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Studien zur Kritischen Psychologie Pahl-Rugenstein
Studien zur Kritischen Psychologie
Herausgegeben von Karl-Heinz Braun und Klaus Holzkamp Band 3 In der gleichen Reihe
Band 1-2 Klaus Holzkamp/Karl-Heinz Braun (Hrsg.) Bericht über den I. Kongreß Kritische Psychologie in Marburg vom 13. bis 15. Mai 1977 Band 4 Karl-Heinz Braun Einführung in die Politische Psychologie Zum Verhältnis von gesellschaftlichem und individuellem Subjekt Band 5 Peter Keiler/Michael Stadler (Hrsg.) Erkenntnis oder Dogmatismus? Kritik des psychologischen »Dogmatismus«-Konzepts Band 6 Eckart Leiser Einfuhrung in die statistischen Methoden der Erkenntnisgewinnung
Klaus Holzkamp Gesellschaftlichkeit des Individuums Aufsätze 1974-1977
Studien zur Kritischen Psychologie Pahl-Rugenstein
© 1978 by Pahl-Rugenstein Verlag Gottesweg 54, 5 Köln 51 Satz: Zentralsatz Dieter Noe, Köln Printed in Ehland ISBN 3-7609-0369-X
Zur Reihe »Studien zur Kritischen Psychologie«
Die Kritische Psychologie, entstanden als spezifische Konzeption materialistischer psychologischer Forschung und Praxis am Psychologischen Institut der Freien Universität in West-Berlin, findet immer weitere Verbreitung im In- und Ausland. Dabei kommt es naturgemäß zu Differenzierungen hinsichtlich bestimmter Auffassungen über die theoretischen Konzepte, methodischen Vorgehensweisen und die praktische Umsetzung der Kritischen Psychologie - innerhalb eines Gesamtrahmens des theoretischen Konsenses. Ein Beleg dafür, wie weit der Differenzierungsprozeß bereits vorangeschritten ist und wie fruchtbar die dabei entstandenen Diskussionen sein können, ist die Mannigfaltigkeit der Positionen auf dem Ersten Kongreß Kritische Psychologie in Marburg (mit dessen Dokumentation diese Reihe begann). Die Reihe »Studien zur Kritischen Psychologie« trägt dieser neuen Situation Rechnung. Sie ergänzt die Reihe »Texte zur Kritischen Psychologie« im Campus Verlag, in welcher durch Arbeiten aus dem Psychologischen Institut der FU die systematische Entwicklung der Kritischen Psychologie i. e. S. samt ihren wissenschaftstheoretischen Fundamenten und praktischen Anwendungen in regelmäßigen Veröffentlichungen zugänglich gemacht wird. In den »Studien« sollen Resultate und Diskussionsbeiträge aus verschiedenen Arbeitszusammenhängen und Orten (auch aus dem Psychologischen Institut der FU) veröffentlicht werden, und zwar nicht nur grundsätzliche Beiträge, sondern auch solche, die zu wichtigen Einzelfragen und aktuellen Problemen Stellung nehmen, politische Konsequenzen aufzeigen, in laufende Kontroversen eingreifen, Erfahrungen aus verschiedenen Praxisfeldern einbringen etc. Neben Monographien werden auch Sammelpublikationen verschiedener Autoren zu bestimmten Themen, Aufsatzsammlungen und Arbeitsberichte von Projektgruppen erscheinen. Die »Studien« bieten den Wissenschaftlern und Praktikern, die im engeren oder weiteren Problembereich der Kritischen Psychologie tätig 5
sind, eine Möglichkeit, ihre Arbeiten nicht mehr verstreut und in sachfremden Zusammenhängen zu veröffentlichen, sondern in einer trotz der angestrebten Mannigfaltigkeit in der Grundtendenz - der Förderung fortschrittlicher Psychologie im Rahmen der demokratischen Bewegung - einheitlichen Reihe von ausgewiesener wissenschaftlicher Qualität, die bekannt werden und sich durchsetzen wird. Den interessierten Lesern bieten die »Studien« auf diese Weise eine zusätzliche Orientierung darüber, wo relevante Beiträge zur wissenschaftlich, berufspraktisch und politisch immer wichtiger werdenden Arbeitsrichtung der Kritischen Psychologie zu finden sind. Karl-Heinz Braun
Klaus Holzkamp
Inhalt Einleitung
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Kunst und Arbeit - ein Essay zur »therapeutischen« Funktion künstlerischer Gestaltung (1974)
17
1. Gesellschaftlicher Ursprung sinnlicher Symbolik
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2. Gesellschaftliche Funktionalität bildnerischer Tätigkeit
21
3. »Kunst« als Institution und künstlerische Gestaltung als allgemeines Moment menschlicher Lebenstätigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft
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4. Die mögliche »therapeutische« Funktion künstlerischer Gestaltung und Rezeption
32
Die historische Methode des wissenschaftlichen Sozialismus und ihre Verkennung durch J. Bischoff (1974)
41
0. Fragestellung
41
1. Bischoffs Weginterpretation der historischen Analyse aus dem Begründungszusammenhang der Kritik der politischen Ökonomie: Textausschlachtung als Sinn Verfälschung
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a) Wie Bischoff Engels durch Marx »korrigiert«: »Identität« heißt »Unterschied« zwischen Logischem und Historischem b) Bischoffs Vermengung des realhistorischen Aspekts mit dem logisch-historischen Aspekt der Analyse; seine »Interpretation« von nicht bestehenden Widersprüchen zwischen Marx und Engels c) Hat bei Marx das Studium früherer Epochen keine Bedeutung für das Begreifen der bürgerlichen Gesellschaft? d) Die »Reihenfolge« der ökonomischen Kategorien bei Marx und Engels: Doch noch ein Widerspruch?
43
51 56 59
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e) Generelle Problematik der Ausmünzung »berühmter« Klassikerstellen über die »Methode«; Marx' wirkliche Vorgehensweise ist zu explizieren 2. Das logisch-historische Verfahren im »Kapital« a) »Notwendige logische Entwicklung« der Geldform in Bischoffschem Verständnis und innerhalb Marx' wirklicher Analyse b) Das logisch-historische Verfahren: Analyse des Geschichtsprozesses unter dem Aspekt materieller gesellschaftlicher Entwicklungsnotwendigkeit c) Das Verhältnis zwischen logisch-historischem und realhistorischem Aspekt der Analyse d) Die Frage der Verallgemeinerbarkeit 3. Gegen Bischoffs Angriff auf die materialistische Erkenntnistheorie a) Bischoffs These von der Uberflüssigkeit dialektischer Methode und materialistischer Erkenntnistheorie innerhalb der Kritik der politischen Ökonomie b) Ableitung der Genesis des wissenschaftlichen Sozialismus aus dem sozialen Lebensprozeß anstelle materialistischer Erkenntnistheorie ? c) Bischoffs Bestimmung der Denkform als »Reflex« der Gesellschaftsform: ökonomistische Prämissen eines versteckten erkenntnistheorietischen Mechanizismus d) Lösung von Bischoffs erkenntnistheoretischem Dilemma durch Rekurs auf den logisch-historischen Charakter der Methode materialistischer Dialektik e) Materialistische Erkenntnistheorie: Logisch-historische Erforschung der Erkenntnisbeziehung im Rahmen materialistischer Dialektik f) Das erkenntnistheoretische Begreifen des wissenschaftlichen Sozialismus aus seiner gesellschaftlichen Entwicklungsnotwendigkeit g) Das historische Bewußtsein materialistischer Dialektik als Gründlage für die erkenntnistheoretische Begründbarkeit des Wahrheitsanspruchs des wissenschaftlichen Sozialismus 4. Jenseits der Perspektivlosigkeit Bischoffschen Denkens
8
Die Überwindung der wissenschaftlichen Beliebigkeit psychologischer Theorien durch die Kritische Psychologie (1977)
129
1. Fragestellung
129
2. Der Mangel an eindeutigen Kriterien zur Beurteilung des Erkenntniswertes von Theorien, damit die Unausweisbarkeit von Erkenntnisfortschritten, in der traditionellen Psychologie
133
3. Das Fehlen von wissenschaftlichen Verfahren zur Unterscheidung »wesentlicher« von »unwesentlichen« Dimensionen der untersuchten Gegenstandsbereiche als Grund für die mangelnde Beurteilbarkeit des Erkenntniswerts von Theorien
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4. Darstellung der kritisch-psychologischen Rekonstruktion des die Individuum-Umwelt-Beziehung übergreifenden historisch gewordenen objektiven Mensch-Welt-Zusämmenhanges
147
5. Kritisch-psychologische Kriterien für die »Wesentlichkeit« von Dimensionen des Mensch-WeltZusammenhanges; biologisch-gesellschaftliche »Notwendigkeit« (»funktionale Relevanz«) und Individuationsprozeß 6. Ausklammerung der im übergreifenden Mensch-WeltZusammenhang historisch gewordenen objektiven Lebensbedingungen und Beschränkung auf die Erfassung individueller Situationen bzw. Biographien als Grund für die Unmöglichkeit der Identifizierung funktional relevanter Dimensionen, damit für die Beliebigkeit des Theoretisierens, in der traditionellen Psychologie 7. Differenzierende Bewertbarkeit der funktionalen Relevanz verschiedener traditionell-psychologischer Theorien, damit ihres relativen Beitrags zum kumulativen Erkenntnisfortschritt, aufgrund kritisch-psychologischer Weiterentwicklungen theoretischer Konzeptionen a) Funktional-historische Ableitung und Kritik von Unterscheidungen und Klassifikationen
157
164
174 175
9
b) Abgrenzung des Geltungsbereichs verschiedener Theorien durch Bestimmung des Spezifitätsniveaus der in ihren Grundkonzepten angesprochenen Dimensionen c) Stellenwerteinschränkung von Theorien durch inhaltlichen Aufweis unzulässiger Universalisierungen von unwesentlichen Nebendimensionen d) Kombination der Kritik von Unterscheidungen, der Bestimmung des Spezifitätsniveaus und des Aufweises unzulässiger Universalisierungen bei der Bewertung von Theorien
1S2 185
189
8. Methodologische Schlußbemerkung
194
Kann es im Rahmen der marxistischen Theorie eine Kritische Psychologie geben? (1977)
202
Kleinere Arbeiten Verhaltenstheorie als letzte Bastion? (1974)
232
Das Marxsche »Kapital« als Grundlage der Verwissenschaftlichung psychologischer Forschung (1976)
245
Berufsverbot im öffentlichen Dienst: Wer indoktriniert wen? (1977)
256
Quellenangaben
264
10
Einleitung
In diesem Sammelband sind alle wichtigeren Einzelaufsätze von mir aus den Jahren 1974 bis 1977 enthalten. Zwei der Arbeiten sind bisher unveröffentlicht, die anderen verstreut in Zeitschriften unterschiedlichen Charakters publiziert. Die vorliegende Aufsatzsammlung ist in gewisser Hinsicht eine Fortsetzung der Sammlung »Kritische Psychologie. Vorbereitende Arbeiten« (1972, 5. Aufl. 1977). Der wesentliche Unterschied der beiden Bände besteht jedoch darin, daß die in der älteren Sammlung enthaltenen Aufsätze mein ganzes wissenschaftliches Werk von 1968 bis 1971 darstellen und dabei weitgehend die gesamte Entwicklung hin zur Kritischen Psychologie repräsentieren. Inzwischen ist jedoch - in Einlösung der am Schluß des früheren Sammelbandes formulierten Perspektive der »Wendung von der Kritik der bürgerlichen Psychologie zur kritischen Psychologie« - der Aufbau einer kritisch-psychologischen Gesamtkonzeption bereits bis zu einem gewissen Grade fortgeschritten. Mein erster Beitrag dazu ist die (1971 bis 1973 entstandene) Buch Veröffentlichung »Sinnliche Erkenntnis. Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung« (1973). Diese Arbeit ist wiederum nur ein kleiner Teil der Gesamtveröffentlichungen zur Kritischen Psychologie. Im Ganzen liegen dazu bisher von Mitarbeitern des Psychologischen Instituts der FUB 9 Bände der »Texte zur Kritischen Psychologie« und weitere Buch- und Aufsatzveröffentlichungen vor (vgl. die Zusammenstellung auf S. 130).1 Die hier gesammelten Aufsätze sind mithin nur ein - quantitativ vergleichsweise geringer - Ausschnitt der neueren Arbeiten zur Kritischen Psychologie. Ihre Bedeutung, die eine gesammelte Herausgabe rechtfertigt, könnte jedoch darin liegen, daß hier in konzentrierter Form grundsätzliche Charakteristika der kritisch-psychologischen Konzeption dargelegt sind, dabei auch methodologische Probleme verallgemeinert diskutiert werden. Damit können Zusammenhänge sich verdeutlichen und Durchblicke ermöglicht werden, was wiederum die Rezeption und das Verständnis der Hauptarbeiten zur Kritischen Psychologie erleichtert. Auch die Berechtigung kritischer 1 Einen Uberblick über den gegenwärtigen Entwicklungsstand der Kritischen Psychologie gibt der zweibändige Bericht über den Internationalen Kongreß Kritische Psychologie in Marburg vom Mai 1977, herausgegeben von Karl-Heinz Braun und mir und in dieser Reihe »Studien zur Kritischen Psychologie« im Pahl-Rugenstein Verlag erschienen.
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Einwände, die sich häufig an Teilaspekten innerhalb der kritisch-psychologischen Konzeptionen festmachen, mag so durch Einsicht in die wesentlichen Züge kritisch-psychologischer Resultate und Verfahren besser beurteilbar und der Stellenwert der Kritik im Hinblick auf die Gesamtkonzeption besser bestimmbar werden. Dabei ist diese Aufsatzsammlung in gewissem Sinn auch als eine direkte Antwort auf bestimmte Versuche einer Kritik der hier publizierten Abhandlungen zu verstehen, wie sie in der Zeitschrift »Psychologie und Gesellschaft«, aber auch in gewissen Arbeiten aus dem Umkreis des »Projektes Klassenanalyse« vorliegen. Hier richtet sich die Kritik kaum auf im Text wirklich vertretene Auffassungen, sondern besteht im wesentlichen in einer Mißinterpretation bis Verfälschung des kritisierten Textes selbst. Die Gegenkritik würde demgemäß vorwiegend in einem Hinweis auf das, was im Text wirklich steht, bestehen müssen. Wenn nun mit der verbesserten und verbilligten Zugänglichkeit der Originalarbeiten auch die Möglichkeit für den Leser zum genauen Studium dieser Arbeiten sich verbessert, so müssen auch derartige Hinweise sich weitgehend erübrigen. An die Stelle detaillierter Gegenkritik könnte also hier das Vertrauen in die Urteilskraft des Lesers treten, womit Zeit und Arbeitskraft gespart werden. Die erste Abhandlung, » Kunst und Arbeit - Ein Essay zur »therapeutischem Funktion künstlerischer Gestaltung«, ist bisher nicht veröffentlicht. Es handelt sich dabei um den ersten Teil eines Textes, der als Beitrag zu einem zusammen mit dem Maler Manfred Henkel verfaßten Buch »Malaktion als soziale Therapie« dienen sollte. Im Manuskript dieses Buches sind über mehrere Jahre gehende kunsttherapeutische Aktivitäten Henkels mit Jugendlichen in Westberliner Heimen dargestellt, durch zahlreiche Abbildungen illustriert und theoretisch analysiert. Die Gesamtveröffentlichung des Manuskriptes kam nicht zustande, da der Verlag, der sie übernommen hatte (die Akademische Verlagsgesellschaft) während der Publikationsvorbereitungen in Konkurs ging o. ä. und da andere Verlage - wegen der sehr teuren Abbildungen und der durch den daraus sich ergebenden hohen Preis verminderten Absatzchancen - sich nicht zur Herausgabe entschließen konnten. Mit dieser Teilveröffentlichung ist eine spätere Publikation des ganzen Buches (falls sie noch Zustandekommen sollte) nicht ausgeschlossen. - Die Abhandlung wendet sich - dem Zweck des Buches, in dessen Zusammenhang sie entstand, entsprechend - nicht nur an Wissenschaftler, sondern an einen größeren Kreis von Personen, die an künstlerischer Gestaltung und ihrer »therapeutischen« Funktionalität interessiert sind. Daraus erklärt sich der »essayistische« Charakter des Textes: Belege, Verweisun12
gen und Einzelableitungen sind hier zugunsten der Anschaulichkeit und Sinnfälligkeit der Darstellung reduziert, Thesen ungeschützt ausgebreitet und zur Diskussion gestellt, dabei gewisse Ubervereinfachungen in Kauf genommen. Dennoch beruhen die dabei vorgestellten Überlegungen auf dem - global angewendeten - »funktional-historischen« Begründungsverfahren der Kritischen Psychologie. Vielleicht wird hier an der Behandlung eines allgemeiner interessierenden Gegenstandes deutlich, daß mit der funktional-historischen Vorgehensweise nicht nur aufwendige psychologische Spezialanalysen, sondern auch kurze Betrachtungen über Aspekte menschlicher Lebenstätigkeit durch Entfaltung eines systematischen Begründungszusammenhanges auf ein höheres Niveau der Verbindlichkeit und Kontrollierbarkeit zu heben sind. Die zweite Arbeit, »Die historische Methode des wissenschaftlichen Sozialismus und ihre Verkennung durch J. Bischoff« -1974 im »Argument« veröffentlicht (vgl. Quellenangaben) - ist eine ausführliche kritische Auseinandersetzung mit den Konzeptionen des »Projektes Klassenanalyse«, besonders mit dem Buch von J. Bischoff »Gesellschaftliche Arbeit als Systembegriff. Über wissenschaftliche Dialektik«2. In dieser Abhandlung werden durch die Kritik an Bischoff hindurch positive Aussagen über das Wesen und die Bedeutung der historischen Analyse im Zusammenhang der Methode der materialistischen Dialektik gemacht, die den allgemeinen Bezugsrahmen für die funktional-historische Analyse als Verfahren der Kritischen Psychologie bildet. Die generellen Darlegungen über die marxistische Methode erleichtern damit einerseits das Verständnis der kritisch-psychologischen Vorgehensweise. Andererseits wird damit auch besser beurteilbar, ob es berechtigt ist, die funktional-historische Analyse der Kritischen Psychologie als aus dem besonderen Gegenstand zu rechtfertigende Spezifizierung der Methode der materialistischen Dialektik zu betrachten, oder ob es sich dabei bloß um eine willkürliche Neuschöpfung handelt, die sich zu Unrecht auf den wissenschaftlichen Sozialismus beruft. - Meine Kritik ist vom »Projekt Klassenanalyse« mit einer ausführlichen Gegenkritik »Klaus Holzkamp als Marxist-Leninist«3 beantwortet worden. Man mag durch Vergleich der beiden Texte beurteilen, ob meine Auffassung zutrifft, daß darin die von mir entwickelte Argumentation keineswegs entkräftet wird, sondern durch die »Polemik« hindurch die alten Fehler lückenlos reproduziert werden, so daß es sich hier eher um eine ungewollte neuerliche Bestätigung der Richtigkeit der Kritik handelt. 2 Westberlin (VSA) 1973. 3 In: Kleinbürgerlicher oder wissenschaftlicher Sozialismus?, Westberlin (VSA) 1974, S. 58 bis 136.
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Die dritte Abhandlung, »Die Uberwindung der wissenschaftlichen Beliebigkeit psychologischer Theorien durch die Kritische Psychologie«, in zwei Teilen innerhalb der Zeitschrift für Sozialpsychologie veröffentlicht (1977), ist in gewisser Hinsicht das Kernstück der ganzen Aufsatzsammlung. Hier sind nämlich in gedrängter Form die Besonderheit der Kritischen Psychologie gegenüber der traditionellen Psychologie in ihrer Gesamtheit, die Eigenart der funktional-historischen Ableitungsweise und die auf diesem Wege gemäß dem Prinzip der Einheit von Kritik und Weiterentwicklung zu gewinnenden neuen Erkenntnisse, die zugleich eine Stellenwertbestimmung und kritische Aufhebung einschlägiger traditionell-psychologischer Resultate ermöglichen, dargestellt, wobei gleichzeitig wesentliche Ergebnisse der bisherigen kritisch-psychologischen Forschung skizziert werden. Die letzte der hier abgedruckten größeren Arbeiten, »Kann es im Rahmen der marxistischen Theorie eine Kritische Psychologie geben?«, ist bereits als Vorabdruck im »Argument« (1977) und im ersten Band des Berichts über den Marburger Kongreß Kritische Psychologie (1977) veröffentlicht. Wenn er trotzdem auch noch in diese Sammlung aufgenommen wurde, so deshalb, weil er die in den anderen Arbeiten entwikkelten Darlegungen in wesentlicher Hinsicht abrundet. Hier wird nämlich der Unterschied und der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Subjektivität (subjektivem Faktor) und individueller Subjektivität sowohl zur Klärung der Stellung der Kritischen Psychologie innerhalb des wissenschaftlichen Sozialismus wie der Präzisierung der Besonderheit der kritisch-psychologischen Konzeption in Abhebung von anderen Positionen auseinandergelegt. Die Arbeit schließt damit sowohl an die Bischoff-Kritik wie an die Abhandlung über die Uberwindung der wissenschaftlichen Beliebigkeit psychologischer Theorien an, wobei die Bedeutung der subjekthaft-aktiven Komponente menschlicher Tätigkeit im Verhältnis zu ihrer Bestimmtheit durch die objektiven gesellschaftlichen Bedingungen auf der Ebene des gesellschaftlichen wie individuellen Lebensprozesses auseinandergelegt wird. Von den drei am Schluß des Sammelbandes publizierten kleineren Arbeiten ist die erste, »Verhaltenstheorie als letzte Bastion« (Zeitschrift für Sozialpsychologie, 1974), eine Kritik an dem Buch von H. Westmeyer: »Kritik der psychologischen Unvernunft«.4 Dieser Text könnte deshalb allgemeiner interessieren, weil hier psychologistische Gesellschaftsvorstellungen als notwendige Konsequenz der behavioristischen Verhaltenstheorie herausgestellt werden und dabei gezeigt wird, daß 4 Stuttgart (Kohlhammer) 1973.
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haltlose Spekulationen über gesellschaftliche Verhältnisse die notwendige Kehrseite der scheinbaren Strenge des methodologischen Behaviorismus sind. Die zweite kleinere Abhandlung ist der bisher unveröffentlichte Text eines Beitrags zu einer Podiumsdiskussion über die Bedeutung des »Kapital«-Studiums für die Einzelwissenschaften. Aus dem Titel »Das Marxsche >Kapital< als Grundlage der Verwissenschaftlichung psychologischer Forschung« geht schon hervor, daß hier der Versuch gemacht wird aufzuweisen, daß das »Kapital« nicht nur ein Werk über die »Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft« ist, sondern darüber hinaus in seinen inhaltlichen Erkenntnissen und seiner methodischen Vorgehensweise u. a. unabdingbare Voraussetzung für die Überführung der Psychologie aus ihrer vorwissenschaftlichen in ihre wissenschaftliche Phase. Die dritte kleinere Arbeit, »Berufsverbot im öffentlichen Dienst: Wer indoktriniert wen?« (Sozialistische Politik, 1977), ist das Manuskript eines auf einer Veranstaltung der »Aktionsgemeinschaften von Demokraten und Sozialisten« im Audimax der TU/Westberlin gehaltenen Beitrags. Dieser Text wurde deswegen in die Sammlung aufgenommen, weil er die Sicht auf den allgemeinen politischen Kampfzusammenhang eröffnet, in dem die demokratische Bewegung, und damit auch die Kritische Psychologie als ihr Teil, stehen. Die Problematik der Berufsverbote ist dabei hier in hohem Maße aktuell, weil eine Reihe von Kollegen, die an der theoretischen Ausarbeitung und praktischen Umsetzung kritisch-psychologischer Konzeptionen sich beteiligen, von Berufsverbots-Verfahren betroffen sind. Wie der Beginn des durch diese Aufsatzsammlung repräsentierten Arbeitsabschnitts durch eine Wende in der Entwicklung unserer Auffassungen, den Ubergang von der Kritik der bürgerlichen Psychologie zur (diese Kritik einschließenden) Kritischen Psychologie, gekennzeichnet ist, so läßt sich auch am Ende dieses Abschnitts eine Wende konstatieren, die nach außen durch den 1. Marburger Kongreß Kritische Psychologie markiert ist: Die Wende vom Schwerpunkt auf der Herausarbeitung kritisch-psychologischer Grundkategorien zum Schwerpunkt auf der Praxis - und zwar nicht nur der psychologischen Berufspraxis, sondern auch der politischen Praxis der demokratischen Bewegung. Diese neue Wende geht einher mit einer Veränderung der Koöperationsstrukturen der Kritischen Psychologie: Die Träger ihrer Entwicklung sind nun nicht mehr vorwiegend Angehörige des Psychologischen Instituts der FUB. Die kritisch-psychologische Position wird vielmehr immer stärker auch an anderen Orten in der BRD und im Ausland vertreten, so daß eine überregionale Zusammenarbeit notwendig wird. Diese Notwendigkeit findet ihren organisatorischen Niederts
schlag in der Gründung der »Arbeitsgemeinschaft Kritische Psychologie«. Ein wesentlicher Aspekt der weiteren Perspektive der Kooperation ist dabei durch den für 1979 vorgesehenen 2. Kongreß Kritische Psychologie über Arbeit und Arbeitslosigkeit in kritisch-psychologischer Sicht gesetzt. - Wie am Beginn des hier dokumentierten Abschnitts meiner wissenschaftlichen Tätigkeit eine umfangreiche Arbeit steht, das Buch »Sinnliche Erkenntnis«, so liegen auch am Ende dieses Abschnitts größere Arbeiten: einmal die zusammen mit Ute H.-Osterkamp verfaßte Analyse »Psychologische Therapie als Weg von der blinden Reaktion zur bewußten Antwort auf klassenspezifische Lebensbedingungen in der bürgerlichen Gesellschaft«5 und zum anderen ein Buch mit dem Titel »Theorie und Praxis der Kritischen Psychologie«, an dem ich noch arbeite. Beide Texte stehen in dem genannten allgemeineren Zusammenhang der Wende zum verstärkten Praxisbezug der Kritischen Psychologie. Mit dem Titel des vorliegenden Sammelbandes »Gesellschaftlichkeit des Individuums« soll zum Ausdruck gebracht werden, daß die Kritische Psychologie die Individuen nicht auf bloße Personifikationen ökonomischer Formen reduziert, aber auch nicht (wie die gängige, auch »kritische« Sozialisationsforschung psychoanalytischer Prägung) »der« Gesellschaft als das ganz andere gegenüberstellt, sondern die Gesellschaftlichkeit der Individuen sowohl als spezifisch menschliche biologische Entwicklungspotenz wie in ihrer Realisierung in jeweils konkrete gesellschaftliche Lebensbedingungen hinein analysiert. Damit ist sowohl die scheinbare Ungesellschaftlichkeit individueller Existenz »in« den privaten Formen bürgerliche Produktionsverhältnisse als historisch bestimmte, sich selbst negierende, Form individueller Gesellschafdichkeit zu begreifen, wie die Überwindbarkeit der individuellen Privatformen in Richtung auf subjekthaft-aktive Teilhabe der Individuen an der bewußten, unmittelbar-gesellschaftlichen Kontrolle und Gestaltung menschlicher Lebensverhältnisse auf ihre Realisationsbedingungen hin zu analysieren. Berlin-Lichterfelde, im Dezember 1977
. Klaus Holzkamp
5 In: Kappeler, Holzkamp und H.-Osterkamp, Psychologische Therapie und politisches Händeln, Frankfurt/M. (Campus) 1977, S. 148-293.
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Kunst und Arbeit - Ein Essay zur »therapeutischen« Funktion künstlerischer Gestaltung (1974)
1. Gesellschaftlicher Ursprung sinnlicher Symbolik Kunst hat mit Arbeit zu tun, und zwar nicht lediglich in dem eingeengten Sinne, daß Kunst Arbeit macht, der Künstler arbeitet und »Arbeiten« vorzuweisen hat, sondern in jenem umfassenden Sinne von Arbeit als der allgemeinsten spezifisch menschlichen Weise der Daseinserhaltung und -entfaltung, der Produktion und Reproduktion gesellschaftlichen Lebens. Arbeit als Gegenstände schaffende, »vergegenständlichende« Tätigkeit ist das zentrale Kennzeichen des Ubergangs von der bloß naturgeschichtlichen zur gesellschaftlich-historischen Entwicklung des Menschen. In dem Maße, wie der vormenschliche Hominide systematisch Werkzeuge mit verallgemeinerten Gebrauchswerten herzustellen begann, die Natur gemäß seinen generellen Zwecken planvoll eingreifend veränderte, wurde er zum »Menschen« im eigentlichen Verstände. Die evolutionäre, über den Erbgang vermittelte Progression wurde jetzt in der gesellschaftlich-historischen Progression durch eine Entwicklungsweise von neuer Qualität überformt: die Weitergabe, Kumulation, verallgemeinerter, gegenständlicher gesellschaftlicher Erfahrung. Die menschliche Entwicklung wurde damit quasi nach außen verlegt, aus dem Organismus hinaus in die gegenständliche, vom Menschen geschaffene Welt. - Die Teilhabe des jeweils einzelnen Menschen an der gesellschaftlich-historischen Entwicklung geschieht nicht, wie die Teilhabe des Tieres an der naturgeschichtlichen Entwicklung, primär über »vererbte« Merkmale und Funktionen, sondern, auf der Basis der gewonnenen biologischen Möglichkeiten, durch Aneignung der kumulierten gesellschaftlich-historischen Erfahrung. Jeder Mensch wird in dem Maße wirklich zum »Menschen«, als er sich die durch Arbeit vergegenständlichten, in einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe erreichten Potenzen menschlicher Lebensgestaltung und entfaltung in seiner individuellen Geschichte aneignet, damit zur Wirklichkeit werden läßt. Dieser Prozeß, da er als Aneignungsvorgang ein Prozeß der Verinnerlichung, »Interiorisierung«, der außerhalb des 17
Menschen, in vergegenständlichter Form gegebenen Resultate gesellschaftlicher Erfahrungskumulation ist, bedeutet zugleich die Reproduktion des Menschen als Menschen. Dem Menschen treten die Fähigkeiten, Eigenschaften, Wesenskräfte seiner Gattung in entäußerter Form als Resultate vergegenständlichender Arbeit entgegen, die er sich individuell verinnerlichend zu eigen macht, sie gleichzeitig durch seine auf der kumulierten Erfahrung der Gesellschaft aufbauende gegenständlichende Tätigkeit weiterentwickelnd. Die Entwicklung der vom Menschen in gegenständlicher Arbeit gemäß seinen Interessen und Bedürfnissen geformten Welt und die Entwicklung des Menschen selbst, Vergegenständlichung und Aneignung, sind also zwei Seiten des gleichen Prozesses, der gesellschaftlich-historischen Entwicklung. Indem der Mensch »auf die Natur außer ihm wirkt, und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur« (Marx, MEW 23, S. 192). In der vergegenständlichenden gesellschaftlichen Arbeit treten die Menschen als solche nicht nur in eine gegenüber dem Tier qualitativ neue Beziehung zur Natur, sie treten auch in eine qualitativ neue Beziehung zueinander. »In der Produktion wirken die Menschen nicht allein auf die Natur, sondern auch aufeinander. Sie produzieren nur, indem sie auf eine bestimmte Weise zusammenwirken und ihre Tätigkeiten gegeneinander austauschen. Um zu produzieren, treten sie in bestimmte Beziehungen und Verhältnisse zueinander, und nur innerhalb dieser gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse findet die Produktion statt« (Marx, MEW 6, S. 407). Menschliche Beziehungen als »Produktionsverhältnisse« sind nicht lediglich unmittelbares Aufeinanderbezogensein von Organismen in Annäherung, Angriff, Vermeidung, Flucht, sondern über ein Drittes, eine »gemeinsame Sache«, das Produkt als Vergegenständlichung verallgemeinerter gesellschaftlicher Ziele, vermittelt. Wie die gegenständlichen Arbeitsprodukte sich mit der gesellschaftlichen Entwicklung in ihren Funktionen für die gesellschaftliche. Lebensgestaltung gliedern und differenzieren, so gliedern und differenzieren sich die Produktionsverhältnisse als Strukturen gegenstandsvermittelt-arbeitsteiliger menschlicher Kooperation. Dabei bilden sich mit den verschiedenen historischen Stufen von Produktionsverhältnissen Klassenantagonismen unterschiedlicher Art, darin die Abtrennung der geistigen von der körperlichen Arbeit, heraus, bis hin zu dem durch komplexe selbstregulatorische Prozesse blind und naturwüchsig sich durchsetzenden Klassenantagonismus der bürgerlichen Gesellschaft, in welcher die kooperativ-arbeitsteiligen Strukturen durch die Trennung der Lohnarbeiter als unmittelbaren Produzenten von ihrem gesellschaftlichen Produkt widersprüchlich überformt und pervertiert sind. 18
Mit der gesellschaftlichen Arbeit, in welcher die menschlichen Beziehungen als Produktionsverhältnisse sich herausgebildet haben, hat auch die menschliche Kommunikation gegenüber der aus artspezifisch einklinkenden Signalbeziehungen zwischen »Sender« und »Empfänger« bestehenden, bloßen Biokommunikation eine neue Qualität gewonnen. Wie die Kooperation über das Arbeitsprodukt als Vergegenständlichung allgemeiner gesellschaftlicher Zwecke vermittelt ist, ist auch die menschliche Kommunikation über verallgemeinerte gesellschaftliche Inhalte vermittelt, damit zur symbolischen Kommunikation geworden. So werden in der Sprache als symbolischer Kommunikation nicht nur durch zwischenorganismischen Signalaustausch Verhaltensweisen ausgelöst, sondern man kann sich über ein Drittes, über eine als gesellschaftliches Ding in gegenständlich-allgemeiner Form allen zugängliche »gemeinsame Sache« verständigen. Indem die Sprache als Differenzierungsergebnis des Prozesses gesellschaftlicher Arbeit sich aus dem unmittelbaren kooperativen Produktionsvorgang herauslöst und verselbständigt, wird erst selbständiges, symbolisch allgemeines und verdichtetes Wissen, darin eigentliche Erkenntnis über die Welt und den Menschen als Voraussetzung der gesellschaftlichen Erfahrungskumulation auf immer erweiterter Stufenleiter möglich. Der im Sprachlich-Symbolischen verkörperte, jederzeit abrufbare gesellschaftliche Wissens- und Erkenntnisbestand schließt die Möglichkeit der reflektierenden Distanz des Menschen zur Welt und zu sich selbst, damit zum eigentlich menschlichen Welt- und Selbstbewußtsein ein. »Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein - Sprache ist das praktische, auch für andere Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein . . .« (Marx/Engels, MEW 3, S. 30). Da die Sprache wie das menschliche Bewußtsein als Differenzierungsergebnisse des umfassenden materiellen gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses notwendig ein Moment dieses Prozesses bleibt, ist auch die Struktur des menschlichen Bewußtseins ein Moment der Struktur menschlicher Produktionsverhältnisse, mithin durch diese bestimmt und sich mit ihnen verändernd. Mit dem Hinweis auf die Erweiterung der in Vergegenständlichung und Aneignung sich verwirklichenden gesellschaftlichen Erfahrungskumulation durch verselbständigte sprachlich-symbolische Vergegenständlichung und Aneignung, damit die Produktion, Weitergabe und Verwertung von objektiviertem Wissen und objektivierter Erkenntnis einer bestimmten Art in Prozessen historischer Größenordnung, ist indessen die durch Arbeit getragene gesellschaftliche Entwicklung noch in einem wesentlichen Moment unterbestimmt. In der über gegenständ19
lieh-verallgemeinerte gesellschaftliche Inhalte vermittelten symbolischen Kommunikation, die sich aus dem Prozeß arbeitsteiliger Kooperation ausdifferenziert, bilden sich nicht nur die sprachlichen, »diskursiven« Symbole, sondern - auf eine in den Anfängen schwer abklärbare Weise mit diesen zusammenhängend - bildliche »ikonische« Symbole heraus, durch welche besondere Formen der symbolischen Kommunikation erschlossen sind. Der Ursprung der ikonisch-symbolischen Kommunikation aus der vergegenständlichenden gesellschaftlichen Arbeit und der enge innere Zusammenhang zwischen ikonischer Symbolik und dem unmittelbar der gesellschaftlichen Lebenserhaltung dienenden Arbeitsprodukt sind stringent und auch der Tatsache gegenüber zu Geltung zu bringen, daß sich in späteren gesellschaftlichen Entwicklungsphasen beide Momente scheinhaft beziehungslos gegenüberstehen. Man muß davon ausgehen, daß die bildliche Symbolik letztlich so alt ist, wie die menschliche Arbeit, mithin der »Mensch« selbst. In den frühesten Formen der vergegenständlichenden Arbeit, gesellschaftlicher Werkzeugherstellung, sind der vergegenständlicht-verallgemeinerte, gesellschaftliche Gebrauchswert und das darin mitvergegenständlichte »bildliche« Moment noch weitgehend eine nicht auflösbare Einheit. Jedoch finden sich mit den ersten Stufen der Spezialisierung von Werkzeugen bildnerische Akzente bald ansatzweise verselbständigt, sowohl in einer bestimmten »Gestaltung«, die im unmittelbaren Gebrauchszweck nicht voll aufging, wie in auf die Werkzeuge gekratzten »Ornamenten«, die, welche »Bedeutung« ihnen immer zugekommen sein mag, ob sie nun besitzanzeigende Funktion, einen magischen Sinn oder Frühformen »ästhetischer« Ansprüche verkörperten, einen über die unmittelbar kooperationsrelevanten Merkmale hinausgehenden ikonisch-symbolischen Kommunikationswert hatten. Mit der Anreicherung der Werkzeugformen treten bald auch solche auf, deren Gebrauchswert man nicht anders denn als »Schmuck« charakterisieren kann, wobei offenbleiben mag, welchen gesellschaftlichen Stellenwert das »Schmücken« in seinen frühesten Ausprägungen gehabt hat. Eine neue Qualität gewinnt die ikonische Symbolik mit dem Hervortreten des darstellerischen Momentes, wie in den Höhlenbildern der steinzeitlichen Europäer des Aurignacien und Magdalenien, die ältesten vor wohl 20 000 Jahren entstanden, aber offensichtlich Endformen einer jahrtausendealten Entwicklung, deren Spuren verwischt oder uns nicht zugänglich sind: Büffel, bewegte Jagdszenen mit Bogenschützen, Studien über tierische Bewegungsfolgen in »futuristisch« anmutenden Synchrondarstellungen. 20
Diese Bilder repräsentieren einen hohen Stand der gesellschaftlichen Produktion, setzen einen Grad der Verallgemeinerung des gegenständlichen ikonischen Symbols und der symbolischen Kommunikation voraus, in denen tierische Daseins- und Kommunikationsweisen lange und tiefgreifend überwunden sind. (Man hat sich immer wieder und in langwierigen Versuchen bemüht, Schimpansen, als den höchstentwikkelten der heute lebenden nichtmenschlichen Primaten, das Malen beizubringen. Indessen: Die Schimpansen produzierten zwar in »täuschend echter« Malhaltung mit dem Pinsel mannigfache, wirre Spuren auf dem Papier, es fand sich jedoch - notwendigerweise - nicht der leiseste Ansatz eines bildiierischen oder gar darstellerischen Momentes. Ikonische Symbolik und Kommunikation setzen das Stadium gesellschaftlicher Arbeit, mithin den »Menschen«, voraus.) 2. Gesellschaftliche Funktionalität bildnerischer Tätigkeit Die Kennzeichen bildnerischer Tätigkeit als vergegenständlichende Arbeit sind offensichtlich: Bildnerische Tätigkeit ist eingreifende Veränderung der Natur gemäß verallgemeinerten menschlichen Zwecken. Die Produkte bildnerischer Tätigkeit sind Vergegenständlichungen, Entäußerungen menschlicher Fähigkeiten, Eigenschaften, Wesenskräfte. In der Aneignung der Resultate bildnerischer Tätigkeit verändert der Mensch zugleich seine eigene Natur. Bildnerische Produkte sind Momente der nach außen verlegten historisch-gesellschaftlichen Entwicklung, durch ihre Gegenständlichkeit, Verfügbarkeit, Dauerhaftigkeit als Träger verallgemeinerter Gebrauchswerte Voraussetzung eines bestimmten Aspektes der gesellschaftlichen Erfahrungskumulation, damit der progressiven »Selbsterzeugung« des Menschen als Gattung. Dennoch: Der Gebrauchswert bildnerischer Produkte ist nicht einfach aus den unmittelbaren Notwendigkeiten materieller gesellschaftlicher Lebenserhaltung ableitbar. Der dargestellte Büffel als Ergebnis vergegenständlichender Arbeit muß von Anfang an eine andere gesellschaftliche Funktion gehabt haben als die Arbeitsprodukte »Beil« oder »Gefäß«. Wie aber ist diese Funktion zu bestimmen? Die bildnerische Tätigkeit als Vorgang und Resultat ist, mit wachsender darstellerischer Ausprägung, wesentlich eine bestimmte Art von menschlicher Welt- und Selbsterkenntnis, eine Erkenntnisweise, die in ihrer Funktion von der sprachlich-symbolisch vermittelten Erkenntnis deutlich abzuheben ist. Schon im Arbeitsprodukt als solchem ist sowohl praktische Erkenntnis der Welt in den durch die Bearbeitung hervortre21
tenden und faßbaren Eigenschaften wie praktische Erkenntnis des Menschen selbst durch die gegenständliche Objektivation seiner menschlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten beschlossen. Im Produkt der bildnerisch-darstellerischen Tätigkeit ist ein bestimmter Aspekt dieser Erkenntnis nicht mehr Nebenergebnis des unmittelbar lebenserhaltenden Gebrauchszwecks, sondern verselbständigt und schließlich intendiert. Das Bild des Büffels an der Höhlenwand ist, und sei es noch so »naturgetreu«, keine Verdoppelung des Büffels, sondern als ikonisches Symbol Ergebnis hochgradiger abstrahierender Verarbeitung, Verallgemeinerung, Verdichtung sinnlicher Erfahrung. In der Bildlichkeit des ikonischen Symbols verbinden sich, anders als beim bloßen Verweisungs- und Repräsentanzcharakter des sprachlich-diskursiven Symbols, sinnliche Anwesenheit des Büffels und symbolische Verweisung auf ihn: der Büffel als Präsenz und Repräsentanz. Das ikonische Symbol ist quasi ein Zwischenreich zwischen der bloßen Anwesenheit nichtsymbolischer Gegebenheiten und dem bloßen Hinweischarakter des sprachlichen Symbols, liegt damit zwischen lediglich gedanklichem Operieren und der vollen sinnlichen Wirklichkeit des Welt- und Selbsterlebens, hat, indem es auch »ist« was es »bedeutet«, nicht die Eindeutigkeit, aber auch nicht die unsinnliche Abgelöstheit des sprachlichen Symbolsj nicht die Unmittelbarkeit, aber auch nicht die blinde Gegenwartsverhaftetheit des bloßen Lebensvollzuges. Das Bild des Büffels hat, anders als die wirklichen Büffel, als Produkt vergegenständlichender Arbeit die »Form der Ruhe« (Marx), es bleibt sich gleich, ist von vielen als dieses bestimmte anschaubar und in seiner Bedeutung auslotbar, als gegenständlicher Besitz der Gesellschaft Element gesellschaftlicher Entwicklung. (Die diskursiven Symbole gewannen diese Form der Ruhe erst viele Jahrtausende später, indem sie vor etwa 8000 Jahren erstmals als dauerhafte »Schrift« auftraten; dabei waren die ersten Schriften noch Mischformen zwischen ikonischen und diskursiven Symbolstrukturen, Bilderschriften; erst in weiteren Jahrtausenden entstanden allmählich Schriften aus lediglich diskursiven Symbolen mit reinem Verweisungscharakter.) Das Bild des Büffels, mag es immer Bestandstück magischer Praktiken und magischer Teilhabe gewesen sein, ist faktisch ein sinnlicher Begriffnes Büffels; hier tritt das Allgemeine des Büffel-Seins, das »Wesen« des Büffels, im Besonderen dieses präsenten Bildes sinnlich wahrnehmbar zutage. Das Bild ist verallgemeinertes Wissen über »Büffel« in der Form der Sinnlichkeit. Da hier das Allgemeine im Besonderen für die Wahrnehmung zutagetritt, sind die wirklichen Büffel nicht mehr ein ungreifbares, unbegreifbares Etwas. Sie sind jeweils ein Exemplar »des« 22
Büffels, wie er dort dargestellt ist, ein »Fall von« Büffel. Man weiß, was man von ihm zu erwarten und zu befürchten hat. Man hat ein Bild vom Büffel gemacht, nun kann man sich von dem Büffel »ein Bild machen«, ist über ihn »im Bilde«. Damit beherrscht man den Büffel, der sich vom Menschen kein Bild machen kann, auf eine neue Weise. Das Büffel-Bild ist nicht nur sinnlicher Begriff des »Büffels«, sondern damit und darin auch objektivierte, generalisierte Vergegenständlichung der Befindlichkeit, der Position des Menschen gegenüber dem Büffel. Wie die Ungreifbarkeit des Büffels, so ist auch etwa die Ungreifbarkeit der Angst vor dem Büffel im Bilde zurückgedrängt. Die Angst ist eine sinnlich erfahrbare Qualität des Büffel-Bildes, aber nicht als die aktuelle, überwältigende Angst vor dem Tier, das mich jetzt bedroht, sondern als eine trotz ihrer sinnlichen Wirklichkeit der Zufälligkeit entkleidete, gestaltete Angst, die im Begreifen und Beherrschen des Büffels begreifbar und beherrschbar wird. Die gültig gestaltete Ordnung des Bildes, in welchem der Inhalt der Welt- und Selbsterfahrung gleichwohl präsent ist, wirkt gestaltend, ordnend auf die Inhaltlichkeit des je besonderen menschlichen Erlebens zurück. Auch im Blick auf je mein Erleben ist so das Allgemeine im Besonderen erkennbar, Distanz, Ubersicht zu gewinnen. Als Arbeitsresultat ist das Büffel-Bild gesellschaftliches Ding, als ikonisches Symbol Bedeutungsträger der symbolischen Kommunikation zwischen Menschen. Es ermöglicht nicht nur die steuernde Wechselbeeinflussung, sondern Verständigung über das »Dritte«, die gemeinsame Sache, einen verallgemeinerten objektivierten Inhalt, aber nicht nur, wie das diskursive Symbol, in der Verweisung, sondern auch in der gemeinsamen Teilhabe. Kommunikation mittels bildlicher Symbole ist Verständigung in der Form der Versicherung gemeinsamer sinnlicher Erfahrung, intersubjektive Zugänglichkeit von Erlebnissen durch ihre gegenständliche, verallgemeinerte Gestalt, ihre Aufgehobenheit in Welt- und Selbsterkenntnis. Die Transformation von Erfahrung in kommunizierbare sinnlichsymbolische Erkenntnis entspringt nicht der Fähigkeit eines einzelnen, das Büffel-Bild ist nicht lediglich Ergebnis des »Könnens« eines bestimmten steinzeitlichen Malers. Hier ist vielmehr ein langer historischer Prozeß vorausgesetzt, in welchem der jeweilige Stand des ikonisch-symbolischen Darstellungsvermögens als gesellschaftliche Möglichkeit sich allmählich herausbildete. Nur auf der Grundlage der jeweils gesellschaftlich möglichen Darstellungsformen kann der einzelne Maler seinen Beitrag leisten, damit selbst zur Erweiterung derartiger gesellschaftlicher Möglichkeiten beisteuern. Wie das Werkzeug, die Axt, 23
so ist auch das Büffel-Bild Verkörperung der Kumulation gesellschaftlichen Wissens. Diese Kumulation ist jedoch hier eigener Art. Es handelt sich dabei um einen langen Prozeß der kumulativen Verwertung, Fortbildung der Resultate jeweils früherer Gestaltungsversuche, das Ausmünzen früherer gelungener Lösungen, ihre Umsetzung in der jeweils neuen Darstellungsaufgabe, wobei die Tradierung und laufende Verbesserung des technischen Wissens, wie man einen Büffel malt, von der inhaltlichen Vervollkommnung der Gestaltung selbst nicht zu trennen ist. Die Richtung einer derartigen Entwicklung ist - idealtypisch - so zu kennzeichnen: Beliebigkeiten, Zufälligkeiten, Schwankungen als Momente der bloßen Subjektivität der in die Gestaltung eingehenden Weltlind Selbsterlebnisse werden allmählich immer mehr überwunden zugunsten der Filtrierung der Erfahrung durch die Objektivität des Erkennens. Dadurch wird die faktische Gesellschaftlichkeit, die in jeder noch so subjektiven Erfahrung letztlich beschlossen liegt, in ihren wesentlichen Momenten verdeutlicht, der situativen Beimengungen entkleidet, damit intersubjektiv faßbar. Durch die Verwertung des Gestaltungswissens früherer Generationen ist der Maler in den Stand gesetzt, die zufälligen Modifikationen seiner individuellen Existenz zu transzendieren, durch seine persönliche »Sicht« hindurch zur »Gültigkeit« der Gestaltung vorzudringen. Diese Gültigkeit ist überindividueller Art, nicht als eine selbständige, von den wirklichen Menschen abgelösten Wesenheit, sondern als Summe dessen, was jeweils bestimmten Erfahrungen der Menschen einer Gesellungseinheit gemeinsam ist, als Abstraktion von den Zufälligkeiten der blinden Tatsächlichkeit aktueller Erlebnisse, als Herausarbeitung der gesellschaftlichen Züge des Erfahrenen in reiner, verdichteter, damit verbindlicher Form. Nur aufgrund eines so zu fassenden Prozesseis der gesellschaftlichen Erfahrungskumulation findet der Mensch in der bildlichen Gestaltung zwar sich selbst, die Subjektivität seiner Welt- und Selbstsicht wieder, aber nicht als beschlossen in seinem lediglich individuellen, zufälligen Lebensraum, sondern in ihren wesentlichen, allgemeingültigen, gesellschaftlichen Charakteristika. Nur so ist einerseits das jeweils eigene Erleben durch die Distanz des sinnlichen Begriffs hindurch erkennend zu strukturieren und andererseits damit gleichzeitig intersubjektive Verständigung durch Versicherung gemeinsamer sinnlicher Erfahrung möglich. Wie der Maler durch Verwertung der Summe gesellschaftlicher Gestaltungserfahrung in seiner Darstellung das Gesellschaftlich-Allgemeine im Besonderen des von ihm geschaffenen sinnlich-präsenten Produkts zum Ausdruck bringen kann, so kann der Betrachter, indem er die im Bilde vergegenständlichte Summe der Gestaltungserfahrung, 24
die in der Gültigkeit des Bildinhalts beschlossen ist, sich aneignen, das Gesellschaftlich-Allgemeine im Besonderen seiner individuellen Position und Befindlichkeit (in einer jeweils bestimmten Hinsicht) erkennen. (Dabei hat dieses Allgemeine als Gesellschaftlich-Allgemeines keinen überhistorisch-überzeitlichen Charakter, sondern ist abstrahiert und kondensiert aus gewissen Aspekten der Lebenstätigkeit einer historisch bestimmten Gesellungseinheit, mit bestimmten Produktionsverhältnissen und damit gegebenen Notwendigkeiten der gesellschaftlichen Lebenserhaltung und -erweiterung. Die gesellschaftlich gültige Verallgemeinerung und Bewältigung der Büffel-Erfahrung im Höhlenbild des Büffels steht im Zusammenhang der gesellschaftlichen Lebensformen und -notwendigkeiten steinzeitlicher Jägerkulturen.) Die für die Entwicklung gesellschaftlicher Gestaltungsmöglichkeiten spezifische Form der Erfahrungskumulation betrifft, wie schon deutlich wurde, nicht lediglich die bildliche Gestaltung, sondern auch die bildbezogene Wahrnehmung. Indem der Mensch sich die im Bild vergegenständlichte, verdichtete und verallgemeinerte gesellschaftliche Erfahrung aneignet, verändert sich auch seine eigene Wahrnehmung, akzentuiert sich in einer bestimmten Richtung als gesellschaftliche Funktion. Nicht nur beeinflußt der wirkliche gesehene Büffel das bildliche Symbol des Büffels, ebenso beeinflußt umgekehrt das angeeignete Büffel» Bild die Wahrnehmung des wirklichen Büffels. Der nach der Aneignung des sinnlichen Begriffs des Büffels wahrgenommene Büffel ist nicht mehr der gleiche wie für die vorgängige »rohe« Wahrnehmung, er ist jetzt ein durch die Verwertung sinnlich eingebundenen gesellschaftlichen Wissens in seiner Beziehung zum Menschen »begriffener« Büffel, wobei auch die eigene Befindlichkeit gegenüber dem Büffel in der Distanz des Begreifens faßbar wird. - Die »Sinne des gesellschaftlichen Menschen« sind »andre Sinne wie die des ungesellschaftlichen . . . Die Bildung der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte« (Marx, MEW Ergbd. 1, S. 541 f.). 3. »Kunst«r als Institution und künstlerische Gestaltung als allgemeines Moment menschlicher Lebenstätigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft Am Beispiel der Steinzeit-Malerei sollten bestimmte allgemeinste Züge verdeutlicht werden, die die Funktion der bildnerischen Tätigkeit als Moment gesellschaftlicher Lebenstätigkeit überhaupt kennzeichnen, unabhängig von den Verwandlungen und Komplizierungen dieser Funktion im Laufe der weiteren gesellschaftlich-historischen Entwick25
lung (wobei mit einer solchen Abstraktion natürlich auch schon von den historisch bestimmten Struktureigenarten der steinzeitlichen Kulturen abstrahiert wurde). Da nun, soweit für unsere Fragestellung nötig, die Funktion bildnerischer Tätigkeit im Hinblick auf die bürgerliche Gesellschaft konkretisiert werden muß, sei zunächst auf den ins Auge springenden Sachverhalt verwiesen, daß heute die bildnerische Tätigkeit und ihre Produkte als selbständige gesellschaftliche Veranstaltung, »bildende Kunst«, getragen von einem besonderen Berufsstand, den »Künstlern«, vorkommen. Gleichviel, wie sich die arbeitsteilig-spezialisierte »künstlerische« Tätigkeit im Laufe der gesellschaftlich-historischen Entwicklung herausgebildet hat: Die Geprägtheit der professionalisierten »Kunst« samt Kunsthandel, Kunstexpertentum etc. durch die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft ist offensichtlich; »Kunst« in diesem Sinne ist Ware, die »Künstler« haben hier eine »bürgerliche« Existenz, indem sie die Produkte ihrer voneinander unabhängigen Privatarbeiten in Konkurrenz mit anderen Produzenten auf dem Markte feilbieten. Die so zu charakterisierenden Reproduktionsbedingungen der »Künstler« müssen natürlich auch die Eigenart des »künstlerischen« Werks beeinflussen, und zwar um so stärker, je geringer die Chance ist, daß der »Künstler« ein vorgängig gemäß seinen künstlerischen Ansprüchen geschaffenes Werk auch auf dem Markt absetzt, so daß er, um zu leben, sein Produkt von vornherein auf den Markt hin zu konzipieren gezwungen ist; hinzu kommt, daß der Künstler sich bevorzugt an die »zahlungsfähigsten« potentiellen Käufer wenden muß, und dies sind (sofern nicht öffentliche Institutionen) Angehörige der Großbourgeoisie; so könnte in das »Kunstwerk«, in welchen Verkleidungen auch immer, der Klassenstandpunkt des Kapitals Eingang finden; etc. - Die durch die Studentenbewegung verschärften Zweifel an der Möglichkeit einer nichtkorrumpierten künstlerischen Existenz und Produktion in der bürgerlichen Gesellschaft, Resignation oder Verzweiflung angesichts der Widersprüche zwischen künstlerischen Erfordernissen und Erfordernissen des Marktes und kaum eindeutig ausschließbarer, da sich naturwüchsig durchsetzender, möglicher Einflüsse der Markterfordernisse auch auf progressiv gemeinte künstlerische Arbeit, sind also in objektiven gesellschaftlichen Bedingungen gegründet; um hier Klärungen herbeizuführen, sind jene gesellschaftstheoretischen Analysen der Funktion der »modernen Kunst« in der bürgerlichen Gesellschaft nötig, wie sie seither mit wachsender Häufung und Intensität versucht werden. - Allein: der damit angesprochene Aspekt der Funktion bildnerischer Tätigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft ist nicht der einzige, und für unsere Fragestellung keineswegs der wichtigste. 26
Bildnerische Tätigkeit tritt in der bürgerlichen Gesellschaft ja nicht nur als institutionalisierte »Kunst« auf und wird auch nicht nur von professionellen »Künstlern« betrieben. Jeder Mensch zeichnet und malt in seinem Leben, der eine mehr, der andere weniger, der eine »besser«, der andere »schlechter«. »Zeichnen« wird sogar in der Schule unterrichtet und zensiert, stellt also offenbar eine Qualifikation dar, die einem (allerdings schwer allgemein charakterisierbaren) gesellschaftlichen Bedarf entspricht. Die Anlässe und davon abhängigen Motive, aus denen ein Mensch zeichnet, sind mannigfacher Art : Man malt jemandem den Weg zu seiner Wohnung auf; man porträtiert in einer langweiligen Sitzung sein Gegenüber; man hilft seinem Sohn bei den Schularbeiten, indem man für ihn einen Karpfen aus dem Kochbuch durchpaust; man zeichnet ein weibliches Geschlechtsorgan auf die Wand der Klosettzelle. In jedem Falle: Die ikonische Symbolik, wie dargelegt, wesentliches Differenzierungsprodukt der »Menschwerdung« des Menschen durch gesellschaftliche Arbeit und eine unter allen Lebewesen nur dem Menschen als gesellschaftlichem Naturwesen zukommende Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeit, ist ein generelles Moment der Lebenstätigkeit auch des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft. Die immense menschliche Potenz, durch Verwertung gesellschaftlichen Gestaltungswissens Aspekte der Welt- und Selbsterfahrung im ikonischen Symbol zu einem sinnlichen Begriff zu verallgemeinern und zu verdichten, manifestiert sich auch in dem beiläufigsten und nebensächlichsten Produkt bildnerischer Tätigkeit. Im Hinblick auf derart allgemein gefaßte bildnerische Tätigkeit stellt sich die Frage nach der Kunst noch einmal in einem neuen Zusammenhang. Zweifellos kann auch Ergebnissen bildnerischer Tätigkeit ausgeprägter künstlerischer Wert zukommen, die nicht offiziell »Kunst« sind und nicht von professionellen »Künstlern« stammen. Das in der Konferenz hergestellte Portrait und die Zeichnung an der Klosettwand können künstlerische Qualität besitzen (wie »wahrscheinlich« dies ist, ist dabei hier unerheblich). Umgekehrt: Von professionellen »Künstlern« produzierten und auf dem Markt gehandelten Resultaten bildnerischer Tätigkeit muß nicht notwendig auch hoher künstlerischer Wert zukommen, sie können auch als Kunst lediglich vorgeschoben oder definiert sein. Hier sind auf die bildnerische Tätigkeit und ihr Resultat zwei Begriffe von »Kunst« und »künstlerisch« bezogen, wobei das im einen und im anderen Begriff Gemeinte zwar miteinander zusammenhängen, aber dennoch als selbständige funktionale Momente heraushebbar sind (und zur Vermeidung von Konfusion herausgehoben werden müssen). - Diese beiden Bestimmungen von Kunst können sogar in Widerspruch 27
miteinander treten, und sie stehen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft häufig in einem solchen Widerspruch. Das ist bereits in den Formulierungen angeklungen, die sich auf den Widerspruch zwischen künstlerischen Erfordernissen und Erfordernissen des Marktes bezogen. Die dort aufgewiesene Problematik entsteht überhaupt nur deswegen, weil die Höhe der künstlerischen Qualität eine dem bildnerischen Werk selbständig zukommende Eigenschaft ist, die mit einer marktgerechten Definition als »Kunst« in einem Widerspruchs Verhältnis stehen kann. Die künstlerische Qualität und ihre Abwesenheit sind keine diskreten Kategorien; künstlerische Qualität ist vielmehr ein Kontinuum: jeder bildnerischen Gestaltung kommt diese Qualität mehr oder weniger zu. Wo man den Schnitt zwischen (jetzt nicht nach den Markterfordernissen, sondern nach dem künstlerischen Wert bemessener) Kunst und Nichtkunst legt, das hängt von sehr variablen und wechselnden, auch klassen- und schichtspezifischen Gesichtspunkten ab (wobei es gleichgültig ist, ob man die gemeinte Qualität »künstlerisch« nennt, oder mit einer anderen Bezeichnung, wie »gut«, »richtig« oder »schön« zu treffen sucht). Einer bildlichen Gestaltung »schlechtweg jede« künstlerische Qualität abzusprechen, ist unvernünftig und unbegründbar. - Dies bedeutet in anderer Wendung, daß - da jede bildliche Gestaltung künstlerische Qualität besitzt - der künstlerische Charakter ein Wesensmerkmal bildnerischer Gestaltung überhaupt ist. Bildnerische Werke von hohem künstlerischen Wert haben mithin in besonders ausgeprägter, intensiver, reiner Weise bestimmte Eigenschaften, die jeder anderen bädlichen Gestaltung, wenn auch noch so abgeschwächt, undeutlich und verzerrt, auch zukommen. Da bildnerisch-künstlerische Tätigkeit nicht mit professionalisierter »Kunst«-Produktion und das Produkt bildnerisch-künstlerischer Tätigkeit nicht mit dem »Kunstwerk« als Ware zusammenfallen, ist mit der Herausarbeitung der bürgerlichen Existenz des »Künstlers«, des Warencharakters des »Kunstwerks« etc. das Problem der Funktion von Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft keineswegs schon hinreichend behandelt. Wenn man von diesem Aspekt abstrahiert (was nicht bedeutet, daß man ihn aus dem Auge verlieren dürfte), so bleibt immer noch die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion der bildnerischen Gestaltung als solcher und deren künstlerischer Qualität zu klären. Da, wie früher dargestellt, die ikonische Symbolik in ihrem Ursprung ein Differenzierungsprodukt gesellschaftlicher Arbeit ist, muß die bildnerisch-künstlerische Gestaltung ihre Beziehung zur Gesellschaft nicht erst herstellen; sie ist genau so genuin gesellschaftlicher Natur wie die 28
Arbeit überhaupt. (Der Umstand, daß die Kunst ihre essentielle Gesellschaftlichkeit nicht zu erkennen vermag, daß sie ihrem Bewußtsein nach von der Gesellschaft isoliert ist und demgemäß ihr »Gesellschaftsbezug« als von ihr abzutrennendes Problem erscheint, ist selbst Merkmal der historisch bestimmten Erscheinungsform der Gesellschaftlichkeit der »Kunst« in der bürgerlichen Gesellschaft.) Die Charakteristik der gesellschaftlichen Funktion bildnerisch-künstlerischer Tätigkeit unter bürgerlichen Lebensverhältnissen ergibt sich hinsichtlich allgemeinster Bestimmungen aus den dargestellten Notwendigkeiten gesellschaftlicher Lebenserhaltung und -entfaltung, die zur Herausbildung und Verselbständigung der ikonisch-symbolischen Kommunikation innerhalb des Arbeitsprozesses führten. Auch Resultate der bildnerischen Aktivität in der bürgerlichen Gesellschaft sind durch Verwertung kumulierter gesellschaftlicher Gestaltungserfahrung vergegenständlichte Verallgemeinerungen und Verdichtungen der Welt- und Selbsterfahrung des Menschen, wobei durch den sinnlichen Begriff hindurch das Gesellschaftlich-Allgemeine im Besonderen hervortritt, so eine spezifische Form von Erkenntnis und erkenntnisgeleiteter Verständigung möglich wird. Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich auch das Kriterium für die künstlerische Qualität von Ergebnissen bildnerischer Gestaltung in der bürgerlichen Gesellschaft global kennzeichnen: Der künstlerische Wert des Gestaltungsresultates ist um so größer, ein um so höherer Grad der Verallgemeinerung und Verdichtung menschlicher Erfahrung in der gegenständlich-sinnlichen Form des Produkts der Gestaltung gelungen ist, um so ausgeprägter also in der spezifischen Einheit von sinnlicher Präsenz und Repräsentanz, von unmittelbarem Betroffensein und begreifender Distanz, gesellschaftlich gültige Erkenntnis über den Menschen in Beziehung zu seiner Welt und zu anderen Menschen über die Verkörperung im Werk zur Erlebniswirklichkeit wird. (Dem Büffel-Bild an der Höhlenwand, wie wir es in seiner gesellschaftlichen Funktion interpretiert haben, kommt also hohe künstlerische Qualität zu, es ist von unserem Standpunkt aus ein Kunstwerk, gleichviel ob damals im gesellschaftlichen Prozeß etwas wie Kunst sich schon soweit abgehoben hatte, daß die steinzeitlichen Europäer sich einen verselbständigten Begriff davon machen konnten.) Die so bestimmten Merkmale künstlerischen Wertes sind es, die zwar in Gestaltungen hoher künstlerischer Qualität besonders rein und ausgeprägt hervortreten, aber in irgendeinem Grade, wenn auch u. U. kaum noch ausmachbar, jeder bildlichen Gestaltung eigen sind. Demgemäß ist es erlaubt und methodisch sinnvoll, wenn man über die ange29
gebenen globalen Funktionseigentümlichkeiten bildnerischer Gestaltung hinaus zu genauen Bestimmungen kommen will, am Kunstwerk (im Sinne eines Werkes mit hoher künstlerischer Qualität) anzusetzen. Was hier deutlicher zutage tritt und deshalb leichter faßbar wird, muß im Prinzip - wie immer verblaßt und verdreht - auch für bildnerische Gestaltungen mit geringerer künstlerischer Qualität gelten. Die gesellschaftliche Funktion des Kunstwerkes ist, wie früher dargelegt, nicht über- oder außergeschichtlicher Natur, sondern bezogen auf jeweils bestimmte gesellschaftlich-historische Verhältnisse. Unsere Bestimmung des künstlerischen Wertes als Grad der Objektivierung und Verdichtung gesellschaftlicher Erfahrung im sinnlichen Begriff etc. ist insofern abstrakt, als sie in dieser Allgemeinheit für alle Gesellschaftsformationen gilt, muß demgemäß im Hinblick auf die bürgerliche Gesellschaft konkretisiert werden. Die Geschichte des Menschen ist wesentlich eine Geschichte gesellschaftlicher Klassenantagonismen, in welchen auf jeweils verschiedene Weise die Masse der Menschen durch die herrschenden Klassen in der Entfaltung ihrer menschlichen Möglichkeiten unterdrückt waren, bis hin zur bürgerlichen Gesellschaft, in der durch den Antagonismus von Lohnarbeit und Kapital die direkte Unterdrückung einem hinter dem Rücken der Menschen sich durchsetzenden naturwüchsigen, sich selbstregulatorisch erhaltenden System gewichen ist, in welchem die werktätigen Massen von dem Produkt ihrer Arbeit getrennt, an der vernünftigen kooperativen Planung gesellschaftlichen Lebens gehindert und mit dem Fehlen sinnvoller Lebensperspektiven zur Verstümmelung und Verkümmerung ihrer menschlichen Potenzen verurteilt sind, wobei die bürgerliche Gesellschaft in den Mechanismen ihrer Strukturerhaltung gleichzeitig objektive Formen der Bewußtlosigkeit der Massen über ihre eigene Lage miterzeugt. Die menschliche Welt- und Selbsterfahrung, die in der künstlerischen Gestaltung verallgemeinert und verdichtet wurde, war also in historischer Zeit stets, wenn auch auf verschiedene Weise, geprägt durch den Widerspruch zwischen einer schlechten Wirklichkeit menschlicher Unterdrückung und Verkümmerung und der in dieser Wirklichkeit selbst als deren Negation beschlossen liegenden Vorstellung der vollen Entfaltung menschlicher Möglichkeiten aller Menschen, damit, mindestens implizit, einer klassenlosen »allgemeinen Gesellschaft«, in welcher das gesamtgesellschaftliche Interesse mit dem individuellen Interesse jedes einzelnen Menschen zusammenfällt und jeder einzelne seine menschlichen Potenzen zu voller schöpferischer Kraft und Daseinserfüllung entwickeln kann. Die im Kunstwerk objektivierte sinnlich-gegenständ30
liehe Erkenntnis der Lebenswirklichkeit des Menschen steht also als gültige Gestaltung notwendig im Spannungsfeld menschlicher Wirklichkeit und menschlicher Möglichkeiten, sie ist einerseits sinnlicher Begriff dessen, was der Mensch ist, andererseits nicht nur die »Darstellung«, sondern, über die Ausmünzung gesellschaftlich kumulierter Gestaltungserfahrung, gleichzeitig in einem bestimmten Aspekt die sinnliche Verkörperung dessen, was der Mensch sein könnte. Wie diese beiden Pole im gültigen Kunstwerk ins Verhältnis gesetzt sind, das hängt von vielen Momenten, wie etwa der inhaltlichen Eigenart der gestalteten Erfahrung, wesentlich aber auch vom gesellschaftlichen Entwicklungsstand ab: Solange die »allgemeine Gesellschaft« und die volle Entfaltung des Menschen objektiv außerhalb der Reichweite des in gesellschaftlicher Praxis zu Realisierenden lag, mußte die Verkörperung menschlicher Möglichkeiten notwendig etwas »Ideales«, »Jenseitiges« haben, die Gestalt der Tröstung des Menschen in seiner irdischen Bedrängnis annehmen, ihm als reine »Schönheit« entgegentreten. Die volle Wirklichkeit der schlechten menschlichen Gegenwart war hier in ihren gesellschaftlich-allgemeinen Zügen nicht gestaltbar, ihre Erfassung mit der Distanz künstlerischen Erkennens nicht zu vereinen. Dennoch war auch hier das Elend des Menschen, wie unmerklich auch immer, als Widerspruch in die Gestaltung einbeschlossen, die so eine Ahnung davon enthält und vermittelt, daß die Vollkommenheit des Kunstwerks symbolischer Ausdruck verschütteter menschlicher Möglichkeiten ist, so jenes objektive Gefühl der Sehnsucht als Charakteristikum der Erfahrung künstlerischer Schönheit hervorruft. Die Kraft und Wahrhaftigkeit der Schönheit des künstlerischen Werkes über die geschichtlichen Epochen hinweg erklärt sich daraus, daß in ihm, wenn auch in Negation historisch spezifischer Formen menschlicher Unterdrückung und Verkümmerung, die »allgemeine Gesellschaft« und die volle Entfaltung der menschlichen Gattungskräfte als Gegenbild jeder Art »bestehender Verhältnisse« sinnlich-symbolisch vergegenständlicht und erfahrbar sind. In der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer um den Preis der Ausbeutung der lohnabhängigen Massen erzielten ungeheueren Steigerung der Produktivkräfte, und damit dem, wenn auch in das isolierte Detailgeschick vieler einzelner zersplitterten, immensen Anwachsen der menschlichen Fähigkeiten, ist die »allgemeine Gesellschaft« nicht mehr bloßes Gegenbild, sondern in den umfassenden Kooperationsstrukturen der gesellschaftlichen Produktion schon angelegt und kann in politischer Praxis des Proletariats aus der gegensätzlichen Hülle privater Aneignung befreit und in bewußte kooperative Gestaltung gesellschaftli31
chen Lebens durch alle Menschen überführt werden. Demnach muß der Widerspruch zwischen der nunmehr anachronistischen Unterdrückung und Verstümmelung des Menschen unterm Kapitalverhältnis einerseits und der gesellschaftlich möglichen Entfaltung seiner schöpferischen Kräfte andererseits im gültig gestalteten Kunstwerk in viel höherem Grade manifest werden. Auch die scharfe und schneidende, verdichtende Herausstellung der geistigen Verelendung des Menschen und der Deformation seines Bewußtseins sind jetzt, unter der Perspektive ihrer greifbaren Uberwindbarkeit, künstlerisch möglich geworden, die »allgemeingesellschaftlichen« Potenzen des Menschen werden nunmehr auch aus ihrer radikalen Negation heraus im sinnlichen Begriff erfaßbar. Die künstlerische Schönheit als symbolische Verkörperung von Möglichkeiten schöpferischer Entfaltung und Daseinserfüllung des Menschen unter den Lebensbedingungen der »allgemeinen Gesellschaft« bleibt gleichwohl auch hier, wenn auch oft mehr implizit, Charakteristikum des gültigen Kunstwerks. Damit sind die Probleme der Funktion künstlerischer Gestaltung in der bürgerlichen Gesellschaft, die jeder ihrer Lebensäußerungen die Komplexität und Naturwüchsigkeit ihrer Widerspruchsverhältnisse aufprägt, kaum angedeutet, die vielfältigen, schwer identifizierbaren Bedingungen undiskutiert geblieben, unter denen künstlerisch gemeinte Gestaltung ihre »kritische« Kraft nicht entfalten kann, so etwa zur bloßen begrifflosen »Diagnose« des Gesellschaftlich-Faktischen verkommt, oder als Vorspiegelung der Wirklichkeit oder Möglichkeit der »allgemeinen Gesellschaft« unter bestehenden, kapitalistischen Verhältnissen der bürgerlichen Ideologie anheimfällt. Im Zusammenhang unserer Fragestellung brauchte indessen hier darauf nicht mehr eingegangen zu werden. 4. Die mögliche »therapeutische« Funktionalität künstlerischer Gestaltung und Rezeption Kirnst könnte nicht, wie dies heute in den verschiedenen Formen der Mal-, Kunst- oder Gestaltungstherapie geschieht, therapeutisch eingesetzt werden, wenn der gesellschaftlichen Funktion bildnerisch-künstlerischer Tätigkeit nicht als solcher ein »therapeutisches« Moment in einem sehr weiten Sinne, im Leben der Menschen diesseits aller veranstalteten Therapie, zukäme. Diese generelle therapeutische Funktion gilt es herauszuarbeiten, wenn die theoretische Grundlegung und praktische Umsetzung spezifischer Formen von Kunsttherapie in adäquater Weise möglich sein soll. 32
Die bildnerische Tätigkeit, die Schaffung ikonischer Symbolwelten, erwächst, wie ausgeführt, aus bestimmt gearteten Notwendigkeiten erkennender gesellschaftlicher Daseinsbewältigung, sie ist ein Teilaspekt der objektiven Erfordernisse gesellschaftlicher Lebenserhaltung und erweiterung. Bei individuumzentrierter Betrachtung, die allerdings nur auf dem Hintergrund der umfassenderen gesellschaftlichen Betrachtung sinnvoll ist, bedeutet dies, daß die bildnerische Tätigkeit und ihr Resultat auch für die erkennende Bewältigung des Daseins jeweils einzelner Menschen, sei es der »Gestaltenden«, sei es der »Wahrnehmenden«, funktional sein müssen; an dieser Funktionalität ist der mögliche »therapeutische« Aspekt zu verdeutlichen. Die vergegenständlichende gesellschaftliche Arbeit als solche ist, da Voraussetzung für die materielle Erhaltung wie die Erweiterung und Entfaltung gesellschaftlichen Lebens, gleichzeitig auch Voraussetzung nicht nur für die Erhaltung des materiellen Lebens, sondern auch für die Entwicklung und Entfaltung menschlicher Möglichkeiten jedes einzelnen. Individuelle Arbeit bedeutet - »allgemeingesellschaftlich« gesehen - in der Vergegenständlichung gleichzeitig die Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums möglicher Daseinserweiterung und -erfüllung. In der Arbeit entwickeln sich die Fähigkeiten, Eigenschaften, Bedürfnisse des gesellschaftlichen Menschen; in der Entäußerung seiner selbst durch Arbeit gewinnt der Mensch praktische Erkenntnis über sich in seiner Beziehung zu anderen, die menschlichen Verhältnisse klären und ordnen sich gemäß den sachlichen Notwendigkeiten der Kooperation. Die gesellschaftlichen Perspektiven der Arbeit sind mithin gleichzeitig die Lebensperspektiven des individuellen Menschen. - Auch in der bürgerlichen Gesellschaft ist die individuelle Arbeit Grundlage für die persönliche Selbstentfaltung und Erkenntnis des eigenen Selbst und seines Wertes an dem Beitrag, den man leisten kann. Da der gesellschaftliche Arbeitsprozeß hier indessen widersprüchlich überformt ist vom kapitalistischen Verwertungsprozeß, ist die Arbeit, indem zentrale Möglichkeit der persönlichen Daseinsentwicklung und Selbsterkenntnis, gleichzeitig die größte Last und Plage für die arbeitenden Massen. Die strukturbedingte Inhumanität der kapitalistischen Gesellschaft ist ja gerade dadurch wesentlich charakterisiert, daß hier der Masse der Menschen, indem sie von der Verfügung über ihre Arbeit und deren Produkt getrennt, von der vernünftigen kooperativen Gestaltung gesellschaftlichen Lebens abgeschnitten ist, die Perspektiven sinnvoller Lebensgestaltung radikal beschränkt sind, was gleichbedeutend ist mit einer Verkümmerung der Entfaltung menschlicher Wesenskräfte. - Individuelle Arbeit hat also, in ihren durch den Verwertungsprozeß pervertierten, 33
gleichwohl in der gegensätzlichen Hülle wirksamen »allgemeingesellschaftlichen« Momenten, in gewissem Sinne schon als solche einen »therapeutischen« Aspekt. Die Spezifik der möglichen »therapeutischen« Funktionalität der bildnerisch-künstlerischen Tätigkeit über die der Arbeit als solche hinaus erklärt sich aus der Besonderheit des symbolischen Charakters bildnerischer Gestaltungen, damit der Verselbständigung und Akzentuierung bestimmter Möglichkeiten der Welt- und Selbsterkenntnis, die in den nichtbildnerischen Aspekten der Arbeit nur implizit enthalten sind. Wenn von der möglichen »therapeutischen«, heilenden Wirkung der bildnerischen Tätigkeit wie der »bildenden« Kunst, von bildnerischkünstlerischer Aktivität und Rezeption als Moment der Hilfe für die individuelle Daseinsbewältigung die Rede ist, so ist eine bestimmte Vorstellung darüber mitgedacht, was hier »unbewältigtes« Dasein zu bedeuten habe und in welcher Richtung seine »Bewältigung« gehe. Die Eigenart (und auch die Begrenztheit) einer solchen Vorstellung ergibt sich daraus, daß man notwendig zu selektiven und akzentuierenden Heraushebungen über den Prozeß der Daseinsbewältigung kommt, wenn man ihn gerade unter dem Gesichtspunkt seiner möglichen »therapeutischen« Beeinflussung durch bildnerische Tätigkeit und Kunst betrachtet. - Bei unseren früheren andeutenden Kennzeichnung elementarer Charakteristika der gesellschaftlichen Funktion bildnerischdarstellerischer Tätigkeit und ikonischer Symbolik sind Aspekte herausgehoben worden, die, sofern man sie auf das individuelle menschliche Leben bezieht, deutlich werden lassen, welche Richtung (idealtypisch gesehen) die bildnerische Tätigkeit und Kunst in ihrer möglichen heilenden Wirkung hat, wie das unbewältigte Dasein bestimmt ist, zu dessen Bewältigung hier beigetragen werden könnte. Unbewältigtes Dasein, wie es einer Bewältigung durch Kunst (ihre Vor- und Nebenformen) bedürftig und unter Umständen auch fähig ist, ist Eingefangenheit in der scheinbaren Zufälligkeit der eigenen subjektiven Erfahrung, Ausgeliefertsein an den jeweils übermächtigen Augenblick, Begriffslosigkeit gegenüber einem als blinde Faktizität undurchdringlichen Welt- und Selbsterleben, Hilflosigkeit angesichts des eigenen Lebensprozesses als eines unfaßbaren und unbeeinflußbaren »Vorgangs dritter Person«. Der Mangel an Selbstverständigung bedeutet auch einen Mangel an Möglichkeit der Verständigung mit anderen; da man sich selbst nicht »begreift«, kann man sich auch nicht »begreiflich machen«; der Isolation durch scheinbare Eingeschlossenheit in meine bloß subjektive Eigenwelt entspricht das Erlebnis des Sich-Isolierens des jeweils anderen von mir; da ich »in mir stecke«, »nicht aus mir her34
aus kann«, mich nicht zu artikulieren vermag, deswegen den anderen nicht erreiche, bin ich auch selbst für den anderen unerreichbar; wie der eigene Lebenslauf fremd und zufällig »abläuft«, so erscheint auch das Miteinander und Gegeneinander in bezug auf andere Menschen als bloßer Gegebenheitszufall. So gefaßtes unbewältigtes Dasein ist Vereinzelung, Partialisierung, Zusammenhangsblindheit, Realitätsverlust, Vergangenheitslosigkeit, damit Zukunftslosigkeit, der Mangel an Einsicht in die objektiven Grenzen und Möglichkeiten der Perspektive eines vernünftig zu entwickelnden und zu entfaltenden persönlichen Lebens. Der bildnerisch, künstlerisch Tätige, indem er Aspekte seiner Weltund Selbsterfahrung in entäußerter, vergegenständlichter Form vor sich hinstellt, überwindet, in dem Maße, als er dabei kumulierte gesellschaftliche Gestaltungserfahrung (die wiederum eine Bewahrung und Verdichtung menschlicher Lebenserfahrung in sich einschließt) sinnvoll verwerten kann (das Maß einer solchen Verwertung ist - wie gesagt wesentliches Kennzeichen für den Rang von Kunstwerken) die bloße Subjektivität seiner Erfahrung. Er arbeitet an seiner Erlebniswelt, die faktisch in ihrer Subjektivität (über den Aneignungsprozeß vermittelt) gesellschaftlicher Natur, durch die jeweils bestimmten historisch-gesellschaftlichen Bedingungen geprägt ist, jene Züge heraus, die die Gesellschaftlichkeit, damit (bezogen auf historisch bestimmte Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft) Allgemeingültigkeit seiner individuellen Erfahrung auch sichtbar und begreifbar machen (was die unverwechselbare persönliche Charakteristik seiner Gestaltungs weise nicht etwa ausschließt; diese Charakteristik liegt vielmehr darin, in welcher Hinsicht und auf welche Weise gerade er an seiner Subjektivität allgemeingültige Züge gestaltend herausarbeiten kann). In der bildnerischen, künstlerischen Gestaltung kommt der Möglichkeit nach durch die Subjektivität des Schaffenden hindurch (die damit nicht ausgeklammert, sondern nur transformiert ist) in jeweils gewissen Momenten im Besonderen des sinnlich präsenten Werkes das Gesellschaftlich-Allgemeine zum gültigen Ausdruck. - Wenn man umfassendere Gesichtspunkte außer acht läßt, die Gestaltung als Vorgang und Resultat lediglich auf den individuellen Gestaltenden, Künstler, zurückbezieht, verdeutlicht sich als ein Nebenmoment ihre Bedeutung für die Bewältigung seines persönlichen Daseins die Besonderheit ihrer »therapeutischen« Funktion. In der Vergegenständlichung bildnerischer Gestaltung kommt es zu einem Prozeß, der dem mit der Aneignung verbundenen Prozeß der Interiorisierung gegenläufig ist, zur Exteriorisierung individueller Erfahrung. Die persönlichen Befindlichkeiten, »Probleme«, »Schwierigkeiten«, die durch den individualgeschichtlichen Aneignungsprozeß gesellschaftli35
eher Widerspruchsverhältnisse in der Interiorisierung zu scheinbar »bloß subjektiven« Erlebnistatbeständen geworden sind, werden, indem sie in der bildnerischen Vergegenständlichung in gesellschaftlich gültiger Weise gestaltet sind, die »Form der Ruhe« gewonnen haben, durch die Exteriorisierung so auseinandergelegt, daß ihr gesellschaftlich-allgemeiner Ursprung in symbolischer Form sinnlich erkennbar wird. Der Gestaltende steht in seinem Werk sozusagen sich selbst gegenüber, aber sich selbst nicht als bloß empirisches Subjekt in seiner je zufälligen Befindlichkeit, sondern in objektivierter Form; er ist so für dieses Mal und in jeweils dieser Hinsicht, indem er kumuliertes gesellschaftliches Gestaltungswissen für sich als Bewältigungswissen nutzbar gemacht hat, durch den in der Gestaltung verwirklichten sinnlichen Begriff, die sinnliche Reflexion des Gesellschaftlich-Allgemeinen im Besonderen seiner scheinbar zufälligen individuellen Existenz, der Uberwältigung durch den blinden, icheingeschlossenen, unfaßbaren, konturlos-bedrohenden Erlebensprozeß entkommen, hat Abstand, Einsicht, Ubersicht erlangt/Damit ist der bildnerisch-künstlerisch Gestaltende in seinem Werk (wenn auch immer nur partiell und temporär) aus seiner Isolation herausgetreten, hat sich im Selbstbegreifen auch anderen begreiflich gemacht, wobei hier mit »Selbst« nicht die bloße Individualität des einzelnen Gestaltenden, Künstlers, gemeint ist (eine solche Individualität wäre als Privatsache uninteressant, ihre Kundgabe künstlerisch wie »therapeutisch« unerheblich und außerdem gar nicht möglich): Die »Begreiflichkeit« des eigenen, im Werk objektivierten Selbst liegt in seinen durch Gestaltungswissen verdichteten gesellschaftlichallgemeinen Zügen. Die wahrnehmende Erfassung eines gültig gestalteten bildnerischen, künstlerischen Werkes durch Dritte ist immer und wesentlich ein Akt des Widererkennens. Nur, weil dem Wahrnehmenden die im Bild gestaltete Erfahrung »irgendwie« schon bekannt ist, kann der Bildgehalt zum Erkannten werden. Indessen: Die gültige Gestaltung ist, indem sie dem Wahrnehmenden bekannt ist, gleichzeitig auch unerhört neu, Gehalt und Gestalt des Bildes sind gleichzeitig vertraut und überraschend, überraschend in ihrer Vertrautheit. Der Wahrnehmende findet im bildnerischen, künstlerischen Werk Momente seiner scheinbar zufälligen, subjektiven Erfahrung, ob er das nun weiß oder nicht, in ihren gesellschaftlich-allgemeinen Zügen wieder, womit der Schein einer derartigen Zufälligkeit und Subjektivität mindestens implizit auch als solcher erkannt ist. Wie der Gestaltende, Künstler, durch Verwertung gesellschaftlich kumulierten Gestaltungswissens, »auf den Schultern« früherer Generationen stehend, im gültigen Werk über sich hinauswächst, so 36
sieht sich der Wahrnehmende hier einer Gestaltung gegenüber, die seine eigene individuelle Welt- und Selbsterfahrung, indem sie sie einschließt, gleichzeitig in einer neuen Qualität überschreitet, die einerseits sein persönlichstes individuelles Erleben in seinem Kern betrifft, andererseits ihm als überindividuelle Kraft entgegentritt. Hier hat der Eindruck der »metaphysischen«, »transzendenten«, »göttlichen« Natur der Schönheit großer Kunstwerke seinen Ursprung. An diesem Eindruck ist richtig, daß das Kunstwerk die Erlebnis- und Erkenntnismöglichkeiten des jeweils einzelnen Menschen überschreitet, ihm als einer Macht entstammend gegenübertritt, die größer ist als er; falsch ist jedoch, daß diese Macht menschliches Maß überhaupt übersteigt: Gemäß materialistischer Einsicht ist (wie aus früheren Darlegungen hervorgeht) der »übermenschliche« Charakter der künstlerischen Schönheit in Wirklichkeit die aus kumulierter gesellschaftlichhistorischer Erfahrung gewonnene, verdichtete symbolische Vergegenständlichung von Möglichkeiten der menschlichen Gattung. Der Einzelne sieht sich hier in dem »übermächtigen« Kunstwerk somit (ob nun mehr in positiver Verkörperung oder mehr aus der Negation) seinen eigentlichen eigenen Möglichkeiten konfrontiert, die unter den Bedingungen der Klassengesellschaft verstümmelt und verkümmert sind. Insoweit sich in der Schönheit des Kunstwerks gültig kristallisiert, bis zu welcher Vervollkommenheit des sinnerfüllten, reichen, schöpferischen Lebens sich alle Menschen entfalten könnten, kann es unter bestimmten Umständen auch eine Richtschnur für politisches Handeln sein, die auf die Schaffung gesellschaftlicher Bedingungen für die allseitige, ungebrochene Entfaltung aller Menschen gerichtet ist. Die mögliche »therapeutische« Funktion wahrnehmender Verarbeitung gültiger bildnerischer, künstlerischer Gestaltungen braucht nach dem früher Gesagten wohl nur noch angedeutet werden. Indem der Wahrnehmende im bildnerischen Werk Momente seiner eigenen Erlebniswelt in ihren gesellschaftlich-allgemeinen Zügen gleichzeitig wiedererkennt und entdeckt, wirkt die Struktur und Ordnung der gegenständlichen Gestaltung strukturierend und ordnend auf sein eigenes Erleben zurück. Diese rückwirkende Strukturiertheit und Geordnetheit ist dabei nicht abstrakter Natur, sondern generalisierte Herausgehobenheit und Akzentuiertheit wesentlicher Charakteristika des Sich-Befindens wirklicher Menschen unter bestimmten historisch-gesellschaftlichen Bedingungen. Die hier gewinnbare Distanz und Ubersicht sind also nicht inhaltsleere Distanz und Ubersicht als solche, sondern, gerade in der Erkenntnis und dem Aushalten der im Werk verkörperten Widersprüche zwischen »allgemeingesellschaftlichen« menschlichen MÖg37
lichkeiten und der konkreten, historisch bestimmten Lebenswirklichkeit, eine mögliche (wenn auch nicht hinreichende) Voraussetzung für die Einsicht in den gesellschaftlich-objektiven Ursprung der Widersprüche meiner Subjektivität, damit potentieller Faktor der bewußteren Fährung meines Lebens. Indem sich in der gültigen Gestaltung gesellschaftlich-allgemeine Charaktere meiner Erfahrung verdeutlichen, kann ich der Bedrängnis des blinden Lebensvollzuges meine Besinnung und Besonnenheit entgegensetzen. Die Proportionen rücken sich zurecht; mein individuelles »Schicksal« ist, da ich den Schein meiner Vereinzelung zu durchschauen, vielleicht seine Ursachen zu verstehen vermag, für mich nicht mehr einziges, bewußtseinserfüllendes Thema meines Lebensvollzuges. Meine über das bildnerische Werk vermittelte Selbstreflexion kann die begreifende Erkenntnis meiner wirklichen gesellschaftlichen Lage und der objektiven Forderungen gesellschaftlicher Praxis zwar als solche weder voll herstellen noch ersetzen, kann mich aber überhaupt erst wieder in die Verfassung eines potentiell Erkennenden bringen, mir die Fähigkeit zurückgeben, mich den Notwendigkeiten dessen, was mir zu tun bleibt und was ich zu tun habe, mit Gelassenheit zu unterstellen. Die mir in der bildnerischen Gestaltung in ihren gesellschaftlich gültigen Zügen entgegentretende Welt- und Selbsterfahrung beinhaltet zwar nicht schon selbst Solidarität im Kampf gegen die gesellschaftlichen Bedingungen der Verstümmelung menschlicher Möglichkeiten, vielleicht aber klärt sich hier die »Verständigungsbasis« darüber, was der Mensch sein könnte, ist mir durch die objektivierte Herausstellung der auch in ihrer Verkümmerung und Entstellung tatsächlichen menschlichen Potenzen die Artikulation dessen, was ich wirklich brauche und werden muß, vor mir selbst, also auch vor anderen und zusammen mit anderen erleichtert, damit eine die Icheingeschlossenheit meiner individuellen Daseins überschreitende gesellschaftlich sinnvolle Lebensperspektive verdeutlicht. So hätte das bildnerische, künstlerische Werk seine »heilende« Kraft für mich entfaltet. Die Selbstverständigung und Verständigung über das bildnerischkünstlerische Werk, also als ikonisch-symbolische Kommunikation, kann auch unter »therapeutischem« Aspekt in ihren Möglichkeiten mit der sprachlichen Kommunikation weder gleichgesetzt, noch als durch diese ersetzbar betrachtet werden. Sprache »ist« nicht, wie die bildliche Gestalt, zugleich auch die Wirklichkeit, die sie meint, das von ihr Bezeichnete liegt nur als ein Drittes außerhalb von ihr, muß mithin vorab einen bestimmten Grad von Ausgesonderheit, Strukturiertheit, Objektiviertheit haben, ehe es gegebenenfalls sprachlich zu »fassen« ist. Unsere idealtypische Darstellung der Richtung möglicher über die bildne38
tische Gestaltung gelingender Daseinsbewältigung schließt ein, daß durch die Schaffung wie wahrnehmende Verarbeitung des bildnerischen Werkes die Wirklichkeit der eigenen Welt- und Selbsterfahrung selber im Hervortreten ihrer gesellschaftlich-allgemeinen Züge strukturiert und objektiviert wird, womit man allererst in die Lage versetzt würde, sich der eigenen Erfahrung gegenüber in Überwindung des Zustandes blinder Involviertheit als ein potentiell diskursiv Erkennender zu verhalten, mithin »Sprache« auf sie zu beziehen. Die Vergegenständlichung und das Wiedererkennen der individuellen Erfahrunjg in Momenten ihrer gesellschaftlichen Allgemeinheit im bildnerisch-künstlerischen Werk hätte damit das Individuum erst einmal in den Zustand gebracht, sich nun auch einschlägig sprachlich zu artikulieren. Der Widerspruch zwischen den »allgemeingesellschaftlichen« Möglichkeiten menschlicher Entfaltung und der Verkümmerung dieser Möglichkeiten in der bürgerlichen Klassenwirklichkeit muß zunächst Erfahrungstatbestand sein, ehe er sprachlich gefaßt, gedanklich verarbeitet, in seinen wirklichen Ursachen begriffen und so Bewegungsmoment gesellschaftlicher Praxis werden kann. Eine (sicherlich nur eine) Form solcher Erfahrung ist die über das Kunstwerk vermittelte Erkenntnis dieses Widerspruchsverhältnisses durch die sinnlich-symbolische Erfassung von in je gegenwärtiger menschlicher Lebenswirklichkeit verborgenen und offenbarten Potenzen und Perspektiven des »allgemeingesellschaftlichen« Menschen. Die mögliche »therapeutische« Funktion bildnerisch-künstlerischer Gestaltung wäre so betrachtet eine Voraussetzung und Vorstufe sprachlicher Artikulation und Kommunikation (die selber wieder auf anderer Ebene »therapeutische« Funktionalität haben können). »Vorstufe« kann hier auch noch einen spezielleren Sinn haben: der Umstand, daß der ikonisch-symbolischen Kommunikation gegenüber der sprachlichen, was ihr an sinnlicher Unmittelbarkeit zukommt, an Eindeutigkeit abgeht, mag unter gewissen Bedingungen besondere »therapeutische« Möglichkeiten eröffnen. Die Vergegenständlichung von Momenten des eigenen Selbst im Bild wie die nur »deiktische«, hinweisende Kommunikation auf dem Wege über das Bild, sind für sich genommen noch mehrdeutig, können in der Offenbarung gleichzeitig Verschlüsselung des Gemeinten sein. Die Bemühung um Verständigung, die ja immer auch eine Uberwindung der Angst im Sich-Stellen unZur Kritik der politischen ökonomieKapital< angewandte Methode hinweisen« (78). Bi^choff zitiert aus der schon angeführten Engels-Passage in der »Rezension«, wo 94
u. a. ausgesagt ist: »Die Herausarbeitung der Methode, die Marx1 Kritik der politischen Ökonomie zugrunde liegt, halten wir für ein Resultat, das an Bedeutung kaum der materialistischen Grundanschauung nachsteht.«77 Sodann kommentiert der diese Stelle: »Wie diese Aussage über eine Anwendung der dialektischen Methode auf die ökonomische Wissenschaft vereinbar sein soll mit der These, daß die Dialektik im System der Kritik der politischen Ökonomie ihre theoretische Begründung erhalten hat und daß Methode überhaupt nur als Resultat dieser Untersuchung bestimmt werden kann, erscheint einigermaßen rätselhaft. Dieses Unbehagen wird noch verstärkt, wenn man die Bemerkungen von Marx aus dem Nachwort zur zweiten Auflage des >Kapital< hinzunimmt: >Die im »Kapital« angewandte Methode ist wenig verstanden worden, wie schon die einander widersprechenden Auffassungen derselben beweisen