eines Gesichtes“ – Zeugnis von Träumen oder auch Visionen, in denen Gottheiten einzelnen erscheinen und zu ihnen sprechen. Formularhafte und atypische Formulierungen finden sich darunter. Auch hier ist die Vielfalt der einbezogenen Gottheiten erwähnenswert. Nicht immer, aber doch in bemerkenswert vielen Fällen erfolgt also die Rechtfertigung des eigenen rituellen Tuns mit dem detaillierten Hinweis auf eine individuelle Kommunikation mit einer Gottheit. Das Phänomen erstreckt sich dabei über den gesamten hier betrachteten Zeitraum. Und doch gibt es Veränderungen. Sie geschehen in einem anderen Medium. Der schon zitierte Redner und Asklepiosverehrer Aelius Aristides bildet hier einen wichtigen Fall. Zunächst kann sein Text helfen, anstelle vieler Inschriftenzitate Anschaulichkeit für die Kommunikation zwischen Gott und Mensch, die in den Trauminschriften unterstellt wird, herzustellen. So berichtet er nicht nur von der Stiftung eines silbernen Dreifußes und von der zugehörigen Weihinschrift, sondern auch von der Korrektur der dritten und vierten Zeile der Inschrift durch den Gott selbst kurz vor dem Morgen, die er sich durch ständiges Wiederholen nach dem Aufwachen einprägte: „Dichter in einer Person, Kampfrichter und Führer des Reigens / weihte dies Denkmal, o Herr, dir für die Stiftung des Chors / […] keinem Hellenen fremd, Aristides hat mich gestiftet, /ewig strömenden Worts ruhmvoller Lenker und Held“ (4,45). „Als wir uns dann gemeinsam über die Weihegabe berieten“, so fährt er in seinem Bericht fort, „beschlossen sowohl der Priester als auch die Tempelwärter einstimmig, sie in den Tempel des Zeus Asklepios zu stiften … Die Inschrift ist darauf angebracht mit der Bemerkung, sie sei infolge eines Traumes beigefügt. Ich habe jedoch auch dem Olympischen Zeus die Inschrift nebst einer anderen Weihegabe gestiftet, so dass das Orakel seine volle Erfüllung fand“ (4,46). Die „Heiligen Berichte“ des Aristides sind aber nicht nur eine Quelle für religiöse Praktiken, deren Historizität sich unserer Überprüfung entzieht. Interessanter ist die enge Verbindung, die Autobiographie und Übermittlung der göttlichen Botschaft eingehen. Der Text selbst mit sei-
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nen Sprüngen in Raum und Zeit folgt nicht einfach dem Gang der Ereignisse, sondern dem Gott selbst, der bestimmt, welche Erinnerungsräume abgeschritten werden (2,4) – wenn auch die theoretische Möglichkeit für den interessierten Leser bestünde, das an Dokumenten, an zeitnahen Verschriftlichungen der Träume durch Aristides zu überprüfen, genauer: zu detaillieren (2,8). Wie die Erstellung der Inschrift wird auch die Erstellung des Textes insgesamt dramatisiert. Der Autor, der nur Sprachrohr und Projektionsfläche göttlichen Handelns sein will, beglaubigt dieses göttliche Handeln, indem er sich selbst in äußerster Detailliertheit narrativ konstruiert und in seiner Individualität behauptet. d) Deifizierung. Dass gerade die großen Einzelnen seit hellenistischer Zeit institutionell divinisiert werden und diese Praxis seit der späten römischen Republik zwar kontrovers aufgenommen, aber um so effektiver in der räumlichen Weite des Imperiums umgesetzt wird, ist so bekannt, dass es kaum der Rede wert ist. Es wird auch nicht dadurch für unser Thema wichtiger, dass die postmortale Vergöttlichung zu einem verbreiteten Phänomen in der Freigelassenenschicht des Prinzipats wird.26 Individualitätsgeschichtlich ist nicht das Faktum, dass einzelne Gesellschaftsmitglieder den Status eines Gottes – zumeist postmortal – erhalten, wichtig, sondern der individuelle Handlungsspielraum, die agency, daran mitzuwirken. Für das Ergebnis ausschlaggebend ist das im engeren Kreise etwa eigener Familienangehöriger, etwa für jene Plutia Vera, der der Seidenhändler Aulus Plutius Epaphroditus, ihr Vater, als Venus Vera Felix einen Tempel in Roms Nachbarort Gabii stiftete.27 Das war mehr als die Errichtung eines „Ortes religiöser Scheu“ (locus religiosus) durch das Einbringen einer Leiche in ein Grab und der dadurch gegebenen Errichtung eines Kultes für die Di Manes der oder des Verstorbenen. Für die Divinisierung der Herrscher war Zustimmung ein Massenphänomen; aber gerade in der Wendung gegen die Bilder dieses Gottes konnte Unmut geäußert, politische Nonkonformität in scharfer Form ausgedrückt werden. Für die Angehörigen der Führungsschicht bot die differenzierte Zustimmung oder Ablehnung die Möglichkeit einer pointierten Beteiligung an der Diskussion über menschliche Tugenden und anzustrebende Werte, anhand derer das Transzendieren der Trennlinie zwischen Mensch und Gott diskutiert wurde. Nur vor dem Hintergrund einer solchen, weit über die Senatsdiskussionen nach dem Tod eines Kaisers hinausreichenden diskursiven und rituellen Praxis in der Aussonderung von Individuen aus der Menschheit, ist die Heftigkeit der christologischen Auseinandersetzungen der Spätantike verständlich. Die Individualität einzelner
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wird hier zum Gegenstand eines normativen Diskurses, dessen Beteiligte selbst unter intensiver Beobachtung stehen. Orte religiöser Individualität Nach dem Aufweis von religiösen Praktiken, die die Ausbildung verschiedener Formen von Individualität befördern, soll noch ein kurzer Blick auf die besonderen Bedingungen der Orte einzelner Praktiken geworfen werden. a) Tempel. Zunächst geht es um einen zentralen Ort religiöser Praxis, Brennpunkt historischer Erinnerung und medialer Repräsentation des Göttlichen. Der Tempel ist dabei ein ambivalenter Ort. Er ist ein, besser: der häufig öffentliche, am stärksten institutionalisierte und am besten sichtbare Ort für Religion, also der Platz für die am wenigsten intime, am meisten traditionelle und am stärksten kontrollierte Form religiöser Betätigung. Gleichzeitig beherbergt dieser Ort die Statue des Gottes und bietet somit die Möglichkeit, die Götter als in ihren Statuen anwesend28 zu erfahren, was potentiell zu – so das Urteil des Philosophen Seneca – schändlichstem individuellem Verhalten führen kann. Was dem einen Ort intensivster Begegnung mit dem Heiligen ist, ist dem anderen eine Bigotterie, die gerade den besonderen Charakter des Ortes in Frage stellt. Individualität religiöser Praktik wird hier zu Devianz, die sich dem Spott der Beobachter aussetzt und nicht, wie im Falle des Aristides, auf Zustimmung des Personals und Solidarität anderer Tempelbesucher stößt. b) Selbst-Training. Solche Beobachter fehlen üblicherweise dem sich selbst Beobachtenden. Philosophie, nicht Religion bietet dazu eine Anleitung, ein echtes Training. Die stoische Selbst-Inspektion zielt dabei darauf, Konsistenz zu erreichen.29 Das ist keine Form von gesteigerter Individualität, sondern orientiert sich eher an der Analyse der eigenen natürlichen wie gesellschaftlichen Situation; die Seele, um die es dabei geht, ist gerade nicht eine individuelle, die vielleicht sogar den körperlichen Tod überdauert, sondern das Allgemeine, das Göttliche im Menschen.30 Die Entwicklung der Vorstellung einer unsterblichen Seele, die mit ihren möglichen Konsequenzen, etwa der Seelenwanderungslehre, seit dem fünften Jahrhundert v. Chr. präsent war, hatte nicht zu einer verbreiteten Infragestellung traditioneller Religion geführt. In diesem Punkte unterscheidet sich christliches Denken in seiner Akzentuierung ebenso deutlich von der philosophischen Tradition, wie sich christliche Praktik etwa
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in mönchischen Tagebüchern über die eigenen Seelenbewegungen mit ihr deckt. Gleichwohl bleibt die Metaphorik, die Topographie des Inneren komplex und ist nicht durch eine Dichotomie von christlich und nichtchristlich einzuholen: Die Figur des Dämons bleibt von Platon bis Plotin eine Reflexionsfigur über das Verhältnis vom Inneren (Komparativ) oder gar Innersten (Superlativ), in der das Eigene entdeckt wird, zur Entdeckung des (oder gar, pluralisch, der) Anderen, das oder die uns im Innersten bestimmen.31 Hier wird noch einmal die Ambivalenz dieses Forums oder dieser Form reflexiver Individualität im Blick auf das kritisierte Einheitskonzept von Individualität deutlich: Auch ein ausgebildetes Selbst-Konzept muss nicht mit der Wertschätzung von Individualität einhergehen. Gleichwohl bleibt historisch das Selbst nicht isoliert. Gerade bei Seneca, im ersten Jahrhundert n. Chr., lässt sich eine Verbindung mit einem spezifisch biographischem Interesse beobachten, die aber ein Grundinteresse philosophischer Schulen trifft. Diese lässt sich an die oben angestellten Überlegungen zur Biographisierung von Autorschaft anschließen. c) Religiöse Gemeinschaft. Für die Institutionalisierung von Individualität verdient das Entstehen spezifisch religiöser Gemeinschaften besonderes Interesse. Der traditionelle Blick auf die Mysterienkulte hat in ihnen radikale Gegenentwürfe zur traditionellen Religion ausgemacht. Im Rahmen antiker Religion korrespondierte der Kult einer bestimmten Gottheit aber nur gelegentlich mit Gruppengrenzen. Er bildete eher ein geteiltes und zwar wichtiges, aber kaum exklusives Zeichen. Im Verlauf der Ausdehnung des Imperiums, seiner umfangreichen Verschiebung von Personen und seiner Delegitimierung von lokalen Autoritäten, waren Komplexe religiöser Zeichen und Handlungen, die sich als „Kulte“ an angebbaren Orten verstehen lassen, zu mehr geworden als bloß selbstverständliche Folge der Ehrfurcht vor einer bestimmten Gottheit. Sozial wurde für eine wachsende Anzahl von Menschen Religion in dieser Form ein notwendiger Teil eigener Lebensführung, die die Grenze von Öffentlichem und Privatem überschritt und Orientierung bot. Der politische Rahmen des Imperium trug zum Institutionalisierungsprozess bei, der in besondere Weise in jenen religiösen Gruppen vorangetrieben wurde, die sich in Differenz zu den dominierenden religiösen und politischen Strukturen sahen.32 Eine solche qualitative Differenz verband sich somit mit der durch die überregionale Mobilität bedingte quantitative Differenz in der Gestalt einer gesteigerten Zahl von Differenzerfahrun-
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gen. Es liegt nahe, hier in Übertragung der Überlegungen Georg Simmels, eine Quelle von Individualität zu vermuten.33 Zusammenfassung Lässt sich der vorgestellte Befund antiker Individualität als ein gerichteter Prozess, als fortschreitende Individualisierung deuten? Schon die Fragestellung ist zurückzuweisen, unterstellt sie doch jenen einheitlichen Begriff von Individualität, der die gegenseitige Aufrechenbarkeit unterschiedlicher als „Individualität“ angesprochener Praktiken und Vorstellungen suggeriert. Beobachten lassen sich durchaus Entwicklungen, die das Gewicht, die gesellschaftliche Präsenz bestimmter Individualitätspraktiken verändern. Es lassen sich sogar parallele Entwicklungen finden, die Zunahme des Biographischen weist eine Parallelität in der Zunahme der Kommunikation über Divinisierung auf, Intensivierungsformen des Religiösen und religiöse Gruppenbildung scheinen sich zeitgleich zu entwickeln – bei aller Vorsicht, die die Datierung solcher diffusen und schlecht bezeugten Prozesse verlangt. Andere Formen, die an der religiösen Sprache des Polytheismus hängen, könnten sich eher gegenläufig entwickelt haben. Die hier nicht angesprochene Rolle religiöser Medien als Mittel aristokratischer Konkurrenz – in Tempelstiftungen und ästhetischen Gestaltungen oder im Ausbau von Festritualen – scheint unter den politischen Bedingungen der Kaiserzeit ebenfalls rückläufig gewesen zu sein. Das macht deutlich, dass die sozialstrukturelle Steigerung von Individualitätschancen, kurz: Individualisierung, ein historisch kontingenter Prozess ist und keine selbstlaufende religiöse oder gesellschaftliche Entwicklungslogik darstellt. Will man in der Religionswissenschaft den Begriff des Individuums und der Individualität nutzen, um die Beschreibung ‚moderner‘ Religiosität aus ihrer behaupteten insulären Lage zu befreien, hat das Konsequenzen. Das beginnt in der Wahl der Gegenstände, der Fokussierung auf individuelle Praktiken, auf Lebenszyklusrituale in ihrer Bedeutung nicht nur für die Konstitution und Modifikation von Gemeinschaften, sondern auch für den Individuierungsprozess. ‚Familiäre‘ oder individuelle religiöse Praktiken im Haus (die sich bis in den Raum von Begräbnisstätten hinein erstrecken können) sind dazuzurechnen. Konsequenzen sind aber auch im methodischen Bereich zu ziehen. Das beginnt bei der Reflexion der leichtfertigen Rede von ‚Kulten‘ und ‚Religionen‘, Es-
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sentialisierungen, die zwar die organisatorische Gestalt und normativen Ansprüche vieler religiöser Institutionen treffen mögen, aber die soziale Realität, den Alltag, die Vielfalt und Situationalität von Rollen und Identitäten kaum angemessen beschreiben. Gelebte Religiosität, „lived religion“ ist dazu ein hilfreicher Begriff, wenn auch nur in erster Annäherung, der auch über die Gegenwart hinaus Verwendung finden kann. Er fragt nicht, wie Individuen ein vordefiniertes Set religiöser Praktiken und Glaubensvorstellungen reproduzieren, sondern fragt nach den alltäglichen Erfahrungen, Praktiken, Ausdrücken und Interaktionen, die ‚Religion‘ als Praxis, Vorstellung und Gemeinschaft je neu konstituieren. Der von Michel de Certeau formulierte Begriff der Aneignung, der appropriation,34 kann hier eine wichtige Rolle spielen: Den Traditionen mit ihren normativen Ansprüchen und ihren institutionellen Absicherungen stehen die ganz unterschiedlichen, strategischen, gegebenenfalls sogar subversiven Formen der Aneignung gegenüber – analytisch in Opposition, faktisch in vielfältigen Wechselwirkungen, die das stets Prekäre auch der Institution und Tradition erkennen lässt. Das durch den Blick auf das Individuum und seine Handlungsspielräume zugespitzte Fragen eröffnet weite Perspektiven.
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Jenseitsvorstellungen als individuelle Aneignung von Religion Einleitung Es ist ein eigenartiger Zufall, dass das ursprüngliche Datum dieser Vorlesung auf den ersten November fiel. Vielleicht haben am Vortag einige der anwesenden Studierenden Halloween gefeiert. Sucht man im Internet nach Erklärungen für dieses ursprünglich aus Irland stammende Fest, das in den USA seit 1830 gefeiert wird und sich seit den 1990er Jahren auch bei uns immer größerer Beliebtheit erfreut, so kann man häufig folgende Erklärung finden: „Historisch gesehen geht das Fest zu Ehren des Totengotts Samhain auf irische Erntedankfeierlichkeiten zurück“.1 Es macht den Eindruck, dass diese „neuheidnische“, nicht christliche Erklärung des Festes außerordentlich beliebt ist. Schaut man in eine neuere, ethnographische Monographie zu dem Thema, so findet man eine umfassendere und weniger hypothetische Erklärung des Festes: Sein Name gehe zurück auf den Ausdruck „All Hallows’ Eve“, was so viel bedeutet wie: „Der Abend vor Allerheiligen“. „Allerheiligen“ (1. November) und „Allerseelen“ (2. November) sind zwei alte christliche Feiertage, an denen man der Toten gedachte und bis heute gedenkt.2 Wenn auch die Erklärung mit dem angeblich keltischen Totengott Samhain auf wackligen Füssen steht, so ist es doch auffällig, dass auch die über den Halloween-Tag erzählte irische Sage nicht besonders „christlich“ wirkt: Ein Mann namens Jack hätte den Teufel ausgetrickst. Dies hatte zur Folge, dass er nach seinem Tod weder in den Himmel noch in die Hölle kam, sondern mit einer Rübe und einer glühenden Kohle in der Hand auf der Erde umherirrte. Mit Kerzen in ausgehöhlten Rüben oder Kürbissen werden an Halloween deshalb die Geister davon abgehalten, sich in den Siedlungen der Menschen herumzutreiben. Die Kinder spielen den Erwachsenen Streiche und ziehen bettelnd umher.3 Solche Geschichten und Rituale, sowohl die „heidnischen“ als auch die beiden christlichen Festtage, implizieren bestimmte Vorstellungen über das Sterben und über ein „Jenseits“, eine geheimnisvolle, unsichtbare aber auch bedrohliche Welt, in der die Toten weiterleben – so dass
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sich fragen ließe: Sind sie überhaupt „tot“ oder existieren sie nur in einer anderen Form? Allerdings sind diese Vorstellungen außerordentlich vielfältig: Die Sage von Jack Oldfield geht davon aus, dass es Gespenster gibt, Tote, die ihren richtigen Platz im Jenseits nicht gefunden haben und nun auf der Erde herumspuken oder zu bestimmten Zeiten aus dem Jenseits in die Welt der Lebenden zurückkehren. Allerheiligen und Allerseelen scheinen vorauszusetzen, dass man an die Existenz von „Heiligen“ und von „Seelen“ glaubt. Als Kind wird man mit derartigen in der Tradition vorgegebenen Vorstellungen konfrontiert, wie man damit umgeht und welche man für sich als gültig erachtet, hängt auch von der eigenen Biographie ab. So gab es in meiner Kindheit in Europa noch keinen fröhlich-unheimlichen Halloween. Aber meine katholische Familie besuchte an Allerheiligen und Allerseelen die Gräber der Verwandten auf dem Friedhof. Ich erinnere mich daran, dass mir diese Besuche, das kalte, dunkle Wetter und die Rituale und Texte des Pfarrers recht unheimlich und unverständlich vorkamen. Hätte ich meinen Religionslehrer gefragt, so hätte er mir aus dem katholischen Katechismus, der für katholische Christinnen und Christen verbindlichen Glaubenslehre, folgende Paragraphen vorlesen können:4 „205. Was geschieht im Tod mit unserer Seele und unserem Leib? Durch den Tod wird die Seele vom Leib getrennt. Der Leib fällt der Verwesung anheim. Die Seele, die unsterblich ist, geht dem Gericht Gottes entgegen und wartet darauf, wieder mit dem Leib vereint zu werden, der bei der Wiederkunft des Herrn verwandelt auferstehen wird. Das Wie dieser Auferstehung übersteigt unsere Vorstellung und unser Verstehen.“ „207. Was ist das ewige Leben? Das ewige Leben ist das Leben, das gleich nach dem Tod beginnt. Es wird kein Ende haben. Ein besonderes Gericht durch Christus, den Richter der Lebenden und der Toten, wird für jeden Menschen dem ewigen Leben vorangehen, und durch das Letzte Gericht wird es bestätigt werden.“ „208. Was ist das besondere Gericht? Es ist das Gericht der unmittelbaren Vergeltung, die jeder gleich nach seinem Tod in seiner unsterblichen Seele entsprechend seinem Glauben und seinen Werken von Gott erhält. Diese Vergeltung besteht im Eintreten in die Seligkeit des Himmels, unmittelbar oder nach einer entsprechenden Läuterung, oder im Eintreten in die ewige Verdammnis der Hölle.“
Ich erinnere mich allerdings nicht daran, dass wir Derartiges im Religionsunterricht lernten. Möglicherweise hielt unser Religionslehrer diese Vorstellungen für befremdlich, jedenfalls für Jugendliche des zwan-
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zigsten Jahrhunderts schwer nachvollziehbar. Dies hat seinen Grund in Entwicklungen der letzten dreihundert Jahre: Bernhard Lang schildert in seinem lesenswerten Überblick Himmel und Hölle: Jenseitsglaube von der Antike bis heute wie diese Vorstellungen in Auseinandersetzung mit dem antiken Jenseitsglauben kanonisiert wurden und welche überragende Bedeutung sie in Mittelalter und früher Neuzeit hatten:5 Obwohl sogar noch Immanuel Kant – aus moralischen Gründen und Gründen der praktischen Vernunft – an ihnen festhalten möchte,6 gehören sie in ihrer konkreten Gestalt zu jenen Vorstellungen des Christentums, die in Aufklärung und Moderne am stärksten unter Druck geraten. Insbesondere eine Religiosität, die sich ihren Kern in individueller Erfahrung suchte, konnte mit dogmatischen, mit dem gesunden Menschenverstand ebenso wie dem moralischen Anspruch nicht zu vereinbarenden Vorstellungen (und zugehörigen Ritualen) nur mehr wenig anfangen. Auch philosophiegeschichtlich lässt sich dieser Vorgang beschreiben: Die moderne Kritik an jeglicher Metaphysik beendete die Spekulationen über Tod, Sterben und Unsterblichkeit.7 Die moderne Theologie hat verschiedene Lösungsmöglichkeiten gefunden. So etwa, dass die traditionelle Sprache des Dogmas mythologisch oder symbolisch verstanden werden müsse (Karl Barth ist hier zu nennen).8 Sie sei lediglich Ausdruck einer an sich unbeschreiblichen Erfahrung der Gottesbegegnung, die das Individuum im Moment seines Todes erlebe (so etwa Karl Rahner).9 Dieses Individuum, darin sind sich die modernen theologischen Interpretationen jedoch einig, vergeht im Moment des Todes, es wird zwar nicht vernichtet, aber entgrenzt, denn – so formuliert es bereits Schleiermacher: „Das persönliche Leben ist ja nicht des Wesens des Geistes, es ist nur eine Erscheinung“.10 Die evangelische Theologin Dorothee Sölle (1929–2003) formulierte diese Sichtweise konkreter und radikaler: „Die individuelle geistige, seelische und körperliche Existenz endet mit dem Tod. Das ist kein Gedanke, der mir Schrecken einflößt, dass ich ein Teil der Natur bin, dass ich wie ein Blatt herunterfalle und vermodere, und dann wächst der Baum weiter, und das Gras wächst, und die Vögel singen, und ich bin ein Teil dieses Ganzen. Ich bin zu Hause in diesem Kosmos, ohne dass ich jetzt meine Teilhaftigkeit, die ich vielleicht siebzig Jahre gelebt habe, weiterleben müsste.“11 Auffällig ist, dass sich in der Epoche der Aufklärung und der Moderne in der christlichen wissenschaftlichen Theologie ein Trend zeigt, gerade im Angesicht des zunehmenden Individualismus und der fortschreitenden Individualisierung, den Tod als eine Art Erlösung von ei-
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ner so definierten rein „persönlichen“ individuellen Existenz zu sehen. Michel Foucault konstatiert, dass es seit der Moderne eine unauflösbare Verknüpfung zwischen der Erfahrung des Todes und der Individualität gebe. Gerade der alle gleich machende Tod bedeutet das Ende jener Einzigartigkeit, mit der sich der moderne Mensch vollkommen identifiziert. Genau durch diese je individuelle Bedrohung aber erhält das Leben des Einzelnen als solches seinen intensiven Wert, ein Grundgedanke, der auch in den verschiedenen Varianten existenzialphilosophischer Beschäftigung mit dem Tode zum Ausdruck kommt.12 Was aber bedeutet dies für den Alltag der in unserer aktuellen, pluralistischen Gesellschaft lebenden Individuen? Beobachten lässt sich, dass – nicht unerwartet – gerade im Hinblick auf die mit Tod und Sterben verbundenen Vorstellungen extremer Pluralismus und Individualisierung vorherrschen.13 Dem widerspricht in gewisser Weise, dass seit dem achtzehnten Jahrhundert mit dem Bau von öffentlichen Leichenhäusern, Krematorien, Aufbahrungshallen und durch Friedhofsgesetzgebungen die praktische und alltägliche Dimension des Sterbens den Familien und Angehörigen vom Staat aus der Hand genommen und durch Gesetze reguliert wurde. Was die Rituale betrifft, so wurde auch dadurch der Einflussbereich der christlichen Kirchen geschmälert; an ihre Stelle traten nun Bestattungsunternehmen und in neuester Zeit auch andere religiöse Traditionen mit ihren Spezialisten.14 Immer wichtiger wird den Menschen individuelle Gestaltungsfreiheit auch im Hinblick auf die Rituale der Bestattung und des Gedenkens.15 So kommt es immer wieder zu Konflikten mit dem gerade in Deutschland recht restriktiven Friedhofsund Bestattungsrecht. Damit einher geht die Beobachtung von Religionssoziologen und Kulturwissenschaftlern, dass sich der öffentliche Diskurs und damit auch die Massenmedien und Kunstgattungen wie der Film seit den 1980er Jahren wieder intensiv mit den als „verdrängt“ geltenden Themen von Tod und Sterben, und damit auch mit Jenseitsvorstellungen und Bestattungsritualen, auseinandersetzen.16 Trotzdem bleiben Tod und Sterben insofern „unsichtbar“, als eine reale Begegnung mit Sterbenden und Toten außerhalb der in unserer Gesellschaft dafür reservierten Räume und Institutionen, wie beispielsweise Sterbehospize, Palliativ-Stationen in Krankenhäusern und schließlich Krematorien, nicht vorgesehen ist und damit nicht mehr zum alltäglichen Erfahrungshorizont gehört. Dadurch spitzt sich das Erfahrungsproblem, das mit dem Tod verbunden ist, noch zu: Ohnehin können wir, was den Tod betrifft, nie auf unsere
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eigenen Erfahrung zurückgreifen, sondern „erfahren“ nur den Tod der anderen Menschen.17 Gerade diese Erfahrung aber wird in unserer aktuellen Gesellschaft möglichst vermieden. Religionssoziologen wie Monika Wohlrab-Sahr und Hubert Knoblauch diagnostizieren eine „populäre Spiritualität“, die Individuen die Möglichkeit bietet, jenseits der institutionalisierten Kirchen alltagspraktische Lösungen für die Frage der „großen Transzendenz“ zu finden; auffällig ist dabei, dass der Rekurs auf die Erfahrung anderer, wie er sich zum Beispiel in Büchern über sogenannte Nahtod-Erfahrungen findet, einen wichtigen Stellenwert einnimmt.18 Aus Sicht einer vergleichenden Religionswissenschaft wird betont, dass auch der Tod selbst, so schwierig uns diese Perspektive erscheinen mag, ein „kulturelles Konstrukt“ ist. So zeige etwa die aktuelle Diskussion um die Frage, ob ein Mensch, der den Hirntod erlitten hat und nur noch durch Maschinen am Leben erhalten wird, „tot“ sei, dass „Leben“, „Tod“ und „Postmortalität“ als kulturell gewachsene Kategorien zu untersuchen seien.19 Um dieser Dimension unserer Fragestellung gerecht zu werden, möchte ich deshalb in meinem Beitrag einen etwas gewagten Vergleich unternehmen. 20 So soll in einem ersten Teil gezeigt werden, welche Vorstellungen über das Sterben und Weiterexistieren nach dem Tod im archaischen und klassischen Griechenland aus verschiedenen Quellen rekonstruiert werden können und welche Rolle dabei das Individuum spielte. Um Individualität kann es hier in zweierlei Hinsicht gehen. Zum einen lässt sich fragen, inwiefern die Toten als „Individuen“, das heißt als von allen anderen Menschen zu unterscheidende Wesen aufgefasst und behandelt wurden. Zugleich lässt sich aber auch fragen, inwiefern bestimmte Vorstellungen und Praktiken auf individuelle Weise gewählt werden konnten. Nachdem ich anhand der antiken griechischen Kultur auf diese Fragen eingegangen bin, möchte ich in einem zweiten Schritt einen Blick auf unsere gegenwärtige Situation werfen. Dabei stütze ich mich auf einen Aufsatz, den die bereits genannte Religionssoziologin Monika Wohlrab-Sahr und ihr Team 2005 veröffentlichten. 21 Die Forscherinnen zeigen anhand von Interviews auf, welche Vorstellungen über das Sterben und das Weiterleben nach dem Tod sich heute auf dem Gebiet der ehemaligen DDR finden lassen. Besonders brisant ist dabei, dass es ausgerechnet die Frage nach dem Weiterleben nach dem Tod ist, bei der sich in Umfragen unter ostdeutschen Jugendlichen eine allmählich wachsende Zustimmung zu zumindest religionsnahen Positionen findet.22
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Jenseitsvorstellungen im archaischen und klassischen Griechenland Die ältesten literarischen Beschreibungen sowohl von Bestattungsritualen als auch über die Vorstellungen einer postmortalen Existenz der Verstorbenen finden sich in den Epen Homers, die in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts v. Chr. entstanden sein müssen.23 Besonders eindrücklich ist eine Szene der Odyssee, die sogenannte Nekyia des Odysseus. Auf seinen langen Irrfahrten hat sich der Held auch für einige Zeit bei der unheimlichen Göttin und Zauberin Kirke aufgehalten, die seine Gefährten vorübergehend in Schweine verwandelte. Zum Abschied, am Ende des zehnten Buches der Odyssee, gibt sie ihm Anweisungen für eine Fahrt ins Totenreich; dort soll Odysseus den verstorbenen Seher Teiresias darüber befragen, wie er nach Hause komme. Der Eingang zur Unterwelt liegt am Rande des Ringstroms Okeanos, der die Welt umfließt. Odysseus soll in das „modrige Haus des Hades“ hinabsteigen, und dort eine Art Totenbeschwörung durchführen, für die ihm Kirke folgende Anweisungen gibt: „Dort, Heros! Wenn du, wie ich dir befehle, nahe herangedrungen bist, so grabe alsdann eine Grube, eine Elle lang, und gieße um sie den Weihguss für alle Toten: zuerst von Honiggemisch, hernach von süßem Wein, zum dritten hinwieder vom Wasser, und streue darüber weiße Gerste! Und gelobe, vielfach flehend zu den kraftlosen Häuptern der Toten, dass du, wenn du nach Ithaka gelangt bist, ein unfruchtbares Rind, das nur immer das beste ist, darbringen werdest in den Hallen und einen Scheiterhaufen anfüllen mit edlen Dingen, und dass du dem Teiresias gesondert einen Schafbock opfern werdest, ihm allein […]. Doch wenn du die berühmten Völker der Toten angefleht hast mit Gelübden, so opfere daselbst ein Schaf, ein männliches, und ein weibliches, schwarzes […]. Da werden viele Seelen der dahingestorbenen Toten kommen. Dann treibe alsbald die Gefährten und heiße sie, dass sie die Schafe, die schon mit dem erbarmungslosen Erze geschlachtet am Boden liegen, abhäuten und verbrennen und dabei zu den Göttern beten mögen: dem starken Hades und der schrecklichen Persephoneia. Doch selber ziehe das scharfe Schwert von der Hüfte und sitze hin und lasse die kraflosen Häupter der Toten nicht dem Blute näher kommen, ehe du den Teiresias befragt.“24
Diese Passage zeigt, dass es nicht leicht, aber doch möglich ist, mit den Toten zu kommunizieren. Eine wichtige Rolle spielen dabei Opfergaben, die auch beim alltäglichen Totenkult an den Gräbern verwendet wurden. Welche Vorstellungen jedoch vermittelt die Erzählung vom Wesen der Toten selbst? Darüber gibt nun das elfte Buch Auskunft, wo Odysseus erzählt, wie sich die Toten nähern, nachdem er alles genau
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nach Anweisung der Kirke ausgeführt hat. Die Toten tauchen auf – und Odysseus ergreift, wie er selbst sagt, „der grüne Schrecken“ (Od. 11, 43). Sie werden vom Blut angelockt; dieses müssen sie trinken, um Odysseus überhaupt zu erkennen und mit ihm sprechen zu können. Nachdem ihm Teiresias die gewünschten Informationen gegeben hat, lässt er auch die anderen Toten von dem Blut trinken; er erfährt so das Schicksal verlorener Gefährten und auch vom Tod seiner eigenen Mutter. Deren Schatten versucht er in einer ergreifenden Szene zu umarmen, von der Odysseus folgendermaßen erzählt: „Ich aber, schwankend im Herzen, wollte die Seele meiner Mutter, der dahingestorbenen, ergreifen. Und dreimal schickte ich mich an, und es befahl mir der Mut, sie zu ergreifen. Dreimal jedoch entflog mir jene aus den Armen, einem Schatten gleich oder auch einem Traume.“25
Besonders aussagekräftig sind schließlich die Worte der Mutter selbst, die über den Zustand der Toten Auskunft gibt: „O mir! Mein Kind! Unseliger von allen Männern! Nicht täuscht dich Persephoneia, des Zeus Tochter! Sondern dieses ist die Weise der Sterblichen, wenn einer gestorben ist! Denn nicht mehr halten dann die Sehnen das Fleisch zusammen und die Knochen, sondern diese bezwingt die Kraft des brennenden Feuers, sobald einmal der Lebensmut die weißen Knochen verlassen hat, die Seele aber fliegt umher, davongeflogen wie ein Traum.“26
Deutlich ist hier die Verbindung zum Ritual der Brandbestattung („sondern diese bezwingt die Kraft des brennenden Feuers“), in den homerischen Epen die Normalform der Bestattung; über dem Scheiterhaufen wird dann jeweils ein Tumulus („Grabhügel“) errichtet, der das Grab markiert und der Erinnerung unter den Lebenden dienen soll. Die Schatten der Toten sind nicht nur kraftlos, sondern auch unglücklich. Als Odysseus den Schatten des Kriegshelden Achilleus entdeckt, erinnert er diesen daran, dass er zu Lebzeiten wie ein Gott geehrt worden sei und meint, er müsse sicher auch unter den Toten der Größte sein. Darauf antwortet Achilleus mit dem berühmten Satz: „Suche mich nicht über den Tod zu trösten, strahlender Odysseus! Wollte ich doch lieber als Ackerknecht Lohndienste bei einem anderen, einem Manne ohne Landlos leisten, der nicht viel Lebensgut besitzt, als über alle dahingeschwundenen Toten Herr sein!“ (11,489f.). Noch unglücklicher allerdings sind jene, die zwar gestorben sind, aber nicht bestattet wurden. Sie befinden sich am Rande des Hades,
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sind auf halbem Wege hängen geblieben. Odysseus trifft gleich zu Beginn der Szene auf einen von ihnen, Elpenor. Der Schatten, der nicht vom Blut trinken muss und Odysseus sofort erkennt, schildert ihm die Lage seines Leichnams im Hause der Kirke und bittet ihn flehentlich, diesen auf der Rückfahrt zu bestatten. Die Bestattungsrituale, deren Schilderung sowohl in den Beschreibungen der Ilias als auch der Odyssee breiten Raum einnehmen, haben folgende Grundstruktur, die bis in christliche Zeit hinein erhalten bleibt: Der Leichnam wird gewaschen, gekleidet, aufgebahrt (Prothesis) und von den weiblichen Verwandten, gelegentlich auch von zusätzlichen (bezahlten) Klagefrauen und Trauersängern rituell beklagt. Am dritten Tag wird er zum Verbrennungs- oder Beerdigungsplatz getragen (Ekphora) und bestattet. Gegenstände des täglichen Bedarfs werden ihm als Grabbeigaben mitgegeben, meist findet auch ein Opfer, das als „Mahl“ für den Toten bezeichnet wird, statt. Die Trauerenden kehren nach Hause zurück und nehmen ein gemeinsames Mahl ein. Von nun an wird das Grab an bestimmten Tagen, vermutlich aber auch spontan, aufgesucht, und es werden dem Toten Opfergaben gebracht. Am wichtigsten ist dabei das Ausgießen von Flüssigkeiten (Honig, Milch, Wein, Wasser), wie wir es auch im Ritual von Odysseus geschildert finden; besonders in hellenistischer und römischer Zeit finden aber auch Opfer mit anschließenden Mahlzeiten statt. 27 Doch zurück zu Homer: Neben der engen Verbindung zum rituellen Bereich fällt an der Schilderung der Odyssee auf, dass sie auf den ersten Blick keine Belohnung und Bestrafung der Toten zu kennen scheint. Auch ein so ausgezeichneter Kriegsheld wie Achilleus ist unglücklich; allerdings sieht Odysseus die Übeltäter Tityos, Tantalos und Sisyphos, die gequält werden. Bezeichnend ist eine Erzählung über den notorischen Betrüger Sisyphos, dessen Geschichte wir aus weiteren archaischen Quellen kennen. Nach einer Version28 fesselt Sisyphos den Gott Thanatos (das heißt den Gott „Tod“), so dass die Menschen nicht mehr sterben. Ares befreit Thanatos und übergibt ihm Sisyphos. Sisyphos befiehlt dann seiner Frau, die Bestattungsrituale für ihn nicht auszuführen. So kommt er als umherirrender Schatten, d.h. als Gespenst, wieder in die Oberwelt, wo er bleibt. In dieser Hinsicht besonders auffällig ist die unmittelbar auf Sisyphos folgende unheimliche Beschreibung des Herakles, der sich an zwei Orten gleichzeitig aufzuhalten scheint. Über ihn erzählt Odysseus folgendes:
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„Nach diesem [das ist Sisyphos] gewahrte ich die Gewalt des Herakles, nur seinen Schatten, er selber aber ergötzt sich unter den unsterblichen Göttern an Festlichkeiten und hat Hebe mit den schönen Fesseln, die Tochter der Hera mit dem goldenen Schuh. Um ihn war ein Geschrei der Toten, so wie von Vögeln, rings flüchtenden. Er aber, der schwarzen Nacht gleich, hielt den nackten Bogen und einen Pfeil auf der Sehne, furchtbar umherschauend, und glich einem, der immer schießen wollte.“29
Herakles, Sohn des Zeus und der Alkmene, über den früh die Apotheose („Vergöttlichung“) erzählt wird, ist kein „normaler“ Toter. In der Bemerkung über seine rätselhafte Doppelexistenz scheint der Dichter auf eine weitere Jenseitsvorstellung anzuspielen, die sich ebenfalls – allerdings sehr selten – in den homerischen Epen findet. Es ist die Existenz an einem paradiesischen Ort, der Elysium genannt wird oder die Entrückung zu den Göttern. Im Elysium finden wir Menelaos, der der Schwiegersohn des Zeus ist (Od. 4,563–568). Zu den Göttern entrückt wird Ganymed, in den sich Zeus selbst verliebt hat (Il. 20,231–235; 5,265– 267), um zwei weitere Beispiele zu nennen. Zusammenfassend lässt sich über die beim Dichter Homer bezeugten Vorstellungen der archaischen Zeit folgendes sagen: Die Welt der Toten ist ein trostloses Schattenreich, die dort vor sich hindämmernden Wesen sind halbbewusst, scheinen aber ihre individuelle Persönlichkeit zu behalten. Rituale sorgen dafür, dass das Reich der Toten von der Welt der Lebenden getrennt bleibt; trotzdem ist der Kontakt mit den Toten möglich und im Ausnahmefall auch nötig: Ausgerechnet von einem toten Seher kann Odysseus sein zukünftiges Schicksal erfahren. Tote, die nicht bestattet sind, erscheinen gelegentlich in der Welt der Lebenden und fordern eine Bestattung. Diese ist, zusammen mit der Ausführung der Totenopfer, die einzige und wichtigste Voraussetzung für ein erträgliches Weiterleben in der Unterwelt (etwa Il. 23,69–76). Bestrafung und Belohnung individueller Toter erfolgt hingegen nicht konsequent. Hervorgehoben erscheinen nur Individuen, die – sei es als besondere Frevler gegen, sei es als Verwandte von Göttern – einen Sonderstatus haben. Das griechische Wort psyché („Seele“, „Lebenshauch“) bezeichnet jenen Teil des Individuums, der, bei regelrechter Bestattung des Leichnams (griechisch sóma), in den Hades geht. Ist von lebenden Menschen die Rede, so meint psyché nicht „Seele“ in unserem Sinn des Wortes, sondern ganz einfach „Leben“ (zum Beispiel Il. 9,322). Um die Persönlichkeit des lebenden Menschen und deren emotionale Bewegtheit auszudrücken, existiert eine ganze Reihe von Bezeichnungen, wie thymós („Mut“),
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phrénes („Zwerchfell“), nóos („Verstand“), ker („Herz“), die Jan Bremmer treffend als „body-souls“ bezeichnet.30 In dieser frühen Zeit ist die Vorstellung einer Trennung von „Körper“ und „Seele“ nur denkbar im Fall des Todes; lebende Menschen sind „ganz“ und haben strenggenommen keine einzelne „Seele“, sondern sie bestehen aus ihren „body-souls“, die sie allerdings nicht in die Unterwelt mitnehmen können. Doch auch die Existenz der psyché in der Unterwelt ist nicht unabhängig vom Körper, sondern an dessen reguläre Bestattung gebunden. Erst im sechsten Jahrhundert finden wir, als wichtigste, ja geradezu „revolutionäre“ Neuerung, die Vorstellung einer individuellen Seele, die schon zu Lebzeiten besteht und nach dem Tode für Verfehlungen zur Verantwortung gezogen wird.31 Erhalten bleibt die zentrale Funktion von Ritualen, die sowohl die Trennung von Lebenden und Toten garantieren, als auch die Kommunikation zwischen Lebenden und Toten ermöglichen. Neu gegenüber Homer sind in diesem Bereich jedoch zum einen Mysterienkulte32, die den Eingeweihten ein besseres Leben nach dem Tode versprechen, zum anderen religiöse Spezialisten, die gegen Bezahlung nicht nur Einweihungen in Mysterienkulte des Gottes Dionysos anbieten, sondern auch einen rituellen Kontakt mit Toten ermöglichen, der über den alltäglichen Grabkult hinauszugehen scheint. Ich möchte im Folgenden auf einige interessante Details dieser Neuerungen eingehen und stütze mich dabei insbesondere auf die Arbeiten von Sarah Iles Johnston.33 Aus den homerischen Epen, aber auch anderen archaischen Quellen, gewinnen wir den sicheren Eindruck, dass es vor allem die Bestattung und der Grabkult sind, die über die Qualität des Weiterlebens nach dem Einschnitt des physischen Todes – dem Weggang der psyché aus dem Körper – entscheidet. Zu Beginn des sechsten Jahrhunderts fassen wir jedoch den von Athen aus organisierten Mysterienkult im Heiligtum der Göttinnen Demeter und Persephone in Eleusis, der den Eingeweihten verspricht, dass sie im Jenseits ein besseres Los erwarte, als jene, die nicht eingeweiht seien. Explizit formuliert wird dies im homerischen Demeterhymnos. Dieses Gedicht erzählt die Einsetzung der geheimen Riten durch die Göttin selbst, die diese ursprünglich den Herrschern von Eleusis geschenkt habe, aus deren Geschlecht sich noch in historischen Zeiten die Priester rekrutieren. Worin das Glück im Jenseits besteht, erfahren wir aus diesen und zahlreichen vergleichbaren Texten nicht. Der Komödien-Dichter Aristophanes stellt sich allerdings in seiner Komödie „Die Frösche“ vor, dass die Mysten in der Unterwelt das schöne Fest, mit dem die durch Strapazen gekennzeichnete, einmalige Einweihung ihren Abschluss fand, in Ewig-
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keit weiterfeiern.34 Auch hier ist es also wieder das Ritual, das die Jenseitsvorstellung bestimmt und bedingt. Während man jedoch bei Bestattung und Totenkult auf die Zuverlässigkeit der Verwandten angewiesen war, konnte man durch eine Einweihung in den Mysterienkult in Eleusis, die eine besondere und persönliche Verbindung zwischen dem Eingeweihten und den Göttinnen Demeter und Persephone herstellte, sein Schicksal gewissermaßen selbst in die Hand nehmen. Zugelassen wurden alle, Frauen, Männer und Sklaven, die Griechisch sprachen und ohne Blutschuld waren. Erforderlich war das Geld für ein kleines Opfertier, ein Ferkel.35 Wir können mit gutem Grund vermuten, dass ein beträchtlicher Teil der athenischen Bevölkerung sich im Laufe ihres Lebens einweihen ließ; in Hellenismus und Kaiserzeit weitete sich das Einzugsgebiet beträchtlich aus. Die Athener selbst betrachteten das florierende Heiligtum, das erst in der Spätantike geschlossen wurde, als wichtigen Beitrag, den Athen zur Zivilisation der gesamten Menschheit leistete. Zeitlich beinahe parallel zu den eleusinischen Mysterien entwickelten sich die sogenannten bakchischen Mysterienkulte.36 Sie waren nicht an ein bestimmtes Heiligtum gebunden, sondern ganz anders organisiert. Umherwandernde religiöse Spezialisten boten – wohl gegen Bezahlung – geheime Rituale an, die ihren Kunden ebenfalls ein besseres Leben im Jenseits garantierten und zwar durch eine besondere Verbindung zum Gott Dionysos. Während Dionysos in der nach unseren Quellen am weitesten verbreiteten Mythologie wenig mit der Unterwelt zu tun hatte, lassen sich Hinweise finden, dass sich die Anbieter dieser Rituale sowohl in Bezug auf eine gewissermaßen alternative Mythologie als auch im Hinblick auf ihre rituelle Techniken und damit verbundenen Jenseitsvorstellungen, auf Schriften eines angeblich viel älteren Dichters als Homer, nämlich des Orpheus bezogen.37 Der Philosoph Platon spricht tadelnd davon, dass diese religiösen Spezialisten folgende Dienstleistungen anboten: „Bettelpriester und Seher kommen zu den Türen der Reichen und überreden sie, es läge in ihrer Hand, von den Göttern übergeben, die Macht, mit Opfern und Beschwörungen, falls von einem selbst oder von Vorfahren ein Unrecht vollbracht sei, dies zu heilen mit vergnüglichen Festen […] und sie bieten Stapel von Büchern des Musaios und des Orpheus an […] denen gemäß sie ihr Opferwesen treiben; sie überreden nicht nur einzelne, sondern ganze Städte, dass es Lösung und Reinigung von Unrecht gebe durch Opfer und spielerische Vergnügungen, und zwar für die Lebenden wie für die Toten; sie nennen dies teletaí, („Einweihungen“) welche uns von dem Übel im Jenseits erlösen; wer aber nicht opfert, sagen sie, den erwarte Schreckliches.“38
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Diese umherwandernden Priester befreiten also sowohl Einzelpersonen als auch ganze Städte durch Reinigungsrituale von „Unrecht“; dieses konnte von den Betroffenen selbst als auch von ihren Vorfahren begangen worden sein. Ihre Reinigungsrituale erstreckten sich also auch in den Bereich der Toten. Die mit Orpheus und den Dionysos-Mysterien verbundenen Jenseitsvorstellungen waren vermutlich konkreter und gingen weiter als das allgemeine Versprechen eines glücklicheren Loses im Hades. Wir besitzen dafür eine ebenso rätselhafte wie faszinierende Quellengattung, die sogenannten orphisch-bakchischen Goldblättchen.39 In Gräbern fanden sich hauchdünne Goldfolien, meist nur wenige Quadratzentimeter groß, mit darauf eingeritzten oft metrischen Texten. Diese Texte geben entweder in sehr knapper Form bekannt, dass der oder die Tote ein mýstes, ein(e) „Eingeweihte(r)“ war. Manchmal enthalten sie auch äußerst seltsame Rätselworte, wie beispielsweise: „Als Böcklein fiel ich in die Milch“.40 Auf einigen jedoch finden wir veritable Beschreibungen einer Art Jenseitsreise, wie in diesem Beispiel aus dem süditalienischen Hipponion: „Der Erinnerung (Werk?) ist dies. / Wenn du hinabsterben wirst in das wohlgebaute Haus des Hades. Es liegt rechts eine Quelle, / bei ihr steht eine weiße Zypresse. / Dort erfrischen sich beim Abstieg die Seelen der Toten. / Dieser Quelle sollst du ja nicht zu nahe kommen. / Weiter weg wirst du, wie es vom See der Erinnerung niederrinnt, / kaltes Wasser finden: Wächter stehen darüber, / die werden dich mit verständigem Sinn fragen, / weshalb du durchwanderst des schlimmen Hades’ Dunkel. / Sprich: Sohn bin ich der Erde und des gestirnten Himmels. / Von Durst bin ich trocken und vergehe: doch gebt rasch / kaltes Wasser, das niederrinnt vom See der Erinnerung. / Und sie werden dich dem unterirdischen König ankündigen, / und du gehst, wenn du getrunken hast, einen Weg, den auch die anderen / Mysten und Bakchen gingen, den heiligen, die berühmten. “41
Die Diskussion um die Bedeutung dieser Form von Grabbeigaben ist in der Forschung längst nicht abgeschlossen. Für unsere Frage nach der Individualität ist zumindest bemerkenswert, dass es offenbar darum geht, dass der oder die Tote sich in der Unterwelt an seine oder ihre Identität erinnert und diese als eine Art „Passwort“ formuliert, um als Eingeweihte(r) in einen Mysterienkult in der Unterwelt erkannt zu werden. Auch die Entscheidung, sich auf diese Weise bestatten zu lassen, dürfen wir durchaus als „individuell“ bezeichnen. Sarah Iles Johnston vermutet zu Recht, dass insgesamt die Einführung von Mysterienkulten in engem Zusammenhang stehen mit der ebenfalls in dieser Zeit zum
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ersten Mal explizit nachweisbaren Vorstellung, dass man als individuelle Seele nach dem Tod für begangenes Unrecht bestraft wird.42 Neben Strafe ist aber auch Belohnung und Privilegierung möglich. Dabei scheinen jedoch Rituale eine mindestens so wichtige Rolle zu spielen wie moralisches Wohlverhalten. Die bei Platon tadelnd geschilderten Rituale der umherziehenden Priester können Belastungen, die durch Schuldgefühle entstehen, „reinigen“, auch Übeltäter können so ein besseres Los im Jenseits haben, wenn sie die richtigen Rituale ausführen. Sarah Iles Johnston zeigt darüber hinaus, dass es religiöse Spezialisten und bestimmte Rituale brauchte, um die Lebenden vor den Toten zu schützen.43 In unseren Quellen verbindet sich die Idee der Bestrafung nach dem Tod aber auch mit der Vorstellung der Seelenwanderung (griechisch met empsychosis). Diese Idee wird dem leider historisch kaum fassbaren Pythagoras zugeschrieben, der im sechsten Jahrhundert v. Chr. in Süditalien gelebt haben muss.44 Für den Philosophen Platon ist dieses Konzept bereits eine selbstverständliche Option, die er an verschiedenen Stellen diskutiert. Als Grundidee erhält sich diese Vorstellung, die davon ausgeht, dass man zur Strafe in niedrigen Tieren, zur Belohnung als Mensch geboren wird und letztlich zu Gott oder doch zu göttlicher Erkenntnis aufsteigen kann, bis in die Spätantike. Um die Vielfalt der Jenseitsvorstellungen, die sich im Zeitraum vom sechsten bis zum vierten Jahrhundert entwickeln und von nun an den Diskurs bis in die Spätantike hinein bestimmen werden, abzurunden, ist es unerlässlich, zum Schluss einen Blick auf Platon zu werfen. Die Eigenheit seines Beitrages kommt meiner Meinung nach am besten im Dialog Phaidon zum Ausdruck, der das völlig angstfreie Sterben des idealen Philosophen am Beispiel des Sokrates vorführt. Sokrates, der von den Athenern zu Unrecht zum Trinken des Giftbechers verurteilt wurde, verbringt seine letzten Lebensstunden, indem er mit seinen Freunden im Gefängnis über die Möglichkeiten eines Weiterlebens nach dem Tode diskutiert. Er ist völlig frei von Todesfurcht. Dazu benötigt er keine Einweihung in Mysterien. Sokrates hat allerdings Gelegenheit, mythische Jenseitsvorstellungen zu referieren, die zeigen, wie sich platonische Philosophie mit diesen verbinden konnte. Diese Vorstellungen werden, wie auch in anderen Dialogen Platons, als mýthoi – „traditionelle Erzählungen“ – bezeichnet. Sokrates referiert folgende Ansicht: Es gibt einen Totenrichter. Die schwersten Verbrecher werden mit ewiger Strafe im Tartaros bestraft; die anderen Seelen aber kehren nach verschiedenen Prozeduren der Reinigung und Buße wieder an die Erdoberfläche
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zurück, das heißt, sie werden wiedergeboren. Die Philosophen jedoch kommen an einen noch besseren Ort: „Welche nun unter diesen durch Weisheitsliebe sich schon gehörig gereinigt haben, diese leben für alle künftigen Zeiten gänzlich ohne Leiber und kommen in noch schönere Wohnungen als diese, welche weder leicht wären zu beschreiben, noch würde die Zeit für diesmal ausreichen. “45
Wie so oft, nimmt Sokrates seine Erzählung wieder zurück: Wenn man vernünftig sei, könne man nicht behaupten, dass sich dies alles genau so zutrage. Doch – da die Seele etwas Unsterbliches sei – müsse es sich irgendwie so verhalten. Der wichtigste Gedanke, auf den Sokrates beziehungsweise der Autor Platon in diesem Dialog immer wieder zurückkommt, ist der Gedanke, dass die Seele unsterblich sei und in ihrer individuellen Identität deshalb völlig unabhängig vom Körper existieren könne. Da uns dieser strikte Körper-Seele-Dualismus sehr vertraut ist, entgeht uns, wie neu und seltsam diese Vorstellung im Athen des beginnenden fünften Jahrhunderts noch gewesen sein muss. In den Texten Homers haben Menschen, wie ich bereits ausführte, mehrheitlich erst nach ihrem Tod eine psyché, die ihre Individualität als „Schatten“ in der Unterwelt zu verkörpern scheint. Die Seele des Philosophen, so betont Platon im Phaidon hingegen, trennt sich schon zu Lebzeiten vom Körper, um das „Wahre und Göttliche“ zu schauen. Der Körper ist für sie nur ein Gefängnis, aus dem sie durch den Tod befreit wird (84a−b). Der Philosoph fürchtet sich nicht vor dem Tod. Er braucht keine religiösen Spezialisten und keine Mysterienkulte, sondern lediglich das nach Wahrheit suchende Gespräch mit seinen Freunden. Konsequenterweise macht sich Sokrates auch aus dem Ritual der Bestattung nicht viel. Auf die Frage seines Freundes Kriton, wie sie ihn den bestatten sollen, antwortet er: „Wie ihr wollt, (sprach er), wenn ihr mich nur wirklich haben werdet und ich euch nicht entwischt bin. Dabei lächelte er ganz ruhig und sagte, indem er uns ansah: Diesen Kriton, ihr Männer, überzeuge ich nicht, dass ich der Sokrates bin, dieser, der jetzt mit euch redet und euch das Gesagte einzeln vorlegt, sondern er glaubt, ich sei jener, den er nun bald sehen wird, und fragt mich deshalb, wie er mich begraben soll. “46
Bei Platon finden wir also erstmals jene zwei Konzepte, die später im Christentum eine so wichtige Rolle spielen werden: Die Vorstellung einer ewigen Höllenstrafe ebenso wie die einer unsterblichen Seele. Be-
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nützt er das Motiv der Wiedergeburt, so finden wir u.a. die Vorstellung, dass die Seele zwischen ihren Verkörperungen einen Blick auf die göttliche und ewige Wirklichkeit erhaschen kann, diese dann aber wieder vergisst und nur als Sehnsucht in sich behält. Fassen wir noch einmal zusammen, so zeigt sich, dass sich den in der griechischen Archaik und Klassik lebenden Menschen in den verschiedenen Medien, in Dichtung, Philosophie, Geschichtsschreibung und auch in Grabinschriften, ebenso wie in der rituellen Praxis, eine ganze Fülle von Jenseitsvorstellungen anbot: Neben den bereits beschriebenen, findet sich seit dem vierten vorchristlichen Jahrhundert der Gedanke der Verstirnung, atomistische Philosophenschulen gingen davon aus, dass sowohl Körper als auch Seele aus Atomen bestehen, die sich im Falle des Todes auflösen. Auffällig ist der enge Zusammenhang zwischen konzeptuellen Vorstellungen und rituellen Praktiken, der nur in den philosophischen Texten gelockert wird. Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass die Rituale vor allem eine sichere Trennung der Welt der Lebenden und Toten bewirken sollen. Gleichzeit jedoch ist auch Kontakt erwünscht; Tote können Lebende nicht nur empfindlich stören, sondern ihnen auch helfen, nicht zuletzt mit ihrem Wissen, das offensichtlich – wie das Beispiel in der Odyssee ebenso wie zahlreiche Totenorakel zeigte – die Möglichkeiten der Lebenden übertrifft. Selbst Platon, der davon schreibt, dass die Seelen im Jenseits zu wahrem Wissen gelangen können, scheint hier anzuknüpfen. In einer von Mündlichkeit geprägten Gesellschaft nehmen Tote Wissen mit ins Grab, auf das die Gesellschaft nicht verzichten möchte. Die Toten verschwinden nicht einfach, und sie sind auch nicht „außerhalb“ der Gesellschaft; vielfältige rituelle Techniken, ebenso wie philosophische Konzepte, ermöglichen es, mit ihnen weiter zu kommunizieren. Der Tod bedeutete so für den Einzelnen weniger, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden, als einen neuen Platz in ihr zu finden.47 Wo dieser Platz genau war, hing von vielen Faktoren ab – und wurde insgesamt als umstrittene Frage betrachtet. Individuelle Standpunkte und Kreativität waren, gerade in der Ausgestaltung der Rituale, durchaus gefragt, wenngleich diese auch wiederum großer Traditionalität unterlagen. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass Bestattungen, ebenso wie die Ausgestaltung von Grabmonumenten, immer eine Angelegenheit von Familien blieben. Die Gesetze der Polis versuchten allerdings regulierend einzugreifen, zum Beispiel wenn immer wieder der große Luxus, mit dem adlige Familien ihre Bestattungen inszenierten, eingedämmt wurde.48
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Die auffälligste Beobachtung, die wir im Gedächtnis behalten sollten, wenn wir uns nun der aktuellen Situation zuwenden, ist sicher die Vielfältigkeit der Vorstellungen und Rituale. Dies führt in der Antike zu einem für uns befremdlichen, in allen genannten Medien aber immer wieder auftauchenden Agnostizismus, den der Religionshistoriker Robert Parker mit dem Stichwort „ritueller if clause“ bezeichnete.49 Nicht nur in philosophischen Schriften, sondern auch in Grabinschriften50, in Gebetstexten oder mythologischen Erzählungen wird auf die Unsicherheit und Wahlmöglichkeit verwiesen. Es finden sich immer wieder Formulierungen, die mit „wenn …“ beginnen: Wenn es wirklich ein toter Vorfahre ist, der mich quält, dann kann der Reinigungspriester vielleicht helfen. Dies kann man zum einen als inhaltliches Charakteristikum antiker Jenseitsvorstellungen bezeichnen: Das Jenseits, der Aufenthaltsort der Toten, entzieht sich menschlichem Wissen – gerade dies macht das Jenseits zu einem transzendenten Ort. Doch Parker erwähnt einen weiteren Punkt, und ich möchte ihm darin folgen: Diese Unsicherheit ist typisch für die Epistemologie der antiken polytheistischen Religionen. Es gibt keine autorisierten göttlichen Offenbarungen. Dichter und Philosophen gelten zwar als „weise“, doch sie können sich widersprechen. Ähnliches gilt für die praktische Ebene: Bei den vielfach erwähnten religiösen Spezialisten, die besonders beim Umgang mit dem Jenseits helfen, handelt es sich nicht um autorisierte Priester, sondern um eine Art freie Unternehmer, Walter Burkert nennt sie „Handwerker des Heiligen“.51 Die Wahrheit der durch sie vertretenen Konzepte erweist sich auf der alltagspraktischen Ebene. Wenn die Rituale helfen, ist es gut – funktionieren sie nicht, sucht man sich einen besseren „Reinigungspriester“ oder der bereits engagierte muss etwas Neues ausprobieren. Die Frage nach den Jenseitsvorstellungen bringt somit eine zentrale Eigenheit des antiken Polytheismus ans Licht, die ihn von einem dogmatischen System, wie es sich uns beispielsweise im traditionellen Christentum zeigt, deutlich unterscheidet. Sie ähnelt jedoch in gewisser Weise unserer modernen pluralistischen Situation, in der es ebenfalls keine allgemein autorisierte Deutungshoheit über den Tod mehr zu geben scheint.
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Wiedergeburt und „agnostische Spiritualität“ – individualisierter Jenseitsglaube im einundzwanzigsten Jahrhundert? „Keine Deutungshoheit“ ist möglicherweise nun doch übertrieben. Natürlich: Aus Sicht staatlicher Autorität und juristischer Diskurse muss medizinisch festgestellt werden, dass ein Individuum tot ist; dann ist es in möglichst hygienischer Weise zu entsorgen – so unsere aktuelle Vorstellung und Praxis. Spannend allerdings ist, dass auch hier – ähnlich wie im Falle der religiösen Konzepte und Rituale – es durchaus einer kulturellen Grenzsetzung bedarf, die umstritten ist und diskutiert wird. Die Frage, wie es sich mit klinischem Tod, mit dem Hirntod, mit Wachkomapatienten und Organtransplantationen verhalten soll, ist heiß diskutiert und beschäftigt Ethikkommissionen. In diesen sitzen auch Vertreter von Religionsgemeinschaften; anders als im antiken Griechenland jedoch, beharren sie nicht auf rituelle Vorschriften, die den Unterschied zwischen Lebenden und Toten markieren sollen, sondern auch sie vertrauen letztlich der modernen Medizin, die die Grenze zwischen Leben und Tod festsetzen soll. Auf der Ebene der Alltagspraxis wird, wie ich bereits eingangs feststellte, die vom Staat normierte Praxis, die in Krematorien und Friedhofsordnungen fassbar wird, in Frage gestellt. Dabei lassen sich zwei Trends feststellen: Zum einen nimmt die anonyme Form der Bestattung zu; in Großstädten Nordeuropas sind es bis zu sechzig Prozent der Bevölkerung, die kein öffentlich sichtbares Grab mehr wünschen. Ebenfalls zunehmend sind jedoch die Bedürfnisse nach individueller Gestaltung von Bestattungsfeiern und Erinnerung, die sich jenseits des von Staat und Kirche Angebotenen bewegen, ja oft im Widerspruch zu den bestehenden Friedhofsordnungen und anderen Reglementierungen stehen.52 Bestatter übernehmen auch die Gestaltung ritueller Feiern, sie bekommen Konkurrenz oder Mitarbeit von freien Trauerrednern und Ritualgestaltern, die unabhängig von den dogmatischen Vorgaben religiöser Traditionen agieren.53 Wie steht es nun aber mit den Jenseitsvorstellungen? Angesichts des antiken Befundes wäre es meines Erachtens spannend und wichtig, den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Praktiken und den Jenseitsvorstellungen, die Individuen damit verbinden, zu untersuchen. Leider steht die religionssoziologische Forschung hier aber erst am Anfang. Einiges zu finden ist in den Arbeiten von Hubert Knoblauch, Christoph Bochinger und Monika Wohlrab-Sahr54, auf deren im
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Rahmen eines größeren Forschungsprojektes erhobenen Ergebnisse ich im Folgenden näher eingehen möchte. Wohlrab-Sahrs Artikel basiert auf Interviews, die sie und ihr Team im Rahmen des Projektes „Generationenwandel als religiöser und weltanschaulicher Wandel: Das Beispiel Ostdeutschlands“ führten. Dabei wurden jeweils Familien – nach Möglichkeit drei Generationen gemeinsam – in komplexen Gesprächen interviewt. Ostdeutschland dient dabei als Beispiel einer Gesellschaft mit sehr geringer Kirchlichkeit. Für unsere Frage sehr interessant ist ein Befund, den auch Wohlrab-Sahr selber hervorhebt. Eine ALBUS-Umfrage von 2002 zeigte, dass sich – im Vergleich zu einer Umfrage von 1991 – in der Gruppe der 18–29-Jährigen deutlich mehr Befragte zu religionsnahen Aussagen zustimmend äußerten. Besonders signifikant war dabei der Bereich „Glaube an ein Weiterleben nach dem Tode“.55 Wohlrab-Sahr vermutet, dass sich dies auch in ihren Interviews nachvollziehen lassen könnte und präsentiert auf der qualitativen Ebene folgende Ergebnisse: Von kirchlich gebundenen Familienmitgliedern besonders der älteren Generation wird christliche Semantik verwendet, allerdings ist auch hier der Zug zum Agnostizismus stark. Ähnlich wie im Beispiel der Theologin Dorothee Sölle (das ich am Anfang meines Vortrags zitierte) wird die christliche Lehre des individuellen Weiterexistierens nicht wörtlich genommen, sondern nach anderen Lösungen beziehungsweise Interpretationen gesucht. Ebenfalls in der älteren Generation finden sich dezidiert atheistische und materialistische Haltungen. Mit „agnostischer Spiritualität“56 schließlich bezeichnet Wohlrab-Sahr ein argumentatives Verhalten ihrer Interviewpartner, das sie sowohl bei kirchlich gebundenen als auch bei sich im Prinzip als atheistisch oder religionslos bezeichnenden Personen findet. Diese stellen zuerst die Unzulänglichkeit sowohl religiöser Dogmen als auch der Naturwissenschaft hinsichtlich der letzten Transzendenz des Todes fest. Sie versuchen, zu plausiblen Vorstellungen zu kommen, indem sie eigene übersinnliche Erfahrung oder aber Berichte fremder Erfahrungen, insbesondere Nahtoderlebenisse heranziehen. Beliebt ist auch der Versuch, Begriffe aus der Naturwissenschaft wie „Energie“ zur Beschreibung zu verwenden. Knoblauch und Bochinger kommen in ihren Büchern zu ähnlichen Ergebnissen.57 Im Hinblick auf die letzte Transzendenz des Todes bedient sich eine Mehrzahl von Individuen heute zum einen eines enorm großen und allgemein zugänglichen Spektrums religiöser und psychologischer Traditionen. Um sie für sich zu plausibilisieren, verwenden sie
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– ob kirchlich gebunden oder nicht – jedoch nicht das Argument religiöser Tradition, die sich als kanonisierte göttliche Offenbarung zu erkennen gibt. Plausibel werden die Vorstellungen, wenn sie sich aus menschlichen, empirisch bezeugten Erfahrungen ableiten lassen. Dies gilt auch für die Vorstellung der Wiedergeburt oder Reinkarnation, die gemäß Umfragen einen erstaunlichen Boom erlebt. Obwohl diese Vorstellung von den Befragten selbst oft dem Buddhismus zugeordnet wird, erweist sie sich bei näherer Betrachtung als Abkömmling einer westlichen Tradition der metempsychosis, die sich auf das Vorbild des antiken Philosophen Platon zurückführen lässt. Ziel ist nicht in erster Linie – wie in fernöstlichen Traditionen – die Befreiung aus dem Kreis der Wiedergeburten, sondern es ist ein eher evolutionistisch-pädagogisches Modell. Das Individuum bleibt im Kern identisch, lernt aber in jeder Inkarnation etwas dazu. Es handelt sich eher um einen über den Tod hinausgezogenen Entwicklungsroman des modernen Ichs.58 Natürlich werden dabei Straf-Inkarnationen in Tierkörpern nicht mehr in Betracht gezogen, wohl aber Therapie-Formen, die ein Wissen der vergangenen Inkarnationen ermöglichen.59 Damit sind wir nicht mehr weit weg von den antiken „Handwerkern der Heiligen“, die es ermöglichten, die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und Toten zu überschreiten. Die aktuelle Situation in den westlichen Post-Industrieländern mutet den Individuen zu, sich ihre Jenseitsvorstellungen selbst zu suchen und zu plausibilisieren; hinzu kommt die Verantwortung, für Angehörige und Freunde aber auch für sich selbst eine sinnvolle Form der Bewältigung des Alltags-Ereignisses Tod zu finden. Ob dies einem Individuum gelingt, hängt nicht nur von den Möglichkeiten ab, die ihm geboten werden, sondern auch von den Ressourcen, beispielsweise an Bildung, Geld aber auch Sozialkontakten, über die es verfügt. Auch wenn der Tod selbst, wie besonders im Mittelalter und der Barockzeit behauptet wurde, alle gleich macht – so ist, zumindest in unserer aktuellen Gesellschaft ebenso wie im antiken Griechenland – die mentale und rituelle „Bearbeitung“ dieses Ereignisses des menschlichen Lebens eine Angelegenheit, in der sich jedes Individuum einzeln bewähren darf und muss.
René Roux
Individuelle Aneignung von Heiligen Schriften in der christlichen Antike: Einige Anmerkungen Einführung Die Heiligen Schriften der Christen bestehen aus den Schriften des Alten Testaments, die aus dem Judentum stammen, und aus der Sammlung der Schriften des Neuen Testaments. Das Alte Testament wurde von den Christen nicht in Hebräisch gelesen, sondern in einer griechischen Übersetzung, die sogenannte Septuaginta. Diese Septuaginta wurde in der christlichen Antike als inspiriert (das heißt vom Geist Gottes „eingegeben“) betrachtet, unter anderem deshalb, weil sie im Neuen Testament zitiert wird. Sie ist länger als der hebräische Text. Die ersten lateinischen Übersetzungen werden mit dem allgemeinen Begriff „Vetus Latina“ bezeichnet. Diese Übersetzungen waren sprachlich sehr unbefriedigend. Sie wurden ab dem vierten Jahrhundert durch die sogenannte „Vulgata“, eine neue lateinische Version, die Hieronymus begann, ersetzt. Die Vulgata blieb die wichtigste westliche Übersetzung bis zur Reformation. Im syrischen Raum wurde die Bibel früh übersetzt: Die sogenannte „Peshitta“, die teilweisedirekt aus dem Hebräischen übertragen worden ist. Die Juden in Palästina hatten andere Übersetzungen verwendet, die sogenannten „Targumim“ (= „Übersetzungen“) in aramäischer Sprache. Die Schriften des Neuen Testaments wurden griechisch verfasst und aus dem Griechischen weiter übersetzt. Es muss hier daran erinnert werden, dass der Kanon (= die offizielle Liste der zum Neuen Testament gehörenden Bücher) erst im vierten Jahrhundert abgeschlossen zu sein scheint. Im zweiten und dritten Jahrhundert wurden einige Bücher nicht überall akzeptiert (zum Beispiel der 2. und 3. Johannesbrief und die Apokalypse). Im Gegensatz dazu wurden andere Texte, wie etwa der 1. Clemensbrief, als kanonisch betrachtet. Kriterien für die Zugehörigkeit zum Kanon waren hauptsächlich zwei: die apostolische Herkunft und die allgemeine Verbreitung. Maßgebend wirkten die Traditionen der wichtigsten Gemeinden (zum Beispiel Rom und Alexandrien).
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In der christlichen Antike stand der Begriff „Gottes Wort“ oder, besser gesagt, Gottes„Logos“ (griechisch= „Wort, Vernunft“) für Jesus Christus, Gott und Gottes Sohn. Gottes„Wort“ oder „Offenbarung“ ist also ursprünglich mehr als ein gesprochenes oder geschriebenes Wort. Es ist eine Person: Jesus Christus. Die Heiligen Schriften sind „Gottes Wort“ im abgeleiteten Sinne, weil sie vom Heiligen Geist (Gottes Geist) inspiriert worden sind und ein Zeugnis für Jesus Christus geben. Das Alte Testament wird als Vorbereitung auf das Ereignis Christus verstanden. Die Unsicherheiten bezüglich des Kanons des Neuen Testaments empfand man damals nicht als großes Problem: Maßgeblich war in den ersten Jahrhunderten die lebendige Tradition der Kirche. Bevor wir uns mit dem eigentlichen Thema der individuellen Aneignung von Heiligen Schriften in der christlichen Antike beschäftigen, müssen wir noch einen Unterschied zur heutigen Situation feststellen. Zur heutigen westlichen Kultur gehört die Bibel als fester Bestandteil, unabhängig von der persönlichen Haltung der Angehörigen dieser Kultur zum christlichen Glauben. Sie wird wissenschaftlich untersucht und steht in allen möglichen Editionen und Kommentaren zur Verfügung. Die englische und die deutsche Sprache haben sich durch die jeweiligen Bibelübersetzungen geformt und verbreitet! In der Antike war die Lage völlig anders. Das Alte Testament war das Kulturerbe eines von vielen Völkern des Römischen Reiches und in diesem Sinne für alle anderen Einwohner des Reiches eher ein exotischer Fremdkörper. Die frühen christlichen Schriften bezogen sich auf einige völlig unbedeutende Ereignisse und konnten höchstens für die kleine Gruppe religiöser Sonderdenkender von Interesse sein. Damit ist aber gesagt, dass das Interesse für die christlichen Heiligen Schriften, zumindest bis zum vierten Jahrhundert, erst einmal mit einer persönlichen religiösen Entscheidung verbunden war. Man las sie, weil man in ihnen eine göttliche Offenbarung vermutete. Ab dem vierten Jahrhundert wurde das Christentum offizielle Religion. Das hat die Zahl der Bibelinteressenten dementsprechend steigen lassen. Dabei wird die Frage nach der richtigen Interpretation der Schriften immer wichtiger. Anstoß und Faszination Das antike Christentum und seine Heiligen Schriften wirkten gleichzeitig anstößig und faszinierend. Anstoß erregten besonders das Ereignis der
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Kreuzigung und der Gedanke, der höchste Gott erniedrige sich so und/ oder erlaube, dass Ungerechtes einem Gerechten geschieht. Es mehrten sich Theorien, nach denen Jesus Christus nur dem Schein nach gelitten habe oder der Logos Gottes nur dem Schein nach Mensch geworden sei. Auch die Idee der Auferstehung sorgte für Schwierigkeiten. Mit der Auferstehung war eine positive Bewertung der individuellen Körperlichkeit verbunden, was als reine Absurdität galt. Auch das Alte Testament mit all seinen Anthropomorphismen stieß auf Ablehnung. Es verbreiteten sich Theorien, wie der Markionismus und der Gnostizismus, nach denen das Alte Testament das Produkt eines niedrigeren Gottes sei. Anderseits hatte das Christentum auch viele anziehende Merkmale. Vor allem die Idee einer individuellen Vorsehung: Jeder einzelne Mensch ist von Gott gewollt, geliebt und begleitet. Das Alte Testament ist Zeugnis dieser göttlichen Zuwendung, die ihren Höhepunkt in Christus erreicht und die sich über jeden Menschen erstreckt, über die Grenze des Todes hinaus. Wer als Christ von diesen Grundgedanken überzeugt war, las die Heiligen Schriften, um Informationen über Gottes Handeln und Willen zu sammeln, aber auch um Trost und Licht für seine persönliche Lebenssituation zu gewinnen. Wie ist man vorgegangen, um aus den Heiligen Schriften persönliche Belehrungen zu gewinnen? Hier muss man zwischen Altem und Neuem Testament unterscheiden. Im Neuen Testament war der christliche Sinn offensichtlich. Das Alte Testament hingegen benötigte eine subtilere hermeneutische Strategie, um überhaupt dem christlichen Leser seinen Wert zu zeigen. Die Aneignung des Alten Testaments Das Alte Testament, mit der jüdischen Torah, den historischen und prophetischen Schriften und den Weisheitsbüchern, bildete den Kern des literarischen Kulturerbes der Juden. Für Römer oder Griechen benötigten diese Texte Einführungen und Erklärungen verschiedener Art. Die antike Bildung basierte unter anderem auf dem Studium der klassischen Texte. Man denke zum Beispiel an Homer, die Grundlage der griechischen Erziehung: Der Text bedurfte schon damals Bedeutungsumschreibungen und Erklärungen. Die klassische Rhetorik, als Wissenschaft über das richtige Reden und Argumentieren, lieferte viele Anhaltspunkte, die zur Entwicklung der spezifisch christlichen hermeneutischen Methode für die Bibel entscheidend beitrug.
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Hier einige „Regeln“ oder „Begriffe“, die man an der Schule der Rhetoren lernen konnte, und wie man diese für die individuelle Interpretation und Aneignung der christlichen Schriften, besonders des Alten Testaments, verwendet hat: a) auctorem per auctorem. Die ist die erste Regel der Philologie und der Hermeneutik: Um einen schwierigen Text oder Wort zu verstehen, vergleicht man beim gleichen Autor, wie er an anderer Stelle das gleiche Wort verwendet hat. Homer ist sehr reich an unüblichen Formen und Ausdrücken; um sie richtig zu verstehen, musste man nach ähnlichen oder erklärenden Stellen in Homers Werk suchen. Das gleiche Prinzip hat man auf die christliche Bibel angewendet. Unbekannte Namen, Begriffe oder Ausdrucksweisen musste man weiter in der Bibel suchen. Nur hier mit einem entscheidenden Unterschied: Da die Bibel nicht nur von Menschen geschrieben wurde, sondern auch vom Heiligen Geist, enthielt das Prinzip „auctorem per auctorem“ eine bis damals unbekannte Dimension. Beide Testamente wurden als Einheit verstanden, wobei das Neue Testament und die Worte Jesu Christi eine Sonderstellung hatten. Nach dem genannten Prinzip war es möglich, die ganze Bibel zu untersuchen, um eine bestimmte schwierige Stelle zu erklären. Als Beispiel: In Genesis 1 bei der Schöpfung der Welt spricht Gott im Plural. Die antiken Christen haben in dieser Pluralform eine Vorankündigung der Trinitätslehre gesehen. b) utilitas. Ein zweites Kriterium war die „utilitas“ (Nützlichkeit). Die klassische Rhetorik hatte verschiedene Arten von Reden analysiert und deren unterschiedliche Absichten und Ziele festgestellt. Man hält eine Rede, um zu überzeugen, um zu belehren oder auch für die reine Unterhaltung. Im Fall der Heiligen Schriften ist klar, dass sie von Gott verfasst worden sind, um den Menschen von Nutzen zu sein, um sie zu belehren und so zu retten: „Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit“1. Da Gott ein vollkommener Autor ist, kann der Leser immer nach der Nützlichkeit suchen, da diese immer vorhanden ist. c) decor. Ein drittes Kriterium war „decor“ (Würde). An der Rhetorenschule lernte man glaubwürdig zu reden. Es war für die spätere politische oder juristische Karriere wichtig, überzeugende Reden verfassen zu können. Damit eine Rede überzeugen kann, muss sie glaubwürdig sein. Die Glaubwürdigkeit hängt unter anderem von der konkreten Situation und von der Stellung des Redners ab. Ein Senator spricht anders wenn
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er seinem Sklave Befehlte erteilt, als wenn er sich an den Kaiser wendet. Ein General, der seine Soldaten für den bevorstehenden Kampf ermutigt, wird unterschiedliche Argumente verwenden müssen, je nachdem wie stark im Vergleich der Feind ist. Wir wissen, dass man die Fähigkeit, sich in verschiedene Situationen hinein zu versetzen und dementsprechende Reden zu verfassen, durch gezielte Übungen verbessert hat. (zum Beispiel: „Sie sind Alexander der Große am Abend vor Gaugamela. Sie müssen Ihre 50.000 Mann überzeugen, für Sie gegen die 500.000 Mann von Dareius in den Kampf zu gehen. Was sagen Sie Ihnen?“). Natürlich hat man dafür existierende Reden als Beispiele analysiert und als Modelle nachgeahmt (man denke hier an die Reden Ciceros oder Demosthenes). Der Begriff „decor“ als „Würde“ konnte also auch als Kriterium für die Bewertung einer Redeverwendet werden, ob jetzt eine Rede wirklich angemessen war oder nicht. Wenn man jetzt dieses Kriterium für die Interpretation der Heiligen Schriften anwendet, entstehen unerwartete Sinnmöglichkeiten: Falls Homer unwürdig geschrieben hat, zum Beispiel wenn das Niveau seiner Dichtung an einigen Stellen nachlässt, könnte man es der Müdigkeit zuschreiben. Aber wenn in den Heiligen Schriften etwas „unwürdig“ erscheint, muss man so lange suchen, bis man eine Erklärung findet, die Gottes würdig ist. Wenn im Alten Testament Wiederholungen zu lesen sind, dann muss man in ihnen eine Bedeutung finden. Sämtliche Anthropomorphismen wurden symbolisch interpretiert. Aussagen in den Psalmen, die Gewalt fordern könnten, werden allegorisch umgedeutet. Sogar die Gesetzte der Torah werden allegorisch interpretiert, um in ihnen noch eine Nützlichkeit (utilitas: Gott tut nichts umsonst) zu finden. Eine verbreitete Methode, um „utilitas“ und „decor“ im Alten Testament zu erkennen, war die sogenannte Allegorese: die allegorische oder symbolische Deutung der Ereignisse. Diese Methode wurde schon von den griechischen Philosophen verwendet, um Homer eine „philosophische“ Bedeutung zu verleihen (beispielsweise Die Reise des Odysseus als Weg der Seele zu sich selbst oder zur Wahrheit) und von den Juden in Alexandrien zur Auslegung der Torah (Philo). Paulus ist der erste Christ, der das Alte Testament allegorisch interpretiert. Im Galatabrief schreibt er: „In der Schrift wird gesagt, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Sklavin, den andern von der Freien. Der Sohn der Sklavin wurde auf natürliche Weise gezeugt, der Sohn der Freien aufgrund der Verheißung. Darin liegt ein tieferer Sinn (im Griechischen: „allegoroumena“, das heißt, „in allegorischer Form gesagt“): Diese Frauen bedeuten die beiden
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Testamente. Das eine Testament stammt vom Berg Sinai und bringt Sklaven zur Welt; das ist Hagar“2. Damit gibt Paulus ein Beispiel, dem mehr (im alexandrinischen Kulturbereich) oder weniger (in Antiochien) systematisch alle künftigen Schriftauslegungen nachfolgen. d) similis similem. Ein viertes Kriterium stammt aus der philosophischen Erkenntnistheorie: „similis similem“ nur das Ähnliche kann das Ähnliche erkennen. Der Mensch kann die Materie wahrnehmen, weil er einen Körper und körperliche Sinne hat. Er kann aber auch abstrakt denken, ein Zeichen dafür, dass er mehr als reine Materie sein muss. Die Tatsache, dass er etwas vom Wesen Gottes erahnen kann, wird als Beweis gesehen, dass es in ihm vielleicht etwas Göttliches gibt. Das Alte Testament sprach vom „Abbild Gottes“. Im Neuen Testament ist vom Heiligen Geist die Rede, der die Jünger zur vollen Erkenntnis der Wahrheit führen wird.3 In einer christlichen Perspektive wird jene philosophische Erkenntnistheorie bestätigt und führt zu unerwarteten Konsequenzen. Um die Heiligen Schriften zu verstehen, benötigt man den Heiligen Geist. Oder besser gesagt, um das Göttliche der Heiligen Schriften zu erkennen und zu verstehen, braucht man den diesen Geist. Ohne Heiligen Geist würde man in der Bibel nichts anderes sehen als die menschliche Oberfläche. Das Studium der Bibel muss also durch eine entsprechende Lebenswandlung begleitet werden, damit der Heilige Geist immer mehr im Herzen des Lesers „wohnen“ kann. Die Fähigkeit, die Heiligen Schriften zu verstehen, wächst also mit dem Wachsen der persönlichen Heiligkeit des Lesers, sodass auch die Bedeutungen der Heiligen Schrift mit dem Leser wachsen. Die hier erwähnten Kriterien bildeten die Rahmenbedingungen für die individuelle Aneignung der Heiligen Schriften in der christlichen Antike. Ein schönes Beispiel kann man in der ersten Predigt des Origenes zum Hohelied sehen: „Wie wir durch Moses gelernt haben, dass es einiges gebe, was nicht nur heilig, sondern ein Heiliges der Heiligen ist, und anderes, was nicht nur Sabbat, sondern Sabbat der Sabbate ist, so werden wir jetzt durch den Schriftsteller Salomo belehrt, dass es etwas gebe, was nicht nur ein Lied, sondern ein Lied der Lieder ist. Selig der, welcher in das Heilige eingeht, aber seliger der, der ins Heilige der Heiligen eingeht. Selig, wer die Ruhe des Sabbats hält, aber seliger der, welche die Ruhe des Sabbats der Sabbate hält. Ebenso ist selig der, welcher die Lieder versteht und singt; denn niemand singt sie außer bei Festlichkeiten; aber viel seliger der, welcher das Lied der Lieder singt. Und wie dem, welcher in das Heilige ein-
Individuelle Aneignung von Heiligen Schriften in der christlichen Antike 57 geht, doch noch mehreres fehlt, um ins Heilige der Heiligen eingehen zu können, und wie der, welcher den Sabbat feiert, der von dem Herrn für das Volk geordnet ist, noch viele Dinge nötig hat, um den Sabbat der Sabbate zu halten; ebenso ist es schwer, den zu finden, welcher, nachdem er alle Lieder durchwandert, welche in der heiligen Schrift enthalten sind, zum Lied der Lieder aufzusteigen vermag. Man muss aus Ägypten durch das Rote Meer gehen, um das erste Lied singen zu können (2. Mose 15,1): „Ich will dem Herrn singen, denn er hat eine herrliche Tat getan.“ Magst du aber auch das erste Lied gesungen haben, so bist du doch noch weit entfernt von dem Lied der Lieder. Durchwandere geistlicher Weise das Land der Wüste, bist du kommst an den Brunnen, welchen die Könige gegraben haben, um daselbst das zweite Lied zu singen (4. Mose 21,16–18). Nachher komme an die Grenze des heiligen Landes, um über dem Ufer des Jordan stehend das Lied Moses zu singen (5. Mose 32,1): „Merket auf, ihr Himmel, ich will reden, und die Erde höre die Rede meines Mundes.“ Dann ist es wieder nötig, dass du in den Krieg ziehest und das heilige Land zum Erbe einnehmest, und die Biene dein Prophet sei und die Biene dein Richter sei – denn Deborah heißt Biene –, damit du auch jenes Lied singen könnest, das im Buche der Richter (Kap. 5) enthalten ist. Dann steige zum Buche von den Königen auf und komme zu dem Lied, als David floh aus der Hand aller seiner Feinde und aus der Hand Sauls und sagte (2. Sam. 22, 1.2): „Der Herr ist mein Fels und meine Burg und mein Erretter.“ Kommen musst du dann zu Jesaja, um mit ihm zu sagen (5,1): „Ich will meinem Lieben ein Lied singen von meinem Weinberg.“ Und wenn du alles zusammen durchgegangen hast, so steige zu noch Höherem, damit du aus reiner Seele mit dem Bräutigam singen könnest auch dies Lied der Lieder.“4
Die Liebesgedichte werden allegorisch umgedeutet („decor“-Prinzip: Die menschliche Sexualität sei für Gott unwürdig, muss also allegorisch verstanden werden), es handelt sich nun um die Beziehung zwischen Gott/Logos und der Kirche/individuelle Seele. Der Titel „Lied der Lieder“ wird durch ähnliche Ausdrucksweisen im Alten Testament erklärt („König der Könige“, „Sabbat der Sabbate“) und bedeutet „das höchste Lied“ („auctorem per auctorem“-Prinzip). Es bezieht sich damit auf alle Lieder, die im Alten Testament enthalten sind und bezeichnet eine Steigerung zu Gott hin („auctorem per auctorem“ und „utilitas“Prinzip). Derjenige, der alle Lieder gesungen hat (d. h. der die verschiedenen Prüfungen durchlaufen hat und jetzt so weit im Geist gewachsen ist), kann jetzt zum Höchsten Lied kommen („similis similem“-Prinzip), d. h., er kann sich auf die mystische Einigung mit dem göttlichen Logos vorbereiten.
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Die Aneignung des Neuen Testaments Die individuelle Aneignung des Neuen Testaments war wesentlich einfacher. Der christliche Sinn ist vorhanden und benötigt nur eine persönliche Anwendung. Ein klassisches Beispiel dafür liefert Augustinus in seinen Confessiones: „Als ich so in tiefschürfender Betrachtung mein ganzes Elend aus seinem geheimen Grunde hervorzog und vor die Augen meines Geistes stellte, da erhob sich ein gewaltiger Sturm, der einen ungeheuren Tränenregen mit sich führte. Und um ihn auch in Worten sich völlig austoben zu lassen, stand ich auf und ging von Alypius weg; denn die Einsamkeit schien mir zum Weinen geeigneter. So weit ging ich fort, dass mir seine Anwesenheit nicht mehr lästig sein konnte. Denn so war damals meine Stimmung, und jener fühlte es. Ich hatte wohl einige Worte gesprochen, deren Ton tränenschwer klang, und so war ich aufgestanden. Er blieb also, wo wir gesessen hatten, vor Staunen ganz außer sich. Ich aber warf mich, ohne zu wissen wie, unter einem Feigenbaume auf den Boden und ließ meinen Tränen freien Lauf; und wie Ströme brach es aus meinen Augen hervor, dir ein wohlgefällig Opfer; zwar nicht mit denselben Worten, aber doch in demselben Sinne sprach ich zu dir: „Und du, o Herr, wie lange noch?“ „Wie lange noch wirst du zürnen bis zum Ende? Sei unserer vorigen Missetaten nicht eingedenk!“ Denn ich fühlte, wie sie mich festhielten, und stieß die Klagelaute aus: „Wie lange noch? Wie lange noch: Morgen und immer wieder morgen? Warum nicht sogleich? Warum soll diese Stunde nicht das Ende meiner Schande bedeuten?“ So sprach ich und weinte in der größten Bitterkeit meines Herzens. Und siehe, ich höre da aus dem benachbarten Hause die Stimme eines Knaben oder eines Mädchens in singendem Tone sagen und öfters wiederholen: „Nimm und lies, nimm und lies.“ Sogleich veränderte sich mein Gesichtsausdruck, und aufs angestrengteste begann ich nachzudenken, ob etwa die Kinder bei irgendeinem Spiele etwas Derartiges zu singen pflegten, aber ich entsann mich nicht, jemals solches gehört zu haben. Da hemmte ich den Strom meiner Tränen und stand auf; konnte ich mir doch keine andere Erklärung geben, als dass eine göttliche Stimme mir befehle, die Schrift zu öffnen und das erste Kapitel, auf das ich gestoßen, zu lesen. Denn ich hatte von Antonius gehört, dass für ihn bestimmend gewesen sei eine Stelle im Evangelium, auf die er zufällig gestoßen war, gleich als ob ihm die Worte gälten: „Gehe hin, verkaufe alles, was du hast, gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach“ – und dass er sich auf diesen Ausspruch hin sogleich zu dir bekehrt habe. Daher kehrte ich eiligst auf den Platz zurück, wo Alypius saß; denn dort hatte ich die Briefe des Apostels liegen lassen, als ich aufgestanden war. Ich griff nach ihnen, öffnete sie und las für mich das Kapitel auf das zuerst meine Augen fielen: „Nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Schlafkammern und
Individuelle Aneignung von Heiligen Schriften in der christlichen Antike 59 Unzucht, nicht in Zank und Neid; sondern ziehet den Herrn Jesum Christum an und pfleget nicht des Fleisches in seinen Lüsten“. Ich wollte nicht weiter lesen, es war auch nicht nötig; denn bei dem Schlusse dieses Satzes strömte das Licht der Sicherheit in mein Herz ein, und alle Zweifel der Finsternis verschwanden.“5
Augustinus befindet sich an dieser Stelle in einer schwierigen Phase seines Lebens. Er überlegt, ob er sein Leben ändern und sich taufen lassen sollte. Diese Entscheidung für das Christentum bedeutete für ihn gleichzeitig den Abbruch seiner beruflichen Karriere. In dieser Situation hört er die Stimme eines Kindes („tolle lege“ = „nimm und lies“). Er öffnet das Buch der Briefe von Paulus, seine Augen fallen auf eine Textstelle im Römerbrief6 und er versteht den Text, als wäre er für ihn geschrieben worden. Er überwindet seine Ratlosigkeit und entscheidet sich für die Taufe. Das Besondere in diesem Text ist also die Tatsache, dass Augustinus in jenem paulinischen Text eine sehr persönliche Bedeutung findet, die in jenem Zeitpunkt sein Leben verändert. Das Beispiel von Augustinus lässt aber auch ein weiteres Problem erkennen: Bis wohin darf man gehen mit diesen individuellen Interpretationen der Heiligen Schriften und ab wann werden sie Ausdruck reiner Willkür? Wie schon oben erwähnt, galten die Heiligen Schriften in der christlichen Antike als Zeugnisse für den Logos Gottes, für Jesus Christus. Die Schriften dürfen nicht rein privat ausgelegt werden, sondern innerhalb einer lebendigen Tradition, die zu den Aposteln zurückzuführen ist: „Bedenkt dabei vor allem dies: Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet.“7 Dieses Spannungsfeld zwischen individualistischen Tendenzen und Gemeinschaftsanforderungen wird in einem Kapitel der „Vita Antonii“ des Athanasius deutlich: „Wieder besuchte er die Kirche und hörte im Evangelium den Herrn sprechen: „Sorget euch nicht um das Morgen“; da brachte er es nicht über sich, länger zu warten, sondern er ging hinaus und gab auch den Rest den Bedürftigen. Die Schwester vertraute er bekannten, zuverlässigen Jungfrauen an und brachte sie in einem Jungfrauenhaus zur Erziehung unter; er selbst widmete sich von nun an vor seinem Hause der Askese, hatte acht auf sich und hielt sich strenge. Denn es gab damals in Ägypten noch nicht so zahlreiche Klöster, und von der
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großen Wüste wusste der Mönch überhaupt nichts; jeder, der an seiner Vervollkommnung arbeiten wollte, übte sich darin nicht weit von seinem Heimatsorte, und zwar allein. Nun lebte damals in dem nahen Bezirke ein alter Mann, der von Jugend auf ein Einsiedlerleben führte. Diesen sah Antonius und eiferte ihm im Guten nach; damals fing er auch zuerst an, sich in der Umgebung des Dorfes aufzuhalten. Von hier wanderte er, wenn er von einem trefflichen Manne hörte, zu diesem, suchte ihn auf wie eine kluge Biene, kehrte nicht eher an seinen Wohnsitz zurück, bis er ihn gesehen hatte und ging erst heim, nachdem er von ihm gleichsam eine Wegzehrung erhalten für seinen eigenen Pfad zur Tugend. Die Anfänge verlebte er hier und festigte seine Gesinnung, um nicht zu seinem elterlichen Besitz zurückzukehren, noch sich seiner Verwandten zu erinnern. Seine ganze Sehnsucht aber und seinen ganzen Eifer richtete er auf die Anspannung in der Askese. Dabei beschäftigte er sich mit Handarbeit, da er gehört hatte: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“; einen Teil des Lohnes verbrauchte er für Brot, den anderen verwandte er für die Armen. Er betete beständig, da er gelernt hatte, dass man für sich allein unaufhörlich beten müsse. Bei der Vorlesung der Schrift war er so aufmerksam, dass ihm kein Wort entfiel; vielmehr behielt er alles bei sich, und sein Gedächtnis ersetzte ihm so die Bücher.“8
Athanasius beschreibt das Leben des Heiligen Antonius als Modell für die Mönche und im Grunde für alle Christen, die das Christentum ernst nehmen. Er erzählt9, wie Antonius entschieden hat alles zu verlassen, nachdem er in der Kirche den Text von Matthäus 19,21 gehört hat. Als er dieses Wort hörte, nahm er es an, als wäre es für ihn gesagt worden. Hier gibt es eine Ähnlichkeit mit Augustinus. Athanasius aber sagt, dass das Evangelium in der Kirche vorgetragen worden war. Das ist kein Zufall; damit wollte Athanasius sagen, dass die Kirche der Ort ist, wo man das Evangelium richtig verstehen kann. Schlussbetrachtungen In der Antike erfolgt die individuelle Aneignung der Heiligen Schriften größtenteils durch die Anwendung der traditionellen rhetorischen hermeneutischen Prinzipien auf den neuen Gegenstand. Damit aber die gemeinschaftliche Identität nicht verloren geht, werden zusätzliche Prinzipien entwickelt, die das Zusammenhalten der Kirche gewährleisten sollen. Die individuelle Aneignung biblischer Inhalte soll innerhalb bestimmter Grenzen geschehen. Es handelt sich um die sogenannte „regula fidei“ (Glaubensregel), eine Art Zusammenfassung der wichtigsten Punkte des christlichen Glaubens. Nach dem vierten Jahrhundert mün-
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det die „regula fidei“ in den offiziellen Dogmen (Glaubensbekenntnissen) der Kirche. Diese Glaubenbekenntnisse geben die Rahmenbedingungen, in denen jede persönliche Interpretation geschehen muss. Das Leben der einzelnen Christen kann anderseits auch als lebendige Darstellung der Heiligen Schriften gelten. Es handelt sich um die sogenannten „Heiligen“: Sie lassen sich in ihrem Leben vom Heiligen Geist führen; so sehr, dass ihr Beispiel als lebende Interpretation des Evangeliums bezeichnet werden kann10.
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Orthodoxes Christentum und Individuum: Verhängnisvolle Affäre oder produktive Interaktion? Einführung Hat das Individuum in der Tradition des Orthodoxen Christentums nichts zu suchen? Oder sind die von der Orthodoxie mehrheitlich beeinflussten Kulturen gemeinschaftlicher strukturiert und organisiert als diejenigen im Westen, die eher vom Lateinischen Christentum (sowohl dem Protestantismus als auch dem Römischen Katholizismus) historisch geprägt sind und deswegen stärker individuelle Tendenzen aufweisen? Diese Fragen mögen vielleicht für einen empirisch arbeitenden Religionswissenschaftler wenig aussagekräftig sein, denn man weiß bereits seit langem aus zahlreichen Studien, dass sowohl gemeinschaftliche als auch individuelle Aspekte in den Religionen nicht gegeneinander auszuspielen sind und dass beide vorhanden sind, wenngleich nicht mit derselben Intensität. Religion ist also sowohl als subjektives, individuelles Erlebnis (gelebte Religiosität) als auch als gesellschaftliche Realität zu verstehen und zu beobachten.1 Wirft man jedoch einen näheren Blick auf verschiedene gegenwärtige, dominante und verbreitete orthodox-christliche Diskurse, dann wird sofort deutlich, dass der Begriff „Individuum“ und alles, was damit verbunden ist (zum Beispiel Individualität, Individualismus, Individualisierungsprozesse), immer oder überwiegend negativ besetzt sind. Es wird etwa behauptet, die orthodoxe Tradition des Ostens sei traditionell kommunitaristisch und gemeinschaftlich orientiert und sei nicht oder zumindest sehr begrenzt individualitätsfördernd. Die moderne Individualität sei ferner im Wesentlichen ein historisches Produkt Westeuropas und ist aufs Engste mit der Tradition des Lateinischen Christentums verbunden. Schließlich brauche die Orthodoxie diese Art von Individualität nicht, weil diese mit den Problemen und der Krise der westlichen Welt in der Moderne eng gekoppelt sei. Die Orthodoxie stelle genau das Gegenteil dar, nämlich eine nicht-individuell geprägte Kultur als we-
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sentlichen Vorteil, der um jeden Preis aufrechterhalten werden müsse. Es ist schon deutlich, dass der Ost-West-Gegensatz und die entsprechende Differenzierung der beiden christlichen Welten hier entscheidend sind und zwar mit weitreichenden Konsequenzen (und nicht nur in religiöser Hinsicht). Diese Thematik gehört ohnehin zu den meistdiskutierten in orthodoxen Kulturen in den letzten Jahrzehnten.2 Damit ist oftmals ein offener oder latenter Kulturvergleich verbunden, insbesondere was die Stärken der eigenen orthodoxen Kultur gegenüber der westlichen anbelangt. Es geht also nicht bloß um die historische Trennung der Kirchen in Ost und West aufgrund von theologischen und anderen Differenzen, sondern um einen gezielten Versuch, die Überlegenheitskriterien der eigenen Kultur gegenüber der fremden zu lokalisieren und angemessen zu deuten. Das Schema „östliche Gemeinschaftlichkeit versus westliche Individualität“ stellt einen üblichen derartigen Topos dar und zwar jenseits der möglichen religiösen Dimensionen der Ost-West-Trennung. Wertende Vergleiche der unterschiedlichen Lebensweisen in Ost und West in Sachen Individualisierungsgrad sind daher die Regel. Es sei mir gestattet, hier folgende Geschichte kurz zu erzählen: In einem Gespräch mit einer Ukrainerin vor einigen Jahren in Deutschland wurde mir die Frage gestellt, ob ich das bekannte Märchen von „Hänsel und Gretel“ der Brüder Grimm kenne und ob mir etwas aus dieser Geschichte besonders auffiele. Das Märchen ist natürlich weltbekannt, aber ich konnte mich – ehrlich gesagt – an nichts Außergewöhnliches oder Besonderes in dieser Geschichte erinnern. Dabei wurde ich auf den Anfang der Geschichte und speziell auf das Verhalten der Eltern, insbesondere der Mutter, gegenüber ihren Kindern, Hänsel und Gretel, hingewiesen. Was hatten denn eigentlich die Eltern gemacht? Sofort ist mir dann die Verbindung des Märchens mit dem Thema Individualität vs. Gemeinschaftlichkeit klar geworden, das für meine Gesprächspartnerin offensichtlich enorm wichtig war. Gemäß der Märchenerzählung steckten die Eltern in großen finanziellen Schwierigkeiten, und ein Überleben unter diesen Umständen als Familie war nicht möglich. Deshalb überredete die Frau ihren Mann, die Kinder loszuwerden. Anschließend hatten beide die Kinder in den Wald geführt und sie dort allein gelassen, so dass diese nicht mehr zur Familie zurückkehren konnten. In den Augen meiner Gesprächspartnerin war dieses Verhalten der Höhepunkt eines westlichen egoistischen Individualismus, der in der eigenen osteuropäischen Kultur keineswegs zu finden wäre. In der Ukraine – so meinte sie –
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würde man in einer solchen Situation nie die Kinder einfach „entsorgen“. Im Gegenteil würden die Eltern selbst ihr Leben aufopfern, damit die Kinder weiterleben könnten! Märchen spiegeln in der Regel die Mentalität der Menschen und die gesellschaftlichen Werte wider, und gerade daher brachte meine Gesprächspartnerin das obige Märchen mit dem Individualismus in einer westlichen Kultur in engem Zusammenhang. Diese einfache Deutung des bekannten Märchens, gekoppelt an einen wertenden Ost-West-Vergleich, kann natürlich nicht ohne Gegenrede bleiben. Aber das egoistische bzw. egozentrische Verhalten der Mutter bzw. beider Eltern zu Beginn der Geschichte ist in der Tat erstaunlich, wenn man Familienwerte und entsprechend geprägte Traditionen in Betracht zieht. Es gibt eine weitere Fassung des Märchens, nach der diese Tat auf den bösen Charakter der Stiefmutter der Kinder zurückgeht, die die Kinder hasst und ihren Vater sogar entsprechend beeinflusst. Jedoch ist die Version mit den leiblichen Eltern, die die Kinder aufgrund der Verhungerns der Familie aussetzen, die ältere und dominantere. Gemäß dem Märchen zeigen zwar die Eltern später Reue für ihre anfängliche und unmenschliche Tat und machen sich Sorgen um ihre Kinder, wobei die ganze Geschichte am Ende mit der Wiedervereinigung der Familie und dem Aufhören der Not glücklich endet. Trotzdem bleibt es schwer, die Handlung und die Motive der Eltern zu Beginn der Geschichte aus einer anti-individualistischen Perspektive nachzuvollziehen. Reicht aber all dies als „Beweis“ für den übermäßigen westlichen Individualismus, der der östlichen Gemeinschaftlichkeitstradition entgegenläuft? Sicherlich nicht, jedoch sind wiederum die Differenzen zwischen Ost und West im Bereich der Familienbande und der damit verbundenen Werte nicht zu leugnen. Die Großfamilie ist zum Beispiel noch eine etablierte Tradition in verschiedenen Ausprägungen im orthodoxen Ost- und Südosteuropa, die starke gemeinschaftliche Aspekte aufweist und die im modernen Westen nicht auf dieselbe Weise zu finden ist.3 Modelle zur gesellschaftlichen Organisation auf der Basis von solchen Gemeinschaftlichkeitstraditionen finden sich reichlich in Ostund Südosteuropa in der Moderne, und zwar als Gegensatz zu westlichen Modellen. Dies bedeutet wiederum nicht, dass Individualisierungsprozesse keinen Eingang in Ost- und Südosteuropa gefunden haben. Ähnliche Differenzen lassen sich aber zwischen westlichen und islamischen Kulturen beobachten, weil letztere auf einem stark gemeinschaftlichen Hintergrund fußen. Kurzum: Es gibt sicherlich Differenzen in diesem Punkt zwischen den verschiedenen Kulturen, jedoch besteht die Gefahr,
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diese Differenzen zu ideologisieren, geschichtliche Ereignisse zu idealisieren und wertende Rückschlüsse daraus zu ziehen. Dies ist es auch, was sehr oft mit der Rolle der Religion in diesem Kontext passiert und speziell in Bezug auf die orthodoxe Anti-Individualität. Um meine Hauptthese in diesem Aufsatz vorwegzunehmen: Die orthodoxen anti-individuellen Diskurse sind sehr ideologisch gefärbt und weisen oft einen ahistorischen Charakter auf, daher müssen sie einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Man kann die verschiedenen, in der orthodoxen Geschichte und Kultur stattgefundenen Individualisierungsprozesse und deren vielfältige Konsequenzen nicht einfach ignorieren. Andererseits sind diese Entwicklungsgänge meistens lokal geprägt und nicht unbedingt immer mit entsprechenden westlichen Prozessen identisch, trotz Parallelen und Analogien. Generell sollten also die Unterschiede zwischen orthodoxem Osten und lateinischem Westen im vorliegenden Thema nicht geleugnet werden. Individualisierung und das Christentum: ein Ost-West-Vergleich Beginnen wir aber mit einem schematischen Vergleichsversuch zwischen dem Orthodoxen und dem Lateinischen Christentum in puncto Individualität und Individualisierung. Ohne gemeinsame Elemente leugnen zu wollen, lassen sich einige grundlegende Differenzen zwischen den beiden beobachten und zwar aufgrund von unterschiedlichen Entwicklungen insbesondere ab dem vierten Jahrhundert. Nicht zu übersehen ist zuerst, dass das Christentum als neue Religion, trotz seines stark gemeinschaftlichen Charakters, auf vielfältige, doch unvorhergesehene Weise einen wesentlichen Beitrag für den Individualisierungsprozess leistete. Dies hatte mit der erhöhten Betonung der Innerlichkeit zu tun, denn das Christentum legte besonderen Wert auf den inneren Menschen und die damit verbundene Internalisierung der Betrachtungsperspektive. Die innere, subjektive und geheime Absicht bekam somit eine zentrale Bedeutung und wurde zu einem Schlüsselfaktor in der Bewertung der einzelnen Person. Was man im Geheimen will, denkt oder vorhat, wurde genauso oder vielleicht sogar wichtiger als die eigentliche Tat betrachtet.4 Ein weiteres Beispiel: Die ersten christlichen Mönche, wie die Eremiten und Anachoreten, waren im Grunde genommen „außerweltliche Individualisten“. Zwar standen sie gemäß ihren eigenen Überzeugungen, Gedanken und Praktiken in
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enger Gemeinschaft zu Gott und der himmlischen Welt, doch wich ihre weltabgewandte Lebensführung radikal von bestehenden sozialen Normen und Mustern ab und wies deutliche individuelle Züge auf. Die spätere Erscheinung des Koinobitentums hing mit der zunehmenden Organisation der Mönche in klösterlichen Gemeinschaften zusammen und zwar unter der Führung eines Vorstehers (Abtes) und einer geordneten Lebensweise durch Mönchsregel, wie diejenige von Pachomios, entstanden um 325. Eine solche Disziplinierung des Mönchslebens hatte natürlich einen unmittelbaren Einfluss auf die individuellen mönchischen Lebensweisen, obwohl die Spannung zwischen den beiden Richtungen mönchischen Lebens auf die Dauer geblieben ist. Ein bekannter Erforscher von Individualisierungsprozessen, Louis Dumont, meinte, dass die moderne innerweltliche Individualität eine Transformation der außerweltlichen Individualität des frühen Christentums sei. Das Individuum sei im frühen Christentum hauptsächlich außerweltlich verortet gewesen; das heißt, es stand außerhalb der bestehenden soziopolitischen Ordnung und Strukturen, die es generell in Frage stellte. Jedoch wurde diese christliche außerweltliche Individualität stufenweise in eine innerweltliche umgewandelt, sobald das Christentum im vierten Jahrhundert an enormer soziopolitischer Bedeutung gewann und die offizielle Religion des Römischen Reiches wurde.5 Dementsprechend hat das Christentum zwar einen gemeinsamen Hintergrund in der ganzen Thematik, doch lassen sich früh genug wichtige Differenzierungen zwischen Ost und West deutlich beobachten. Hier sei auf das bekannte Werk Confessiones (Bekenntnisse) von Augustinus (354–430) hingewiesen, das zwischen 397 und 400 verfasst wurde. Es handelt sich um ein autobiographisches Buch voller Selbstreflexion und Selbstkritik, das eine Epoche christlicher Autobiographie im Westen initiierte und nachhaltige Einflüsse auf spätere Generationen hatte. Das Werk ist ein offener Brief adressiert an Gott, gekoppelt mit einer ständigen Suche nach dem Ich und einer Kritik an den jüngeren Fehlern des Autors. Hauptziel dieser Selbstbetrachtung ist eine bessere Selbsterkenntnis wie auch letztendlich die Danksagung an und die Vergebung durch Gott. Das Werk gilt verständlicherweise als Meilenstein in der westlichen autobiographischen Tradition und dem Diskurs um Individualität und Subjektivität, denn alle späteren Autobiographen (zum Beispiel Jean-Jacques Rousseau) beziehen sich explizit auf dieses Werk oder kennen es zumindest.
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Interessanterweise finden wir im orthodoxen Osten weder zu jener Zeit noch später ein analoges Werk. Das einzige vergleichbare Werk wäre das in griechischer Sprache verfasste autobiographische Gedicht De vita sua von Gregor von Nazianz (ca. 329–390), in dem ebenfalls eine ganze Menge von subjektiven Gefühlen, Motiven und Wünschen enthalten ist. Beide Selbstporträts sind ohnehin in der ersten Person geschrieben und erzählt. Aber wiederum unterscheidet sich Augustinus’ Autobiographie davon, indem sie den Schwerpunkt des Interesses von dem Schauplatz der Geschichte auf den des inneren Menschen verlagert. Das innere Ich wird demgemäß einer intensiven psychologischen Analyse unterzogen, die die geheimen, tieferen Dimensionen seiner Existenz systematisch offenlegt. Augustinus geht also von einer psychologischen, internalisierten Perspektive seines Lebens, der Geschichte, der Welt und der Zeit aus, die letztendlich durch die Qualität seiner Prosa imponiert. Diese gezielte Intensität der internalisierten Perspektive finden wir aber nicht so ausgeprägt in der Autobiographie von Gregor von Nazianz. Fest steht außerdem, dass letzteres Werk keine so besondere Rezeption im Osten erlebte wie die Autobiographie von Augustinus im Westen. Der stärker einsetzende Individualisierungsprozess im Westen lässt sich zudem in vielen anderen Fällen beobachten. Dies ist der Fall etwa bei Boethius (ca. 480–524/5), einem spätantiken römischen Gelehrten, neoplatonischen Philosophen und Theologen. Für ihn waren die Begriffe „Person“ und „Individuum“ identisch, wobei die Person als die unteilbare Substanz (substantia individua) einer vernunftbegabten Natur oder Gattung definiert wurde. Auch bei dem großen Theologen und Philosophen der Scholastik Thomas von Aquin (1225–1274), der Boethius kannte und kommentierte, wurde das Individuum einer vernünftigen Gattung durch Selbstbestimmung gekennzeichnet und Person genannt. Gewissen und Vernunft galten für ihn als Bedingungen für die eigene Individualität.6 Generell kann man auch behaupten, dass die gesamte soziopolitische, ökonomische, geistige und religiöse Entwicklung des Abendlandes in der Spätantike und im Mittelalter die stärkere Entfaltung von individuellen Tendenzen und Richtungen begünstigte. Die überlieferte christliche Tradition wurde nicht bloß übernommen und akzeptiert, sondern stets neu reflektiert und interpretiert. Dies wurde nicht als Verstoß gegen die Tradition verstanden, sondern als ein legitimer Weg, das depositum fidei neu zu fundieren, wie etwa mittels der theologischen Vernunft (ratio theologica). Es versteht sich von selbst, dass dieser Weg der Hermeneutik der christlichen Tradition markante individuelle Züge trug. Die-
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se Entwicklungen wurden durch die strukturellen Voraussetzungen und Grundlagen der damaligen abendländischen Gesellschaften erheblich nachgeholfen und vorangetrieben, wie etwa durch den gesellschaftlichen Pluralismus, die fehlende politische Zentralisierung, die Etablierung von neuen Wissensanstalten wie den mittelalterlichen Universitäten sowie die höhere Ideenvielfalt. Es ist kein Zufall, dass diese Individualität im mittelalterlichen Westen mit einer Fülle von ständigen Neuerungen in enger Verbindung stand, von der Theologie bis zur sakralen Kunst. Innovationen waren immer das Produkt von individuellen Entwürfen, die das bereits Etablierte durchbrachen und ständig nach dem Neuen suchten. Dieser lange Prozess war keineswegs reibungslos und die RömischKatholische Kirche als die stärkste religiöse Institution sah sich gezwungen, in vielen Fällen zu intervenieren, Maßnahmen zu ergreifen und ihre Kontrollmechanismen einzusetzen. Langfristig blieben jedoch die Konfliktmomente dauerhaft und prägend (wie etwa zwischen Papsttum und Kaisertum), was immer wieder die Möglichkeit des individuellen Weges sowie unterschiedliche Optionen offen ließ. Das historische Phänomen der Renaissance im fünfzehnten Jahrhundert ist zum Beispiel ein Produkt von individuellen Suchen, Richtungslinien und Leistungen im damaligen pluralen Feld und kann ohne die frühere, lange Tradition von Innovationen im Abendland nicht erklärt werden. Die Reformation des sechzehnten Jahrhunderts durch Martin Luther stellte eigentlich eine weitere Etappe im westlichen Individualisierungsprozess dar, denn sie war gleichzeitig ein entscheidender Bruch für die Entwicklung der modernen Individualität in mehrfacher Hinsicht. Es ist kein Zufall, dass gemäß einigen bekannten Theorieansätzen (von M. Weber, E. Troeltsch u.a.) die Reformation mit der Genese der modernen Welt in enge, kausale Verbindung gebracht wird. Die Reformation an sich ist wiederum ohne die früheren Entwicklungen im westlichen Mittelalter nicht denkbar. Sie war aber hauptsächlich im religiösen Bereich bahnbrechend, indem sie die Beziehung des Gläubigen zu Gott grundsätzlich änderte. Aufgrund der Opposition zur Römisch-Katholischen Kirche wurde diese Beziehung stark individuell definiert und begriffen und zwar ohne die Vermittlung von anderen Instanzen (zum Beispiel der Institution Kirche, der Gottesmutter oder der Heiligen). Dies bedeutete letztendlich einen wesentlichen Bruch mit der bisherigen christlichen Tradition, denn es ging nunmehr um einen individuellen Zugang zum Heil. Für einen anderen Reformator, Calvin, war die Kirche keine holistische Institution, sondern eine Gruppe von Individuen und ein
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Disziplinierungsinstrument. Die Etablierung dieser neuen christlichen Individualität trug wesentlich zur Pluralisierung des Christentums bei und löste natürlich eine Welle von weiteren ähnlichen Prozessen aus und zwar nicht nur im religiösen Bereich. Die moderne Individualität wird daher sehr oft als eine spätere Säkularisierung dieser ursprünglich religiös geprägten Prozesse verstanden. Es stellt sich jetzt die Frage, wie die ganze Situation im orthodoxen Osten aussah. Hier muss man betonen, dass die gesamte Struktur des Oströmischen bzw. Byzantinischen Reiches eine andere war und blieb, daher konnte sie das Aufblühen von individuellen Suchen und Tendenzen keineswegs so stark begünstigen. Zudem war im religiösen Bereich nach dem achten Jahrhundert eine starke Hinwendung zur überlieferten Tradition, zum bereits etablierten Dogma und zu den Autoritäten der Vergangenheit zu verzeichnen, die nie mehr in Frage gestellt werden konnten. Deswegen hat das Byzantinische Reich nie die Entwicklungen erleben können, die das Bild des mittelalterlichen Westens in mehreren Bereichen schlagartig änderten. In diesem generell traditionalistischen Rahmen blieb die Entfaltung von individuellen Entwürfen eher begrenzt und ohne nachhaltigen Einfluss. Die Psychoanalytikerin und Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva schlug in diesem Rahmen eine moderne Deutung der trinitarischen theologischen Debatte um das filioque (d.h. über den Ausgang des Heiligen Geistes nicht nur aus dem Vater, sondern auch aus dem Sohn) vor, das die mittelalterliche Christenheit in Ost und West sehr beschäftigte. Hinter der Akzeptanz des filioque von der lateinischen Kirche spürte Kristeva eine Revolte des Sohnes gegen den Vater, der somit seine eigene Individualität beansprucht. Die Ablehnung des filioque im orthodoxen Osten weise aber auf das Verschwinden des Ichs des Sohnes – das überhaupt nicht zum Tragen kommt und somit die dortige fehlende Autonomie und Individualität unter Beweis stellt – hinter der Autorität des Vaters hin. Diese Kennzeichen lassen sich auf die jeweiligen Gläubigen, Kirchen und Kulturen übertragen, die sich in puncto Individualität erheblich unterscheiden.7 Abgesehen von der interessanten, gleichwohl umstrittenen Deutung dieser theologischen Differenz zwischen Ost und West, sollte zudem nicht vergessen werden, dass im orthodoxen Osten nie eine Reformation stattfand, eine Tatsache, die den Individualisierungsprozess dort überhaupt nicht förderte. Obige kursorische Schilderung der Situation im orthodoxen Osten macht die Schwierigkeiten deutlich, die dem Individualisierungsprozess im Wege standen.8
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Die weiteren Entwicklungen in der Moderne trugen wesentlich zur Artikulierung einer Individualität jenseits der christlichen Kirchen und entsprechender Einflüsse bei. Die moderne Individualität wird als selbstbewusste Autonomie verstanden, oftmals mit einer Enttraditionalisierung und Entbindung von jeglichen Zwangsabhängigkeiten gepaart. Durch die Hinwendung zu sich selbst, die hohe Reflexivität und die Suche nach persönlicher, subjektiver Authentizität bekam das Individuum eine Schlüsselrolle in der Moderne, was den christlichen Kirchen im Westen nicht wenige Probleme verursachte. Jedoch konnten sich, sowohl der Protestantismus als auch später die Römisch-Katholische Kirche, trotz Spannungen und Konflikten, mit der neuen Situation langfristig arrangieren und die Autonomie sowie die Freiheit des modernen Individuums bejahen – der Katholizismus erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965). Das westliche Christentum akzeptierte außerdem verschiedene, damit verbundene Errungenschaften der Moderne, wie die Toleranz, den Pluralismus der Werte und die individuellen Menschenrechte. Diese waren notwendige Schritte, um die Zeitmäßigkeit der christlichen Botschaft aufrechtzuerhalten. Diese wichtige Entwicklung blieb aber aus verschiedenen Gründen im orthodoxen Osten grundsätzlich aus, weshalb die Orthodoxen erhebliche Probleme mit dem „Individuum“ haben. Die orthodoxe Welt lebt in vielerlei Hinsicht noch in einer „vormodernen Situation“, aus der sie Argumente zur Behandlung moderner Probleme speist. Charakteristisch ist hierfür die gegenwärtige orthodoxe Kritik an den individuellen Menschenrechten, die international für Schlagzeilen sorgt. Die Orthodoxie gegen das Individuum: ein kulturgeschichtlicher Überblick Ab wann genau lässt sich die orthodoxe Abneigung und sogar Verwerfung der (westlichen) Individualität beobachten? Die vielfältigen Polemiken zwischen Ost und West in der Geschichte weisen natürlich eine ganze Menge von unterschiedlichen Aspekten auf. Insbesondere nach dem Photianischen Schisma im späten neunten Jahrhundert wird der Westen aus orthodoxer Sicht wegen gefährlicher Innovationen angeprangert, die die bereits etablierte kirchliche Tradition verdrehten. Wie bereits angedeutet, steht Innovation in enger Verbindung zu Individualität, jedoch wurde das letztere Thema nicht explizit und gesondert aus orthodoxer Perspektive behandelt, sondern eher im breiten Rahmen der
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Kritik an den westlichen Devianzen von der rechten christlichen Lehre thematisiert. Interessanterweise gab es aber einige prowestliche Byzantiner, wie Demetrios Kydones (ca. 1324–ca. 1398), die in selbstkritischer Weise über den stufenweise verlaufenden Verfall von Byzanz reflektierten und die die neuen Errungenschaften im Westen bewunderten. Letztere seien unter anderem auf die individuellen Beiträge von Menschen zurückzuführen, die sich jenseits etablierter Autoritäten bewegten und nach neuem Wissen suchten.9 Jedoch gehörten solche selbstkritischen Stimmen zu einer Minderheit im späten Byzanz und konnten daher keinen breiten Einfluss ausüben. Am deutlichsten finden wir aber eine orthodoxe Verurteilung der Konsequenzen des Individualisierungsprozesses im westlichen Christentum nach den ersten Begegnungen zwischen Orthodoxie und Protestantismus. Der protestantische, ausgeprägt individuelle Umgang mit der christlichen Tradition fiel den damaligen Orthodoxen sofort auf und galt in ihren Augen als arbiträr und höchst gefährlich. Für sie war es eigentlich undenkbar, das ganze Christentum erst im sechzehnten Jahrhundert gemäß neuen und subjektiven Kriterien vollkommen neu zu konzipieren und die lange Vergangenheit der kirchlichen Tradition zu übersehen. Insofern war die Kluft zwischen den traditionsbewussten Orthodoxen und den protestantischen Innovatoren von Anfang an unüberbrückbar. Diese Differenzen lassen sich sehr gut dem Briefwechsel von Tübinger protestantischen Theologen mit dem Patriarchen von Konstantinopel Jeremias II. Tranos gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts entnehmen. Der Patriarch erkannte sofort die aus seiner Sicht ernsten Gefahren des theologischen Individualismus und Subjektivismus seiner protestantischen Dialogpartner, die er auch ausdrücklich verurteilte. Der protestantische Geist stehe – so Tranos – nicht still und sei stets auf der Suche nach dem Neuen, was für die Bewahrung der etablierten Tradition höchst prekär sei. Es war also dem Patriarchen klar, dass die Differenzen zwischen den beiden Parteien sehr groß waren, daher hatte die Fortsetzung des Dialogs keinen Sinn mehr und wurde bald abgebrochen.10 Die zunehmende Individualisierung im westlichen Christentum und deren Konsequenzen wurden aus orthodoxer Sicht in der nachfolgenden Zeit stärker thematisiert und zwar als eine weitere Abweichung des verfallenen Westens von der christlichen Wahrheit, die allein die Orthodoxie repräsentierte. Jedoch kam es ab der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu einer weiteren Entwicklung dieser antiwestlichen Kritik am Beispiel der Individualität. Diese Kritik wurde
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zunehmend ideologisiert und jenseits der engen theologischen Grenzen erweitert und mündete nun in einen generellen Kulturvergleich zwischen Ost und West. Ihre theologischen Unterschiede wurden zwar angesprochen, doch wurden sie oftmals uminterpretiert und auf ihre möglichen sozialen und kulturellen Konsequenzen hin untersucht. Konkret ging es um einen Vergleich der westlichen mit der östlichen Lebensweise, Gesellschaft und Zivilisation und den Versuch, die Grundaspekte der jeweiligen Kultur auf typologische Weise zu lokalisieren und angemessen zu deuten. Die Absicht dabei war eine wertende, nämlich die orthodoxe Lebensweise und Kultur als der entsprechenden westlichen besser darzustellen. In diesem Rahmen wurde immer wieder auf die westliche Individualität und deren negative Folgen hingewiesen, wobei diese mit der überlegenen östlichen Gemeinschaftlichkeitstradition kontrastiert wurde. Es handelt sich dabei um einen verbreiteten Topos in der orthodoxen antiwestlichen Kritik, der bis heute noch vermehrt zu finden ist. Die Vertreter dieses Topos sind sehr unterschiedlich und seine diversen Ausprägungen nicht immer miteinander identisch oder kompatibel. Interessanterweise waren solche Ideen in verschiedenen orthodoxen Kulturen einflussreich. Man findet sie unter den russischen Slawophilen, die die echte russische „Seele“ und Kultur unter dem prägenden Einfluss der Orthodoxie und in Abgrenzung zum Westen suchten. Dabei wurde auf die Gemeinschaftlichkeit (obščinost’) und die lange kommunale und kollektive Tradition der slawischen Lebensweise (Großfamilie, Dorfgemeinden, lokale Gemeinschaften, Nomadentum usw.) hingewiesen und zwar im Gegensatz zu modernen städtischen und individualisierten Lebensformen, die aus dem Westen importiert waren. Ein führender Slawophiler, Ivan V. Kireevskij (1806–1856), sprach zum Beispiel über die wesentlichen Unterschiede zwischen westeuropäischer und russischer Sozialorganisation. Er verband die progressive westliche Individualisierung mit weitreichenden negativen Konsequenzen (etwa für die Familie) – all dies im Kontext von parallelen negativen Entwicklungen im Westen (beispielsweise Rationalisierung, Fragmentierung des Weltbilds, mechanistische statt organismische Weltauffassung). „In Rußland dagegen entwickelten sich die Formen des Gemeinschaftslebens, da sie stets das Ganze des Lebens zum Ausdruck brachten, niemals abgesondert und selbständig, vom Leben des gesamten Volkes abgetrennt, und konnten deshalb weder den Familiensinn untergraben, noch die Einhelligkeit der moralischen Entwicklung gefährden.“11
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Ein anderer slawophiler Denker und Theologe, Aleksej S. Cho mjakov (1804–1860), betonte den gemeinschaftlichen, vereinigenden Charakter der Kirche, die nicht als Versammlung von autonomen Individuen verstanden werden sollte. Sein Begriff für die Gemeinschaftlichkeit (sobornost’ ) der Kirche bleibt bis heute sehr prägend für die orthodoxe Theologie insgesamt. Der weltbekannte Schriftsteller, Fёdor M. Dostoevskij (1821–1881), der von der Orthodoxie sehr beeinflusst war und sich gegen den Westen kritisch äußerte, zeigte ebenfalls eine Vorliebe für gemeinschaftliche, kollektive Lebensformen (zum Beispiel Volk, Nation), die ihm im Prinzip als die geschichtlichen Manifestationen des Weltgeistes galten. Individuelle bzw. individualistische Lebensweisen wurden demgemäß als Abfall von dieser idealen Situation betrachtet. Der Philosoph Vladimir S. Solov’ёv (1853–1900), der zwischen Ost und West zu vermitteln trachtete, übte ebenfalls Kritik am westlichen Rationalismus, der Fragmentierung der Welt und dem Individualismus und erkannte die Verbindungen zwischen all diesen Prozessen. Dagegen schlug er das Konzept der „All-Einheit“ (vse-edinstvo) und der Totalität vor und baute darauf seine holistische, ganzheitliche Philosophie, um solche Trennungen und Polarisierungen zu überwinden. Der Philosoph Nikolaj A. Berdjaev (1874–1948) betrachtete ebenfalls die Brüderlichkeit und den Gemeinschaftssinn (kommunitarnost’ ) als Grundkennzeichen der russischen Kultur. Ähnliche Kritiken an der westlichen Individualität und damit verbundenen Kategorisierungen finden sich in etlichen Formen auch in anderen orthodoxen Kulturen im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts, wie etwa in der rumänischen (zum Beispiel beim Theologen Nichifor Crainic, 1889–1972, und beim Philosophen Nae C. Ionescu, 1890– 1940) oder in der serbischen (zum Beispiel bei den Klerikern Nikolaj Velimirović, 1880–1956, und Justin Popović, 1894–1979) Orthodoxie.12 Darüber hinaus wurde der anti-individuelle Topos im Zusammenhang mit der Artikulierung eines orthodoxen Personalismus besonders verbreitet, der sowohl die theologische Reflexion als auch die entsprechenden Kulturvergleiche maßgeblich prägte. In diesem Kontext wurde zwischen den Begriffen „Individuum“ und „Person“ stark unterschieden, denn eine Person wurde stets in Beziehung und in Gemeinschaft stehend verstanden.13 Eine ausführliche orthodoxe theologische, auf der griechischen patristischen Tradition beruhende Aufarbeitung der Person und der Gemeinschaft unternahm John Zizioulas (*1931), einer der international bekanntesten orthodoxen Theologen heute. Der trinitärische
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Gott steht dabei als Vorbild der idealen Gemeinschaft der Liebe, die in der Kirche verwirklicht wird. Eine parallele umfangreiche theologische, zugleich aber philosophische Reflexion über den orthodoxen Personalismus und die Gemeinschaftstradition unternahm auch Christos Yannaras (*1935). Sein gesamtes Oeuvre stellt eine umfassende Kritik der westlichen Individualität dar und baut sich auf dem zentralen Aspekt der Beziehung in Gemeinschaft auf. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Yannaras die individuellen Menschenrechte und die Religion als rein individuelles Phänomen kritisiert. Das Christentum sei für ihn in idealer Form eine Gemeinschaft und keine Religion, wobei seine Religionisierung historisch durch die westlichen Entwicklungen bedingt worden ist.14 Solche Positionen blieben aber nicht unbeantwortet, denn es gibt sogar eine intra-orthodoxe Kritik am Personalismus, der fälschlicherweise auf die gesamte orthodoxe Theologie und Geschichte zurückprojiziert wird. Patristische Texte werden demgemäß anhand moderner Begrifflichkeiten und Theorien (zum Beispiel Existentialismus) gedeutet, was letztendlich in vielen Fällen irreführend sein kann.15 Wie einmal betont wurde, könnte unser Verständnis der trinitarischen patristischen Literatur erheblich verbessert werden, wenn man auf den modernen Begriff „Person“ generell verzichten würde.16 All dies macht deutlich, warum zum Beispiel die Orthodoxie heutzutage mit der liberalen Demokratie, dem freien Individuum und den individuellen Menschenrechten Probleme hat. In der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche von 2000 wurden daher die modernen Entwicklungen im kulturellen und soziopolitischen Bereich, die mit der Emanzipation von Individuen einhergingen, aufs Schärfste kritisiert. Dies käme einer Entfernung von Gott und seinen Geboten gleich. In ihrer Position zu den Menschenrechten von 2008 übte dieselbe Kirche Kritik an der westlichen Konzeption der Menschenrechte, die von der Autonomie des emanzipierten Individuums ausging, und machte am Ende die Menschenrechte von orthodoxen moralischen Prinzipien abhängig. Infolgedessen hat letzteres Papier eine interessante interchristliche Debatte ausgelöst.17 Es muss hier schließlich hinzugefügt werden, dass die anti-individuellen Züge im Osten und Südosten Europas nicht immer direkt mit der Orthodoxie in Verbindung stehen. Man findet auch solche Ideen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bei der sozialen Bewegung der russischen Populisten oder Volkstümmlern (Narodniki), die antikapitalistisch orientiert waren und sich für eine idealisierte und selbst-
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genügsame Agrarökonomie einsetzten. Auch der bekannte Schriftsteller, Lev (Leo) N. Tolstoj (1828–1910), der keine guten Beziehungen zur Russischen Orthodoxen Kirche unterhielt, war, trotz seines moralischen Individualismus und Anarchismus, in einem gewissen Sinne auch antiIndividualist, nämlich in seiner Unterstützung der Brüderlichkeit zwischen den Menschen und in seiner Kritik der Vorstellung vom Menschen als einem ungebundenen, völlig autonomen Wesen. Dies tat er aber nicht aus etwaigen orthodoxen Überzeugungen, sondern aus rationalen Motiven und eudämonistischen Gründen im Kontext seiner eigenen Weltanschauung. Darüber hinaus gab es eine lange und tief verwurzelte kommunitaristische Gemeinschaftsmythologie in Ost- und Südosteuropa, vertreten von verschiedenen Akteuren (von populistischen bis sozialistischen), die oftmals für bestimmte Zwecke instrumentalisiert worden ist. Alternative Modernisierungsparadigmen in puncto Sozialorganisation, die auf einheimischen Modellen beruhten und die die Einführung entsprechender westlicher Modelle bekämpfen sollten, wurden demzufolge angestrebt.18 In der Regel ging es aber um utopische und romantische ideologische Schemata, die die eigene Vergangenheit verherrlichten und die unter den Bedingungen der Moderne nicht verwirklicht werden konnten. Es gibt also im Osten und Südosten Europas eine lange anti-individuelle Tradition, gekoppelt mit einem Streben nach Ganzheit, Gemeinschaft und Vollkommenheit, die sich nicht allein aus der Orthodoxie speist und die teilweise unvorhergesehene Konsequenzen mit sich brachte. Es wurde nämlich behauptet, dass die Einsetzung und Etablierung des sowjetischen Kommunitarismus und Kollektivismus (mit der ausdrücklichen Verehrung des Kollektivs) so erfolgreich sein konnten, weil sie unter anderem von dieser, schon lange existierenden anti-individuellen Tradition in Russland vorbereitet worden waren.19 Gibt es Individualitätsformen im Orthodoxen Christentum? Die Probleme der Orthodoxie mit dem modernen Individuum wurden schon erläutert, genauso wie die vielen anti-individuellen Aspekte orthodoxer Kulturen. An dieser Stelle stellt sich zwangsläufig die Frage, ob demgemäß in der Orthodoxie überhaupt keine Individualitätsformen zu finden sind. Ist also die Orthodoxie gegen Individualisierungsprozesse völlig immun? Die bereits skizzierten Unterschiede zwischen Ost und West sind zwar nicht zu leugnen, auf der anderen Seite wäre es
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aber sicherlich absurd zu behaupten, Individualität sei der Orthodoxie ganz fremd. Die Rede ist hier nicht unbedingt von dem selbstbewussten, emanzipierten modernen Individuum, das im Zentrum aller Entscheidungen steht, sondern von einer Individualität als dem Ort der einzelnen gläubigen Person, die eine bestimmte Religion auf ihre Art und Weise erfährt, sich aneignet und entsprechend handelt, natürlich immer in wechselseitiger Abhängigkeit von der Institution und der Gesellschaft. Fälle von nicht-normgerechtem Verhalten gehören sicherlich zu dieser Kategorie. Im Sinne einer „lokalen Religionsgeschichte“ sollte solchen individuell geprägten und ausgerichteten Fällen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Hier geht es aber mehr um die spezifischen religiösen Akteure, die bestimmend bleiben, und nicht um die Institutionen oder andere Autoritäten. Aus dieser Perspektive lassen sich einige Kategorien von Individualitätsformen auch in der Geschichte des Orthodoxen Christentums beobachten: 20 Zuerst geht es um die praktische Individualität, nämlich die Art und Weise wie eine Religion real praktiziert wird ohne Bezug auf die Anweisungen, Meinungen oder Verbote der Institution. Aus zahlreichen empirischen und anderen Forschungen steht fest, dass die Anhänger einer Religion sehr oft selbständig handeln oder sich eine Religion auf individuelle, distinkte Weise aneignen, und zwar ohne Bezug auf etablierte Traditionen oder unter Missachtung der von der Institution gesetzten Normen. Solche Fälle von Devianz werden von den normativen Instanzen der Kirche als Häresie, Heterodoxie oder Aberglaube verurteilt, doch gehören sie eindeutig zum breiten Repertoire eines religiösen Systems. Hier geht es um die viel diskutierte Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis in den Religionen. Die Geschichte des Orthodoxen Christentums ist voll mit solchen Beispielen einer praktischen Individualität. Über Jahrhunderte und noch bis heute werden zum Beispiel in der griechischen Orthodoxie religiöse Praktiken (zum Beispiel Feuerlaufrituale) vollzogen, die einen vorchristlichen, paganen Hintergrund haben. Trotzdem koexistieren sie problemlos mit der akzeptierten, offiziellen Religiosität und ergänzen sich gegenseitig. Wir sprechen hier von einem Phänomen, das die offizielle Kirche, trotz wiederholter Maßnahmen, weder abschaffen noch kontrollieren konnte. Ähnliches gilt auch in Russland mit dem so genannten „Doppelglaube“ (Dvoeverie), einem Begriff, der auf diese parallele Koexistenz von christlichen sowie von nicht-christlichen Ideen und Praktiken hinweist. Aus heutigen Statistiken wird ebenfalls bestätigt, wie individuell die religiösen Praktiken der Orthodoxen
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artikuliert sind und was genau ihr Glaubensdepot beinhaltet. Die ethnologische Forschung zum Orthodoxen Christentum hat außerdem auf die Vielfalt der „lokalen Orthodoxien“ hingewiesen, die in verschiedenen kulturellen Kontexten existieren und nicht unbedingt miteinander völlig identisch sind. Darüber hinaus und damit verbunden gibt es genügend Fälle von einer moralischen Individualität, nämlich von individuellen Konzepten über Pflicht, Sünde, Strafe, Buße, korrektes rituelles Handeln, und so weiter. Es geht in solchen Fällen um Abweichungen von den kanonischen Normen und Vorschriften der Kirche, die jedoch unter bestimmten Umständen erlaubt sind und die von der offiziellen Kirche toleriert werden. Im orthodoxen kanonischen Recht hat dies hauptsächlich mit dem pastoralen Prinzip der Oikonomia zu tun, nämlich mit einem milden, flexiblen und anpassungsfähigen Umgang mit den Kirchenvorschriften aus philanthropischen Gründen. Ausnahmsweise wird also in konkreten Situationen nach dem Ermessen eines Priesters oder der Institution Kirche auf die akribische Verwendung eines kirchlichen Gesetzes verzichtet. Insofern toleriert man auf milde Weise ein Vergehen, ohne jedoch dieses dauerhaft zu legitimieren. Die Oikonomia ist eigentlich ein Individualitätsprinzip. Es geht nämlich dabei immer um individuelle Fälle, in denen ausnahmsweise ad hoc-Entscheidungen getroffen werden, um den Gläubigen nicht durch harte Strafen aus der Kirche zu entfernen und zu entfremden. Hier geht es um eine besondere orthodoxe Richtung, die historisch gesehen bei den Gläubigen viel beliebter blieb als ein strenger Legalismus, der hauptsächlich im Westen über lange Zeit tonangebend war. Ein weiteres Gebiet stellt die reflexive Individualität dar, nämlich die individuelle Reflexion auf den Glaubensinhalt und die Artikulierung eines individuellen Glaubenssystems – nicht unbedingt in Spannung zur offiziellen kirchlichen Doktrin. Hier geht es um die individuellen Aneignungen der Orthodoxie, und zwar auf einem intellektuell anspruchsvolleren Niveau, die sich deutlich von dem genehmigten Glauben der Kirche distanziert. Elemente aus anderen Religionen oder Weltanschauungen werden auch selektiv ausgewählt und individuell im subjektiven Glaubenssystem verarbeitet. Solche individuellen Konstruktionen werden meistens privat vertreten, was den betroffenen Leuten mögliche Probleme mit der Institution Kirche erspart. Solche Fälle lassen sich in der Geschichte genügend beobachten, auch wenn wir nicht genau alle Details über diese privat vertretenen Glaubenssysteme wissen. Beispie-
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le hierfür: Der gelehrte Bischof von Kyrene Synesios (ca. 370–413), der mit dem Neoplatonismus liebäugelte; der Philosoph und Universalgelehrte Michael Psellos (1018–ca. 1078), der eine eigene Version des Christentums vertrat und der Häresie verdächtig wurde; und der Philosoph Georg Gemistos-Plethon (ca. 1360–1452/4) im späten Byzanz, der schließlich das Christentum verließ und sich für die Neubelebung des Paganismus einsetzte, was seine postume Verurteilung seitens der Kirche zur Folge hatte. Seit dem Beginn der Neuzeit und insbesondere in der Moderne hat aber die Zahl der individuellen religiösen und weltanschaulichen Optionen in der orthodoxen Welt erheblich zugenommen, was auch die Kontrollinstanzen der Institution Kirche teilweise schwächer machte. Schließlich sollte auf das Phänomen der kulturellen Individualität hingewiesen werden, die in der Geschichte des Orthodoxen Christentums auch eine besondere Rolle spielt. Hier geht es um die grundsätzliche Akzeptanz der Individualität im Sinne der Einzigartigkeit, der Besonderheit und des Pluralismus der Kulturen, was, historisch gesehen, die grundsätzliche Bejahung von lokalen Traditionen und Sprachen zur Folge hatte. Dies war die etablierte Tradition im östlichen Christentum und wurde in den verschiedenen Missionen bereits im Byzantinischen Reich wiederholt bestätigt. Klassisches Beispiel für diese Politik und Strategie ist die Mährenmission der byzantinischen Brüder Kyrill und Method im 9. Jahrhundert, die den Beginn der Christianisierung der Slawen markierte. Die beiden Brüder setzten sich für die Übersetzung biblischer und liturgischer Texte in der einheimischen Sprache ein. Somit unterstützten sie maßgeblich die Indigenisierung des Christentums und durch die Schaffung des ersten slawischen Alphabets wurden sie zusätzlich zu Katalysatoren für die Zivilisierung der Slawen. Ihre Politik stieß aber auf die Reaktion der fränkischen christlichen Missionare in der Region, die für die Beibehaltung der lateinischen Sprache und die Homogenisierung der neu christianisierten Völker plädierten. Dabei handelt es sich generell um eine orthodoxe Missionsstrategie, die die Regel war und auch später eingesetzt wurde (zum Beispiel von russischen Missionaren in Zentralasien, Sibirien und Alaska). Als solche zeugt sie eindeutig von dem Glauben an die Individualität der jeweiligen Kulturen.
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Schlusswort Die Besonderheiten der orthodoxen Religions- und Kulturentwicklung mögen zwar Erklärungen für die existierenden anti-individuellen Richtungen liefern, doch können sie die ideologischen Aspekte der verbreiteten anti-individuellen Diskurse weder begründen noch rechtfertigen. Bei näherer Betrachtung wird also sofort erkennbar, dass die moderne orthodoxe Kritik an der (westlichen) Individualität stark ideologisch gefärbt und von einer ahistorischen Perspektive gekennzeichnet ist. Es kann also nicht sein, dass Individualisierung nur mit entsprechenden problematischen Prozessen im Westen assoziiert wird, die angeblich im orthodoxen Osten kaum zu finden sind. Es geht hier, genau wie in anderen relevanten Themen, um fehlerhafte und konstruierte Polarisierungen zwischen Ost und West, ohne jedoch die bestehenden Differenzen zwischen ihnen leugnen zu wollen. Aus diesem Grund werden auch besonnene Stimmen gehört, die die fehlende Individualisierung im orthodoxen Osten als Hauptgrund für gewisse Defizite verantwortlich machen. Der griechische Kulturphilosoph Stelios Ramfos (*1939) sieht zum Beispiel den progressiven Untergang von Byzanz als Folge eines dort fehlenden Individualisierungsprozesses, der die Entfaltung von neuen, kreativen Kräften und die Erneuerung des Imperiums ermöglichen könnte. Ähnliches behauptet er für die jetzige Wirtschafts- und Sozialkrise in Griechenland. Die meisten Griechen zeigen – so Ramfos – teilweise ein extrem egoistisches Verhalten und kümmern sich nur um die eigene Tasche, ohne das gemeinsame Wohl des Staates und der Gesellschaft zu beachten. Hier gehe es um einen bloßen Individualismus ohne Individualität (im Sinne der eigenen Verantwortlichkeit). Somit verschieben sie die Schuld unterschiedslos auf externe Faktoren und sind nicht bereit, die eigene Verantwortung zu übernehmen und vernünftige Lösungen zu finden.21 Wichtig erscheint schließlich, wie bereits angedeutet, zwischen verschiedenen, nicht unbedingt kompatiblen Individualitätsformen zu unterscheiden. Wir sprechen also nicht nur über die moderne, hauptsächlich aus dem Westen stammende Individualitätstradition, sondern auch über eine Vielfalt von Individualitätsformen und entsprechenden Individualisierungsprozessen, die bereits in vormodernen Zeiten zu beobachten sind. Auf der anderen Seite sollten wir nicht die westliche Individualität als ideale Situation oder als Allheilmittel betrachten. Es gab und es gibt bis heute eine intra-westliche Kritik an den Konsequenzen
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des Individualisierungsprozesses, zum Beispiel im Rahmen der Romantik, der personalistischen Philosophie oder der politischen Philosophie des Kommunitarismus in den 1990er Jahren. Die Förderung von kommunitaristischen Werten wurde in westlichen Gesellschaften als Mittel gegen einen extremen Individualismus unternommen, der den Zusammenhalt dieser Gesellschaften allmählich gefährdete. Jedoch sind die Voraussetzungen, die Argumente und die Ziele dieser Kritik von der orthodoxen anti-individuellen Kritik grundsätzlich verschieden. In der intra-westlichen Kritik wird die Individualität trotzdem als fester und unabdingbarer Bestandteil der Moderne erachtet, und es geht mehr um Korrekturen und Verbesserungen von beobachteten Fehlern und Exzessen. Deswegen ist diese Kritik Teil der Moderne selbst und zeugt von deren unumstrittenen Ambivalenzen. Im Gegensatz dazu wird die entsprechende orthodoxe Kritik meistens als Hinterfragung der gesamten Moderne begriffen, die im Prinzip einen fehlerhaften Weg des Westens darstellt, von dem sich die Orthodoxie möglichst fern halten sollte. Die Unterschiede zwischen den beiden Positionen sind daher mehr als deutlich. Genau dieses Thema offenbart die noch bestehenden Defizite der orthodoxen Welt generell in der Aneignung der Moderne, die noch zum großen Teil ausbleibt und für gewisse Probleme sorgt – hier lassen sich auch Parallelen zum Islam ziehen. Jedoch ist in diesem Punkt nochmal Vorsicht geboten: Die orthodoxe Kritik an der Moderne generell ist nur die eine Seite der Medaille. Sie ist eine inhaltliche, aber sie beschränkt sich im Wesentlichen auf die Ebene der Rhetorik. In der Praxis und auf formeller Ebene sind sowohl die Orthodoxen Kirchen als Institutionen als auch die orthodoxen Gläubigen in das System der modernen Welt völlig integriert und scheinen damit keine unmittelbaren Schwierigkeiten zu haben, selbst auch mit diversen Formen von Individualität und sogar von Individualismus. Insofern ist die Frage nach der Kompatibilität des Orthodoxen Christentums mit der Moderne keine essentialistische, sondern eine Frage von diversen Perspektiven, Blickwinkeln und zu untersuchenden Ebenen.22
Benedikt Kranemann
Liturgie und ihre individuelle Rezeption: Das Beispiel des Weihnachtsfestes Einleitung Wer nach der individuellen Rezeption von Liturgie fragt, kann bei vielen Gottesdiensten ansetzen: bei der Taufe, der christlichen Initiation, die als Familienritual gefeiert wird; bei der Trauung, Übergang in den Stand der Ehe, aber häufig als Bestätigung einer längst bestehenden Gemeinschaft gelesen; beim Begräbnis, das die Hoffnung auf Auferstehung artikuliert, aber privat ganz andere, persönliche Bedeutungen zugeschrieben bekommt. Das sind nur einige Beispiele, die beliebig erweitert werden können. Überall begegnet man sehr unterschiedlichen Bedeutungen, die diesen Feiern zugeschrieben werden. Immer spielt dabei auch die individuelle Rezeption eine Rolle.1 Ein sprechendes Beispiel ist in der Gegenwart das Weihnachtsfest. Es ist ein populäres Fest mit einer klar geordneten kirchlichen Liturgie, mit Brauchtum ganz unterschiedlicher Herkunft und natürlich sehr individuellen Formen, es zu begehen.2 Weihnachten ist das ideale Beispiel für die Frage nach Liturgie und individueller Rezeption. Es bietet die Möglichkeit, die damit verbundenen Themenfelder in ganz verschiedenen Richtungen auszuleuchten. Einige Aspekte sollen hier ausgewählt werden. Die Entstehung von Weihnachten und das bedeutet: die Entstehung eines Festes der christlichen Kirchen soll kurz nachgezeichnet werden. Ohne die Geschichte bis in alle Details ausarbeiten zu können, sollen in einem weiteren Schritt frühen Quellen der Liturgiegeschichte, die auch die weiteren Geschicke von Weihnachten bis heute begleiten, neuzeitliche Weihnachtslieder gegenübergestellt werden. Neben das liturgische „Wir“ tritt dabei das „Ich“, und dies in einer ganz spezifischen Weise.3 Am Schluss unserer Überlegungen sollen Gemeinschaftlichkeit und Individualität in der Liturgie zusammengeschaut werden, um von hierher einige Thesen zum Thema zu entwickeln. Die Grundüberlegung ist folgende: Ein christliches Fest ist ein sehr komplexes Geschehen, für das Liturgie und individuelle Rituale, Brauch-
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tum ganz unterschiedlicher Provenienz, Kultur und Religion, Tradition und Innovation, Öffentlichkeit und Privatraum etc. von Bedeutrung sind. Das Fest ist ein äußerst plurales Geschehen.4 Eine Liturgie wie die des Weihnachtsfestes, und das Fest erschöpft sich nicht in der Liturgie, ist ein Gemeinschaftsgeschehen, im letzten getragen durch eine Institution. Aber die Feier auch der Liturgie ist bei allen Vorgaben und Regelungen ein Rezeptionsgeschehen. Das, was das Fest ausmacht, wird in diesem Rezeptionsprozess konstituiert. Dabei ist natürlich das Individuum im Spiel. Und das Weihnachtsfest ist dafür ein geradezu ideales Beispiel. Es entsteht als gemeinschaftliche Feier der Menschwerdung Gottes (Inkarnation), gerät immer stärker unter den Einfluss individueller, mystischer Jesusbeziehung, wird zu einem bürgerlichen Fest mit einem idealisierten Familienbild – im Mittelpunkt die stilisierte Heilige Familie, die die Bibel so allerdings nicht kennt – und mutiert schließlich zu einem globalen Fest, so jüngst der britische Anthropologe Daniel Miller, an dem wir imaginieren, „daß alle Menschen auf der ganzen Welt dasselbe Fest feiern.“5 Das, was wir heute als Weihnachtsfest kennen, ist vergleichsweise jung und entwickelt sich in dieser Form erst in den letzten zweihundert Jahren.6 Die Entstehung des Weihnachtsfestes im vierten Jahrhundert Über die Anfänge des Weihnachtsfestes gibt es wenig Gewissheit. Das einzige, was feststeht, ist die Spätdatierung des Festes. Es entsteht erst im frühen vierten Jahrhundert. Auch als gesichert kann der Zusammenhang von antiker Sonnenverehrung einerseits und Entstehung eines Festes andererseits gelten, das die Sonne metaphorisch auf Christus hin liest. Lange Jahre hat man mit zwei Hypothesen gearbeitet, um die Genese des Festes zu erklären; sie seien zumindest angedeutet. Die eine Hypothese besagte, Weihnachten sei als Reaktion auf eine überbordende Sonnenverehrung entstanden. Der Natalis solis invicti, der als Festtag im letzten Viertel des dritten Jahrhunderts unter Kaiser Aurelian verfügt worden sei, habe sich – so die religionsgeschichtliche Hypothese für die Entstehung des Weihnachtsfestes – solch großer Beliebtheit erfreut, dass die christliche Kirche dem eine andere Deutung der Sonne und ein anderes Fest gegenüber gestellt habe, das Fest der Natalis Jesu Christi, das heißt der Geburt Christi, also das Weihnachtsfest. Die Quellenbasis für ein solches Erklärungsmodell ist jedoch recht schmal.
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Dem trat eine andere Theorie an die Seite, die Berechnungshypothese, die davon ausging, das Geburtsdatum Christi sei schlicht errechnet worden, und diesem errechneten Datum sei dann auch die Einführung des Weihnachtsfestes gefolgt. Das Problem dieser Hypothese: Es gibt solche Berechnungen tatsächlich, aber sie kommen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen, was bei der Festlegung eines Termins für das Weihnachtsfest eher hinderlich gewesen sein dürfte.7 Mittlerweile geht man andere Wege, um die Entstehung des Festes zu erklären. Die Belege für Feiern zu Ehren des Sol invictus am 25. Dezember gelten als schwierig, wie u.a. Martin Wallraff gezeigt hat. Er vertritt folgende Theorie zur Entstehung von Weihnachten: Die Sonnenverehrung erfreute sich im vierten Jahrhundert einer solchen Beliebtheit, dass Wallraff von einem „Modephänomen“8 und einer „generellen ‚Solarisierung‘ der religiösen Kultur“9 im dritten und vierten Jahrhundert spricht. Es muss von einer wechselseitigen Beeinflussung paganer und christlicher Feste ausgegangen werden. Die Verehrung der Sonne war ein recht junges Phänomen. Vermutlich haben im Zeitraum, in dem Weihnachten entstand, ganz unterschiedliche Gruppen die Sonne verehrt. Man nimmt an, dass das Weihnachtsfest in diesem kultur- und frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext entstanden ist. Das Fest war in seiner Frühzeit ein Fest der Kirche, es wurde geprägt – soweit es für uns fassbar wird – durch eine kirchlich geordnete Liturgie. Diese Liturgie wiederum wurde als gemeinschaftliches Geschehen verstanden. Martin Wallraff zitiert aus einer Predigt des Johannes Chrysostomus: „Und doch sind es noch keine zehn Jahre, seit uns dieser Festtag bekannt und vertraut geworden ist. Aber als wäre er uns schon lange und seit vielen Jahren überliefert, ist er aufgeblüht durch euren Eifer. Wer ihn neu und alt zugleich nennt, würde nicht fehlgehen: neu, weil er uns erst kürzlich bekannt wurde, alt und ursprünglich, weil er den älteren Festen alsbald an Alterswürde gleich wird und das gleiche Maß des Alters wie sie erreicht. Es ist wie bei echten und edlen Pflanzen: Sobald man sie in die Erde einpflanzt, wachsen sie sogleich zu großer Höhe empor und sind schwer vor Früchten. Ebenso ist auch dieser Festtag bei den Bewohnern des Westens schon lange bekannt, zu uns aber ist er jetzt gelangt, vor nicht vielen Jahren; und ebenso sprosste er sogleich auf, trug er so reichlich Frucht, wie jetzt zu sehen ist: Die Höfe bei uns sind gefüllt, und die ganze Kirche ist gedrängt voll mit der Menge derer, die zusammengeströmt sind.“10
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Chrysostomus starb 407. Er hat erlebt, wie das neue Fest der Geburt Christi von Rom nach Konstantinopel gewandert ist und dort rasch populär wurde. In Rom klagte ungefähr ein halbes Jahrhundert später ein anderer Kirchenmann über Missliches am Weihnachtsfest. Papst Leo der Große, gestorben 461,11 bemängelte Unordnung am christlichen Festtag und sah den Versucher am Werke: „Berückt er doch einfältigere Seelen durch die verderbliche Einflüsterung gewisser Leute, denen dieser Tag unserer Festfeier nicht so sehr wegen der Geburt Christi verehrungswürdig erscheinen will, als vielmehr – wie sie sagen – wegen des ‚Aufgangs der neu erstandenen Sonne‘. Die Herzen dieser sind von dichter Finsternis umhüllt und von aller Aufnahme wahren Lichtes weit entfernt. Stehen sie doch immer noch unter dem Einflusse der albernsten Irrtümer des Heidentums.“12
In einer anderen Predigt wird uns das Szenarium, das sich in Rom an Weihnachten bietet, folgt man jedenfalls der Predigt dieses Papstes,13 sehr plastisch vor Augen gestellt: „Auf derartige Bräuche geht auch jene gottlose Gewohnheit gewisser nur allzu alberner Leute zurück, von Anhöhen aus bei Anbruch des Tageslichtes die emporsteigende Sonne anzubeten. Ja sogar manche Christen sehen darin eine solch gottgefällige Handlungsweise, daß sie sich vor ihrem Eintritte in die Basilika des heiligen Apostels Petrus, die doch einzig und allein dem wahren und lebendigen Gott geweiht ist, nachdem sie die Stufen hinter sich haben, die zur Terrasse […] des höher gelegenen freien Platzes […] führen, nach der aufgehenden Sonne umwenden, ihr Haupt beugen und sich zu Ehren des strahlenden Gestirns verneigen. Daß dies vorkommt – zum Teil aus strafwürdiger Unwissenheit, zum Teil aus heidnischer Gesinnung – grämt und schmerzt uns tief. Denn mögen damit auch einige vielleicht mehr dem Schöpfer dieses schönen Lichtes ihre Ehrfurcht bezeigen als dem Lichte selbst, das doch nur sein Werk ist, so muß man doch auch den Schein einer solchen Verehrung meiden.“14
Bei Leo dem Großen taucht ein Konflikt auf, der offensichtlich von früh an zum Weihnachtsfest hinzugehört: die Frage nämlich, was denn an diesem Fest eigentlich gefeiert werden soll und was seine Bedeutung ist. Man könnte auch so formulieren: Hier begegnet bereits eine Spannung zwischen dem, was „die“ Kirche sich unter dem Weihnachtsfest vorstellt und wie der Einzelne dieses Fest begeht. Im Beispiel führt diese Spannung zum Konflikt, der öffentlich gemacht wird. Es geht um die Frage, wer oder was im Mittelpunkt von Weihnachten steht. Jüngst ist
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von der Spannung zwischen „offizieller“ und „privater“ Hermeneutik und damit zwischen der „Feier des Inkarnationsmysteriums“ und der „Skepsis und Sehnsucht der Menschen nach einem gelingenden Leben“ gesprochen worden.15 Deutungen des Weihnachtsfestes in Gebet und Hymnus der Liturgie Für spätere Zeiten lässt sich mit Blick auf die kirchliche Autorität sehr genau Auskunft geben über die Bedeutung von Weihnachten. Aus dem fünften und sechsten Jahrhundert – wir sind also zeitlich sehr nah an den Predigten Papst Leos – sind die ältesten gottesdienstlichen Texte des Weihnachtsfestes überliefert. Sie bleiben zusammen mit anderen Gebetstexten über Jahrhunderte in der Liturgie erhalten und werden zum Teil heute noch verwendet. Es sind vor allem die „Amtsgebete“, also jene zentralen Gebete, die Priester oder Bischof zustehen, welche in das Verständnis von Weihnachten Einblick geben. Diese Texte, die zum Beispiel am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit üblich waren und in das römische Messbuch von 1570 eingeflossen sind, weisen typische Merkmale solcher Gebete auf: Es ist ein sehr formelhaftes Latein, das hier verwendet wird, das unter dem Einfluss altrömischer sakraler Sprachstilmittel und lateinischer Kanzleisprache entstanden ist.16 Feierlichkeit, gepflegte Sprache, Präzision suchte und fand man in diesen sprachlichen Vorbildern. Die Gottesanrede entbehrt in solchen Orationen jener Emotionalität, die man heute mit Weihnachten verbinden würde. Hier und dort reicht als Anrede ein „Deus“ oder „Domine“; wenn man sich zu einem „Domine, Deus noster“ oder „Omnipotens Deus“ durchringt, ist das bereits viel an Aussage. Die Gebete sind alle, und das verwundert nicht, wenn man sich ihre Funktion vor Augen hält, in der ersten Person Plural gefasst. „Wir bitten“ – „quaesumus“, „wir feiern“ – „solemnia colimus“ usw. Und auch das, was in dieser Liturgie erbeten wird, bezieht sich auf einen Plural: Die, die hier gemeinsam beten, erbitten für sich Gemeinschaft mit Christus. Liturgie meint unmissverständlich ein Gemeinschaftsgeschehen. Manche dieser Gebete sind auch in ihrem Ritus und als Sprachhandlung entsprechend konzipiert. Sie sind Kollektengebet, sammeln also förmlich Gebetsanliegen zum gemeinschaftlichen Gebet. „Collecta“ sagte man im spätantiken Gallien und meinte damit ein Gebet, zu dem der Priester mit dem Ruf „Oremus“ einlud, dann eine kurze Gebetsstille hielt, in der jeder persönlich beten konnte, um mit einem
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bewusst knapp und unpersönlich gehaltenen Gebet fortzufahren. Dieses Gebet des Priesters trug die Gebetsanliegen der Einzelnen zusammen.17 Individuum und Gemeinschaft waren, wenn der liturgische Ritus wirklich umgesetzt wurde, an der Liturgie beteiligt. Im letzten war Liturgie ein Gemeinschaftsgeschehen und in der Sicht der Zeit – von der Spätantike bis weit in die Neuzeit – objektives Handeln der Kirche. So verwundert es auch nicht, dass die kurzen lateinischen Orationen sich einer sehr abgeklärten Theologie befleißigen, dass sie sprachliche und theologische Kunstwerke sind, in denen sich der Glaube einer Glaubensgemeinschaft ausdrücken soll. Prägnante poetische Sprache und theologisch klare Aussage kommen hier zusammen. Eine Metapher, mit der mehrfach gespielt wird, ist das Licht, das die Nacht taghell macht. Dieses Bild steht für Christus und die Menschwerdung Gottes und hat einen biblischen Hintergrund. Eine Oration aus der ersten Messe von Weihnachten bringt das folgendermaßen zur Sprache: Deus, qui hanc sacratissimam noctem veri luminis fecisti illustratione clares cere: da, quaesumus; ut, cujus lucis mysteria in terra cognovimus, ejus quoque gaudiis in caelo perfruamur: Qui tecum vivit et regnat.18
Gott, Du hast diese hochheilige Nacht durch den Aufgang des wahren Lichtes taghell gemacht; so laß uns, wir bitten Dich, auch im Himmel die Wonnen jenes Lichtes kosten, dessen Geheimnis wir auf Erden erkannt haben, Deines Sohnes, der mit dir lebt.19
Bemerkenswert sind die verschiedenen Zeitebenen: Gott hat diese Nacht taghell gemacht – ein Ereignis in der Vergangenheit („fecisti“), das aber hier und heute die Menschen betrifft („hanc sacratissimam noctem“). Aber nicht nur das Fest in der irdischen Wirklichkeit („in terra“) steht vor Augen, sondern gleichzeitig die Hoffnung, dass diese Wirklichkeit sich bei Gott vollenden wird, in der Bildsprache des Gebets: „im Himmel“ („in caelo“). An das Weihnachtsereignis wird mit Hinweis auf das geheimnisvolle Erleben der Geburt Jesu erinnert. Die Befreiung von Schuld durch das Geburtsereignis wird in unterschiedlichen Wendungen angesprochen. Die Oratio der zweiten Messe von Weihnachten hebt darauf ab, dass das, was an Weihnachten gefeiert wird, im Leben der Feiernden aufleuchten soll.
Liturgie und ihre individuelle Rezeption: Das Weihnachtsfest Da nobis, quaesumus, omnipotens Deus: ut, qui nova incarnati Verbi tui luce perfundimur; hoc in nostro resplendeat opere, quod per fidem fulget in mente. Per eundem.20
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Allmächtiger Gott, durchflutet vom neuen Lichte Deines menschgewordenen Wortes bitten wir: laß in unsren Werken widerstrahlen, was durch den Glauben in der Seele leuchtet. Durch Ihn, unsern Herrn.21
Das Licht von Weihnachten und sein Reflex im Handeln der Gläubigen werden hier betont. Die Motive, die in den Gebeten im Vordergrund stehen und die die Kirche für so wichtig hält, dass sie sie Jahr für Jahr an Weihnachten zur Sprache bringt, sind folglich „Licht, Geburt Christi und Erneuerung des Menschen“.22 Wie man solche Theologie ins Lied bringen konnte, lässt sich bereits vor der Entstehung der Gebete, die gerade genannt wurden, an einem Hymnus des rhetorisch geschulten Theologen und Bischofs Ambrosius von Mailand (gestorben 397) zeigen. Zu den vorzüglichsten Beispielen christlicher Advents- und Weihnachtsspiritualität gehört sein Hymnus „Intende, qui regis Israel“.23 Nicht nur durch seine Poesie gefällt dieser Text des Ambrosius von Mailand, auch seine theologische Botschaft hat durch die Jahrhunderte bewegt. Die vielfältigen Übersetzungen und Paraphrasen, so von Thomas Müntzer, Martin Luther, Markus Jenny, und nicht zuletzt die Kantatenvertonung „Nun komm, der Heiden Heiland“ von Johann Sebastian Bach zeigen dies. Der Hymnus setzt mit dem Ruf ein „Intende, qui regis Israel“ / „Merke auf, der du Israel regierst“ und fährt zwei Zeilen weiter fort: „ Excita potentiam tuam et veni“ / „Biete auf deine Macht und komm“. In einer zweiten Strophe bittet er den Erlöser der Menschen um sein Kommen, dass er die Geburt der Jungfrau zeige und alle Welt sich wundere, was für eine Geburt Gott gefällt. Zwar spricht der Festgesang auch in den anderen Strophen vom Wort, das Fleisch geworden ist, und von der Geburt, aber er bleibt dabei nicht stehen. Von der Wesensgleichheit mit dem Vater ist die Rede, vom Ausgang vom Vater und von der Rückkehr zu ihm, vom Hinabstieg zur Hölle und vom Aufstieg zum Throne Gottes. Erstaunlich mag für den heutigen Leser der in diesem Hymnus immer wieder aufscheinende Bezug auf die Erlösung (paschale Dimension) und auf die Wiederkehr Christi (eschatologische Dimension) sein. Von Weg und Sieg ist die Rede, von dem „carnis tropaeo“, der „Waffenbeute“ des Fleisches.24 Die Messianität desjenigen, dessen Geburt gefeiert wird, kommt in der achten und letzten Strophe des Hymnus ausdrücklich zur
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Sprache. Auch diese Zeilen sind ganz vom Weihnachtsereignis her geschrieben, aber gleichsam zwischen den Zeilen dringt noch mehr hervor, das den Blick von der Geburt Jesu Christi und damit der Menschwerdung hinüberlenkt zur Vollendung. Ambrosius formuliert gegen Ende seines Hymnus: „Praesepe iam fulget tuum lumenque nox spirat novum, quod nulla nox interpolet.“ / „Schon glänzt deine Krippe, und die Nacht ist erfüllt von neuem Licht, das keine Nacht mehr unterbrechen wird.“ Der Theologe spielt hier mit dem Symbol des Lichts wie mit den Zeitebenen. Dem „schon“ korrespondiert unausgesprochen theologisch das „noch nicht“. Die eschatologische Erwartung auf Vollendung wird in den Hymnus und das Fest eingetragen, bei dem dieser gesungen wird. Dass vom „neuen Licht“ gesprochen wird, macht ebenfalls deutlich: „Die Ankunft des Erlösers ist der Beginn der Vollendung.“25 Man kann deshalb sagen, dass es für Ambrosius einen Bezug zwischen Inkarnation einerseits und Tod und Auferstehung andererseits gibt. Weihnachten wird bereits von Ostern, vom „paschalen Finalobjekt“ her gesehen.26 Im Weihnachtsereignis ist für Ambrosius Christus schon ganz gegenwärtig, Geburt und Tod stehen für ihn im Licht der Auferstehung. Das ist theologisch raffiniert und in vielfältiger Weise bedeutsam, aber es ist noch nicht das und nicht allein das, was spätere Jahrhunderte am Weihnachtsfest bewegt hat. Noch einmal: Die eben genannten Gebete, auch Hymnen wie der des Ambrosius bleiben erhalten. Dass Bach dieses Lied aufgegriffen und fortgeschrieben hat, spricht für sich. Weihnachten als Fest an der Krippe Aber wenn man nach der individuellen Rezeption des Weihnachtsfestes fragt, die es gab und gibt, muss man auf andere Quellen schauen. Man erkennt dann, wie neben das liturgische „Wir“ das „Ich“ des individuellen Rezipienten getreten ist.27 Zum Teil musste es fast zwangsläufig daneben treten, um eine Liturgie, die immer mehr Tun von Priestern, im historischen Verständnis: stellvertretend für die Gemeinde handelnden Spezialisten geworden war, und vor allem das in ihr Gefeierte breiter den Gläubigen zugänglich zu machen. Dabei ist nicht nur an Weihnachtsspiele zu denken, die es ermöglichten, dem Geschehen an der Krippe ganz nahe zu kommen, sich gleichsam in die Geschichte der Geburt Jesu zu imagieren. Ein wichtiges Ereignis für diesen Strang des Weihnachtsfestes ist eine Inszenierung im Dezember 1223 in Greccio, einem Flecken in der
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Provinz Rieti im Latium. Dort soll Franz von Assisi in der Nacht zum 25. Dezember eine Krippenfeier inszeniert haben. Dieses Datum gilt als eigentlicher Beginn der Verbreitung der Weihnachtskrippe. Eine Krippe, Heu, Ochs und Esel standen bereit. Franziskus hat das Ziel seiner Inszenierung so erklärt: „Ich möchte ... das Gedächtnis an jenes Kind begehen, das in Bethlehem geboren wurde, und ich möchte die bittere Not, die es schon als kleines Kind zu leiden hatte, wie es in eine Krippe gelegt, an der Ochs und Esel standen, und wie es in Heu gebettet wurde, so greifbar wie möglich mit leiblichen Augen anschauen.“28 Die Krippenfeier hat demnach folgende Bedeutung: Dadurch, dass man die Krippe sehen kann, soll man Christus nahekommen. Gegenüber den liturgischen Texten ist eine interessante Veränderung zu beobachten. Hatte die Liturgie das „Wir“ betont, so tritt jetzt das „Ich“ in den Mittelpunkt. Die Rezeption des Weihnachtsfestes verläuft immer deutlicher hin auf das Herantreten des Individuums an die Krippe und die Zwiesprache des Einzelnen mit dem neugeborenen Jesus. Das ist theologisch gesehen bedeutsam: Zielt die Liturgie auf die Menschwerdung Gottes, so die Deutung von Weihnachten, wie sie in gleichsam von Individuen und nicht einer kirchlichen Autorität verantworteten Kirchenliedern begegnet, auf das kleine Kind in der Krippe. Ganz am Ende dieser Deutung von Weihnachten steht ein Lied, das bis heute für Diskussionen sorgt, den einen als Hort des Kitsches gilt, für andere – so den Mainzer Germanisten Hermann Kurzke – „die Gloriole der unverwirklichten Träume des Lebens [trägt] und […] damit die triste Gewöhnlichkeit, zu der die meisten verurteilt sind“29, heiligt. Gemeint ist das Lied „Stille Nacht! Heilige Nacht!“, das gegen alle Polemik bis heute weltweit für Weihnachten steht und ein gutes Beispiel für die Rezeption eines Festes ist, dies durchaus in Differenz zu dem, was die aus der Spätantike überkommene Liturgie besagt und besingt.30 Vom „holden Knaben im lockigen Haar“ war dort nicht die Rede. Und die sehr eindeutige Fokussierung auf die Krippe wäre den Verfassern der lateinischen Gebetstexte vermutlich einfach fremd gewesen. Bleiben wir noch einen Moment bei „Stille Nacht! Heilige Nacht!“. Das Lied ist interessant für die Frage nach der Deutung des Festes. 1816 soll der Priester Joseph Mohr das Lied geschrieben haben, Franz Gruber hat es 1818 vertont. Das alles spielt sich in einer entlegenen Ecke bei Salzburg ab. Das Lied gelangt nach Tirol, wird laut Kurzke von einem Orgelbauer mitgenommen. Eine Gesangsgruppe aus dem Zillertal tritt mit dem Lied wiederum in Leipzig auf. Und hier, in der Großstadt, beginnt das Lied aus den
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Alpen seine eigentliche Karriere und bringt damit eine sehr gefühlvolle, emotional aufgeladene Lesart von Weihnachten in Umlauf. Hören wir noch einmal Hermann Kurzke: „Das Lied, das eigentlich der dörflichen Welt des Alpenlandes gehört, wird im Dickicht der Städte gesungen von Leuten, denen es nicht zukommt. Es wird rezeptiv romantisiert.“31 So erlebt auch das Weihnachtsfest eine rezeptive Romantisierung. Kehren wir noch einmal zur Frage nach dem „Wir“ und dem „Ich“, nach „Gemeinschaft“ und „Individuum“ zurück. Viel früher schon, als es das Lied aus dem Salzburgischen nahelegt, begegnet uns ausdrücklich die individuelle Wahrnehmung von Weihnachten im Lied, und dies im Unterschied zu dem, was die Liturgie praktiziert. Ein bis heute gerne gesungenes Weihnachtslied stammt von Paul Gerhardt und beginnt mit den Worten „Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesulein, mein Leben.“32 Paul Gerhardt (1607–1676) war Aushilfsprediger und 3. Diakon in St. Nikolai in Berlin, wo er auch seine Lieder geschrieben hat, geriet aber mit der Konfessionspolitik des Kurfürsten in Konflikt und wurde 1667 entlassen. Er wirkte dann im sächsischen Lübben. Beim genannten Lied handelt sich um ein sehr raffiniertes Gedicht, das gleichzeitig Gebet ist. Alles, was uns in der Weihnachtserzählung des Lukas begegnet – Maria und Josef, Hirten auf dem Feld, Engel – fehlt hier, ja ist ausgeblendet. Es geht allein um die Beziehung des lyrischen Ich zum Jesulein, zum Kind in der Krippe: „Ich komme, bring und schenke dir, / Was du mir hast gegeben. / Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, / Herz, Seel und Mut, nimm alles hin / Und lass dir´s wohl gefallen.“ Und dieses Ich nähert sich Schritt für Schritt dem kleinen Kind. Die Krippe des Franz von Assisi ist gleichsam ins Lied übertragen. Wo man spätmittelalterlich das Kindelwiegen kannte, also das geistliche Spiel mit einer Puppe des Jesuskindes,33 setzt man das jetzt ins Lied um: Das Spielerische ist mystisch, eröffnet dem Einzelnen die Möglichkeit, sich in das Geschehen der Geburt Jesu zu vertiefen, konzentriert ganz auf das Ich. Und dieses Ich kommt dem Kind immer näher: Es tritt an die Krippe (!), es sieht das Kind „mit Freuden an“ (Str. 5) und will den Mund des Kindes küssen: (Str. 6) „Vergönne mir, o Jesulein, / Daß ich dein Mündlein küsse, / Das Mündlein, das den süßen Wein, / Auch Milch und Honigflüsse / Weit übertrifft in seiner Kraft: / Es ist voll Labsal, Stärk und Saft, / Der Mark und Bein erquicket.“ Die Hände des Kindes will der Sänger ergreifen: (Str. 8) „Wer ist der Meister, der allhier / Nach Würdigkeit ausstreichet / Die Händlein, so das Kindlein mir / Anlachende zureichet? / Der Schnee ist hell, die Milch ist weiß, / Verlieren doch beid ihren Preis,
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/ Wann diese Händlein blicken.“ Und das Stroh muss natürlich weg, wenn es um ein solches Kind geht: (Str. 11) „Ich will mir Blumen holen, / Daß meines Heilands Lager sei / Auf lieblichen Violen. / Mit Rosen, Nelken, Rosmarin, / Aus schönen Gärten will ich ihn / Von oben her bestreuen.“ Weihnachten wird hier in einer sehr subjektiven Weise rezipiert, es wird zum Fest einer „liebenden Beziehung zwischen dem Kind und dem Ich“.34 Das ist jetzt ganz und gar nicht mehr der theologische Duktus der römischen Orationen, sondern so sehr die persönliche Meditation, dass dieses Lied, wie die Hymnologin Christa Reich schreibt, nicht für den öffentlichen Gottesdienst gedacht oder geeignet ist.35 An der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert lehnt man das Lied ab. „Gewandeltes Sprachgefühl“, so Reich, „ließ dies alles als Verniedlichung oder Tändelei erscheinen, und gewandelte Frömmigkeit konnte weder im Gemeindegottesdienst noch in der persönlichen Andacht damit etwas anfangen.“36 Individuelle Rezeption von Religion meint hier vor allem den Aufbau einer Beziehung, die damit in Zusammenhang stehende sehr starke Emotionalität und eine durchtragende Zärtlichkeit. In dieser Hinsicht ist das Lied anrührend wie anziehend. Aber zugleich ist es so sehr durch das Ich geprägt, dass man mit Recht fragen kann, ob man das Lied einer Gemeinschaft „zumuten“ kann, was heutige evangelische und katholische Gesangbücher mit längerer Vorgeschichte aber tun. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Passage in den Briefen Dietrich Bonhoeffers, auf die Reich aufmerksam macht. Im Advent 1943, anderthalb Jahre vor seiner Hinrichtung im KZ Flossenbürg, saß Bonhoeffer im Gefängnis und schrieb: „Außerdem habe ich zum ersten Mal in diesen Tagen das Lied ‚Ich steh an deiner Krippe hier …‘ für mich entdeckt. Ich hatte mir bisher nicht viel daraus gemacht. Man muß wohl lange allein sein und es meditierend lesen, um es aufnehmen zu können. Es ist in jedem Worte ganz außerordentlich gefüllt und schön. Ein klein wenig mönchisch-mystisch ist es, aber doch gerade nur so viel, wie es berechtigt ist; es gibt eben neben dem Wir doch auch ein Ich und Christus ...“37 Gemeinschaftlichkeit und Individualität in der Liturgie – ein Resümee Wie stehen nun Gemeinschaft und Individuum, „Wir“ und „Ich“ in diesem Fest zueinander? Es gibt keine Liturgie als Gemeinschaftsfeier ohne das Individuum. Schon das Gebet an zentraler Stelle der Liturgie lässt
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dem Einzelnen die Freiheit des Gebets. Er soll selbst, persönlich, individuell beten können. Das heißt die kirchlich ge- und auch verordnete Liturgie kennt das Gebet des Individuums im Rahmen einer gemeinschaftlichen Gebetshandlung. Man muss aber noch einen großen Schritt weitergehen: Liturgie ist kein uniformes Geschehen, sondern sie lebt aus der Rezeption des Einzelnen. Die Lieder, die beispielhaft genannt wurden, gehören in diesen Rezeptionsprozess des Festes. Letztlich bleibt das Fest auf diese Weise aktuell. Es kann je neu gefeiert werden, indem die Grundbotschaft des Festes, die zunächst Bibel und Liturgie eingeschrieben war, immer wieder in neuer Weise inszeniert wird. Es gibt durchaus eine Nähe zum Theater: Das Stück, das aufgeführt wird, begegnet uns in immer neuen Inszenierungen, wobei auch die Regisseure wechseln.38 Liturgie ist deshalb ein plurales Geschehen, das immer wieder neu Gestalt gewinnt.39 Zum Rezeptionsprozess der Liturgie eines Festes gehören notwendigerweise Spannungen. Sie können produktiv sein und dem Fest neue, vitalisierende Bedeutungen anlagern. Die Mystik, die in einem Lied wie dem von Paul Gerhardt begegnet, könnte man dazurechnen. Sie können aber auch zum Problem werden, wenn beispielsweise Weihnachten, ein Fest, das durchaus quersteht zu einer simplifizierende Weltsicht, zur Selbstabsicherung wilhelminisch-bürgerlicher Identität verkommt oder zum Julfest von SS-Mannschaften mutiert.40 Auch diese Rezeption ist dem Fest im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert widerfahren. Ein solches Fest und eine solche Liturgie – man kann die Reihe beliebig erweitern – gewinnen und leben aus dem Individuellen in seinem Verhältnis zum Gemeinschaftlichen, und beide, das Wir wie das Ich, ziehen daraus Gewinn. Aber dieser Rezeptionsprozess kann auch entgleiten, und dann kann das Fest durchaus zum Problem werden. Bis wann kann man in einem Geschehen wie der Liturgie von Individualität sprechen? Das Lied von Paul Gerhardt ist dafür ein gutes Beispiel. Es ist das Lied eines Einzelnen, es wird als Lied persönlicher Andacht und Besinnung aufgeschrieben. Aber dann wandert es in die Gesangbücher der Glaubensgemeinschaft, so dass man von Individualität eigentlich nicht mehr sprechen mag. Das zumindest sollte man festhalten: Die individuelle Rezeption gehört zum Fest dazu, aber nicht selten wird sie dann auch wieder Teil gemeinschaftlichen Handelns. Am Beispiel des Weihnachtsfestes kann man das sehr schön nachzeichnen und kann dann auch sehen, wie es immer wieder Reformvorhaben mit unterschiedlichen Motiven gibt, um die Verschiebungen, die sich damit
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ergeben, zu regulieren, damit einige Zeit später neue Rezeptionen und Deutungen das Fest in eine andere Richtung führen. Liturgie und individuelle Rezeption: Es handelt sich um einen offenen und dynamischen Prozess, wie sich gerade in den christlichen Festen immer wieder neu zeigen lässt.
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Judas und Hermann: Konversionen vom Judentum zum Christentum im Mittelalter „Hermann, einstmals Judas geheißen“ – Hermannus Iudas quondam dictus – so nennt sich der Verfasser eines in der ersten Person Singular verfassten Berichts1, der von seiner Abkehr vom Judentum und Hinwendung zum Christentum handelt. Da er Heinrich V. als ehemaligen Kaiser (Kaiser ab 1111, † 1125), dessen Nachfolger Lothar von Süpplingenburg als König (Kaiser Lothar III. ab 1133) und seine Frau Richenza als Königin erwähnt und Ekbert (Egbert) als Bischof von Münster (1127–1132) sowie Rupert als Abt des Klosters in Deutz (1120–1129/1130) kennt, ohne letztere ausdrücklich als nicht mehr lebend zu kennzeichnen, lässt sich die implizit behauptete Abfassungszeit auf die Jahre zwischen 1125 und 1133, näherhin wohl 1129/1132, datieren.2 Dem kleinen Werk („opusculum“) ist ein Incipit eines anderen Sprechers vorangestellt, der „des Bruders Hermann einstmals Juden“ als Verstorbenem gedenkt. Diese Einleitungsphrase ist zwischen den Haupttext und einen ihn eröffnenden Brief Hermanns an einen als sehr geliebten Sohn und Bruder benannten Heinrich eingeschoben. In einer für derartige Schreiben üblichen Weise beschreibt der Verfasser den Anlass, der ihn zur Verschriftlichung des Berichts über seine Konversion bewogen hatte. Sehr viele Religiosen, „Männer wie Frauen“ (plerique religiosi tam viri quam femine), die offensichtlich als Ordensleute aufzufassen sind, hatten ihn immer wieder über den Verlauf seiner Konversion vom Judentum zum Christentum befragt. In der ihn mit Heinrich verbindenden, mit „neulich“ bezeichneten Situation war es die „fromme Bitte“ „einiger Frauen heiligen Lebenswandels“ (quarundam sancte conversationis feminarum)3 gewesen, die ihn zu einer Erzählung aller Ereignisse in ihrer Reihenfolge „gezwungen“ hatte. Hermann akzentuiert die gravierenden Schwierigkeiten eines Schwankungen ausgesetzten, „fluktuierenden“ Vorgangs (fluctuatio), der von überhand nehmenden, gegen ihn anstürmenden „Versuchungen“ (temptatio) durch den „alten Feind“ geprägt war. Nach größten Anstrengungen (labor) hatte er schließlich im christlichen Sinn obsiegt. Im Kon-
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text des mühevollen Religionswechsels eines Einzelnen weiß Hermann jedoch auch eine Gegenseite zu benennen. Er habe sich nämlich nicht mit jener Leichtigkeit (facilitas) bekehrt, mit der sich oft viele Ungläubige, entweder Juden oder Heiden, „in einem plötzlichen und unvermuteten Sinneswandel“ (mutatio) dem „katholischen Glauben“ zuwendeten. Diese Beobachtung markiert Hermann als Erfahrung: „wir sehen“ (videmus) und kleidet seine Einschätzung ideell korrekt ein: „sodass wir uns freuen, dass Menschen, die wir gestern noch als Ungläubige bedauerten, heute zu Gläubigen und zu unseren Miterben an der Gnade Christi geworden sind.“ Eröffnet ist also ein Diskurs über conversio, auf den zurückzukommen sein wird. Jenseits der, auch rhetorisch motivierten, Begründung der Sinnhaftigkeit des Konversionsberichts im Einleitungsschreiben steht das Problem der individuellen Aneignung von Religion über die Kategorie der Exemplarität verstärkt in Frage. Biographie einer Umkehr Hermanns Werk ist in einundzwanzig Kapitel unterteilt, deren Überschriften offensichtlich von des Redaktors Hand stammen, da sie in der dritten Person Singular formuliert sind. Das erste und das letzte Kapitel bilden einen Rahmen, in dem es um die Deutung einer Traumvision geht. In der Spirale vom als unzureichend zum als richtig erkannten Verständnis wird ein halbes Leben einbeschlossen, das als in hohem Maß von Dialogizität bestimmt gezeigt wird, aber auch nicht dramatischer Ereignisse entbehrt. Das Ich des Texts spricht stets aus christlicher Perspektive und kennzeichnet sich zu Beginn des ersten Kapitels als „Priester“ (sacerdos). Es folgen sein ehemaliger Name Judas, die Merkmale seiner israelitischen Abkunft und die Namen seiner Eltern sowie sein Geburtsort Köln. Als dreizehnjähriger Junge, so fährt Hermann fort, habe er eine vorzeichenhafte Vision von Gott empfangen, in der er vom damals herrschenden Kaiser Heinrich [V.] reiche Gaben empfangen und seine Nähe beim Mahl genossen habe. Sein um die Interpretation des Traums befragter Verwandter Isaak, ein Mann von großer Autorität „damals bei den Juden“, habe ihm nur Deutungen „gemäß dem Glück des Fleischs“ (secundum carnis felicitatem, mit Röm 8,5), das heißt im Blick auf Ehe, Reichtum und Ansehen, gegeben. Viel später habe sich die Vision durch
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geistliche Wohltaten der göttlichen Gnade an ihm erfüllt, wie darzulegen sein werde. Daher kann Hermann im letzten, dem einundzwanzigsten Kapitel die als Junge empfangene Vision in allen ihren Elementen christlich verstehen und auf seinen Lebensweg sowie seine spirituelle Entwicklung bis hin zu seinem Eintritt in das Prämonstratenserkloster Cappenberg und zur Priesterweihe (Kap. 20) beziehen. Den Hauptteil seiner Erzählung (Kap. 2 bis 19) macht jedoch die Geschichte seiner Konversion aus, die in seiner Taufe mündet. Als Kaufmann, der dem Bischof Ekbert von Münster Geld geliehen habe, ohne ein Pfand zu fordern, habe er sich um der Eintreibung der Schulden willen „fast zwanzig Wochen“ an dessen Bischofssitz aufgehalten und habe dessen Auslegung des Neuen aus dem Alten Testament sowie die exegetischen Schriftsinne kennengelernt. Im Zeichen der Neugier (curiositas) habe er sich die Wandlung des Saulus zu Paulus angehört, sich häufig in Kirchen und Schulen begeben und mit einer rasch zunehmenden, nur durch ein göttliches Wunder erklärbaren Fertigkeit geistliche Schriften der Kleriker gelesen (Kap. 2). Als Höhepunkt dieser Phase des Wissenserwerbs und der Gespräche ist eine disputatio mit dem Deutzer Abt Rupert anzusehen, die in der Chronologie des Berichts zwischen 1127 und 1129/1130 stattgefunden haben müsste. Ihr widmet Hermann zwei in etwa gleich lange Kapitel (Kap. 3 und 4), deren erstes seiner Verteidigung der Juden als Gottes auserwähltem, sein Gesetz authentisch bewahrendem Volk gilt, während im zweiten Rupert dem Vorwurf des Götzendiensts (ydolatria) mit dem Hinweis auf die bildliche Vergegenwärtigung der Passion Christi zum Zweck ihrer inneren „Meditation“ begegnet; dem Kreuz werde als „Zeugnis“ (testimonium) „Ehrerbietung“ (reverentia) und nicht kultische Verehrung entgegengebracht. Hermann betont abschließend, nur einen Teil des Streitgesprächs wiedergegeben zu haben und wendet sich dem „Beispiel“ (exemplum) als dem wirksameren Mittel der Überzeugung zu (Kap. 5). Hier dienen ihm die selbst erfahrene Nächstenliebe (caritas) einem Nichtchristen gegenüber sowie die Vernunft des Bischofs Ekbert, ein Gottesurteil nicht zuzulassen, das im Modus eines Wunders (miraculum) den ungläubigen Judas bekehren sollte, als Argumente, um die Christen zur Ausweitung ihrer „brüderlichen Liebe“ auf Juden und andere Irrende aufzufordern. Ein viel weiter reichendes Beispiel erschließt sich Hermann jedoch im Kloster Cappenberg, und Umkehr in der Konfrontation von christlichem Handeln und jüdischer Auslegung nach der hebräischen Bibel ist sein Thema (Kap. 6). Im Gefolge des Bischofs Ekbert lernt er die Stände
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und nationes übergreifende Ordensgemeinschaft kennen, die die Grafen Gottfried4 und Otto von Cappenberg in ihrem in ein Kloster umgewandelten Schloss (commutare) nach der Regel des Augustinus eingerichtet hatten. Die radikale Abkehr aller Brüder vom bisherigen Leben, die alle weltlichen Güter und sich selbst hinter sich zu lassen bedeute (mehrfach mit relinquere, nicht aber conversio bezeichnet), veranlasst Hermann, die lenkende Rolle Gottes bei der Wahl richtiger Wege nach alttestamentlichen Schriftstellen zu reflektieren. Zweifel über die „Gesetze der Juden und der Christen“ befallen ihn jedoch angesichts der unterschiedlichen Ausbreitung der beiden Glaubensrichtungen, die nicht für einen Abscheu Gottes der „Sekte der christlichen Religion“ gegenüber spreche. Er erinnert sich der Geschichte von der conversio des Paulus, derzufolge dieser bis zum „Prediger“ für die einstmals verfolgte Kirche gelangt war, und bittet Gott – entgegen der zuvor berichteten Auffassung des Bischofs Ekbert, mithin noch als jüdisch Gläubiger – um eine „verborgene Inspiration“ (occulta inspiratio) oder eine „Traumvision“ (somnii visio) oder am wirkungsvollsten ein „sichtbares Zeichen“ (signum visibile). Wieder schließt er mit einem Hinweis auf die viel größeren göttlichen Gnadengaben, die ihm erwiesen werden sollten. Zurückgekehrt nach Köln beginnt für Hermann, so sein Bericht, eine jüdischerseits beargwöhnte Lebensphase des Suchens nach der Wahrheit (veritas). Anschuldigungen wegen zu großer Nähe zu den Christen (Kap. 7) wechseln mit Bemühungen seinerseits, durch ein nach jüdischem und nach christlichem Ritus gestaltetes dreitägiges Fasten wie Daniel eine „nächtliche Vision“ von Gott zu erwirken (Kap. 8) oder sich – als jüdischerseits anerkannter Schriftgelehrter – in täglichen Disputationen mit Klerikern über das „Alte Testament“ dessen – allegorisch fundierte –Beweiskraft für die christliche Religion nachweisen zu lassen (Kap. 9). Die Heirat mit seiner jüdischen, namenlos bleibenden Verlobten habe ihn sich trotz der Vorhaltungen seiner bei dem Fest anwesenden christlichen Freunde im Liebesleben und „in den vielfältigen Sorgen der Welt“ verlieren lassen (Kap. 10).5 Hermann hat hier die Mitte seiner Darlegung und nach seinem Verständnis den Tiefpunkt seiner Entwicklung erreicht. Die zweite Hälfte gilt dem sich effektiver gestaltenden Teil seiner Umkehr. Nach drei Monaten befallen Hermann verstärkte, ihn auch körperlich zeichnende Zweifel, und er erkennt, weder Jude noch Christ im vollkommenen Maß zu sein (Kap. 11). Die Gebete, um die er zwei für ihren heiligen Lebenswandel bekannte Klausnerinnen beim Kloster des hl. Mauritius bittet, führen ihn zur zweifelsfreien „Klarheit des christli-
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chen Glaubens“, und er hält es für angemessen, dass ihn, den durch eine Frau Gefallenen, die Verdienste und Fürbitten zweier einfacher Frauen wieder erhoben (Kap. 12). Sein Entschluss, Christ zu werden, steht nun fest (Kap. 13), und es gelingt ihm, einen Anschlag der Juden auf seine Person zu vereiteln (Kap. 14–15). Jetzt ist er es, der mit Juden Disputationen für den christlichen Glauben mittels einer allegorischen Auslegung der Schriften der hebräischen Bibel führt (Kap. 16). Um diesen auch zum Christen werden zu lassen, entführt er in Mainz – nicht ohne Beeinträchtigungen durch teuflische Täuschungen – seinen jüngeren Bruder, den er allerdings sogleich im Kloster Flonheim zurücklassen muss, um sich selbst im Kloster Ravengiersburg im Hunsrück vor den ihn verfolgenden Juden in Sicherheit zu bringen. Er wird dort als Katechumene aufgenommen (Kap. 17). Vor seiner Taufe bestärkt ihn ein Traumgesicht, in dem er sich durch den Anblick des im Himmel thronenden Christus mit dem Kreuz auf der rechten Schulter als würdig zum christlichen Glauben erwiesen fühlt, während ihm zwei seiner jüdischen Cousins als unrettbar zur Hölle Verdammte gezeigt werden (Kap. 18). Der Taufe, aufgrund seines mangelnden liturgischen Wissens etwas verkompliziert (Kap. 19), folgen die Aufgabe allen weltlichen Besitzes, der Eintritt in das Kloster Cappenberg und, beginnend nach fünf Jahren geistlicher Fortschritte, der Empfang der kanonischen Weihen bis zum Priesteramt (Kap. 20). Irgendwann danach – so soll geschlossen werden – verfasste er sein „opusculum“. Konversion und Individualität Hermanns Schrift präsentiert einen selbstzeugnishaften Erlebnisbericht, der an Christusgläubige adressiert ist, nicht an jüdische Menschen, die mit den zwei Verlorenen in seiner letzten motivierenden Vision in Kapitel 18 aus dem Text verschwinden. Als sein Thema lässt sich zunächst die individuelle Aneigung von Religion nennen, und diese wird jenseits der grammatischen Person „ich“ mit Mitteln der Authentifizierung erzeugt. Hermann beschreibt sich als eine Person, deren lebensweltliche Umstände für seine Zeit glaubhaft erscheinen und überdies historisch verortet werden.6 Plastisch schildert er seine Empfindungen, so dass sein Publikum Zeuge seiner seelisch-geistigen und geistlichen Entwicklung werden kann. Dies gilt insbesondere für den Zweifel, der sich anhand des Beispiels der Brüder im Kloster Cappenberg (Kap. 6) einstellt und die bis
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dahin vorherrschende Neugier ablöst. Er paart sich mit Angst und Schrecken, die für Hermann zunächst aus der Drohung der Juden, ihn aus der Synagoge auszuschließen (Kap. 10), resultieren. Sie verstärken sich, als ihm durch die beiläufige Äußerung eines Klerikers nahegelegt wird, vielleicht nie „das klare Licht der Wahrheit“ schauen, mithin vom Heil ausgeschlossen sein zu können (Kap. 11). Angst vor der Rückkehr des durch die Taufe ausgetriebenen „unreinen Geists“ motiviert Hermann, sich von der Welt ab- und dem Klosterleben zuzuwenden (Kap. 20). Dies verweist auch darauf, dass die Singularisierung der Erfahrung wesentlich von der Ausgangsfrage getragen ist, die im einleitenden Schreiben an den – geistlichen – Sohn Heinrich nicht nur das Wie der Konversion sondern auch deren Beeinträchtigungen, das heißt Versuchungen durch den „bösen“, den „alten Feind“, artikuliert. Auf den Teufel wird verlagert, was Hermann als Symptom eines Festhaltens am jüdischen Glauben und Leben erscheint, wie beispielsweise seine Ehe (Kap. 10) oder die Missverständnisse über den Ritus bei seiner Taufe (Kap. 19). Jenseits dieser das Judentum diabolisierenden Begründungszusammenhänge besteht Hermanns individualisierende Deutungsleistung darin, Konversion als einen nicht geradlinig verlaufenden Prozess Einzelner darzustellen. Allerdings sollte damit nicht die komplexe Entfaltung spezifischer Begründungszusammenhänge und bis zu einem gewissen Grad einzigartiger Gemengelagen von Gefühlen und Gedanken verbunden werden, die sich als Erwartungshaltung mit dem Begriff des Individuums assoziieren ließe. Vielmehr gewinnt hier eine Person Konturen, die eloquent eine Mischung aus plausibilisierter lebensweltlicher Realität, Markierungen eines Selbst und Deutungswissen zu erzeugen weiß. Auch Hermanns Bericht zeigt, dass eine Begrifflichkeit um „Person“, die ihre Herkunft von persona, im Lateinischen zunächst „Maske“ oder „Rolle“, mit sich führt, eine wissenschaftssprachlich adäquatere Annäherung an mittelalterliche Menschen, die über sich sprechen, ermöglicht.7 Dass es in seiner Perspektive um personalisierte Vorgänge geht, verdeutlicht zudem nicht nur seine einleitende ironische Bemerkung über das Gegenbild der geschwinden Bekehrungen von Nichtchristen, sondern auch die zumindest textuell realisierte Entführung seines Bruders zum Zweck einer weiteren Konversion. Diese Absicht, so lehrt der Bericht, rechtfertigt als Mittel, dass Hermann, der eben den Juden in der Wormser Synagoge mit innerer Leidenschaft christliche Auslegungen hebräischer biblischer Bücher vorgetragen hat, seine Aussagen listig relativiert, als er nach seinem Glauben gefragt wird. Als Kennzeichnung einer personalen, situativ
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gewonnenen Handlungsmotivation lässt sich auch ein derartiges Detail auffassen. Die Strategien der Individualisierung werden in Hermanns Schrift dadurch verstärkt, dass er sich als einzelne und vereinzelte Person in Relation zu zwei religiös und gesellschaftlich distinkten Gruppen präsentiert. Dies unterscheidet seine „Konversionserzählung“ von frühneuzeitlichen, in denen sich Begegnungen mit anderen konversionswilligen oder konvertierten Jüdinnen und Juden als sehr bedeutsam erweisen lassen.8 Als ihn darüber hinaus singularisierend kann auch angesehen werden, dass Hermanns Weg weiter führt als nur in eine andere Religion hinein. Er begibt sich ins Kloster Cappenberg als Regularkanoniker unter der Regel des Augustinus, eine Lebenswende, die er mit „ändern“ (mutare) bezeichnet, nicht aber mit conversio in Verbindung bringt. Die letzten Schritte seiner geistlichen Biographie, den ihn spezifisch auszeichnenden Empfang der kanonischen Weihen,9 stellt er nicht mehr als eigenes Handeln sondern, mit Bescheidenheitstopoi geziemend versehen, als ein Reagieren auf eine Berufung dar (Kap. 20). Als Konturen des Subjekts werden Gelehrsamkeit in der Schrift und die Fähigkeit, rasch und gründlich verstehen zu lernen, geboten. Die Darstellung individualisierter oder vielmehr personalisierter Prozesse, verbunden mit plausiblen Historisierungen, leistet hier bis zu einem Grad eine Authentifizierung, die die Eindrücklichkeit des von der neuen Referenzgruppe affirmierten, dramatischen Vorgangs noch steigern soll. Dies setzt jedoch nicht notwendig Historizität voraus, wie beispielsweise die Tradition des Exemplums zeigt, dessen Narrationen historisch eingebettet sein können, ohne dass seine Protagonisten und Protagonistinnen real existiert haben müssen. Insoweit als Exempla ein christliches Publikum adressieren, verfehlte Hermanns Erzählung vom Übertritt zum Christentum als Vorbild gebendes Beispiel entweder seinen Zweck oder müsste als exemplarisch im Sinn des Wirkens des christlichen Gottes angesehen werden, wie dies auch thematisiert wird (Brief, Kap. 21). Vor allem ist an Formen des geistlichen Sprechens über eigene religiöse Erfahrungen zu denken, wie sie etwa bei Augustinus (354– 430), Otloh von St. Emmeram († nach 1070), Guibert von Nogent († um 1125) oder Rupert von Deutz († 1129/1130) zu finden sind.10 Individualität, in der Anwendung auf vormoderne Zeiten ein problematischer Begriff in sich, ist hier also weniger in Rede zu stellen, als der Begriff der Identität. Um diese ringt Hermann insofern, als es um seine ganzheitliche Zugehörigkeit zu der einen oder anderen von zwei
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sich ausschließenden Gruppen geht, die sich über ihre jeweilige Religion definieren. Da diese beiden Religionen zu Teilen auf denselben Schriften basieren, sind die Zugangscodes von deren Deutung, dem „richtigen“ Verständnis, bestimmt. Texthermeneutik erscheint so als der Modus der individuellen Aneignung von Religion im Fall eines Wechsels vom Judentum zum Christentum. Aber auch theologische Kompetenz erweist den christlichen Aspiranten als geeignet und den textimmanenten Autor als beschlagen in einem Diskursfeld seiner Zeit: Der neuen Textgemeinschaft präsentiert er als Initiation seines Wegs eine Vision und deren Deutung (Kap. 1 und 21), während ein von Gott mit Zwang erlangtes Wunder als Manifestation eines äußerlichen Zeichens – anderweitig mit „jüdisch“ konnotiert – verworfen wird (Kap. 5). Das neue Verständnis dieser Vision thematisiert zudem die Wahl der geistlichen Lebensform und die Übernahme eines mit Weihen versehenen, den Charakter eines Sakraments besitzenden Amts als eine Vertiefung und Befestigung von Identität. Der Inhalt des Texts wie die Wahl der Begrifflichkeiten mögen verdeutlicht haben, dass Hermanns Bericht verschiedene Formen der Transformation persönlichen Lebens in seiner Zeit kennt. Im Zentrum steht sein Prozess der Konversion (conversio) als Übergang vom Judentum zum Christentum, aber kaum minder wichtig ist der innerchristliche Grenzübertritt vom weltlichen zum geistlichen Leben, der zu einer allumfassenden Änderung ([com]mutare) der äußeren Lebensumstände führt, indem er alles hinter sich zu lassen (relinquere) erfordert. Die Radikalität dieses Schritts, die sich als eine – Hermann zunächst abstoßende – Spur in die Körper der ihn Vollziehenden einschreibt (Kap. 6), spiegelt ihm die Anforderungen religiösen Wandels, wie sie auch für ihn gelten könnten. Auf der Ebene der Wörter wird sorgfältig unterschieden, was für das Subjekt der Transformationen gleichermaßen und, wie sich zeigt, aufeinander folgend ansteht. Trotz aller Emphase Hermanns sowie der Kleriker, Brüder und frommen Frauen über die neu gewonnene Identität verlässt die alte ihn jedoch nie. Auch nach seinem Tod wird er, wie erwähnt, vom zeitgenössischen Redaktor seines Berichts als quondam Iudaeus gekennzeichnet (Incipit).11 Die Unauslöschlichkeit dieser Markierung verbindet ihn mit vielen anderen Konvertiten unterschiedlichster Lebensformen nicht nur im zwölften Jahrhundert.12 Dies gilt auch, falls nicht das reale Ich eines Judas/Hermann hinter dem textuellen „ego“ gestanden haben sollte.
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Formationen eines Konversionsdiskurses Bis hierher ist die Konversion des Judas/Hermann vornehmlich auf der Ebene des Textes unter seinem Namen beobachtet worden und ließ sich als dichtes Beziehungsgefüge innerer, bibelhermeneutisch und lebensweltlich gesteuerter Vorgänge unter fragmentiertem Einbezug historischer Personen und Konstellationen beschreiben. In dem Geschehen ist allerdings – darauf hat Jean-Claude Schmitt hingewiesen – eine liturgische Rolle nicht besetzt: die des Paten, dem gerade im Hochmittelalter besondere Bedeutung beigemessen wurde. Als spirituelle Verwandte gaben Paten und Patinnen dem Täufling üblicherweise ihren Namen. Wird nach einem potenziellen Namensgeber Hermann gesucht, so bietet sich, im häufig vorkommenden Sprung über eine Generation, der Großvater der beiden Gründer des Klosters Cappenberg an, Hermann von Cappenberg, der der Vita des Gottfried von Cappenberg zufolge durch Barmherzigkeit geglänzt und bereits zu Lebzeiten ein erstes Wunder vollbracht hatte.13 In dieser um 1150–1155 entstandenen Vita begegnet ein „hebräischer Bruder“, dessen kurz gefasste, bestimmte Elemente pointierende Geschichte so sehr der Hermanns ähnelt, dass sie mit seinem Konversionsbericht zu verbinden ist.14 Der Protagonist bleibt anonym, aber auch hier ist der „Bruder“ (frater) als jüdisch (Hebraeus) gekennzeichnet. Den Kontext bildet eine Bemerkung über zahlreiche, noch in der Gegenwart des Verfassers stattfindende Konversionen der „jüdischen Feinde“ (ex inimicis Iudaeis). Die Kürze der Darstellung des Beispielfalls korreliert mit Deutung, zumal hier nicht alle Umstände der Konversion, wie Hermann sie erzählt, angesprochen werden. Ihren Ausgangspunkt, dies wird betont, nimmt die Aneignung der christlichen Religion von der Gnade Gottes, „nicht von den Betroffenen selbst“. „Nach vielen Irrwegen“ habe der „hebräische Bruder“ begonnen, „den christlichen Glauben zu ergründen“ und mit Christen über das Gesetz und die Propheten diskutiert. Nachdem er erfahren habe, dass „eine Hülle über seinem Herzen“ (2 Kor 3,15) liege, habe er versucht, diese durch häufiges, aus Furcht vor den Juden heimlich ausgeführtes Sichbekreuzigen zu entfernen. Als der Zeichen bedürftiger Jude (nach 1 Kor 1,22) habe er Gott durch Fasten und Beten um ein Zeichen gebeten, und ihm sei in einer Vision der thronende Christus mit einem goldenen Kreuz auf der Schulter erschienen. Er habe dies als Erfüllung der Prophezeiung des Jesaja: „Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter“ ( Jes 9,6 bzw. 5) interpretiert und sei durch ein
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solches Zeichen völlig bekehrt (iam plene conversus) gewesen. Vergleichsweise breiter Raum wird der Erzählung von der Entführung seines kleinen Bruders und den sie behindernden Wirkungen des Bösen gegeben, um dann kurz die gemeinsame Taufe beider und ihre bald darauf erfolgende Aufnahme in „unsere Ordensmiliz“ zu berichten. In beiden Texten, in Hermanns „opusculum“ sowie in der kondensierten Form des Berichts der Vita Gottfrieds zeigt sich, in welcher Weise Themen, nicht aber biographische Verläufe oder Personen den christlichen Diskurs der jüdischen Konversion zum Christentum bestimmen. Die Aneignung der neuen Religion resultiert nicht aus individuellem Handeln, sondern geht aus der Gnade Gottes hervor, der gewürdigt zu werden in der Retrospektive des künftigen Konvertiten höchste Sorge gewesen ist. Da Juden jedoch der Zeichen bedürfen, muss auch die Huld Gottes sich zeichenhaft offenbaren. Ihr Medium ist die Vision, ihr stärkstes Zeichen das Kreuz Christi. Die Denunziation des Kruzifixus, den Hermann in seiner frühen Phase der Neugier, seinem jüdisch geprägten Bildverständnis folgend, für ein Götzenbild gehalten hat, stellt den Höhepunkt seiner Widerlegung des christlichen Kults dar (Kap. 3), und auch sein Dialogpartner Rupert von Deutz lässt seine Entgegnung über den Unterschied von Verehrung und ehrfürchtiger Vergegenwärtigung durch Zeichen und Bilder im Gekreuzigten und im Kreuz fluchten (Kap. 4).15 Die Qualität der individuellen Konversion lässt sich durch Quantität steigern, wenn eine oder mehrere weitere Personen sich taufen lassen. So werden die Verbreitung der christlichen Lehren und die Mission als erste Handlungen des vom Christentum jüngst Überzeugten gesetzt und haben Raum noch vor seiner Taufe. Die Deutung der Zeichen organisiert maßgeblich den Konversionsdiskurs, und erst aus ihr, so lässt sich als Ordnungsregel erschließen, kann Handeln erwachsen. Deutung tritt jedoch noch in einer zweiten Form auf, als Deutung von Schrift unter Bedingungen von Binarität. Nach christlich-typologischem Verständnis impliziert die Zweiheit der Testamente eine Höherstellung des Neuen gegenüber dem Alten Testament im Sinn einer Erfüllung, auch Reifizierung, von Aus- oder Zusagen im Alten Bund. Judas/Hermann wird als ein Kenner der Methode erwiesen, der zudem in der Logik des Texts ein Vorverständnis des höher geordneten spirituellen Verstehens besitzt, ehe sich dieses selbst ihm völlig erschließt und er zur Verkörperung des Typologischen wird. Bei seiner ersten Begegnung mit christlichen Lehren habe er sich bereits mit der Erklärbarkeit des Neuen aus dem Alten Testament sowie den exegetischen
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Möglichkeiten nach den unterschiedlichen Schriftsinnen konfrontiert gesehen (Kap. 2). Im Disput mit Rupert von Deutz spielt die Deutung alttestamentlicher Schriftstellen eine zentrale Rolle (Kap. 3 und 4). Schrifthermeneutik dirigiert die vorgeführten Reflexionen in einer solchen Dichte, dass das Werk auch den Aspekt eines Manuals zum Zweck der Disputation mit Juden oder ihrer Bekehrung haben kann. Die Felder, die den Konversionsdiskurs als ein Verhandeln von Zeichen mit formieren, sind die bereits bekannten: Vision und Traum, das Bild, das (lebende) Exemplum, die Nächstenliebe, das Wunder, das Schriftverständnis, das Geschlecht, der Teufel. Im Text sind offensichtlich noch weitere Themen von Bedeutung, die jedoch nicht die jüdische Konversion, sondern das sich anschließende geistliche Leben betreffen: die besondere Huld und Hilfe Gottes, die zur Priesterweihe führen und Hoffnung auf künftige Gnadenerweise wecken, die Keuschheit, die Eucharistiefeier des Priesters als Mahl mit Christus, verbunden mit spiritueller Versenkung in das Evangelium „in der Einheit des katholischen Glaubens“ (Kap. 21). Hier schließt sich der Kreis der Konversionen Hermanns. Historische Wandlungen eines Konvertiten Ob ein Juda ben David ha-Levi alias Hermann je gelebt hat, wie im „opusculum“ unter seinem Namen erzählt wird, ist fraglich. Das eine wie das andere ist nicht beweisbar. Das Format seines Berichts ist zunächst die Mündlichkeit, und es ist denkbar, dass später einer oder mehrere der Cappenberger Regularkanoniker das Gehörte verschriftlichten.16 Als Erzählung einer Konversion konnte der Text jedoch Funktionen entfalten. Sein Subjekt trug durch seine Besonderheit zur Identitätsbildung einer gerade sich formierenden Kanonikergemeinschaft bei, die angesichts erschließbarer Turbulenzen und Verwerfungen im Zusammenhang mit klösterlicher Konversion17 eine vorzeigbare, geglückte Konversion in einem verwandten Bereich brauchen konnte. Für eine Tochtergründung der Abtei Cappenberg, die zuerst 1147 erwähnte Prämonstratenserpropstei Scheda, scheint dieselbe Person weitere Male funktionalisiert worden zu sein. Zu 1170 sind ein „Propst Hermann von Scheda“ und ein „israelitischer Propst Hermann“ bezeugt18, die im sechzehnten Jahrhundert als erster „Abt“ der Propstei Scheda – recte Propst – erwähnt werden. Die Analogie zu anderen Klostergrün-
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dungen, insbesondere Prémontré und Cappenberg, und der Rolle, die Gründungsheilige dabei spielen – hier Norbert von Xanten und Gottfried von Cappenberg –, lässt annehmen, dass für die Propstei Scheda der jüdische Konvertit Hermann, der schon der Mutterabtei zu spirituellem Ansehen verholfen hatte, durch eine Identifikation bei Namensgleichheit in die Gründungsgeschichte aufgenommen wurde. 1628 wird der Gründungsmythos vollendet und nach Sicht der Zeit adäquat materialisiert. In Scheda – Abtei seit Hermann II. (1197–1217) – werden zwei Gräber eröffnet. Im ersten werden die Gebeine des Priesters gefunden, der zur Umwandlung eines Schlosses in das Prämonstratenserkloster Scheda beigetragen haben soll, und im zweiten liegt ein gut erhaltenes, detailliert beschriebenes Skelett unter einer Grabplatte, die einen Prämonstratenser in langer Kutte mit Brustkreuz und auf der Brust gefalteten Händen sowie einem spitzen Judenhut zu seinen Füßen zeigt – kein Zweifel: Man hatte die sterblichen Überreste des Hermannus Judaeus gefunden, die nun wie Reliquien geborgen und in die Sakristei überführt werden konnten.19 Es wäre also im Zusammenhang mit individueller Aneignung von Religion durch Konversion immer auch zu fragen, wer noch an solchen Transformationen partizipierte und sich aus welchen Gründen wann eine konvertierte oder konvertierende Person aneignete. Diese Prozesse dürften zu Lasten des Konvertiten – oder der Konvertitin, wenn eine solche, in analoger Ausführlichkeit belegt, gefunden werden sollte – gehen, denn damit wird ein Schlussstein in der Bewegung der Entrealisierung jüdischer Präsenz innerhalb der christlichen Mehrheitsreligion hin zur Repräsentation als „spectral Jew“ in Steven F. Krugers Diktion20 gesetzt.
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Was man mit Gott anstellen kann: Blasphemie in der frühneuzeitlichen Schweiz1 Was man mit Gott anstellen kann: Ein Problem des Ansatzes Wenn wir sprechen, meinen wir oft etwas anderes als das, was wir tatsächlich sagen. Sprechen ist nicht nur eine Form der verbalen Kommunikation, sondern auch der sozialen Interaktion. Der vorliegende Beitrag argumentiert, dass man das Handeln der frühneuzeitlichen „Gotteslästerer“ nicht begreifen kann, ohne dieses linguistische Prinzip zu berücksichtigen. Wer die blasphemischen Äußerungen von Gotteslästerern allein als kognitive Aussage über Gott versteht, unterschätzt die vielseitigen Implikationen ihrer Handlungen. Die Praktiken der Blasphemie zu analysieren, bedeutet zu untersuchen, als was man Religion erachtete und verstand, wie man über sie dachte, das heißt, wie man mit religiösen Aussagen umzugehen wusste. Die frühe Neuzeit ist reich an Quellen, die vom Einfluss Gottes auf das Leben der Menschen zeugen. In seinem Namen feierte man eine gute Ernte, schlechte Zeiten nahm man als Zeichen seines Zorns, Kriege wurden für den rechten Glauben geführt. Aber die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk war nicht einseitig. Zwar war es Gott, den sein Volk anzuflehen und dem es Dank zu erweisen hatte, er war es, von dem alles kam. Doch konnten auch Menschen etwas mit Gott anstellen. Lassen Sie mich diesen für Historikerinnen und Historiker der Frühneuzeit vielleicht ungewohnten Gedanken mit einem modernen Witz illustrieren: Eines Tages trifft Gott einen Juden im Himmel. „Was machst Du denn hier?“, fragt Gott überrascht. „Naja,“ antwortet der Jude. „Ich hatte einen Herzinfarkt.“ „Weswegen?“, fragt Gott nach. „Mein Sohn ist Christ geworden.“, antwortet der Jude. „Ach, weißt Du, das ist mir auch passiert“, erwidert Gott einfühlsam. „Und was hast Du da gemacht?“, erkundigt sich der Jude. „Ich hab’ ein neues Testament geschrieben.” Zwei Punkte möchte ich an dieser Stelle herausheben. Erstens funktioniert der Witz nicht, wenn man nicht weiß, wer Christus ist, und was das Neue Testament für Christen im Gegensatz zu Juden repräsentiert.
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Zweitens macht der Erzähler oder die Erzählerin des Witzes keine ernste theologische Aussage über die Vater-Sohn-Beziehung im Himmel, sondern er oder sie macht etwas anderes: Humorvoll zeichnet er/sie den Herrn als einfachen Menschen. Um das witzig zu finden, müssen Sprecher wie Zuhörer die religiösen und verbalen Normen ihrer Gesellschaft kennen. Mit anderen Worten: Die Art und Weise, wie über religiöse Angelegenheiten gesprochen wird, spiegelt wider, welche Rolle religiöse Normen in der jeweiligen Gesellschaft spielen. Wenn man die immense Bedeutung der Religion in frühneuzeitlichen Gesellschaften bedenkt, unterstreicht diese Feststellung, wie wichtig es für Historikerinnen und Historiker ist, das Problem des religiösen Sprechens anzugehen. Mit der genaueren Analyse frühneuzeitlicher Blasphemien können Historiker und Historikerinnen herausarbeiten, welche verbalen Verhaltensformen als religiös verletzend betrachtet wurden und dadurch religiöse Normen freilegen, wie sie im Alltag praktiziert wurden. Heutzutage ist die kleine Geschichte von der Unterredung des Juden mit Gott weit davon entfernt, ein crimen laesae majestatis divinae zu sein. Fundamentalisten ausgenommen würde niemand die Geschichte über das Neue Testament mit einer inakzeptablen Verbalattacke auf Gott assoziieren. Das ist ein entscheidender Unterschied zum frühneuzeitlichen Europa. Als im Jahre 1658 der schwäbische Geselle Johannes Zyder einen strukturell vergleichbaren Scherz in einem Zürcher Wirtshaus vortrug, wurde er der Blasphemie beschuldigt. Leider geben die Gerichtsunterlagen keine Auskunft darüber, wie es überhaupt dazu kam, dass er seinen Witz erzählte. Doch es fällt nicht schwer, sich die Szene vorzustellen. Da sitzen sie, Handwerker und ihre Gesellen, zusammen am Tisch, trinken so manches Bier und genießen die Geselligkeit. Die Ortsansässigen dürften Zyder gestichelt haben, denn Schwaben galten bei den Schweizern als knausrig und einfältig.2 Soweit wir wissen, nahm Zyder es mit Humor und erzählte die folgende Geschichte:3 Gott und ein Schwabe sind gemeinsam auf Reisen. Hungrig kauft Gott ein Stück Leber auf dem Weg und bittet seinen Begleiter, es zum Abendessen zuzubereiten. Doch plötzlich ruft ein Toter Gott zu sich, damit er ihn wieder zum Leben erwecke. Kein Problem für Gott, er erledigt die Angelegenheit. Glücklich wie er ist, dankt der wieder zum Leben Erweckte Gott und überreicht ihm eine beträchtliche Geldsumme. Immer noch hungrig kehrt Gott zu seinem Begleiter zurück. Aber leider muss er feststellen, dass jemand die Leber inzwischen verspeist hat. Natürlich fragt Gott seinen Begleiter, ob er es war, und selbstverständlich leugnet
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der Schwabe. In seinem Großmut scheint Gott sich nicht weiter daran zu stören. Er schlägt vielmehr vor, das gerade verdiente Geld zu teilen und legt es auf den Tisch. Der Reisebegleiter, Gott selbst und derjenige, der die Leber verspeist habe, sollten sich jeweils ihren Teil nehmen. Ohne zu zögern, greift der Schwabe zweimal zu. Zyders Erzählung funktioniert genauso wie der Scherz über Gott, der ein neues bzw. Neues Testament schreibt. Die Pointe beruht darauf, Gott in einem Alltagskontext anzusiedeln und dadurch menschliche Torheiten aufzudecken. Als Zyder verhört wurde, behauptete er, seine Zuhörer hätten so sehr gelacht, dass sie ihn animiert hätten, den Witz zu wiederholen. Doch war Zyders Geschichte offensichtlich nicht für alle Anwesenden harmlos. Es stellte sich heraus, dass sein Meister ihn beim Rat angezeigt hatte. Der Meister muss argumentiert haben, dass Zyder nicht nur ein Stück guter Unterhaltung geboten hatte, sondern auch gegen Gott gehandelt, also sich der Blasphemie schuldig gemacht habe. Eine solche Argumentation ist für uns heute befremdlich und wirft daher die Frage auf, was man in der frühen Neuzeit unter „Blasphemie“ verstand. Im Alten Testament hält das zweite Gebot fest, dass „man den Namen Gottes nicht missbrauchen soll, da der Herr nicht denjenigen ungestraft lässt, der seinen Namen missbraucht.“4 Doch es verstrich eine lange Zeit, bis christliche Theologen und Juristen schließlich das crimen laesae majestatis divinae der Gotteslästerung definierten. Erst im dreizehnten Jahrhundert formulierten sie das Konzept der Blasphemie aus. Ohne allzu sehr ins Detail gehen zu wollen, möchte ich kurz die Ergebnisse ihrer sorgfältigen Überlegungen zusammenfassen.5 Am Ende des 15. Jahrhunderts einigten sich Theologen und Juristen auf drei grundlegende Kategorien der Blasphemie: Fluchen war die erste Form der Blasphemie. Jemand anderem oder sich selbst etwas Schlechtes zu wünschen, bedeutete, Gott diesbezügliche Anweisungen zu geben. Das war nicht hinnehmbar. So etwas zu sagen wie „dass dich das fallende Übel ereile, dass mich der Teufel hole“ hieß Gott damit zu beauftragen, was er tun solle; zum Beispiel jemanden mit Krankheit zu schlagen oder den Teufel anzurufen. Das Schwören stellte die zweite Kategorie der Blasphemie dar. Wer schwor, rief Gott oder eine andere Macht auf eine illegitime Weise als Zeugen für seine eigene Sache an. Wendungen wie „bei Gots Schweiß, beim Teufel“ sind Beispiele dafür. Wie konnte man sich ohne jede Ehrfurcht auf Gottes Schweiß berufen oder sich an den Teufel wenden, wenn man etwas in aller Ehrlichkeit bekräftigen wollte?
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Die dritte Kategorie schließlich ist Blasphemie im engeren Sinne, wie wir sie noch heute verstehen. Sie besteht in der Leugnung Gottes. Theologen und Juristen des Spätmittelalters und der Frühneuzeit kannten drei Formen, wie man Gott leugnen konnte. Etwas zu bestreiten, das Gott ausmacht, war die eine Möglichkeit. Seine Allmacht in Frage zu stellen, ist ein Beispiel für diese blasphemische Spielart. Die zweite Form der Gottesleugnung bestand darin, Gott etwas zuzuschreiben, das seiner göttlichen Natur widersprach. Klagen, Gott sei nicht gerecht, zählten zu dieser Kategorie. Anderen göttliche Eigenschaften zuzuordnen, galt als dritte Variante, Gott zu leugnen. Dem Teufel Allmacht zuzuweisen, ist ein Beispiel hierfür. Für die frühneuzeitliche Theologie und Rechtswissenschaft war also Blasphemie ein Komplex klar definierter Kategorien. Wenn wir aber die Theologie und das Recht hinter uns lassen und uns den weltlichen Gerichten der Frühen Neuzeit zuwenden, treffen wir etwas völlig anderes an. Die Gerichtsakten, die Produkte des angewandten Rechts, belegen nicht, wie Intellektuelle die Gotteslästerung konzipierten, sondern wie die Bevölkerung und die Richter mit dem Bruch verbaler Tabus umgingen. Wenn wir nun danach fragen, wie Gerichtsakten beschreiben, was als untragbar wahrgenommen wurde, ist die Antwort so eindeutig wie enttäuschend zugleich. Blasphemie wurde mit einer Vielzahl von Begriffen bezeichnet, die nur schwer voneinander abzugrenzen sind. Sehr häufig findet man Umschreibungen wie „hat geflucht, geschworen und gotteslästerliche wort gebraucht“, selbst wenn der Angeklagte lediglich angeklagt war, den vergleichsweise harmlosen Ausdruck „potz blitz“ („Gottes Blitz“) mehrmals verwendet zu haben. Was in anderen Fällen die Quellen „unziemliche wort“ nennen, waren Aussprüche, die weitaus drastischer waren als ein simples potz blitz. Hieraus folgt für Historikerinnen und Historiker, dass wir nicht die Kategorien derjenigen übernehmen dürfen, die als Räte oder Vögte die Verstöße beurteilen mussten. Vielmehr müssen wir die aufgezeichneten Sprechakte analysieren, um sie aus historischer Sicht gemäß den Konzepten der frühneuzeitlichen Theologie und Rechtslehre zu kategorisieren. Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Wenn ich in einer Gerichtsakte auf eine Beschreibung stoße, bei der jemand des Fluchens und der Formel potz blitz angeklagt wurde, spreche ich nicht von Fluchen, sondern von Schwören, denn potz blitz heißt nicht, einem anderen etwas Böses zu wünschen. Vielmehr ruft man Gott um Beistand an. Die Diskrepanz, die zwischen Gesetz und Theologie als theoretischen Konzepten einer-
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seits, und der Anwendung dieser Konzepte durch Richter, Geistliche und Gläubige andererseits existiert, hat wichtige Konsequenzen für die historische Interpretation der Blasphemie in der frühen Neuzeit. Vier Aspekte des Begriffs müssen unterschieden werden: 1. Blasphemie, wie wir sie heute auffassen 2. Blasphemie, wie sie durch mittelalterliche und frühneuzeitliche Theologen und Juristen konzeptionalisiert wurde 3. Blasphemie, wie sie in den Gerichtsakten als Sprechakt bezeich net wurde 4. Blasphemie, wie wir sie auf der Grundlage frühneuzeitlicher Konzepte historisch einordnen. Kehren wir nun zu der Frage zurück, wie man das Problem der Konzeptionalisierung von Blasphemie historisch angehen kann: Wenn man versucht herauszufinden, was Gotteslästerer tatsächlich anstellten, wenn sie in einer gesellschaftlich nicht akzeptierten Weise von Gott sprachen, dann ist der Begriff der Blasphemie im modernen Sinn eine unnütze Kategorie. Der Vergangenheit unsere Vorstellung von Blasphemie aufzuzwingen, hieße einen anachronistischen Ansatz zu wählen. Wir würden dann nicht erfassen können, worin Blasphemie für Menschen der Frühen Neuzeit bestand. Da Blasphemie in der zweiten und dritten Wortbedeutung nicht synonym ist, wähle ich den vierten Ansatz und versuche zu analysieren, was einen Sprechakt blasphemisch werden ließ. Dabei ist die entscheidende Frage, was Gotteslästerer wirklich taten, wenn sie ihre zweifelhafte Sprache verwendeten. Bevor ich diese Frage beantworten kann, muss ich einen Begriff erläutern, den ich gerade unmerklich in mein Argument eingeschleust habe. Ich habe Blasphemie als Sprechakt bestimmt, ohne den Terminus zu erläutern. Das Konzept des Sprechaktes geht zurück auf John Austins berühmte Theorie, dass Sprecher beim Sprechen zugleich etwas sagen und etwas tun.6 Das Artikulieren von Lauten, das Verfolgen sprachlicher Muster und das Bewirken von Reaktionen beim Sprechen müssen nicht unbedingt miteinander übereinstimmen. Die Sprechakteure nutzen dieses Phänomen, wenn sie mit ihren Worten versuchen etwas zu erreichen. Im Englischen zum Beispiel kann man unabhängig davon, ob man die Person, die man gerade kennengelernt hat, sympathisch findet oder nicht „nice to meet you“ sagen. Mit der Formel signalisiert man lediglich ein höfliches „Guten Tag“. Dieses linguistische Konzept impliziert große philosophische Probleme, etwa die Frage, wie es Sprechern gelingt verstanden zu werden und somit in einem spezifischen sozio-kulturellen
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Kontext zu agieren. Es ist nicht meine Absicht, dieses Problem von dem pragmatischen Standpunkt einer Historikerin zu diskutieren.7 Ich will lediglich an das erinnern, was die Sprachpragmatik seit Austin, seit den 1960er Jahren, betont hat. Sprechen und Meinen sind zwei verschiedene Dinge. Damit wir den Unterschied zwischen expliziter und impliziter Aussage erkennen können, müssen wir die Konversationsregeln und die Normen, auf die sie verweisen, kennen. Zum Beispiel müssen wir wissen, was in einer Gesellschaft mit den Worten „nice to meet you“ oder mit dem deutschen Äquivalent „freut mich“ gemeint ist, damit wir verstehen können, dass die Wendung eine höfliche Begrüßung und nicht die Formulierung eines emotionalen Zustands bedeutet. Wenn wir dieses Konzept der verbalen Kommunikation auf die Praxis der Blasphemie anwenden, müssen wir uns fragen, worauf die Sprecher sich mit ihren blasphemischen Worten tatsächlich bezogen. Die Frage lautet nunmehr: Was ist damit gemeint, zu sagen, dass Blasphemie eine Art ist, etwas gezielt mit Gott anzustellen? Dieser Frage nachzugehen, heißt nicht zu untersuchen, wie Intellektuelle Blasphemie als Gedankensystem konzipierten, sondern zu untersuchen, welchen Grundsätzen Gotteslästerer folgten, wenn sie mit ihren Worten handelten. Ich kann dies hier nicht detailliert ausführen, sondern möchte nur die wesentlichen Punkte einer eingehenderen Argumentation skizzieren.8 Mit Gott handeln: Gotteslästerungen Schenkt man den frühneuzeitlichen Moralisten Glauben, war Blasphemie ein omnipräsentes Übel.9 Die außergewöhnlich reichen Quellenbestände10 des reformierten Zürich11 belegen, dass der Kommunalstaat keine Ausnahme war. Soweit man Vergleiche mit anderen europäischen Beispielen anstellen kann, scheinen die Zürcher viel mit dem Verbalverhalten ihrer Zeitgenossen gemein gehabt zu haben. Zürich kann daher durchaus als repräsentatives Beispiel dafür gelten, wie Europäer der Frühneuzeit handelten, wenn sie Gott lästerten. Wenn wir an Fluchen und Schwören denken, sind die entsprechenden Ausdrücke für die meisten von uns heute triviale Kraftworte. Ich schließe nicht aus, dass auch in der Frühen Neuzeit simple, unkontrollierte oder eruptive Ausdrucksweisen eine Art affektives Sicherheitsventil sein konnten.12 Mit Gerd Schwerhoff vertrete ich aber die These, dass hinter Fluchen und Schwören weit mehr steckt.13 Beide sind sehr häufig
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Mittel, einen Gegner in einem verbalen oder handgreiflichen Konflikt einzuschüchtern. Sie sind scharfe, rituell und zielgerichtet verwendete Waffen in Ehrkonflikten. Ein Zürcher Beispiel von ungefähr 1545 illustriert diese These. Laut Thoman Wetzel hat Heini Breitinger aus Hottingen einen gewissen Sprüngli provoziert, indem er ihn einen Zwerg nannte: Sprüngli, so die Zeugenaussage, entgegnete, „alls gewüß er ein Zwerg wer, so gwüß were der Breitinger ein Ketzer und Boßwicht. Da zwergete Inn der Breitinger abermaln. Daruff spreche der Sprüngli: „alls gwüß ich ein zwerg bin, so gwüß hast du ein ku geheÿt.[gehabt]“ Da seite der Breitinger: „Sprüngli, du tribst unzimliche wort.“ Uff das seigte der Sprüngli, der Breitinger solt zu Im kam. Da gienge er gegen Inn und spreche: „Da bin Ich,“ gryffe auch mithin an sin gwer. Da fluche er Sprüngli.“14
Der Zusammenhang, in dem sich Breitinger zu fluchen entschied, ist eindeutig. Breitinger war in einen typischen frühneuzeitlichen Ehrhandel verwickelt und folgte den üblichen, ungeschriebenen Regeln der Herausforderung und Retorsion:15 In der ersten Runde beleidigt Breitinger Sprüngli. In den Worten, Sprüngli sei ein Zwerg, lag die Botschaft: „Ich provoziere dich, ich bin dir überlegen, du kleiner Kerl.“ Sprüngli reagiert auf diese Provokation und versucht die Verbalattacke mit einer einschlägigen Beleidigung zu erwidern („Ketzer, Bösewicht“). In der zweiten Runde können die Kontrahenten das Unentschieden nicht stehen lassen und setzen auf Eskalation. Sprüngli behauptet, Breitinger habe sexuellen Verkehr mit einer Kuh („eine Kuh haben“) gepflegt.16 Breitinger verwarnt Sprüngli im folgenden Wortwechsel („du treibst unziemliche Worte“), aber ohne Erfolg. Sprüngli besteht darauf, den Streit auszufechten und signalisiert seine Bereitschaft zum Duell. Breitinger eröffnet das Ende, indem er die Herausforderung annimmt. Erneut versucht er seinen Gegner zu übertrumpfen. Er geht von verbaler Provokation zu physischer Bedrohung („an sein Gewehr, das heißt sein Messer greifen“) über, um schließlich von einer scharfen „metaphysischen“ Waffe Gebrauch zu machen: Dem Fluchen.17 Der demonstrativ blasphemische Sprechakt erfolgt auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung und verweist auf deren subtile Logik: Ehre war für Männer der frühen Neuzeit eine äußerst ernste Angelegenheit. Sie konnten deswegen nicht einmal die kleinste herabwürdigende Andeutung tolerieren. Wenn jemand nicht dazu in der Lage war, klarzustellen, wer die tatsächlich ehrenhafte Person war, konnte man zur Waffe der Blasphemie greifen. Mit diesem Mittel konnte man versuchen, den Gegner zu überwältigen. Der „Trick“ bestand im Wagnis,
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Gott in unrechtmäßiger Absicht anzurufen, und sich dadurch als stark und kühn genug darzustellen, Gott den Auftrag zu erteilen, den Kontrahenten zu strafen. Es gibt unzählige Beispiele dieser verbalen Ehrkonflikte, die hier nicht weiter angeführt zu werden brauchen. Es geht vielmehr darum, zu zeigen, dass Männer in der frühen Neuzeit18 mit Flüchen und Schwüren beabsichtigten, dem Gegenüber ihre Überlegenheit zu demonstrieren. Sie bezogen sich auf das sprachliche und soziale Wissen, demzufolge man nicht in Anspruch nehmen kann, mit Gott gleichgestellt, geschweige denn sein Herr zu sein. Gotteslästerer setzten ihre Worte jedoch nicht nur in Ehrkonflikten ein. Wenn Sprecher den Namen Gottes missbrauchten, konnten sie das auch tun, um die Gesellschaft zu provozieren, zu unterhalten oder eine religiöse Diskussion anzuregen. Personen, die andere der Blasphemie anklagten, benutzten den Vorwurf überwiegend dazu, diese als kulturelle oder soziale Außenseiter zu brandmarken. Historiker haben oft das Bild, das die frühneuzeitliche Moralliteratur von den Gotteslästerern zeichnete, unkritisch übernommen: dass nämlich Gotteslästerer zumeist Randfiguren wie etwa unverantwortliche Alkoholiker, heimatlose Soldaten, liederliche Arme, Huren und unehrliche Handwerker gewesen seien.19 Selbst wenn die Zürcher Akten uns kaum Auskunft über Alter und Beruf der Gotteslästerer geben, zeigen sie doch, dass sich blasphemische Sprechakte keineswegs auf marginalisierte Gruppen beschränkten. Einmal mehr lohnt es sich, die dokumentierte Vielfalt der Blasphemie näher zu betrachten. So wurde Michel Hengli des Schwörens angeklagt. Er war aus Zug, also einem katholischen Landesort. Vogt Winkelmann behauptete gegen 1520, er habe Hengli getadelt und erklärt, „die schwür sinnd nit brüchig unnder unnß, darumb laß darvon.“20 Winkelmann gab also zu verstehen, dass Blasphemie ein Charakterzug von andersgläubigen Fremden war. Sein Verständnis scheint auch für die Zürcher Obrigkeit typisch zu sein. Im Jahre 1650 empfahlen Kirchenvertreter dem Rat, erneut etwas gegen „[die] fürbrechenden alte und Neüwen Gotslästerungen, mit dem das liebe Vaterland auß frankreich, Catalonien und Dalmatien krams weiß erfüllt werde“ zu unternehmen.21 Ortsansässige wussten von dieser Argumentationsweise zu profitieren. So bat 1592 Georg von Birch, ein Lehrling, um Entschuldigung. Er gab zu, durchaus geflucht zu haben, aber „uß angenommner gewohnheit (deren er sich aus der frömde gewonnet)“.22 Vielsagend ist, dass die Magistrate solche Argumente akzeptierten. Als sie Jörg Meyer aus Nördlin-
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gen des Landes verwiesen, begründeten die Richter ihr Urteil damit, dass sie mildernd berücksichtigt hätten, „das söliches [sein] Gotslesteren Inn sÿner lanndts ord leider gmein“ sei.23. Offenkundig eignete sich Gotteslästerung gut dazu, Fremde als unzivilisiert zu etikettieren. Soziale Außenseiter wurden demnach leicht mit Gotteslästerern gleichgesetzt, wie ein Beispiel aus den 1530er Jahren illustiert. So musste Metzler vor Gericht erscheinen, weil er Flüche „so die bettler und Landstricher gebruchent“, verwendet hatte.24 Ähnliches wurde Soldaten, Bettlern, Landstreichern, Prostituierten und Kriminellen zugeschrieben, wenn sie fluchten und schworen. Der eigentliche Stein des Anstoßes war nicht mangelnde Ehrfurcht vor dem Herrn, sondern die Missachtung der öffentlichen Ordnung.25 Auch hier war die Blasphemie ein Etikett, das zwar ausdrücklich auf religiöse Angelegenheiten verwies, implizit hingegen verdeutlichte, dass jemand die Gemeinschaft empfindlich gefährdete. Gesellschaftliche Provokation, Unterhaltung und religiöse Diskussionen im Zusammenhang mit Gotteslästerung waren oft so stark miteinander verflochten, dass es schwierig ist, sie voneinander abzugrenzen. Die Fälle sozialer Provokation sind am einfachsten zu identifizieren. Diejenigen Sprecher, die zu dieser Kategorie gehören, waren sich ganz und gar bewusst, welche Herausforderung die Blasphemie darstellte. Dass sie religiöse Normen ihrer Gesellschaft brachen, hieß aber nicht, dass sie irgendwelche tieferen religiösen Aussagen zu machen beabsichtigten. Vielmehr übten sie mehr oder weniger starke Kritik an der Gesellschaftsordnung. Im Jahr 1559 ermahnte der Wirt eines Zürcher Wirtshauses Heinig Oswald mit dem Trinken aufzuhören. Oswald sollte es vermeiden sich zu übergeben, wenn er mit dem Erbrechen nicht die göttliche Gabe des Essens und Trinkens missachten wolle. Der Beschuldigte gab zu geantwortet zu haben: „[er habe] Gottloßer wÿß gereth, was es schaden, so er schon kotzete, es hette doch unser hergott ouch etwann getruncken, das er gekotzet.“26 Das war nicht nur respektlos, sondern auch blasphemisch und musste daher angezeigt werden. Wie konnte Gott zu einem gemeinen Mann profaniert werden? Aber worin eigentlich bestand die Blasphemie? Es folgte kein philosophisches Argument über die Natur Gottes. Oswald war schlicht darüber empört, dass der Wirt sich weigerte, ihm weiter zu trinken zu geben. Die meisten sozialen Provokationen mittels Blasphemie geschahen im Kontext heiterer Ausgelassenheit. Manchmal jedoch stellten sie soziale Normen ernsthaft in Frage. So im Fall des Querulanten Andreas Schultheß, der 1737 gerichtlich verfolgt wurde, weil er wiederholt in
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diversen Zürcher Wirtshäusern Schlägereien verursacht hatte, die mit Flüchen und Schwüren einhergingen. Ein Zeuge sagte aus, jemand habe Schultheß an den Herrgott erinnert, doch Schultheß habe lediglich entgegnet: „Man soll ihm ihn [sc. den Herrn] hinuntergeben. Er woll ihm den Hinteren ertätschlen.“27 Streng genommen bestand die Blasphemie nicht in der Respektlosigkeit, sondern darin, Gott einen menschlichen Körper zuzuschreiben. Wie in Oswalds Fall hatte der Beschuldigte gewiss etwas über Religion gesagt, aber etwas völlig anderes gemeint. Seine Botschaft war eindeutig. Er scherte sich nicht um die Justiz, ob in dieser Welt oder im Jenseits. Daher war ihm die öffentliche Ordnung völlig gleichgültig. Den Gerichtsakten zufolge war Geselligkeit ein weiterer Kontext, in dem die Blasphemie florierte. Manchmal bot sich in geselliger Runde beim Gespräch über Gott die Gelegenheit, gewitzte Bemerkungen zu machen und dabei mit seinen theologischen Kenntnissen zu prahlen. Eine andere Wirtshauskeilerei verdeutlicht diesen Punkt: Als Felix Staub und Martin Schäppi 1687 in einem Wirtshaus gemeinsam etwas tranken, gesellte sich Hans Ulmer zu ihnen und versuchte seine Gefährten herauszufordern mit „allerhand biblische räthersÿn ... zum exempel, wer gestorben und nit gebohren, wer gebohren und nit gestorben etc. Sie dorüber habend ihn davon abgemahnet, weil Er dorbeÿ wenig verstandtes habe, und sich leichtlich übel mißreden könte: deßen ungeachtet frage Er endtlich welches das größte wunderwerk uff der wëlt gewëßen? Schäppi antworte: Ohn alle zweiffel die mënschwerdung Xristi, da der Ewige Sohn Gottes uns ußerwehlten zu gutem angenommen wahre mënschliche Natuor und doch wahrer Gott gebliben, So daß Er worden was Er nit war, und gebliben was Er war. Nein sage Ulmer, das seige nit das gröste, sonder das, daß ein Jungfrauw gebohren und doch ein Jungfrauw gebliben vor der Geburt, in der Geburt und nach der Geburt: Schäppi: frage darüber, ob Er aber nit wüße, daß Xristus in seiner Mënschwerdung gebliben was Er war, wahrer Gott und worden was Er nit war, wahrer mënsch …“
Die theologische Diskussion mündete letzlich in der Frage, ob Christus schon immer existiert habe oder nicht. Die Gerichtsakte fährt fort: „Ulmer antworte Nein: Xristus seige erst seit seiner menschwerdung: Staub fragt, ob Er dann nit gehört ... was Xristus gesprochen: Ehe Abraham war, war ich: darauff sage Ulmer unbesonnerer weiß: Xristus ist in sünden gebohren worden wie wir: Sie beide Staub und Schäppi fuhrend ihn hierauff ernstlich an, sagtend Er lestere, dreüwerten ihm, sie wollend ihn zum hauß ußstoßen, und holleten ihn vor, den ohrt an die Hebräer, Xristus ist uns in allen dingen gliech
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worden, ußgenommen die sünd: Ulmer sage darüber ja ja das ist rëcht, ich habe gefehlt, ihr habet rëcht und ich läz [unrecht].“28
Dieser Fall ist ein außerordentlich gut dokumentierter Sprechakt und ein herausragendes Beispiel einer expliziten Blasphemie. Zu behaupten, Christus existiere erst seit seiner Geburt, hieß, seine göttliche Natur und Existenz vor seiner Menschwerdung zu leugnen. Aber Ulmer, Schäppi und Staub diskutierten nicht allein Fragen der Christologie. Zugleich genossen sie es, in lockerer Runde etwas miteinander zu trinken und auszutragen, wer der Cleverste von ihnen war. Explizit diskutierte man über religiöse Angelegenheiten, aber implizit vergnügte man sich, indem man einander zu übertrumpfen versuchte. Und das tat man auch, jedoch auf Ulmers Kosten. Er musste schließlich einräumen, dass er zu wenig von Theologie verstand. Um die subtile Botschaft der Konversation zu verstehen, mussten die Sprecher (und ihre Zuhörer) mit den Regeln vertraut sein, wie man seine Gesprächspartner am besten beeindruckt. Wofür also stand Blasphemie? Meine Antwort lautet, dass Blasphemie widerspiegelt, wie „ungebildete“ Laien ihre Freude daran hatten, sich humorvoll auf das theologische Wissen von Gelehrten zu beziehen, wobei sie aber dieses Wissen kritisch für eigene Zwecke nutzen. Das Niveau der religiösen Debatten konnte sehr stark schwanken. General Werdmüller, ein wohlhabender Mann und geachteter Diplomat, steht für einen Intellektuellen mit profunder Kenntnis theologischer Subtilitäten. Den Gerichtsakten von 1659 zufolge hatte er bei diversen gesellschaftlichen Anlässen verschiedene, komplexe Dogmenfragen erörtert. Eine davon betraf das Paradox der Trinität, das er während eines Abendessens in besseren Kreisen mit einem Pfarrer besprach. Während des Gesprächs nahm er die Position des advocatus diaboli ein und verteidigte Positionen, die von der Kirche im Laufe ihrer Geschichte verurteilt worden waren.29 Den Richtern, die den Fall zu beurteilen hatten, erschien der Fall dermaßen heikel, dass sie ein kirchliches Gutachten in Auftrag gaben. Vielsagenderweise gelangten sie zu dem Ergebnis, Werdmüller habe einen riskanten discours gehalten, bei dem einige Bemerkungen „irrig, verführerisch, heidnisch ... und nit zu entschuldigen“30 seien. Werdmüller gestand in der Tat ein, theologisch zu weit gegangen zu sein. Zur seiner Verteidigung behauptete er jedoch, es sei nicht seine Absicht gewesen, Gott zu lästern. Er habe vielmehr versucht, den Glauben besser zu verstehen. Schließlich akzeptierte das Gericht seine Argumentation. Es kommt hier weniger darauf an, ob die Richter ihm (zumindest formal) Glauben
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schenkten, weil er ein einflussreicher und angesehener Mann der höheren Zürcher Gesellschaft war. Vielsagender ist, dass Werdmüllers Argument als glaubwürdig betrachtet wurde. Offensichtlich war es den Richtern möglich, Worte, die zumindest oberflächlich blasphemisch zu sein schienen, als Ausdruck tiefer, ernsthafter intellektueller Auseinandersetzung mit dogmatischen Kontroversen und keineswegs irreligiöser Unterhaltung zu akzeptieren: Wer Gottesvorstellungen mit gewagten Überlegungen auslotete, erkundete den schmalen Grad zwischen dem, was religiös als noch akzeptabel betrachtet wurde und was nicht. Mein nächstes Beispiel geht der Frage nach, ob religiöse, mit ein paar blasphemischen Bemerkungen „gewürzte“ Debatten die Existenz von frühneuzeitlichem Atheismus belegen. Vor langer Zeit hat Lucien Febvre, ein Gründungsvater der Mentalitätsgeschichte, die Hypothese formuliert, Atheismus sei für die Frühneuzeit kein relevantes Phänomen gewesen, da den Menschen das „outillage mental“ gefehlt habe, die Existenz Gottes zu bezweifeln.31 Vertreter der Ideengeschichte haben Febvre widersprochen. Ihnen zufolge kann moderner Atheismus auf intellektuelle Konzepte der Frühen Neuzeit oder sogar des Mittelalters zurückgeführt werden.32 So stehen zwei gegensätzliche Versionen der Geschichte des Atheismus einander gegenüber: eine, die ihren Blick auf mentalités richtet; eine, die intellektuelle Systeme untersucht. Was können wir also über die Geschichte des Atheismus herausfinden, wenn wir das Phänomen frühneuzeitlicher Gotteslästerung untersuchen? Seit dem sechzehnten Jahrhundert findet man den Begriff „Atheismus” immer häufiger in den Quellen. Jedoch sind die Atheisten der Gerichtsakten nicht mit denjenigen zu verwechseln, für die sich die Ideengeschichte interessiert. Die Atheisten der gerichtlichen Aufzeichnungen sind gottlose Menschen verschiedenen Typs. Landschreiber Kramer steht für einen von ihnen: Im Jahr 1667 beschuldigte Felix Huber den gebildeten Amtmann, ihn auf dem Heimweg vom Bad beschimpft zu haben. Die öffentliche Szene muss einen ziemlichen Eindruck gemacht haben. Einer der Zeugen erklärte, „es seige zugegangen, daß einen die Har gan Berg stehen mögen.“33 Hans Vogel erinnerte sich in folgender Weise an Kramers zahlreiche Flüche: „[Er hat] nit gethan wie ein mentsch und alß ob kein Gott im Himel were“34 Diese Worte allein zeigen bereits, dass der Gedanke, Gott existiere nicht, zur Mitte des siebzehnte Jahrhunderts vorstellbar war. Das war jedoch nicht die Form von Atheismus, für die Kramer eine Geldstrafe erhielt. Das Gericht strafte ihn vielmehr seiner „ohngerymten, Goteslesterlichen, ohnliedenlichen worten“ und seines
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„gefüehrten gottlosem wesen wegen.“35 Kramer wurde nicht schuldig befunden, die Existenz Gottes in Frage gestellt zu haben, sondern dem Herrn gegenüber respektlos gewesen zu sein. Während die Quellen Kramer nirgends als „Atheisten“ bezeichnen, trifft dies im Fall Heinrich Benninger zu. Der Schneider wurde im Jahr 1681 angeklagt, „alle zeichen eines atheistischen menschen“ zu zeigen. Nicht nur, dass er fluchte, schwor und log, er frönte sexuellen Lastern, weigerte sich am Abendmahl teilzunehmen und machte Späße während des Gebets, wie der Vogt berichtete.36 Ganz offensichtlich hatte sich Benninger viel mehr zu Schulden kommen lassen, als ein gottloses Leben zu führen. Auch wenn er die Existenz Gottes nicht leugnete, pflegte Benninger für seine Zeitgenossen einen verachtenswerten, von Gott losgelösten Lebensstil. Wie der Fall Benninger veranschaulicht, beschrieb der Begriff „Atheist” ein zutiefst amoralische Person.37 Dies war bis in das achtzehnte Jahrhundert der Fall. 1718 zum Beispiel wurde der Hauptmann und Müller Heinrich Stein von seinem Pfarrer angezeigt. Er habe, so die Formulierung, „gelebt schier nicht wie ein Christ, sondern wie ein Heÿd ... Es scheint, als wann Gottes Geist von Ihne Weit gewüchen und Er kaum mehr recht thun könne ... [Er gebraucht] gotloße, Atheistische Reden ...“38 Einmal mehr wurde der Angeklagte nicht der Gottesleugnung, sondern der Missachtung des Herrn beschuldigt. Als Zwischenfazit halte ich fest, dass „Atheismus“ in der gerichtlichen und kirchlichen Terminologie zutiefst amoralische Menschen bezeichnete, die dauerhaft von (einem existierenden) Gott abgefallen waren. Der Begriff „Atheismus“ im Sinne einer systematischen Leugnung der Existenz Gottes scheint auf die philosophischen Überlegungen einer verschwindend kleinen intellektuellen Elite beschränkt geblieben zu sein. Historiker des Unglaubens müssen diese Semantiken bedenken, wenn sie nicht Missverständnisse wiederholen wollen. Diese Bemerkung beantwortet jedoch nicht die Frage, ob es im frühneuzeitlichen Zürich denkbar war, an der göttlichen Existenz zu zweifeln. Um diese Frage zu beantworten, müssen wir den Quellenwert von Gerichtsakten erörtern. Die Erwartung, Gerichtsakten verzeichneten komplexe intellektuelle theologische Konzepte, wäre unangemessen. Wenn Menschen vor Gericht standen, dann versuchten sie sich zu rechtfertigen und ihre Handlungen zu legitimieren. Anklage und Verteidigung waren wichtiger als die eingehende Diskussion religiöser Angelegenheiten und philosophischer Grundsatzfragen. Gerichtsmaterial
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verweist daher darauf, was die Befragten meinten, vor Gericht über Gott sagen zu können. Die Aussagen beinhalten, was man über Gott gesagt zu haben eingestand und mit ihm erlebt zu haben. Daraus folgt, dass die Quellen religiöse Erfahrungen dokumentieren, jedoch keine ausgefeilten intellektuellen Entwürfe. Trotzdem erlauben es uns solche Quellen durchaus, verschiedene Formen illegitimen religiösen Fragens und Zweifelns zu unterscheiden. Eine wichtige Gruppe der religionskritischen Sprecher besteht aus den Intellektuellen, die sich für differenzierte theologische Argumentationen interessierten. Sie sprachen Gedanken aus, die man oft als blasphemisch betrachtete. Das beste Beispiel dafür ist General Werdmüller. Diejenigen, die ihre Enttäuschung über Gott lautstark artikulierten, versuchten nicht mit ihrem Glauben zu ringen, sondern klagten Gott seiner Verfehlungen an. Diese Gotteslästerer findet man nur selten in den Gerichtsquellen.39 Heini Dahinden zählte zu ihnen. Er wurde 1529 angeklagt, in einem Wirtshaus ständig geschworen und geflucht zu haben. Als ihn jemand tadelte, antwortete Dahinden laut Gerichtsakte: „Ich mein, got weiß nüdt mer von mir. Doch gilt es mir schier glich. Dann wil micht got nit, so ist der tüffel min vast [sehr] fro.“40 Dahinden wandte sich offen gegen das religiöse Wissen seiner Zeit. Er ging viel weiter als nur implizit zu provozieren. Er klagte den Gott der Allmacht und Gerechtigkeit an, ihn im Stich gelassen zu haben. Die Redner, die es wagten, sich öffentlich über Gott zu beschweren, waren ihm immer noch irgendwie verbunden, denn sie bezogen sich noch – wenn auch ablehnend – auf ihn. Die Gotteslästerer hingegen, die bestimmte Dogmen ablehnten, stellten eine andere Gruppe dar. Sie zogen Dogmen wie die Jungfräulichkeit Mariens, die zweifache Natur des Sohnes oder die Rechtfertigungslehre als logische Paradoxien in Zweifel. Diese wenigen konfrontierten religiösen Glauben mit rationalen Argumenten. Im Jahr 1616 beispielsweise leugnete Rudolf Lehmann die Wiederauferstehung. Er wurde beschuldigt, folgendes gesagt zu haben: „das er nit allein zu underschidenlichen malen hin und wider von der uferstendtnüß der todten gantz schechtlich und mit namen geredt, das ein mentsch noch sÿnem todt anderst nit dann wie ein hund zeachten, es sÿge dhein [kein] ehwig lëben, dann der abgestorbenen lüthen noch dheiner widerkommen, der deßëlben halber zügknüß bracht habe. Und wer dem nit glaube, der sölle Inn das Beinhuß gohn und noch der uferstendtnüs fragen. Es sÿge nüt mit dem Jüngsten tag.“41
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Wir wissen nicht, ob Lehmann Gott grundlegend verwarf, aber sicherlich zog er seinen gesunden Menschenverstand einem Glaubensbekenntnis vor, das er in manchen Punkten für theologisch und historisch zweifelhaft hielt. Frühneuzeitliche Laien konnten religiös sein und brauchten deswegen nicht auf ihren kritischen, von Lebenserfahrungen geprägten Verstand zu verzichten. Fundamentalkritik, die bis zur Entfremdung von Gott und damit zur Loslösung von Gott gehen konnte, war der Religiosität dieser Epoche nicht fremd. Wenn man die „empirischen” Argumente Lehmanns betrachtet, ist es recht wahrscheinlich, dass sich einige Menschen gefragt haben müssen, ob Gott überhaupt existierte. Der Umstand, dass die Zürcher Gerichtsakten so gut wie keine Spuren solcher Glaubenszweifel aufweisen, ist absolut verständlich. Wer auch immer die Existenz Gottes leugnete, riskierte die Todesstrafe und wird daher sehr bedacht gewesen sein nicht aufzufallen. Wir können daher nicht ausschließen, dass es radikale Atheisten (im modernen Sinn des Wortes) tatsächlich gab. Sie dürften aber klug genug gewesen sein, ihre Gedanken nicht laut auszusprechen, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und nicht angezeigt zu werden. Was die schändlichen Redner mit Gott anstellten: Blasphemie und Wissen Obwohl ich die Problematik des Atheismus skizziert habe, habe ich die Erkenntnisse der Ideengeschichte nicht in meine Argumentation integriert. Dafür gibt es einen einfachen Grund. Das „Wissen”, für das sich Ideengeschichtler interessieren, unterscheidet sich von dem „Wissen”, das ich betrachtet habe. Ideenhistoriker analysieren, wie bestimmte Persönlichkeiten dazu kamen, systematisch zu begründen, warum Gott nicht existiert. Bei der Auswertung ihrer Quellen suchen Sozial- oder Kulturhistorikerinnen und -historiker nicht nach philosophisch ausgearbeiteten Konzepten, sondern nach den religiösen Erfahrungen und dem Wissen einer Bevölkerung um die religiösen Normen ihrer Gesellschaft. Metaphorisch formuliert: Menschen denken nicht nur mit ihrem Kopf, sondern auch mit ihrem Herzen und ihrer Seele. Wollen Historiker und Historikerinnen über „rein intellektuelles“ Denken hinausgehen, um herauszufinden, wie Menschen umfassend „gedacht“ haben, müssen sie die Komplexität menschlicher Existenz besser berücksichtigen. Damit meine ich, dass das Konzept des „Wissens” erweitert werden sollte. „Wissen“
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schließt auch Verhaltensmuster und Erfahrungswerte ein, die innerhalb einer Gesellschaft weitergegeben, also gesellschaftlich reproduziert sowie neu produziert werden. Ich denke nicht, dass diese Wissensformen einander zwangsläufig widersprechen müssen, als ob eine Dichotomie zwischen rationalem und irrationalem Wissen bestünde. Wir brauchen daher ein Konzept von „Wissen“, das alle Formen beinhaltet, in denen Menschen ihr Leben zu bewältigen versuchen. Wissen meint in diesem Sinne die sozio-kulturelle Kompetenz, wie man unter bestimmten Bedingungen handelt. Diese Schlussfolgerung versucht nicht eine heile Welt zu zeichnen, in der letztlich jedes Verhalten ein von der Gesellschaft geteiltes Wissen ausdrückt. Wissen ist vielmehr etwas, über das die einen eher verfügen als die anderen. Wissen kann dann ein Mittel der Machtausübung und der Selbstdarstellung sein wie in der Unterhaltung zwischen Staub, Schäppi und Ulmer über die Natur Christi. Wissen bedeutet aber auch, dass − aus welchem Grund auch immer − einige nichts (oder nicht genug) wissen oder wissen wollen und daher gegen die Regeln verstoßen. Ich meine, dass es völlig legitim ist, Blasphemie ideengeschichtlich zu analysieren. Aber dann betrachtet man vor allem intellektuelle Systeme, herausragende Persönlichkeiten, die wie General Werdmüller meistens aus der gehobenen Gesellschaftsschicht stammen. Frühneuzeitliche Gotteslästerer brauchten jedoch nicht diesen exklusiven Kreisen anzugehören, um zu wissen, wie man verbal provozieren konnte. In den religiösen und kommunikativen Settings ihrer Zeit tief verwurzelt, waren sie in der Lage, allgemein anerkannte Grundsätze in Frage zu stellen: Im theoretischen Verständnis der zeitgenössischen Rechtssetzung und Theologie verletzten diese Sprecher die Majestät Gottes. Sie entehrten ihn, indem sie seinen Namen missbrauchten. In der Praxis aber stellten sie etwas an, und zwar mit Bezug auf Gott. Sie versuchten zum Beispiel ihre Gegner in Ehrkonflikten einzuschüchtern. Sie genossen verschiedene Formen der Unterhaltung und Provokation, die darauf beruhten, die kommunikativen und religiösen Normen ihrer Gesellschaft zu übertreten. Sie konnten ebenso Gott offen kritisieren und damit als vormoderne „Atheisten“ gegen ihn rebellieren. Kurzum, Gotteslästerer kannten viele Möglichkeiten ganz bestimmte Dinge mit Gott anzustellen. Übersetzung: Christopher Degelmann
Sabine Gruber
Religiöse Prätexte bei Clemens Brentano „Ich bin der Februar, weil die Natur Einst aus den Wassern ist zum Licht gestiegen, Sieh hier der Fische doppelte Figur In meinem Schilde sich zussammenschmiegen Aus meiner Furchen harter Wellen spur Steigt Leben, was der Winter streng verschwiegen Liegt auf der Zunge mir. Mein volles Herz Kann ich kaum Bergen bis zum lieben Merz. Doch nehm ich mich bei meiner Lust in Acht – [...] Mit Gottes Mutter wären alle Kerzen Die brennen sollen durch die irdsche Zeit Entzündet heut an reinem Mutter Herzen und zu dem Dienst der Liebe eingeweiht. Und weil ich merke, daß ich Vorlaut bin, Zu prangen mit den Freuden dieser Erde, Beug ich mein Haupt dem Aschenkreuze hin. Gedenck, daß Staub ich war, Staub wieder werde Und so geziert tret schüchtern ich entgegen Dem Heilgen Blasius und nehm den Segen, Und dich Veronicka, die mir das Bild Des Sühner zeigt von Dornen scharf umwunden, Nehm gegen den Versucher ich zum Schild, Mein Wahlspruch wird, o Haupt voll Blut und Wunden, Und so bereitet geh ich durch die Tage, Und fleh St. Agatha gieb heile Brust Für meinen Frühling, den ich heimlich trage, [...]1
In diesem, für seinen Umgang mit Quellen nicht untypischen Text hat Clemens Brentano auf Prätexte zurückgegriffen, die einerseits aus christlicher Tradition (zum Beispiel „Aschenkreuze“, „Heilgen Blasius“, „Veronicka“) andererseits aus antiker und germanischer Tradition (etwa „Fische doppelte Figur“, „Natur … zum Licht gestiegen“) stammen. Es handelt sich um einen gekürzten Ausschnitt aus dem Lied des „Februar“, das Brentanos Zyklus „Die Monate“ entstammt. Dieser Zyklus ist
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ursprünglich als Singspiel für eine Hochzeit geschrieben worden, wurde aber vermutlich nie aufgeführt.2 Die Literaturwissenschaftlerin Verena Jent bemerkt zu den Quellenadaptionen Brentanos: „Brentano klittert bedenkenlos Stoff der antiken und christlichen Mythologie mit solchem aus heidnisch-germanischer Tradition und stellt allgemein bekannte Sinnbilder ohne Unterschied neben selten gebrauchte Zeichen aus dem Schatz seines überreichen enzyklopädischen Wissens.“3
Was Jent in Bezug auf eine Geburtstagszeichnung Brentanos für seine späte Liebe, die Schweizer Malerin Emilie Linder4, bemerkt, gilt für einen größeren Teil seines literarischen Werkes: Viele seiner Gedichte und Prosatexte sind von Quellen unterschiedlicher Provenienz beeinflusst. Bei der Mehrzahl dieser Texte kann jedoch nicht von „bedenkenlosem Klittern“ gesprochen werden, denn Brentanos Quellenadaptionen sind nicht arbiträr, sondern durchdacht und zielgerichtet. Wie Jent aber richtig bemerkt, war die Kombination seiner Quellen noch in seiner späten, „katholischen“ Phase, oft kühn. Wie viele hetorogene und aus Quellen geschöpfte Elemente Brentano seinen Gedichten auch beimischen mag – sie bleiben doch originäre Schöpfungen seiner Phantasie. Die Quellenbezogenheit seiner Dichtung reicht vom sentenzartigen Einflechten einzelner Zeilen bis hin zur Übernahme (meist leicht bearbeiteter) vollständiger Fremdtexte. Häufig sind eigenständige Texte, die dennoch erkennbar von einem Prätext abhängen. Typisch für Brentano ist darüber hinaus ein mehrstufiger Adaptionsprozess fremder Texte und die immer neue Überarbeitung eigener oder von anderen übernommener Texte. Die Fremdtexte können sehr unterschiedlich in seine eigenen Texte eingepasst sein: Der Quellenbezug kann markiert oder unmarkiert, er kann aber auch maskiert sein. Die Eigenheiten des Prätextes können weitgehend gewahrt bleiben, er kann aber auch markant verändert und fast unkenntlich gemacht sein.5 Die Literaturwissenschaft tat sich im Umgang mit der Quellenbezogenheit von Brentanos Werk lange Zeit schwer. Es wurde zwar immer wieder erfolgreich versucht, neue Quellen aufzuspüren, auf welche Weise Brentano seine Quellen verwendete, in einen neuen Kontext stellte und wie er sie dabei veränderte, wurde jedoch erst im Zuge der Intertextualitätsdebatte eingehend untersucht. Im Folgenden sollen Art und Zielrichtung von Brentanos Adaptionen religiöser Quellen an einigen markanten Beispielen verdeutlicht werden, ohne jedoch den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Damit soll auch ein Beitrag zum Verständnis von Brentanos Verhältnis zur
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religiösen Tradition geleistet werden, das bekanntlich Umbrüchen und Veränderungen unterworfen war, denn er kehrte 1817 nach einer Generalbeichte zu einem praktizierten katholischen Glauben zurück. Eine Konversion Brentanos – von der in der Sekundärliteratur gelegentlich die Rede ist – hat jedoch nie stattgefunden, denn Brentano gehörte seit seiner Geburt der katholischen Kirche an, man könnte allenfalls von einer Reversion sprechen. Sehr häufig verwendete Brentano auch noch in seinem Spätwerk die Bibel als Prätext obwohl sie dem späten Brentano nicht als wichtigste Quelle des Glaubens galt. Er nutzte aber auch apokryphe Texte, Heiligenviten, religiöse Lieder und exegetische Texte als Prätexte eigener Dichtung. Die exegetische und theologische Literatur spielte insbesondere für seine Bearbeitungen der „Emmerickschriften“ eine Rolle. Dabei handelte es sich um spätere Ausarbeitungen seiner handschriftlichen Aufzeichnungen am Krankenbett der stigmatisierten Nonne Anna Katharina Emmerick6. Hierfür verwendete er neben seinen eigenen Aufzeichnungen zahlreiche theologische und hagiographische, aber auch geographische und kulturhistorische Werke, sodass heute kaum mehr unterscheidbar ist, was an dem Text auf die ursprünglichen Aufzeichnungen Brentanos zurückgeht und was von ihm später aus disparaten Quellen hinzugefügt wurde. Für seine Quellenadaptionen konnte Brentano nicht nur aus einem umfangreichen schulisch und autodidaktisch erworbenen Wissen, sondern auch aus seiner für damalige Verhältnisse sehr umfangreichen Bibliothek schöpfen. Zu einer Zeit als Bücherbesitz noch kostspieliger war als heute, hatte der finanziell gut gestellte Brentano einen umfangreichen Buchbestand angehäuft, der nicht nur einen Überblick über die zeitgenössische Literatur, sondern einen Querschnitt der deutschen und europäischen Literatur seit der frühen Neuzeit bot. Mit einem Gesamtbestand von ca. sechstausend Büchern war seine Bibliothek ungleich umfangreicher als die meisten Privatbibliotheken seiner Zeit.7 Meerstern, wir dich grüßen Noch aus der Zeit vor Brentanos Rückkehr zu einem praktizierten katholischen Glauben stammen die in dem langen Zeitraum zwischen 1802 und 1812 entstandenen „Romanzen vom Rosenkranz“8. In diesem Werk finden sich intertextuelle Verweise auf eine kaum überschaubare Zahl an Prätexten, die von Dietmar Pravida für den Erläuterungsband
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der historisch-kritischen Edition im Rahmen der Frankfurter BrentanoAusgabe ermittelt wurden.9 Brentanos Umgang mit einem Prätext darin, dem „Ave maris stella“, soll im Folgenden als Beispiel für viele weitere religiöse Prätexte dargestellt werden. Das „Ave maris stella“ ist ein altkirchlicher Hymnus, den die Forschung ungefähr auf das neunte Jahrhundert datiert. Seit dem zehnten Jahrhundert ist er auch als liturgischer Text belegt. Die meisten Autoren sprechen von einem „unbekannten Verfasser“. Heinrich Lausberg hielt Ambrosius Autpertus für den möglichen Autor, ein Teil der älteren Forschung hielt dagegen Venantius Fortunatus für den Verfasser.10 Brentanos Adaption des „Ave maris stella“, „Meerstern wir dich grüßen“, ist Teil der zehnten Romanze vom Rosenkranz: „[...] Meerstern, wir dich grüßen, Die durch Trähnen wüsten Aus der Sünden dunkeln Zeit Einsam steuren Müßen Zu den Hellen Küsten Der Gestirnten Ewigkeit. [...] Jungfrau laut verkünden Von des Himmelsbühnen Engel deine Herrlichkeit; Und aus Meeres Gründen Steigt dich zu versühnen, Waß da lebt in irrdschem Streit. [...] Jungfrau voller Güthen Wie das Meer sich thürme Stehest du in Heiterkeit Wie Gefallne Blüthen Schütten dir die Stürme Himmelssterne auf dein Kleid. [...] Denck’, o Mutter süße Wie du durch die Wüste Du den Heren trugst in Pein Daß er für uns büße tranck er deine Brüste Sog er deine Milde ein. [...]
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Jungfrau, Himmels thüre In des Todes Gründe Sencke deiner Stralen Schein, Und hellleuchtend führe Aus dem Meer der Sünde Uns zum Quell des Lichtes ein“11
Kontext des Liedes ist der letzte Theaterauftritt Biondettas, einer Schauspielerin, die am folgenden Tag in ein Kloster eintreten will. Auf der Bühne erscheint ein Fels im Meer und auf dessen Spitze ein Marienbild. Neben diesem Marienbild steht Biondetta und singt zur Harfe das auf dem „Ave maris stella“ beruhende Lied. Die gesungenen Strophen werden mehrmals durch Strophen unterbrochen, die die Bühnenhandlung wiedergeben. Brentano hat den Text gegenüber seiner lateinischen Vorlage stark verändert. Nur in der vierten und fünften Strophe überwiegt noch der Gebetscharakter des Prätextes. Wie im lateinischen Text wird Maria nicht mit ihrem Namen angesprochen, sondern mit Synonyma: in der ersten Strophe als Meerstern, in der zweiten und dritten Strophe als Jungfrau, in der vierten Strophe als Mutter und in der fünften Strophe wieder als Jungfrau. Diese Epitheta stammen alle aus der ersten Strophe des lateinischen Prätextes und wurden in Brentanos Text auf die einzelnen Strophen verteilt. Auf den ersten Blick scheint es, als habe Brentano einen lateinischen oder einen deutschen Prätext nur als Inspirationsquelle für ein völlig eigenständiges Gedicht genutzt. Es sind jedoch zahlreiche Übernahmen aus der Quelle nachweisbar. Durch die eingefügten Zwischenstrophen ist das Gedicht mit dem Kontext verknüpft. Darüber hinaus finden sich auch im Liedtext selbst Hinweise, die den Kontext markieren. Die „Himmels Bühnen“ in der zweiten Strophe verweisen auf die Bühnensituation, und der Aufstieg dessen, was „im ird’schen Streit lebt“ aus den Meeresgründen verweist auf die als singende Meerfrau (Sirene) geschilderte Sängerin, die Biondetta großzog. Anders als im lateinischen Prätext, in dem das Bild des Meersterns nur als Attribut Marias genutzt aber nicht weiter ausgeführt wird, bezieht das Gedicht Brentanos seine Spannung aus der im Begriff „Meerstern“ angedeuteten Distanz zwischen der Tiefe des Meeres und dem Sternenhimmel. In der ersten Strophe wird das menschliche Leben mit einer Schifffahrt verglichen, in der es darum geht, durch die „Tränenwüsten“ der Sünde zu den Küsten der „gestirnten Ewigkeit“ zu gelangen. Der Gegensatz Gestirne – Meer wird in der zweiten Strophe wieder aufgenommen: Im Himmel preisen die Engel Maria und aus
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der Tiefe des Meeres steigt das Irdische zu Maria auf. Maria hat hier eher eine kosmische Mittlerfunktion zwischen Himmel und Erde (beziehungsweise Meerestiefen) als eine theologische zwischen Gott und den Menschen, die ihr im lateinischen Text zugesprochen wird. Auch für die dritte Strophe ist dieser Gegensatz konstitutiv. Maria steht dem Irdischen, das hier mit dem Meer identifiziert wird, enthoben über der Tiefe des Meeres. Der Himmel schüttet Sterne auf ihr Kleid. Die erste Strophe Brentanos lässt sich wegen ihrer sehr ähnlichen Initialzeile und wegen ihres Grußcharakters der ersten Strophe des lateinischen Textes zuordnen. Die fünfte Strophe des Brentano-Textes ist bedingt der sechste Strophe des lateinischen Textes zuzuordnen, weil hier wie dort um ein Wegweisen Marias im Leben gebeten wird, das schließlich zur Anschauung Gottes führt. Die Anrede Marias als Himmelstüre im ersten Vers der fünften Strophe steht im lateinischen Text im letzten Vers der ersten Strophe. Die Neukontextualisierung des „Ave maris stella“ in den „Romanzen vom Rosenkranz“ bedeutet eher einen Bruch mit der Tradition, der der Prätext entstammt, als Kontinuität. So findet sich in der zweiten Strophe des Liedes eine Differenz gegenüber der kirchlichen Tradition, wenn Maria – im Gegensatz zu ihrer Rolle in der lateinischen Vorlage – eine kosmische Mittlerfunktion zwischen den „Himmels Bühnen“ und den „Meerestiefen“ zugesprochen wird. Die zwischen die Liedstrophen geschobenen Verse, die die Lebensgeschichte Biondettas wiedergeben, mischen ähnlich wie das Lied des Februar Weltliches und Geistliches, Antikes und Christliches: So lässt die Beschreibung eines Schiffsunterganges die christliche Vorstellung von der geistlichen Schifffahrt und von Maria als Hilfe zur Orientierung („Meerstern“) anklingen. Daneben stehen antike Bilder wie das der Sirene, von Brentano in ihrer barocken Bedeutung als singendes Meerweib verstanden, und die „Leichenfackel“, die auf den antiken Jüngling Thanatos anspielt, der mit einer Fackel als Todesbote erscheint. Durch ein Herauslösen von Brentanos Adaption des „Ave maris stella“ aus ihrem Kontext innerhalb der „Romanzen“, wie in den zahlreichen Marienliedanthologien, die den Text aufnahmen, werden leicht die heterogenen Bilder verdeckt, die den Text umgeben und für Brentanos Umgang mit der religiösen Tradition vor seiner Rückkehr zum Katholizismus, aber durchaus auch noch danach, kennzeichnend sind.
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Ich bin durch die Wüste gezogen Ein weiteres Beispiel für Brentanos Umgang mit Prätexten ist sein Gedicht „Ich bin durch die Wüste gezogen“, das 1816 kurz vor seiner Rückkehr zum praktizierten Katholizismus entstanden ist. Es bezieht sich nicht auf einen lateinischen Hymnus, sondern auf die oft zitierte Bibelstelle Hiob 1,21: „Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen; der Name des HERRN sei gelobt!“. Es sind drei Fassungen des Gedichtes überliefert, zwei lange und eine pointierte Kurzfassung: „Ich bin durch die Wüste gezogen, Des Sandes glühende Wogen Verbrannten mir den Fuß. Die Sonne sog mir im Zorne Das Wasser aus jedem Borne, Es folgte kein Regenguß. Ich dürste, es bringen die Dorne Mein siedendes Blut in Fluß. Aus zog ich mit sieben Kamelen, Es lechzen unsere Kehlen, Wie rette ich Weib und Kind. Wo finde ich frische Quellen, Die Schätze von Gold und Juwelen Begrub im Sande der Wind. Soll uns das Leben nicht fehlen, O Himmel, regne geschwind! Ich wühlte mit glühendem Schwerte Den Kindern ihr Grab in der Erde, Bis auf das letzte fürwahr! Das ruht unterm Mutterherzen, Bis sie es in Jammer und Schmerzen Hinsterbend dem Tode gebar. Es heult die Hyäne, doch erzen Stellt mir sich das Schicksal dar. Gern hätte ich Tränen getrunken, Der Augen Quell ist versunken, Oase wie liegst du so fern! Vor Glut ist das Herz mir verglommen,
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Das Ziel, ich fühl’ es gekommen, Ich rufe zum sinkenden Stern: Der Herr hat gegeben, genommen, Gelobt sei der Name des Herrn!“12
In allen drei Fassungen ist das Bibelzitat einem Lyrischen Ich in den Mund gelegt. Adressat des Ausrufes ist kein menschliches Gegenüber, sondern in der Kurzfassung der „sinkende Stern“, in den längeren Fassungen13 der „bittere Stern“. Die Intensität des mit dem Zitat verbundenen Gefühlsausdruckes unterscheidet sich. In der Kurzfassung wird das Zitat gerufen, in den beiden längeren Fassungen dagegen geschrien. Auch die Position im Text und der in allen Fassungen gegenüber der Bibel veränderte Wortlaut unterscheiden sich in den drei Versionen. Die prominenteste Stelle hat das Zitat in der Kurzfassung, deren Abschluss es bildet. In einer der beiden längeren Fassungen steht das Zitat an einer Nahtstelle des Textes. Heißt es in der Kurzfassung „Gelobt sei der Name des Herrn“, so ist in den längeren Fassungen „Name des Herrn“ durch „Wille des Herrn“ ersetzt. In der Kurzfassung folgt auf die Schilderung des Leides die Klage des Wanderers darüber, nicht einmal weinen zu können. Die Oase ist für ihn unerreichbar geworden. Ein anderes Ziel scheint dagegen nah zu sein. Dieses Ziel ist verbunden mit dem Bild des sinkenden Sternes. Die sternlose Nacht kann als Versinken des lyrischen Ich in Hoffnungslosigkeit gedeutet werden. Ein Blick auf die beiden längeren Fassungen, in denen der Wanderer den Tod vergeblich herbeisehnt, macht jedoch die Deutung des sinkenden Sternes als vergehendes Leben wahrscheinlicher. Das abschließende Hiob-Zitat bleibt in der Kurzfassung unbeantwortet stehen. Es signalisiert trotz aller Hoffnungslosigkeit noch die Gewissheit, dass alles, auch das Leiden, von Gott kommt. In den beiden längeren Fassungen bleibt das Hiob-Zitat nicht stehen, sondern es erfüllt sich wie im biblischen Prätext die Aussage, dass der Wanderer alles, was er verloren hat, zurückerhält, wenn auch in anderer Form als erwartet: „All was ich verlohren, begraben, All, was ich allein, um zu haben, In der heißen Wüste gesucht, Das soll mich im Geiste nun laben, In unverbotener Frucht.“14
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Das mit dem Hiob-Zitat verknüpfte Bild des Sternes ist mit dem Attribut „bitter“ versehen und erinnert somit an den Stern „Wermut“ aus der Apokalypse. Das Bibel-Zitat wird in diesem Text Brentanos durchaus in einen Kontext gestellt, der dem in der Bibel ähnelt. Es geht um eine Wüstenwanderung, um eine ersehnte Oase und Quelle, um im Sand versunkene Schätze. Jedoch wird der Name Gottes in der Kurzfassung nur in dem Bibelzitat, nicht jedoch in dem umgebenden Kontext genannt. Das Zitat erscheint fast als ein Fremdkörper in seiner zwar mit religiöser Symbolik operierenden, aber doch konsequent im innerweltlichen Bereich verbleibenden Umgebung. Zwischen Bibeltext und neuem Kontext wird ein Kontrast deutlich, der ihn in einem anderen als dem gewohnten Blickwinkel erscheinen lässt und deshalb auch neue Deutungen des Textes ermöglicht. Trutznachtigall Anders verfuhr Brentano bei seiner Neuausgabe von Friedrich Spees „Trutznachtigall“, die nicht nur auf einem religiösen Prätext beruht, sondern diesen erneut in einen – allerdings durch zeitgenössische Diskurse geprägten – religiösen Kontext stellt. Das erste Zeugnis einer Beschäftigung Brentanos mit Friedrich Spee ist sein Brief an Achim von Arnim vom 2. April 1805. Mit diesem Brief verschickte Brentano zwei Abschriften aus der „Trvtz Nachtigal“ und schrieb dazu: „Auf ! Auf ! ermuntre dich, breche auf, ehe die Knospen bei euch aufbrechen, ich lege dir ein Stück Frühlingslied, aus der Truznachtigal, des Jesuiten Spee 1696. her, dieser Mann ist ein Dichter mehr als mancher Minnesänger, du wirst über diese Lieder staunen, wenn ich noch einige mir fehlende Schriften dieses grosen, in religioeser Liebe grösten Dichters habe, will ich ihn heraus geben, er soll uns vieles zu den Volksliedern bieten.“15
Brentano bezog sich hier auf den ersten Band von „Des Knaben Wunderhorn“, in den tatsächlich mehrere Texte Spees aufgenommen wurden. Sein Interesse an Spee steht im Kontext einer zeitgenössischen Wiederentdeckung des barocken Dichters. Brentano machte seine, in dem Brief an Arnim vom 2. April 1805 getroffene Ankündigung, er wolle Spee herausgeben, erst Jahre später mit seiner Neuedition der „Trvtz Nachtigal“ wahr. Die erste Erwähnung dieses Projektes datiert vom 2. Juni 1816. Erst im folgenden Jahr wird das Editionsprojekt in einem Brief Arnims an Jacob Grimm vom 30. März16 erneut erwähnt:
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„Er hat die Trutznachtigall in recht sauberm Abdruck herausgegeben, mit einem Anhange aus dem güldnen Tugendbuche des Spee und einem Leben, sammt ein paar Gedichten von ihm, wahrscheinlich ist es bald vergriffen, denn die Liebhaberei an so etwas wächst ungemein und die Auflage ist nur von 600 Exemplaren.“17
Unmittelbar vor Erwähnung der Trutz Nachtigal-Edition, aber ohne direkten inhaltlichen Bezug zu dieser, spielt Arnim auf die vermutlich am 27. Februar 1817 erfolgte Generalbeichte Brentanos und seine damit dokumentierte Rückkehr zu einem praktizierten Katholizismus an: „Meine liebste Zeit war, als ich den ersten Theil des Wunderhorns da schrieb, bei Clemens wohnte [...] und ihn quälte zuweilen Rheumatismus und üble Laune, aber er war doch frommer, als jetzt, wo er sich die Brust bekreuzigt und beichtet und sich wie ein bekehrter Sünder anstellt.“18
Der Erscheinungszeitraum von Brentanos Neuausgabe der „Trutznachtigall“ – Weihnachten 1816 als terminus post quem und der 30. März 1817 als terminus ante quem – und wohl auch noch ein Teil der Arbeiten daran fällt also mit der Lebensphase Brentanos zusammen, in der er zum praktizierten Glauben zurückkehrte. Dass die vermutlich vordatierte Jahreszahl 1817 auf dem Titel der „Trutz Nachtigal“ möglicherweise auch in einer kontrastiven Beziehung zum dreihundertsten Reformationsgedenkjahr stand, das von den evangelischen Kirchen mit großem Aufwand gefeiert wurde, ist vor allem vor dem lebensgeschichtlichen Hintergrund Brentanos zu vermuten. In Spee schien Brentano das Ideal eines, auch noch für spätere Zeiten bedeutsamen, katholischen Dichters gefunden zu haben. Brentano hatte, wie bereits aus dem Titel seiner „Trutz Nachtigal“-Ausgabe hervorgeht, den Anspruch, eine Wörtlich treue Ausgabe von Spees Werk zu schaffen. Deshalb sollte der Text „nur neuorthographisch“ bearbeitet werden, „sonst wörtlich wie Spee die Lieder gedichtet“19. Als Konsequenz aus dieser Rücknahme Brentanos als Autor erscheint sein Name nicht im Titel der Edition. Damit stellte er sich in die Tradition Spees, der seinen Namen ebenfalls nicht auf den Titel seines – erst postum veröffentlichten – Manuskriptes setzte, sondern dort anonym als Priester der Gesellschaft Jesu erschien.20 Trotz dieser Unterordnung unter seinen Vorgänger Spee wurde Brentano seinem, im letzten Abschnitt der Einleitung geäußerten Anspruch, lediglich in die Orthographie seiner Vorlage einzugreifen, und sie darüber hinaus nicht zu bearbeiten, nicht gerecht, denn er modernisierte an
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einigen Stellen nicht nur die Orthographie, sondern auch die Lexik und harmonisierte den Rhythmus.21 Besonders interessant ist Brentanos Umgang mit seinen Quellen in der dem Werk vorangestellten Biographie Spees „Einiges von dem Leben, Handeln, Leiden und Sterben des geistlichen Vaters Friedrich Spee von Langenfeld“, die er aus verschiedenen Einzelquellen zusammenfügte und ergänzte, und die in der aktuellen Plagiatsdebatte sicher nicht über jeden Zweifel erhaben wäre. Mit wenigen Retuschen veränderte Brentano seine der Tradition der Aufklärung entstammende Hauptquelle aus dem zweiten Jahrgang des „Journals von und für Deutschland“22 jedoch so, dass der Text eine völlig andere Wirkung bekam und Spee darin als streng gläubiger Katholik und nicht als Vorläufer modernen Gedankengutes interpretiert wurde. In seiner Einleitung vergleicht Brentano zunächst die Hexenverfolgung mit der ‚Terreur’ in der Endphase der Französischen Revolution und führt so eine neue, aktuelle Lesart in die Interpretation von Spees gegen die Hexenverfolgungen gerichteter „Cautio Criminalis“ ein, die deren aufgeklärten Interpreten fremd war. Auch betont er: „Wir dürfen uns dennoch unter Spee keinen sogenannten Aufgeklärten denken“. Mit dieser Bemerkung wollte sich Brentano wohl vor allem von dem ersten Herausgeber einiger Bearbeitungen der „Trvtz Nachtigal“, Ignaz Heinrich von Wessenberg, distanzieren, der durch die Ästhetik der Aufklärung geprägt war und auch Spee in diesen Kontext stellte. So wies dieser in der kurzen Vorrede zu seinen „Trvtz Nachtigal“-Bearbeitungen ausdrücklich darauf hin, dass Spee „unter allen [...] der Erste gewesen sei, der in Deutschland als muthvoller Bekämpfer der Vorurtheile seines Zeitalters und der üblichen Gerichtsabscheulichkeiten in Ansehung der Hexen und Zauberer in seinem Buche: Cautio Criminalis [...] auftrat.“23 Mit seiner ausführlichen Würdigung Spees als Verfasser der „Cautio Criminalis“ im weiteren Text folgt Brentano zunächst selbst der SpeeRezeption der Aufklärung, die in ihm vor allem den Bekämpfer des Hexenwahns sah und weniger den religiösen Dichter.24 In Brentanos Hauptquelle für die biographische Einleitung zur „Trutznachtigall“, aus dem „Journal von und für Deutschland“ heißt es dazu unter anderem: „Der Hexen=Proceß, der vormahls Deutschlands Schmach und Geißel war, bleibt [...] ein sehr lehrreicher Beweis von der Abscheulichkeit des Aberglaubens, der ihn veranlassete. Eine kurze und zuverlässige Beschreibung desselben setzt den großen Vorzug, den unsere Tage, durch Aufklärung der Religion und Vernunft erhalten haben, [...] in ein helles Licht.“25
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Diesen Abschnitt übernahm Brentano allerdings nicht aus seiner Vorlage, aus der er sich in der Folge distanziert. So betont er entgegen seiner Quelle, dass Spee „an die Pforten der Hölle“ geglaubt habe. In Brentanos Quelle wird dagegen gerade der Glaube an die Macht des Teufels als ursächlich für den Hexenwahn angesehen. Am Beispiel von Brentanos biographischer Einleitung zur „Trutznachtigall“ wird deutlich, dass mitunter wenige Hinzufügungen und Weglassungen ausreichen, um einen Prätext neu zu kontextualisieren und dass eine Einleitung die Neuinterpretation eines bekannten Werkes bewirken kann. Brentanos Neuausgabe der „Trutznachtigall“ verfolgte im übrigen keinen dezidiert künstlerischen Anspruch, sondern wollte seinen Zeitgenossen ein als paradigmatisch angesehenes Werk der Vergangenheit durch sprachliche Modernisierung wieder zugänglich machen. Brentanos Zeitgenossen sollten dieses Werk durchaus auch als religiöses Erbauungsbuch rezipieren. In jenen äußersten Stunden Letztes Beispiel für Brentanos Neukontextualisierung der religiösen Überlieferung ist eine Übersetzung aus seiner späten Werkphase. Der von Brentano übersetzte und bearbeitete Text „In jenen äußersten Stunden“ ist vor allem deshalb interessant, weil bereits seine Vorlage intertextuelle Strukturen aufweist. Der Refrain des Prätextes stammt aus einem weltlichen Gedicht des Wiener Hofpoeten Pietro Metastasio, der von einem nicht namentlich genannten Geistlichen – im Titel nur als „sacerdote“ bezeichnet – zu einem geistlichen Lied verändert wurde. Brentano übersetzte diese Vorlage, veränderte sie dabei aber auch. Der Terminus ante quem der Entstehung seiner Übersetzung ist der 19. März 1829, denn sein auf diesen Tag datierter Brief an Christian Brentano26 enthält eine Reinschrift des Textes. Vielleicht schrieb Brentano 1841 in München eine weitere Übersetzung des Liedes oder arbeitete die vorhandene um, denn eine Bekannte berichtet in ihren Erinnerungen27, Brentano habe anlässlich eines Treffens ein erschütterndes Passionslied vorgetragen, das er gerade erst gedichtet habe. Brentanos Übersetzung des Passionsliedes wurde im neunzehnten Jahrhundert auch als geistliches Lied rezipiert und in mehrere Gesangbücher aufgenommen, aus den folgenden Auflagen aber wieder entfernt. Die Quelle seiner Übersetzung von „In quella notte estrema“ hat sich
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vermutlich in seinem Nachlass erhalten. Jedenfalls ist ein Druck mit dem italienischen Text Bestandteil des so genannten ‚Geistlichen Wunderhorns’, einer Sammlung von Ein- und Mehrblattdrucken, die nach einer Familienüberlieferung auf Clemens Brentano zurückgeht28. Dort trägt das Lied den Titel CANZONETTA DEL METASTASIO RIVOLTATA DA UN SACERDOTE ALLA PASSIONE DEL SIGNORE.29 Der Titel des Einblattdruckes (übersetzt: Liedchen des Metastasio, von einem Priester auf das Leiden des Herrn gewendet) suggeriert, hier sei ein Gedicht Pietro Metastasios, des Hofpoeten Kaiserin Maria Theresias und später Josephs II., lediglich umgedichtet worden. Aber nur der Refrain „E tu chi sa se mai, ti sovverrai di me“ stammt aus seinem 1746 entstandenen Gedicht „La Partenza“30 Darüber hinaus übernahm der unbekannte Autor von Brentanos Vorlage die Situation des Abschieds von einer geliebten Frau und übertrug sie auf die Passion Christi. Das Lied ist so formuliert, dass Christus als sein Sänger erscheint, der aus seiner Sicht das Passionsgeschehen schildert. Dabei spricht er jeden einzelnen Zuhörer direkt an.31 Die erste Strophe beschreibt die Ölbergszene, die folgenden Strophen jeweils eine Station im Passionsgeschehen: Str. 2: Geißelung, Str. 3: Krönung mit der Dornenkrone, Str. 4: Tragen des Kreuzes. Str. 5: Kreuzigung. Str. 6: Öffnen der Seitenwunde mit einer Lanze. Str. 7: Vergießen des Blutes. Str. 8: Gebet zu Gottvater. Str. 9: Die Natur fühlt den Schmerz Christi. Ab der zehnten Strophe werden nicht mehr einzelne Stationen der Passion wiedergegeben, sondern die Passion als Ganzes gedeutet. Brentano übernahm die sechszeilige Strophenform seiner Vorlage und bemühte sich erkennbar um Textnähe, ersetzte aber einzelne Worte oder Verse der Vorlage durch andere. So fiel in seiner Übersetzung – im ersten Vers der zweiten Strophe – die Säule/der Pfahl („colonna“) weg und wurde durch das Wort „Geißel“ ersetzt, in der dritten Strophe ersetzte Brentano den zweiten und dritten Vers ganz durch eigene Verse. Heißt es in der Vorlage „Quando qual re di burla;| cinto portai il Crine| di longe acute Spine, [...]“ (= Als ich wie ein Possenkönig| umwunden trug das Haar| längs mit scharfen Dornen), so fügte Brentano an dieser Stelle „Stach mich von Dornen die Krone,| Gab man mir Scherben zum Throne, | Reicht man ein Rohr mir zum Hohne, [...]“ ein. Es kam also ein weiteres Marterwerkzeug, das Rohr, und der der Dornenkrone korrespondierende Scherbenthron hinzu. Ähnlich ging Brentano in der neunten Strophe vor. Im italienischen Text wird dort beschrieben, wie Himmel, Erde und Berge den Schmerz Christi mitfühlen. Brentano er-
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setzte den zweiten und dritten Vers durch eigene Zeilen, die in Anlehnung an den Text des Matthäus-Evangeliums die durch den Kreuzestod Christi hervorgerufenen Naturwunder beschreiben. Erhöhten diese Änderungen den Bilderreichtum des Textes, so ist die semantisch nicht korrekte Wiedergabe anderer Termini lediglich metrisch bedingt. Ähnlich wie in seiner „Trutznachtigall“-Bearbeitung bemühte sich Brentano auch hier um Textnähe und der Text bleibt auch in seiner Übersetzung religiös deut- und kontextualisierbar. Es ist kein Bruch mit der Tradition, der die Vorlage entstammt, erkennbar. Ja, Brentanos Text wurde in mehreren Gesangbüchern aus den 40er Jahren des neunzehnten Jahrhunderts sogar als geistliches Lied rezipiert. Allerdings darf nicht unerwähnt bleiben, dass sein Text bereits bei der ersten Revision dieser Gesangbücher für ungeeignet erachtet und wieder aus dem Textkorpus ausgeschieden wurde. Es stellt sich also die Frage, ob Brentanos Übersetzung doch nicht den Ton der zeitgenössischen Erbauungsliteratur traf. Die oben dargestellten Beispiele für Adaptionen religiöser Prätexte bei Brentano zeigen seinen unterschiedlichen Umgang mit dem Quellenmaterial. Zwei Texte stellen ihre Prätexte in einen neuen, heterogenen und vor allem poetisch akzentuierten Kontext, zwei andere stellen sie in einen Zusammenhang, der ihrer ursprünglichen religiösen Kontextualisierung ähnelt. Dass gerade diese beiden Texte aus der Zeit nach Brentanos Rückkehr zu einem praktizierten katholischen Glauben stammen, ist zwar kein Zufall, es finden sich jedoch auch in dieser Zeit noch genügend Beispiele für heterogene Kontexte, in die Brentano die von ihm ausgewählten religiösen Prätexte stellt. So ist seine an Emilie Linder gerichtete Liebeslyrik voller religiöser Allusionen und Säkularisate christlicher Termini. Wie Brentano mit religiösen Prätexten umgeht, lässt sich kaum auf eine einfache Formel zu bringen. Zu beachten ist, dass auch die Texte, die die religiösen Prätexte nicht in eine heterogene Umgebung einbringen, aus germanistischer Sicht als sprachliche Kunstwerke und nicht als religiöse Gebrauchstexte betrachtet werden müssen, auch wenn Brentano wie im Fall der „Trutznachtigall“ durchaus intendierte, nicht nur ein poetisches Werk, sondern auch ein Erbauungsbuch zu schaffen. Es wäre deshalb interessant und wichtig, Texte wie die „Trutznachtigall“, bei deren Edition der Wert als literarisches Kunstwerk hintan und der Gebrauchswert – auch und gerade im religiösen Zusammenhang – im Vordergrund stand, aus theologischer und religionswissenschaftlicher Sicht zu untersuchen. Noch weniger als Kunstwerk intendiert waren die anonym veröffentlichten Emmerick-Schriften. War bei der nach der
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Reversion veröffentlichten Lyrik mit Glaubensbezügen ein Nutzen im religiösen Kontext nicht primär intendiert, so ist doch auch hier gelegentlich eine Bekenntnisintention zu konstatieren. Was Brentanos religiös kontextualisierte Texte betrifft, gibt es demnach in der theologischen und religionswissenschaftlichen Forschung zahlreiche Desiderate. Es wäre sinnvoll, diese interdisziplinär anzugehen.
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Der Islam der Modernisten In diesem Band geht es um die Frage, wie Religionen von Einzelnen angeeignet werden. Mein Beitrag beschäftigt sich mit drei Individuen, die mit ihrer individuellen Neu-Aneignung des Islam die islamische Moderne begründet haben: Dschamal al-Din al-Afghani, Muhammad Abduh und Muhammad Raschid Rida. Man könnte hier noch einige weitere Denker außerhalb Ägyptens anführen, doch diese drei gelten als „Herzstück“ der islamischen modernistischen Reform und waren mit ihrer Botschaft am wirkungsvollsten. Geschichtlicher Hintergrund Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert war die muslimische Welt bis auf Teile der Arabischen Halbinsel von den europäischen Kolonialmächten durchdrungen. Indien war seit dem beginnenden neunzehnten Jahrhundert vollständig unter britischer Herrschaft, der Aufstand (bekannt unter der Bezeichnung ‚mutiny‘, eigentlich ‚Meuterei‘) von 1857 wurde blutig niedergeschlagen; 1830 wurde Algerien von Frankreich besetzt, das 1848 eine große Widerstandsbewegung nicht minder blutig niederschlug; Tunesien wurde 1881 von Frankeich besetzt, Ägypten 1882 von den Briten; das Osmanische Reich, dem viele dieser Gebiete unterstanden, wurde ökonomisch ausgehöhlt und nach dem Staatsbankrott 1875/76 einer strengen fiskalischen Kontrolle seitens der europäischen Großmächte unterworfen. Angesichts der weiten Ausdehnung und der Macht der islamischen Reiche im Mittelalter und der frühen Neuzeit stellte sich für die Muslime Ägyptens, Indiens und der anderen muslimischen Länder die große Frage: „Warum sind die Europäer vorangeschritten und warum hinken die Muslime hinterher?“, wie es ein bekannter Buchtitel später ausgedrückt hat. Die drei Reformer, von denen in dieser Sitzung die Rede ist, sahen den Grund für die Rückständigkeit der islamischen Welt in einem traditionell gelehrten und gelebten Islam. Die Lösung des Problems bestand für sie in einer Erneuerung und Vitalisierung der Religion des Islam. Vor allem das Prinzip der „Nachahmung“, das in der Auslegung des
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Islam seit Jahrhunderten praktiziert wurde, galt ihnen als Ursache für die Rückständigkeit der islamischen Welt. Die Rechtsgelehrten, die solches, taqlid genannt, betrieben, folgten den früheren Generationen von Rechtsgelehrten der vier großen Rechtsschulen. Das selbstständige Finden von rechtlichen Lösungen, idschtihad genannt, das in den ersten Jahrhunderten der islamischen Geschichte zur Anwendung kam, wenn es bei einem Rechtsproblem keine Lösung im Koran oder im vorbildhaften Leben des Propheten gab, und auch keine Lösung durch einen Analogieschluss gefunden werden konnte, war im elften Jahrhundert aufgegeben worden (auch wenn dies niemals zur Gänze befolgt wurde). Die drei genannten Reformer, die in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis zueinander standen, sahen diese Praxis der Rechtsgelehrten als rückständig an. Mehr noch, sie verurteilten die gesamte jüngere islamische Geschichte als dekadent, die traditionellen Rechtsgelehrten als versteinert und die Masse der Gläubigen als bestenfalls lauwarm in ihrer religiösen Überzeugung. Die Lösung lag für sie in der Umgehung der traditionellen Geistlichkeit und der individuellen Neuaneignung und aktivistischen Gestaltung des Glaubens, was sie den Muslimen sowohl vorlebten als auch predigten. Im Folgenden werden ihre Biographien und ihr Denken kurz vorgestellt. Dschamal al-Din al-Afghani (1839– 1897) Der erste in der Riege, Dschamal al-Din al-Afghani (1839–1897), der „Erwecker des Ostens“, war eine schillernde Persönlichkeit.1 Schon seine Herkunft ist umstritten. Er wurde 1838/39 im Iran geboren, nannte sich aber al-Afghani (‚der aus Afghanistan‘), um seine persisch-schiitische Herkunft zu verschleiern. Al-Afghani hinterließ wenig an Schrifttum. Er wirkte durch seine Auftritte, Reden und seine agitatorischen und journalistischen Aktivitäten. Im Verlauf seines Lebens besuchte er Indien, Afghanistan, die Arabische Halbinsel, den Irak und Istanbul, also weite Teile der islamischen Welt und bereiste auch Europa. Eine Zeitlang hielt er sich auch in Afghanistan auf, wo er 1868 wegen seiner politischen Umtriebe ausgewiesen wurde. Dieses Schicksal blieb ein Muster seines Lebens. Er suchte an all seinen Aufenthaltsorden zunächst die Nähe zur Macht und versuchte, die Herrschenden von seinen reformerischen Ideen zu überzeugen. Nachdem dies regelmäßig miss-
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lang, flüchtete er sich in oppositionelle Aktivitäten und öffentliche Aufrufe zum Aufruhr, was ihm regelmäßig die Ausweisung und das nächste Exil einbrachte. Nach seinem Hinauswurf aus Afghanistan reiste er über Bombay und Kairo nach Istanbul. Dort traf er osmanische Reformer und wurde nach einem öffentlichen Vortrag über das Verhältnis von Religion und Philosophie, der als ketzerisch angesehen wurde, erneut ausgewiesen. Daraufhin reiste er nach Kairo, wo er 1871 eintraf. Sein achtjähriger Aufenthalt in Ägypten war wahrscheinlich die fruchtbarste Zeit in seinem Leben. Hier traf er auf Muhammad Abduh, mit dem er eine intensive Lehrer-Schüler-Beziehung aufbaute. Dschamal al-Din al-Afghani lehrte an der bis heute berühmtesten und wichtigsten islamischen Stätte der Gelehrsamkeit, der Al-AzharUniversität und scharte einen Kreis von Schülern um sich, die seine Ideen weiter verbreiteten. 1882 reiste er nach Europa, wo er die nächsten sieben Jahre in Paris, London und St. Petersburg verbrachte. In Paris gab er gemeinsam mit Abduh, der nach einem politischen Aufstand in Ägypten, den er unterstützt hatte, ebenfalls ausgewiesen wurde, eine Zeitschrift heraus, die bald in Ägypten und Indien wegen ihrer panislamischen und antikolonialistischen Haltung von den Briten verboten wurde. Trotzdem übte sie auf die Intellektuellen der islamischen Welt eine große Wirkung aus. In Paris veröffentlichte al-Afghani auch seine berühmte Antwort auf Ernest Renan zum Thema „Islam und Wissenschaft“.2 Sein nächster Aufenthaltsort war der Iran, wo er Schah Nasir al-Din für seine Ideen gewinnen wollte. Der Schah hatte jedoch kurz zuvor einem britischen Unternehmen eine Tabakkonzession verliehen. Gegen dieses Symbol ausländischer Einmischung regte sich Widerstand im Land, zu dem Dschamal al-Din tatkräftig und wortgewaltig beitrug. Auch hier wurde er bald ausgewiesen und ins Exil nach Istanbul geschickt. Dort starb er 1897 in einem wie er sagte „goldenen Käfig“, in den Sultan Abdul Hamid ihn als „Hausgast“ fest gesetzt hatte. Der revolutionäre anti-kolonialistische, anti-britische Impetus al-Afghanis speiste sich wahrscheinlich aus seinen Erfahrungen in Indien, wo er Zeuge wurde, wie die Briten die indische Erhebung von 1857 blutig niederschlugen. Fortan suchte Dschamal al-Din al-Afghani die islamische Welt so zu stärken, dass sie der europäischen Beherrschung Widerstand leisten konnte. Er war ein politischer Agitator, der den Islam zu einer Waffe gegen den europäischen Kolonialismus umschmieden wollte. Damit machte er aus dem Islam eine politische Ideologie.
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War Europas Überlegenheit auf seine fortgeschrittene Technik, Wissenschaft und militärische Stärke zurückzuführen, so gründete sich diese wiederum auf Aktivität, Unternehmungsgeist und Rationalismus. Somit mussten diese Tugenden Europas auch in der islamischen Welt Verbreitung finden. Aktivität, Unternehmungsgeist und Rationalismus fanden sich, so argumentierte Dschamal al-Afghani, auch im Islam. Nicht jedoch in dem Islam, der ihm tagtäglich in den muslimischen Ländern begegnete, sondern in einem reinen, wahren, ursprünglichen Islam, der durch das Ausüben des freien Räsonnierens, des idschtihad und den Bezug auf die ursprünglichen Quellen des Islam (Koran und Sunna des Propheten) erneuert werden sollte. Der kleinliche Streit der Rechtsschulen, ihre scholastische Kasuistik und der volkstümliche Aberglaube des breiten Volkes mussten seiner Meinung nach beseitigt werden. Der wahre Islam war für ihn eine vernunftbetonte Religion, die sich nicht gegen die Wahrheitssuche und die Wissenschaft stellte. Es fänden sich im Koran sogar Hinweise auf modernste wissenschaftliche Errungenschaften, argumentierte er. Ebenso lehnte er Fatalismus und Passivität als unislamisch ab. Im Islam gab es nach Dschamal al-Dins Überzeugung nichts, was der Übernahme europäischer, wissenschaftlicher Errungenschaften widersprach. Im Gegenteil gründeten sich die europäischen Wissenschaften auf die islamische Philosophie und Wissenschaft, die das Wissen der Antike bewahrt habe, das im Mittelalter in Europa verloren gegangen sei. Deswegen würden die Muslime, wenn sie jetzt Technik und Wissenschaft vom Westen übernähmen, sich nur ihr ursprüngliches rechtmäßiges Eigentum aneignen. Mit diesem Argument suchte er den traditionellen Rechtsgelehrten den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Gott verändert nichts an einem Volk, so lange die Angehörigen dieses Volkes nicht ihrerseits verändern, was sie an sich haben“ (Sure 13 Vers 11 im Koran) wurde sein wichtigster Wahlspruch. Die Einheit des Islam, bzw. der Muslime, war jedoch oberstes Gebot. Dabei sollte jeder einzelne seinen Glauben erneuern und aktiv für ihn eintreten und sich nicht auf die traditionellen Rechtsgelehrten verlassen. „Als die Araber an dieses wertvolle Buch (den Koran) glaubten, wurden sie von der Sphäre der Unwissenheit in die Sphäre des Wissens versetzt, von Blindheit zum Sehen, von der Unzivilisiertheit zur Zivilisation und vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit“, predigte er. Die Muslime sollten sich einigen und eine religiöse Bewegung bilden, die sich auf die eigentlichen Quellen der Religion besinne, so wie
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es Martin Luther in Europa getan hatte. In dieser Rolle sah er sich selbst. Sein wichtigster Schüler Muhammad ‘Abduh, ein Intellektueller, der sich von den umstürzlerischen Aktivitäten und der Rastlosigkeit Dschamal al-Din al-Afghanis nach einiger Zeit lossagte, führte sein Reformwerk fort. ‘Abduh war ein ganz anderer Mensch als Dschmal al-Din. War Dschamal al-Din ein impulsiver Mensch, der zu plötzlichen Ausbrüchen neigte, ein politischer Aktivist und Weltbürger, der sich in der ganzen Welt des Islams zu Hause fühlte, so war Muhammad ‘Abduh eher ein Gelehrter mit einem geduldigeren Wesen, der die ägyptische Gesellschaft durch seine Lehren zu verändern suchte. Außerdem war er sesshafter als Dschamal al-Din und liebte seine Heimat Ägypten. Muhammad ‘Abduh (1849–1905) Muhammad ‘Abduh stammte aus dem Nil-Delta.3 Sein Vater war ein Bauer mittleren Besitzstandes in dessen Familie es eine Tradition islamischer Bildung gab. Nachdem Muhammad ‘Abduh, wie alle späteren Gelehrten, den Koran auswendig rezitieren konnte, wurde er als Kind in die Moscheeschule von Tanta, einer oberägyptischen Stadt geschickt, die er aber nach eineinhalb Jahren abbrach. „Ich bin eineinhalb Jahre dort geblieben aber doch habe ich nichts verstanden, weil die Schulart schlecht war“, sagte er. Dies war eine einschneidende Erfahrung für ihn. Die Schüler mussten eine Vielzahl von islamischen Texten auswendig lernen, ohne den Inhalt dieser Texte von ihren Lehrern erklärt zu bekommen. Enttäuscht wollte er in sein Dorf zurückkehren und Bauer werden. Er hatte jedoch Glück, und ein Onkel machte ihn mit der islamischen Mystik vertraut, die ihn mehr faszinierte als die trockene Scholastik, und die seine Neugier und seine Liebe zum Lernen wieder erweckte. An der Al-Azhar-Universität in Kairo, an der er später studierte, traf er auf Dschamal al-Din al-Afghani und schloss sich diesem an. In seinem Kreis herrschte eine ganz andere Lehratmosphäre als er sie je erlebt hatte: „Al-Afghani fragte (…) nach bestimmten Versen des Qur’an und danach, was die Kommentatoren und Mystiker über sie gesagt hatten. Dann gab er (…) seine Auslegung und ‘Abduhs Herz füllte sich mit Erstaunen und Liebe, denn die Interpretation des Qur’an und die Mystik waren seine bevorzugten Studien oder wie er zu sagen pflegte, die Schlüssel zu sei-
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ner Glückseligkeit,“ schrieb sein späterer Schüler und Biograph Raschid Rida.4 Als ‘Abduh aus Ägypten verbannt wurde, stieß er in Paris wieder zu al-Afghani und gab mit ihm die bereits erwähnte Zeitschrift heraus. Nach seiner Rückkehr nach Ägypten und der Abkehr von seinem Lehrer arrangierte er sich mit der Macht, also den Briten, und stieg bis ins höchste religiöse Amt Ägyptens auf, das Amt des Mufti. Auch ‘Abduhs Ziel war es, ein allgemeines religiöses Erwachen in der islamischen Welt zu bewirken. Er sah dies als einzigen Weg zu einer Stärkung der Region in allen Bereichen. Der Schlüssel zum Fortschritt war das Leben nach den wahren Lehren des Islam, der beste Weg, um gesellschaftlichen Fortschritt und gesellschaftliche Stabilität zu sichern. Dazu musste das Bildungswesen reformiert werden, ein Ziel dem sich ‘Abduh ganz verschrieb. Aber es musste auch der kritiklosen Übernahme europäischer Errungenschaften innerhalb der ägyptischen intellektuellen Elite entgegengewirkt werden. Wie Dschamal al-Din al-Afghani vertrat er die Ansicht, dass der wahre Islam als Vernunftreligion die Werte, die Europa stark gemacht hatten, enthielt. Im Koran gebe es nichts, das gegen die Naturwissenschaft stünde. Im Gegenteil nehme er moderne naturwissenschaftliche Entdeckungen vorweg. Zauber und Aberglaube lehnte ‘Abduh ebenfalls ab. Seine Europafreundlichkeit und seine modernen Überzeugungen machten ihn zur Zielscheibe traditioneller Rechtsgelehrter. Ein Gelehrter, der französisch sprach, sich in Europa auskannte, europäische Philosophen übersetzte und mit ihnen diskutierte, der neuartige Rechtsgutachten (fatwas) erließ und darüber hinaus auch gesellschaftlich aktiv war, indem er in wohltätigen Gesellschaften wirkte und Geld für die Armen sammelte, war den traditionellen Rechtsgelehrten suspekt. Diese Aktivitäten sollten den Gläubigen das Bild des neuen Muslim vor Augen führen, der aktiv und bewusst seinen Glauben lebte und sich nicht auf die traditionellen Rechtsgelehrten verließ. Sein Rechtsgutachten, das es den Muslimen erlaubte, europäische Hüte zu tragen, machten ihn in theologischen Kreisen nicht beliebter. Doch durch seine Stellung als Mufti war er in einer sehr viel sichereren Position als sein ehemaliger Lehrer. Auch er wollte die Muslime zu den eigentlichen Quellen des Islam zurück führen, dem Koran und dem Vorbild des Propheten. Die jahrhundertealte Gelehrsamkeit der Rechtsgelehrten war dagegen Menschenwerk, das sie vernachlässigen sollten.
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Muhammad ‘Abduh gilt als der eigentliche Architekt des islamischen Modernismus. Nachdem Politik für ihn zunächst Kampf gegen den Kolonialismus bedeutet hatte, wandte er sich später der inneren Reform der muslimischen Gesellschaft zu. Die größte Gefahr für die Muslime sah er im Säkularismus der verwestlichten ägyptischen Elite, die vielfach in Frankreich studiert hatte und frankophon war. Er selbst kehrte später, nach seinem Exil in Europa, noch öfter dorthin zurück, um für einen oder zwei Monate neue Kraft zu schöpfen für sein Reformwerk zu Hause. Er stand Europa also sehr aufgeschlossen gegenüber und betrachtete es in vielem als Vorbild. Frömmigkeit und modernes Leben schlossen einander in seiner Lehre nicht aus. Die Scharia müsse gemäß der Probleme der Zeit verstandesmäßig interpretiert werden, meinte er. Zu den Hauptcharakteristika des muslimisch-modernistischen Denkens gehört es, sich keiner Rechtsschule gegenüber verpflichtet zu fühlen, sondern von den muslimischen Rechtsgelehrten nur das anzunehmen, was in den frühislamischen Quellen belegt ist. Auf diese Weise suchte ‘Abduh den Ballast der Lehren, die Menschenwerk waren und die auf Grund des taqlid noch immer blindlings befolgt wurden, obwohl sie längst nicht mehr zeitgemäß waren, abzuwerfen. Die Muslime sollten nicht mehr die Rechtsschulen für unfehlbare Institutionen halten, sondern sich an der Frühzeit des Islam, dem Goldenen Zeitalter des Propheten und der rechtgeleiteten Kalifen orientieren. In diesem Sinne versuchte er die ehrwürdige al-Azhar Universität zu reformieren. Nach ‘Abduhs Tod sollte Muhammad Raschid Rida als Dritter im Bunde das Reformwerk der Modernisten fortsetzen. Muhammad Raschid Rida (1865–1935) Muhammad Raschid Rida wurde 1865 in einem Dorf in der Nähe der Stadt Tripoli im damaligen Syrien (heute Libanon) geboren und stammte aus einer Familie, die ihren Stammbaum auf den Propheten Muhammad zurückführte.5 Schon früh kam er mit der von Muhammad ‘Abduh und Dschamal al-Din in Paris herausgegebenen Zeitschrift in Berührung und bemühte sich, an alle ihre Schriften zu gelangen. Raschid Rida wurde der engste Schüler Muhammad ‘Abduhs, sein Sprachrohr und später sein Biograph. Er ging zu ihm nach Kairo und schlug ihm die Gründung einer Zeitschrift vor, die die Reform des Islam vorantreiben
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sollte. 1898 erschien diese Zeitschrift unter dem Namen al-Manar (der Leuchtturm), die er bis zu seinem Tod 1935 herausgab. Dies war die bedeutendste Zeitschrift des Reform-Islam, in der auch ‘Abduhs berühmte Koran-Exegese, die er jedoch nicht vollenden konnte, in Serie erschien. Raschid Rida erreichte jedoch nie den Einfluß ‘Abduhs. Sein Denken war begrenzter, starrer und dogmatischer als das seines Lehrers. So hegte er Sympathien für die puristische Lehre des Muhammad ibn ‘Abd alWahhab auf der Arabischen Halbinsel und versuchte, die strengen Lehren Ibn Taimiyyas zu verbreiten. Auch für Rida war der Begriff Islam unlösbar mit dem Begriff einer politischen Gemeinschaft verbunden und keine wirklich islamische Gemeinschaft konnte ohne einen Kalifen bestehen, wie auch seine Vorbilder es diskutiert hatten. Der Kalif sollte nach Rida gewählt werden. Er musste jedoch aus dem Stamme des Propheten stammen (wie er selbst). Neben der Verteidigung der Muslime sollte die Hauptaufgabe des Kalifen darin bestehen, durch idschtihad die Gesetzgebung auszuüben. Dies sollte er mit Hilfe zweier Gremien tun, einem Beratungs- und einem Rechtsgremium. Er sollte wiedergewählt und auch von seinem Amt entbunden werden können. Das Recht, ihn zu wählen oder abzusetzen, übertrug er den ‚maßgebenden Leuten‘, die die Macht in Händen haben (ahl al-hal wa-l-‘aqd). In seiner Zeit sollten das die führenden Gelehrten, die Befehlshaber des Militärs, die Richter, die wirtschaftlichen Führungskräfte, die Führer der politischen Parteien, Schriftsteller, Anwälte und Ärzte sein. Sie sollten von der Regierung bestimmt, also nicht gewählt werden. Der Kalif sollte allerdings nicht mehr Herrscher eines islamischen Großreiches sein, sondern eine islamische Orientierungsfigur. Den europäischen Errungenschaften gegenüber war er aufgeschlossen, soweit sie nicht dem Islam zuwiderliefen und dem Fortschritt der Muslime dienlich waren. Allerdings war er davon überzeugt, dass die materialistisch westliche Lebensweise dem Untergang geweiht und auch für den Westen der Islam die einzige Alternative war. Daher gründete er eine kurzlebige Missionsschule, in der Aktivisten für muslimische und nicht-muslimische Gesellschaften ausgebildet werden sollten. Letztere sollten nicht nur in den islamischen Wissenschaften, sondern auch in westlichen Wissenschaften geschult werden. Erstere sollten die „lauen Muslime“ wachrütteln und dem neuen Islam zuführen. Für die Mystik, die seinem Lehrer so wichtig gewesen war, hatte er nichts übrig; Formen der Volksfrömmigkeit, wie der Besuch von Heiligengräbern, bekämpfte er als unislamisch.
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Damit wurde der erneuerte Islam, der der Moderne standhalten sollte und tatsächlich ein integraler Teil von ihr in einem globalen Verständnis war, immer starrer und enger; und „dem Westen“ gegenüber auch immer ablehnender. Zusammenfassung und Ausblick Im modernistischen Islam des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts liegen die Wurzeln der Radikalisierung, die im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts stetig zunehmen sollte, auch wenn die hier vorgestellten Reformer (vielleicht mit Ausnahme al-Afghanis) diese Entwicklung sicher nicht gewollt hatten. Den späteren Radikalen der Neo-Salafiyya gelten sie als „Anpasser“, „Harmonisierer“ und Apologeten, die den „Ausverkauf “ an den Westen voran getrieben und es versäumt hatten, die Überlegenheit des Islam gegenüber allen anderen Weltdeutungen hervorzuheben. Alle drei Reformer hatten noch eine gründliche islamische Ausbildung genossen. Sie waren die ersten Intellektuellen moderner Art, aber auch noch Gelehrte im älteren Sinne. Dies galt auch noch für Hassan al-Banna, der 1928 im ägyptischen Ismailia die erste schlagkräftige Organisation dieses neuen politischen Islam, die Muslimbruderschaft, gründete. Doch die Lehren, dass die Gläubigen den Rechtsschulen und ihren verknöcherten Rechtsgelehrten nicht mehr folgen, sondern sich selbst an die Urtexte des Islams halten sollten, bewirkten, dass bei zunehmender Alphabetisierung im unabhängigen Staat unter Präsident Nasser Autodidakten, zumeist Techniker und Ingenieure, zu den neuen Ideologen und Revolutionären wurden. Damit gingen radikale Vorstellungen davon einher, wie man den erneuerten Islam leben, und wie man einen Staat schaffen sollte, in dem Muslime nur noch nach dem göttlichen Gesetz und nicht mehr von ungläubigen Präsidenten (wie Sadat) regierten werden sollten, die im islamistischen Terror endeten. Doch dies ist die extreme, gewaltbereite Minderheit. Die Modernisierung des Islam, so kann man argumentieren, führte im mainstream muslimischer Gesellschaften weltweit zu einer Islamisierung der Moderne.6 Deren Rekurs auf die goldene Ursprungszeit des Islam ist sicher im Sinne der ersten Reformer, die sich jedoch eine muslimische Welt mit mehr wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Fort-
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schritt und weniger Gewalt gewünscht hatten. Vor allem Muhammad ‘Abduhs Lehren bieten reichen Stoff für vielfältige Weiterentwicklungen und harren in diesem Sinne einer Wiederentdeckung in der islamischen Welt.
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Nietzsches Kritik der Religion Sich dem Thema „Religion“ zu stellen, Religion individuell anzueignen, kann auch die Form der Kritik annehmen, kann bedeuten, sich von eigener Religiosität zu lösen. Dies ist der Fall bei Friedrich Nietzsche1 (1844–1900). Obwohl in einer Pastorenfamilie aufgewachsen, gehört er zu den radikalsten Religionskritikern des neunzehnten Jahrhunderts. Sein berühmtes Wort „Gott ist tot“ wird bis heute dahingehend verstanden, dass damit zum einen die Säkularisierungsprozesse der Moderne gekennzeichnet werden, darüber hinaus zum anderen aber auch der Bedeutungsverlust tradierter Wertvorstellungen kenntlich gemacht wird. Nietzsche entfaltet eine umfassende Religionskritik, in der vor allem den großen monotheistischen Religionen des Judentums und des Christentums die Ausrichtung auf Askese, Jenseitshoffnung, Entmündigung und Nivellierung der Individualität deshalb vorgeworfen werden, weil sie damit die menschliche Spezies schwächen würden. Religionen seien Formen des Niedergangs und der Dekadenz. Eine solche Auffassung hat sich bei Nietzsche Schritt für Schritt herausgebildet. Zunächst lässt sich in seinen früheren Schriften ab 1878 sehen, wie erste kritische Überlegungen reifen, hier vor allem in den aphoristisch angelegten Werken: Menschliches – Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister (I, 1878 und II, 1880), Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881) und Die fröhliche Wissenschaft (1882). Hierin nimmt Nietzsche Stellung zu verschiedensten Themen aus Philosophie, Kunst, Moral, Religion, Politik und Gesellschaft. Verdichtet werden diese Aspekte dann in dem Buch, mit dem Nietzsche wohl am breitesten und nachhaltigsten gewirkt hat, Also sprach Zarathustra (erschienen in vier Teilen zwischen 1883–1885). Die entscheidenden religionskritischen Schriften sind Jenseits von Gut und Böse (1886), die Genealogie der Moral (1887) und Der Antichrist (geschrieben 1888). Sie behandeln Religionen vor allem als Mechanismen für Wertsetzungen und deren institutionalisierte Durchsetzung. Im Folgenden möchte ich einige Aspekte von Nietzsches Religionskritik skizzieren und deren Anliegen verdeutlichen. Seine Religionskritik ist jedoch nur nachvollziehbar, wenn dahinter die grundlegenden
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Prämissen seiner Philosophie berücksichtigt werden. Ich werde deshalb folgenden Fragen nachgehen: Worum geht es Nietzsche in seiner Philosophie? Warum kritisiert Nietzsche die Religion und wogegen richtet sich seine Kritik? Welche Weltsicht stellt er dagegen? Und worin besteht die Besonderheit seiner Philosophie? Nietzsches philosophisches Anliegen Nietzsches Gesamtwerk kann man unter der zentralen Frage lesen, wie die bisherige Menschheitsentwicklung zu bewerten ist, worin ein sinnerfülltes, authentisches, glückliches Leben bestehen könnte und wie Zukunftsperspektiven zu gewinnen sind. Sein metaphorischer Platzhalter für die Zukunftsvision trägt den Namen „Übermensch“. Mit Übermensch meint Nietzsche nichts Transzendentes, Überirdisches, auch keine überlegene Rasse, sondern die Weiterentwicklung zum Übermenschen beruht auf dem, was der Mensch bisher im konkreten Diesseits vollbracht und erreicht hat. So ruft Zarathustra die Menschen auf: „Bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden!“ (4, 15). Und damit ist auch der Übermensch in diese weltliche Perspektive hineingestellt: „Der Übermensch ist der Sinn der Erde“ (4, 14). Er steht für das Ideal, das der jetzige Mensch über sich stellt, das über sein jetziges Dasein hinausweisen soll. Der Übermensch steht für die Zukunft des Menschen, die Herkunft aus dem Tierreich für seine Vergangenheit. So heißt es im Zarathustra: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde“ (4, 16).
Oder: Der Mensch ist eine Brücke, ein Teil an ihm wird untergehen, ein anderer Teil übergehen in etwas Höheres. Der Mensch ist zugleich Untergang und Übergang. (4, 17) Entscheidend ist dabei, welche Seiten und Eigenschaften am Menschen gezielt weitergeführt und welche zurückgedrängt werden sollen. Dies ist die Herausforderung, vor der die Menschen stehen. Denn die Menschheitsgeschichte ist kein Automatismus, sondern die Menschen greifen selbst in ihre eigene Entwicklung ein, sie züchten sich in einem gewissen Sinne selbst. Doch welche Resultate hat der bisherige Zivilisationsprozess hervorgebracht? Nietzsches Urteil ist negativ. Aus seiner Sicht stellt die Entwicklung der menschlichen Gattung einen Degenerierungs- und Ver-
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fallsprozess dar. Er formuliert deshalb eine sehr radikale Kultur- und Gesellschaftskritik. „Meine Behauptung ist, dass alle Werthe, in denen jetzt die Menschheit ihre oberste Wünschbarkeit zusammenfasst, décadence-Werthe sind“ (6, 172).
Sein philosophisches Anliegen ist dabei ein Doppeltes: Zum einen zielen seine Betrachtungen darauf, den Allgemeingültigkeitsanspruch der geltenden Normen, Werte und zentralen wissenschaftlichen Theorien zurückzuweisen und diese als undurchschaute „Vorurteile“ zu entlarven. Sein Vorgehen dabei nennt er zum Beispiel Maulwurfsarbeit (etwas Untergraben, Unterhöhlen), Philosophieren mit dem Hammer, Skeptizismus oder Immoralismus. Doch Nietzsche will nicht nur Denkgebäude einreißen, denn es geht ihm um die Zukunftsfähigkeit und Zukunftsorientierung der Menschheit. Hierfür verwendet er Parolen wie: Umwertung aller Werte, der Freie Geist, Philosophie der Zukunft, Experimentalphilosophie, Übermensch. Das kritische Anliegen zeigt sich dabei auch im Stil seiner Philosophie. Nietzsches Werke sind keine systematischen Abhandlungen, sondern er schreibt in Aphorismen, verschlüsselten Bildern, Gleichnissen, Metaphern. Er spielt mit subtilen Andeutungen und beeindruckt mit impressiver Wortgewalt. Seine Texte sollen keine „Wahrheit“ verkünden, sondern eher das Gesagte in der Schwebe halten, sodass die Erwartung einer systematisch ausgearbeiteten „Theorie“ durchkreuzt wird und die Einordnung in „die“ Philosophie schwer fällt. Um Nietzsches Denkmodell zu verstehen, ist der wissenschaftliche und weltanschauliche Kontext des neunzehnten Jahrhunderts zu berücksichtigen, des Jahrhunderts, in dem sich die historische Denkweise durchsetzt und sich die Evolutionstheorie in der Biologie entwickelt. Nietzsche interpretiert den Menschen wesentlich als Teil der Natur, nicht unter dem Aspekt der Sonderstellung als Kultur-, Sprach- und Vernunftwesen. „Wir haben umgelernt. Wir sind in allen Stücken bescheidener geworden. Wir leiten den Menschen nicht mehr vom ‚Geist‘, von der ‚Gottheit‘ ab, wir haben ihn unter die Thiere zurückgestellt“ (6, 180).
Sein entscheidendes naturalistisches Philosophem ist die Lehre vom „Willen zur Macht“. Wille zur Macht ist die jedem Lebendigen innewohnende Kapazität, für die eigene Lebenssicherung Aktivität zu entfalten. Er ist Grundprinzip alles Lebendigen, die immanente Lebensenergie,
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„der unerschöpfte zeugende Lebens-Wille“ (4, 147). Er steht synonym für das Leben selbst. „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht“ (4, 147). Demnach besitzt jedes Lebewesen eine bestimmte natürliche Ausstattung an Willensenergie. Und Nietzsche nimmt an, dass sich im Zuge der kulturellen Entwicklung der Menschheit die Formen, in denen sich der Wille zur Macht ausprägt, ändern. Der Mensch wird insgesamt komplexer, der Wille zur Macht ist damit nicht nur rein physisch wirksam, sondern äußert sich auch in kulturellen, geistigen und seelischen Dispositionen. Es wäre aber sicher eine Fehlinterpretation, dieses Konzept des Willens zur Macht metaphysisch zu verstehen. Vielmehr scheint es von Nietzsche eher als ein anthropologisches Deutungsmodell eingesetzt zu werden, um damit seine Kultur- und Gesellschaftskritik zu untermauern. Ich schlage deshalb vor, es als „heuristischen Biologismus“ bezeichnen. Für Nietzsche scheinen nun dabei zwei Aspekte wichtig zu sein: Zum einen sieht er mit der geistig-kulturellen Entwicklung des Menschen verbunden, dass die mit einem schwachen Lebenswillen ausgestatteten Individuen nicht, wie im Tierreich, vernichtet werden, sondern für sie gesorgt wird, beziehungsweise sie selbst Möglichkeiten finden, sich durch entsprechende Anpassungsleistungen an gesellschaftliche Bedingungen am Leben zu erhalten. Zum zweiten ist beim Menschen, wie auch bei höher entwickelten Tieren, eine gezielte Einwirkung auf die Verhaltensweisen möglich ‑ nennen wir dies Züchtung, Abrichtung, Konditionierung, Manipulation oder Erziehung. Durch diese externe Einflussnahme werde beabsichtigt, starke Willensprägungen, die sich zum Beispiel in Aggressivität, Triebhaftigkeit, Rücksichtslosigkeit, Egoismus äußern können, zu mäßigen und ungefährlich zu machen. Dies aber bewirke eine Schwächung der eigentlichen natürlichen Lebensenergie. Langfristig gesehen führten diese beiden Aspekte ‑ Stärkung der Schwachen, Schwächung der Starken ‑ zu einer Degenerierung der ganzen Spezies. Solche Degenerierungsprozesse nun sieht Nietzsche in der Menschheitsentwicklung hinsichtlich der Herausbildung von Zivilisation und Kultur. Fordert man als Grundprinzip für die Gesellschaft einen Verzicht auf die Entfaltung der Lebensenergien, dann erweise sich dies „als Wille zur Verneinung des Lebens, als Auflösungs- und Verfalls-Princip“ (5, 207). Und die entscheidenden Kräfte, die eine solche Schwächung bewirkten, sieht Nietzsche vor allem in Religionen, Morallehren und Philosophie.
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Zur Genealogie der Werte und der Bedeutung von Religion Nietzsche legt als Gradmesser für die geistige, kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung den Beitrag für die Lebenssicherung an. „Das Leben selbst gilt mir als Instinkt für Wachsthum, für Dauer, für Häufung von Kräften, für Macht: wo der Wille zur Macht fehlt, giebt es Niedergang. Meine Behauptung ist, dass allen obersten Werthen der Menschheit dieser Wille fehlt, ‑ dass Niedergangs-Werthe, nihilistische Werthe unter den heiligsten Namen die Herrschaft führen“ (6, 172).
Doch wie ist es zu diesem Werteverfall gekommen? Nietzsche bietet hier nun ein quasi-historisches Modell an, das die beiden Pole der menschlichen Natur: „stark“ und „schwach“ in ihrer Bedeutung für die Ausprägung von moralischen Wertmustern und von Religionen interpretiert. Doch auch im Zugang zu diesem Modell ist Vorsicht geboten vor zu schneller Zurückweisung seines Blicks auf die Menschheit, der vollkommen überzogen, elitär, ja zum Teil menschenverachtend erscheint. Was Nietzsche bietet, ist eine mögliche Perspektive unter anderen, eine Perspektive, die gerade durch ihre radikale Fokussierung ihr kritisches Potential entfaltet. Diese Perspektive bezieht ihre spezifische Zugangsweise aus der einen großen Frage: Wo steht die Menschheit und wie kann es mit ihr weitergehen? Um die Dimension dieser Frage deutlich zu machen, erzählt Nietzsche eine Geschichte darüber, was die entscheidenden normativen Weichenstellungen in der bisherigen Menschheitsentwicklung gewesen sind und welche Folgen sie nach sich gezogen haben. Seine Rekonstruktion sieht, grob zusammengefasst, folgendermaßen aus: Ursprünglich lebten die Menschen entsprechend ihrer natürlichen Disposition und im Rahmen naturwüchsiger Machtstruktur, in der die Starken die Schwachen dominierten und beherrschten. Alle starken Naturen sind selbst wertsetzend, sie agieren spontan und aus eigener Kraft und Energie, sie sind von innen heraus aktiv und dabei gleichgültig gegen Sicherheit, Leib, Leben, Behagen, sie haben eine „entsetzliche Heiterkeit und Tiefe der Lust in allem Zerstören, in allen Wollüsten des Siegs und der Grausamkeit“ (5, 275). Sie besitzen die Gesundheit des starken Willens und die „vollkommne Funktions-Sicherheit der regulirenden unbewussten Instinkte“ (5, 273). Die Starken sahen sich nun aufgrund ihrer Dominanz ursprünglich als die Bevorrechteten, Vornehmen, als die entscheidende, wertsetzende
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Instanz. Sie waren die Guten, die Ausgezeichneten. Für sie waren die anderen die Gemeinen, Niederen, einfach das Gegenteil. Diese Unterscheidung schlug sich nun Nietzsche zufolge auch begrifflich nieder: „Gut“ sei etymologisch hervorgegangen aus: vornehm, adlig, edel, seelischhochgeartet, seelisch-privilegiert. „Schlecht“ hingegen leitete sich ab von schlicht, einfach, gemein, pöbelhaft, niedrig (5, 261). Diese begriffliche Differenz in gut und schlecht markierte dabei ursprünglich nur eine soziale Abgrenzung, keine explizite moralische Wertung. „Die ritterlich-aristokratischen Werthurtheile haben zu ihrer Voraussetzung eine mächtige Leiblichkeit, eine blühende, reiche, selbst überschäumende Gesundheit, sammt dem, was deren Erhaltung bedingt, Krieg, Abenteuer, Jagd, Tanz, Kampfspiele, und Alles überhaupt, was starkes, freies, frohgemuthes Handeln in sich schliesst“ (5, 266).
Doch innerhalb der Herrenkaste, so Nietzsche, gab es nicht nur die kämpferisch-ritterlichen Edlen, sondern auch die intellektuell Begabten. Sie waren diejenigen, die die Priesterkaste rekrutierten. Sie nutzten ihre intellektuelle Stärke, um sich eine eigene Machtposition als Gegeninstanz gegen die physisch Starken dadurch zu sichern, dass sie sich des Volks als Instrument ihres Machtwillens bedienten. Die „priesterlichvornehme Werthungs-Weise“ geht aus der Ohnmacht hervor: „Aus der Ohnmacht wächst bei ihnen der Hass in’s Ungeheure und Unheimliche, in’s Geistigste und Giftigste. Die ganz grossen Hasser in der Weltgeschichte sind immer Priester gewesen, auch die geistreichsten Hasser – gegen den Geist der priesterlichen Rache kommt überhaupt aller übrige Geist kaum in Betracht“ (5, 266 f.).
Mit der Funktion des Priesters wurde das Geistige, Intellektuelle in besonderem Maße gefördert, aber damit auch das Raffinierte, Heimtückische, Verschlagene, Manipulative. Die Priester benutzten ihre geistige Kapazität gegen die starken Naturen und für die Stärkung der Schwachen. Sie prägten die ursprünglichen Werte um und passten sie für die eigenen Bedürfnisse an. Sie boten eine Ideologie an, die das Volk zusammenschloss und so als Gegenmacht gegen die Starken aufbaute. Mit dieser Ideologie erfolgte die entscheidende Umwertung: Die Niederen wurden jetzt als die Guten angesehen, die Edlen, Höhergestellten, Starken, diejenigen also, von denen Gefahr drohte, als die Bösen. Diese Umwertung von gut-schlecht zu böse-gut stellte den Umschlag zur moralischen Wertung dar.
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Besonders deutliches Beispiel sei die radikale Umwertung der Wertmuster durch das religiöse Judentum. Die Juden hätten „durch einen Akt der geistigsten Rache“ die aristokratische Wertgleichung: „gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt“ umgekehrt (5, 267) und damit die Wertung gut – böse in die Welt gebracht. Die Gewaltigen, Machthaber, Herren erschienen als „böse“. Das Volk, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen hingegen seien die „Guten“ (5, 267). Mit den Juden habe der „der Sklavenaufstand in der Moral“ begonnen (5, 268), der inzwischen eine zweitausendjährige Geschichte hinter sich habe und heute deshalb nicht mehr bewusst sei, weil er siegreich gewesen sei. Mit diesem Sklavenaufstand habe das Volk, der Pöbel, die Herde, gesiegt. Und das Christentum habe auf unheilvolle Weise die Erbschaft der jüdischen Religion angetreten. Aus Nietzsches Sicht ist es insbesondere die christliche Religion, die die entscheidenden Fehlfunktionen im Prozess der europäischen Kultur- und Moralentwicklung verursacht hat. Denn sie hat die Starken geschwächt und die Schwachen erhoben. „Das Christenthum will über Raubthiere Herr werden; sein Mittel ist, sie krank zu machen, – die Schwächung ist das christliche Rezept zur Zähmung, zur ‚Civilisation‘“ (6, 189).
Das Christentum hat damit die natürliche Kapazität des Lebens, den Willen zur Macht, untergraben, es ist lebensfeindlich und damit selbst – wider alle gängige Auffassung von Religion – eine nihilistische Lebensauffassung, da sie die naturwüchsige Wertsetzungskapazität des Einzelnen untergräbt. „Das Christenthum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Missrathnen genommen, es hat ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht“ (6, 171).
Um diese entscheidende Grundfunktion, die sich aus der Ideologie der Gemeinschaft der Schwachen speist, abzusichern, verschiebt die Religion die Rangordnung der Werte, weg vom Irdischen, von der Natur, vom Leiblichen, hin zu imaginären, jenseitigen, transzendenten Aspekten: Gott, Paradies, Erlösung, Seele. Insbesondere der Glaube an eine überirdische, überindividuelle Macht hält die Schwachen, Kranken, Benachteiligten im Leben. Religionen schaffen so die Mittel, sie zu stabilisieren und mit einem Lebenssinn auszustatten, den sie nicht aus sich selbst gewinnen können. Religionen geben den Menschen „eine
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unschätzbare Genügsamkeit mit ihrer Lage und Art, vielfachen Frieden des Herzens, eine Veredelung des Gehorsams, ein Glück und Leid mehr mit Ihres-Gleichen und Etwas von Verklärung und Verschönerung, etwas von Rechtfertigung des ganzen Alltags, der ganzen Niedrigkeit, der ganzen Halbthier-Armuth ihrer Seele“ (5, 80). Sie fördern die Schwachen und Leidenden, aber um den Preis, dass Schwäche und Leiden, Askese, Bescheidenheit und Gehorsam als Lebensideale oktroyiert werden. Sie dienen nicht nur dazu, die Schwachen am Leben zu erhalten und zu stärken, sondern auch die Lebenseinstellungen der Schwäche als gut und wertvoll, als moralisch und lebensfördernd erscheinen zu lassen. Sie schaffen ein Weltbild, in dem ihre Schwäche als Stärke erscheint. Dies ist in den Augen Nietzsches kein Fortschritt, sondern Verfall (5, 276). Denn die Ideale der Niederen verweichlichen die Menschen, sie sind eine große Krankheit, sie sind Ausdruck von Niedergangs und Schwäche. Sie halten im Leben fest, was eigentlich nach dem Prinzip der Natur untergehen müsste (6, 173). Sie haben eine „lebensfeindliche Tendenz“ (6, 174). „Wie? wenn im ‚Guten‘ auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narcoticum [...] So dass gerade die Moral daran Schuld wäre, wenn eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde? So dass gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre?“ (5, 253).
Denn wie sehen die jüdisch-christlich-moralischen Werte aus? Die Sklavenmoral setzt auf Sozialisierung und Gemeinschaftsstiftung und damit Zurückdrängung des Instinkthaften, Wilden, Unberechenbaren. Sie benutzt dafür Klugheit, Wissenschaft, aber auch Zwang und Abrichtung. Die Sklavenmoral macht aus dem Menschen ein zivilisiertes Tier, ein Haustier: „Der Mensch wurde mit Hülfe der Sittlichkeit der Sitte und der socialen Zwangsjacke wirklich berechenbar gemacht“ (5, 293).
Nietzsche erläutert in der Zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral, wie durch solche Zähmung und Instinktbeherrschung über die Zeit menschliche Vermögen wie Erinnerung, Verantwortung für das eigene Handeln, Gewissen und das Erkennen von Schuld herausgebildet wurden. Denn damit der Mensch sich in eine Gemeinschaft einfügt, muss er berechenbar gemacht werden, muss er in der Lage sein, sich selbst zu beherrschen und zu disziplinieren. Dies konnte, so Nietzsche,
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nur durch lange ausgeübten Zwang, durch ein Gedächtnismachen mit allen Mitteln, vor allem durch das Zufügen von Schmerz, bewerkstelligt werden. Diese „Mnemotechnik“ bedeutet: „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss“ (5, 295). Dem Menschen werden also solche Werte anerzogen, die der Gemeinschaft nützen: Mitleid, Nächstenliebe, Askese, Arbeitsethos, Gleichheitsvorstellungen. Der Mensch wird so an die Gemeinschaft angepasst, und vor allem beim willensstarken Menschen kann dies nur mit Gewalt geschehen. Er wird gezähmt oder eliminiert. Denn die Menschen mit einem starken Willen zur Macht machen den Schwachen Angst, „und aus der Furcht heraus wurde der umgekehrte Typus gewollt, gezüchtet, erreicht: das Hausthier, das Heerdenthier, das kranke Thier Mensch, – der Christ …“ (6, 170). Weil die Schwachen zu ängstlich und zu antriebslos sind, ihre Lebensgestaltung selbst zu leisten, streben sie nach einer externe Wertsetzung, die ihnen von anderen Instanzen abgenommen wird, zum Beispiel durch die Kirche und ihre Priester. Die Priester sind diejenigen, die diese Prozesse tragen, steuern, vorantreiben, sie sind die Manipulatoren, die Herrscher über die Herde, sie sind „die gefährlichste Art Parasit“, „die eigentliche Giftspinne des Lebens“ (6, 210). Sie sind die „Verneiner, Verleumder, Vergifter des Lebens von Beruf, sie haben „die Wahrheit auf den Kopf gestellt“, sie scheinen Werte zu proklamieren, da es aber die falschen Werte sind, sind sie die Advokaten „des Nichts und der Verneinung“ (6, 175). Die Aufgabe der Priester ist einerseits eine geistige: Sie produzieren die religiöse Weltanschauung. Sie haben andererseits eine weitreichende praktische Funktion: Sie betreuen ihre Herde, sie leisten seelischen Beistand, sie lindern Not, sie unterstützen die Schwachen. Sie sind „Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Heerde“ (5, 372). Doch was genau tun sie da? Welches sind die Strategien, die der Priester einsetzt? Zunächst sind da die „unschuldigen“ Mittel des Priesters: I. Er bekämpft die Unlust durch Mittel, „welche das Lebensgefühl überhaupt auf den niedrigsten Punkt herabsetzen“, etwa Affektlosigkeit, Gleichmut, Hypnotisierung, „Minimum von Stoffverbrauch“ (5, 379). II. Er verordnet schwere körperliche Arbeit als Ablenkung vom Leiden (5, 382). III. Er bereitet wohldosierte, kleine Freuden durch Wohltun, Beschenken, Helfen, Zureden, Trösten (5, 383). IV. Dann aber gibt es auch „schuldige“ Mittel, das heißt solche, die bei den Menschen Schuldgefühle auslösen: zum Beispiel die sporadische
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Zulassung von Ausschweifungen aller Art (5, 385). Die danach einsetzenden Schuldgefühle kann sich der asketische Priester wieder zunutze machen, um die Herde zu disziplinieren und zu lenken (5, 389). Bei genauerem Hinsehen erweisen sich die höchsten Werte der Religionen als das Gegenteil von dem, als was sie normalerweise angesehen werden. „Alle Begriffe der Kirche sind erkannt als das was sie sind, als die bösartigste Falschmünzerei, die es giebt, zum Zweck, die Natur, die Natur-Werthe zu entwerthen“ (6, 210).
Damit haben insbesondere Religionen einen entscheidenden Anteil daran, dass sich innerhalb der menschlichen Gattung die Lebenskraft immer weiter reduziert, dass die menschliche Spezies sich durch ihre moralisch-religiösen Wertsetzungen selbst schwächt und unterminiert. Die Religionen haben aus dem Menschen über Jahrhunderte „eine sublime Missgeburt“ gemacht (5, 83). Insbesondere das Christentum hat mit seinem „Gleich vor Gott“ „bisher über dem Schicksale Europa’s gewaltet, bis endlich eine verkleinerte, fast lächerliche Art, ein Heerdenthier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmässiges, herangezüchtet ist, der heutige Europäer“ (5, 83). Und dieser heutige Europäer ist zu einem dekadenten und degenerierten Menschenschlag geworden. Die Geschichte der menschlichen Zivilisierung war also vor allem Disziplinierung, Gleichmachung, Abschwächung der Instinkte, Verinnerlichung der von außen vorgegebenen Wertstrukturen (Gewissen), Zwang und Gewalt. Und wo stehen wir nach einer langen Phase der Selbstzüchtung des Menschen durch den Menschen: „Wir modernen Menschen, wir sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und Selbst-Tierquälerei von Jahrtausenden“ (5, 335).
Und hieran hat in der europäischen Entwicklung vor allem das Christentum einen besonderen Anteil. Es hat nicht die Menschheit gestärkt und veredelt, sondern geschwächt, die natürliche Ausstattung des Menschen zu stark überformt und unterdrückt und so im Laufe von Jahrhunderten eine Schwächung des Menschen herbeigeführt. Diesem Funktionsprinzip von Religion und Glauben sagt Nietzsche den Kampf an und formuliert „die furchtbarste aller Anklagen“ gegen die christliche Kirche:
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„Die christliche Kirche liess Nichts mit ihrer Verderbniss unberührt, sie hat aus jedem Werth einen Unwerth, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht“ (6, 152).
Nun soll die „fehlerhafte Optik“ (6, 175) der Religion aufgedeckt und die mit ihr verbundene Wertsetzung deutlich gemacht werden, um damit den Weg vorzubereiten für eine erneute „Umwertung der Werte“. Nietzsches Ansinnen ist: lieber sich fürchten als den ekelhaften Anblick des Missrathenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten nicht mehr los werden können? (5, 277). Denn dieses Nicht-mehr-Fürchten ist das Verhängnis, denn es lähmt, vergleichgütigt, ihm fehlt das Vorwärtstreibende. Dieses Hinnehmen der Verkleinerung des Menschen, seines Verfalls, ist heute die größte Gefahr, „denn dieser Anblick macht müde“ (5, 278). Mit der Furcht vor dem Menschen haben wir auch die Ehrfurcht und Hoffnung auf den Menschen verloren. Diese große Müdigkeit, das Nachlassen der Energie, der Verzicht auf eigene Wertsetzung. „Die Gesammt-Entartung des Menschen, hinab bis zu dem, was heute den socialistischen Tölpeln und Flachköpfen als ihr ‚Mensch der Zukunft‘ erscheint, – als ihr Ideal! – diese Entartung und Verkleinerung des Menschen zum vollkommenen Heerdenthiere [...], diese Verthierung des/ Menschen zum Zwergthiere der gleichen Rechte und Ansprüche ist möglich, es ist kein Zweifel! Wer diese Möglichkeit einmal bis zu Ende gedacht hat, kennt einen Ekel mehr, als die übrigen Menschen, – und vielleicht auch eine neue Aufgabe ...“ (5, 127 f.).
Die neue Aufgabe und die freien Geister Wer ist stark genug, gegen diesen Verfall aufzubegehren. Nietzsche setzt darauf, dass dennoch die starken Instinkte des Lebens nicht ausgemerzt sind, sondern vereinzelt immer wieder hervorbrechen. Er prophezeit für die nächsten zweihundert Jahre Kämpfe ungeheuren Ausmaßes, in denen die Entscheidung fallen wird, ob die Spezies Mensch zu retten ist. Er stellt gegen die tiefe Krankheit die Hoffnung auf eine große Gesundung. Wie denkt sich Nietzsche den zukunftsfähigen Menschen? Er ist „der erlösende Mensch der grossen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist“ mit weiterdrängender, über das Bestehende hinausdrängender Kraft:
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„Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom grossen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der grossen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muss einst kommen …“ (5, 336).
Paradigmatisch für diese Figur der Zukunft steht Zarathustra. Er ist ein „freier Geist“ und „Philosoph der Zukunft“. Wahre Philosophen haben die Aufgabe, die Zukunft der Menschheit zu bedenken, Menschheits-Utopien zu entwerfen und neue Orientierungen zu entwickeln. Ihre philosophische Leistung bemisst sich nicht nach Systematik und begrifflicher Genauigkeit, sondern nach visionärer Kraft. Wahre Philosophen in Nietzsches Sinn sind stets Philosophen der Zukunft, also solche, die in die Zukunft voraus denken, die sich in die Zukunft hineindenken und so schon auf eine gewisse Weise in der Zukunft leben. Sie sollen „Zeuger und Züchter werden und Säemänner der Zukunft“ (4, 254). Die „Zukunfts-Aufgabe des Philosophen“ besteht darin, „die Rangordnung der Werthe zu bestimmen“ (5, 289). Um dies zu vermögen, müssen sie vor allem „freie Geister“ sein, die in der Lage sind, sich von den Bindungen an die bestehende Gesellschaft mit ihren Wertmaßstäben, Normen und Ideologien zu lösen. Der freie Geist ist getragen von einer „grossen Loslösung“ (2, 15). Diese Loslösung ist der „Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestimmung, SelbstWerthsetzung“, der „Wille zum freien Willen“ (2, 16f.). Die freien Geister sind diejenigen, die nirgendwo sich binden, die an nichts hängen bleiben (5, 59). Freie Geister sind „voller Bosheit gegen die Lockmittel der Abhängigkeit“, „dankbar sogar gegen Noth und wechselreiche Krankheit, weil sie uns immer von irgend einer Regel und ihrem ‚Vorurtheil‘ losmachte“, „neugierig bis zum Laster, Forscher bis zur Grausamkeit, mit unbedenklichen Fingern für Unfassbares, mit Zähnen und Mägen für das Unverdaulichste“, „bereit zu jedem Wagniss, Dank einem Überschusse von ‚freiem Willen‘“ (5, 62). Sie sind die „Luft-Schifffahrer des Geistes!“, die „kühnen Vögel, die in’s Weite, Weiteste hinausfliegen“ (3, 331). Und doch ist ihr Flug begrenzt, werden sie irgendwann müde sein, irgendwo Halt machen. Und dann heißt es: „auch mir und dir wird es so ergehen! Was geht das aber mich und dich an! Andere Vögel werden weiter fliegen!“ (3, 331). Der Weg in die Zukunft kann nur Stufe für Stufe gegangen werden, da wo der Eine stehen bleibt, wird ein Anderer weiter gehen und weiter sehen. Worauf es ankommt, ist der Versuch, die aus-
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getretenen Bahnen zu verlassen und eigene Wege zu finden. Dies aber muss der Mensch aus sich heraus wollen. Erst dann ist er ein freier Geist, voller Abenteuerlust und Sehnsucht nach Neuem, mit Sinn für Versuche und Experimente. Hierzu braucht er Gesundheit und einen Überschuss an Kraft, „der dem freien Geiste das gefährliche Vorrecht giebt, auf den Versuch hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen“ (2, 18). Im Hintergrund dieser Versuche und Loslösungen steht jedoch die Frage: Was ist das Ziel? „Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn über das Meer? Wohin reisst uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, dass auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften, – dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder?“ (3, 331).
Den freien Geist begleitet die Unsicherheit, begleitet die Gefahr, begleitet das Bewusstsein möglichen Scheiterns. Aber ihm geht es nicht um das Ziel, sondern um die Freiheit, um die Befreiung von allem Elenden, Niederdrückenden, Bindenden. Die freien Geister sind Wegbereiter, Entdecker, nicht Ankommende, nicht Siedler. Ihr Ziel ist das Meer selbst, die unerschöpfliche Weite, nicht das Festland. Und es ist auch viel Zufall dabei, wohin der freie Geist sich wendet. Er plant seine Unternehmungen nicht, er plant die Zukunft nicht. Das Meer ist eines der Bilder, die Nietzsche für die Offenheit, Unbeherrschbarkeit und ins Unendliche sich öffnenden Möglichkeit der Zukunft einsetzt. Er beschreibt den freien Geist auch durch Eigenschaften wie Heiterkeit, Unbeschwertheit, Tanzen, Singen und Lachen, oder durch Metaphern wie das Fliegen, der Vogel, die Leichtigkeit, die frische Luft, die luftige Höhe, in die man nur gelangt, wenn man sich befreit von der Erdenschwere, von der Last aller Bindungen, die den Menschen an die Welt ketten, die ihn hinab ziehen. Dem freien Geist entgegen steht der „Geist der Schwere“, der auf den Menschen lastet und ihnen den Aufstieg beschwerlich macht, ganz zu schweigen vom Tanzen oder Fliegen. Eine solche Last kann Gott sein, können die Regeln und Werte der Gemeinschaft sein. Was der Geist der Schwere hervorbringt, ist: „Zwang, Satzung, Noth und Folge und Zweck und Wille und Gut und Böse“ (4, 248). Erst wenn der beschwerende Gott des „Du sollst“ überwunden ist, können die freien Geister leben, stellt sich die Morgenröte der Hoffnung, der Erwartung und des Glücks
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ein (3, 574), ein „Vorgefühl der Zukunft“ (3, 346). Doch diese Neuorientierung verlangt mehr als nur die Befreiung des Geistes, sie verlangt eine neue Ziel- und Wertsetzung für die Menschen, die Aufspannung eines neuen Horizontes. Die wahrhaft Schaffenden brauchen einen starken Willen, sie nehmen Opfer und Gefahr in Kauf, wie die Seefahrer, die sich der Zukunft stellen wie dem wilden und unberechenbaren Meer. Ihre Aufgabe ist die Vision einer neuen Menschheit, das Setzen neuer Ziele, um der Menschheit Orientierung für den Weg in die Zukunft zu geben, der Erde einen neuen „Sinn“ zu eröffnen. „Nur wenn die Menschheit ein allgemein anerkanntes Ziel hätte, könnte man vorschlagen ‚so und so soll gehandelt werden‘: einstweilen giebt es kein solches Ziel“ (3, 96). Hierin besteht die eigentliche und die notwendige Aufgabe der Philosophen der Zukunft, dadurch werden sie Schaffende und Kämpfende für die Zukunft. „Euer Geist und eure Tugend diene dem Sinn der Erde, meine Brüder: und aller Dinge Werth werde neu von euch gesetzt! Darum sollt ihr Kämpfende sein! Darum sollt ihr Schaffende sein!“ (4, 100).
Doch der Geist muss dazu bereit sein, er muss den Geist der Schwere von sich geworfen und ihn durch eigenen Lebenswillen, durch Lachen und Tanzen vernichtet haben. Der Mut des schöpferischen Helden ist kein verbissener Mut, sondern ein heiterer und unbeschwerter Mut. Zarathustra ist Sinnbild des freien Geistes und des Philosophen der Zukunft: „Ein Seher, ein Wollender, ein Schaffender, eine Zukunft selber und eine Brücke der Zukunft“ (4, 179). Er ist der Schaffende, „welcher des Menschen Ziel schafft und der Erde ihren Sinn giebt und ihre Zukunft“ (4, 247). Der freie Geist ist der „Mensch der umfänglichsten Verantwortlichkeit, der das Gewissen für die Gesammt-Entwicklung des Menschen hat“ (5, 79). Wie Nietzsche interpretieren? Im Umgang mit Nietzsches Werk sind zwei prinzipielle Entscheidung zu treffen: Zum einen ist zu entscheiden, ob es hier um ein philosophisches Anliegen geht oder ob die Schriften eher als essayistische Literatur zu nehmen sind, aus der wir uns mit schlagkräftigen, deftigen, witzigen Zitaten versorgen können. Nimmt man Nietzsches Werk als Philosophie
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Ernst, zieht dies dann die zweite Frage nach sich: Wie soll man Nietzsche verstehen, welche Interpretation ist angemessen? Die Palette der Zugänge reicht von der ästhetischen Rezeption der Kunstmetaphysik, ideologischer Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus, die daraufhin negative Rezeption zum Beispiel in der DDR bis hin zur positiven Rezeption in der Postmoderne. Der Zugang zu Nietzsches Philosophie ist immer auch abhängig vom Zeitgeist, vom eigenen Standort. Nietzsche hat radikal gedacht und schonungslos geschrieben. Niemand und nichts bleibt ungeschoren. Weltanschauliche Grundprämissen, die unsere heutige liberal-demokratische politische Kultur und unsere moderne Lebensweise tragen, werden destruiert. Doch Nietzsche selbst weist immer wieder darauf hin, dass es nicht um „die Wahrheit“ geht, sondern um Perspektiven, die uns bestimmte Aspekte unseres Lebens, unseres Menschseins verdeutlichen. Wir können die Perspektiven wechseln, wir können als freie Geister neue Perspektiven erfinden. Der Perspektivenwechsel hilft uns, die Schwachstellen von Sichtweisen zu identifizieren und uns immer wieder loszulösen von Denkmustern und Wertvorstellungen. So schlägt Nietzsche vor, leichtfertig (vgl. 4, 366) und heiter mit der Welt und der Sprache umzugehen. „Und falsch heisse uns jede Wahrheit, bei der es nicht Ein Gelächter gab!“ (4, 264).
Selbst wenn sich viele Äußerungen Nietzsches, isoliert genommen, sehr zynisch, bösartig und verbittert anhören, geht es doch im Ganzen um eine „fröhliche“ Wissenschaft. Das Lachen in Zarathustras Sinn ist Ausdruck des Lebenswillens, der Lebensbejahung, der Stärke. Es ist die Heiterkeit der mit sich in Einklang befindlichen Natur. Zarathustra beispielsweise ist der Tanzende, der Leichte, „ein Selig-Leichtfertiger“ (4, 366). Er ist der lachende „Wahrsager“, dessen Wahrheit darin besteht, dass es keine Wahrheit gibt und der das Lachen zur Wahrheit erklärt. Er ist der „Wahrlacher“ (ebd.). Die höheren Menschen fordert Zarathustra auf: „So lernt doch über euch hinweg lachen!“ (4, 368). „Das Lachen sprach ich heilig; ihr höheren Menschen, lernt mir – lachen!“ (4, 368). „Und verloren sei uns der Tag, wo nicht Ein Mal getanzt wurde! Und falsch heisse uns jede Wahrheit, bei der es nicht Ein Gelächter gab!“ (4, 264).
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Nietzsches Werk perspektivisch zu lesen bedeutet, eine Vielfalt verschiedener Deutungsansätze zuzulassen, die sich wechselseitig immer wieder relativieren und kein endgültig Wahres bestehen lassen. So bezeichnet Nietzsche sich selbst als „Narr“ oder als „froher Botschafter“ (6, 366). Er legt selbst einen solchen Umgang mit seinem Werk nahe, der keine passende Schublade findet. Die Wahrheit, die er postuliert, ist seine Wahrheit, keine Wahrheit für alle. Nietzsche kultiviert die Ironie seiner Schriften, ihren offenen Charakter: „Ich thue eben Alles, um schwer verstanden zu werden“ (5, 45).
Dies bedeutet aber, dass die Perspektiven, die Nietzsche anbietet, uns zum Nachdenken und Weiterdenken, zur Interpretation und Kritik herausfordern. Gerade die moralphilosophischen Schriften Nietzsches dürfen nicht wörtlich genommen werden, sondern sind Gedankenexperimente, in denen Nietzsche die Vision des Menschen in seiner negativen und positiven Form ins Extrem treibt, um die Auswüchse kultureller Entwicklungen vor Augen zu führen. Er ist hier radikal bis zur Unerträglichkeit, aber genau damit bezweckt er, zu verstören und zur eigenen Positionierung der Leser zu provozieren. Ob nun Nietzsches Philosophie als trotzige Selbstbehauptung oder hybride Selbstverherrlichung, als übersteigerter Welthass oder Philosophie der Zukunft zu lesen ist, muss jeder von uns selbst entscheiden.
Veronika Hoffmann
Gehört der Zweifel zu religiösen Überzeugungen? Problemstellung Beobachtet man individuelle Aneignungsprozesse von Religion, lohnt es sich auch zu fragen, wie es um ein mögliches Misslingen einer solchen Aneignung bestellt ist. Aus der weit gefächerten diesbezüglichen Problematik werde ich im Folgenden nur eine Fragelinie herausgreifen. Dabei frage ich nicht nach Zuständen, sondern nach Prozessen, das heißt nicht nach der Ablehnung einer Glaubensüberzeugung, sondern nach dem drohenden Scheitern einer eigentlich vollzogenen Aneignung einer solchen Überzeugung – in gängiger religiöser Terminologie: dem Zweifel. Nun beziehen sich Fragen nach religiösen Aneignungsprozessen in der Regel auf Inhalte religiöser Traditionen und Lehren, auf Wertvorstellungen und Verhaltensweisen. Individuelle Veränderungen innerhalb dieses Bestands an religiösen Inhalten lassen sich in der Regel aber eher als eine kreative Form der Aneignung denn als ihr Scheitern erfassen, auch wenn diese Aneignungen zum Beispiel zu Spannungen mit religiösen Institutionen führen können. Die folgenden Überlegungen nehmen nicht solche Einzelinhalte in den Blick, sondern das religiöse Grundverhältnis, sehr vereinfacht gesprochen: ob jemand sich grundsätzlich noch als ein Glaubender verstehen kann. Die leitende Fragestellung lautet: Werden Glaubenszweifel als ein Indiz dafür verstanden, dass die Aneignung einer religiösen Weltsicht zu scheitern droht – oder wird der Zweifel vielmehr als notwendiges Element einer flexiblen und toleranten religiösen Überzeugung betrachtet? Anders formuliert: Ist der Zweifel positiver Bestandteil einer religiösen Überzeugung oder ist er ihr natürlicher Feind? In dieser Weise vom Glauben als einer Überzeugung zu sprechen, ist freilich verkürzend. Denn ein religiöser Glaube ist ein mehrdimensionales Gebilde, das zum Beispiel auch eine starke affektive Komponente enthält. Glaubende Menschen gehen in der Regel zudem davon aus, dass sie ihren Glauben nicht gänzlich auf dieselbe Weise erwerben wie andere grundlegende Überzeugungen ihres Lebens, sondern dass er wesentlich von Gott selbst gewirkt ist. Alle diese Aspekte müssten für eine umfas-
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sende Darstellung berücksichtigt werden. Die Reduktion des Glaubens auf eine Überzeugung dient hier nur der einfacheren Handhabung der Fragestellung. Geht man nun wie angekündigt nicht von festen Positionen, sondern von Prozessen aus, dann stellt sich nicht nur die Alternative, eine religiöse Überzeugung zu haben oder sie nicht zu haben. Vielmehr kann es ein Gemisch aus Glauben und Zweifeln geben – ein Gemisch freilich, so die übliche und nahe liegende Auffassung, bei dem sich nur die Verteilung unterscheide, während die „Gesamtmenge“ gleich bleibe: Je stärker die Komponente des Zweifels sei, desto geringer diejenige des Glaubens und umgekehrt. Wäre es also am besten, 100 % religiöse Überzeugung und 0 % Zweifel zu haben? Es ließe sich vermuten, dass zumindest Glaubende selbst das erstrebenswert finden: je mehr Glaube und je weniger Zweifel, desto besser. Andererseits könnte es angesichts von gewaltbereitem religiösem Fanatismus besser erscheinen, wenn man „nicht so stark glaubt“. Menschen mit beispielsweise 80 % Glauben und 20 % Zweifel wären vielleicht weniger festgefahren und ideologisch. Ist es also gut, wenn jemand felsenfeste Überzeugungen hat, für die er oder sie auch einsteht? Oder erscheinen Menschen sympathischer, die auch einmal zweifeln? Führt das nicht zu reflektierteren Grundhaltungen und mehr Toleranz? Andererseits: Möchten wir Mitbürger, die ab und zu daran zweifeln, dass man nur demokratische Parteien wählen darf – wehe, wenn sie gerade am Wahltag zweifeln? Solche Fragen wie ihre implizite Beantwortung lassen sich gut daran beobachten, wie entsprechende Geschichten erzählt werden – in fiktiven Formaten wie Spielfilmen und Romanen, unter Umständen aber auch in der Weise, wie reale Biographien dargestellt werden. Da finden sich durchaus Heldengeschichten von solchen, die für ihre Überzeugung alles Mögliche auf sich nehmen, bis hin zu Gefängnis und Tod. Aber oft enthalten solche Erzählungen zumindest in ihrer medialen Aufbereitung auch einen Moment, wo der Held (oder die Heldin) zweifelt: an sich, an der Mission, an allem, wovon er überzeugt war. Macht ihn das nicht menschlicher? Aber erwarten wir nicht zugleich, dass er diesen Zweifel überwindet und seine Mission zu Ende führt? Wäre der beste Zweifel also der, der zu einer gewissen Reflexionspause zwingt, sich dann aber, bitteschön, auflöst und einer größeren Sicherheit Platz macht? Bevor wir uns der Fragestellung auf theoretischem Weg nähern, soll ein erster Zugang über zwei solche Geschichten erfolgen, die sich auf religiöse Überzeugungen und den Zweifel an ihnen beziehen. Narrative wie
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theoretische Zugänge werden sich dabei im Wesentlichen auf Material aus meinem eigenen Arbeitsfeld stützen: dem Christentum katholischer Provenienz. Eine interreligiöse Behandlung des Themas wäre zweifellos reizvoll, würde aber den hier gesteckten Rahmen bei Weitem sprengen. Narrative Zugänge Im religiösen Kontext werden Vorbildgeschichten als Heiligengeschichten erzählt. Bei den beiden folgenden, die typischerweise aus sehr verschiedenen Zeiten und Situationen des Christentums stammen, interessiert uns nicht, „was gewesen ist“ (oder gar, „wie es wirklich gewesen sein mag“), sondern einzig, welches Verständnis von Glauben und Zweifeln diese Geschichten als Geschichten transportieren. a) Katharina von Alexandrien Vom Leben der heiligen Katharina von Alexandrien, die im vierten Jahrhundert den Märtyrertod erlitten haben soll, berichten uns nur legendarische Überlieferungen, mögliche historische Anknüpfungspunkte bleiben im Dunkeln. Der Legende zufolge war Katharina eine junge und nicht nur (wie es sich gehört) schöne und reiche, sondern auch intelligente Frau, eine Königstochter aus Zypern, die im ägyptischen Alexandrien lebte und sich dort zum Christentum bekehrte. Als der Kaiser alle Christen mit dem Tod bedrohte, die sich weigerten, den Götzen zu opfern, trat Katharina ihm entgegen mit der Frage, weshalb nicht umgekehrt er zum Christentum übertrete. Der Kaiser veranstaltete daraufhin eine öffentliche Debatte, in der seine fünfzig besten Philosophen gegen Katharina auftraten. Diese aber brachte so einleuchtende und gelehrte Argumente vor, dass sich ihre Diskussionsgegner geschlossen zum Christentum bekehrten – woraufhin der Kaiser alle fünfzig auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließ. Er selbst aber war von Katharinas Schönheit und Intelligenz so beeindruckt, dass er ihr die Ehe anbot. Sie lehnte jedoch ab und wurde in den Kerker geworfen. Mehrere Anläufe, sie umzubringen, schlugen fehl, u.a. der Versuch, sie zu rädern. Deshalb wird sie in der Kunst in der Regel mit einem zerbrochenen Rad dargestellt. Stattdessen bekehrte Katharina auch noch ihre Wachmannschaft, bevor sie schließlich enthauptet wurde. Hier sehen Sie: Die Frau ist nicht nur schön und klug. Sie ist sich ihres Glaubens auch so sicher, dass sie bereit ist, für ihn zu sterben, und „unterwegs“ noch eine ganze Reihe anderer bekehrt. So stellt ihre Le-
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gende wie in einem Brennglas das Idealbild zweifelsfreier Glaubensstärke vor Augen. Diese zweifelsfreie Glaubensstärke ist, soweit ich sehen kann, der Regelfall in Sachen Heiligenbiographien. Freilich begegnet man auch Erzählungen von idealen Christen, in denen der Zweifel eine Rolle spielt. Aber dann kommt er im Modus des Überwundenseins vor. Auch dieses Motiv begegnete uns bereits: Ob der Geheimagent die Welt retten muss oder zwei als Paar zusammenfinden sollen, zwischenzeitlicher Zweifel an der Mission oder am anderen kann die Personen menschlicher erscheinen lassen und vielleicht die Geschichte interessanter machen. Aber wenn es zum Showdown kommt – läutende Hochzeitsglocken oder der finale Zweikampf mit dem Bösewicht –, dann sollte alles wieder im Lot sein. Zweifel im letzten Moment möchte das Publikum nicht mehr sehen. Glaubensfestigkeit und die Freiheit von Zweifeln – weil man nie welche hatte oder weil man sie überwunden hat – sind also traditionell und wenig überraschend die typischen Kennzeichen von Glaubensvorbildern. b) Mutter Teresa von Kalkutta Aber spätestens im zwanzigsten Jahrhundert lässt sich hier und da ein eigentümliches Phänomen beobachten. Besonders gut greifbar geworden ist es bei Mutter Teresa (1910–1997), die zu enormer Bekanntheit gelangt ist, weil sie mit ihren Ordensschwestern in Kalkutta (Indien) unter den Ärmsten der Armen lebte und insbesondere auch für die Sterbenden sorgte. Typische Bilder von ihr zeigen sie zumeist lächelnd und Berichte über sie erweckten den Eindruck, als teile sie die unangefochtene Glaubensstärke einer Katharina von Alexandrien. So gab es ein kleines mediales Erdbeben, als 2007 Aufzeichnungen von ihr veröffentlicht wurden, die zeigten, dass sie ein halbes Jahrhundert lang – von ihrer Ordensgründung an bis zu ihrem Tod – an massiven Glaubenszweifeln litt.1 Diese Briefe und Notizen sind von kämpferischen Atheisten als Beweis gelesen worden, dass auch Teresa eigentlich eingesehen habe, dass es Gott nicht gebe; sie habe darauf nur mit derselben Art von Realitätsverweigerung reagiert, die überzeugte Kommunisten angesichts des „real existierenden Sozialismus“ an den Tag gelegt hätten.2 Teresa selbst sah das freilich anders. Wohl hatte sie das Gefühl, Gott sei abwesend, ja sie konnte angesichts dieses Gefühls den Zweifel äußern, ob es ihn überhaupt gebe. Aber sie zog daraus nicht die Konsequenz, dass sie eigentlich ihr bisheriges Leben hinwerfen müsste. Vielmehr fand sie offensichtlich
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eine Form zu leben, in der Glaube und Zweifel koexistieren konnten. So, wie sie durch ihr Leben in Armut mit den Ärmsten solidarisch war, so verstand sie sich in ihrem Zweifel als solidarisch mit denen, deren Glaube im Zweifel unterzugehen drohte. Mutter Teresa galt längst als ein Vorbild, bevor man von ihren Zweifeln wusste. Für unseren Zusammenhang interessant ist aber, dass sie auch nach der Veröffentlichung der Texte weiterhin als ein solches Vorbild betrachtet wurde. Während also, soweit ich sehen kann, über viele Jahrhunderte als nachahmenswertes Ideal religiöser Überzeugung eines der Zweifelsfreiheit oder höchstens des überwundenen Zweifels galt, scheint es neuestens eine Tendenz zu geben, nicht nur die den Zweifel ausschließende Glaubensstärke zum Vorbild zu erheben, sondern auch ein Aushalten des Zweifels, ein Leben mit dem Zweifel. Theoretische Zugänge Diese beiden narrativen Zugänge geben uns einen ersten Einblick vor allem auch in die emotionalen Obertöne der Fragestellung. Auf der theoretischen Ebene sind die Dinge freilich deutlich komplexer, aber es werden sich doch gewisse Ähnlichkeiten beobachten lassen. Im Folgenden sollen exemplarisch drei theoretische Zugänge zum Verhältnis von religiöser Überzeugung und Zweifel vorgestellt werden. Dabei werde ich mich weitgehend auf ein knappes Referat der Positionen beschränken und Sachkritik nur im unmittelbaren Zusammenhang unserer Fragestellung üben. Ich bin also nicht zwingend mit allem einverstanden, was ich nicht ausdrücklich kritisiere. a) Zweifel als „zerstörendes Gift“ (Franz Hettinger) Franz Hettinger (1819–1890), Theologieprofessor in Würzburg, hält in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts religiöse Vorträge für Studierende aus allen Fakultäten und für gebildete Laien (eine Art Ringvorlesung also). Seine Überlegungen sind dabei nicht deshalb interessant, weil sie originell wären, sondern vielmehr, weil sie für das katholische Denken seiner Zeit eher typisch sind. Und sie verbreiten sich weit: Der erste Band seiner „Apologie des Christentums“ erscheint 1863 in der ersten, 1906 in der neunten Auflage, er wird ins Französische, Portugiesische, Spanische, Ungarische und Englische übersetzt. Gleich der erste Vortrag der Reihe ist dem Zweifel gewidmet. Denn Hettinger sieht in der „Zweifelsucht“ eine der größten Gefahren der
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Zeit. „Der Zweifel ist nur mächtig im Zerstören, aber gänzlich unfähig, ein Neues oder Besseres hervorzubringen, überhaupt etwas zu schaffen. Indem er alles in Frage stellt oder dahingestellt sein lässt, wirkt er, in den gesunden Organismus einmal aufgenommen, wie ein zerstörendes Gift, das immer weiter und tiefer dringt.“3 Dass Menschen überhaupt am christlichen Glauben zweifeln, ist für Hettinger dabei alles andere als selbstverständlich, vielmehr höchst erklärungsbedürftig. Denn eigentlich stehe die Wahrheit des Christentums klar vor Augen und bestätige sich nicht zuletzt dadurch, dass das Christentum alle Wirren und Umbrüche der Geschichte überlebt habe. Drei Ursachen sind in seinen Augen entscheidend für die Ausbreitung des Zweifels: „Die falsche Vorstellung von Wesen und Aufgabe der Wissenschaft, Gleichgültigkeit und Gedankenlosigkeit und endlich die Leidenschaft.“4 1. Gerade junge Menschen neigen Hettinger zufolge dazu, die Kraft ihres eigenen Verstandes wie die Reichweite wissenschaftlicher Erkenntnis zu überschätzen. Sie begeben sich auf eine faustische Suche zu „erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält“ und wollen dabei nichts anerkennen, was sie nicht mit dem eigenen Verstand erfassen können. Hettinger betont in seiner Kritik an dieser Haltung, er wolle nicht die wissenschaftliche Forschung an sich kritisieren. „Aber wir verwerfen jenes Prinzip, das den Zweifel als Ausgangspunkt aller Wissenschaft statuiert, weil es falsch ist, unzulässig und undurchführbar nicht bloß in Fragen religiöser Natur, sondern selbst bezüglich der Erkenntnis der rein menschlichen Wahrheiten.“5 Denn die ersten Prinzipien unseres Denkens, auf denen alle Beweise ruhen, könnten ihrerseits nicht wieder bewiesen werden. Deshalb komme man nie zur Gewissheit, wenn man an allem zweifelt. Die völlig adäquate Erkenntnis von allem und auf einen Blick sei das Vorrecht Gottes. Dem Menschen sei sie unerreichbar, unser Verständnis der Welt wie des Glaubens bleibe immer unvollständig. Diese letzte Geheimnishaftigkeit, die sich nicht auflösen lasse, markiere die natürliche Schranke des menschlichen Geistes und sei deshalb zu akzeptieren. 2. Die zweite Ursache für die „Zweifelsucht“ sind laut Hettinger intellektuelle Gleichgültigkeit und Halbbildung. In diesem Zusammenhang wendet er sich gegen eine rein anwendungsorientierte höhere Bildung, die allein der Berufsvorbereitung dienen soll (und das lange vor der Bologna-Reform): „Unter dem Vorwande, die Jugend so frühzeitig als möglich auf ihren künftigen Beruf vorzubereiten, hat so oft aller hö-
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here Unterricht nur das eine Ziel, jene Kenntnisse mitzuteilen, die uns befähigen, schnell und mit Sicherheit eine Stellung im Leben zu gewinnen.“6 Damit gerieten aber die Fragen nach dem Grund und dem Sinn des Seins aus dem Blick. Hettinger zufolge stammt deshalb der Zweifel häufig nicht aus zu viel, sondern aus zu wenig Wahrheitsstreben. Hinzu komme, dass das Zweifeln intellektuell leichter sei als das sorgfältige Fragen nach den Gründen; man könne sich auf diesem Weg gut einen Anschein von Intellektualität geben, ohne allzu viel wissen zu müssen oder gar tiefer nach der Wahrheit geforscht zu haben – sprich: Die Attitüde des Zweiflers ist einfach schick. 3. Die Frage, welchen Argumenten man Glauben schenkt, ist schließlich Hettinger zufolge keine rein intellektuelle. Sondern wer auf eine bestimmte Weise leben will, der wird den entsprechenden Argumenten zugeneigt sein, die sein Verhalten legitimieren. Für Hettinger heißt das konkret: Wenn materielle Interessen ganz im Vordergrund stehen, dann wird sich der Mensch der Wahrheit verschließen, die dieser Ausrichtung widersprechen möchte. Mit Cicero ist er deshalb der Überzeugung: „Die meisten Menschen aber werden in ihrem Urteile bestimmt durch Liebe oder Hass, Neigung oder Abneigung, Hoffnung oder Furcht oder eine sonstige Gemütsbewegung; die wenigsten urteilen nach der Wahrheit und dem Gesetz.“7 Nicht Unwissenheit, sondern Selbsttäuschung sei folglich der Grund für die meisten Irrtümer. Für Hettinger ist der Fall klar: Der Zweifel ist ein Übel, dem man entgegentreten muss und auch entgegentreten kann. Das Ideal der Legende von der heiligen Katharina wird uneingeschränkt hochgehalten. Interessant zu beobachten ist dabei, dass Hettinger den Zweifel wie seine Bekämpfung nicht rein auf der intellektuellen Ebene ansiedelt. Insbesondere seine dritte Argumentationslinie erinnert an den eingangs gegebenen Hinweis, dass Glaube und Zweifel vielschichtige Phänomene sind, die nicht allein den Verstand betreffen. b) „Lob des Zweifels“ (Peter Berger, Anton Zijderveld) Im Gegensatz zu Hettinger stimmen Peter Berger (*1929) und Anton Zijderveld (*1937) ein regelrechtes „Lob des Zweifels“ an.8 Den Ausgangspunkt bildet dabei, was die beiden Soziologen als die pluralisierende Wirkung der Moderne auf das Gebiet religiöser Überzeugungen beschreiben: Solange ein Katholik in einem Dorf wohnte, in dem alle anderen auch katholisch waren, war es einfach, davon auszugehen, dass die eigene Religion die einzig wahre sei und alle anderen mindestens irrten, wenn nicht gar gefährlich seien. Denn mit diesen anderen kam man ja gar nicht kon-
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kret in Kontakt. Diese geschlossenen religiösen Räume haben sich aber weitgehend aufgelöst. Was früher die Ausnahme war, nämlich dass verschiedene Religionen, zum Beispiel in Handelsmetropolen, nachhaltig miteinander in Berührung kamen, ist jetzt die Normalität. Die Folge sei eine „kognitive Kontamination“9: „Wenn Menschen einige Zeit Umgang miteinander haben, beginnen sie, gegenseitig ihr Denken zu beeinflussen. Wenn eine derartige ‚Kontamination‘ stattfindet, finden es Menschen zunehmend schwieriger, die Glaubens- und Wertvorstellungen der anderen rundweg als pervers, krank oder böse zu bezeichnen.“10 Mit dieser neuen Sicht auf andere religiöse Überzeugungen ändere sich tendenziell auch die Einstellung zur eigenen. Zum einen ist diese jetzt nicht mehr ausschließlich eine Sache des Schicksals. Der Katholik, der sein Leben in einem Dorf voller Katholiken verbrachte, hatte in der Regel keinen Grund, seine religiöse Einstellung zu hinterfragen. Heute aber haben wir Zugang zu einer Mehrheit von religiösen Überzeugungen, aus denen wir auswählen können – aber, folgt man Berger und Zijderveld, auch auswählen müssen. Denn selbst wenn der Katholik seine Religion nicht wechselt, sondern einfach bei dem Glauben bleibt, in dem er erzogen wurde, ist das eine Entscheidung, die man ihm als Individuum zurechnet. Das wäre früher im Dorf nicht so gewesen. Zum anderen führt die Pluralität tatsächlich begegnender religiöser Überzeugungen zu einer Relativierung: Angesichts dieser realen Wahlmöglichkeiten (und nicht nur des Wissens, dass es „irgendwo“ auch Menschen gibt, die etwas anderes glauben als ich) ist es nicht mehr so einfach, davon auszugehen, dass meine Religion als einzige wahr ist. Deshalb kann man sich über die erweiterten Wahlmöglichkeiten freuen, aber man kann sie auch als bedrohlich empfinden: Die Selbstverständlichkeiten in unserer Welt sind weniger geworden, stattdessen befinden wir uns angesichts der massiven Zunahme von Wahl- und Entscheidungssituationen in einem Zustand der „Dauerreflexion“ (H. Schelsky). Berger und Zijderveld zufolge gibt es nun zwei grundsätzliche Strategien, um diese Unselbstverständlichkeit der eigenen Überzeugung – und damit den Zweifel – auszuklammern und wieder zu einer Form von Gewissheit zu kommen. Beide jedoch sind ihres Erachtens in der einen oder anderen Weise reduktionistisch und damit nicht nur intellektuell verengt, sondern auch sozial gefährlich: der Fundamentalismus und der Relativismus. Unter „Fundamentalismus“ verstehen sie den „Versuch, die Selbstverständlichkeit einer Tradition wiederherzustellen, was typischerweise
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verstanden wird als Rückkehr zu einer (realen oder phantasierten) früheren Zeit der Tradition“11. Auf diese Weise soll die Relativierung rückgängig gemacht werden, die aus der Pluralisierung religiöser Optionen folgt, und das sichere Fundament einer „einzig wahren Religion“ zurückgewonnen werden. Dem dient zum Beispiel, dass fundamentalistische Sekten sich abschotten: Ihre Mitglieder sollen anderen religiösen Optionen möglichst gar nicht erst begegnen. Und aus demselben Grund ist in fundamentalistischen Kreisen in der Regel der Zweifel verboten oder wird zumindest als ein Zeichen von Glaubensschwäche angesehen, die es zu überwinden gilt. Eine zweite Form, mit dem Verlust der Gewissheit inadäquat umzugehen, identifizieren die beiden Soziologen nun im „Relativismus“. Auf den ersten Blick scheint das erstaunlich. Ist denn der Relativismus nicht sogar ein Freund des Zweifels? Berger und Zijderveld bezeichnen als „Relativismus“ eine Position, die die durch die Pluralisierung entstandene faktische Relativität ausdrücklich gutheißt. Aus relativistischer Perspektive ist deshalb anderen religiösen Überzeugungen nicht nur mit Toleranz zu begegnen, sondern sie sind ausdrücklich als ebenso gültige Wahrheiten anzuerkennen wie die eigene. Ein extremer Relativismus geht sogar noch weiter und betrachtet „Wahrheit“ grundsätzlich als einen sinnlosen Begriff. Es gebe keine objektiven Tatsachen, sondern nur – jeweils interessegeleitete – Interpretationen. Berger und Zijderveld zufolge widerspricht eine solche totale Verabschiedung der Wahrheit schon dem gesunden Menschenverstand. In unserem Kontext wichtiger ist freilich, dass in ihren Augen die relativistische Position genauer besehen ebenso dem Zweifel ausweicht, der mit dem Wählenmüssen zwischen Überzeugungen einhergeht, wie die fundamentalistische. Denn für Relativisten gelte gewissermaßen als die einzige unbezweifelbare Wahrheit, dass es keine unbezweifelbare Wahrheit gibt. Abgesehen davon, dass sie damit ihrerseits eine Art Gewissheitsposition bezögen, die sie nicht mehr in Frage stellten, könne es ernsthaften Zweifel nur dort geben, wo die Frage nach der Wahrheit noch gestellt wird. Deshalb behaupten Relativisten zwar „besonders oft, den Zweifel hochzuhalten, aber in Wirklichkeit verabsolutieren sie den Zweifel zu einem radikalen Relativismus und Zynismus, der das Ende des Zweifels einläutet“12. Diesen beiden ungenügenden Versuchen, mit der modernen Pluralität umzugehen, stellen Berger und Zijderveld nun ihr „Lob des Zweifels“ entgegen: Der Zweifel ist ein „Mittelfeld“, „eine grundlegende Un-
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gewissheit, die sich nicht so leicht vom Glauben oder Nichtglauben, Wissen oder Nichtwissen aus der Bahn werfen lässt.“13 Dieser Zweifel sei nicht relativistisch, weil er sich selbst nicht absolut setze, sondern auch noch den Zweifel bezweifeln könne. Auf diesem Weg suche er, anders als der Relativist, durchaus nach der Wahrheit, die ihm freilich nie einfach zur Verfügung stehe, sondern immer nur als Ergebnis langer Erfahrungsund Reflexionsprozesse bruchstückhaft aufscheine. Für Berger und Zijderveld, die sich für die Auswirkung religiöser Überzeugungen auf die Gesellschaft interessieren, ist an dieser Haltung besonders wichtig, dass sie zu religiöser Toleranz führe.14 Sie verdeutlichen dies an einem Beispiel, das zugleich eine meines Erachtens problematische Seite ihrer zunächst sympathisch erscheinenden Konzeption erkennen lässt: Ihnen zufolge ist der Zweifel ein zentraler Grundbestandteil der Demokratie. Er äußere sich unter anderem in den Debatten der Zivilgesellschaft und sei in der parlamentarischen Opposition quasi institutionalisiert.15 Hier scheinen mir zwei verschiedene Ebenen in problematischer Weise zusammengeschoben. Denn der einzelne Parlamentarier zweifelt ja nicht unbedingt in dem Sinn, dass er nicht ganz von seiner Position überzeugt wäre, sondern er zweifelt die Position der anderen Seite an – was etwas durchaus anderes ist. Bezüglich seiner eigenen Meinung kann sich der Abgeordnete durchaus gewiss sein. Und damit zeigt das Beispiel auch, dass Toleranz nicht die Eigenschaft von Zweifelnden allein sein muss: Die Gewissheit bezüglich der eigenen Überzeugung hindert den Parlamentarier nämlich nicht daran, seinem Debattengegner tolerant zu begegnen und ihn nicht zum Beispiel tätlich anzugreifen oder zu versuchen, seine Position mit allen Mitteln zu unterdrücken. Berger und Zijderveld scheinen hier den Zweifel an der eigenen Überzeugung, der deren Absolutsetzung verhindert, und die Möglichkeit zu gewaltfreier Debatte und tolerantem Umgang mit widersprechenden Überzeugungen zu unbesehen zu identifizieren. Eine Meinung für falsch zu halten und sie zu unterdrücken, kann zwar, muss aber nicht zusammengehen. Kehren wir zurück zur Eingangsfrage: Gehört der Zweifel zu religiösen Überzeugungen? Berger und Zijderveld würden diese Frage bejahen: Ein Glaube ohne Zweifel ist realitätsfern und gefährlich, der Zweifel ein Garant für Toleranz. Einen Glauben wie den in der Legende von der heiligen Katharina vorgestellten, der sich noch nicht einmal von einer Diskussion mit den fünfzig hellsten Köpfen seiner Zeit beirren lässt, erschiene ihnen deshalb vermutlich eher verdächtig.
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c) „Konflikt der Interpretationen“ (Jürgen Werbick) Auch die letzte vorzustellende Position will dem Zweifel gegenüber der Forderung nach völliger Gewissheit einen Platz einräumen, freilich in signifikant anderer Weise, als bei es bei Berger und Zijderveld zu beobachten war. Der katholische Fundamentaltheologe Jürgen Werbick (*1946) schaut weniger auf gesellschaftliche Entwicklungen als auf theologische Begründungsmuster.16 Und hier findet er einen wechselseitigen Ausschluss von Glaube und Zweifel vor allem in Entwürfen, die beanspruchen, zweifelsfrei sichere Vernunftgründe für den Glauben zu bieten. Eine religiöse Überzeugung, so wird dort argumentiert, hat Konsequenzen für die gesamte Existenz eines Menschen und ein solcher Einsatz lasse sich nur rechtfertigen, wenn dieser Glaube bis ins Letzte rational verantwortet sei. Katharinas Bereitschaft zum Martyrium war dieser Argumentation zufolge nur vernünftig vertretbar, weil sie sich ihrer Überzeugung absolut sicher war. Werbick liegt es nun fern, die erhebliche Bedeutung rationaler Glaubensverantwortung zu bestreiten. Aber Glaubensgewissheit ist ihm zufolge nicht erzwingbar, und zwar aus mehreren Gründen: Sie ist unverfügbar, insofern der Glaube nicht einfach menschlich erreichbar, sondern Gottes Geschenk ist. Sodann sind die Begründungsfiguren für den Glauben nicht so unanfechtbar, dass jeder vernünftige Zweifel ein für allemal ausgeschlossen wäre. Die angestrebte völlige Zweifelsfreiheit ist in seinen Augen eine unerfüllbare Forderung. Und schließlich lässt sich der existenzielle Zweifel nicht mit Vernunftgründen allein bekämpfen. Der Zweifel kann nicht einfach auf rationalem Weg gegenstandslos gemacht werden. Werbick verweist also, wie in anderer Weise bereits Hettinger, gegenüber einem rein argumentativen Zugang auf die eingangs erwähnte Mehrdimensionalität von Glaube und Zweifel. Werbick versteht den Glauben als eine Gesamtinterpretation der Wirklichkeit. Denn wir leben grundsätzlich in einer Welt, die nicht einfach „da“ ist, vorhanden und eindeutig, sondern die wir immer schon interpretieren. Für diese Deutung der Welt und der Erfahrungen in ihr gilt, was für die Interpretation jedes Textes gilt, wenn er mehr ist als ein Einkaufszettel: Es gibt einerseits nicht die eine, beweisbar richtige Interpretation, es gibt immer mehrere. Aber andererseits sind auch nicht einfach alle Interpretationen möglich, und unter den möglichen sind nicht alle gleich gut. Es gibt durchaus bessere und schlechtere, solche, die mehr, und solche, die weniger von diesem Text aufschließen, und vor allem bedeutet ein Text nicht einfach Beliebiges. Man kann Texte fehlinterpretieren: Wer der biblischen Johannes-Apokalypse das Datum des Weltendes
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entnimmt, der liest es in den Text hinein, nicht heraus. So kann es zu einem Konflikt der Interpretationen kommen: um die Grenzen legitimer Interpretation und um die bessere Interpretation. In ähnlicher Weise muss auch eine Deutung der Welt aus der Perspektive des Glaubens plausibel sein, um glaub-würdig zu sein, aber sie kann andere Deutungen nicht definitiv ausschließen. Auch sie steht in einem „Konflikt der Interpretationen“, der sich einerseits nie endgültig entscheiden lässt: Die Richtigkeit der Glaubensperspektive liegt nicht auf dem Feld des Beweisbaren. Aber der Glaubende betrachtet andererseits seine Weltdeutung auch nicht als eine beliebig ausgewählte, sondern als eine, die „mehr Wirklichkeit“ einfängt, die die Welt besser und umfassender aufschließt als andere Deutungen. Deshalb ist es zunächst weder verwunderlich noch verwerflich, dass man eine solche als plausibel betrachtete Interpretation der Welt in der Regel nicht allzu leicht und ohne Grund wieder aufgibt. Das Modell besagt also nicht, dass der Konflikt permanent aktiv ausgetragen werden müsste, dass nur ein zweifelnder Glaube ein guter Glaube wäre. Subjektive Glaubensgewissheit kann durchaus ihren Ort haben und muss nicht gleich als naiv oder ideologisch verdächtigt werden. Aber der Konflikt ist dann nur stillgestellt und kann immer wieder aufbrechen. Dieser Konflikt zwischen Glaube und Zweifel spielt sich Werbick zufolge vorrangig auf der folgenden Ebene ab: Es gibt eine inhärente Doppeldeutigkeit religiöser Überzeugungen, die zulässt, dass sie immer nach zwei Richtungen hin gelesen werden können: mit einer „Hermeneutik des Sinnes“ oder einer „Hermeneutik des Verdachts“.17 Eine Hermeneutik des Verdachts argumentiert dabei nicht selten mit der Figur des „nichts als“: Der Glaube an Gott ist nichts als die Verlängerung kindlicher Vorstellungen von den gütig-allmächtigen Eltern, nichts als der Versuch, sich in einer erbarmungslosen und trostlosen Welt einen imaginären Zufluchtsort zu schaffen, etc. Die Hermeneutik des Sinnes hingegen fragt nach der Bedeutung und dem Geltungsanspruch der Überzeugung und wehrt sich so gegen den Reduktionismus des „nichts als“. Aus der Tatsache, dass der Glaube im menschlichen Leben eine positive Funktion ausüben kann, folgt eben nicht zwingend, dass Gott nur herbeigewünscht wäre. Sie könnte auch auf einen tatsächlich heilschaffenden Gott verweisen. Die Argumentation des „nichts als“ geht also davon aus, dass die menschliche Sehnsucht sich die Wirklichkeit schafft, nach der sie sich sehnt: Der Verdurstende in der Wüste sieht Wasser vor sich, weil er Durst hat – aber es ist nur eine Fata Morgana. Von Seiten der „Hermeneutik
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des Sinns“ gilt hingegen: Vielleicht bezieht sich der Glaube doch auf eine Wirklichkeit, die sich in menschlicher Sehnsucht ankündigt und die sie erfüllen will. Vielleicht gibt es das Wasser, auf das sich der Durst des Menschen richtet, tatsächlich, und vielleicht gibt es den Durst, weil er den Menschen zum Wasser führen will. Dieser Konflikt zwischen einer Hermeneutik des Sinnes und einer Hermeneutik des Verdachts lässt sich nun weder einfach nach einer Seite hin auflösen noch führt er umgekehrt zu einem bloßen Nebeneinander der Positionen. Werbick will ihn vielmehr so organisieren, dass beide Sichtweisen sich von der jeweils anderen anfragen lassen. Die „Hermeneutik des Verdachts“, die den Zweifel zu Wort kommen lässt, ist von erheblicher Bedeutung für den Glauben. Denn sie zeigt seine Verführbarkeit und Missbrauchbarkeit. Sie entlarvt einen Glauben, der zur Ideologie geworden ist oder mit dem bestimmte Zwecke erreicht werden sollen, sie deckt die Verführung fundamentalistischer Vereinfachung und PseudoSicherheit auf. Hier ist der Zweifel eine heilsame Herausforderung für den Glauben. Umgekehrt ist auch die Hermeneutik des Sinnes eine Anfrage an den Zweifel. Denn sie stellt seinem Verdacht die Leidenschaft eines Suchens entgegen, das das Finden überhaupt erst ermöglicht. Wer von vornherein im Verdacht lebt, wird – so schon die zwischenmenschliche Erfahrung – auch kaum etwas anderes finden und damit immer wieder die eigene Weltsicht bestätigen. „Ohne die Suche, zu der die Sehnsucht drängt, kein Finden; nur die Sehnsucht entdeckt, was ihr Erfüllung sein könnte. Bedürfnisse und Wünsche sind die Augen des Herzens.“18 Zweifel und Glaube stehen einander also in Werbicks Perspektive nicht einfach feindlich gegenüber. Der Zweifel schützt vor naiven oder ideologischen Glaubensformen, aber er ist nicht zwingend das letzte Wort. Werbick fordert schließlich dazu auf, den Zweifel auch gegen sich selbst zu wenden – mit Verweis auf Bertold Brecht, der wie Berger und Zijderveld ein „Lob des Zweifels“ anstimmt, aber zugleich vor einem Zweifel warnt, der nie zur Entscheidung und zum Handeln kommt; vor einem Zweifel, der dazu dient, sich zu entziehen, indem er der Gründe „zu viele braucht“19. Schluss Blicken wir kurz auf die angestellten Überlegungen zurück. Bereits der kurze narrative Zugang zeigte, dass es hinsichtlich der Frage, inwieweit
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Zweifel mit religiösen Überzeugungen kompatibel ist, sehr verschiedene Vorstellungen und, so lässt sich vermuten, auch Perspektivverschiebungen in neuester Zeit gibt. Bei Hettinger ließ sich sodann die traditionelle und wohl immer noch weit verbreitete Position beobachten, der zufolge eine religiöse Überzeugung im Idealfall jeden Zweifel ausschließt. Hier haben wir, was ich eingangs als „Gesamtmengen-Argumentation“ bezeichnet habe: Im besten Fall besteht eine religiöse Überzeugung aus 100 % Glaube und 0 % Zweifel. Und nimmt der Zweifel überhand, zerstört er den Glauben. Berger und Zijderveld hingegen stellen keine solche Gesamtmengen-Kalkulation an. Vielmehr gehört zur Redlichkeit wie zur sozialen Integrationsfähigkeit religiöser Überzeugungen für sie zwingend der Zweifel hinzu, der sie gewissermaßen „temperiert“ und toleranzfähig macht. Auch bei Werbick wird die Idee abgelehnt, dass religiöse Überzeugungen im Idealfall zweifelsfrei zu sein hätten. Er geht jedoch weniger von einer „temperierenden“ Wirkung des Zweifels aus, sondern betont vielmehr den konflikthaften Charakter des Verhältnisses von Glaube und Zweifel. Damit entgeht er auch der Gefahr einer gewissen Funktionalisierung des Zweifels, die man bei Berger und Zijderveld vermuten könnte und die dem Zweifel letztlich seine Spitze nähme: In Werbicks Entwurf eines „Konfliktes der Interpretationen“ steht der Zweifel nicht ausschließlich im Dienst des Glaubens (und seiner besseren Sozialverträglichkeit), sondern bleibt auch eine potenzielle Gefährdung individueller Aneignung von Religion.
Anmerkungen Anmerkungen zu den Seiten 7–12: Bärbel Kracke, René Roux, Jörg Rüpke, Einleitung: Religion des Individuums, 1 Siehe das Verzeichnis am Bandende. 2 Alf Lüdtke, „Macht der Emotionen – Gefühle als Produktivkraft Bemerkungen zu einer schwierigen Geschichte“, in: Á. v. Klimó; M. Rolf (Hgg.), Rausch und Diktatur: Inszenierung, Mobilisierung und Kontrolle in totalitären Systemen, Frankfurt a. M. 2006, 44–55; ders., „Gewalt des Staates – Liebe zum Staat: Annäherungen an ein politisches Gefühl der Neuzeit“, in: S. Krasmann; J. Martschukat (Hgg.), Rationalitäten der Gewalt: Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Bielefeld, 2007, 197–213; ders., “Practices of Survival – Ways of Appropriating ‘The Rule’: Reconsidering Approaches to the History of the GDR”, in: M. Fulbrook (Hg.), Power and Society in the GDR, 1961–1979: The ‘Normalisation of Rule’?, New York, 2009, 181–193; ders., Sheila Fitzpatrick, “Energizing the Everyday: On the Breaking and Making of Social Bonds in Nazism and Stalinism”, in: M. Geyer; S. Fitzpatrick (Hgg.), Beyond Totalitarianism: Stalinism and Nazism Compared, Cambridge, 2009, 266–301. 3 Überblick: Hans Joas, Jörg Rüpke (Hgg.), Bericht zur Arbeit der Kolleg-Forschergruppe „Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive“ (2008– 2012), Erfurt: Max-Weber-Kolleg, 2013. Anmerkungen zu den Seiten 13–29: Jörg Rüpke, Religiöse Individualität 1 Für diesen Beitrag habe ich Argumente zusammengefasst, die ich vorgetragen habe in: Jörg Rüpke, „Religion und Individuum“, in: Michael Stausberg (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin 2012, 241–253 und „Religiöse Individualität in der Antike“, in: Bernd Janowski (Hg.), Der ganze Mensch: Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte, Berlin, 2012, 199–219. Die Arbeit entstand im Rahmen der Kollegforschergruppe „Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive“ am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt (DFG-FOR 1013). 2 Volkhard Krech, Wo bleibt die Religion? Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft, Bielefeld, 2011, 163. 3 Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M., 1991. 4 Michael Stausberg, „Renaissancen: Vermittlungsformen des Paganen“, in: Hans G. Kippenberg; Jörg Rüpke; Kocku v. Stuckrad (Hgg.), Europäische Religionsgeschichte: Ein mehrfacher Pluralismus, Göttingen, 2009, 695–722.
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Anmerkungen
5 Vgl. Hubert Seiwert, „Post-durkheimianische Religion? Überlegungen zum Kontrast moderner und vormoderner Religion im Anschluss an Charles Taylor“, in Thomas Hase u.a. (Hgg.), Mauss, Buddhismus, Devianz: Festschrift für Heinz Mürmel zum 65. Geburtstag, Marburg, 2009, 99–114, 106. 6 Louis Dumont, Essays on individualism: Modern ideology in anthropological perspective, Chicago, 1986, 26. 7 Martin Fuchs, Theorie und Verfremdung: Max Weber, Louis Dumont und die Analyse der indischen Gesellschaft, Europäische Hochschulschriften Reihe 20, Philosophie 241, Frankfurt a.M., 1988. 8 Melford E. Spiro, „Is the Western Conception of the Self „Peculiar“ within the Context of the World Cultures?“, in: Ethnos 21 (1993), 107–153. 9 Jörg Rüpke, Aberglauben oder Individualität? Religiöse Abweichung im römischen Reich, Tübingen, 2011. 10 Georg Simmel, „Individualismus“, in: Marsyas, 1917, 33–39. 11 David Brakke et al. (Hgg.), Religion and the self in antiquity, Bloomington, Ind., 2005. 12 Alexander Arweiler; Melanie Möller (Hgg.), Vom Selbst-Verständnis in Antike und Neuzeit: Notions of the Self in Antiquity and Beyond, Berlin, 2008. 13 Christopher Gill, The structured self in Hellenistic and Roman thought, Oxford, 2009. 14 Gyburg Radke-Uhlmann, „Aitiologien des Selbst: Moderne Konzepte und ihre Alternativen in antiken autobiographischen Texten“, in: Alexander Arweiler, Melanie Möller (Hgg.) (siehe Anm. 12), 107–129. 15 Richard Madsen, „The Archipelago of Faith: Religious Individualism and Faith Community in America Today“, in: American Journal of Sociology 114, 2009, 1263–1301, hier 1279–1282. 16 Aelius Aristides, Heilige Berichte 2,27 (Übers. hier und im folgenden Heinrich Otto Schröder, Heidelberg, 1986). 17 Zum Beispiel ebd., 4,43. 18 James B. Rives, Religion and Authority in Roman Carthage from Augustus to Constantine, Oxford, 1995, 186–193 mit Verweis auf Corpus Inscriptionum Latinarum 8,999; 24528 und 24518 sowie Inscriptiones Latinae Africae 354. 19 Allgemein: Peter Collins, „Accommodating the Individual and the Social, the Religious and the Secular: Modelling the Parameters of Discourse in ‚Religious‘ Contexts“, in Abby Day (Hg.), Religion and the individual: Belief, practice, identity, Aldershot, 2008, 143–167. 20 Grundlegend: Georg Petzl, Die Beichtinschriften Westkleinasiens, Epigraphica Anatolica 22, Bonn, 1994. 21 Ramsay MacMullen, „Christian Ancestor Worship in Rome“, in: JBL 129, 2010, 597–613, hier 597–8 nach der Schätzung Krautheimers. 22 Quellennachweise und historische Einordnung in Jörg Rüpke, „Radikale im öffentlichen Dienst: Status und Individualisierung unter römischen Priestern republikanischer Zeit“, in Pedro Barceló (Hg.), Religiöser Fundamen-
Anmerkungen
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talismus in der römischen Kaiserzeit, Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge 29, Stuttgart, 2010, 11–21. 23 Zum Beispiel Jörg Rüpke, Fasti sacerdotum: Die Mitglieder der Priesterschaften und das sakrale Funktionspersonal römischer, griechischer, orientalischer und jüdisch-christlicher Kulte in der Stadt Rom von 300 v. Chr. bis 499 n. Chr. Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge 12/1–3, Stuttgart, 2005, Nr. 471: P. Aelius Malcus Tector, CIL 6,2256 = ILS 2090; s.a. Nr. 361, 365, 464, 466 u.ö.; s.a. ders., „Organisationsmuster religiöser Spezialisten im kultischen Spektrum Roms“, in: Corinne Bonnet; Jörg Rüpke; Paolo Scarpi (Hgg.), Religions orientales – culti misterici: Neue Perspektiven – nouvelle perspectives – prospettive nuove, Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge 16 Stuttgart, 2006, 13–26. 24 Vgl. Helmut Schelsky, „Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?“, in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf, 1965, 250–275; s.a. John North, „The Development of Religious Pluralism“, in Judith Lieu; ders.; Tessa Rajak (Hgg.), The Jews Among Pagans and Christians: In the Roman Empire, London, 1994, 174–193. 25 Johannes Hahn, Der Philosoph und die Gesellschaft: Selbstverständnis, öffentliches Auftreten und populäre Erwartungen in der hohen Kaiserzeit, HABES 7, Stuttgart, 1989. 26 Henning Wrede, Consecratio in formam deorum: Vergöttlichte Privatpersonen in der römischen Kaiserzeit, Mainz, 1981. 27 Corpus inscriptionum latinarum 14,2793; dazu Jörg Rüpke, Von Jupiter und Christus: Religionsgeschichte in römischer Zeit, Darmstadt, 2011, 35–39. 28 Dazu Jörg Rüpke, „Representation or presence? Picturing the divine in ancient Rome“, in: Archiv für Religionsgeschichte 12 (2010), 183–196. 29 Christopher Gill, „Seneca and selfhood: Integration and disintegration“, in: Shadi Bartsch; David Wray (Hgg.), Seneca and the Self, Cambridge, 2009, 65–83, 77 f. 30 Jan Bremmer, The Early Greek Concept of the Soul, Princeton, 1983. 31 Frédérique Ildefonse, „Questions pour introduire à une histoire de l’intériorité“, in: Gwenaëlle Aubry (Hg.), Le moi et l’intériorité, Textes et traditions 17 Paris, 2008, 223–239, hier 233. 32 Jörg Rüpke, „Reichsreligion? Überlegungen zur Religionsgeschichte des antiken Mittelmeerraums in römischer Zeit“, in: Historische Zeitschrift 292, 2011, 297–322. 33 Vgl. Georg Simmel 1917 (siehe Anm. 10). 34 Michel de Certeau, Arts de faire. Paris: Gallimard, 2007; s. Marian Füssel, „Die Kunst der Schwachen: Zum Begriff der ‚Aneignung‘ in der Geschichtswissenschaft“, in: Sozial.Geschichte 21, 2006, 7–28.
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Anmerkungen
Anmerkungen zu den Seiten 31–49: Katharina Waldner, Jenseitsvorstellungen als individuelle Aneignung von Religion 1 Z.B. unter: pagewizz.com/samhain-daemonen-geister-kuerbisse-und-vandalen/ (Zugriff am 30.10.2011). 2 Nicholas Rogers, Halloween: From Pagan Ritual to Party Night, Oxford, 2002, 22. 3 Encyclopedia Britannica, „Halloween“; http://www.britannica.com/EBchecked/topic/252875/Halloween (Zugriff am 26.03.2013) 4 Alle Zitate aus: Der Katechismus der Katholischen Kirche – Kompendium, München, 2005. 5 Bernhard Lang, Himmel und Hölle: Jenseitsglaube von der Antike bis heute, München 2009, 83–121. 6 Bernhard Lang 2009 (siehe Anm. 5), 88–91. 7 Marcus, S. Kleiner, Im Bann von Endlichkeit und Einsamkeit? Der Tod in der Existenzphilosophie der Moderne, Essen, 2000, 25–27. 8 Bernhard Lang 2009 (siehe Anm. 5), 109–111. 9 Bernhard Lang 2009 (siehe Anm. 5), 114–115. 10 Brief an Jette, 25. März 1870, zitiert nach Bernhard Lang 2009 (siehe Anm. 5), 104. 11 Dorothee Sölle, Gegenwind, München 1999, zitiert nach Bernhard Lang 2009 (siehe Anm. 5), 106. 12 Zum Beispiel Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blickes. Ungekürzte Ausgabe. Aus dem Französischen von Walter Seitter, Frankfurt a.M., 1996, 185; vgl. dazu Marcus S. Kleiner 2000 (siehe Anm. 7), 35–47, der von einer „radikalen Individualisierung der Todeserfahrung in der Moderne“ spricht und Thomas H. Macho, Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt a.M., 1987, 80–132. 13 Thomas H. Macho; Kristin Marek (Hgg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes. München 2007, 14. Julia Schäfer, Tod und Trauerrituale in der modernen Gesellschaft. Perspektiven einer alternativen Trauer- und Bestattungskultur, Stuttgart, 2011. 14 Vgl. dazu z.B. die Beiträge in: Gregor Ahn; Nadja Miczec; Katja Rakow (Hgg.), Diesseits, jenseits und dazwischen? Die Transformation und Konstruktion von Sterben, Tod und Postmortalität, Bielefeld, 2011. 15 Vgl. dazu z.B. Siegrid Glockzin-Bever, „Bestattung in der heutigen Gesellschaft als christliches Ritual: eine evangelische Perspektive“, in: Christoph Elsas (Hg.), Sterben, Tod und Trauer in den Religionen und Kulturen der Welt, Hamburg, 32010, 313–328. 16 Thomas H. Macho; Kristiń Marek 2007 (siehe Anm. 13). Oft genannt wird beispielsweise der Film „Hereafter – das Leben danach“ von Clint Eastwood (2010). Vgl. auch den lesenswerten Essayband von Corina Caduff, Szenen des Todes, Basel, 2013.
Anmerkungen
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17 Vgl. dazu Thomas H. Macho 1987 (siehe Anm. 12), 26–33. 18 Monika Wohlrab-Sahr; Uta Karstein; Christine Schaumburg, „‚Ich würd mir das offenlassen‘: Agnostische Spiritualität als Annäherung an die ‚große Transzendenz‘ eines Lebens nach dem Tode“ in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 13, 2005, 153–173; Hubert Knoblauch, Berichte aus dem Jenseits: Mythos und Realität der Nachtod-Erfahrungen, Freiburg i.Br., 1999. 19 Vgl. dazu Gregor Ahn u.a., „Diesseits, Jenseits, und Dazwischen? Die Transformation und Konstruktion von Sterben, Tod und Postmortalität“, in: Gregor Ahn u.a. (Hgg.) 2011 (siehe Anm. 14) 11–41, bes. 26–28. 20 Zum Problem des Vergleichens siehe ebd., 16–21. 21 Monika Wohlrab-Sahr et al. 2005 (siehe Anm. 18). 22 Monika Wohlrab-Sahr et al. 2005 (siehe Anm. 18), 156 zitieren die ALBUSUmfrage von 2002. 23 Für einen Überblick über die griechischen Vorstellungen und Praktiken vgl. Rainer Wiegels, „Die Griechen und der Tod: Soziale und politische Aspekte“, in: Ochsmann, Randolph (Hg.), Lebens-Ende: Über Tod und Sterben in Kultur und Gesellschaft, Heidelberg, 1991, 1–35; Heide Froning, „Jenseitsvorstellungen, Tod und Trauer im antiken Griechenland“, in: Elsas 2010 (siehe Anm. 15) 203–220; Stefan R. Hauser; Wilhelm Kierdorf, „Burial“, in: Brill’s New Pauly, Hubert Cancik; Helmuth Schneider (Hgg.), Leiden, 2011, Brill Online. http://brillonline.nl/subscriber/entry?entry=bnp_e215970. 24 Hom. Od. 10, 516–537, Deutsch von Wolfgang Schadewaldt, Hamburg, 1958. 25 Hom. Od. 11, 204–206, Deutsch von Wolfgang Schadewaldt, Hamburg, 1958. 26 Hom. Od. 11, 216–222, Deutsch von Wolfgang Schadewaldt, Hamburg, 1958. 27 Für einen Überblick über Bestattungsbräuche und Jenseitsvorstellungen in antiken Religionen Stefan R. Hauser; Wilhelm Kierdorf, 2011 (siehe Anm. 23). 28 Diese Variante ist beim archaischen Schriftsteller Pherekydes (FGrH 3 F 119) überliefert. 29 Hom. Od. 11,601–608, Deutsch von Wolfgang Schadewaldt, Hamburg, 1958. 30 Jan Bremmer, The Early Greek Concept of the Soul, 4. Aufl. Princeton, 1993, 13–63. 31 Für einen Überblick über die Entwicklung siehe Peter Habermehl, „Jenseits, IV. Griechenland“, in: Ernst Dassmann (Hg.), Reallexikon für Antike und Christentum Bd. 17, Stuttgart, 1996, 258–289. 32 Siehe dazu die Einführung von Walter Burkert, Antike Mysterien: Form und Gehalt, München 1990. 33 Sarah Iles Johnston, Restless Dead: Encounters between the Living and the Dead in Ancient Greece, Berkeley, 1999; Fritz Graf; Sarah Iles Johnston, Ritual Texts for the Afterlife: Orpheus and the Bacchic Gold Tablets, London, 2007.
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Anmerkungen
34 Zu Aristophanes Darstellung der Mysterien in den „Fröschen“ siehe Radcliff G. Edmonds, Myths of the Underworld Journey. Plato, Aristophanes, and the ‘Orphic’ Gold Tablets, Cambridge, 2004. 35 Zur Organisation der Mysterien in Eleusis siehe Robert Parker, Polytheism and Society at Athens, Oxford, 2005, 326–368; allgemein Walter Burkert 1990 (siehe Anm. 32), 35–55. 36 Siehe dazu Fritz Graf; Sarah Iles Johnston 2007 (siehe Anm. 33), 137–164. 37 Zu Orpheus vgl. Fritz Graf; Sarah Iles Johnston 2007 (siehe Anm. 33), 165– 184. 38 Platon, resp. 364b–365a. 39 Die wichtigsten Beispiele (griechischer Text und englische Übersetzung) abgedruckt in Fritz Graf; Sarah Iles Johnston 2007 (siehe Anm. 33); eine vollständige Textausgabe bieten Alberto Bernabé; Ana Isabel Jiménez San Cristóbal, Instructions for the netherworld: the Orphic gold tablets, Leiden, 2008. 40 So z.B. in Text Nr. 5 (Fritz Graf; Sarah Iles Johnston 2007 [siehe Anm. 33], 12), einem ins 4. Jhd. v. Chr. datierten Beispiel aus einem Grab in Thurii. 41 Übersetzung nach Fritz Graf; Sarah Iles Johnston 2007 (siehe Anm. 33), Nr. 1 (S. 5). 42 Fritz Graf; Sarah Iles Johnston 2007 (siehe Anm. 33), 94–107. 43 Sarah Iles Johnston 1999 (siehe Anm. 33), 36–81. 44 Vgl. zu Pythagoras Christoph Riedweg, Pythagoras. Leben, Lehre, Nachwirkung; eine Einführung. 2. überarb. Auflage, München 2007. 45 Platon, Phaid., 114c, Übersetzung aus Theodor Ebert; Ernst Heitsch , „Platon, Phaidon: Übersetzung und Kommentar von Theodor Ebert“, in: Platon, Werke 1.4, Göttingen 2004. 46 Platon, Phaid., 115c–d, Übersetzung aus Theodor Ebert; Ernst Heitsch (siehe Anm. 44). 47 Vgl. für diese Perspektive: Fowler, Chris: The Archaeology of Personhood: An Anthropological Approach, London, 2004. 48 Zur politischen Dimension der Bestattungsrituale vgl. Rainer Wiegels 1999 (siehe Anm. 23). 49 Robert Parker 2005 (siehe Anm. 35), 364 f. 50 Vgl. dazu jetzt die bei Matylda Obryk, Unsterblichkeitsglaube in den griechischen Versinschriften, Berlin, 2012 zusammengestellten Inschriften. 51 Walter Burkert 1990 (siehe Anm. 32), 36. 52 Julia Schäfer 2011 (siehe Anm. 13), 141. 53 Julia Schäfer 2011 (siehe Anm. 13), 162–168. 54 Christoph Bochinger et al., Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion: Formen spiritueller Orientierung in der Gegenwartskultur, Stuttgart, 2009; Hubert Knoblauch 1999 (siehe Anm. 18); Monika Wohlrab-Sahr et al. 2005 (siehe Anm. 18). 55 Monika Wohlrab-Sahr et al. 2005 (siehe Anm. 18), 156.
Anmerkungen
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56 Monika Wohlrab-Sahr et al. 2005 (siehe Anm. 18), 153–156. 57 Hubert Knoblauch 1999 (siehe Anm. 18); Hubert Knoblauch, Populäre Religion: Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, New York, 2007, 255– 264; Christoph Bochinger et al. 2009 (siehe Anm. 53), 74–77. 58 Vgl. Helmut Zander, Geschichte der Seelenwanderung in Europa, Darmstadt, 1999. 59 Vgl. dazu Nadja Miczek, „Reinkarnation und Therapie. Zur diskursiven Aushandlung eines Postmortalitätsmodells in der gegenwärtigen religiösen und medialen Praxis“, in: Gregor Ahn et al. 2011 (siehe Anm. 14), 203–227. Anmerkungen zu den Seiten 51–61: René Roux, Individuelle Aneignung von Heiligen Schriften in der christlichen Antike: Einige Anmerkungen 1 2 Tim 3,16. 2 Gal 4,22–24, So die Einheitsübersetzung, Stuttgart, 1980. Gal 4,24: Bitte im Original lesen, die seit Luther traditionelle deutsche Übersetzung entkräftet den eigentlichen Sinn. 3 Joh 16,13. 4 Origenes, Homeliae in Canticum canticorum I,1 (F. J. Winter, Origenes und die Predigt der drei ersten Jahrhunderte. Ausgewählte Reden. Mit einer Einleitung in deutscher Übersetzung, Leipzig, 1893). 5 Augustinus, Confessiones VIII,12,28–30 (Augustinus, Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus Bekenntinsse. Aus dem Lateinischen übersetzt von Dr. Alfred Hofmann. (Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 18; Augustinus Band VII) München, 1914. Für die BKV im Internet bearbeitet von Horst Reichhardt und Eva-Marie Laumann). 6 Röm 13,13–14. 7 2 Petr 1,20. 8 Athanasius, Vita Antonii, 3 (Athanasius, Ausgewählte Schriften Band 2. Aus dem Griechischen übersetzt von Anton Stegmann und Hans Mertel. (Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 31) München, 1917. Für die BKV im Internetbearbeitet von Jürgen Voos). 9 Vita Antonii 2–3. 10 Empfohlene Lektüren zu patristischer Bibelauslegung : Manlio Simonetti, Biblical Interpretation in the Early Church : An Historical Introduction to Patristic Exegesis, Edinburgh, 2001 (z. Zt. bei weitem die beste Einführung); Charles Kannengiesser, Handbook of Patristic Exegesis, 2 Bände, Leiden, 2004. (ein Referenzwerk : Auflistung der patristischen Autoren und ihre Werke, Informationen zum Leben und Werk, Hinweise zu Sekunderliteratur); in deutscher Sprache immer lesenswert, wenn auch für die patristische Epoche teilweise überholt: Henning Grad Reventlow, Epochen der Bibelaus-
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Anmerkungen
legung. 1. Vom Alten Testament bis Origenes, München, 1990; 2. Von der Spät antike bis zum Ausgang des Mittelalters, München, 1994. Anmerkungen zu den Seiten 63–81: Vasilios N. Makrides, Orthodoxes Christentum und Individuum: Verhängnisvolle Affäre oder produktive Interaktion? 1 Vgl. Jörg Rüpke, „Religion und Individuum“, in: Michael Stausberg (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin, 2012, 241–253. Vgl. auch ders., „Wann begann die Europäische Religionsgeschichte? Der hellenistisch-römische Mittelmeerraum und die europäische Gegenwart“, in: Christoph Bultmann; Jörg Rüpke; Sabine Schmolinsky (Hgg.), Religionen in Nachbarschaft. Pluralismus als Markenzeichen der europäischen Religionsgeschichte, Münster 2012, 47–60. 2 Vasilios N. Makrides, „Gemeinschaftlichkeitsvorstellungen in Ost- und Südosteuropa und die Rolle der orthodox-christlichen Tradition“, in: Joachim von Puttkamer; Gabriella Schubert (Hgg.), Kulturelle Orientierungen und gesellschaftliche Ordnungsstrukturen in Südosteuropa, Berlin, 2010, 111–136. 3 Karl Kaser, Hirten, Kämpfer, Stammeshelden. Ursprünge und Gegenwart des balkanischen Patriarchats, Wien 1992. 4 Vgl. Matt. 5, 28. 5 Louis Dumont, „A Modified View of Our Origins: The Christian Beginnings of Modern Individualism“, in: Religion 12, 1982, 1–27; vgl. auch Andreas Buss, „The Evolution of Western Individualism“, in: Religion 30, 2000, 1–25. 6 Klaus Jacobi, „,Actus circa singularia sunt‘ – ,scientia non est de singularibus‘. Thomas von Aquins Konzeption einer praktischen Wissenschaft“, in: Matthias Lutz-Bachmann; Alexander Fidora (Hgg.), Handlung und Wissenschaft. Die Epistemologie der praktischen Wissenschaften im 13. und 14. Jahrhundert, Berlin, 2008, 75–87, hier 82–83. 7 Julia Kristeva, Crisis of the European Subject, New York, 2000, 138–149. 8 Andreas Buss, The Russian-Orthodox Tradition and Modernity, Leiden; Boston, 2003, 129–163; ders., „Sociology of the Eastern Orthodox Tradition“, in: Teme 34/1, 2010, 31–54. 9 Dazu Hans-Georg Beck, „Die Apologia pro vita sua des Demetrios Kydones“, in: Ostkirchliche Studien 1,1952, 208–225, 264–282. 10 Dorothea Wendebourg, Reformation und Orthodoxie. Der theologische Briefwechsel zwischen der Leitung der württembergischen Kirche und dem Ökumenischen Patriarchen Jeremias II. in den Jahren 1574–1581, Göttingen, 1986; Vasilios N. Makrides „Ohne Luther. Einige Überlegungen zum Fehlen eines Reformators im Orthodoxen Christentum“, in: Hans Medick; Peer Schmidt (Hgg.), Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung, Göttingen, 2004, 318–336.
Anmerkungen
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11 Ivan Kireevskij, „Über das Wesen der europäischen Kultur und ihr Verhältnis zur russischen (1852)“, in: Dmitrij Tschižewskij; Dieter Groh (Hgg.), Europa und Russland. Texte zum Problem des westeuropäischen und russischen Selbstverständnisses, Darmstadt, 1959, 248–298, hier 289–290. 12 Nicolai Staab, Rumänische Kultur, Orthodoxie und der Westen. Der Diskurs um die nationale Identität in Rumänien aus der Zwischenkriegszeit, Frankfurt a.M., 2011, 326–342 und passim; Klaus Buchenau, Kämpfende Kirchen. Jugoslawiens religiöse Hypothek, Frankfurt a.M., 2006, 28–41 und passim. 13 Basilio Petrà, „Personalist Thought in Greece in the Twentieth Century: A First Tentative Synthesis“ in: The Greek Orthodox Theological Review 50, 2005, 1–48; Ilias Papagiannopoulos, „Re-appraising the Subject and the Social in Western Philosophy and in Contemporary Orthodox Thought“ in: Studies in East European Thought 58, 2006, 299–330; Aristotle Papanikolaou, „Personhood and its Exponents in Twentieth-Century Orthodox Theology“, in: Mary B. Cunningham; Elizabeth Theokritoff (Hgg.), The Cambridge Companion to Orthodox Christian Theology, Cambridge, 2008, 232–245; s. auch John T. Chirban (Hg.), Personhood: Orthodox Christianity and the Connection Between Body, Mind, and Soul, Westport, CT; London, 1996. 14 Vasilios N. Makrides, „Religion, Kirche und Orthodoxie. Aspekte orthodox-christlicher Religionskritik“, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 15, 2007, 53–82. 15 Dazu Johannes Panagopoulos, „Ontologie oder Theologie der Person? Die Relevanz der patristischen Trinitätslehre für das Verständnis der menschlichen Person“, in: Kerygma und Dogma 39, 1993, 2–30; Lucian Turcescu, ‘Person’ versus ‘Individual’, and Other Modern Misreadings of Gregory of Nyssa“ in: Modern Theology 18, 2002, 527–539; Aristotle Papanikolaou, „Is John Zizioulas an Existentialist in Disguise? Response to Lucian Turcescu“, in: Modern Theology 20, 2004, 601–607. 16 So Michel Rene Barnes, Rezension des Buches von Lucian Turcescu, Gregory of Nyssa and the Concept of Divine Persons (Oxford 2005), in: Modern Theology 23, 2007, 638–642, hier 642. 17 Vasilios N. Makrides, „Die Menschenrechte aus orthodox-christlicher Sicht: Evaluierung, Positionen und Reaktionen“, in: Mariano Delgado; Volker Leppin; David Neuhold (Hgg.), Schwierige Toleranz. Der Umgang mit Andersdenkenden und Andersgläubigen in der Christentumsgeschichte, Fribourg; Stuttgart, 293–320. 18 Roumen Daskalov, „Ideas About, and Reactions to Modernization in the Balkans“, East European Quarterly 31 (1997) 141–180. 19 Emanuel Sarkisyanz, Russland und der Messianismus des Orients. Sendungsbewusstsein und politischer Chiliasmus des Ostens, Tübingen, 1955; Oleg Kharkhordin, The Individual and the Collective in Russia: A Study of Practices, Berkeley u.a., 1999. Zu den russischen Reaktionen auf Kollektivitätsmo-
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Anmerkungen
delle, s. Nikolaj Plotnikov, „Staat und Individuum. Antagonismen der russischen Ideengeschichte“, in: Osteuropa 59/4, 2009, 3–16. 20 Reiches Belegmaterial bei Vasilios N. Makrides, Hellenic Temples and Christian Churches: A Concise History of the Religious Cultures of Greece from Antiquity to the Present, New York; London, 2009; Chris Hann; Hermann Goltz (Hgg.), Eastern Christians in Anthropological Perspective, Berkeley u.a., 2010. 21 Stelios Ramfos, ‘Ἡ λογικὴ τῆς παράνοιας, Athen: Ekdoseis Harmos, 2011. Vgl. auch Michael Herzfeld, „The European Self: Rethinking an Attitude“, in: Anthony Pagden (Hg.), The Idea of Europe from Antiquity to the European Union, Cambridge, 2002, 139–170. 22 Vgl. Vasilios N. Makrides, „Orthodoxes Christentum und Moderne – Inkompatibilität oder langfristige Anpassung?“, in: Una Sancta 66, 2011, 15– 30. Anmerkungen zu den Seiten 83–95: Benedikt Kranemann, Liturgie und ihre individuelle Rezeption: Das Beispiel des Weihnachtsfestes 1 Vgl. Lawrence A. Hoffman, “How Ritual Means: Ritual Circumcision in Rabbinic Culture and Today”, in: Studia liturgica 23, 1993, 78–97; Stephan Winter, „Wir übergeben den Leib der Erde … Überlegungen zu mystagogischer Bestattungsliturgie“, in: Arbeitsstelle Gottesdienst 16, 2002, 12–25; Benedikt Kranemann, „Die Feier der christlichen Initiation“, in: Heil erfahren in den Sakramenten, Helmut Hoping [u.a.], Freiburg/Br. 2009 (Theologische Module 9), 52–103. 2 Vgl. zu diesem Fest aus der Fülle der Literatur: Hansjörg Auf der Maur, Feiern im Rhythmus der Zeit I. Herrenfeste in Woche und Jahr, Regensburg, 1983 (Gottesdienst der Kirche 5); Susan K. Roll, Toward the origins of Christmas, Kampen 1995 (Liturgia condenda 5); Hans Förster, Die Feier der Geburt Christi in der Alten Kirche. Beiträge zur Erforschung der Anfänge des Epiphanie- und Weihnachtsfestes, Tübingen 2000 (Studien und Texte zu Antike und Christentum 4); Karl-Heinrich Bieritz, Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart, München, 72005 (Beck’sche Reihe 447); Hans Förster, Die Anfänge von Weihnachten und Epiphanias. Eine Anfrage an die Entstehungshypothesen, Tübingen, 2007 (Studien und Texte zu Antike und Christentum 46). 3 Weihnachten als Brauchtumsfest, ein Aspekt, der hier sicherlich interessant wäre, muss leider ausgeklammert bleiben. Vgl. dazu u.a. Ingeborg WeberKellermann, Das Weihnachtsfest. Eine Kultur- und Sozialgeschichte der Weihnachtszeit, Luzern, 1978; Helga Maria Wolf, Das neue BrauchBuch. Alte und junge Rituale für Lebensfreude und Lebenshilfe. Anhang: Burgenland spezial, Wien 2000, 290–303; Weihnachtszeit. Feste zwischen Advent und Neujahr in
Anmerkungen
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Süddeutschland und Österreich 1840–1940, Sammlung Ursula Kloiber. Nina Gockerell (Hg.), München 2000. 4 Vgl. Benedikt Kranemann, „Zwischen theologischer Programmatik und pluraler Praxis: Christliche Feste in Deutschland“, in: Benedikt Kranemann; Thomas Sternberg (Hgg.), Christliches Fest und kulturelle Identität Europas, Münster, 2012, 115–131. 5 Daniel Miller, Weihnachten. Das globale Fest, Aus dem Englischen von Frank Jakubzik, Berlin, 2011, 57 f. 6 Vgl. Matthias Morgenroth, „Krippe statt Kreuz? Von der modernen Sehnsucht nach Weihnachten“, in: Heiliger Dienst 66, 2012, 13–19, hier 15. 7 Beide Theorien mit den entsprechenden Literaturnachweisen vgl. bei Hansjörg Auf der Maur 1983 (siehe Anm. 2), 166–168; Susan K. Roll 1995 (siehe Anm. 2); vgl. auch Paul F. Bradshaw; Maxwell E. Johnson, The origins of feasts, fasts, and seasons in early Christianity, Collegeville, Minn., 2011, 123–130 (“25 December: two competing theories”). 8 Martin Wallraff, „Die Entstehung des Weihnachtsfestes in der Spätantike. Unsere Sonne ist nicht eure Sonne“, in: Welt und Umwelt der Bibel 46, 2007, 10–16, hier 13. 9 Martin Wallraff, Christus verus sol. Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike, Münster 2001 ( Jahrbuch für Antike und Christentum. Ergänzungsband 32), 177. 10 Martin Wallraff 2007 (siehe Anm. 8), 15. Vgl. den griechischen Text in Patrologia Graeca 49, 351. 11 Vgl. die Aussagen über Papst Leo bei Dietmar W. Winkler, „Weihnachten in der Theologie der Kirchenväter“, in: Heiliger Dienst 66, 2012, 20–33, hier 29–31. 12 Sermo 22,6; Übersetzung aus: BKV 54,1 / Steeger, 85. 13 Martin Wallraff 2001 (siehe Anm. 9), 189, warnt vor einer Überbewertung dieser Quelle, denn die Predigt bleibe „aufs Ganze gesehen singulär.“ 14 Sermo 27,4; Übersetzung aus: BKV 54,1 / Steeger, 119f. 15 Vgl. Stephan Wahle, „Lebe nicht unter deiner Würde! Weihnachten – ein Fest der Erlösung“, in: Heiliger Dienst 66, 2012, 51–71, hier 52 und 63. 16 Vgl. dazu Martin Klöckener, „Zeitgemäßes Beten. Meßorationen als Zeugnisse einer sich wandelnden Kultur und Spiritualität“, in: Bewahren und Erneuern. Studien zur Meßliturgie. Festschrift für Hans Bernhard Meyer SJ zum 70. Geburtstag, Reinhard Meßner [u.a.] (Hgg.), Innsbruck, 1995 (Innsbrucker theologische Studien 42), 114–142. 17 Vgl. Josef Andreas Jungmann, Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, Wien, 1962, 462–499. 18 Missale Romanum. Editio princeps (1570). Edizione anastatica, Introduzione e Appendice a cura di Manlio Sodi – Achille Maria Triacca, Città del Vaticano 1998 (Monumenta liturgica Concilii Tridentini 2), 77.
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Anmerkungen
19 Das vollständige Römische Meßbuch lateinisch und deutsch mit allgemeinen und besonderen Einführungen im Anschluß an das Meßbuch von Anselm Schott O.S.B. herausgegeben von den Benediktinern der Erzabtei Beuron Freiburg/Br., 1958, 40. Im Messbuch, das heute in der katholischen Kirche verwendet wird, ist diese Oration so übersetzt: „Herr, unser Gott, in dieser hochheiligen Nacht ist uns das wahre Licht aufgestrahlt. Laß uns dieses Geheimnis im Glauben erfassen und bewahren, bis wir im Himmel den unverhüllten Glanz deiner Herrlichkeit schauen. Darum bitten wir durch Jesus Christus.“ (Meßbuch für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes. Authentische Ausgabe für den liturgischen Gebrauch. Kleinausgabe. Das Meßbuch deutsch für alle Tage des Jahres, 2. Aufl. Einsiedeln,1988 [Die Feier der heiligen Messe], 40). 20 Missale Romanum 1998 (siehe Anm. 18), 78. 21 Schott 1958 (siehe Anm. 19), 43 f. Im heutigen katholischen Messbuch lautet das Gebet: „Allmächtiger Gott, dein ewiges Wort ist Fleisch geworden, um uns mit dem Glanz deines Lichtes zu erfüllen. Gib, daß in unseren Werken widerstrahlt, was durch den Glauben in unserem Herzen leuchtet. Darum bitten wir durch ihn, Jesus Christus.“ (Meßbuch [siehe Anm. 19] 41). 22 Hansjörg Auf der Maur 1983 (siehe Anm. 2), 169. 23 Vgl. Dietmar W. Winkler 2011 (siehe Anm. 11) 26–28. Der Text des Hymnus im Folgenden nach Alexander Zerfass, Mysterium mirabile. Poesie, Theologie und Liturgie in den Hymnen des Ambrosius von Mailand zu den Christusfesten des Kirchenjahres, Tübingen 2008 (Pietas liturgica. Studia 19), 68f. 24 So übersetzt Alexander Zerfaß 2008 (siehe Anm. 23), 71. 25 Vgl. Alexander Zerfaß 2008 (siehe Anm. 23), 126. 26 Alexander Zerfaß 2008 (siehe Anm. 23), 130. 27 Vgl. Andreas Heinz, „Weihnachtsfrömmigkeit in der römischen Liturgie und im deutschen Kirchenlied“, in: Liturgisches Jahrbuch 30, 1980, 215–229. 28 Nach Dietz-Rüdiger Moser, Bräuche und Feste im christlichen Jahreslauf. Brauchformen der Gegenwart in kulturgeschichtlichen Zusammenhängen. Graz, 1993, 95. 29 Hermann Kurzke, „Stille Nacht“, in: Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, Hansjakob Becker [u.a.] (Hgg.), München, 2003, 408–416, hier 416. 30 Der Text des Liedes bei Hermann Kurzke 2003 (siehe Anm. 29), 409. 31 Hermann Kurzke 2003 (siehe Anm. 29), 414. 32 Vgl. Christa Reich, „Ich steh an deiner Krippen hier“, in: Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, Hansjakob Becker [u.a.] (Hgg.), München, 2003, 249–261, hier 249–251. 33 Vgl. zum Brauchtum die Übersicht bei Hansjörg Auf der Maur, 1983 (siehe Anm. 2), 173f. 34 Christa Reich 2003 (siehe Anm. 32), 253. 35 Vgl. Christa Reich 2003 (siehe Anm. 32), 254.
Anmerkungen
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36 Christa Reich 2003 (siehe Anm. 32), 260. 37 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Christians Gremmels; Eberhard Bethge; Renate Bethge (Hgg.), Gütersloh, 1998 (Dietrich Bonhoeffer Werke 8), 246. 38 Zum Zusammenhang von Liturgie und Theater vgl. Ursula Roth, Die Theatralität des Gottesdienstes, Gütersloh, 2006 (Praktische Theologie und Kultur 18); Irene Mildenberger [u.a.]. (Hgg.), Gottesdienst und Dramaturgie. Liturgiewissenschaft und Theaterwissenschaft im Gespräch, Leipzig, 2010 (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 23). 39 Vgl. Benedikt Kranemann 2012 (siehe Anm. 4), 126 f. 40 Vgl. Martina Eberspächer, „Wie Weihnachten deutsch wurde. Die Erfolgsgeschichte der modernen Weihnacht“, in: Weihnukka. Geschichten von Weihnachten und Chanukka [Ausstellung Weihnukka, Geschichten von Weihnachten und Chanukka. Eine Ausstellung des Jüdischen Museums Berlin, 28. Oktober 2005 – 29. Januar 2006]. Cilly Kugelmann; Thorsten Beck (Hgg.), Berlin, 2006, 33–43. Anmerkungen zu den Seiten 97–108: Sabine Schmolinsky, Judas und Hermann: Konversionen vom Judentum zum Christentum im Mittelalter 1 Kritische Edition: „Hermannus quondam Judaeus, Opusculum de conversione sua“, in: Gerlinde Niemeyer (Hg.), Monumenta Germaniae Historica. Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 4, Weimar, 1963, 69–127. Deutsche Übersetzung: Jean-Claude Schmitt, Die Bekehrung Hermanns des Juden. Autobiographie, Geschichte und Fiktion. Aus dem Französischen übersetzt von Ursula Blank-Sangmeister, Stuttgart, 2006, 286–330 [auf Grundlage der lateinischen Ausgabe völlig überarbeitete Übersetzung auf Basis der französischen Übersetzung; vgl. ebd., 282]. Zum Inhalt des Werks vgl. Schmitt, ebd., 13–21 (hier in Details anders gelesen, analog zu:) Fidel Rädle, „Wie ein Kölner Jude im 12. Jahrhundert zum Christen wurde. Hermannus quondam Iudaeus De conversione sua“, in: Niewöhner, Friedrich; Rädle, Fidel (Hgg.), Konversionen im Mittelalter und in der Frühneuzeit (Hildesheimer Forschungen, Bd. 1), Hildesheim, 1999, 9–24, hier 11–23. 2 Zu den Problemen der Datierung des Werks vgl. Niemeyer 1963 (siehe Anm. 1), 32–49. 3 Diese Frauen müssen nicht notwendig mit den als religiosi bezeichneten identisch sein. 4 Die innere Chronologie des Texts wird hier vielleicht etwas brüchig, denn Ekbert kann erst nach dem Tod seines Vorgängers Dietrich am 28. Februar 1127 zum Bischof von Münster gewählt worden sein; Gottfried von Cappenberg hingegen ist am 13. Januar 1127 gestorben, und Hermanns Bericht
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führt ihn, soweit erkennbar, als noch lebend. Vgl. Niemeyer 1963 (siehe Anm. 1), 36, [Text] 89, Anm. 2. Zu Gottfried von Cappenberg und den Viten über ihn unter dem Aspekt des Adelskonversen vgl. Regine Birkmeyer, Ehetrennung und monastische Konversion im Hochmittelalter, Berlin, 1998, 128–131, 201–203, passim; zu Problemen seiner Ehefrau Jutta von Arnsberg ebd., 178–184. Sein in diesem Zusammenhang angeführtes Vorhaben, zum Studium nach Frankreich zu gehen, sollte nicht überbewertet werden, da er es als einen Plan bezeichnet, die Hochzeit aufzuschieben, bis ihm Gott ein sicheres Zeichen gegeben habe, was er für das Heil seiner Seele tun solle. Die Forschungsdiskussion um (potenzielle) historische Unstimmigkeiten im Bericht erwähnter Aufenthalte und Zusammentreffen ist hier nicht nachzuzeichnen, da zunächst nur auf Textebene zu argumentieren ist. Erwähnt sei, dass ein Darlehen ohne Pfand wenig plausibel ist und Hermanns Verweis auf die fides des Bischofs Ekbert als wertvolles Unterpfand (Kap. 2) wohl eher mit seiner Disponiertheit zur Konversion zu verbinden ist; vgl. Schmitt 2006 (siehe Anm. 1), 163. Die Frage historischer Datierungen ließ und lässt sich mit Hilfe Niemeyers akribischer Forschungen bearbeiten; vgl. Niemeyer 1963 (siehe Anm. 1), 2–49. Die Frage nach der Historizität des Autors wird gegenwärtig als eine Debatte um Fiktionalität geführt: Stammt der Text von einem jüdischen Konvertiten oder aus christlicher Fabrikation? Vgl. Schmitt 2006 (siehe Anm.1), 35–47, 221. Jüngst hat Peter Hilsch die Authentizität des Berichts gegen Schmitt verteidigt: „Die Bekehrungsschrift des Hermannus quondam Iudaeus und die Frage ihrer Authentizität“, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 66 (2010), 69–91. In der Mediävistik ist gegenwärtig vor allem die Selbstzeugnisforschung mit Fragen des Sprechens über die eigene Person befasst. Zur Breite und Vielfältigkeit einschlägiger mittelalterlicher Quellenfelder in systematischer und exemplarischer Perspektive vgl. Sabine Schmolinsky, Sich schreiben in der Welt des Mittelalters. Begriffe und Konturen einer mediävistischen Selbstzeugnisforschung (Selbstzeugnisse des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit, Bd. 4), Bochum, 2012. Zur Begrifflichkeit vgl. Gabriele Jancke; Claudia Ulbrich, „Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung“, in: Jancke, Gabriele; Ulbrich, Claudia (Hgg.), Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung (Querelles Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung 2005, Bd. 10.), Göttingen, 2005, 7–27. Vgl. Gesine Carl, Zwischen zwei Welten? Übertritte von Juden zum Christentum im Spiegel von Konversionserzählungen des 17. und 18. Jahrhunderts (TROLL, Bd. 10), Hannover, 2007, 16, 185–201, 487–505; Carl bildet hier terminologisch adäquat den Begriff des conversurus im Unterschied zum conversus (ebd., 186 mit Anm. 356). Ihr Begriff der „Konversionserzählung“
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lässt sich auf Hermanns Werk anwenden: „[...] autobiographische[r] und/ oder biographische[r] Text, dessen Hauptthema der Übertritt eines oder mehrerer Menschen zu einer anderen Religionsgemeinschaft ist, d.h. die Protagonistinnen und Protagonisten dieser Quellen sind nicht immer auch ihre (alleinigen) Autorinnen und Autoren“ (ebd., 12). Berichte über Konvertiten vom Judentum zum Christentum, die bis zum Priesteramt gelangten, sind in der Forschung bisher nicht namhaft gemacht worden. Für den Konvertiten Petrus Alfonsi († nach 1130), den berühmten Verfasser des seit seiner Entstehung um 1110 sehr einflussreichen und weit verbreiteten „Dialogus“ zwischen „Petrus“ und „Moyses“, lässt sich mangels Quellen (auch) in dieser Hinsicht keine Aussage treffen; zum Überblick vgl. J[ürgen] Stohlmann, P[etrus] Alfonsi, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, München, 1993, 1960–1961. Dass Konvertitinnen und Konvertiten in ein Kloster eintraten, ist bezeugt; vgl. Anselm Haverkamp, „Baptised Jews in German Lands during the Twelfth Century“, in: Signer, Michael A.; Van Engen, John (Hgg.), Jews and Christians in Twelfth-Century Europe (Notre Dame Conferences in Medieval Studies, Number X), Notre Dame, Indiana, 2001, 255–310, hier 273; passim aus diesem Aufsatz schöpfend Schmitt 2006 (siehe Anm. 1), 212–216, 219–221. Vgl. Schmitt 2006 (siehe Anm. 1), 77–92. Das opusculum ist in zwei mittelalterlichen Handschriften überliefert, deren eine auf das Ende des 12. Jahrhunderts, die andere in die ersten Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts datiert wird; vgl. Niemeyer 1963 (siehe Anm. 1), 49– 52. Beide enthalten das Incipit; vgl. Niemeyer 1963 (siehe Anm. 1), 70. Vgl. Schmitt 2006 (siehe Anm. 1), 268–271, mit Hinweisen zur Diskussion um das Zeichen der Beschneidung. Schmitt verbindet das Phänomen der Änderung von Substanz bei Fortdauer des Akzidens mit den theologischen Auseinandersetzungen über die Eucharistie seit dem 10. Jahrhundert (ebd., 271, 279). Sein Schlusssatz: „Die Bekehrung verwandelt den Menschen, aber sie hebt seine Identität nicht auf “ (ebd., 279) korrespondiert mit der – wiewohl anders fundierten – Ansicht von Steven F. Kruger, The Spectral Jew. Conversion and Embodiment in Medieval Europe (Medieval Cultures, Bd. 40), Minneapolis 2006, 18–19, der den einleitenden Traum und dessen zweite Deutung (Kap. 1 und 21) sowie Hermanns Angaben über seine Herkunft am Anfang von Kap. 1 als Zeichen dafür interpretiert, in welchen Weisen Hermanns neue christliche weiterhin von seiner ursprünglichen jüdischen Identität abhängt; zu „quondam“ vgl. ebd., 106. Vgl. Schmitt 2006 (siehe Anm. 1), 236–239, 277. Hilsch 2010 (siehe Anm. 6), 87, schlägt den Kölner Erzbischof Hermann III. (1089–1099), der 1096 die Kölner Juden vor den mordenden Kreuzfahrern zu schützen versucht hatte (ebd., 84), oder auch einen für Hermann indirekt bedeutsamen Kölner Patrizier Hermann als Vorbild für die Namenswahl vor, zumal die Taufe in Köln stattfand (Kap. 19; vgl. ebd., 79).
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14 Lateinische Edition: Philipp Jaffé (Hg.), „Vita Godefridi comitis Cappenbergensis“, in: Monumenta Germaniae Historica Scriptorum Tomus XII., Hannover 1856, 513–530, hier 518. Ins Deutsche übersetzter Auszug in: Schmitt 2006 (siehe Anm. 1), 283–285, hier 285. 15 Vgl. Schmitt 2006 (siehe Anm. 1), 163–177. An dem angeblichen Gespräch mit dem Benediktinerabt Rupert von Deutz fällt auf, dass Hermann es mit einem Gegner der Prämonstratenser geführt haben will. Schmitt zeigt, dass diesem in der Erzählung von der Bekehrung Hermanns nur eine sekundäre Rolle beigelegt wurde; vgl. ebd., 200–205, 277. 16 Dies hält Schmitt für besonders plausibel; s. Schmitt 2006 (siehe Anm. 1), 71, 97–98. Zeitgleich halten jedoch etwa Steven F. Kruger und andere an einem personalen Hermann als autobiographisch schreibendem Autor fest. Zu Problemen der Verzerrung von erinnerten Inhalten beim Übergang von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit s. Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München, 2004. 17 Vgl. Birkmeyer 1998 (siehe Anm. 4). 18 Niemeyer 1963 (siehe Anm. 1), 10 mit Anm. 4. 19 Vgl. Schmitt 2006 (siehe Anm. 1), 27–30, 45, 266–267. 20 Kruger 2006 (siehe Anm. 12). Anmerkungen zu den Seiten 109–124: Francisca Loetz, Was man mit Gott anstellen kann: Blasphemie in der frühneuzeitlichen Schweiz 1 Die Übersetzung folgt dem Vortrag, der auf der Konferenz Frühe Neuzeit Interdisziplinär 1999 in Pittsburg, Pennsylvania gehalten und publiziert wurde unter: Francisca Loetz, „How to Do Things with God: Blasphemy in Early Modern Switzerland“, in: Mary Lindemann (Hg.), Ways of Knowing. Ten Interdisciplinary Essays, Boston; Leiden, 2004), 137–151. 2 Zu den vielseitigen Vorurteilen zwischen Deutschen und Schweizern s.: Claudius Sieber-Lehmann; Thomas Wilhelmi (Hgg.), In Helvetios – Wider die Kuhschweizer: Fremd- und Feindbilder von den Schweizern in antieidgenössischen Texten aus der Zeit von 1386 bis 1532, Bern; Stuttgart; Wien, 1998. 3 Staatsarchiv des Kantons Zürich A. 27.96, Aussage Zyder, 6. Januar 1659. Alle historischen Belege stammen aus dem Staatsarchiv Zürich und werden unter ihrer Signatur zitiert. 4 Ex. 20,7. 5 Alle Feinheiten der Diskussion findet man in: Gerd Schwerhoff, „Blasphemie vor den Schranken städtischer Justiz: Basel, Köln, Nürnberg im Vergleich (14.–17. Jahrhundert)“, in: Ius Commune 25, 1998, 39–120. 6 Austin bringt seine Theorie in seinem Buchtitel auf den Punkt: John Austin, How to Do Things With Words, Oxford, 1962.
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7 Für eine Übersicht über den möglichen Beitrag einer linguistischen Pragmatik zum Verständnis historischer Quellen siehe: Francisca Loetz, „Sprache in der Geschichte: Linguistic Turn vs. Pragmatische Wende“, in: Rechtsgeschichte 2, 2003, 87–103. 8 Die detaillierte Diskussion der internationalen Forschung und das Züricher Material ist versammelt in: Francisca Loetz, Mit Gott handeln: Von den Zürcher Gotteslästerern der Frühen Neuzeit zu einer Kulturgeschichte des Religiösen, Göttingen, 2002. 9 Die Zahl der Publikationen zur blasphemischen Rede ist sehr bescheiden und das Quellenmaterial, das sie abdecken, recht heterogen. Vgl. Alain Cabantous, Histoire du blasphème en Occident XVIe–XIXe siècle, Paris, 1998; Olivier Christin, „Matériaux pour servir à l’histoire du blasphème (deuxième partie)“, in: Bulletin d’information de la mission historique française en Allemagne 32, 1996, 67–85; Gerd Schwerhoff, Gott und die Welt herausfordern: Theologische Konstruktion, rechtliche Bekämpfung und soziale Praxis der Blasphemie vom 13. bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts, Habilitationsschrift Bielefeld: 1996; Olivier Christin, „Sur la condamnation du blasphème (XVIe–XVIIIe siècles)“, in: Revue d’histoire de l’Eglise de France 80, 1994, 43–64; Olivier Christin, „Matériaux pour servir à l’histoire du blasphème (première partie)“, in: Bulletin d’information de la mission historique française en Allemagne 28, 1992, 56–67; Carla Casagrande; Silvana Vecchio, Les péchés de la langue, Paris: Cerf, 1991; Peter Burke, „Beleidigung und Gotteslästerung im frühneuzeitlichen Italien“, in: ders. (Hg.), Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock. Eine historische Anthropologie, Berlin, 1986, 96–110, 205–206; Ashley Montagu, The Anatomy of Swearing, New York, 1967. 10 Die Verhörprotokolle (Kundschaften und Nachgänge) umfassen schätzungsweise um die 70000 Seiten. Sie werden durch einige hundert Bände verschiedener mit den Angeklagten in Verbindung stehender Materialien ergänzt. Fast sämtliche Quellen decken die Zeit von 1500 bis 1800 ab. Aus diesem Material habe ich ungefähr 900 Fälle der Blasphemie extrahiert. 11 Zürich war einer der 13 Orte der Schweiz. Das Oberhaupt der kommunalen Verwaltung war der Rat von Zürich, der auch die Landschaft regierte. Das Einzugsgebiet des frühneuzeitlichen Zürichs ist in etwa das des heutigen Kantons. Die Zwinglianische Reformation wurde offiziell 1523/25 eingeführt. In einigen wenigen Gebieten der Schweiz galt nicht die strikte Bikonfessionalität, sondern existierten die alte und neue Konfession auf der Basis verschiedener Landfrieden nebeneinander. Vgl. T. Weibel, Stadtstaat, 27–40, 46–48, 63; Hans Berner; Ulrich Gäbler; Hans Rudolf Guggisberg, „Schweiz“ in Anton Schindling; Walter Ziegler (Hgg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 5, Münster, 1993, 279–323, hier: 279, 300; Rudolf Braun, Das ausgehende Ancien Regime in der Schweiz: Aufriß einer Sozial-
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Anmerkungen
und Wirtschaftsgeschichte, Göttingen und Zürich, 1984, 15–20, 212–213, 239–241, 248–251; Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 1, Zürich, 1980, 495–526; Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 2, Zürich, 1980, 675–676. 12 Das ist die Sichtweise von: Geoffrey Hughes, „Schismatic Vituperation: The Reformation“, in: ders (Hg.), Swearing: A Social History of Foul Language, Oaths and Profanity in English, Oxford; Cambridge/Mass., 1993, 91–100; Montagu, 1967 (siehe Anm. 9). 13 Peter Burke hat in einem Aufsatz die Aufmerksamkeit der Historiker auf den ritualisierten Gebrauch von Blasphemie gelenkt, ohne aber seine eigenen Überlegungen zu vertiefen. Soweit ich den Stand der Forschung überblicke, hat Gerd Schwerhoff die detaillierteste Arbeit zur Alltagssprache, wie sie durch Gerichte aufgenommen wurde, vorgelegt: Vgl. Gerd Schwerhoff, „Starke Worte: Blasphemie als theatralische Inszenierung von Männlichkeit an der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit“ in: Martin Dinges (Hg.), Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen, 1998, 237–263; Burke, 1986 (siehe Anm. 9). 14 StZH, A.27.10, Aussage Thoman Wetzel, ca. 1545. 15 Aus der Menge an Publikationen zum Ehrkonzept in der Frühneuzeit vgl. auswahlsweise Ralf-Peter Fuchs, Um die Ehre: Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht (1525–1805), Paderborn, 1999; Klaus Schreiner; Gerd Schwerhoff (Hgg.), Verletzte Ehre: Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Köln; Weimar; Wien, 1995; Laura Gowing, „Gender and the Language of Insult in Early Modern London“, in: History Workshop 35, 1993, 1–21; Martin Dinges, „Ehrenhändel als ‚Kommunikative Gattungen‘: Kultureller Wandel und Volkskulturbegriff “, in: Archiv für Kulturgeschichte 75, 1992, 359–393; Herman Roodenburg, „De notaris en de erehandel: Beledigingen voor het Amterdamse notariaat, 1700–1710“, in: Volkskundig Bulletin 18, 1992, 367–388; Lucien Faggion, „Points d’honneur, poings d’honneur: Violence quotidienne à Genève au XVIIe siècle“, in: Revue du Vieux Genève 12, 1989, 15–25; David Garrioch, „Verbal Insults in Eigteenth Century Paris“, in: Peter Burke; Roy Porter, Social History of Language, Cambridge, 1987, 104–119. 16 Diese Redewendung beinhaltete den Vorwurf, jemand habe versucht mit einer Kuh zu verkehren oder habe es tatsächlich getan, womit er sich des Vergehens der Bestialität schuldig gemacht habe. Der Vorwurf der Bestialität war ein gängiges Motiv in anti-schweizerischen Flugschriften. Vgl. Claudius Sieber-Lehmann; Thomas Wilhelmi (Hgg.), 1998 (siehe Anm. 2). 17 Eine andere Lesart wäre „da fluche [d]er Sprüngli [den Breitinger]“. Diese Version ist jedenfalls aus linguistischen Gründen sehr unwahrscheinlich, obwohl sie den Regeln der Herausforderung und ehrenvollen Erwiderung folgt: Die Gerichtsaufzeichnungen waren bei der Untersuchung der Parteien sehr sorg-
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fältig. Falls man Sprüngli als Gotteslästerer betrachtet, würde man annehmen, die Unterlagen des Gerichts wären sorglos geschrieben, was dem Charakter der Quellen widerspricht. Man könnte auch annehmen, dass dem Protokollanten ein Missgeschick unterlief, er es bemerkte und einige Worte aus den Akten herausstrich. Das Original jedoch weist keinerlei Spuren solcher Korrektur auf. 18 In Europa wurden Frauen verhältnismäßig selten der Blasphemie beschuldigt. Auch in Zürich tauchen sie in dem Material der weltlichen Gerichte kaum auf. Es sind mehrheitlich die geistlichen Gerichte (Stillstand oder Reformationskammer), von denen die Frauen registriert werden. Soweit man aus den jeweiligen standardisierten und unspezifischen Einträgen der überlieferten Akten urteilen kann, scheint es, dass ihre Fälle als recht gewöhnlich eingeschätzt wurden. Dieser Eindruck würde Heinrich Richard Schmidts Ergebnisse bestätigen, der zwei Dörfer im Kanton Bern analysiert hat. Vgl. Heinrich Richard Schmidt, Dorf und Religion: Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit, Stuttgart; Jena; New York, 1995; für einen Überblick siehe: Heinrich Richard Schmidt, „Moral Courts in Rural Bern during the Early Modern Period“, in: Karin Maag (Hg.), The Reformation in Eastern and Central Europe, Aldershot, 1997, 155–181. 19 Vgl. Loetz, 2002 (siehe Anm. 8), 358–366; Gerd Schwerhoff, „Blasphemare, dehosnestare et maledicere: Über die Verletzung der göttlichen Ehre im Spätmittelater“, in: Klaus Schreiner; Gerd Schwerhoff (Hgg.), Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln; Weimar; Wien, 1995, 252–278, hier: 258–261; Gerd Schwerhoff, „Der blasphemische Spieler: Zur Deutung eines Verhaltenstypus im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit“, in: Ludica 1, 1995, 79–95. 20 A. 27.10, Aussage Vogt Winkelmann, nicht datiert. 21 E. II. 97, p. 1134, Eintrag vom 25. April 1650. 22 A. 27.43, Aussage Georg von Birch, 25. September 1592. 23 A.27.77, Aussage Heinrich Holzhab, 1568. 24 A. 27.6, Aussage Marx Metzler, 153X. 25 Diese Fälle können aus Platzgründen nicht dargelegt werden. Weiterführend vgl. Loetz, 2002, 272–301. 26 B VI.258, fol. 197, Urteil Heinig Oswald, 6. April 1559. 27 A. 27.145, Aussage Jacob Kuentz, 28. Mai 1737. 28 A.27.114, Aussage Felix Staub und Martin Schäppi, 12. September 1687. 29 Cf. E. II.97, fol. 1247–1269, Synodalgutachten 1659. 30 E. II. 97, fol. 1255, 1260, Synodalgutachten 1659. 31 Vgl. Lucien Febvre, Le problème de l’incroyance au 16e siècle, Paris, 1942. Seit Febvre hat die einschlägige Debatte oft übersehen, dass Unglaube und Atheismus zwei verschiedene Formen sind, Gott in Frage zu stellen. Zu diesem Problem vgl. Schwerhoff, 1996 (siehe Anm. 9). 363. 32 Vgl. z.B. Michiel R. Wielema, „Ongeloof en atheïsme in vroegmodern Europa“, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 114, 2001, 332–353; Georges Minois,
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Anmerkungen
Histoire de l’athéisme: Paris, 1998; Alan Charles Kors, Atheism in France 1650–1729: The Orthodox Sources of Disbelief, Princeton, NJ, 1990. A.27.101, Aussage Häfeli, 11. September 1667. A.27.101, Aussage Hans Vogel, 11. September 1667. B. II., fol. 93–94, Aussage Kramer, 31. Oktober 1667. A.27.11, Vogtbericht Heinrich Benninger, 27. Februar 1681. In Zürich scheint der Begriff Epikuräer eine besonders abscheuliche Person bezeichnet zu haben, während er in anderen Ländern Europas mehr oder weniger für „Atheist“ stand. Vgl. Loetz, 2002 (siehe Anm. 8), 468–470; Cabantous, 1998, 94–96, 187–190. A. 27.32, Aussage Johann Heinrich Keller, 3. März 1718. Für eine ausführliche Diskussion der wenigen Fälle, bei denen die Gerichtsakten Details enthüllen siehe: Schwerhoff, 1996 (siehe Anm. 9), 359–376. B VI.251, fol. 79r., Todesstrafe 1529. B.VI.266a, fol. 154, Zusammenfassung der Kundschaften, 14. November 1616.
Anmerkungen zu den Seiten 125–139: Sabine Gruber, Religiöse Prätexte bei Clemens Brentano 1 Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3,2, Gedichte 1818/1819, Text, Lesarten und Erläuterungen, Michael Grus; Kristina Hasenpflug; Hartwig Schultz (Hgg.); Stuttgart, 2002, 71f. 2 Zur Entstehung des Textes vgl. ebd., 200–216. 3 Verena Jent; Emilie Linder, 1797–1867. Studien zur Biographie der Basler Kunstsammlerin und Freundin Clemens Brentanos, Berlin, 1970, 79. 4 1797–1867; vgl. Art. „Linder, Emilie“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 18, Berlin, 1883, 697. 5 Zum Umgang Brentanos mit Prätexten vgl. die ausführliche Darstellung in: Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 5,1, Gedichtbearbeitungen I, Text, Lesarten und Erläuterungen, unter Mitarbeit v. Silke Weber hg. v. Sabine Gruber, Stuttgart ,2011, 217–245. 6 1774–1824; vgl. Art. „Emmerick (Emmerich), Anna Katharina“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 4, Berlin, 1959, 483 f. 7 Vgl. Bernhard Gajek (Hg.), Clemens und Christian Brentanos Bibliotheken. Die Versteigerungskataloge von 1819 und 1853 mit einem unveröffentlichten Brief Clemens Brentanos, Heidelberg, 1974. 8 Zur Entstehung der „Romanzen vom Rosenkranz“ vgl.: Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 11,1, Romanzen vom Rosenkranz. Frühe Fassungen, Entstehung und Überlieferung, Dietmar Pravida (Hg.), Stuttgart, 2006, 11–37. 9 Eine Übersicht zu den disparaten Quellen des Werkes findet sich in: Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 11,2, Romanzen vom
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Rosenkranz. Erläuterungen, Dietmar Pravida (Hg.), Stuttgart, 2008, 72– 165. 10 Zum „Ave maris stella“ vgl. Sabine Claudia Gruber, Clemens Brentano und das geistliche Lied, Tübingen/Basel, 2002 [= Mainzer Hymnologische Studien 4], 99 f. 11 Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 10, Romanzen vom Rosenkranz. Text und Lesarten, unter Mitwirkung v. Michael Grus und Hartwig Schultz hg. v. Clemens Rauschenberg, Stuttgart, 1994, 260–262. 12 Clemens Brentano, Werke, Bd. 1. Gedichte. Romanzen vom Rosenkranz, Wolfgang Frühwald (Hg.), 2. Aufl., München, 1978, 348 f. 13 Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3,1, Gedichte 1816– 1817, Text, Lesarten und Erläuterungen, Michael Grus; Kristina Hasenpflug (Hgg.), Stuttgart, 1999, 87–92, 92–97. 14 2. Fassung, Verse 116–120; Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3,1, Gedichte 1816–1817. Text, Lesarten und Erläuterungen, Michael Grus; Kristina Hasenpflug (Hgg.), Stuttgart, 1999, 96. 15 Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 31. Briefe III, 1803– 1807, Lieselotte Kinskofer (Hg.), Stuttgart, 1991, 417, 3–10. 16 Reinhold Steig; Herman Grimm (Hgg.), Achim von Arnim und die ihm nahestanden, Bd. 3 (Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm), Stuttgart; Berlin, 1904, 371–373. 17 Ebd., 372. 18 Ebd., 372. 19 Trutz Nachtigal ein geistlich poetisches Lustwäldlein, des gleichen noch nie zuvor in deutscher Sprache gesehen worden. Durch den ehrwürdigen Pater Friedrich Spee Priester der Gesellschaft Jesu. Wörtlich treue Ausgabe vermehrt mit dem Liedern aus dem güldenen Tugendbuch desselben Dichters, Berlin 1817, XX f. 20 Friedrich Spee, Trvtz-Nachtigal. Kritische Ausgabe nach der Trierer Handschrift, Theo van Oorschot (Hg.), Stuttgart, 1985, 9. 21 Zur Entstehung der Neuedition vgl. Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 5,2, Trutz Nachtigal. Text, Lesarten und Erläuterungen, unter Mitarbeit von Holger Schwinn hg. v. Sabine Gruber, Stuttgart:, 2009, 397–413. 22 Journal von und für Deutschland 1785, 2. Jg., 3. Stück, 206–216. 23 Ignaz Heinrich v. Wessenberg, Sämtliche Dichtungen, Bd. 2, Tübingen; Stuttgart, 1834, 286–346, hier 289. 24 Gerhard Schaub, „Friedrich Spee: ‚Ein Dichter mehr als mancher Minnesänger’. Zur Wirkungsgeschichte der Trutznachtigall in der deutschen Romantik,“ in: Verführung zur Geschichte, V. G. Droege u.a. (Hgg.), Trier, 1973, 323–346, hier 331. 25 Journal von und für Deutschland, 2.Jg., 3. Stück, 206. 26 Handschrift im Besitz des Freien Deutschen Hochstifts, Frankfurt a. M.
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Anmerkungen
27 Emma von Calatin von Suckow, Aus der Gegenwart, Berlin, 1844, 48 f. 28 Vgl. Sabine Claudia Gruber, 2002, 67–73 und 355–371, Abbildung des Druckes: 355 f (siehe Anm. 10). 29 Freies Deutsches Hochstift, Hs. 12678/6 30 Pietro Bonaventura Metastasio, Opere di Pietro Metastasio. Eseguite sulle Edizioni di Parigi, 1780, e Lucca, 1782, 2.Bd. Mailand, 1822 [= Biblioteca Scelta di Opere Italiane Antiche e Moderne, 120], 37 f. 31 Zu dem italienischen Text vgl. Sabine Claudia Gruber, 2002, 87 f. (siehe Anm. 10). Anmerkungen zu den Seiten 141–150: Birgit Schäbler, Der Islam der Modernisten 1 Vgl. zu al-Afghani: Nikki R. Keddie, An Islamic Response to Imperialism: Political and Religious Writings of Sayyid Jamal ad-Din „al-Afghani“, Berkely 1983. 2 „Der Islam und die Wissenschaft. Der Disput zwischen Ernest Renan und Jamal al-Din al-Afghani 1883“, in: Themenportal Europäische Geschichte (2007), URL: http://www.europa.clio-online.de/2007/Article=275 (eingesehen 21.05.2013). 3 Zu Muhammad ‘Abduh s. Anke von Kügelgen, „‘Abduh, Muhammad,“ Encyclopaedia of Islam, 3. Auflage, Gudrun Krämer; Denis Matringe; John Nawas; Everett Rowson (Hgg.), Leiden 2008. 4 Zitiert nach Muhammad Rashid Rida, Die Geschichte des Muhammad Abduh – Professor, Imam, Scheich (Ta'rīḫ al-ustāḏ al-imām aš-Šaiḫ Muḥammad ‘Abduh) 1931, 25 (Neuaufl. Kairo 2006). 5 Zu Rashid Rida s. Umar Ryad, Islamic Reformism and Christianity: A Critical Reading of the Works of Muhammad Rashid Rida and His Associates (1898–1935), Leiden 2009. 6 Birgit Schäbler, „Exegetische Kultur, Alltagspraxis und das Prinzip der Beratung im (politischen) Islam: Der Koran als Text und Praxis“, in: Wolfgang Reinhard (Hg.), Sakrale Texte. Hermeneutik und Lebenspraxis in den Schriftkulturen, München: Beck, 2009, S. 120–153, hier S. 142 ff. Anmerkungen zu den Seiten 151–166: Bärbel Frischmann, Nietzsches Kritik der Religion 1 Friedrich Nietzsche, Kritischen Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin, 1988 (2. durchges. Aufl.). Zitiert wurde aus folgenden Schriften: Bd. 2 „Menschliches, Allzumenschliches“; Bd. 3 „Morgenröte“; „Die Fröhliche Wissenschaft“; Bd. 4 „Also sprach Zarathustra“;
Anmerkungen
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Bd. 5 „Jenseits von Gut und Böse“; „Zur Genealogie der Moral“; Bd. 6 „Der Antichrist“; „Ecce homo“. Anmerkungen zu den Seiten 167–180: Veronika Hoffmann, Gehört der Zweifel zu religiösen Überzeugungen? 1 Vgl. Mutter Teresa, Komm, sei mein Licht. Die geheimen Aufzeichnungen der Heiligen von Kalkutta, Brian Kolodiejchuk (Hg.), München 2007; und die umsichtige Bewertung bei David van Biema, „Mother Teresa’s Crisis of Faith“, in: Time Magazine vom 23. August 2007, http://www.time.com/ time/magazine/article/ 0,9171,1655720,00.html (letzter Abruf 7.8.2012). 2 So berichtet David van Biema, vgl. David van Biema 2007 (siehe Anm. 1). 3 Franz Hettinger: Apologie des Christentums. 1. Band: Der Beweis des Christentums. 1. Abteilung, Freiburg, 9. Aufl. 1906, 41f. 4 Franz Hettinger 1906 (siehe Anm. 3), 44 (im Original gesperrt). 5 Franz Hettinger 1906 (siehe Anm. 3), 8. 6 Franz Hettinger 1906 (siehe Anm. 3), 12 f. 7 Cicero, De oratore 2,42, zit. bei Franz Hettinger 1906 (siehe Anm. 3), 38. 8 Peter L. Berger; Anton Zijderveld, Lob des Zweifels. Was ein überzeugender Glaube braucht, Freiburg 2010. Bergers und Zijdervelds Argumentation wird im Folgenden nur auszugsweise und in groben Linien vorgestellt. Insbesondere bleiben ihre Überlegungen zum Problem moralischer Gewissheit ausgeklammert. Vgl. zu ihrer Analyse ausführlicher ebd., 9–60. 9 Peter L. Berger; Anton Zijderveld 2010 (siehe Anm. 8), 19. 10 Peter L. Berger; Anton Zijderveld 2010 (siehe Anm. 8), 19. 11 Peter L. Berger; Anton Zijderveld 2010 (siehe Anm. 8), 86 (im Original kursiv). 12 Peter L. Berger; Anton Zijderveld 2010 (siehe Anm. 8), 107. Hervorhebung im Original. 13 Peter L. Berger; Anton Zijderveld 2010 (siehe Anm. 8), 120. 14 Vgl. Peter L. Berger; Anton Zijderveld 2010 (siehe Anm. 8), 127. 15 Vgl. Peter L. Berger; Anton Zijderveld 2010 (siehe Anm. 8), 127. 16 Vgl. zum Folgenden Jürgen Werbick, Gebetsglaube und Gotteszweifel, Münster, 2001 (Religion – Geschichte – Gesellschaft; 20), v.a.17–32. 17 Werbick greift hier auf einen Gedankengang des französischen Philosophen Paul Ricœur zurück; vgl. Paule Ricœur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/Main, 4. Aufl., 1999. 18 Paule Ricœur, 1999 (siehe Anm. 17), 27. 19 Berthold Brecht, „Lob des Zweifels“, in: Gesammelte Werke Bd. 9, Frankfurt 1967, 626–628. Vgl. Jürgen Werbick 2001 (siehe Anm. 16), 28.
Die Autorinnen und Autoren Frischmann, Bärbel, geb. 1960, Professorin für Geschichte der Philosophie am Seminar für Philosophie der Universität Erfurt. Gruber, Sabine, geb. 1967, Wissenschaftliche Angestellte im Drittmittelprojekt „August Wilhelm Schlegel. Kritische Ausgabe der Vorlesungen“ an der Universität Tübingen. Hoffmann, Veronika, geb. 1974, Heisenberg-Stipendiatin und Vertretungsprofessorin für Systematische Theologie an der Universität Siegen. Koch, Karoline, geb. 1987, Doktorandin für Alte Geschichte an der Universität Erfurt. Kracke, Bärbel, Professorin für Pädagogische Psychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Kranemann, Benedikt, geb. 1959, Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt; Leiter des Theologischen Forschungskollegs und Sprecher des Universitären Schwerpunkts der Universität Erfurt. Loetz, Francisca, Professorin für Allgemeine Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Makrides, Vasilios N., geb. 1961, Professor für Religionswissenschaft (Orthodoxes Christentum) an der Universität Erfurt. Roux, René, geb. 1966, Professor für Alte Kirchengeschichte, Patrologie und Ostkirchenkunde an der Universität Erfurt. Rüpke, Jörg, geb. 1962, Professor für Vergleichende Religionswissenschaft an der Universität und Sprecher der Kolleg-Forschergruppe „Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive“ am Max-WeberKolleg.
Die Autorinnen und Autoren
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Schäler, Birgit, Professorin für Westasiatische Geschichte an der Universität Erfurt. Schmolinsky, Sabine, Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Erfurt. Waldner, Katharina, geb. 1965, Professorin für Allgemeine Religionswissenschaft an der Universität Erfurt (Schwerpunkt: Kulturgeschichte Europäischer Polytheismen).
Interdisziplinäres Forum Religion der Universität Erfurt
Das Interdisziplinäre Forum Religion (IFR) ist ein fakultätenübergreifender Zusammenschluss von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen an der Universität Erfurt, die Forschungen zu Fragen der Religion betreiben. Katholische und evangelische Theologen, Religionswissenschaftler mit Spezialisierungen für den antiken Polytheismus, das Judentum, das lateinische und das orthodoxe Christentum und den Islam sowie Geschichts-, Literatur- und Sozialwissenschaftler teilen ihre Forschungsinteressen an Religion in einer historisch fundierten, europäisch orientierten Perspektive. Einzelne Schwerpunktbildungen erweitern das Themenspektrum für den Bereich der Religionen Südasiens. Im Rahmen des Studium Fundamentale ermöglicht das IFR Studierenden aller Fachrichtungen durch eine Ringvorlesung den Erwerb grundlegender Informationen und die Diskussion spezifischer Fragestellungen in dem weiten Feld religionsbezogener Forschung. Diese regelmäßige Ringvorlesung wird durch die Reihe „Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion“ (VIFR) einer weiteren Leserschaft zugänglich gemacht. Die Ringvorlesung ergänzt eine größere Zahl weiterer Lehrveranstaltungen im Rahmen des Studium Fundamentale, in denen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher Fachgebiete zusammenarbeiten. Zu diesem Studienangebot zählen nicht zuletzt die jährliche „International Spring School on Ancient Religions“ und die vom DAAD geförderte Summer school „Muslims in the West“. Ein besonderes Anliegen des IFR ist die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses im MA- und Promotionsstudium. In einer ersten Phase wurde die Zusammenarbeit unter anderem in einer Arbeitsgruppe „Religionen in Nachbarschaft und Nachbarschaft von Religionen“ und einem vom BMBF geförderten Projekt „Mobilisierung von Religion in Europa“ koordiniert; im Studienjahr 2009/10 ist eine Graduiertenschule mit dem Themenschwerpunkt „Religion in Modernisierungsprozessen“ eingerichtet worden. Im Zentrum der Forschungen stehen hier zum einen Fragen nach der Rolle von Religion als eine Quelle von Modernisierungsprozessen und nach dem Einfluss von Modernisierungspro-
Interdisziplinäres Forum Religion der Universität Erfurt
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zessen auf Religion, zum anderen Fragen nach der religiösen Erfahrung und den Versuchen ihrer Artikulation und nach der Medialität von Religion, d. h. der spezifischen Angewiesenheit von Religion auf Darstellungs- und Übertragungs-Medien in verschiedenen Diskursformationen und Praktiken. Die Graduiertenschule unterhält Beziehungen zu einem Theologischen Forschungskolleg an der Katholisch-Theologischen Fakultät, zur literaturwissenschaftlichen Forschergruppe „Texte, Zeichen, Medien“ sowie zur DFG-geförderten Kollegforschergruppe „Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive“ am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien. Darüber hinaus bietet das Graduiertenkolleg „Untergrundforschung“ am Forschungszentrum Gotha für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien einen besonderen Kontext für spezialisierte historische Forschungen über heterodoxe Gestalten, Gruppen und Ideen im Spannungsfeld von Religion und Aufklärung. Gastvorträge und Tagungen bieten vielfältige Möglichkeiten zum wissenschaftlichen Austausch und zur Entwicklung neuer, interdisziplinär relevanter Fragestellungen. Regelmäßige Studientage zur Präsentation und Diskussion von Promotions- und Habilitationsprojekten stehen allen Mitgliedern des IFR offen. Weitere Informationen: http://www.uni-erfurt.de/schwerpunkt-religion/
VIFR
Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt
Band 1 (ohne Reihenvermerk) Religion, Gewalt, Gewaltlosigkeit Probleme – Positionen – Perspektiven Herausgegeben von Christoph Bultmann, Benedikt Kranemann und Jörg Rüpke. 2004. Aschendorff Paperbacks, 303 Seiten ISBN 978-3-402-03434-7, 14,80 EUR Die Diskussion um das Verhältnis von Religion und Gewalt hat nicht erst mit dem 11. September 2001 begonnen. Nahostkonflikt, die Situation in Nordirland und der Balkankrieg sind nur einige weitere Beispiele aus jüngerer Zeit. Doch Unverständnis und Aggression zwischen Juden und Muslimen, Katholiken und Protestanten allein sind nicht Grund und Motivation für diese Gewaltexzesse. Sind religiöse Konflikte Ursache für die Gewalt? Was lässt eine Religion gewalttätig werden? Welche Rolle spielt für ihr Gewaltpotenzial das soziale, kulturelle und wirtschaftliche Umfeld? Oder werden Religionen nur benutzt bzw. lassen sie sich benutzen, um Gewalt zu rechtfertigen? Wie gehen die verschiedenen Religionen selbst mit der eigenen Widersprüchlichkeit um, die ja nicht nur ein historisches Faktum, sondern auch eine philosophisch-theologische Herausforderung der Gegenwart ist? Diesen und anderen Fragen gehen die Beiträge dieses Bandes, die aus der Sicht von Theologen, Religionswissenschafltern und Historikern unterschiedlichste Religionen und Konfessionen darstellen, nach.
Mit Beiträgen von Christian Albrecht, Christoph Bultmann, Josef Freitag, Georg Hentschel, Benedikt Kranemann, Claus-Peter März, Vasilios N. Makrides, Jamal Malik, Josef Pilvousek, Josef Römelt, Jörg Rüpke, Eberhard Tiefensee, Christian Wiese, Reinhard Zöllner.
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Band 2 (ohne Reihenvermerk) Heilige Schriften Ursprung, Geltung und Gebrauch Herausgegeben von Christoph Bultmann, Claus-Peter März und Vasilios N. Makrides. 2005. Aschendorff Paperbacks, 255 Seiten ISBN 978-3-402-03415-6, 14,80 EUR Heilige Schriften sind Texte mit Autorität, doch werden sie in unterschiedlicher Weise erschlossen. Einige Gründe dafür lassen sich klar benennen: Heilige Schriften haben ihren Ursprung in längst vergangenen Zeiten und Kulturen. Theoretische Annahmen über ihre Geltung und praktische Verfahren für ihre Auslegung sind Gegenstand gelehrter Diskussion. Der Gebrauch, den einzelne Religionsgemeinschaften von ihren Heiligen Schriften machen, ist einem ständigen Wandel unterworfen. Wie lässt sich ein rechter Gebrauch von Missbrauch unterscheiden? In was für einem Verhältnis stehen Autorität und Akzeptanz, Fremdheit und Vertrautheit? Welchen Stellenwert haben Heilige Schriften im Vergleich zu Liturgie und Ritus? Die Beiträge dieses Bandes sind aus theologischer und religionswis senschaftlicher Sicht geschrieben. Sie gelten der Entstehung der Bibel, dem Verhältnis von Text und Auslegung, der Praxis des Umgangs mit der Bibel und der Kontroverse über die Bedeutung von Schriftlichkeit in einer Religion. Der wichtige religionswissenschaftliche Vergleich wird durch Beiträge zum Islam und zum klassischen griechisch-römischen Kulturraum vertreten. Eine Analyse aus literaturwissenschaftlicher Sicht gilt dem Verhältnis zwischen dem Medium Buch und dem Medium Bild. Mit Beiträgen von Andreas Bendlin, Christoph Bultmann, Josef Freitag, Albrecht Fuess, Michael Gabel, Georg Hentschel, Benedikt Kranemann, Claus-Peter März, Vasilios N. Makrides, Holt Meyer, Josef Pilvousek, Jörg Rüpke, Rupert Schaab.
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Band 3 Mahnung und Warnung Die Lehre der Religionen über das rechte Leben Herausgegeben von Christoph Bultmann, Claus-Peter März und Jamal Malik. 2006, 254 Seiten ISBN 978-3-402-00400-5, 14,80 EUR Das Zusammenleben der Menschen muss gestaltet werden. Es wächst nicht von allein. Welche Rolle spielen in diesem Prozess die Religionen? Verwalten sie wichtige ethische Ressourcen oder vertreten sie eine Sonderethik? Auch wenn alle Religionen sich um ein spezielles religiöses Anliegen gruppieren, tragen sie doch zugleich Ideale weiter, die auf Lebenserfahrung und vernünftige Reflexion zurückgehen. Sie stellen insofern eine Art moralisches Gedächtnis der Menschheit dar. Doch wie lässt sich die Lehre der Religionen auf eine fruchtbare Weise in die Gesellschaft einbringen? Mit welchen Argumenten können problematische Aspekte einer Lehrtradition überwunden werden? Im Gegensatz zu einer einseitigen Betonung autoritativer Gebote wollen die Beiträge des Bandes zu kritischer Analyse ermutigen. Mitglieder und Gäste des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt untersuchen für die christliche Tradition Themen der Bibel auslegung, der Theologiegeschichte, der Liturgie und der Religionspädagogik. Für die jüdische Tradition wird die ethische Bedeutung von Lehre und Praxis gemäß der Halachah erläutert, für die islamische Tradition die Funktion der Grundwerte Gerechtigkeit und Gleichheit. Einen externen Bezugspunkt der Analysen zum Christentum, Judentum und Islam bilden Darstellungen der Debatte über Religion und Ethik in der antiken griechisch-römischen Kultur. Mit Beiträgen von Christoph Bultmann, Josef Freitag, Michael Gabel, Georg Hentschel, Moez Khalfaoui, Benedikt Kranemann, Gudrun Krämer, Claus-Peter März, Vasilios N. Makrides, Josef Pilvousek, Jörg Rüpke, Daniel Rynhold und Andrea Schulte.
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Band 4 Religion und Medien Vom Kultbild zum Internetritual Herausgegeben von Benedikt Kranemann, Vasilios N. Makrides und Andrea Schulte. 2007, 254 Seiten ISBN 978-3-402-00441-8, 14,80 EUR Religion ist Kommunikation: Kommunikation von Menschen mit einem transzendenten Gott oder Gottheiten, Kommunikation zwischen Menschen im Ritual, in der Seelsorge, in der religiösen Gruppe. Solche Kommunikation greift vielfach auf Medien zurück, die über das direkte Gespräch hinausgehen, nutzt die technischen Medien ihrer Zeit, von der Kultstatue bis zum Internet – und verändert diese Medien. Religion erscheint aber auch in Kommunikation, die weder religiösen Institutionen noch religiösen Rollen zugerechnet wird: im Rechtsstreit, in Berichterstattung, in Literatur oder Werbung. Mitglieder und Gäste des Interdisziplinären Forums Religion arbeiten in diesem Band beide Aspekte auf: Welches Gesicht gewinnt Religion bei der Nutzung bestimmter Medien? Welches Bild von Religion wollen die Medienproduzenten einer – je nach Medium unterschiedlichen – Öffentlichkeit vermitteln? Welche Ausschnitte und Versatzstücke religiöser Kommunikation treten so in Erscheinung und welche Öffentlichkeiten können eine besondere Affinität zu Religion herstellen? Historisch reicht das Spektrum des vorliegenden Bandes von antiken Medien wie Statuen, Münzen und Inschriften bis zum Fernsehen und Internet der Gegenwart, geographisch von West- und Osteuropa bis in die arabische Welt und nach Indien. Mit Beiträgen von Gregor Ahn, Christian Albrecht, Stefan Böntert, Sebastian Debertin, Katrin Döveling, Matthias Huff, Benedikt Kranemann, Claus-Peter März, Jamal Malik, Bettine Menke, Carola Richter, Jörg Rüpke, Katharina Waldner und Theresa Wobbe.
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Band 5 Religion – Kultur – Bildung Religiöse Kulturen im Spannungsfeld von Ideen und Prozessen der Bildung Herausgegeben von Benedikt Kranemann, Vasilios N. Makrides und Andrea Schulte. 2008, 254 Seiten ISBN 978-3-402-15845-6, 14,80 EUR Das Verhältnis von Religion und Bildung ist ein zentrales Thema der Religionsgeschichte, zugleich ein aktuelles Thema heutiger Diskussionen. Bildungskonzepte wie -institutionen der Religionsgemeinschaften stoßen auf ein neues Interesse. Die Weitergabe von Traditionen, Kritik und Erneuerung im Hinblick auf sich wandelnde kulturelle Kontexte, aber auch die Thematisierung von Religionen im wissenschaftlichen Kontext finden Interesse in der breiten Öffentlichkeit. Die Erfahrung eines pluralen religiösen Umfeldes in der modernen Gesellschaft stellt zudem die Bildungskonzepte der Religionsgemeinschaften vor neue Herausforderungen. Die Autoren untersuchen Themen der Religions-, Kirchen- und Bildungsgeschichte. Wie war das Verhältnis von Religion und Wissen im alten Rom? Wie trugen Klöster und Kirche im Mittelalter zur Bildung bei? Das Bildungsprogramm der humboldtschen Universität wird ebenso berücksichtigt wie das Verhältnis von Religion und Bildung in der Weimarer Klassik. Die Beiträge wenden sich auch Fragestellungen der Gegenwart zu, darunter: Wie tragen Religionen zur Menschenbildung bei? Welche Bedeutung besitzt die Kunst für religiöse Bildung? Gibt es religiöse Wurzeln wissenschaftlicher Pädagogik? Vor welchen Herausforderungen steht religiöse Erwachsenenbildung heute? Weitere Beiträge widmen sich der jüdischen Pädagogik und dem islamischen Religionsunterricht. Mit Beiträgen von Christian Albrecht, Peter Arlt, Christoph Bultmann, Manfred Eckert, Andreas Gotzmann, Michael Kiefer, Jürgen Manemann, Josef Pilvousek, Jörg Rüpke, Helmut Seemann, Maria Widl, Myriam Wijlens und Detlef Zöllner.
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Band 6 Religionsproduktivität in Europa Markierungen im religiösen Feld Herausgegeben von Jamal Malik und Jürgen Manemann 2009, 259 Seiten ISBN 978-3-402-15846-3, 14,80 EUR Im scheinbar säkularen Europa des 21. Jahrhunderts gewinnt Religion zunehmend in Gesellschaft und Politik an Bedeutung. Zahlreiche politisch und kulturell aktive Gruppen äußern ihre Interessen auf religiöse Art und Weise. Dazu gehören auch radikale Tendenzen. Mittlerweile ist die Rede von der Wiederkehr der Religionen fest in unserer Alltagssemantik verankert. Der Sammelband beleuchtet die gegenwärtige religiöse Gemengelage von drei Seiten: Erstens wird nach der Bedeutung von Religion im Blick auf europäische Identitätsfindungsprozesse gefragt. Zweitens werden Institutionalisierungs- und Repräsentationsprozesse religiöser Gemeinschaften in Europa veranschaulicht. Drittens wird die Permanenz des Theologisch-Politischen diskutiert, nachgefragt, wie denn das Verhältnis von Religion und Politik in den gegenwärtigen Konflikten zu beurteilen ist. Dabei markieren die hier versammelten Beiträge Vergessenes, Verdrängtes, Unbekanntes im religiösen Feld. Die Einblicke wollen dazu motivieren, bisherige Diskurse in neue Konstellationen zu rücken, um Neues und Unerkanntes aufscheinen zu lassen.
Mit Beiträgen von Klaus Buchenau, Florian Grötsch, Michael Kiefer, Hans G. Kippenberg, Benedikt Kranemann, Alexandra Lason, Christof Mandry, Jürgen Manemann, Astrid Reuter, Peer Schmidt, Tilman Seidensticker und Uta Sternbach.
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Band 7 Religion und Migration Frömmigkeitsformen und kulturelle Deutungssysteme auf Wanderschaft Herausgegeben von Claudia Kraft und Eberhard Tiefensee 2011, 209 Seiten ISBN 978-3-402-15847-0, 14,80 EUR Dass das Verhältnis von Religion und Migration in jüngster Zeit stärker in den Fokus kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschungen gerückt ist, macht deutlich: Jede Beschreibung des religiösen Pluralismus muss auch die Migration im Blick haben. Denn zu allen Zeiten stießen Entwicklungen innerhalb von Glaubensgemeinschaften oder die Beziehungen zu den von ihnen konfessionell unterschiedenen Umwelten Wanderungsbewegungen an. Selbst wenn diese nicht religiös motiviert waren, kam und kommt religiösen Überzeugungen und Praktiken häufig eine besondere Bedeutung zu. Ortswechsel, Heimatverlust und Neuanfänge verändern die Weltdeutung, lassen überkommene institutionelle Regelungen und Frömmigkeitsformen fraglich werden, bringen verschiedene Strategien hervor, sich in neuen sozialen, politischen und ökonomischen Kontexten zu verorten. Die gegenwärtige Situation in Europa macht deutlich, wie durch Migrationsprozesse religiöse Landkarten in Bewegung geraten können, scheinbar eindimensional verlaufende Entwicklungen (wie etwa die Säkularisierung) vielfältigen Transformationen unterliegen und im Ergebnis die öffentliche Sichtbarkeit des Religiösen verstärkt wird. Damit wird die Frage aufgeworfen, wie Migranten einerseits und die „Aufnahmegesellschaften“ andererseits religiös begründete Unterschiedlichkeiten und Fremdheiten reflektieren und welchen Stellenwert religiöse Zuschreibungen im politischen Diskurs erhalten. Mit Beiträgen von Hannes Bezzel, Stefan Böntert, Josef Freitag, Jürgen Manemann, Holt Meyer, Vasilios Makrides, Eckehard Peters, Klaus-Bernward Springer und Martina Thomsen.
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Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt
Band 8 Religionen in Nachbarschaft Pluralismus als Markenzeichen der europäischen Religionsgeschichte Herausgegeben von Christoph Bultmann, Jörg Rüpke, Sabine Schmolinsky 2012, 280 Seiten ISBN 978-3-402-15848-7, 14,80 EUR Das Interdisziplinäre Forum Religion der Universität Erfurt hat sich in einer Vorlesungsreihe mit der starken These von einem „mehrfachen Pluralismus“ in der Religionsgeschichte Europas auseinandergesetzt, die in einem von H. G. Kippenberg, J. Rüpke und K. von Stuckrad herausgegebenen Buch Europäische Religionsgeschichte (2009) vertreten wird. Was bedeutet es, die traditionelle Sicht der Kirchengeschichte in Europa zu erweitern und von einer Religionsgeschichte zu sprechen? Soll Pluralismus als ein Problem oder als ein Wert verstanden werden? Wie lassen sich historische Erfahrungen im Mittelalter, in der Frühen Neuzeit, im 19. und 20. Jahrhundert deuten, wenn institutionelle Mehrheiten nicht automatisch ein Maßstab zur Beurteilung des „Häretischen“ oder „Marginalen“ sind? Beiträge über Polemiker und Konvertiten, Gelehrte und Missionare, Liturgiker und Kirchenpolitiker, Traditionalisten und Theologiestudierende lassen eine Dynamik erkennbar werden, für die eine Formel „Religionen in Nachbarschaft“ der Schlüssel sein könnte.
Mit Beiträgen von Christoph Bultmann, Stefanie Haarländer, Richard Hölzl, Thoralf Klein, Benedikt Kranemann, Christof Mandry, Martin Mulsow, Josef Pilvousek, Rotraud Ries, Jörg Rüpke, Sabine Schmolinsky, Heidemarie Winkel