Gattung und Gesellschaft: Zur Stellung des Individuums in einem unentrinnbaren Spannungsfeld [1 ed.] 9783205218807, 9783205218784


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German Pages [268] Year 2023

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Gattung und Gesellschaft: Zur Stellung des Individuums in einem unentrinnbaren Spannungsfeld [1 ed.]
 9783205218807, 9783205218784

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ANDREA C. HANSERT

GATTUNG UND GESELLSCHAFT Zur Stellung des Individuums in einem unentrinnbaren Spannungsfeld

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Andrea C. Hansert

Gattung und Gesellschaft Zur Stellung des Individuums in einem unentrinnbaren Spannungsfeld

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Da eine Förderung zur Deckung der anfallenden Druckkosten durch die etablierten Zuschussgeber nicht möglich war, habe ich meiner Mutter – Reingard Hansert – zu danken. Sie starb im Dezember 2022 kurz nach ihrem 91. Geburtstag und hinterließ ein kleines Sparvermögen, das mir, nach Teilung mit meinen Geschwistern, die Publikation meiner Arbeit ermöglichte. A.C.H.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Korrektorat: Ulrike von Düring-Ulmenstein, Köln Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: le-tex publishing services, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21880-7

Inhalt

Zusammenfassung ...............................................................................

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Einleitung............................................................................................. 11 Teil I Aszendenz und Aszendentenstelle: Jeder Mensch ein individueller Abkömmling der Gattung......................... Kapitel 1 Die menschheitsgeschichtliche Universalität der Aszendenz ..... Kapitel 2 Die individuelle Einmaligkeit der Aszendentenstelle ................ Kapitel 3 Historische Sonderentwicklung der Aszendenz und der Familienstrukturen in Europa ................................................ Teil II Sosein und Anderssein: Das Eindeutige und das Schillernde am Individuum................................ Kapitel 4 Das Sosein des Individuums mit der Zeugung......................... Kapitel 5 Das Geschlecht des Kindes ................................................... Kapitel 6 Krisen der Aszendenz .......................................................... Kapitel 7 Das „Ich“ ist spät und schillert .............................................. Kapitel 8 Tarnung, Adoption, Transgender: der unaufhebbare Split ......... Eine Zwischenbemerkung zur Problematik der künstlichen Intelligenz.... Teil III Die Spannung zwischen Gattung und Gesellschaft: generative Universalien versus gesellschaftliches Rollenhandeln ............ Kapitel 9 Begriffliche Bestimmungen der Kategorie der Rolle ................. Kapitel 10 Exkurs zur historischen Genese des gesellschaftlichen Rollenhandelns ....................................................... Kapitel 11 Die Grenzenlosigkeit der Bühnenrolle.................................. Kapitel 12 Gegenwart des Rollenhandelns............................................ Kapitel 13 Gesellschaft ist das, was uns zwingt, frei zu sein – Zur Dialektik des Rollenhandelns ....................................................... Teil IV Deszendenz: Zukunft, Vielfalt, Nicht-Gleichheit ............................. Kapitel 14 Die produktive Irrationalität der Deszendenz ........................ Kapitel 15 Die Population .................................................................. Kapitel 16 Einzigartigkeit und Gleichheit............................................. Kapitel 17 Fortpflanzung: Ursprung der Geschlechterpolarität und Kontrapunkt der Geschlechterparität............................................

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Inhalt

Teil V Jenseits von Gattung und Gesellschaft: Der Tod ............................ Kapitel 18 Der Tod kann nur das Sosein zerstören. Warum bin ich so?............................................................................................. Kapitel 19 Macht der Tod alle gleich? .................................................. Kapitel 20 … das Rätsel der Transzendenz … .......................................

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Literatur und Quellen ............................................................................ 257 Personenregister .................................................................................. 265

Zusammenfassung

Geburt oder Leistung? Herkunft oder persönliches Verdienst? Aristokratie oder Meritokratie? Historische Konfliktkonstellationen aus den Geburtsstunden der modernen Gesellschaft. Indem die entstehenden Leistungseliten (Akademiker, Kaufleute etc.) dem Geburtsadel den Rang abliefen, trugen sie zur Etablierung der modernen Gesellschaft bei. Zunächst zu einer „Gesellschaft der Männer“. Im 20. Jahrhundert forderten die Frauen verstärkt ein, ebenfalls Teil der Gesellschaft zu sein. Alle sollen die gleichen Chancen haben, egalitär – Geburt, Herkunft und Geschlecht für die Einnahme einer Position in der Gesellschaft, vor allem einer Berufsstellung, keine Rolle mehr spielen. Sind die Herkunft und „die Geburt“, letztlich die Ursprungs- und Zeugungstriade von Vater, Mutter und Kind, damit obsolet? Keineswegs. Das vorliegende Buch behandelt das Verhältnis von „Geburt“ (Anfang) und „Biographie“ (Sozialisation, Bildung, Leistung etc.), indem es diese Abfolge des individuellen Lebens in einen großen Kontext einreiht. Es betrachtet die Stellung des Individuums im Spannungsverhältnis der Sphären von Gattung und Gesellschaft. Gattung und Gesellschaft werden als zwei Ordnungen verstanden, die, bei aller empirischen Durchmischung, begrifflich und analytisch zu trennen sind. Während die Soziologie sich typischerweise auf die Betrachtung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft beschränkt, wird hier der Gedanke entwickelt, dass das Individuum dem Makrogebilde „Gesellschaft“ nicht als Vereinzeltes gegenübersteht, dass es (familiär gezeugt) vielmehr aus dem Makrogebilde „Gattung“ hervorgeht und zunächst einmal in ihr situiert ist, bevor es historisch sowohl wie biographisch auch in der Gesellschaft agiert. Die Gattung – die menschliche Gattung, genauer die menschliche Art, sprich der Homo sapiens – ist uralt. Sie wurzelt in der Evolution und ist Evolution. Die Gattung, die Art entwickelt sich seit Zehntausenden von Jahren in der hundertund tausendfachen Abfolge der Generationen: in der Beständigkeit von Familiengründung – Gattenwahl, Zeugen und Gebären – sowie mit dem Abgang der Generationen und der Individuen durch den Tod. Die Gattung manifestiert sich damit in der steten Neukombination leiblich engerer und weiterer Verwandtschaftsstrukturen (von der Kernfamilie bis zum Clan), in der Produktion von Ethnien und Populationen, in der permanenten Verästelung und Diversifikation einer kollektiven und kulturdurchdrungenen Körperlichkeit, die am Ende alle Menschen umfasst, die Gesamtheit der „Menschenfamilie“. Die (menschliche) Gattung – verstanden als universales Verwandtschaftsgebilde – ist diejenige Sphäre, in der Natur

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Zusammenfassung

und Kultur, Körperlichkeit und Sozialität sich durchmischen, ist die Permanenz des „Naturzustands“. Gesellschaft ist hingegen ein junges Phänomen. Ihr Zeitmaß ist nicht die Evolution, sondern die Geschichte. Sie ist unkörperlich, nicht organisch, eine abstrakte Struktur, die sich in bestimmten Institutionen wie Staat, Wirtschaft, Rechtssystem, Wissenschaft etc. auch materialisiert und die die Individuen dazu zwingt, sich in einer bestimmten Art und Weise zu verhalten und zu handeln, nämlich vor allem (wenn auch nicht ausschließlich) „zweckrational“. Wo die Generationen und die Individuen im Zyklus von Geburt und Tod kommen und gehen, ist sie (seit sie als spezifisch moderne Gesellschaft im 19. Jahrhundert entstanden ist) das Überdauernde und historisch sich Entwickelnde. Doch hat sie Vorläufer zurückgehend bis in die frühesten Anfänge der Kultur und der Geschichte der Menschheit. Der Begriff der Gesellschaft soll hier denkbar weit gefasst werden und ganz allgemein als die Vielfalt der übergreifenden Sozialorganisationen verstanden werden, in der die Menschen lebten und leben: von den kleinen archaischen Verbänden bis zu der heutigen vielfach global strukturierten Moderne. Schließlich die dritte Sphäre: der Mensch als einzelnes Individuum. Das Individuum ist zunächst einmal klar umrissen durch den singulären einzigartigen Leib bzw. Körper. Dieser Körper wurde (erstens) von seinen Eltern gezeugt und geboren, (zweitens) er ist geschlechtlich und er ist (drittens) sterblich. Damit hat er seinen Ursprung in der Gattung und gehört dank seiner Eltern und seiner weiteren Vorfahren an einer genealogisch genau bestimmbaren und damit je einzigartigen Position, die hier mit dem Begriff der „Aszendentenstelle“ bezeichnet werden soll, der Gattung, der gesamten Menschenfamilie an. Mit der Spanne, die sich zwischen Zeugung bzw. Geburt und dem Tod erstreckt, erscheint neben der Evolution und neben der Geschichte somit ein dritter Zeitstrahl, der sich am Individuum festmacht: die gerichtete Abfolge der Ontogenese und der Biographie. Im Lauf der einzelmenschlichen Biographie kommt es beim größten Teil der Individuen dazu, dass sie sich im heterosexuellen Akt fortpflanzen und in Gestalt ihrer Kinder auch die Gattung als Ganzes weiterführen. Bei der Fortpflanzung sind die Geschlechter polar aufeinander bezogen; und bei der Fortpflanzung ist es ebendiese Polarität, die für das einzelne Individuum zur unüberwindbaren Grenze seines Handelns wird. Diesseits und jenseits der Sphäre der Fortpflanzung ist allerhand möglich (siehe LGBTIQ***). Schließlich aber blüht allen, die leben, der (leibliche) Tod. Für diese drei am Individuum haftenden Merkmale – Aszendenz (d. i. die Abstammungsverwandtschaft), Geschlecht und Tod – wird hier der Oberbegriff der „generativen Universalien“ verwendet. Mit Aszendenz und Geschlecht ist jedes Individuum unentrinnbar mit der Sphäre der Gattung verhakt, während der Tod die unweigerliche Lösung dieser Verhakung bedeutet. – Zugleich aber wird das historisch moderne Individuum im Lauf seines Lebens durch Bildung und Ausbildung (durch Leistung und „Meriten“) zu einem Kulturträger. Es nimmt in der Gesellschaft eine

Zusammenfassung

bestimmte Position bzw. verschiedene Positionen – gesellschaftliche Rollen, vor allem eine Berufsrolle – ein, ist damit auch Teil der Gesellschaft und spielt seinen Part in der Entwicklung der Gesellschaft (der Kultur, der Wirtschaft, der Politik, des Rechts, der Wissenschaft etc., aber auch in der Geschichte). – Doch das Individuum hat nicht nur einen Körper, repräsentiert leiblich damit die Sphäre der Gattung, und es ist nicht nur Teil der Gesellschaft, ein gesellschaftlicher Rollenträger, es hat auch ein Inneres, ein „Ich“: leibliches Sich-selbst-Spüren, Bewusstsein, vor allem ein Bewusstsein seiner selbst, Geist, Psyche, Sexualität, ästhetisches und religiöses Empfinden. Das menschliche Individuum ist der Schauplatz, auf dem die Sphäre der Gattung und die Sphäre der Gesellschaft – Verwandtschaft und Körper hier, Rolle dort – sich begegnen und ineinander, miteinander und gegeneinander agieren. Und zugleich hat es mit seinem Inneren, dem Ich und der Seele, etwas ganz und gar Eigenes, das in seiner Eigenart von Gattung und Gesellschaft zwar nicht unberührt und unbeeinflusst bleibt, es aber zur Autonomie und zur Transzendenz befähigen. In diesem Inneren, nämlich mit der Frage, wie es sich zur Endlichkeit verhält, liegt schließlich auch der Kern der Todesproblematik.

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Einleitung

Die „Gattung“ – hier im engeren Sinne verstanden als die Gesamtheit der Art Homo sapiens in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – hat evolutionsgeschichtlich eine sehr tiefe Dimension. Von den Anfängen des Homo sapiens bis heute schätzt man die Gesamtzahl aller je lebenden Exemplare dieser Art auf eine Zahl zwischen 90 und 110 Milliarden. Alle heute lebenden Menschen – im November 2022 wurde die Zahl von acht Milliarden überschritten – entstammen genealogisch dieser Gesamtheit und haben einen gemeinsamen Ursprung in jener Urpopulation von Homo sapiens, die vor mehreren Tausend Generationen in mehreren Wellen – beginnend in kleinen, nicht überlebenden Kontingenten vor mehr als 200.000 Jahren, dann erneut vor etwa 60.000 Jahren, diesmal erfolgreich – aus Afrika ausgewandert ist und seit prähistorischer Zeit die gesamte Erde besiedelt hat. Dank dieses gemeinsamen Ursprungs, von dem alle heute lebenden Menschen über ihre Vorfahren ausgehen, bilden sie in ihrer historischen, gegenwärtigen und zukünftigen Vielzahl von Stämmen, Ethnien, Völkern, Nationen und Kulturen unter- und miteinander ein universelles Verwandtschaftssystem, das sich mit dem Begriff „Menschenfamilie“ oder eben schlicht dem der „Gattung“, nach biologischer Systematik noch präziser: der Art, bezeichnen lässt. Die Gattung entfaltet sich von ihren Ursprüngen in der Natur- und Evolutionsgeschichte an durch Fortpflanzung überall kontinuierlich in Generationszyklen und ist stets auf Zukunft ausgerichtet. Jedes einzelne Individuum hat mit seinen Eltern und mit seiner ferneren Abstammungsverwandtschaft – der Aszendenz (= Verwandtschaft in aufsteigender Linie) – seine Wurzeln in diesem universellen Menschheitsgebilde, und jedem Individuum ist darin eine bestimmte, je einzigartige und unwiederholbare Position zugewiesen, die man durch seine jeweilige familiäre Situation genealogisch genau bestimmen kann: von bestimmten Eltern und bestimmten Voreltern, an einem bestimmten Rang in einer eventuell vorhandenen Geschwistersequenz. Diese Position, die für jedes Individuum einmalig ist, wird hier die Aszendentenstelle genannt – womit in mancher Hinsicht eine Vertiefung und Präzisierung des von Hannah Arendt angeführten Paradigmas der Natalität mit all seinen existenzphilosophischen Implikationen1 erreicht wird: Natalität (zur Geburt gehörend) wird durch Generativität (zur Zeugung gehörend) fundiert. Durch seine Aszendentenstelle ist jedes menschliche Individuum in diesen universellen verwandtschaftlichen Bezügen grundlegend und empirisch bzw. genealogisch konkret bestimmbar in einmaliger Gestalt verankert. Indem

1 Ludger Lütkehaus hat die verstreut in Hannah Arendts Gesamtwerk entwickelten Gedanken zu Natalität zusammengetragen, vgl. ders. (2006), hier v. a. in Kapitel III.

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Einleitung

es sich durch eine (wie auch immer bestimmte) Wahl mit einem heterosexuellen Geschlechtspartner vereinigt und Kinder – Deszendenz (= Verwandtschaft in absteigender Linie) – zeugt, gestaltet es dieses universelle Verwandtschaftssystem gemeinsam mit seinem Partner/seiner Partnerin zugleich neu und entwickelt es durch die Hervorbringung von Nachkommen an einer bestimmten Position in die Zukunft hinein weiter. Das Verwandtschaftssystem hat abstrakt-räumlichen Charakter; das Individuum ist umgeben von einem Verwandtschaftsraum. Die Bezeichnungen Aszendenz und Deszendenz sind Richtungsbezeichnungen: oben, hinaufsteigend, wo die Eltern und die früheren Vorfahren, unten, hinabsteigend, wo meine Nachkommen sind; die Verwandten neben mir – die Geschwister, die Cousins – sind Seitenverwandte, vor allem ältere auf der einen und jüngere auf der anderen Seite. Die Verwandten können ihre Positionen räumlich nicht gegenseitig tauschen. Wenn man sich gemäß der Konvention darauf einigt, dass die Eltern oben sind, dann sind die Kinder unten (bei anderer Konvention umgekehrt). Ebenso sind konventionell die älteren Geschwister (von mir aus gesehen) rechts, die jüngeren links positioniert, nicht beide nur auf einer Seite. Auf Stammtafeln, wie sie historisch insbesondere bei Adelsdynastien in großem Umfang praktiziert wurden, ist der Verwandtenraum oft großdimensioniert protokolliert und auch graphisch sichtbar als Raum dargestellt. Verwandtschaften sind immer relative Raumbeziehungen: von einem bestimmten Individuum zu einem anderen oder zu einer Gruppe von anderen Individuen. Klassisch die Aszendentenstelle: Wohl ist sie einzigartig, in ihrer Einzigartigkeit aber nicht absolut, sondern eben nur relativ – relativ zu den Eltern, zu den Voreltern und zu den Geschwistern. Im Zuge der Familiengründung (Deszendenz) wird der Verwandtenraum ständig neu gruppiert und neu formiert. Wie das Neue, das Kind, darin eine genuin nie dagewesene Durchmischung des Alten „verkörpert“, wird nachfolgend in Kapitel 1 exemplarisch, aber mit universalem Geltungsanspruch anhand der Habsburger Familiengeschichte zur Zeit von Kaiser Leopold I. (1640–1705) entfaltet. Überhaupt sei, um die Kategorie „Gattung“, wie sie hier verwendet wird, voll zu verstehen, dringend empfohlen, eben dieses Kapitel sowie das unmittelbar nachfolgende, das die individuelle Einmaligkeit der Aszendentenstelle behandelt, zu lesen. In diesem Zusammenhang avanciert dann auch die Kategorie des Geschlechts konsequenterweise zu einem Zentral- und Dauermotiv der gesamten nachfolgenden Ausführungen. Geschlecht (Sex) ist die Voraussetzung für die Fortpflanzung; selbstredend ist es zugleich mehr als nur dieses (Gender etc.). Durch Gezeugt- und Geborenwerden, Familiengründung (Fortpflanzung) und Tod ist das Individuum in eine (quasi) unendliche Abfolge von Generationen und damit in die Gattung eingebunden. Parallel dazu entfalten sich die Sphären der Kultur und Gesellschaft, in die heute das Individuum ebenso eingebunden ist. Hat das Individuum als Gattungswesen ein evolutionsgeschichtlich altes Erbe, so ist

Einleitung

es als Objekt und Akteur der modernen Gesellschaft ein historisches und soziales Wesen. Die Evolution war vorgeschichtlich in einem langen Prozess in das Stadium der Menschheitsgeschichte eingetreten. Erst der moderne Mensch, der Homo sapiens, war in der Lage, jene avancierten Kulturtechniken auszubilden, die die Grundlage dafür bildeten, dass (sehr spät erst in seiner Entwicklung) „Gesellschaft“ überhaupt möglich wurde. Wurden der aufrechte Gang, rudimentärer Werkzeugund Feuergebrauch, Vorformen des Sprechens etc. evolutionsgeschichtlich früh auch schon von anderen Arten der Gattung Homo beherrscht, so blieb es allein dem Homo sapiens vorbehalten, eine Sprache zu entwickeln, die über jenes Rufen, Gestikulieren und Zeichengeben, das auch in der höheren Tierwelt anzutreffen ist, hinausgeht; eine Sprache mit Syntax, die in der Lage ist, zu erzählen und so symbolische und fiktive Welten zu entwerfen, dank derer das sprechende Subjekt sich von sich selbst zu distanzieren und damit sich selbst zu begreifen und dank derer es mit anderen Subjekten kommunizieren und sozial zu interagieren vermag. Die menschliche Sprache ist etwas völlig Neues in der Evolutionsgeschichte. Zwar kann nur ein Lebewesen sprechen, das von der Evolution körperlich – d. h. hinsichtlich seines Sprechapparats, seiner Hirnstrukturen, seiner genetischen Ausstattung (FOXP2-Gen) etc. – entsprechend ausgestattet worden ist, und das gilt nur für den Homo sapiens. Aber diese evolutionsgeschichtlich entstandene Ausstattung des Körpers ist nur eine (materielle) Bedingung für das Sprechen. Mit der Sprache tritt jedoch die Welt des Geistes in Erscheinung, die als solche nicht auf Evolution zu reduzieren, die ein Autonomes ist; und für diese Welt eigenen Ursprungs gilt sinnbildlich dann eben doch: „Im Anfang war das Wort.“ – und dass es das „Wort“ sei, durch das (kulturell und geschichtlich!) alles geworden sei. Die Etablierung der Sprache und der mit ihr gegebenen Geistigkeit in der Evolutionsgeschichte bewirkt, dass der Sprechende, eben der Mensch und nur der Mensch, sich unweigerlich jener Trias bewusst wird, die schon in der biblischen Erzählung vom Sündenfall benannt wird: Als Sprechender erkennt der Mensch sich selbst – sich selbst als ein Wesen, das (erstens) sterblich ist, das (zweitens) weiß, was gut und böse ist, und das (drittens) seine Scham bedeckt. In der Frühgeschichte des Menschen erscheinen daher Grablegen, die das deutlichste Zeichen für ein Bewusstsein der Endlichkeit sind. Auch Kultur – zunächst primitive Verzierungen, dann erste Kunstgegenstände, Musikinstrumente, schließlich die Höhlenmalereien entstehen. Die Organisation des Zusammenlebens im Clan und in der Familie wird komplexer. Die Bedeckung der Scham, der Sexualität, signalisiert eine Scheidung des Inneren und des Äußeren beim Individuum: Das Innere konstituiert sich, indem es verborgen und damit intim wird, während „der Andere“, der Mitmensch, damit als Teil der Außenwelt erkannt wird. Aus Individuen werden damit Personen, die durch eine sozial bestimmte Interaktion miteinander verkehren. Erst sehr spät in der 40.000 Jahre alten Geschichte des Homo sapiens, des sprechenden Menschen, während der er zum größten Teil im bloßen „Naturzustand“

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Einleitung

lebt, in dem er aber auch schon die Höhlenmalereien produzierte, kommt es im Rahmen der „neolithischen Revolution“ vor 10.000 bis 12.000 Jahren – heute eher als länger andauernder evolutionärer Prozess gedeutet – zur Verdichtung von Kultur2 : Sesshaftigkeit, Übergang von der Jagd zum Ackerbau, dem Bau erster Städte etc., dann, vor allem, zur Erfindung der Schrift – zuerst vor 5500 Jahren bei den Sumerern, später unabhängig davon auch bei den Ägyptern, in China und bei den Maya. Mit der Schrift werden Gedanken ablösbar vom Sprecher. Geist wird (sprachlich) objektiviert, wird auf Dauer gestellt und überdauert die endlichen Menschen (was im Ansatz auch schon mit der wesentlich älteren Höhlenmalerei gegeben war). Die Schrift ist ein besonders signifikantes Beispiel für die Differenzierung von Gattung und Gesellschaft (respektive Kultur): Wie Sprache in ihr zu einem „rein“ geistigen Phänomen wurde, indem sie sich vom Sprechen, das (auch) eine körperlich-leibliche Aktion und an den menschlichen Körper (die Stimmbänder etc.) gebunden ist, gelöst hat. Die Hieroglyphen der Ägypter hatten objektiv Sinn, Bedeutung und Inhalt, blieben den Menschen der Nachantike über mehrere Dutzend Generationen hinweg bis in die Frühe Neuzeit hinein aber rätselhaft, da sie sie nicht mehr zu lesen und zu verstehen vermochten. Erst die Sprachforscher des frühen 19. Jahrhunderts konnten sie mithilfe des kurz zuvor entdeckten Steins von Rosette wieder entziffern. Mit den Zeichensystemen der Minoer und anderer untergegangener Kulturen gibt es bis heute Schriften, die nicht entziffert sind. Aber wir wissen, dass es Manifestationen menschlichen Geistes sind; wir unterscheiden sie von fossilen Überresten früherer Menschen. Beides haben menschliche Individuen hinterlassen: Die Schrift wurde von einem Menschen zu Lebzeiten geschrieben, das Fossil ist ein posthumes Überbleibsel seines Körpers. Objekt aus der Kultur (der „Gesellschaft“) hier, Objekt aus der Gattung dort. Von besonderem Interesse ist die Verdichtung der „Kultur“ zur „Gesellschaft“. Schon die Antike sowie einzelne fernöstliche und überseeische Gebiete vor der Selbstentdeckung der Welt zur Zeit des Kolumbus kannten komplex organisierte Großreiche mit ausgeprägten staatlichen Strukturen und Institutionen. Recht wird seit Jahrtausenden nicht nur gesprochen, sondern auch niedergeschrieben, kodifiziert und systematisiert. Techniken der Naturbeherrschung und der Güterproduktion beginnen sich zu entwickeln. Aus lokalen polytheistischen Religionen entwickeln sich die wenigen großen Weltreligionen, die große Teile der Menschheit zu vergemeinschaften vermögen. Mit der „Moderne“, d. h. der Entstehung der bürgerlich akzentuierten Gesellschaft im Europa des 19. Jahrhunderts, werden neue Stufen dieser Vergesellschaftung des Kulturellen erreicht. Zwischen den Menschen entstehen Beziehungen und Beziehungsgeflechte jenseits von Familie und Verwandtschaft, indem sie den „Gesellschaftsvertrag“ schließen. Damit gehen sie

2 Vgl. Jürgen Kaube (2017).

Einleitung

jenseits ihrer familiären und verwandtschaftlichen Bindungen „gesellschaftliche“ Beziehungen ein. Diese sind abstrakt, formal und kalt: Mussten Handelspartner im Mittelalter ihre gemeinsame Unternehmung noch durch Heirat der Schwestern oder Töchter des Geschäftspartners oder Königreiche ihre Bündnissysteme durch Verheiratung ihrer Prinzen und Prinzessinnen sichern, so genügt jetzt ein juristisch belastbarer Vertrag; und war die Macht über die Länder in der Geschichte dynastisch gegründet, so hängt sie nun allein am zeitlich begrenzt auszuübenden staatlichen Regierungsamt, das durch eine geschriebene (oder auch informell praktizierte) Verfassung definiert und legitimiert ist. Die moderne Gesellschaft, insbesondere ihr institutionell verdichteter Kern, die moderne Staatlichkeit, ist eine hochabstrakte, körper- und leibferne Makrostruktur. Sie fungiert im Wesentlichen als ein unendlich komplexes Konglomerat von Rollen, insbesondere von Berufsrollen, nur indirekt durch die Personen, die sie jeweils einnehmen. Die verwandtschaftlichen und familiären Bindungen werden in die Privatheit abgedrängt, die als ein eigenständiger Bereich des Alltags dank solchen Abgedrängtwerdens historisch überhaupt erst entsteht. „Gesellschaft“ kommt vor allem auch darin zum Ausdruck, dass die Menschen (sowohl in historischer wie jeweils in biographischindividueller Hinsicht) damit beginnen, außerhalb familiärer und privater Sphären in einer bestimmten Art und Weise zu handeln – nämlich indem sie handeln, d. h. den Austausch mit anderen praktizieren „ohne Ansehen der Person“, sprich: ohne Würdigung ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer Religion, ihres Wertesystems und dergleichen; das heißt, Erledigung der in einem bestimmten Kontext anliegenden Probleme (in einer Verwaltung, einem Betrieb, einer Institution etc.) nach rein sachlichen Kriterien. Solches Handeln wird möglich und nicht nur möglich, sondern ist definitiv erforderlich, wenn „Gesellschaft“ sich historisch in Gestalt entsprechender Institutionen herausgebildet hat: So hat man zu handeln in einer nichtdynastischen parlamentarischen Regierungsform (aber auch in typisch modernen Formen von Diktatur), in einer rationalen, rechtlich basierten Organisation des Staates mit einer sachlich arbeitenden Verwaltung, in einem Rechtssystem, das alle gleich behandelt, in Universitäten, an denen nicht nur wie in der Geschichte Theologie, Philosophie und Jura, sondern vor allem auch Erfahrungswissenschaft betrieben wird, in Museen, die die Kunst als autonomes Phänomen kenntlich machen, in Bildungseinrichtungen, die sich an alle richten, in kapitalistischen Unternehmen (insbesondere in Aktiengesellschaften), in der Anonymität globaler Marktbeziehungen, in modernen Vereinen und Assoziationen (im Gegensatz zu altständischen Korporationen) und vielen weiteren Institutionen, die „modern“, d. h. nach den entwickelten Kriterien der „Gesellschaft“ strukturiert sind. All diese kulturellen Objektivationen und Institutionen entfalten in ihrer systemischen Geschlossenheit gegenüber den einzelnen Individuen und ihrer Gesamtheit – der Gattung – heute ein Eigenleben; sie bleiben, dauern an und entfalten sich „historisch“, während die Menschen im ständigen Wechsel der Generationen durch

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Einleitung

Geburt und Tod seit ihren Ursprüngen in der Evolution kommen und gehen. „Kultur“ hat sich – historisch einmal entstanden – in Gestalt der Gesellschaft gegenüber den Individuen als ein relativ selbstständig organisierendes System (Autopoiesis) so weit verselbstständigt, dass man von „Gattung“ und „Gesellschaft“, „Gattung“ und „Kultur“ analytisch als zwei relativ getrennten Ordnungen oder Sphären sprechen kann. Beide durchdringen sich unweigerlich, und beide Sphären stehen (besonders in der Moderne) doch zugleich in unauflösbarer Spannung zueinander. Die Herausbildung des „Gesellschaftsvertrags“ ändert die Eigenart des „Naturzustands“ (Gattung, Evolution), ohne dass dieser aber je verginge. Das kalt Abstrakte der modernen Gesellschaft – ihre „formale Rationalität“, wie Max Weber es nannte – hat logisch keine Grenze und ist im Prinzip universalistisch. Handeln „ohne Ansehen der Person“ kann naturgemäß nur gegenüber „allen Personen“, wer auch immer sie sind, gelten oder es gilt überhaupt nicht. Zugleich aber sind die Personen immer konkret, körperlich, familiär eingebunden, historisch geprägt, kulturell spezifisch geformt etc. Die abstrakte Logik der Gesellschaft muss durch solche Individuen exekutiert werden, und diese Individuen kommen via Herkunftsfamilie (ihrer Aszendenz) biographisch nun einmal alle aus der Sphäre der Gattung. „Gattung und Gesellschaft“ muss man daher als eine unauflösliche, in sich gespannte Einheit denken. Diese Einheit wird einerseits im einzelnen Individuum erkennbar, da es unweigerlich in beiden Sphären verankert ist; sieht man es zum anderen in kollektiver Dimension und Perspektive, bekommt man diese Einheit in ihrer je historischen Konkretion und Erscheinung wohl am besten mit einem Begriff wie dem der „Nation“ zu fassen. Im Gegensatz zu Ethnie, Bevölkerung und Population ist die Nation eine historisch späte Erscheinung; sie tritt erst mit der Moderne signifikant in Erscheinung. D. h., wenn „Gesellschaft“, auch im Sinne von modern strukturierter Staatlichkeit sich hinlänglich entfaltet hat und große Segmente der Gattung als „Volk“ im Sinne von Staatsvolk zu organisieren vermag. In der Nation sind beide durchaus antagonistischen Sphären – Gattung und Gesellschaft – zu einem Ganzen zusammengefasst. In diesem Zusammenhang ist die oft gehörte Rede von der Familie als einer „Keimzelle“ aufschlussreich. Aus Sicht des hier entwickelten Paradigmas ist es falsch, wenn verschiedentlich gesagt wurde, die Familie sei die „Keimzelle der Gesellschaft“ oder auch die „Keimzelle des Staates“. Gesellschaft und insbesondere der Staat sind in ihrer modernen Ausgestaltung, wie erwähnt, aber eben gerade nicht organisch-zellenhaft, sondern abstrakt, systemisch, rollenhaft strukturiert. Richtig wäre es zu sagen, die Familie ist die „Keimzelle der Gattung“. Sofern im Begriff der Nation nun aber beide Sphären – Gesellschaft/Staat und Gattung –

Einleitung

integriert scheinen, ließe sich von der Familie auch als der „Keimzelle der Nation“ sprechen, zumal der natalistische Aspekt zur Etymologie dieses Wortes gehört.3 Nun aber ein erster Blick auf die Spannung, die innerhalb des großen Rahmens der Nation zwischen den beiden Sphären Gattung und Gesellschaft herrscht. Das (moderne) menschliche Individuum ist unauflöslich in beiden Ordnungen zugleich angesiedelt. In seiner körperleiblichen, seelischen, geistigen und sozialen Gesamtheit ist das Individuum derjenige Ort, an dem die Spannung zwischen ihnen, die Spannung zwischen Gattung und Gesellschaft, zur Entfaltung und zum Austrag kommt. Es gibt drei Merkmale, in denen die Universalität der Menschenfamilie (die Gattung) körper- und leibgebunden im einzelnen Individuum repräsentiert ist; zwei wurden hier bereits angeführt: erstens die Aszendenz (die Abstammungsverwandtschaft) und zweitens das Geschlecht (und zwar Geschlecht als Grundlage der Fortpflanzung und Ursprung der Deszendenz), als drittes ist schließlich der Tod zu nennen, der das Leben des Individuums – das Soma zum einen, die tatsächlich absolvierten Sequenzen seiner Biographie zum anderen –, darüber hinaus aber auch die Lebensdauer der gesamten Generation, der es angehört, beendet. Für diese drei Merkmale des individuellen Lebens – Aszendenz, Geschlecht und Tod – hat die Autorin (damals noch Autor) in ihrem 1998 erschienenen Buch „Welcher Prinz wird König?“ den Oberbegriff generative Universalien eingeführt.4 Die generativen Universalien, und zwar Aszendenz und Geschlecht, bilden die unlösbaren Verhakungen des Individuums mit der Gattung, mit der gesamten Evolution – und sei es noch so stark „vergesellschaftet“ –, während der Tod diese Verhakung universell wieder löst. Ihre je individuelle Ausprägung ist das, was in der gesamten Lebensdauer des einzelnen Gattungsexemplars, von der Zeugung bis zum Tod, identisch und „eindeutig“ bleibt, ist eine unhintergehbare Bedingung der Möglichkeit von personaler „Identität“. An späterer Stelle (siehe Kapitel 5) wird dafür der Begriff der Apriori-Individualität entwickelt. Dagegen ist das Individuum in die Sphäre der Gesellschaft durch etwas völlig anderes eingebunden, nämlich durch die Einnahme und die Exekution abstrak-

3 Um hier aber gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Natürlich sind viele Nationen durch Zuwanderung geprägt, ganz besonders klassische Einwanderungsländer wie die USA in ihrer historischen Entwicklung: hier seit Beginn der europäischen Immigration und der Marginalisierung der dort seit menschheitsgeschichtlichen Urzeiten ansässigen indigenen „first nations“. Der seit dem 16. Jahrhundert stattfindende Einwanderungsprozess, der bald auch aus anderen Erdteilen erfolgte, ist dort somit seit zehn bis fünfzehn Generationen in Gang. Die meisten Menschen, die zum heutigen Zeitpunkt in den USA leben, sind dort geboren und zwar in Familien, die dort schon seit Generationen ansässig sind, sodass der natalistische Aspekt demographisch gegenüber dem neu-migrantischen klar dominiert. Insofern lässt sich nach einer länger andauernden historischen Etablierung der spät zugezogenen Bevölkerung auch für eine originäre Einwanderungsgesellschaft, wie es die der USA ist, mit Recht von der Familie als Keimzelle der Nation sprechen. 4 A. Hansert (1998).

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ter Rollen, in besonderer Verdichtung und biographischer Gravitation durch die Einnahme einer Berufsrolle. Wie der Rollenbegriff in diesem Zusammenhang verwendet wird – nämlich mit einem Akzent auf der Identität des Rollenhandelns bei Austauschbarkeit der handelnden Person –, ist in Teil III ausgeführt. Das Rollenhandeln im hier verstandenen Sinn entfaltet sich in Distanz und in Spannung zu den generativen Universalien ‒ in Distanz also zur Herkunft (Aszendenz) des Individuums, in Distanz zu seiner Geschlechtlichkeit und i. d. R. in (zeitlicher) Distanz zu seinem künftig auf es zukommenden Tod. In der gesamten Biographie des modernen Individuums ist normalerweise nur die Spanne des vitalen Erwachsenenlebens die Periode, in der es in erhöhtem Maße rollenhaft, insbesondere berufsrollenhaft handelt, in Kindheit und Alter hingegen nicht oder nur in abgemilderter Form, etwa in schnell vorübergehenden situativen Kontexten (wie etwa Käufer/Käuferin im Supermarkt), die biographisch keine Relevanz haben, oder in spielerischem Ausprobieren wie beim Kind. Der Anfang in der Aszendenz und das Ende im Tod ist von dieser Phase des rollenhaften Handelns und der rollenhaften Handlungsfähigkeit im Rahmen der Gesellschaft hingegen vollkommen entfernt und davon nicht einholbar. Die generativen Universalien kann man in der empirischen Realität nicht in Rollen auflösen, denn: Man kann nicht rollenhaft von jemand anderem abstammen, als von denen, die einen gezeugt und empfangen haben, man kann sich nicht rollenhaft fortpflanzen und man kann nicht rollenhaft sterben ‒ außer (wie Kapitel 11 aufzeigen wird) in der fiktiven Realität des Theaters. Zwischen diesen nicht zu kappenden Verankerungen des Individuums via generative Universalien in der Menschenfamilie bzw. in der Gattung zum einen, den abstrakten Rollen in der Gesellschaft zum anderen besteht eine unauflösbare Spannung. Gattung und Gesellschaft können nicht zur Identität kommen. Die Hoffnung auf eine „gesellschaftliche Menschheit“, die Marx in der zehnten Feuerbachthese geäußert hat, jene Utopie des Kommunismus, dass Gattung in Gesellschaft überführt werde und in ihr aufgehe, dürfte ebenso unerfüllbar sein, wie etwa zeitgenössische Spielarten des Posthumanismus und Transhumanismus (Ray Kurzweil etc.), die daran glauben, die Personalität des Menschen werde in eine künstliche Superintelligenz (die kategorial der Sphäre der „Gesellschaft“ zuzuordnen wäre) transformiert, man könne als individuelle Person auch unter Aufgabe seines Körpers und damit unter Kappung seiner Bindung an die „Gattung“, tatsächlich weiterleben. Auch ist von hier her Einspruch gegen bestimmte Spielarten des „Sozialkonstruktivismus“ zu erheben, die das Individuum entkörperlichen, damit die Sphäre der Gattung negieren und es zur Gänze auf die Seite der Gesellschaft zu ziehen versuchen. Ebenso proklamiert das berühmte „Manifesto for Cyborgs“ (1985) von Donna Haraway, die einer Hybridisierung von Mensch und Maschine das Wort redet, der Cyborg sei in der Lage, den „Naturzustand im westlichen Sinne“ – also Evolution und Gattungsbindung –, aber auch die sexuelle Reproduktion zu überspringen. All dies sind utopische Entwürfe, zu denen hier nüchtern und an der Empirie orientiert ein

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Gegenmodell entwickelt wird: Nein, die Gattung lässt sich nicht auflösen oder in Gesellschaft überführen; dem Spannungsfeld zwischen beiden Sphären, welches der Mensch mit seinem Modernwerden überhaupt erst hervorgebracht hat, kann er zu Lebzeiten nicht entrinnen, da seine Verhakungen in der Gattung – darauf ist zu beharren – unlösbar sind. Vorab sei hier eine weitere Bemerkung zur Stellung des Individuums zwischen Gattung und Gesellschaft gemacht. Das Individuum ist eine an sich autonom lebensfähige Einheit: Körperlich hat es einen Anfang (Zeugung/Geburt) und ein Ende (Tod), mit der Haut, der Gestalt, dem Gesicht ist es als ein Innen von einem Außen abgegrenzt und in dieser äußeren Erscheinung den anderen als individuelle Person erkennbar. Es ist nicht einfach nur eine Funktion und Ableitung der Gattung hier, der Gesellschaft dort. Etwas Eigenständiges, quasi eine dritte Sphäre ist mit seiner Existenz gegeben. So wie Mutter und Vater mit ihrem Kind etwas Neues, Einmaliges hervorbringen, das mehr ist als eine bloße Funktion oder Addition der mütterlichen und väterlichen Eigenschaften, so ist auch konzeptionell das Individuum etwas Eigenes zwischen Gattung und Gesellschaft. Gattung und Gesellschaft sind schon vorhanden, wenn ein einzelnes Individuum in die Welt bzw. „zur Welt“ kommt; sie sind ihm gegenüber ganz empirisch präexistent und sie werden es, zwischenzeitlich historisch verändert, auch überdauern, wenn es durch Tod wieder abgeht; daher entsteht das Individuum nicht auf einer Tabula rasa, es entsteht in einem ganz konkret angebbaren – d. h. sowohl historisch und kulturell-geographisch wie familiär bestimmten – Kontext. Für das Familiäre (die „Gattung“, die Aszendenz) wurde hier bereits die Kategorie einer räumlichen Struktur eingeführt, nämlich die eines Verwandtenraums. Aber auch die Seite des Gesellschaftlichen ließe sich räumlich fassen: das Historische als „Zeit-raum“; beim Geographisch-Kulturellen, auch Physikalischen ist die Räumlichkeit ohnehin anschaulich: die Situiertheit an einem bestimmten Ort auf der Erde, einem „Territorium“. In solch einer bestehenden dreifachen Räumlichkeit – zeitlich-historisch, kulturräumlich, verwandtschaftlich – kommt das einzelne Individuum also „zur Welt“. Gleichwohl hat es höchste Evidenz, dass „Gattung und Gesellschaft“ für das Sosein und das Schicksal des Individuums nicht die alles bestimmenden Determinanten sind. Im Mutterleib bereits manifestiert sich das Individuum als etwas potenziell selbstständig Drittes. Mit der Zeugung respektive der Konzeption, der Vereinigung von Sperma und Ovum entstehen sein „Körper“. Der biologische Ursprung des Körpers liegt hier, in seiner ersten Zelle, in der Zygote, die damit zugleich auch die Aszendentenstelle und die biologische Grundlage des Geschlechts (Sex) „verkörpert“. Dann aber, wenn das Zellwachstum fortgeschritten, der Embryo bzw. Fötus sich erfolgreich in der Gebärmutter eingenistet und erste Gestalt angenommen hat, wird dieses Körperliche oder dieser rudimentäre Körperorganismus „beseelt“. Eine „Entität“ wird wachgerufen, die – und das erst in später Folge – im Wesentlichen nur subjektiv erfahrbar ist. Empirisch und von außen ist sie nur

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bedingt greifbar, vielleicht in Form von messbaren Hirnströmen und gewissen beobachtbaren körperlichen Reaktion; viel später erst, nachgeburtlich dann, durch verschiedene Ausdrucksgestalten. Es bleibt letztlich rätselhaft, wie es zu diesem Ereignis der Beseelung kommt. Mit ihr aber wird der „Körper“ zugleich auch zum „Leib“. Mit Leib und Seele entsteht im (menschlichen) Körper ein Innenraum, die rudimentäre Form der cartesianischen Res cogitans. Während der Körper mehr ein Objektives ist, bezeichnet die Kategorie des Leibes das, was wir am Körperlichen subjektiv spüren: Lust, Schmerz, Hunger, Durst, Müdigkeit etc. Der Leib ist „die Natur, die wir selbst sind“, so Gernot Böhme5 , in Abgrenzung zur Natur außer uns. Eine mittlerweile klassisch gewordene und weiterführende Definition hat Hermann Schmitz in seiner umfassenden Leibphilosophie gegeben. Eingerückt und kursiv gesetzt (und so soll es daher auch hier zitiert werden) heißt es bei ihm: Leiblich ist das, dessen Örtlichkeit absolut ist. Körperlich ist das, dessen Örtlichkeit relativ ist. Seelisch ist, was ortlos ist.6

Die Relativität der Örtlichkeit des Körpers bezieht Schmitz vor allem auf den entfalteten, autonom agierenden erwachsenen Körper, der einen relativen Ort im Raum, einen „Platz im Raum“ einnimmt, einem Raum, der etwa durch eine Landkarte oder ein Koordinatensystem vermessen und damit vor allem physikalisch bestimmt ist7 , also das, was hier mit Kulturraum und Territorium bezeichnet wurde. Hier aber soll der Körper dank seiner Genesis primär in seiner relativen Örtlichkeit im Verwandtenraum gewürdigt werden. In dieser Hinsicht ist seine relative Örtlichkeit in erster Linie mit seiner individuellen Aszendentenstelle markiert, der Relativposition zu seinen Abstammungs- und (leiblichen) Seitenverwandten, und die wird – unwiderruflich! – zum Zeitpunkt seiner Zeugung konstituiert. Dagegen werde der Leib als absolute Örtlichkeit erfahren, was aber eine rein subjektive Erfahrung sei, die Schmitz vor allem mit der Erfahrung des Schmerzes belegt und ausführt. Der Schmerz löse einen Impuls „Weg!“ aus, dessen Vollzug aber zugleich verhindert sei. Man kann dem Schmerz, solange er andauert, nicht entkommen; er lässt sich nicht relativieren, wird subjektiv als absolut empfunden (so wie starker Hunger, große Müdigkeit, aber auch etwa Lust). Das Seelische aber sei ortlos, und das heißt, es ist nicht unmittelbar an Körper oder Leib gebunden. Zu ergänzen wäre, es ist auch zeitlos. Woher aber kommt diese Ort- und Zeitlosigkeit des Seelischen? Und wie weit werden sie reichen? Die Ort-

5 Gernot Böhme (2008), hier der Abschnitt Leib: Die Natur, die wir selbst sind, S. 119 ff. u. ders. (2019). 6 Hermann Schmitz (2019b), S. 6. 7 Ders. (2019a), S. 207–210.

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und Zeitlosigkeit ist eine Grundschicht des Seelischen; subjektiv erfahrbar ist man es schon, wenn man, lange nach der Geburt erst, zu sich selbst kommt, sich seiner selbst als eines Ichs bewusst wird; es ist einem gegeben. Wird es sich am Ende, wenn man stirbt und als Individuum aus der Welt geht, verlieren oder bleibt, da eben ort- und zeitlos, etwas davon in irgendeiner Form transzendent erhalten? Von seinen Ursprüngen, die für jeden Menschen als höchst diffus erfahren werden, ist man durch Amnesie abgeschnitten, von seinem eventuellen Bestehen über den Tod hinaus durch Rätselhaftigkeit; niemand kann positiv wissen, wie man, im Mutterleib noch, zum Seelenleben gekommen ist, und niemand kann positiv wissen, was diesbezüglich für einen selbst mit und nach dem Tod kommt. Es ist eine Frage, die, zumindest als Frage, diesseits und jenseits der konkreten Biographie über das Leben des Individuums hinausweist. Sie reicht in die Gebiete von Religion, Mythen und Metaphysik, teils Philosophie, vielleicht auch der Kunst, und eigentlich nur in ihrem Bereich lässt sich über die Frage nach Zeit- und Ortlosigkeit des Seelischen vor der Entstehung des Individuellen, während des weltlichen Andauerns des Individuellen und nach dem Individuellen spekulierend nachdenken, d. h. vor der Zeugung, im Leben und nach dem Tod. Das Erdenleben mit seinen Mühen war in der realen Geschichte noch nie ein Paradies; wenn überhaupt, dann haben die Menschen, wenn auch vielleicht vergeblich, allenfalls gehofft, es individuell irgendwo in seinen Anfängen (in den Gärten Edens) und/oder nach seinem Ende zu finden. Dieses Vor und dieses Nach stehen jedenfalls in Korrespondenz zueinander – aber offenbar in einer asymmetrischen: Selbst wenn empirisch-rational dazu eigentlich nichts zu sagen ist, so hat es (rein formal) doch höchste Evidenz, dass das ort- und zeitlos Seelische im Durchgang durchs Leben, durch die Biographie, der diesbezüglich einer Bewährungsprobe gleichkommt, seine Gestalt ändern würde; es nach dem individuellen Leben, nach dem reale-Erfahrung-gemacht-Haben anders wäre, als es davor gewesen war. Das jedenfalls ist das Petitum aller Religionen und einschlägigen Philosophien. Sie haben die Sphäre vor dem Individuellen, vor dem Biographischen (vor der Zeugung?) in verschiedener Form zu bestimmen versucht: als göttliche Vorhersehung, als transzendente Prädestination gemäß einem göttlichen Ratschluss, als Wandern und Wiedergeborenwerden eines Seelischen, als universaler blinder „Wille“, der die Welt durchherrsche und sich beständig individuiere (Schopenhauer). Vielleicht gehört in diesen Kontext auch die historische Vorstellung, man sei als Thronfolger durch Gottes Gnadentum zu dieser singulären Position gekommen. Je nachdem, wie das Individuum sein Leben führe und wie es sich in Konfrontation mit der Welt bewähre, werde es posthum verändert in diese Sphären wieder eintreten, die auszudeuten ebenfalls das originäre Geschäft der Religionen ist: als Himmel, Hölle, Rad der Wiedergeburt, Nirwana und was auch immer. Auch wenn empirisch-wissenschaftlich forschend und in rationalen Begriffen dazu nichts zu sagen ist, so gibt es doch auch empirische Einfärbungen des Themas, denn dass bestimmte konkrete Deutungen dieser Problematik in bestimmten histo-

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rischen, sozialen und kulturellen Kontexten entstehen, in anderen aber ganz anders – die calvinistische Prädestinationslehre im nachreformatorischen Christentum des Okzidents z. B., die Wiedergeburtslehren in den ostasiatischen Kulturen etc. – lässt sich geistes- und kulturgeschichtlich immerhin rekonstruieren. Doch von solchen Entgrenzungen des Seelischen, die in jedem Individuum angelegt sind, zurück zu konkreteren, empirisch fass- und rekonstruierbaren Formen des Individuellen, zu jenem „Ich“, dem Bewusstsein, das sich aus diesem seelisch Diffusen entwickelt. Das aber ist erst möglich, wenn das diffus gegeben seelische Innenleben in eine lebendige sprachliche und soziale Interaktion, primär vor allem mit der Mutter, eingebunden wird. Die Mutter erst (und weitere Personen), einmal mehr „die anderen“, erwecken das Kind in seinem Körper, in seinem Leib und in seiner Seele zum Ich, zu einem Bewusstsein seiner selbst und einem Bewusstsein der Welt draußen, indem sie es ansprechen und mit ihm sprechen, es nähren, es streicheln, es behüten. Der Mensch wird nicht nur gezeugt, „beseelt“ und geboren, er muss auch sozialisiert werden. Die Sozialisation ist das familiär vermittelte Tor, durch das er in die Sphäre der Gesellschaft (der Welt, der Kultur, der Geschichte etc.) eintritt. Mit der Zeugung (Aszendentenstelle), der Schwangerschaft, der pränatal beginnenden Beseelung, der Geburt und den frühesten Akten der Sozialisation ist hier etwas gegeben, ein „Sein“, genauer ein „Sosein“ oder ein „bestimmtes Sosein“, das für das Individuum nicht zu revidieren ist: ein je einzigartiges Konglomerat von Körper, Leibempfindung, Seele und Ich sowie individueller Elternschaft mit ihrer je konkreten historischen und sozialen Positionierung. Hier wird die relative Perspektivität grundgelegt, mit der das Individuum die Welt erfährt und mit der es in die Welt blickt, eine Perspektive, die sich von der Perspektive des anderen und der anderen immer unterscheidet – je weiter sie, diese anderen, familiär, kulturell, sozial, historisch entfernt sind, oft umso mehr. Auch die Geschlechtlichkeit ist für die Relativität und die Ausbildung dieser individuellen Perspektive von Bedeutung. Und von hier her wird der alte philosophische Topos „Werde, der du bist“, der etwa bei Nietzsche wiederkehrt8 , oder Goethes Wort (in den Urworten, Orphisch) vom Gedeihen „nach dem Gesetz, wonach du angetreten“, interessant. Ähnlich, mit einem stärkeren Akzent auf die leiblich-körperlichen Aspekte, auch bei Helmuth Plessners Motiv vom Leib-Sein und Körper-Haben, das er vor allem in seiner Arbeit über „Lachen und Weinen“ von 1941 entfaltet. Sein und Werden, Andauerndes und Bewegung – ein latent Widersprüchliches, was am Ende dann doch wieder zusammenfindet, indem man nicht irgendetwas wird – etwas, was man eben nicht ist –, sondern das, was man schon immer ist. Ein Haus wird gebaut gemäß einem

8 In der „Fröhlichen Wissenschaft“, Aphorismus 270, oder im Untertitel der Spätschrift Ecce homo. Friedrich Nietzsche (1999), Bd. 3, S. 519 u. Bd. 6, S. 255.

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Architektenplan, der bereits vorhanden ist. Dieses für das individuelle Leben zentrale Motiv – zu werden, wer man ist, und zwar durchaus auch, indem man durch Sozialisation, Wachsen und Lernen aktiv in die Sphäre Gesellschaft eintritt und ihre Rollen- und Kulturpotenziale für sich zu nutzen versteht – wird im Folgenden hier immer wieder aufscheinen. Aber die Rollen- und Kulturpotenziale der Gesellschaft haben (siehe Kapitel 13) einen Doppelcharakter: Wohl sind sie es, die einem dabei wahrhaft helfen können, zu werden, wer man ist; nur allzu häufig sind sie es aber auch, die einen kalt und massiv von sich selbst zu entfremden vermögen, die es machtvoll verhindern, dass man wird, wer man ist. Die Abfolge der Generationen, in der das Individuum steht, vollzieht sich also auf zwei Ebenen9 : Generationswechsel einmal untergründig und basal in der Gattung: passiv in der Permanenz von Gezeugt- und Geborenwerden, aktiv in der eigenen Familiengründung (oder auch nicht) und im Abgang durch Tod. Zum anderen dann in der Generationenabfolge auf der historisch sich entwickelnden Ebene der Gesellschaft. Hier ist das Generationenkonzept von Karl Mannheim angesiedelt10 , der von der Kontinuität der „Kulturträgerschaft“ sprach, wie also die Berufsrollen, Ämter und andere Positionen in der Gesellschaft von einer Generation zur nächsten übergehen – der vertraglich bestellte Professor, der mit seiner Emeritierung Platz macht für den akademischen Nachwuchs. – Und mitten in diesem zweifachen Geschehen stehend und es exekutierend: das Individuum, der einzelne Mensch, die Person, die die Gattung durch Familiengründung körperlich entwickelt, die die Gesellschaft durch Eintritt ins Rollenhandeln aktiviert und von ihr aktiviert wird, die mit ihrem Inneren aber auch eine Offenheit zu Sphären hat, dem „Seelischen“, dem Leibempfinden, die, wenn auch nicht unberührt davon, diesseits und jenseits von Gattung und Gesellschaft situiert sind. Es geht also in einem ersten Schritt darum, diese beiden Ordnungen – Gattung und Gesellschaft – analytisch auseinanderzuhalten, um in einem zweiten besser zu erkennen, wie sie im Gesamtlebenslauf des Individuums empirisch unauflöslich miteinander verflochten sind und sowohl miteinander als auch gegeneinander agieren. Zunächst zum ersten Schritt: der analytischen Trennung: Unauflösbarer Kern der Familie und damit der Gattung ist die Triade aus Vater, Mutter und Kind.11 In dieser Triade und aus ihr hervorgehend wird die Körperlichkeit des Individuums zum Thema, damit das Verhältnis von Biologischem und 9 Siehe dazu auch die Arbeiten von Sigrid Weigel (2002 u. 2006). 10 Karl Mannheim (1970). 11 Die grundlegende Bedeutung der Triade für die Konstitution der Sozialität hat, im Anschluss Freud und Parsons, Ulrich Oevermann (der akademische Lehrer der Autorin) herausgearbeitet. Siehe u. a. Ulrich Oevermann (2001a). Die Oevermann’sche Argumentation knapp zusammenfassend siehe

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Sozialem, von Natur und Kultur. Die befruchtete Eizelle, die Zygote, ist wie erwähnt konstitutiv beides zugleich: Aszendentenstelle wie Urzelle des individuellen Körpers. Keim und Aszendentenstelle markieren biologisch und sozial einen Punkt, einen Ausgangspunkt, von dem aus die Biographie ihren Lauf nimmt: Der Körper/ der Leib (Bio = Leben) wird gezeugt, wächst, altert und stirbt, indem die Akte des Menschenlebens sich in ihn einschreiben (eingravieren, eingraphieren) – also BioGraphie. In der Triade von Vater, Mutter und Kind greifen beide Ordnungen, Natur und Kultur, zyklisch ineinander. Die menschliche Gattenwahl, die (einschließlich der Problematik des Inzesttabus) der Kulturweltwelt angehört, ist in Form der Gattenwahl der Eltern und der Gattenwahlen der weiteren Vorfahren Bestandteil der Abstammungsverwandtschaft, der Aszendenz eines jeden Individuums. Andererseits umfasst die Abstammung auch die körperliche Basis, die Kontinuität des Keimplasmas; mit der Zeugung formiert es sich neu in einem individuellen Genom, das man in genuin neuer Kombination von seinen Vorfahren erhält. Die Aszendenz ist daher beides zugleich: Natur durch die genetische Anlage, Kultur im Sinne von Abstammungsverwandtschaft mit ihren familiengeschichtlichen Gattenbeziehungen u. a. m. Dieses zyklische Ineinander von Kultur und Natur vollzieht sich in der Sphäre der „Gattung“. Es ließe sich sagen, die Gattung, genauer die menschliche Gattung, sei eine Art von Zwischenraum zwischen Sozialem und Biologischem, zwischen der Ordnung der Gesellschaft bzw. der Kultur, die in ihrer modernen Erscheinungsform naturfern und nicht-organisch ist, und der Ordnung der Natur. Indem Familiengründung in der Abfolge von Gattenwahl der Eltern, Zeugung, Schwangerschaft, Geburt, Sozialisation als sequenziell strukturierter Prozess begriffen wird, entkommt man aller zu einfach konzipierter, statisch-dual gedachter Polarität von sozial und biologisch. – Die gesamten nachfolgenden Ausführungen entfalten sich daher als verflochtene Struktur, die hauptsächlich aus den Strähnen von Gattung, Individuum und Gesellschaft besteht, und innerhalb der einzelnen Strähnen dem Ineinander von Biologisch-Naturhaft-Evolutionärem, von Verwandtschaft und Familie oder der Spannung von generativen Universalien und gesellschaftlicher Rolle. Mal sieht man die ein Strähne, die sich optisch dann wieder unter die andere legt und diese für eine längere Textpassage sichtbar werden lässt, ohne dass sie in ihrer Wirkung und Bedeutung deshalb aufhört, denn an späterer Stelle tritt sie wieder in Erscheinung. Alles aber als in sich Verflochtenes ein Ganzes, eine Komposition bildend. Die Aszendenz, d. h. die genealogische Struktur der Abstammung, wird zu einer der Grundkonstituanten des Individuums. Das wird besonders deutlich im Fall

auch: Kai-Olaf Maiwald (2018). Siehe des Weiteren Tilman Allert (1998). – An diese Konzeptionen wird, allerdings mit anderer Akzentuierung, hier angeknüpft.

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von krisenhaften familiären Entwicklungen, die zu Unklarheiten in der sozialen und mentalen Einbettung der Aszendenz führen: bei der Adoption, der Herkunft als Findelkind (Kriegswaisen), bei der Kindsvertauschung, dem Kuckuckskind, der außerehelichen Samen- und Eizellspende und der Leihmutterschaft in der modernen Fortpflanzungsmedizin etc. Gerade in der Auseinandersetzung mit diesen Krisenfällen, denen mit Kapitel 6 ein eigener Schwerpunkt gewidmet ist, lässt sich eine Vorstellung von der konstitutiven Bedeutung der Aszendenz, letztlich der Problematik des „Anfangs“ für das Individuum gewinnen. Die Zeugungs- und Ursprungstriade von Vater, Mutter und Kind bleibt dabei unreduzierbar und unauflösbar. Das gilt auch angesichts der Erfahrung, dass das Modell der modernen bürgerlichen Kernfamilie, in der die Beziehungen zwischen den Eltern und dem eigenen leiblichen Kind vertrauensvoll und dauerhaft in Takt bleiben, sich nicht erst in der jüngeren Moderne mit ihren vor allem durch erhöhte Scheidungsrate fragil gewordenen Familienbeziehungen und den damit meist ausgelösten Loyalitätskonflikten gegen das weitverbreitete Patchwork zu behaupten hat; angesichts der hohen Sterblichkeitsraten in der Geschichte und den daraus vielfach resultierenden Stiefkindschaften, frühkindlichen Verwaisungen, Kindstod etc. ist Patchwork, wenn auch aus anderen Gründen, eine universale historische Erfahrung der Menschen. Die Welt des einzelnen mag dabei unter Umständen untergehen, nicht aber die Welt als Ganzes. Die Triade aber ist nicht aus ebendieser Welt zu schaffen. Doch nicht nur das Einzelne, auch das Ganze, die Gattung ist hier von Interesse: Von der Eltern-Kind-Triade ausgehend lässt sich der Blick nicht nur auf das einzelne Individuum, sondern auch auf das Segment der Bevölkerung, in das sie eingebettet ist, und schließlich auf die Gattung in ihrer Gesamtheit werfen, deren zellenartig mikrologische Bestandteile die Triade und das einzelne Individuum sind. Da die Generationenabfolge kontinuierlich vonstattengeht (Präsens), d. h. auch familien- und schließlich gattungsgeschichtlich kontinuierlich vonstattengegangen ist (Vergangenheit), wird man zwangsläufig bis zu den menschheits- und evolutionsgeschichtlichen Ursprüngen zurückschauen können. Die theoretische Verbindung zu den afrikanischen Ursprüngen der Menschheit („out of Africa“), zur Paläoanthropologie, dann aber auch zur Populationsgeschichte, d. h. zur Geschichte der historischen Wanderungen der Menschheit im gesamten geographischen Raum der bewohnbaren Teile der Erde und damit die gattungsgeschichtliche Differenzierung der Menschheit in verschiedene Ethnien, Nationen, Kulturen und Sprachen ist zwingend. Was bedeutet es, wenn diese seit Urzeiten entstandene kulturelle Vielfalt, die denkbar weit aufgefächerte Diversität der Gattung auf die egalitär angelegte Sphäre der Gesellschaft der Moderne trifft und damit die sogenannte multikulturelle Gesellschaft entsteht? Auch die Fragen der Demographie gehören kategorial zunächst einmal hier her in die Sphäre der Gattung, denn demographisch ist es jeweils ein bestimmtes kulturell definiertes Segment der Gattung, nämlich die Nation im oben angedeuteten

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Sinne, das sich – unter starkem Einfluss der Gesellschaft – in einer bestimmten Fertilität, einer bestimmten Mortalität (Geburten- und Sterbeziffern) und in Wanderungsbewegungen in einem bestimmten Umfang fortentwickelt. Fragen wir in einem zweiten Schritt nun mehr nach der empirischen Durchdringung von Gattung und Gesellschaft: Nicht nur „Nation“, sondern auch Universalbegriffe wie „Welt“ oder „Menschheit“ umfassen und integrieren beide Sphären, Gattung und Gesellschaft. Aber historisch sind nicht beide gleich stark in ihnen präsent. In den Anfängen des sprach- und kulturfähigen Homo sapiens gab es einmal eine Menschheit/eine Welt sozusagen „ohne Gesellschaft“, die Welt der Gattung im Naturzustand, sozial organisiert nur in kleinen, personengebundenen „Gemeinschaften“ im Sinne von Ferdinand Tönnies. Gesellschaft hat sich in der Welt erst spät herausgebildet und ist als Pendant und Gegenüber der Gattung aus evolutionsgeschichtlicher Perspektive gesehen erst „allerjüngst“ hinzugekommen. Erst zum heutigen Erscheinungsbild von Welt und Menschheit gehört das, was die Gesellschaft in reicher Vielfalt kulturell hervorgebracht hat, unwiderruflich dazu. Gesellschaft entsteht nicht zuletzt dann, wenn sich in der Sphäre der Gattung die Strukturen der Verwandtschaft und damit die Modalitäten des Zustandekommens der Eltern-Kind-Triade und ihres Kontextes in eine bestimmte Richtung ändern. Unter dem historischen Andrängen der modernen Gesellschaft wird die Gattenwahl individueller; die Gatten selbst wählen, nicht mehr ihre Eltern oder sonstige überfamiliäre Autoritäten, Instanzen oder Gesetze. Familienstrukturen werden von der Dominanz der Stammeskultur, des Clans und der Großfamilie auf die Klein- und Kernfamilie reduziert. Damit schwindet das Ansehen, die tradierte Autorität und damit der Einfluss der Alten. Analog dazu erodiert die tradierte Vorherrschaft des Mannes, das Patriarchat; Mann und Frau erlangen, bei prinzipieller Unauflösbarkeit der Geschlechterspannung, bis zu einem gewissen Grad Parität. Die Gattenbindung wird dadurch und durch Enttraditionalisierung fragiler; die Scheidungsrate ist in der Moderne höher als in der Geschichte. Die Generationen wohnen nur noch während der Kinds- und Jugendphase des Nachwuchses zusammen und bilden eine symbiotische Einheit nur noch in dieser frühen Familienphase, besonders während des Kleinkindalters; im weiteren Verlauf der Familienentwicklung aber trennen sich Kinder, Eltern, Großeltern im Wohnen, im Alltag, im Wirtschaften, oft auch geographisch weitgehend voneinander, wobei für den Fall der Not oder Altersgebrechlichkeit starke Solidaritätsbande i. d. R. erhalten bleiben. Das Sexualverhalten ändert sich; die Lebensweise der Moderne toleriert eine Vielfalt der sexuellen Orientierung und Äußerung – Homosexualität, Transgender, Intersexualität etc., LGBTQIA*, wobei auch historische Kulturen mitunter das Schillern des Geschlechts kultivierten, etwa die höfische Aristokratie des 18. Jahrhunderts. Die Heterosexualität behält dabei aber, da sie allein die Fortpflanzung bewirkt und

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garantiert, eine Sonderstellung. Das gilt dauerhaft – aber es gilt auch hier nicht starr und absolut, ist Fortpflanzung in ihrer Art und Intensität selbst historisch und kulturell doch höchst vielfältig. So sinken nicht von ungefähr Fertilitäts- und Mortalitätsraten unter der Wirkung der Gesellschaft beträchtlich. Das hat seinen Grund auch darin, dass in der okzidentalen Kultur seit jeher ein beträchtlicher Teil der Erwachsenen auf Reproduktion ganz verzichtet hat oder verzichten musste. Die okzidentale Kultur bildete schon sehr früh in beträchtlichem Maß auch eine signifikant antinatalistische Komponente aus, die historisch betrachtet ganz unterschiedliche Gründe und unterschiedliche Äußerungsformen hat: Sei es im priesterlichen und klösterlichen Zölibat, sei es in diversen Heiratsverboten für unterprivilegierte Schichten (Hausgesinde etc.) oder, gänzlich anders ausgerichtet, im Streben des modernen Subjekts nach individueller Autonomie und Selbstentfaltung, die besser zu verwirklichen sind, wenn Verpflichtungen, die die Existenz eigener Kinder zwangsläufig mit sich bringen, einen nicht binden. Aber auch wo heterosexuelle Paare unter den Lebensbedingungen der modernen Gesellschaft Kinder hervorbringen, tun sie es nicht überall gleich (Geburtenziffer in Deutschland niedriger, zeitweise sogar sehr viel niedriger als in Frankreich; vor einigen Jahren betrug die Divergenz 1,4 zu 2,0 Kindern pro Frau. Zuletzt wurde die Divergenz geringer. Was sind dafür die spezifisch kulturellen Valenzen, die noch in den Ehebetten getrennt danach, ob Deutsche oder Franzosen in ihnen zusammenliegen, solch unterschiedliche Wirkung entfalten?) Von entscheidender Bedeutung ist, dass unter der Ägide der modernen Gesellschaft ein großer Teil der gesamten Lebensaktivität aus der Familie und dem Haus (der Sphäre der Gattung) auswandert. Dies primär in Form der Berufsarbeit und des nicht mehr durch Eigenproduktion erlangten Gütererwerbs (wie es insbesondere in der historischen agrarischen Existenzweise noch der Fall war), sondern auf der Basis von Arbeitsteilung und abstrakter Marktbeziehungen; im Weiteren aber auch bei Erziehung und Bildung der Nachkommen, die nach der symbiotischen Kleinkindphase zu einem großen Teil aus der Familie heraus in Anstalten der Gesellschaft: in Kitas, Schulen, Universitäten etc. verlagert werden; schließlich in Aktivitäten in Freizeit, Freundeskreise, Ehrenamt, kultureller und/oder auch politischer Betätigung etc. In all diesen Belangen, die ganz alltäglich zur Wirkung kommen, liegt der entscheidende Konnex zur Gesellschaft. Die Gesellschaft lebt und reproduziert sich in diesen außerfamiliären Aktivitäten der Individuen. Die Gesellschaft entreißt und befreit den Einzelnen sozusagen aus den Fängen und der Reichweite der Gattung (der Familie, dem Clan, der Dynastie, der Verwandtschaft), indem sie ihn zwingt und auffordert, oder umgekehrt: es ihm ermöglicht und ihn ermuntert, Rollenarrangements, insbesondere Berufsrollen einzunehmen und abstrakte Markt- und Vertragsbeziehungen einzugehen und diese für die Dauer seines vitalen Erwachsenenlebens in steter Spannung zu seinen familiären Bindungen auszuüben und zu praktizieren. Die Verhakungen, mit denen das Individuum an

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der Gattung hängt, lockern sich unter der Ägide der modernen Gesellschaft somit beträchtlich, ohne dass sie zu seinen Lebzeiten sich aber je gänzlich lösen ließen. Dieser individuelle Befreiungs- und Entfremdungsakt aus den naturwüchsigen Bindungen der Gattung (der Herkunftsfamilie), den die Gesellschaft bewirkt, gelingt bei der oben beschriebenen Reduktion der Verwandtschaft auf die Kleinund Kernfamilie mit einem beträchtlichen Anteil an Kinderlosen, wie sie in der westlich-modernen Lebensweise typisch geworden ist, i. d. R. besser als bei den traditionalen Clans, die mit ihren teilweise archaischen Ehrbegriffen ihre Herrschaft über ihre einzelnen Mitglieder nicht preisgeben wollen; im Fall von Mafiaclans bilden sie abgeschottete soziale Enklaven in der modernen Gesellschaft und werden zur Quelle von Kriminalität. Solch antiindividualistische Clansolidarität erschwert mitunter auch die Assimilation stark traditionalistischer Einwanderungsmilieus in die egalitär ausgerichteten modernen westlichen Gesellschaften. Sie sträuben sich gegen die unauflösbare Zwiegesichtigkeit dieser Entwicklung: Dass sie nicht nur Befreiung, sondern auch Entfremdung ist, nicht nur Individualisierung, sondern auch Zwang zum Verlassen und Aufgeben des (familiär) Hergebrachten. „Gesellschaft ist das, was uns zwingt, frei zu sein“ – so das Motto von Kapitel 13 hier in diesem Buch, in dem dieser dialektische Gedanke weiterentwickelt wird.12 Wer aber reüssiert in der Gesellschaft? Während wir sagen können, alle Menschen – und zwar wirklich empirisch zählbar alle – gehören, indem sie einer Eltern-KindTriade entstammen, der Gattung an, sind sie in der Gesellschaft sehr unterschiedlich repräsentiert und stärker oder schwächer und eventuell sogar überhaupt nicht integriert. Alle Menschen haben ihre Aszendenz, also ihre Herkunft dank ihrer Abstammungsverwandtschaft, in der Gattung. Darin sind sie sich fundamental gleich. Hier geht keiner verloren. Und doch macht ebendiese universal gegebene Aszendenz sie alle auch nicht-gleich, da die Aszendenz immer individuell, in der je einmaligen und unwiederholbaren Aszendentenstelle (ihrer Herkunftsfamilie) gegeben ist. Doch dieses Nicht-Gleiche negiert innerhalb der Sphäre der Gattung am Ende wirksam der Tod, denn nichts ist, zumindest somatisch, so egalitär wie er. Diese immanente Spannung von gleich und nicht-gleich ist in der Sphäre der Gattung universal: Alle Menschen sind mit ihr konfrontiert. Alle! (Ein Gedanke, der später in Kapitel 16 noch umfassender auszuführen ist.) Die „Gesellschaft“ ist dagegen imperfekt. Auch die rechtlich definierte Gemeinschaft der Staatsbürger ist es. Gesellschaft und Staatsbürgerschaft erreichen nicht „alle“, jedenfalls nicht alle in der gleichen Intensität. Aus ihr kann man herausfallen

12 „Gesellschaft ist das, was uns zwingt, frei zu sein.“ – Eine Formulierung, die die Autorin schon vor mehreren Jahrzehnten gefunden hat. Häufig sind solche Gedanken eine Folge verschiedener Lektüre; doch ist man sich dessen, wenn der Gedanke plötzlich da ist, oft gar nicht mehr bewusst. Vermutlich stand in diesem Fall die Beschäftigung mit Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ Pate, wo im ersten Buch in Kapitel 7 eine ähnliche Formulierung auftaucht.

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oder aber erst gar nicht richtig in sie hineinkommen. Robinson Crusoe war durch seine einsame Inselexistenz ein solcher aus der „Gesellschaft“ Herausgefallener. Aber auch er entstammte der „Gattung“, war Abkömmling einer Eltern-Kind-Triade. Nicht alle, die der Gattung entspringen, sind vor dem Hintergrund ihrer familiären Herkunft für gehobene und führende Positionen und Berufe in der Gesellschaft oder für ihre sublimsten Formen von Bildung und Kultur gleichermaßen begabt und geeignet. Die Chancen, die eine bürgerlich strukturierte Gesellschaft den Individuen, die unter ihrer Reichweite leben, personenunabhängig und (relativ) egalitär allen anbietet, können sie daher nur unterschiedlich nutzen. Vor allem aber sind bestimmte Gruppen der Bevölkerung (der Gattung) sehr unterschiedlich in der Gesellschaft platziert. Historisch weiter zurückgehend in die Epoche des Ancien Régime gehörte zur Spitze der Gesellschaft, der höfischen Aristokratie (der „monde“), nur eine kleine, ständisch abgeschlossene Gruppe von Personen, die die Angehörigen anderer Stände, insbesondere ihre Dienerschaft, fast wie Exemplare einer anderen Gattung betrachtete – jedenfalls in keiner Weise als „gesellschaftsfähig“. Im frühen und noch im späteren 20. Jahrhundert ging es gesellschaftspolitisch etwa um die Frage, wie Arbeiter und breite Schichten in Adaption und teilweise Konfrontation mit etablierten bürgerlichen Schichten in die Bildungssysteme und in die Gesellschaft zu integrieren seien. Gesellschaftspolitisch vordringlich in den letzten Jahrzehnten ist hingegen mehr die Frage nach der unterschiedlichen Präsenz von Männern und Frauen in den gehobenen Positionen der Gesellschaft, insbesondere in der Berufswelt und in der Politik. Nicht minder dringlich ist angesichts von großen Migrationsströmen in den modernen Gesellschaften die Integration der Menschen fremder Herkunft. „Gesellschaft“ heißt: beständiges Bemühen darum, stets erneut noch „größere gemeinsame Nenner“ zu suchen, um die Vielfalt, Diversität und Heterogenität der Menschen, wie Gattung sie hervorbringt, unter ihrem Dach zu integrieren und ihre je einzelne Stellung zu sichern. Dabei gibt es, das sei nicht verhohlen, auch in der Moderne spezifisch und nachhaltig wirksame „antigesellschaftliche“ Tendenzen, mit denen Menschen in der Gesellschaft marginalisiert oder ausgeschlossen werden sollen. Der Nationalsozialismus bietet dafür ein besonders drastisches Beispiel. Auch Gesellschaften, in denen sich schroffe Gegensätze von Arm und Reich herausgebildet und verfestigt haben und in denen soziale Mobilität kaum möglich ist, wären hier etwa zu nennen. Eine besondere Variante der Spannung von Gattung und Gesellschaft stellt die Integration in Institutionen, Sphären und Praktiken einer avancierten und elaborierten Kultur (in Museen, Theater, Konzertsälen, Literatur etc.), also der sogenannten Hochkultur dar. Sie ist ihrem Anspruch nach eine „Kultur für alle“ (großer gemeinsamer Nenner), doch erreicht sie „alle“ nur dem Geiste nach, nicht statistisch, d. h. eben nicht alle Angehörigen der Bevölkerung (Gattung) eines bestimmten Kulturkreises, sondern faktisch nur eine elitäre Minderheit. Es gehört zu den spannenden Fragen, wer zu dem Kreis der Wenigen in dem betreffenden Gattungssegment

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gehört, die an dieser Form der Kultur teilhaben, und aus welchen biographischsozialen Gründen. Die Frage ist strukturell sehr verwandt der von Max Weber getroffenen Unterscheidung von Massenreligion („Populärkultur“) und Virtuosenreligion („Hochkultur“), wie er sie in der Einleitung zu seiner „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ und den religionssozilogischen Abschnitten in „Wirtschaft und Gesellschaft“ entfaltet. Alle sind somit vollkommen Angehörige der Gattung – der Obdachlose ebenso wie der gut etablierte Abkömmling einer gehobenen, seit Langem eingesessenen bürgerlichen Familie, der Analphabet ebenso wie der akademisch Gebildete und eben auch Robinson Crusoe –, nicht alle aber können, oft infolge der spezifischen kulturellen und sozialen Konnotationen ihrer Aszendentenstelle oder tradierter Ungleichbehandlungen des Geschlechts, die Entwicklungspotenziale, die die moderne, demokratisch orientierte Gesellschaft mit ihrer Norm der Rechtsgleichheit und dem Ideal der „Chancengleichheit“ allen bietet, in gleicher Weise nutzen und realisieren. Wenn der Strafgefangene, der immigrierte Flüchtling, dem es nicht gelingt, Fuß zu fassen, der psychiatrisch Internierte etc. gesellschaftlich am Rande leben und sie in die Gesellschaft desintegriert sind, so lassen sie sich in ihrem puren Dasein immer noch vollwertig als Angehörige der Gattung, die wie jedes andere Individuum auch, einer konkreten Triade entsprungen sind, oder etwas populärer formuliert: als Brüder und Schwestern in der Menschenfamilie, bestimmen. Bei Anwendung der Todesstrafe aber stößt die Gesellschaft die Betroffenen selbst aus der Gattung noch hinaus. In großem Umfang aber geschieht dies im Fall des Genozids. Großen Anschauungsunterricht sowohl zur Notwendigkeit einer analytischen Trennung der beiden Sphären von Gattung und Gesellschaft als auch für die Einsicht in ihr unauflösliches Verquicktsein in der empirischen Realität hat uns zuletzt die Corona-Pandemie erteilt. Das Corona-Virus, SARS-CoV-2, ist ursprünglich Produkt der natürlichen Evolution, das in China von Tieren auf den Menschen übersprang, und verbreitete sich im Frühjahr 2020 mit rasender Geschwindigkeit in der ganzen Gattung (Art), in der gesamten Menschheit weltweit. Es übertrug sich im unmittelbaren, teils auch im mittelbaren physischen Kontakt von Körper zu Körper, von Mensch zu Mensch, sodass die „Gattung“ in diesem Kontext wie kaum sonst irgendwo als weltweite kollektive Körperlichkeit erkennbar wurde. Ende des Jahres 2020 waren global mehr als 60 Millionen Menschen daran erkrankt, davon der größere Teil zu diesem Zeitpunkt zwar wieder genesen, doch ca. 1,5 Millionen Menschen waren bis dahin daran gestorben. Anfang 2023, als die Pandemie zumindest in den westlichen Ländern abflaute, meldet die Weltgesundheitsorganisation kumuliert mehr als 664 Millionen Ansteckungen und über 6,7 Millionen Todesfälle weltweit. Die „Gattung“ konfrontierte die „Gesellschaft“, anders gesprochen: Die Evolution konfrontierte die Kultur in Gestalt des Virus abrupt mit einem massiven Problem. Auch wenn technische Systeme von dem Virus nicht affiziert wurden (im

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Gegensatz zu Computer-Viren, die umgekehrt technische Systeme lahmlegen, die aber dem Körper des Menschen direkt nichts anhaben können), so hatten die weltweit umfassend notwendig gewordenen Hygienemaßnahmen zur Folge, dass weite Teile auf der Ebene der „Gesellschaft“ – Wirtschaft, Produktion, Handel, Verkehr, Kultur, Bildungssektor etc. – in den einzelnen Wellen der Pandemie zum Erliegen kamen. Nicht Krisen vom Typus eines negativen Wirtschaftswachstums, des globalen Banken- und Finanzcrashs 2008, des Ukraine-Kriegs 2022 und dergleichen, die durch gesellschaftsimmanent und politisch wirksame Faktoren ausgelöst werden, hier war es die „Gattung“, die die „Gesellschaft“ ausbremste. Umgekehrt aber ist natürlich zu sagen, dass das Pandemiegeschehen unter der Ägide der modernen Gesellschaft einen völlig anderen Verlauf nahm als es ohne sie der Fall gewesen wäre, und das in zweierlei Hinsicht: Auf der einen Seite wirkte die moderne Gesellschaft als Treibsatz der Pandemie. Denn durch die moderne globale Mobilität wurde das Virus schnell in alle Winkel der Erde getragen. Im Mittelalter waren solche Pandemien lokal beschränkt; die Weltmeere oder große, kaum überwindbare Distanzen oder Gebirgsformationen zu Land schotteten die einzelnen Populationen wirksam voneinander ab und schützten die einen so vom tödlichen Geschehen in der anderen Region. Schon die kolumbianische Entdeckung zeigte dann aber, was der geographische Transfer von Viren ausrichten konnte: Die indigenen Bevölkerungen Mittelamerikas hatten gegenüber den Viren, die die europäischen Konquistadoren seit Ende des 15. Jahrhunderts dort einschleppten, keine Abwehrkräfte und starben massenhaft dahin. Andererseits aber wirkte die moderne Gesellschaft als effektiver Bremser der Pandemie, denn sie ist es, die die „Gattung“ an diesem Punkt letztlich weitaus effektiver unter Kontrolle zu bringen vermag als historische Gesellschaften. Die Interventionen, die zur Lösung der Situation aus der Sphäre der „Gesellschaft“ heraus unternommen wurden, konnte die „Gattung“ vor Schlimmerem bewahren: die drastischen Maßnahmen der Gesundheitspolitik und der Gesundheitsverwaltungen, durch die das öffentliche Leben und viele Bereiche der Gesellschaft (Schulen, Kultureinrichtungen, des Einzelhandels, der Gastronomie etc.) ganz oder teilweise heruntergefahren wurden, die Hochleistung der Medizin, die hochintensiven Forschungsanstrengungen zur Entwicklung und Anwendung geeigneter Impfstoffe etc. Unweigerlich wurden damit die bürgerlichen Freiheitsund Bewegungsrechte des Einzelnen, wie sie in der Moderne verfassungsrechtlich garantiert sind, drastisch beschnitten. Es ist zugleich eine Beschränkung der Freiheit, über den eigenen Körper zu verfügen: Indem mein Körper zum Virusträger wird, bin ich nicht nur selbst gefährdet, sondern bin eine Gefährdung auch für die anderen. Nicht nur qua Aszendenz, sondern auch anhand solch existenzieller Infektionsgefahren wird deutlich, wie sehr wir mit unserem individuellen Körper, über den wir im Alltag zu gebieten meinen und gebieten dürfen, grundlegend eben doch Teil einer kollektiven Körperlichkeit sind – Teil der „Gattung“, Teil der Evolution. Ohne diese avancierten Interventionsmöglichkeiten, über die die moderne

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Gesellschaft medizinisch, organisatorisch, rechtlich etc. heute verfügt, hätte die Corona-Pandemie die Gattung in einzelnen Weltgegenden demographisch womöglich ähnlich stark dezimiert, wie es hundert Jahre zuvor die Spanische Grippe getan hat, von den Pestwellen des Mittelalters und den epidemischen Katastrophen der Frühen Neuzeit in den überseeischen Kolonien ganz zu schweigen. Für die theoretische Konzeption des Verhältnisses von Gattung und Gesellschaft ist Corona jedenfalls ein höchst aufschlussreiches Ereignis. Soweit eine erste Ausformulierung der Grundgedanken, die in diesem Buch entwickelt werden. Vorab noch einige kurze methodische Bemerkungen: 1. Zur Werkgenese: Zunächst ein Hinweis auf die Genese und die Vorarbeiten der Autorin, die zu all diesen Überlegungen geführt haben. Sie sind Resultat eines intellektuellen Bemühens, das über dreieinhalb Jahrzehnte bis in die Zeiten der Arbeit an der eigenen Dissertation zurückreicht und von einer akademischen Sozialisation in der Soziologie ausgehend fachlich dann vor allem in verschiedenen Bereichen der Geschichtsforschung stattgefunden hat. Mit diesem Buch soll nicht zuletzt auch ein theoretisches Resümee aus diesen zumeist eher monographisch angelegten Forschungsprojekten gezogen werden, so wie umgekehrt viele dieser empirischen Recherchen teils latent, teils etwas expliziter früh schon von den Theoremen angeleitet waren, die hier, eben auch auf der Basis der stattgehabten Forschungsarbeit, retrospektiv jetzt aber erst wirklich ausformuliert werden können. Dabei spielte folgendes Forschungsmaterial eine besondere Rolle: Eine ältere, vormoderne Denkfigur, die den Wechsel der Generationen (Ebene der Gattung) einerseits, die (historische) Dauer der Institution (Ebene der Gesellschaft) andererseits thematisierte, kommt in der Parole aus der frühen Staatstheorie: „Der König ist tot, lang lebe der König“ zum Ausdruck. (Kapitel 10 wird darauf zurückkommen.) Von Königen und Königinnen sowie der permanenten Generationenfolge in den historischen Erbmonarchien und Adelsfamilien wird nachfolgend des Öfteren die Rede sein. Weit ausdifferenzierte und durchstrukturierte Fürstendynastien, wie es die monarchischen Herrscherfamilien insbesondere zur Zeit des Absolutismus waren, sind für die hier verfolgte Fragestellung ein hochinteressantes Studienobjekt: Sie hatten mit den generativen Universalien – Aszendenz, Geschlecht und dem beständigen Wechsel der Generationen durch Fortpflanzung und Tod – viel dramatischer zu operieren als das vergleichsweise unabhängige und bewegliche und vermeintlich vereinzelte Individuum in der Moderne. Wie im Brenn- und Vergrößerungsglas machen sie das allgemeine und universale Problem der „Gattung“ deutlich, das sich gleichwohl, weniger dramatisch, aber unweigerlich auch dem modernen Individuum stellt: (passiv) durch seine eigene Herkunft und (aktiv) familiengründend ist dieses in dieselben Prozesse und dieselben Vorgänge bei der Neuschöpfung von Verwandtschaft eingebunden, wie seinerzeit die Kaiser und

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Könige. An den familiären Aktivitäten des bereits erwähnten Habsburgerkaisers Leopold I. (1640–1705) und seinen Ehefrauen, insbesondere seiner ersten Frau, Margarita, ließ sich anschaulich machen, wie die Akte Gattenwahl und Kinderzeugung Verwandtschaftsstrukturen groß- und tiefenräumlich neu durchmischen und genuin neu kreieren. Am kaiserlichen Paar wird diese weit ausgreifende Neuschöpfung von Verwandtschaft methodisch deshalb einfacher greif- und sichtbar, weil die genealogischen Daten vertikal über viele Generationen hinweg und horizontal in der Breite der Verwandtschaft namentlich und personell bekannt sind. Doch was am kaiserlichen Paar, Leopold und Margarita, aus diesem Grund nur besonders deutlich erkennbar wird, gilt auch für den bürgerlichen und nichtbürgerlichen jedermann/jedefrau: für „Leo und Maggie“, wie sie hier im Anschluss an das prominente kaiserliche Paar aus der Habsburger-Familie genannt werden und die unter diesem Namen stellvertretend für das Universale daher durch den gesamten Text mäandern werden. Gleich im ersten Kapitel wird die verwandtschaftsschöpferische Tätigkeit erläutert, die die familiengründende Tätigkeit von Kaiser Leopold und Margarita, von Leo und Maggie objektiv bedeuten. In den fortgeschrittenen Phasen der frühen Werkgenese war diese Entdeckung seinerzeit eine Art von Urszene, aus der sich in der Folge ein reichhaltiger Gedanke entwickeln ließ.13 2. Das Universale und das Spezifische: Mit den generativen Universalien – Aszendenz, Geschlecht und Tod – befasst dieses Buch sich mit einer Thematik von universaler anthropologischer Dimension. Jeder Mensch, jedes einzelne Individuum ist damit konfrontiert. Insbesondere die Egalität des (körperlichen) Todes hat höchste Evidenz. Aber jeder Mensch oder jede historische Kultur hat darauf eine andere Sicht, geht mit dem Themenkreis der generativen Universalien anders um, zieht andere Schlüsse daraus, theoretische, ideologische und, vor allem, praktische. Das anthropologisch Universale erscheint uns immer nur perspektivisch, in spezifischer Gestalt, aber jede spezifische Sicht, wie sie in der Welt- und Menschengeschichte in schier unendlicher Pluralität vorhanden waren und sind, beansprucht in diesen Fragen Wahrheit, oft sogar „höchste Wahrheit“, für sich. Ausgehend von der Problematik des Todes ist das insbesondere bei weltgeschichtlich hochentwickelten Religionen der Fall, die eine Gottes- oder eine Jenseitsvorstellung von universaler Geltung beanspruchen: die abrahamitisch-monotheistischen Religionen und die Konzeptionen vom Kreislauf

13 Siehe dazu die schon vor einem Vierteljahrhundert publizierte Arbeit A. Hansert, Welcher Prinz wird König? (1998). – Darüber hinaus eine Reihe von Studien zu städtischen Patrizierdynastien, insbesondere A. Hansert (2014, 2016a, 2016b). – Des Weiteren gehörten zum Forschungsprogramm der Autorin eine Monographie über die Geschichte der Schopenhauer-Gesellschaft (2010), weshalb hier verschiedentlich auf Arthur Schopenhauer Bezug genommen wird, sowie eine Reihe von Arbeiten zur NS-Geschichte, deren Ertrag sich hier ebenfalls verschiedentlich niederschlägt. (Siehe die Gesamtliste der Publikationen der Autorin auf URL: andrea-c-hansert.de.)

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der Wiedergeburten des Ostens. Nie können sich alle Menschen, alle Angehörigen der Gattung unter einer dieser Religionen zusammenfinden; bei allem universalistischen Geltungsanspruch bleiben sie in ihrer praktischen Wirkung und Reichweite immer nur partikular. – Dieses Buch befasst sich mit den generativen Universalien selbstredend aus der Perspektive der aufgeklärt westlichen, geistes-, kultur- und naturwissenschaftlich geprägten Moderne. Es geht um die „Auswicklung“14 des Universalen, wie es auch in ihr verborgen wirksam ist, wobei das Universale gar nicht lebensfähig wäre, wäre es „skelettiert“, und nicht „eingewickelt“ in die Vielfalt des Besonderen und Partikularen. 3. Der Unterschied von Fremd- und Selbstwahrnehmung, von Außen- und Innenperspektive – „die anderen“ und ich: Jedes menschliche Individuum, das übers Kleinkindalter hinaus und zu Bewusstsein gelangt ist, nimmt die Aszendenz, das Geschlecht und den Tod, also die Problematik der generativen Universalien immer zugleich aus zwei unterschiedlichen Perspektiven wahr: als Fremdes und als Eigenes; als Aszendenz, Geschlecht und Tod der anderen und als eigene Aszendenz, eigenes Geschlecht, eigenen Tod, d. h. eigene Endlichkeit. Primär und für das gesamte Leben fundierend wird diese Perspektivendivergenz in den Anfängen des psychischen und kognitiven Lebens des Individuums konstituiert: in der (leiblichen) Triade von Vater, Mutter und Kind. Die Triade, die ein bestimmter Mann als Vater, eine bestimmte Frau als Mutter und das aus ihrer Beziehung hervorgehende Kind miteinander bilden, wird von allen dreien unvermeidlich ganz unterschiedlich erlebt, erfahren und wahrgenommen. Das Kind erkennt die Eltern als seine Vorfahren (Aszendenz), während die Eltern umgekehrt auf ihr Kind als ihren Nachkommen (Deszendenz) blicken. Hinzu kommt die der Triade immanente Geschlechterpolarität: Der Mann und Vater kann selbst nicht die Erfahrung der Schwangerschaft machen; die Frau und Mutter nicht die der Zeugung. Diese engsten Verwandten können ihre je unterschiedliche Perspektive, die sie auf die anderen beiden Beteiligten an der Triade haben, nicht miteinander tauschen. So ist es just diese Konstellation, in der (zuallermeist) die primäre Sozialisation stattfindet, in der das Kind nicht nur die Fähigkeit zur Wahrnehmung generell erwirbt, sondern sie erwirbt als Doppelung von Fremdund Selbstwahrnehmung, als Wahrnehmung „der anderen“ (der Eltern, als du und als ihr) und Wahrnehmung seiner selbst (als ich). – Auch die Erfahrung des Todes wird in der Regel zunächst in der Fremdwahrnehmung gemacht: als der Tod der anderen, meist der Tod der eigenen Vorfahren, der Großeltern, der Eltern, historisch in großem Umfang auch in Gestalt des Todes von Geschwistern etc. Der Frühkindheit entronnen, weiß ich aber, dass auch ich sterben und mich mit meinem

14 Heidegger verwendet diesen Begriff analog im Kontext seiner Reflexionen über den Tod, vgl. § 48 in Sein und Zeit.

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eigenen Tod auseinandersetzen muss. Unweigerlich erscheinen die generativen Universalien dem Einzelnen daher immer in dieser Doppeltheit von Fremd- und Eigenperspektive, die anderen und ich. Gernot Böhme verfolgt einen ähnlichen Gedanken, wenn er sagt: „Körper ist die Natur des Menschen in Fremderfahrung. Leib ist die Natur des Menschen in Selbsterfahrung.“15 Jenseits der Wahrnehmung – sei es der Wahrnehmung des Eigenen oder der des Fremden – gibt es aber ein Reich von Geschehnissen und Vorgängen, das sich der Wahrnehmung ganz oder relativ entzieht: das Unbewusste in seinen verschiedensten Ausprägungen. Menschen sind qua Sozialisation in der Lage, regelgeleitet zu handeln, ohne sich dieser Regeln überhaupt bewusst zu sein oder bewusst sein zu müssen; sie sind z. B. in der Lage, in ihrer Muttersprache korrekt zu sprechen, ohne je über Grammatik nachgedacht zu haben. Solche Regeln können immerhin reflexiv bewusst gemacht werden, aber das ist nicht zwingend notwendig, um sie in der Praxis auch „unbewusst“ richtig anwenden zu können. Dem vergleichbar ist auch die Einbettung in Welt, Gesellschaft und Geschichte: Wir exekutieren sie, ohne uns der Voraussetzungen und der Folgen unseres Tuns immer voll bewusst zu sein. Auch hier bestehen Möglichkeiten der Reflexion, nicht zuletzt der wissenschaftlichen Reflexion, um uns die Welt bewusster zu machen und anzueignen. – Konstitutionell Unbewusstes gibt es dann aber vor allem im Reich der Psyche. Mit dem Verlassen der frühen Kindheit werden wir von der Erinnerung an das Erleben unserer eigenen seelisch-körperlichen Anfänge durch Amnesie abgeschnitten. Das Bewusstsein, das Ich, entsteht aus einem seelisch Diffusen durch Interaktion mit „den anderen“ (zuerst mit den Eltern). Dieses Diffuse ist aber unauflösbar, eine Grundschicht bleibt dem Individuum als Unbewusstes (als Seelisches und mit etwas anderen Akzenten als das Freud’sche Es) dauerhaft erhalten. Ggf. ist es der Fremdwahrnehmung (der Wahrnehmung des Therapeuten) besser zugänglich als der Eigenwahrnehmung des Individuums. Insofern das Ich, das Bewusstsein, ohnehin nicht unumschränkt Herr im eigenen Haus und schon gar nicht in der Welt ist, ist auch die Frage der Unterschiedlichkeit der Fremd- und Eigenwahrnehmung der Verwandtenpositionen von nur relativer Bedeutung; für die Wahrnehmung der Verwandtenpositionen aber ist sie konstitutiv. 4. Keine einfachen Kausalitäten, keine Funktionalitäten, gebrochene Wirkungen: Das Verhältnis von Gattung und Gesellschaft und deren Aufeinandertreffen im Lebensvollzug des modernen Individuums sind nicht leicht zu fassen. Beides, Gattung und Gesellschaft, dann aber auch das Individuum sind eigenständige Sphären, die jeweils eine gewisse Autonomie in ihrer Entfaltung haben. Doch sie reagieren wechselseitig aufeinander. Dabei geht es nicht um einfache Kausalitäten oder darum, das eine als eine Funktion des anderen, etwa nach dem Modell von Basis

15 Gernot Böhme (2019), S. 41.

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und Überbau, zu begreifen. Man hat es eher mit gebrochenen Wirkungen, zumal Wechselwirkungen, Halbabhängigkeiten, Prädeterminationen, Teilautonomien, letztlich mit unauflösbaren Spannungszuständen zwischen ihnen zu tun. Das ist gedanklich auf den Punkt zu bringen. 5. Betonung der Zeitachsen: Bei der Betrachtung der Sphären von Gattung, Gesellschaft und Individuum liegt der Akzent hier auf den Zeitachsen, die ihnen jeweils immanent sind. Es sind derer drei: in der Gattung eine evolutionsgeschichtliche, in der Gesellschaft eine historische, beim Individuum eine ontogenetisch-biographische. Gattung und Evolution entfalten sich in der Permanenz von Zyklen des Entstehens und Vergehens, in den höheren Gattungen den Zyklen der Generationen. Gesellschaft entfaltet sich hingegen in komplexen, länger oder kürzer andauernden historischen Entwicklungen, die meist eine bestimmte Richtung haben, die sich aber auch ändern oder partiell abbrechen, später ggf. wieder auftauchen können. Ohne hier ein geschichtsphilosophisches Telos behaupten zu wollen, gibt es, und dies besonders in der Geschichte der Gesellschaft so etwas wie eine welthistorische Tendenz („Rationalisierung“), die in ihren Grundzügen kaum revidierbar ist. Das Individuum, das in beiden Sphären – Gattung und Gesellschaft – situiert ist, vollzieht in seiner Biographie beide Zeitmodi nach: das Zyklische der Gattung durch Geburt, den gerichteten Durchgang durch die Lebensalter und den Tod, das Gesellschaftliche in seiner Aktivität in Beruf, Markt, Politik etc. Dabei erfährt es zum einen lebenslange Kontinuität, nämlich die je eigene individuelle Konstellation seiner generativen Universalien (die hier als „Apriori-Individualität“ herausgearbeitet wird), zum anderen durchläuft es in Abhängigkeit von den historisch und sozial jeweils vorhandenen Gegebenheiten der Gesellschaft eine prinzipiell offene Entwicklung. (Siehe dazu Teil II: Das Eindeutige und das Schillernde am Individuum) 6. Zum Begriff der Gattung: Gemäß der biologischen Systematik ist es nicht ganz korrekt, von der heutigen Menschheit als „Gattung“ zu sprechen. Die heutige Menschheit, der Homo sapiens, ist eine „Art“ und gehört zusammen mit anderen Arten wie etwa dem Neandertaler und dem Denisova-Mensch, mit denen er sich partiell vermischt hat, die dann aber ausgestorben sind, der Gattung Homo an. In der philosophischen und kulturwissenschaftlichen Tradition ist für die Menschheit jedoch zumeist der Begriff der Gattung verwendet worden.16 Auch in den Bezeichnungen des Gattungswesens, des Gattenpaars oder der Gattenfamilie klingt der Begriff noch an. An diese Denktradition wird hier angeknüpft. Wenn hier von Gattung, von Menschheit und von Menschenfamilie die Rede ist, ist i. d. R. im engeren Sinne die Art Homo sapiens gemeint.

16 Siehe etwa den thematisch weit ausgreifenden Sammelband: Gattung Mensch (2010).

Teil I Aszendenz und Aszendentenstelle: Jeder Mensch ein individueller Abkömmling der Gattung

Die Frage nach der Herkunft einer bestimmten Person und damit die Frage ihrer Prägung durch diese ihre Herkunft, ihre Sozialisation, berührt mindestens drei Sphären: Erstens woher kommt die Person lokal, aus welchem Ort bzw. welcher ortstypischen Kultur, welchem Land bzw. welcher Nation? Zweitens, wann ist sie geboren, d. h. welcher historischen Generation (Kohorte) gehört sie an, welche zeittypische Generationenprägung hat sie erfahren? Drittens: Aus welcher Familie kommt sie, wer und was sind oder waren ihre Eltern und ihre ferneren Vorfahren, was auch die Frage beinhaltet, von wem hat sie ihren Körper? Diese Trias von Ort, Zeit und Abstammungsverwandtschaft (Aszendenz) ist es, die mit der Frage nach der Herkunft einer Person und damit der Frage nach wichtigen Merkmalen dessen, wer sie eigentlich ist, welche Perspektive subjektiver Weltwahrnehmung und Welterfahrung in ihr grundgelegt ist, aufgeworfen wird. In der Einleitung wurden diese drei Dimensionen räumlich gefasst, als: geographisch-kultureller Raum (Territorium), als (historisch bestimmter) „Zeitraum“ und als „Verwandtenraum“. Doch bei der Frage, wer die Person eigentlich sei, geht es noch um viel mehr. Mindestens gleichwertig zur Herkunftsfrage ist die Frage, welches Geschlecht die betreffende Person hat und in welcher Gestalt es sich bei ihr Ausdruck verschafft. Auch haben wir gesehen, dass die Vagheit des Seelischen dabei nicht außer Acht gelassen werden kann. Je nach Kontext bezieht sich die Frage, wer und was jemand ist, auch auf seine bzw. ihre berufliche Stellung im Leben: Ich bin Ärztin, ich bin Tracker, ich bin Ingenieur, ich bin Kauffrau, ich bin, da Schulabbrecher, in prekären Verhältnissen. Für ein tiefes Verstehen der Person ist dann aber auch die Frage von Bedeutung, wie sie sich zur Problematik der Endlichkeit verhält, was wiederum die Frage nach dem Seelischen berührt – als Christ, als Buddhist, als Agnostiker (etc.). Sparen wir uns diese zuletzt genannte Frage, die in diesem Zusammenhang die schwierigste ist, für den Schlussteil auf und konzentrieren uns in diesem Teil auf die Herkunftsfrage. „Ein ganz anderer“ wäre man hinsichtlich der Bildung und der Wirkung nach außen geworden, wäre man nur zehn Jahre früher oder später geboren – so formulierte es schon Goethe in den einleitenden Ausführungen seiner Autobiographie („Dichtung und Wahrheit“). „Ein ganz anderer“ wäre man aber auch geworden, wäre man in einer anderen Stadt als in der eigenen, einer Stadt mit sehr divergenter Sprache und Kultur zu der eigenen, groß geworden. (Goethe in der Reichsstadt Dortmund oder in Lyon geboren und aufgewachsen.) Und „ein anderer“ wäre

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man vor allem aber auch geworden, wäre man Kind nicht dieser Eltern und dieser Großeltern hier (Goethe nicht als Sohn eines wohlhabenden und gebildeten Privatiers und einer liebevollen Mutter sowie Enkel eines höchst eindrucksvollen Stadtschultheißen, sondern als Abkömmling einer Metzgerfamilie aus einem Nachbarquartier seiner Heimatstadt). Mit der Zeitgebundenheit der Prägung des Individuums nahm Goethe schon das soziologische Paradigma der Generationenprägung durch Kultur und Zeitgeschichte, wie Karl Mannheim es mehr als hundert Jahre nach ihm dann entwickelt hat, vorweg. Dass bei Betrachtung der Herkunftsprägung einer bestimmten Person die historische Zeit (Zeitraum) und die ortstypische Umgebungskultur (Territorium) zwar notwendige, aber eben keine hinlängliche Parameter darstellen, macht ein Blick auf eine beliebige Geburtsstation offenbar: Hier liegen Neugeborene, die am gleichen Ort und am gleichen Tag zur Welt kamen, die ihre biographische Prägung vielleicht in der gleichen Stadt, gewiss aber in der gleichen historischen Zeit erhalten werden, die also ein und derselben Kohorte angehören, aber: Sie stammen aus unterschiedlichen Familien. Und die Familiengeschichten, die hinter ihnen stehen, ihre Aszendenzen, sind verschieden, bei der Geburtsstation in einer stark multikulturell geprägten Stadt unter Umständen sogar sehr verschieden. Kinder der gleichen Geburtenkohorte und des gleichen Geburtsortes werden dank der Eigenart ihrer familiären Herkunft daher sehr verschieden sein und eine sehr unterschiedliche Entwicklung nehmen. Im Alltag der Gesamtheit einer bestimmten Community sind die Motive von Ort, Zeit und Familie (Aszendenz) unauflösbar verflochten. Römer in der Antike, Bergbauern in Österreich des Spätmittelalters, Berliner des 19. Jahrhunderts oder Berliner während der NS-Zeit, Bewohner New Yorks oder des Mittleren Westens zu Beginn des 21. Jahrhunderts – große und einflussreiche Generalnenner. Innerhalb dieser bleiben aber auch die kulturellen Prägungen, die unmittelbar von der Familie ausgehen, also die Prägungen durch die konkrete Aszendenz, meist erkennbar und begründen eine zum Teil große Differenz zwischen den Orts- und Zeitgenossen. Stark sichtbar wird dies bei der sprachlichen Sozialisation, wo Minderheiten eine andere Sprache sprechen und ihren Kindern vermitteln als die der Mehrheitsgesellschaft. Das gleiche gilt vor allem für religiöse Minderheiten; die jüdische Diaspora vor allem ging kulturell über Jahrtausende hinweg weltweit ihren eigenen Weg. Es sind dies besondere Ausprägungen einer „kulturellen Ahnenschaft“, die über die Aszendenz vermittelt wird und über die wir letztlich alle verfügen. Multikulturell geprägte Gesellschaften machen dies in ihrer inneren Zusammensetzung besonders deutlich: Wohl jeder US-Amerikaner hat, auch wenn seine Familie schon seit vielen Generationen in Amerika lebt, ein Bewusstsein dessen, woher seine direkten Vorfahren kamen; von den ganz wenigen Indigenen (der „first nation“) abgesehen, wissen sie alle, dass sie von Einwanderern (inklusive der als Sklaven zwangsweise ins Land gebrachten Schwarzen) abstammen. Insbesondere weiße Amerikaner forschen in Europa, dort in Kirchenbüchern und auf Friedhöfen namentlich nach ihren

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Vorfahren. In enger Verbindung zu solch kultureller Vorfahrenschaft steht die Frage der Staatsbürgerschaft und die nach den kollektiven Rechten und Pflichten, die an ihr hängen. Auch die Staatsbürgerschaft erhält man primär durch Erbe von den Eltern (nur sekundär durch Geburt auf dem Staatsterritorium oder durch Einbürgerung oder in Würdigung der exterritorialen Herkunft der Eltern durch doppelte Staatsbürgerschaft). Auch die konkrete einzelne Familiengeschichte hat, je nachdem, eine hohe Prägekraft für das Individuum. Besonders markant ist dies beim historischen Adel, insbesondere dem Hochadel der Fall, dessen Sprösslinge (auch nach seiner historischen Entmachtung noch) sich qua Aszendenz deutlich von den Angehörigen ihrer Kohorte und ihrer sozialen Umgebung absetzen. Schließlich hängt an der Familiengeschichte und der Aszendenz immer auch die Exklusivität der familiären Erbschaft: Haus, Vermögen, Stand, die man von den Eltern und Großeltern erhalten hat, können einen großen Startvorteil gegenüber anderen Ortsund Zeitgenossen bedeuten, begründen eventuell auch besondere Verpflichtungen oder werden unter Umständen auch zur Bürde. Es sind all dies Elemente der familiären Herkunft, die ein Individuum gegenüber anderen, deren Aszendenz keine solchen kulturellen oder materiellen Distinguierungsmerkmale aufweisen, privilegieren können. An der Aszendenz haftet ganz unweigerlich ein dynastisches Potenzial, das je nach Umständen scharf oder nur gedämpft zur Entfaltung kommt oder sogar ins Negative, Diskriminierende umschlagen kann. In ihrem inneren Kern bedeutet Aszendenz Abstammung, genauer: Abstammungsverwandtschaft. Aszendenz hat egalitär jedes Individuum, auch das, welches nichts erbt, das staatenlos ist oder das als Findelkind nicht weiß, wer seine Aszendenten, seine (leiblichen) Eltern, überhaupt sind. Aszendenz ist das unauflösliche Momentum der Familiengeschichte – analytisch gesehen jenseits von Ort und Zeit, wenn auch empirisch immer mit ihnen verwoben. Der Akzent liegt hier in diesem Buch, in dem es um die Stellung des Individuums zwischen Gattung und Gesellschaft geht, auf der Aszendenz (und weniger bei Ort und Zeit, deren Bedeutung für die Prägung des Individuums damit nicht infrage gestellt oder auch nur relativiert sein soll.) Dabei gibt es vor allem einen Aspekt an der Aszendenz, der in der Einleitung schon angeklungen ist: Die Aszendenz gibt auch Auskunft darauf, woher und das heißt, von wem ein Individuum seinen Körper hat. Aszendenz bedeutet auch die Kontinuität der einzelnen Körper in der Abfolge der Generationen, das Andauern des Keimplasmas durch ständige Neukombination. Der Übergang von einem Körper zum anderen: vom zeugenden Körperleib des Vaters und dem empfangenden und gebärenden Leib der Mutter zum Körper des Kindes, ist in der menschlichen Gattung dabei immer kulturell bzw. sozial bestimmt. Soziales, Körperliches und Leibliches greifen im Prozess der Familiengründung (und darüber hinaus) zyklisch ineinander.

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Die körperliche Basis der Verwandtschaft wird durch die Hilfswissenschaft der Genealogie erforscht: ausgehend von einem Probanden seine Aszendenz in ihrer Tiefenräumlichkeit, ggf. auch seine Deszendenz und seine Seitenverwandtschaft. Die kleinste und unauflösbare Einheit der Aszendenz ist die Zeugungstriade: das Dreieck von Vater, Mutter und Kind. Wie angemerkt nehmen die unmittelbar daran Beteiligten sich selbst und die beiden anderen sehr unterschiedlich wahr; ihre Position ist relativ zu der der anderen, sie können sie nicht mit ihnen tauschen. (Das englische „relative“ oder „relationship“ bringt diese unauflösbare Perspektivendivergenz der miteinander verwandten Personen besser zum Ausdruck als die deutsche Bezeichnung Verwandtschaft.) Nehme ich meine eigene Abstammungsverwandtschaft in den Blick (die Perspektive des Kindes), erscheint sie mir als etwas, das vor meiner Existenz bereits gegeben war, etwas, zu dem ich als Person aus einer Position der Passivität heraus ein Verhältnis finden kann und muss: Meine Eltern, meine Großeltern und weitere Vorfahren (oder zumindest die, die ich dafür halte) sind nun einmal unabdingbare Tatsachen meines Lebens. Eine vollkommen andere Perspektive auf meine Aszendenz (im engeren Sinne auf meine Herkunftstriade) nehmen hingegen meine Eltern ein. Was mir Aszendenz ist, ist ihnen selbst unmittelbar Deszendenz. Werfen die Eltern einen Blick auf meine Aszendenz, die Aszendenz ihres gemeinsamen Kindes oder eben auf die Triade, erleben sie sie nicht als etwas Gegebenes, sondern als Resultat ihrer Aktivität: nämlich der Gattenwahl, die sie, sie beiden (oder andere für sie), getroffen haben und die sie zusammengeführt hat, und ihres generativen Verhaltens, also ihrer Sexualität. (Leibliche) Abstammungstriade als etwas unverrückbar Gegebenes für mein eigenes Leben, wenn ich in der Position des Kindes bin, einerseits; Abstammung als eine Verwandtschaftsstruktur, die ich bzw. die wir in der Position als Vater und als Mutter im Fall unseres Kindes durch unser Verhalten und Handeln gemeinsam gestalten, andererseits. Leibliche Abstammung ist daher immer unauflöslich beides zugleich: menschlich aktiv Gestaltetes (aus der Perspektive auf meinen Nachwuchs, die Zukunft, meine Deszendenz – und zwar aktiv Gestaltetes nicht nur einmalig, sondern die Generationen tun es in Abfolge immer wieder), menschlich passiv Gegebenes (aus der Perspektive auf meine eigene Herkunft, meine Vergangenheit, meine Aszendenz). Aszendenz habe ich mit meiner puren Existenz, Deszendenz muss ich durch Handeln erst erlangen.

Kapitel 1 Die menschheitsgeschichtliche Universalität der Aszendenz Um diesen Zusammenhang analytisch zu durchdringen, ist der Adel im Europa des Ancien Régime aufgrund der geschlossenen Heiratskreise über zwanzig bis dreißig Generationszyklen hinweg ein besonders interessantes, weil überaus er-

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kenntnisträchtiges Untersuchungsobjekt. Im Adel, der im Bewusstsein zahlreicher Generationszyklen und großer Verwandtschaftszusammenhänge lebte und damit zurück sowohl wie nach vorne immer über die Lebenszeit des einzelnen Individuums hinaus dachte, hatte man für die elementaren Zusammenhänge zwischen Gattenwahl und Aszendentenstruktur der Nachkommen lebensweltlich ein sicheres Gespür. So war es, wie in der Einleitung erwähnt, denn auch die intensive empirische Erforschung adliger, konkret fürstlicher Verwandtschaften, noch präziser: die monographische Rekonstruktion einzelner Abschnitte der Habsburger Familiengeschichte, dank derer die universalen Grundlagen der Aszendenzproblematik ursprünglich überhaupt erst begrifflich auf den Punkt gebracht werden konnten.17 In modernen, stark individualistisch geprägten Lebensformen sind für solche Fragen das Verständnis und das Sensorium weitgehend verloren gegangen, weshalb sie auch etwa in der soziologischen Fachdiskussion im Allgemeinen keine Rolle spielen. Tatsächlich bietet das Leben in der Moderne methodisch keinen wirksamen Ansatzpunkt, um diese Problemstellung, der eine universelle Dimension innewohnt, aufzuschließen und zu entfalten. Und doch agiert man als Mensch in und mit der gleichen Problematik auch heute: Entscheidet sich Herr Meier im Hinblick auf Familiengründung für Frau Müller – et vice versa – wird er andere Kinder haben als er sie mit Frau Becker gehabt hätte. Seine Kinder werden eben Meier-Müller-Kinder sein, nicht Meier-Becker-Kinder. Ein bisschen Einbildung, ein bisschen Rätselhaftigkeit über das Wesen der Kinder bleibt dennoch dabei im Spiel. Ihr Schicksal ist dank ihrer (leiblichen) Abstammung nicht determiniert, es ist aber auch nicht gänzlich unabhängig von ihr. Wer sind sie? Wie viele Herr Meiers haben ihre Kinder fraglos für die eigenen gehalten, ohne je erfahren zu haben, dass ihre Frau sie in einer geheim gehaltenen Liaison von Herrn Schmidt empfangen hat, und wie viele solcher leiblicher Schmidt-Kinder haben ein Leben lang unwissentlich und gut damit gelebt, sich selbst für Meier-Kinder zu halten und wurden wegen dieses Dafürhaltens auch in sozialer und familienrechtlicher Hinsicht Meier-Kinder. In wie vielen Familien mag solch ein unentdecktes „Geheimnis“ der Mutter – ein Kuckuckskind – objektiv Teil der Familienvita sein? Und wenn sie, die Mutter, damit leben konnte, konnte sie damit auch sterben? Hatte sie die Kraft, ihr Geheimnis mit ins Grab zu nehmen? Heute im Zeitalter objektiver Genanalysen lassen sich solche Geheimnisse unter Umständen nicht mehr schützen, der alte römische, noch bis vor Kurzem gültige Rechtssatz „pater semper incertus est“ hat seinen Sinn verloren. Die grundlegende Frage, um die es bei jedem einzelnen Akt der Familiengründung, bei der Zeugung eines jeden einzelnen Kindes, bei der Herstellung und

17 Siehe zu den nachfolgenden Ausführungen das erwähnte Buch: A. Hansert, Welcher Prinz wird König? (1998).

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Konstitution einer jeden Abstammungsstruktur geht, hat immer und zwingend eine genealogisch tiefen- und großräumliche Dimension, nämlich in der Öffnung zur Universalität der Gattung. Wohl ist der einzelne Akteur, die einzelne Akteurin sich dessen in der Regel nicht bewusst und muss es auch nicht sein; er und sie wirken und agieren dennoch unumgänglich innerhalb eines großen, und nicht nur eines großen, sondern eines universalen Verwandtschaftsraums – wobei „Verwandtschaft“ hier zunächst sehr allgemein und abstrakt, und nicht in ihren konkreten historischen und alltäglichen Ausbildungen, Begrenzungen und Akzentuierungen verstanden werden soll. (Dazu mehr in Kapitel 3) Diese Feststellung, im Universalen zu agieren, mag trivial klingen, ist jedoch folgenreich. Einige einfache genealogische Überlegungen verdeutlichen die Zusammenhänge: Über meine Eltern und Großeltern hinaus habe ich in der Familiengeschichte zurückgehend eine unendliche Anzahl von Vorfahren: zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern, mit jeder weiteren Generation theoretisch eine Verdoppelung der Zahl nach der Formel 2n . In räumlicher Darstellung öffnen sich meine Aszendenten von Vorfahrengeneration zu Vorfahrengeneration aufsteigend, d. h. „aszendierend“, trichterförmig, wie in dem folgenden Schaubild:

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Unendlich – zumindest theoretisch unendlich – ist die Zahl meiner Vorfahren aber nur in der vertikalen, also der historischen oder eben der aszendierenden Tiefendimension: Ich kann theoretisch unendlich weit in der Generationenfolge zurückgehen. Setzen wir pro Generation ca. 30 Jahre an, bin ich zehn Generationen zurückgehend bei meinen Vorfahren, die ca. 300 Jahre vor mir gelebt haben. Das stimmt in etwa mit den Ergebnissen der genealogischen Familienforschung überein. Für einen Mitteleuropäer, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren ist, existierten seine Vorfahren in der 30. Generation dann etwa im 11. Jahrhundert – das wäre das Zeitalter der Salierkaiser. Das ist ein Zeitraum, in dem die konkrete Familienstruktur in bestimmten Fällen, nämlich denen des europäischen Hochadels, durch genealogische Aufzeichnungen und Forschung empirisch noch weitgehend personell recht genau bestimmt werden kann. Noch weiter zurückgehend, verschwinden, wenn auch nicht genealogisch identifizierbare Daten schlechthin, so doch genealogisch von heute ab kontinuierlich zurückverfolgbare Linien (vor allem Mannesstammlinien) dann aber meist ganz im Dunkel der Geschichte. Ungeachtet genealogischer Protokollierung geht die Abstammungsreihe aber natürlich weiter zurück – hundert und Hunderte von Generationen, tausend und Tausende bis in die Tiefen der Evolutionsgeschichte hinein. Doch bevor man in dieses Dunkel spekulativ hineinleuchtet, empfiehlt es sich, zunächst einmal auf jenem historischen Terrain zu verbleiben, das in seinen vom europäischen Adel repräsentierten Segmenten durch genealogische Familienforschung hinlänglich bekannt und vertraut ist. Ist die Zahl der Vorfahren in der vertikalen Dimension quasi unendlich, so ist sie es nicht in der horizontalen. Querliegend im trichterförmigen Aszendentenbaum, innerhalb einer ganz bestimmten Vorfahrengeneration ist ihre Zahl immer endlich: Eltern habe ich zwei – nicht mehr und nicht weniger –, maximal vier Großeltern, maximal acht Urgroßeltern, maximal 16 Ururgroßeltern etc. Doch bereits hier, in der nahen und nächsten Vorfahrenschaft, können es weniger sein, und zwar dann, wenn Ehen zwischen Verwandten unter meinen direkten Vorfahren vorliegen und ich mit einzelnen von ihnen über mehrere Abstammungslinien zugleich verwandt bin. Die Genealogen nennen dieses Phänomen Aszendentenimplex (Ahnengleichheit, umgangssprachlich Ahnenschwund). Diese Verwandtenehen sind ein sehr interessantes Phänomen. Gehe ich nämlich weit genug in meiner je eigenen Abstammungsreihe zurück, erweist sich Verwandtschaft unter meinen Vorfahren – der Aszendentenimplex – als universell: Wir sind alle Produkte von Ehen oder Zeugungsbeziehungen unter „Verwandten“; unsere entfernteren Vorfahren sind genealogisch näher oder ferner alle miteinander verwandt und bilden ein einziges großräumiges Verwandtschaftsgeflecht. Der Verwandtenraum ist in der Ferne quasi gebeugt und zerklüftet. Wie diese eigenartige Strukturierung der Vorfahrenschaft zustande kommt, soll beispielhaft an einem historischen Fall aus der Habsburger Familiengeschichte dargestellt werden, der dank sehr enger Verwandtenehen das Phänomen des Aszen-

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dentenimplexes besonders drastisch zur Anschauung bringt. Wie gesagt eignen sich hochadlige Dynastien methodisch für solche Fragestellungen stets besonders gut, da die Verwandtschaft in ihren vertikalen und horizontalen Dimensionen großräumig, d. h. über 20 und mehr Generationen hinweg meist komplett bekannt ist. Im Folgenden sei (nachdem er in der erwähnten Publikation „Welcher Prinz wird König?“ von 1998 bereits zum Helden für dieses Argument geworden war) der Habsburger Kaiser Leopold I. (1640‒1705) als Beispiel angeführt. Von ihm ebenso wie von seinen drei Ehefrauen, die er infolge von Todesfällen der Reihe nach geheiratet hat, sind alle Vorfahren über viele Generationen hinweg so genau bekannt, dass man die genealogisch weiträumige Dimension der Familiengründung hier an einem konkreten historischen Fall veranschaulichen kann.18 Auch die Familiengründung des bürgerlichen Herrn Meier hat objektiv diese weiträumige Dimension. Nur wird sie nicht so gut sichtbar wie im Fall des Kaisers, dessen genealogisches Vor-, Nach- und Umfeld weiträumig bekannt ist. Nehmen wir als Referenzbeispiel noch einmal das vorherige Schaubild. In ihm wird davon ausgegangen, es habe in den sechs dargestellten Generationen, die man vom Probanden (dem Kind) aus in den Vorfahrengenerationen hinaufsteigt, keine Verwandtenehen gegeben, sodass der gesamte Aszendentenbaum auch formal und empirisch vollständig ist. Bei Leopold ist dies anders. Er ist interessant vor allem wegen des dramatischen Aszendentenimplexes, den er durch seine drei Gattenwahlen, hier vor allem bei der ersten, für seine Kinder erzeugt hat. Wurde im fürstlichen Adel generell innerhalb der eigenen Kreise geheiratet, so trieben die Habsburger des 16. und 17. Jahrhunderts diese Praxis aufgrund der seinerzeitigen machtpolitischen Zwänge der österreichisch-spanischen Familienallianz auf die Spitze. In seiner ersten Ehe heiratete Leopold 1666 Margarita Maria Terese (1651–1673) aus dem spanischen Zweig der Habsburger. Sie war zugleich seine Cousine und seine Nichte. Daher haben seine Kinder aus dieser Ehe statt acht Urgroßeltern empirisch nur vier, also die Hälfte. Aufgrund weiterer Verwandtenehen unter seinen Vorfahren ist der Aszendentenbaum seiner Kinder aus dieser Ehe gegenüber dem Referenzbeispiel im Schaubild auf S. 42 extrem ausgedünnt; die Beugung des Verwandtenraums wird hier unmittelbar sichtbar (siehe das Schaubild vis à vis S. 45). Dank des Heiratsverhaltens ihrer Ahnen und hier vor allem der Eltern ist es dieser ungewöhnlich stark

18 Die genealogischen Daten, die der nachfolgenden Argumentation zur Verwandtschaft von Kaiser Leopold I. zugrunde liegen, wurden teilweise schon in der früheren Publikation der Autorin (siehe A. Hansert (1998), S. 258–261) unter Verwendung der dort genannten genealogischen Nachschlagewerke rekonstruiert. – Jetzt wurde zusätzlich die Internetdatenbank ww-person.com herangezogen, die Prof. Dr. Herbert Stoyan, Emeritus an der Universität Erlangen, in jahrzehntelanger Forschungsarbeit erstellt hat. Die Datenbank ermöglicht die Generierung von Ahnenlisten nach dem Kekule-System, nach denen sich dann die in den hier angeführten Schaubildern abstrahiert dargestellten Aszendentenbäume der Kinder Leopolds zeichnen ließen.

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ausgedünnte Aszendentenbaum, der für die Kinder aus dieser Ehe zum Zeitpunkt ihrer Zeugung retrospektiv zur Gegebenheit ihres Lebens geworden ist. Dieser so überaus markante und charakteristische Aszendentenbaum der leopoldinischen Kinder ist nachfolgend Ausgangspunkt für zwei weiterführende Deutungen: Die erste betrachtet die Vertikale des Baums in aufsteigender, sprich aszendierender Richtung, fragt also, wie und wohin der gestutzte Trichter sich in seiner virtuellen Öffnung nach oben hin denn weiter entwickelt, und stößt so unvermittelt auf die allgemeine Populations- und Gattungsgeschichte; die zweite wendet sich in die andere, die deszendente Richtung und betrachtete die markant nach unten gerichtete Spitze des Baums, die Triade von Vater, Mutter und Kind, auf die das ganze Konstrukt sich zielgerichtet zu beziehen scheint. Der Aszendentenbaum entpuppt sich so als struktureller Link zwischen Gattungsgeschichte und Individuum – zwischen Universellem und Einzelnem, zwischen Menschenfamilie und Person. Das Phänomen des Aszendentenimplexes ist wie gesagt von allgemeiner Bedeutung. Denn das Pendant zur adlig-dynastischen Herkunft des Kaisers ist beim Normalsterblichen die Populationsgeschichte, in der die kurze Sequenz der familiären Generationenabfolge, derer er sich bewusst ist, zurückblickend bald schon aufgeht und im Anonymen verschwindet. Das Besondere des Aszendentenbaums von Leo-

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polds Kindern besteht nur darin, dass er den Aszendentenimplex in einer besonders frühen Generationenstufe unter den Vorfahren – eben schon bei den Urgroßeltern – zum Vorschein bringt und es dadurch in graphischer Darstellung sehr anschaulich gemacht werden kann. (Auch bei sozial stigmatisierten Kleinstgruppen wie etwa den Scharfrichterfamilien oder geographisch abgeschieden lebenden Kleinstpopulationen ließen sich Aszendentenbäume wie den der leopoldinischen Kinder wohl beobachten, wenn die genealogischen Daten über Generationen hinweg protokolliert worden wären.) Aber auch alle anderen Menschen haben bei Betrachtung ihrer Aszendenz einen Ahnenverlust. Der Ahnenverlust, der sich in verschiedenen Graden universell bei jedem Individuum einstellt, ist eine mathematisch zwangsläufige Folge der demographischen Abgeschlossenheit der Populationen und der zahlenmäßigen Begrenztheit letztlich der gesamten Menschheit. Dreißig Generationen vor der Geburt eines beliebigen menschlichen Individuums der Gegenwart – in Mitteleuropa also etwa in der Salierzeit – hätte dieser rein rechnerisch mehr Vorfahren als die gesamte damalige Weltbevölkerung überhaupt umfasste – von der regionalen Population oder den Populationen, in denen er genealogisch seine Wurzeln hat, ganz zu schweigen –, nämlich: 230 , also über eine Milliarde. Wäre es möglich, nach dem Muster der leopold’schen Vorfahren den Aszendentenbaum dieses Jedermann über dreißig Generationen komplett zu rekonstruieren, stellte sich heraus, dass die Anzahl seiner damals tatsächlich lebenden Vorfahren im Verhältnis zur rein rechnerischen Anzahl der Vorfahren (d. h. eine kleine Handvoll, vielleicht nur wenige Tausend, im Verhältnis zu der genannten Milliarde) gegen null Prozent tendierte – sich allerdings eben nicht und nie auf null Prozent selbst reduzieren würde. Mit jedem dieser Vorfahren ist der heutige Jedermann aber durch vielfache Abstammungslinien gleichzeitig verbunden. Zwar wirkt zunächst das Inzesttabu, wenn auch nicht vollkommen, so doch sehr effektiv dagegen, dass er eine Familie mit seiner Mutter, seiner Schwester oder seiner Tochter gründet, und gerade seine sehr weit gefasste christlich-kirchliche Variante hat in der lateineuropäischen Geschichte nachhaltig bewirkt, dass nicht nur die nächsten, sondern auch die ferneren Cousinen als Gattinnen und als Heiratspartner noch ausgeschlossen blieben. Das hatte und hat noch immer zur Folge, dass der Aszendentenbaum eines durchschnittlichen autochthonen Mittel- und Westeuropäers sich über vier oder fünf Vorfahrengenerationen hinweg in seiner ganzen breiten Trichterförmigkeit voll und ohne personelle Lücke entfaltet: Sehr viele Durchschnittseuropäer haben auch in der Ururgroßelterngeneration noch 32 individuell verschiedene Vorfahren, während Leopolds Kinder dort bloß noch 31,25 % des maximal Möglichen aufweisen konnten. Vielleicht können viele in der nächsten Generation sogar noch 64 verschiedene Vorfahren anführen. Dann reduziert sich die Anzahl der tatsächlichen empirischen Vorfahren im Verhältnis zu der (exponentiell sich ausweitenden) rechnerischen Anzahl aber sehr schnell und drastisch; sie liegt wie gesagt schon in der Salierzeit weit unterhalb von einem Prozent und tendiert unweigerlich gegen

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null. Bereits in der nahen Vormoderne war die Gesamtzahl der Bevölkerung eines bestimmten Gebiets, vor allem aber auch die gesamte Weltbevölkerung kleiner und zwar sehr viel kleiner als die heutige Bewohnerschaft der Regionen und der Erde insgesamt. Genealogisch aber sind ein heute Lebender mit einem damals Lebenden über eine Vielzahl verschiedener Abstammungslinien verbunden. Der Gedanke ist weiter in die Historie zurückzuverfolgen, da die Kette der Vorfahren und der Generationszyklen zurückblickend ja nicht abreißt, sondern in menschheitsgeschichtlicher Dimension quasi „unendlich“ ist: Über das Zeitalter, da genealogische Protokollierungen partiell noch vorhanden sind, geht sie ebenso hinaus wie schließlich über das Zeitalter der in historischen Kategorien noch beschreibbaren Menschheit und der Dynastien der Pharaonen; sie reicht zurück in die Ur- und Vorgeschichte der Menschheit, als der Homo sapiens über Zehntausende von Jahren hinweg noch staatenlos im bloßen Naturzustand lebte, und entschwindet schließlich in der Megadimension der Evolutionsgeschichte. 20 bis 30 Generationen lassen sich anhand adliger Familien durch genealogische Forschung häufig noch namentlich komplett darstellen; auch wurde verschiedentlich versucht, genaue namentliche Abstammungslinien über 100 und mehr Generationen bis zu den Pharaonen zu rekonstruieren. Tausend Generationen können wir uns aber, was die namentliche Individualität der Aszendenz betrifft, nur noch theoretisch vorstellen. Die Genealogie, die die Vorfahren namentlich und in ihren jeweiligen Aszendenz- und Deszendenzverhältnissen benennt, kommt hier an ihr Ende und übergibt an die Populationsgeschichte, die Archäologie, die historische Sprachforschung, die Paläoanthropologie und seit wenigen Jahren vor allem auch an das neue Forschungsfeld der Archäogenetik.19 Nur wenige hundert Generationen von den heute lebenden Menschen zurück – sicher weniger als tausend – kommen wir in jenes großdimensionierte Zeitalter, in dem die Gattung Mensch und die Art Homo sapiens aus der Erd-, Natur- und Evolutionsgeschichte hervor- und in die Kulturgeschichte übergegangen ist. Allein die Entwicklung des aufrechten Gangs – die Erscheinung des Homo ergaster – dauerte zig Zehntausende von Generationen und Millionen von Jahren. Es sind unser aller Ursprünge, die Ursprünge der gesamten Gattung Homo, über die wir alle mit unserer je individuellen Aszendenz direkt und lückenlos verbunden sind. Die paläoanthropologische Erforschung der Ursprünge der Menschheit ist sehr im Fluss.20 Soweit scheint fachlich aber Konsens zu bestehen, dass verschiedene Arten der Gattung Homo sich von Afrika ausgehend schon früh, vor fast zwei Millionen Jahren, über Europa und Asien ausgebreitet haben: der Neandertaler,

19 Johannes Krause (2019). 20 Dazu eine zahlreiche Literatur. Vgl. u. a. Friedemann Schrenk (2019); Thomas Junker (2021); Menschsein (2021); bereits etwas älter: Chris Stringer/Robin McKie (1996).

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der Denisovamensch, der Pekingmensch u. a. Kontrovers diskutiert wurde, ob sich aus diesen Menschenarten in verschiedenen Regionen der Erde (von Australien und Amerika abgesehen) der moderne Mensch, der Homo sapiens, früh je parallel entwickelt hat (Multiregionalismus-These) oder ob er sich evolutionär erst später allein im Osten und im Norden Afrikas (jüngerer Fossilienfund in Marokko) entfaltet, sich erst seit etwa 100.000 Jahren dann in mehreren Wellen einerseits in den Süden des afrikanischen Kontinents, andererseits nach Norden über die Levante in die eurasischen Kontinente, von dort schließlich nach Australien und sehr spät, erst vor 15.000 Jahren über die Beringstraße nach Amerika ausgebreitet hat (Out-of-Africa-These). In der heutigen Diskussion dominiert die These des exklusiven Ursprungs des Homo sapiens in Afrika, der nach seiner dann erfolgten Ausbreitung über den Rest der Erde alle anderen älteren Arten, die dort bereits siedelten, entweder komplett verdrängt (Pekingmensch) oder sich in geringem Maße (wie beim Neandertaler oder dem Denisovamenschen) vermischt hat; solche marginalen Vermischungen sind in bestimmten Regionen mit wenigen Prozenten im Erbgut der heute lebenden Menschen nachweisbar. Der Homo sapiens ist demnach die einzige unter den verschiedenen Arten der Gattung Homo, die evolutionsgeschichtlich überlebt hat. Alle heute lebenden Menschen gehören dieser Art an. Eine kleine Gründerpopulation von einigen Zehntausend oder Hunderttausend Individuen des Homo sapiens stand so am Anfang dieser Entwicklung. Sie sind die Ureltern von mehr als 100 Milliarden Menschen, die es im Lauf der Menschheitsgeschichte gegeben hat und von denen heute mehr als acht Milliarden am Leben sind. Über den Funktionsmechanismus des Aszendentenimplexes lässt sich prinzipiell begreifen, wie diese acht Milliarden Menschen heute sich genealogisch auf bloß zehn- oder hunderttausend damals zurückführen lassen. So lässt sich gattungsgeschichtlich die Verbindung eines jeden heute Lebenden zum gemeinsamen Ursprung, der gemeinsamen Aszendenz aller Menschen denken – ein Ursprung, der natürlich immer relativ ist, da er selbst wiederum einen tieferen natur- und evolutionsgeschichtlichen Hintergrund hat, wodurch wir Teil der gesamten Schöpfung sind. Dank eines solchen gemeinsamen Ursprungs sind alle Menschen miteinander „verwandt“ – eng, wie mit dem Bruder und der Schwester, weit, denkbar weit wie beim Abkömmling einer fremden Population oder Ethnie, dessen urzeitliche Vorfahren in den prähistorischen Wanderungen der Menschheit einen anderen Weg gegangen sind als die meinen und die über Jahrtausende hinweg sich körperlich an andere Umweltbedingungen angepasst und die eine eigenständige kulturelle und sprachliche Entwicklung genommen haben, die ich heute als fremd empfinde. Für diese „Verwandtschaft“ wird es außerhalb der engsten Verwandten einen unmittelbaren genealogischen Nachweis naturgemäß nicht geben. Doch die Populationsgenetik kann zu kollektiven Graden der Verwandtschaft, ja sogar zu den allen gemeinsamen Ursprüngen durchaus Konkretes sagen. Die Figur der

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„mitochondrialen Eva“ ist mehr als eine bloße Metapher. Die DNA in den Mitochondrien, die exklusiv nur über Frauen und ihre Töchter weitergegeben werden kann (auch die Söhne erben sie, können sie aber nicht weitergeben), weist über die rein mütterlich-weibliche Abstammungslinie allen heute lebenden Menschen (auch den Männern) genealogisch direkt den Weg zu ihr. Es handelt sich um eine ganz bestimmte Frau, die vor rund 160.000 Jahren in Afrika gelebt hat. Viele tausend Generationen zurückgehend haben alle heute lebenden Menschen diese Frau in ihrem Aszendentenbaum. Die mitochnondriale Eva hat ihr Pendent im „Ur-Adam“. Da das Y-Chromosom, das männliche Geschlechtschromosom, nur vom Vater auf den Sohn vererbt wird, gibt es für alle Menschen (auch für die Frauen, deren genetische Ausstattung deshalb weiblich ist, weil sie von ihrem Vater kein Y-Chromosom empfangen haben) auch eine exklusiv väterlich-männliche Abstammungslinie, die schließlich bei einem Mann in der Ur-Geschichte, eben dem „Ur-Adam“ konvergiert. Dieser Adam lebte freilich 200.000 Jahre vor der „mitochondrialen Eva“, sodass sie kein Paar waren. Solche genetischen Bestimmungen menschheitsgeschichtlicher Verwandtschaft lassen sich auch für ungleich kürzere Distanzen anwenden. So gelang es 2013 z. B. dem Institut für Gerichtliche Medizin in Innsbruck, 19 Männer, die zu diesem Zeitpunkt in Tirol lebten, zu identifizieren, die genetisch mit dem vor mehr als 5000 Jahren lebenden Gletschermann Ötzi, dessen Überreste 1991 in den vereisten Schichten des alpinen Hochlands zutage kamen, verwandt sind; der sogenannte jüngste gemeinsame Vorfahre, den sie mit Ötzi haben, lebte demnach vor etwa 10.000 bis 12.000 Jahren und sei vermutlich vom Nahen Osten nach Europa eingewandert. Mit solchen Erkenntnissen aus den verschiedenen Disziplinen der Urmenschenforschung erhält die Aussage, alle Menschen seien leiblich miteinander „verwandt“, eine empirische Grundlage. Der Begriff „Menschenfamilie“, die schon von Alexander von Humboldt beschworene „Einheit des Menschengeschlechts“, ist damit ebenfalls mehr als bloß ein schönes Bild. Die Menschheit ist Teil der gesamten Evolutionsgeschichte. Die Gattung Homo ist nur eine von vielen Seitenverwandten, die sie in der tierischen und pflanzlichen Welt hat, bis hin zu den in geologischen Formationen der Erdgeschichte geronnenen Formen frühen Lebens. Die mit der Aszendenz gegebene Körperlichkeit eines jeden Menschen gemahnt ihn daran, dass er Teil dieses gesamten Kosmos der Schöpfung ist und gattungsgeschichtlich immer bleiben wird. Auch in dieser Dimension sind die Verwandtschaftsgrade fern und nah: Zum nächsten naturgeschichtlichen Verwandten des Menschen, dem Schimpansen, beträgt die genetische Differenz nur zwei Prozent. Doch wiegt ein vermeintlich so geringer Unterschied gegenüber der überwältigenden Gemeinsamkeit von 98 % an gemeinsamer evolutionsgeschichtlicher Herkunft so schwer, dass sie eine unüberwindbare Gattungsgrenze errichten. Vor allem aber sind diese zwei Prozent der Ansatzpunkt für Sprache, Geist und Kultur, wodurch sich der kleine Unterschied immens potenziert.

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Aszendenz steht auch für Diversität. Unsere Herkunft aus der Evolution, deren schier unendlich zurückreichende Linie von uns aus gesehen mit der ganz individuellen Abstammung von unseren Eltern und Großeltern etc. beginnt, lässt uns mit der Zeugung bereits als Teil der universalen Schöpfung entstehen; und wir bleiben damit – körpergebunden, wie wir sind – unser gesamtes Leben über Teil ebendieser Schöpfung. Wir, d. h. jedes Individuum, jedes lebende Exemplar, sind damit auch eine reale empirische Verkörperung von „Biodiversität“, der biologischen Vielfalt, denn alle Menschen sind individuell einmalig und damit unterschiedlich – in ihrer Gesamtheit eben divers. Biodiversität erstreckt sich über die ganze Bandbreite der Schöpfung, über die Gesamtheit der Evolution, und damit kommt sie auch innerhalb der Gattung Homo und innerhalb der einzelnen Arten der Gattung Homo zur Entfaltung. Die Individualität und Einmaligkeit der Aszendentenstelle, von der im nachfolgenden Kapitel die Rede sein wird, ist damit auch als Ausdruck, ja als real vollzogene „Verkörperung“ von Biodiversität zu verstehen. Eine Besonderheit der Spezies Homo sapiens ist freilich, dass die mit der Aszendenz produzierte Biodiversität, die via Gattenwahl der Eltern bereits wesentlich sozial erzeugt wird, bei ihr unmittelbar durch eine „kulturelle Diversität“ oder eine spezifische „Humandifferenzierung“21 verstärkt und amplifiziert ist. Und zwar je mehr „Gesellschaft“ (analog Kultur etc.) sich als eigenständige Sphäre historisch herausgebildet und etabliert hat, desto mehr – heute vor allem auch in der weit ausdifferenzierten Arbeitsteilung und höchst diversen beruflichen Spezifizierung, die so nur zur Entfaltung kommen kann, wo Menschen nicht wie ein Serienprodukt ursprünglich völlig gleich, sondern genuin in großer individueller Vielfalt und Unterschiedlichkeit dafür zur Verfügung stehen. Mit der Aszendenz ist dies beim Menschen schon in seinem individuellen Ursprung angelegt: biologisch-körperlich sowohl als auch kulturell, sozial, psychisch etc. ist Vielfalt, Diversität, Multiperspektivität vorhanden – anders gesprochen: mit jeder Generation Neues. Wenden wir uns nun der hängenden Spitze des Aszendentbaums zu: jener Triade von Vater, Mutter und Kind, also der Deszendenz. Hier geschieht etwas Hochinteressantes: Diese Triade ist der Sitz der ständigen Neugestaltung und Neuschöpfung des universalen menschlichen Verwandtschaftssystems, die eigentliche Produktionsstätte der (Bio-)Diversität. Die Hauptakteure dieser Schöpfung sind die Eltern; zum Medium dieses Schöpfungsprozesses wird die von ihnen vollzogene und mit der Kinderzeugung abgeschlossene Gattenwahl. Wie dies genau vonstattengeht, lässt sich einmal mehr anhand der Abstammungsverwandtschaft der Kinder von Kaiser Leopold anschaulich machen.

21 Eine von Stefan Hirschauer und seinem Team eingeführte und stark gemachte Begrifflichkeit. Vgl.: Hirschauer u. a. (2021).

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Leopold hatte nicht nur von einer, sondern mit drei Ehefrauen Kinder. Leopolds erste Ehefrau starb, nachdem sie vier Kinder geboren hatte. Leopold heiratete zum zweiten Mal. Die Wahl fiel nun auf Claudia Felicitas v. Tirol (1653–1676), eine Großcousine aus einer in Tirol lebenden Seitenlinie der Habsburger. Mit ihr hatte er zwei Kinder. Die Kombination seiner eigenen Vorfahren mit den Vorfahren dieser Frau ergab für diese Kinder naturgemäß eine andere Abstammungsstruktur, einen anderen Aszendentenbaum als die bei den Kindern aus seiner ersten Ehe; bei diesen Habsburger-Sprösslingen tauchte jetzt z. B. Medici-Verwandtschaft im Stammbaum auf. Auch diese Ehefrau starb bald. Leopold heiratete ein drittes Mal. Jetzt entschied er sich für eine Frau aus einem Zweig der Wittelsbacher, Eleonore Magdalene Therese Prinzessin von Pfalz-Neuburg (1655–1720). Mit ihr hatte Leopold zehn weitere Kinder, darunter die späteren Thronerben Joseph I. und Karl VI. Diese Kinder Leopolds hatten mütterlicherseits ganz andere Verwandte als seine Kinder aus der ersten und zweiten Ehe. Erstmals war der Norden in größerem Umfang vertreten, Eleonore brachte Linien aus Sachsen, Brandenburg, Jülich-Cleve, Hessen u. a. mit in den Stammbaum ihrer Habsburger Kinder. In abstrahierter Form lassen sich die Gestalten der drei Aszendentenbäume, die Leopold durch seine dreifache Gattenwahl für seine Kinder jeweils hergestellt hat, anschaulich darstellen wie in diesem Schaubild:

Gestaltung und Neuschöpfung des Verwandtschaftssystems bzw. des Verwandtenraums durch Familiengründung, also Gattenwahl und Kinderzeugung – diesen

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basalen Vorgang des individuellen menschlichen Lebensvollzugs möge die reduzierte und abstrahierte Anmutung dieser Grafik unmittelbar anschaulich begreifbar machen. Da wir das gestalterische Moment des Elternhandelns im vorliegenden Bild nur anhand der sechs jüngsten aus der unendlichen Kette der Vorfahrengenerationen sehen, uns davon ausgehend nun aber doch bildlich vorstellen können, es handelt sich dabei bloß um die Spitze eines unendlich großen (wenn auch gekenterten) „Eisbergs“, lässt sich diese Einsicht pointieren: Es geht bei schlechterdings jeder Gattenwahl und jeder daraus folgenden Kinderzeugung immer um Neuschöpfung des universalen menschlichen Verwandtschaftssystems per se. Mindestens durch seine Abstammungsverwandtschaft, seine Aszendenz, hat jeder Mensch („außer Jesus“) an diesem allgemeinen und grundlegenden Vorgang passiv teil; offen ist, ob er im Lauf seines Lebens als Vater oder als Mutter auch aktiv gestaltend daran teilnehmen wird. Wegen der unaufhebbaren Einbindung von Vater und Mutter in die Menschenfamilie via Aszendentenbaum und den Konsequenzen, die ihr familiäres und generatives Handeln für diese hat, lässt sich von dem Dreiecksverhältnis, das die Eltern durch Erzeugung ihres Kindes herstellen, von einer universalisierten Schöpfungstriade sprechen. Da dieser elementare Vorgang durch genealogische Studien der Familiengeschichte Leopolds I. entdeckt wurde, gebühren diesem Kaiser und seiner (ersten) Ehefrau auch die Ehre der Namensgebung, sodass sich sagen lässt: Jedes Individuum, das eine Familie gründet, ist als Mann universalisierter Leopold oder als Frau universalisierte Margarita. Das Ganze ins Allgemeine, Demokratische und Gegenwärtige gewendet: Jeder Mann und jede Frau, die zusammen Nachkommen zeugen und eine Familie gründen, sind Leo und Maggie. Es versteht sich von selbst, dass diese ambitionierten Feststellungen ein zentraler Gedanke der gesamten hier zu entwickelnden Überlegungen sind; „Leo“ und „Maggie“ werden uns im Folgenden daher stets aufs Neue begegnen. Was folgt daraus? Nicht nur meine (leibliche) Existenz verdanke ich dem Zeugungsakt meiner Eltern, erzeugt wird damit auch meine gesamte Abstammungsstruktur, meine Aszendenz bzw. mein je eigener individueller Aszendentenbaum. Die unendliche familiengeschichtliche Tiefendimension meiner Abstammungsverwandtschaft ist nicht etwas, das sich wie eine Geröllhalde historisch kumulativ in die Höhe gereckt hat, indem Schicht um Schicht, eine Generation auf die nächste neu aufgetragen wurde, damit ich die Spitze zu bilden vermag, bis meine Nachkommen mich überragen. Insofern ist das eben gebrauchte Bild von der Spitze des Eisbergs auch sogleich wieder zu negieren, denn: Bevor ich gezeugt wurde, existierte dieser vermeintliche Eisberg, dieser mein je eigener Aszendentenbaum, überhaupt nicht. Meine Abstammung ist etwas, das von meinen Eltern mit mir und durch meine Existenz genuin erst erzeugt wird. Individuelle Abstammung entsteht erst in und mit dem Zeugungsakt. Vor dem Zeitpunkt der Eizellbefruchtung gibt es nicht nur mich selbst, oder genauer: meine Ursprungszelle, nicht, sondern auch nicht diese meine Abstammung.

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Wenn Leopold mit seiner ersten Ehefrau zusammenkommt und mit ihr ein Kind zeugt, entsteht der erste der hier gezeigten, so charakteristischen und individuellen Aszendentenbäume. Hätte dieses Paar sich jedoch als zeugungsunfähig erwiesen und wäre kinderlos geblieben, es hätte genau diesen Aszendentenbaum – in seiner einzigartigen formalen und materialen Struktur – nicht gegeben: Das Kind wäre nicht – seine Aszendenz wäre nicht! Der Aszendentenbaum eines Individuums und damit jene Perspektivität im universalen Verwandtschaftsraum, die er darstellt, entstehen also nur dann, wenn es (körperlich) selbst entsteht, und just zu dem Zeitpunkt, in dem es entsteht – mit seiner Zeugung eben. Eltern zeugen nicht nur ihre Kinder, sondern mit ihnen auch deren Abstammungsstruktur, deren Aszendentenbaum. Und doch suggeriert die Gestalt eines konkreten Aszendentenbaums, wie wir sie hier am Beispiel von Leopold so eindrucksvoll dargestellt sehen, es ginge von ihm eine determinierende Wirkung auf den Probanden, das Kind, aus; in ihm, das an der nach unten gewendeten Spitze steht, laufen die gesamten, in sich verwobenen Abstammungslinien der Vorfahren mit scheinbar unfehlbarer Zielrichtung zusammen. Es kann für meine Existenz in der Tat nicht gleichgültig sein, wer meine (leiblichen) Eltern, Großeltern und ferneren Vorfahren waren, auch wenn – wie wir an der Individualität und Unterschiedlichkeit von Geschwistern sehen – keineswegs eine eindeutig feststellbare Korrelation zwischen dem konkreten Aszendentenbaum und dem Wesen und der Eigenart eines daraus hervorgehenden Individuums – der Person – besteht. Und doch stellt sich die Frage: Welchen (potenziellen) Anteil haben über den Zeugungsakt der Eltern hinaus die längst verstorbenen früheren Vorfahren am Zustandekommen des Aszendentenbaums, in dem sie zur Anschaulichkeit drängen? Darauf ist zu antworten: Der Aszendentenbaum eines Individuums (und der seiner leiblichen Geschwister) entsteht zwar erst in dem Augenblick, in dem seine Eltern es zeugen, aber indem er entsteht, entsteht er nicht willkürlich, sondern zwingend in dieser und nur in dieser Gestalt. Indem er emergiert, ist er unvermeidlicherweise bereits determiniert. Indem der er entsteht, entsteht er so. Die Alternative ist einzig, dass er (durch Zeugungsverzicht oder Zeugungsunfähigkeit) gar nicht entsteht. Bei der Frage nach der Zeugung von Kindern eines gegebenen Gattenpaars geht es also nicht um Sein oder Nichtsein schlechthin, sondern um Sosein oder Nichtsein. Und das heißt auch: So, und nur so, ist das Individuum in der Gattung verhakt – just mit diesem Aszendentenbaum. Wenn Leopold sich für Margarita Maria Terese als Gattin entscheidet, kann er mit ihr nur den ersten der hier rekonstruierten Aszendentenbäume, aber keinen anderen hervorbringen. Er hat die Freiheit, sich stattdessen oder danach in zweiter Ehe für Claudia Felicitas zu entscheiden, dann kann er nur den zweiten Baum hervorbringen; und entscheidet er sich schließlich für Eleonore Magdalene Therese, so bescheren er und seine Frau ihren Kindern aus dieser Ehe in der Folge unvermeidlich den dritten der Aszendentenbäume. Leopold ist frei und gebunden zugleich:

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frei in der Wahl, sich in der Person seiner jeweiligen Frau an unterschiedliche verwandtschaftliche Strukturen zu binden. Er gestaltet damit das Verwandtschaftssegment innerhalb der hochadligen Familien Europas, das in seiner Genese selbst wiederum Teil des universalen menschlichen Verwandtschaftssystems ist und sich von ihm durch eine konsequent betriebene Schließung der Heiratskreise und andere soziale Mechanismen nur seit einigen Generationen abgesondert hat. Ob aber nun die Figur des historisch existierenden Kaisers oder des egalitären bürgerlichen Leos: Beide gestalten gemeinsam mit ihren Partnerinnen in mikrologisch kleinsten Anteilen somit die universelle menschheitliche Verwandtschaft. So gesehen unterscheidet sich der historische Leopold nicht von dem im Kleinen und Privaten agierenden und gestaltenden Jedermann. Beide repräsentieren in ihrem Tun das Ganze der Menschenfamilie, beide sind universalisierter Leopold und ihre Partnerinnen universalisierte Margarita – Leo und Maggie. Nur die bessere tiefenräumliche Dokumentation der Genealogie unterscheidet das kaiserliche Paar hier vom bürgerlichen Paar Leo & Maggie, für die Menschheit, die Gattung (Art) leisten sie das gleiche, nämlich deren ewige zellulare Neuschöpfung durch Familiengründung. Familiengründung – jede auf Gattenwahl folgende Zeugung – ist eine Neukombination von unendlich vielen Optionen der Vergangenheit, wie sie durch die längst verstorbenen Vorfahren konstituiert werden, eine Neukombination des Alten (der Vorfahren) durch die Gegenwart (das Gattenpaar) im Hinblick auf die Zukunft (das Kind). Jeder Aszendentenbaum ist dank der elterlichen Aktivitäten daher beides zugleich: genuine Neuschöpfung und Realisation längst bestehender (verwandtschaftlicher) Strukturpotenziale. Wir können daher auch sagen, das Individuum ist nicht einfach willkürlich und irrational in seine Existenz „geworfen“ (Heidegger); seine Eltern haben es durch den so vonstattengegangenen Akt der Familiengründung an einer genealogisch genau beschreibbaren Stelle im Makrokosmos der Gattung vielmehr „platziert“. Dieses Zwischenergebnis in der Ausdeutung des Aszendentenbaums tangiert auch das Verhältnis von Natur und Kultur. Auch wenn meine eigene Aszendenz, meine eigene Abstammung, für mich selbst somit etwas mit und seit meiner Zeugung Gegebenes ist, mit Biologischem bzw. Genetischem dürfen wir sie nicht schlechthin gleichsetzen. Abstammung als bloß Biologisches bzw. Genetisches und dieses wiederum als das Invariante zu begreifen, ist eine allzu weit und allzu gern verbreitete Fehlbestimmung. Abstammung ist auch Biologisches, auch Genetisches: Der Mensch kann nicht aus seiner Art herausspringen, sich z. B. nicht mit einem Exemplar einer anderen Gattung fortpflanzen. Er ist und bleibt (woran die CoronaPandemie der Jahre 2020/22 uns, wie erwähnt, wieder schmerzhaft erinnert hat) Teil der natürlichen Evolutionsgeschichte. Abstammung ist beim Menschen aber deshalb mehr als Biologisches, weil wir sie als „Abstammungsverwandtschaft“ – Aszendenz – begreifen müssen. Damit ist Soziales und Kulturelles mit in sie aufge-

Die menschheitsgeschichtliche Universalität der Aszendenz

nommen. Dies nicht bloß als ein Äußeres, Dekoratives und Ummantelung einer vermeintlich unabhängig und grundlegend wirksamen Naturmacht: Die menschliche Gattenwahl – ein sozialer Vorgang – implementiert das Soziale und Kulturelle als konstitutives und konstruktives Element in die Aszendenz. Sie ist es, die für die individuelle (formale und materiale) Gestalt des Aszendentenbaums, für die je eigene „Beugung und Zerklüftung des Verwandtenraums“, verantwortlich ist. Aufgrund dieser universalen, konstitutionell unaufhebbaren Bedeutung der Gattenwahl ist die Menschheitsgeschichte nicht allein Fortsetzung der Naturgeschichte, sondern immer und notwendig zugleich auch Kulturgeschichte. Als erstes gelangt über das Medium der Gattenwahl das Inzesttabu – eine Regel, die der Sozial- und Kulturwelt angehört – als gestaltendes Element in die Struktur der Abstammungsverwandtschaft hinein. Das Inzesttabu hatte historisch unterschiedliche Reichweiten: Überall hat es aber den Verkehr von Vater und Tochter, Mutter und Sohn verboten und fast immer auch den Verkehr des Bruders mit der Schwester. Seine restriktive Fassung und Praxis verleiht dem Aszendentenbaum ein anderes Aussehen als es eine geringe Reichweite verbotener Heiratspartner tut. Dass der christlich-katholische Habsburgerkaiser Leopold entgegen der restriktiven kanonischen Verbote legal solch enge Verwandtenehen eingehen konnte, hat mit rein machtpolitisch motivierten Dispensen des Papstes von den damals geltenden kirchlichen Heiratsverboten zu tun. Insofern ist diese päpstliche Dispenspraxis im Verein mit den politischen Erfordernissen der österreichisch-spanischen Familienallianz – also Phänomene, die rein der historischen Sozial- und Kulturwelt, nicht der Biologie angehören – konstitutiver Bestandteil der Aszendentenstruktur der Kinder von Kaiser Leopold und haben damit direkte Auswirkungen auf deren biologische Ausstattung: ihr individuelles Genom. – Überall lässt sich in der Menschenwelt die soziale Konstitution der Gattenwahl greifen; insbesondere dort, wo eine gegebene Community explizite Heiratsregeln über viele Generationszyklen hinweg anwendet, wird diese allgemeine Bestimmung besonders deutlich: etwa bei der Praxis der Kreuzcousinenheirat, die Lévy-Strauss in den „Elementaren Strukturen der Verwandtschaft“ untersucht hat22 , oder wo eine Gruppe sich daran macht, durch das bewusste ständische Schließen der Heiratskreise über viele Generationen hinweg eine exklusive Geburtsaristokratie zu erzeugen.23 Aber die soziale Bestimmtheit der Gattenwahl gilt selbstredend auch für den modernen individualistischen Leo, der zeit- und gesellschaftsbedingt aufgehört hat, noch ein ausgeprägtes Verwandtschaftsbewusstsein zu pflegen: Was hat ihn bewogen, Maggie zur Frau zu nehmen

22 Claude Lévy-Strauss (1984). 23 Für die Autorin war die Beschäftigung mit diesem Fallmaterial eine der wichtigsten Forschungserfahrungen und damit grundlegend für das vorliegende Buch. Siehe neben Hansert (1998) die umfangreiche Studie zur städtischen patrizischen Geburtsaristokratie: Hansert (2014), hier besonders S. 31 f., 275–287 und anderweitig.

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und seine Kinder mit ihr zu zeugen? Warum tat er es nicht mit seiner Schwester? Warum tat er es nicht mit einer Frau, die weit jenseits seiner sozialen und kulturellen Stellung situiert ist, von der ihn etwa beträchtliche Bildungsunterschiede oder Sprachgrenzen trennen? Die Determinierung der Gattenwahl durch soziale und kulturelle Elemente – vom Inzesttabu bis hin zu je historisch besonderen sozialen Rang- und Statusmerkmalen und Kulturzugehörigkeiten – ist evident. Sie finden über das Medium der Gattenwahl unmittelbar Eingang in die Verwandtschaftsstruktur der Aszendenz. Bei den Habsburgern zur Zeit Kaiser Leopolds ließe sich sogar so weit gehen zu sagen, dass die Praktizierung engster Verwandtenehen am Ende die biologische Konstitution der Nachkommen aufgerieben hat, womit sie ein anschauliches Beispiel dafür gegeben hätten, wie nicht nur das Biologische das vermeintliche Fundament des Sozialen, sondern eben auch umgekehrt, das Sozialverhalten der Vorfahren genuin zum Fundament und Schicksal der biologischen und leiblichen Grundausstattung für die Nachfahren wird. Die Fortpflanzungsunfähigkeit und das daraus resultierende Aussterben der (spanischen) Habsburger im Jahr 1700 war kein (reines) unabwendbares Naturereignis, die Familie wurde Opfer ihrer eigenen Heiratspraxis. Es gilt somit: Das Gezeugte ist nicht nur Zelle – Urzelle des Individuums –, nicht nur Keimling, nicht nur einzigartiges Genom und unverwechselbare Kombination des Gattungserbes, es ist immer zugleich und davon unlösbar ein sozial Bestimmtes. Denn an seiner Stelle wäre eine andere Zelle, ein anderer Keimling, und diese hätte ein anderes Genom, hätte sein Vater mit einer anderen Frau gezeugt. Es wäre ein anderes Sosein. Und daraus folgend, wie wir noch sehen werden, ein anderes Individuum. Es selbst aber wäre nicht. Warum aber nahm der Vater gerade diese Frau, und umgekehrt diese Frau, meine Mutter, diesen Mann? Darauf können die Biologen schwerlich Antwort geben, weil es für sie kaum eine sinnvolle Frage ist. Wohl aber ist es an sich sinnvoll, sie an den Menschen zu stellen, eine Frage für den Soziologen, den Psychologen, den Anthropologen.

Kapitel 2 Die individuelle Einmaligkeit der Aszendentenstelle Es handelt sich bei ebendieser Frage neben anderem um die Frage nach dem, was im Folgenden als die Individualität und die Einzigartigkeit der Aszendentenstelle eingeführt wird. Und damit kommen wir auf das Individuum zu sprechen, das als Kind der Eltern an der deszendenten Spitze des Aszendentenbaums erscheint. Von eineiigen (und damit auch gleichgeschlechtlichen) Zwillingen und Mehrlingen abgesehen, können Genetiker jedes Individuum, schon das gezeugte, die Urzelle des individuellen Körpers, individuell genau identifizieren und von anderen unterscheiden. Kein Genom gleicht in seiner subtilen Varianz einem anderen. Je-

Die individuelle Einmaligkeit der Aszendentenstelle

der Mensch ist genetisch einzigartig, und alle zusammen sind sie divers. Diese Einzigartigkeit lässt sich in voller Parallele auch in sozialen, genau genommen in genealogischen Begriffen bestimmen. Denn nicht nur genetisch, auch genealogisch, in Gestalt seines Aszendentenbaums ist jeder Mensch (wieder vom Sonderfall der eineiigen Mehrlinge abgesehen) a priori, sprich mit seiner Zeugung, also noch vor aller „Beseelung“ des Keims und bevor individuell Leben und individuell Biographie sich prozesshaft zu entfalten beginnen, als einmaliges Wesen zu bestimmen. Genetik und Genealogie haben nicht von ungefähr den gleichen Wortursprung in dem aus dem Griechischen kommenden Suffix „gen“: erzeugend, bildend, liefernd, erzeugt. Insofern gibt es eine große Affinität zwischen der naturwissenschaftlich zu bestimmenden Einmaligkeit des individuellen Genoms und der genealogisch zu rekonstruierenden Einzigartigkeit des Aszendentenbaums und der Aszendentenstelle, die mit der Erzeugung des Kindes durch die Eltern entstehen. Der Aszendentenbaum allein reicht unter Umständen nicht aus, die Einmaligkeit der Aszendentenstelle hinlänglich zu bestimmen. Leibliche Vollgeschwister haben ihn miteinander gemein. Die Stellung des Einzelnen in der Geschwisterabfolge (so vorhanden) muss hinzukommen. Das Geschlecht könnte ein zusätzliches, wenn auch nicht zwingend notwendiges Differenzierungskriterium sein. Geschwister werden in einer konkreten Abfolge gezeugt und (von bestimmten theoretisch möglichen Ausnahmekonstellationen im Zeitalter moderner Reproduktionstechnologie abgesehen) in der gleichen Abfolge geboren. Einzelkind oder Geschwisterkind, älteres oder jüngeres Geschwister zu sein, ist ein bedeutendes Faktum des individuellen Lebens. Jedes erstgeborene Kind ist zuerst immer Einzelkind. Es ist mehr oder weniger offen, ob es künftig Geschwister haben und später damit zum Geschwisterkind werden oder ob es Einzelkind für alle Zeiten bleiben wird. Die Zweit- und die Nächstgeborenen sind hingegen immer schon von Zeugung und Geburt an Geschwisterkinder; sie können nie jene temporär singuläre Position haben, die das Erstgeborene zu Beginn seines Lebens einmal eingenommen hat (wohl noch nicht einmal, wenn das Erstgeborene zum Zeitpunkt seiner Geburt schon verstorben ist, eine familiäre Situation, von der Annie Ernaux in ihrer autobiographischen Reflexion „Das andere Mädchen“ eindrucksvoll Zeugnis gegeben hat24 ). Die Stellung in einer Geschwistersequenz ist selbstredend von größter Bedeutung für das individuelle Leben. Walter Toman, seinerseits klinischer Psychologe, hat dieser Konstellation umfänglich einschlägige Studien gewidmet.25 Man wird eine andere Perspektive auf seine Familie und seine Herkunft haben als die Perspektive, die die anderen Geschwister innehaben. Hinzu kommt die Geschlechterfrage, denn die Geschwistersequenz wird durch die Zugehörigkeit der Geschwister zum einen oder

24 Annie Ernaux (2022). 25 Walter Toman (2001).

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zum anderen Geschlecht (besonders aber zu Varianten des „dritten Geschlechts) noch einmal zusätzlich dramatisiert. Es ist eine andere Familie und die Kinder werden anders ins Leben treten, je nachdem ob sie Geschwister haben oder nicht, ob es viele oder wenige (zwei) Geschwister sind, ob sie Geschwister nur des gleichen oder auch des anderen Geschlechts haben. So differenzieren die Geschwisterund die Geschlechterfolge unter den Kindern die Gleichheit der Aszendenz, die Abstammung von den gleichen Eltern- und Voreltern, die sie gegen alle anderen Menschen elementar und lebenslänglich miteinander verbindet, im Innenverhältnis beträchtlich. Geschwisterposition und Aszendenz in Kombination ermöglichen es nun, für jedes Individuum eine konkrete individuelle Aszendentenstelle zu bestimmen. Niemand hat genealogisch diejenige Aszendenz und die diejenige Geschwisterposition inne, die ich habe. Als Erst-, Zweit- oder Drittgeborenes dieser und genau dieser (leiblichen) Eltern, dazu als Sohn oder als Tochter bin ich einmalig unter allen Menschen, die je gelebt haben oder je noch leben werden. Meine so bestimmte Aszendentenstelle verortet mich individuell und empirisch, d. h. genealogisch bestimmbar nicht nur innerhalb einer Familie, sondern auch in einer Population, in einer Ethnie und letztlich in der Menschheit schlechthin, in der unendlichen Weite des gesamten universalen Verwandtschaftsraums ‒ in der Menschenfamilie oder eben in der Gattung.26 Durch meine Aszendentenstelle bin ich „platziert“. Sie verleiht mir eine Einmaligkeit allein schon seit, mit und durch meine Zeugung, noch vor aller irgendwie biographisch individuierter Regung meiner Seele, meines Geistes, meines Egos, vor Ausbildung der ersten Keime meiner sinnlichen und kognitiven Selbst- und Weltwahrnehmung und Welterfahrung. Die Aszendentenstelle ist das Apriori aller später ‒ beginnend schon pränatal mit der Beseelung und der Sozialisation ‒ sich entfaltenden Lebenspraxis des Individuums und der Person. Und zwar ein Apriori, das von anderen, im Wesentlichen von den leiblichen Eltern durch ihre Gattenwahl und ihr Zeugungsverhalten, gesetzt wurde. ‒ Dabei ist noch nicht endgültig entschieden, dass dieses Apriori – ein zunächst seelenlos dastehendes Kernelement der Individualität – in den späteren Entwicklungen der individuellen Sozialisation sich so auch zwingend Ausdruck verschafft. Es kann Umstände geben, bei denen die Individualentwicklung davon abweicht, auch wenn das Apriori der Aszendentenstelle selbst nicht negiert werden kann: Esau, der Erstgeborene, kann seine Erstgeburt an den jüngeren Bruder, Jakob, für ein Linsengericht verkaufen; und von verschiedenen Krisenszenarien der Aszendenz wie etwa der Kindsvertauschung, des Findelkindes und/oder der Adoption wird später noch ausführlicher zu reden sein. Die Gattenwahl und die sexuelle Aktivität meiner

26 Vgl. dazu auch Spaemann (1996), S. 256.

Die individuelle Einmaligkeit der Aszendentenstelle

Eltern haben in Gestalt der Aszendentenstelle jedenfalls eine harte Tatsache für mein Leben zur Folge. Doch der Begriff bedarf weiterer Differenzierung. Gerade wenn die Geschwistersequenz zu einem tragenden Element des Begriffs der Aszendentenstelle wird, zeigt sich, dass diese Konstellation unter Umständen mit meiner Zeugung und Geburt noch nicht voll gegeben ist. Je nachdem entfaltet sie sich danach noch weiter, denn jüngere Geschwister und eventuell andere Vorkommnisse in der Familie wie etwa der frühe Tod oder sonstiger Ausfall der leiblichen Eltern (etwa Scheidung) und anschließende Stiefelternschaft, ebenso der frühe letale Abgang von Geschwistern hätte man sekundär als Teil, eventuell als Strukturelement der Aszendentenstelle zuzuordnen. Noch einmal soll die sehr bewegte Familiengeschichte Kaiser Leopolds als Beispiel dafür herhalten.27 Vier Kinder hatte Leopold aus seiner ersten Ehe. Drei davon starben schon bald nach der Geburt, eines davon sogar am gleichen Tag. Nur das zweitgeborene überlebte: eine Tochter, Maria Antonia, geboren am 18.1.1669 in Wien. Ihre Aszendentenstelle ist zunächst durch ihren oben (im Schaubild S. 45) angeführten Aszendentenbaum bestimmt. Den hat sie mit ihren Geschwistern gemeinsam. Als sie geboren wurde, war ihr älterer Bruder, Ferdinand Wenzel (28.9.1667 bis 13.1.1668) bereits verstorben. Als einjähriges Kind erlebte sie am 20.2.1670 die Geburt ihres Bruders Johann Leopold, des dritten Kindes, das aber am gleichen Tag bereits verstarb. Mit drei Jahren, einem Alter, aus dem Erinnerungsspuren mit ins Leben genommen werden können, erlebte sie die Geburt des vierten Kindes, ihre Schwester Maria Anna Antonie; aber auch dieses Kind wurde nur 14 Tage alt. Etwas mehr als ein Jahr später am 22.3.1673, als Maria Antonia vier Jahre alt war, verstarb auch ihre Mutter, die Kaisergattin Margarita Maria Terese. Leopold und Maria Antonia blieben als einzige zurück. – Etwa ein Dreivierteljahr später heiratete ihr Vater in zweiter Ehe Claudia Felicitas. Mit ihr hatte die kleine Maria Antonia eine Stiefmutter. Und es wurden in den nächsten beiden Jahren zwei Mädchen geboren, Stiefschwestern von Maria Antonia, die jedoch ebenfalls nicht ihren ersten Geburtstag erlebten; auch die Stiefmutter starb nach nur zweieinhalb Ehejahren bereits wieder. Leopold und Maria Antonia waren erneut allein. Acht Monate später heiratete Leopold zum dritten Mal. Maria Antonia erlebte diese Hochzeit und empfing damit ihre neue Stiefmutter als beinahe Achtjährige. Als Neunjährige erlebte sie 1678 die erste Geburt aus dieser Ehe, nämlich die Geburt ihres Stiefbruders Joseph. Er war zu diesem Zeitpunkt der einzige männliche Nachkomme seines Vaters und damit der Thronfolger, wenn er den Vater überleben würde. Da dies tatsächlich der Fall war, hatte Marie Antonia mit ihm erstmals dauerhaft ein lebendes, wenn auch beträchtlich jüngeres Geschwister. Es folgten

27 Zum Nachfolgenden siehe Richard Reifenstein (1992), S. 180 u. 193 ff.

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insgesamt neun weitere Kinder aus der dritten Ehe ihres Vaters und der Stiefmutter, von denen die meisten überlebten. Als 1690 das letzte zur Welt kam, war Marie Antonia bereits 21 Jahre alt. Doch war sie zu diesem Zeitpunkt bereits seit fünf Jahren „außer Haus“, denn sechzehnjährig war sie an den bayrischen Kurfürsten Maximilian II. verheiratet worden und unterdessen selbst schon Mutter. Im Kreis ihrer Geschwister führte Marie Antonia mit großem Altersabstand; als einzige war sie Kind aus erster Ehe ihres Vaters und gegenüber allen anderen ein Stiefgeschwister, als einzige hatte sie mütterlicherseits einen anderen Aszendentenbaum. In diesem Fall hatte die Abfolge der genealogischen Familiendaten, die sich nach der Geburt Maria Antonias ergaben, eine besondere Dramatik. Der Normalfall der heutigen bürgerlichen Kleinfamilie kennt den unzeitigen Tod kaum noch, weder den von Kindern noch den von Eltern oder Elternteilen, viel eher ist eine Scheidung der Eltern und durch erneute Familiengründung eines Elternteils die Existenz von Stiefgeschwistern, mit denen man aber häufig nicht im gleichen Haushalt aufwächst, heute ein verbreitetes Merkmal einer Familienkonstellation. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass dort, wo in der Geschichte unzeitiger Tod in großem Umfang Patchworkfamilien (und die Mär von der „bösen Stiefmutter“) generierte und wofür das zeittypische Schicksal von Kaiser Leopolds ältester Tochter ein eindrucksvolles Beispiel abgibt28 , solche Konstellationen heute von der Labilität der modernen Gattenbeziehung bewirkt werden. Jedenfalls wird man die Abfolge solcher genealogischen Familiendaten, die sich während der frühen Kindheit eines Individuums ergeben, insbesondere die baldige Geburt jüngerer Geschwister (und Stiefgeschwister), wodurch sich beim Erstgeborenen eine Geschwistersequenz ja überhaupt erst ergäbe, seiner Aszendentenstelle, die aus seiner Zeugung resultiert, zumindest als prägendes Umfeld sekundär zurechnen müssen. Insofern macht erst die Gesamtheit der genealogischen Familienkonstellation, der ich entspringe und die auch nach meiner an individueller Position erfolgten Zeugung und Geburt verwandtschaftlich noch Entwicklungspotenzial hat, den vollgültigen Begriff der Aszendentenstelle aus – wenn man so will: von den Großeltern, die ich noch selbst erlebt habe und die die Kontinuität zu den ferneren Vorfahren repräsentieren, bis zur Geburt meines jüngsten Geschwisters. Die Aszendentenstelle ist eine relative Position innerhalb der Familienkonstellation (im Toman’schen Sinne), deren Umfang und Zusammensetzung unter Umständen erst lange nach meiner Geburt (bei Maria Antonia erst nach 21 Jahren) definitiv abgeschlossen und gegeben ist. Doch der Kern der Aszendenz ist und bleibt mein eigenes Gezeugtsein durch diesen Mann – meinen Vater – und durch diese Frau – meine Mutter.

28 Die Autorin stieß im Rahmen ihrer historischen Forschungen diesbezüglich selbst auf eindringliches Fallmaterial, siehe: A. Hansert (2016b), S. 11 f. (der unzeitige Tod hatte eine „genuin zerstörerische Wirkung auf die Familienbeziehungen“), S. 64–67, 72 f., 87–90, 106–109, 124 f.

Historische Sonderentwicklung der Aszendenz und der Familienstrukturen in Europa

Der so eingeführte Begriff der Aszendentenstelle bildet in dem gesamten hier entwickelten Gedankengang ein zentrales Element. Jedes menschliche Individuum ist damit schon in seinen Anfängen, mit seiner Zeugung!, als genealogisch einmaliges unwiederholbares menschliches Wesen konkret zu fassen – was immer ihm im Lauf seines Lebens an lebendiger Individuierung, Entfaltung, vor allem aber auch an historischer Schicksalserfahrung bevorsteht. Mit der Aszendentenstelle ist eine Ebene von Individualität bezeichnet, die grundlegend ist und die den nachfolgenden Bildungsprozessen des Individuellen und den historisch und gesellschaftlich bedingten Lebenslagen konstitutionell vorausgeht. Mit der Konzeption dieser Ebene als Aszendenz lässt es sich vermeiden, dieses vorgängige Moment, das Apriori, (wie es oft geschieht) einfach als Biologisches oder „bloß Biologisches“ zu definieren; dank Gattenwahl und (sexueller) Zeugung der Eltern ist es immer auch ein sozial Bestimmtes.

Kapitel 3 Historische Sonderentwicklung der Aszendenz und der Familienstrukturen in Europa Die Bestimmung, jedes Individuum sei qua Aszendenz Abkömmling und Mitglied der Menschenfamilie oder der Gattung, ist vergleichsweise abstrakt. Lebenspraktisch erscheint uns „Familie“ – Verwandtschaft –, die über die Unmittelbarkeit der Mutter-Vater-Kind-Triade, die Geschwisterbeziehung und die nächstumgebenden Verwandten hinausreicht, nie so abstrakt wie hier formuliert. Gerade in der modernen Gesellschaft fühlt kein Mensch sich mit Personen außerhalb des als familiär empfundenen und definierten Kreises subjektiv „verwandt“, und insbesondere die Universalität der Menschenfamilie entschwindet dem alltäglichen Blick, der lebensweltlichen Erfahrung und dem familiär praktizierten Austausch mit anderen gänzlich. Die Vorstellung, ich sei mit dem Autohändler, von dem ich gerade einen Wagen kaufe, da wir beide Angehörige der Menschenfamilie, vielleicht sogar der gleichen Population und Sprachgemeinschaft sind, „verwandt“, vermag mehr als ein Achselzucken wohl kaum auszulösen; für das Geschäft selbst, das hier und jetzt mit ihm zu erledigen ist, spielte es keine Rolle. Typisch für die heutige (westlich geprägte) Lebensweise ist es vielmehr, einen großen Teil des menschlichen Umgangs und des gesellschaftlichen Austauschs, insbesondere im Beruf und in den Geschäftsbeziehungen, vor allem auch private Freundschaften mit Personen zu haben, mit denen man sowohl im Alltagsverständnis als auch in den Kategorien des geltenden Familienrechts nicht verwandt ist. Der moderne Mensch ist es gewohnt, auch anonym und namenlos, ohne Ansehen der Person, mit anderen – der Kassiererin im Supermarkt – umzugehen, um bestimmte praktische Ziele wie etwa den Erwerb von Waren und Dienstleistungen zu erreichen. Der Verkehr mit

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den Verwandten ist im Alltag nur noch auf einen kleinen, insbesondere in den Anfängen des Lebens, in der Kindheit, sowie im Andauern der Gattenbeziehung allerdings entscheidenden Teil des menschlichen Umgangs beschränkt. In anderer Form galt und gilt diese praktische Limitierung von „Verwandtschaft“ in vor- und außermodernen Gemeinschaften – seien es die als „famila“ bezeichneten Untertanenverbände, die Bewohnerschaft historischer Städte mit ihren vielfachen internen Schichtungen und Segregationen, kleine Dorfgemeinschaften, prähistorische Stammeskulturen, archaische Clans etc. – noch in viel höherem Maße. Die Verwandtschaft war damals noch wichtiger als in der modernen Welt, auch wenn es im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa mit Klostergemeinschaften, Zünften, Bruderschaften und anderen Korporationen bereits Vergemeinschaftungsformen außerhalb der engeren Familie und einer zum Teil recht weit gefassten konsanguinen Verwandtschaft gab. Immer gab und gibt es in Kontrast dazu die Nichtverwandten, die Fremden, das Nichtvertraute, das mitunter als das Feindliche wahrgenommen wird – immer kennt das soziale Leben eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Polarität von Innen (Personen, die dazugehören) und Außen (Personen, die nicht dazugehören). So wie in Kapitel 1, nämlich als ein universelles Phänomen und als Menschenfamilie, lässt „Verwandtschaft“ sich zunächst einmal nur theoretisch, eben als eine analytisch gewonnene Abstraktion begreifen; in der Praxis, d. h. im Erleben des einzelnen Individuums, ist Verwandtschaft aber immer konkret, auf bestimmte Personen des nächsten Umfelds bezogen und vor allem: nicht universell, sondern beschränkt. Was hier theoretisch eingeführt wurde – die Universalität der Verwandtschaft –, hat im Alltag somit i. d. R. keine unmittelbare Relevanz. Das theoretisch Gewonnene ist unpraktisch. So sind die Ebenen des Universellen-Theoretischen (die Gattung, die Menschenfamilie) und des Partikularen-Praktischen (meine Familie, meine Verwandtschaft) analytisch auseinanderzuhalten, auch wenn letztere in erstere unmittelbar eingebettet und homogener Bestandteil von ihr ist. Doch gänzlich ohne alle praktische Bedeutung ist auch das UniversellTheoretische nicht. Außerhalb der alltäglichen Lebenswelt und des unmittelbar Zweckhaften lässt sich sehr wohl auch nach praktischen Konsequenzen der universalistischen Verwandtschaftskonzeption (der Menschenfamilie) fragen – etwa nach der universellen Gültigkeit der Menschenrechte, nach der Würde des einzelnen Individuums als purem Angehörigen der Gattung Mensch, nach der Problematik des Anfangs des individuellen Lebens besonders im Zusammenhang mit der Reproduktionsmedizin (d. i. die Frage nach der Bedeutung der Aszendentenstelle), nach bestimmten naturrechtlichen Vorstellungen und Wertungen des Menschen, oder nach der ehrfürchtigen Hinwendung in der akosmistischen Liebesethik zum Menschen als solchem etc.

Historische Sonderentwicklung der Aszendenz und der Familienstrukturen in Europa

Reproduktion (Fortpflanzung) generiert Verwandtschaft – und zwar gleichermaßen die unmittelbar familiär erlebte wie die universale-menschheitliche. Mann und Frau bringen ein Kind hervor und konstituieren damit eine Triade. Die Triade ist der unauflösbare Kern aller Verwandtschaft – die sogenannten „Kernfamilie“ oder die „Gattenfamilie“. Doch Verwandtschaft ist mehr. Wenn Reproduktion für die generelle Definition von Verwandtschaft eine notwendige Bedingung ist, so ist es doch keine hinreichende. Sozial greift die Verwandtschaft auch in Sphären des menschlichen (i. d. R. häuslichen) Zusammenlebens jenseits der Reproduktion aus. Es gibt die Adoption, bei der zwischen leiblich Nichtverwandten rechtlich ein Verwandtschaftsverhältnis begründet wird; ebenso die „geistliche Verwandtschaft“ von Pate und Täufling; auch Pflegschaften konstituieren mitunter verwandtschaftsnahe Verhältnisse etc. Ein hoch interessanter Fall ist das historisch außerhalb Europas praktizierte, u. a. alttestamentarisch belegte Institut der Leviratsehe: die Pflicht eines Mannes, (bei Zulassung der Bigamie) die Witwe seines verstorbenen Bruders zu heiraten und mit ihr ein Kind zu zeugen, um dem Verstorbenen stellvertretend einen Sohn, der seine Patrilinie fortführt, zukommen zu lassen. Die so entstandenen Kinder haben immerhin die gleichen Großeltern und weiter zurückliegenden Vorfahren, also die gleiche fernere Aszendenz, als hätte der Verstorbene selbst sie gezeugt. Adoption und geistliche Verwandtschaft zeigen freilich, dass es in der Definition von Verwandtschaft Ausnahmen von jener soeben als notwendig bezeichneten Bedingung gibt, die sonst im Allgemeinen durchaus gilt: Sie sind Verwandtschaftsformen, die jenseits der leiblichen Vater-Mutter-Kind-Triade liegen. Doch die Ausnahme bestätigt nur die Regel, denn zu sagen, Verwandtschaft habe mit Reproduktion nichts zu tun, ist auch nicht möglich. In der Vormoderne haben Vergemeinschaftungen außerhalb der Kernfamilie – der Triade von Vater, Mutter und Kind – häufig die Anlehnung oder Analogiebildung an die leibliche Verwandtschaft gesucht, konnten oder wollten sich von diesem unauflösbaren Kern der Sozialität gedanklich nicht konsequent scheiden. Die Sukzession im römischen Kaiseramt wurde, wenn kein geeigneter Sohn zur Verfügung stand, häufig durch Adoption eines Mannes, der als Nachfolger geeignet und würdig erschien, vollzogen. Es ließe sich fragen, warum Adoption dazu überhaupt notwendig war, warum man nicht das Modell der Koadjutorie wählte, wie es später die Kirche entwickelte: die Bestimmung eines Nachfolgers schon zu Lebzeiten des Amtsinhabers, ohne dass irgendein Verwandtschaftsverhältnis vorläge oder begründet worden wäre. Auch die Mitglieder der christlich-religiösen Gemeinschaften in den Klöstern sprachen und sprechen sich als „Bruder“ und „Schwester“ an, ohne dass Blutsverwandtschaft vorläge. Der Papst gilt als heiliger „Vater“. Die „Brüder“ und „Schwestern“ im Geiste erinnern stärker an das Modell der Menschenfamilie als an die Kern- und Verwandtenfamilie. Auch die religiös konnotierten „Bruderschaften“ in den Städten des Spätmittelalters, in denen

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sich Personen miteinander verbanden, die dem gleichen säkularen Beruf nachgingen oder anderweitig eine Verbindung miteinander hatten, lehnen sich mit dieser Bezeichnung an die Verwandtschaft an. Erst die Moderne bildet mit dem Verein, der Gesellschaft, der Assoziation, dem Betrieb etc., dann vor allem mit den Berufsrollen etc. abstrakte Gebilde heraus, die keinerlei Anlehnung mehr an die Verwandtschaft sucht und ihrer nicht mehr bedarf. Eine Figur wie die des Doktorvaters bzw. der Doktormutter wäre auch in der Moderne noch ein Residuum dieser älteren Traditionen. Die (moderne) Gesellschaft ist historisch diejenige soziale Makroformation, der die Ablösung von der Universalität der „Gattung“ im Allgemeinen, der Gattung in ihrer empirisch-praktischen Erscheinung in Form konkreter Verwandtschaft und Familie im Besonderen am besten und am konsequentesten gelungen ist. Der Grund dafür, dass dies in so hohen Graden möglich war, liegt vor allem auch daran, dass dort, wo die moderne Gesellschaft historisch entstanden ist, nämlich in Teilen Europas, die Verwandtschaft seit der Spätantike in einer ganz bestimmten Weise geformt und modelliert worden war, in einer Form wie es sonst offenbar nirgendwo auf der Welt der Fall war. Das geschah zum einen durch die mittelalterliche Agrarverfassung, in der im Rahmen der Grundherrschaft nur kleine „Hufen“, die nicht mehr als eine Kleinfamilie mit Gesinde ernähren konnten, zur Bewirtschaftung vergeben wurden. Zum anderen aber waren es vor allem das Christentum und die lateineuropäische Kirche, die einen nachhaltigen Einfluss auf die Verwandtschaft ausübten, wodurch sich die gattenzentrierte Kleinfamilie herausbildete. Europa, und in der Folge Nordamerika – Max Webers „Okzident“ – ist nicht nur wirtschaftlich, politisch und kulturell, sondern auch in der Behandlung der Familie und der Verwandtschaft, in der Behandlung der „Gattung“, einen Sonderweg gegangen.29 Das Christentum, das Europa fundamental geprägt hat, tritt als Erlösungsreligion, ähnlich wie der Buddhismus, in vieler Hinsicht in Spannung zur Familie. „Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“, so zitiert Matthäus in 10,34 ff. die Worte Jesus, „Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig.“ Ein stark verwandtschaftsfeindlicher Zug ist für das Christentum charakteristisch;

29 Zum Nachfolgenden siehe (aus einer reichhaltigen Literatur zum Thema): Jack Goody (1986/ 1989); Jack Goody (2002); Gestrich/Krause/Mitterauer (2003); Michael Mitterauer (2004), darin vor allem Kapitel 3, S. 70–108; Josef Ehmer/Wilko Schröter (2005–2012); Bernhard Jussen (2009 u. 2013); Andreas Weigl (2012). – Selbst Bernd Roeck sieht in seiner monumentalen Geschichte der Renaissance in den reduzierten Familienstrukturen einen der Gründe dafür, dass gerade in Europa eine Kulturepoche wie die Renaissance möglich geworden war, vgl. Bernd Roeck (2019), S. 203 f.

Historische Sonderentwicklung der Aszendenz und der Familienstrukturen in Europa

das Verlassen der Familie und die Einübung asketischer und zölibatärer Praktiken zunächst bei Eremiten, dann vor allem aber in klösterlichen und kirchlichen Gemeinschaften wird hoch gewertet. Allerdings muss an einer entscheidenden Stelle zugleich ein Zugeständnis an die Natur und den Körper gemacht werden: bei der Sexualität. Sie soll so kanalisiert werden, dass sie innerhalb der Ehe und zum Zweck der Fortpflanzung praktiziert wird. Der Kampf gegen die starken Bindekräfte großer, meist patriarchaler, d. h. patrilinearer Verwandtschaftsverbände, wie sie sich etwa im konfuzianischen China oder später dann in den Verbreitungsgebieten des Islam etabliert haben, wird religionspolitisch daher schon früh zum Programm. Seit etwa 300 n. Chr. begann die lateineuropäische Kirche erfolgreich daran zu arbeiten, das individuelle Gattenpaar und die Kernfamilie aus übergreifenden Zusammenhängen der Verwandtschaft – aus Clans, Sippen, Lineages etc. – herauszulösen und freizustellen. Das wichtigste Instrument, dieses zu erreichen, war eine Serie kirchlicher Verbote der Verwandtenheirat vom 4. bis zum 11. Jahrhundert, also einer weltgeschichtlich außerordentlich restriktiven Ausformulierung des Inzesttabus. Während andere Mittelmeerkulturen, insbesondere die muslimisch-türkischen eher Endogamie betrieben, wodurch das erweiterte Verwandtschaftssystem immer wieder befestigt und nach außen geschlossen wird, wirkte die Kirche so nachhaltig auf exogame Heiratsmuster hin. Die Ehepartner sollten möglichst weit entfernt von der eigenen Herkunftsfamilie gesucht werden; im Mittelalter verbot die Kirche Heiraten zeitweilig bis zum siebten Verwandtschaftsgrad (verteilte dabei je nach Opportunität, da dies teilweise kaum praktikabel war, auch großzügig Dispense davon). Durch diese stark exogame Orientierung wurden Allianzen mit anderen „fremden“ Familien gestiftet und die immanente Schwer- und Anziehungskraft des Verwandtschaftssystems damit vergleichsweise wirksam gebrochen. Im Ergebnis wurde das konjugale Paar immer mehr freigelegt und damit freigestellt und das Prinzip der freien Gattenwahl formuliert. Zwar übten die Eltern vor allem aus Gründen familiärer Vermögens- und Erbfragen, wo es denn etwas zu vererben gab, oft einen beträchtlichen Einfluss auf die Gattenwahl ihrer Kinder aus (in den Fürstenfamilien aus diesen Gründen rigide), aber als Prinzip war die freie Gattenwahl bei grundsätzlicher Parität der Gatten doch postuliert. Da das Christentum auch den Ahnenkult bekämpfte, denn mit seinen Jenseitsvorstellungen war ein Fortleben der Vorfahren im Grab oder im Ahnenschrein unvereinbar, kam es in der Breite der meist agrarischen Bevölkerung auch zu einer Lockerung der Bindungen, die von der Generationenabfolge ausgehen. Solches Bekämpfen eines Kults um die Ahnen (was etwas anderes ist als ein Gedenken der Toten, die auch das Christentum kannte) steht in Parallele zu dem in Europa vorherrschenden bilateralen Familienmodell: Nicht nur die männlichen, auch die weiblichen Linien wurden gewürdigt, weshalb sich weder nach hinten, zur Aszendenz, noch nach vorne, zur Deszendenz ein tiefdimensioniertes Generationenbewusstsein ausbildete. Im Gegensatz zu streng patrilinearer Familienorganisation,

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die oft einen Stammvater oder Urahnen kennt, war es hier daher auch nicht zwingend nötig, unbedingt einen Sohn zu haben, der die Linie fortsetzen musste. Das begünstigte die Ausbildung der „european marriage pattern“, die John Hajnal für das Gebiet westlich einer Linie von St. Peterburg bis Triest identifiziert hat: Hier, vor allem in Mittel-, West- und Nordeuropa war das Heiratsalter signifikant höher als in anderen Weltgegenden, ebenso die Quote der Nichtverheirateten. Denn während diejenigen, die wie im Orient zur Fortsetzung der Patrilinie auf die Geburt eines Sohnes angewiesen sind, die Fruchtbarkeitsperiode der Frauen optimal ausnutzen und daher früh heiraten müssen, waren die Europäer (von der Ausnahme der ebenfalls vertikal bzw. patrilinear strukturierten Fürstendynastien abgesehen) wegen des Zurückdrängens partilinearer Muster von diesem Druck befreit. Dank des signifikant höheren Heiratsalters in den europäischen Gebieten entstand im Ablauf der Lebensalter die Periode der Jugend, was das Verlassen des elterlichen Haushalts, den Eintritt in eine Phase der Wanderung vor der eigenen Familiengründung, nämlich vorübergehenden Gesindedienst, Lehre, Knappendienst etc. begünstigte. Das lockerte einmal mehr die Generationen- und damit die Verwandtschaftsbindungen. Zusätzlich wirkten die European Marriage Pattern aufgrund des hohen Heiratsalters und des relativ großen Anteils der Nichtverheirateten fertilitätsbremsend. China und Indien sind nicht erst heute, sondern waren auch historisch ungleich bevölkerungsreicher als Europa. Hinzu kamen weitere Vorschriften: So verbot die Kirche die Adoption; das christliche Europa kannte über mehr als 1000 Jahre hinweg nicht oder kaum mehr dieses noch in der Antike, und dann erst wieder in der Moderne angewandte Instrument, Verwandtschaft auch künstlich (d. h. bloß rechtlich und emotional) zu schaffen. Als Erbe stand nur noch der tatsächlich leibliche Nachkomme (oder andere nahe Verwandte) zur Verfügung, während ein Ersatzerbe beim Ausbleiben eigener Kinder nicht mehr beschafft werden konnte. Des Weiteren wirkte die Kirche intensiv auf die Einhaltung der Monogamie hin; sie verbot sowohl die Polygynie als auch das Kurtisanenwesen. Kinder von Nebenfrauen schieden als Erben damit ebenfalls aus und wurden zu Bastarden. Auch erging (auf der Basis von Matthäus 19,6) ein Verbot, die Ehe zu scheiden; die Eheverbindung wurde sakramental gewertet. Nach freier Wahl sollten Mann und Frau dauerhaft und monogam zusammenbleiben. Die Witwe sollte schließlich auf Wiederverheiratung verzichten und sich dem Totengedenken ihres verstorbenen Mannes widmen, was sich in der Praxis aber nicht durchsetzte. Mit diesem scharf umrissenen, sehr restriktiven Ehe- und (Kern-)Familienmodell, dem sie Geltung zu verschaffen vermochte, bildete die Kirche auf der Ebene der normativen Kategorien in vollkommener Gestalt die Zeugungstriade ab: Jedes Kind geht aus einer bestimmten Gattenbeziehung hervor, und diese Beziehung ist und bleibt (auch wenn es durch Tod oder Scheidung zur Trennung der Eltern oder heute durch Adoption zu einer Pflegelternschaft anderweitig kommt) in der Tat für

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immer die Grundlage seiner (körperlichen) Existenz; diese Gattenbeziehung und nur diese ist und bleibt lebenslänglich konstitutiver Bestandteil seiner Aszendentenstelle. Die normative Durchsetzung dieses Modells über Jahrhunderte hinweg half immens, dem Individuum Bewegungsfreiheit gegenüber den Zumutungen der Verwandtschaft, der es entstammt, zu verschaffen. Wo der Clan, so Ferdinand Tönnies in einer prägnanten Formulierung, „die Familie vor der Familie“30 gewesen sei, wurde es durch dessen kulturhistorisch herbeigeführte Zertrümmerung und die so bewirkte lebenspraktische Reduktion der Verwandtschaft (der „Gattung“) auf die Kernfamilie für das Individuum leichter, deren Sogkräften zu entkommen und, sobald es als einzelnes das Erwachsenenalter erreicht, in die historisch im Entstehen begriffene „Gesellschaft“ zu migrieren. Daneben wäre ein weiterer Überlieferungsstrang in der historischen Formung der Verwandtschaft in Anschlag zu bringen, der vor allem für das Bewusstwerden der Aszendentenstelle von großer Bedeutung sein dürfte, das ist einmal mehr die dynastisch verfasste Fürstenherrschaft. Die Grundherren, auch städtische Patrizierfamilien, vor allem aber die Fürsten stellten quantitativ zwar nur ein minimales Segment der Gesamtbevölkerung dar, als Elite hatten sie gleichwohl größte Bedeutung und Strahlkraft für die Allgemeinheit. Die Herrscherfamilien setzten sich von der übrigen Bevölkerung nicht zuletzt auch durch eine ganz bestimmte Organisation der Verwandtschaft deutlich ab. Während durch die genannten Entwicklungen in der okzidentalen Kultur in der Breite der Bevölkerung das einzelne Gattenpaar und die Triade freigestellt, damit bei den Erblinien auch eine Parität zwischen männlicher und weiblicher Familientradition konstituiert wurde, mit der Folge aber auch, dass dadurch das Bewusstsein einer vertikalen Tiefe der Generationenabfolge verloren ging, waren die Fürstenfamilien gerade gegenläufig strukturiert. Sie sicherten sich ihre absolute Exklusivität und legitimierten ihre herrschaftliche Spitzenstellung eben just durch eine Akzentuierung der vertikalen Generationenabfolge, also ihrer Aszendenz. Doch die Aszendenz öffnet sich, wie die sich potenzierende Trichterform des Aszendentenbaums zeigt, in einem vielfältigen Ästegewirr. Kontinuität über 20 und mehr Generationen, wie es die großen Fürstendynastien (Habsburg, Wittelsbach, Hohenzollern, die Bourbonen etc.) dann auszubilden vermochten, ist nur herzustellen, wenn man einen dieser Äste heraushebt und gegenüber den anderen eindeutig vorzieht, und das war die Mannesstammlinie. Eben diese Kultivierung der Mannesstammlinie war das eine Element der fürstlichen Verwandtschaftsstruktur. Das andere war die Schließung der Heiratskreise: Nur Frauen aus ranggleichen Familien (von der Fürstenfamilie des anderen Territoriums, aus einer Seitenlinie der eigenen Sippe etc.) kamen

30 Ferdinand Tönnies (1988), S. 19 u. 26.

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als Heiratspartnerinnen infrage. Sinn und Zweck dieser Doppelkonstruktion, die den Strukturen des archaischen Clans nähersteht als der modernen Klein- und Kernfamilie, war es, den Nachkommen, nämlich dem Thronfolger bzw. der Abfolge der künftigen Thronfolger eine Exklusivität der Stellung zu sichern, die qua Geburt – will sagen: qua fürstlicher Aszendenz – über alle anderen unzweifelhaft erhaben war. Als drittes Element kommt die Betonung der Geschwistersequenz hinzu, indem, spätestens mit dem Absolutismus, allgemein die Primogenitur, das exklusive Thronrecht des Erstgeborenen unter den Fürstensöhnen eingeführt wird, um die Bruderrivalitäten und die daraus folgenden territorialen Zersplitterungen des Herrschaftsgebiets früherer Epochen zu unterdrücken. Nachkomme des Fürsten und seiner legitimen Ehefrau (richtige Gattenwahl der Eltern), Sohn (Deszendenz/Aszendenz) und Erstgeborener (Geschwistersequenz) zu sein – das war die Aszendentenstelle, auf die es ankam. Und zwar staatspolitisch ankam! Und unter den historisch gegebenen Umständen kam es nur darauf an. Der Stärkere, der Klügere, der Weitsichtigere, der sich in den höchsten Kreisen bewegte, hatte keine Chance, wenn er nicht diese Aszendentenstelle hatte. Und wir kennen Fälle, in denen eben dieses mit dieser Aszendentenstelle ausgestattete Individuum, der Thronfolger, aufgrund seiner Konstitution persönlich gar nicht in der Lage war, die Herrschaft auszuüben. Unmündige Kinder z. B., wenn der fürstliche Vater zu früh gestorben war, oder Debile wie König Otto von Bayern (nominell im Amt von 1886 bis zu seinem Tod 1916) – Unfähige, für die nahe Verwandte als „Regenten“ oder Minister dann stellvertretend die Geschäfte führten. Diese Fälle zeigen deutlich die (politisch veranlasste) Überakzentuierung der Aszendentenstelle. Etwas, was jeder Mensch hat, wird durch dieses Arrangement herausgehoben und für alle sichtbar gemacht. Ein Bewusstsein der Bedeutung der Aszendentenstelle aber ist eine unerlässliche Bedingung für die Möglichkeit moderner Individualität. Dafür hatte die Erbmonarchie mit ihrer allgemein sichtbaren Heraushebung des erstgeborenen Sohns des Fürsten eine historische Pilotfunktion. Kirche und Fürstenherrschaft zeitigten für die historische Entwicklung der Verwandtschaftsstrukturen also zwei bedeutende Ergebnisse: die Herausbildung der Kernfamilie – der Triade – und die Schärfung des Bewusstseins der Aszendentenstelle. Diese jahrhundertelange kulturelle Präparierung und Spezifizierung des Verwandtschaftssystems hin zur Freisetzung des Individuums war im 19. und 20. Jahrhundert dann eine günstige Voraussetzung dafür, (natur-)wissenschaftlich auch die biologischen und körperlichen Hintergründe von Zeugung, Vererbung, pränataler Genese des Individuums etc. aufzuklären und das Bild vom Menschen und seiner auch körperlich bedingten Herkunft zu verändern. Wenn in der europäischen bzw. der okzidentalen Kultur somit die Bedeutung der Triade und der Aszendentenstelle historisch einst besonders deutlich zu Bewusstsein gekommen ist, so geht es in der Lebenspraxis und in der Lebensweise der ausgereiften mo-

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dernen Gesellschaft der Gegenwart mit ihren weitverbreiteten Patchworkfamilien und starken Egalitätsvorstellungen tendenziell zugleich wieder etwas verloren. Die grundlegende historische Prägung seit der Nachantike und in der Frühen Neuzeit haben ihre basale Wirkung dennoch getan und zwar nachhaltig. Die Folge für das Individuum war eine zweifache: Einmal erlangte es dank der kirchlich initiierten Zerstörung der Clanstrukturen eine viel größere Freiheit gegenüber den Fängen seiner (Herkunfts-)Verwandtschaft – der „Gattung“ –, zum anderen vermochte es dank dieser relativen Unabhängigkeit die Handlungs- und Entfaltungsräume, die die moderne Gesellschaft dann dem Einzelnen als Einzelnem bietet – das sind die „Rollen“ in der Gesellschaft –, überhaupt erst zu nutzen. Letzteres wird Thema vor allem in Teil III sein. Welche Bedeutung die Aszendentenstelle, die nach dem historischen, politischen Niedergang der Fürstendynastien dem Blick wieder etwas entwunden ist, für das Individuum hat, für seine Anfänge, seine frühe Entwicklung, die Konstitution eines Ichs und einer Identität, wird im nachfolgenden Teil entwickelt. Dass die Vorstellung von Freiheit und Autonomie des Individuums angesichts dieser Vorgeschichte in Europa entstand, dürfte wenig verwundern.

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Teil II Sosein und Anderssein: Das Eindeutige und das Schillernde am Individuum

Wenn hier im Folgenden die Frage nach dem menschlichen Individuum gestellt wird – und das impliziert die Frage, wie die generativen Universalien in ihm platziert sind und wie sie in ihm zur Entfaltung kommen –, so ist von vornherein zu bedenken, dass dieses eine Frage ist, wie sie sich vor allem aus der Sicht und der Erfahrungswelt der modernen, westlich geprägten Gesellschaft ergibt. Vielen vor- und außermodernen Kulturen stellt sie sich bei Weitem nicht in der gleichen Intensität und Konsequenz. Wenn insbesondere die Aszendenz die Frage nach den Anfängen des Individuums aufwirft, so ist zu konstatieren, dass sie jenen Kulturen, in denen die einzelnen Menschenexemplare ebenso „einen Anfang nehmen“ und die ebenso sterben wie in unserer Welt, so vielleicht fremd sind und in dieser Art und Weise gar nicht verstanden werden. Im Gegensatz zu Todesdaten wurden Geburtsdaten in der traditionellen historischen Welt häufig nicht protokolliert; der Anfang erschien nicht erinnerungswürdig, und im Neugeborenen sah man unter Umständen noch lange nicht eine Person mit Rechten, konnte es unter Umständen sogar – so etwa bei den hochzivilisierten Römern – straffrei wieder töten. Dem entspricht auch die Tradition des philosophischen Denkens über diese Fragen: Seit jeher thematisierte es mit Vorliebe den Tod und das Sterben lernen, während Geburt und Herkunft erst spät, vor allem mit Hannah Arendts Philosophie der Natalität in den Blick kamen. Anfang und Aszendenz wurden und werden in der menschlichen Kulturgeschichte sehr unterschiedlich gesehen. Das Ausdeuten der Anfänge geschieht in der modernen Welt anders, und was hier in diesem Teil unternommen wird, geschieht selbstredend aus der Erfahrungsperspektive dieser Moderne. Und doch: Wie am Ende der Einleitung bemerkt, ist es bei aller Kulturspezifität und -relativität die Sicht auf eine Problematik – eben die Problematik der generativen Universalien –, die von anthropologisch-universaler Dimension ist. Das Universale ist uns einmal mehr nur in spezifischer Sicht und spezifischer Erfahrung zugänglich. Eine historische Voraussetzung dafür, solche Fragen bezüglich des Individuums aufzuwerfen, sind nicht zuletzt jene europäischen Verwandtschaftsstrukturen, deren Entwicklung hier zuletzt dargestellt wurde: die Freilegung der Kern- und Gattenfamilie, der unauflöslichen Triade von Vater, Mutter und Kind, aus größeren vorhergehenden Verwandtschaftsverbänden (Clan, Sippe etc.) und ein Bewusstsein der Bedeutung der Aszendentenstelle dank ihrer zugespitzten Erscheinung im Kontext der dynastischen Fürstenherrschaft.

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Kapitel 4 Das Sosein des Individuums mit der Zeugung Wann, wo und wie beginnt also das menschliche Individuum? Mit dem Kinderwunsch seiner Eltern? Vielleicht sogar schon mit der ersten erotischen Regung, die dieses Paar wechselseitig für einander empfunden hat? Schopenhauer formulierte das explizit so: „Als die allererste Entstehung eines neuen Individuums und das wahre punctum saliens [springender Punkt] seines Lebens ist wirklich der Augenblick zu betrachten, da die Eltern sich anfangen einander zu lieben. […] im Begegnen und Heften ihrer sehnsüchtigen Blicke entsteht der erste Keim des neuen Wesens […]“31 Der „erste Keim“! Oder aber ist der Beginn doch erst mit der körperlichen Zeugung anzusetzen? Wenn also die Aszendentenstelle, das elementare Sosein des Individuums tatsächlich konstituiert, d. h. physisch „verkörpert“ ist? Oder vielleicht doch erst später: Mit der Nidation? Oder mit der „Beseelung“? Wann auch immer sie stattfindet. Hirnströme lassen sich erst in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft nachweisen. Dann aber die Geburt. Wie verhält es sich mit ihr, dem Ende der leiblichen Symbiose mit der Mutter, wodurch sich oftmals auch der rechtliche Status des Individuums ändert? Was ist mit noch späteren postnatalen Entwicklungen? Der Namensgebung, Initiationsriten wie Taufe oder Beschneidung? Oder wäre der Anfang der menschlichen Personalität erst sehr spät anzunehmen – zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind zum ersten Mal „Ich“ sagen kann und ein Bewusstsein seiner selbst hat (Peter Singer)? Liegt im Ich der Kern und damit der Anfang des Individuums? Zu all diesen Fragen kommt hinzu, dass die Antworten darauf einmal mehr von der Perspektive abhängen, aus der man auf sie blickt: von außen oder von innen; Fremd- oder Selbstwahrnehmung. Die Eltern (und andere, nicht unmittelbar beteiligte Dritte) erleben die Entstehung ihres Kindes anders als man selbst in der Binnenwahrnehmung auf seine eigene Herkunft und auf die kindlichen Ursprünge seiner selbst blickt. Vor allem geht im Entstehungsprozess des Individuums die Fremdwahrnehmung der Selbstwahrnehmung konstitutionell voraus. Denn während dem Individuum seine eigenen Anfänge selbst, von denen es durch Amnesie abgeschnitten ist, unzugänglich sind und es sich erst lange nach seiner Entstehung selbst wahrnehmen kann, werden seine Mutter, sein Vater, die Ärzte, die Umwelt schon sehr früh Zeuge seiner (körperlichen) Entstehung. Wir können über unsere Entstehung und Herkunft nichts wissen, wenn nicht unsere Eltern (und andere) uns darüber wahrheitsgemäß Auskunft geben. Wieder also die elementare und unaufhebbare Perspektivendivergenz, die sich aus der Position in der Vater-Mutter-Kind-Triade ergibt.

31 Schopenhauer (1977), S. 628.

Das Sosein des Individuums mit der Zeugung

Unabhängig von der Frage der Wahrnehmung und der Perspektive wird man die Anfangsproblematik weniger als die eines bestimmten und einzigen Anfangs, sondern vielmehr als eine „Sequenz von Anfängen“ konzipieren müssen. In jedem Fall steht das Individuum, der einzelne Mensch, in der Kontinuität der Generationen, ist Fortsetzung der vorangegangenen Generationen, ist Ergebnis einer Gattenwahl seiner Eltern, und es existiert die Frage der Geschwistersequenz (als Potenzial, wie erwähnt zunächst auch beim Erstgeborenen). All das geschieht weitgehend vor dem Zeitpunkt seiner Zeugung. Und es geschieht – durch die Eltern – meist relativ bewusst. Das ist das von Schopenhauer angesprochene Vorspiel. (Der Mann, der in einer flüchtigen sexuellen Beziehung ein Kind zeugt und dann wieder verschwindet, insbesondere bei Vergewaltigungen unter Kriegsbedingungen, hat vielleicht kein Bewusstsein dessen, was er tat, aber er tat es.) D. h. formal und material sind der Aszendentenbaum und die Aszendentenstelle schon vor der Zeugung konkret bestimmt, auch wenn sie vorerst nur virtuell bleiben. Es ist die Vorsphäre, in der sich das Sosein des Kindes in Form des elterlichen Kinderwunsches, ihrer Zukunftsphantasien, der eventuell vorweggenommenen Namenssuche etc. schon konkretisiert. Doch würde der Wunsch nicht Realität und blieben Aszendentenbaum, Aszendentenstelle, Name, Zukunftspläne etc. virtuell und bloße Fiktion, käme es körperlich nicht zur Zeugung. Die Gattenwahl und der Wunsch allein reichten nicht hin, um „den Anfang“ zu vollenden und Realität werden zu lassen, zumal es ja auch die ungewollte, ungeplante Zeugung gibt. Der Zeugung kommt in der „Sequenz der Anfänge“ doch eine entscheidende Bedeutung zu. Ohne Zeugung keine Deszendenz, keine Existenz. Die Zeugung realisiert das bislang virtuell gebliebene, die Aszendentenstelle, indem sie sie „verkörpert“. Doch bleibt gerade dieses entscheidende Ereignis, die Vereinigung von Samen- und Eizelle, jedenfalls bei natürlicher sexueller Hervorbringung des Kindes, verborgen und daher unbemerkt; die Mutter und das Paar realisieren es i. d. R. erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung, nämlich mit dem Ausbleiben der Menstruation; just der entscheidende Sequenzschritt hüllt sich in ein Geheimnis. Nur selten hat die Mutter schon unmittelbar nach der Empfängnis eine subjektive Gewissheit davon. Für die Mutter bzw. die Eltern beginnt das Individuum, das Leben ihres Kindes, subjektiv tatsächlich daher erst mit der Erkenntnis der objektiv schon länger eingetretenen Schwangerschaft (während mehr als der Hälfte aller befruchteten Eizellen die Nidation nicht gelingt und sie daher unbemerkt wieder abgehen.) Auch rechtlich hat die Nidation für den Embryo Auswirkungen: Sein Status ändert sich nach deutschen Recht vom „Nondum conceptus“ (der noch nicht Empfangene) zum „Nasciturus“ (der geboren werden wird). Erst jetzt mit der Nidation und Wahrnehmung durch die Mutter verspricht ein eventuell zuvor vorhanden gewesener Kinderwunsch auch Realität zu werden. Und jetzt beginnt etwas, was für alles Weitere, für die Sozialisation, ebenfalls wichtig ist: die Fremdwahrnehmung

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und – wo nicht eine Abtreibung vorgenommen wird – die Anerkennung dieses werdenden Individuums; hier durch seine Eltern. Zunächst realisieren die Eltern nur, dass sie ein Kind bekommen – dessen Sein. Doch es wird nicht einfach nur ein Kind sein, es wird (von den seltenen Fällen einer Unklarheit des Geschlechts, den Intersexuellen abgesehen) ein Junge oder ein Mädchen – nach der Aszendentenstelle das zweite grundlegende Merkmal des Soseins. Das Geschlecht des Kindes (Sex) ist in einer bestimmten Hinsicht, nämlich im Hinblick auf dessen späteren eigenen Fortpflanzungsmöglichkeiten, mit der Zeugung definitiv vorentschieden. Doch was hier entschieden ist – was hier so ist –, bleibt in der Wahrnehmung der Eltern i. d. R. noch länger im Geheimnisvollen, als es die Wahrnehmung der puren Existenz, des Seins, ihres Kindes gewesen war. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten konnte man das Geschlecht (wenn überhaupt) erst nach der Geburt erkennen, seit Einführung des Ultraschalls und anderer pränataler Untersuchungsmethoden bereits in einem frühen Schwangerschaftsstadium. Die Sequenz der Anfänge ließe sich (bei natürlicher Zeugung) also in etwa so bestimmen: Der Aszendentenbaum und die Aszendentenstelle sind nach vollzogener Gattenwahl vor der Zeugung noch virtuell, formal und material aber doch bereits konkret, d. h. genealogisch genau bestimmbar; und das heißt auch, die Neukombination des universalen Verwandtschaftssystems durch „Leo und Maggie“ ist damit bereits vorweggenommen, die Aszendentenstelle damit also a priori gegeben. Mit der Zeugung aber wird sie real. Und mit der Zeugung kommt etwas Neues hinzu: Mit ihr entsteht auch das körperliche Geschlecht (Sex), das zweite der generativen Universalien. Bewusst wird den Eltern die Existenz des Keims, die eingetretene Schwangerschaft, üblicherweise zeitversetzt. Die Erkenntnis des Geschlechts des Kindes erfolgt noch später, eventuell sogar erst nach der Geburt. Entscheidend aber ist: Mit der Zeugung, ohne die nur Kinderlosigkeit bleibt, ist die individuelle Ausprägung der generativen Universalien des Individuums definitiv festgelegt: sein Aszendentenbaum bzw. seine Aszendentenstelle, sein (körperliches) Geschlecht und mit seiner puren Existenz ist es unweigerlich auch ein Fall für den Tod. Das Kind ist schon in seinem Anfang so, oder es ist gar nicht. Und so ist es, zumindest was die individuelle Struktur der Aszendenz betrifft, nicht von Natur aus, sondern aufgrund der (sozialen) Aktivität der Eltern. Die Zygote ist daher nicht allein ein biologisches Substrat, sie ist Keimling gewordene Aszendentenstelle, und sie ist (dies von Natur aus) bereits geschlechtlich konnotiert. Das gilt auch umgekehrt: In der Zygote wird eine neue einmalige Aszendentenstelle leibhaftig; sie wird mit ihr wie erwähnt „verkörpert“. Eine Feststellung übrigens, die sich auch auf künstlich befruchtete Eizellen erstreckt, die kryokonserviert in medizinischen Laboren ruhen und für die man, wie für Menschen schlechthin, prinzipiell ebenso einen Aszendentenbaum und das körperliche Geschlecht bestimmen kann. Aus Sicht des hier vertretenen Konzepts repräsentiert die Zygote das Individuum rein als Aszendentenstelle, dazu bereits geschlechtlich markiert – mehr

Das Geschlecht des Kindes

(noch) nicht, noch nicht als sich weiter entwickelndes menschliches Individuum, als ein Wesen, das Schmerz empfindet und an dem Herzschlag und Hirnströme erkennbar werden; jegliches Binnenleben ist noch vollkommen abwesend. Zumindest auf theoretischer Ebene ist es daher problematisch, in der Zygote und im Embryo einzig einen bloßen Zellhaufen oder bloßes „Schwangerschaftsgewebe“ zu sehen, was sozial eine Tabula rasa sei – mit allem, was daraus praktisch für ihre Instrumentalisierung durch die medizinische Forschung und die Reproduktionstechnologie und für die Fragen um die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs folgt. Jeder Mensch ist und hat einen Körper, den er als „Leib“ spürt, und die Zygote respektive die Aszendentenstelle war unaufhebbar die Urzelle und der Ausgangspunkt, aus der ebendieser Körper hervorgegangen ist. Das hat auch, wovon noch zu sprechen ist, für den ausgereiften Körper, die ausgereifte Person Bedeutung und Folgen. Geschlechtlich prädisponierte Zygote und Aszendentenstelle sind beides zugleich: Keim und Abstammungsverwandtschaft – einmalige Variation von evolutionsgeschichtlichem Gattungserbe und sedimentierte Kulturgeschichte durch Gattenwahl der Vorfahren. Sie sind nicht invariant Naturhaftes; dank der Gattenwahlen der Vorfahren ist ihnen ein „sozial konstruktiver“ Charakter wesenseigen. Am Beginn des individuellen menschlichen Lebens stehen so das genuine Ineinander und Zusammenwirken von Natur und Kultur. Es ist nicht allein nur das eine oder allein nur das andere, es ist unauflösbar beides zusammen: Zygote und Aszendenz.

Kapitel 5 Das Geschlecht des Kindes Geschlecht (Sex und Gender) ist freilich eine weite Kategorie, sodass hier genauer herauszuarbeiten ist, was daran mit der Zeugung festgelegt ist, was nicht. Dasjenige, was mit der Zeugung festgelegt ist, reduziert sich allein auf die Frage, in welchem Sinne ein Mensch an der Fortpflanzung teilhaben kann. Über die darüberhinausgehenden Entwicklungen in körperlicher (chromosomal, hormonell, gonadal, phänomenologisch), psychischer, sexueller und sozialer Hinsicht ist damit nichts gesagt. Männlich und weiblich sind im Einzelnen vielfältig durchmischt; in der Durchmischung bilden sich, sei es schon vom Ursprung her oder erst im Lauf der Individualentwicklung, schier unbegrenzte Varianten und Variationen des Geschlechts. Am Deutlichsten tritt die Durchmischung bei den verschiedenen Varianten des Intersexuellen, vor allem dem hermaphroditismus verus, und beim Transgender zutage. Geschlechtswechsel sind beim Menschen bis zu einem gewissen Grad möglich – nicht aber bei der Fortpflanzung. Um sich fortzupflanzen, muss sich die Sexualentwicklung und die Sexualreifung – bei aller Durchmischung – doch bis zu einem gewissen Grad in eine Richtung, bis zur Gebär- oder zur

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Zeugungsfähigkeit, entfalten. Die möglichst klare Differenzierung im Verlauf der Individualentwicklung in dominant weiblich oder dominant männlich ist für die Fortpflanzung günstiger als der Mangel an Differenzierung. Die weitgehende (nicht unbedingt perfekte) Kongruenz von körperlicher, leiblicher, psychischer, sexueller und sozialer Geschlechtsentwicklung erhöht die Chancen für die Fortpflanzung, allzu starke Mischungen und Konversionen reduzieren sie oder machen Fortpflanzung ganz unmöglich. Auch die transidente Person vermag sich fortzupflanzen, aber nur in ihrem körperlichen Herkunftsgeschlecht. Zumindest theoretisch interessant wird damit die Frage, ob ein Individuum im Lauf seines begrenzten Lebens nicht doch vielleicht beides zugleich kann: Zeugen und Empfangen/Gebären? Kann „Leo“ zu „Maggie“ werden – und umgekehrt? Die Mythologie und die Literatur haben es vielfach ausgemalt: Teiresias, der vom Mann zur Frau verwandelt wurde, einen Sohn gebar, wieder zum Mann wurde und später mit der Gabe der Weissagung und je nach Erzählvariante mit siebenfacher Lebensdauer ausgestattet wurde. Oder Virginia Woolfs Orlando – der Wandler/die Wandlerin zwischen männlich und weiblich: als Knabe geboren, als junger Mann mit einer Frau, der Tänzerin Rosina Pepita, verheiratet, mit ihr drei Söhne zeugend; dann in tranceartigem Schlaf seine wundersame Verwandlung zur Frau und die Heirat mit einem Mann, Marmaduke Bonthrop Shelmerdine, der später die Geburt eines Sohnes folgt. Orlando ist damit diejenige Figur, die sowohl Kinder gezeugt als auch eines empfangen hat. In ein und demselben individuellen Leben ist er/sie zugleich Vater und Mutter unterschiedlicher Stiefgeschwister. Die älteren der Stiefgeschwister sehen in Orlando ihren Vater, das jüngere in der vermeintlich gleichen Person seine Mutter. Hinzu kommt ein anderes: Orlando ist allem Anschein nach unsterblich. Er lebt als junger Mann bereits zur Zeit Königin Elisabeths I., also im 16. Jahrhundert, und ist – zwischenzeitlich zur Frau geworden – im Jahr 1928 erst 36 Jahre alt; von seinem/ihrem Tod wird nicht berichtet. Die Orlando-Konstellation beschreibt so gleichermaßen das Überspringen der elementaren Geschlechterpolarität und die Negation des Faktums des Todes. Das aber ist literarische Fiktion; die Realität ist – selbst im Zeitalter einer expansiven modernen Reproduktionsmedizin, die Phantasien einer schier grenzenlosen Machbarkeit zu evozieren vermag – noch immer etwas anderes. Faktisch wird bereits mit der Zeugung eine Konstellation geschaffen, die auch das entwickelte, geschlechtsreif gewordene Individuum nicht mehr wird revidieren können, nämlich dass es (wenn überhaupt) nur eine Sorte von Gameten bis zur Reife wird hervorbringen können: Ovum oder Sperma. Welches der beiden Keimplasmen es bis zur Reife eventuell zu produzieren vermag, welches aber definitiv nicht, ist in den Anfängen bereits beschieden. In dieser Hinsicht ist die Geschlechterpolarität von Anfang an angelegt. Zwar ist es zum Zeitpunkt seiner Zeugung offen, ob ein Individuum im späteren Leben leiblich überhaupt Vater oder überhaupt Mutter werden wird; sicher aber ist, dass es (körperlich!) nicht beides werden kann. Was sonst ihm

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immer in seinem Leben widerfahren mag: Entweder von der Zeugung oder von der Empfängnis (oder aber von beidem) ist es definitiv ausgeschlossen! Womit über die faktischen Realisierungschancen der „eigenen“ Seite noch gar nichts ausgesagt ist, denn diese Frage ist bei der Zeugung gänzlich offen und mit dieser Offenheit geht das Individuum in sein Leben. Doch eine der beiden binär aufeinander bezogenen Fortpflanzungsoptionen bleibt immer leer, und diese Leerstelle wird es nie selbst ausfüllen können; bei der Fortpflanzung (Deszendenz) bleibt es auf das „andere Geschlecht“ angewiesen, und damit kommt unvermeidlich die Sozialität, der Austausch mit dem/der anderen ins Spiel: eben die Gattenbeziehung und in der Folge die Triade. Als allgemeinste und zugleich minimale Bestimmung der Geschlechterdifferenz können wir somit festhalten: Jedes menschliche Individuum ist universell von einer der beiden geschlechtlich gegebenen Möglichkeiten, an der Fortpflanzung teilzuhaben, von Anfang an definitiv ausgeschlossen (oder von beiden).32 Diese Bestimmung lässt sich nahtlos einfügen in die in der Einleitung vorgenommene Charakterisierung der Vater-Mutter-Kind-Triade: Die drei daran Beteiligten können ihre Position nicht gegeneinander tauschen, ein Faktum, in dem die soziale Divergenz von Fremd- und Selbstwahrnehmung ihren Ursprung hat. Bezogen auf die Beziehung, die der Vater (Leo) und die Mutter (Maggie) in diesem Dreieck bilden: Sie können ihre Position nicht miteinander tauschen, weil die Gametenproduktion und damit die Hervorbringung des Dritten, des Kindes, von Natur aus nun einmal binär und polar angelegt ist. Rasante Entwicklungen in der Medizin werfen stets erneut die Frage auf, ob diese Bestimmung haltbar ist. Phänomene wie „schwangere Männer“ und die Aussicht auf Uterustransplantationen für Transgenderfrauen werden ihr heute zum Prüfstein. Prüfen wir es also: Da sind die aufsehenerregenden Medienberichte vom „schwangeren Mann“; Bilder von bärtigen Männern, die tatsächlich ein Kind tragen und es gebären. Phänotypisch, sozial und personenstandsrechtlich unstreitig Männer. Biographisch jedoch Frau-zu-Mann-Transsexuelle, die die körperliche Transformation an einer bestimmten Stelle abgebrochen haben, vor allem die Ovarien und den Uterus beibehielten. Nur solche von Frau zum „Mann“ gewordene Personen können als „Mann“ schwanger werden. – Das Pendant hierzu: die Verwendung des Begriffs „Frau“ z. B. im deutschen Embryonenschutzgesetz, wo es gleich zu Beginn etwa heißt, mit Strafe werde belegt, wer „auf eine Frau eine fremde unbefruchtete Eizelle überträgt“ etc. Lange schien es, als schieden bei der Anwendung dieser Technik Mann-zu-Frau-Transsexuelle prinzipiell aus, obwohl sozial, personenstandsrechtlich, phänotypisch ebenfalls Frauen, denn sie haben keinen Uterus. Das könnte sich angesichts medizinischer Fortschritte ändern. Seit dem Jahr 2000 gibt es Bemühungen um die Transplantation von Gebärmüttern, um

32 Diese Definition bereits 1998 in: Hansert (1998), S. 17.

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damit Frauen zu helfen, die von Geburt an selbst entweder keine solche haben, wohl aber Eierstöcke (Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom, kurz MRKHS) oder die ihren Uterus durch Krankheit verloren haben. Spenderinnen des Organs sind, um die Problematik der Immunabwehr klein zu halten, oft die eigenen Mütter oder Schwestern der Empfängerinnen. Eine natürliche sexuelle Zeugung ist bislang nicht möglich; daher wird in die transplantierte Gebärmutter eine künstlich befruchtete Zygote eingesetzt. Dabei handelt es sich in Regel um eine eigene Eizelle der Frau, die mit dem Samen des Partners befruchtet wurde. Eine Entbindung ist aktuell nur durch Kaiserschnitt möglich. Wegen der Immunabwehr wird die Gebärmutter nach der Kinderphase aus gesundheitlichen Gründen wieder entfernt. Im Jahr 2014 wurde in Schweden mit dieser Methode das erste gesunde Kind geboren; seither weltweit einige weitere, darunter auch in Deutschland (und zwar am Universitätsklinikum Tübingen). Insbesondere in angloamerikanischen Medizinerkreisen wird die Frage diskutiert, inwiefern auch Transgenderfrauen in den Genuss einer solchen Uterusverpflanzung kommen könnten. Dieses Projekt liegt theoretisch offenbar im Bereich des Möglichen, und d. h., es ließe die Geschlechtsangleichung eines männlich geborenen Individuums an den Körper einer Frau sich so weit treiben, dass es zu einer künstlich in die Wege geleiteten Schwangerschaft in der Lage wäre. Schwangerschaft rückte für die transsexuelle Frau damit offenbar in den Bereich des medizinisch Realisierbaren. Ist es vielleicht sogar denkbar, dass das Kind, das sie so austrägt, auch genetisch ihr eigenes ist, nämlich dann, wenn sie vor ihrer geschlechtlichen Transition, noch als Mann, eigenes Sperma kryokonservieren lässt, das jetzt zur Befruchtung der Eizelle, die von einer anderen Frau, vielleicht von ihrer Partnerin, kommt, verwendet werden würde? Was sollte dieses Elternteil, diese Transgenderfrau familiär, rechtlich, sozial und wohl auch psychisch anders sein, denn eine Mutter?33 In der Alltagspraxis würde Leo in diesem künftig vielleicht möglichen Szenario in der Tat weitgehend zu Maggie werden. Und doch, es bleibt ein unauflösbarer Rest: Diese „Mutter“ kann ihrem Kind nur väterliche Gene geben, die Gene Leos – und: sie ist eine „Mutter“ mit der biographischen Vergangenheit, sprich einer ursprünglich stattgehabten Sozialisation als Leo. Die Entwicklung und Hervorbringung der Lebenssubstanz – das geschlechtlich binär konnotierte Keimplasma: Ovum und Sperma – ist und bleibt mit dem Ursprung des Individuums, der eigenen Aszendenz, der eigenen Zeugung gegeben. Hier kann Leo nicht Maggie und Maggie nicht Leo werden. Auch die „schwangeren Männer“ und die Transgenderfrauen mit Uterus vermögen dies nicht grundlegend aufzulösen. Insofern steht die obige Bestimmung, ausgeschlossen zu sein von einer der beiden Möglichkeiten, an der Fortpflanzung teilzuhaben, nicht im

33 „Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat.“ lautet der entsprechende Paragraph 1591 im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch.

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Widerspruch zu diesen spektakulären Grenzfällen. Für die Theorie des Geschlechts sind sie zweifellos interessant, doch für die Entfaltung und die Zukunft der Gattung, für die es auf die große Zahl ankommt und die sich allein der Heterosexualität verdankt, sind sie allein schon quantitativ nicht von Bedeutung; ihr Exempel kann bzw. könnte nicht zum allgemeinen Modell werden. Hartnäckig behauptet sich die Deszendenzproblematik, die an heterosexuelle Binarität gebunden ist, als Grenze aller Möglichkeiten des Geschlechtswechsels. Diese Unüberwindbarkeit der Geschlechterpolarität in der Fortpflanzung scheint ebenso absolut wie das Faktum des individuellen Todes. Die Beschränkung auf allenfalls eine der beiden Fortpflanzungsmöglichkeiten hat man wohl auf ein und derselben konstitutionellen Ebene zu verorten wie die leibliche Endlichkeit des Individuums. Anders gesprochen: Könnte man beides zugleich – zeugen und empfangen – wäre man à la Orlando wohl auch unsterblich. Nehmen wir als Drittes hinzu, dass mit der Zeugung die Aszendentenstelle gegeben ist, so werden die konstitutionelle Einheit und die universelle Verbreitung der generativen Universalien beim menschlichen Individuum – Aszendenz, Geschlecht und Tod – offenbar. Wenn im vorigen Teil I die Aszendenz bzw. die Aszendentenstelle als Apriori aller später sich entfaltenden Biographie des Individuums bestimmt wurde, so sehen wir das Geschlecht im hier definierten negatorischen Sinne (Sex) – eben als eines Ausschlusses von … – als zweites Element dieses Aprioris hinzukommen. Aszendenz und (negatorisch definiertes) Geschlecht sind mit der Zeugung gleichursprünglich gegeben. Keinem Individuum ist in seinem Leben theoretisch und prinzipiell daher alles möglich, denn abstammungsverwandtschaftlich und negativgeschlechtlich ist es von Anfang an so. Mit der Zeugung kreieren die Eltern also eine konkrete Aszendenz und das Geschlecht im Sinne von Fortpflanzungsoption – eine in der gesamten Menschheitsgeschichte einmalige Konstellation, lange bevor das Gezeugte anfängt, irgendetwas zu fühlen, zu spüren, zu denken, also „sichtbar“ Leben, Beseelung und Bewusstsein zeigt. Dafür soll an dieser Stelle der Begriff der Apriori-Individualität eingeführt werden – a priori: vor aller (subjektiv gemachten) Erfahrung. Mit dieser Individualität a priori ist eine Grundkonstellation des Lebens generiert – und zwar sowohl des Lebens der Mutter wie des Lebens des Vaters wie schließlich und vor allem: die Grundkonstellation im Leben des Kindes –, die nicht mehr revidierbar ist, die Bestand hat bis zum Tod des Gezeugten und (im Gedenken der Nachwelt) darüber hinaus. In der Zygote ist diese Individualität a priori (und damit auch die triadische Konstellation) auch physisch „verkörpert“ – Körper geworden. Aus der Perspektive der Eltern – das ist die Perspektive der Fremdwahrnehmung, der Wahrnehmung von außen – werfen die Aszendenz ihres Kindes zum einen, dessen Geschlecht zum anderen allerdings ganz unterschiedliche Problemkonstellationen auf: Erstere gestalten sie, letzteres aber ist für sie Schicksal. Da Aszendenz sich, wie dargelegt, durch Gattenwahl und sexuelle Zeugung herstellt, ist sie ihrem

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Wesen nach von den Eltern aktiv gestaltet, selbst wenn es, wie im Fall der ungewollten Schwangerschaft, unbeabsichtigt geschieht; das wurde oben in den einleitenden Bemerkungen zu Teil I bereits näher ausgeführt. Das Geschlecht des Kindes aber ist (bei natürlicher sexueller Zeugung) für sie nicht steuerbar. Es wird erst mit der Zeugung bzw. der Befruchtung (negatorisch) festgelegt. Die Eltern haben so gut wie keinen Einfluss darauf. Ob es ein Junge oder ein Mädchen oder divers (intersexuell) wird, können sie nicht grundlegend beeinflussen. Es geschieht. Bei der Frage, welches Geschlecht das Kind hat, kommt am Deutlichsten eine überindividuelle Macht in der Familiengründung zum Tragen. Für den modernen säkularen Menschen ist es die Natur, der unberechenbare Wettlauf von Millionen männlicher Spermien mit X- oder Y-Chromosom, von denen im Zeugungsakt nur ein einziges sein Ziel, die weibliche Eizelle, erreicht. In der historisch-traditionalen Welt, die davon noch nichts wusste, sah man darin hingegen häufig das Wirken Gottes, etwa die historische Bevölkerungswissenschaft (Johann Peter Süßmichel, 1707–1767) oder die Könige und Fürsten des dynastischen Zeitalters (Heinrich VIII. von England, der Habsburger Kaiser Karl VI. etc.), die aus erbrechtlichen Gründen zwingend auf die Existenz eines männlichen Thronerben angewiesen waren; deren Ausbleiben konnte zu schweren Staatskrisen, ja selbst (wie um Österreich und Böhmen ab 1741) zu Krieg führen. Solche mehr äußerlichen, wenngleich sehr manifesten Probleme sind in der modernen westlichen Gesellschaft, die normativ auf Gleichberechtigung der Geschlechter ausgerichtet ist, obsolet geworden. Gleichgültig ist die Geschlechterverteilung unter den Nachkommen für die Struktur und die innere Eigenart einer Familie allerdings auch heute nicht; sie ist von ähnlich fundamentaler Bedeutung wie etwa die Anzahl der Kinder. Für das Binnenleben und die Psyche der Familie ist es eben etwas anderes, Söhne zu haben oder Töchter – oder eben beides zugleich, so wie es für mich als Geschwister auch von großer Bedeutung ist, ob ich mit einem Bruder oder mit einer Schwester heranwachse. Solche geschlechtlichen Konstellationen der eigenen Nachkommen vergrößern sich Jahrzehnte später beim nächsten Generationswechsel, denn es wird eines fernen Tages auch einen Unterschied ausmachen, ob ich durch meinen Sohn und meine Schwiegertochter oder durch meine Tochter und meinen Schwiegersohn Enkel erhalte und so zum Großvater respektive zur Großmutter werde. Dieser Unterschied dürfte besonders virulent zutage treten, wenn es bei den Kindern zu einer Scheidung kommt. Selbst wenn übergreifende patriarchale und patrilineare Familienmodelle in den westlich geprägten Lebensformen ihre Wirksamkeit verloren haben, bleibt das Geschlecht der Kinder für die Familie insgesamt und für alle ihre Mitglieder im Einzelnen also von großer Bedeutung. (Erinnert sei noch einmal an die früher erwähnte Arbeit von Walter Toman.) Während Eltern in den westlichen Gesellschaften i. d. R. bereit sind, das Geburtsgeschlecht ihres Kindes so zu akzeptieren, wie die Natur es hervorbringt, ist dies in den Gesellschaften vor allem Ostasiens und anderen Teilen der Welt nicht

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unbedingt der Fall. Mädchen haben dort oft ungleich schlechtere Bedingungen des Aufwachsens als Jungen. Historisch scheute man unter Umständen noch nicht einmal vor umfangreich betriebenem Mädcheninfantizid zurück. Eine Fallstudie konstatiert im chinesischen Liaoning für den Zeitraum von 1792 bis 1840 unter den dortigen Ein-Kind-Familien ein Verhältnis von 576 Knaben auf 100 Mädchen.34 Die dahinterliegenden patriarchalen und patrilinearen Traditionen, der zufolge die Mannesstammlinie unbedingt fortzuführen ist, sind historisch so tief verwurzelt, dass sie selbst heute und bis in die wohlhabend gewordene Mittelschicht hinein noch immer so viel Wirksamkeit behalten, dass die Bereitschaft besteht, jetzt die Möglichkeiten der zeitgenössischen Medizin für eine vermeintliche Geschlechtswahl der eigenen Kinder zu instrumentalisieren. Dafür wird durch die pränatale Diagnose des (leiblichen) Geschlechts durch Ultraschall oder anderer Methoden, die Abtreibung einer als weiblich identifizierten Frucht, die erneute Zeugung in der Hoffnung, es werde ein Junge, die geschlechtliche Zusammensetzung der Nachkommen bewusst gesteuert. Diese Praktiken wurden in der Breite der Bevölkerung noch jüngst so intensiv betrieben, dass sie demographisch messbar wurden. Seit den 1990er Jahren, dann verstärkt in den Jahren 2000 bis 2010 gerieten die Proportionen zwischen Jungen- und Mädchengeburten in ein starkes Ungleichgewicht. Nach Angaben der United Nations35 stieg in Indien, wo 1950 auf 100 Mädchennoch die allgemein üblichen 105 Jungengeburten kamen, ab 1990 der Überschuss der Jungen auf 111. Noch dramatischer war das Ungleichgewicht in China: Dort wurden Anfang der 90er Jahre schon 112 Jungengeburten registriert, und in den Jahren 2005 bis 2010 dann sogar die Zahl von 117. (Andere Quellen nennen sogar bis zu 120.) Selbst im demokratischen Taiwan kam der Effekt zum Tragen, wo in der Spitze 110 Jungengeburten gezählt wurden. Im Kaukasusgebiet – in Georgien, Armenien und Aserbaidschan – kam es zu ähnlich hohen Ungleichgewichten. Gesetzliche Verbote in Indien wie in China, das Geschlecht pränatal überhaupt zu bestimmen und Mädchen abzutreiben, zeigten nur bedingt Wirkung. Ungleich ernüchternder wirkte die unterdessen gemachte Erfahrung der zwangsläufigen Folgen, dass unter den so herangewachsenen Jungen später eine große Zahl keine Chance hat, eine Frau zu finden und selbst eine Familie zu gründen. Seit 2010 gehen die Ungleichgewichte des Geschlechterproporzes bei den Geburten daher langsam wieder zurück, sind in China (zuletzt 113) und Indien (110) oder in Aserbaidschan (mit 113) aber immer noch deutlich sichtbar.

34 James Lee, Feng Wang, One Quarter of Humanity. Malthusian Mythology and Chinese Realities, Cambridge 1999, S. 42. Hier zitiert nach Andreas Weigl (2012), S. 87. 35 Die nachfolgenden Zahlen beruhen auf Angaben der United Nations von 2019, dort aus dem Department of Economics and Social Affairs Population Dynamics. Siehe https://population.un. org/wpp/Download/Standard/Fertility/ (abgefragt April 2021).

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Das Verfahren der Abtreibung, das hier eingesetzt wird, zeigt freilich, dass die natürliche Geschlechterverteilung an ihrem Ursprung, nämlich in der (natürlichen sexuellen) Zeugung, sich nach wie vor entfaltet. Auch Menschen, die zur Abtreibung von Mädchen bereit sind, tragen als Teil der Gesamtbevölkerung mit ihrem sexuellen Zeugungsakt ja noch immer dazu bei, demographisch von ganz allein ein Geschlechterverhältnis herzustellen – nämlich angesichts ihrer leicht höheren Sterblichkeit einen bloß moderaten Überschuss an Jungen –, der für die spätere Fortpflanzung optimal ist. Abtreibungspraktiken, wie sie in China und Indien exekutiert werden, können immer nur ex post eingreifen, die Natur aber nicht sui generis, also bereits beim Zeugungsakt, manipulieren. Die abgetriebene Frucht repräsentiert eine Apriori-Individualität. Anhand des so massiv ins Ungleichgewicht geratenen demographischen Geschlechterproporzes (aber auch an den dramatischen politischen Folgen des Ausbleibens eines männlichen Thronerbens bei den historischen Fürstendynastien) zeigt sich im Großen: Zeugung und in der Folge Geburt oder Abtreibung „ändern den Lauf der Welt“. Das gilt freilich immer und stets auch im Kleinen, im familiären und individuellen Rahmen: Ob Leo und Maggie Kinder bekommen oder nicht, ob es eines oder mehrere sind, ob es Jungen oder Mädchen sind – für Leo und Maggie ändert es auch ganz persönlich „den Lauf ihrer Welt“, den Lauf ihres Lebens – so wie es im Übrigen auch der unzeitige Tod, der Kindstod, der Geschwistertod, der frühe Elterntod und damit die Verwaisung der Kinder tun. Allgemeiner gesprochen, die jeweils sich ergebende Konstellation der generativen Universalien, sei es in kleiner familiärer oder in großer demographischer Dimension, haben ebendiese Wirkung auf die Welt, so wie es ansonsten historische Ereignisse, gesellschaftlicher Wandel, Pestwellen, Naturkatastrophen und dergleichen tun. Der Glaube, dank moderner Medizin heute das Geschlecht des eigenen Kindes wählen zu können, hier nicht mehr der Natur oder dem „Willen Gottes“ untertan zu sein und das Schicksal Heinrichs VIII. überwunden zu haben sowie die habituelle Bereitschaft, es tatsächlich zu tun, ist etwas wirklich Neues. Es ist eine kulturell induzierte Selbstermächtigung der Eltern. Sie negieren dabei nicht allein die potenzielle oder (wie eben in Fernost) reale demographische Folgewirkung ihres Handelns, ändern den Lauf der Welt. Sie greifen damit auch in das Generationenfundament ihrer eigenen Familie ein. Indem sie ihr Kind nicht bedingungslos annehmen, stellen sie es zur Disposition. Für das Selbstwertgefühl von Mädchen und Frauen kann eine solche Praxis schwerlich ohne Folgen bleiben – und sei es, dass sie paradoxerweise aufgewertet werden, weil sie statistisch seltener geworden und sie als Heiratspartnerinnen damit gefragter sind. So ist am Zeugungsgeschehen Helles und Dunkles, Gestalten und Schicksalshaftigkeit – beides zusammen. Der Mensch, sprich die Eltern, sind (bei der Aszendenz ihres Kindes) weitgehend Herr und Herrin, dann aber (beim Geschlecht) doch nicht zur Gänze Herr und Herrin dieses Geschehens. Als angehender Vater und

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angehende Mutter ist man in diesem Geschehen unweigerlich mehr als nur Subjekt, mehr als nur singulärer Gestalter/Gestalterin seines/ihres (familiären) Schicksals: Man ist Akteur/Akteurin und Repräsentant/Repräsentantin der Gattung, ist in diesen Belangen Glied einer Generationenfolge, universalisierter Leopold oder universalisierte Margarita, Leo oder Maggie, eins und nur eins von beidem – eben so.

Kapitel 6 Krisen der Aszendenz Die fundamentale Bedeutung, die der Aszendenz für das Leben, die Identität und die Biographie des Individuums zukommt, wird vor allem deutlich, wenn der Ursprung für die betroffene Person in ihrer Selbstwahrnehmung unsicher, diffus, vielleicht sogar völlig unbekannt erscheint. Gemeint sind Fälle wie die Kindsvertauschung, die Adoption, die Situation des Findelkindes, familiäre Folgen geschichtlicher, insbesondere kriegerischer Einwirkungen auf die Familiengeschichte, Interventionen der modernen Reproduktionsmedizin – und weitere. Solche Ereignisse haben mitunter schwere familiäre und individuelle Krisen zur Folge. Sie zeigen, dass es nichts Selbstverständliches ist, die Anfänge, d. h. die Apriori-Individualität, zu der die Aszendentenstelle gehört, im eigenen Leben, im eigenen Selbstverständnis „richtig“ zu implantieren. Wie hier entwickelt, sind es im engeren Sinne drei Personen, die die Aszendentenstruktur bilden: Vater, Mutter und Kind. Die Fragen nach solch krisenhaften Szenarien der Aszendenz betrifft daher nicht nur in subjektiver Perspektive den Lebensanfang eines Individuums (des Kindes), also die Frage, woher komme ich, von wem stamme ich ab, von wem habe ich meinen Körper, sondern richtet sich auch auf das Verhalten und das Handeln der (leiblichen) Eltern und auf die Umstände, unter denen sie ihr Kind zeugten und zur Welt brachten. Aufschlussreiches empirisches Material zu diesem Themenkreis liefert heute die Zeitgeschichtsforschung zu bestimmten Vorgängen während der NS-Herrschaft und dem Zweiten Weltkrieg – hier insbesondere die Problematik der Lebensborn-Kinder und jener Kreis von Personen, die aus einer Beziehung zwischen deutschen Soldaten während der Besatzung europäischer Länder mit dort einheimischen Frauen hervorgegangen sind. Menschen, die in diesen Konstellationen ihre kindlichen Ursprünge hatten, sind für die Forschung deshalb interessant, da sie – bei Geburtsjahrgängen zwischen dem Ende der 1930er Jahre und 1945 – heute alt oder bereits verstorben sind und weil zu vielen der betroffenen Personen unterdessen eine reichhaltige biographische Dokumentation vorhanden ist. Aus diesem Fallmaterial lässt sich erkennen, wie die Betroffenen mit dem Tatbestand umgehen, dass ihre eigene Aszendenz teilweise

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oder zur Gänze unbekannt ist oder sie sich, und das meist auch nur bruchstückhaft, erst im späten Lebensalter klärt.36 Der Lebensborn, ein 1935 von Heinrich Himmler unter der Obhut der SS gegründeter Verein, verstand sich als Teil und Förderinstrument der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik. Zunächst in Deutschland, nach der Besetzung europäischer Länder durch die Wehrmacht auch im Ausland baute der Lebensborn eine Reihe von Kinderheimen, in denen werdende Mütter, die nach vorheriger Prüfung als „rassisch hochwertig“ eingeschätzt wurden, und ihre neugeborenen Kinder betreut werden sollten. Vor allem sollte unverheirateten Frauen, die von einem NS-affinen Mann schwanger geworden waren, die Möglichkeit geboten werden, ihr Kind in diesen Heimen anonym, d. h. geschützt vor eventuellen Restriktionen und Stigmatisierungen ihrer Familie und ihrer Umwelt wegen der unehelichen Geburt, zur Welt zu bringen, um es unter Garantie von Diskretion dann gegebenenfalls zur Adoption durch regimetreue Ehepaare freizugeben. Um der Mehrung der Bevölkerung willen, bot der Lebensborn reale und einfache Möglichkeiten, eine Abtreibung, die im NS ohnehin unter schwere Strafe gestellt war, zu vermeiden. Nach Kriegsbeginn weitete der Lebensborn seine Aktivitäten auch auf die besetzten Gebiete aus, wo die „Rasseprüfer“ der SS nach Kindern Ausschau hielten, die sie unter ihren Kriterien für wertvoll hielten. Besondere Bedeutung maß die SS dem seit 1940 besetzten Norwegen bei, in dessen Bevölkerung man die „nordische Rasse“ am besten verkörpert sah. Beziehungen deutscher Besatzungssoldaten mit einheimischen Frauen wurden hier von deutscher Seite goutiert und die so schwanger gewordenen Frauen in den Heimen des Lebensborns, die dann auch vor Ort entstanden, betreut. Viele der so geborenen Kinder wurden von ihren Müttern dann getrennt und zum Zweck der Adoption und zur Erziehung in ausgesuchten Pflegefamilien nach Deutschland verbracht. Große Kontingente aber kamen auch aus Süd- und Osteuropa, wo Vertreter der SS, teilweise auch im Zuge von Racheaktionen an Widerstandshandlungen der lokalen Bevölkerung, kleine Kinder, die sie als „rassisch“ wertvoll betrachteten, von ihren Eltern separierten, um auch sie zur Übergabe an loyale Ehepaare nach Deutschland zu bringen. Die betroffenen Kinder, die aus diesen Konstellationen hervorgingen, waren bei Kriegsende, als die Bedingungen sich änderten, noch immer im Kleinkindalter, sodass sie später als Erwachsene keine oder nur rudimentäre und verzerrte Erinnerungen an das Geschehen hatten. Nur wenige von ihnen konnten ihren Herkunftsfamilien in den ehemals besetzten Ländern wieder zurückgeführt werden,

36 Georg Lilienthal (2003); Isabel Heinemann (2003), S. 508–536. – Es gibt mehrere Sammlungen von Fallgeschichten von Lebensborn-Kindern, siehe: Verschwiegene Opfer (2015); mehrere Arbeiten von Dorothee Schmitz-Köster, u. a. dies./Tristan Vankann (2012); Ingrid von Oelhafen (2020). – Auch mehrere Medienberichte über das Thema, die z. T. auf youtube abrufbar sind, etwa: Der Kinderraub der Nazis – Die vergessenen Opfer, Mitteldeutscher Rundfunk 2022.

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was z. T. mit großen psychischen Problemen verbunden war, da sie erneut eine Trennung erfahren mussten, jetzt von ihren Pflegefamilien, und sie auf der anderen Seite ihre leiblichen Eltern und Verwandten ja gar nicht kannten. Doch die Nationalsozialisten hatten die Beziehungen ohnehin meist verschleiert; hinzu kam das Verschwinden umfangreicherer Dokumentensammlungen bei Kriegsende, sodass es seinerzeit oft unmöglich war, die Herkunft überhaupt noch festzustellen. Eventuell vorhandene dokumentarische Sekundärüberlieferungen aber waren erst so spät zugänglich, dass die betroffenen Menschen darüber bereits ins Erwachsenenalter gekommen waren. Die meisten der Kinder wurden daher bei Pflegefamilien, teilweise auch in Heimen, groß und erfuhren erst als Heranwachsende, dass die betreffenden Personen nicht ihre leiblichen Eltern waren. Oder aber sie wurden bei ihrer leiblichen Mutter groß, die ihnen die Auskunft über ihren Vater verweigerte, der oft anderweitig bereits verheiratet war, eine Familie hatte und von dem außerehelichen Spross nichts wissen wollte; eine dabei oft gebrauchte Ausrede, der Vater sei im Krieg gefallen. Das Nichtwissen um den Vater, was hier in größerem Stil durch die Verwerfungen der deutschen und europäischen Geschichte verursacht worden war, findet sich unter anderen Umständen auch in den ehemals besetzten Gebieten, wo Frauen aus einer Liaison mit einem deutschen Besatzungssoldaten schwanger geworden waren, der wenig später nach Ende des Krieges mit unbekanntem Aufenthalt verschwand. Die einheimische Bevölkerung sah im Verhalten der Frauen Kollaboration und Verrat, was diese, vor allem aber auch die Kinder, nach dem Ende der Besatzung zu spüren bekamen. Als „Deutschenflittchen“ oder „Deutschenhuren“ wurden sie in Norwegen beschimpft und zeitweise sogar interniert, ihre Kinder als „Deutschenkinder“ ausgegrenzt. In den Niederlanden wurden diese als „Moffenkinder“ stigmatisiert. In Frankreich wurden die betreffenden Frauen nach der Befreiung 1944 gedemütigt, indem man ihnen in der Öffentlichkeit die Haare schor. Berühmt wurde der Fall der Simone Touseau, der „Tondue de Chartres“ (der Geschorenen von Chartres), dank des ikonischen Fotos, das Robert Capa von jener Szene machte, wie sie mit kahlem Haupt und ihrem Säugling, Kind eines Deutschen, im Arm von einer Menschenmenge durch die Stadt getrieben wird. Unter Umständen wie diesen musste ein solches Kind heranwachsen und sein Leben bestreiten: Qua seiner Aszendenz von seiner Umwelt diskriminiert; einer Aszendenz, die dazu auch noch unklar war, denn auch die „Deutschenkinder“ und die „Moffenkinder“ wussten, außer dass er aus dem seinerzeit verhassten Deutschland stammte, häufig noch nicht einmal, wer ihr Vater namentlich überhaupt war. Die Problematik der unklaren Aszendenz, mit der all diese Biographien belastet waren – eine Belastung, die aus den Anfängen resultiert –, wurde bei den Lebensborn-Fällen in Deutschland häufig erst Jahrzehnte nach ihrer Jugend virulent. Erst als sie längst erwachsen waren und zum Teil schon an der Schwelle zum

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Pensionsalter standen, vor allem ab den 1990er Jahren, wurden die Fragen nach ihrer Herkunft immer drängender. Jetzt gründeten sie im In- und Ausland Selbsthilfegruppen und begannen, in den Archiven zu recherchieren. Ihnen kam dabei zugute, dass zum einen die einschlägigen Archive (Bundesarchiv, Suchdienst des Roten Kreuzes, heute Arolsen Archives, Militärarchive etc.) ihre eigenen Bestände immer besser und minutiöser durchdrungen hatten, auch dank der Digitalisierung, und andererseits zugleich die professionelle Zeitgeschichtsforschung und die Medien sich mit dem Thema zu befassen begannen. So kam es dazu, dass viele der unter der Ägide des Lebensborns oder unter den in europäischen Ländern durch Besatzungssoldaten gezeugten Personen spät im Leben entweder erstmals ihre Mütter oder ihre Väter kennenlernten oder wenigstens ihre Namen erfuhren, wenn sie schon verstorben waren, eventuell Fotos von ihnen fanden, von der Existenz von Halbgeschwistern erfuhren, sie eventuell trafen. Die Fragen nach der eigenen Herkunft, der eigenen Aszendentenstelle, war immer drängender geworden, denn ohne sie ist auch die Frage, wer bin ich, die auch meint: von wem habe ich meinen Körper, nicht zu beantworten. Interessant an diesen Biographien ist nicht zuletzt die Beobachtung, dass die Problematik einer vorhandenen Unklarheit der eigenen Aszendenz mit zunehmendem Lebensalter an Brisanz eher zu- als abnimmt. Etwas anders gelagert tritt die Problematik einer schwerwiegenden Krisenhaftigkeit der Aszendenz bei Menschen zutage, die entstanden sind infolge einer kriegsbedingten Vergewaltigung ihrer Mutter durch einen einer feindlichen Soldateska angehörenden Mann. Tausende solcher Fälle sind aus dem Krieg in BosnienHerzegowina in den frühen 1990er Jahren bekannt und wurden von der Weltöffentlichkeit bereits kurz nach dem Geschehen auch registriert. Die Mütter waren traumatisiert, wurden auch hier in ihrer Kultur häufig sozial ausgegrenzt und stigmatisiert. Vor allem aber waren es auch ihre Kinder. Letztere sind unterdessen ins junge Erwachsenenalter gekommen und haben mittlerweile Selbsthilfegruppen gegründet, in denen die zutiefst persönliche Tragik, leiblich Kind eines unbekannten Kriegsverbrechers zu sein, thematisiert und verbalisiert wird.37 Zeitverzögert zum Schicksal der Lebensbornkinder zeichnet sich eine ähnliche Problematik bezüglich China ab. Wegen der starken Fixierung auf die Geburt eines Sohnes wurden dort infolge der Rigidität der Ein-Kind-Politik zwischen 1980 und 2015 Hunderttausende von Mädchen von ihren Eltern statt pränatal abgetrieben, nach ihrer Geburt ausgesetzt, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Ankunft eines zweiten Kindes, bei der man auf einen Sohn hoffte, mit hohen Strafen belegt war. Die Waisenhäuser waren rasch überfüllt. China begann damit, diese 37 Siehe die 2015 gegründete „Forgotten Children of War Association“ (https://zdr.ba, Stand Juni 2023). Dazu die Selbstauskunft der Gründerin Ajna Jusić, „I am Generation Equality: ‘I am a child born out of wartime rape’“, in: https://www.unwomen.org/en/news/stories/2019/11/i-am-generationequality-ajna-jusic-forgotten-children-of-war (Stand November 2022).

Krisen der Aszendenz

Mädchen ins Ausland zur Adoption zu vermitteln. Zwischen 1999 und 2016 waren es 270.000 Kinder, der größte Teil davon kam in die USA. Diese Kinder sind heute ins Erwachsenenalter gelangt. Auch sie sind drängend mit der Frage konfrontiert, woher sie kommen, wo ihre familiären Ursprünge und wer ihre (leiblichen) Eltern sind. Viele haben unterdessen mit Recherchen in China begonnen.38 Während die Autorin an der Schlussredaktion zu diesem Buch sitzt, berichten die Medien von Verschleppungsaktionen russischer Behörden im Zuge des im Februar 2022 begonnenen Angriffskrieges ihres Landes auf die Ukraine. Sie deportieren ukrainische Kinder, um sie russischen Pflegefamilien und Institutionen zuzuführen, um sie im Rahmen ihrer weiteren Erziehung und Bildung zu „russifizieren“. Angesichts der Erfahrungen, die mit solchen bevölkerungspolitischen Aktionen im 20. Jahrhundert gemacht wurden, kann man mit hinlänglicher Sicherheit davon ausgehen, dass Russland damit aktuell ein schwerwiegendes Problem der Zukunft generiert. Es geht um die Einsicht, dass auch der Apriori-Individualität eine Würde zukommt. Hier wird sie explizit missachtet. Die Vereinten Nationen werten dieses Vorgehen Russlands ausdrücklich bereits als Kriegsverbrechen. Analog zu diesen durch die Zeitgeschichte verursachten Krisen der Aszendenz wird die Grundlagenproblematik der Aszendenz auch anhand anderer Konstellationen – der Kindsvertauschung und der Adoption – erkennbar. Kinder können, wie es vorkommt, auf der Geburtsstation versehentlich vertauscht und von allen Beteiligten unbemerkt den falschen Eltern übergegeben werden. Doch kommt das Versehen später zutage, werden die beiden Kinder in der Regel ausgetauscht und ihren leiblichen Eltern zugeordnet, jedenfalls wenn die Sozialisation nicht schon bis in ein höheres Kindsalter fortgeschritten ist. Die unmittelbar postnatale Symbiose insbesondere der vermeintlichen Mutter mit dem Kind mag anfänglich noch so intensiv und scheinbar intakt gewesen sein, die offenbar gewordene Tatsache, nicht das Kind gestillt zu haben, das sie von ihrem Mann empfangen, in ihrem Leib getragen und geboren und das sie mit seinem Namen gerufen hat, wiegt meist stärker und veranlasst zu einer Korrektur der fehlerhaften familiären Konstellation. Warum setzen die Eltern sich über diese Situation nicht hinweg und muten den Kindern und sich selbst das Trauma der Trennung und des Neugewöhnens zu? Wohl aus dem zunächst intuitiven, dann explizit gemachten Wissen heraus, dass die beiden betroffenen Kinder als Erwachsene, jedes für sich, sich später sagen müssten: Mein Elternhaus, meine ganze Erziehung, alles, was mich seit Kindheit geprägt hat, bis hin zu späteren Erbansprüchen beruhen auf einem äußerst unwahrscheinlichen, äußerst tragischen Fehler: dem bloßen Versehen des Pflegepersonals

38 Dazu der Artikel von Friederike Böge: „Chinesische Abgründe“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 14.11.2021, S. 7.

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auf der Säuglingsstation, auf der ich meine ersten Tage zugebracht habe. Wäre es zu dieser folgenschweren Fehlleistung nicht gekommen und ich, wie alle anderen auch, bei meinen leiblichen Eltern geblieben: Wer wäre ich? Und wer bin ich nun, da ich, im Gegensatz zu den anderen, objektiv gezwungen bin, mir diese Frage überhaupt zu stellen? Was ist mein wahrer Name? Vor allem in Mythologie und Geschichte gab es das Motiv der arglistigen Kindsvertauschung. In der Legende des heiligen Stephanus war sie ein Werk des Teufels, der den Knaben aus der Wiege entführt hatte, um an dessen Stelle ein Wesen aus seinen Gefilden zurückzulassen; eine Hirschkuh nährte den Heiligen, der als Erwachsener zu seinen Eltern zurückkehrte und für die Verbrennung des falschen Nachfolgers sorgte. – In verschiedenen europäischen Königshäusern war es üblich, dass die Königin öffentlich gebar, um einer politisch instrumentalisierten Kindsvertauschung vorzubeugen – angesichts streng patrilinearer Erbregeln insbesondere des Austauschs eines neugeborenen Mädchens durch einen Knaben –; der Stauferkaiser Friedrich II. kam 1194 daher auf dem Marktplatz zur Welt; und noch Marie Antoinette musste 1778 ihr erstes Kind unter den Augen der versammelten Hofgesellschaft zur Welt bringen. Die Aszendentenstelle eines Thronfolgers war eine Staatsangelegenheit und musste daher für alle zweifelsfrei festgestellt werden. Der (letztlich nie bewiesene) Verdacht, im badischen Fürstenhaus habe es Anfang des 19. Jahrhunderts aus dynastischen Gründen eine solche Kindsvertauschung gegeben, begründete den Mythos des Kaspar Hauser. Besser belegt sind andere Fälle arglistiger Kindsvertauschung aus der jüngeren Geschichte, die einmal mehr in den Themenkreis der Lebensborn-Kinder führt. In der DDR ging die Staatssicherheit so weit, derartige Fälle für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Die Stasi hatte offenbar Zugriff auf Dokumente zur Herkunft von Lebensborn-Kindern, die familiäre Wurzeln in Ländern hatten, die nach 1945 der westlichen Hemisphäre angehörten, und die ohne Wissen um ihre eigene Herkunft in Pflegefamilien in der DDR großgeworden waren. Die Stasi machte sich den zeitgeschichtlich bedingten und schon im Kleinkindalter eingetretenen kompletten Abbruch der primären Mutter- und Familienbindung zunutze, stattete fremde Personen als Agenten mit der Identität dieser Kinder, die mittlerweile ins Erwachsenenalter gelangt waren und die von diesen Vorgängen nie etwas erfuhren, aus, um auf der Grundlage eines altersgemäß veränderten Aussehens nach Jahrzehnten die Beziehung zur eventuell noch lebenden leiblichen Mutter und den leiblichen Geschwistern wieder aufzunehmen. Der Geheimdienst spielte den Müttern falsche Söhne und deren Kindern einem falschen Bruder zu, um so im Westen vermeintlich legal Fuß zu fassen mit dem einzigen Zweck, Spionage zu betreiben. Siehe den Fall des falschen und des echten Ludwig Bergmann, der durch die Medien ging. Nach dem Untergang der DDR kamen die wahren Verhältnisse zutage, der falsche Sohn, der falsche Bruder wurde enttarnt. In dem deutsch-norwegischen Filmdrama „Zwei Leben“ von Georg Maas aus dem Jahr 2012 wurde die Problematik

Krisen der Aszendenz

dieses abgründigen Spiels mit einer vorgetäuschten Aszendenz höchst eindrücklich dargestellt. Wie wenig die leiblichen Eltern und die familiäre Herkunft sich austauschen lassen, macht schließlich die Problematik der Adoption deutlich. Auch hier gilt die Vielfalt der Perspektiven auf das Geschehen: die Sicht der (leiblichen) Mutter, des (leiblichen) Vaters, die der Adoptiveltern und schließlich die Sicht des betroffenen Kindes. Eltern geben ihr leibliches Kind in aller Regel nicht einfach her oder tauschen es aus. In seltenen Fällen geschieht es aber doch, insbesondere dort, wo es zwischen den Eltern keine funktionierende Beziehung gibt; das an und für sich Selbstverständliche ist nicht immer selbstverständlich. Die amerikanische Schriftstellerin Joan Didion gab aus eigenem Erleben, nachdem sie mit ihrem Mann ein Mädchen von der Geburtsstation weg adoptiert hatte, einen tiefen und authentischen Einblick in die Problematik.39 Wie soll die Familie, so fragte sie, mit der Tatsache umgehen, dass das Kind nicht von einem selbst stammt, sondern adoptiert worden ist? Adoption, so schreibt sie, ließe sich nur schwer richtig machen, auch wenn sie das nicht sofort, sondern erst im Lauf der Zeit erfahren habe. (S. 69) Wie dem Kind seinen Ursprung, seine Aszendenz offenbaren? Die ältere Generation habe ihr, Didion, geraten, die Tatsache der Adoption gegenüber dem Kind zu verschweigen. Doch das wollten sie als Adoptiveltern nicht. Stattdessen folgten sie einem Rat, den Pädagogen damals in den 1960er Jahren gaben: Man solle dem Kind die Geschichte von den „Wahlmöglichkeiten“ erzählen. Sie, die Eltern, hätten auf der Kinderstation demnach gesagt: „nein, nicht das Baby, … das Baby. Das mit der Schleife.“ Die Tochter, der sie den Namen Quintana gaben, habe sich diese (ja frei erfundene) Szene und die Umstände des Tages, an dem Didion und ihr Mann John sie zum ersten Mal gesehen haben, in ihrer Kindheit immer wieder erzählen lassen. Schließlich aber habe sie den Spieß umgedreht; die Erzählung muss eine traumatische Wirkung auf sie gehabt haben: Mindestens dreimal zitiert Didion in ihrem Buch (durch Kursivsetzung hervorgehoben) fast gleichlautend einen Ausspruch Quintanas, die ganz plötzlich habe sagen können: „Was, wenn du nicht ans Telefon gegangen wärst, als Dr. Watson [der Geburtshelfer] anrief. Was, wenn du nicht zu Hause gewesen wärst, was, wenn du ihn nicht im Krankenhaus hättest treffen können, was, wenn es auf dem Freeway einen Unfall gegeben hätte, was wäre dann aus mir geworden?“ Didion habe darauf keine Antwort gehabt und habe es abgelehnt, über diese Fragen nachzudenken. Doch Quintana habe darüber nachgedacht, sie habe mit ihnen gelebt. Erst als alte Frau, nachdem sie Quintana an langer mysteriöser Krankheit leiden und 41-jährig daran schließlich sterben gesehen hatte, machte Didion sich in ihrem Buch daran, die Ursprungssituation

39 Joan Didion (2012).

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ihres Adoptivkindes selbst auszudeuten: „Wenn dich jemand ‚auswählt‘, was sagt dir das? / Sagt dir das nicht, dass du zur Verfügung standest, um ‚ausgewählt‘ zu werden? / Sagt dir das nicht, dass es schlussendlich nur zwei Arten von Menschen auf der Welt gibt? / Die, die dich ‚auswählen‘? / Und die andern, die es nicht tun? / Fangen wir an zu begreifen, wie das Wort ‚Verlassenheitsgefühl‘ auf der Bildfläche erscheinen könnte? […] Ist ein anderes dieser Worte nicht ‚Angst‘? […]“ (S. 69 f.) Quintana habe später dann, nachdem sich in der Kindheit schon einiges angedeutet habe, eine Persönlichkeitsstörung entwickelt, die als Borderline diagnostiziert wurde. (S. 55 f.) Zum Trauma für Didion wurde dann, dass sie ihre Tochter schließlich sterben sah. Didions Schicksal und das ihrer Adoptivtochter nahmen einen ungewöhnlich dramatischen Ausgang. Doch das Ausgewähltwerden ist Kern des Problems der Adoption. Auch in den biographischen Berichten der Lebensbornkinder wurde sie mehrfach angesprochen: Seine späteren Pflegeeltern, so beschrieb es später Bernhard Z. (Jahrgang 1942), seien ins Heim gekommen, hätten die Kinder, die zur Adoption bereitstanden, besichtigt, und sich dann für ihn entschieden: „Wie beim Kauf eines Gebrauchtwagens … Besichtigen, aussuchen, Papiere checken, abholen.“40 Hier liegt der entscheidende Unterschied zum Heranwachsen bei den eigenen leiblichen Eltern. Die leiblichen Eltern haben eigentlich keine Wahl; sie sind zur bedingungslosen Annahme des Neugeborenen herausgefordert, auch wenn es hinsichtlich des Geschlechts, der Konstitution (Behinderung), oder weil „ein fünftes“ nicht mehr gewollt war, ihren Wünschen oder ihren Möglichkeiten nicht entspricht, aber im Prinzip auch dann noch, wenn die persönlichen Divergenzen zwischen den beiden Partnern ohnehin schon vor der Zeugung groß waren. „Eigentlich“ impliziert, dass solch nicht gewünschter Nachwuchs häufig durch Abtreibung gar nicht erst zum Leben kommt; Abtreibung ist naturgemäß auf die leibliche Elternschaft beschränkt. Wo es aber, wie in den meisten Fällen, zur Geburt kommt, hat das Gelingen der Eltern-Kind-Beziehung durch die leiblichen Eltern in aller Regel auch größere Chancen als bei der Adoption, eben weil die Beziehung zwischen Kind und Mutter, Kind und Vater im Innenverhältnis quasi absolut ist – exklusiv und einzigartig. Sie haben keine Wahl. Interessant und durchaus beeindruckend an den Berichten über die LebensbornKinder ist andererseits jedoch das Ausmaß an Resilienz, die zu mobilisieren sie im Stande waren. Den meisten ist es trotz ihrer Belastung durch das unklare Wissen über ihre Herkunft gelungen, ein bürgerliches Leben aufzubauen: Sie erlernten einen Beruf, übten ihn aus, konnten sich materiell etablieren, gründeten Familien, viele blieben sogar von Scheidung verschont, und etliche haben heute Enkel. Dabei

40 Dorothee Schmitz-Köster/Tristan Vankann (2012), S. 251.

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ist allerdings zweierlei zu berücksichtigen: Erstens dürften diejenigen LebensbornAbkömmlinge, denen die bürgerliche Etablierung gelungen ist, bessere Chancen haben, in die fachliterarische und mediale Berichterstattung zu gelangen als die Gescheiterten. Insofern dominieren sie sicherlich das Bild, das in der Öffentlichkeit von dieser Problematik herrscht. Zum anderen wird aber auch bei den Resilienten und Etablierten natürlich von spezifischen Problemen während ihrer frühen Kindheit berichtet wie etwa frühkindlichen Entwicklungsverzögerungen, Anzeichen von kindlichem Hospitalismus, einer erhöhten Rate von Bettnässern etc., und ohnehin wird, wie erwähnt, die Frage der unklaren Herkunft für sie zu einem typischen Problem des reifen und späten Lebensalters, das ihre Altersgenossen aus „normalen“ Familien nicht haben. Angesichts dieser erwiesenen lebensgeschichtlichen Folgen einer Unklarheit über die eigene Aszendenz liegt ein zumindest nachdenklicher, wenn nicht kritischer Blick auf bestimmte Methoden der modernen Reproduktionsmedizin natürlich nahe. Samenspende, Eizellspende, In-Vitro-Fertilisation, Leihmutterschaft etc. tragen das ihre zur Diffusion der Herkunft des gezeugten und geborenen Kindes bei. Bei diesen Methoden ist der Blick fast ausschließlich auf die Interessen „der Eltern“ gerichtet. Doch wer sind die Eltern, wenn genetische Elternschaft, Schwangerschaft, soziale und rechtliche Eltern partiell oder eventuell zur Gänze auseinanderfallen? Und wer sind die Gatten, wer die („wahren“) Eltern? Wie verhält es sich mit der Zuordnung zu den Generationen, wenn kryokonservierte Embryonen bis zu 30 Jahre nach ihrer Zeugung (und künftig vielleicht noch sehr viel später) aufgetaut und einer fremden Frau eingepflanzt werden, die ihrerseits vielleicht erst nach den Kindern, die sie nun austrägt, gezeugt worden ist? Vor allem aber: Wird die Bindungsintensität zwischen dem Kind und den erziehenden Eltern, die wenigstens auf der einen Seite häufig auch die genetischen sind, ausreichen, um die Dramatik der Frage nach der Aszendenz abzumildern, die sich dem Kind sehr viel später, womöglich auch erst wie den Lebensborn-Abkömmlingen im reifen und höheren Alter stellt? Da die In-Vitro-Fertilisation und die damit möglich gewordene Fremdspende der Gameten mittlerweile seit mehr als einer Generation praktiziert wird, sind zahlreiche Kinder, die einen solchen Ursprung haben, längst ins Erwachsenenalter gekommen und fordern heute Auskunft über ihre leibliche Herkunft. Aufgrund dieser Erfahrung, die die Entwicklung der Triade von Vater, Mutter und Kind mit dem Reifwerden des Kindes unweigerlich aus sich hervortreibt, sah man sich unterdessen auch staatlicherseits dazu gezwungen, dafür Sorge zu tragen, dass die leibliche Abstammung dieser Kinder (d. h. die Person des Samenspenders, der Eizellspenderin, der Leihmutter) dokumentiert wird, um ihnen später zuverlässig Auskunft auf diese ihre elementare Frage geben zu können. Eltern, auch Adoptiv- oder Pflegeeltern, schulden ihren Kindern eine ehrliche Antwort auf die Frage nach ihrer Herkunft. Es ist vielleicht die wichtigste aller Fragen nach Wahrheit über die eigene individuelle Existenz. Während im Normalfall,

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bei dem die familiären Verhältnisse klar und unzweifelhaft sind, Vertrauen herrscht und Fragen von vornherein daher erst gar nicht aufkommen, werden Antworten gerade dort, wo „die Eltern“ eine unklare Aszendenz zu verantworten und die Kinder daher allen Grund zu Fragen haben, oft verweigert.

Kapitel 7 Das „Ich“ ist spät und schillert Die generativen Universale, sprich: Die Apriori-Individualität, dank derer das Individuum körperlich vermittelt in der Gattung verhakt ist, bildet also mit der Zeugung bereits ein auf Dauer und auf Eindeutigkeit angelegtes Strukturmoment des Individuellen. Doch diese Gestalt des Individuellen ist noch keine lebendige Person. Damit sie dazu werden kann, müssen weitere Bestimmungen bzw. Ereignisse hinzukommen. Das sind zum einen die Akte der Sozialisation: das Werden des Individuums und der Person qua Einführung in und Prägung durch die „äußere Welt“ – durch Sprache, Familie, Kultur, Geschichte und Gesellschaft. Einführung in das, was hier an früherer Stelle territorial-kultureller Raum und historischer Zeitraum genannt wurde. Ebendiese Prägung, die Sozialisation, wird von „den anderen“ aktiviert; anfänglich vor allem von den Eltern, später zusätzlich von weiteren Personen, von Erziehung- und Schulungsanstalten, der Umwelt etc. Zum anderen aber kommt es, beginnend schon vor der Geburt im Mutterleib, früh zur Ausbildung einer „inneren Welt“: dem äußerst vage bleibenden Vorgang der „Beseelung“ sowie zum Auftreten der ersten Leibempfindungen (Schmerzempfindungen etc.), worauf messbare Hirnströme erste objektive Hinweise geben mögen; in der weiteren Entwicklung dieses Inneren dann, erst nach der Geburt, die Entstehung von Bewusstsein und die Formung eines „Ichs“. – Es sind diese drei Strukturmomente und Entwicklungsvorgänge, die beim Individuum zu berücksichtigen sind: die Trias von Körpergenese entlang der generativen Universalien bzw. der Apriori-Individualität (Bezug zur „Gattung“), die lebendige Sozialisation in die äußere Welt (Bezug zur „Gesellschaft“) und die Entfaltung einer subjektiven Innenwelt, der offensichtlich eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber jenen anderen beiden zukommt. Alle drei bilden im Individuum, in der werdenden Person, eine unauflösliche Einheit. Keines kann sich, das gilt es zu betonen, ohne die anderen entwickeln. Ein Großteil der Überlegungen, die hier bislang vor allem zur Aszendenz angestellt wurden, ließe sich so auch für höhere Tiergattungen, die sich zweigeschlechtlich fortpflanzen, formulieren. Für den Menschen müssen die eben genannten Bestimmungen hinzukommen. So etwas wie eine einzigartige Aszendentenstelle könnte man – von außen betrachtet! – womöglich auch für Gattungsexemplare bestimmter Säugetiere, insbesondere bei Zuchttieren wie etwa Rennpferden, von denen ein

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Stammbaum geführt wird und die einen Namen erhalten, bestimmen. Doch Tiere können nicht „Ich“ sagen; sie sprechen nicht. Sie haben nicht die dem Menschen spezifische Fähigkeit zur reflektierten Selbstwahrnehmung. Auch die menschliche Zygote, in der sich die menschliche Aszendentenstelle und der Ausschluss von einer der beiden geschlechtlich gegebenen Fortpflanzungsoptionen ursprünglich verkörpert, kann nicht „Ich“ sagen, sodass von philosophischer Seite die Frage aufgeworfen werden konnte, ob die befruchtete Eizelle überhaupt lebe.41 Und nur wo ihr Leben infrage gestellt wird, sind Embryonenforschung oder Schwangerschaftsabbrüche überhaupt möglich. „Ich“ sagen kann erst das weiter entwickelte Individuum und zwar erst lange nach der Geburt, wenn es beseelt und durch lebendige Ansprache – durch „Sozialisation“ – erweckt wird. Wenn es aber einmal „Ich“ sagt, wird unweigerlich der zuvor konstituierten, bislang stumm gebliebenen Aszendentenstelle und der Fortpflanzungsoption, jener Individualität a priori, Sinn und Bedeutung verliehen und ihnen damit unentrinnbar prägende Wirkung auf das Ich verschafft. Denn mit der Denkfigur des „Apriori“, das den vorstehenden Ausführungen zufolge auch gleichermaßen der Aszendentenstelle wie der negatorisch definierten Geschlechtlichkeit zukommt, hat es seit Kants Einsichten seit jeher eine besondere Bewandtnis. Christoph Türcke hat es präzise so formuliert: „Was Kant ‚a priori‘ nennt, ist nicht da, ehe Erfahrungen gemacht werden; es ist ‚immer schon da‘, wenn sie gemacht werden.“42 Mag also sein, dass die befruchtete Eizelle – und die mit ihr gegebene Apriori-Individualität durch Aszendenz und Geschlecht – „nicht lebe“, in der Subjektivität also nicht da ist, weil die Subjektivität selbst noch nicht da ist, aber wenn das Leben des Kindes einmal sich entfaltet, es Erfahrungen macht, tun diese Bestimmungen auch und gerade in der subjektiven Binnenperspektive ihre Wirkung: unweigerlich und unvermeidlich! Und daher ist die so bestimmte Eizelle nicht gleichgültig. Auch wenn sie „nicht leben“ sollte, so ist sie dennoch keine Tabula rasa! Diese in der einzelmenschlichen Biographie spät erst zutage tretende Wirksamkeit, die eine mit der Zeugung a priori da seiende Konstellation im Zuge von Wachstum und (subjektiver) Erfahrung entfaltet, ist wohl universell in jeder Ontogenese gegeben. Besonders anschaulich und exemplarisch greifbar aber wird sie mitunter vor allem anhand von seltenen dramatischen Ausnahmefällen, von denen hier einer angeführt sei: Es handelt sich dabei um die Zwillinge Lydia und

41 Dieter Birnbacher (2017), S. 7. 42 Christoph Türcke (2021), S. 32. – Diese Denkfigur des Apriori ist formal eng verwandt der in Kapitel 1 angesprochenen Einheit von Emergenz und Determination: Indem das Individuum und mit ihm zugleich sein je eigener Aszendentenbaum durch Zeugung entsteht, entsteht es so. Indem es entsteht, entsteht es nicht willkürlich, sondern zwingend in dieser und nur in dieser Gestalt, ist es (prä-)determiniert (s. o. S. 53).

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Timothy Ridgeway, die am 31. Oktober 2022 in Portland/Oregon geboren wurden.43 Sie waren der Frau, die sie ausgetragen und geboren hatte und die sie mit ihrem Mann und bereits vorhandenen eigenen leiblichen Kindern als neue Familienmitglieder dann zu sich nahm, per Embryospende eingesetzt worden. Zuvor waren sie fast 30 Jahre tiefgefroren. Gezeugt wurden sie bereits 1992. Ein anonym gebliebenes Ehepaar war seinerzeit auf In-vitro-Fertilisation angewiesen; der Samen des Mannes musste mit einer von einer dritten Frau gespendeten Eizelle vereint werden. Aus dieser Zeugung blieben fünf befruchtete Zellen übrig, die kryokonserviert wurden: fünf Zygoten, tiefgefrorene Verkörperungen von fünf geschlechtlich konnotieren Aszendentenstellen. Als sie im Februar 2022 aufgetaut wurden, überstanden zwei dieses Vorfahren nicht, bei einem weiteren misslang die Nidation, aus den beiden überlebenden gingen Lydia und Timothy hervor. Diese beiden Menschen haben eine dreißigjährige individuelle „Geschichte“, bevor ihre (rechtliche und soziale) Mutter mit ihnen schwanger wurde. „Lebten“ sie als kryokonservierte Eizellen? Empfunden und gespürt haben sie davon nichts, und so mag diese Frage philosophisch-rhetorisch und als solche offenbleiben. Was sich aber sagen lässt: Sie haben leibliche Vollgeschwister, eventuell auch Halbgeschwister, die 30 Jahre vor ihnen zur Welt gebracht wurden. Und: Hätten anstelle jener beiden singulären Urzellen, aus denen ihre je eigenen Körper erwuchsen, sich eine der anderen drei Zellen entwickelt, wäre es vielleicht zu einer anderen Geschlechterkombination gekommen – zwei Jungs, zwei Mädchen, womit es entweder das Baby Timothy oder das Baby Lydia nicht gegeben hätte. Die Tatsache der Fremdzeugung, die biologische Geschlechtlichkeit, die mutmaßliche Existenz lebender (leiblicher) Geschwister, die einer anderen Geburtenkohorte und historisch und sozial damit einer anderen Generation angehören – dieses individuell so konstellierte Apriori ohne alle Subjektivität ist Teil des Ursprungs dieser beiden Kinder und wird, nachdem es im Narrativ ihrer Familie objektiv bereits vorhanden ist, sich später auch in ihr Bewusstsein und in die je eigene Komposition ihrer Identität drängen. Das Blatt, auf dem sie aus der Ort-, Zeit- und Grenzenlosigkeit ihres Seelenlebens ihre Zeichnung zu machen beginnen, ist nicht leer. Hier kommt auch die Plessner’sche Unterscheidung von Leib-Sein und KörperHaben zur Geltung. Mit dieser Doppelrolle müsse sich, so Helmuth Plessner, jeder vom Tage seiner Geburt an abfinden. „Jedes Lernen: zu greifen und die Sehdistanz den Greifleistungen anzupassen, zu stehen, laufen zu lernen usw. vollzieht sich auf Grund und im Rahmen dieser Doppelrolle. Der Rahmen selbst wird nie gesprengt. Ein Mensch ist immer zugleich Leib (Kopf, Rumpf, Extremitäten mit allem, was dran ist) – auch wenn er von seiner irgendwie ‚darin‘ seienden unsterblichen Seele

43 Die Medien berichteten über den Fall am 22.11.2022 und in den Tagen danach. Siehe Neue Züricher Zeitung v. 22.11.2022 und FAZ v. 24.11.2022 sowie diverse Meldungen in zahlreichen Internetforen.

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überzeugt ist – und hat diesen Leib als diesen Körper.“44 Mit allem, was dran ist: Das umfasst über Kopf und Rumpf hinaus auch die generativen Universalien, seine Aszendenz, sein körperliches Geschlecht. Von Geburt an beginnt der Mensch nicht nur stehen und laufen zu lernen, er beginnt, wenn er im Kleinkindalter erst einmal zu Bewusstsein kommt und seine Eltern ihm wahrheitsgemäß Auskunft geben, auch zu begreifen, von wem er diesen Körper, der er mit seiner Zeugung zunächst sprachlos bereits ist, denn nun eigentlich hat, und welches sein körperliches Geschlecht ist. „Aszendenz sein“ und „Aszendenz haben“; „(körperliches) Geschlecht sein“ und „Geschlecht haben“ – d. h. um seine Aszendenz wissen, um sein Geschlecht wissen, womit dann auch verbunden ist: um seine Endlichkeit wissen – ergo: um seine Apriori-Individualität wissen. Wie also ließe sich im Anschluss an das Gesagte in der „Sequenz der Anfänge“ auch eine „seelische, kommunikative und soziale Geburt“ des Kindes, des menschlichen Individuums fassen? Wie entsteht im Kind ein Ich, das sich seiner selbst als etwas Einzigartigem bewusst ist? Zweifellos kommt der menschlichen, d. h. der syntaktischen Sprache hier eine entscheidende Rolle zu. Sprache vermag ein Doppeltes: Definieren und Transzendieren, Begreifen und Auflösen, Begrenzen und Entgrenzen. Sprache macht Merkmale wie Aszendenz, Geschlecht und Tod überhaupt erst begreifbar, verhilft dem sprechenden Subjekt aber zugleich dazu, sich von ihnen zu distanzieren. Wer wie das Tier nach Grenzen nicht fragen kann, hat Grenzen nicht und weiß daher auch nicht, was es heißt, Grenzen zu überschreiten. Wer sich des Todes nicht bewusst ist, kennt weder Endlichkeit noch Transzendenz. Sprache bringt dieses Doppelte hervor. Das menschliche Individuum wird in eine Welt hineingezeugt und hineingeboren, in der Sprache vorab schon vorhanden ist. Seine Vorfahren, seine Eltern, seine gesamte menschliche Umwelt sprechen. Ein menschliches Individuum kann ohne Kommunikation, ohne die Einbettung in die Menschenfamilie nicht entstehen und gedeihen (kann z. B. nicht à la Huxley fabrikmäßig wie Maschinen hergestellt werden). Die Gattenwahl der Eltern ist Sprache und Kommunikation und die Zeugung in ihrem Sexualakt ist es: „Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger […]“, wusste schon die Genesis zu sagen. (Das gilt auch für die künstliche extrakorporale Zeugung durch Ärzte in der Petrischale, und zwar in gesteigerter Form.) Alles weitere Wachsen von der Zygote an zunächst im Mutterleib, dann als Neugeborenes ist ohne Einbettung in menschliche Kommunikation nicht möglich. Dass sprachliche und symbolische Zuwendung ebenso wichtig ist wie Nahrung, zeigte in aller Deutlichkeit das berühmte Experiment des Stauferkaisers Friedrich II., der auf der Suche nach der vermeintlichen Ursprache der Menschheit

44 Helmuth Plessner (1982), S. 238.

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Kinder bei rein körperlicher Versorgung ohne jegliche Ansprache groß werden lassen wollte, um zu sehen, welche Sprache sie von sich aus sprächen, mit dem Ergebnis eines letalen Ausgangs. Der Anfang des menschlichen Individuums lässt sich ohne sprachfähige Erwachsene, insbesondere in Gestalt der Eltern, gar nicht vorstellen. Wiederum zeigt sich daran die Divergenz sowohl als auch das Zusammenspiel von Fremdwahrnehmung (durch die Eltern, die Umwelt) und Eigenwahrnehmung (durch das Subjekt, durch das Ich); der Mensch muss „sozialisiert“ werden: Die Fremdwahrnehmung geht der Eigenwahrnehmung voraus. Das Ich aber ist spät – spät in dem Sinne, dass der Anfang des Bewusstseins und der Wahrnehmung meiner selbst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt als die Wahrnehmung, die meine Umwelt (meine Eltern) vom Anfang meiner (individuellen) Existenz haben. Diese unumkehrbare Sequenzialität, erst die Fremdwahrnehmung, dann die Eigenwahrnehmung, ist – es sei hier zum weiderholten Male betont – ein grundlegendes Strukturmerkmal der Eltern-Kind-Triade, der Sozialisation und der Genese eines menschlichen Individuums. Offensichtlich ist aber nicht alles am Ich „spät“. Am Ich (dem inneren Erleben) scheint etwas zu haften, was die Kategorien von früher, später, relativ etc. obsolet macht; etwas, was universal, entgrenzt, zeit- und ortlos ist. Die individuelle Gestalt, die in der Abfolge der Generationen gezeugt wird, die sich in einem einzigartigen Leib „verkörpert“, in einer einzigartig historischen Biografie ein Ich zur Entfaltung bringt und die am Ende wieder vergeht, ist offenbar nur eine Seite des Ichs. Es gibt eine andere, eine Schicht, die aufs konkret Historisch-Biographische und auf die Apriori-Individualität nicht zu reduzieren ist. Der Schlüssel dazu scheint in der menschlichen Sprachfähigkeit, die Grundlage der Geistesfähigkeit ist, zu liegen. Jedes neugeborene menschliche Individuum ist in der Lage, als seine erste Sprache – seine Muttersprache –, jede natürliche Sprache, die es auf der Welt gibt, vollständig und korrekt zu erwerben, welche immer es ist. Für eine Sprache – in frühester Kindheit vielleicht noch für eine zweite – ist diese spontane naturwüchsige Form des Erwerbs möglich. Dann geht dieses universale Potenzial weitgehend unter; in späteren Jahren müssen weitere Sprachen dann ungleich mühsamer durch Schulung angeeignet werden. Den Körper hat das Kind von seinen leiblichen Eltern, die Sprache nicht zwingend. Das Findelkind, das nach der Geburt von seinen Eltern getrennt und von Adoptiveltern, die aus einer anderen Kultur kommen, erzogen wird, erlernt eine andere Sprache als seine Eltern, deren körperliche und phänotypische Merkmale es trägt, sie sprechen. Die Sprache – die Muttersprache – ist nicht an die leibliche Herkunft, d. h. nicht an die Aszendenz, gebunden; der Geist, der mit dem Spracherwerb im Individuum induziert wird, macht sich davon unabhängig, weil er davon prinzipiell unabhängig ist. Es entsteht der Eindruck, als würden Psyche und Geist auf dem individuellen Körper nur locker aufsitzen; vergleichbar etwa mit Docht und Flamme. Die aus der Zygote (der Apriori-Individualität) hervorgehenden

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embryonalen Zellen wären in diesem Bild ein Docht (wenngleich ein individuell mit anderem Leben organisch verbundener), der noch nicht entzündet worden ist. Die Flamme aber bedarf, um überhaupt brennen zu können, eines solchen Dochts, muss sich irgendwo niederlassen; dabei aber ist es ihr gleichgültig, was für ein Docht es ist, auf den sie aufsitzt (sie nährt sich auch an dem Findelkind, dessen leibliche Eltern in einer anderen Sprachkultur leben). Jedoch: Sie kommt, da der Docht sich nicht selbst entzünden kann, von einem „Feuer“, das anderweitig bereits in der Welt ist. Sprache (Geist, Kultur, Sozialität etc.) ist dieses vorab immer schon in der Welt existierende „Feuer“; historisch ist sie immer schon da, wenn ein einzelnes Individuum gezeugt wird und zur Welt kommt. Seine Eltern sprechen, ggf. seine Adoptiveltern sprechen, die menschlichen Individuen seiner Umwelt sprechen – daneben gibt es, seit Jahrtausenden, die Sprache im Medium der Schrift. Das Bild vom Feuer, das sich im Prinzip an jedem beliebigen Docht, am relativen Ort eines jeden beliebigen individuellen Körpers nährt, ist jener in der Einleitung angesprochenen Denkfigur von Hermann Schmitz verwandt, wonach seelisch das sei, was ortlos ist. Der Befund, dass ein Individuum jede beliebige natürliche Sprache als seine erste Sprache, als „Muttersprache“, unabhängig von seiner Aszendenz erlernen kann, ist ein interessantes Phänomen. Sofern Sprache für das Individuum Welt eröffnet und konstituiert, scheint sie dank dieser Unabhängigkeit zugleich eine virtuelle Vielfalt und Alternativen an Individualitäten mit zu konstituieren. Das sprachfähig gewordene menschliche Individuum kann sich die Frage stellen: Könnte ich nicht „ein ganz anderer“/„eine ganz andere“ sein und doch „Ich“ sein? Wandlung und Identität. Das Schillernde und das Eindeutige. Es ist die Frage nach den Möglichkeiten der Metamorphosen. Und zugleich ist es die soziologische Frage nach der Reziprozität von Perspektiven, die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Bei diesem Phänomen des „Ich seins – und doch ein anderer werden“ sind zwei Dimensionen zu unterscheiden: das biographische Ein-anderer-Werden, wie es sich im Ablauf jeder Ontogenese zwangsläufig einstellt, und das personell Ein-andererWerden in einem virtuell bleibenden Sinne, eine andere Person, ein anderes Wesen werden, sich in sie hineinversetzen, und dabei doch „Ich“ sein und „Ich“ bleiben. Biographisch und ontogenetisch ist die Erfahrung von Wandlung und Identität zunächst einmal universell. Jedes heranwachsende Individuum macht sie unweigerlich. Es handelt sich hier um die alte Frage, die die antiken Philosophen schon beschäftigte: ob ein Greis noch derselbe Mensch sei, der er einst als Jüngling war. Biographie eines Individuums heißt, eine Entwicklung einzuschlagen, deren einzelne Stufen und Etappen gerichtet und unumkehrbar sind. In gewisser Weise werden die jeweils vorangehenden Entwicklungsstufen der innerpsychischen Entwicklung eines Menschen durch die Nachfolgenden geradezu zerstört, indem sie ganz oder teilweise mit Amnesie belegt werden. Das gilt insbesondere für die späte pränatale Phase, die bereits Leben ist, und für die allerersten Anfänge der Kindheit. Niemand

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bekommt bewusst zu greifen, was er in dieser intimen Frühzeit selbst erlebt und erfahren hat, wiewohl es ihn denkbar grundlegend und nachhaltig prägt. Das erst entstehende, noch diffuse „Kinder-Ich“ der Frühe aber wird auf dem langen und mühsamen Weg zum reifen Erwachsenen-Ich im subjektiven Erleben „ein ganz anderes Ich“. Die Abfolge von Kindheit, Pubertät, Jugend, Adoleszenz zum Erwachsenenalter und noch einmal hin zu Alter und Betagtheit erzeugt regelrechte Konversionen. Sie sind vielfach und ohne, dass man ihnen ausweichen kann, mit typischen biographischen Krisen verbunden: Die frühe symbiotische Bindungsintensität an die Mutter und an die ersten familiären Bezugspersonen lässt nach, während alles am Individuum wächst: der Körper, die Seele, die Fähigkeit des Geistes und des Sozialverhaltens. Das Erleben der eigenen Herkunftswelt – der Aszendenz – als Absolutes, als Totalität und als Maß aller Dinge wird durch die Erkenntnis der Welt um einen herum, beginnend mit ersten Peergroup-Erfahrungen und ersten Kontakten zu außerfamiliären Erziehungsinstitutionen (Kita etc.), relativiert. Das Empfinden für Scham, Ehre, Witz, das auch Kinder haben, verwandelt sich mit der Geschlechtsreife, der Pubertät, und dem Erwachsenwerden in Gestalt und Inhalt vollkommen; Fähigkeiten wie Takt und Ironie sind exklusiv dem Erwachsenenalter vorbehalten. Mit der langen schulischen und beruflichen Ausbildung werden weiter Anteile der Welt draußen in die eigene Erlebniswelt aufgenommen. Es folgt das evtl. mit Trennungsschmerzen sowohl wie mit Befreiungsgefühlen verbundene Verlassen der Herkunftsfamilie, der Eintritt in die nüchterne Realität des Berufslebens und des gesellschaftlichen Rollenhandelns; darüber hinaus die Bindung an einen (Geschlechts-)Partner, was ggf. sogar mit einer (Nach-)Namensänderung verbunden ist. All diese Entwicklungen bewirken eine folgenreiche Distanzierung vom subjektiven Erleben, dem vergangenen Ich der eigene Herkunftswelt und der Sphäre der eigenen Kindheit mit ihren Perspektiven und spezifischen Gefühlen. Und das Alter, insbesondere das hochbetagte Alter, das mit Kräfteverfall und zunehmenden körperlichen und mentalen Einschränkungen und Reduktionen verbunden ist, wird zum Ende hin noch einmal zu einer ganz besonderen Herausforderung für die Person. Schließlich endet alles subjektive Erleben, endet dieses so wandelhafte und schillernde Ich in gewisser Weise wie es begonnen hat: in einem Schleier. So wie wir von unseren subjektiven Anfängen durch Amnesie abgeschnitten sind, so wenig können wir wissen, wie wir subjektiv einst die Todesstunde erfahren und erleben werden. – All diese krisenhaften biographischen Wandlungen geben dem Leben und damit auch dem „Ich“ eine unumkehrbare Richtung und wirken so nachhaltig, dass Menschen, die in früher Kindheit – etwa im Kindergarten – Kontakt miteinander hatten, deren Wege sich dann aber getrennt haben, sich im späten Erwachsenenleben meist nicht mehr spontan erkennen können; so sehr sind sie biographisch „ein anderer“ geworden. Und doch: Identisch geblieben ist die Konstellation ihrer generativen Universalien – das untilgbare Apriori ihrer individuellen Existenz.

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Wenn in der Überschrift zu diesem Teil, Teil II, Ausführungen zum „Eindeutigen“ und zum „Schillernden“ des Individuums angekündigt wurden: Hier, in den generativen Universalien haben wir somit das „Eindeutige“. Dabei ist, wie hier nun vielfach dargelegt, zu berücksichtigen, dass ebendieses Eindeutige zunächst im Fall der Aszendenz nicht einfach etwas Naturgegebenes ist, sondern etwas, das die Eltern des betreffenden Individuums durch ihre Gattenwahl und ihr Zeugungsverhalten aktiv hergestellt haben; das Eindeutige ist in Teilen etwas von ihnen, also „von anderen“ Geschaffenes. Dabei heißt „eindeutig“ nicht, dass es immer auch unmittelbar erkennbar sein muss. Das Findelkind, das, wie jeder Mensch auch, leiblich eine ganz bestimmte Frau als Mutter und einen ganz bestimmten Mann als Vater hat, war das Beispiel dafür, dass seine Aszendenz, seine Herkunftsverwandtschaft, eben das Eindeutige, dem betroffenen Individuum unbekannt bleiben kann. Und ebenso kann Geschlechtlichkeit sich beim Individuum in sehr verschiedener Art Ausdruck verschaffen; von welcher der beiden heterosexuellen Fortpflanzungsoptionen (oder von beiden) es ausgeschlossen ist, ist mit seiner Zeugung gleichwohl festgelegt. Der Tod schließlich als drittes der generativen Universalien steht ohnehin fest, auch wenn wir nicht wissen, wann und unter welchen Umständen er uns ereilen wird. Die generativen Universalien, die die Apriori-Individualität konstituieren, mögen demnach von den Fährnissen des Lebens und von großen Veränderungen und Transformationen, mitunter vom „Schillernden“ in der biographischen Entwicklung oder, im Fall des Todes, vom Rätsel der Zukunft also überdeckt, ja lebenspraktisch im Einzelfall weitgehend marginalisiert sein, sie sind und bleiben im Leben gleichwohl eindeutig – so „eindeutig“ sie eben sein können. Virtuell aber vermag jenes Motiv, „ein anderer werden und doch Ich sein“, selbst die Grenzen, die durch die generativen Universalien gezogen sind, zu überspringen, d. h. (virtuell) vermag der Mensch den quasi „normal“ sich einstellenden biographischen Wandel in der Einzelbiographie (den Wandel „vom Jüngling zum Greis“) zu erweitern, indem man zu einer Person mit einer anderen Aszendenz wird, das Geschlecht einschließlich der Fortpflanzungsdichotomie wechselt und (wie eigentlich in allen Religionen) den Tod transzendiert. Zu unterscheiden wäre also ein eher real biographisches „Ein-anderer-Werden“, d. h. also schlicht und einfach erwachsen werden und altern, von einem mehr im Virtuellen bleibenden personellen „ein anderer, eine andere Person werden“. Damit aber öffnet sich das unendliche Reich des „Schillernden“, des „Uneindeutigen“ am Individuum. Diese virtuellen personellen Alternativen zu meiner Individualität verschaffen sich bereits in der Gestalt einschlägiger sprachlicher Formulierungen Ausdruck. In Goethes Aussage, die hier zu Beginn von Teil I angeführt wurde, man wäre hinsichtlich Bildung und Wirkung nach außen „ein ganz anderer“ geworden, wäre man nur zehn Jahre früher oder später geboren, ist das in nuce bereits vorhanden. Solches „Ich sein und doch ein anderer sein“ infolge eines unterschiedlichen historischen Datums der Geburt ließe sich in folgendem Gedankenexperiment

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weiter steigern: Nachgeborene des Nationalsozialismus in Deutschland stellen sich reflexiv mitunter die Frage, wie hätte ich – ich mit meinen Schwächen und meinen Unzulänglichkeiten – mich verhalten, wenn ich in dieser Zeit, der NS-Zeit, gelebt hätte. Das bedeutet, man stellt sich gedanklich vor, man wäre nicht jener „Gnade der späten Geburt“ teilhaftig geworden, die einen 1950, 1960 oder 1970 zur Welt kommen ließ, sondern wäre 1910 oder 1920 geboren. Wäre aber eine Person, die 1960 in der demokratisch verfassten Bundesrepublik zur Welt kam, noch dieselbe wie eine, die 1910 im wilhelminischen Kaiserreich geboren wurde? Die experimentelle Frage, wie „ich“ „mich“ damals im Staate Hitlers verhalten hätte, suggeriert dies. Doch im Jahr 1910 könnte ich gar nicht von diesen Eltern, die mir Vater und Mutter sind, geboren worden sein, da sie damals selbst noch gar nicht am Leben waren. Andere Personen, etwa Jahrgang 1880, hätten Eltern dieser 1910 geborenen Person sein müssen. Aber wäre ich als Kind solcher Eltern, als Kind mit einer anderen Aszendenz und einer entsprechend historisch grundierten Sozialisation, dann auch noch „Ich“? – Könnte man also vielleicht von anderen Eltern abstammen, als denjenigen, die nur behaupten, man sei ihr Kind? Freud hatte solche geheimen Gedanken beobachtet. Personen phantasierten, sie würden vielleicht von Personen abstammen, die sozial höher stünden als es ihre tatsächlichen Eltern taten: vom König, vom Schlossherrn etc., die Mutter habe sie in einer geheim gehaltenen Liaison außerehelich empfangen und man sei in Wahrheit ein „Prinz“. Trotz anderer, sozusagen revidierter „wahrer“ Aszendenz bleibt man dabei im Kern und im Inneren aber derselbe, das identische Ich. – Ein anderes Beispiel, dieses tatsächlich aus der Sphäre der absolutistischen Fürstenherrschaft. Die von Rousseau inspirierten Prinzenerzieher der Aufklärung schärften ihren fürstlichen Zöglingen ein: „Der Zufall hat Sie als Prinz geboren sein lassen.“ Und: „Dass Sie im ersten Rang des Welttheaters sitzen, ist nur Zufall […]“ Implizit ist damit auch gesagt: „Der Zufall hätte Sie aber auch als Bauernsohn geboren sein lassen können.“ „Ob Prinz oder Bauernsohn, Sie wären ein und derselbe, alles andere ist Welttheater.“ – Bei den orthodoxen Juden, um ein weiteres Beispiel anzuführen, gab es in früherer Zeit ein Morgengebet, in dem der Beter dem Herrn dafür dankte, dass er ihn nicht als Nichtjude, als Knecht oder sogar als Frau geschaffen habe: „Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der mich nicht als Nichtjude erschaffen hat. Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der mich nicht als Knecht geschaffen hat. Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der mich nicht als Frau erschaffen hat.“45 Das heißt nichts anderes als, „ich“ hätte auch ein Nichtjude sein können, ein Knecht, eine Frau – und wäre dabei aber immer noch „Ich“ geblieben. Erweitert man diese Beobachtungen auf den Kosmos der Mythologien, Religionen, Märchen- und Romanwelten oder in die fiktiven Realitäten des Theaters mit

45 Diese Gebetssequenz wird auch von Simone de Beauvoir (2008), S. 18 zitiert.

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seinen Rollenarrangements, von denen in Kapitel 11 noch ausführlicher zu sprechen sein wird, so sind den personellen Metamorphosen des Ichs keine Grenzen gesetzt: nicht durch Aszendenz, nicht durch Geschlecht, nicht durch den Tod und noch nicht einmal durch die Gattung. Menschen verwandeln sich hier in Tiere oder in Götter (und umgekehrt); Kafkas Gregor Samsa, der biedere Handlungsreisende, wurde zum Käfer; die Menschen wechseln das Geschlecht, oder sie sind schon vorgeburtlich existent, indem Gott durch einen ewigen Ratschluss für sie persönlich schon seit jeher ihr Heilsschicksal festgelegt hat, oder sie kommen durch Wiedergeburt in ganz anderer körperlicher Gestalt wieder zur Welt. Und doch bleiben sie über all diese grenzüberschreitenden Metamorphosen hinweg für sich selbst, in ihrer Binnensicht immer ein und dasselbe. Das Ich löst sich in all diesen Äußerungen und Geistessphären somit von der Prädetermination durch die Aszendenz, das Geschlecht und den Tod, von der Apriori-Individualität, ja sogar von den Grenzen der Gattung und bleibt dabei doch mit sich identisch: Ich sein und doch ein anderer. Es hat den Anschein, als könne das Ich in vielerlei Gestalt erscheinen, habe universelles und ewiges Entwicklungspotenzial, so als bliebe von der Universalität des anfänglichen Sprachenpotenzials, aus dem es hervorgeht, indem seine Eltern es an eine der Sprachen gebunden haben, untergründig für immer etwas vorhanden und wirksam, als würde diese anfängliche Universalität nie gänzlich und absolut verloren gehen. Es ist die Ortund Zeitlosigkeit, die Entgrenztheit des Seelischen und es „schillert“ ohne Ende. Doch an diesem Punkt kommt etwas zur Geltung, das solch fiktionaler Universalität Schranken setzt, eine für das menschliche Individuum, weil es ein Sozialwesen ist, unüberwindbare Lebensmacht. Das sind: „die anderen“ – und zwar die physisch und kommunikativ anderen in meiner sozialen Umwelt sowohl wie die Repräsentanz der anderen, die sie in Form meines Selbst in meinem Innenleben errichtet haben (dem „Über-Ich“). „Die anderen“, die mich von außen wahrnehmen, fungieren als eine Art von Realitätsprinzip, die dieser ausschweifenden inneren Welt als machtvolles Regulativ entgegentreten. Es sind zunächst die Eltern und die nächsten Vertrauten, im Erwachsenenleben, dann aber auch die Menschen der weiteren sozialen Umgebung, mitunter ganz prosaisch der Arbeitskollege, der Nachbar, der Bankmitarbeiter, bei dem ich Kredit (= Vertrauen, Glauben) brauche und dem ich mein schweifendes Innere daher besser verberge. Mag das Ich sich selbst potenziell als vielgestaltig wahrnehmen, so sitzt es eben doch in einem Körper, in einem Leib. Und es ist dieser eine Leib, der mit Lust und Schmerz, Hunger und Schläfrigkeit sich ständig in Erinnerung bringt; dieser eine Körper, der von niemand anderem als seinen (leiblichen) Eltern gezeugt und geboren und der am Ende sterblich ist. Vor allem aber: Es ist dieser eine Körper und nur dieser, in dem das Ich den anderen, seiner menschlichen Umwelt erscheint und in dessen Gestalt es den anderen primär, d. h. in Face-to-face-Begegnung überhaupt wahrnehmbar

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ist (zumindest in den ontogenetisch frühen Jahren, bevor es, und erst infolge dieser Primärerfahrung, sekundär auch andere, abstraktere, insbesondere schriftliche Formen der Mitteilung beherrscht, bei denen der Körper nicht unmittelbar in Erscheinung tritt). Vornehmlich und zuerst über seine körperliche Erscheinung und Äußerungen – Aussehen, Geschlecht, Sprechen, Gestik, Mimik, Bewegung, Gebaren etc. – können die anderen das im Inneren sitzende Ich überhaupt erkennen, und zwar primär durch sinnliche Anschauung und durch unmittelbare Ansprache. Die anderen sehen nicht in mich hinein, nicht in meine Seele, nicht in die Intimität meiner Gefühlwelt, nicht in mein Bewusstsein, und sie haben nicht mein je eigenes Leibempfinden. Sie sehen nur, was sich sichtbar, gestisch, vor allem aber auch sprachlich davon Ausdruck verschafft. Innen und Außen sind getrennt. Ich, so gut wie jeder andere Mensch, trage eine Maske – ein zentrales Element der Person. Das lateinische persona hat unter anderem auch die Bedeutung von Maske. Auf dem Theaterzettel heißt es u. a. „Die Personen und ihre Darsteller“; die Schauspieler haben sich als eine andere Person maskiert. Davon wird in Kapitel 11 noch ausführlicher zu sprechen sein. Doch eine Maske über unserem Inneren tragen wir alle, und nur in ihr sind wir den anderen erkennbar und wahrnehmbar, und nur so können wir ihnen gegenübertreten. Körperlich ist es vor allem das Gesicht. Ohne diese Maske, ohne Gesicht, ist keine Begegnung, ist keine Sozialität möglich, gäbe es nur ein entpersonalisiertes, diffuses Ineinanderfließen. Die ersten, die frühesten Anderen aber sind die Eltern. Sie haben diesen Körper ihres Kindes durch Zeugung, Geburt und durch Ansprache leiblich-subjektiv überhaupt erst zum Leben erweckt, ihn symbolisch schließlich mit Bedeutung versehen, indem sie ihm unmittelbar nach der Geburt einen Namen geben. Der Name bezeichnet etwas Individuelles. Er ist kein Begriff, der auf eine Vielzahl vergleichbarer Fälle anwendbar ist. Auch geographische Gebilde – Meere, Berge, Flüsse sowie Länder, Städte, Straßen und Plätze – erhalten dank ihrer Einzigartigkeit einen Namen – manche technischen Gebilde wie etwa Schiffe; in der Geschichte trugen Häuser einen Namen. (Haus-)Tiere erhalten oft einen solchen, vor allem dann, wenn sie nicht oder nicht nur als Nutztiere fungieren, sondern sozial zum Partner des Menschen werden. Der Mensch unterscheidet sich von allen diesen Trägern eines Namens durch zwei entscheidende Momente: Er allein ist es, der Namen vergibt, und er allein ist es, der sich selbst beim Namen nennen kann – sich „selbst“. Der Name gibt meist einen Hinweis auf die familiäre Herkunft des Individuums, also auf die Aszendenz, in den okzidentalen Kulturen meist durch den Nachnamen; in der traditionalen Welt griff man aber auch bei der Vergabe des Vornamens häufig auf einen in der Familie tradierten Namen zurück, ein Brauch, der auch heute bei einer mehr modischen Trends folgenden Namenswahl häufig noch durch die Wahl eines zweiten Vornamens Berücksichtigung findet. Vor allem aber bringt der Name in der Regel klar das Geschlecht des Kindes (so wie es von den Eltern und Ärzten wahrgenommen wird) zum Ausdruck. Das Geschlecht markiert zumeist

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eine generelle Grenze in der Freiheit der Namenswahl durch die Eltern: Eindeutig männliche Namen können nicht an Mädchen vergeben werden und umgekehrt; allerdings gibt es auch eine Reihe von geschlechtsneutralen Namen (Kim, Eike, René/Renée, Claude etc., als Zweitname auch Maria), die an beide Geschlechter (und evtl. an Intersexuelle) vergeben werden können. Die Namenswahl aber muss unmittelbar nach der Geburt erfolgen; man kann damit nicht warten, bis das Kind selbst so weit entwickelt ist, dass man es fragen kann, wie es denn heißen und ob es gegebenenfalls lieber einen anderen Namen, als den, den die Eltern wünschen, tragen wolle. Der Name reflektiert somit (mehr oder weniger prägnant) die AprioriIndividualität und macht das Kind, noch bevor es „Ich“ überhaupt sagen kann, von außen auch sprachlich und symbolisch zu etwas Individuellem. Und die anderen (die Eltern als erste) geben es dem Kind, das körperleiblich vor ihnen liegt, von Anfang an zu verstehen. Sie nennen es beim Namen und sagen ihm: Du bist unser Kind, geboren 1960, nicht 1910; Du bist als Sohn mein, des Fürsten, Nachfolger auf dem Thron, und nicht ein Bauernsohn; wir sehen in Dir unseren Sohn und haben Dir deshalb einen männlichen Vornamen gegeben, nicht eine Tochter und Frau. An diesen symbolischen Bestimmungen, die die anderen am Individuum von dessen ersten Atemzug an vorgenommen haben, ist das Individuum zur Person herangereift; es ist Person geworden, indem es sie tief internalisiert hat. Es kann, wie gesehen, zu Abweichungen und inneren oder auch zu praktisch-realen Distanzierungen davon kommen, aber sie beanspruchen zunächst einmal Geltung für sich. Wird die Abweichung zu groß, wird das Band zerrissen: Wenn (literarisch fiktiv ausgemalt) dieser Käfer dort, der im Zimmer unseres Sohnes und Bruders Gregor liegt, behautet, er sei es doch, er Gregor Samsa, dann glauben wir es ihm nicht, denn unser Gregor hat Menschenantlitz; in dieser körperlichen Gestalt als Käfer, in „dieser Maske“, erkennen wir – achtbare bürgerliche Familie, die wir sind – ihn nicht und verwerfen dieses rätselhafte Getier da, mag es am Ende auch daran krepieren. Die anderen würden das Individuum nicht mehr erkennen, ginge die personelle Metamorphose zu weit oder würde das Ich sich in seinem Schillern gänzlich auflösen; die Sozialität, dieses harte empirische Realum, wäre gestört, am Ende sogar zerstört. „Gesellschaft“ (und Gemeinschaft) wären nicht möglich. Was in dieser, anfänglich von den Eltern entfachten Kommunikation des Individuums mit der Umwelt initiiert wird, ist das, was Georg Herbert Mead den „generalized other“46 nannte, oder Plessner mit einer etwas anderen Akzentuierung exzentrische Positionalität.47 Zentrum und Exzentrum: Der Mensch kann sich von sich selbst distanzieren, zu sich selbst verhalten; und er ist nur deshalb Mensch

46 George H. Mead (1980). 47 Plessner (1982); Fischer (2000).

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– und nicht Tier, Pflanze oder Stein –, weil er, und nur er allein, qua Sprache zu solcher Selbstdistanzierung in der Lage ist. Das kindliche Individuum wird zur Person, indem es durch Ansprache dazu veranlasst wird, einen Blick von außen auf sich selbst zu tun, sich selbst mit den Augen der anderen zu sehen und damit sich selbst überhaupt erst zu erkennen. Diese zeitliche Abfolge von der Fremd- hin zur Eigenwahrnehmung lässt sich in der Sprachentwicklung des Kindes unmittelbar verfolgen: Erst betrachtet es sich von außen, eben mit den Augen der anderen, und sagt „Leo hat Hunger.“, erst dann erkennt es, „Leo bin ich.“ und sagt künftig „Ich“ – „Ich habe Hunger.“ Und schließlich: „Ich bin Leo!“ Als Kind und in voller Gestalt dann schließlich als Erwachsener wird man also veranlasst, sich zugleich selbst zu erkennen und die Fähigkeit zu erwerben, sich in andere hineinzuversetzen, Reziprozität herzustellen, zwischen sich selbst und der Welt und den anderen zu unterscheiden. Ohne einen solchen Blick in den Spiegel (als der der generalized other fungiert), in dem ich mich tendenziell so sehe wie die anderen mich sehen, wüsste ich nicht, dass ich der dort/die dort bin, dass ich in diesem Körper sitze, wüsste ich nicht, dass ich bin und wer ich bin – und schließlich: wer ich sein könnte. Und auch das Seelische und das Schillernde könnten sich noch nicht einmal als Ort- und Zeitloses begreifen.

Kapitel 8 Tarnung, Adoption, Transgender: der unaufhebbare Split Und doch bin ich im Inneren, hinter meiner Maske, in denen ich den anderen erscheine, potenziell mehr – personell „ein anderer“, „viele andere“. Es gibt Grenzszenarien, in denen dieses „ein anderer, eine andere Person werden“ in der Realität auf sehr elementarer Ebene tatsächlich stattzufinden scheint. Dazu gehören die in Kapitel 6 benannten Krisenszenarien der Aszendenz – die Kleinkindadoption, die Kindsvertauschung oder die Zeugung durch Spendersamen –; dann im Hinblick auf das Geschlecht das Phänomen des Transgenders, oder, etwas anders gelagert, die personale Tarnung eines Straftäters oder des Spions oder des ehemals NS-Verstrickten bzw. -Verbrechers, deren Täuschung bei Gelingen eben darin besteht, von ihrer Umwelt als eine andere Person, als die, die sie in Wahrheit sind, wahrgenommen zu werden. All dieses personell „Ein-anderer-Werden“ geht ggf. auch mit einer Veränderung der körperlichen Erscheinung und eventuell einer Namensänderung einher; diese Menschen ziehen, indem sie zu einer „anderen Person“ werden, unter Umständen auch eine andere Maske auf. Ein besonders spektakulärer Fall war der des deutschen Germanisten Hans Ernst Schneider (1909–1999), der als SS-Mann beim Ahnenerbe im Stab von Heinrich Himmler tätig war, der nach 1945 einen neuen Namen, auch ein neues Geburtsdatum und einen neuen Geburtsort (also eine andere Aszendenz!) annahm und

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nun ein zweites Leben als Hans Schwerte anfing, um eventuellen Bestrafungen zu entgehen. Beginnend mit einer erneuten Promotion, da er seinen zuvor erworbenen Doktortitel nicht über seinen Identitätswechsel hinweg zu retten vermochte. Auch seine Frau heiratete er ein zweites Mal; eine Tochter war bereits vorhanden, ihr Vater Schneider erschien ihr jetzt mit Namen Schwerte. Und dieser Schwerte setzte nach 1945 nun erfolgreich zu einer universitären Karriere an, die ihn, jetzt linksliberal gewendet und damit, wie er später sagte, sich selbst entnazifiziert habend, bis zum Rektorat der Universität in Aachen und zu hohen Ehrungen und Auszeichnungen führte. 50 Jahre ging es gut. Erst 1995, als er im hohen Alter war, wurde die wahre Identität des Mannes, der mehr als die Hälfte seines langen Lebens von „den anderen“ als Hans Schwerte wahrgenommen worden war und damit in beträchtlichem Maß gewiss auch einer Selbstsuggestion unterlag, als ehemaliger SS-Mann Hans Schneider enttarnt – nicht geboren in Hildesheim 1910, wie er seine Herkunft erfunden hatte, sondern 1909 in Königsberg. Der „Sprechakt“ der neuen sozialen Existenz und der Erfindung einer neuen Identität, der Versuch, ein anderer zu sein als jener SS-Mann, der er einmal gewesen war, war kurz vor seinem Tod gescheitert. Die Konsequenzen waren fatal: Es folgten Titelentzug, Pensionsstreichung, Entehrungen aller Art, schließlich ein mehr als zweifelhaftes Nachleben posthum.48 Noch härter vermochte es unter Umständen den enttarnten Straftäter zu treffen. Personen, die schwere Verbrechen begangen haben, und sich wie Schneider/ Schwerte zum Schutz vor Strafverfolgung eine neue Identität zulegen. Bekannte NS-Verbrecher – Mengele und seinesgleichen – haben sich 1945 teils in andere Kontinente, vorzugsweise nach Südamerika, abgesetzt, oder sich in Deutschland verbleibend erfolgreich zu verstecken vermocht, indem sie unter falschem Namen lebten und gegebenenfalls stark ihre äußere Erscheinung veränderten. Offiziell und sozial eine andere Person, bei gelungener Tarnung für die anderen in ihrer Herkunftsidentität nicht mehr erkennbar. Wie anders ließe sich in diesem Fall für die Strafverfolgungsbehörden eine Verbindung zu der früheren Person und den von ihr begangenen Straftaten herstellen als durch den Körper, der auch bei einer Veränderung der Erscheinung und des Namens im Kern doch ein und derselbe bleibt und dem das Ich, die „neue Person“ mit neuem Namen nicht zu entkommen vermag? Historisch konnte ggf. ein Fingerabdruck als unveränderbares Kennzeichen des individuellen Körpers oder der Zahnstatus Klarheit verschaffen. Mit heutigen Methoden würde ein DNA-Abgleich, also die sichere Bestimmung der biologischen Elemente der Aszendenz, die zweifelsfreie Identifikation herbeiführen. Bei Straftätern, die in flagranti ertappt wurden, ihre namentliche Identität zunächst aber

48 Der Fall hat in den Medien und in der Fachliteratur einen großen Widerhall gefunden. Erwähnt sei nur Claus Leggewie (1998).

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erfolgreich zu tarnen vermögen, kann kriminalistisch eine Isotopenanalyse bei der näheren Bestimmung ihrer Aszendenz helfen und so unter Umständen auch die Identität klären. Die Apriori-Individualität des Körpers – das „Eindeutige“ am Individuum – lässt sich durch keinen noch so raffinierten tarnenden Sprechakt negieren und verrät den Delinquenten. Anhand der Körperlichkeit – dem „Habeas Corpus“ – durchkreuzen „die anderen“ (hier die anderen in Gestalt der Strafverfolgungsbehörden) sein „Ein-anderer-Werden“ und führen ihn der Strafe zu, die er für seine früher begangenen und jetzt verleugneten Taten verdient. Der Vollzug der Strafe geschieht über diesen Körper: Der Täter sitzt körperleiblich im Gefängnis, oder er wird gar körperlich hingerichtet. Bei einer Verurteilung in Abwesenheit, und d. h. eben, wenn der Körper sich nicht in dem Raum bzw. in dem Territorium befindet, über die die Strafverfolgungs- und Strafvollzugbehörden gebieten, kann die Strafe nicht vollzogen werden. Zugleich aber gilt, dass das „Ich“, die Subjektivität, selbst bei Gefangenschaft des Körpers ein gewisses Maß an Freiheit behält. Das berühmte deutsche Volkslied „Die Gedanken sind frei …“, auch wenn man mich in „finstere Kerker“ einsperrt, bringt es auf den Punkt. Das ist die Ortlosigkeit der Seele, von der Hermann Schmitz sprach. Bei allem Schweifen des Ichs, der Subjektivität und der Gedanken ist der Mensch aber nicht frei, irdisch seinen Körper zu verlassen, jene Maske, in der die anderen ihn vorzugsweise erkennen. Und so, wie der Körper mitunter ganz allgemein als „Gefängnis“ der Seele verstanden worden ist, sitzt auch sie – doppelt gefangen – mit in der realen Strafanstalt, wenn der Körper dort festgehalten wird. Zum anderen Fall der Grenzszenarien: Dem Findelkind, besonders jenem, das körperlich sichtbar aus einer anderen Kultur stammt (Kriegswaisen), stellt sich im entsprechenden Alter zwangsläufig die Frage, was wäre ich und wer wäre ich geworden, wenn ich von meinen leiblichen Eltern und ihrer Kultur nicht getrennt worden wäre? Analoges gilt für das vertauschte Kind, dessen Vertauschung spät zutage kommt; dann eventuell auch für das mit Spendersamen oder Eizellspende erzeugte Kind. Unter der Obhut der Pflege- oder Adoptiveltern und dem frühen Wechsel des Ortes mit seiner Kultur bin ich als Findelkind im Vergleich zu jener Option, die mit meiner Geburt real gegeben war, tatsächlich „ein anderer“ geworden: spreche eine andere Sprache, habe andere primäre Bezugspersonen, eine andere Kultur und womöglich auch einen anderen Namen, der in meiner Herkunftskultur unüblich ist. Der Split zwischen meiner leiblichen Herkunft, meiner körperlichen Abstammungsverwandtschaft auf der einen, meinem Aufwachsen in der Adoptivfamilie auf der anderen Seite wird sich nie restlos schließen, auch nicht im Fall der gelingenden Adoptivelternschaft; er wird Teil meiner inneren Identität, meines Ichs sein, das in gesteigertem Maße vor der Herausforderung steht, mit dem Motiv des „ein anderer geworden und doch Ich sein“ fertig zu werden. Um die Dimension und Dramatik dieses Arguments zu verstehen, muss man sich gedan-

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kenexperimentell vorstellen, diejenigen elterlichen Personen, die mir Adoptiveltern waren, wären meine leiblichen Eltern. Ich hätte damit nicht nur andere leibliche Eltern, eben diese hier; ich hätte auch einen anderen Körper als den, den ich habe – eine andere genetische Ausstattung, und damit wahrscheinlich ein ganz anderes eigenleibliches Empfinden, vor allem auch ein anderes Aussehen, beim Findelkind aus der fremden Weltgegend auch eine andere phänotypische Erscheinung. Es gäbe jenen Split also nicht, dieses so geborene/gezeugte Individuum wäre schlicht und einfach eine andere Person, ein „anderes Ich“, und ich, das Adoptivkind, wäre nicht. – Tatsächlich gehen die Phantasien und Sehnsüchte von Adoptivkindern aber genau in die andere Richtung: Sie wollen nicht sich selbst negieren, sie wollen wissen, wer sie sind, indem sie ihre leiblichen Eltern finden, wollen erfahren, wer diese sind und was sie sind. Sie wollen, wenn sie nicht verstorben sind, von ihnen wissen, warum sie von ihnen getrennt oder weggegeben wurden. Ein ausgesprochen schmerzhafter Prozess, eine Operation an den offenliegenden Wurzeln der eigenen Existenz. Sieben erwachsene Personen legten 2022 in einer TV-Dokumentation davon eindrücklich und beredt Zeugnis ab.49 Eine von ihnen, ein Mann, der im Säuglingsalter adoptiert worden war, lernte im Erwachsenenalter seine leibliche Mutter kennen. Der wiederholt an sie gestellten Frage nach seinem leiblichen Vater wich sie stets aus, indem sie ihm zur Antwort gab: „Wenn du wissen willst, wer dein Vater ist, schau in den Spiegel, dann weißt du wer es ist.“ Damit suggerierte sie, der Sohn könne in der Triade zugleich die Position seines Vaters einnehmen – womit der Sohn sich kalt und hartherzig in eine geradezu schizophrene Konstellation gestoßen sah. Denn es ist, wie hier festgehalten wurde, nicht möglich, in der Triade die Positionen zu tauschen oder zwei Positionen zugleich einzunehmen. Die leiblichen Eltern, Vater und Mutter, bilden die Urform der Sozialität; sie sind die ersten „anderen“ – und sie bleiben es, selbst wenn das Individuum, wie beim Findelkind, ihnen nie leibhaftig begegnet. Die Aufforderung an den Sohn, er solle, um seinen Vater zu finden, in den Spiegel schauen, bedeutet Kollaps und Verklumpung dieser primären triadischen Sozialbeziehung. Kein Wunder, dass der betreffende Mann, der Sohn, berichtete, er sei darüber fast verrückt geworden, es habe ihn über Jahre kaputt gemacht. Will man das Ich begrifflich fassen und definieren, so zeigt sich, dass bei allem „ein anderer werden“, das in ihm schlummert, das Körperliche, die generativen Universalien und die Apriori-Individualität, letztlich die individuelle Gestalt der Bindung an die Gattung, d. h. an die leiblichen Eltern, nicht daraus zu entfernen, dass es vielmehr systematisch mitzudenken ist. Auch wenn das nicht alles ist und 49 „wir sind adoptiert“, eine Miniserie von Jean Boué, Westdeutscher Rundfunk, August 2022, drei Staffeln. Interviews mit sieben erwachsenen Personen, die im Kleinkindalter adoptiert wurden. Siehe https://www.ardmediathek.de/sendung/wir-sind-adoptiert/staffel-1/Y3JpZDovL3dkci5kZS9 3aXJzaW5kYWRvcHRpZXJ0/1 (Stand Juni 2023).

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die Sozialisation in die „Kultur“ und die Gesellschaft und die Entwicklung meiner psychisch-seelischen Verfassung einen beträchtlichen Einfluss auf mein So-undnicht-anders-Gewordensein hat, so kann das Ich der Frage, „Woher, sprich: von wem habe ich diesen meinen Körper?“, also der Frage nach seiner Aszendentenstelle, dem „Eindeutigen“, nicht entkommen. Ähnlich die Situation bei der Transgenderpersönlichkeit. Auch hier kommt es (aus körperlich oder entwicklungspsychologisch und therapeutisch bislang ungeklärten Gründen) zum Split zwischen dem Herkunftsgeschlecht (Sex) und dem subjektiven Empfinden und Erleben des Geschlechts, der „Geschlechtsidentität“, d. i. die geschlechtliche Konnotation des Ichs. Ich wurde als Männliches (als Junge) gezeugt, geboren und sozialisiert, aber ich „bin“, d. h. empfinde mich subjektiv als eine Frau (oder umgekehrt). Körper, Leib, Ich und Seele sowie die Selbst- und die Fremdwahrnehmung meiner Person liegen im Widerspruch. Je nach Beschaffenheit und Lebensumständen gelingt es, hinsichtlich der körperlichen Erscheinung, in der Kleidung und im sozialen Auftreten die Gestalt des anderen Geschlechts anzunehmen, dessen „Maske“ an- und aufzuziehen; unter den Bedingungen der modernen westlichen, vergleichsweise tolerant gewordenen Gesellschaft auch rechtlich meinen Personenstand und meinen Namen zu ändern und in meinem „Frausein“ von den anderen zumindest formell anerkannt zu werden – wenn man so will: durch einen „Sprechakt“, durch eine veränderte „Zuschreibung“ der anderen von Schneider zu Schwerte (besser zur Schwerte) zu werden, hier im Einverständnis mit den anderen. Die mit der Zeugung gegebene Konstellation der generativen Universalien, meine Apriori-Individualität, bliebe im Kern dabei allerdings auch hier erhalten: meine Abstammungsverwandtschaft und die geschlechtlich gegebenen Möglichkeiten der Fortpflanzung, die Tatsache also, dass ich, ehemals Leo (der u. U. Vater geworden ist), nie Maggie, nie Mutter, werden kann (s. dazu oben Kapitel 5, S. 77f.). Auch hier ist ein Split, der nicht aus der Welt zu schaffen ist: Ich bin eben nicht von Anfang an, d. h. mit meiner Zeugung, weiblich gewesen, sondern bin es (eventuell mit dem frühen Erwachen meines Ichs) erst geworden. An diesem Punkt lässt sich die analoge Frage zu der des Findel- und Adoptivkindes stellen: Was wäre gewesen, wenn … Hier: Wenn bei „meiner“ Zeugung, der Zeugung meines Körpers, im Würfelspiel der Natur ein weibliches Sperma zum Zuge gekommen wäre? Wer und was wäre dieses daraus hervorgegangene Ich? – eine sehr rätselhafte Frage. Die Problematik scheint wiederum zwei Seiten zu haben. Zunächst: Wäre an meiner (Leos) Stelle ein Mädchen (Maggie) gezeugt worden, wäre ich (Leo) überhaupt nicht. Das Nichtsein aber ist subjektlos, könnte Fragen generell gar nicht stellen. Wenn ich, Leo, also gar nicht bin, kann ich auch nicht Maggie sein. Maggie wäre an meiner Stelle. „Jemand anderes.“ Und doch: eben diese Stelle! Die ist nichts anderes als die Aszendentenstelle. Die hätte ich, Leo, mit Maggie in jedem Fall gemein – und zwar: exklusiv nur mit

Tarnung, Adoption, Transgender: der unaufhebbare Split

ihr. Und das ist die merkwürdige und geheimnisvoll faszinierende Kehrseite dieser Ausschließlichkeiten: Das, was und wer ich (Leo) jetzt tatsächlich bin und geworden bin, wäre in Teilen auch durch Maggie, und zwar nur durch sie verwirklicht worden. Vor allem also und zuerst: Auch sie hätte, vom Herkunftsgeschlecht und daraus folgend einem anderen Namen abgesehen, jene einmalige Aszendentenstelle, die so nur ich habe, also die gleichen Eltern und die gleiche Geschwisterposition; auch sie wäre exakt in die gleiche historische Zeitgenossenschaft und in die gleiche Orts- und Sprachkultur hineingeboren worden wie ich. Und diese partielle Gemeinsamkeit auf der Ebene der Apriori-Individualität reicht ein ganzes Stück noch dann auch in die konkrete, nun lebendig sich entfaltende Biographie hinein. Was immer aus Maggie geworden wäre, sie hätte mit mir, Leo, vieles gemein, was ich so ganz allein mit ihr der virtuellen geschlechtlichen Alternative meiner selbst und nur mit ihr teile und sie mit mir. Z. B. eine ähnliche schulische Sozialisation, wenigstens in Teilen die Zusammensetzung der Peergroup, Prägungen durch die gleiche zeittypische Jugendkultur etc. Unterschiedlich aber wären die körperlichen Erfahrungen, die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale, beginnender Bartwuchs hier, Wachstum der Brüste dort, schließlich Ejakulation und Menstruation, zwei sehr unterschiedliche Erfahrungen, um die sich für das jeweils andere Geschlecht etwas Geheimnisvolles rankt, woran sich die seit je gegebene, unüberwindbare Polarität bei der Fortpflanzung Ausdruck verschafft. Maggie ist die konkrete, von der Natur nicht realisierte Möglichkeit jener einzigartigen genealogischen Ursprungskonstellation (eben meiner Aszendentenstelle), der ich (Leo) entstamme. Sie ist damit virtuell das geschlechtlich andere meiner selbst, ich das Reale. Die Transsexualität ist die deutlichste Äußerung, dieses Virtuelle bis zu einem gewissen Grad real wieder einzulösen. Die Geschlechtergrenze wird überschritten; das in einem männlich (respektive in einem weiblich) gezeugten Körper entstandene Ich will „eine andere Person“, eine Person des anderen Geschlechts sein; die „ortlose Seele“, aber auch das subjektive Leibempfinden sind auf große, vielleicht übergroße Wanderschaft gegangen, was so weit geht, dass viele transsexuelle Menschen glauben, sie seien „im falschen Körper“ geboren worden. Die Vorstellung, „im falschen Körper“ geboren zu sein, ergibt genau genommen jedoch nur einen Sinn, wenn die Person subjektiv daran glaubt, sie habe körper- und materielos, rein seelisch Individualität schon in einem Jenseits, das der körperlichen Existenz vorgängig ist, besessen: „Ich“ war schon vorhanden, und zwar als Weibliches vorhanden, bevor ich mit diesem Körper, der männlich ist und in dem Ihr anderen mich als Person individuell wahrnehmt, überhaupt in Berührung gekommen bin. Es ist ein Glaube, der entfernt daran erinnert, was analog auch Religionen formuliert haben: Prädestination (hier Prädestination zur Frau), Vorhersehung, Seelenwanderung etc. – ein Glaube, der subjektiv bis zur Glaubensgewissheit vorhanden sein und von der betreffenden Person so geäußert werden mag, als Glaube per se empirisch aber weder zu verifizieren noch zu falsifi-

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zieren ist. Von außen betrachtet, aus Sicht der anderen, ist er daher rätselhaft und wird von ihnen je nachdem als „Wahn oder Wunder“, vielleicht irgendwann aber auch doch als „Wahrheit“, als „wahrer“ Selbstausdruck des Inneren dieser Person, wahrgenommen. Schrecken kann das Leben einer Person, die im „falschen Körper“ ist, bei den anderen erregen. So hat es – das so anschauliche und aufschlussreiche Beispiel sei wiederholt zitiert – in literarischer Fiktion Kafka in der „Verwandlung“ dargestellt: Gregor Samsa, nachdem er am Morgen im Körper eines Käfers erwacht war. Die Apriori-Individualität stand plötzlich und radikal infrage. Hier war es nicht das Geschlecht, das nicht mehr zu „unserem Gregor“ passte, sondern die Aszendenz. Ist das noch unser Sohn und Bruder? musste seine Familie sich fragen. Wie sollte dieses Getier, dieses Fremde und Befremdende, das da plötzlich auftauchte und aus dem Gregor scheinbar spricht, noch Teil unserer Familie sein? Wir haben doch keinen Käfer zur Welt gebracht und großgezogen. – Und so mögen Eltern eines Sohnes, der ihnen offenbart, eine Frau zu sein, sich analog fragen: Wir haben doch nicht ein Mädchen zur Welt gebracht und großgezogen? Für die anderen, die einen über die individuelle körperliche Erscheinung als Person kennen, ist es eben eine Herausforderung, wenn ebendieser vertraute Körper seine Gestalt ändert. Im Fall des Transgenders, der sich anders darbietet, anders kleidet, ggf. die Stimme ändert, vor allem aber – wenn auch bedeckt und den anderen daher nicht sichtbar, so doch intimste Phantasien, vielleicht auch Ängste aufrührend – genitalangleichende operative Eingriffe an sich vornehmen lässt. Mag auch ein modernes urbanes Umfeld heute darauf nicht mehr mit dem Schrecken der Familie Samsa reagieren, so wird es ohne Irritation im Einzelfall wohl nicht vonstattengehen; denn im Grunde genommen prätendiert die Transgenderpersönlichkeit etwas, was konstitutionslogisch gar nicht möglich ist: eine Korrektur an ihrer Apriori-Individualität. Darüber können nur Spiel, Fiktion und Augenzwinkern hinweghelfen – immerhin! Um mit der Fiktion zu beginnen: Die formelle Änderung des Personenstands von männlich in weiblich (oder umgekehrt) hat explizit den Charakter einer solchen Fiktion, und zwar einer „juristischen Fiktion“ – was eine eingeführte Rechtsfigur ist, die aus der römischen Rechtstradition kommt und verschiedentlich praktische Anwendung findet, etwa bei der Adoption, bei der die Adoptiveltern rechtlich als leibliche Eltern eingesetzt werden, womit die natürliche Apriori-Individualität des Kindes überschrieben wird. Überschrieben werden im Fall der Transgenderpersönlichkeit das natürlich körperliche Geschlecht; aber nicht nur dieses, sondern auch: die bisherige Entwicklung der Biographie, die stattgehabte geschlechtlich akzentuierte Sozialisation, der ursprünglich gegebene Name vor allem. Die „Natur“ selbst – die Zufälligkeit der Geschlechtswahl bei der Eizellbefruchtung und alles, was danach folgt – bringt freilich keine „falschen“ oder „richtigen“ Körper hervor. Und was die Sozialisation

Tarnung, Adoption, Transgender: der unaufhebbare Split

betrifft, wo wurde in den vorigen Kapiteln ausgeführt, dass die Fremdwahrnehmung meiner Person durch die anderen meiner eigenen Binnenwahrnehmung sequenziell vorausgeht; „die anderen“ – die (leiblichen) Eltern, die Ärzte, die Hebamme etc. – haben mich pränatal und mit meiner Geburt individuell früher erkannt als ich selbst mich erkennen konnte. Das gilt auch für die Entwicklung meiner „Geschlechtsidentität“. Anhand der äußeren primären Geschlechtsmerkmale (von den seltenen Ausnahmen der Unklarheit abgesehen) haben sie mich und mein Geschlecht, wie sie es sehen, durch Vergabe eines männlichen oder weiblichen Namens auch symbolisch bezeichnet. Das aber lag, wie erwähnt, nicht in ihrer Willkür; sie konnten das Geschlecht und den geschlechtlich konnotierten Namen nicht nach eigener Vorliebe „zuweisen“, sie waren vielmehr gezwungen, dem körperlich Sichtbaren, dem „Eindeutigen“, zu folgen. So geht die Feststellung der anderen, „Es ist ein Junge“, „Es ist ein Mädchen“ (oder „Wir können es nicht ‚eindeutig‘ feststellen“), die entweder bei der pränatalen Ultraschalluntersuchung oder spätestens nach der Geburt getroffen wird, der Aussage, die ich über mich selbst treffe: „Ich fühle mich als Mann“, „Ich fühle mich als Frau“, „Ich fühle mich weder als das eine noch als das andere, ich bin nonbinär“, im biographischen Ablauf immer voraus. Diese Abfolge lässt sich trivialerweise nicht umkehren, von wegen, hättet Ihr mich, der oder die ich mich jetzt dem anderen Geschlecht zugehörig fühle, doch gefragt, was ich sein möchte, denn Ihr habt Euch getäuscht. Es ist analog zum Problem des philosophischen Antinatalismus, der zum Vorwurf an die Eltern stimuliert: Warum habt Ihr mich nicht gefragt, ob ich überhaupt in diese schlechte Welt kommen möchte? Wäre es doch besser, überhaupt nicht geboren worden zu sein. In Fragen der Sozialisation und der frühen Ontogenese kann man eben immer erst hinterher, wenn es sozusagen zu spät ist, „klüger“ sein. Das körperliche sowohl wie das sozialisierte Geschlecht sind eben immer bereits da, bis eine geschlechtliche Identität, das innere Empfinden des Geschlechts sich hinlänglich entwickelt hat. So auch, wenn diese Identität sich als gegenläufig zum körperlichen und sozialisierten Geschlecht entpuppt. Das Ich ist eben spät und schillert. Woher dieses subjektiv empfundene Gegenlaufen des Geschlechts auch immer kommt – ob da etwas seelisch-jenseitig gegenteilig Prädestiniertes im Schwange sei, ob etwas Entsprechendes in der frühen Psychogenese vorhanden oder vorgefallen ist, ob Hirnstrukturen, Hormone oder andere physiologische Vorgänge eine Rolle spielen – für die zuständigen Wissenschaften (Medizin, Humanbiologie, Psychologie, Psychoanalyse, Pädagogik, Soziologie etc.) ist es allgemein und typologisch bislang nicht wirklich aufklärbar. Als Äußerung des Individuums, es fühle sich dem anderen als dem körperlichen und sozialisierten Geschlecht zugehörig, wird es heute in der Spätmoderne von seiner Umwelt einschließlich offizieller staatlicher Instanzen im Allgemeinen aber hingenommen. Und wenn der Wunsch bei den anderen, im sozialen Umfeld auf tolerierenden Widerhall stößt, die Transgenderfrau als Frau und mit weiblichem Namen (analog umgekehrt) auch tatsächlich ange-

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sprochen und angenommen wird, entsteht eine neue soziale und kommunikative Realität, die einen solchen Lebenslauf gelingen lassen kann. Grundsätzlich aber bleibt es dabei: Bei allem hier real werdendem Ausschweifen und Hinüberwechseln ins Gegengeschlechtliche: Leo kann nie Maggie (d. i. Mutter) werden und Maggie nie Leo. Denn Maggie wäre, da sie einen anderen Körper gehabt hätte, „a priori“, ausgehend von der Zeugung, jemand ganz anderes, wäre ein anderes Individuum, ein Ich ohne jenen Split zwischen Körperlichkeit, Seele und Sozialisation. Das Eindeutige der Apriori-Individualität ist nicht aufzuheben. Der Mensch ist in der Gesamtheit seiner Existenz aber nicht darauf zu reduzieren. Ist das gesellschaftliche Umfeld offen und beweglich, ist jenseits des a priori Gegebenen vieles, um nicht zu sagen sehr vieles möglich.

Eine Zwischenbemerkung zur Problematik der künstlichen Intelligenz Am Ende dieses Teils II sei auf der Grundlage und in Fortsetzung des bislang entwickelten theoretischen Gedankens eine kurze Zwischenbemerkung zur „Künstlichen Intelligenz“ (KI) eingefügt. Die Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen der KI kreisen unter anderem auch darum, inwiefern sie menschenähnlich sei oder sein könne und ob und in welcher Hinsicht sie als menschenähnliche den Menschen zu überbieten, am Ende als entfaltete Superintelligenz vielleicht sogar zu verdrängen in der Lage sei. Oder aber, ob sie nicht eine ganz andere Form von Intelligenz sei, die mit der naturwüchsigen Intelligenz, wie sie die dem Menschen gegeben ist, von vornherein unvergleichlich sei. Die wichtigsten Kriterien dafür, diese Fragen zu entscheiden, sind: Ob die KI Bewusstsein habe, und d. h. immer auch Selbstbewusstsein, ob sie sich selbst also als ein Ich begreifen könne. Weiter: Ob sie in der Lage sei, nicht bloß bei technischen Prozessen, sondern bei zentralen lebenspraktischen Problemstellungen, wie sie sich in Erziehung, Partnerwahl, Familie, Berufswahl, Justiz, Politik, Unternehmensführung, dann aber auch hinsichtlich originär künstlerischer Schöpfungen oder in Fragen der Endlichkeit und Transzendenz etc. stellen, fallspezifische Lösungen zu finden. Und: Ob es der Maschine auf Dauer und in allen Lebenslagen, also nicht nur in dem sehr eingeschränkten Setting des Computer-Chats (auf den der „Turing-Test“ sich bezieht), sondern auch in einer Art von Face-to-face-Begegnung, die ontogenetisch immer die Primärform menschlicher Kommunikation ist, möglich wäre, einer menschlichen Person erfolgreich zu suggerieren, sie sei ebenfalls eine natürliche Person, und damit, wie in Science-Fiction-Filmen gerne vorgeführt, tatsächlich zu verschleiern, dass man es mit einer Maschine, einem Avatar, zu tun habe. Die Künstliche Intelligenz ist ein Phänomen, das der hier entwickelten Konzeption zufolge rein in der „Sphäre der Gesellschaft (Kultur)“ situiert ist. Sie ist etwas Abstraktes, Nichtorganisches und Nichtkörperliches, etwas künstlich-technologisch

Eine Zwischenbemerkung zur Problematik der künstlichen Intelligenz

vom Menschen Geschaffenes, so wie es Institutionen oder die Rollen sind; in mancher Hinsicht dem Inhalt von Bibliotheken und Archiven vergleichbar, im Zuge von Digitalisierungsmaßnahmen teilweise sogar mit ihnen verschmolzen. Auch wohnt ihr, sobald sie (beginnend vielleicht mit den ersten, noch mechanisch betriebenen Rechenmaschinen) in hinlänglicher Dichte einmal initiiert ist, eine gewisse Autonomie und eine immanent wirkende Entwicklungsdynamik inne. Als Artefakt, das in der „Sphäre der Gesellschaft“ platziert ist, hat sie keine direkte Verbindung mit jener anderen Makrosphäre, die hier als ihr Counterpart definiert wurde: der menschheitsgeschichtlich ungleich älteren „Sphäre der Gattung“. Dafür bräuchte sie einen individuellen (menschlichen) Körper und Leib, der, einschließlich der damit amalgamierten lebendigen Person, das Verbindungsglied zwischen beiden darstellte. Die künstliche Intelligenz hat jedoch keinen natürlichen Körper; Silicium, aus dem die Halbleiter gefertigt sind, die physisch ihre Basis bilden, ist jedenfalls kein Äquivalent für Körperlichkeit. Natürliche menschliche Intelligenz und Geistestätigkeit ist aber ohne diese biographisch gemachte Leib-, Körper- und Sozialisationserfahrung nicht denkbar. KI ist (um an das oben gebrauchte Bild anzuknüpfen) demgegenüber wie eine Flamme ohne Docht; sie ist die Vorstellung (vielleicht sogar die Realität) einer „Flamme“, die, einmal angezündet, an sich selbst brennt. Nur das menschliche Individuum, die menschliche Person, und so auch die an sie gebundene natürliche Intelligenz, sind gleichermaßen, und zwar unentrinnbar, in Gattung und Gesellschaft, und daraus folgend in Körperlichkeit und in Geistigkeit/Sozialität situiert. Zusammenfassend können wir das hier bereits Gesagte nun wiederholen und damit recht genau bestimmen, worin die menschliche, nicht aber die künstliche Intelligenz eingebettet ist, und wodurch jene geprägt wird, diese aber nicht: Das menschliche Individuum hat einen Anfang – in der Aszendenz und in der Zeugung –, es nimmt einen ontogenetisch-biographischen Verlauf, es ist durch seinen Körper nach außen, von den anderen, abgegrenzt und agiert mit ihnen sozial als den anderen, es ist geschlechtlich und mittels Gattenwahl zur Erzeugung eines neuen Individuums in der Lage, und es ist endlich und sieht sich mit der Todesproblematik konfrontiert. Körperlich hat es seinen Ursprung in der Apriori-Individualität; es erfolgt der vage Vorgang der Beseelung, und damit ist es bereits mit der Geburt ein leibliches und belebtes Gegenüber für den Prozess der Sozialisation, der Interaktion mit der Mutter und mit all den anderen, die folgen werden und folgen müssen, soll das Individuum als Person wachsen und gedeihen. All das hat und erfährt die KI nicht – vor allem aber: Um ihre eigentlichen Potenziale und Stärken zu entfalten, braucht sie es auch gar nicht. Die KI kann größtmögliche Datenmengen aufnehmen und verarbeiten, wie sie rein quantitativ für kein menschliches Gehirn zu bewältigen sind; und während das individuelle menschliche Gehirn Anfang und Ende hat, kumulieren und entwickeln sich diese Datenmengen dauerhaft und bleiben der Welt und der Gesellschaft quasi „ewig“ verfügbar, jedenfalls solang diese bestehen. Das aber galt übrigens auch schon

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für Archivsammlungen, Bibliotheken, Museen etc. Auch ihre Inhalte überdauern den permanenten Wechsel der sterblichen menschlichen Generationen und sind damit fast so etwas wie eine künstliche Intelligenz, nicht auf Silicium, sondern auf Pergament, Papier, Leinwand, Musikpartitur etc. In gewisser Weise sind diese historischen Wissens- und Erfahrungsspeicher, wie der Chat-Bot, sogar zur Interaktion fähig: „Perché non parli?“ – Warum sprichst Du nicht?, soll Michelangelo der Legende zufolge dem von ihm geschaffenen monumentalen Moses angegangen sein. Vor allem aber wissen wir und erfahren es heute alltäglich, dass viele praktische Probleme, wie etwa die Steuerung des Verkehrs und der einzelnen Verkehrsmittel, komplexe Produktions- und Verwaltungsprozesse, die Organisation, Analyse und Auswertung großer Wissens- und Informationsmengen und vieles anderes mehr durch eine richtig und gut programmierte KI effektiver und sicherer gelöst werden können als Menschen es vermögen. Wenn aber der Chat-Bot am Bildschirm oder gar der im Erscheinungsbild eines Menschen auftretende und sprechende Avatar „Ich“ sagt, „Ich habe die Regeln gelernt […]“ oder ähnliches, ist dies dann tatsächlich ein „Ich“, das da spricht, ein Ich mit Bewusstsein und mit Intentionalität? Nicht nur die Intuition, sondern auch das eben Gesagte spricht dafür, dass dem nicht so ist. Der Avatar hat kein Leibempfinden, da er keinen von Eltern gezeugten, geschlechtlichen und sterblichen biologischen Körper hat, und im Weiteren: nicht in lebendiger face-to-faceKommunikation von Eltern sozialisiert, sondern von Informatikern programmiert wurde. Apriori-Individualität, Beseelung und Sozialisation haben am individuellen Körper ihren Ort und ihre Zeit – ihre Positionalität und Perspektivität. Dort und nur dort können sie ein Ich – eindeutig sowohl wie schillernd – mit Selbst- und Weltbewusstsein und mit Intentionalität hervorbringen. Der Avatar hat all das nicht. Wenn er „Ich“ sagt, ist es eine Simulation, vielleicht eine sehr virtuose, die in bestimmten Kontexten sogar in der Lage sein mag, den Menschen über seine Beschaffenheit zu täuschen. Sein Ich aber lebt nicht.50

50 Ausführlich und differenziert äußert sich Thomas Fuchs zur Bedeutung der Leiblichkeit und ihrer Ermangelung im Fall der Künstlichen Intelligenz, in: ders. (2022).

Teil III Die Spannung zwischen Gattung und Gesellschaft: generative Universalien versus gesellschaftliches Rollenhandeln

Dieser Teil beschäftigt sich mit den „Rollen“, die das Individuum in der Gesellschaft einnimmt. Wenn das Individuum die Sphäre der Gattung (im weitesten Sinne die Sphäre von Familie und Verwandtschaft) verlässt und in die Sphäre der Gesellschaft eintritt, ist sein Handeln weitgehend durch dort historisch vorgegebene, unpersönliche Rollen und Rollenmuster bestimmt. Hier wird die These vertreten, dass die Rollen und das Rollenhandeln, die in der Gesellschaft situiert sind, und die durch die generativen Universalien konstituierte Apriori-Individualität, die nichtrollenhaft beschaffen ist und die an die Gattung bindet, Gegenpole bilden: Rolle und Aszendentenstelle, Rolle und Geschlecht (im Sinne von Sex, Fortpflanzung), Rolle und Tod stehen in einer unauflösbaren Spannung zueinander. Die Rollen in der Gesellschaft räumen dem Individuum Selbstdistanzierung und Entfaltungsmöglichkeiten ein, und zwar je „reiner“, d. h. je unpersönlicher die Rollen in der Gesellschaft historisch ausgebildet und etabliert sind (was erst in der Moderne weitgehend der Fall ist), desto mehr. Doch subtil und wirksam werden diese Räume durch die generativen Universalien, wie sie sich in der Gattungszugehörigkeit des Individuums verkörpern, limitiert. Diese Spannung, die sich im Individuum aufbaut und austrägt, ist unauflösbar – außer: im Theater! Wovon, um sich in diesen Fragen Klarheit zu verschaffen, hier nun zu sprechen ist.

Kapitel 9 Begriffliche Bestimmungen der Kategorie der Rolle Vom Theater ist die Kategorie der Rolle denn auch entlehnt und in die Soziologie transferiert worden. Dabei gibt es am Rollenhandeln zwei Dimensionen, die hier zu unterscheiden sind: Einmal (quasi horizontal) die Frage nach dem überpersonalen Charakter der Rolle und daraus folgend die nach der Austauschbarkeit der jeweils handelnden Person, die die Rolle gerade ausführt: Shakespeare komponiert die Bühnenrolle des Hamlet, und seither ist sie von vielen Tausenden von Schauspielern in verschiedener Weise interpretiert worden; immer aber bleibt es (mehr oder weniger) die (Bühnen-)Rolle des Hamlet. Analog auch in der Alltagsrealität, d. h. außerhalb der auch räumlich definierten Sondersphäre des Theaters: Rollen in der

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Die Spannung zwischen Gattung und Gesellschaft

Gesellschaft, insbesondere Berufsrollen – etwa eine historisch so alte wie die des Arztes –, werden von verschiedenen Personen exekutiert, bleiben, bei allen historischen Veränderungen, im Kern dabei aber identische (in diesem Fall professionelle) Handlungsmuster. – Die andere Dimension am Rollenhandeln (sozusagen die vertikale) besteht im performativen Aspekt, nämlich in der „Maske“. Wie verschaffe ich meiner Position – meiner Person zum einen, meinen Beruf, meinem beruflichen Können zum anderen – vor meinem Gegenüber den angemessenen Ausdruck und wie verschaffe ich mir damit Anerkennung von den anderen? Im Anschluss an die Ausführungen in Kapitel 7 ist die Maske ein grundlegendes Merkmal der Person, indem sie Innen und Außen trennt und sich als Person somit überhaupt erst konstituiert. Beim Rollenhandeln, das die Person dann in der Gesellschaft ausübt, gilt das in gewisser Weise in verdoppelter Form: Geht die Person hinaus, setzt sie quasi eine zweite Maske auf. Dieses Maskieren „in Gesellschaft“, das die vertikale Dimension der Rolle ausmacht, hat eine starke Affinität zur Kleidung und zur Gesamtheit der äußeren Erscheinung wie etwa Rasieren, Frisieren, Schminken. Kleidung hat neben ihrer klimatischen Schutzfunktion immer auch die doppelte Bedeutung, das Innere (u. a. auch die Scham) einerseits zu verbergen und es zugleich in bestimmter, sozial kompatibler Form zum Ausdruck zu bringen. Rollenlos und nackt („ohne Maske“) ist das Kind – für Erwachsene ist das nur in ganz bestimmten Kontexten und Situationen möglich (in den privaten Intimräumen, in therapeutischen Arrangements, ggf. am FKK-Strand), nicht aber „in Gesellschaft“. Gerade gehobene Berufsrollen – die des Arztes, des Professors, des Richters, der Anwalts vor Gericht, des Priesters etc., die teilweise heute noch eine formelle Robe tragen – oder Berufe mit bestimmten hoheitlichen Funktionen, die sich in Uniformierung Ausdruck verschafft (Polizisten, Soldaten, auch die des Museumswärters etc.), das Personal in der Welt der Angestellten mit ihren Dresscodes oder die funktionale Kleidung (die des Handwerkers, des Feuerwehrmanns etc.) zeigen im Sich-Kleiden auch die spezifische Rolle, den Beruf mit seinem je eigenen fachlichen Können und seiner sozialen Stellung, die die handelnde Person hier „in Gesellschaft“ einnimmt und ausführt. Zum Rollenhandeln gehört auch, dass private und intime Aspekte der Person nicht thematisiert werden, sonst fiele man „aus der Rolle“. Hier soll es von den beiden Dimensionen des Rollenhandelns vor allem um die erstgenannte gehen, die horizontale, die, welche die Austauschbarkeit der Person meint: Rolle als ein historisch bestimmtes und historisch sich veränderndes, mehr oder weniger standardisiertes Handlungsmuster, das sich erfüllt, gleich ob es von dieser oder von jener Person vollzogen wird. Anhand dieses Kriteriums wird deutlich, dass das Rollenhandeln vorzugsweise in der „Sphäre der Gesellschaft“ stattfindet, eben im Beruf, im Amt, in den Marktbeziehungen, in bestimmten Situationen im öffentlichen Raum wie etwa als Verkehrsteilnehmer etc. Je mehr wir uns aber der „Sphäre der Gattung“ nähern, insbesondere in Gestalt der Familie und Verwandtschaft, desto weniger rollenhaft sind die Beziehungen zwischen den

Begriffliche Bestimmungen der Kategorie der Rolle

Menschen. Die generativen Universalien bedeuten eine relationale Positionierung zu anderen, zu „den leiblichen Verwandten“; eine Positionierung, die wir, wo wir mit den Verwandten agieren, nicht verlassen und mit ihnen tauschen können – ganz elementar, wie erwähnt, in der Triade von Vater, Mutter und Kind. Wir können in der Realität rollenhaft weder eine andere Aszendenz annehmen als die, die wir haben (die leiblichen Eltern und unsere gesamte Abstammungsverwandtschaft nicht gegen andere austauschen), noch können wir rollenhaft auf die geschlechtlich andere Seite der Fortpflanzung wechseln (Leo kann nicht Maggie werden et vice versa51 ) noch können wir rollenhaft dem Altern, dem Sterben und dem Tod entkommen. Wiederum: außer im Theater. Doch was im Theater möglich ist, ist es nicht in der Empirie. Das hat Folgen für die Familienbeziehungen, da ein Austauschen der Personen (etwa des Vaters durch den Stiefvater als neuem Partner der Mutter) nur um den Preis der Auflösung der Herkunftsfamilie und ihre Überführung in eine Patchworkfamilie möglich ist. In den Sozialwissenschaften bis hinein in die Alltagssprache ist es heute zwar üblich, von der „Vaterrolle“ bzw. der „Mutterrolle“ zu sprechen; bei konsequenter Analyse zeigt sich aber, dass diese Bezeichnungen für das Agieren in

51 Hierzu eine kurze Anmerkung: Die Empirie freilich ist weit und oft schwer zu deuten. „Im Süden“ sei doch alles anders, wird allzu apodiktisch vorgetragenen Paradigmen der modernen okzidentalen Kultur oft vorgehalten. Gab es dort nicht Fälle von Frauen, und zwar bei den Nuern im Sudan, die von Kindern, deren Mütter im Rahmen einer „Weiberheirat“ mit ihnen liiert waren, als ihr „Vater“ angesprochen wurden? Edward E. Evans-Pritchard berichtete davon. War dort also nicht doch eine Maggie zu Leo geworden? Bei den Nuern war es möglich, dass eine Frau, die selbst unfruchtbar war, den Eltern einer anderen Frau einen Brautpreis bezahlte, um diese zu heiraten, womit sie die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über sie und über deren Kinder erlangte. Sie lebte mit ihrer Gattin oder ihren Gattinnen in ihrem Haus und wurde von ihnen als Mann behandelt. In der Nacht wurden die Ehefrauen von ihren Liebhabern besucht. Den Kindern gegenüber, die aus diesen Begegnungen hervorgingen, verhielt die Hausherrin sich wie ein Vater und sie wurde von ihnen als Vater angesprochen. Eine Frau war im Alltag der Familie und in der Stellung zum „Vater“ geworden. Fast ist man geneigt zu sagen, sie habe die „Rolle“ des Vaters eingenommen. – Doch leiblich hatten die Kinder natürlich einen Erzeuger anderweitig gehabt, leibliche Vaterschaft war auch der Mann-Frau, diesem Nuer-Vater nicht möglich. Die Stellung dieser Person ist eher der eines Adoptivvaters vergleichbar, einem der legitimiert ist, das Geschehen zu dominieren und zu steuern, wobei die adoptierende Person hier, um „Vater“ zu werden, nach außen hin quasi das Geschlecht gewechselt hat. Es war möglich in einer Kultur, die generell eher in Clanstrukturen agierte und von jener präzisen Herauspräparierung der Kernfamilie, wie sie Lateineuropa durchlaufen hat, unberührt geblieben ist. Aus Sicht der lateineuropäischen Erfahrung handelt es sich faktisch jedoch um eine sozial anerkannte Form des Patchworks, einem Patchwork, das sich seiner selbst als solches womöglich kaum bewusst ist. Unter diesen Voraussetzungen ist es funktionsfähig, solange die betreffende Gesellschaft nicht „modern“ wird und Individualisierungsprozesse unterdrückt bleiben. Zum Nuer-Vater siehe: Françoise Zonabend (1996), S. 78 f.; Lévi-Strauss (2023), S. 69 f., 80.

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Die Spannung zwischen Gattung und Gesellschaft

der empirischen Realität ein Widerspruch in sich sind.52 Mutter und Vater sind für das Kind einzigartige und unersetzbare Personen. Das mag so auch für Adoptiveltern gelten, doch sehen Eltern und Kind sich hier mit jenem Split konfrontiert, der im vorigen Kapitel benannt wurde und der im zitierten Erfahrungsbericht von Didion so deutlich artikuliert wurde. Dagegen: Die Erzieherin in der Kita ist eben nicht exklusiv, sondern gegen eine andere ihrer Kolleginnen austauschbar; die Erzieherin agiert in einer Rolle, ihrer Berufsrolle, die Mutter aber nicht, sie ist unersetzbar. Die Stiefelternschaft – heute meist das Resultat der Trennung der (leiblichen) Eltern und einer neue Verpartnerung – ist traumatisierend: Der Vater (seltener die Mutter) kann nicht durch einen anderen Mann, den neuen Partner der Mutter, ersetzt werden – ein Vorgang, aus dem nicht zwingend folgt, dass das Trauma bei gelingender Stiefelternschaft nicht bewältigt werden könnte. Umgekehrt ist vor allem aber das Kind für seine Eltern einzigartig, insbesondere in der individualistischen Moderne; undenkbar, es gegen ein anderes Kind auszutauschen, weshalb der Begriff „Kinderrolle“ auch nicht in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist. Nicht von ungefähr wird der oben behandelte Fall der versehentlichen Kindsvertauschung schließlich zum Anlass für eine außerordentlich schwere Krise für die Betroffenen. In diesem Sinn ist die Formulierung in der Einleitung zu diesem Buch, man könne die generativen Universalien nicht in Rollen auflösen, zu verstehen. Mit den Bezeichnungen „Vaterrolle“ oder „Mutterrolle“, so selbstverständlich und allgegenwärtig sie heute Verwendung finden mögen, wird so etwas fälschlicherweise aber suggeriert. Um hier jedoch einem Missverständnis vorzubeugen: Wenn es wegen der Nichtaustauschbarkeit der Personen in der Familie hier für problematisch gehalten wird, in der Empirie von „Vaterrollen“ und „Mutterrollen“ zu sprechen, so folgt daraus ja nicht die Annahme, die Position und das Verhalten von Vätern und Müttern sei statisch (oder im schlechten Sinne „biologistisch“). Es ist nicht nur eine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern gehört zur Alltagserfahrung, dass Elternschaft sich heute anders äußert als noch vor wenigen Jahrzehnten oder zu Zeiten, die noch ferner in der Geschichte zurückliegen, dass Väter z. B. in der jüngeren Vergangenheit etwa häuslich-familiärer, Mütter stärker berufsorientiert wurden. Solche Dynamiken werden in der akademisch betriebenen Geschlechtergeschichtsforschung intensiv reflektiert. Doch in diese Überlegungen wäre die Unüberwindbarkeit der Grenze, vor der Leo und Maggie angesichts der Fortpflanzungsproblematik stehen, und die Unüberwindbarkeit der Generationendifferenz – der Unterschied in den Positionen in der Triade – konzeptionell einzuflechten. An diesen beiden harten Marksteinen – Geschlechter- und Generationendifferenz – erweist sich einmal

52 Vgl. hierzu die aufschlussreichen Bemerkungen von Ulrich Oevermann (2001a), S. 85 ff., dort bes. auch der kleine Exkurs in Fußnote 6.

Begriffliche Bestimmungen der Kategorie der Rolle

mehr, dass „Gattung“, der die generativen Universalien angehören, und „Gesellschaft“, in der die Rollen angesiedelt sind, nicht ineinander überführen lassen; dass das Individuum die Spannung, die zwischen ihnen besteht, aushalten und gestalten muss. Diese grundlegende analytische Differenzierung – Gattung und generative Universalien hier, Gesellschaft und Rollen dort – wird in der soziologischen Rollentheorie weitgehend ignoriert. In der Soziologie ist es üblich, in einem Atemzug unterschiedslos von der Rolle des Vaters, des Ehemanns, des Berufsinhabers, des Vereinsmitglieds etc. zu sprechen.53 Immerhin klingt die kategoriale Differenzierung, die hier herausgearbeitet werden soll, in der herkömmlichen Rollentheorie in der Unterscheidung von „zugeschriebenen“ (ascribed) und „erworbenen“ (achieved) Positionen oder Rollen an. Doch wird sie nicht mit der hier vorgeschlagenen Konsequenz ausgedeutet. Ralf Dahrendorf, dessen einflussreicher und vielfach aufgelegter Text über den Homo Sociologicus54 hier als Referenzpunkt dienen soll, nannte (S. 59 f.) als zugeschriebene Rollen vor allem Positionen, die „in biologischen Merkmalen“ begründet seien. Sie fielen dem Einzelnen zu, ohne dass er gefragt werde, ohne dass ihm die Möglichkeit bliebe, das Ansinnen der Gesellschaft zurückzuweisen. Als Beispiel nannte er die Geschlechts- und Alterspositionen (Mann, Erwachsener) oder die Position in der Ursprungsfamilie (Sohn von), dann aber auch Nationalität und Staatsbürgerschaft. Damit sind teilweise direkt die in Familienpositionen zur Entfaltung kommenden generativen Universalien angesprochen. Entsprechend gehörten Berufspositionen, Ämter, aber auch flüchtige Betätigungen wie Autofahren zur Kategorie der erworbenen Rolle. Für sie gilt, dass sie durch Eigenleistung erreicht werden. Ob die Bezeichnung „zugeschrieben“, in der das früher diskutierte Moment der Fremdwahrnehmung anklingt, adäquat dafür ist, die hergebrachten, quasi unveränderbaren Merkmale der individuellen Existenz zu fassen, sei dahingestellt. Wie auch immer, Dahrendorf und mit ihm weite Teile des soziologischen Denkens kommen zu dem Schluss, diese zugeschriebenen Positionen oder Rollen seien aus der soziologischen Betrachtung ganz auszuschließen. „Zugeschriebene Positionen“, so meint er, „unterliegen sozusagen einer totalen Zwangsbewirtschaftung; die Gesellschaft braucht sich um ihr Schicksal nicht weiter zu kümmern, ja um streng zu sein, müssten wir diese Positionen als nicht beliebig verfügbar aus unserem Gedankenexperiment ausschließen.“ (S. 60) Bevor die Gesellschaft vermittelt durch Eltern und Erzieher den einzelnen Menschen in Rollen zwänge und zum homo sociologicus mache,

53 Plessner tut das auch in einem Aufsatz zur sozialen Rolle, wo er in einer Reihung die Positionen von „Vater und Sohn, Arzt und Patient, Lehrer und Schüler, Beamter, Geistlicher, Künstler“ anbringt. Vgl. Helmuth Plessner (1985), S. 229. 54 Ralf Dahrendorf (2006).

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existiere das Individuum ‒ genau genommen also das Kind ‒ als ein „aller Gesellschaftlichkeit entkleideter Einzelner“ (S. 62), oder als die „soziale tabula rasa des rollenlosen Menschen“, in die die Erzieher von Eltern über Lehrer und Vorgesetzen „den Plan seines Lebens in [der] Gesellschaft einritzen.“ Das sind sehr bezeichnende Formulierungen eines bedeutenden Soziologen: der Mensch, der zunächst in einem unbestimmten Naturzustand als ein sozial unberührtes Wesen existiere, das dann in die Gesellschaft hereingeholt werde, indem es zum Rollenhandeln und der Übernahme von rollenhaft organisierten Positionen erzogen und konditioniert und zum homo sociologicus sozialisiert werde. Dahrendorfs Ansatz formuliert damit die exakte Gegenposition zu dem Paradigma, das hier entwickelt und vertreten wird, wonach der Mensch in seinen Anfängen eben keine tabula rasa sei, sondern dank seines Aszendentenbaums, der Familienkonstellation und dem Geschlecht a priori immer schon ein einzigartiges und individuell bestimmtes Wesen, eine Apriori-Individualität, ohne deswegen aber in einer „Rolle“ zu sein. In diesem ursprünglichen Sosein hat das Individuum dem Sozialisationsprozess, seiner Hereinnahme in die Gesellschaft und deren Rollen, etwas Eigenständiges und Widerständiges entgegenzusetzen. Nicht eine tabula rasa ist es, die, wie Dahrendorf meint, dem homo sociologicus (biographisch) vorausgeht und in die dieser sich „einritzt“, nein, da ist, verbunden mit dem Körperlichen, bereits ein vorgängig Soziales. Hier ist, lange bevor die heranwachsende und schließlich erwachsen werdende Person dann in die Gesellschaft im engeren Sinne und damit in die Rollen eintritt – in sie sozialisiert wird –, schon etwas manifest Individuelles generiert. Von hier aus geht das einzelne Individuum biographisch seinen Weg zum „homo sociologicus“, und es kehrt, durchs Leben verändert und altersbedingt von ihm wieder Abschied nehmend, dank der Universalität und Egalität des Todes am Ende auch wieder zum Ausgangspunkt zurück. Die Sphäre des gesellschaftlichen Rollenhandelns, in der der homo sociologicus zu Hause ist, besetzt, wenn sie sich mit der modernen Gesellschaft historisch einmal ausgebildet hat, in der Biographie des Einzelnen vorzugsweise diesen Zwischenabschnitt zwischen Geburt und Kindheit zum einen, Alter und Tod zum anderen, den Abschnitt des aktiven Erwachsenenlebens. Zu Beginn und am Ende der Biographie sowie anlässlich der Familiengründung aber ist diese Biographie vorzugsweise in die Gattung eingebettet. Ihr gehört jedes Individuum unverlierbar an, selbst dann, wenn es altersbedingt (als Kind, als Hochbetagte/r) oder wegen konstitutioneller Mängel oder gänzlicher sozialer Desintegration gesellschaftlich nie eine markant ausgeprägte Rolle, vor allem eine Berufsrolle, angenommen hat, für seine Person nie homo sociologicus im engeren Sinn geworden sein sollte. Aus der Perspektive des biographischen Ablaufs in seiner Gesamtheit bildet somit nur dieser zeitliche Zwischenabschnitt des vitalen Erwachsenenlebens den entscheidenden konzeptionellen Rahmen, in dem das gesellschaftliche Rollenhandeln anzusetzen ist. Das ist die Prämisse, unter der die Rollentheorie hier fruchtbar gemacht werden kann und soll.

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Dagegen sind Anfang und Ende der Biographie ebenso wie die Familiengründung „rollenlos“. Dahrendorf hat Unrecht, wenn er meint, diese Sphäre vorschnell biologisieren und sie „aus unserem Gedankenexperiment ausschließen“ zu müssen. Wenn bestimmte Formen von Soziologie sich damit schwertun, so wäre es immer noch möglich, sich mit diesen Sphären im Rahmen anderer sozial- und kulturwissenschaftlicher Fächer, etwa der Sozialpsychologie, der Pädagogik oder der Anthropologie, auseinanderzusetzen. Wie wir bisher sahen, haben wir es hier mit der Dynamik der Mutter-Vater-Kind-Triade zu tun, mit der Entwicklung verschiedener Formen der Verwandtschaft (vom Clan zur Kernfamilie), mit der „Sequenz der Anfänge“ des Individuums, mit der historischen Varianz von Geburten- und Sterberaten und dergleichen. Scheiden wir die Sphären des Anfänglichen und des Endlichen also nicht vorschnell aus unserem Forschungsprogramm aus, sondern nehmen sie intellektuell als eine Herausforderung unseres Bemühens an.

Kapitel 10 Exkurs zur historischen Genese des gesellschaftlichen Rollenhandelns Wenn im Folgenden über die Geschichte der „Rolle“ und des „rollenhaften Handelns“ nachgedacht wird, so ist damit die „erworbene“, die echte Rolle gemeint, jene Form von Rolle also, für die das Kriterium der Austauschbarkeit der Person in vollem Umfang gilt. Diese Rollen in der Gesellschaft sind historische Gebilde ‒ im Alltagsleben wie im Theater. Im Alltag potenziert und verdichtet sich rollenhaftes Handeln der Menschen historisch erst in der modernen Gesellschaft und kommt erst in ihr voll zur Entfaltung und voll zur Geltung. Doch einzelne Elemente und Züge rollenhaften Handelns finden sich immer auch in vormodernen, traditionalen Gesellschaften, in besonderer Ausprägung wohl sogar in den Staatsgebilden der römischen Antike, etwa in der Funktion des Konsuls. Anhand der beiden Positionen des vormodernen historischen (Erb-)Königtums und der des modernen republikanischen Präsidenten, dessen Position im soziologischen Sinne eine voll ausgebildete, abstrakt gewordene Rolle darstellt, sollen hier beispielhaft und verdichtet einige Überlegungen zur historischen Genese der gesellschaftlichen Rolle an sich angestellt werden. Dem Fachhistoriker mag es etwas eigenwillig erscheinen, anhand des Phänomens des Königtums einmal eine originär soziologische Begrifflichkeit zu entwickeln und zu erproben, doch im Idealfall erscheint dieses Vorgehen erfolgversprechend nicht allein zur Schärfung des Begriffs ‒ hier eben des Begriffs der Rolle ‒, es würde auch das historische Phänomen selbst unter einem bestimmten Gesichtspunkt analytisch besser erschließen. Eine erste, noch unvollkommene Analogie oder auch eine Vorform zur Unterscheidung von (überindividuell andauernder) Rolle und (konkreter endlicher) Person, die sie ausübt, bildet historisch die Lehre von den zwei Körpern des Königs

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‒ dem sterblichen Körper des königlichen Individuums einerseits, der andauernden Institution des Königtums andererseits. Der König ist tot, lang lebe der König ‒ lautet die entsprechende, in der Einleitung hier schon einmal zitierte Formel, in der sich diese Denkfigur Ausdruck verschafft hat. Ernst H. Kantorowicz hat dieser Thematik eine ausführliche historische Studie gewidmet. In ihr zitiert er Edmund Plowden, einen englischen Juristen zur Zeit von Königin Elisabeth I. (reg. 1558–1603), der das Problem wie folgt formuliert hatte: „Denn der König hat in sich zwei Körper, nämlich den natürlichen Körper (body natural) und den politischen (body politic). Sein natürlicher Körper ist für sich betrachtet ein sterblicher Körper, der allen Anfechtungen ausgesetzt ist, die sich aus der Natur oder aus Unfällen ergeben, dem Schwachsinn der frühen Kindheit oder des Alters und ähnlichen Defekten, die in den natürlichen Körpern anderer Menschen vorkommen. Dagegen ist der politische Körper ein Körper, den man nicht sehen oder anfassen kann. Er besteht aus Politik und Regierung, er ist für die Lenkung des Volks und das öffentliche Wohl da. Dieser Körper ist völlig frei von Kindheit und Alter, ebenso von anderen Mängeln und Schwächen, denen der natürliche Körper unterliegt.“55 Indem der natürliche Körper des Königs als sterblicher Körper charakterisiert wird, rekurriert der historische Jurist auf das generative Universal des Todes. Das Universal der Aszendenz klingt mit dem Verweis auf die Kindheit hingegen nur indirekt an, dabei spielt die Aszendenz gerade beim Erbkönigtum doch eine herausragende Rolle. Nicht minder das dritte Universal, das Geschlecht, das der Jurist vollkommen übergeht, wiewohl die Stabilität des Königtums doch entscheidend davon abhängt, dass der König in der Lage ist, einen nachfolgefähigen Thronfolger sexuell zu zeugen. Der natürliche Körper des Königs ist derjenige, der qua Aszendenz wie jeder andere menschliche Körper, wie jedes andere menschliche Individuum der Menschenfamilie entspringt, im Weiteren einer, der Nachkommen (einen Thronfolger) zeugt und einer der schließlich altert und stirbt. Der Jurist erwähnt explizit aber nur das letztere, die Sterblichkeit. Der politische Körper ist dagegen von Dauer; er umfasst Politik und Regierung, symbolisiert und materialisiert auch in der Krone, die über Jahrhunderte hinweg von Königshaupt zu Königshaupt wandert. Sie ist damit ein Gebilde, das in gewisser Hinsicht schon mit der soziologischen Kategorie der Rolle beschrieben werden könnte: Die Krone als materialisiertes Symbol der Herrscherrolle. Doch der politische Körper des Königs ist im Fall des Erbkönigtums mit dem natürlichen Körper des Königs per se und per Definition zu einer Einheit verschmolzen. Deshalb kann er sich nicht zu einer rein abstrakten Rolle entwickeln und emanzipieren. Der politische Körper war in der jahrhundertelangen Geschichte des Erbkönigtums viel zu innig mit dem natürlichen Körper amalgamiert und in seiner historischen Entwicklung viel zu sehr, viel zu direkt

55 Zit. nach Ernst H. Kantorowicz (1990), S. 31. Kursivsetzung im Original.

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von dessen naturgegebenen „Schwächen“ und „Defiziten“ abhängig, als dass er in seiner eigenen Ausgestaltung (bis hin zum Zuschnitt staatlicher Territorien oder deren kulturlandschaftlicher, insbesondere konfessioneller Prägung im Zeitalter der Glaubensspaltung) davon nicht tangiert worden wäre. Der natürliche Körper des Königs war ‒ mit Folgen für den politischen Körper ‒ nicht nur einer, der wie alle anderen Körper der Endlichkeit und dem Tod ausgesetzt war, er war auch einer, der unabdingbar dazu angehalten war, sich (innerhalb der legitimen Gattenbeziehung) fortzupflanzen und den eigenen Nachfolger, hier den Thronerben, körperlich selbst hervorzubringen. Der König war als erster in seinem Volk und in Fürsorge um sein Volk dazu verpflichtet, „universalisierter Leopold“ zu sein. D. h. der natürliche Körper des Königs war auch geschlechtlich definiert und als solcher (politisch) zwingend auf Deszendenz hin ausgerichtet, so wie er retrospektiv seine exponierte singuläre Stellung innerhalb des politischen Körpers, der institutionalisierten Königsherrschaft, nichts anderem verdankte als seiner einzigartigen Aszendentenstelle: erstgeborener Sohn eines bestimmten Elternpaars – des Königs und der Königin. Unter Umständen konnte der natürliche Körper des Königs auch weiblich sein, wenn, wie gerade in England, in der Königsfamilie keine männlichen Nachfolger zur Verfügung standen und subsidiär daher die Töchter zum Zug kamen. Wie stark der politische Körper (der Staat, die Regierung) unter den Bedingungen der dynastischen Königsherrschaft vom natürlichen Köper abgängig war, zeigte sich immer wieder im Fall von Nachfolgekrisen, wenn der König nicht zeugungsfähig war oder seine Kinder vor ihm starben und in seiner nächsten Umgebung in der Königsfamilie nicht etwa ein Neffe als legitimer Nachfolger bereitstand oder ein streng patrilineares Erbrecht, wie vor allem in Frankreich, die Herrschaft einer Tochter praktisch unmöglich gemacht hat. Dieser Fall konnte zum Auslöser von Kriegen ‒ Erbfolgekriegen ‒ werden, von denen derjenige um die Königsnachfolge in Spanien nach 1700, der weite Teile Europas erfasste, in der jüngeren Geschichte der dramatischste war. Die spanischen Habsburger waren damals ohne Nachfolger geblieben, weil ihr letzter Vertreter, Karl II. von Spanien (gest. 1700) ‒ ein direkter Neffe und ein Cousin unseres Kaisers Leopold und zugleich Bruder von dessen erster Ehefrau Margarita ‒ nicht in der Lage war, einen Nachfolger zu zeugen. Ein spezifisches „Defizit“ des natürlichen Körpers ‒ hier Fortpflanzungsunfähigkeit ‒ konnten dem politischen Körper somit gefährlich werden. Die Frage, die sich aus dieser Erfahrung heraus für die Entwicklung von moderner Staatlichkeit (die Sphäre der „Gesellschaft“) also stellte, lautete daher, wie man den „politischen Körper“ von den politisch potenziell so gefährlichen Defiziten, Fährnissen und Unberechenbarkeiten des natürlichen Körpers unabhängig machen und davon abkoppeln konnte. Wie man also die Position der Leitung in dem Sinne personenunabhängig institutionalisieren, soziologisch gesprochen also rein (funktions-)rollenhaft definieren und etablieren konnte, dass die Sicherheit des Staates und seines Territoriums durch die natürlichen Körper der Akteure an

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seiner Spitze nicht mehr gefährdet werden könnte. Mehr ins Theoretisch-Generelle gewendet: Es ging auch an dieser Stelle und ganz praktisch verstanden um die Notwendigkeit einer weiteren Differenzierung von „Gattung“ und „Gesellschaft“. Das bedeutete als erstes: Rekrutierung des Personals nicht mehr durch Geburt, nicht mehr durch (aristokratische) Aszendenz (eingeschlossen der Erstgeburt bei ausgebildeter Primogeniturordnung), sondern durch andere Verfahren. Durch: Wahl, Kooptation, Wettkampf, Berufung durch Dritte, Los, Orakel und Vision (wie bei der Identifikation des Dalai Lama) etc., Methoden der Herrscherauswahl also, die ihrerseits in der Geschichte aber auch alle ihre je eigenen Unsicherheiten und Gefahren hatten, wie die schismatischen Wahlen bei den Päpsten und bei den (Wahl-)Königen im Deutschen Reich des Mittelalters zeigten – oder zuletzt auf offener Weltbühne die Nichtanerkennung des Ergebnisses der US-Präsidentenwahlen 2020 durch den Wahlverlierer Donald Trump. Im Weiteren würde es aber auch bedeuten: Rekrutierung unabhängig von Geschlecht. Doch dieses ist bekanntlich eine historisch erst sehr späte Entwicklung, die sich erst im 20. Jahrhundert allgemein durchsetzte. Und es heißt zum Dritten: Nicht warten, bis der Herrscher gebrechlich wird und durch Tod abgeht, sondern standardisierte Begrenzung seiner Amtszeit auf eine terminlich fest fixierte Wahl- oder Amtsperiode. In summa: Wie kann man die Position der Leitung (und analog andere wichtige und weniger wichtige Positionen in der Gesellschaft) von einer konstitutionellen Bindung an die generativen Universalien, die die Person, die sie bekleidet, naturgegeben mitbringt, kappen? Wie eine abstrakte, personenunabhängige Rolle daraus machen? Eine große menschheitsgeschichtliche Herausforderung und Kulturleistung! Ansätze dazu gab es immer wieder bereits in der Geschichte. Neben den Erbmonarchien gab es bereits die Bestimmung durch Wahl ‒ am bedeutendsten im Papsttum und beim Wahlkönig- bzw. Wahlkaisertum des alten Deutschen Reiches. Beide Positionen wurden formal durch Wahl besetzt. Damit war, bereits im Mittelalter, eine gewisse Brechung des Erbprinzips, die Abkoppelung von der Aszendenz und damit ein Element von Rollenhaftigkeit an prominenter Stelle etabliert. In der Verfassungswirklichkeit war es nicht allzu ausgeprägt und nicht allzu deutlich sichtbar, denn insbesondere das aktive Wahlrecht war hoch exklusiv und denkbar weit entfernt vom freien gleichen Wahlrecht unserer Tage. In der Kirchenhierarchie war nur ein kleiner Kreis höchster Würdenträger, das Kardinalskollegium, zur Wahl berechtigt, und bei der Königswahl handelte es sich (seit 1273 nach dem Interregnum) bei den Wählern um einen Kreis von bloß sieben Herren, nämlich um die vier weltlichen und die drei kirchlichen Kurfürsten, deren Position sich ihrerseits (jedenfalls bei den weltlichen Fürsten) einer erblich-dynastischen Bestimmung verdankte. Analog beschränkte sich auch das passive Wahlrecht bei diesem Königtum nur auf die Oberhäupter eines sehr kleinen Kreises dynastischer Fürstenfamilien im (und teilweise auch außerhalb) des alten Deutschen Reiches. War in der voll ausgebildeten Erbmonarchie (mit Geltung des Primogeniturrechts) der erstgeborene

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Prinz, das königliche Individuum, für den Thron geboren (Aszendenz) und nahm er insofern keine Rolle ein, als zu seinen Lebzeiten nur er allein und niemand sonst diese Position besetzen konnte, so war in der Wahlmonarchie immer prinzipiell und unter bestimmten Konstellationen auch real die Möglichkeit gegeben, zwischen Alternativen zu wählen. Das wichtigste Kriterium für die analytische Kategorie der Rolle ‒ Austauschbarkeit des Personals (bzw. in diesem Fall Austauschbarkeit der entsprechenden Familie oder Herrscherdynastie) und Ablösbarkeit der Herrschaftsposition von der Person – war bei der Königs- und Kaiserwahl im Ansatz damit gegeben. Es wurde auch empirisch sichtbar in der Epoche der sogenannten springenden Königswahlen zwischen dem Ende des Interregnums 1273 und dem Beginn der jahrhundertelang ununterbrochenen Habsburger-Sukzession 1438, als zwischen den einzelnen Dynastien (auch kriegerisch ausgetragene) Wahlkämpfe um den Königsthron stattfanden. Noch deutlicher wurde das strukturelle soziologische Problem, nämlich der Hiatus einer Rekrutierung durch Erbe oder durch Wahl, im Jahr 1740 anlässlich des kompletten Aussterbens der Habsburger im Mannesstamm. Den Habsburgern blieben mit dem Tod Kaiser Karls VI. nur noch Töchter, allen voran Maria Theresia. Ihr oblag es in der damaligen Situation, zwei unterschiedliche Positionen zu sichern, die ihre Familie, ihre Vorfahren seit Langem innegehabt hatten: zum einen die Herrschaft in den Erblanden (im Kern Österreich, Böhmen, Ungarn), die eben durch Erbe weitergegeben wurden, zum anderen die Kaiserkrone für das Deutsche Reich, deren Träger nach wie vor durch Wahl bestimmt wurde (auch wenn es damals fast wie ein Habsburger Erbkaisertum aussah, da ihre Familie zu diesem Zeitpunkt seit 300 Jahren und über 13 Herrscherwechsel hinweg die Wahlen kontinuierlich für sich hatte entscheiden können). An diesem Punkt kam empirisch eine interessante Dialektik zutage, die für die historische Genese von Rollenhandeln und deren Analyse ausgesprochen aufschlussreich ist: Das „Traditionale“ ‒ das Erbkönigtum ‒ war für die Frauen günstiger als das „Moderne“ ‒ die Wahl. Aszendenz und Geschlecht der Hauptakteure traten hier in einen Widerspruch zueinander, der aus historischen Gründen damals noch nicht aufgelöst werden konnte. Wohl galt im Erbkönigtum der klare Primat der Männer, doch kamen Frauen hier dann als Herrscherinnen zum Zuge, wenn in der Herrscherfamilie Männer durch Tod oder aus anderen Gründen nicht zur Verfügung standen ‒ in England seit der Tudor-Zeit bis heute, bis Elisabeth II., siebenmal, bei den Habsburgern eben in Gestalt der historisch herausragenden Maria Theresia, in Frankreich hingegen nie (es sei denn in Form der stellvertretenden Regentschaft Katharina de Medicis für ihren noch minderjährigen königlichen Sohn Karl). Wo Positionen durch Wahl vergeben wurden, waren Frauen in der Vormoderne hingegen (fast) überall ausgeschlossen, machten die Männer die Sache unter sich allein aus, da auch beim Ausfall der Männer in einer bestimmten Familie anderweitig immer Männer aus anderen (berechtigten) Familien bereitstanden und

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‒ unter Männern ‒ die Austauschbarkeit des Personals und damit Rollenhaftigkeit somit gegeben war. Der Habsburger Erbfall von 1740 machte das in aller Deutlichkeit sichtbar. In ihren Erblanden konnte Maria Theresia dem subsidiären Erbrecht der Frauen, das ihr Vater (in Form der berühmten Pragmatischen Sanktion von 1713) erlassen hatte, zur Geltung verhelfen und gegen kriegerische Anfechtungen durch konkurrierende Mächte (Bayern vor allem, das dabei von Frankreich machtvoll protegiert wurde, und Preußen) auch als Frau ihren Erbanspruch auf die Habsburger Lande durchsetzen. Ein Sieg von Aszendenz und Geschlecht ‒ genauer: ein Sieg von exklusiver dynastischer Aszendenz bei quasi rollenhafter Neutralisierung des Geschlechts! Für das Amt des Kaisers, dessen Inhaber durch Wahl bestimmt wurde, konnte sie als Frau aber nicht kandidieren; hier konnte sie das Haus Habsburg nur in Gestalt ihres aus dem kleinen Lothringen eingeheirateten Ehemanns Franz Stephan, der in Österreich nur die Position eines relativ einflusslosen Prinzgemahls hatte, ins Rennen schicken. Hier also: eine rollenhafte Brechung der Aszendenz durch Wahl plus Ausschluss des (weiblichen) Geschlechts. Für die Forderung, bei diesem Amt auch den Frauen das passive Wahlrecht einzuräumen, war die Zeit noch nicht gekommen; wohl war Maria Theresia eine der mächtigsten Herrscherfiguren ihrer Epoche, eine Feministin, die bestrebt gewesen wäre, die Stellung der Frau in den Strukturen des gesellschaftlichen oder staatlichen Lebens grundlegend zu ändern, war sie aber nicht. So nahm (nach Überwindung gewisser politischer Schwierigkeiten) ihr Mann die Rolle des Kaisers ein, eine Rolle, die eben eine originäre Männerrolle war. An dieser Stelle zeigt sich, was der Begriff der „Männerrolle“ bei konsequenter Verwendung eigentlich bedeutet: eine Rolle, die (historisch-zeitbedingt) in der Sphäre der (im Entstehen begriffenen) Gesellschaft nur von Männern eingenommen werden konnte; eine Rolle, deren Einnahme Frauen vorenthalten war. Spiegelbildlich wäre die „Frauenrolle“ zu definieren: Positionen, die allein Frauen vorbehalten waren, die von Männern nicht eingenommen werden konnten, z. B. Äbtissin eines Frauenklosters. Die Austauschbarkeit des Personals endet bei diesen Positionen an der Geschlechtergrenze, weshalb die „Rolle“ hier geschlechtlich konnotiert ist – eben Männer-Rolle, Frauen-Rolle. Strukturhistorisch lässt sich diese Beobachtung weiter ausdeuten. Wenn die Austauschbarkeit des Personals (oder einer bestimmten Familie) ein wichtiges Definitionskriterium für den soziologischen Begriff der (Funktions-)Rolle ist, so sehen wir hier, im Fall des Wahlkaisers, das Potenzial der Rolle historisch erst rudimentär sich entfalten. Bislang lässt sich die Loslösung von der Aszendenz nur ansatzweise erkennen. Doch die anderen beiden generativen Universalien – Geschlecht und Tod – kommen auch beim (Wahl-)Kaiser nach wie vor gänzlich ungebrochen zur Wirkung. Durch die Beschränkung der Zugänglichkeit allein auf die Männer zeigt sich, dass die immanent egalisierende Dynamik des Rollenhandelns sich an der Geschlechtszugehörigkeit bis auf Weiteres noch rigoros brach. Und die Amtszeit

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des Kaisers war nicht wie in modernen Demokratien standardisiert, er hatte die Krone auf Lebenszeit inne; erst der Tod beendete sie. Der natürliche Körper und der politische Körper sind via Geschlecht und Lebenszeit nach wie vor also miteinander vermischt. Nicht nur die Stellung des Kaisers, sondern auch sonst fast alle eigentlichen Wahlämter in der Vormoderne zeigen diese Widersprüchlichkeit von partiellem Lösen aus der universalen Gattungszugehörigkeit der Individuen durch Minderung der Aszendenz einerseits, andererseits Haftenbleiben an der Gattung durch Einschränkung des Amts nur auf eines der beiden Geschlechter (meist des männlichen) und Haftenbleiben am Tod, insofern die Amtszeit mit ihm erst endet. So insbesondere die kirchlichen Ämter, Päpste und Bischöfe; die Städte mit kollegial verfasster Ratsherrschaft; die meisten Verwaltungsämter der Städte, der entstehenden Staaten oder in den kirchlichen Apparaten. Hier galt, wie beim Kaiser, überall unisono die Beschränkung bloß auf die Männer und (fast immer) Bindung dieser Ämter an die Lebenszeit. Für Frauen gab es außerhalb ihrer familiären Stellung hingegen nur sehr wenige Positionen, die einen solchen prinzipiellen Amtscharakter und damit Ansätze von Rollenhaftigkeit hatten: Für die Frauen- bzw. Reichsstifte von Gandersheim, Quedlinburg und Herford ließen sich für den deutschen Kulturraum die Äbtissinnen anführen, die es immerhin zu einem gewissen politischen Einfluss bis hin zu landesherrschaftlichen Funktionen mit Sitz und Stimme im Reichstag (wenn dort auch anwesend nur durch einen männlichen Repräsentanten) brachten. Interessante Beispiele finden sich vereinzelt hingegen beim Amt des Statthalters in extern (z. B. in Übersee) gelegenen Territorien oder Kolonien, eine Position oder „Rolle“, an der gewisse Regierungsbefugnisse und -entscheidungen hingen. Die Habsburger kannten zahlreiche solcher Statthalterschaften, da ihr Territorium zersplittert war und sie seit Beginn des 16. Jahrhunderts allein in Europa mit Österreich-Böhmen-Ungarn, den Niederlanden und Spanien drei getrennte Territorialkomplexe hatten; von späteren Besitzungen in Italien und in Übersee ganz abgesehen. In den Niederlanden platzierten sie in ihrem Namen immer wieder einflussreiche Statthalter, und mit diesem Amt betrauten sie auch Frauen, nämlich (meist verwitwete) Töchter ihres Hauses. So vor allem Margarethe (1480–1530), die Tante der Kaiserbrüder Karl V. und Ferdinand I., in ihrer unmittelbaren Nachfolge deren Schwester Maria (1505–1558), nach einer kurzen männlichen Besetzung dann Margarethe von Parma (1522–1586), eine uneheliche Tochter von Karl V. Das Statthalteramt war also jahrzehntelang und mit großem Erfolg auch weiblich besetzt. D. h. dieses Amt hatte zwischenzeitlich aufgehört, eine Männerrolle zu sein und war ansatzweise zu einer Rolle pur geworden, d. h. einer Rolle, die beiden Geschlechtern offenstand. Die Habsburger Statthalterschaft in den Niederlanden im 16. Jahrhundert ist ein historisch früher Fall dessen, was die Soziologie heute im Hinblick auf breite Entwicklungen in der Gesellschaft der Gegenwart mit dem

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Begriff des „undoing gender“ bezeichnet.56 Allerdings eine gänzlich abstrakte Rolle war es nicht geworden, da die Amtsinhaber und -inhaberinnen durch die Exklusivität ihrer Aszendenz, ihrer Herkunft aus der Habsburgerfamilie legitimiert und ihre Amtsdauer an ihre Lebenszeit gebunden war. Wenn hier das Geschlecht keinen Ausschluss darstellte, so setzten die familiäre Herkunft und der Tod wiederum den Rahmen sehr eng. Wenn hier an der Position der niederländischen Statthalterschaft historisch somit eine gewisse rollenhafte Neutralisierung gegenüber dem Geschlecht erkennbar wird, so lässt sich an anderer Stelle im historischen Panorama der Herrschaftsorganisation im vormodernen Europa mitunter eine analoge Neutralisierung gegenüber der natürlichen Lebenszeit, dem Tod bzw. dem Todeszeitpunkt, erkennen: Einzelne Städte hatten, wohl in Anknüpfung an die römischen Konsuln, die Amtszeit ihrer Bürgermeister standardmäßig auf nur ein Jahr beschränkt (bei Möglichkeit einer späteren Wiederwahl). In der Reichsstadt Frankfurt am Main wurde diese Konstruktion der jährlich wechselnden Bürgermeister seit 1311 über mehr als 500 Jahre hinweg praktiziert. Die Stadtrepublik betrieb die rollenhafte Organisation dieses einflussreichen Amtes, also seine Ablösung von den generativen Universalien, somit bereits sehr weit: Rekrutierung durch Wahl, statt durch Erbe (Aszendenz) auf der einen, Ablösung vom Tod, von der Lebenszeit durch Standardisierung der Amtszeit auf der anderen Seite; dabei aber wiederum rigorose Einschränkung auf die Männer (in der republikanisch verfassten Stadt kam, im Gegensatz zu den Erbmonarchien, vor 1918 eine Frau nie zum Zug). Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass der städtische Rat selbst mit seinen 43 Sitzen, innerhalb dessen dieses so konturierte Bürgermeisteramt verfassungsrechtlich angesiedelt war, auch in Frankfurt (bis auf ein kleineres für die Handwerker reserviertes Segment) dynastisch unterfüttert war und im Lauf der Zeit von einer ausgeprägt patrizischen Geburtsaristokratie okkupiert wurde. Auch waren die Ratsherren, aus deren Kreis die Kandidaten für das jährlich rotierende Bürgermeisteramt kamen, im Rat selbst auf Lebenszeit ansässig und gingen dort i. d. R. erst durch Tod ab. Für die Genese von Rollenhandeln bleibt dieses Beispiel des bis ins Mittelalter zurückreichenden Frankfurter Bürgermeisteramts gleichwohl interessant, weil hier eine Distanzierung der Position gleich von zwei der drei generativen Universalien, von Aszendenz und Tod, erreicht worden war.57 Von besonderem Interesse für eine theoretische Durchdringung des Rollenhandelns sind einmal mehr die heutigen parlamentarischen Monarchien und die Institution des Papstes. Hier haben wir bis in die Gegenwart an prominenter Stelle,

56 Vgl. u. a. Stefan Hirschauer (2016). 57 Die Autorin hat der Geschichte des Frankfurter Patriziats umfangreiche Studien gewidmet; siehe v. a.: A. Hansert (2014), hier S. 596 f. ein kurzer Abriss zur alten Frankfurter Ratsverfassung.

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wenngleich machtpolitisch erheblich domestiziert, Positionen, die systematisch an einzelne Merkmale der generativen Universalien gebunden bleiben: bei den Monarchien Aszendenz und Tod, beim Papsttum (männliches) Geschlecht und Tod. Die Aszendenz, die Position des erstgeborenen Kindes in der Königsfamilie ‒ heute unabhängig vom Geschlecht ‒ prädestiniert das betreffende Individuum in den zeitgenössischen Monarchien nach wie vor von Geburt an bis zur späteren Einnahme des höchsten (repräsentativen) Amtes im Staat. Im Papsttum (und ihm institutionell nachfolgend alle Positionen im Priesteramt) hat man in der christlich-westlichen Welt analog nach wie vor eine Position oder eine „Rolle“, die aus dogmatischen Gründen (apostolische Sukzession) auch im Zeitalter des Gender-Mainstreaming rein Männern, die dazu noch zum Zölibat verpflichtet sind, vorbehalten ist. Die evangelischen Kirchen haben die Bindung ihres pastoralen Personals an den Mann aufgegeben und die Kategorie des Geschlechts damit neutralisiert. Wo der Pastorendienst in der evangelischen Kirche soziologisch gesprochen damit schlicht zu einer „Rolle“ ‒ ohne geschlechtliches Attribut ‒ geworden ist, bleiben die klerikalen Positionen in der katholischen Kirche wegen ihrer konsequenten Beschränkung auf die Männer bis heute daher originäre „Männerrollen“. Die Debatten, die aktuell besonders in Deutschland darum geführt werden, zeigen, wie sehr dies heute in weiten Kreisen der Öffentlichkeit als Skandalon empfunden wird. Zugleich haftet historisch am Papsttum (und ihm nachfolgend den Bischofsämtern) insofern aber auch eine gewisse konstitutionelle und hergebrachte „Modernität“, als es dank der Rekrutierung durch Wahl und Berufung (trotz historisch häufiger Einschränkung der Personalauswahl bei den Kandidaten aus bestimmten privilegierten Familien) seit jeher mit der dynastischen Erbfolge, der Aszendenz, prinzipiell gebrochen hatte. Das Zölibat spielte dabei in der ferneren mittelalterlichen Geschichte des Papsttums eine bedeutende Rolle. Neben der Sorge, das Heilige und das Sexuelle könnten sich durchmischen, sollte das Zölibat auch ganz entschieden alle Ambitionen, das Papsttum in eine Erbmonarchie zu überführen, unterbinden. Das Zölibat verhinderte wirksam die Etablierung des eventuell vorhandenen Sohnes eines Papstes. Uneheliche Papstsöhne, insbesondere zur Zeit der Renaissance, kamen für die Sukzession daher nicht infrage. Nur die Protektion engster Verwandter, insbesondere die des Neffen als Nachfolger (siehe die beiden Borgia-Päpste) oder anderer naher männlicher Seitenverwandter, war unter Umständen möglich. Auch ein Phänomen wie die fast zweihundert Jahre andauernde fünffache ununterbrochene Abfolge nachgeborener Söhne der Wittelsbacher auf dem Kölner Erzbischofsstuhl zwischen 1583 und 1761 oder die vielfache Platzierung von Abkömmlingen der Familie Schönborn in den Bistümern des alten deutschen Reichs zeigt den immensen Druck des Dynastischen, gegen den die mittelalterliche und frühneuzeitliche Kirche sich zeittypisch zu wehren hatte. Dennoch hielt das Zölibat formal stand, nie gab es in der Kirche eine legitime Vater-Sohn-Nachfolge; die historisch allgemein so ausgeprägte Macht der Aszendenz war und blieb in

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der Kirche früh und wirksam gebrochen. Die Kirche ist insofern ein verstörend widersprüchliches Gebilde, als sie durch die rollenhafte Brechung der Aszendenz schon denkbar früh quasi „modern“ war, während sie mit dem Festhalten an der Männerrolle bei den Ämtern der Kleriker auch heute noch „alt“ bleibt. Es ist die Institutionalisierung eines strukturellen Widerspruchs zu den jeweiligen Zeitläuften ‒ zu den historischen ebenso wie zu den gegenwärtigen. Letzteres, das Hineinragen des Alten ins Moderne-Gegenwärtige, zeigt sich auch in der bis heute existierenden Bindung der Amts- und Wirkungszeit an die Lebenszeit ‒ sowohl beim König als auch beim Papst. Der Tod, das dritte der generativen Universalien, ist hier noch immer nicht rollenhaft neutralisiert. Alter und Gebrechen, schließlich Sterben und Tod gehören zum Amt des Papstes wie man es zuletzt eindrücklich und medial wirksam noch 2005 bei Johannes Paul II. gesehen hatte. Ebenso hat Queen Elizabeth II. an ihrem Amt bis zum Tod 2022 im hohen Alter festgehalten und noch zwei Tage vor ihrem Ende eine neue Premierministerin ernannt; ihr Sohn, Charles III. konnte die Thronfolge erst antreten, als seine Geburtenkohorte sich längst im Pensionsalter befand. Aber auch wenn Papst Benedikt XVI. 2013 hier in der 2000-jährigen Geschichte des Papsttums erstmals, aber auch König Juan Carlos in Spanien und Königin Beatrix in den Niederlanden altersbedingt zu Lebzeiten ihr Amt übergeben haben, so bleibt auch dieser Akt immer noch an die persönliche Konstitution, den „body natural“ (Vorwegnahme des Todes durch Eintritt von Altersmüdigkeit oder Gebrechlichkeit), und an die Freiwilligkeit gebunden. Rundherum gilt in der modernen Gesellschaft sonst aber fast überall die personenunabhängig standardisierte Zeitbegrenzung der Tätigkeit: genau definierte Wahlperioden bei den politischen Ämtern, formal definiertes Pensionsalter bei Berufstätigen. An herausgehobener Stelle wird hier ein Rest von Verschmelzung von natürlichem und politischem Körper offenbar bewusst beibehalten, um der Kehrseite der Abstraktion und des Rollenhaften, nämlich dem Moment der Zweckhaftigkeit und der Entfremdung, die potenziell immer an der (Funktions-)Rolle hängen, entgegenzuwirken, oder aber auch um die Unabhängigkeit des Amtsinhabers und seiner Urteilskraft von einem Wahlvolk und dessen Stimmungen zu gewährleisten. Damit sind und bleiben diese beiden wichtigen Positionen ‒ Monarchie und Papsttum, man könnte aber auch z. B. Familienunternehmen, bei denen die Führung qua Erbe ja ebenfalls personengebunden ist, mit hinzunehmen ‒ zur Schärfung und Präzisierung des soziologischen Begriffs der Rolle zwei überaus interessante Fälle. In der historischen Genese des Rollenhandelns bestand zwischen „Männerrollen“ und „Frauenrollen“, d. h. zwischen den Rollen für die Männer und den Rollen für die Frauen, generell eine große Asymmetrie. Möglichkeiten zu rollenhaftem Handeln gab es, wie gezeigt, in der Vormoderne für Männer ungleich mehr als für Frauen. Männerrollen wie etwa die genannten Herrschaftspositionen waren allgemein viel weiter verbreitet und hatten in der Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens in

Exkurs zur historischen Genese des gesellschaftlichen Rollenhandelns

der Vormoderne ein viel größeres Gewicht als die analogen Rollen für die Frauen ‒ in den Führungspositionen der katholischen Kirche so bis heute eben schroff und unmittelbar gültig. Man könnte so weit gehen zu sagen, rollenhaftes Handeln oder das Einnehmen von Positionen, die partiell rollenhaft organisiert waren, war vor allem eine Domäne der Männer. Die Frauen blieben in ihrem Lebensvollzug hingegen viel mehr der Sphäre des familiären Binnenraums (oder waren dazu auch gezwungen) und verharrten damit in der unmittelbaren Reichweite der generativen Universalien. Sie konnten sich vor allem von den Bestimmungen durch ihre Herkunft (Aszendenz) und ihres Geschlechts wohl wegen der Ungleichheit ihrer Position in der Familie als Mutter rollenmäßig schwerer ablösen und distanzieren als die Männer. Die Männer waren historisch die Protagonisten der Abstraktion und des Rollenhandelns. Stärker als die Frauen führten sie die kulturelle Brechung des sozialen Lebens mit den Sogkräften herbei, die von den generativen Universalien, der Verwandtschaft und der Sphäre der Gattung ausgehen. Die letzte entscheidende Hürde in der historischen Herausbildung des abstrakten Rollenhandelns in der staatlich-politischen Sphäre bildete aber die Geschlechtergrenze. Strukturgeschichtlich sind die Jahre (in einzelnen Ländern auch Jahrzehnte) um 1918 hier eine ganz entscheidende Zäsur, als in der westlichen Welt fast überall die weitgehende formale Gleichberechtigung der Frau festgeschrieben und das aktive und passive Wahlrecht auch auf den weiblichen Teil der Staatsbürgerschaft ausgedehnt wurde. Die massiven politischen Egalisierungsbemühungen gegenüber dem Adel, die sich in jahrhundertelangen Reformbemühungen und immer wieder schubartig in teils blutig verlaufenen Revolutionen mit Hinrichtungen von Königen Ausdruck verschafften, wurden historisch jetzt abgelöst durch die Egalisierungsbemühungen gegenüber den Benachteiligungen durch Geschlechtszugehörigkeit. Anders gesprochen: Der historische Diskurs um politische und soziale Ungleichheiten qua Aszendenz, der Kampf gegen die Privilegien der adligen Geburt, wurde weitgehend ersetzt durch einen analogen Diskurs hinsichtlich des Geschlechts, also der Frauenfrage. Oder: Die Genderdebatte ist gesellschaftspolitisch die Nachfolgerin der bürgerlich-republikanischen Antiadelsdebatte von ehedem. Hinsichtlich der rollenhaften Ablösung der Positionen vom dritten generativen Universal, dem Alter und dem Tod, durch Standardisierung von Amtszeiten gab es keine vergleichbare Vehemenz und Breite der Debatte und der gesellschafts- und machtpolitischen Beschäftigung wie es bei der (adligen) Aszendenz und dem Geschlecht der Fall war. Grundlegende Elemente abstrakter Rollenhaftigkeit haben sich in weiten Teilen verantwortlichen, gesellschaftlichen Handelns als Norm mit universellem Anspruch historisch jedenfalls durchgesetzt und haben ihren formalen Ausdruck nicht zuletzt in der Formulierung der Menschenrechte gefunden. Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen hat so Verfassungsrang erlangt. Zugleich darf auch niemand wegen verschiedener Merkmale seiner Aszendenz rechtlich benachteiligt werden;

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die Menschenrechtscharta nennt als solche Rasse, Hautfarbe, Sprache, nationale oder soziale Herkunft, Geburt oder sonstigen Stand. Dementsprechend ist der historische Nachfolger des Erbkönigtums, nämlich die Institution oder das Amt des republikanischen Präsidenten, des Regierungschefs, des Ministers abstrakt, rein rollenhaft definiert. Jedem Mitglied der Staatbürgerschaft soll es unabhängig von seiner Herkunft und seinem Geschlecht prinzipiell möglich sein, es einzunehmen, und zwar einzunehmen auf Zeit. Die Rolle rein an sich kennt kein persönliches Privileg, wie es die Erbdynastien hatten. Sie zwingt das Privileg nieder! Im Idealfall rekrutiert sie den/die Tüchtigste/n unabhängig von den bislang exklusiv wirkenden Grundmerkmalen seines/ihres „natürlichen Körpers“. Wo zur Zeit der historischen Fürstenherrschaft selbst der regierungsunfähige König (der in Kapitel 3 erwähnte König Otto I. von Bayern) auf dem Thron sitzen und seine Lebens- und Amtszeit gegebenenfalls in seligem Dämmerschlaf zubringen konnte (weil andere in seinem Namen die Geschäfte erledigten), zwingt die Rolle des modernen Regierungschefs den Inhaber oder die Inhaberin dieses Amtes dazu, seine/ihre Qualitäten zu entfalten ‒ aktiv zu sein, sich zu bewähren. Es gibt zumindest formal kein (Geburts-)Privileg mehr, das den Inhaber oder die Inhaberin des Amtes a priori absichert. In den modernen postfeudalen Staaten (demokratischen ebenso wie diktatorischen) lässt sich beobachten, dass selbst Personen von kleinbürgerlicher Herkunft bis in höchste Ämter gelangen konnten: Bill Clinton und Barak Obama in den USA, Erich Honecker, Helmut Schmidt, Helmut Kohl oder Gerhard Schröder in Deutschland. Mit Margaret Thatcher und Angela Merkel und schließlich Kamala Harris kamen Persönlichkeiten an die Spitze, die die historisch doppelt bestehende Hürde der Herkunft und des Geschlechts (kleinbürgerlich bzw. mittelständisch oder migrantisch und Frau) zu überwinden vermochten. Gerade auch in der zweiten Reihe – in der Zusammensetzung von Regierungskabinetten und Parlamenten – lassen sich aus historischer Perspektive erhebliche rollenhaft definierte Nivellierungen der herkömmlichen Hürden Abstammungsverwandtschaft und Geschlecht konstatieren. Die Tendenz (wenn auch nicht immer die statistische Realität) ist egalitär. Die moderne Gesellschaft ist diejenige, die „undoing ancestry“, „undoing gender“ und „undoing old age/death“ betreibt, indem sie den Handlungsspielraum ihrer Akteure in Gestalt von „Rollen“ organisiert. „Gesellschaft“ steht so für die universalhistorische Tendenz, in ihrer Sphäre – jenseits der „Gattung“ – immer „größere gemeinsame Nenner“ herzustellen, wie es exemplarisch am Deutlichsten am Aufgehen der historisch exklusiven Rollen nur für Männer („Männerrollen“) und der Rollen nur für Frauen („Frauenrollen“) in der abstrakten Allgemeinheit der „Rolle pur“ zum Ausdruck kommt, jener Ausgestaltung von Rolle, die egalitär prinzipiell allen Geschlechtern offensteht.

Die Grenzenlosigkeit der Bühnenrolle

Kapitel 11 Die Grenzenlosigkeit der Bühnenrolle Die hier vorgeschlagene soziologische Deutung des Rollenhandelns wird erst voll verständlich, wenn sie noch einmal zu ihrem Ursprung im Theater zurückverfolgt und damit abgeglichen wird. Das Theater (und analog der Spielfilm) mit seinen Rollen ist ein künstlich und künstlerisch geschaffener Sonderraum in der empirischen Realität des gesellschaftlichen Lebens. Für ihn gilt, dass die Spannung zwischen den generativen Universalien und den gesellschaftlichen Rollen, die in der Realität des Alltags unauflösbar ist, symbolisch überwunden wird. Wo das Handeln im Alltag und in der Empirie an jene Grenzen kommt, ist in der darstellenden Kunst alles möglich. Das ist die entscheidende Differenz zwischen der Bühnenrolle in der fiktiven Welt des Theaters und der Rolle in der Alltagsrealität der Gesellschaft – eine Differenz, die in den gängigen soziologischen Theorien des Rollenhandelns bislang nicht konsequent genug beachtet worden ist und die im deutschsprachigen Titel von Erving Goffmans berühmtem Buch „Wir alle spielen Theater“ übergangen wird. Theater und Film entziehen sich der Spannung zwischen generativen Universalien und Rollen durch einen einfachen Kunstgriff. Er besteht schlicht und einfach in einer Verdoppelung des Rollenhandelns. Wenn wir uns ins Theater (bzw. zum Spielfilm ins Kino oder vor den Fernseher) begeben, sehen wir die Akteure dort immer in zwei Rollen, die strukturell auf unterschiedlichen Ebenen anzusetzen sind, zugleich agieren: Einmal in ihrer Berufsrolle als Schauspieler und Schauspielerin. Darin sind sie von uns anderen, die wir ebenfalls in unserer je eigenen Berufsrolle tätig sind, kategorial nicht verschieden, sie gehen wie andere Leute auch als namentlich bekannte Personen ihrem Beruf nach. Dann aber sehen wir sie zum Zweiten in ihrer Bühnenrolle (bzw. ihrer Filmrolle) agieren. Und erst auf dieser Ebene, wenn die Schauspieler den Alltag verlassen, um in anderer Gestalt, in Gestalt einer „anderen Person“, eines „Charakters“, unter anderem Namen, den Bühnenraum betreten, kommt das voll zur Geltung, was die Bühnenrolle als Vorbild für das Konzept der Rolle in der Soziologie ursprünglich so attraktiv gemacht hat, nämlich: die Austauschbarkeit der Person – hier der Person des namentlich bekannten Schauspielers – durch einen anderen Schauspieler bei Identität der Bühnen-Person (der des Hamlet z. B.). Das ist das entscheidende Moment, anhand dessen die Theatermetapher für die Deutung des sozialen Lebens so interessant geworden war. Dann aber kommt die entscheidende Differenz. Im Theater reicht die Austauschbarkeit bis in Bereiche, die sich im Alltag dagegen sperren. Beim Theater nämlich können die generativen Universalien in der Tat vollkommen in Rollen ‒ in Bühnenrollen! ‒ aufgelöst werden. In diesem künstlerischen Sonderraum können jene basalen Grenzen der Individualentwicklung, die mit dem Konzept der generativen

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Universalien definiert sind, die Aszendenz, die Deszendenz, die Geschlechterpolarität und der Tod, virtuell überwunden werden. In den Bühnenrollen werden die Eltern, also die Aszendenz, vollkommen austauschbar. Wenn ich als Schauspieler heute die Rolle des Hamlet spiele, sind der König von Dänemark und seine Frau Gertrud meine Eltern, nehme ich morgen die Rolle des Don Carlos an, wird hingegen der spanische König, Philipp II., mein Vater. Das lässt sich auch aus umgekehrter Perspektive sagen: Einmal spiele ich den König von Dänemark, dann ist Hamlet mein (Bühnen-)Sohn, das andere Mal Philipp II., dann habe ich Don Carlos zum Sohn. – Besonders die historische Bühnenpraxis machte quasi unfreiwillig und unbeabsichtigt deutlich, wie das Theater in der Lage ist, auch die Geschlechterpolarität vollkommen zu überwinden: Da im elisabethanischen Shakespeare-Theater Frauen zum Schauspielberuf nicht zugelassen waren, der Beruf des Schauspielers als solcher in der Realität also noch eine originäre „Männerrolle“ im oben genannten Sinne war, war die zwangsläufige Folge, dass weibliche Bühnenrollen von Männern gespielt werden mussten (und durften) – dies auch vor dem Hintergrund, dass man die Frau damals weniger in ihrer geschlechtlichen Eigenständigkeit erkannte (Zweigeschlechtsmodell), in ihr vielmehr eine niedrige und unvollkommen gebliebene Entwicklungsstufe des Menschlichen sah (Eingeschlechtmodell).58 Ophelia und ihresgleichen wurde von einem Mann verkörpert. Goethe traf auf diese künstlerische Form des Geschlechtertauschs noch im römischen Theater des späten 18. Jahrhunderts, in dem der Schauspielerberuf ebenfalls noch eine „Männerrolle“ war59 , und zeigte sich fasziniert von der „selbstbewussten Illusion“ des Femininen, die die Darstellung durch einen darin geübten männlichen Schauspieler hervorbrachte und die ihn „manche Unvollkommenheit in der Ausführung des Ganzen“ übersehen ließ. In Japan wiederum gibt es eine entsprechende Tradition, die ebenfalls bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht, im Gegensatz zu Europa aber kontinuierlich bis heute besteht und praktiziert wird: Im Kabuki-Theater (und -Film) wurden und werden die weiblichen Rollen in kunstvoller Stilisierung von Männern gespielt. Die Darsteller werden Onnagata (weibliche Form oder weibliche Person) genannt; häufig entstammen sie alten Schauspielerfamilien, in denen diese Tradition weitergegeben wird. All dieses ist die Kunst der „Maske“, gelungene „Performanz“, die es wie gesehen auch im Alltag gibt, die im Theater aber künstlerisch kontrolliert und virtuos gesteigert ist. Häufiger aber ist gerade im Shakespeare-Theater der Geschlechtertausch innerhalb der Bühnenrolle selbst vorgesehen: Portia, die sich verkleidend die Gestalt Balthasar annimmt (im Kaufmann von Venedig), Viola, die zu Cesario wird (in: Was ihr

58 Schabert (1998). 59 Johann Wolfgang von Goethe (1982).

Die Grenzenlosigkeit der Bühnenrolle

wollt); d. h.: Im historischen Shakespeare-Theater spielte ein männlicher Schauspieler eine Frau, die sich als Mann verkleidet. Zweifacher Wechsel des Geschlechts. Als die Frauen für den Schauspielberuf dann zugelassen, der Schauspielberuf wie andere Berufe auch aufgehört hatte, nur eine „Männerrolle“ zu sein, war es üblich geworden, dass die Männerrollen auf der Bühne von Männern, die Frauenrollen auf der Bühne von Frauen gespielt wurden. Umso interessanter sind Experimente, bei denen die Bühnenrollen (respektive Filmrollen) auch heute noch mit gegengeschlechtlichen Schauspielern/Schauspielerinnen besetzt sind. Heute lassen sich Theateraufführungen von Shakespeare-Stücken sehen, in denen sämtliche Rollen, auch die männlichen, nur von weiblichen Schauspielern, also von Schauspielerinnen, gegeben werden. Künstlerisch bemerkenswert ist die filmische Darstellung König Friedrichs II. von Preußen durch zwei Frauen („Friedrich ‒ Ein deutscher König“, 2011): Anna Thalbach, die Friedrich in seinen jungen Jahren darstellt, und ihre eigene reale Mutter, Katharina Thalbach, die im gleichen Film Friedrich als alten Mann verkörpert. Hätte der historische Friedrich Kinder gehabt, wäre eine Frau, eine weibliche Schauspielerin hier in die „Vaterrolle“ eingerückt. Tatsächlich ist es im Theater möglich und sinnvoll, von der „Vaterrolle“ bzw. der „Mutterrolle“ zu sprechen, die es aus den oben genannten Gründen in der empirischen Realität eigentlich nicht gibt, auch wenn im Alltag ganz selbstverständlich davon gesprochen wird. Dank der Unbegrenztheit des Rollenhandelns ist es hier in der Tat möglich, dass Männer, männliche Schauspieler, die Mutterrolle einnehmen, und weibliche Schauspielerinnen die Vaterrolle. Wiederum zeigte es das historische Shakespeare-Theater mit seiner Beschränkung des Schauspielberufs auf die Männer: Hamlets Mutter, Gertrud, wurde von einem Mann gespielt. Damit setzt das Theater die an früherer Stelle hier gemachte Kernaussage, der zufolge jedes Individuum von einer der beiden geschlechtlich gegeben Möglichkeiten, an der Fortpflanzung teilzuhaben, universell ausgeschlossen sei, symbolisch und virtuell außer Kraft: Im Theater kann ein Leo, ein männlicher Schauspieler, indem er sich auf die Bühne begibt und sich dort in eine Frau verwandelt, zu einer Maggie werden. Und schließlich: Vielen Bühnenfiguren ist von ihrem Autor ein Abgang durch Tod in ihre Vita geschrieben worden, so dem Hamlet und den anderen Angehörigen seiner Familie und seines Umfelds. Immer aber stehen die verstorbenen oder gemordeten Helden nach Ende des Stücks als reale Schauspieler und Schauspielerinnen wieder auf; als solche überleben sie im Lauf ihrer Berufskarriere den Tod hundertfach.60 Im virtuellen Sonderraum des Theaters und des Spielfilms ist in diesem Sinn alles möglich. 60 Eine besonders eindringliche und höchst originelle Variante vom beständigen Überleben des Bühnentods brachte im März 2015 Alvis Hermanis mit der Uraufführung seines Stücks „Die schönsten Sterbeszenen in der Geschichte der Oper“ in Zürich auf die Bühne: Sechs gebrechliche Bewohner

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Aber die Möglichkeiten des Theaters werden durch universale Entwicklungen, die außerhalb dieses Sonderraums in Gang sind, in gewisser Hinsicht auch tangiert. Nachdem der Schauspielberuf im historischen Vorfeld der allgemeinen rechtlichen Gleichstellung der Geschlechter aufgehört hatte, ein reiner Männerberuf zu sein, und die weiblichen Rollen – Ophelia, Gertrud, Portia etc. – nun von Frauen selbst gespielt wurden, Berufsrolle und Bühnenrolle geschlechtlich also zur Deckung kamen, erhöhte dies die Authentizität und brachte die Potenziale der darstellenden Kunst erst richtig zur Entfaltung. Im Film, der seit Ende des 19. Jahrhunderts entstand, waren Frauen als Darstellerinnen (Asta Nielsen) ohnehin von Anfang an präsent. Der im historischen Theater routinemäßig praktizierte Geschlechterübersprung wird damit, etwa in Gestalt der erwähnten Thalbach-Präsentation, zur Ausnahme und als solche zum spannenden künstlerischen Experiment. Das Theater – eine Institution aus der Sphäre der „Gesellschaft“ – schmiegt sich den Gegebenheiten der „Gattung“ an, die nun einmal aus zwei Geschlechtern (sowie vielen Variationen davon) besteht. Diese universale Entwicklung betrifft heute nicht nur das Geschlecht, sondern mitunter auch die körperlichen Merkmale der Aszendenz, der empirischen Abstammungsverwandtschaft der Akteure. Wie kann man heute noch den Othello, den „Mohr von Venedig“ spielen? Sollte diese Bühnenrolle bevorzugt von Akteuren, die der black community entstammen, eingenommen werden? Wenn aber doch Weiße sie übernehmen, wie kann die dramatische Situation des Othello durch abstrahierte Verfremdungseffekte so zur Geltung gebracht werden, dass jenes historisch praktizierte Blackfacing, das heute als rassistisch empfunden wird, vermieden wird?61 Wie weit muss die Bühnenrolle heute also der Apriori-Individualität – Geschlecht und Aszendenz –, die die natürliche Person des Schauspielers/der Schauspielerin konstituieren, ethisch-moralisch Rechnung tragen? Wie weit darf sie ihre spezifischen künstlerischen Möglichkeiten, auf der Bühne/im Film „ein anderer/eine andere“ zu sein, noch unbefangen ausreizen? Darf ein weißer Schauspieler im Sonderraum der Bühne/des Films also noch einen Schwarzen darstellen, ein männlicher Spieler eine Mutter, ein Heterosexueller (wie Tom Hanks, der es später widerrief, 1993 in dem Film „Philadelphia“) einen Homosexuellen? – Historisch hatten die weißen heterosexuellen männlichen Schauspieler monopolistisch schlechterdings alle Bühnenrollen okkupiert, da alle Nichtweißen, Nichtheterosexuellen sowie vor allem die Frauen wegen ihres Ausschlusses vom Schauspielberuf ihresgleichen nicht selbst darstellen konnten. Jetzt engt sich das künstlerische Spektrum jener

eines Altenheims treffen sich jeden Tag im Speisesaal, um Sterbeszenen aus ihren Lieblingsopern nachzuspielen. Ständiges Proben des Todes vor der großen Premiere und das auf der Bühne. 61 Siehe dazu: Darf der das? Christian Weise und Soeren Voima gelingt [am Berliner Gorki-Theater] ein böser „Othello“. Den Titelhelden spielt ein Weißer – ein Fremdkörper ist er trotzdem, in: Süddeutsche Zeitung, 25.2.2016.

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ehemals Privilegierten offenbar ein, während man den ehemals von der Bühnenpraxis ausgeschlossenen Gruppen das künstlerische Überschreiten ihrer natürlichen Apriori-Individualität eher zugesteht. Die Chancen, dass jene so originelle Darstellung Friedrichs des Großen durch Anna und Katharina Thalbach ihr Pendant in der filmischen Darstellung Maria Theresias durch einen männlichen Schauspieler findet, sind heute offenbar nicht sehr groß. Schroffe historische Asymmetrien im Schauspielberuf haben sich heute bis zu einem gewissen Grad umgedreht. Deuten sich hier Selbstbeschränkungen der darstellenden Kunst an (allgemeiner gefasst könnte auch man sagen: Selbstbeschränkungen in der Entfaltung von „Gesellschaft“ gegenüber jenen Verhakungen der Individuen in der Sphäre der „Gattung“), so manifestiert sie ihr Potenzial in anderer Hinsicht aber nach wie vor sehr eindrücklich, nämlich in der Möglichkeit, die Erscheinung einer konkreten anderen Person, etwa einer historisch-realen Person anzunehmen. Das gilt nicht nur für die meist etwas stilisiert konzipierten Königsrollen des Theaters ‒ Don Carlos, Philipp II., Richard III., Egmont etc. waren schließlich reale historische Figuren. Auch jenseits der Königsdramen werden, heute mehr im Film, allgemein bekannte historische Persönlichkeiten der Geschichte oder der Zeitgeschichte zum Gegenstand der Spielkunst gemacht: Ben Kingsley, der das Leben des Mahatma Gandhi zur Darstellung bringt, Bruno Ganz, der, in schauspielerisch brillanter Weise, Hitler in seinen letzten Tagen anschaulich werden lässt. Auch die Viten großer Künstler sind häufig verfilmt worden: vielfach das Leben des Vincent van Gogh; Armin Müller-Stahl, der Thomas Mann verkörpert, etc. Filmisch bearbeitet werden aber auch weniger berühmte historisch real gewesene Menschen, die ein besonders dramatisches Schicksal, das von allgemeinem Interesse ist, erfahren haben. So macht es die darstellende Kunst möglich, „ein ganz anderer“ zu werden und doch „Ich“ – ich, der Schauspieler N.N. – zu sein; ja, durch die künstlerische Verfremdung vielleicht sogar in einer gesteigerten Form wahrhaft „Ich“ zu sein und „Ich“ zu werden, wie es im Alltag, da sozial irgendwie unverträglich, gar nicht möglich wäre: Einmal „Käfer sein“, wenn man Kafkas Verwandlung verfilmt. Hier wird deutlich, was das Rollenhandeln auf der Bühne und im Film dank ihrer Verdoppelung in Berufs- und Bühnen- bzw. Filmrolle gegenüber der nüchternen Realität des Alltags, in dem Rollenhandeln nur in einfacher Weise (nur in der Berufsrolle etc.) stattfindet, alles vermag. Das macht den Unterschied aus. Indem das Rollenhandeln im Theater uns das Ausschweifen in die Unendlichkeit des Virtuellen ermöglicht, zeigt es uns zugleich die unüberwindbare Begrenztheit des Rollenhandelns an den generativen Universalien im Realen und Empirischen auf. Unter der hier vorwiegend interessierenden Perspektive ‒ den Möglichkeiten und Grenzen der Austauschbarkeit der Person in der Rolle ‒ stimmt es eben nicht, was der deutschsprachige Titel von Erving Goffman suggeriert: Wir spielen nicht alle Theater (bzw. Film). Ben Kingsley, Bruno Ganz, die Thalbachs und ihre Kollegen tun es. Wir andere hingegen „spielen“ Professor, Klempner, kaufmännischer

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Angestellter, Lehrer oder Lehrerin, Sekretärin etc., wir nehmen (Berufs-)Rollen und andere Funktionsrollen wie diese ein. Wir können aber nicht „Sohn/Tochter anderer Eltern“ „spielen“ und rollenhaft auch irgendwelcher anderer Leute Kind sein; wir können im generativen Geschehen als Elternteil real nicht rollenhaft von der Vaterschaft zur Mutterschaft (von „Leo“ zu „Maggie“) wechseln oder umgekehrt; und wenn uns der irdische Tod ereilt hat, ist das Leben hienieden nun einmal definitiv zu Ende, was auch immer an jenseitigen Auferstehungshoffnungen damit verbunden sein mag. Wenn wir (von den Phantasiespielen der Kinder abgesehen) im realen Leben aber eine andere Person „spielen“ und in perfekter Maskerade in den Augen der anderen durch Namens- und Gestaltänderung eine andere Identität annehmen, tun wir das als Undercoveragent, als Spion, als Heiratsschwindler, als getarnter Flüchtling, weil gesuchter Straftäter, als Transsexuelle mit perfektem Passing, in Form eines Karnevalsscherzes etc., oder als Universitätsrektor Hans Schwerte, von dem niemand weiß, dass er in Wahrheit der ehemalige NS-Funktionär Hans Schneider ist. Doch dieses Spiel funktioniert nur unter der Bedingung, dass es „den anderen“, die für die basale Konstitution sowohl der Sozialwelt wie für die Biographie des Individuums so eminent von Bedeutung sind, nicht als solches erkennbar ist und ihnen nicht, wie im Theater, als Spiel offen zutage liegt und damit von vornherein durchschaubar ist. Das ist hinsichtlich des performativen Aspekts des Rollenhandelns, hinsichtlich der „Maske“, der Unterschied zwischen Theater und Tarnung, zwischen künstlerischer Wahrheit und realer Täuschung.

Kapitel 12 Gegenwart des Rollenhandelns Wenn in Kapitel 10 gesagt wurde, in der historischen Entwicklung von „Gesellschaft“ habe es eine Asymmetrie zwischen Männerrollen und Frauenrollen gegeben, die sich in der Tendenz in dem Maße auflöste, wie es zur Herausbildung von Rollen schlechthin gekommen ist, zu Rollen, die für Männer und Frauen gleichermaßen zugänglich sind oder zumindest sein sollen, so entspricht dieser Bewegung auch eine historische Expansion des Rollenhandelns in die Breite der Bevölkerung und in die Breite des gesellschaftlichen Alltagshandelns hinein. In der Geschichte lebte der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung in agrarischen Verhältnissen, die rollenmäßig wenig strukturiert waren. In die bäuerliche Lebenswelt war man hineingeboren, vollzog ihre Existenzbedingungen so wie es die Vorfahren schon getan hatten und gab es so an die eigenen Nachkommen weiter. Dieser Herkunft, den kulturellen Bedingungen der Aszendenz, war nur schwer zu entkommen. Mehr Dynamik bot seit jeher die Stadt, die in der frühen Geschichte allerdings nur einen kleineren Teil der Gesamtbevölkerung eines Landes in sich barg. Separierung von

Gegenwart des Rollenhandelns

der (äußeren) Natur („von der Scholle“), die Herausbildung und Herstellung anonymer Marktbeziehungen, dadurch Mobilität und Arbeitsteilung, Spezialisierung, Vielfalt der Lebensoptionen, Produktion von Überschuss über die Lebensnotdurft hinaus, daraus folgend differenziertere Formen der Religiosität und das Erblühen der „Kultur“ sind Phänomene, die sich entscheidend in der Stadt und ihrem Bürgertum herauskristallisieren. All das beförderte die Tendenz zu rollenhaftem Handeln. Die moderne Gesellschaft ist im Wesentlichen eine Hervorbringung der Stadt, und was die Stadt in dem hier interessierenden Zusammenhang so hervorgebracht hat, hat sich generalisiert: das Rollenhandeln. Neben den im Allgemeinen rollenhaft organisierten Führungspositionen („the president“ etc.) sind es heute in erster Linie die denkbar vielfältig differenzierten, rollenhaft definierten Berufspositionen, an denen die Leistungs- und Funktionsfähigkeit der modernen komplexen Gesellschaft hängt. Andere Positionen wie z. B. Ehrenämter in gemeinnützigen Institutionen erfüllen unter Umständen ebenso die Regeln rollenhaften Handelns. Die Gesellschaft stellt die komplexe Organisation all dieser mannigfachen rollenhaft definierten Positionen dar. Indem die Menschen innerhalb der Gesellschaft handeln und agieren, tun sie das auf der Basis solcher Rollen, von denen sie im Ablauf ihres Alltags in der Regel mehrere wahrnehmen: Berufspositionen, Kollegenkontakte, Ämter, Vertrags- und Marktbeziehungen, Verkehrsteilnehmer etc. Während insbesondere Marktbeziehungen anonym und teils nur punktuell und flüchtig sind (die Rolle des Käufers und Verkäufers im Supermarkt), teils aber auch langfristig und folgenreich wie die zwischen Schuldner und Gläubiger (Hauskäufer und Kreditgeber), ist es in der modernen Gesellschaft in erster Linie die Berufsrolle, der eine besondere Stellung zukommt, da sie von geradezu schicksalhafter und biographischer Bedeutung für das Individuum ist. Der Beruf steht für einen Lebensentwurf. Dreißig bis vierzig Jahre ihres Lebens verbringen die Menschen in den industriell entwickelten Gesellschaften durchschnittlich im Beruf. Biographisch davor stehen Geburt, Kindheit, Jugend und Ausbildung – eine lange Phase des Wachstums und der Reifung, die gerade bei akademischer Schulung bis zum 25. oder einem noch höheren Lebensjahr dauert. Der Eintritt ins Berufsleben ist i. d. R. klar und formell markiert, da (angestellte) berufliche Tätigkeit, ob dauerhaft oder befristet, meistens auf Basis eines Vertrags stattfindet. Das berufliche Rollenhandeln geschieht im Rahmen einer expliziten Vertragsbeziehung mit einem Unternehmen, einer (staatlichen) Institution oder mit Geschäftspartnern. Vertraglich geregelt werden die Definition der zu erbringenden beruflich-spezialisierten Leistung (Stellenbzw. Arbeitsplatzbeschreibungen, Werkleistung, Dienstleistung, Produktdefinition etc.), bei Festanstellung die zeitlichen Verpflichtungen der Anwesenheit oder Onlinepräsenz sowohl bezüglich der täglichen Stundenzahl als auch der jährlich zu absolvierenden Arbeitstage bis hin zur Fixierung der Lebensarbeitszeit, die wie erwähnt i. d. R. an ein standardisiertes Lebensalter, das Renten- oder Pensionsalter

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gebunden ist; entscheidender Vertragsbestandteil ist die Höhe der Entlohnung oder Honorierung und anderes mehr. Das Berufsleben ist im durchschnittlichen Lebensvollzug des Individuums in der modernen Gesellschaft diejenige Sphäre, in der es am intensivsten, längsten und folgenreichsten zu rollenhaftem Handeln angehalten ist. Im Durchschnitt sind die Menschen (in Deutschland) ca. 64 Jahre alt, wenn sie aus dem Beruf wieder ausscheiden und ihren Arbeitsplatz, ihre Berufsrolle, an ihre Nachfolger und Nachfolgerinnen übergeben – von ihnen ersetzt und durch sie „ausgetauscht“ werden. Die Berufsrolle selbst und an sich, die sie eingenommen und ausgeübt hatten, der „Arbeitsplatz“, bleibt also bestehen, ein anderes Individuum übernimmt ihn und übt die Rolle künftig aus. Auch die Beendigung des Berufslebens wird formal meist durch reguläre Pensionierung oder die wie auch immer geartete Beendigung einer vertraglich geregelten Beziehung markiert. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Lebensabends sind entscheidend abhängig von zuvor im Beruf erwirtschafteten und erworbenen finanziellen Ansprüchen. Nach dem altersbedingten Ausscheiden aus dem Berufsleben bleiben den Menschen heute durchschnittlich noch etwa zwei Dekaden des Alterns bis sie schließlich sterben. Weniger als die Hälfte des durchschnittlichen individuellen Lebenslaufs zwischen Geburt und Tod ist in der modernen Gesellschaft somit dem Beruf, und damit der Hauptsphäre rollenhaften Handelns, gewidmet; entsprechend ist es mehr als die Hälfte der Lebenszeit, die auf Kindheit, Jugend und Alter entfällt, in der man nicht (oder allenfalls gemindert) wirtschaftlich produktiv und die wenig oder gar nicht rollenhaft strukturiert ist. Dauerhaft und zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens jedoch sind die Menschen Mitglied ihrer eigenen Familie (mindestens der Herkunftsfamilie) und Mitglied in der universalen Menschenfamilie. Zu jedem Zeitpunkt ihres Lebens, ob produktiv oder nicht produktiv, sind sie „Gattungswesen“. Interessant aber ist das durch vertragliche Beziehungen geregelte berufliche Engagement in der Lebensmitte insofern, als es sich dabei um jene Lebensphase handelt, in der die Menschen normalerweise am effektivsten ihren individuellen Beitrag zum wirtschaftlichen Wohlergehen der Allgemeinheit, zur aktiven Strukturierung der Gesellschaft und zur Entfaltung und Weiterentfaltung der Kultur leisten. Typischerweise im Beruf, in der Ausübung der unabhängig vom Einzelnen bestehenden Berufsrolle und der Anwendung der unmittelbar daran hängenden professionellen Macht-, Gestaltungs- und Einflussmittel werden sie zu den maßgeblichen und mit dem Ablauf der Generationen ständig wechselnden „Kulturträgern“ im Sinne von Karl Mannheim. Die Berufsrolle ist dasjenige vorab bestehende Handlungsfeld, das es dem Einzelnen überhaupt erst ermöglicht, in diesem Sinn Kulturträger zu sein. Ohne das in der Rolle historisch kumulierte Spezial- und Erfahrungswissen – das ist insbesondere das berufliche Fachwissen, das der Einzelne durch Ausbildung und berufliche Sozialisation zu erwerben hat – wäre ihm effektive Kulturträgerschaft für die Dauer seiner Generation gar nicht möglich. Doch für Mannheim kommen die einzelnen Menschen, die so zu Kulturträgern herangewachsen sind, ähnlich

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wie in den gängigen soziologischen Rollentheorien zumal der Dahrendorf ’schen von einer Tabula rasa. Das ist analog das Manko von Mannheims Konzeption. Die Rekrutierung für die mannigfachen Berufsrollen hängt (von wenigen Ausnahmen abgesehen wie etwa dem Chef eines ererbten Familienunternehmens – wo es heute aber nur höchst selten noch längere Generationenabfolgen gibt – oder den Thronfolgern in den modernen Monarchien) nicht mehr länger unmittelbar an der Herkunft, der Aszendenz, und im Prinzip auch nicht mehr am Geschlecht, sondern in erster Linie an einer entsprechenden Schulung und fachlich spezifizierten Ausbildung, die durch formelle Bildungspatente bestätigt werden. Das Bildungspatent ist in der Praxis wichtiger als die Herkunft oder das Geschlecht. Es hat die Kraft, die Wirkung dieser beiden generativen Universalien bis zu einem gewissen Grad zu neutralisieren und zum entscheidenden Ausgangs- und Legitimationspunkt für die Einnahme einer bestimmten Berufsrolle zu werden. Die moderne Gesellschaft hat, wie erwähnt, die Verhakungen des Individuums in der Sphäre der Gattung, als die Aszendenz und Geschlecht sich erweisen, gelockert. Es sind just Bildung, Ausbildung und berufliche Sozialisation, wodurch sie in der Frühzeit und Jugend der einzelmenschlichen Biographie solche Lockerung bewirkt; Bildung und Sozialisation haben die Wirkung eines individuellen Puffers, mit dem den Wirkungen und Bestimmungen der Gattung die Spitze gebrochen wird. Es war aber auch die Rede davon, dass diese Verhakungen nie zur Gänze aufhören; sie bleiben daher auch im Erscheinungsbild der Gesellschaft noch sichtbar. Noch immer sind bei den Millionen von Individuen, die die Menge und die Vielfalt der Berufsrollen und anderer Rollen in der Gesellschaft exekutieren, Männer und Frauen vielfach anders verteilt als es ihrem (relativ ausgeglichenen) Verhältnis in der Gattung (der Bevölkerung) entspricht. Frauen kommen auf ihrem biographischen Weg von der Gattung (der Herkunftsfamilie) nach wie vor vielfach anders oder an anderen Stellen in der Sphäre der Gesellschaft an als die Männer. Mit dieser Frage wird sich Kapitel 17 noch vertiefend befassen. Aber auch was die Aszendenz betrifft, die Wirkung der Familiengeschichte, vor allem also der Abstammungsverwandtschaft, so sind ihre Spuren auch in einer egalitären Gesellschaft, die nicht mehr nach dem Modell der Geburtsstände funktioniert, in verschiedener Hinsicht noch immer erkennbar. Dazu mehr in Kapitel 16. In jener Pufferzone, die die Phasen von Bildung, Ausbildung und beruflicher Sozialisation im biographischen Verlauf markieren, fallen Entscheidungen wie die Auswahl von Bildungseinrichtungen, vor allem aber und für das Leben des Einzelnen besonders folgenreich: die Berufswahl; und es sind just diese biographischen Entscheidungen, die von teils subtilen psychologischen, teils von kulturellen und von sozialen Valenzen der Aszendenz, dem Milieu der Herkunftsfamilie, und von der komplexen Positionierung des Geschlechts nicht unbeeinflusst sind. Diesen Wirkungen, die von den generativen Universalien ausgehen, arbeitet die „Gesellschaft“ wohl egalitär modellierend entge-

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gen. Doch „Gesellschaft“ entkommt der „Gattung“ nicht – „Gattung“ freilich auch nicht der „Gesellschaft“, wenn diese historisch einmal in Erscheinung getreten ist. In der modernen Gesellschaft gibt es einen Bereich, der für die theoretische Konzeption des Verhältnisses von Gattung und Gesellschaft von einem gewissen indikatorischen Interesse ist: Das ist der Leistungssport. Der Sport, hier vor allem der professionell betriebene Spitzensport, ist eine Tätigkeit, die einerseits naturgemäß sehr stark an den Körper des Individuums gebunden ist, und zwar stärker als sonst die allermeisten anderen Berufe in der modernen Gesellschaft, andererseits ist der Sport ein Phänomen der Moderne, etwas historisch Erzeugtes, das erst entsteht, wenn die Menschen generell von schwerer körperlicher Arbeit im Allgemeinen entlastet sind und sich aus kulturellen Gründen das Verhältnis zum Körper und der Körperkultur generell verändert, nämlich sublimiert hat. Hinzu kommt, dass bestimmte Kulturen den Sport über institutionelle und kommerzielle Instrumente generell oder in bestimmten Sparten stärker und unterschiedlich fördern als andere Kulturen, die westlich-säkulare zunächst mehr als etwa die mittelöstlich-arabische (was sich zuletzt aber anzugleichen beginnt). Europa und Südamerika begünstigen kulturell den Fußball, während in den USA American Football und Baseball die Hauptattraktionen darstellen. Alpine und nördliche Länder pflegen Wintersportarten naturgemäß mehr als mediterrane. Allein vom Körper hängen sportliche Aktivitäten und sportliche Karrieren also gewiss nicht ab, sondern entscheidend von solchen Umgebungsbedingungen, kulturellen Einstellungen sowie institutionell und kommerziell basierten Trainingsmöglichkeiten. Dem Körper aber ist im Sport nicht zu entkommen. Nach körperlicher Leistungsfähigkeit unterscheiden sich Männer und Frauen praktisch in allen Arten des Sports und insbesondere des Spitzensports – außer bezeichnenderweise dem Schach, der bislang zwar eine klare Männerdomäne ist, bei dem aber auch Frauen im Wettkampf direkt gegen Männer antreten (siehe Judit Polgár) und um den Titel eines Großmeisters ringen. Keine Frau aber wird den (bislang) schnellsten Mann unter Wettkampfbedingungen in einem Hundertmetersprint, Usain Bolt, einholen, und bei keiner Weltmeisterschaft würde es einen Sinn ergeben, Männer- und Frauenmannschaften gegeneinander antreten zu lassen. In den Sportwettkämpfen werden die Geschlechter daher, wie sonst kaum mehr irgendwo in der Berufswelt, aus prinzipiellen Gründen von vornherein getrennt. Nimmt man die verschiedenen Positionen innerhalb eines Fußballteams (Torwart, Verteidiger, Stürmer etc.) kategorial als Rollen, für die jeweils der oder die Beste unter den Teilnehmenden und Aspiranten nominiert werden, so zeigt sich, dass im Sport wegen der Körperbindung konsequent zwischen „Männerrollen“ und „Frauenrollen“ im hier entwickelten Sinne unterschieden werden muss. Die geschlechtsneutralisierende Wirkung des Rollenhandelns ist hier vollkommen außer Kraft gesetzt. Für den Fußball ließe sich bislang z. B. konstatieren, dass der Männerfußball und damit die Männerrollen ungleich besser dotiert sind, sehr viel größere mediale Aufmerk-

Gegenwart des Rollenhandelns

samkeit erregen und mehr Ruhm verheißen als die funktional analogen Rollen im Frauenfußball, und insofern ist hier eine strukturelle Ungleichheit zwischen Männersportrollen und Frauensportrollen nach wie vor signifikant gegeben. Motorund Radsport sind fast ausschließlich Männerdomänen. Bei der Leichtathletik, dem Schwimmen, dem Tennis, überhaupt bei den meisten olympischen Sportarten, gerade auch dem Wintersport ist das Verhältnis bei der Bewertung der Männerund Frauenleistungen ausgeglichener. Doch sind dieses eben nur unterschiedliche Gewichtungen zwischen einzelnen Männer- und Frauensportarten. Generell bleibt es bei einer strikten Separierung der Geschlechter im Sport unter Wettkampfbedingungen, und insofern hat man es hier in der Moderne an prominenter Stelle mir originären Geschlechterrollen zu tun: Die Austauschbarkeit des Personals kann letztlich nur entlang der Geschlechtergrenze geschehen, nicht, wie in den oben genannten Berufsfeldern, über diese Grenze hinweg. Allerdings gibt es im Zuge der Neudefinition von Geschlecht mit einer Akzentverlagerung von „Geschlecht“ hin zu „Gender“ und „Geschlechtsidentität“ und der damit verbundenen theoretischen Marginalisierung des Körpers Tendenzen, die Geschlechtergrenze auch im Sport aufzuweichen. Personen männlichen Geburtsgeschlechts („Leo’s“), beanspruchen als transsexuelle Frauen, darunter selbst solche, die sich weder einer Hormonbehandlung noch einer geschlechtsangleichenden Operation unterzogen haben, an Frauenwettkämpfen teilzunehmen. Unterdessen sind eine Reihe von Wettbewerben dokumentiert, in denen sie regelmäßig die ersten Plätze belegen, wodurch tendenziell eine zerstörerische Wirkung auf den Frauensport ausgeht.62 Die Asymmetrie der Geschlechter wird hier überdeutlich: Kein Transmann hätte eine Chance, im Spitzensport der Männer zu bestehen. Während die starke Körperbasierung in der Ausübung des Sports beim Geschlecht sich trennend auswirkt, entfaltet sie gegenüber den kulturellen Bindungen, Privilegierungen und ständischen Potenzialen, die im Allgemeinen von der Aszendenz ausgehen, eine eminent egalisierende Kraft. Soziale Besitzstände, Vermögen vor allem, die im Zuge des Generationswechsels innerfamiliär durch Erbe weitergegeben, auf die Nachkommen übertragen werden und diese sonst überall von vornherein in eine günstige Startposition bringen, auch privilegierte Bildungsmilieus spielen beim Leistungssport keine oder kaum eine Rolle (von bestimmten Sportarten, die wie etwa dem Golf oder dem Pferdesport, die generell mehr innerhalb der gesellschaftlichen Elite gepflegt werden, vielleicht abgesehen). Unterschichtkinder oder Kinder aus sonst oft benachteiligten Einwanderermilieus haben bei entsprechendem Talent hier echte Chancen, entdeckt und gefördert zu werden und damit gegebenenfalls bis in die Spitzen des Leistungssports aufzusteigen mit allen Folgen

62 Dazu interessante Daten bei Kathleen Stock (2022), S. 106–112.

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für ihr Einkommen, ihr gesellschaftliches Ansehen und die mediale Aufmerksamkeit. Insbesondere der Fußball als der weltweit bedeutendste Massensport entfaltet immer wieder eine geradezu radikal zu nennende Nivellierung gegenüber sozial benachteiligten Herkunftsbedingungen seines Personals; der überdurchschnittlich hohe Anteil junger Männer mit Migrationshintergrund in den Nationalmannschaften der europäischen Länder zeigt es deutlich (überdurchschnittlich im Vergleich zu deren Präsenz in anderen elitären Segmenten in der Gesellschaft, etwa im Bildungsbereich). Internationale Stars begannen, wie Tausende und Millionen anderer, die als Kinder davon träumten, als Straßenkicker in randständigen Milieus. Wie kaum sonst in einem Segment der Gesellschaft ‒ vielleicht noch in der Popkultur ‒ bietet der Sport auch bei einfacher und einfachster sozialer Herkunft (Aszendenz) die Möglichkeit, in die ersten Reihen aufzusteigen und in den Kreis der „oberen Zehntausend“ eines Landes zu stoßen. Der Sport bringt aufgrund seiner starken Körperaffinität das Problem der generativen Universalien in der modernen Gesellschaft somit auf eine merkwürdig widersprüchliche und zugleich in markanter Weise zur Geltung: egalisierend gegenüber den sozialen Wirkungen, die von der Aszendenz ausgehen, trennend und separierend beim Geschlecht. Zugespitzt für den hier verfolgten theoretischen Ansatz: Unter geschlechtlicher Perspektive kann „Gesellschaft“ sich im Bereich des Sports von der Sphäre und der personellen Zusammensetzung der „Gattung“ viel weniger trennen und verselbstständigen als in den meisten anderen Bereichen der Gesellschaft; bei der Aszendenz aber fegt die Gesellschaft in ihrer Äußerungsform des modernen Sports über alle Diversität und Unterschiedlichkeit, die naturgemäß von der Gattung ausgehen, forsch hinweg.

Kapitel 13 Gesellschaft ist das, was uns zwingt, frei zu sein – Zur Dialektik des Rollenhandelns Komplex ist das Spannungsverhältnis, das zwischen den generativen Universalien und den Rollen herrscht, auch dadurch, dass ebendiese Relation im historischen sowohl wie im biographischen Verlauf seine Gestalt verändert. Das Individuum hat seinen Ursprung in seiner Apriori-Individualität – der geschlechtlich konnotierten Aszendentenstelle –, womit auf Dauer seine Verhakung in der Sphäre der Gattung bestimmt ist. Und es entwickelt und entfaltet sich im Weiteren durch Beseelung und Sozialisation zu einer Persönlichkeit, die spätestens im Erwachsenenalter in der Lage ist oder sein sollte, die Anforderungen einfacher und komplexer Rollen in der Gesellschaft zu erfüllen. Entscheidend ist, dass diese Rollen und d. h. die Makroformation der Gesellschaft in all ihren weit diversifizierten, arbeitsteilig organisierten Funktionsbereichen historisch überhaupt vorhanden sind, wozu im Kern auch eine

Gesellschaft ist das, was uns zwingt, frei zu sein

stabile, rational funktionierte Staatlichkeit gehört. Denn es gibt auch einen Zustand, den man als „Zustand vor der Gesellschaft“ bezeichnen kann, und das in zweierlei Hinsicht. Zum einen historisch gesehen, wenn die Menschen mehr oder weniger im Naturzustand leben, wenn die Gesellschaft sich noch nicht oder nicht hinlänglich ausdifferenziert und etabliert hat, die Organisation des Zusammenlebens noch nicht jenen signifikanten Grad an Formalität, Abstraktion, Kälte und Rollenhaftigkeit erlangt hat, der für „Gesellschaft“ im vollgültigen Sinn entscheidend ist. Zum anderen ein „Zustand vor der Gesellschaft“ in biographischer Perspektive, nämlich die Existenz des Kindes und des Jugendlichen, die sich im („warmen“) Schutzraum der Familie (Gattung) befinden und vom Rollenhandeln in der Gesellschaft noch nicht hinlänglich erfasst worden sind – wobei hier anzumerken ist, dass ein Kind, das (historisch und sozial) unter der Reichweite der modernen Gesellschaft geboren wird, von Anfang an immer deren Luft atmet und es spielerisch sehr früh weiß, dass es eines Tages Rollen, Berufsrollen insbesondere, einnehmen wird und einzunehmen hat. In der Einleitung wurde konstatiert, die Gesellschaft entreiße den Einzelnen den Fängen und der Reichweite der Gattung, wie sie in Form der Familie, der Verwandtschaft, des Clans, des Stammes etc. praktisch gelebt und erfahren wird; sie zwinge ihn regelrecht dazu, aus dem Schutzraum dieses seines Herkunftsmilieus auszuwandern. Sie „zwinge“ ihn, so soll es hier entwickelt werden, in einem bestimmten Sinne, „frei“ zu werden, sprich: eine in sich widersprüchliche und ambivalente Bewegung zu vollziehen, denn Zwang und Freiheit gehen eigentlich nicht zusammen. Etwas von dem so in Gang gesetzten Entfremdungsprozess, der „Kälte“, der von dem Zwingen ausgeht, klingt auch in der Rollentheorie Dahrendorfs an, die hier noch einmal als Referenzpunkt genommen werden soll. Dahrendorf ging, wie gezeigt, von der Vorstellung aus, das Individuum sei in seinen Ursprüngen ein von aller Gesellschaftlichkeit unberührtes Wesen. Dementsprechend sprach er (in Abschnitt VI seines Homo Sociologicus63 ) von dem von „aller Gesellschaftlichkeit entkleideten Menschen“, von der „sozialen tabula rasa des rollenlosen Menschen“ oder auch von der „absoluten Individualität und Freiheit des Einzelnen“. Das wäre sozusagen der Zustand „vor der Gesellschaft“, oder auch „außerhalb“ der Gesellschaft. Dem stellte Dahrendorf auf der anderen Seite das Modell einer „aller Individualität baren Gesellschaft“ gegenüber; die Gesamtorganisation der personenunabhängig bestehenden Rollen würde Individualität also negieren. Der Prozess der Sozialisation würde dieses merkwürdig amorphe, aber zugleich völlig freie Wesen, als das er das Individuum charakterisiert, dann in die Rollen einführen. In diesem Prozess, in dem der Mensch zum homo sociologicus, zum Rollenträger

63 Ralf Dahrendorf (2006).

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wird, werde er „entfremdet“; er werde an die Tatsache der Gesellschaft „gekettet“, seine „absolute Individualität und Freiheit“ werde „in der Kontrolle und Allgemeinheit sozialer Rollen aufgehoben“; er sei den Gesetzen der Gesellschaft „schutzlos ausgeliefert“. Nur Robinson (Crusoe) könne hoffen, „seine entfremdete Wiedergeburt als homo sociologicus zu verhindern“. Dahrendorf entwirft damit eine recht starre Dichotomie von Freiheit und Unfreiheit: Frei bzw. eine „absolute Individualität“ sei der Mensch vor der Gesellschaft (das Kind, der historische Mensch) oder außerhalb der Gesellschaft (Robinson); in der Gesellschaft aber, wo ihn Kettung und Entfremdung erwarteten, verliere er, einmal zum homo sociologicus geworden, diese Freiheit und Individualität. Von der Ferne klingt hier deutlich die Legende von einem ursprünglichen, dann aber verlorenen Glück im Naturzustand an und es erinnert an die legendäre Formulierung Rousseaus, der zufolge der Mensch frei geboren sei, und überall in Ketten liege. Dahrendorf habe damit einem antigesellschaftlichen Affekt Nahrung gegeben, kritisierte nicht zu Unrecht etwa Helmuth Plessner.64 Auch in anderen Ansätzen wird der Zwangscharakter, das hegemoniale Moment, das der Gesellschaft anhafte, immer wieder herausgestellt. Max Weber sprach schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom Zwang zur kapitalistischen Berufsarbeit als einem „stahlharten Gehäuse“ und von der ausgebildeten Bürokratie als einem „Gehäuse der Hörigkeit“. Mag sein, dass solche Äußerungen auch ein Reflex auf die historische Ägide des Obrigkeitsstaates waren, unter der sie geschrieben wurden, so lassen sich „in der Gesellschaft“, und hier einmal mehr vor allem in der Sphäre des Berufs, solche Erfahrungen ganz alltäglich auch in der Gegenwart machen. Gerade dort, wo die Berufsrolle primär dem Erwerb, dem wirtschaftlichen Überleben dient, insbesondere in schlecht bezahlten unqualifizierten Hilfstätigkeiten, wo man gezwungen ist, in hierarchisierte angestellte Verhältnisse einzutreten, wird das Alltagsleben über weite Strecken fremdbestimmt. Der größte Teil der täglichen Wachzeit muss dem Beruf geopfert werden; man ist zur räumlichen Separierung von seiner Privatsphäre gezwungen; hat mit Menschen umzugehen, mit denen man weder verwandt noch vertraut noch befreundet ist. Aber auch der Leistungs- und Karrieredruck in höher qualifizierten Berufen, die Erfahrung, in vielen Vorgängen, die der Einzelne auszuführen hat, gegen bessere Einsicht fremden Vorgaben, anonymen Sachzwängen, rigiden Budgetierungen etc. folgen zu müssen, gerät dem Inhaber einer solchen Berufsposition häufig zu einer schweren Belastung, die ihn unter Umständen an seine Grenzen führt, in extremen Fällen sogar gesundheitlich ruiniert (proletarische Verelendung in der Frühphase der Industrialisierung, Burnout heute). Fast residual werden diesem monströsen Zugriff der Systeme der Wirtschaft, der Technik, der Staatsorganisation und heute verstärkt dem bis ins

64 Helmuth Plessner (1985), S. 239 f.

Gesellschaft ist das, was uns zwingt, frei zu sein

Privateste und ins Intime reichenden Zugriff der neuen Medien kleine Refugien vermeintlicher Selbstbestimmung abgetrotzt: in der sogenannten Freizeit (die durch die Kultur- und Freizeitindustrie heute aber selbst ein subtil vielfach ferngesteuertes Segment des Alltagslebens ist und die den Menschen unreflektiert in die Rolle eines Konsumenten presst). Und doch, mit dem Gegensatz von Zwang und Freiheit ist es eine schwierige Sache. Gegen einen Ansatz, wie ihn Dahrendorf entwickelt, lässt sich mit guten Gründen fragen: Kann es „ohne Gesellschaft“ Freiheit denn überhaupt geben? Ist es nicht gerade der homo sociologicus, an dem die Frage nach der Freiheit sich überhaupt erst entzündet? Freilich: In welchem Sinne sprechen wir hier dann von Freiheit? Denn es gibt verschiedene Formen von Freiheit – individuelle und kollektive. Nur im Zusammenhang mit erster, der Freiheit des Individuums – und auch die hatte Dahrendorf im Sinn – ergibt die Frage, ob es Freiheit ohne Gesellschaft, ohne den homo sociologicus überhaupt geben kann, einen Sinn, und nur auf sie, die individuelle Freiheit, ist die Sentenz, Gesellschaft sei das, was uns zwinge, frei zu sein, gemünzt. Kollektive Formen der Freiheit meint hingegen die Freiheit des Clans, des Stammes, unter Umständen die Freiheit von Ethnien oder von Völkern und Nationen als Ganzes – Freiheit solch kollektiver Gebilde vor Fremdbestimmung, nämlich der Fremdbestimmung durch eine fremde Kultur oder fremde Kulturformen, durch fremde Sozialtechniken, durch einen Hegemonial oder durch einen Kolonisator. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker gehört u. a. hierher. Historisch-real zuletzt ganz konkret erfahrbar im militärisch ausgetragenen Kampf der Ukraine um nationale Selbstbestimmung gegenüber dem imperialen Zugriff Russlands. Solche kollektiven Formen der Freiheit existieren sehr oft, wenn auch nicht immer und zwangsläufig, ohne dass sie den einzelnen Individuen selbst, aus denen sie sich zusammensetzen, hinlänglich persönliche Freiheit einräumen. Mit der historischen Herausbildung der „Gesellschaft“ ging es, wie wir gesehen haben, darum, die Macht und Anziehungskraft, die zum einen von der Aszendenz, also von der Herkunftsfamilie, dem Clan, dem Stamm etc. ausgehen, zum anderen die Bindekraft und die damit zumeist verbundene Benachteiligung, die vom Geschlecht – dem weiblichen Geschlecht – ausgehen, zu lockern; also das Individuum aus diesem Gravitationsfeld seiner individuellen Positionierungen in der Sphäre der „Gattung“ zu befreien und ihm Entfaltungsraum jenseits dieser Sphäre zu ermöglichen – und dieser Entfaltungsraum ist, bei allem immanent Zwanghaften, nun einmal „die Gesellschaft“, die Sphäre, also die vom homo sociologicus betrieben wird. Im Clan aber bliebe das Individuum in den starken Banden und Ehrgefühlen der Gruppe und ihren Binnenhierarchien (männlich–weiblich, alt–jung etc.) gefangen. Es ließe sich auch so sagen: In den Clanstrukturen wird das Individuum von den anderen für den Lauf seines Lebens weitgehend auf seine

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Apriori-Individualität festgelegt, während ihm „die Gesellschaft“ gegenüber diesem generell nicht aufhebbaren Apriori Bewegungsfreiheit verschafft. Und an dieser Stelle ist daher eine andere Sicht auf die Funktion, die den „Rollen“ in der Gesellschaft zukommt, aufzumachen, als Dahrendorf und viele andere Autoren es tun – eine Sicht, wenn auch nicht explizit gegen ihn, so doch seinen Gedanken eher ergänzend, ihn komplettierend, die Kehrseite mitreflektierend. Die Rollen (und die Gesellschaft) haben eben keineswegs einseitig nur den Effekt von Entfremdung, Zwang, Unfreiheit etc., sondern gegen die Sogkräfte der Gattung umgekehrt auch den von Entfaltung, der Ermöglichung von Freiheit und von Individuierung. Dabei geht es nicht nur negatorisch um eine „Freiheit von“ – Freiheit von den Fängen der Gattung, d. h. der Bevormundung durch Clan und Familie –, sondern auch positiv um „Freiheit für“, nämlich die Freiheit für die Erreichung bestimmter individueller Ziele. Das gilt vor allem für die berufliche Biographie, jedenfalls sofern es sich um mehr als um einen bloßen Job handelt, der ohne größere Ansprüche rein zur Subsistenzerhaltung dient. Eine komplexe Berufsrolle wie z. B. die des Arztes, bedeutet zunächst einmal Ermöglichung. In einer Rolle wie dieser verdichtet sich ein professioneller, wissenschaftlich gewonnener Erfahrungsschatz. Der Rolleninhaber, hier der Arzt, muss sich diesen unabhängig von seiner Person in der Profession bestehenden historisch gewachsenen Erfahrungsschatz durch akademisches Studium, lange methodische Ausbildung und durch fortgesetzte Berufspraxis aneignen. Die Heilkunst des Arztes besteht zum größten Teil in der Anwendung dieses allgemeinen Erfahrungsschatzes, der seiner Berufsrolle historisch eingeschrieben ist, darüber hinaus in seiner individuellen Fähigkeit, diesen Schatz fallbezogen angemessen einzusetzen. Es ist die Doppelung von persönlichem Talent, persönlicher Befähigung und persönlicher Erfahrung auf der einen, dem allgemeinen hochspezialisierten Erfahrungsschatz der Profession, der durch die Einnahme der Berufsrolle zum Ausdruck gelangt, auf der anderen Seite. Sie zusammenzubringen ist „ärztliche Kunst“. Sie kommt in der professionellen Übernahme der Rolle, der Rolle des Arztes, zur Entfaltung. Das Verhältnis von Rolle und Person lässt sich (in Abwandlung der Theatermetapher) auch begreifen wie das Verhältnis von vorliegender Partitur (oder Libretto) und musikalischem Interpreten. Die Partitur, die von einem Komponisten geschrieben wurde, wäre dabei das Pendant zur gesellschaftlichen Rolle. Sie gehaltvoll zum Erklingen zu bringen, bedarf für den Interpreten langwieriger (musikalischer) Ausbildung, konsequent betriebener Übung und höchster Anstrengung. In der hierfür erforderlichen methodischen Selbstdisziplinierung von Kindheit an mag durchaus ein Anklang von Entfremdung und Zwang mitschwingen. Dem steht jedoch entgegen, dass dem künstlerischen Nachvollzug und der anspruchsvollen Interpretation einer inspirierten Partitur (etwa der späten Streichquartette von Beethoven) hier und jetzt die Entfaltung eines musikalischen Geistes möglich wird, wie ihn der

Gesellschaft ist das, was uns zwingt, frei zu sein

„Musikant“, der nur dem eigenen Vermögen und dem eigenen Ausdruck folgt, so kaum zu erreichen vermag. Die Partitur ist (wie die Rolle) etwas quasi Fremdes, ein Allgemeingut gewordener Erfahrungsschatz, der dem Interpreten aber dazu verhilft, musikalisch in einem Maße zu sich selbst zu kommen, wie man es in einer Reife und Vollkommenheit aus rein eigenem Talent, eigenem musikalischem Vermögen und eigener Spontaneität so schwerlich oder nur in höchst seltenen Ausnahmefällen erlangen könnte. In diesem Sinn ist Sozialisation ins Fremde, in die Rolle (in die Partitur) häufig die Bedingung der Möglichkeit, in gesteigerter Form sich selbst zu werden, „der zu werden, der du bist“ – („seiner Berufung zu folgen“), dabei zugleich aber über sich hinauszuwachsen und zum Besten auch der anderen mit dem Universellen zu verschmelzen. Mehrfach wurde hier gesagt, die Rolle sei eine sozial generierte Form, durch die Kultur, Technik, Wissen etc. in der Generationenabfolge durch Schulung und berufliche Sozialisation von einem Rollenträger zum anderen weitergegeben und weiterentwickelt wird – in diesem Sinn ist sie für den Einzelnen jenseits seiner individuellen Platzierung in der Gattung eine Form der Ermöglichung und der Entfaltung. An der Rolle haftet (neben anderen Phänomenen) jenes „akkumulierte Kulturgut“, von dem Karl Mannheim sprach, das Kulturgut, das im steten Wechsel der Generationen von abgehenden auf neueinsetzende Kulturträger übertragen und dabei auch weiterentwickelt wird. In diesem Sinn ist Gesellschaft – ist Kultur – das, was uns zwingt, frei zu sein. Der Gedanke – das Zwingen zur Freiheit – reicht aber wohl weiter, als dass er sich mit dem Konzept der Rolle gänzlich erfassen ließe. Die Vorstellungen von individueller Freiheit weisen über die hier gewählten Beispiele des Berufs oder der Berufsrolle weit hinaus. Sie sind vielgestaltig und heterogen; auch Formen der Entfaltung in politischer, intellektueller, künstlerischer Hinsicht, die oft in expliziten Verfassungsnormen verbrieft sind, sind damit gemeint, oder auch nur materielle Unabhängigkeit. Eine besondere und markante Variante der individuellen Freiheit ist heute die manifeste Stärkung des „Inneren“ des Individuums gegenüber den Restriktionen, die von außen auf es einwirken, will sagen: Das „schillernde Ich“ erhält unter der Ägide der modernen Gesellschaft immer größere Bewegungsfreiheit und immer weiteren Entfaltungsraum. Das ist der „innere“ Kern dessen, was die freie Entfaltung der Persönlichkeit ausmacht. Die Herrschaft „der anderen“ über das Individuum wird zurückgedrängt, der Selbstbestimmung ungleich mehr Gewicht eingeräumt. Das macht sich auch an einer größeren Autonomie im Verhältnis zu den generativen Universalien bemerkbar, hier insbesondere gegenüber dem Geschlecht und gegenüber dem Tod. Bei großer Altersgebrechlichkeit und Siechtum räumt man in der modernen Gesellschaft den Menschen immer mehr auch rechtlich garantierte Möglichkeiten ein, das Leiden nicht mehr als gottgegeben hinzunehmen und zu ertragen, sondern es durch assistierten Suizid abzukürzen. Und hinsicht-

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lich des Geschlechts erfährt die „Geschlechtsidentität“, das subjektive Empfinden des Geschlechts und seines Ausdrucks, immer mehr Anerkennung, auch hier in rechtlichen Kategorien, indem man durch immer einfachere Verfahren die Geschlechtlichkeit des Personenstandes ändern oder eine gleichgeschlechtliche Ehe eingehen kann etc. Die Position des Individuums wird gegenüber „den anderen“ – hier insbesondere gegenüber dem unmittelbar umgebenden familiären Umfeld – ganz allgemein bedeutend gestärkt. Das Leben der Menschen in der Gesamtheit wird dadurch vielfältiger, „bunter“, diverser, macht es aber auch heterogener, akzentuiert die Gegensätze und gestaltet den Zusammenhalt des Ganzen schwieriger. Auch solche Entwicklungen sind nur möglich, wo Gesellschaft die Menschen in der Breite der Bevölkerung erfolgreich dazu „gezwungen“ hat, die Fänge der Gattung (der Familie) und alle Festlegungen auf die Apriori-Individualität auch in einem ganz generellen und grundlegenden Sinne zu lockern. Es hängt somit von den Strukturen einer Gesellschaft ab, dem Einzelnen solche Entfaltungsräume zu eröffnen. Auch das berühmte Kant’sche Diktum, Aufklärung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit, gehört hierher. „Selbst verschuldet“, so heißt es bei Kant weiter, sei „diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern an der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne der Leitung eines anderen zu bedienen.“ Es ist ein Zug der modernen Gesellschaft, dass sie vom Einzelnen solchen „Mut“ erwartet, während sie, in steter Ambivalenz, zugleich Tendenzen hat, ihn gerade hier auch zu „entmutigen“. Wäre Gesellschaft jedenfalls allein die Sphäre von Unfreiheit und Zwang, die sie mitunter eben tatsächlich auch ist, gäbe es auch keine Freiheit vor der Gesellschaft, keine Robinson’sche Freiheit neben der Gesellschaft. Robinson nämlich ist weder frei noch unfrei, er ist einsam; und das Kind, das biographisch vor der Gesellschaft steht, ist ebenfalls weder frei noch unfrei, es ist schlicht unmündig, rein entwicklungspsychologisch unfähig noch zum Begreifen dieser Alternative. Jedenfalls ginge es bei einer Freiheit, die vor und neben der Gesellschaft anzusetzen und denkbar wäre, nicht um die individuelle Freiheit, die Freiheit der einzelnen Person. Je nachdem hätte eine solche Freiheit eher jenes kollektive Format, von dem hier die Rede war: etwa die des Clans, der seine Autonomie und seine Ehre gegenüber dem Assimilations- und Egalisierungsdruck verteidigt, der von der Gesellschaft als solcher auf ihn ausgeht, denn die Heraus- und Freigabe des Individuums, über das er gebietet, an die Gesellschaft würde zu seiner Auflösung führen. Eine andere Form der kollektiven Freiheit wäre etwa die, die sich auf die Freiheit und die Souveränität der Nation bezieht. Nationen möchten nicht fremdbeherrscht und von einer anderen Nation, einer fremden Macht bevormundet werden. Das ist legitim und ein Anliegen, das als „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ in der modernen Welt allgemein anerkannt ist; weltgeschichtlich war es auch das Pendant zu den revolutionären Gründerbewegungen der modernen Demokratie in

Gesellschaft ist das, was uns zwingt, frei zu sein

Amerika und Frankreich in den Jahrzehnten um 1800. Immer wieder aber gab und gibt es bis heute eine Steigerung dieses Anspruchs auf kollektive Freiheit zu einem ausgeprägten Nationalismus, der manifest imperiale und hegemoniale Formen annimmt, mit einem aggressiven Verhalten nach außen und einen starken Homogenisierungsdruck auf die Menschen in seinem Inneren. In dieser Machart und Intensität schweißt er die einzelnen Menschen, die die Nation bilden, oft zu einer undifferenzierten Masse zusammen, in der der Entfaltungsraum, die Freiheit für das einzelne Individuum verlorenzugehen droht. Der „Größe der Nation“, des Reiches, des Imperiums wird der Einzelne geopfert – am schärfsten und rigidesten zum Ausdruck gebracht in der Parole aus der NS-Zeit: Du bist nichts, dein Volk ist alles. Ein stark ausgeprägter Nationalismus entfaltet im Inneren daher sehr oft eine signifikant antigesellschaftliche Stoßrichtung – etwa in dem Sinn: Unter unserer Ägide „zwingt“ dich niemand, „frei“ zu sein; wir bieten dir stattdessen lebendigen und warmen Anteil an der „Größe“ des Ganzen; wer dabei aber nicht mitmacht, wird marginalisiert oder interniert, unter Umständen sogar liquidiert. „Iliberal“ hat man solche Formationen genannt, und im Extremfall werden sie totalitär. Übersteigerter Nationalismus und „Gesellschaft“ sind nur schwer miteinander zu vereinen, allermeist jedoch überhaupt nicht. Wir werden später (in Kapitel 16) noch sehen, dass z. B. der Nationalsozialismus als Extremform solch nationalistischer Vergemeinschaftung (in der „Volksgemeinschaft“) faktisch einen Kollaps von „Gesellschaft“ darstellte. Die Entwicklung, die das Individuum sowohl in seiner historisch-allgemeinen wie in seiner je einzelbiographischen Entfaltung zwischen den Sphären von Gattung und Gesellschaft nimmt und genommen hat, ist somit hoch ambivalent. Aus der Reichweite der „Gattung“ muss es heraustreten, um zu sich selbst zu kommen, darf auf diesem Weg in der „Gesellschaft“ aber nicht gänzlich wieder verloren gehen. Der Einzelne kann (sozial) „zu Hause“, im Clan oder im großen Kollektiven, verbleiben. Doch wer sich nicht hinauswagt, wird nicht frei.

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Teil IV Deszendenz: Zukunft, Vielfalt, Nicht-Gleichheit

Kapitel 14 Die produktive Irrationalität der Deszendenz Während die „Gesellschaft“ sich also historisch entwickelt und verändert, reproduziert die Gattung sich zyklisch. Die lebende Generation exekutiert auf Zeit zum einen die Rollen in der Gesellschaft, zum anderen bringt sie durch Familiengründung und durch primäre Sozialisation die nächste Generation körperlich und familiär hervor, bevor sie selbst altert, durch Tod abgeht und aus Gesellschaft und Geschichte wie aus der Gattung ausscheidet. Der Tribut, der aus Sicht der Gesellschaft für ihre Inanspruchnahme der Menschen als Rollenträger an die Gattung zu „bezahlen“ ist, ist groß, aber man wird dafür „beschenkt“. Was zunächst einmal diese „Bezahlung“ betrifft, so ist sie innerhalb eines komplexen Geflechts von Austauschbeziehungen zu leisten, das sich in wesentlichen Teilen in der Sphäre der Gattung, also innerhalb der Familie – dort zwischen den einzelnen Lebensaltern, nämlich zwischen Eltern, Kindern und Großeltern – entspinnt und damit weitgehend außerhalb, sozusagen queer zu den Vertrags-, Markt- und Tauschbeziehungen liegt, wie sie für „Gesellschaft“ und deren Ökonomie typischerweise bestimmend sind. Die familiären Generationsbeziehungen sind der Ort, an dem aus Sicht der Gesellschaft dieser „Tribut“ zu zahlen ist. Die Austauschbeziehungen, in denen das einzelne Individuum im Lauf seines Lebens von Geburt bis zum Tod steht, sind nach vorn und nach hinten gerichtet: zu den Vorfahren und zu den Nachkommen, Aszendenz und Deszendenz, dann aber auch zwischen dem Gattenpaar. Dreimal empfängt das Individuum im Lauf seines Lebens (in einem engeren ökonomischen Sinn) von der vorhergehenden und von der nachfolgenden Generation und dreimal gibt es ihnen.65

65 Die Erkenntnis, im Lauf des Lebens im Austausch mit den Vorfahren und den Nachkommen dreimal zu empfangen und dreimal zu geben, sowie die Deutung von Familiengründung als elementare Form der Zukunftsstiftung, kam der Autorin ursprünglich im Kontext aktueller familien- und rentenpolitscher Debatten Ende der 1990er Jahre. Siehe dazu den Leserbrief A. Hansert, Selbstloses Handeln sollte belohnt werden, in: FAZ v. 28.8.1998. Davon ausgehend hat die Autorin den Gedanken in verschiedenen Aufsätzen vertieft und weiterentwickelt, siehe: A. Hansert, (2000), S. 37 f.; dies. (2001), S. 175 ff.; dies. (2003).

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Deszendenz

Man empfängt: • im Kindes- und Jugendalter von den Eltern und der Elterngeneration • im Erwachsenenalter ein Erbe von den alten und sterbenden Eltern (so vorhanden) • als alter nicht mehr arbeitender Mensch Pflege, Rentenleistungen und Kapitalerträge von der mittleren Generation Umgekehrt gibt man: • als Eltern und in der Elterngeneration an die Kinder und die nachwachsende Generation • in der vitalen Erwachsenenzeit Rentenleistungen und Pflege an die alte Generation • als Erblasser ein Erbe an die Hinterbliebenen Dazu der biographischen Reihung nach im Einzelnen: Erstens: Als Neugeborenes, als Kind und vielfach noch als Heranwachsender und Auszubildender ist man in diesem Geflecht zunächst Empfänger. Es gehört zum „Geschenk“ des Ursprungs, dass man nicht nur nackt, sondern auch ökonomisch gesehen mit leeren Händen zur Welt kommt. Es ist das Pendant zum Ende: Außer seinem zunächst vollkommen hilfsbedürftigen Körper und seiner „Seele“ bringt man materiell genauso wenig etwas in die Menschenwelt mit wie man beim Tod außer seinem Leichnam etwas mit ins Grab nehmen kann. Das Materielle und Zweckhafte, das dem einzelnen Individuum zukommt, bleibt durch Erbe und Erwerb rein innerweltlich und haftet nur an den innerweltlichen Abschnitten der individuellen Biographie. Alpha und Omega aber reichen über die materiellen Belange des Lebens hinaus. Im Anfang, als Kind, ist man, da zur Arbeit konstitutionell nicht in der Lage, der Sorge um die Lebensnotdurft zunächst eben gänzlich enthoben; andere, in erster Linie die Eltern, stehen in der Pflicht, für einen zu sorgen; sie tun es in der Regel fraglos und geben einem alles Lebensnotwendige. Diese Verhältnisse mögen der Grund dafür sein, dass man die Anfänge, das Kind sein, immer wieder mit paradiesischen Zuständen assoziiert. Nie mehr später wird so selbstverständlich und so selbstlos für einen gesorgt werden wie zu der Zeit einer glücklich verlaufenden und behüteten Kindheit. Und die Eltern erledigen diese ihre Fürsorge mit großem Aufwand und über einen langen Zeitraum. Das leisten die Eltern für einen, damit man zum „Kulturträger“ und „Berufsmensch“ heranwachsen kann. Doch auch die Gesellschaft und der Staat flankieren und intensivieren diese Investition in die Kinder und in die heranwachsende Generation von früh an durch verschiedene Alimentationen, pädagogische Anstalten und sonstige Maßnahmen: durch die Zahlungen von Kindergeld, Erziehungsbeihilfen, Familientransfers etc., durch die Einrichtung und den Betrieb von Kinderkrippen, Kindergärten, Spielplätzen, Jugendhäusern, Sportstätten, mit dem größten Aufwand dann vor allem

Die produktive Irrationalität der Deszendenz

von Schulen in allen Stufen, Universitäten, beruflichen Ausbildungsstätten und anderem mehr. Auch diese außerfamiliär angesiedelten Investitionen der gesamten Gesellschaft in den Erziehungs- und Bildungssektor gehört zum Geben der mittleren Generation an die Kinder. Sehr lange und sehr ausgiebig ist der moderne Mensch – länger und intensiver als jede andere Art und jede andere Gattung in der Natur – in seiner Kindheit und Jugend jedenfalls Empfänger der Leistungen von anderen, um im Idealfall unbeschwert jene Reife und Komplexität der Person zu entfalten, die für ein Leben als Kulturträger und Berufsmensch erforderlich sind und die einen zur verantwortlichen Ein- und Übernahme der Rollen in der Gesellschaft befähigen. (Zweitens und drittens:) Ist man erwachsen – „Kulturträger“ – geworden, in die Welt des Zweckhaften, der Verträge und Berufsrollen eingetreten und damit in der Lage, durch berufliche Aktivität für sich selbst zu sorgen, wird man im Beziehungsgeflecht der Generationen in der Regel zum Geber. Denn es ist die mittlere Generation, die durch dreißig- bis vierzigjährige methodische Aktivität im Beruf als einzige in der Lage ist, jene ökonomische Produktivität zu entfalten, aufgrund derer für alle – für sich selbst und für alle, die aktuell nicht arbeiten – gesorgt werden kann. Dabei wird diese Generation, die Berufsgeneration zweifach zum Geber: Sie gibt an die Kinder (siehe nachfolgend drittens) und sie gibt an die Alten (siehe zweitens) – an die Deszendenten und an die Aszendenten. Zweitens: Die Alten, die konstitutionell je länger desto weniger in der Lage sind zu arbeiten und die aus der produktiven Phase, dem Berufsleben ausgeschieden sind, müssen von der mittleren Generation getragen werden. Dies geschieht heute meist nur in geringerem Maße unmittelbar und innerhalb der Familie wie es in der Historie mit häufigen Dreigenerationenhaushalten der Fall war, hier vor allem durch persönliche Pflege der alt gewordenen Eltern. Das Gros des (ökonomischen) Transfers von der aktiven zur alten Generation ist heute anonymisiert, indem staatliche oder private Rentensysteme und Kapitalansprüche, die die Alten besitzen, bedient werden. Alle Renten- und Kapitalansprüche, die die Alten im Lauf ihres Lebens erworben haben, sind faktisch aber nur so viel wert, wie eine nachfolgende Berufsgeneration, die bereit und in der Lage ist, sie zu bedienen, in demographisch ausreichender Zahl und qualitativ hinsichtlich ihrer beruflichen Fähigkeiten und ihrer Produktivität überhaupt vorhanden ist.66 Jedenfalls hat die mittlere Genera-

66 Dazu eine kurze Nebenbemerkung: Das hier dargestellte Modell des dreifachen Gebens und Empfangens zwischen den einzelnen Generationen/Lebensaltern hat eine gewisse Affinität zum sogenannten Generationenvertrag, wie er dem von Adenauer Mitte der 1950er Jahre neu angelegten deutschen Rentenversicherungssystem zugrunde liegt. Gegen Adenauers Konzeption wurde bereits damals eingewendet, statt direkter aktiver Zahlungen der Jüngeren in die Rentenkasse, die als Renten dann unmittelbar an die Alten weitergegeben werden, müsste der Einzelne im Lauf seines Lebens selbst ein Kapital aufbauen, aus dessen Zinsen er dann den Lebensunterhalt im Alter bestreite. Doch auch

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tion hier beträchtliche Transfers zu leisten, und sie tut es in der Hoffnung, dass sie eines Tages, selbst alt geworden, ebenfalls in den Genuss solcher Hingabe der ihr nachfolgenden Generation gelangen wird. Drittens: Gegenüber den Kindern und der gesamten nachfolgenden Generation steht die mittlere selbstredend in der Pflicht; was man selbst in der Kindheit analog der oben getroffenen Bestimmungen von den eigenen Eltern und von der Elterngeneration in ihrer Gesamtheit empfangen hat, gibt man jetzt ab, indem man es seinen eigenen Kindern und via Steuerzahlung und anderer Mittel für pädagogische Einrichtungen an die nachfolgende Generation als Ganzes zukommen lässt. Personen, die Eltern geworden sind, sind in diesem Transfer naturgemäß ungleich stärker involviert als diejenigen, die kinderlos bleiben und sich nur auf die Bezahlung der allgemeinen Lasten beschränken. In der Familiensoziologie (u. a. von Franz-Xaver Kaufmann) ist verschiedentlich berechnet worden, dass die individuellen elterlichen Aufwendungen für das Großziehen eines ihrer Kinder unter den Lebensbedingungen der westlichen Gesellschaften einschließlich des Verzichts auf berufliches Einkommen wegen Kindererziehung ökonomisch-geldlich gesehen in etwa der Finanzierung einer Wohnimmobilie entspricht.67 Viertens: Nach diesem Modell kommt man im Alter dann selbst wieder in die Position des Empfängers, eben durch die beschriebenen Leistungen wie Rentenempfang, den Genuss von Kapitalerträgen und, wo nötig, von Pflege. Letztere wird häufig, so vorhanden, in beträchtlichem Umfang von den eigenen Nachkommen geleistet, und manchmal geraten die gebrechlichen und eventuell dement gewordenen Eltern mental in eine hilflose, kindlich anmutende Abhängigkeit von ihren erwachsenen Nachkommen, die jetzt im vitalen, aktiven Alter sind. Fünftens: Doch auch der alte Mensch gibt – je nachdem wie seine (ökonomischen) Verhältnisse liegen, sogar in sehr bedeutendem Ausmaß. Alte Menschen sind (sofern sie nicht in Armut leben) Erblasser. Spätestens mit dem Tod werden im Einzelfall in Form des Erbes sehr bedeutende Transfers auf die nachfolgende Generation getätigt, und gerade bei großen Vermögen werden solche Transfers zu

Zinsen eines Kapitals können nur generiert werden, wo jemand aktiv mit dem Kapital wirtschaftet; gäbe es für den alt gewordenen Kapitalbesitzer keine jüngere vitale Generation, die das tut, wäre sein Kapital wertlos. Insofern sind auch Kapitalerträge (wie die staatlich gesteuerte Rente) Leistungen der mittleren Generation an die nicht mehr erwerbstätige alte. Der Unterschied ist eher technischer Art, insofern man sein Kapital auch im Ausland anlegen kann, während Adenauers Rentensystem an die eigene, national strukturierte Solidargemeinschaft gebunden ist. Ob das kapitalbasierte System der Altersvorsorge nicht nur für unternehmerisch versierte Einzelne, sondern auch in der Breite der Masse effektiver wäre als das staatliche Rentensystem, vermag die Autorin nicht zu beurteilen. Entscheidend ist, in beiden Modellen geht es darum, dass es immer die mittlere Generation ist, die die alte versorgt. 67 Dazu etwas ältere Zahlen aus den 1990er Jahren: Bundesministerium für Familien und Senioren (1994), S. 139 ff. u. 290 ff. – Diese Zahlen zitiert in: Hansert (2000), S. 41 f. und dies. (2003), S. 146 f.

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Teilen häufig bereits zu Lebzeiten absolviert. In einer entwickelten Gesellschaft, in der sich große Vermögensbestände in privater Hand angesammelt haben, spielt diese Übergabe der alten und sterbenden Generation an die nachfolgende eine sehr bedeutende Rolle. Doch sind diese Transfers in den einzelnen Familien naturgemäß sehr ungleich verteilt. Gesellschaftspolitisch sind sie eine der großen Quellen der Ungleichheit, deren Wirkung man durch Besteuerung mehr oder weniger zu minimieren versucht. Sechstens: Damit aber wird die nachfolgende, in der Regel also die mittlere Generation zum Empfänger der Leistungen der vorhergehenden, und der Empfang einer nennenswerten Erbschaft kann auch im reifen Alten noch einmal zu einer wichtigen biographischen Weichenstellung führen, namentlich dem Erwerb von Wohneigentum, was für die langfristige intergenerationelle Vermögensakkumulation sehr bedeutend ist. In diesem etwas ideal skizzierten Modell würde ein Individuum im Lauf seines Lebens in seinen Beziehungen zu seinen Eltern und zu seinen Kindern also dreimal Empfänger und dreimal Geber sein. Es empfängt als Kind von seinen Eltern, es empfängt als Erbe von seinen alten oder verstorbenen Eltern und es empfängt als alter Mensch wiederum von seinen erwachsen und aktiv gewordenen Kindern (bzw. von der Generation seiner Kinder). Es gibt in der aktiven und produktiven Phase seines Erwachsenenlebens zum einen an seine Kinder, zum anderen an die Alten und es gibt schließlich spätestens mit dem Tod als Erblasser noch einmal an seine direkten Nachkommen. Dreimal empfangen, dreimal gegeben: Ideell wären die Austauschbeziehungen, in denen man mit der vorhergehenden und der nachfolgenden Generation unvermeidlicherweise steht, am Ende somit ausgeglichen. Kein Mensch könnte ganz ohne sie existieren – insbesondere was das Empfangen als Kind betrifft. Sie werden damit geradezu zu einem Begriffsmerkmal des Menschlichen schlechthin: Der Mensch ist ein Wesen, das nur auf einem bestimmten Abschnitt seines Lebens produktiv und zweckhaft tätig ist. In den langen Phasen zu Beginn und wieder gegen Ende – in der Moderne macht dies sowohl individuell zusammen oft mehr als die Hälfte seiner gesamten Lebensspanne als auch demographisch mehr als die Hälfte der Gesamtheit der jeweils lebenden Bevölkerung aus – ist er in einem ökonomisch zweckrationalen Sinne „unproduktiv“: Er spielt und lernt in seinen Anfängen sehr lange, und er ruht älterwerdend nach getaner Arbeit. Mensch – Angehöriger der „Gattung“! – ist er immer – nicht nur in der Phase des Vollbesitzes seiner Kräfte, wenn er „nützlich“ ist. Er ist es auch, wenn und indem er Kind ist – wovon eine Schicht seines psychischen Erlebens, nämlich die „Ort- und Zeitlosigkeit des Seelischen“, dauerhaft erhalten bleibt. Und Mensch und Gattungswesen ist und bleibt er auch, wenn er im Alter sich mit dem Abklingen, Verfallen und dem Reflektieren des Lebensganzen zu befassen hat. In der Gesamtheit seines Lebensvollzugs bleibt er damit nicht nur horizontal auf die Verbindung mit seinen Zeitund Generationsgenossen, wozu insbesondere auch die Gattenbeziehung gehört,

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sondern immer auch vertikal auf das Verhältnis und die Verbindung mit der vorhergehenden und der nachfolgenden Generation verwiesen und angewiesen. Nie kann der Mensch als Ganzes in den Rollenbeziehungen und den zweckrationalen Nützlichkeitsdiktaten der Gesellschaft aufgehen – der Anfang und seine Folgen sowie das Ende und das fortschreitende Erleben seines Nahens sind konstitutionell darin nicht integrierbar. Die vertikalen Hingaben zwischen den Generationen – jene Trias des Gebens – basieren (vor allem unter den Lebensbedingungen der Moderne) teilweise auf Freiwilligkeit. Freiwillig ist grundsätzlich der im Allgemeinen gewichtigste Teil dieses Hingabesystems: die (innerfamiliäre) Gabe an die Kinder. Die erwachsen gewordene Person hat einen gewissen Entscheidungsspielraum, der zugleich ein Entscheidungsdruck ist, ob sie eine Beziehung (ob heterosexuell oder gleichgeschlechtlich) eingehen und Kinder überhaupt haben will und/oder haben kann. Also: die Frage der Familiengründung oder das „Deszendenzproblem“! Eine der elementaren Handlungs- und Entscheidungssituationen, die sich den Menschen im Lauf ihres Lebens stellen. Es obliegt dem Einzelnen und seinem Beziehungsverhalten, sich dessen anzunehmen oder nicht. Ein „Problem“ stellt sich ihm neben der Gattenwahl und Zeugung im modernen Leben hier vor allem auch deshalb, weil es in Spannung zu den Aufgaben steht, mit denen er in seinen gesellschaftlichen Rollenbeziehungen, insbesondere im Beruf konfrontiert ist. „Vereinbarkeit von Familie und Beruf “ – heißt das heute. Die Gesellschaft mit ihren Vertrags-, Markt- und Rollenbeziehungen würdigt primär das einzelne, erwachsene, voll handlungsfähige Individuum. Sie fragt nach seinem Bildungszertifikat, seinem spezifizierten beruflichen Können und Leistungsvermögen, nach seinem Satus und prämiert diese in Form von Lohn, Einkommen und Honorar; sie sieht den Einzelnen unabhängig von Herkunft und familiärer Stellung als singulären wirtschaftlichen Akteur, und als solcher agiert der Einzelne (zumindest theoretisch) zweckrational, auf Nützlichkeit und Effektivität bedacht: Wie kann ich, so fragt der rational wirtschaftlich Denkende und Handelnde, meine verfügbaren Mittel optimieren, durch welche Maßnahmen kann ich den größten Nutzen für mich erzielen, „Karriere machen“ – oder auch: Wie kann ich „ganz frei“ sein? Zu dieser individualistischen nutzenmaximierenden Haltung steht das freiwillige Geben an die Nachkommen, die eigenen Kinder, in starkem Kontrast. Könnte man in jenem System des dreifachen Gebens und Empfangens zwischen den Generationen diesen Teil für sich nicht einsparen? Rein wirtschaftlich und unter dem Gesichtspunkt des Eigennutzes und dem Erfüllen der Berufsrolle gesehen, haftet der Familiengründung in der Tat etwas „Irrationales“ an. Durch das Teilen mit den Kindern (und eventuell mit dem zeitweilig aus dem Berufsleben ausscheidenden Elternpartner) muss ich beträchtliche Einschränkungen in der Verfügung über mein Einkommen, über meine knappe alltägliche Zeit, vielleicht hinsichtlich meiner persönlichen und beruflichen Ziele hinnehmen. Hinzu kommt, dass sich diese

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Problematik für Frauen und Männer in unterschiedlicher Dramatik stellt und die Familiengründung damit auch die gesellschaftspolitisch in der Moderne so hoch angesiedelte Norm der Geschlechterparität und -egalität tangiert. Jedenfalls hat die Familiengründung bei den Frauen bisher erfahrungsgemäß häufiger Auswirkungen auf die Berufskarriere als bei den Männern; zu viel Lebensenergie, körperlich und emotional, wird für sie für diesen Schritt notwendig. Jedenfalls müssen die Eltern weite Teile jener individuellen Unabhängigkeit, die die moderne Gesellschaft bietet und zu deren Entfaltung sie den Einzelnen zu ihrem eigenen Nutzen auffordert, zugunsten ihrer Kinder zumindest zeitweilig hintanstellen. Doch das emotionale Zuwenden, die soziale Hingabe und die materiellen Kosten, die das Leben mit Kindern mit sich bringt, ist nur die eine Seite. Im Ursprung nämlich „kostet“ das Kind nichts. Im Ursprung, konkret: in der (natürlichen) Zeugung, ist es tatsächlich ein reines „Geschenk“ – unter Umständen auch ein Danaergeschenk. Ihre Folgen, ja, nicht aber die Zeugung und die Empfängnis selbst „kosten“ etwas. Jedes geschlechtsreife heterosexuelle Paar kann zeugen. Zeugen ist ein absolut egalitär-demokratisches Vermögen. Könige können und müssen zeugen, weil sie einen Thronfolger brauchen, aber eine „Königsdisziplin“ ist es deshalb nicht. Auch der Ärmste und die Ärmste können es. Mit Blick auf die gesamte Weltbevölkerung tun sie es unter den gegebenen Umständen in den wenig entwickelten Ländern der Erde mit ihren hohen, oft zu hohen Fertilitätsraten sogar in gesteigertem Maße; ungewollt vielfach. Würde auch das (natürliche) Zeugen selbst etwas „kosten“, heute vor allem Geld kosten, es wäre, wie bei den Bienen, wohl wirklich eine Königs- oder Königinnendisziplin, die Ärmsten blieben womöglich kinderlos. In der Menschengattung aber ist das Kinderbekommen ubiquitär. In seinem Ursprung, d. h. an der „Körper“ gewordenen Aszendentenstelle, ist das einzelne Gattungsexemplar für seine Eltern jedenfalls frei von allem Nutzen, allen Kosten, aller Zweckhaftigkeit – ein „Geschenk“ eben. Und wie es mit Geschenken nun einmal ist: Zum einen will nicht jeder und jede es annehmen (Abtreibung), zum anderen erhalten es nicht jeder und jede. Viele bleiben ungewollt kinderlos und leiden daran. Die Gattung (die Natur) hat ihre Launen. Sie verteilt ihre „Geschenke“ an die Einzelnen mitunter willkürlich. Gleichheit und Gerechtigkeit scheren sie nicht; auf die Gesamtzahl allein kommt es für sie an. Dem initiierenden „Geschenk“ aber folgen die „Kosten“ unweigerlich auf dem Fuß. Spätestens mit der Geburt werden die Eltern und die Elterngeneration nolens volens in die erwähnten Austauschbeziehungen hineingezwungen. Vergleicht man die Situation von Eltern mit der von Kinderlosen, so sind, wie gesehen, die individuellen Aufwendungen, die sie für das Heranziehen der Kinder erbringen müssen, hoch. Sie sind an der Hervorbringung der nächsten Generation – allgemeiner gesprochen: an der Fortentwicklung der Gattung – ungleich stärker beteiligt als die Kinderlosen, die nur die kollektiven Investitionen in die nachfolgende Generation mittragen. Und es hat insofern etwas Selbstloses, als es sich um Investitionen für

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ein anderes Individuum, das das Kind ist, handelt, damit auch um eine Investition in eine Zeit, die über die eigene Lebensspanne hinausreicht. Dank solcher Selbstlosigkeit zum einen, der impliziten Hinwendung an die Allgemeinheit, hier in Form der Gattung, zum anderen hat es den Charakter einer „Stiftung“. Familiengründung lässt sich daher auch als die elementare Form der Zukunftsstiftung bestimmen: Zukunft der eigenen Familie, Zukunft der Gattung. Noch der/die Konservativste hat und hatte seit jeher daran Anteil, Anteil an der Zukunft – ja, gerade „Konservative“, denn Familiengründung hat dank der sehr direkten persönlichen Verpflichtungen, die daraus erwachsen, auf ein allzu ambitioniertes Streben nach individueller Unabhängigkeit und Autonomie, insbesondere auch auf Seiten der Frauen, im Allgemeinen eine dämpfende Wirkung. „Zukunftsstiftung“ auf der elementaren Ebene der Gattung ist nichts für Individualisten, denn sie zwingt zum gemeinsamen Agieren und Teilen mit dem Partner/der Partnerin und schließlich mit den Kindern. – Zugestanden sei, dass hier wie bei den institutionellen Stiftern, die durch Gründung einer Institution oder Organisation auf der Ebene der Gesellschaft tätig sind, auch Selbstliebe und Eitelkeit mit im Spiel sein mögen: eine unter Umständen selbstverliebte Freude daran, Schöpfer zu sein und ganz persönlich etwas Eigenes über die eigene individuelle Lebenszeit hinaus zu bewirken. Doch hinter dem individuellen Aufkommen solcher Selbstliebe und Eitelkeit verbirgt sich letztlich eine „List der Gattung“. Die Wertung von Familiengründung als elementarer Form der Zukunftsstiftung lässt sich auch mit dem berühmten rechtsphilosophischen Diktum von ErnstWolfgang Böckenförde in Verbindung bringen, wonach der säkulare-freiheitliche Staat, und hier soll in Analogie ergänzt werden: die „Gesellschaft“ von Voraussetzungen lebt, die er bzw. sie selbst nicht schaffen könnten. Nicht zuletzt und auch hier in der persönlichen Bereitschaft, jene (ökonomisch-zweckrational gesehen) „irrationale“ Gabe quantitativ und qualitativ (durch angemessene Erziehung) an die Kinder zu geben, auch in der demographisch großen Zahl, wären solche Voraussetzungen bezeichnet. Die Kinder sind hier und heute für den Staat und für die Gesellschaft sozusagen noch nicht „nützlich“, für ihr Funktionieren nicht wirklich von Bedeutung; doch in ihrem Geborenwerden und ihrem Dasein ist die Gattung auf dem Weg der Menschen in die Zukunft als Vorhut aktiv; morgen, wenn sie erwachsen geworden sind, werden Staat und Gesellschaft sie brauchen. Gäbe die Gattung durch Ausbleiben oder auch nur durch Vernachlässigung der Kinder ihre Zukunft preis, wäre unvermeidlich auch aller Staatlichkeit und der „Gesellschaft“ die Voraussetzung entzogen. Und noch ein anderer Aspekt kommt hier zum Tragen. Die Verhältnisse von Gattung und Gesellschaft können sich mit dem Akt der Familiengründung auch umkehren. Wenn hier an verschiedener Stelle bemerkt wurde, die „Gesellschaft“ würde das Individuum den Sogkräften der „Gattung“ entreißen und ihm persönliche Entfaltung und individuelle Freiheit ermöglichen, so kann es sich gegebenenfalls

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auch umgekehrt verhalten. Gesellschaft hat, wie gesehen, eben auch das Moment der Entfremdung, der Kälte, der Kettung, der Fremdbestimmung. Hier kann Familiengründung auch zu einem partiellen Rückzug aus dieser so erfahrenen Sphäre der Gesellschaft werden: Familiengründung entreißt das Individuum, indem es Mutter bzw. Vater wird, wiederum der Gesellschaft und zieht es stärker wieder ins Private und in die Sphäre der Gattung zurück, wovon die Frauen schon allein körperlich mehr betroffen sind als die Männer. Wer ein Kind im Leib trägt, es gebiert, es stillt und in seinem frühesten Leben mit allem Notwendigen versorgt, kann (auf Zeit) nicht der Berufsarbeit nachgehen, kann nicht der Gesellschaft dienen. Und er/sie will es in diesem Moment vielleicht auch gar nicht, denn es gibt eine Innigkeit der Begegnung mit dem Kind, „Wärme“, wie sie in den per se anonymen oder distanzierten Beziehungen, die in der Gesellschaft und in der Berufssphäre herrschen, in der „Kälte“, nicht erfahrbar ist. Darin liegt, bei allen Mühen, ein starkes Moment von Eigenständigkeit, Freiheit und Souveränität, wie es in dieser Eigenart im innerfamiliären Kosmos vorhanden ist. Wer – unter welchen Umständen auch immer – Kinder hat, wird wieder stärker mit der „Gattung“ verbunden, stärker als es die Kinderlosen sind. Aus der Sorge und Fürsorge um eigene Kinder erwächst ein starker, unmittelbar persönlich empfundener und lebenslang wirksamer Impuls in die Zukunft: Sie, diese meine Kinder hier, sollen bestehen! – denn es gibt nichts schlimmeres, als den Tod der eigenen Kinder erleben zu müssen. Bei den meisten setzt eben dieser Impuls, der im Vorfeld der Familiengründung ja erst latent vorhanden ist, sich gegen das an und für sich „irrationale“ Tangieren der Karriereund Einkommenschancen und der zeitweisen Reduktion der individuellen Bewegungsfreiheit durch. Karriere, Einkommen und individualistische Freiheit haben ihre Vorzüge. Doch sie enden eines Tages. Dann mag sich bewähren, dass man hier einmal verzichtet hat.

Kapitel 15 Die Population Sexualität ist eine intime Angelegenheit. Man ist, wenn man sie praktiziert, dabei zumeist nackt. Das geschieht daher im Verborgenen. So gilt das auch für den Zeugungsakt, der unter Umständen daraus hervorgeht (sofern er nicht ausnahmsweise künstlich im Labor vollzogen wird). Aber auch wenn das Sexuelle, Intime und das Zeugen in der Regel jenseits der gesellschaftlichen und öffentlichen Sichtbarkeit stattfinden, so ist und bleibt man als Mensch auch damit doch Teil der umgebenden Kultur und Gesellschaft, in der man lebt. Moderne Menschen zeugen (nach dem sogenannten „demographischen Übergang“ des 19. Jahrhunderts) anders als historische, Paare in den industrialisierten Ländern der nördlichen Hemisphäre anders als in den wirtschaftlich wenig entwickelten des globalen Südens; und zwischen

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ähnlich strukturierten Nationen des gleichen Kultur- und Wertekreises gibt es oft sichtbare und lange verfestigte Differenzen in der Geburtenhäufigkeit. Selbst im Intimbereich, wo die später erfolgten Geburten initiiert werden, ist man, wenn auch nur höchst indirekt und vermittelt, Akteur des Allgemeinen, des Historischen, des Gesellschaftlichen, vor allem aber „Akteur der Gattung“; und nur höchst eingeschränkt ist man darin jener Souverän des Eigenen, für den man sich hier und jetzt subjektiv hält. Und gerade beim sexuellen Zeugen von Kindern ist es ohnehin keine rein individuelle, sondern immer und per se eine geteilte Souveränität – geteilt zwischen „Leo und Maggie“. Einzelne Individuen oder bestimmte Gruppen können (oder müssen), aus welchen persönlichen oder allgemein sozialen Gründen auch immer, auf Zeugung und Familiengründung verzichten. Aber kann dies auch das Ganze, dem das Einzelne angehört, tun – sprich: die (Groß-)Familie, die Dynastie, der Clan, die Population, schließlich die ganze Art bzw. „die Gattung“? Seit jeher gibt es religiöse, philosophische oder gesinnungsethisch grundierte Lebensweisen, Strömungen, Denkweisen, die grundsätzlich eine antinatalistische Haltung beziehen und darüber nachdenken, ob es angesichts des Leids in der Welt nicht angezeigt wäre, auf Fortpflanzung entweder exemplarisch für sich selbst oder sogar generell und universell zu verzichten, die Perpetuierung des Leids damit ein- für allemal zu unterbinden. „Gäbe niemand die ‚Fackel des Lebens‘ weiter, stürbe die Menschheit aus. Und sollten wir auf diesem Wege ein relativ leidloses Aussterben der Menschheit nicht einer Fortsetzung ihres Leidensweges vorziehen?“ fragt – zahlreiche entsprechende Stränge der philosophischen und religiösen Tradition rekapitulierend – in einem Buch „Verebben der Menschheit“ etwa der Philosoph Karim Akerma.68 Ob man in diese „schlechte Welt“ also Kinder setzen könne, solle oder auch nur dürfe? Da jedes Individuum im Lauf seines Lebens eine entsprechende Umweltbelastung – einen CO2-Fußabdruck – produziere, wird diese Frage heute auch im Hinblick auf die ökologische Krise gestellt: Ob diese Krise nicht durch das Unterlassen von Geburten gemildert oder gelöst werden könnte. „Los komm, wir sterben endlich aus – was Besseres kann der Erde nicht passieren“, verbreitete lustvoll-provokativ daher die Rockband Die Ärzte. Solche antinatalistischen Perspektiven belegen, ohne dass sie je die Probe aufs Exempel machen müssen, das Kinderzeugen mit einem moralischen Hautgout: Als sei es einseitig nur Leid, was dadurch sich verewige, weshalb die generative Selbstaufgabe einem schlechten Leben und einem schlechten Tod vorzuziehen sei. Wer es kollektiv verwirklichen wollte, müsste, sofern er nicht mit Gewalt das abrupte Ende etwa durch ein Zünden sämtlicher Atompotenziale herbeiführt, bereit sein, das langsame Kollabieren der eben beschriebenen dreifachen Ausgleichsbeziehungen zwischen den Generationen in Kauf zu nehmen:

68 Karim Akerma (2000), S. 17.

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Man ersparte sich mit dem Aufhören des Gebärens komplett zunächst einmal die Investitionen in die Kinder, könnte die Vitalphase üppig wie keine Generation zuvor begehen, wenngleich auch im Bewusstsein, die „letzte“ von ihnen zu sein, um schließlich kollektiv zu ergrauen; dann würde man, kinderlos gealtert, statt (durch den Bezug von Pensionen und Pflege von der nachfolgenden Generation) zu ernten, die Saatfrüchte verzehren, die man nicht gepflanzt hat, zum Ende hin in ständig sich verkleinernder Zahl mental und körperlich vegetieren – bis es vorbei wäre. Endlich. Anders denn als jämmerlich lässt eine solche Endzeit sich nicht vorstellen. Nur als kollektiver heroischer Opfergang derer, die sich als „letzte Generation“ ausgerufen haben, ließe das Programm des philosophischen Antinatalismus sich konsequent realisieren; der Kläglichkeit solch allgemeinen Siechens und Endens allenfalls durch rechtzeitigen kollektiven Suizid entkommen. Selbstredend gibt es viel zu viele unter den Menschen, die sich mit solchen Szenarien von vornherein gar nie befassen. Wie selbstverständlich überlassen sie sich ihrem kaum je hinterfragten Impuls, es sei gut, sich fortzupflanzen. Und doch, partiell und in Ansätzen gibt es das kollektive Aussterben. Doch wo es geschieht, geschieht es meist gänzlich unfreiwillig. Immer wieder gab es in der Geschichte Ereignisse und Szenarien, in denen unerwartet ein schneller massenhafter Tod über die Fortpflanzung einen Sieg zu erringen drohte, sich damit ein physisches Aussterben, wenn auch nicht der Gattung, so doch einer Population, einer Kultur oder ganzer Landstriche abzuzeichnen schien, ja sich in Einzelfällen empirisch und tatsächlich zur Gänze auch vollzog. Natur- und Umweltkatastrophen, Kriege, Völkermorde, Vertreibungen haben in der Geschichte immer wieder signifikante Rückgänge von Bevölkerungen ausgelöst oder damit unter Umständen auch einen historisch ohnehin in Gang befindlichen Niedergang einer Kultur durch Absinken der Geburten zum einen, Abwanderung zum anderen oft zusätzlich beschleunigt. Das womöglich schlagendste und allgemein bekannteste Exempel in der Geschichte der Zivilisation: Nur 20.000 Menschen lebten im Mittelalter noch in Rom, nachdem es in seiner Blütezeit in der Antike einmal eine Millionenstadt gewesen war – und es unter anderen Umständen heute freilich auch wieder ist. Tief ins kollektive historische Gedächtnis gingen die großen Pestwellen ein, insbesondere die des 14. Jahrhunderts, bei der die Bevölkerung Europas um ein Drittel bis zur Hälfte zurückging. Die „Gattung“ schien in diesem Erdteil aufs Höchste gefährdet. Noch schlimmer aber war die Verdrängung der indigenen Bevölkerung angesichts der von Europa ausgehenden Kolonisation in Teilen Süd- und Mittelamerikas: Insbesondere auf dem Gebiet von Mexiko verursachten die von den Europäern eingeschleppten Krankheitserreger sowie Eroberungsfeldzüge binnen 150 Jahren eine Reduktion der Indios um etwa 90 % (von geschätzt ca. 12 Millionen

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auf ca. 900.000).69 In Nordamerika, analog in Australien wurden die „first nations“ vollkommen marginalisiert. Der Dreißigjährige Krieg wiederum entleerte in Mitteleuropa ebenfalls ganze Landstriche; es dauerte hundert und mehr Jahre, die Verluste wieder auszugleichen. Ausgerechnet in der Moderne hat die Menschheit sich dann aber mit einem geradezu zerstörerischen Impuls und bislang ungekannten Todesraten gegen sich selbst gewandt: Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sah die großen Genozide, in kleinem Maßstab erst bei den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika, bald darauf millionenfach an den Armeniern und bei den politisch ausgelösten Hungerkatastrophen im sowjetischen Machtbereich, vor allem der Holodomor in der Ukraine, in säkularer Dimension schließlich der Völkermord an den europäischen Juden; den Gipfel bildeten die immensen Todeszahlen der beiden Weltkriege, der militärisch Toten und in weiten Teilen des Kontinents noch mehr der zivilen Opfer, deren Zahlen im Gefolge des Ersten Weltkriegs durch den Ausbruch der Spanischen Grippe noch zusätzlich in die Höhe getrieben wurden. In der Addition starben im frühen und mittleren 20. Jahrhundert allein in Europa mehr als 100 Millionen Menschen eines direkt oder indirekt durch Gewalt verursachten Todes. Solch apokalyptische Szenarien kann das Zeugen und Gebären – die Deszendenz – extrem dämpfen. Insbesondere auf dem Höhepunkt der in Gang befindlichen Auslöschung einer ganzen Bevölkerung versiegt auch das Überleben durch Fortpflanzung gänzlich. Unter den millionenfach in die nationalsozialistischen Vernichtungslager Deportierten etwa befanden sich auch Schwangere; selbst in den Gaskammern habe bei manchen von ihnen noch die Geburt eingesetzt.70 Der Tod aber behielt die Alleinherrschaft; kein neues Leben vermochte sich unter solchen Umständen gegen ihn zu behaupten. Hier war das Extrem erreicht: Aussterben durch Mord an einem ganzen Volk. Solche Zuspitzungen, wie die Weltgeschichte sie immer wieder hervorgebracht hat, vorab durch freiwilligen Verzicht auf Fortpflanzung und bewusstes Aussterben, wie kleine Eliten es propagieren, verhindern zu wollen, wirkt geradezu grotesk. Die Realität überbietet derlei philosophische Programme, Leid durch Lebensvermeidung zu erreichen, immer wieder manifest. Trotz solch extremer Stresssituationen sterben (größere) Bevölkerungen i. d. R. aber nicht einfach aus. Physisches Aussterben einer Population bedeutete im hier verfolgten theoretischen Rahmen eben nie das Verlöschen der universalen Menschenfamilie, der „Gattung“ (bzw. der Art Homo sapiens) schlechthin, wie sie von ihren Ursprüngen in Afrika ausgegangen ist und sich über die Erde verbreitet hat, sondern immer nur die eines bestimmten Asts oder Zweigs derselben bzw. das Verschwinden seines spezifischen Genoms aus der milliardenfachen Vielfalt

69 Stefan Rinke (2005–2012); Claude Lévi-Strauss (2023), S. 25–27. 70 Raul Hilberg (1990), S. 1043.

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der heute lebenden Art des Homo sapiens. Tier- und Pflanzengattungen scheinen heute ungleich mehr von einem solchen tatsächlichen Aussterben bedroht zu sein, die Biodiversität damit eine beträchtliche Reduktion zu erleiden. Laien können es erfahren, wenn sie einen Zoo besuchen; Hinweisschilder an den Gehegen dort lauten (Stand 2019 im Frankfurter Zoo) etwa: „Java-Nashorn: Bestand 1997: etwa 50–60 Tiere. Einiges sicheres Vorkommen im Udjung-Kulon Reservat von Westjava“. Oder: „Das Spitzhorn-Nashorn. Bestand 2010: etwa 4.900 Tiere (IUCN) Vier Unterarten, Gesamtbestand durch Wilderei dramatisch reduziert: 1970 lebten noch 70.000 Spitzmaul-Nashörner.“ Oder: nur 200 geschlechtsreife Exemplare der Madagassischen Schnabelbrust-Schildkröte; man versuche eine Zuchtpopulation zur Erhaltung der Art zu gründen. – Besonders dramatisch ist die Situation des Nördlichen Breitmaulnashorns. Hunderttausend Exemplare lebten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Trophäenjäger, Wilderer, Bürgerkriege etc. brachten die Art (oder Unterart) quasi zum Verschwinden. Sie gilt als „funktionell ausgestorben“, da Anfang der 2020er Jahre nur noch zwei Exemplare lebten, die sich nicht mehr natürlich fortpflanzen können – Mutter und Tochter, „Najim“ und „Fatu“, die in einem tschechischen Zoo geboren wurden. Durch Eizellentnahme, künstliche Befruchtung (mit tiefgefrorenem Sperma verstorbener Bullen), Übernahme der Leihmutterschaft eines Südlichen Breitmaulnashorn und schließlich Auswilderung versucht die Tiermedizin ein Überleben zu sichern.71 Der Mensch als Gattungswesen ist auch vor dem Hintergrund der geschilderten Natur- und Gewaltkatastrophen dagegen eine erstaunlich resistente und anpassungsfähige Spezies. Seine Welt ist zwar voller verlassener, dem Verfall preisgegebener Monumente und Relikte vergangener Kulturen, denen die Menschen, die sie einmal errichtet, belebt und betrieben hatten, sichtlich abhandengekommen sind – die großen und sichtbaren Bauten der Antike, diejenigen Ägyptens insbesondere, für dessen Pyramiden Thomas Mann einmal die schöne Bezeichnung vom „Großgerümpel des Todes“72 gefunden hat. Aber sind deren Menschen deswegen physisch ausgestorben? Sind die Ägypter der Antike physisch restlos verschwunden? Oder die Millionen Bewohner des alten Roms? Mag an solchen Niedergängen einer Kultur und ihrer spezifischen gesellschaftlichen und politischen Verfasstheit auch ein nicht zuletzt durch geringe Fortpflanzung bewirkter Rückgang der Bevölkerung mit im Spiel sein, so geht es hier aber weniger um ein tatsächliches physisches Aussterben als vielmehr um Wanderungsbewegungen im geographischen Raum, um Zu- und Abwanderung, um das Verlassen eingesessener Siedlungsgebiete, dessen aufgegebene Bauten verfallen oder später ggf. von Neuzuzüglern überbaut werden.

71 Siehe zwei Artikel zum Thema im Wissenschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung v. 11.7.2021, S. 54 f. 72 Thomas Mann (2018), S. 759.

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An einem Ort wie dem 1986 infolge der Reaktorkatastrophe abrupt zur Geisterstadt gewordenen Tschernobyl, der seit Jahrzehnten jetzt von der Natur zurückerobert wird, lässt es sich auch heute in Echtzeit verfolgen. Oder die „rust belts“ dieser Welt, die den Menschen keine Existenzmöglichkeiten bieten, sodass sehr viele von ihnen abwandern (siehe die Halbierung der Bevölkerung der ehemals prosperierenden Automobilmetropole Detroit und den Verfall ganzer Stadtviertel). Verschiedene (hinlänglich große) Bevölkerungen mögen ihren Umfang durch einen Rückgang der Fertilität reduzieren, sie sterben in der Regel aber nicht wirklich aus, sondern gehen in solchen Bewegungsprozessen ineinander über und ineinander auf oder existieren unter veränderten Bedingungen nebeneinander. Im Ansatz lässt sich das sogar schon in der frühesten Evolutionsgeschichte der Menschheit beobachten: Auch der Neandertaler ist, als der Homo sapiens konkurrierend in seinen Siedlungsgebieten auftrat, nicht einfach universell und restlos ausgestorben; er hat sich teilweise mit diesem vermischt, wie wir dank der Spuren, die wir mit geringen Anteilen physisch im Genom der heute lebenden Menschen finden, erkennen können. In historischer Zeit aber wurde das Wandern und das Aufeinandertreffen von Bevölkerungen oft zum Anlass für starke Transformationen der Kultur innerhalb von einem oder nur wenigen Generationszyklen, verbunden sehr häufig insbesondere auch mit einem Wechsel der Sprache, ggf. auch der Schrift. Oft genug gingen solche Wanderungen und Wandlungen so weit, dass die Lebenden den Bezug, selbst die Erinnerung an die Kultur ihrer leiblichen Urahnen gänzlich verloren. Den mittelalterlichen Bewohnern Ägyptens z. B. wurden die Paläste der Pharaonen zu Reservoirs für Baumaterial; jetzt errichteten sie Moscheen; die Hieroglyphen, die sie in ihrer unmittelbaren Umgebung sahen, blieben ihnen rätselhaft. Die jüdische Kultur hingegen steht für eine Kontinuität und Stabilität, die selbst einer jahrhunderte- und jahrtausendelangen Diasporaerfahrung standhielt. Solange man die Problematik nicht unter kosmischen Dimensionen (Verlöschen der Sonne) betrachtet, kann sich die Frage nach einem natürlichen physischen Aussterben sinnvollerweise nicht auf große Populationen oder gar die Menschheit als Ganze beziehen. Vorerst wächst die Menschheit – vor allem dank großer Fertilität in den ärmeren Weltregionen –, und auch wenn im Lauf des 21. Jahrhunderts zahlenmäßig ihr Höhepunkt überschritten werden wird, ist ihr „Verebben“ empirisch nicht zu erwarten. Die Frage nach einem physischen Aussterben kann sich nur auf eine konkrete Population beziehen, für die zwei Merkmale gegeben sind: dass sie zum einen sehr klein und zum anderen geographisch und/oder sozial gegenüber ihrer Umwelt abgeschlossen ist und daher keinen unterstützenden Zuwachs von außen erfährt. Von kleinen indigenen Stammesgesellschaften, die in kaum zugänglichen Gebieten vor allem im Amazonasbecken oder auf abgeschiedenen Inseln leben, sind solche Populationsschicksale bekannt; bei ihnen leben heute mitunter nur noch wenige handverlesene Personen, sodass ihr „Verebben“ sich abzeichnet oder tatsächlich

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stattgefunden hat. In diesen Fällen ließe sich ein Aufhören der Fortpflanzung, das Ausbleiben der Deszendenz beim Menschen studieren.73 Schwer vorstellbar, was diese „letzten Menschen“ ihrer Kultur subjektiv für Erfahrungen machen. Götz Aly hat anhand der etwa 300 bis 400 Menschen umfassenden Urbewohner auf der 6,7 Quadratkilometer großen Insel Luf im Hermit-Atoll im westlichen BismarckArchipel – heute Papua-Neuguinea – eindrucksvoll geschildert, wie ab 1882 infolge von militärischen Vernichtungsaktionen, dem Einschleppen bislang unbekannter Infektionskrankheiten, Zwangsarbeit und kolonialer Plantagenwirtschaft sowie dem anschließenden Verbringen der hinterlassenen materiellen Kultur in die deutschen Völkerkundemuseen eine viele Jahrtausende lang intakte Urbevölkerung binnen weniger Jahre praktisch zum Aussterben gebracht wurde; von nur noch wenigen Dutzend kranken und kaum überlebensfähigen Nachkommen ist in zeitgenössischen Berichten nach 1900 noch die Rede.74 Es gibt ein anderes Fallmaterial, an dem sich die Frage nach der Deszendenz und nach dem „Aussterben“ als einer lebenspraktischen Herausforderung, die sich an die einzelnen Individuen richtet, empirisch eindrucksvoll untersuchen lässt, nämlich einmal mehr bei den historischen Königs- und Fürstendynastien Europas. Der dynastische Herrscher brauchte einen Thronfolger, und das konnte, im Kontrast zur antidynastisch verfassten Ämtersukzession bei der Kirche, nach den geltenden Regeln nur der eigene, innerhalb der legitimen Ehe geborene Sohn oder ersatzweise ein naher agnatischer Verwandter (Bruder, Neffe etc.) sein. Die Königs- bzw. Fürstenfamilie, der König selbst insbesondere, stand unter „Fortpflanzungspflicht“. Es klang in Kapitel 10 bereits an: Die implizite Pflicht bestand in diesem Fall um der Sicherheit des Staates willen; das Ausbleiben eines legitimen Erben konnte zum Auslöser einer schweren Herrschaftskrise, unter Umständen zum Anlass für einen Erbfolgekrieg werden. Sehr verstärkt wurde der Druck, der so auf ihm lastete, auch noch dadurch, dass nicht einfach nur ein Kind, sondern angesichts der historisch geltenden patrilinearen Erbgesetze vorzugsweise ein Sohn, noch dazu ein überlebensfähiger, hervorzubringen war. Es handelte sich hier sozusagen um eine Art „Funktionsnatalismus“. Aber wo sind Menschen schon dauerhaft und perfekt „funktionstüchtig“? Nicht jeder Herrscher war zeugungsfähig; manche noch nicht einmal zeugungswillig. Diese sehr spezielle Konstellation war Ursache für manches Drama, bei dem Persönliches und Intimes sich mit der höfischen Öffentlichkeit und den Belangen des Staates unlösbar durchmischten. Unter Rückgriff auf einschlägige eigene Forschungen75 darf hier auf die Familiengeschichte der Habsburger zur Zeit Maria Theresias und ihren Kindern verwiesen werden, die in dieser Hinsicht 73 Siehe dazu die „Liste südamerikanischer indigener Völker“ bei Wikipedia (Abfrage März 2023). 74 Götz Aly (2021). 75 In: A. Hansert (1998). Aus den Materialien, die in dieser Publikation ausführlich entfaltet sind, die nachfolgend kurz rekapitulierten Fälle – Jetzt auch: Sollberg-Rilinger (2017) u. Badinter (2023).

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quellengesättigt reiches und anschauliches Material liefert. Da war der Vater, Kaiser Karl VI. (1685–1740), der angesichts des Ausbleibens eines überlebenden Sohnes in „dynastische Depression“76 verfiel. Er konnte nicht wissen, dass es gerade die Ausnahmekonstellation einer zunächst höchst umstrittenen und bekämpften Frauenherrschaft war, die er mangels eines männlichen Thronerben hinterließ, dank derer eine der bedeutendsten Herrscherfiguren Europas im 18. Jahrhundert, eben seine Tochter Maria Theresia (1717–1780), zur Entfaltung kommen sollte. Maria Theresia hatte bekanntlich keine Probleme damit, die Erbfolge des Hauses zu sichern. Neben ihren Ambitionen als Erbin und Herrscherin einer kontinentalen Großmacht gebar sie, in vergleichsweise glücklicher Ehe mit dem später zum Kaiser gewählten Kleinfürsten Franz Stephan von Lothringen verheiratet, fünf Söhne und elf Töchter. Einige davon starben früh, andere blieben unverheiratet, u. a. weil sie für die geistliche Laufbahn bestimmt wurden, sodass nur sieben heirateten. Diese sieben aber brachten zahlreich Kinder hervor: Maria Theresia hatte 56 Enkel. Als „trefflichen Bevölkerer“ bezeichnete ihr Ältester, Kaiser Joseph II., seinen jüngeren Bruder Leopold, der allein mit 16 Kindern, eine der Schwestern sogar mit 18, zu dieser Zahl beigetragen hatte. Nie mehr war das Haus Habsburg vom Aussterben bedroht und dadurch vor Erbfolgekrisen faktisch gefeit. Und doch spielten sich in der Familie nicht zuletzt um die Frage von Zeugung und Geburt angesichts der dynastischen Fortpflanzungspflicht einige bemerkenswerte Mikrodramen ab. Joseph II. (1741–1790), Thronerbe von Maria Theresia und Kaiser Franz, hatte nur zwei Töchter aus erster Ehe, die auch noch im Kindsalter starben. Als auch seine Frau nach nur wenigen Jahren verstarb, bestanden die Eltern aus Sorge um die Erbfolge auf einer unzeitig schnellen Neuverheiratung. Jetzt bot man ihm eine unattraktive Prinzessin aus dem Haus Wittelsbach an. Joseph sabotierte dieses aufgezwungene Arrangement, indem er sich (höchstwahrscheinlich) weigerte, die Ehe auch zu vollziehen. Die Frau überlebte die erfahrene Missachtung nicht lange, bald erlag sie einer Pockenepidemie. Einer dritten Ehe, zu dem die Mutter den noch immer vergleichsweise jungen Witwer drängte, widersetzte Joseph sich dann hartnäckig und legte es auf einen Konflikt mit ihr an. Er entwickelte eine antinatalistische Attitüde und wich der Königspflicht zur Sicherung der Thronfolge aus persönlichen Gründen damit aus. Angesichts der Fruchtbarkeit seines Bruders Leopold, des „Bevölkerers“, und dessen Frau konnte er es sich unterdessen leisten. Sie sorgten für den Thronerben der nächsten Generation: Kaiser Franz II./I. (1768–1835). Mit seiner Kinderschar sei dem Staat gedient, schrieb Joseph seinem Bruder, er selbst aber sei damit der Pflicht enthoben, eine Frau zu haben, „was ein Zustand ist, den ich verabscheue.“ – Anders hingegen bei seinem Alter Ego in Preußen, König Friedrich II. (der Große), den Joseph ob seiner aufklärerischen Ideale

76 Eine Formulierung von Bernd Rill (1992), S. 332.

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bewunderte. Friedrich, stark traumatisiert durch den schweren, fast tödlich verlaufenen Konflikt mit seinem Vater während seiner Kronprinzenzeit, hatte generell keine Neigung zu Frauen und hatte sich daher ebenfalls geweigert, eine aufgezwungene Ehe zu vollziehen. Auch er wich damit persönlich der Lösung des dynastischen Deszendenzproblems aus. Bei den Hohenzollern aber war die Fruchtbarkeit nicht annähernd vergleichbar denen der Habsburger zur damaligen Zeit. „Gebe der Himmel“, so flehte Friedrich in seinem Politischen Testament dann in einem Alter, als es für ihn zu spät war, „daß wir bald eine zahlreiche Nachkommenschaft und eine sichere Erbfolge sehen!“ Ein Neffe, Sohn seines Bruders, sorgte dann endlich für einen Nachfolger. – Besonders interessant in der Habsburger Familie war in diesem Zusammenhang die Ehe der jüngsten Tochter Maria Theresias, Marie Antoinettes, mit dem französischen Thronfolger, dem späteren Ludwig XVI. Vor allem durch den geheimen Briefwechsel mit ihrer Mutter und andere Familienkorrespondenz sowie durch Gesandtenberichte hat die Forschung retrospektiv Einblick bis in die letzten Windungen des Intimlebens des ersten Paars am französischen Königshof. Beide Partner wurden in sehr jungem Alter bereits miteinander verheiratet: Marie Antoinette war bei der Hochzeit erst 14, Ludwig knapp 16 Jahre alt. Was Wunder, dass Scheu, Unerfahrenheit und psychische Blockaden einen schnellen Vollzug der Ehe mit entsprechendem Ergebnis verhinderten. Ständig bedrängte die Mutter aus der Ferne ihre leichtlebige Tochter, und auf der anderen Seite verlangte der königliche Großvater, Ludwig XV., in den intimen Angelegenheiten Rechenschaft von dem Paar. Die Thronfolge war nun einmal eine heikle Angelegenheit. Die Blockade wurde erst nach mehr als sieben Jahren gelöst, nachdem Marie Antoinettes ältester Bruder, eben Kaiser Joseph, im Auftrag der Mutter nach Versailles gereist war, um dem jungen, unbeholfenen Paar quasi ehetherapeutisch auf die Sprünge zu helfen.77 Anhand solch gut dokumentierter Vorgänge und Materialien aus der Sphäre der dynastischen Fürstenherrschaft, wo objektiv ein denkbar hoher Druck im Hinblick auf Fortpflanzung und Nachkommenschaft besteht, lässt sich das Deszendenzproblem als eines der originären und universalen Probleme der menschlichen Lebenspraxis schlechthin mit großer Eindrücklichkeit begreifen und darstellen. Wo es nicht gelöst wird, gibt es keine Lebenspraxis – ist partiell, aber konkret „Verebben“. Im japanischen Kaiserhaus ist das Problem wegen des Festhaltens an der patrilinearen Erbfolge bis heute zugespitzt erfahrbar, während sich die europäischen Monarchien, nachdem die Patrilinearität und ranggleiche Heirat aus

77 Stephan Zweig vertrat die Lesart, eine Phimose mit anschließender Operation sei für die Verzögerung von Ludwigs und Marie Antoinettes Elternschaft verantwortlich gewesen. Die Autorin kam durch eine intensive Rekonstruktion der Ehebeziehung zu anderen Ergebnissen. Siehe den Abschnitt „Das Deszendenzproblem als Lebensproblem: Marie Antoinette und Ludwig XVI.“ in: A. Hansert (1998), S. 165–187.

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funktionalen Gründen nicht mehr wie im Ancien Régime erforderlich sind, sich durch Einbeziehung der Töchter bei der Thronfolge Luft verschafft haben. Es sind diese kleinen Einheiten – ein konkretes Gattenpaar, eine bestimmte Familie, eine Dynastie, eine isolierte Kleinstpopulation –, an denen, wenn es nicht zur Fortpflanzung kommt, „Aussterben“ erkennbar wird. Hier, wo man die Familiengründung nicht stellvertretend durch eine Vielzahl von anderen, die es fürs Ganze schon richten werden, erledigen lassen kann, wo es auf den Einzelnen tatsächlich ankommt, wird das Deszendenzproblem als Lebensproblem wirklich sichtbar und greifbar. In Mikrostrukturen wie diesen aber entscheidet sich auch das große Ganze, „der Lauf der Welt“: die Zukunft einer Population, auch einer großen, schließlich die der „Gattung“, der Menschheit insgesamt. Heterosexuelle Paare bringen Kinder hervor; doch in welcher Zahl, in welchem Alter, unter welchen Umständen sie es tun oder nicht tun, darin sind sie ihrerseits selbst sehr Kinder ihrer Zeit, ihrer Kultur, ihres sozialen Status. Geschichte und Gesellschaft wirken an diesem Punkt sehr stark ins Intimleben, wo generativ und körperlich der Ursprung der nächsten Generation liegt, hinein. Gesellschaften, die sich historisch modernisieren, sind typischerweise unter anderem auch daran erkennbar, dass sie den „demographischen Übergang“, wie es die Bevölkerungswissenschaft nennt, durchlaufen bzw. durchlaufen haben: Erst sinkt dank verbesserter Lebensbedingungen (Ernährung, Hygiene, Wohnen, medizinische Versorgung, materieller Wohlstand etc.) beträchtlich die Todesrate, vor allem die Kindersterblichkeit; das durchschnittliche Lebensalter steigt damit stark an, die Bevölkerung wächst. Meist phasenverschoben sinkt dann die Geburtenrate, und zwar erheblich: Vier, fünf oder noch mehr Kinder pro Frau waren in vormoderner Zeit im Durchschnitt notwendig, um die sehr hohe Sterblichkeit, die damals herrschte, auszugleichen. Nach erfolgreich absolviertem demographischem Übergang reichten (unter Absehung von Wanderungsbewegungen) statistisch 2,1 Kinder pro Frau aus, um (allein durch Reproduktion) die Bevölkerungszahl dauerhaft stabil zu halten. Die europäischen Gesellschaften haben diese grundlegende historische Transformation ihrer Bevölkerungsstruktur in verschiedener Ausprägung und Varianten im Lauf des 19. Jahrhunderts durchlaufen: Für europäische oder nordamerikanische Gattenpaare stellte sich das Deszendenzproblem bereits seit dem frühen 20. Jahrhundert persönlich und familiär damit typischerweise völlig anders als für ihre Ururgroßeltern noch im 18. Das ist einer der großen kulturellen Generalnenner, auf dem heute (fast) alle Paare in den westlichen Gesellschaften die Frage der Familiengründung angehen und von dem sie sich bis ins Intime hinein bestimmen lassen. Zugleich verliert in der modernen individualistischen Gesellschaft das Kinderbekommen seine Selbstverständlichkeit; die Familiengründung wird mehr zu einer Art von explizitem Projekt des Einzelnen und der einzelnen Gattenpaare, das (es wurde bereits erwähnt) in Spannung und Konkurrenz zu anderen Projekten steht, die man sich im Leben vornimmt, vor allem im Beruf. „Kinder bekommen die

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Leute immer“, soll Bundeskanzler Konrad Adenauer Mitte der 1950er Jahre gesagt haben, als er die deutsche Rentenversicherung auf den sogenannten Generationenvertrag umstellte, demzufolge es in ausreichender Zahl eine ständig nachwachsende Generation gebe, die die Fürsorge für die Alten übernehme. Das konnte zu einer Zeit gesagt werden, als die Geburtenraten ganz allgemein noch sehr hoch waren. Nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs lagen sie überall in den modernen industrialisierten Ländern, in West- und Mitteleuropa, besonders aber in Osteuropa sowie in den USA in heute kaum mehr vorstellbarer Höhe.78 Deutschland mit einer Geburtenrate von 2,47 Kindern pro Frau in der zweiten Hälfte der 60er Jahre wurde von den meisten Ländern noch übertroffen: Frankreich erreichte damals 2,85, das Vereinigte Königreich 2,85, die Niederlande 3,17 und die USA waren unter den westlichen Ländern mit 3,58 uneinholbar weit vorne. Die osteuropäischen Länder (Polen Anfang der 50er Jahre 3,63) lagen ebenfalls oft über der Ziffer drei, Russland erreichte (ebenfalls Anfang der 50er) 2,85. Seit den 70er Jahren aber setzte fast überall in diesen Ländern allmählich ein Rückgang ein; im Lauf des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts, teils kurz nach der Jahrtausendwende wurden dann jeweils Tiefstände erreicht. Seither gibt es allerorten zwar eine geringe Erholung, aber keines dieser Länder in Europa und in Nordamerika erreichte mehr den Stand von 2,1, der statistisch zur Erhaltung der Bevölkerung notwendig wäre. In verschiedenen Staaten Asiens, die starke Modernisierungsprozesse durchlaufen oder durchlaufen haben, erreicht der Geburtenrückgang zeitversetzt zum Westen noch weitaus dramatischere Ausmaße; hatte man nach dem Zweiten Weltkrieg in Ländern wie China (einschließlich Taiwan), Südkorea, Singapur Geburtenziffern von mehr als sechs erreicht, so stürzten sie nach der Jahrtausendwende auf Tiefstände von 1,05 in Taiwan, 1,11 in Südkorea oder 1,21 in Singapur ab; auch Japan ist bekanntlich mit zeitweise nur noch 1,3 Kindern pro Frau sehr geburtenschwach. Das hat zur Folge, dass das Bestanderhaltungsniveau von 2,1 Kindern pro Frau unterdessen nicht nur in Europa und Nordamerika, sondern jetzt (im Jahr 2023) bereits bei 68 Prozent der Weltbevölkerung (bei 5,4 Milliarden Menschen) unterschritten wird; selbst in Indien ist die Fertilitätsrate 2020 unter 2,1 gesunken.79 Betrachtet man diese Entwicklungen unter dem hier verfolgten Generalthema, das Verhältnis von „Gattung und Gesellschaft“ und die Situierung des Individuums in und zwischen ihnen zu bestimmen, so lässt sich vorläufig konstatieren, dass sich die Expansion der Sphäre der Gesellschaft, ihre machtvolle immanente Modernisierungsdynamik und die Anforderungen, die sie damit an das Individuum stellt,

78 Alle nachfolgend genannten Zahlen nach Angaben der Population Division der UN (https://population.un.org/wpp/Download/Standard/Fertility/) (Stand Juni 2023). 79 Pressemitteilung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung Wiesbaden v. 7.7.2023. Die Zahlen beruhen auf Daten der UN.

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ganz offensichtlich dämpfend auf die Neigung zur Natalität auswirken. Die Spannung zwischen Gattung und Gesellschaft, der das Individuum an diesem Punkt ausgesetzt ist, steigt massiv; und es scheint, die Menschen verlieren hinsichtlich Familiengründung ihre Unbefangenheit, sehen darin mehr ein Risiko für das Erreichen ihrer sonstigen Lebensziele und folgen im Zweifel eher den Imperativen, die von Seiten der Gesellschaft an sie ausgehen, insbesondere von dem Druck, der von der Berufsrolle herrührt. Die Rationalität der Gesellschaft minimiert und marginalisiert die „produktive Irrationalität“ der Deszendenz. Es ist zugleich auch eine Variante der hier vielfach angesprochenen Beobachtung, wonach die „Gesellschaft“ das einzelne Individuum den Fängen und der Reichweite der „Gattung“ (der Familie, dem Clan, der Verwandtschaft) entreiße – an diesem Punkt demographisch messbar, indem die umfassend vergesellschafteten Menschen der Moderne sich auf die Fortführung der Gattung vorerst nur noch unterhalb jener Geburtenziffer einlassen, die statistisch zu ihrem Erhalt notwendig wäre. Die entscheidenden Faktoren für diese Entwicklung scheinen einigermaßen evident. Da sind zunächst die gesteigerten Möglichkeiten der Geburtenkontrolle. Dabei muss man zumindest beim größten Teil der Fälle, und zwar überall dort, wo eine Geburt durch den Einsatz von Kontrazeptiva bereits am Ursprung verhindert wird, präziser von „Zeugungskontrolle“ sprechen. Die in den 1950er Jahren erfundene Antibabypille war und ist bis heute das wirksamste Mittel zur Verhinderung der Geburten bzw. eben gleich der Zeugungen. In den Bevölkerungen der modernen Gesellschaften war die Bereitschaft vorhanden, sie in der Breite anzuwenden, was sich in den oben angeführten Zahlen demographisch seit den 1970er Jahren als „Pillenknick“ bemerkbar machte. Zum massenhaften Gebrauch der Pille kamen andere Faktoren hinzu, so die allmähliche Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in den industrialisierten Staaten in Ost und West. Abtreibung ist „Geburtenkontrolle“ im engeren Sinne, da hier die Geburt von bereits Gezeugten (einer existierenden Apriori-Individualität) verhindert wird. In Deutschland lässt sich die Zahl der jährlich gezeugten Kinder aktuell auf weit mehr als eine Million schätzen. Laut offiziellem Jahrbuch des statistischen Bundesamts (Ausgabe 2019) wurden im Jahr 2017 davon 784.884 lebend- und 3.000 tot geboren, des Weiteren wurden 101.209 abgetrieben, während eine nicht bekannte Zahl durch Fehlgeburten und anderen Gründen80 verloren ging. Eng verbunden mit diesen Entwicklungen beim Thema Geburtenkontrolle und Geburtenrückgang waren verstärkte Bemühungen zur rechtlichen und sozialen Gleichstellung der Frauen mit den Männern. Rein rechtlich ist die Parität im We-

80 Eine weitere unbekannte, sehr große Zahl von Gezeugten, denen die Nidation nicht gelingt – das sind mehr als 50 % – und die daher gar nicht erkannt werden, kann naturgemäß nicht statistisch erfasst werden.

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sentlichen erreicht. Sozial sind Unterschiede aber sichtbar geblieben. Zwar gehen im Vergleich zum frühen 20. Jahrhundert auch die Frauen im erwerbstätigen Alter heute in ungleich stärkerem Maße einer beruflichen und das heißt in der Regel einer außerhäuslichen Tätigkeit nach oder sind in verschiedenen Institutionen, die früher reine Männerdomänen gewesen waren, etwa in Parlamenten, stärker präsent, aber die Unterschiede sind bekanntlich erhalten geblieben. (Siehe dazu Kapitel 17) Jedenfalls hat sich der Auszug der Frauen aus dem häuslich-familiären Raum, die Expansion auch ihres Engagements in die Sphären der Gesellschaft die Spannung zwischen den divergierenden Anforderungen erhöht – heute wie erwähnt alltäglich erlebt als Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Auch diese Spreizung des Alltagslebens wirkt sich auf die Gebärfreudigkeit dämpfend aus. Schließlich ist angesichts gestiegener Scheidungsraten auch das Vertrauensverhältnis zwischen den Geschlechtern fragiler geworden. Kinder sind eben immer die Nachkommen beider Partner; könnte ein Scheitern der Beziehung durch Auseinandergehen der Eltern noch gelöst werden, so kann es für die Kinder dauerhafte Loyalitätskonflikte nach sich ziehen und damit auf die ehemaligen Partner zurückwirken. Kinder binden – in jeder Hinsicht. Die Kollektivierung der frühkindlichen Erziehung (Ausbau der Kinderkrippen), die helfen soll, diese Belastung von Eltern zu minimieren, und andere familienpolitische Fördermaßnahmen des Staates haben die Geburtenziffern nicht wesentlich erhöht. Bemerkenswert ist jedenfalls die Paradoxie zweier entgegengesetzter Entwicklungen, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg in verschiedenen Varianten in den modernen Ländern vollzog: Auf der einen Seite expandierten die finanziellen und institutionellen Fördermaßnahmen der staatlichen Familienpolitik und sonstiger Träger, um die Neigung zur Familiengründung zu unterstützen, auf der anderen Seite aber sank die Geburtenrate gemäß den erwähnten Zahlen tendenziell. Die gesteigerte Förderung konnte den Rückgang nicht aufhalten. An einem solchen Phänomen wird die Spannung von Gattung und Gesellschaft, die von kategorialer Natur und generell unaufhebbar ist, heute besonders evident. An und für sich ist diese Problematik für jedes einzelne, erwachsen gewordene Individuum erlebbar. Soll, will und kann ich mich dauerhaft mit einem Partner/ einer Partnerin verbinden? Wie finde ich ihn/sie? Wollen wir, unter zeitweiliger Hintanstellung anderer Lebensziele, Kinder bekommen und uns ihnen widmen? Wann und wie viele sollen und können es sein? Und sind wir bereit und in der Lage, im System der Austauschbeziehungen zwischen den Generationen jene „Gabe“ an die Kinder auch dauerhaft und zuverlässig zu geben? Diese Fragen werden in der heutigen individualistischen Gesellschaft trotz ungleich höherem Wohlstand drängender erlebt als in traditionalen Milieus, wo „die Leute Kinder immer bekommen“. Auch unter diesen Auspizien wird das Deszendenzproblem als Problem subjektiv in einer eigenen zeitgenössischen Variante (also sehr anders als es etwa in den historischen Königsdynastien der Fall war) erfahren. Die Art und Weise,

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wie die Menschen Kinder bekommen, d. h., wie sie das Deszendenzproblem lösen, eignet sich so gesehen nicht wenig auch als aufschlussreicher Gegenstandsbereich für die Zeitdiagnostik. Um das Aussterben geht es bei den großen Populationen aber nicht. Auch wenn die Zahl der Geburten in einem Land wie Deutschland sich von 17,3 pro tausend Einwohner (in West und Ost) im Jahr 1960 auf 9,5 im Jahr 2017 fast halbiert hat, so bedeutet das in absoluten Zahlen aktuell (2020) immer noch ca. 773.000 Geburten im Jahr. (Weltweit sind es mehr als 130 Millionen.) D. h. fast 800.000 Paare entschließen sich Jahr für Jahr allein in Deutschland, ein Kind zu zeugen, zu gebären und es großzuziehen. Damit wird deutlich, welch gewaltigen Umfang jene aufwendige „Gabe“ an die Kinder unter der Perspektive der gesamten Population dann letztlich annimmt. Es ist dies eine große, individuelle wie kollektive Vorleistung, deren Gegengabe im Rahmen der oben benannten Austauschbeziehungen zwischen den Generationen erst in der Zukunft eingelöst wird. Es geht beim Zeugen und Hervorbringen von Kindern freilich noch um mehr als nur um die Zukunft und den (demographischen) Umfang der Gattung fernerhin. Mit jeder einzelnen Zeugung eines Kindes geht es auch – so die grundlegende Erkenntnis in Kapitel 1 – um die genuine Neuschöpfung der Gattung. Jedes Gattenpaar kreiert, so das Ergebnis der dortigen Überlegungen, mit seinem Kind automatisch einen individuellen und je einmaligen Aszendentenbaum, d. h. eine neue, nie dagewesene Kombination eines Segments der universalen, gattungsweiten Verwandtschaft. Wohlgemerkt: Jedes Gattenpaar tut es! Mit jedem Kind und seinem je eigenen Aszendentenbaum erneuert sich so die verwandtschaftliche Struktur der Gattung. Und mit jeder Kohorte, jeder Generation erscheint die Gattung daher erneuert, verwandelt, anders zusammengesetzt als je zuvor; ihr Gewimmel wird mit den Kinderzeugungen ständig neu durchpflügt. Ganz konkret lässt sich an der personalen Zusammensetzung eines individuellen Aszendentenbaums, bzw. anhand der von Genealogen sogenannten Ahnenlisten, so auch eine Aussage über den Grad an (ethnischer, kultureller, nationaler) Homogenität oder Heterogenität einer bestimmen Bevölkerung treffen: In stark multikulturell geprägten Gesellschaften, in denen die verschiedenen Menschengruppen sich durchmischen, sind die durch Gattenwahl erzeugten Aszendentenbäume und Ahnenlisten ihrer Mitglieder statistisch messbar „bunter“ als in Gesellschaften, die, etwa infolge einer geographischen (insularen) Isolation, abgeschottet und ethnisch und kulturell homogen sind. Die Heirat mit „Fremden“ macht die Abstammungsverwandtschaft (eben die Aszendenz) der daraus hervorgehenden Kinder vielfältig, erhöht die Diversität auf der Ebene der „Gattung“, sprich der jeweiligen Population – und heizt damit potenziell auch die Spannung an, die zwischen „Gattung“ und „Gesellschaft“ herrscht.

Einzigartigkeit und Gleichheit

Kapitel 16 Einzigartigkeit und Gleichheit Sind die Menschen „gleich geboren“ und wenn ja, in welchem Sinne? Mit den hier entwickelten Überlegungen zur Aszendenz und zur Aszendentenstelle soll eine Antwort auf diese sowohl philosophisch wie gesellschaftspolitisch immer wieder heikle Frage versucht werden. Rekapitulieren wir zunächst noch einmal einige der theoretischen Grundannahmen, die hier vor allem in Teil I entwickelt wurden. Die Aszendentenstelle, die in der Sequenz der Anfänge des einzelnen Individuums den entscheidenden Markpunkt ausmacht, ist nichts Naturgegebenes. Sie ist Resultat der elterlichen Aktivitäten, nämlich ihrer Gattenwahl und ihres generativen Verhaltens, der je spezifischen Lösung des Deszendenzproblems. Bereits mit der Gattenwahl ist die Aszendentenstelle der späteren Kinder virtuell vorhanden; mit der vollzogenen Zeugung wird sie real, wird sie verkörpert, d. h. sie wird Körper. Und mit dem Vollzug der Zeugung, der Verkörperung, kommt zugleich ein Naturelement zur Geltung: die mit der Eizellbefruchtung eintretende Wahl des (biologischen) Geschlechts. Mit Aszendentenstelle und (negatorisch definierter) Geschlechtlichkeit ist die Apriori-Individualität konstituiert, und zugleich haben die Eltern damit eine konkrete Platzierung ihres Kindes in der globalen Weite der Gattung vorgenommen, wodurch die relative Perspektivität, mit der es später in die Welt blicken und wie es die Welt erfahren wird, grundgelegt ist. Da bei ihnen die Ahnen genealogisch über viele Vorfahrengenerationen bekannt sind, wurde anhand der Herkunftsverwandtschaft von Kaiser Leopold I. und seinen drei Ehefrauen exemplarisch und damit allgemein erkennbar, wie Verwandtschaftsstrukturen sich mit der Zeugung eines jeden Kindes nicht allein im klein- und kernfamiliären Umfeld, sondern auch groß- und tiefenräumlich immer wieder neu konstellieren. Deszendenz produziert Aszendenz. Die Zukunft bringt die Vergangenheit zur Geltung: Mit dem Kind (Zukunft) zeugen die Eltern (in der Gegenwart) auch seinen Aszendentenbaum (der als Struktur der familiären Vergangenheit damit überhaupt erst entsteht). Was hier emergiert, ist unvermeidlich determiniert. Jede Zeugung, jede Geburt kreiert daher die Menschheit verwandtschaftlich partiell neu. Wird dies aus kontingenten Gründen bei einem Kaiser und der Kaiserin besonders deutlich erkennbar, so gilt es auch für den bürgerlichen und nichtbürgerlichen Jedermann, gilt auch für „Leo und Maggie“. Die Neukonstellation der Verwandtschaftsstrukturen, die mit jeder einzelnen Zeugung eines Kindes stattfindet, ist universell, gilt für die gesamte Menschheit, die gesamte Art und reicht, wenn man es biologisch betrachtet, bis in jene subhumanen Gattungen, die sich ebenfalls zweigeschlechtlich fortpflanzen. Mehr als hundert Milliarden Menschen haben existiert, seit der Homo sapiens in der Evolutionsgeschichte hervorgetreten ist. Mit jedem einzelnen dieser Exemplare der Art ist eine von seinen Eltern geschaffene individuelle Neukombination der menschheitlichen Verwandtschaftsstrukturen verbunden und jedes ist

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damit die Verkörperung einer unwiederholbaren Aszendentenstelle. Damit gab und gibt es in der Menschheit historisch und in der Gegenwart mehr als hundert Milliarden verschiedene Körper, mehr als hundert Milliarden verschiedene Verwandtschaftskonstellationen (Aszendentenstellen), mehr als hundert Milliarden genuin verschiedene Perspektiven, in die Welt zu sehen und die Welt zu erfahren. Denn: „Zu jeder Seele gehört eine andre Welt“.81 Die Menschen sind somit – es sei an dieser Stelle wiederholt – a priori, d. h., bereits an ihrem Ursprung in der Zeugung, noch bevor sie sich biographisch und sozial zu entfalten beginnen, einzigartig – eben eine Apriori-Individualität. Diese ihre Einzigartigkeit ist konstitutionell. Die Menschen werden daher überall als Einzigartiges und Unwiederholbares gezeugt und geboren – und eben darin sind sie sich, abstrakt betrachtet, paradoxerweise gleich: (Apriori) einzigartig zu sein, ist nichts Besonders, denn: Jeder und jede ist es.82 Die gesamte universal verbreitete Leo-Maggie-Konstellation mit ihrem Kind, das unvermeidliche schöpferische Durchmischen und Neukombinieren der menschlichen Verwandtschaftsstrukturen, die jede einzelne Zeugung objektiv darstellt, ist, da ein „Verebben“ der Menschheit nicht absehbar ist, unaufhebbar und quasi von ewiger Dauer. Deszendenz schafft stets erneut individuelle Einzigartigkeit und erneuert, da es in unserer Gegenwart im frühen 21. Jahrhundert weltweit jährlich mehr als 130-millionenmal geschieht, in ein und demselben Prozess dabei immer zugleich ein Segment in der verwandtschaftlichen Struktur der ganzen Menschheit. Das unterscheidet den Menschen (wie alle Naturwesen) von der standardisierten industriellen Massenanfertigung, deren Produkte als ununterscheidbare Serienobjekte und in diesem Sinn auch substanziell gleich und gleichartig hervorgebracht werden. Wenn die einzelnen Menschen in ihrem Ursprung in der „Gattung“ somit gleichermaßen je einzigartig und damit „nicht-gleich“ mit dem anderen Exemplar der Gattung sind, wie wird diese Ausgangskonstellation sich auf die Sphäre der „Gesellschaft“ auswirken? Wie reagiert „Gesellschaft“ auf die Herausforderung, mit der die „Gattung“ sie in Gestalt der schier unendlichen Diversität der menschlichen Individuen konfrontiert, nämlich darauf, dass Aszendenz und Geschlecht eine

81 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Kritische Studienausgabe, in: ders. (1999), Bd. 4, S. 272. 82 Mit den eineiigen Mehrlingen scheint es Grenzfälle zu geben, auf die diese Aussage nicht zutrifft. Sie haben ein und denselben Ursprung in bloß einer Zeugung, einer Zygote. Ihre genuine Einzigartigkeit wäre daher eingeschränkt: gemeinsam einzigartig im Verhältnis zu den anderen, nicht aber untereinander. Bei der Geburt aber gibt es dann eine Abfolge. Eines der Kinder kommt zuerst, das oder die anderen dann der Reihe nach hinterher. Eltern unterscheiden in diesen Fällen deutlich zwischen dem erst- und dem nächstgeborenen. Insofern gilt die getroffene Aussage, dass die Menschen überall, wenn in diesem Fall auch nicht einzigartig gezeugt, so doch einzigartig geboren werden, auch hier.

Einzigartigkeit und Gleichheit

untilgbare Kraft entfalten, antiegalitär auch in der Sphäre der Gesellschaft wirksam zu werden? Historische und traditionale Kulturen neigen oder neigten eher dazu, diese genuine Nichtgleichheit aller Individuen, die in der Sphäre der Gattung lokalisiert ist, auch in ihren sozialen Strukturen zur Entfaltung kommen zu lassen und in verschiedener Form ausgeprägte (geburts-)ständische Abstufungen, große soziale Hierarchien und Geschlechterungleichheit auszubilden; (moderne) Gesellschaften, die per se der Norm der „Egalité“ verpflichtet sind, bemühen sich hingegen, ihren Einfluss zu minimieren oder gar zu brechen. Doch diese allgemeine historisch gerichtete Tendenz von der gesellschaftlichen Hierarchie damals hin zur gesellschaftlichen Egalität in unserer Zeit, von wegen heute hätten wir den (vorläufigen) Höhepunkt dieser Entwicklung erreicht, gilt immer nur mit Abstrichen, denn auch in der Frühzeit der Kulturgeschichte gab es immer wieder einmal Bemühungen, die praktischen und politischen Wirkkräfte der Apriori-Individualität zu nivellieren. Radikal hat kein Geringerer als Platon einmal ein entsprechendes Programm ausformuliert, wenn er in seiner Politea – „Der Staat“ – eine systematische Auflösung der Familie propagierte. Platons Idealstaat besteht aus drei Ständen: Unten stehen die Arbeiter und Handwerker, darüber die Wächter (das sind die Krieger) und ganz oben die Herrscher, die Philosophenkönige, die sich aus dem Wächterstand rekrutieren. Nicht zwingend kommen die einzelnen Menschen durch Geburt in diese Stände; im Gegenteil. Platon will (so im 3. Buch) alle Verbindung zur Geburt, d. h. alles persönliche Wissen um die eigene Aszendenz, kappen. Dazu erfindet er eine Fabel oder einen Mythos, eine „schöne“ bzw. „notwendige Lüge“, die dem Herrscher, den Wächtern und dem ganzen Volk einzureden sei. Demnach seien die Kinder „unter der Erde gewesen und dort aufgezogen und geformt worden“. (S. 108)83 Alle anderen Bürger seien „ihre Brüder und gleichfalls Kinder der Erde“. Dass die Kinder faktisch von leiblichen Eltern kommen, ist aller Legendenbildung zum Trotz allerdings nicht aus der Welt zu schaffen. Ergo will Platon wenigstens dafür sorgen, dass keine individuelle Bindung zwischen ihnen entsteht: kein Wissen um die eigene Aszendenz, die eigenen Eltern; und umgekehrt: kein Wissen um die eigene Deszendenz, kein Wissen, wer unter allen Kindern die eigenen sind. Wie das geschehen soll, führt er in im fünften Buch näher aus. Die Maßnahmen, die er hier vorschlägt, sollten aber nur für den Stand der Wächter, der Krieger, gelten, deren Aufgabe es ist, den Staat zu schützen; für die breite Masse der Bauern und Handwerker waren sie nicht vorgesehen. Der Stand der Wächter besteht nicht nur aus Männern, auch Frauen gehören ihm gleichberechtigt an; auch Frauen ziehen in Platons Staat also in den Krieg, womit philosophiegeschichtlich bemerkenswert früh schon ein Exempel von Geschlechterparität gegeben worden

83 Hier und nachfolgend zitiert nach Platon (1973).

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ist. Zugleich rekrutiert der Stand der Wächter und Wächterinnen sich nicht (oder zumindest nicht hauptsächlich) durch Zuwachs von außen, durch Aufrücken aus dem Kreis der Bauern und Handwerker, sondern im Wesentlichen durch eigene Fortpflanzung. Auch für die Wächter gibt es somit das Deszendenzproblem zu lösen. Bei ihnen aber soll die im Allgemeinen unvermeidliche Herausbildung exklusiver Familienstrukturen unbedingt vermieden werden. Nach Platons Vorschlag muss damit bereits bei der Gattenwahl begonnen werden, die in Form von systematisch betriebener Promiskuität stattfinden soll, und es setzt sich fort in der vollkommenen Kollektivierung der Erziehung der daraus hervorgehenden Kinder: „Die Wächterinnen sollen allen Wächtern gemeinsam angehören; keine darf mit einem Manne allein zusammenleben. Auch die Kinder sollen gemeinsam sein, und kein Vater soll sein Kind, noch das Kind seinen Vater kennen.“ (S. 158) Die freie Promiskuität wird freilich durch ein stark eugenisches und ein demographisches Interesse sogleich wieder etwas eingeschränkt. Da sich „die Rasse vollkommen gut erhalten soll“, müssten sich, so Platon, vor allem die vorzüglichsten Männer möglichst häufig mit den vorzüglichsten Frauen paaren. (S. 161) Und die Zahl der Bürger solle möglichst auf gleicher Höhe gehalten werden (was bei den heutigen Sterblichkeitsraten wie erwähnt eine Fertilität von 2,1 Kindern pro Frau bedeuten würde, unter damaligen Umständen statistisch sicher etwas höher gelegen hat). Wie aber wird nun die Anonymität der Eltern-Kind-Beziehung erreicht? Mit heutigen Bezeichnungen würde man sagen, durch eine strikte und totale Krippenerziehung unmittelbar von Geburt an: „Jedesmal, wenn nun ein Kind geboren wird, nehmen es die hierzu bestellten Behörden in Empfang. Dieselben mögen aus Männern oder aus Frauen bestehen oder auch gemischt sein.“ (ebd.) Die Kinder würden in eine Anstalt gebracht, „die irgendwo im Staate ihren besonderen Platz hat.“ (S. 162) – zumindest die gesunden, während man, dem eugenischen Interesse gehorchend, die verkrüppelten und die von untüchtigen Eltern an einen geheimen und unbekannten Ort bringe. „Die Behörden werden auch für die Ernährung des Kindes sorgen. Sie werden die Mütter in die Anstalt führen, zur Zeit wo sie Milch haben, werden dabei aber jede Vorsichtsmaßregel treffen, damit keine Mutter ihr Kind erkennt, werden auch andere Frauen beschaffen, wenn die Mütter nicht genug Milch haben. […] Die nächtliche Wartung und sonstige Arbeit mit den Kindern werden sie den Ammen und Pflegerinnen übertragen.“ (ebd.) Da die Mütter als Wächterinnen ja im Kriegsdienst stehen, wird dadurch das Aufkommen einer Spannung zwischen – modern gesprochen – Familie und Beruf so bereits im Ansatz weitestgehend vermieden. Ergo heißt es: „Da wird das Kinderbekommen den Frauen der Wächter sehr leicht gemacht!“ (ebd.) So bleibt die Geburtenrate hoch genug für den Bestandserhalt der Wächterbevölkerung, nicht so wie in der heutigen modernen Gesellschaft, in der, wie beschrieben, unter anderem der typische Konflikt zwischen Beruf und Familie sich auf die Fertilität stark dämpfend auswirkt.

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Platons Auflösung der Familienstrukturen zieht ein Folgeproblem nach sich. Wenn alle Männer und Frauen des Wächterstandes promisk leben und sie ihre eigenen Nachkommen und Vorfahren nicht kennen, wie kann dann verhindert werden, dass der Vater mit der eigenen leiblichen Tochter, die Mutter mit dem eigenen leiblichen Sohn schläft? Wie kann dann noch die Inzestschranke eingehalten werden? Da den Frauen zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr, den Männern aber vom Jünglingsalter bis zum 45. Jahr die Kinderzeugung zugestanden wird – während eine Zeugung außerhalb dieser Intervalle wiederum aus eugenischen Motiven als „Verbrechen gegen heiliges und weltliches Recht“ angesehen wird (ebd.) –, könnte es zu einer Kopulation zwischen Blutsverwandten in aufsteigender und absteigender Linie kommen. Damit das nicht geschieht, nennen die Menschen nicht nur dasjenige Kind, das die Frau selbst geboren hat, sondern schlechterdings alle Kinder, die ebendieser Geburtenkohorte angehören, kollektiv ihre Söhne und ihre Töchter. Mit dieser Kohorte insgesamt ist ihnen der Sexualverkehr verboten; so können sie sich auch nicht, unwissend wie sie sind, der Gefahr aussetzen, mit dem eigenen leiblichen Sohn bzw. der Tochter zu schlafen. Platons totale Negation der Familie lädt auch zur soziologischen Ausdeutung ein. Sein Modell hat Ähnlichkeit mit der Situation des Findelkindes. Das Findelkind weiß nicht, wer (leiblich) sein Vater und wer seine Mutter ist, und diese beiden wissen später nicht, wer unter den Heranwachsenden ihr (leibliches) Kind ist. Doch Platon geht noch weiter. Während Findelkinder (oder die Kinder aus dem nazistischen Lebensborn) unter der Gesamtzahl der Kinder eine rare Ausnahme darstellen und einer höchst speziellen Krisen- und Ausnahmesituation entstammen, macht er dieses Szenario zum Prinzip: Auf alle im Wächterstand wird es gleichermaßen angewendet, wird in diesem Stand universell und grundsätzlich. Des Weiteren gilt, dass das Findelkind unserer Zeit, das ggf. von Pflegeeltern aufgenommen und adoptiert wird, ersatzweise doch feste und exklusive Bezugspersonen erhält, an denen es sich ggf. lebenslänglich orientiert. Platon hingegen überlässt die Neugeborenen einer Anstalt bzw. einer Behörde, also einer eher anonymen Institution. Die Ammen und Pflegerinnen, auch männliche Pfleger und Erzieher, sind ihnen offenbar nicht individuell zugeordnet. Die Platon’sche Versorgung der Kinder schaltet die (leiblichen) Eltern aus dem Sozialisationsprozess vollkommen und systematisch aus und setzt ganz und von Anfang, d. h. hier von Geburt an allein auf das Krippenmodell. Während (leibliche) Eltern, wie (leiblich) Verwandte überhaupt, exklusiv und nicht austauschbar und darin das ganze Leben über von Bedeutung sind, gehorchen die Erzieher in Platons Anstalt der Logik der gesellschaftlichen Rolle, der Berufsrolle, wie sie hier oben entwickelt wurde: Die Kinder sind, von der Peergroup abgesehen, nur und ausschließlich von Personen umgegeben, die austauschbar sind; sie, insbesondere die Säuglinge, können die für die primäre Sozialisation so eminent wichtigen Exklusivbeziehungen nicht aufbauen. Es gäbe keine „Wärme“, nur schroffe „Kälte“ von Anfang an. Sie wissen nicht, woher sie

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(familiär) kommen. Alle erwachen im Lebensborn. Alle sollen von ihrem Ursprung her gleich sein. Doch Platon war früh in der Geschichte tätig. „Alle“, die es treffen sollte, war zu seiner Zeit noch eine höchst relative Zahl unter „allen“ Lebenden; eben nur alle, die dem Wächterstand angehörten; die Bauern und Landarbeiter aber nicht, auch nicht die Sklaven; und von denen, die überhaupt nicht zum Staat, nicht zur Polis gehörten, die draußen lebten, die höchst diffuse Masse der „Barbaren“, ist in diesem Zusammenhang schon gar nicht die Rede. Dort aber, abseits des Elitestands der Poliswächter, schießen Hierarchien und Differenzierungen überall ungezügelt ins Kraut, überall perpetuieren sich im Zuge des Generationswechsels, mit der Deszendenz, Ungleichheit und Diversität beständig. Normen und Utopien der Gleichheit, wie Platon sie in bemerkenswert radikaler Weise entwickelte, waren in der Geschichte eben immer nur auf einen eng begrenzten Kreis von Personen, Gruppen, Ständen etc. beschränkt; die Vorstellungen aber, dass sie universal sei und für die ganze Menschheit – gattungsweit – Gültigkeit haben müsste, ist eine spätere Entwicklung – zumal man vor der Selbstentdeckung der Welt um 1500 und der Neubegegnung mit den Bevölkerungen der bislang unbekannten Kontinente von „der Menschheit“ ohnehin noch kaum einen vollgültigen Begriff hatte. Traditionale Gesellschaften waren mitunter so starr und gegenüber sozialer Mobilität so abweisend, dass sich sagen lässt, sie hätten die natürliche Mikroorganisation der Gattung in Ethnien, Clans, Familien und Geschlechterpolaritäten für ihre Zwecke geradezu instrumentalisiert, indem sie Besitz, sozialen Status, Rechte und Pflichten im Zuge des Generationswechsels durch Vererbung und unmittelbare familiäre Weitergabe beständig reproduzieren und auf historisch lange Sicht aufrechterhalten. Das indische Kastensystem ist dafür sicher eines der prominentesten Beispiele; man ist hineingeboren in die Kaste und entrinnt ihr nicht ein Leben lang. Ähnliches gilt für etablierte Sklavenhaltergesellschaften, deren Sklaven ohnehin oft einer ganz anderen Ethnie angehören als die Herrenschicht und damit bereits phänotypisch stigmatisiert sind; auch hier ist das Schicksal des Individuums grundlegend und weitgehend mit der Geburt, der Aszendenz, entschieden und wird mit der Deszendenz an die nächste Generation weitervererbt. Verfestigte Ständegesellschaften gehorchen hinsichtlich der Statusvererbung einer vergleichbaren Logik. Am ausgeprägtesten war die soziale Überhöhung und Akzentuierung der individuellen Aszendentenstelle vor allem aus funktionalen Gründen in den historischen Fürstendynastien, die einmal mehr und erneut aufschlussreich als Referenz für den hier verfolgten Grundgedanken dienen. Wie erwähnt war im Zeitalter des europäischen Absolutismus in der Fürstenfamilie die Aszendentenstelle des Einzelnen markant akzentuiert, indem nur noch einem, nämlich dem erstgeborenen Sohn des Fürsten, die Thronfolge zustand, während die jüngeren Brüder ihm gegenüber klar ins zweite Glied rückten, um Rivalitäten zwischen ihnen und/oder Zersplitterungen

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des staatlichen Territoriums zu vermeiden. Unter Absehung aller persönlichen Qualifikation konnte in diesem Kontext die Aszendentenstelle der betreffenden Person allein ausreichen, um das Königsamt einzunehmen und individuell der sozial und ständisch Höchste unter den Menschen, die in seinem Territorium lebten, zu sein. So wurde die Aszendenz bzw. die individuelle Aszendentenstelle einschließlich ihrer geschlechtlichen Konnotation respektive die Deszendenz zwischenzeitlich geradezu zu einer absoluten Determinante. (Siehe das zitierte Beispiel des debilen Königs Otto I. von Bayern.) In Vollkommenheit stellt die Dynastie den direkten Gegentypus zu Platons Versuch dar, alle biographischen, sozialen und sozialisatorischen Wirkungen der Aszendenz durch Auflösung der Familie, wenn nicht schon bei der Aszendenz, die unhintergehbar ist, so doch wenigstens unmittelbar nach der Geburt zu unterdrücken. Die Problematik der Aszendenz spitzt sich zu, wenn universalistische Vorstellungen des Sozialen hervortreten: Normen, Vorgaben, Vorstellungen des Menschen, die wirklich für alle gelten sollen, vor allem auch für diejenigen, die nicht zur eigenen naturgegebenen Gruppe gehören: eben für „alle Menschen“ und das heißt im hier vertretenen Ansatz: alle Individuen, die empirisch der „Gattung“ (der Art Homo sapiens) angehören. Solche Denkfiguren, bei denen es immer irgendwie um die Suche nach dem großen gemeinsamen Nenner geht, unter dem sich Menschen in ihrer ganzen, tatsächlich vorhandenen Vielfalt zusammenfinden können, sind bereits in den monotheistischen Gottesvorstellungen angelegt. Sie negieren die Pluralität von Göttern, nach der jede Gruppe, jeder Stamm, jeder Stand seinen eigenen Gott hat, so wie jedes Kind und jede Geschwistergruppe ihre je eigenen Eltern haben. Es gibt nur noch den einen wahren Gott; die Götter der anderen werden zu Götzen und falschen Göttern abgewertet. Dieser eine singuläre Gott steht über allen Menschen – gleichgültig, ob sie an ihn glauben oder nicht, ob sie von ihm exklusiv erwählt oder von ihm verworfen sind, ob sie sich als Gläubige sehen oder ob sie als Heiden gelten. Alle sind auf ihn bezogen, alle sind „Gottes Kinder“. Nicht von ungefähr sprach man von den großen monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) als „Weltreligionen“, zu denen man freilich auch die großen atheistischen Religionssysteme des Ostens zählt, die ebenfalls eine universale Dimension haben. Sie vermochten in der Tat bei aller gattungsgegebenen Heterogenität sehr große Segmente der Menschheit unter ihrem Diktum zu integrieren. Solche alten religiös fundierten Systematiken, die Menschen als Ganzes in den Blick zu nehmen und als Ganzheit zu integrieren, waren geistesgeschichtlich entscheidende Voraussetzungen dafür, dass in der frühen europäischen Neuzeit durch eine säkulare Wendung ins Naturrecht erste Ansätze zu einer grundsätzlichen Gleichheit der Menschen (eben nicht nur der Gleichheit innerhalb eines kleindimensionierten Standes wie dem der Wächter) formuliert wurden. Wenn alle

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Menschen „Kinder Gottes“ sind, haben in der Folge alle auch „Menschenrechte“ – auch wenn Gott, wie später von Philosophen ausgerufen, unterdessen tot sein sollte. Rousseau ist einer der wichtigsten Wegbereiter dieser Vorstellungen. „Der Mensch wird frei geboren, und überall liegt er in Ketten“, lauten die ersten, berühmt gewordenen Worte seiner Schrift zum Gesellschaftsvertrag von 1762. Alle seien „gleich und frei“ geboren, heißt es dort dann in Kapitel zwei. Rousseau wendet sich gegen verschiedene ältere Konzeptionen, denen zufolge die Menschen entgegen seiner Behauptung nicht gleich geboren worden seien. So habe etwa Aristoteles behauptet, die Menschen seien von Natur keineswegs gleich, sondern die einen zu Sklaven und die anderen zur Herrschaft geboren. Ihm hält Rousseau entgegen, er, Aristoteles, würde dabei Wirkung und Ursache vertauschen. Er, Rousseau, unterscheidet nämlich (Kap. 2) zwischen „in der Sklaverei geboren“ und „für die Sklaverei geboren“: „Jeder in der Sklaverei geborene Mensch wird für die Sklaverei geboren. […] Wenn es also Sklaven von Natur gibt, so liegt der Grund darin, dass es schon vorher Sklaven wider die Natur gegeben hat.“ Diese Überlegung ließe sich in die hier eingeführte Differenzierung zwischen „Gattung“ und „Gesellschaft“ übersetzen: Solange die als Sklavenhalterformation strukturierte „Gesellschaft“ sich im natürlichen Generationswechsel der Gattungsmitglieder historisch reproduziert, werden die Menschen, die in ihrer Reichweite leben, als Sklaven oder als Herren geboren. Ist die Sklavenhaltergesellschaft aber erst einmal abgeschafft, werden die Kinder, die zur Welt kommen, auch nicht mehr unbesehen von Geburt an als Sklaven oder als Herren sozialisiert, sondern haben Chancen auf soziale Gleichheit. Das ließe sich analog auch auf das Beispiel der Königsdynastien übertragen: Solange die Institution des Königtums historisch besteht, werden Prinzen geboren, die exklusiv für die Thronfolge bestimmt sind; ist das Königtum abgeschafft, werden auch keine Prinzen und Thronfolger mehr geboren, sondern eben nur noch Kinder, und es ist vollkommen offen, wer, jetzt unter republikanischer Staatsverfassung, unter ihnen einstmals das Amt des Staatsoberhaupts einnehmen wird. „Man wird nicht als Präsident oder als Präsidentin geboren, man wird es“ – um die berühmte, in anderem Zusammenhang gebrauchte Formulierung von Simone de Beauvoir zu variieren. Dagegen: König in der verfassten Erbdynastie wird nur, wer schon als Prinz geboren wurde. Das Thema lag im späten 18. Jahrhundert allenthalben in der Luft. In der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten vom 4. Juli 1776 heißt es: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. […]“ „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. […]“ – alle Menschen „gleich erschaffen“. Hier ist die Aszendenz, womöglich erstmals in der Menschheitsgeschichte, in der

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Universalität der gesamten Gattung bzw. Art erfasst. An und für sich schließt die Formulierung auch die Frauen ein, auch wenn die Zeitgenossen es damals sicher noch kaum in dieser Konsequenz verstanden wissen wollten und sie, die Angehörigen der Generation George Washingtons, im Übrigen selbst tatsächlich Angehörige der Herrenschicht einer Gesellschaft waren, die Sklaven hielt. Dass alle Menschen „gleich erschaffen“ seien, klingt angesichts der Feststellung, dass die Aszendentenstelle konstitutionell einmalig und individuell und alle Aszendentenstellen in ihrer Gesamtheit damit divers seien, etwas pauschal und undifferenziert. Schon wenige Jahre später 1789, als man neben Freiheit und Brüderlichkeit welthistorisch laut auch die „Egalité“ einforderte, heißt in der Erklärung der Menschenrechte der revolutionär gestimmten französischen Nationalversammlung in einer nuancierteren Fassung: „Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Soziale Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein.“ Dass die Menschen, unterschiedlich und divers, wie sie nun einmal sind, nicht schlechthin gleich, sondern genauer: gleich an Rechten seien, dass hergebrachte und mit der Geburt (respektive der Zeugung) angelegte Differenzen, die in ihrem Ursprung konstitutionell unauflösbar sind (Apriori-Individualität), keine Sonderrechte begründen dürfen, das ist eine der entscheidenden Konstruktionen, die die „Gesellschaft“ – in ihrer modernen ausgereiften Variante insbesondere – im Kern ausmacht. Dem weiblichen Teil der Menschen hatte man auch im revolutionären Frankreich damals noch nicht die volle Gleichheit vor dem Gesetz und in der Verfassung zuerkannt. Das war generell in den entwickelten Ländern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorbehalten (in der Schweiz sogar erst 1971). In der UN-Menschenrechtscharta von 1948 wird diese Spannung zwischen unaufhebbarer universaler Diversität und Vielfalt der Menschen, die sie als Apriori-Individualität haben, auf der einen, konsequenter Rechtsgleichheit auf der anderen, dann sehr explizit gemacht, wenn es dort einleitend in den ersten beiden Artikeln heißt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. […] Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. […]“ Wobei anzumerken ist, dass aufgrund der Erkenntnisse, die sich infolge der Entschlüsselung des menschlichen Genoms seit der Jahrtausendwende ergaben, die Berechtigung des Begriffs „Rasse“ heute grundsätzlich infrage gestellt wird. Andererseits würde man heute andere Kriterien wie etwa geschlechtliche Identität neu in den Katalog aufnehmen. Was hier als Gleichheit vor dem Recht definiert wird und wofür der moderne Staat zu garantieren hat, hat sein Pendant im Bereich der Gesellschaft – hier jetzt mehr verstanden im Sinne von „Zivilgesellschaft“ – in der Norm der „Chancengleichheit“. Es sollen in der Gesellschaft, z. B. hinsichtlich einer biographisch so elementaren Frage wie der Berufswahl und Berufskarriere, alle „die gleichen Chan-

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cen“ haben, alle „ohne irgendeinen Unterschied“ mehr oder weniger anlog zu den eben zitierten Kriterien, die die einzelne Person ausmachen. „Gesellschaft“ strebt nach dem größtmöglichen gemeinsamen Nenner für alle und anwendbar auf möglichst alle ihre Schichtungen, Segmente, Hierarchien. Ob die einzelnen Individuen in diesem Sinn die egalitär definierten Chancen nutzen können oder wollen, soll im Prinzip nicht an solche persönlichen Kriterien gebunden sein. Eine etablierte Ständegesellschaft funktioniert im Kontrast dazu nach anderen Prinzipien, räumt bestimmte Chancen z. B. explizit nur wenigen oder nur für bestimmte Einzelne ein, vielen bzw. „den Vielen“ von vornherein aber überhaupt nicht; es herrscht soziale Ungleichheit. Die historisch eingeleitete Suche nach Chancengleichheit und dem stets zu vergrößernden gemeinsamen Nenner, d. h. nichts anderes als die Suche nach und Entwicklung von „Gesellschaft“, aber geschah zögerlich. Insbesondere im 19. Jahrhundert erstreckte sie sich zunächst zum Beispiel nur auf die Männer – im deutschen Kaiserreich von 1871 etwa erhielten sie alle das allgemeine und gleiche Wahlrecht –, während erst das 20. Jahrhundert sich daran machte, den gemeinsamen Nenner auch auf die Frauen auszuweiten. Die UN-Menschenrechtscharta war bekanntlich die unmittelbare historische Reaktion auf die Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus. Mit den „Nürnberger Gesetzen“ von 1935 war der NS-Staat aus der universalen Entwicklung der Moderne hin zu rechtlicher Gleichheit und Chancengerechtigkeit ausgeschert, indem er, quasi negativ-dynastisch, die Individuen ausschließlich und allein auf ihre Aszendenz, nämlich auf ihre Herkunft aus einer jüdischen oder einer „arischen“ Abstammungsverwandtschaft, reduzierte. (Analog andere Gruppen wie die der Sinti und Roma oder die als „Untermenschen“ qualifizierten Angehörigen der osteuropäisch-asiatischen Völker.) Jude, und damit existenziell bedroht, war man für den Nationalsozialismus selbst dann noch, wenn man sich familiengeschichtlich und biographisch von der jüdischen Glaubens- und Lebenswelt der Großeltern und weiter zurückliegender Vorfahren längst entfernt hatte; dem Status der Vorfahren war nach NS-Logik nicht zu entkommen; kulturelle Modulation der Herkunft, Assimilation, Konversion, Bildung und Ausbildung etc., die Methoden und Vorzüge der „Gesellschaft“ und der Kultur, zählten nichts, eine im konkreten Fall negativ gewertete Aszendenz war alles. Genealogische Familienforschung hatte Hochkonjunktur, indem sie massenhaft „Ariernachweise“ ausstellte. Entsprechend installierten die Nürnberger Gesetze ein System von Eheverboten, damit jüdische und „arische“ Familien in der Generation der Kinder und fernerer Nachkommen sich nicht weiter vermischten, sondern im Zuge fortgesetzten Generationswechsels beide Kreise sich in vermeintlicher Reinheit schieden. Besonders gefordert waren in dieser Hinsicht die Mitglieder der SS, die sich als elitärer Orden verstand und sich in ihren persönlichen und familiären Angelegenheiten besonders rigider Normen hinsichtlich „Erbgesundheit“ und „Rassereinheit“ zu unterwerfen hatten. Es war der „Wächterstand“ des Nationalsozialismus, in seiner inneren Struktur jedoch

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teilweise das genaue Gegenteil des Wächterstands im Staate Platons: Wo Platon ein Wissen um die persönliche Aszendenz (und Deszendenz) vollkommen negieren wollte, brachte der Nationalsozialismus es mit kompromissloser Absolutheit und in vollkommen unpersönlicher Form nachhaltig zur Geltung. Analog auch die Differenz zwischen (fast) völlig freier und volatiler Partnerwahl dort, beim Platon’schen Wächterstand, strenger Kontrolle und Aufsicht über die Gattenwahl hier bei der SS, wiewohl bei Platon zugleich auch eugenische Motive deutlich anklingen, wie sie für den NS dann von zentraler Bedeutung waren. Der Nationalsozialismus war – man muss es so widersprüchlich formulieren – eine radikal antimoderne Manifestation der Moderne. In ihm hatte „Gesellschaft“, nachdem sie sich historisch vermeintlich bereits fest etabliert und entfaltet hatte, sich partiell selbst aufgegeben. Dem Individuum zu vermitteln, es sei mehr als seine Aszendenz, mehr als das, was seine Großeltern einmal waren, hier mehr als „Jude“ oder „Arier“ – dieser originäre Imperativ, für den „Gesellschaft“ als solche steht, war zurückgenommen. Für die Juden und die als Juden gewerteten Menschen schlossen sich dementsprechend die Entfaltungsräume, die Chancen – eben die „Rollen“ –, die Gesellschaft den Individuen bietet – ganz konkret etwa in Gestalt der damals erlassenen Verbote für Juden, bestimmte Berufe wie etwa den des Rechtsanwalts oder öffentliche Ämter auszuüben oder in der Minimierung der Anonymität und Egalität des Markthandelns, mit der man sie (durch die Parole „Kauft nicht beim Juden“) konfrontierte. Will man diese Vorgänge im Lichte des hier vertretenen Ansatzes deuten, so ist zu konstatieren, dass die in und mit der Moderne entstandene und an und für sich unauflösbar gewordene Spannung von „Gattung“ und „Gesellschaft“ im NS-Staat teilweise implodiert war: Beide Sphären sollten in einer rassisch homogenisierten, auf den Banden des „Blutes“ begründeten „Volksgemeinschaft“ miteinander verschmelzen. Die Volksgemeinschaft war – soziologisch gesehen – antigesellschaftlich; das Abstrakte und latent Entfremdende, das „Kalte“, das Gesellschaft ist und das sie sein muss (etwa in Form der hohen Komplexität des modernen Rechtssystems), sollte wieder organisch, körperlich, „rassisch“ werden (das Rechtssystem z. B. nicht mehr komplex sein, sondern sich an das „gesunde Volksempfinden“ anschmiegen). Nicht von ungefähr war daher auch die Soziologie als erst jung etabliertes akademisches Fach unter der Ägide der Nazis höchst ungelitten. Man weiß seither um die Konsequenzen, und weiß daher umso besser, wie entscheidend es ist, die Spannung von Gattung und Gesellschaft aufrechtzuerhalten, sie jeweils zeitgemäß zu gestalten und sie dem modernen Individuum um seiner selbst willen zuzumuten. Der Nationalsozialismus hat in das Gattungsfundament – die Zusammensetzung der Bevölkerung – dergestalt eingegriffen, dass er ganze Teile der Gattung durch Völkermord (und/oder Sterilisierung) liquidiert hat. Doch für jede ambitionierte Gesellschaftspolitik ist es verlockend, die Problematik der Aszendenz bereits durch Gestaltung und Modulation der Gattungssphäre zu bearbeiten, dabei unter

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Umständen auch Möglichkeiten zu nutzen, die sich erst durch moderne biotechnologische Instrumente ergeben. Als Negativutopie hat Aldous Huxley dies bereits 1932, also schon vor der NS-Zeit, in seiner „Brave New World“ ausgemalt. In visionärer Vorwegnahme der fast fünfzig Jahre später (seit der Geburt von Louise Brown 1978) tatsächlich erfolgreich und in statistisch nur in minimalen Prozentsätzen vorkommenden Ausnahmefällen praktizierten Methode der extrakorporalen Befruchtung in der Petrischale werden in dieser Huxley-Dystopie die Menschen generell nur künstlich in „Brutöfen“ gezeugt. Frauen stiften als Geste an das Gemeinwohl durch operative Entfernung ihre Ovarien an die Labore, Männer ihre Gameten. Während ein Teil der Gezeugten (die Alphas und die Betas) für höhere Dienste und Stellungen in der Gesellschaft vorgesehen ist, werden aus den anderen (den Deltas, Gammas und Epsilons) jeweils bis zu 96 Klone aus einer Zeugung hergestellt, „Dutzendlinge“, die für ein Leben in niederen Kasten bestimmt sind. Das bedeutet 96 identische Aszendentenstellen – absolute Egalität am Ursprung! A priori gleich – nicht länger mehr a priori individuell wie bei einem natürlich Gezeugten. Die Schwangerschaft findet in Flaschen statt, in denen die heranreifenden Föten mit Blutsurrogaten und anderweitig umsorgt werden, die Massen der genetisch gleichen Deltas, Gammas und Epsilons, die später für standardisierte Massenproduktion vorgesehen sind, werden dabei schlechter versorgt als die für die Elite prädestinierten Alphas und Betas. Anstelle der Geburt kommt es zur „Entkorkung“. Der Mensch aus dem Labor und der Flasche. Eine Variation über das alte Thema der Erschaffung des Homunkulus, der phantastisch entworfene Gedanke, die Individualität der Aszendenz bereits in ihrer körperlichen Genese zu verwischen, um schließlich die Unberechenbarkeit ihrer sozialen Wirkung schon am Ursprung zu unterbinden. Ließe sich, so könnte man gedankenexperimentell fragen, beim heutigen Stand der Technik ein solches Modell nicht tatsächlich praktizieren, um der antiegalitären Wirkung der Aszendenz endlich und ein für alle Mal effektiv die Spitze zu brechen? Also: Zeugung durch anonyme Ei- und Samenspende, Austragung durch eine Leihmutter, anschließend Erziehung in einer „Anstalt“ wie bei Platon oder einer „Kinderbewahranstalt“ der Brave New World. Es würde nicht funktionieren; spätestens am Mangel von intimer Exklusivität der von den Eltern (oder von Pflegeltern) praktizierten Sozialisation und ihrer gänzlichen Ersetzung durch rollenhaft agierendes Erziehungspersonal würden die Kinder massenhaft zugrunde gehen. Es ist eine Dystopie. Virtuell zeigt sie die Radikalisierung der hier angestellten Überlegung auf, der zufolge „die Gesellschaft“ unweigerlich die Tendenz habe, das Individuum „der Gattung“ und der dort situierten individuellen Aszendentenstelle zu entreißen und jene Tabula rasa zu erlangen, die der geheime Traum aller ambitionierter „linker“, wenn Unterschiede jedoch mit der Aszendenz schon programmiert werden, aber auch „rechter“ Sozialprogramme und Sozialingenieure ist.

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Doch solche Dystopien sind von der Realität der Gegenwart weit entfernt. Es ist bislang nicht zu erkennen, dass jemand solche Methoden allgemein und für alle verbindlich zur Anwendung bringen wollte. Offenbar gibt es so etwas wie eine Scheu, die Aszendenz in ihrer naturwüchsigen Diversität so radikal zu bearbeiten, sei es nivellierend oder hierarchisierend. Es besteht eine Analogie zum Inzesttabu, den Überlegungen zum Klonen von Menschen oder zum Verbot von biotechnologisch möglichen Eingriffen in die Keimbahn: Vereinzelt kam es tatsächlich vor, dass der Vater mit der Tochter ein Kind zeugt (spektakulär der Fall Amstetten in Österreich 1984–2008), oder Genetiker (wie der chinesische Forscher He Jiankui 2018) sich an der Keimbahn zu schaffen gemacht haben. Doch das prinzipiell Mögliche zeigt sich hier zugleich als das nicht Praktikable. Abscheu und explizite Verbote in der Gesellschaft sind die Reaktionen und verhindern die allgemeine Verbreitung und Universalisierung wirksam. Und so verhält es sich – bis auf Weiteres zumindest – mit den skizzierten radikalen Eingriffen ins Gattungsfundament zur abstrakten Nivellierung oder abstrakten Hierarchisierung der Aszendenz. Um der Kinder willen wehrt die Familie sich gegen die radikale Egalisierung! Wer seine Kinder und seine Eltern liebt oder sie auch nur nüchtern-unpersönlich als Erben und Erblasser braucht, befestigt nolens volens die Individualität und Naturwüchsigkeit von Aszendenz und Deszendenz. Dieser Befund ist auch nicht durch die verschiedentlich geübte Praxis von anonymen Samenspenden und Samenbanken, der Leihmutterschaft und der uralten Praxis der Adoption zu entkräften, die eben immer nur subsidiär Anwendung finden und die die Ausnahme von der Regel sind, und diese Regel besteht nun einmal in der natürlichen Zeugung und der anschließenden Erziehung durch die leiblichen Eltern. So bleibt die Aszendenz für „die Gesellschaft“ mit deren immanent egalitären Tendenz als grundlegende Problematik und stete Herausforderung erhalten. Sie ist nicht stillzustellen, solange es Fortpflanzung, Deszendenz, gibt. Wie und unter welchen Umständen also ist das Nicht-Gleiche, die Diversität der Aszendenz, gesellschaftlich gleich zu werten, wo aber wird, dem entgegenlaufend, ihr doch Entfaltung eingeräumt? Selbst innerhalb der einzelnen Ebenen des Rechts gibt es unterschiedliche Reichweiten der Gleichheit. Zunächst: „gleich an Rechten geboren“ – damit sind vor allem die Menschen- und Grundrechte gemeint. Dann aber gibt es doch eine Reihe von, auch rechtlich unterfütterten Konstruktionen, die die Exklusivität der Aszendenz würdigen und ihren Bestand letztlich schützen, und das heißt auch, den Bestand der Familie als Gegenpol zu den egalitären Anlagen der „Gesellschaft“ garantieren. Sie wurden hier bereits verschiedentlich behandelt. Das sind 1.) mehr kollektiv ausgerichtet: die Staatsbürgerschaft. Eine bestimmte Staatsbürgerschaft steht eben nie „allen“ – allen Angehörigen der Gattung – zu, sondern jeweils nur einem bestimmten Segment davon. Und es ist i. d. R. die Aszendenz, d. h. in Fortsetzung der Staatsbürgerschaft, die die Eltern besitzen, durch die sie vom Einzelnen erworben wird – nur ausnahmsweise durch Einbürgerung oder

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durch das Jus soli, dem Geborenwerden auf dem betreffenden Staatsterritorium. 2.) Ein probates Mittel, die Produktion jener originären Nicht-Gleichheit und Diversität der Individuen, mit der die Gattung die Gesellschaft konfrontiert, schon an ihrem Ursprung zu minimieren, wäre theoretisch die Universalität sozial stark durchmischter Gattenbeziehungen. Wenn also – pointiert und anschaulich gesprochen – allgemein verbreitet der Professor mit der fremdsprachigen Reinigungskraft, die ihm seine Wohnung besorgt, und die Rechtsanwältin mit dem Drogendealer von der Straße Kinder bekämen und miteinander großzögen; wenn somit die der Familiengründung vorgängigen Gattenwahlen in großem Stil bevölkerungsweit beständig hohe soziale, kulturelle, bildungsspezifische, sprachliche, ethnische etc. Schranken überspringen würden. In der starken, allgemein und naturwüchsig vorhandenen Neigung jedoch, den Gatten/die Gattin „passend“ zu wählen, reproduziert sich originär die gattungsweite Nicht-Gleichheit der Aszendenz; die Art, wie die Vielzahl der Gattenwahlen tatsächlich vollzogen werden, konserviert – ob privilegierend oder stigmatisierend – die Ungleichheit des Status der Nachkommen. Den Preis dafür, das Problem der Ungleichheit schon an seiner Wurzel in der Sphäre der Gattung anzugehen, d. h. eine universelle Pflicht zur „Drogendealerehe“, möchte freilich niemand bezahlen. Doch die allseits reklamierte Freiheit der Gattenwahl, das heißt die Freiheit zur „passenden“ Wahl, wie die moderne Gesellschaft sie garantiert, positioniert die Nachkommen schon mit ihrer Geburt ungleich in den verschiedenen sozialen, kulturellen, nationalen (etc.) Schichtungen und Segmenten. 3.) Die Wirkung der Aszendenz entfaltet sich des Weiteren durch den ausdrücklichen Schutz der exklusiven Beziehung zwischen Eltern und Kindern, wie er etwa in Artikel 6 des deutschen Grundgesetzes formuliert ist. („Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“) Damit sind die pädagogischen und stärker auf Egalität angelegten Impulse, die gesellschaftliche und staatliche Erziehungs- und Schulungsinstitutionen zu entfalten versuchen, in ihren Wirkungen und Möglichkeiten von Anfang an immer relativiert. Und 4.) wirkt die Aszendenz durch das bürgerliche Erbrecht, das über den Wechsel der Generationen hinweg ebenfalls dem Schutz der familiären Kontinuität dient und damit unter Umständen große (vor allem materielle) Ungleichheiten in der Gesellschaft in Kauf nimmt. Auch im modernen Staat und in der modernen Gesellschaft, für die die Rechtsgleichheit, die Universalität der Menschenrechte, das Prinzip der Gleichheit der Chancen und ein gesellschaftspolitischer Imperativ zum Ausgleich sozialer Unterschiede essenziell sind, die zugleich aber auch die Autonomie der Familie – die „Keimzelle der Gattung“ – schützen und anerkennen, behält „die Geburt“ (sprich die Aszendentenstelle) in vielerlei Form beträchtliche dynastische Potenziale. Sie ist eine stete Herausforderung „der Gattung“ an „die Gesellschaft“ – die Spannung zwischen ihnen bleibt virulent.

Ursprung der Geschlechterpolarität und Kontrapunkt der Geschlechterparität

Kapitel 17 Fortpflanzung: Ursprung der Geschlechterpolarität und Kontrapunkt der Geschlechterparität Wenn „Gesellschaft“ sich historisch in hinlänglicher Dichte herausgebildet hat, entfaltet die ihr immanente Norm der Gleichheit – rechtlich, sozial, politisch etc. – ihre Wirkung neben der Aszendenz unweigerlich auch gegenüber den Geschlechtern. Wo die Forderung nach Gleichberechtigung gegenüber der Verschiedenheit aufgrund der Aszendenz entsteht, wie z. B. im politischen Niederringen historischer Adelsprivilegien, folgt ihr die Forderung nach Gleichberechtigung von Mann und Frau und einige Zeit später auch die nach Gleichberechtigung weiterer Varianten von Geschlechtlichkeit auf den Fuß. So gilt auch hier, wie kann, was verschieden ist, gleichbehandelt werden? Geschlechterpolarität Mann und Frau sind nicht als jeweils Vereinzelte und geschieden voneinander zu begreifen, sondern – wie Tag und Nacht, warm und kalt, das Eigene und das Fremde – als Gegensätze polar aufeinander bezogen. Aber, wie häufig bei solchen Alteritäten, ihr Verhältnis ist asymmetrisch. In der Geschichte verschaffte die Asymmetrie sich deutlicher Ausdruck als in der Moderne. Wie in Kapitel 10 dargelegt, wurde das für „Gesellschaft“ so bedeutende Rollenhandeln historisch vor allem von den Männern initiiert; sie fungierten geschlechtlich als Protagonisten der Abstraktion – bis diese im Partiellen stattfindende Entwicklung sich in der Moderne verallgemeinerte und auch die Frauen umfasste, die „Männerrollen“, die dominierten, und die wenigen „Frauenrollen“ in den „Rollen pur“, die den Zugang für die Geschlechter neutralisieren, aufgingen. Eingedenk dieser sehr grundlegenden und prägenden historischen Erfahrung wurde immer wieder konstatiert, das Männliche sei das Allgemeine, das Objektive, das Sachliche, das Universelle – das Weibliche „das Andere“, das Abgeleitete. D. h. der Mann setze (zumindest in der Geschichte) die Standards, die Frau sei darauf bezogen: „der Mann vertritt“, so Simone des Beauvoir, „so sehr zugleich das Positive und das Neutrale, daß im Französischen les hommes (die Männer) die Menschen schlechthin bezeichnen […].84 Die Frau dagegen erscheint als das Negative, so daß jede Bestimmung ihr zur Einschränkung gereicht, ohne daß die Sache umkehrbar wäre.“85 Und, Julien Benda zitierend: „Der Mann denkt sich ohne die Frau. Sie denkt sich nicht ohne den Mann.“86 Dem 84 Auch im Englischen kann man (Mann) ggf. die Bedeutung vom Menschen annehmen. Auch das Deutsche „man“ (Man tut das und das …) markiert das Allgemeine, Geschlechtsübergreifende. 85 Simone de Beauvoir (2008), S. 11. 86 Ebd., S. 12.

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entspricht die in der (heterosexuellen) Intimbeziehung allenthalben zu machende Erfahrung, dass die Frage „liebst Du mich?“ typischerweise eher eine Frauen- denn eine Männerfrage ist. Und weiter: Der Mann würde über die Hingabe an die Sache und an die Welt sein Mannsein zumeist vergessen, während die Frau sich ungleich deutlicher bewusst bleibe, dass sie Frau sei – schon Georg Simmel hatte dies konstatiert87 , und davon dürfte bei allen Veränderungen bis heute etwas geblieben sein. Diese Asymmetrien haben vielfach auch eine körperliche Basis, womit das hier verfolgte Zentralmotiv ins Spiel kommt. Durch die Menstruation wird die Frau zyklisch an ihr Frausein erinnert, wofür es beim Mann kein Pendant gibt; das Vereinigen und Einswerden im heterosexuellen Akt wird von beiden Geschlechtern im Penetrieren und Penetriertwerden (was, in anderer Praktik, freilich auch bei homosexuellen Paaren vorkommt) höchst unterschiedlich erfahren und erlebt; vor allem aber: Bei der Fortpflanzung ist die Frau durch Schwangerschaft und postnatale Symbiose mit dem Kind via Laktation körperlich und damit wohl auch psychisch per se ungleich stärker involviert als ihr Mann. Interessant hinsichtlich der Asymmetrie der Geschlechter ist in diesem Zusammenhang auch, dass die (etwas veraltete) Redewendung, „die Frau schenkt dem Mann ein Kind“, sich nicht umkehren lässt. Aber auch wo es nicht zur Geburt kommt, nämlich im Fall des Schwangerschaftsabbruchs geht der Vorgang körperlich einseitig ganz zu Lasten der Frau, auch eventuelle psychische Folgen dürften bei ihr schwerer wiegen als beim Mann. – Dann aber auch jenseits der Fragen, die mit dem weiten Spektrum der Fortpflanzung zusammenhängen, sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern evident. Das physische Aggressionsverhalten – die Anwendung von Gewalt – ist bei Männern nicht zuletzt aufgrund ihrer Körperkonstitution ausgeprägter als bei Frauen. Erfahrungen körperlicher Gewalt in der Paarbeziehung, von der Vergewaltigung ganz zu schweigen, machen ungleich mehr die Frauen als die Männer, allenfalls in der Ausübung psychischer Gewalt, die schwerer zu fassen ist und sich subtiler äußert, sind auch Frauen unter Umständen sehr erfindungsreich. Gewaltkriminalität ist vorwiegend männlich, statistisch fassbar auch in einer ungleich höheren Belegung von Strafanstalten durch Männer als durch Frauen, desgleichen der bewaffnete Kampf im Krieg, der auch nach dem Beginn des Engagements von Frauen in diesem Segment noch immer zu großen Teilen von Männern praktiziert wird; und ebenso ist der sexuelle Missbrauch von Kindern eine Tat, die vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, von Männern begangen wird. Soweit einige Streiflichter zum Thema Geschlechterpolarität. Über die Gültigkeit dieser Formulierungen und Beobachtungen darf gestritten werden. Eine gewisse Bindung an Ort, Zeit und historische Erfahrung haben sie allemal. Darauf aber kann man sich bei allem Disput gewiss leicht verständigen, dass die logisch maximale

87 Georg Simmel (1985b), S. 201.

Ursprung der Geschlechterpolarität und Kontrapunkt der Geschlechterparität

Gegenthese, eine Polarität zwischen Männern und Frauen gäbe es nicht, sie seien „gleich“ (was anders zu verstehen ist als „gleichberechtigt“), unhaltbar ist. Geschlechterparität – Statistik oben und Statistik von unten Welche Folgen hat diese Feststellung für die Stellung der Geschlechter in der Sphäre der Gesellschaft? (womit einmal mehr die Notwendigkeit betont sei, zwischen „Gattung“ und „Gesellschaft“ analytisch zu unterscheiden). Wie könnte, wo die Männer, zumindest historisch, das Allgemeine, Sachliche, Universelle besetzt hielten und wo das Rollenhandeln (das Berufshandeln) in der Gesellschaft lange Zeit vorwiegend Männersache, die Rollen in der Gesellschaft daher zumeist originäre und exklusive „Männerrollen“ waren, wie können oder konnten die Frauen besser Subjekt werden, Handlungshoheit auch in der Sphäre der Gesellschaft erlangen? Simmel hatte es schon 1902 so formuliert, ob durch die erstrebte Freiheit der Frauen „neue Kulturqualitäten“ entstehen würden, ob die Frauen auch in den verschiedenen qualifizierten Berufen – er nannte Naturforscher, Techniker, Ärzte, Künstler – „etwas leisten, was die Männer nicht können.“88 Es hängt entscheidend auch von den Strukturen in der Gesellschaft ab, ob solch originäre Fähigkeiten der Frauen zur Entfaltung kommen können. Die Egalität und Chancengleichheit müssen sich gegenüber der asymmetrischen Polarität der Geschlechter in hinlänglichem Maß und Dichte etabliert haben, um das zu ermöglichen. Das 19. Jahrhundert, in dem sich die „bürgerliche Gesellschaft“ formierte, war zunächst noch durch klare und starke hierarchische Dichotomien zwischen den Geschlechtern in Recht, Politik, öffentlicher Präsenz, Verfügung über Einkommen und Vermögen, in der Familie etc. gekennzeichnet. Das war das Analogon zu jenen verfassten dynastischen Strukturen in Staat und Gesellschaft, die in Gestalt des Adels seinerzeit noch die Privilegierung qua Aszendenz schützten. Das 20. Jahrhundert hat, zunächst durch die Gleichstellung der Frau mit dem Mann im Recht, eine starke Tendenz zur Nivellierung der Geschlechterunterschiede auf der Ebene der Gesellschaft in Gang gesetzt, was ein Resultat der Aktivitäten der sogenannten ersten Frauenbewegung war. In Deutschland geschah diese rechtliche Egalisierung der Geschlechter und die Egalisierung der Geburt (der Aszendenz) durch Abschaffung der Vorrechte des Adels nicht von ungefähr zur gleichen Zeit 1918/19 im Vorfeld bzw. mit der Etablierung der Weimarer Verfassung (beides zusammen dort in ein und demselben Artikel, dem Art. 109). Die Systematik des Zusammenhangs zwischen beiden Vorgängen wird damit auch empirisch evident. Selten in der Geschichte hat es schubartig eine so starke Vergrößerung jenes „ge-

88 Georg Simmel (1985a), S. 163. Kursivsetzung im Original.

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meinsamen Nenners“ gegeben, unter dem „Gesellschaft“ die Heterogenität und Diversität der Menschen zu integrieren bemüht ist. Nachdem es in den westlichen Gesellschaften – von den bestimmten Binnenmilieus wie etwa der katholischen Kirche, alten Vereinen, die Brauchtum pflegen89 , vor allem privatrechtlich organisierten Adelsverbänden mit ihrem tradierten Mannesstammprinzip90 abgesehen – rein rechtlich gesehen heute keine relevanten Ungleichheiten zwischen Mann und Frau mehr gibt, sind weiterhin bestehende Divergenzen in sozialer Hinsicht seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert ein umso größeres Thema der Gesellschaftspolitik. Das schlägt sich politisch und gesetzlich in entsprechenden Initiativen nieder, die von erheblicher praktischer Wirkung sind. So etwa in der Ausweitung des Artikels 3 des deutschen Grundgesetzes: In seiner Ursprungsfassung von 1949 postulierte er mit der kurzen Sentenz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Geschlechterparität als Norm – einfach und verbindlich. 1994 wurde der Artikel um die Formulierung eines damit verbundenen Staatsziels ergänzt: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Deutschland ist mit einem solchen Vorgehen Teil einer universalen Entwicklung von „Gesellschaft“, wie sie sich mit verschiedener Akzentuierung in der gesamten westlichen Welt manifestiert. In der gleichen Richtung liegt etwa die Verabschiedung der offiziellen Agenda des Gender-Mainstreaming durch die Europäische Union 1997. Solche grundsätzlichen politischen Regelungen hatten überall umfangreiche sozialpolitische Programme und einschlägige Institutionalisierungen von Geschlechterpolitik in fast allen Bereichen der Gesellschaft zur Folge. Worum geht es dabei aus Sicht des hier vertretenen Ansatzes? Idealerweise darum, den Geschlechterproporz, wie er in natürlicher Verteilung in der Sphäre der Gattung zu finden ist, spiegelbildlich auch in der Sphäre der Gesellschaft nachzubauen. Gelänge das dauerhaft und stabil, und zwar auch in der Breite, in all den verschiedenen Segmenten der Gesellschaft, in der unübersehbaren Vielfalt

89 Im schwäbischen Memmingen springen einer bis ins Spätmittelalter zurückreichenden Tradition zufolge am Fischertag im Sommer die Männer des örtlichen Fischertagvereins in den Stadtbach, um Forellen zu fangen. Wer den größten Fisch fängt, wird Fischerkönig. Eine Frau klagte sich 2020 und 2021 vor Gericht durch zwei Instanzen, um bei dem Brauch, der Männern vorbehalten war, mithalten zu dürfen. Das Amtsgericht ließ „wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Angelegenheit zur Fortbildung des Rechts“ Revision beim Bundesgerichtshof zu. Daraufhin beschloss der Fischerverein, auf Rechtsmittel zu verzichten. 2022 durften dann erstmals auch die Frauen in den Stadtbach springen. – Memmingen mag anekdotisch sein. Doch der Fall war zugleich exemplarisch. Er steht allgemein für den großen Druck, der mittlerweile auf bestimmten Arten von vereinsmäßig gepflegtem Brauchtum, das traditionell nur Männern vorbehalten war, lastet. Siehe dazu: Tradition und Bräuche, in: FAZ v. 18.11.2021. 90 Vgl. A. Hansert (2022). Dieser kleine Essay führt Überlegungen aus der grundlegenden Studie von A. Hansert (2014) weiter, dort v. a. S. 475 ff.

Ursprung der Geschlechterpolarität und Kontrapunkt der Geschlechterparität

der Berufswelt vor allem, es wäre gewissermaßen das Momentum des Stillstellens jener so überaus dynamischen Spannung, die – so die hier vertretene Ansicht – unaufhebbar zwischen beiden Sphären herrscht. In der Gattung (Bevölkerung) sind die männlichen Individuen am Lebensanfang einer Kohorte wie erwähnt mit 105 bis 107 Jungengeburten auf 100 Mädchengeburten leicht in der Überzahl. In der deutschen Bevölkerung bleibt der Männerüberschuss noch bis in sechste Lebensjahrzehnt der einzelnen Jahrgänge sichtbar. Erst dann kommt es dank der höheren Sterblichkeit der Männer zum Ausgleich der Geschlechter und verändert sich mit Beginn des siebten Lebensjahrzehnts zunächst allmählich, im höheren und hohen Alter dann massiv zugunsten der Frauen. D. h. die Frauen sind in der vitalen Phase, in jungen Jahren, wo die Berufsentscheidung fällt und in denen die Berufskarriere beschritten wird, statistisch leicht in der Unterzahl.91 Das Programm des Gender-Mainstreaming hat die Verhältnisse des Geschlechterproporzes in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft global gesehen signifikant in Richtung des Proporzes, wie er in der Gattung, d. h. in der Bevölkerung, vorherrscht, bewegt. Insgesamt aber bleibt das Bild disparat und vielstimmig. Das Gender-Mainstreaming ist vor allem ein Elitenprojekt. Faktisch geht es um Geschlechterparität bei der Besetzung von Positionen, Berufsrollen, Gremien etc. in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medizin, Recht, Medien etc. In der breiten Masse der Bevölkerung ist es hingegen nicht oder kaum Thema. Keine geschlechterpolitische Initiative erhebt den Anspruch, in handwerklichen Berufen, die mit schwerer körperlicher, vor allem aushäusig betriebener Arbeit verbunden sind, bei der Müllabfuhr, den Taxifahrern, auch nicht bei den Kampfeinheiten des Militärs etc. auf eine anteilige Präsenz von Frauen hinzuarbeiten. Und umgekehrt werden viele assistierende Berufe wie den der Arzthelferin, der Sekretärin, der Verkäuferin und Kassiererin, in den unteren Verwaltungsebenen (Sachbearbeitung) etc., aber auch alle höher qualifizierten Berufe, die sich um Kinder – von der Kitaerziehung bis einschließlich der Unterrichtung in der Grundschule – kümmern, zu allergrößten Teilen von Frauen bestritten. Hinzu kommt, dass in der breiten Masse der Bevölkerung die Frauen ungleich häufiger die Berufsarbeit zugunsten der Erziehung und Betreuung eigener Kinder oder zur Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger unterbrechen als die Männer. Für solche Bereiche des Berufslebens, die große Teile der Population, je nach Definition sogar die Mehrheit, umfassen, gibt es politisch keine oder allenfalls geringe Ambitionen, an der offenen und massiven Ungleichbesetzung der jeweiligen Positionen durch die Männer dort, die Frauen hier wirklich

91 Siehe die pilzförmige Darstellung des Aufbaus der Bevölkerung in Deutschland mit Markierung des jeweiligen Geschlechterüberschusses im Statistischen Jahrbuch der BRD 2019, S. 25.

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etwas zu ändern. Obwohl es sich in der Sphäre der Gesellschaft gesamtstatistisch signifikant auswirkt, wird es stillschweigend hingenommen. Der Unterschied in den Präferenzen von Männern und Frauen bei der Berufswahl bleibt aber auch in den gehobenen Berufen, sprich bei den akademisch basierten Tätigkeiten ausgeprägt, um nicht zu sagen sehr ausgeprägt. Die Berufswahl ist und bleibt eine ganz entscheidende Sequenzstelle für die Biographie des einzelnen Individuums. Auch in der Wahl von Studienfächern entscheiden Frauen statistisch bekanntermaßen signifikant anders als Männer. Sehr stark sind Frauen vertreten in Fächern wie Medizin (heute nahezu 70 %92 ), verschiedenen Geisteswissenschaften, in Pädagogik bis zu 80 % und anderen, während verschiedene Naturwissenschaften, insbesondere die Physik oder die Ingenieurwissenschaften trotz langsam ansteigenden Frauenanteils klar eine Domäne der Männer bleiben. Überall lässt sich bei einer Betrachtung der Zahlen über einen längeren Zeitraum zwar ein Anstieg des Anteils der Frauen konstatieren, der Unterschied in der Fächerwahl zwischen Männern und Frauen bleibt gleichwohl deutlich sichtbar.93 Die Fächerwahl aber wird nun einmal in jungen Jahren nach Abschluss der Schule, in der beide Geschlechter zum größten Teil mit dem gleichen Lernstoff konfrontiert waren, getroffen und hat naturgemäß Folgen sowohl individuell für die gesamte Biographie (einschließlich dem Lebensarbeitseinkommen) wie global für die gesamte Struktur der Gesellschaft. Sollte man solche Unterschiede nicht vielleicht einfach hinnehmen? Es sind vorderhand schließlich „freie“ Entscheidungen, die ihnen zugrunde liegen, wobei einzuräumen ist, dass schlechterdings jegliche „freie“ Entscheidung, nicht nur hier im Fall geschlechtlicher Präferenzen bei der Berufswahl, immer in einem konkreten sozialen und historischen Kontext fällt, in dem die Menschen leben, und diese Kontexte sind nichts Naturgegebenes. In den Gender-Mainstreaming-Programmen wird die geschlechtliche Divergenz in der Berufswahl daher in der Tat nicht einfach so stehen gelassen. Regierungsoffiziell gilt als Ziel, „gleiche Verwirklichungschancen von Frauen und Männern in allen Bereichen der Gesellschaft“ zu etablieren94

92 Gemeinsame Wissenschaftskonferenz, Chancengleichheit in Wissenschaft und Forschung, 25. Fortschreibung des Datenmaterials (2019/2020) zu Frauen in Hochschulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen. (Der 147 Seiten umfassende Bericht ist auf der Homepage der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz, Bonn, zu beziehen.), hier Angabe im Tabellenanhang, Tab. 1.6. 93 Gemeinsame Wissenschaftskonferenz (wie in der vorigen Anmerkung). Hier die Tabellen 1.1 bis 1.7 im Tabellenanhang. – Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 2019, hier S. 104 Angaben zu den Fächern für 2018. – Siehe auch die Angaben, die einzelne Universitäten zu ihren Fächern machen. – Aufschlussreich auch der Anteil von Männern in der Liste „Boys’Day“ 2023 in akademischen und nichtakademischen Berufen (siehe den Download „BD_Berufestatistik_2023_Web-1.pdf “ auf der URL: https://www.boys-day.de/ (Stand 2.5.2023)). 94 Dritter Gleichstellungsbericht des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, 2021, S. 4 (zu beziehen über die URL des Ministeriums).

Ursprung der Geschlechterpolarität und Kontrapunkt der Geschlechterparität

– in allen. Wörtlich genommen hieße das, anzustreben, in allen Fächern einen ausgeglichenen Geschlechterproporz zu etablieren, weshalb ja in der Tat „Girls-Days“ durchgeführt werden, während von „Boys-Days“, die zu Geschlechterparität in den typischen Frauenfächern führen sollten, ungleich weniger die Rede ist. Die Unterrepräsentanz von Männern dort wird als Fakt tatsächlich hingenommen. Interessant wird es beim Ringen um die Führungsebenen in verschiedenen Bereichen. Nehmen wir zunächst die Institutionen der Wissenschaft; hier vor allem die Besetzung der Professuren an den Universitäten. Nach Angaben der regierungsoffiziellen „Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz“ (GWK, auf die sich die nachfolgend genannten Daten weitgehend beziehen95 ) besetzten die Frauen im Jahr 2019 nur 25,6 % der gesamten Professuren in Deutschland. Das Gesamtbild sieht prima vista also ungünstig aus: eine massive Unterrepräsentation von Frauen in den führenden Positionen in der Wissenschaft. Aber die Zahlen sind nicht statisch. 1999 lag der Frauenanteil bei den Professuren insgesamt noch bei 9,8 %, und bei der Zahl der Neuberufungen im Jahr 2020 hatten die Frauen einen Anteil von immerhin 37,7 %, was sich auf die Gesamtzahl der Professuren längerfristig auswirken wird. Von Geschlechterparität mag man in den Spitzenpositionen der Wissenschaft somit zwar weit entfernt sein, aber eine deutliche und fortgesetzte Bewegung in diese Richtung ist vorhanden. Dabei ist die Ausgangslage der Karrierewege für die Frauen zunächst einmal sehr günstig. In jungen Jahren beim Schulabschluss und der Studienberechtigung liegen sie bei über 50 %. Und sie können diese nummerische Mehrheit sogar bis zum Abschluss des Studiums halten. 2019 sahen die Zahlen nach Angaben der GWK wie folgt aus:

Schulabgänger mit Studienberechtigung Studienanfänger Studienabschluss (ohne Promotion)

Zahl 422.784 508.689 480.828

Prozentanteil der Frauen 53,7 % 51,8 % 52 %

Dieser hohe Frauenanteil zum Zeitpunkt des Studienabschlusses hält sich in der Folge im Bereich der Wissenschaft dann aber nicht. Anteilmäßig mehr Frauen als Männer verlassen die Universität, um in Berufsfelder außerhalb der Wissenschaft zu gehen. Denn bei Betrachtung der Karriereschritte im akademischen Bereich entwickeln sich die weiteren Frauenanteile (Stand 2019) wie folgt:

95 Gemeinsame Wissenschaftskonferenz (wie Anm. 92).

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Frauenanteil in % 44,1 % 31,9 %

Promotion Habilitation

Auf den weiterführenden Karrierestufen gibt es also einen Schwund von Frauen. Man nennt ihn die Leakly Pipeline – die undichte Pipeline. Hätten die Frauen nach dem sogenannten Kaskadenmodell den Anteil von 52 %, den sie bei den Studienabschlüssen haben, auch bei den Promotionen und nachfolgend bei den Habilitationen halten können, wären ihre Voraussetzungen, (im Lauf der Zeit) auch die Professuren insgesamt mit solchen Kontingenten zu bestücken und Geschlechterparität zu erlangen, sehr günstig. Doch das deutliche Absinken des Anteils bei den Habilitationen macht das Erreichen dieses Ziels bis auf Weiteres unmöglich. Die Zahlen sehen nach Angaben der GWK folgendermaßen aus:

  Bewerbungen um Professorenstellen an Hochschulen Berufungen

Chancen der Geschlechter (Parität wäre 1:1)

  insgesamt Männer Frauen insgesamt Männer Frauen Chancen von insgesamt Männer Frauen

im Jahr 2000 im Jahr 2020 Zahl in % Zahl in % 65.112 100,0 69.837 100,0 55.543 85,3 49.901 71,5 9.569 14,7 19.992 28,6 2.313 100,0 3.023 100,0 1.912 82,7 1.883 62,3 401 17,3 1.140 37,7 Männern und Frauen bei Berufungen: 28,2 1,00 23,1 1,00 29,0 0,97 26,5 0,87 23,9 1,18 17,5 1,32

Geht eine Frau durch Habilitation und Bewerbung also einmal ins Rennen um eine Professur, hat sie statistisch bessere Chancen, ihr Ziel zu erreichen als ein männlicher Mitbewerber. Nur jeder 26,5te habilitierte Mann unter den Bewerbern kam 2020 zu einer Berufung, aber jede 17,5te Frau; oder eben 1,32 Chancen für die Frauen, 0,87 für die Männer. Auch im Vergleich zum Jahr 2000 sind, wie die Tabelle zeigt, die Chancen der Frauen, wenn sie einmal ins Rennen gegangen sind, deutlich gestiegen.96 Die umfangreich seit Jahren aufgelegten Förderprogramme gezielt für Frauen zeigen Wirkung, weshalb der Anteil der Frauen an den Neuberufungen mit 37,7 % sehr viel höher liegt als im Jahr 2000 mit 28,6 %. Besonders eklatant ist die Divergenz von denkbar breiter Ausgangsbasis und äußerst schmaler Karrierespitze für die Frauen im Fach Humanmedizin/ 96 Auch für die Jahre 2013 bis 2015 wurden in etwa analoge Relationen berechnet, vgl. Harald SchulzeEisentraut (2017). – Siehe auch die Veranschaulichung dieses Befundes in Gestalt einer Graphik in: Anita Engels u. a. (2015), S. 19.

Ursprung der Geschlechterpolarität und Kontrapunkt der Geschlechterparität

Gesundheitswissenschaften. Als Studienfach ist die Medizin seit geraumer Zeit weit überproportional von Frauen besetzt. Zwei Drittel (66,7 %) der Studienanfänger in Deutschland waren 2018 Frauen, und sie vermochten diesen Anteil noch bis zur Promotion zu halten (65,9 %).97 Die Medizin ist damit im Begriff, sich als Berufsfeld in der Breite sehr stark zu verweiblichen. Davon sind die Führungspositionen, nämlich Lehrstuhl, Klinikdirektion, unabhängige Abteilungsleitung (an Universitätskliniken) bislang aber nicht betroffen. Dort kamen die Frauen 2019 nur auf einen Anteil von 13 % (nach 10 % drei Jahre zuvor). Die betreffende Studie des Deutschen Ärztinnenbunds98 , der diese Zahlen entnommen sind, hält selbst fest, die „wesentlichen Ursachen“ des geringen Frauenanteils in der Spitze seien, trotz des Vorhandenseins des qualifizierten Nachwuchses, „unklar“. – Auf der Ebene der Studierenden haben übrigens auch in einem klassischen, effektiven Karrierefach wie Jura Frauen statistisch die Mehrheit, ohne entsprechende Repräsentanz auf späteren Karrierestufen, insbesondere an den Universitäten.99 Was also ist, so muss die Frage lauten, der Grund dafür, dass die Frauen bei einer sehr guten Ausgangslage hinsichtlich ihrer beruflichen Qualifikation auf einer frühen Stufe im Bemühen um die Spitzenpositionen durchschnittlich häufiger aus dem Rennen scheiden als die Männer? Jedenfalls bislang. Stellen wir diese Frage zunächst zurück. Ein ähnlicher Effekt zeigt sich auch im Bereich der Politik. Hier zunächst einmal bei der Betrachtung der geschlechtlichen Zusammensetzung der Parlamente. Parität der Geschlechter wird heute in einzelnen Fällen tatsächlich erreicht. Überraschend sind es jedoch Ruanda und Bolivien, die auf einen Frauenanteile von mehr als 50 % der Abgeordneten kommen. In den nationalen Parlamenten der westlichen Welt bleibt man dahinter einstweilen hingegen zurück, teilweise sogar weit. Für skandinavische Länder werden zum Teil Werte nahe der Parität genannt. Für Schweden in 2021 48 %.100 Osteuropäische Länder und mehrere der südlichen Peripherie in Europa sind dagegen abgeschlagen. Ungarn liegt mit einem Frauenanteil von nur 13 % auf dem letzten Platz.101 Deutschland besetzt eine Position im Mittelfeld bzw. in etwa beim Durchschnitt der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Bei solchen Zahlenreihen ist freilich auch das Wahlsystem zu berücksichtigen: Ein

97 Angaben für das Jahr 2018 im Statistischen Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 2019, S. 104 f. 98 Medical Women on Top 2019. Dokumentation des Anteils von Frauen in Führungspositionen in 15 Fächern der deutschen Universitätsmedizin; Studie des Deutschen Ärztinnenbunds, gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2019. 99 Siehe die Studie von Ute Sacksofsky/Carolin Stix (2018). 100 Europaen Institute for Gender Equality (https://eige.europa.eu/gender-equality-index/2021/domain/power/SE – Abfrage 4.4.2023.) 101 Ebd.

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Mehrheitswahlrecht, wie es vor allem in Großbritannien praktiziert wird, hat (oder hatte zumindest bisher) für die Frauen eher Nachteile; bei verschiedenen Varianten von Verhältniswahlrecht haben die Frauen im Allgemeinen bessere Chancen. In Deutschland mit seinem gemischten Wahlsystem aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht konnte sich der Anteil der Frauen seit der Bundestagswahl 1998 bei über 30 % etablieren. Bis auf Weiteres weit entfernt von einer 50:50 Präsenz der Geschlechter in der Bevölkerung. Wie kommt es? Zunächst: Dass der Höhepunkt von 2013 (Frauenanteil von 36,5 %) in den folgenden Wahlen 2017 und 2021 im deutschen Parlament nicht gehalten werden konnte102 , geht offenbar wesentlich auf den Einzug der rechtspopulistischen AfD zurück, die in ihren Reihen einen sehr niedrigen Frauenanteil hat, was den Anteil des gesamten Parlaments nach unten zog. Eine weitere Beobachtung ist die Tatsache, dass der Anteil der Frauen auf der Ebene der Parteimitgliedschaft, also der Basis des institutionalisierten politischen Engagements, vergleichsweise gering ist. Noch nicht einmal die stark feministisch grundierten Grünen bringen es hier auf 50 % Frauen in ihrer Community. Parteimitgliedschaft aber ist die Voraussetzung für den Start in eine politische Karriere, die in Parlament und Regierung führen soll. Setzt man den Frauenanteil auf der Ebene der Parteimitglieder mit dem Frauenanteil in den Fraktionen des Bundestags in Relation, ergibt sich zu Beginn der 20. Wahlperiode des Deutschen Bundestags im Herbst 2021 folgendes Bild: Frauenanteil in der Parteimitgliedschaft in % (Zahlen von 2020) CDU 26,6 CSU 21,5 FDP 21,1 SPD 33 Grüne 41,7 Linke 36,6 AfD 18,1 fraktionslos   Gesamt  

Fraktionsmitglieder insgesamt 152 45 92 206 118 39 82 2 736

davon Frauen Zahl in % 36 23,7 10 22,2 22 23,9 86 41,7 70 59,3 21 53,8 11 13,4 0 0,0 256 34,8

Chancen im Verhältnis zur Parteimitgliedschaft: Parität wäre 1:1 Frauen Männer 0,89 1,04 1,03 0,99 1,13 0,96 1,27 0,87 1,42 0,70 1,47 0,73 0,74 1,06        

Hier lässt sich eine analoge Problematik feststellen wie im Bereich der Wissenschaft. Auch hier sind die Frauen bei den Startpositionen – dort Promotion und Habilitation, hier Parteimitgliedschaft – unterrepräsentiert, was wie erwähnt besonders bei den Grünen ins Auge sticht. Die Mehrzahl der parteilich Engagierten sind

102 Siehe den mit Quellenangaben versehenen Wikipedia-Artikel „Frauenanteil im Deutschen Bundestag seit 1949“ (Abfrage 5.4.2023).

Ursprung der Geschlechterpolarität und Kontrapunkt der Geschlechterparität

bei allen Parteien Männer, vor allem aber bei CSU, FDP und AfD. Zunächst auf der Zwischenebene, der Nominierung der Personen, die für die Parlamentssitze kandidieren, sieht es für die Frauen dann etwas besser aus; bereits auf den Wahllisten erhalten sie meist größere Kontingente als es ihrem Anteil an der Parteimitgliedschaft entspricht.103 Noch weiter verschieben sich die Proportionen zugunsten der Frauen schließlich bei den definitiven Wahlergebnissen. In den Bundestagsfraktionen der Grünen und der Linken erreichen die Frauen über die Hälfte der Sitze, die Grünen fast 60 %. Setzt man also den Frauenanteil am Ausgangspunkt – der Parteimitgliedschaft – und den Frauenanteil am Ergebnis – in den Fraktionen – ins Verhältnis zueinander, zeigt sich, dass die Frauen, wenn sie einmal in eine Partei eingetreten sind, außer bei der CDU und bei der AfD, statistisch bessere Chancen haben, in die Fraktion zu kommen, als ihre jeweiligen männlichen Parteikollegen.104 – Dabei ist im Übrigen noch die komplexe Mischung von Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht bei der Zusammensetzung des Bundestags zu berücksichtigen. Bei den Direktmandaten in den Wahlkreisen (Mehrheitswahlrecht) sind es die Wähler und Wählerinnen selbst, die im Durchschnitt männlichen Kandidaten offenbar den Vorzug vor weiblichen geben, was zu dem höheren Männeranteil in der Fraktion der CDU, die ja die meisten Direktmandate gewinnt, entscheidend beitragen dürfte; die Frauen sind wie erwähnt hingegen vom Verhältniswahlrecht begünstigt, denn auf den nicht von den Wählern, sondern von den Parteigremien bestimmten Wahllisten werden sie überdurchschnittlich günstig platziert.105 Würde man nun formal Geschlechterparität (50:50) für alle Fraktionen und damit für den Bundestag insgesamt vorschreiben, ergäbe sich folgendes Bild: Annahme, man würde eine 50:50 Geschlechterquote für die Fraktionen vorschreiben Chancen im Verhältnis zur Frauenanteil in der Fraktionsdavon Frauen Parteimitgliedschaft: Parität wäre 1:1 Parteimitgliedschaft in % mitglieder (Zahlen von 2020) insgesamt Zahl in % Frauen Männer CDU 26,6 152 76 50,0 1,88 0,68 CSU 21,5 45 22 48,9 2,27 0,65 FDP 21,1 92 46 50,0 2,37 0,63 SPD 33 206 103 50,0 1,52 0,75 Grüne 41,7 118 59 50,0 1,20 0,86 Linke 36,6 39 20 51,3 1,40 0,77 AfD 18,1 82 41 50,0 2,76 0,61 fraktionslos 2 1 50,0 gesamt 736 368 50,0

103 Valentin Martin Heimerl (2023), S. 51 ff. 104 Zu diesem Ergebnis kommt auch Heimerl, ebd., S. 57 f. 105 Das hat ebenfalls Valentin Martin Heimerl (ebd.) herausgearbeitet.

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Die Grünen und die Linke müssten einige Frauen aus ihrer Fraktion zugunsten von Männern entfernen, während in den anderen Parteien die Chancen für die Frauen rasant ansteigen würden, am stärksten bei der AfD, wo ein weibliches Parteimitglied 2,76 zu 0,61 bessere Chancen hätte als ein männlicher Parteikollege. Würde man hingegen sagen, Männer und Frauen sollen, wenn sie einmal in eine Partei eingetreten sind, gleiche Chancen (1:1) haben, würde der Frauenanteil im gesamten Parlament angesichts der niedrigen Präsenz der Frauen in den Parteien aktuell auf etwa 28,2 % sinken. Diese Zahlenverhältnisse sind freilich nur ein Teil der Problematik. Es wären verschiedene andere Faktoren mit zu berücksichtigen. So ist es etwa politisch auch erwünscht, dass der Anteil von Personen, die Migranten sind oder die einen Migrationshintergrund haben (ein kulturelles Merkmal der Aszendenz), im Parlament ansteigt. Es kommt daher vor, dass ein männlicher Migrant eine weibliche Bewerberin im einzelnen Wahlkreis oder bei der Platzierung auf den Wahllisten aussticht und damit ein konkurrierendes politisches Ziel die Sache der Frauen erschwert. Ungeachtet solcher Beobachtungen zu den Geschlechterverhältnissen an der Basis des institutionalisierten politischen Geschehens, der Parteimitgliedschaft, zeigen sich beim Blick auf die Führungsebenen der Politik, nämlich bei der Zusammensetzung von Regierungsgremien, in den letzten zwei bis drei Jahren in Sachen Geschlechterparität bemerkenswerte Entwicklungen. Der EU-Kommission steht mit Ursula von der Leyen eine Frau vor; sie präsidiert 14 Kommissaren und 12 Kommissarinnen. Die 2021 neu angetretene deutsche Bundesregierung bestand zu Beginn paritätisch aus je acht Ministerinnen und Ministern; die Kanzlerschaft selbst ist nach 16 Jahren Angela Merkel mit Olaf Scholz jetzt wieder männlich besetzt. Auch in mehreren anderen Regierungen in Europa ist Parität erreicht. Im Wohnort der Autorin, in Frankfurt am Main, wurde nach der Kommunalwahl 2021 ein neuer Magistrat gebildet, dessen hauptamtliche Mitglieder zu zwei Dritteln aus Frauen bestand: acht zu vier. Das sind einige Streiflichter zu vergleichsweise neuen Entwicklungen; in ihnen deutet sich das Erreichen eines Turning Points an; bei der Zusammenstellung von Regierungsgremien wird es künftig kaum mehr ohne Wahrung eines ausgeglichenen Geschlechterproporzes gehen, es sei denn, er schlägt wie am Frankfurter Beispiel vorerst zugunsten der Frauen aus. Nur bei der singulären Spitzenposition des Präsidenten, des Kanzlers, des Regierungschefs etc. wird es im Einzelfall naturgemäß immer beim Entweder-oder bleiben. Nebenbemerkung: Dabei ist es interessant zu sehen, dass bei den Tausenden von Oberhäuptern in den Städten und Kommunen, von denen je nach geltendem Wahlrecht viele direkt gewählt werden (also klassisches Mehrheitswahlrecht), die Bürgergemeinden bis heute ganz überwiegend männlichen Kandidaten vor weiblichen den Vorzug geben – ein Ergebnis freier Entscheidungen des Demos. Bei Gremien auf Regierungsebene scheint in Sachen geschlechtergerechte Repräsentation somit ein Wendepunkt erreicht zu sein – mithin eine zentrale Stelle

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in der Sphäre der „Gesellschaft“. In anderen gehobenen Bereichen – neben der Wissenschaft und den Parlamenten wäre insbesondere die Zusammensetzung der Führungsebenen in den großen Wirtschaftsunternehmen zu nennen – bleiben die Anteile der Frauen, wie aus den zitierten Zahlen hervorgeht, bei globaler Betrachtung anteilig einstweilen hinter denen der Männer zurück. Die Endresultate sind in einigen Bereichen also unbefriedigend, ein Befund, der gesellschaftspolitisch immer zur schnellen Skandalisierung taugt und Parteien, die keine entsprechenden Frauenanteile in ihren Führungsgremien und den von ihnen besetzten Regierungsämtern aufweisen können, bei allgemeinen Wahlen unter Umständen erheblich unter Druck setzt. Anstrengender (und ggf. für den Erfolg von Wahlkampagnen wenig geeignet) ist es, wie es hier versucht wurde, die Entstehungsprozesse solcher Disproportionen mit in den Blick zu nehmen, die etwas zur Klärung der Frage beitragen können, wo denn effektiv anzusetzen wäre, um am Ende auch zu anderen Ergebnissen zu kommen. Es geht eben nicht nur um die „Statistik oben“, viel eher kommt es auf die „Statistik von unten“ an. Die Zahlenbeispiele zeigen, dass es für das Erreichen von Geschlechterproportionalität in den Führungspositionen von entscheidender Bedeutung ist, in ausreichender Zahl, nämlich mit jeweils 50 % Männer und Frauen, auch an den jeweiligen Startpositionen im Wettlauf um die begehrten Stellungen präsent zu sein. Just die „konservative“ Schweiz hat exemplarisch vorgemacht, wie es gehen könnte. Hinsichtlich Geschlechterparität war das Land mit der Einführung des Frauenwahlrechts erst 1971 historisch ein Spätentwickler. Um dann allerdings mit einem großen Schritt schnell vorwärts zu kommen, wurde 2018 die Initiative „Helvetia ruft!“ gegründet. Zahlreiche Frauenverbände und viele prominente Frauen riefen parteiübergreifend zur aktiven Beteiligung an den bevorstehenden Parlamentswahlen auf, betrieben Mentoring, Schulung und übten Druck auf die Parteien aus. So kam es zu einer signifikanten Steigerung des Frauenanteils bei den Kandidaturen für die Wahlen zum Nationalrat auf 40 %. Das war die alles entscheidende personelle Grundlage für eine schubartige Steigerung der Frauenrate unter den dann gewählten Parlamentsabgeordneten: Sie stieg binnen einer Wahlperiode von 32 auf 42 %.106 Es wird freilich darauf ankommen, dass die Frauen in der Schweiz dieses einmalig „von unten“ gekommene Engagement dauerhaft aufrechterhalten. In Deutschland, das hier im Zentrum der Überlegungen stand, hat es etwas Vergleichbares nicht gegeben, und es ist sehr die Frage, ob sich die Verhältnisse in der „kleinen“ Schweiz, in der, wenn historisch auch rein männlich akzentuiert, zusätzlich uralte basisdemokratische Traditionen vorhanden sind, auf ein Land von der Größe, Weitläufigkeit und Heterogenität Deutschlands mit seiner ganz

106 Siehe: https://helvetia-ruft.ch/ (Stand Juni 2023). Siehe auch: Anna Gloßner (2022), S. 315 ff.

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anderen, viel stärker auch machtpolitisch akzentuierten Geschichte einfach übertragen ließe. In den angeführten Beispielen ist es nicht erkennbar – nicht bei den Promotionen bzw. Habilitationen, nicht auf der Ebene der Parteimitgliedschaft. Für andere Gruppierungen, die nicht ausreichend in den Führungsebenen repräsentiert sind, wie etwa Migranten, gilt übrigens dasselbe. Wodurch also sehen oder fühlen Frauen sich daran gehindert, „von unten her“ in ausreichender Zahl jeweils an den Start zu gehen? Anders gesprochen: Warum scheut ein erklecklicher Teil der (jeweils einschlägig begabten und qualifizierten) Frauen bislang, in den Fahrstuhl einzutreten, der Dank der seit Jahren umfassend betriebenen Fördermaßnahmen für sie meist schneller nach oben fährt als für die Männer? Wohlgemerkt, es geht, will man Geschlechterparität erreichen, dabei nicht um Einzelfälle, die es immer wieder bis nach „ganz oben“ schaffen, sondern um die hinlänglich große Zahl! Die verbreitete „Frauenscheu vor dem Fahrstuhl“ – das ist einstweilen die Preisfrage. Auf sie hat noch niemand eine befriedigende Antwort gefunden; denn es dürfte ein ganzes Konglomerat von Gründen sein, das in seiner Gesamtheit ein diffuses Erscheinungsbild abgibt. Ein entscheidendes – ob das entscheidende? – Motiv liegt sicher am großen Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf, das für Frauen aus den genannten Gründen schwerer wiegt als für Männer. Im Zusammenhang mit Karrierebemühungen ist es aber nicht eindeutig und nicht immer direkt als Hemmfaktor zu fassen, denn viele in den einzelnen Bereichen entsprechend qualifizierte Frauen haben gar keine Kinder, während umgekehrt etliche Frauen, die (wie die siebenfache Mutter Ursula von der Leyen) eine Familie gründen, eben doch Karriere zu machen verstehen. Im Übrigen ist die Situation auch für Männer mit Familienpflichten nicht immer einfach; im Wettbewerb um begehrte Positionen kann dies im direkten Vergleich zu weiblichen Konkurrentinnen ohne Familie (z. B. bei der Frage von erforderlichen Ortswechseln) auch für sie Nachteile bedeuten. Doch anhand der Problematik von Familie und Beruf gibt es zweifellos eine Tendenz, die für Frauen typischerweise und im Allgemeinen ungünstiger wirkt als für Männer107 ; ein absolut hemmendes Moment ist sie für die bislang existierende Unterrepräsentation von Frauen in den entsprechenden institutionellen Kontexten der Gesellschaft aber nicht. Für die allenfalls relative Bedeutung von Familienpflichten, die ohnehin nur für wenige Jahre in der Biographie einer karrierewilligen Person zu Buche schlagen, nicht aber für den gesamten Verlauf der Berufsphase, spricht auch die Beobachtung, dass es mehrere Länder gibt – Schweden, Frankreich, Dänemark, Irland –, die beides zugleich erreichen: einen hohen Gender Equality Index108 und eine vergleichsweise hohe Geburtenrate.109 Deutschland liegt bei beiden Werten 107 Siehe auch Anita Engels u. a. (2015), S. 31 f., 309 f. 108 Definiert vom European Institute for Gender Equality (EIGE). Siehe: https://eige.europa.eu/genderequality-index/2022/EU (Stand Juni 2023). 109 Angaben nach Eurostat.

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aktuell im Mittelfeld der europäischen Staaten. Länder wie Italien, Griechenland oder Polen rangieren in beiden Werten hinten. Bei anderen Ländern entfalten beide Werte keine synchronen, sondern divergente Tendenzen. An diesem Punkt soll noch einmal an das Motiv, das in Kapitel 13 behandelt wurde, angeknüpft werden: „Gesellschaft ist das, was uns zwingt, frei zu sein“. Könnte es sein, dass Frauen auf das Moment des „Zwangs“, mit dem die Gesellschaft die Individuen (ob männlich oder weiblich) zur „Freiheit“ drängt – hier drängt zur Entfaltung ihrer Person in der politischen, wissenschaftlichen oder anderweitig hochqualifizierten Karriere jenseits des Privaten, jenseits des Rückzugsraums –, sensibler reagieren als Männer es tun? Die Frage tangiert unmittelbar und direkt das Verhältnis von Gattung und Gesellschaft, in deren Spannungsfeld das moderne Individuum unaufhebbar steht. Lebenspraktisch macht es aber offenbar einen ganz entscheidenden Unterschied, ob dieses Individuum männlichen oder weiblichen Geschlechts ist. Der je spezifisch und immer sehr persönlich erlebte „Zwang zur Freiheit“ bedeutet eben, Leistung zu erbringen, idealerweise Meritokratie pur, wozu die Frauen zwar genauso in der Lage sind wie die Männer, aber es bedeutet zugleich auch immer Selbstentfremdung, starke, und im Alltag intensive Bindung an die „Kälte“ der Institutionen. Und Karriere heißt in gesellschaftlich gehobenen und führenden Strukturen des Weiteren i. d. R. nicht einfach kontinuierliche und sozial abgesicherte beamtenhafte Laufbahnbeförderung, sondern bedeutet Risiko. Für die universitäre Karriere bis hin zur Professur hat Max Webers Charakterisierung, die er vor über hundert Jahren in seinem berühmten Vortrag „Wissenschaft als Beruf “ getroffen hat, das akademische Leben sei „ein wilder Hazard“, seine Gültigkeit kaum verloren. Und Politik bedeutet für die, die in sie eintreten, per se Unruhe, Unsicherheit, Unplanbarkeit des Lebens. So auch in vielen anderen Bereichen, in denen es um führende Positionen geht. Es mag sein, dass Männer aus historischen Gründen hier habituell einen Vorteil mitbringen, da sie mit diesen Handlungsfeldern seit eh und je umgehen. Historisch waren die entsprechenden Positionen in den Institutionen (siehe Kap. 10) eben reine „Männerrollen“, den Frauen bis ins frühe 20. Jahrhundert absolut verschlossen, nun aber stehen sie prinzipiell allen offen. Die symbolische Ebene: Gendern Doch auch Typen von solch untergründig wirksamen habituellen Einstellungen und Prägungen sind veränderlich. Heute verspricht man sich solche Änderungen und Fortschritte auch dadurch, dass man auf der symbolischen, vor allem auf sprachlicher Ebene neue Formen und Inhalte zu etablieren versucht. Probleme stellen sich hier in denjenigen Sprachen, die, wie das Deutsche, Französische, Italienische u. a. ein generisches Geschlecht kennen, während andere, vor allem die Lingua franca heute, das Englische, davon nicht betroffen sind. Inklusion und grö-

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ßere soziale Nenner im Symbolischen sollen dadurch erreicht werden, dass Frauen in diesen Sprachen besser sichtbar gemacht werden. Während in Pluralformen wie „die Bürger“, „die Wähler“, „die Kunden“ etc. die Frauen lange mitgemeint waren, werden sie heute in der Regel eigens erwähnt: „Bürgerinnen und Bürger“, „Wählerinnen und Wähler“, „Kundinnen und Kunden“. Oder beide Geschlechter werden im Kunstwort mit Binnen-I, Binnen-Doppelpunkt oder Binnen-Sternchen zusammengezogen, in geschriebener Form als: „BürgerInnen“, „Wähler:innen“, „Kund*innen“, bei gesprochener Sprache mit Sprechpause (Glottisschlag). Doch dieses sind Wortbildungen, die auf das Sprachempfinden einer breiten Masse in der Sprachcommunity fremd und aufgesetzt wirken, und sie bereiten Menschen, die die Sprache als Fremdsprache zu erlernen haben, zusätzliche Schwierigkeiten. Besser funktioniert es, wo sich geschlechtlich gemischte Gruppen in einem substantivierten Partizip, was sprachlich dann als größerer gemeinsamer Nenner fungiert, zusammenfassen lassen: Studentinnen und Studenten als Studierende oder Konzernchefs und -chefinnen als Vorstandsvorsitzende. – Doch Sprache hat ihre eigenen Gesetze. Insbesondere am generischen Geschlecht der Substantive können sich die gesellschaftspolitischen Bemühungen um Geschlechterparität, wie sie auch hier bisweilen unternommen werden, brechen. Es heißt der Mensch, die Persönlichkeit, das Individuum. Wollte man in genderpolitischem Übereifer sagen, Hildegard von Bingen war „eine bedeutende Menschin“ – ein Ausdruck, den übrigens schon das Grimm’sche Wörterbuch bringt –, so müsste man, wollte man nicht gegen das unhintergehbare Gebot der Gleichberechtigung der Geschlechter verstoßen, auch sagen, Nelson Mandela war „ein bedeutender Persönlichkeiter“ und Albert Einstein „ein großer Koryphäer“. Auf der gleichen Ebene läge die Ansprache „liebe Mitgliederinnen“ in einem Frauenverein; im Singular ist es neutral das Mitglied. Allerdings hatte schon Luther in seiner Bibelübersetzung eine Spielart solchen Genderns eingeführt. Um ein entsprechendes Wortspiel im hebräischen Urtext nachzuempfinden, sagte er in Genesis 2,23 von der Gefährtin, die Gott aus Adams Rippe geschaffen hatte, „man wird sie Männin heißen …“110 Die neueren Datums hergestellte Einheitsübersetzung modernisiert die Stelle unter Verzicht auf das Spielerische dann, indem sie sagt, „Frau soll sie heißen.“ – Die realen historischen Entwicklungen der gesellschaftlichen Stellung der Geschlechter, wie sie in diesem Buch vielfach dargestellt wurden, können für den Nachvollzug in einer mit generischem Geschlecht versehenen Sprache zur Herausforderung werden – ein Problem, das mit Goodwill nicht einfach aus der Welt zu schaffen ist. Das dargestellte Phänomen, dass originäre historische Männerrollen (der Priester) und

110 Thomas Mann, der in seinem Josephs-Roman viel und geradezu lustvoll mit dem Schillernden und der Wechselhaftigkeit der Geschlechtlichkeit spielt, verwendet die Formulierung „Männin“ ebenfalls. Siehe Thomas Mann (2018), S. 894/3 und 1024/31.

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originäre historische Frauenrollen (die Äbtissin) sich in der Moderne in „Rollen pur“ (die Pastorenstelle in der evangelischen Kirche), die beiden Geschlechtern (und allen Varianten davon) gleichermaßen zugänglich sein soll, aufgelöst haben, ist sprachlich-grammatisch nicht leicht adäquat zu fassen. Als noch im 19. Jahrhundert Regierungsämter nur Männern offenstanden, in diesem Sinn also „Männerrollen“ waren, gab es den Kanzler (den Reichskanzler) – nicht nur politisch, sondern auch generisch als „der Kanzler“. Doch seit (mit der Weimarer Verfassung) das Kanzleramt prinzipiell auch den Frauen offensteht und nach fast 100 Jahren in Person von Angela Merkel dann auch faktisch von einer Frau eingenommen wurde, taucht auch die weibliche Form der Amtsbezeichnung im Sprachgebrauch und in der Anrede auf: die Kanzlerin, so wie auch die Ministerin, die Bürgermeisterin, die Dezernentin etc. Im konkreten Fall färbt das natürliche Geschlecht der Person grammatikalisch auf die geschlechtliche Bezeichnung auch der Rolle (des Amts oder der Amtsbezeichnung) ab; analog auch in der allgemeinen Berufswelt: der Arzt und die Ärztin, der Gärtner und die Gärtnerin, der Kaufmann und die Kauffrau. All diese Formen sind im alltäglichen Sprachgebrauch heute üblich. Wie aber lautet wohl die Bezeichnung der Rolle, wenn eines Tages vielleicht eine Person, die den Personenstand des dritten Geschlechts innehat, eine entsprechende Führungsposition einnehmen wird? Sieht man jedoch von der konkreten Person, die das Amt, die Rolle, jeweils innehat, ab und betrachtet die Bestimmungen, Definitionen und Beschreibungen der Rolle, wie sie abstrakt, personenunabhängig etwa in der Verfassung, dem Grundgesetz, ausformuliert sind, wird es mit der geschlechtlichen Markierung schwierig. Das 1949 verabschiedete deutsche Grundgesetz verwendet bis heute durchgängig die maskuline Form: der Bundeskanzler, der Bundespräsident, jeder Bundesminister, jeder Deutsche etc. Diese Formulierungen sind nicht zuletzt auch eine konkrete, empirisch fassbare Variante dessen, was Simone de Beauvoir in ihrem etwa zeitgleich wie das Grundgesetz erschienenen Buch („Das andere Geschlecht“) meinte, als sie schrieb, der Mann vertrete das Neutrale – auch das Sachliche, das Universelle etc. Wäre es Jahrzehnte später, in einer Zeit, in der Frauen oft zur Hälfte in den Regierungs- und in anderen führenden Gremien präsent sind und teilweise auch die Chefposition einnehmen, also nicht angebracht, auch die Verfassungstexte entsprechend zu ändern? Doch wie könnten die Formulierungen dann lauten? Sollten Varianten des Binnen-Is, des Sternchens, des Doppelpunkts verwendet werden: BundespräsidentIn, Bundeskanzler*in, Minister:in? Bliebe immer noch der bestimmte Artikel. Der/die Bundeskanzler*in, müsste es womöglich heißen, womit der gemeinsame Nenner sprachlich-symbolisch größer werden würde, so groß jedoch auch wieder nicht, dass auch die Personen, die sich dem dritten Geschlecht zuordnen, darunter einbezogen wären. Ein Ausweichen ins Englische, welches das Problem mit den wahrhaft geschlechtsneutralen „the president, the primeminister“ per se nicht kennt, ist bei einer Verfassung, die für Deutschland gelten soll,

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auch keine Lösung. Diese Schwierigkeiten zeigen, dass die historisch bestehende, sprachlich zumeist maskuline Konnotation der Abstraktion, der Begriffe und des Universellen sich nicht ohne Weiteres auflösen lässt. Wohl ist der Begriff „der Bürger“ heute etwas seltener in Gebrauch, doch über die Männer hinaus ist er immer offen für alle Angehörigen der Bürgergemeinde; der Begriff „die Bürgerin“ meint hingegen immer und ausschließlich nur die Frauen. Als Begriff gebraucht sind „Bürger“ und „Bürgerin“ in ihrer semantischen Reichweite asymmetrisch und nicht gegeneinander austauschbar. Die gerne in Vorschlag gebrachte Wendung „der/die BürgerIn“ als Ausweg aus dieser Situation verfährt bloß empiristisch-additiv. In ihr verpufft jeglicher Abstraktionsgrad, auf den es in bestimmten Kontexten – in Recht, Wissenschaft, Philosophie etc. – nun einmal ankommt. Es bleibt abzuwarten, ob es in der Sprachentwicklung künftig Erfindungen und Wortschöpfungen, neue „gemeinsame Nenner“, geben wird, die diese Probleme abmildern; ein künstliches Überspielen der naturwüchsigen Widerständigkeit von Sprache hat aber wenig Aussichten, sich allgemein durchzusetzen. Vielleicht wird die Welt auch in dieser Hinsicht im Lauf des 21. Jahrhunderts und mit dem Heranwachsen neuer Generationen anders aussehen. Wohl ist auch die sprachlich-symbolische Ebene Teil jenes allgemeinen Ringens um Geschlechterparität in der Gesellschaft. Doch es geht hier nicht nur um historische Entwicklungen der sich modernisierenden Weltgegenden. Auch in globaler Perspektive zeigt sich eine große Ungleichheit in der sozialen Stellung von Männern und Frauen. Der Blick in Weltgegenden, die von Modernisierungsprozessen nicht oder nur wenig tangiert sind, zeigt dort starre Hierarchien zwischen Männern und Frauen, wovon rigide Kleiderzwänge – Tragen der Burka etc. – nur ein unmittelbar sichtbares, wenn man so will „performatives“ Merkmal sind. Global gesehen, bleibt die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in sozialer und rechtlicher Hinsicht eklatant; insbesondere dort, wo „Gesellschaft“, einschließlich moderner Staatlichkeit, sich gegen Stammes- und Clandenken oder stark religiös orientierte Herrschaftssysteme (insbesondere in der muslimischen Welt) nicht frei entfalten kann. Aus Männerrollen, Männerpositionen etc. Rollen und Positionen ohne Bindung an Geschlecht zu machen (auch ohne Bindung an andere Persönlichkeitsmerkmale, wie vor allem der Aszendenz), also „Rolle pur“, darum war es seit Einführung der Gleichberechtigung der Geschlechter de jure, de facto, symbolisch-sprachlich und in einem soziologisch-theoretischen Sinne gegangen. „ohne Bindung“ heißt eben, „frei“ von Bindung; insofern laufen geschlechterpolitische Überlegungen, die Problematik durch formelle Quotierungen – also die Repräsentanz von Männern und Frauen halbe-halbe –, zu lösen, auf eine Reduktion des Kerngedankens von „Gesellschaft“ hinaus. In formellen Quotierungen, zu wessen Gunsten auch immer sie definiert werden, liegt immer eine Art von „ständischem Moment“; in der Politik schränken sie z. B. das „freie Wahlrecht“, das aktive wie das passive, ein, das

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gegen die Strukturen der historischen Ständegesellschaft seinerzeit als Fortschritt errungen worden war. Gesellschaft als solche ist strukturell abstrakt, unpersönlich, egalitär, universalistisch – oder sie ist gar nicht (oder in ihrer Entfaltung zumindest eingeschränkt). Gesellschaft akzentuiert damit die Autonomie der Rolle, der Funktion, des Amtes gegenüber der Individualität der Person, die sie ausübt; sie ermöglicht damit allen Personen – nicht nur bestimmten – Entfaltungsspielraum nach ihren je vorhandenen Fähigkeiten und ihrem Engagement, wozu im Übrigen ganz entscheidend auch die Fähigkeit gehört, sich in entsprechenden Netzwerken (Parteien, akademischen Communities etc.) zu etablieren und sie aufzubauen. Das ist Gleichheit der Chancen, wie Gesellschaft sie im Idealfall gewährt. Um das Problem der inadäquaten Repräsentanz von Männern und Frauen auf der Ebene der Gesellschaft (in den Institutionen, Gremien etc.) zu lösen, müsste man das Problem bei seiner Wurzel packen, d. h. Geschlecht auch in der Gattung und als elementares Persönlichkeitsmerkmal des Homo sapiens aus der Welt schaffen. Um die Folge dieser fiktiven Überlegung an einem anderen Beispiel zu verdeutlichen: Deutschland war historisch ein konfessionell gespaltenes Land; Katholiken und Protestanten waren in etwa gleich stark und beide zusammen nahezu in der gesamten Bevölkerung verbreitet. Regierungen zur Zeit Adenauers nach dem Zweiten Weltkrieg mussten diesem Konfessionsproporz in ihrer Zusammensetzung politisch daher Rechnung tragen, die Verteilung der Konfessionen in der Bevölkerung auch politisch repräsentieren. Dieses Problem hat sich heute weitgehend erledigt, und zwar schlicht und einfach durch Säkularisierung; kirchliche Bindungen haben quantitativ wie qualitativ einen Bedeutungsverlust erfahren und an Relevanz für die Personalrekrutierung in politischen Gremien daher eingebüßt. Geschlecht aber kann nicht wie die historischen Konfessionsprägungen verschwinden, es sei denn mit dem Homo sapiens als solchem. Affinitäten von Sex und Gender mit Gattung und Gesellschaft Wiederum liegt der Ursprung des Problems, mit dem Gesellschafts- und Geschlechterpolitik sich hier konfrontiert sehen, nicht so sehr in vermeintlich unflexiblen und zäh tradierten Strukturen „der Gesellschaft“ selbst, denn hier hat es zuletzt, wie exemplarisch dargelegt, doch signifikante Entwicklungen und Bewegungen gegeben; sein Ursprung liegt kategorial diesseits der „Gesellschaft“, nämlich in der Sphäre der „Gattung“. Die heterosexuelle Fortpflanzung, die Deszendenz, die kategorial primär der Sphäre der Gattung zuzuordnen ist, ist es, die die Gesellschaft unaufhörlich und unaufhebbar mit der im Eingang zu diesem Kapitel benannten Asymmetrie der Geschlechter konfrontiert. Das gilt zum einen in kollektiver Perspektive für „die Gattung“ als Ganzes, d. h. für die einzelnen Populationen, Ethnien, für die Menschheit: Sie „verebben“ nicht, sie wollen bestehen und sich weiter in die Zukunft hinein entwickeln, und das bedeutet die Permanenz der heterosexuellen

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Gattenwahl, der Zeugung, der Durchmischung von Verwandtschaftsstrukturen durch Generierung neuer Aszendentenbäume à la Kaiser Leopold und Kaiserin Margarita. Immer wieder also Deszendenz. Und es gilt zum anderen in individueller Perspektive: für das einzelne Gattungsexemplar in seiner Geschlechtlichkeit und für seine/n Partner/Partnerin, für Leo und Maggie, die einzelnen Individuen, die die Spannung zwischen Gattung und Gesellschaft auszutragen haben. Die Deszendenzproblematik ist, wenn auch mehr indirekt und nicht unmittelbar kausal wirkend, letztlich doch der entscheidende und zugleich hochdynamische Kontrapunkt für alle Bemühungen, in der Gesellschaft Parität der Geschlechter dauerhaft und stabil zu erreichen (was durchaus auch die Möglichkeit impliziert, dass Frauen gesellschaftlich (ganz oder) teilweise eine Mehrheit und Dominanz erlangen). Denn es ist die Deszendenzproblematik in ihrer gattungsweiten Dimension, die als einer unversiegbaren dynamischen Kraft die Polarität und die Asymmetrie der Geschlechter – Leo und Maggie – individuell ständig neu belebt. Wir müssen daher die Blickrichtung ändern und uns bei diesen grundlegenden Fragen stärker der Sphäre der Gattung und den historisch geprägten Formen, mit denen das Individuum darin verhakt ist, widmen. Man greift damit unvermeidlich in Bereiche aus, die die Reichweite des Gender-Paradigmas, das seinerseits alles andere als klar bestimmt ist, überschreiten. Doch dieser so bezeichnete Kontrapunkt des Bemühens um Geschlechterparität in der Gesellschaft, als welcher die Deszendenzproblematik, die originär in der „Gattung“ zu lokalisieren ist, wirkt, ist eben häufig versteckt und tritt in den Alltagsbelangen der Einzelnen wie der Gesamtheit nicht permanent und offen zutage. Die Menschen haben im Alltag, gerade auch im Beruf als oft dominanter Sphäre des Erwachsenendaseins in der modernen Gesellschaft, andere Dinge zu tun und andere Probleme zu lösen als familiäre. Man setzt sich im Alltag auch nicht ständig mit der Endlichkeit und davon möglicherweise ausgehenden schwerwiegenden Sinnfragen des Lebens auseinander. Doch für die Gesamtheit des Lebensvollzugs – auch hier wiederum für den Einzelnen sowohl wie für das Ganze – gewinnt die Deszendenzproblematik, die Fortpflanzung, periodisch elementares Gewicht. Und die Deszendenzproblematik ist per se die Aktivierungsinstanz der Geschlechterpolarität und der Geschlechterbinarität, die das Bemühen um gesellschaftliche Parität der Geschlechter stets erneut stören. Aber die Kategorie des Geschlechts umfasst natürlich mehr als die Frage nach der Deszendenz. Die Unterscheidung von „Sex“ und „Gender“ versucht das deutlich zu machen. Betrachtet man Geschlecht im Sinne von Gender einmal nicht unter dem Gesichtspunkt der Parität in der Gesellschaft, sondern mehr individuell im Hinblick auf sexuelles Begehren, so ist evident, dass faktisch nur ein ganz geringer Teil aller vollzogenen Sexualakte, sowohl in ihrer Vielzahl als auch in ihrer Vielfalt (hetero, bi, homo, lesbisch, paraphil etc., auch das Masturbieren), mit der Fortpflanzung verbunden sind. Die allermeisten der alltäglich von den Menschen in großer

Ursprung der Geschlechterpolarität und Kontrapunkt der Geschlechterparität

Vielfalt praktizierten Sexualakte dienen allein der Lustbefriedigung; zahlenmäßig nur ein höchst marginaler (im Promillebereich liegender) Teil davon führt zur Kinderzeugung. – Diese Aussage lässt sich allerdings nicht umkehren: Fortpflanzung ist nicht vielfältig, sondern immer und ausschließlich nur heterosexuell (einschließlich künstlicher Befruchtung). Solchen Asymmetrien ist Rechnung zu tragen. Um den verschiedenen Aspekten des Genderparadigmas ihren Entfaltungsraum zu sichern, wurde hier der Versuch unternommen, Geschlecht bzw. die Geschlechterpolarität im Sinne von „Sex“ rein negatorisch zu definieren; wie erwähnt: Jedes Individuum ist universell von einer der beiden geschlechtlich gegebenen Möglichkeiten, an der Fortpflanzung teilzuhaben, ausgeschlossen (oder von beiden). Niemand kann beides: zeugen und empfangen; niemand kann „Leo und Maggie“ sein. Wer sich fortpflanzen will, braucht das andere Geschlecht. Wer sich (sexuell) anderen als heterosexuellen Partnern oder Praktiken zuwenden will, kann sich nicht fortpflanzen. (Es ist trivial.) Aber auch der eigene körperliche Ursprung, meine Aszendenz, ist heterosexuell. Körperlich haben mich ein bestimmter Mann und eine bestimmte Frau, mein leiblicher Vater und meine leibliche Mutter hervorgebracht. Und es gibt Großeltern und weiter zurückreichende Vorfahren. Meine Aszendenz ist voller Heterosexualität. Aszendenz bzw. meine Aszendentenstelle aber ist, wie früher ausgeführt, durch meine Zeugung gleichursprünglich mit meiner körperlich-geschlechtlichen Positionierung – „Sex“ – gegeben. Diese so entstandene Apriori-Individualität wurde hier als „das Eindeutige“ am Individuum bestimmt. Wenn hinsichtlich der zwei Fortpflanzungsoptionen eine von beiden (oder beide zusammen) für das Individuum also ausgeschlossen ist, so heißt dies umgekehrt aber auch: Vieles, um nicht zu sagen, fast alles ist ihm ansonsten prinzipiell möglich. Fast alles, was das Leben, das aus dieser Zygote hervorgehen wird, an Möglichkeiten beinhaltet, ist grundsätzlich offen, erfährt tatsächliche Einschränkungen dann nur in der Konfrontation mit den historisch und sozial konkret jeweils gegebenen Umständen der „Gesellschaft“, in die es mit seiner Geburt, letztlich aber auch bereits schon mit der sozialen Positionierung seiner Abstammungsverwandtschaft, der sozialen Positionierung seiner Aszendenz, eintritt. Diese historischen und sozialen Gegebenheiten aber, in die das Individuum hineingezeugt und hineingeboren wird, sind im Einzelfall empirisch soziologisch, ethnographisch, historisch, auch psychologisch etc. zu bestimmen, und das ist wissenschaftssystematisch eine Arbeit, die methodisch unter dem Genderparadigma zu absolvieren ist. Zu dieser grundlegenden Offenheit der individuellen Biographie gehört im späteren Leben vor allem auch die Gattenwahl: Welcher Mann wird unter Wahrung des Inzesttabus welche Frau wählen und umgekehrt, und: Wollen sie eine Familie gründen oder nicht. Oder aber wendet man sich einem/einer gleichgeschlechtlichen Partner/Partnerin zu; hier lässt sich von „Gatten“-wahl im engeren Sinne dann allerdings nicht sprechen, da die Bezeichnung Gatte/Gattin immer eine Affinität zur Fortpflanzung hat.

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All dieses sind entscheidende Sequenzen und Verzweigstellen in einer prinzipiell offenen Konstellation des individuellen Lebenslaufs, zu denen nicht nur Fragen wie etwa die Berufswahl gehören, sondern für diejenigen, die Familie gründen wollen, eben auch die erfolgreiche praktische Lösung des Deszendenzproblems. Leerstelle und Offenheit – setzen wir das vorsichtig einmal in Analogie zu sex und gender – so also ließe der individuelle Ursprung der Geschlechtlichkeit, wie er mit der Zeugung gegeben ist, sich in abstrakten Begriffen fassen. Jedes einzelne Individuum hat eine solche Leerstelle – nämlich die Gametenproduktion des anderen Geschlechts –, die es selbst nicht zu füllen vermag und wozu es, wenn es sich fortpflanzen will, den sexuellen und sozialen Austausch mit dem Gegengeschlecht braucht, während es im Übrigen aber prinzipiell (wenn auch nicht empirisch) tun und lassen kann, was es will und was ihm aufgrund seiner konkreten Lebensumstände möglich ist. Die große Mehrheit einer gegebenen Population bzw. der Gattung als Ganzes füllt diese Leerstelle durch heterosexuelle Gattenwahl, gründet Familie und trägt damit zur Fortentwicklung der Gattung bei. Eine Minderheit markiert – unter welchen Umständen und aus welchen konkreten Gründen auch immer – die Alternative, indem sie die heterosexuell definierte Leerstelle um anderer Lebensziele Willen leer belässt, sich also nicht fortpflanzt. Was Leerstelle faktisch bedeutet, ist biologisch bestimmt: durch eine bestimmte chromosomale, gonadale, hormonelle, physiologische etc. Ausstattung des Körpers, über die ich nicht, über die aber das andere Geschlecht verfügt – und umgekehrt. Die Frage ist, inwiefern es sich bei dieser Aussage, die eine Bestimmung von „Sex“ ist und die aus dem Bereich der Humanbiologie kommt, um eine „Konstruktion“, um eine „diskursive Produktion“ handelt, wie Judith Butler es generell unterstellt, und wenn ja, ob der so dargestellte Sachverhalt sich nicht auch anders „konstruieren“ und „diskursiv“ vielleicht so fassen ließe, so nämlich, dass die lästige Leerstelle wenn nicht zum Verschwinden gebracht – denn das dürfte wohl aussichtslos sein –, so doch zu relativieren, zu marginalisieren, definitorisch zu einer zu vernachlässigenden Größe am Rande herabzusetzen wäre. Sowohl intellektuell und wissenschaftlich wie praktisch-geschlechterpolitisch bis hin zu sprachlichen Normierungen ist ein Streit um die „richtige“ Proportionierung und die „richtige“ Situierung von „Sex“ und „Gender“ in Gang, bei dem einstweilen keine Aussicht besteht, dass er zu schlichten wäre. Der Ursprung und die Entstehung des Genderkonzepts bildeten die Arbeiten des Psychologen und Sexualwissenschaftlers John Money (1921–2006). Er war es wohl, der den Begriff „Gender“ bereits in den 1950er Jahren überhaupt eingeführt hat. Money bezog seine Erfahrung aus der klinischen Praxis vor allem in der frühen Behandlung von Intersexuellen und Transsexuellen in den USA. Dabei bezog er sozusagen klassisch noch sehr stark und nüchtern-sachlich umfangreich auch humanbiologische Erkenntnisse in seine Konzeption ein und war bemüht, ausführlich die körperlichen Voraussetzungen und Umstände von Geschlechterdifferenzierung

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und der Entwicklung von Geschlechtsidentität (gender identity) zu klären.111 Ein gewisser Optimismus trug seine Vorgehensweise insbesondere bei Intersexuellen: Indem man durch operative Eingriffe beim intersexuell erscheinenden Kleinkind äußerlich ein klar differenziertes geschlechtliches Erscheinungsbild herstelle und dann ggf. eine „Geschlechtsneuzuweisung“ vornehme, würde sich analog auch eine entsprechende Geschlechtsidentität und damit eine gesunde Entwicklung ergeben. Es war die Vorstellung, die geschlechtliche Differenzierung ließe sich im Fall bestimmter von Geburt an vorliegenden Unklarheiten der körperlichen Geschlechtsdifferenzierung durch frühzeitige ärztliche Intervention bis zu einem gewissen Grad kontrolliert gestalten und beeinflussen. Die therapeutisch angeleitete Initiative könne jene Trias von 1. Apriori-Individualität, 2. pränatal schon begonnener und immer etwas rätselhaft bleibender Beseelung sowie 3. die bereits stattgehabten Akte der frühen (elterlichen) Sozialisation (objektiviert etwa in der geschlechtlich konnotierten Namensgebung) revidieren und korrigieren. Als sei es für eine grundlegende Umkehr dieser basal bereits erfolgten Entwicklungen auch im bereits etwas fortgeschrittenen Kleinkindalter nicht zu spät. Wiederum die Vorstellung, sozial und psychologisch auf einer Tabula rasa beginnen, die Reset-Taste drücken zu können. Als habe man nicht mit jenem Split zu rechnen, der (siehe Kapitel 8) bei unklarer Erkenntnis und Wahrnehmung der Apriori-Individualität unweigerlich zur Wirkung kommt. Das berühmt gewordene Beispiel war der Fall Reimer: Ein männliches Zwillingspaar, Bruce und Brian Reimer, geboren 1965, mussten im Alter von acht Monaten einer Zirkumzision zur Behebung einer Vorhautverengung unterzogen werden. Dabei kam es zu einem Unfall, bei dem bei einem der beiden Kinder, Bruce, der Penis zerstört wurde. Einige Zeit später wurde Money auf den Fall aufmerksam. Er gewann die Eltern dafür, Bruce zum „Mädchen“ zu machen, indem eine erste geschlechtsangleichende Operation (der im späteren Alter weitere Eingriffe folgen sollten) vorgenommen und das Kind ab sofort mit neuem Namen, jetzt Brenda, versehen wurde und es von Eltern und Umwelt konsequent als Mädchen erzogen, gekleidet und gewertet werden sollte. Der Zwillingsbruder diente dem neugierigen Forscher als willkommener Kontrollfall. Money, der als Sexualwissenschaftler sehr libertäre Ansichten vertrat, war optimistisch, dass unter diesen Voraussetzungen aus dem Kind später eine „normale“ Frau werden würde, die Einschränkungen allenfalls hinsichtlich mangelnder Gebärfähigkeit hinnehmen müsste. Man wird diesen Fall auch vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der 1960er und 70er Jahre sehen müssen, die generell von einem starken Fortschrittsglauben und einem Optimismus, die menschlichen Dinge seien, guter Wille vorausgesetzt, gestaltbar,

111 John Money/Anke A. Erhardt (1975).

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getragen waren, Haltungen, die einige Zeit später wieder einer gewissen allgemeinen Skepsis und Ernüchterung gewichen sind. Moneys Experiment mit dem Kind der Familie Reimer, das in seinem Verhalten stets widerborstig blieb und sich der pädagogisch-therapeutischen Modulation seiner Geschlechtlichkeit nicht umstandslos fügen wollte, ging bekanntlich nicht auf; in die Pubertät gekommen, erfuhr es von seiner Herkunftsgeschichte und wechselte daraufhin sofort wieder in sein Geburtsgeschlecht zurück, was erneute medizinische Eingriffe und abermalige Namensänderung, jetzt zu David, zur Folge hatte. Die Fernwirkungen waren dramatisch; im Kontext weiterer schwieriger Entwicklungen in der Familie endete sein Leben im Alter von 38 Jahren durch Suizid.112 Von den optimistischen Erwartungen, unter denen das Genderkonzept so einst begründet wurde, der Relativierung widerständiger Momente sowohl der körperlichen (Apriori-Individualität) wie der psychischen (Beseelung) und familiärsozialen Momente (Sozialisation) der primären Individualentwicklung, ist dauerhaft etwas erhalten geblieben. Bestimmte Strömungen und Sektionen der Frauenund Geschlechterforschung, heute der Gender Studies, die sich seit einigen Jahrzehnten akademisch zu etablieren verstanden haben, stellen die Bedeutung humanbiologischer Erkenntnisse, und d. h. auch die Bedeutung bestimmter Aspekte der Apriori-Individualität, mitunter sehr grundsätzlich infrage. In ihrer Gründungsphase in den 1970er und 80er Jahren hätte die damals „sich entwickelnde Respektlosigkeit der Sozial- gegenüber den Naturwissenschaften“ neue Perspektiven eröffnet, hieß es in den 90er Jahren in der Frauen- und Geschlechterforschung.113 Solche Äußerungen sind nicht zuletzt Erbe auch der Kritischen Gesellschaftstheorie der 50er und 60er Jahre, die sich dezidiert vor allem gegen den Positivismus in den Sozialwissenschaften gewandt hat und sich in der Folge zugleich habituell auch gegenüber dem ganzen Kosmos der Naturwissenschaften verschloss. Man hatte aufgehört, sich noch weiter dafür zu interessieren, was dort geschah. So hätten folgerichtig die Sozial- und Geisteswissenschaften denn auch den Anspruch erhoben, den Gegenstand Geschlecht mit ihren eigenen Methoden „als Ganzes“ [sic!] zu erfassen und ihn so einer Reihe von anderen Wissenschaften streitig zu machen: der Medizin, der Biologie und schließlich einer Sozialwissenschaft, die Geschlecht als eine Naturtatsache anerkenne und ausschließlich deren soziale Überformung als ihre genuine Aufgabe betrachte. (ebd.) Man wird auch diese Äußerungen in einem zeitgeschichtlichen Kontext sehen müssen. Die Unterschiede zwischen den

112 Am intensivsten wurde der Fall aufgearbeitet von John Colapinto (2000). Auch Judith Butler hat sich mit dem Fall Reimer beschäftigt, siehe, dies. (2011). – Beide Texte, sowohl der von Colapinto als auch der von Butler, waren noch vor dem Suizid von Reimer, also nicht im Wissen um die finale Konsequenz dieses Lebens, geschrieben. – Siehe auch: Dennis Krämer (2018); Christoph Türcke (2021), S. 132 f. 113 Im Vorwort zu: Denkachsen (1994), S. 7.

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Geschlechtern waren auf der Ebene der Gesellschaft, aber auch in den binnenfamiliären Konstellationen damals insgesamt noch starrer, hierarchischer und stärker polarisiert als sie es heute sind, was sich auch in einer statistisch erst sehr geringen Repräsentanz von Frauen in den Sphären der Gesellschaft (sowohl horizontal in der Breite, der Berufswelt, wie vertikal in führenden Bereichen) ausdrückte. Es war an der Zeit, sich einer historisch bedingten Dominanz der Naturwissenschaften in der Definition des Geschlechts und daraus folgend einer lange tradierten sozialen Ungleichheit von Mann und Frau zu erwehren und sich aus ihren vermeintlich engen Vorgaben zu befreien. Ja, es stimmt, man hatte auch die sozialen Geschlechtsunterschiede immer wieder auch „biologistisch“ zu begründen und auf Biologisches zu reduzieren versucht. Dagegen galt es, die gestalterischen Potenziale von „Gesellschaft“ stark zu machen. Aber musste man sich kompromisslos gegenüber humanwissenschaftlichen Konzepten gleich des „Ganzen“ in Darstellung und Definition des Geschlechts bemächtigen und die Naturwissenschaften akademisch-intellektuell einfach ignorieren? „Biologismus“ jetzt durch „Sozilogismus“ ersetzen? – Judith Butler als einflussreichste Stimme unter denen, die diese Debatte führten, hat vor dem zeit- und geistesgeschichtlichen Hintergrund dieser programmatisch betriebenen Entwertung der naturwissenschaftlichen Sicht auf das Geschlecht den Versuch unternommen, „Sex“ quasi zum Verschwinden zu bringen, indem sie es in „Gender“, konkret in Sprache, in „Performanz“, in eine kulturelle Konstruktion etc., überführt. Immer geht es darum, Geschlecht zu „entsubstantialisieren“. Wenn es gelingt, Geschlechtlichkeit, insbesondere die omnipräsente Heterosexualität, als kulturelle Konstruktion zu fassen, ließe alles sich auch anders konstruieren – und die gegebenen Verhältnisse sich also ändern. Der diskursiven Darstellung der Problematik kommt die entscheidende Bedeutung zu: „Werden die natürlichen Sachverhalte des Geschlechts nicht in Wirklichkeit diskursiv produziert, nämlich durch verschiedene wissenschaftliche Diskurse, die im Dienste anderer politischer und gesellschaftlicher Interessen stehen?“114 Als „vordiskursive anatomische Gegebenheit“ sei Geschlecht jedenfalls nicht zu fassen. (ebd., S. 26). Dem ist insofern grundsätzlich zuzustimmen, als jegliche menschliche Deutungsarbeit ohne das Medium der Sprache selbstredend gar nicht stattfinden könnte; menschliche Reflexion ohne Sprache – ohne Diskurs – ist nicht vorstellbar. Alle Kategorien sind demnach diskursiv produziert, wenn man so will „Konstruktionen“. Das gilt auch für die modernen Naturwissenschaften, die ein historisches Phänomen sind. Stammesgesellschaften, antike Kulturen oder das Mittelalter etc. kannten sie nicht. Sie wussten nichts von Chromosomen, Spermatogenese, Ovulation, Geschlechtshormonen oder Hirnstrukturen. Als geistesgeschichtliches Phänomen sind

114 Judith Butler (2012), S. 23 f.

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daher auch wissenschaftliche Kenntnisse über die Biologie der Geschlechter selbstverständlich „diskursiv produziert“, sofern man die Methoden der Wissenschaft als diskursiv bezeichnet. Damit lassen sie sich freilich nicht einfach relativieren und beiseitelegen, um an ihrer Stelle nach Gusto etwas anderes zu produzieren, oder sie – „respektlos“ – einfach ignorieren. Sind die Naturwissenschaften geistesgeschichtlich einmal in der Welt, fordern sie jeden Angehörigen der modernen Gesellschaft heraus, ihre Resultate zur Kenntnis zu nehmen. Sie „zwingen“ uns – um in einer weiteren Variante an das früher ausgeführte Motiv vom Zwang zur Freiheit anzuknüpfen –, z. B. dem heliozentrischen Weltbild den Vorzug vor dem geozentrischen zu geben, der Evolutionstheorie vor dem Kreationismus, der modernen naturwissenschaftlich basierten Medizin vor dem Schamanismus – auch wenn es zur Vielfalt der modernen Gesellschaft gehört, dass sich immer wieder verschiedene Formen von Widerstand (Esoterik, religiöser Fundamentalismus, ein Spinnen von „alternativen Fakten“ etc.) gegen solchen „Zwang“ zur Anerkennung wissenschaftlich basierter Erkenntnisse erhebt. Und so zwingen die Naturwissenschaften uns auch – in bestimmten Kontexten – zur Anerkennung ihrer Einsichten in die Biologie des Geschlechts, statt sie bewusst zu vernebeln oder sie als unbedeutend zu übergehen. An diesem Punkt stellt sich nichts weniger als die Entscheidung zwischen Rationalität und Irrationalität, bzw. die Entscheidung zwischen dem beharrlichen Bohren dicker Bretter, was die Aufgabe seriöser Wissenschaft ist, und einer Haltung, die sich die Welt intellektuell bequem machen will. Daher noch einmal die Frage, lässt die aus humanbiologischer Erkenntnis abgeleitete Aussage, jedes Individuum sei von einer der geschlechtlich gegebenen Möglichkeiten, an der Fortpflanzung teilzuhaben, ausgeschlossen, anders „konstruieren“, d. h. also: widerlegen? Kann „Leo“ doch „Maggie“ werden – et vice versa? – Ja, mögen manche sagen, denn: Es gibt sie doch, die aufsehenerregenden Medienberichte vom „schwangeren Mann“ und die Aussichten, dass auch transsexuelle Frauen durch Uterusverpflanzung eine Schwangerschaft erreichen können. Zu diesen Grenzfällen wurde in Kapitel 5 bereits das Nötige gesagt, dass solche sehr weitreichenden Annährungen ans Gegengeschlechtliche auf der Ebene der Alltagspraxis nie ohne Rest aufgehen und die grundlegende Differenz von Ovulation und Spermatogenese nie überwinden können. Die Deszendenzproblematik behauptet sich letztlich hartnäckig als Grenze aller Möglichkeiten des Geschlechtswechsels. Und daher ist die gestellte Frage, ob das Ausgeschlossensein von einer der beiden Optionen der Fortpflanzung (oder von beiden), durch eine andere „Konstruktion“, durch eine andere diskursive Darstellung der Problematik aufzulösen wäre, bis zum naturwissenschaftlich (sic!) erbrachten Beweis des Gegenteils zu verneinen. Die Folgen, die diese Bestimmung für Körper und Leib (im weitesten Sinne „Sex“) haben, lassen sich von der Humanbiologie in die Philosophie hinein verlängern. In der Neuen Phänomenologie hat Ute Gahlings im Gefolge von Hermann Schmitz umfangreich eine „Phänomenologie der weibliche Leiberfahrung“ ausformuliert,

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in der leibbezogene Geschlechtsdispositionen jenseits einer naturwissenschaftlichen Terminologie (aber mit ihr kompatibel) dargestellt werden.115 Nicht von ungefähr kreist der größte Teil der materialen Kapitel dieser Arbeit mittelbar oder unmittelbar um das Thema Fortpflanzung: Zum einen bei der Betrachtung der „Topographie des weiblichen Leibes“, den „Leibinseln“ (Schmitz), wo en détail die leibliche Erfahrung der Brüste, der einzelnen Bestandteile der genitalen Zone, des Unterleibs mit den Ovarien und dem Uterus betrachtet werden; darüber hinaus die typisch weibliche Erfahrung des „Flüssigen“ in Gestalt von Menstruationsblut, Sexualsekreten, Fruchtwasser, Milch oder die Erfahrung des Festen und der Fülle, etwa der „gefüllte Bauch“ während der Schwangerschaft. Zum anderen wird die weibliche Leiberfahrung umfangreich im biographischen Ablauf beschrieben: von der Thelarche, der Menarche, der Menstruation, der Defloration, auch der Vergewaltigung, dann der Gravidität, der Geburt, dem Puerperium, der Laktation, bis hin zum Klimakterium und dem kranken weiblichen Leib, dann aber dem weiblichen Erleben der Sexualität in den verschiedenen Lebensaltern etc. Robert Gugutzer hat analog dazu in gleicher Methodik mit einer kleinen Phänomenologie der männlichen Leiberfahrung auf Gahlings geantwortet, dabei z. B. vor allem „die Härte“ als einen originären männlichen Erfahrungsmodus des Leibes bezeichnet, der situationsbezogen aufscheint.116 Das Thema Fortpflanzung kommt bezeichnenderweise nicht vor. Leiblich und d. h. in der leiblichen Binnenerfahrung, aber auch in der Außensicht ist es wie erwähnt zwischen den Geschlechtern höchst asymmetrisch verteilt. Solche umfänglichen phänomenologischen Darstellungen geschlechtlicher Leiberfahrungen lassen sich durch die Charakterisierung als bloßer „Konstruktion“ nicht einfach relativieren und aus der Welt schaffen. Sie haben eine triftige empirische Grundlage. Vor allem aber wirkt es geradezu lebensfremd anzunehmen, dass die so bezeichneten Sachverhalte nicht unmittelbar Auswirkungen auf die Lebenspraxis des einzelnen Individuums haben sollten und zwar auch dann noch, wenn es in der abstrakt und egalitär strukturierten und im Kern damit auch „geschlechtsneutral“ ausgerichteten Sphäre der „Gesellschaft“ agiert. Wie aber verhält es sich nun mit der berühmten und für die Frauenbewegung und die Gender Studies grundlegenden Formulierung von Simone de Beauvoir, der zufolge man nicht als Frau zu Welt komme, man vielmehr dazu werde?117 Genau genommen wird man natürlich als Mädchen geboren oder als Junge (ggf. auch intersexuell), und als Mädchen wird man in aller Regel eine Frau, sofern das heranwachsende Kind sich nicht als transsexuell erkennt und stattdessen zum „Mann“ wird oder werden will. Darauf aber wollte Beauvoir nicht hinaus; sie wollte 115 Ute Gahlings (2016a). 116 Robert Gugutzer (2016) und Ute Gahlings (2016b); auch Robert Gugutzer (2015). 117 Sie erscheint zu Beginn des zweiten Buches von „Das andere Geschlecht“, Simone de Beauvoir (2008) S. 334.

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bestimmte soziale Zwänge artikulieren, die mit dem Frausein zu ihrer Zeit und historisch bestanden, aber, vor allem global gesehen, vielfach auch heute noch bestehen, Zwänge, die den Entfaltungsspielraum von Frauen sozial, in der Gesellschaft, aber auch in den familiär-privaten Konstellationen, wie sie zeit- und ortstypisch jeweils gegeben sind, einschränkten, gerade auch im Vergleich zu dem der Männer. Müsste man dann aber nicht feiner differenzieren und eher diese Zwänge selbst benennen, als dass man in diesem Zusammenhang gleich die Universalkategorie Frau anführt, die zugleich anthropologisch und eben auch biologisch, körperlich und leiblich (eben durch die Apriori-Individualität) bestimmt ist? Wie wäre es, wenn man das Problem statt mit der Sentenz „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es“118 etwa so formulierte: Man wird als Frau (bzw. als Mädchen) nicht zum Tragen einer Burka geboren, man wird Burkaträgerin – nämlich in Afghanistan, in Europa aber (von wenigen migrantischen Milieus abgesehen) nicht. Oder: Man wird als Frau nicht dazu geboren, sich auf die familiäre und häusliche Sphäre sowie ggf. den Salon, das Kaffeekränzchen und die Klavierstunde zu beschränken, nur in der gehobenen bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts wird man es. Oder: Man wird als Frau nicht dazu geboren, vom Priesteramt ausgeschlossen zu sein, man wird es durch die Institution der katholischen Kirche, während der Protestantismus oder das liberale Judentum unterdessen gezeigt haben, dass man die auch dort historisch tradierte Geschlechterbarriere für die Zugänglichkeit zum Kirchenamt bzw. zum Rabbinat aufgeben kann. Und hierher gehört, etwas abgewandelt, auch die oben variierte Aussage: Man wird nicht als Präsidentin geboren, man wird es – wenn denn die Franzosen oder die US-Amerikaner endlich einmal eine Frau in dieses Amt wählten, so wie in zahlreichen europäischen und außereuropäischen Ländern, selbst in Indien und Israel etc. bereits Frauen die mächtigsten politischen Führungsämter bekleidet haben. Solche sozialen Bestimmungen des historischen und kulturellen Schicksals von Frauen (durch „Zeitraum“ und durch territorialen „Kulturraum“) sind „Gender“, und: Sie sind selbstredend veränderbar. Es ließe sich auch sagen, sie sind es, die in jener grundlegenden Konstellation von Leerstelle und Offenheit aller prinzipiellen Entwicklungsmöglichkeiten des Individuums, die mit seiner Zeugung (und Geburt) gegeben sind, die Seite der Offenheit ausmachen – und zwar offen wiederum in doppelter Perspektive: offen zum einen im Hinblick auf die Gesellschaft als Ganzes; sie entwickelt sich historisch und deren Strukturen, gerade auch die Strukturen hinsichtlich der Positionen der Geschlechter verändern sich (wie auch hier nun vielfach dargelegt) historisch; zum anderen im Hinblick auf die Biographie des einzelnen Individuums, das sich gegen solche

118 Das „geboren werden“ scheint näher am französischen Original („On ne naît pas femme, on le devient.“) zu sein als das „zur Welt kommen“, das in der gängigen deutschen Übersetzung des Rowohlt Verlags erscheint.

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Zwänge eventuell erheben und unter gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen davon befreien kann. Prinzipiell oder konstitutionell aber wird keine Frau (und analog auch kein Mann) zu derlei sozial und kulturell gegebenen Bestimmungen, wie sie beispielhaft eben angeführt wurden, geboren – so wenig wie zum König (denn historisch ist das Königtum häufig durch die Republik abgelöst worden), zum Herren/der Herrin oder zum Sklaven (denn die Sklavenhaltergesellschaft war ebenfalls historisch), auch nicht zum Hedgefondsmanager oder zum Taxifahrer, zur Ärztin oder zur Kassiererin; prinzipiell können sie, mit der alleinigen Ausnahme der a priori ausgeschlossenen gegengeschlechtlichen Fortpflanzungsoption, auch anders. Wie dargelegt, ist der Ausschluss von der gegengeschlechtlichen Fortpflanzungsoption letztlich aus der Humanbiologie abgeleitet. Kollidiert diese Feststellung nun mit dem Satz, den Simone de Beauvoir gleich im Anschluss an ihre berühmte Formulierung bringt und der da lautet: „Keine biologische, psychische oder ökonomische Bestimmung legt die Gestalt fest, die der weibliche Mensch in der Gesellschaft annimmt.“119 Nein, hier gibt es keine grundlegende Kollision; „in der Gesellschaft“ legt die Biologie die Gestalt, die die Frau annimmt, in der Tat nicht prinzipiell fest; wenn eine Festlegung der Frau (und des Mannes) stattfindet, dann betrifft sie vornehmlich die Position in der Sphäre der „Gattung“. Gattung versus Gesellschaft. Es gilt das oben Gesagte: In der Gattung, nicht im anorganischen Artefakt „Gesellschaft“, ist die Deszendenzproblematik als Folge der binären Geschlechterpolarität in der Vater-Mutter-Kind-Triade kategorial angesiedelt. Diversität in der Gesellschaft In der westlich-modernen Gesellschaft muss man sein Erwachsenenleben nicht zwangsläufig in einer heterosexuellen Beziehung führen. Für die Kultur des Okzidents galt das seit jeher. Beim Blick in die ältere Geschichte (siehe oben Kapitel 3) zeigte sich, dass man in der lateineuropäischen Kultur seit der Spätantike schon immer einen relativ hohen Anteil von Nichtverheirateten hatte, darin eingeschlossen sowohl die kulturelle Hochwertung des kirchlichen Zölibats wie die große Zahl von Minderprivilegierten (Knechte, Mägde, Dienstpersonal etc.). Die europäische Kultur hat, so gesehen, von ihren Bewohnern die Praktizierung von Heterosexualität nie positiv und flächendeckend eingefordert, man war seit Langem mit der Ausnahme vertraut und hatte für die Herausbildung der westlichen Individualität damit Freiräume geschaffen. Wie kam Judith Butler dann dazu, in den 1990 erschienen Gender Trouble (Das Unbehagen der Geschlechter) von „Zwangsheterosexualität“ zu sprechen? Weil

119 Ebd.

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sie etwas ganz anderes im Blick hatte, nämlich nicht das sozial legitime Unverheiratetbleiben, sondern die Sexualität als solche. Zwar wurde man nicht unbedingt gezwungen, Heterosexualität (und Familiengründung) definitiv zu praktizieren, sondern konnte oder musste auf Sexualität (offiziell) auch ganz verzichten. Historisch aber war es natürlich auch in der europäischen Kultur stigmatisiert und bis hin zur Anwendung der Todesstrafe für Intersexuelle oder Sodomisten verboten, Formen von Sexualität jenseits der Heterosexualität, jenseits der Binarität von Mann und Frau, offen auszuüben. Hier bestand durchaus ein „Machtdiskurs“, der die Rede von der „Zwangsheterosexualität“ plausibel macht. Gesellschaftlich war die Heterosexualität aufgrund ihrer Fähigkeit zur Fortpflanzung und Familiengründung seit jeher und in allen Gesellschaften entweder die alleinige oder zumindest die klar bevorzugte Form der legitimen sexuellen Praktik. Je nachdem aber gab es auch Nischen – seien es bestimmte biographische Lebensabschnitte (homosexuelle Praktiken unter Jungen in indigenen Kulturen, Knabenliebe von Alten in der Antike); Sonderkulturen wie bei den Femminielli in Neapel oder den Hijra/Hidschra in Indien; privilegierte Stände wie die spielerisch ausgerichtete höfische Aristokratie des 18. Jahrhunderts mit dem als Frau lebenden Chevalier d’Eon (1728–1810) oder der Zarin Elisabeth (regierend von 1741–1762), die am russischen Hof Bälle anordnete, auf denen die Männer als Frauen und Frauen als Männer zu erscheinen hatten und die dabei selbst sehr eindrucksvoll als Mann auftrat120 ; umgekehrt das berühmte Porträt von Hyacinthe Rigaud von 1701, auf dem Ludwig XIV. seine Beine in weiblicher Anmutung zeigt; nicht zu vergessen die oben behandelten männlichen Schauspieler oder die Kastraten, die im historischen Shakespeare-Theater und der Oper, auf dem römischen Theater, in der japanischen Kabuki-Schauspielkunst (letztere bis heute) die Frauenrollen übernahmen; schließlich aber auch die metropolitanen Subkulturen im frühen 20. Jahrhundert etc. Die Geschichte kannte zur Genüge solche speziellen Situationen, in denen auch andere

120 Davon berichtet die spätere Zarin Katharina, die in jungen Jahren Zeuge davon gewesen war: „Im Jahr 1744 gefiel es der Kaiserin Elisabeth einmal, bei den Hofmaskenbällen alle Männer in Frauenkleidern und alle Frauen in Männerkleidern ohne Gesichtsmaske erscheinen zu lassen. Die Männer in große Reifröcke und Frauenüberwürfe gehüllt und wie die Damen bei Hoffesten frisiert, während die Damen so, wie die Herren an solchen Tagen zu erscheinen pflegen, gekleidet waren. Den Herren waren diese Tage der Metamorphose nicht eben bequem; die meisten waren vielmehr in der schlechtesten Stimmung, weil sie fühlten, wie hässlich sie ihr Anzug machte. Die Frauen wiederum sahen aus wie magere kleine Jungen oder wurden – besonders die älteren – durch ihre dicken und kurzen Beine nicht gerade verschönert. Nur die Kaiserin [Zarin Elisabeth I.] selbst erschien wirklich schön und vollkommen als Mann. Da sie groß und etwas stark war, stand ihr die männliche Kleidung vortrefflich. Sie besaß das schönste Bein, das ich je an einem Menschen gesehen und einen vollkommen proportionierten Fuß. Sie tanzte mit vollendeter Kunst und hatte in allem, was sie tat, eine einzigartige Grazie, gleichviel ob sie als Frau oder als Mann gekleidet war.“ Vgl.: Katharina II. von Russland (2007), S. 140 f.

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sexuelle und „performative“ Praktiken als bloß heterosexuelle stattfinden konnten. Das alles sind historische Varianten, in denen das „schillernde Ich“ sich entfalten und sich ausdrücken will – Vorläufer dessen, was heute in den Alltag eingewandert ist und sich als „queer“ versteht. Doch die bürgerliche Gesellschaft, insbesondere die des 19. Jahrhunderts, die sich politisch und kulturell als Kontrastmodell zum hochmögenden und exklusiven laissez faire der höfischen Aristokratie des Ancien Régime begriff, von stark christlich oder muslimisch geprägten Kulturen ganz zu schweigen, propagierte eine arbeitsame Nüchternheit, die zeitweise bis zur Prüderie reichte, und war diesbezüglich dem Schillernden gegenüber lange eher ablehnend und restriktiv. Dazu gehörte unter anderem das explizite Verbot der Homosexualität (von 1872 bis 1994 stand der entsprechende § 175 im deutschen Strafgesetzbuch), sehr häufig sogar ihre Verfolgung und Bestrafung. Das erscheint als historischer Hintergrund der Rede von der Zwangsheterosexualität. Butler aber propagierte diesen Begriff just zu einem Zeitpunkt, da er in den Gesellschaften der „zweiten Moderne“ sich de facto aufzulösen begann, während es anderweitig, global gesehen, aber auch massive Gegenbewegungen dazu gab und gerade zuletzt offenbar verstärkt wieder gibt – siehe jüngst die expliziten, auch kirchlich-orthodox untermauerten Wendungen gegen die Liberalisierungen des Sexuellen, wie sie im Westen vollzogen werden, im Kontext des kriegerisch-aggressiven russischen Nationalismus, aber auch die entschieden rechtskonservativen Strömungen in den USA. Butlers einflussreiche Schriften wirkten diesbezüglich wohl sogar als Katalysator. Dreißig Jahre nach den „Gender Trouble“ kann von einem sozialen und gesellschaftlichen Zwang zur Heterosexualität, und zwar jetzt im engeren Sinne auf Praktiken der Sexualität und auf die Geschlechtsidentität direkt bezogen, in den westlich geprägten Weltregionen nicht mehr wirklich gesprochen werden. Jene strukturelle Dynamik, die der „Gesellschaft“ als solcher historisch seit jeher innewohnt, Egalität, Rechtsgleichheit, Chancengleichheit, Inklusion in immer besseren Formen und immer größerer Reichweite herzustellen, hat neues Terrain erobert. Von den verschiedenen Wellen und Initiativen der Frauenbewegung und des Feminismus, die, wie dargelegt, in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlich signifikant an Einfluss gewonnen haben und viele ihrer Ziele tatsächlich erreichen konnten, ist die Dynamik auf das weite Spektrum der LGBTQIA*-Szene übergesprungen: Auf Ansprüche, Rechte, Gesetzesinitiativen, neue Entfaltungsmöglichkeiten und Entfaltungsräume von Personen und Chancengleichheit für sie, die sich als lesbisch, gay (homosexuell), bisexuell, transsexuell, queer, intersexuell, asexuell (mit einem Sternchen als Platzhalter für weitere Varianten) empfinden und heute offen darstellen. Hier tritt in der Entwicklung und Expansion von „Gesellschaft“ historisch offenbar etwas Neues zutage. Es wird die stärkere Anerkennung des „schillernden Ichs“, der Vielfalt des „Uneindeutigen“ im Leben des Individuums eingefordert; gesellschaftliche Würdigung dessen, was, insbesondere sexuell grundiert, aus den

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subjektiven Rätselgründen des Seelischen kommt und sich in der Welt Ausdruck verschaffen will. Anders gesprochen: Die subjektive Eigenwahrnehmung, der Selbstausdruck will sich gegen die Fremdwahrnehmung behaupten; das „Eigene“, wie es sich biographisch nun einmal ergeben hat, gegen „die anderen“. Und d. h., das Individuum will gegebenenfalls nicht länger mehr an jene beiden grundlegenden Aspekte gebunden sein, die ihm ontogenetisch-biographisch mit seinem Anfang gegeben waren: die Apriori-Individualität und die seit seiner Geburt stattgehabten Akte seiner Sozialisation. Frei und hell will das Ich, so wie es biographisch spät erst sich entfaltet und ergeben hat, ggf. „schillern“ – bis hin zur freien öffentlichen Kultivierung von Idiosynkrasien und seien sie mitunter noch so bizarr. So sind wir in einer Situation angekommen, in der (im Gegensatz zu restriktiven und repressiven Gemeinschaften) die sich ständig modernisierende „Gesellschaft“ dem innenbestimmte Ich dabei hilft, biographisch retrospektiv einen Primat gegenüber jenen frühen Fremdfestlegungen zu beanspruchen, wie sie seit seiner Zeugung und Geburt nolens volens von „den anderen“ (den Eltern etc.) zunächst einmal eingeleitet worden waren – ihm z. B. zur Namens- und Personenstandsänderungen verhilft, wenn es sich subjektiv nicht dem Geburtsgeschlecht zugehörig fühlt. Die Homosexuellen und Lesben bildeten historisch im Ablauf der Ereignisse die Avantgarde. Ihre strafrechtliche Verfolgung wurde zunächst schleichend eingestellt und mit Abschaffung des § 175 schließlich explizit aufgehoben. War ihre Entfaltung lange auf subkulturelle Orte und Milieus beschränkt, konnten sie sich längst in der „Mitte der Gesellschaft“ und des Alltags etablieren. Fast überall in der westlichen Welt vermochten sie unterdessen in den gehobenen Stellungen in der Berufswelt und in führenden Positionen Fuß zu fassen, höchste Ministerämter zu besetzen, im katholisch geprägten Irland mit Leo Varadkar (2017–2020 und wieder seit 2022) sogar das Amt des Regierungschefs einzunehmen. Des ungeachtet kommen spontane Attacken insbesondere auf männliche Homosexuelle vor allem in der Anonymität im öffentlichen Raum oder in den sozialen Medien allerdings auch heute vor, werden gesellschaftlich, politisch und medial, unter Umständen auch strafrechtlich unterdessen aber streng verurteilt. Von Bedeutung für die beständige Suche nach dem größeren gemeinsamen Nenner ist hier die Öffnung der ehemals auf heterosexuelle Paare beschränkten Ehe zur „Ehe für alle“. In praktisch allen westlichen Gesellschaften ist die Erweiterung der Eheberechtigung auf gleichgeschlechtliche Paare vollzogen worden. Auch sie erhielten alle Rechte, meist einschließlich des Adoptionsrechts, müssen umgekehrt aber auch alle Pflichten und Rechtsfolgen übernehmen, die mit der Ehe, insbesondere im Fall der Scheidung, verbunden sind. Mit der tatsächlichen Einführung der Ehe für alle hat Butlers Intervention gegen „Heteronormativität“ und „Zwangsheterosexualität“ einen ihrer wichtigsten Erfolge errungen. Vereinzelt werden heute sogar Forderungen nach einer „Ehe zu dritt“ laut.

Ursprung der Geschlechterpolarität und Kontrapunkt der Geschlechterparität

Eine weitere Variante des größeren Nenners stellt die Ausweitung und Flexibilisierung des Personenstandsrechts dar. Dessen traditioneller Bezug auf bloß zwei Geschlechter (Mann und Frau) wurde durch die formelle Anerkennung von Intersexuellen als „drittem Geschlecht“ (divers) zu einer Trias erweitert. Transsexuelle verbleiben (subjektiv) hingegen bei der Binarität der Geschlechter: Eine Transgenderfrau will ihrem Empfinden nach nicht eigentlich „etwas Drittes“ sein, sondern einfach eine Frau (et. vice versa der Transmann). Seit mehreren Jahrzehnten haben Transpersonen auf der Grundlage verschiedener nationaler Formen von Transsexuellengesetzen bereits die Möglichkeit, personenstandsrechtlich vom einen zum anderen Geschlecht zu wechseln. Unterdessen werden die aufwendigen Prozeduren, die gemäß diesen Gesetzen bislang zu absolvieren waren (geschlechtsangleichende Operation, Scheidung einer bestehenden Ehe, Alltagstest etc.), aufgegeben; an ihre Stelle treten einfache „Selbstbestimmungsgesetze“, nach denen die bloße Selbsterklärung der Person, sie wolle dem anderen Geschlecht zugehören, ausreichend ist; nur noch die Willensbekundung des „schillernden Ichs“ ist für die Änderung des Personenstands maßgeblich. Popkultur, Showbusiness und Kunst tragen das Ihre dazu bei, homosexuelle, lesbische und queere Personen in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu rücken und damit unter Umständen ihrer Anerkennung auch in anderen, eher nüchtern-profanen Bereichen des gesellschaftlichen Alltags vorzuarbeiten. Auch auf sprachlich-symbolischer Ebene wird versucht, der Vielfalt von geschlechtlichem Ausdruck Rechnung zu tragen. Facebook bietet für seine Nutzer über die Kategorien männlich und weiblich hinaus mehrere Dutzend verschiedene Bezeichnungen für ihre Geschlechtlichkeit an. Auf der Suche nach neuen Bezeichnungen, die eine größere Vielfalt von Identitäten unter sich vereinen und integrieren, wird auch Bizarres nicht gescheut: FLINTA, was demnach an die Stelle der Bezeichnung Frau treten soll, wird als eine solche Kunstvokabel gehandelt. Das Akronym soll Frauen (gemeint sind cis-Frauen, d. h. heterosexuelle biologische Frauen), Lesben, Intersexuelle, Nonbinäre, Transsexuelle, Asexuelle in einer Sprachformel zusammenfassen. Analog etwa auch die Markierung mit Sternchen, also „Frauen*“ und „Männer*“, um damit alle Weiterungen und Varianten mit einzubeziehen. Die Aussicht, dass solche in minoritären Aktivisten-, oder AktivistInnen-Szenen experimentell praktizierten Sprachregelungen sich allgemein durchsetzen, dürften freilich gegen Null gehen. Ohnehin gehen all diese Bemühungen, geschlechtliche Vielfalt und Diversität anzuerkennen und in ihrer ganzen Breite in der Gesellschaft zur Entfaltung zu bringen, nicht immer widerspruchsfrei auf. Just von organisiert feministischer Seite (Alice Schwarzer und ihre Zeitschrift Emma, Kathleen Stock u. a.) werden heute Einwände gegen solche Nivellierungen des Unterschieds zwischen Cis-Frauen und Personen, die sich durch eine bloße Selbstäußerung als Frauen bezeichnen,

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erhoben.121 Von dieser Warte aus wird befürchtet, dass originäre Schutzräume von Frauen, die Männern aus guten Gründen unzugänglich sein sollten – Damentoiletten, Umkleidekabinen, Frauensauna, Frauenhäuser, Frauengefängnisse etc., aber auch abstrakt definierte Räume, nämlich bestimmte Positionen in der Gesellschaft, die durch Frauenquoten gesichert sein sollen, schließlich auch der Frauensport –, dass eben diese Räume ihre Schutzfunktion vor männlichen Übergriffen einbüßen könnten. Spektakuläre, faktisch aber höchst selten auftretende und daher etwas aufgebauschte Fälle werden zitiert, in denen (biologisch und personenstandsrechtlich männliche) Personen mit dem bloßen Hinweis auf eine vermeintliche weibliche Geschlechtsidentität und einer geschlechtlich weiblichen Selbstdarstellung in solche Räume der Frauen Eingang gefunden und dort etwa als Vergewaltiger tätig wurden. Restriktive Verweise, queere Personen mögen deshalb künftig neu einzurichtende Sonderräume wie „Unisextoiletten“ – auch dieses eine Variante des „größeren Nenners“ – aufsuchen, wird von diesen unter Umständen wiederum selbst als diskriminierend empfunden. Ebenso hat die Verletzung der abstrakten Schutzräume zuletzt Protest hervorgerufen, wo sich bei demokratischen Parlamentswahlen Transfrauen auf Listenplätzen festsetzten, die für Frauen (CisFrauen) vorgesehen waren. (So 2021 die formal noch unter ihrem männlichen Herkunftsnamen in den deutschen Bundestag eingezogene Grünenabgeordnete Tessa Ganserer.) Und Transfrauen, so wird bemängelt, machten mit ihrer von Natur gegebenen Körperkraft den Wettkampfsport der Frauen kaputt. Auch würden, so wurde eingewandt, Transfrauen nicht die Erfahrungen machen, die Cis-Frauen häufig zu machen haben: neben der Menstruation vor allem Schwangerschaft, oft auch Vergewaltigung, patriarchale Unterdrückung etc. So produziert das Ringen des Feminismus und der LGBT*-Szene um mehr Egalität hier eine Vielfalt von Identitäten und Lebensformen, die nicht ohne Weiteres friedlich mit anderen koexistieren. Die Aufspreizung des Heterogenen hat immer wieder auch soziale Widersprüche und Konflikte zur Folge. Gleichgeschlechtliche Elternschaft Eine besondere, um nicht zu sagen der Kern der Problematik tut sich erst auf, wenn wir neben der horizontalen Dimension – also dem beständigen Bemühen um Egalität und Inklusion von immer mehr verschiedenen Menschen und Identitäten in der Gesellschaft – auch die vertikale Dimension, also die historische Abfolge der leiblichen Generationen mit in die Betrachtung aufnehmen. Wenn wir den Blick also vom einzelnen Individuum in seinem Verhältnis zur „Gesellschaft“ hin zu

121 Transsexualität (2022); Kathleen Stock (2022).

Ursprung der Geschlechterpolarität und Kontrapunkt der Geschlechterparität

seinem Verhältnis, in dem es zur „Gattung“ steht, wenden. Damit kommt die VaterMutter-Kind-Triade, die dort situiert ist, in den Blick. Die unlösbaren Verhakungen, denen das Individuum qua eigener Aszendenz hierin zunächst passiv, bei eigener Familiengründung via Geschlecht dann auch in seiner Lebensaktivität ausgesetzt ist, haben das Potenzial, subtil oder offen eine „störende“ Wirkung im Schillern des Ichs zu entfalten. In welchem Sinne sind Familien mit heterosexuellem leiblichem Elternpaar – Vater und Mutter – und Regenbogenfamilien mit gleichgeschlechtlichem Elternpaar – zwei Mütter, zwei Väter – (auch die alleinstehende Frau, die sich zur künstlichen Befruchtung entschließt) gleich, wo liegen die Unterschiede und welche Bedeutung kommt ihnen zu? Rechtlich sind sie, nachdem gleichgeschlechtliche Ehepaare auch das Recht zur Adoption erhalten haben, weitgehend gleichgestellt. Und Regenbogenfamilien sind auf dem Weg, auch in Alltag und Gesellschaft weitgehend auf jene Akzeptanz zu stoßen, wie sie auch Homosexuelle, Transsexuelle, queere Personen heute vielfach erfahren, Regenbogenfamilien vor allem auch deshalb, weil es hier zuvörderst um die Unversehrtheit von Kindern geht. Auch in diesem Feld wird im symbolisch-sprachlichen Bereich um eine Gleichstellung des Verschiedenen, der Regenbogenfamilien mit heterosexuellen Familien, gerungen. Die lebensweltlichen Bezeichnungen Vater und Mutter sollen sprachlich in einem größeren gemeinsamen Nenner aufgehen, in dem auch die nichtbinäre Elternschaft mit einbezogen ist. Dafür wurde vorgeschlagen, in bestimmten Kontexten, vor allem in der Verwaltungs- und Gesetzessprache, anstelle des heterogeschlechtlich konnotierten Paars Vater und Mutter die gänzlich geschlechtsneutralen Bezeichnungen „Elter 1“ und „Elter 2“ oder „Elternteil 1 und Elternteil 2“ zu verwenden. Als man in Frankreich 2013 die Ehe für alle einführte, versuchte man auch, die Bezeichnungen „parent 1“ und „parent 2“ im Code civil zu implantieren, was aber auf massiven Protest stieß und daher zunächst aufgegeben wurde. Analog auch der Vorschlag der Nationalen Ethikkommission der Schweiz, den Begriff „Mutter“ in Gesetzestexten zu streichen und an ihrer Stelle die Formulierung „die Person, die das Kind geboren hat“ zu verwenden. Die Präsidentin der Kommission, Andrea Büchler, führt zur Begründung an: „Das entscheidende Kriterium, ob ein Mensch als Mutter definiert wird, ist also die Geburt und nicht das Geschlecht.“122 Ein weiterer „größerer gemeinsamer Nenner“, der als Konzession an die erwähnten „schwangeren (Trans)Männer“ (siehe Kapitel 5) geschaffen wurde, die ein Kind gebären, aber natürlich nicht unter der Bezeichnung Mutter subsumiert werden wollen. Die Formulierung der Kommissionspräsidentin ist freilich höchst unpräzise, denn sie passt auch für bloße Leihmütter, die nach der Schwangerschaft keine Beziehung zu dem Kind entwickeln werden, während Adoptiv- und Pflegemütter,

122 Transsexualität, (2022), S. 51. Auch Neue Züricher Zeitung v. 7.5.2021.

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die das Kind eben nicht geboren haben, es aber großziehen, sprachlich annulliert werden. Solche Diskurse, die, wie auch an den zuvor zitierten Beispielen gezeigt, heute sehr intensiv geführt werden, finden im engeren Sinne in der Sphäre der „Gesellschaft“, will sagen, in strenger institutionalisierten und organisierten Foren, statt: im Rechtssystem, in bestimmten politischen Kontexten, in den Medien, in den Gender Studies an den Universitäten etc. Lebensweltlich aber werden die Begriffe und Bezeichnungen Vater und Mutter, Mama und Papa natürlich nicht verschwinden. Die ganz überwältigende Mehrheit aller Kinder in den Familien wird ihre (zuallermeist heterosexuellen und leiblichen) Eltern auch weiterhin spontan so ansprechen. Die Sphäre der „Gattung“, in der die Familie als ihre „Keimzelle“ kategorial zu verorten ist, wird sich von diesen rechts-, gesellschafts- und sprachpolitischen Bemühungen auch weiterhin ziemlich unbeeindruckt zeigen. „Oben“, wo solche Diskurse geführt werden, und „unten“, wo der Alltag des Familien- und Kinderlebens in seiner ganzen Breite und Spontanität stattfindet, werden zu Parallelwelten. Einmal mehr stellt die Triade sich somit als Kern der Problematik heraus. Am deutlichsten lässt sich der Unterschied zwischen heterosexueller leiblicher Familie und Regenbogenfamilie fassen, wenn man ihre jeweiligen Anfänge und ihr Zustandekommen und damit schlicht das Evidente artikuliert. Das heterosexuelle Paar bringt sein Kind durch sexuelle Zeugung in der Intimität und Spontanität des Liebesakts hervor. Das Paar wird zum Schöpfer neuen Lebens, eigenständig, weshalb oben (in Kap. 14) gesagt werden konnte, das Kind „koste“ nichts, sei in seinem Ursprung „ein Geschenk“, ggf. auch ein Danaergeschenk. An dieser Stelle ist in der Genese der Regenbogenfamilie in beträchtlichem Umfang immer eine Passage von Nicht-Intimität, Nicht-Spontanität in die Anfänge des Kindes gemischt. Das gleichgeschlechtliche Paar entfaltet aus gegenseitiger Liebe unter Umständen ebenso einen Kinderwunsch wie das heterosexuelle es tut, ja es steigert ihn, einmal entstanden, emotional sogar beträchtlich, da es nicht wie jenes einfach selbst zur Realisierung schreiten kann. Dazu muss es das Fremde, das Außenstehende, das Instrumentelle hereinholen: ärztliche Intervention, Fremdbefruchtung, Vertrag, Kosten, Adoptionsbürokratie (was beim heterosexuellen Paar nur ausnahmsweise der Fall ist, wenn es spontan nicht zeugungsfähig ist). Dafür aber ist, um es nebenbei anzumerken, das gleichgeschlechtliche Paar in der Intimität und Spontanität seiner Sexualpraktiken auch von ungewollter Schwangerschaft (die ggf. die Frage nach Abtreibung aufwirft) verschont, wovon nur das heterosexuelle Paar betroffen ist. Und weiter: Dieser Unterschied im Zeugungsvorgang setzt sich fort in einer Unterschiedlichkeit der Apriori-Individualität der Kinder von heterosexuellen und gleichgeschlechtlichen Paaren. Immer ist beim gleichgeschlechtlichen Paar ein Fremdelement im Spiel, eine dritte, unter Umständen sogar eine vierte Person: ein Samenspender, eine Eizellspenderin, eine Leihmutter. Ein „unaufhebbarer Split“ ist in der Familiengeschichte, der kategorial in Affinität zu dem steht, der in Kapitel 8

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im Fall von Täuschung, Adoption und Transgender definiert wurde. Zeugungstirade und soziales Setting der Familie divergieren im Regenbogen; gleichgeschlechtliche Eltern produzieren sui generis eine Art von leiblich-sozialer Patchwork-Aszendenz ihrer Kinder. Das ist die spezifische individual- und familienbiographische Herausforderung, die hier zu bewältigen ist. Auf den späteren Bildungserfolg, die Berufswahl, den sozialen Status im Erwachsenenleben der Abkömmlinge aus Regenbogenfamilien hat es vermutlich wenig bis gar keinen Einfluss. Im Gegenteil. Da die meisten gleichgeschlechtlichen Paare, die Familien gründen, hinsichtlich Bildung, Berufsstellung, materiellem Besitz etc. selbst einen überdurchschnittlichen Status innehaben und sofern ihre Paarbindung dauerhaft und gefestigt ist, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass auch ihre Kinder dieses Niveau später zu halten oder es sogar zu steigern vermögen. Auch dürften Wärme, Zuneigung und Aufmerksamkeit, die Kinder in Regenbogenfamilien genauso erfahren können wie in intakten Familien mit heterosexuellem Elternpaar, sie hinlänglich resilient dagegen machen, mit der gegebenen „Unklarheit“ ihrer Aszendenz sowohl psychisch als auch in ihrer je eigenen psychosexuellen Entwicklung zurechtzukommen. Gleichwohl muss, wie bei jedem Menschen, so auch hier, im Lauf des frühen körperlichen, seelischen, geistigen und sozialen Wachstums die eigene AprioriIndividualität ins Selbstbild und in die eigene Identität integriert werden, und das bedeutet, dass das Kind des gleichgeschlechtlichen Paars das „dritte Element“ – den Samenspender, die Eizellspenderin, die Leihmutter – in der Wahrnehmung seiner selbst irgendwie unterzubringen hat – ein Problem, das sich bei leiblicher Herkunft vom heterosexuellen Elternpaar nicht stellt. Neuere Konzepte des Familienrechts versuchen diesen Entwicklungen, die sich mit der Existenz jetzt offiziell anerkannter Regenbogenfamilien in der Lebenswelt ergeben haben, zu folgen und innovative Modelle dafür zu entwickeln: Mehr als zwei Personen können in diesen Fällen das Sorgerecht für die Kinder erhalten, eventuell abgestuft auch in Form eines kleinen Sorgerechts, mit dem z. B. der Samenspender dem lesbischen Elternpaar, das das volle Sorgerecht erhält, beigeordnet wird. Es ist, wenn man so will, auch hier im Hinblick auf Elternschaft das Bemühen um eine Art von „größerem gemeinsamem Nenner“: Die Zweiheit der Elternschaft wird rechtlich erweitert zum Elterntrio oder sogar ein Elternquartett. Es ist der Versuch, dem Kind die Umstände seiner Zeugung, Geburt und Sozialisation – nicht nur seine (biologisch und leiblich-verwandtschaftlich fundierte) Aszendenz, sondern auch deren spezifische soziale Rahmung – von Anfang an, d. h. sobald es dies begreifen kann, offenzulegen; ähnlich bei der Adoption bei heterosexuellen Paaren, wo man heute eher für eine frühzeitige Offenlegung seiner Herkunft gegenüber dem Kind plädiert, im Gegensatz zu früher, als man häufig die Fiktion, es handele sich bei den erziehenden Eltern auch um die leiblichen, aufrechtzuerhalten versuchte, oder wo man glaubte, eine Fremdsamenspende solle eher verheimlicht als offengelegt werden.

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So soll es den Kindern ermöglicht und leichter gemacht werden, Loyalitäten und Bindungen ggf. zu Personen, von denen es leiblich abstammt, die aber außerhalb des engeren sozialen Familiensystems platziert sind, zu entfalten. Es bleibt freilich abzuwarten, ob solch vergrößerte Familien auf Dauer nicht doch auch anfälliger sind für spezifische Konflikte. Die Trias von Vater, Mutter und Kind – eben die klassische ödipale Triade – ist an sich schon ein immanent gespanntes und dynamisches Gebilde. „Spannung“ und Dynamik aber werden sich bei einer vergleichsweise offenen Konstellation mit drei oder gar vier „Eltern“ völlig anderes entwickeln als in der geschlossenen familiären Trias, insbesondere dann, wenn diese Eltern sich untereinander uneinig werden und in Streit geraten. Es ist nicht ausgemacht, dass Regenbogenfamilien per se und auf Dauer so harmonisch und idyllisch sind, wie sie, mit vorerst noch kleinen Kindern auftretend, aktuell in Medienberichten dargestellt werden. Vom Überspielen des Deszendenzproblems Es gäbe keine Binarität der Geschlechter – so lautet heute fast unisono die Maxime, denn: Schon immer hat es ein weit über die Mann-Frau-Binarität hinausweisendes Spektrum von Geschlechtlichkeit gegeben, und seit Gesellschaft sich historisch herausgebildet und sich in der späten Moderne so strukturiert hat, also offen und tolerant, dass sie es dem Individuum ermöglicht, sich schillernd frei zu entfalten, kommt dieses Spektrum regenbogenfarbig auch zur Entfaltung, wird allgemein und öffentlich sichtbar. In diesem weit sich aufspannenden Farbspektrum bilden männlich und weiblich und ihr heterosexuelles Aufeinanderbezogensein nur einen bzw. zwei Streifen, die das ganze Gebilde, still zwar, aber doch deutlich dominieren, da sie in der Gesamtzahl der Menschen und im Verlauf ihrer Biographien, in denen auch noch andere Valenzen hervortreten mögen, am weitaus häufigsten vorkommen. Die bisherigen Überlegungen haben freilich evident gemacht, dass es im Menschenleben eine bestimmte, stets wiederkehrende Situation gibt, in der die Frage nach der Binarität dann aber doch eindeutig mit Ja zu beantworten ist, eben die der Fortpflanzung. In ihr reduziert sich die Breite dieses Spektrums der Geschlechtlichkeit auf just diese beiden Streifen: die polar aufeinander bezogene Männlichkeit und Weiblichkeit. Fortpflanzung ist immer und ausschließlich binär, und das Binäre schreibt sich in Form der Aszendenz, der Abstammungsverwandtschaft, jedem neu entstehenden Individuum a priori ein. Jedes Individuum trägt Binarität (passiv) in sich, denn es hat leiblich eine bestimmte Frau als Mutter und leiblich einen bestimmten Mann als Vater und weiter leiblich bestimmte Frauen als Großmütter und leiblich bestimmte Männer als Großväter etc. Die analytische Trennung der Sphären von Gattung und Gesellschaft ermöglicht es, beides, die Vielfalt und das Farbenspektrum des Individuellen auf der einen,

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sein Zusammenschnurren auf die Mann-Frau-Binarität bei der Fortpflanzung auf der anderen Seite, zusammenzudenken. Es ist nicht ein entweder-oder, sondern ein sowohl-als-auch. In der Sphäre der Gesellschaft kann, wenn sie entsprechend offen gestaltet ist, das Individuum sich geschlechtlich frei entfalten, alle Varianten des Individuellen – sofern sie nicht wie die Pädophilie andere schädigen – sollen und können unter ihrem Schutzschirm gleiche Rechte, Chancen und Möglichkeiten haben. Die Sphäre der Gattung aber (und in der Folge damit auch die demographische Grundlage der Gesellschaft von morgen) kann sich nur weiter in die Zukunft hinein entwickeln, wo Sperma und Ovum in großer Zahl zusammenkommen. Das aber können Männer und Frauen in Spontanität ungleich effektiver leisten als es durch die Methoden der künstlichen Befruchtung möglich ist. Je nachdem, aus welcher Perspektive man auf diese Fragen blickt – die der Gattung oder die der Gesellschaft – gibt es im Leben des Individuums also die Binarität oder es gibt sie nicht – besser: gibt es geschlechtlich darüber hinaus viel mehr. Die öffentliche Debatte um diese Fragen wird heute im Allgemeinen freilich einseitig nur auf die Sphäre der Gesellschaft, nur mit Blick auf die Vielfalt bezogen geführt – auch deswegen, weil die analytische Trennung von „Gattung“ und „Gesellschaft“ in den einschlägigen Sozial- und Kulturwissenschaften und davon ausgehend noch weniger im gesellschaftlichen Diskurs eingeführt ist und die Problematik in ihrer Gänze sich daher nicht adäquat darstellen lässt. Was den gesellschaftspolitischen Diskurs in der Öffentlichkeit anbelangt, so müssen Minderheiten – und statistisch handelt es sich darum beim gesamten LGBT*-Spektrum – sich zumindest zeitweise überproportional laut zu Wort melden und eine gewisse Dominanz darin entfalten, wollen sie ihre legitimen Ziele, eben Gleichberechtigung, Chancengleichheit, Anerkennung in der Gesellschaft, erreichen. Denn gesellschaftspolitisch bedeutet jenes beständige Ringen um die Ausweitung des gemeinsamen Nenners, unter dem „Gesellschaft“ die Vielzahl der Menschen gleich welcher Couleur und Individualität vereint, seit jeher immer eine besondere Kraftanstrengung. Dank dieser zeittypischen Kraftanstrengung dominiert heute daher einseitig die Lesart, es gäbe keine Binarität, nur Vielfalt, womit in die Darstellung der Thematik in ihrer Ganzheit eine Unwucht kommt: Die Objektivität und die Universalität der Deszendenzproblematik wird, vor allem medial, damit überspielt, und die Proportionen geraten durcheinander. Auch in den diesbezüglichen Debatten zur Gesellschaftspolitik käme es aber auf jene Tugend an, die Max Weber (neben Sachlichkeit und Leidenschaft) vom Politiker forderte: Augenmaß zu haben und Augenmaß zu wahren. Geht es in der Sphäre der Gesellschaft also um Gleichberechtigung der Individuen als Einzelne, so ist es der Sphäre der Gattung vorrangig um die beständige Konstitution und neue Hervorbringung der Triade, der Erzeugung des Vater-MutterKind-Dreiecks zu tun. In der Gattung geht es um drei, statt um einen. Und mehr noch: Es kommt dabei vor allem auch auf die große Zahl, sprich auf die demogra-

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phische Dimension, an. Die lässt sich aber nur durch die erwähnte Spontanität und Natürlichkeit der Zeugung erreichen, dadurch dass die Gattenpaare in großer Zahl selbstständig und unmittelbar zum Schöpfer des neuen Lebens werden. Die heute möglich gewordene Künstlichkeit der Reproduktion kann – ungeachtet gesellschaftlicher Gleichberechtigung daraus entstehender Familien und Individuen – nur subsidiär zum Einsatz kommen, lebenspraktisch vermag sie aber nicht zum allgemeinen Modell zu werden. In globaler Sicht bringen die hergebrachten lebensweltlichen Bezeichnungen „Mutter“ und „Vater“ das Deszendenzproblem daher noch immer besser zum Ausdruck als die zitierten künstlichen Semantiken. In der Gesellschaftspolitik ist die Thematik heute mit unguten Folgen aufgesplittet: Linke und linksliberale Positionen setzen einseitig auf die Vielfalt und Non-Binarität des Geschlechtlichen, rechtspopulistische Bewegungen und Parteien und religiöser Fundamentalismus beharren auf der Dominanz, wenn nicht sogar Ausschließlichkeit der Binarität. Tagespolitisch käme es aber ganz entscheidend darauf an, jenes sowohl-als-auch, das Binäre und das Nicht-Binäre zugleich, in der breiten Mitte des politischen Parteienspektrums deutlich und angemessen zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen. Auch dieser nüchterne Hinweis gehört zur Wahrung, mehr noch zur tatsächlichen Durchsetzung und Befestigung von Proportionalität und Augenmaß. Wir können als Menschen aus der Sphäre der Gattung nicht auswandern und gänzlich in die Sphäre der Gesellschaft migrieren, die naturgegebenen Asymmetrien hinter uns lassen und uns nur in der gesellschaftlichen Egalität einrichten. Zukunft (im Sinn von Deszendenz) wird im Nicht-Gleichen generiert. So bleibt es auch eine nicht stillzustellende lebenspraktische, gesellschaftspolitische und intellektuelle Herausforderung, wie man diese genuine Polarität von männlich und weiblich, die vor allem in der Sphäre der Gattung situiert ist, in soziale Parität umwidmen kann, wenn man handelnd in die Sphäre der Gesellschaft wechselt – eine Parität, die sich über die Gleichberechtigung von Männern und Frauen hinaus auch auf die Vielfalt und Diversität aller nichtbinären geschlechtlichen Äußerungen und Identitäten erstreckt.

Teil V Jenseits von Gattung und Gesellschaft: Der Tod

Der Tod als drittes der generativen Universalien ist der Counterpart zu Aszendenz und Geschlecht. Doch warum im Rahmen dieser Arbeit sich überhaupt näher mit ihm beschäftigen? Könnte nicht der unstrittige Hinweis auf die Universalität der Sterblichkeit des Körpers ausreichen? Das wäre banal und schnell abgetan. Tod und Endlichkeit haben aber, so ist die Annahme, eine Dimension, die über die Körperlichkeit des Endes hinausreicht und die ebenfalls universal ist. Kommt auch das „schillernde Ich“, das Seelisch-Psychische mit dem Untergang des Körpers an sein Ende? Und ist es nicht just diese Dimension, die im Zusammenhang mit dem Tod eigentlich von Interesse ist und die somit zum Themenkomplex der generativen Universalien gehört? Was lässt sich dazu mit aller Vorsicht, ohne in positive Religion abzugleiten, sagen?

Kapitel 18 Der Tod kann nur das Sosein zerstören. Warum bin ich so? Tod und Sterben kann es nur geben, wo zuvor jemand gezeugt worden ist. Das Ende des individuellen Lebens ist unweigerlich mit seinem Anfang verbunden: der Tod mit der Aszendenz, Omega mit Alpha. Aszendenz aber ist das Resultat von Fortpflanzung, von Deszendenz: Meine Existenz und damit meine Aszendenz, meine einzigartige Aszendentenstelle verdanken sich dem Zeugungsakt, den meine (leiblichen) Eltern vollführt haben. Hätten sie mich nicht gezeugt, wäre ich nicht und müsste somit auch nicht sterben; wo nichts gezeugt wird, ist kein Tod. Die Fortpflanzung und damit die Geschlechterpolarität ist Ursprung und Ursache des Todes! Eine Art von „Erbsünde“, derer die Väter und die Mütter sich per se schuldig machen. „Drum besser wär’s, daß nichts entstünde …“, kommentiert es Mephistopheles (in Vers 1341 im Faust). Die Trias der generativen Universalien – Aszendenz, Geschlecht und Tod – ist einmal mehr zusammen. Bevor in diesem fünften und abschließenden Teil der Blick „nach vorne“ auf das Ende des Individuums, den Tod, und auf die Sphäre fällt, die über das Ende hinausreicht, muss er sich noch einmal zurück zu den Anfängen und auf das, was vor meinen Anfängen liegt, wenden. Schließlich wären Sterben und Tod mir also erspart geblieben, wenn meine Eltern mich nicht gezeugt hätten. Erschwerend kommt hinzu: Ich bin, sowenig wie alle Menschen, ohne meine Einwilligung von

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ihnen auf die Welt gesetzt und eigenmächtig von ihnen in sie herübergebracht und damit dem Tod ausgesetzt worden – ein schwerwiegender Umstand, wie ihn Kant bereits konstatierte123 – ein Motiv, das in der Philosophie immer wieder variiert wurde, indem vom „Skandal eines Anfangs, dessen ich nicht mächtig bin“,124 oder vom „Diktat der Geburt“ die Rede ist125 , oder davon, dass Menschen ihr Leben haben, dass sie es aber als Empfänger haben, die nicht gefragt wurden.126 Diese Einsicht, das eigene Leben, man selbst, sei unfreiwillig entstanden, sei es als Geschenk oder als Danaergeschenk, steht in enger Affinität zu einem anderen Motivstrang in der Philosophie, nämlich dem des Antinatalismus: Vielleicht hätte ich, wäre ich gefragt worden, gar nicht zur Welt kommen wollen, denn, so bereits Sophokles (König Ödipus auf Kolonos V. 1225): „Nicht geboren zu werden, ist das weitaus beste.“ Auch dieser Gedanke taucht in verschiedenen Variationen in der Philosophiegeschichte immer wieder auf, ausgeprägt etwa bei Schopenhauer, zuletzt bei David Benatar in seiner 2006 erschienenen Publikation „Better never to have been. The harm of coming into existence“.127 Implizit ist damit ein Vorwurf an die Eltern gerichtet, dass sie einen, indem sie einen hervorgebracht haben, ungefragt der Mühsal des Lebens (und des Sterbens!) ausgesetzt haben, und das Leben wird, solchen Überlegungen zufolge, in düsteren Farben gemalt: Leiden sei es, Qual, Schmerz und Verdammnis; im Barock nannte man es ein Jammertal. Doch wie will man (von Ausnahmesituationen wie etwa einer schweren erblich bedingten Krankheit in der Familie abgesehen) im Vorhinein wissen, dass just dieses Leben, nämlich das Leben von Nachkommen genau dieses Gattenpaars, subjektiv einmal als unbedingt leid- und qualvoll erfahren werden wird? Könnte sich im eigenen Sohn, in der eigenen Tochter nicht überraschend vielleicht auch ein sonniges Gemüt, ein unbeschwertes und lebensfrohes Wesen einfinden? Eines, das mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet ist, eines, das die Kultur – die „Gesellschaft“ – voranbringen wird? Blickt nicht aus den Augen eines jeden Neugeborenen lebendig das „Rätsel der Zukunft“ herüber? Die Gegenposition zum antinatalistischen Pessimismus hat von Seiten der Soziologie etwa Ulrich Oevermann formuliert: Wie das kreative risikobehaftete Hervorbringen von Neuem auf gesellschaftlicher Ebene stehe auch die Geburt von Kindern für einen grundlegenden „strukturellen Optimismus“, getreu der Formel „Im Zweifelsfalle wird es gut gehen“; die gegenteilige Haltung, der

123 Man habe „den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben; für welche Tat auf den Eltern nun auch die Verbindlichkeit haftet, sie, so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen.“ Immanuel Kant (1993), S. 393 f. 124 Rüdiger Safranski (2018), S. 59. 125 Ludger Lütkehaus (2008). 126 Robert Spaemann (1996), S. 132. 127 Dieter Birnbacher (2019), S. 17–29.

Der Tod kann nur das Sosein zerstören. Warum bin ich so?

strukturelle Pessimismus, gehe hingegen davon aus, im Zweifelsfalle werde es schief gehen. Diese Erfahrung, die mit der Geburt gemacht werde, ginge, so Oevermann, sogar ins Körpergedächtnis ein.128 Ist der philosophische Antinatalismus nicht vielleicht ein Augenverschließen vor der nüchternen Einsicht, dass ein Leben im Paradies auf Erden nun einmal nicht möglich ist; ein philosophisches Sich-Wehren gegen die Unweigerlichkeit, daraus vertrieben zu werden? Dabei geht es bei der Paradieses-Ferne der Lebensrealität weniger um jene allgemeinen gesellschaftlichen Problemlagen, die sich historisch in jeweils unterschiedlichen Graden einstellen – Kriege, Umweltkatastrophen (Klimawandel), wirtschaftliche Verwerfungen etc. –, und daraus folgend die Haltung: In diese „schlechte Welt“ wollen wir keine Kinder setzen. Vielmehr geht es primär um die universalen Lebenskrisen, die jede Ontogenese, jede Biographie, und mögen die Lebensbedingungen historisch, sozial und familiär noch so günstig sein, unausweichlich zu durchlaufen hat. Denn was dem Antinatalismus prognostisch als Leid, Schmerz und Qual des Lebens erscheint, ließe sich auch nüchtern fassen, dergestalt, dass individuelles menschliches Leben (wie oben in Kapitel 7 angedeutet auf dem Weg „vom Jüngling zum Greis“) ohne typische Krisen gar nicht möglich ist: im Durchgang durch das Trauma der Geburt, durch die Ablösung von Mutter-Kind-Symbiose, die frühkindliche ödipale Konfliktlage, die Krisen von Pubertät und Adoleszenz, einmündend in die späteren Unwägbarkeiten des Beziehungs-, des Ehe- und des Familienlebens, die Last und Belastung der Verantwortlichkeit im Beruf, in der Gesellschaft und in der Geschichte mit allen Risiken zu scheitern, der Gefahr, insbesondere im Alter Krankheit und Verfall ausgesetzt zu sein, unweigerlich und unausweichlich schließlich die Krise, sterben zu müssen, die unentrinnbar und mit Absolutheit auf das Skandalon des Todes hinausläuft. Es ist diese Abfolge, die fortgesetzte Bewältigung dieser ontogenetischen Krisen, die sich in einer menschlichen Biographie unweigerlich und sukzessive stellen, weshalb erwachsen gewordene Menschen im reifen Alter typischerweise zu der Erkenntnis kommen, sie wollten, obwohl sie den Mühen und Leiden des Alters und dem Tod biographisch und zeitlich nun näher gerückt sind als sie es in ihrer Jugend waren, nicht noch einmal jung sein; hieße das doch, die real gemachten Erfahrungen wieder preisgeben, noch einmal von vorn anfangen und all diese krisenhaft erlebten Stufen noch einmal durchlaufen und durchleiden zu müssen. Vielleicht, dass man die körperlichen Gebrechen, die sich im hohen Alter einstellen, in einem Jungbrunnen gerne auswaschen würde, aber sicher nicht um den Preis jener mühsam errungenen individuellen Lebenserfahrenheit. Es ist der Durchgang durch diese Krisen, der dem Leben eine Richtung gibt, und ohne diese Zumutungen und Herausforderungen der Lebenspraxis, ohne die Heidegger’sche „Sorge“, die man nicht loswird, solang man atmet, gibt es kein Leben. Unbesehen

128 Ulrich Oevermann (2001b), S. 295; siehe auch: Hans-Josef Wagner (2004), S. 55–59.

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weicht der philosophische Antinatalismus dem aus. Vielleicht ist er beides zugleich: weise zum einen – aber auch bisschen feige. Ein jüdisches Scherzwort bringt das Kernproblem des antinatalistischen Pessimismus folgendermaßen auf den Punkt: Wohl sei es am besten, nicht geboren zu werden; doch wem passiere das schon? Ja, wer ist es, dem solches passiert? Gibt es, jenseits allen augenzwinkernden Ausweichens vor dem Problem ins Ironische, vielleicht nicht doch, zumindest rudimentär, Formen des Individuellen, denen ebendas widerfährt: die Paradoxie, da zu sein, aber nie geboren zu werden – will heißen: nie ein Bewusstsein des „Leidens“, d. h. ein Bewusstsein seiner selbst und damit ein Bewusstsein jener Sequenz biographischer Krisen erlangen zu müssen? Die hier (in Kapitel 5 und 7) entwickelte Figur der Apriori-Individualität bietet Ansätze dazu, auf diese Frage eine positive Antwort zu geben. Diese mit der Zeugung konstituierte Ursprungsform des Individuellen in Gestalt der geschlechtlich konnotierten Aszendentenstelle würde, so ein Grundgedanke dieses Buches, im Falle der „Beseelung“, der Geburt, der Sozialisation, des Wachstums und damit des sich seiner selbst Bewusstwerdens des Individuums manifest ihre Wirkung entfalten. Doch ein natürlicher oder ein künstlich herbeigeführter Abort kann seine Lebendgeburt verhindern; hier wäre das „Individuum“, von dem sich – da selbst noch nicht sprach- und bewusstseinsfähig – stellvertretend sagen ließe, ihm passiere es, nicht geboren zu werden – der kryokonservierte Embryo z. B. Ob das „Individuum“ aber geboren wird oder nicht, macht einen Unterschied: Der „Lauf der Welt“ ist jeweils ein anderer – und sei es im minimalen Fall zunächst nur die Welt des Paares und seiner Familie. Doch in der Masse der Fälle hätte es auch eine demographische Dimension. Diesen praktischen Aspekt – der Einfluss, den eine Geburt oder aber ihr Ausbleiben auf den Lauf der Welt nimmt – unterschlägt der philosophische Antinatalismus, denn die Welt interessiert ihn per se ja ohnehin nicht. Von außen betrachtet (aus der Perspektive der Eltern) sind – stumm bleibend – also sehr wohl „Individuen“ erkennbar, die nicht geboren werden. Nur Geborene, die bereits eine Innenperspektive, ein Ich entwickelt haben, das eben „spät“ ist, können an dem Scherzwort sich delektieren. Es geht bei diesen Fragen von Geborenwerden oder Nichtgeborenwerden also immer um Sosein (um eine Apriori-Individualität) oder Nichtsein. Gerade auch im Hinblick auf den Tod ist die Rede von der Alternative von Sein oder Nichtsein zu stumpf. Real und empirisch stellt sie sich nur in ihrer scharfen Fassung: Sosein oder Nichtsein. Es gibt, so die Erkenntnis der vorhergehenden Ausführungen, für ein reales menschliches Individuum kein „reines Sein“, keine Tabula rasa – jedenfalls nicht zu Lebzeiten. D. h. auch: Der Tod kann nur etwas menschlich Individuelles vernichten, kann nur ein Sosein, wie es a priori bereits mit der Zeugung gegeben ist, negieren. Nur das principium individuationis würde mit dem Tod untergehen, nicht das Leben (der „Wille“) schlechthin, so hat Schopenhauer es formuliert.

Der Tod kann nur das Sosein zerstören. Warum bin ich so?

„Einmal auf der Welt. Und dann so“, lautet der Titel eines Buches des Schriftstellers Arnold Stadler. Er gemahnt daran, wie beschränkt das individuelle Leben angesichts der unendlichen Möglichkeiten menschlicher Existenzweisen doch ist. Noch zugespitzter der Ausruf des Dichters der Romantik Christian Dietrich Grabbe (1801–1836) aus der kleinen Fürstenresidenz Detmold: „Einmal auf der Welt, und dann ausgerechnet als Klempner in Detmold.“ Betrüblich – der so überaus schmale Ausschnitt, der einem zugemessen ist. – Es gehört einiges Selbstbewusstsein, ja Selbstgewissheit, vielleicht ein gänzlich ungebrochener und überbordender Stolz dazu, von solch selbstzweiflerischen und sich selbst relativierenden Fragen gänzlich frei zu sein. Der Adlige ist es vielleicht, der von Geburt an ein „Herr“ ist, gewohnt, über seine Lakaien zu gebieten, dazu berufen, über seine Untertanen zu herrschen. Der Renaissance-Fürst vor allem, der das „Einmal auf der Welt und dann so – singulär so!“ für das Resultat einer göttlichen Erwählung hält. Was sonst? Der weiße Rassist, der sich in abgründiger Distanz gegenüber Menschen, die farbig geborenen sind, für überlegen hält. Und vielleicht auch der real lebende Klempner aus Detmold, ein braver Mann, der in der soundsovielten Generation erfolgreich und angesehen einen Meisterbetrieb führt und der den Dichter, durch dessen Spötteleien er sich beleidigt fühlt, vom Hof jagt. Wer zur Selbstrelativierung nicht gänzlich unfähig ist, wird, still für sich, in quasi philosophische Distanz zu sich selbst gehen und insbesondere angesichts von Minderprivilegierten, den aus allen sozialen Sicherheiten Herausgefallenen, an der akuten Not von Menschen, die, vielleicht in fernen Erdteilen oder fernen vergangenen Zeiten, im Elend leben oder lebten, oder beim Blick auf die Existenz von schwer kranken Menschen sich eingestehen, wie gut das Schicksal es mit ihm oder mit ihr gemeint hat, so auf die Welt gekommen zu sein: in diesem Körper, der eine gesunde und vitale Konstitution aufweist, in der Hundert-Milliarden-Dimension der Gattung qua Aszendenz so platziert zu sein, dass man in einer behütenden Familie, in einer wohlhabenden, entwickelten Gesellschaft, vielleicht in einer soliden Handwerkerfamilie in einem Städtchen wie Detmold zur Welt kam, was im Vergleich zu einem Leben in Elend und Hoffnungslosigkeit, in dem große Teile der Menschen des globalen Südens verharren oder im Mittelalter ihr Leben fristen mussten, wohl doch das bessere Los ist. Aber: Hätte es nicht auch anders sein können? Hätte ich statt so nicht auch anders, und das hieße in einem anderen Körper, mit einer anderen Aszendenz, vielleicht im anderen Geschlecht, dann aber auch: mit einem anderen Namen, in einer anderen Kultur, in einem anderen Erdteil und zu einer anderen (historischen) Zeit auf die Welt kommen können? Wer und was hat mich denn dazu bestimmt, so und nicht anders, der und nicht ein anderer zu sein? Wer oder was hatte diese Macht des Ursprungs über mich? „Meine Seele selbst“ war es – würde ein Bewohner fernöstlicher Kulturen, Angehöriger des Hinduismus, des Buddhismus, des Jainismus etc., womöglich antworten,

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oder: mein Karma. Es sei Resultat der Lebensführung in einem früheren Leben. Mein jetziges Sosein, meine Apriori-Individualität und mein ganzes biographisches und soziales Schicksal, wäre demnach die Fortsetzung einer – jetzt mehr seelisch verstandenen – Individualität, die schon einmal in der Welt existiert und agiert habe. Damit können die Lehren von der Seelenwanderung und von der Wiedergeburt halbwegs plausibel erklären, warum man diesmal eben „so“ auf der Welt sei; nein, man sei eben nicht nur „einmal auf der Welt, und dann so“, sondern viele Male: das eine Mal so, das andere Mal anders – bis man sich durch viele verschiedene Arten des Soseins bewährt habe, sich dem Rad der Wiedergeburten zu entwinden vermag, um endlich erlöst zu werden. Hier ist der Wunsch nach Metamorphose, die Phantasie des „Ich“-seins und doch „ein anderer“, religiös quasi sanktioniert. Das Ich oder die Seele verlässt den Körper mit dem Tod, kehrt neugeboren in einem anderen Körper aber wieder, und sei es in dem eines Tieres, einer Pflanze oder eines Dämons, oder, nachdem man zuvor ein Mann gewesen war, in dem einer Frau; man ist und bleibt dabei aber immer die gleiche, sich in Entwicklung befindliche Seele – bis man erlöst ist und nicht mehr geboren wird. Der Osten scheint sich hinsichtlich des Endstadiums dieser Entwicklung vorderhand hier überraschend mit dem philosophischen Antinatalismus des Westens zu treffen: „Nicht geboren zu werden, ist das weitaus beste.“ Wohl wahr. Aber: Der Osten hält gegenüber dem Westen dabei eine harte Lektion bereit: Dieses „beste“ ist nicht einfach durch Vermeiden und Ausweichen vor dem Leben zu erlangen, man musst es sich, unter größten Mühen, erst einmal verdienen, muss sich in vielen Leben dafür bewähren. Aus der Erfahrung des säkularisierten westlichen Individualismus müssen die Wiedergeburtslehren des Ostens sich umgekehrt jedoch fragen lassen: Wie kann man wissen, dass die Seele, die jetzt in diesem Körper, in dieser Person oder aber in diesem Tier, diesem Grashalm hier sitzt, die gleiche sei, die einmal in einem anderen Körper, in einem anderen Lebewesen aus vergangenen Tagen gesessen hat? Nüchternem, „aufgeklärtem“ Denken regen sich hier naturgemäß Zweifel. Der Westen scheint dem Körper (d. h. also auch der Apriori-Individualität) und der Sozialisation größere Bedeutung für die Individualität einzuräumen als der Osten. Das knüpft an die Überlegungen in Kapitel 7 an: Um den anderen, vor allem auch sein „Ich“, zu erkennen, können wir auf seine körperliche Erscheinung nicht verzichten; wenn Gregor Samsa in Gestalt eines Käfers erscheint, glauben wir nicht, dass er es ist, während er der östlichen Wiedergeburtslehre zufolge sehr wohl im Körper eines Käfers wiedergeboren werden könnte. Gesellschaft und Sozialität seien nicht möglich, wenn das Ich seine Apriori-Individualität verließe, beliebig auf einem anderen Körper überspränge und die Menschen sich damit der Erkennbarkeit durch die anderen entzögen. Aber „Gesellschaft“ mit ihren Rollenarrangements, in die einzusteigen sie uns auffordert und ermuntert, ist vor allem eine westlich-säkulare Erfahrung und Weltsicht, gestützt und befestigt auch durch die methodische Reflexion der verschiedenen empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften, während

Der Tod kann nur das Sosein zerstören. Warum bin ich so?

sie dem religiösen Denken des Ostens eher Einbildung, trügerische Außenwelt, etwas Ephemeres ist, weshalb auch die Seele nicht an die Körperlichkeit gebunden sei und daher wandern könne. Doch das sei, meint der westlich säkularisierte Geist, wie alles in der Metaphysik, der Religion, den Mythen etc., empirisch nicht zu fassen. Dass eine bestimmte, individuelle Seele in anderer körperlicher Gestalt wiedergeboren werde, sei ein Glaube. Wie aber verhält es sich in diesem Zusammenhang mit einem konkreten historischen, auch politisch bedeutsamen Phänomen des Ostens, nämlich der angeblichen fortgesetzten Wiedergeburt des Dalai Lama, des Oberhaupts der Tibeter? Die bislang letzte seiner Inkarnationen, und zwar die vierzehnte, fand Mitte der 1930er Jahre statt. Der Vorgänger war 1933 verstorben. In welchem unter allen damals neugeborenen Kindern würde er wiederkehren? Visionäre Einsichten des Regenten gaben einen Hinweis auf eine Lokalität im Nordosten Tibets. Dort stießen Findungskommissionen aus hochrangigen Mönchen auf einen zwei Jahre alten Knaben, Lhamo Döndrub, geboren am 6. Juli 1935 als zweiter Sohn des Bauernehepaars Dekyi Tshering und Chökyong Tshering. Obwohl dieser Junge die unvermittelt aufgetauchten Mönche noch nie gesehen hatte, konnte er sie beim Namen nennen. Dann griff er aus einer Reihe ihm zur Prüfung vorgelegten Gegenstände ohne Zögern nach jenen, die dem Vorgänger in der Position des Dalai Lama gehört hatten. Mit solchen Prüfmethoden, die der Befragung eines Orakels nahekommen, war der neue Dalai Lama in einem zweijährigen Kind aufgefunden und bestimmt: Nicht durch Geburt (wie beim Adel), nicht durch Bildung und Ausbildung, nicht durch Wahl oder durch Los, sondern – so jedenfalls der Glaube – durch vorgeburtliche Bestimmung, durch eine transzendente Prädestination; jene Prüfverfahren der Mönche dienten nur zur Verifikation einer gegebenen Situation. Die Umstände seiner zwei Jahre zuvor stattgehabten körperlichen Geburt und seiner familiären und körperlichen Herkunft, die konkrete Gestalt der generativen Universalien, seine Apriori-Individualität, scheinen spirituell dagegen nicht von Bedeutung zu sein. Und doch, gänzlich irrelevant sind sie offenbar nicht: Schwer vorstellbar, dass der wiedergeborene Dalai Lama andere Eltern hat als solche aus dem tibetischen Volk (das ist ein Merkmal der Aszendenz); warum kommt er nicht in der Bevölkerung einer anderen Weltgegend wieder hervor? Und: Bislang hat seine Wiedergeburt noch nie im Körper eines Mädchens stattgefunden. Tibetisch und männlich. Die transzendent wandernde Seele des Dalai Lama hat ganz offensichtlich eine Präferenz für eine bestimmte körperliche Ausgestaltung seiner Apriori-Individualität. In die individuelle Herkunftsgeschichte des Wiedergeborenen mischt sich unvermittelt ein Stück Weltlichkeit: So gänzlich unberührt von den real stattgehabten Generationszyklen der „Gattung“ ist sie offenbar nicht. Während der Anfang der Person – ihr Sosein – in den Anschauungen des Ostens gemäß der Lehre vom Karma somit als selbst verursachtes Resultat einer vorhergehenden Existenz erscheint, gerät er der westlichen Auffassung nach moralisch zur

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Herausforderung. Nach westlicher Denkart, einschließlich der jüdisch-christlichen, hat die Person über ihren eigenen Anfang, ihr Dasein und ihr Sosein keine Macht. Er ist eine gänzlich passive Destination – „Diktat der Geburt“ eben. Wer ist dafür verantwortlich? Gewiss, die Eltern. Aber ist da vielleicht doch noch mehr? Eine Macht, die über die Eltern, über ihren Wunsch und ihren Willen zur Familiengründung hinaus- und d. h. davor zurückreicht? Etwas, was auch ihnen vorausgeht? Auch die okzidentale Tradition kennt transzendent-religiöse Bestimmungen der Herkunft des einzelnen Individuums, des Soseins seiner Person. Anstelle des Karmas einer vorangegangenen individuellen Existenz tritt hier unter Umständen die planerische Absicht Gottes – Gottes „unerforschlicher Ratschluss“. Alttestamentarisch heißt es etwa: „Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen […]“ (Jeremias 1,5). Auch die calvinistische Prädestinationslehre behauptet, Gott habe im ewigen Ratschluss festgelegt, wer unter allen, die einst geboren werden, zu den Erwählten, wer zu den Verworfenen gehöre. Der Mensch könne daran nichts ändern. Weltlicher Berufserfolg sei, so Max Webers berühmte Rekonstruktion der Problematik129 , zu Lebzeiten hier das Mittel der Verifikation, mit dem sich feststellen ließe, auf welcher Seite Gott einen platziert habe: so (erwählt) oder anders (verworfen). Und in der Vorstellung des barocken Theatrum mundi war die gesamte Welt eine Bühne, auf der eine Art „höherer Regisseur“ den einzelnen Menschen ihre Rollen zuteile und sie wie Marionetten lenke. Du bist so, weil Gott dich so geschaffen und so gewollt und eben diese Position, diese „Rolle“ im Weltgeschehen für dich vorgesehen hat. Diese Vorstellung verliert sich mit zunehmender Säkularisierung. Die Frage, warum bin ich überhaupt auf der Welt und warum so, wird in der Moderne, die die Vorstellung eines allmächtigen Gottes zum Verblassen und vielfach gänzlich zum Verschwinden gebracht hat, im Allgemeinen nicht mehr als Ausfluss eines göttlichen Willens gesehen. Ganz nüchtern, ganz empirisch kommen für meine Existenz und meine Herkunft stattdessen vor allem die Eltern ins Spiel. In der Tat: Für meine Aszendenz und für die Gestalt meiner individuellen Aszendentenstelle sind sie dank ihrer Gattenwahl und ihrer generativen Aktivitäten schöpferisch unmittelbar verantwortlich, wiewohl auch sie selbst letztlich bloß Akteure der Gattung sind und ihrerseits bestehenden Potenzialen (dem Aszendentenbaum) zur Manifestation verhelfen. Aber nicht alles steht in ihrer Macht. In Kapitel 5 haben wir gesehen, dass sie (bei natürlicher sexueller Zeugung) über das zweite der generativen Universalien keine Hoheit haben: nämlich über das Geschlecht. Dass die Eltern das Geschlecht ihres Kindes nicht bestimmen können, das ist eine universale, die ganze Menschheitsgeschichte betreffende Erfahrung. Historisch sah man, wie erwähnt, hinter dieser ewigen Machtlosigkeit, der die Menschen an diesem

129 Max Weber (1904/05).

Macht der Tod alle gleich?

Punkt des generativen Geschehens ausgesetzt sind, das Wirken Gottes. Also auch in dieser Kardinalfrage des individuellen Lebens einmal mehr der unmittelbare Eingriff einer transzendenten Kraft ins Menschenleben. Heute macht man für das Geschlecht des Kindes stattdessen das Würfelspiel der Natur verantwortlich: den mit jedem Zeugungsakt stets erneuten Wettlauf von Millionen Spermien mit jeweils männlichem oder weiblichem Geschlechtschromosom, den, indem es die Eizelle befruchtet, nur ein einziges gewinnen kann. Ob aber nun „Gott“ oder die Natur, sprich die „Gattung“: Dass ich a priori so bin, hier (im negatorisch definierten Sinne) männlich oder weiblich, ist ein Schicksal, das sowohl meinen Eltern, die die Einzigartigkeit meiner Aszendentenstelle gestaltet haben, im Hinblick auf ihr Kind als vor allem aber mir selbst auferlegt ist. Indem ich bin, d. h. gezeugt und geboren bin, bin ich a priori so – ob nun das Karma, Gott, die Gattung und/oder die Eltern oder alle gemeinsam dafür verantwortlich sind. Dann aber beginnt die Lebensreise erst, differenziert dieses ursprüngliche Sosein im Durchgang durch jene sukzessiven biographischen Krisen und Entwicklungsstufen und in steter Konfrontation mit der Welt sich erst noch weiter aus. Und nur weil ich bin und von Anfang an so bin und biographisch im Weiteren so geworden bin, kann der Tod mich ereilen. Und da alle so sind und nicht ein anderes, jedes einzigartig und in ihrer Gesamtheit damit alle divers, ereilt der Tod alle – ausnahmslos. Es mag sein, dass in den Reinkarnationslehren, bei denen ich viele Leben habe, in denen ich dank des eigenen Karmas einmal so, das andermal anders in der Welt bin, die Erfahrung des Todes etwas gemildert ist. Habe ich jedoch nur ein Leben, das ich am Beginn schicksalshaft auch noch so und nicht anders anzutreten habe, fällt das absolute Egalisierungswerk des Todes umso härter aus.

Kapitel 19 Macht der Tod alle gleich? Macht der Tod aber wirklich alle gleich? Ja und Nein. Zunächst einmal – das erscheint trivial – ja. Die individuelle Körperlichkeit, in der die Person sitzt, das Soma, ist endlich. Kein Mensch, gleich welche Stellung er im Leben und in der Sphäre der Gesellschaft innehatte, ist davon ausgenommen. So wie sie alle in „Gesellschaft“ hineinsozialisiert wurden – ob intensiv oder nur marginal –, haben sie als ihre Akteure alle wieder vollkommen aus ihr hinauszugehen. Vor allem egalisiert der Tod radikal auch die individuellen Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen, wie sie sich zum einen in den sozialen Hierarchien in der Sphäre der Gesellschaft ergeben haben, wie sie zum anderen Dank der schier unendlichen Diversität (Apriori-Individualität), die in der Sphäre der

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Gattung herrscht, bereits konstitutionell vorhanden sind. Der Tod als absoluter Gleichmacher – das hat seit jeher und überall hohe Evidenz. Der Tod hat aber auch in beträchtlichem Maße Aspekte der Ungleichheit. Der Zeitpunkt z. B., zu dem er eintritt, kann sehr stark von der Lebensführung und den allgemeinen Lebensumständen abhängen: Während die moderne entwickelte Gesellschaft den Menschen im Allgemeinen ein gesundes und damit ein langes Leben ermöglicht, war das Leben des Einzelnen in der historischen Agrar- und Sozialwelt, beginnend mit der hohen Kindersterblichkeit, ständig vom Tod bedroht. Aber auch in der modernen Gesellschaft sind der Gesundheitszustand und damit die Todesrate bei armen Menschen, die in sozial prekären Verhältnissen leben, schlechter als die der Wohlhabenden und der Gebildeten. Und auch Männer und Frauen haben, statistisch gesehen, häufig eine unterschiedliche Lebenserwartung, sei es, dass die Frauen in der Geschichte durch die Risiken des Kindbetts eine größere Sterblichkeitsrate hatten, oder dass sie in der Moderne im Durchschnitt dann ein höheres Lebensalter erreichen als die Männer. Und schließlich sind auch die individuellen Umstände, unter denen der Tod einen ereilt, höchst unterschiedlich: Es macht einen Unterschied, ob jemand alt geworden ist und „friedlich einschläft“, ob die Person in jungen Jahren durch Gewalt oder durch einen Unfall aus dem Leben gerissen wird, ob jemand nach langem schwerem Leiden mitten im Dasein gehen muss oder wie auch immer einen Menschen das Ende ereilt. Als existenzielle Problematik, die jeder Mensch für sich selbst zu bewältigen hat, „ich allein“, stellt der Tod sich früher oder später aber ausnahmslos allen, die leben – wenn auch hier mit beträchtlichen Unterschieden: „unschuldig engelsgleich“ dem Kind, unter Umständen schwer belastet einer ausgereiften, moralisch anspruchsvollen Persönlichkeit. Ist der Tod das definitive Ende? Und inwiefern hat das Faktum des Todes Auswirkungen auf die Art der Lebensführung im Diesseits? Höchst unterschiedlich sind auch hier die Antworten, die die Menschen auf diese universale Problematik suchen und geben. Und diese Antworten haben immer zwei Dimensionen oder zwei Richtungen, die unweigerlich aufeinander bezogen sind: eine zukünftige in die Transzendenz und eine rückwirkend ins Diesseits. Je nachdem, ob der Tod unter moralischen Gesichtspunkten gesehen und an ein Jenseitsschicksal der Seele geglaubt wird – an Polaritäten wie die von Himmel und Hölle, Erlösung oder Wiedergeburt, Erwählung oder Verwerfung etc. –, oder ob gänzlich materialistisch-areligiös eben an nichts dergleichen gedacht wird, hat dies direkt oder mehr indirekt vermittelt Auswirkungen auf die Art der Lebensführung im Diesseits. Wie die Aszendenz und das Geschlecht zeigt somit auch der Tod als dem dritten Element der generativen Universalien sein Doppelgesicht von Gleichheit und Einzigartigkeit. Denn so wie die für alle gegebenen Universalproblematiken der Aszendenz und des Geschlechts den Ausgangspunkt für eine je eigene Individualität bilden, so ist es auch im Fall des Todes, der in der genannten Art und Weise

Macht der Tod alle gleich?

die Menschen körperlich-leiblich radikal gleichmacht, in der schier unendlichen Vielfalt seines Bewusstseins, seines Erlebens und seiner Konsequenzen zugleich aber individuelle Einzigartigkeit und Vielfalt hervorbringt. Was kommt mit und nach dem Tod – meinem Tod? Das ist die schwierigste und die rätselhafteste aller Fragen. Einerseits. – Andererseits aber gibt es darauf auch einfache, quasi unstrittige Antworten. Beginnen wir mit diesen. Nach meinem Tod kommt und bleibt: meine Nachwelt. Es bleiben: „die anderen“. Das sind zum einen meine eigenen Nachkommen oder eben die Gesamtheit der nachfolgenden Generation. Das bedeutet: Weiterführung der „Gattung“, oder, biologisch gesprochen, das Andauern des Keimplasmas auch über meinen Tod hinaus. Und es bleiben und folgen mir zum anderen nach: meine „Werke“; Objektivationen meines Handelns, Denkens und Empfindens, die mehr in die Sphäre der „Gesellschaft“, der Kultur, hineinwirken. Nach meinem Tod also kommt eine Nachwelt hienieden, in der ich, mehr oder minder deutlich, mehr oder minder nachhaltig Spuren hinterlassen werde und in der man sich vielleicht an mich erinnert. Es bleibt die Fremdwahrnehmung meiner Person durch die anderen, wenn sie posthum, in der Rückschau über mein Leben sprechen werden, während die Selbstwahrnehmung, mein Ich, in einem Rätsel verschwindet. Was aber, wenn es eine solche Nachwelt nicht oder nicht mehr gäbe? Keine „Gattung“ und damit auch keine „Gesellschaft“. Wenn jenes „Verebben“ der Menschheit herbeigeführt werden würde, das der philosophische Antinatalismus sich mitunter in universaler Dimension ausmalt? Begnügen wir uns für unser Gedankenexperiment der Einfachheit halber mit der Figur des Robinson. Robinson ist ebenso wie andere Menschen ein Abkömmling der menschlichen „Gattung“. Er hat Eltern und eine Aszendentenstelle, er wird zunächst in die Sphäre der „Gesellschaft“, in Sprache und die Kultur sozialisiert. Dann aber verschlägt es ihn in die Einsamkeit seiner Insel, womit er aus der Gesellschaft herausfällt. Nehmen wir an, er würde seinem Kompagnon Freitag nicht begegnen und würde nie mehr gefunden werden; er würde sein weiteres Leben in völliger Einsamkeit fristen und in Einsamkeit seinem Tod entgegensehen. Würde er, mangels des Austauschs mit anderen, vielleicht das Sprechen verlernen? Würde sich sein Denken zerrütten? Wäre sein Sichbewegen auf der Insel im soziologischen Sinne überhaupt noch „Handeln“? Jetzt, wo „die anderen“, auf die das Handeln als solches immer bezogen ist, völlig abwesend sind? Und würde er, wenn die mitgebrachte Kleidung zerschlissen ist, vielleicht nackt gehen – d. h. die Scham verlernen? Womöglich würde er mit dem Verfall seines Bewusstseins auch die Einsicht verlieren, dass er endlich ist. Robinsons Dasein würde sich dem des Tieres annähern. Und damit, wenn er körperlich stirbt, vollgültig vielleicht keinen menschlichen Tod mehr erfahren. Sein toter Körper wäre Kadaver; niemand würde ihn beerdigen. Niemand sich seiner erinnern. Für einen solchen Robinson gibt es keine Nachwelt, keine Erinnerung an ihn posthum. – Das Schicksal des nicht mehr aufgefundenen Robinson, der tendenziell zum Tier regrediert,

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zeigt anschaulich, dass man Teil der Menschenwelt – dass man Sozialwesen, eben Akteur in der „Gesellschaft“ oder einer „Gemeinschaft“, zumindest in der Familie – sein muss oder gewesen sein muss, um zum menschlichen Tod, damit aber auch zur Transzendenz überhaupt fähig zu sein. Bei Robinson, der seiner Mit- und Nachwelt verlustig gegangen ist, ließe sich wohl sagen, mit seinem Zerfallen und mit seinem Ableben erfüllte sich wahrhaft die von Philosophen ausgerufene Botschaft: „Gott ist tot“. Ergo: Ohne menschliche Gemeinschaft gibt es keinen „Gott“ – im Sinne von: keine Transzendenz. „Gott“ braucht, wie man schon aus der Geschichte Abrahams weiß, als Gegenüber den Menschen – ohne den Bund mit ihm ist er nicht. Und doch ist er, wenn er denn ist, zugleich mehr als eine bloße „Erfindung“ des Menschen – ist mehr, ist eigenständig und war, wenn er geworden ist, schon immer! Eine Art von transzendentem Apriori. Die Fragen, die sich angesichts von Tod und Endlichkeit stellen, stellen sich somit nur jemandem, der eine soziale Mit- und Nachwelt hat. Transzendenz und Sozialität sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Das eine kann es ohne das andere nicht geben. Weshalb beides – beides zugleich – bei subhumanen Gattungen auch nicht sonderlich ausgeprägt ist und weshalb Theologen und Soziologen (wenn letztere denn mehr als Statistik und Meinungsforschung betreiben) in ihrem Erkenntnisstreben den Schulterschluss suchen sollten. Kinder, Nachkommen sind wie erwähnt die elementare Form der Zukunftsstiftung, einer Zukunft, die in Gestalt der anderen über meine Lebenszeit (i. d. R.) hinausragt, also Stiftung von Nachwelt. Sie sind mein individueller Beitrag zum Fortbestand der „Gattung“, damit zum Fortbestand der Welt, zum Fortbestand auch der Gesellschaft und der Kultur. Und wenn ich selbst keine eigenen Nachkommen habe, sind da immer noch die Nachkommen der anderen. Ich (Leo) bin, indem ich gemeinsam mit meiner Partnerin (Maggie) Nachkommen hervorbringe, Teil der Aszendenz meiner/unserer Kinder und Kindeskinder; Teil und Bedingung ihres Soseins, ihrer Aszendentenstelle. Die überwiegende Mehrheit der (erwachsen gewordenen) Menschen hat an dieser Form der Weltstiftung und des Weltinteresses über ihren eigenen Tod hinaus Anteil. Kinder, Nachkommen sind daher die „demokratische“ Variante, hienieden etwas Konkretes und Substanzielles zu hinterlassen. Ihre Existenz ist für den Einzelnen, für die Eltern, auch eine unmittelbare persönliche Verpflichtung auf die Zukunft. Nietzsche formulierte es einmal so: Söhne zu haben, stimme den Vater „unegoistisch, oder richtiger: es erweitert seinen Egoismus der Zeitdauer nach, und lässt ihn Ziele über seine individuelle Lebenslänge hinaus mit Ernst verfolgen.“130

130 Nietzsche, Menschlich Allzumenschliches, Erster Band, Aphorismus 455, Nietzsche (1999), Bd. 2, S. 295.

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Während die Erzeugung von Nachkommen die „Gattung“ fortschreibt, ist das Hinterlassen von „Werken“ ein Beitrag zum Fortbestand und der Entwicklung der Sphäre der „Gesellschaft“ im weitesten Sinne, der Kultur, auch der materiellen Welt. Stiftung von Nachwelt also auch hier. Das Hinterlassen von „Werken“ kann, wo es persönlich zurechenbar geschieht, eher elitär sein. Sie sind verschiedener Natur – eher praktisch: ein politisches Reformwerk, ein Unternehmen, eine Stiftung, oder eher geistig-künstlerisch: Bücher, Kunstwerke, die Wirkung als bedeutende Lehrerpersönlichkeit etc. In diesen Werken lebt man als Urheber weiter; meine Gedanken bleiben über meinen Tod hinaus erhalten, wenn ich sie in einem Buch niedergeschrieben habe; mein inneres Erleben wird objektiv im Kunstwerk, in der musikalischen Komposition, die ich hervorgebracht habe. Doch eine Generation hinterlässt den nachfolgenden auch als Ganze ihre Werke, „Gemeinschaftswerke“: Millionen und Milliarden waren daran beteiligt, unsere Länder, Städte und Infrastrukturen zu erbauen, oder ein Institutionengeflecht und soziale und gesellschaftliche Strukturen zu installieren, bestimmte Formen von Praxis, etwa einen typischen Politikstil, eine bestimmte Rechtstradition für ein Land etc. zu etablieren. Hierhergehören bis zu einem gewissen Grad aber auch die negativen „Werke“ oder Hinterlassenschaften, die tiefe Spuren in der Nachwelt hinterlassen und nicht vergessen werden: die welthistorische Erblast totalitärer Systeme, Staatsschulden, Umweltverschmutzung, selbst ausgelöste Klimakatastrophen und dergleichen – alles Elemente des Kollektiven, die der nachfolgenden Generation, sei es als Morgengabe, sei es als Belastung hinterlassen werden. Zu diesem Themenkreis gehört aber auch das individuelle (materielle) Erbe: Es ist für meine eigenen Nachkommen ein Vorteil, wenn ich ihnen etwa ein bewohnbares Haus hinterlasse, sodass hinsichtlich ihres Obdachs die stetige Knappheit der Lebensressourcen für sie gemildert ist. Beides zusammengenommen – die eigenen Kinder (Sphäre der Gattung) und die eigenen „Werke“ oder Werke der gesamten Generation (Sphäre der Gesellschaft/ Kultur) – gibt es kaum ein Leben, das mit dem Tod wirklich spurlos in der Welt und in der Nachwelt verginge. Vielleicht bei Menschen, die einsam und kinderlos geblieben und die aus allen gesellschaftlich-kulturellen Bezügen herausgefallenen sind: beim Wohnsitzlosen oder eben, wie bei Robinson, der nicht mehr gefunden wird. Nun aber die Frage, was mit (und eventuell nach) dem Tod, meinem Tod komme, einmal in der schwierigsten und rätselhaftesten Variante – als Frage, was mit meinem Inneren, meinem „schillernden Ich“ – meinem Bewusstsein, meiner „Seele“, meinen Träumen und Erinnerungen, meinen intim gebliebenen Freuden und Leiden, dem höchst subjektiven Erleben und Fühlen meines Leibes, insbesondere des Sexuellen – geschieht, wenn mein Leben weltlich und körperlich endet, die eigentliche Frage nach der Transzendenz. Darauf kann es für die Lebenden naturgemäß keine endgültige Antwort geben, jedenfalls keine Antwort, auf die, wie die Vielfalt

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und die konfliktreiche Heterogenität der Religionen und Philosophien zeigen, alle Menschen sich einigen könnten. Im Gegenteil, es ist gerade diese Frage, über die die Menschen sich in der Tradition ausformulierter und kodifizierter Religionssysteme bekanntlich so zu zerstreiten vermögen, dass sie sich zum Krieg gegen die anderen, gegen die Anders- oder die Ungläubigen hinreißen lassen. Immerhin: Selbst (und auch) die Transzendenz scheint so etwas wie eine säkulare, fast empirische Seite zu haben, die uns besser zugänglich ist – nämlich in Gestalt des Nachlebens der Toten „im Inneren“ der Nachkommen – in deren Gedanken, deren Emotionen, ihren Träumen und in ihrer Seele. Hier dauert – im Gegensatz zu Geist und Materialität der Werke („Gesellschaft“, Kultur) und der physischen Körper der Nachkommen („Gattung“) – tatsächlich etwas Immaterielles der Verstorbenen weiterhin an. „Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, der ist nur fern“, heißt es häufig in Traueranzeigen, „tot ist nur, wer vergessen wird.“131 Noch deutlicher in einem Zitat von Augustinus: „Aus dem Leben ist er zwar geschieden, aber nicht aus unserem Leben; denn wie vermöchten wir ihn tot zu wähnen, der so lebendig unserem Herzen innewohnt.“ Solch posthume Präsenz der Verstorbenen im inneren Erleben „der anderen“ kann, insbesondere bei Übervätern oder dominanten Müttern eine sehr manifeste sein.132 Wenn dem so ist oder wenn dem so wäre, haben oder hätten die meisten Menschen tatsächlich vergleichsweise gute Aussichten auf ein Leben nach dem Tod. Allerdings müssen wir sofort einräumen, dass der Tod die Menschen auch in dieser Hinsicht keineswegs gleichbehandelt, die Unterschiede zwischen ihnen diesbezüglich vielmehr beträchtlich sind. Wer sollte sich an einen Menschen, der im Leben allein geblieben ist, der keine „Lieben“ hat und der vereinsamt stirbt, nach seinem physischen Tod noch erinnern? Wiederum an den aus der Menschenwelt herausgefallenen Robinson? Wäre er also tot mit seinem Ableben? Ist er das? Wie würde ein religiöser Mensch das Schicksal eines solchen (ihm persönlich unbekannt gebliebenen) Menschen, der im Leben sozial marginal geblieben oder es geworden ist, werten? Sind es tatsächlich allein die Menschen der Gegenwart, die hier und jetzt am Leben und bei Bewusstsein sind, die mit ihrem aktiven Erinnern und ihrem aktuellen Gedenken endgültig und transzendent über Nachleben und „Tod“ der Verstorbenen gebieten? Ehepartner und Freunde kommen für diese Art des Nachlebens insofern weniger infrage, als sie meist der gleichen Generation angehören wie wir und mehr oder weniger

131 Das Zitat wird meist Kant zugeschrieben, es soll aber von dem österreichischen Autor Joseph Christian von Zedlitz (1790–1862) stammen. 132 Dazu folgende erhellende Anekdote: Der Bratscher Michael Mann, der jüngste Sohn von Thomas Mann, erzählt seinem Bruder Golo, als nach einem seiner Konzerte eine Dame ihn mit den Worten beglückwünschen wollte: Und nun gebe ich nicht Ihnen, sondern Ihrem verehrten Herrn Vater die Hand. Worauf Golo meinte, er, Michael, hätte ihr entgegnen sollen: Und nun gebe ich nicht Ihnen, sondern Ihrer Frau Tante eine Ohrfeige.

Macht der Tod alle gleich?

gleichzeitig mit uns abtreten; damit fallen sie als Erinnerungsposten einer ferneren Zukunft aus. Eigene Nachkommen haben ein größeres Potenzial, um für eine Weile auf ein solch posthumes Nachleben zu hoffen – jedenfalls so lange, bis auch sie, „unsere Lieben“, und ihre Gedanken, Träume und Gefühle und wir mit ihnen dann gänzlich verschwunden sind. Dieser Tod nach dem Tod wird nach zwei oder drei Generationswechseln mit dem Hinscheiden der Enkel und Urenkel unweigerlich kommen. Warum auch nicht?, wird der moderne säkularisierte Mensch sagen. Was verbindet uns persönlich schon mit ferneren Generationen in der Zukunft, deren Angehörige wir im Einzelnen nicht kennen können? Allenfalls in adligen Familien, die ein tiefes Familiengedächtnis, eine ausgeprägte Erinnerungskultur („Memoria”) und bildhaft die Galerie der Ahnen pflegen, mag diese Form personalen Nachlebens länger dauern. Oder in Kulturen, die traditionell einen ausgeprägten Ahnenkult zelebrieren. Wenn aber nach wenigen (oder mehreren) Generationen eine lebendige Erinnerung an die Persönlichkeit der Vorfahren, an ihr Sosein, erloschen ist und sie im aktuellen Gedenken der Nachwelt, der „Welt jetzt“, somit endgültig „tot“ wären, was bleibt auf Erden dann noch von ihnen? Unter Umständen – sofern vorhanden – ein Eintrag in alten historischen Kirchenbüchern oder vergleichbaren Registern, digitale Datensammlungen heute, gegebenenfalls auch ihr Grabstein. – Korrekte Protokollierung vorausgesetzt, erlauben solche Quellen die Rekonstruktion von Abstammungsverhältnissen, also der Aszendenz (bzw. der Deszendenz); der Name der Person und ihre Heiratsdaten sind in sie eingeschrieben und damit das Geschlecht, und präzise wird in der Regel der Tag des Todes bzw. der Beerdigung festgehalten. Viel mehr, vielleicht noch der Beruf, geht zur Person meist nicht daraus hervor. Was können wir diesen Dokumenten somit entnehmen? Etwas, das im Kontext unserer Überlegungen sehr bemerkenswert ist: die Apriori-Individualität! Ist die lebendige Erinnerung, die die Nachwelt für eine Weile noch an die verstorbene Person hatte, mit dem Wechsel der Generationen endgültig erloschen, so sind es gerade die Monotonie und die Abstraktion solcher Auflistungen, in denen die Grundform der Person, die mit der Zeugung gegebene Konstellation der generativen Universalien, in Reingestalt wieder hervortritt. Unpersönlich-unlebendig, „knöchern“ geradezu und seelenlos bleiben die Verstorbenen so archivisch-dauerhaft in Erinnerung. Der Aufbau moderner Datenbanken, wie sie etwa die Mormonen betreiben, in die weltweit solch genealogische Materialien eingearbeitet werden, führt (mehr ideell und exemplarisch als real) zur Rekonstruktion der universalen Verwandtschaftsstrukturen der Menschenfamilien (der Gattung) und mündet so ansatzweise auch in eine Art von universalem säkularem Weltgedächtnis aller Menschen. Eine merkwürdige Ahnung beginnt hier aufzuscheinen: Es ist, als würden mit der Megadimension solcher Dateien wie sie in kleinerem Umfang auch schon auf einem Friedhof anschaulich werden, insbesondere auf jüdischen Friedhöfen, bei denen ein ewiges Liegerecht besteht, es ist, als würden hier die Grenzen zu

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einem Raum jenseitiger Transzendenz unklar und durchlässig zu werden, nämlich zum Verwandtschaftsraum jener „Hundert Milliarden“, die vor uns waren. Der Tag wird kommen, da werden wir, eingetragen mit unserer je einzigartigen Apriori-Individualität, ebenfalls in diesen Raum eintreten und Teil von ihnen sein. Doch über die persönlich-familiären Bindungen zwischen Verstorbenen und ihren eigenen Nachkommen hinausgehend gibt es eine weitere Form des originellen Nachlebens der Person im Gedächtnis der Menschen, nämlich bei historisch bedeutenden Figuren. Ihnen wäre im kollektiven Gedächtnis der Menschheit bzw. in bestimmten Teilen (Gemeinschaften, Nationen, Städten etc.), quasi „ewiges Leben“ beschieden. Um nur einige Europäer zu nennen: Platon, Cäsar, Karl der Große, Michelangelo, Goethe – ja, und auch Nero, Hitler und ihresgleichen, der einbalsamierte und zur Schau gestellte Lenin, etc. Ein personelles Nachleben zeichnet sich bis auf Weiteres auch für Personen ab, die nach ihrem Tod „zur Legende“ wurden: die Stars und Heroen des Sports, des Films, der Popkultur u. a. Die Vokabel, sie seien „unsterblich“, liegt dem Publikum schnell und locker auf der Zunge. Eine besondere Kategorie des Gedenkens an Verstorbene sind jene Fälle, in denen Menschen zum Opfer politischer Gewalt wurden, bei denen die Ursachen und Hintergründe ihres Todes daher von allgemeiner historischer Bedeutung sind; Opfer von Kriegen, Genoziden, Terroranschlägen, Massakern wie auf dem Tian’anmen 1989, gezielte Morde oder Exekutionen an bestimmten Personen und dergleichen. Opfer und Opfergruppen haben als Pendant Täter und Tätergruppen. Der Blick, den die Nachwelt auf diese Toten hat, divergiert entsprechend der politischen Haltung und Ausrichtung damit naturgemäß extrem. Die Täter sehen in denen, die sie ums Leben bringen, Feinde, Minderwertige, Aufständische, Abtrünnige, Ungläubige, Kollaborateure ihrer Gegner etc. Getötet werden sie häufig nicht als namentlich genannte Individuen, sondern aufgrund allgemeiner Kriterien, allein weil sie Angehörige und Repräsentanten einer bestimmten Gruppe sind – sei diese ethnisch, religiös, national, politisch, als Klasse, als Stand oder sonst irgendwie definiert. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Form, in der die Täter zum einen, ihre Opfer zum anderen ins Gedächtnis eingehen, zutiefst konträr ist. Entscheidend hängt sie von der Perspektive ab, welche die Personen, die die Nachwelt bilden, jeweils einnehmen. Und zugleich ist diese Perspektive historisch variabel; insbesondere ändert sie sich oft fundamental im Fall von Revolutionen, politischen Umstürzen, radikalen Reformen etc. – besonders drastisch und signifikant waren die jähen Wendungen des Erinnerns und Gedenkens etwa in Deutschland zunächst des Jahres 1933 mit dem Antritt des NS-Regimes und mit längerfristigen Verzögerungen und Folgen wieder 1945 nach seinem Untergang. Es gehört zu den bewegenden Erfahrungen, sich heute des Schicksals einer bestimmten Person, die in der Anonymität und Kälte des Massenmordens damals ihr Leben verloren hat, zu vergewissern, wie es etwa geschieht, wenn in Städten in Deutschland oder anderweitig in Europa eine Gedenktafel oder ein (von dem Künstler Gunter Demnig

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geschaffener) „Stolperstein“ vor dem Haus, in dem sie zuletzt gewohnt hat, verlegt wird. Etwas von der Person wird angesichts einer solchen Zeremonie, bei der in knapper Darstellung ihre Biographie rekapituliert wird, im Gedenken und Nachempfinden der Teilnehmenden hier und jetzt lebendig – auch wenn es keinerlei familiäre oder sonstige persönliche Verbindungen zu ihr gibt und zwischen der Stunde des Todes bis zur Stunde, da man ihrer gedenkt, oft Jahrzehnte des Schweigens liegen. Auch in diesem inneren Erleben der Akteure hier und jetzt scheint ein Moment posthumen Nachlebens der verstorbenen, sprich gemordeten Person auf; eine Rechtfertigung ihrer Existenz, der lebendige Vollzug einer Rehabilitation post mortem. Als wären wir es nicht nur diesem Menschen hier, sondern zugleich und vor allem auch uns selbst schuldig, denn jene Person steht fürs Ganze der Menschheit. – Doch, und das ist die Kehrseite, auch die Täter, sofern wir ihren Namen und ihre Position kennen, sind in unserem Gedächtnis, und, obwohl sie im Fall des Nationalsozialismus militärisch und politisch besiegt worden sind, ist es, als könnte im Seelenleben der Nachwelt ihr Bedrohliches und Abgründiges sich damit nicht einfach verlieren. Als würde etwas Derartiges, was sie repräsentiert und tatsächlich exekutiert haben, in veränderter Gestalt, vielleicht an einem anderen Ort nicht ständig im Weltgeschehen wiederkehren. Wird also vielleicht eine Zeit kommen, in der Werte, Vorstellungen, Lebensweisen gelten, die radikal konträr zu unseren Auffassungen steht? Eine Zeit, die mit allem, was uns hier und heute wichtig und heilig ist, bricht und die es unter Umständen vernichtet? Eine politische Kultur vielleicht, die die Stolpersteine, die wir für die Ermordeten der Shoah heute einbringen, wieder aus dem Pflaster reißt? Diese überaus schwierige Thematik zeigt, dass das posthume Leben der Verstorbenen in den Gedanken der Nachgeborenen menschlich ist und menschlich bleibt – d. h. es ist nicht göttlich, absolut, endgültig, kein Hort „ewiger Wahrheit“ und absoluter Gerechtigkeit gegenüber den Toten; das menschliche Gedenken bleibt divergent, unstet, unberechenbar, und der allergrößte Teil der je verstorbenen Menschen verfällt unweigerlich ohnehin der kollektiven Amnesie und dem allgemeinen Vergessen. Auch die Nachkommen und die Geschichte, „die anderen“ nach uns, sind nicht zu unfehlbarem Weltgericht berufen. Niemand kann sicher darauf bauen, wenn „die Mitwelt“ ihn verkannt hat, dass „die Nachwelt“ ihn rechtfertigen werde. Doch es gibt eine weitere herausragende Kategorie eines posthumen immateriellen Weiterlebens der Person im Gedächtnis der Nachwelt: nämlich dasjenige des avancierten Künstlers, Literaten, Philosophen, Weltweisen, Baumeisters etc. Freilich ist es hier nicht in erster Linie die Person selbst, die über ihren Tod hinaus im Gedächtnis bleibt, vielmehr ist es die Sublimierung ihres Daseins bzw. ihres Soseins in das Medium des „Werkes“; eine gestaltete Transformation individuellen und sterblichen Lebens in eine Form ohne natürlichen Körper – in ein Gemälde oder eine Skulptur, in ein Gedicht oder Prosa, in eine musikalische Komposition, einen philosophischen Gedanken, in herausragende Bauwerke. Personales Leben wird

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zu etwas Anderem, etwas Allgemeinem, bleibt auf eine immaterielle Weise aber dauerhaft lebendig. Über viele Generationen und über große Zeitstrecken hinweg kann es für die Menschen Bedeutung, Gültigkeit, Wahrheitsgehalt besitzen, auch unter gänzlich veränderten historischen Lebensbedingungen erneut immer wieder zu geistig-intellektueller Herausforderung werden. Am deutlichsten wird dieses Phänomen in der Schriftlichkeit einer alten, vor Jahrhunderten geschriebenen Partitur; sie ist in der Lage, in Form der Aufführung und Interpretation gegenwärtiger Künstler hier und heute künstlerisch Leben zu erzeugen. Dabei kann die Person des Urhebers wie bei vielen alten Werken aus einer vorindividualistischen Zeit völlig vergessen sein und dennoch überlebt immateriell etwas von ihr dauerhaft, wird gehört, gesehen und erlebt auch von Menschen ferner Generationen. Und diese Art von körperlosem Leben des Kunstwerks hat, um noch einmal an ein Nietzsche-Wort anzuknüpfen, sogar das Potenzial zu „posthumer Geburt“.133 An Künstlern wie van Gogh lässt es sich ebenso dramatisch wie exemplarisch erfahren: Zu Lebzeiten marginal und verkannt; nach ihrem Tod mit und in ihrem hinterlassenen Werk eine denkbar wuchtige Entfesselung ihres künstlerischen Logos und eine fast universale Präsenz ihrer Person und Biographie im Gedächtnis der Nachwelt. Im Kosmos der Künste und der Philosophien zeichnen sich in der Geschichte unverlierbare Wahrheitslinien ab, die in einer Art von allgemeinem „Weltkulturerbe“ konvergieren. Im Leben der Menschen und der Menschheit sind sie – jenseits der „Gattung“, jenseits der Permanenz des Keimplasmas, der ständigen körperlichen Erzeugung neuer Generationen und ihres unaufhörlichen Sterbens – von größter Dauerhaftigkeit. Und auch wieder hier, wie bei jenen Megadimensionen genealogischer Datensammlungen, den Protokollierungen der „Gattung“: die Erfahrung des Changierens in ein Transzendentes, eines Öffnens zu einem Raum jenseits des faktisch-empirisch Fassbaren.

Kapitel 20 … das Rätsel der Transzendenz … Spitzen wir, ohne Hoffnung auf eine befriedigende Antwort, die im vorigen Kapitel formulierte Frage nach der Transzendenz nun aber zu: die Frage, was mit meinen „Inneren“, meinem Bewusstsein, meiner „Seele“, meinem eigenleiblichen Empfinden etc., meinem schillernden Ich also, geschieht, wenn mein Leben körperlich endet. Im vorigen Kapitel wurde darauf eine Antwort versucht, indem wir auf

133 Nietzsche: „Einige werden posthum geboren.“ In: Der Antichrist. Fluch auf das Christentum, Friedrich Nietzsche (1999), Bd. 6, S. 167.

… das Rätsel der Transzendenz …

einen breit sich öffnenden Nebenweg ausgewichen sind, nämlich auf jenes Phänomen eines immateriellen Nachlebens der Verstorbenen in den Gedanken und im Seelenleben der anderen, unserer Nachwelt, insbesondere denen der eigenen Nachkommen. Das geschieht – aber es geschieht, wie wir sahen, nur rudimentär, sozial und zeitlich begrenzt, unvollkommen, perspektivisch, ohne „Ewigkeits- und absoluten Wahrheitswert“. Hier aber ist die Frage nun zu ihrem entscheidenden Kern zurückzubugsieren: Was geschieht mir – „mir allein“ – mit und nach meinem Tod? Jenseits der Erinnerungen, die die Nachlebenden an mich haben. Heideggers „Jemeinigkeit“ des Todes. Das impliziert auch die Frage, was geschieht „ihm allein“, dem frisch Verstorbenen hier, der mir nahestand – und es ist genau das intensive und aufgewühlte Bewegtsein von dieser Frage, was wir als Trauer erleben. Es handelt sich hier in der Tat um ein Bugsieren, denn wo man nicht mit Glaubensgewissheiten gesegnet ist, ist dieses Momentum, dieses „ich allein“, schwer zu fassen und schwer auf Dauer zu stellen; ständig will es sich einem Nachdenken, das eigentlich nüchtern bleiben will, entwinden. Ausgereiften und ernst zu nehmenden Glaubenserfahrungen soll der Respekt freilich nicht versagt sein; von hier aus liegt es zwingend auf der Hand, sich der Frage nach diesem Rätsel zu stellen und im Fall von Glaubensgewissheit auch Antwort gefunden zu haben. Bei gemeinsamem Ausgangspunkt, denn alle sind mit der Endlichkeit des Lebens konfrontiert, zeigt sich der Unterschied zwischen Religion und Glaube auf der einen, einer säkularen und agnostischen Haltung auf der anderen Seite in der gegensätzlichen Richtung, die in der Behandlung dieser Frage beschritten worden ist. Eine säkularisierte Welthaltung lässt die Frage nach einem transzendenten Schicksal der eigenen Seele offen; mehr noch, für die Person heißt Säkularisierung, diese Frage, da sie unlösbar erscheint, aus dem alltäglichen Leben des Menschen zu verdrängen, sie existenziell zu marginalisieren, wenn nicht sogar, in einer radikaleren Variante, ihren Sinn und ihre Berechtigung gänzlich und grundsätzlich zu negieren. „Mir allein“ – was sollte mir da schon geschehen, heißt es hier, nach meinem Tod bin ich nicht mehr. Glaubensinhalte und Glaubenssysteme, die dem entgegengesetzt von einer wie auch immer gearteten transzendenten Weiterexistenz der Seele ausgehen, bleiben, auch wenn sie in Gestalt der großen und ausdifferenzierten Weltreligionen weite Teile der gesamten Menschheit umfassen, freilich immer partiell; andere Religionen und Konfessionen stehen dazu in Konkurrenz und Kontrast: die monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) untereinander, zumal sie intern in viele Konfessionen und Richtungen zersplittert sind, und dann wiederum zu den atheistischen Religionen des Ostens, deren Visionen von ewigen Kreisläufen weitgehend ohne personale Gottesvorstellung auskommen, von der Vielzahl von Naturreligionen ganz zu schweigen. Aber auch in der nachhaltig säkularisierten Moderne sich ausbreitende und mitunter etwas platt formulierte Vorstellungen, es komme mit und nach dem Tod „nichts“, hat wenig Aussicht, unter den Menschen in ihrer

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Gesamtheit, wenn nur der Fortschritt endlich einmal freie Bahn hätte, zum Allgemeingut zu werden; jene nüchterne Erwartung eines materialistisch definierten Nichts, demzufolge mit dem Erlöschen der Hirnströme und der Körperfunktionen auch das individuelle Bewusstsein und alles innere Erleben unwiderruflich, spurlos und ohne weitere subjektive Folgen untergingen. Soviel lässt sich dazu wohl sagen: Dieses so verstandene materialistische Nichts ist von jenem religiös gewerteten „Nichts“, wie es der Buddhist erstrebt, dem gänzlichen Erlöstwerden von allem Subjektiven im Nirwana, das aber erst nach vielen absolvierten Wiedergeburten zu erlangen sei, der Idee nach grundverschieden. Die rasante, exponentielle Entwicklung digitaler Technologien wecken heute Hoffnungen, man könne in Zukunft dem individuellen Bewusstsein über den körperlichen Tod hinaus tatsächlich säkulare Dauer verleihen, indem die Inhalte des Gehirns auf einem digitalen Medium gespeichert werden. Posthumanisten – Ray Kurzweil, Hans Moravec u. a. – haben solche Visionen des Mind Uploadings entwickelt. Der Geist löse sich durch Anwendung dieser Technik vom Körper und bliebe dabei doch in der Welt, solange wie Computer in der Welt sind. Das Artifizielle, das „Gesellschaft“ ist – hier in Gestalt einer gigantischen digitalen Infrastruktur, einer Superintelligenz – käme, postbiologisch, endlich ohne die Sphäre der „Gattung“ aus; physisch könnte die Gattung aussterben, womit auch jene lästigen Verhakungen, mit denen das Individuum an ihr hängt, verschwinden würden, und das Thema „Gattung und Gesellschaft“ hätte sich erledigt. Es mag sein, dass es zu Hirnströmen und ihren komplexen Vernetzungen ein Pendant im Digitalen gibt, dass Hirnströme digital anlog simuliert werden können und dass die Fähigkeiten von Computern die Leistungen, die ein menschliches Gehirn zu erbringen mag, in bestimmter hochintelligenter Hinsicht übersteigen. Doch Bewusstsein ist offenbar mehr als dasjenige, was im Gehirn gespeichert ist. Bewusstsein – „Ich“, ob schillernd oder ruhend – braucht das tatsächliche Erfahrenhaben von Zentrum, Positionalität, Perspektive, und die sind entscheidend durch das subjektive biographische Erleben des Körpers, sprich durch gezeugte, sich entwickelnde und endliche Leiblichkeit, vermittelt. Hinzu kommt: Leiblichkeit, Biographie und Ich können sich nur entfalten, wo von Anfang an lebendige (nicht nur digital abstrahierte) Face-to-Face-, Body-toBody-Interaktion mit „den anderen“, also Sozialisation und Sozialität, vorhanden sind. Den Körper und den Leib gibt es nicht ohne die generativen Universalien, nicht ohne Aszendenz, Geschlecht und Tod. Die aber hat – es wurde oben in der Zwischenbemerkung schon konstatiert – Silicium nicht und kann den Körper als Träger- und Erfahrungsmedium des Bewusstseins daher auch nicht ersetzen; ihm fehlt die nicht zuletzt auch mit der Körperlichkeit gewachsene und begrenzte Po-

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sitionalität, an der Bewusstsein, das eben immer auch Selbstbewusstsein ist, sich entzündet.134 Die Position des Posthumanismus unterläuft die Frage nach der Transzendenz von vornherein. Was aber jene verschiedenen antagonistischen Vorstellungen des Jenseitsschicksals von Geist und Seele betrifft, so läge hier nichts ferner, als die Ambition, die Berechtigung oder Nichtberechtigung solch grundlegend divergierender Vorstellungen des religiösen Glaubens oder des säkularisierten Nichtglaubens zu entscheiden. Über das Allermeiste, was an der Problematik des Todes über die offenkundige Tatsache der allgemeinen körperlichen Sterblichkeit der Menschen hinausgeht, lässt sich ein universaler Konsens nicht erzielen. Es ist ein gordischer Knoten, für dessen Lösung – das ist zu konzedieren – der philosophische Antinatalismus in der Tat als einziger das Schwert hat: Nicht geboren werden; dann stellt sich die Frage erst gar nicht. Nichtsdestotrotz lohnt es sich aber, darüber nachzudenken, welche Wirkungen dieses Zentrum der Todesproblematik, die sich im Hinblick auf die Unweigerlichkeit des eigenen Endes stellt, auf das Leben im Diesseits hat. Es gehört zum Kern des Religiösen, dass Menschen, die ihm anhängen, davon ausgehen – daran glauben –, dass die Art ihrer Lebensführung Folgen für ihr subjektives Jenseitsschicksal habe. Je nachdem wie ihre Existenz- und Lebensbilanz ausfalle, würden die Menschen mit und nach dem Tod geschieden in Erlöste oder Verworfene, in die, denen Himmlisches, Höllisches oder irgendeine Form von Purgatorium blühe, in die, die erneut ins Rad der Wiedergeburt müssten oder jene, die davon erlöst seien, und wie sonst die Scheidungen der Guten von den Schlechten ausfallen möge. Von solchen jenseitig erwarteten Polaritäten und Divergenzen posthumen Daseins scheint ein Mensch, der davon ausgeht, mit seinem körperlichen Tod verlösche auch sein inneres Leben restlos in einem materialistischen Nichts, gefeit zu sein: Wie auch immer das eigene Leben begonnen hat (Aszendentenstelle, Geschlecht, Beseelung, damit eventuell verbunden transzendente Vorherbestimmung, Sozialisation), und was auch immer man im Leben getan oder unterlassen habe, am und mit dem Ende spiele es „innerlich“ – „für mich allein“ – keine Rolle. So weit, so gut. Bliebe für den Anhänger einer solch nihilistischen Vorstellung vom Ende freilich immer noch die irdische Nachwelt, die Existenz der Nachkommen und ihr Gedenken an mich – der „Nebenweg“ des Posthumanen. „Nach mir die Sintflut“ – wäre ihnen gegenüber die konsequent-analoge Haltung jener Bestimmung des Todes als einem absoluten Ende alles Subjektiven. Beides zugleich – die subjektive Erwartung des Nichts mit dem Tod und die Missachtung und Geringschätzung, die ich der Nachwelt entgegenbringe – wäre eine denkbar radikale Haltung: gewissermaßen eine Verdoppelung der Todesproblematik. Sie

134 Dazu noch einmal der Hinweis auf die Arbeiten von Thomas Fuchs (2022).

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ließe sich wohl nur für einen absolut säkular und egoman denkenden und handelnden Menschen durchhalten, einen, der sich bereits im Leben selbst von den anderen völlig isoliert und entfremdet hat oder der unfreiwillig isoliert wurde: einmal mehr der nicht mehr aufgefundene Robinson oder ein sonst irgendwie sozial völlig deviant lebender Mensch. Wer aber in Familie und/oder in der Gesellschaft, Staat, Kultur etc. mit anderen verbunden und vernetzt war, dem kann zumindest die irdische Nachwelt nicht vollkommen gleichgültig sein, vor allem auch, wo ein persönliches Erbe und ein gehaltvoller Nachlass zu regeln wäre, oder wenn er aufgrund konkreter Entwicklungen in seinem Umfeld ernsthaft Grund zu der Befürchtung haben müsste, nach seinem Tod schweren ungerechtfertigten Verleumdungen ausgesetzt zu sein und in „verfälschter“ Darstellung ins Gedächtnis seiner Nachwelt einzugehen. Auch für den vollkommenen Materialisten, der für sich selbst – „ich allein“ – das innere Nichts erwartet, bedarf es bestimmter Anknüpfungspunkte in der irdischen Nachwelt; als hätte er in seinem seelischen Depot für Positionen dort drüben nicht auch noch Aktien stehen. Etwas leuchtet daher von solchem Interesse an und in der künftigen irdischen Nachwelt in mein Seelenleben im Hier und Jetzt herüber. Es ist nicht so leicht, vom Leben einfach ins Nichts zu gehen; so schnippisch und leichtfüßig kommt man nicht davon – auch wenn in allen Hirnen, die die Evolution je hervorgebracht und die je geboren wurden, die Ströme und Ladungen definitiv einmal erlöschen. Es mag daher selbst in der Moderne nicht so viele Menschen geben, die sich auf die Erwartung eines solchen Nichts mit und nach meinem Tod definitiv festlegen wollten. Da man es nicht wissen kann, lässt man die Frage in den gemäßigten Zonen des modernen bürgerlich-liberalen Alltags, der weitgehend von einem stark säkularisierten Bewusstsein geprägt ist, sinnvollerweise auf sich beruhen, mildert sie sich ggf. auch durch Ironie ab oder begegnet ihr, insbesondere in Phasen des Vollbesitzes seiner Vitalität und Leidenschaft, solange man es sich kräftemäßig leisten kann, schlicht mit Todesverachtung. Mit Himmel und Hölle wird es dereinst schon nicht so schlimm für einen kommen, wie es früheren Generationen oder den Bewohnern von „bible belts“ und archaischen Wüstenregionen so massiv angedroht war und ist, zumal die Option der folgenlosen Auflösung der eigenen Existenz in einem solchen Nichts ja immerhin im Raum steht. Solch „aufgeklärte“ und religiös abgekühlte Haltung, die sich infolge eines langen geschichtlichen Leidens- und Erfahrungswegs heute vor allem in Europa etabliert hat, mindert effektiv die Gefahr tödlicher Grabenkämpfe und Religionskriege. Die Frage, was geschieht mit mir, mir allein, mit und nach meinem Tod, ist damit aber nicht aufgelöst. Man leistet es sich bis auf Weiteres allenfalls, ihr pragmatisch auszuweichen – und hofft im Übrigen auf einen Tod infolge von Altersgebrechlichkeit, wenn die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte ohnehin erlahmen und das Leben damit aufhört, weiterhin noch Freude zu machen.

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Abgesehen davon, dass auch der bürgerlich temperierte Alltag von schweren Krisen nicht generell unverschont bleibt, ist man sich auch hier dessen bewusst, dass die Welt andere Szenarien kennt, sehr harte, in denen sich auch die hier interessierenden Fragen ungleich zwingender stellen: der Schock etwa, den der dschihadistische Glaubenskämpfer unvermittelt zu verbreiten vermag („Paris, 13. November 2015“). Allem Irdischen gänzlich entfremdet und in der vermeintlichen Gewissheit, damit unvermittelt ins Paradies zu gelangen, verübt er das Selbstmordattentat auf vermeintlich Ungläubige und tötet sie. Zusätzlich stimuliert ihn die Aussicht, dass seine Tat in seiner eigenen Community hochgewertet und er als Märtyrer für seinen Glauben in ihr Gedächtnis eingehen und er auch dort weiterleben wird. Aus Sicht der westlich-säkularen und aufgeklärten Lebensweise ist es schwer möglich, sich auch in einem solchen Fall auf eine konsequent agnostische Haltung zurückzuziehen und zu sagen, da man hinsichtlich eines persönlichen Jenseitsschicksals prinzipiell nichts wissen könne, könne auch nicht definitiv ausgeschlossen werden, dass für den Täter seine subjektiven Hoffnungen auf das Paradies tatsächlich in Erfüllung gehen; vielleicht habe er ja recht. Eine solch stoische Position wäre angesichts des tatsächlichen Geschehens Verrat an den Getöteten und grenzte an Selbstaufgabe. Was dem dschihadistisch inspirierten Täter Ungläubige sind, die nichts als den Tod verdient hätten und die es im Auftrag des Höchsten auszumerzen gälte, sind uns unschuldige Opfer; und während er selbst und sein Umfeld ihn als Märtyrer sehen, erblicken wir in ihm allein den verblendeten und kalten Mörder. Wir, aufgeklärte westliche Menschen, als die wir uns begreifen, tun auch in diesem Fall damit etwas, was wir nach unseren eigenen Maßstäben eigentlich gar nicht tun dürften: Wir treffen eine Aussage über das Jenseits; auch hier beginnen wir zu glauben – negatorisch gewiss. Aber wir glauben nicht, dass der Selbstmordattentäter für seine Tat ins Paradies kommt, wir glauben stattdessen, dass er sich täuscht; und wir glauben auch nicht, dass die, die er getötet hat und die uns vielleicht sehr nahestanden, Verworfene und Ungläubige seien, wie er meinte. In einer Notwehrsituation würden wir ihn, bevor er seine Tötungsabsicht ausführt, gegebenenfalls selbst töten und halten seine Tötung unter diesen Umständen für legitim. Über die Frage, was geschieht mit mir, mir allein, am und im Tod, kann man mit ihm und mit seinesgleichen nicht übereinkommen. Es ist, was es ist: ein Religionskrieg. Nichts kann man in einem solchen Szenario des Extremen pragmatisch auf sich beruhen lassen; für Ironie ist darin kein Platz. Ein anderes Extrem, in dem die Frage des Todes ebenfalls in besonderer und überaus beunruhigender Zuspitzung aufgeworfen wird, stellt die Erbschaft des Nationalsozialismus dar. Am Ende des Krieges bemerkte Hitler, in der Sackgasse im Führerbunker sitzend, über Suizid grübelnd, zu seinem Rüstungsminister: „Glauben Sie mir, Speer, es fällt mir leicht, mein Leben zu beenden. Ein kurzer

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Moment, und ich bin von allem befreit, von diesem qualvollen Dasein erlöst.“135 Kann ein Mensch, der sich unrettbar in einer solch extremen Situation verfangen hat, für sich selbst subjektiv in Anspruch nehmen, durch den Tod einfach „erlöst“ und „befreit“ zu werden? Vermutlich setzte Hitler hier auf ein gänzlich folgenloses Aufhören seiner subjektiven Existenz in einem materialistischen Nichts. Doch ohne massive Zuflucht zum „Nebenweg“, der Vorstellung eines machtvollen Nachlebens unter den Menschen und in der Geschichte, hätte Hitler sich so lapidar zu seiner eigenen inneren Auflösung in einem vermeintlichen Nichts wohl nicht äußern können. In seinem nur wenige Stunden vor seinem Suizid verfassten „Politischen Testament“ zeigt er sich dementsprechend gewiss, der sechsjährige Kampf (des deutschen Volkes im Weltkrieg) werde als „ruhmvollste und tapferste Bekundung des Lebenswillens eines Volkes“ in die Geschichte eingehen; die nationalsozialistische Bewegung werde eine „strahlende Wiedergeburt“ erleben; und für die von ihm eingesetzten Nachfolger hoffte er, dass nach seinem Tod „mein Geist unter ihnen weilen und sie stets begleiten werde.“136 Die Nachfolger – die von ihm eingesetzte Regierung Dönitz – kam, wie wir wissen, nicht weit. Die Weltgeschichte und das Weltgedächtnis, in die Hitler in der Tat untilgbar eingegangen ist, haben die Vorzeichen vertauscht. Wenn Hitlers „Geist“, wie von ihm erhofft, zweifellos noch unter uns weilt – so erleben es die meisten –, dann als Drohung und als Albtraum. Aber wo ist, um die Fragestellung zum Ausgangspunkt zurückzubugsieren, eine Person, ein Mensch wie Hitler seelisch und geistig für sich selbst geblieben? „Er allein?“. Aufgelöst in einem Nichts? Befreit? Erlöst? Wenn dem so wäre, würde das nur für ihn selbst gelten, oder aber – und hier stoßen wir auf eine entscheidende Variante der Problematik – müsste es nicht Gültigkeit haben für alle, universal? Wären, wenn es sich so verhielte, wie in jenem dunklen Raunen im Bunker damals prognostiziert, auch Menschen wie Anne Frank, Edith Stein, Janusz Korczak dem ausgesetzt, diesem Nichts? Auch die Millionen Toten der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus, die heute im Gedenken der Nachwelt weiterleben, für die wir Stolpersteine setzen? Womit man wieder auf den „Nebenweg“ geraten wäre; zum wiederholten Male aber auch zu der Einsicht, welch fundamentale Bedeutung ihm, sprich der irdischen Nachwelt, „den anderen“, bei diesen elementaren Fragen nach dem Tod zukommt, mag es noch so unvollkommen, begrenzt und perspektivisch sein. Aber die Problematik zurückjustiert: Macht es im Angesicht des Todes für einen selbst, für mich allein, nicht einen Unterschied, ob man als Janusz Korczak, der mit den ihm anvertrauten jüdischen Waisenkindern in die Gaskammer geht, sein Leben geführt hat, oder als Rudolf Höß, der als Kommandant von Auschwitz

135 Albert Speer (2005), S. 483. 136 Hitlers Testament v. 29.4.1945, in: https://www.1000dokumente.de (Stand Juni 2023).

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die Gaskammern errichten ließ und 1946 durch Hinrichtung endete? Oder eine Edith Stein – geboren als Jüdin, Frauenrechtlerin, Intellektuelle, Schülerin Edmund Husserls, dann Konvertitin und Ordensfrau bei den Karmeliterinnen, schließlich Opfer des Holocaust, seit 1998 von der Kirche offiziell als Heilige verehrt – durfte sie für sich selbst nicht eine andere Erwartung hegen, als sie Anfang August 1942 in Auschwitz ihr Ende kommen sah? Selbst exakt konträr strukturierte Figuren wie sie, die damals lebten und agierten, setzten angesichts des gewaltigen historischen und politischen Geschehens für sich selbst explizit auf jenseitige Erlösung: Dereinst stünde er vor dem Richterstuhl des Ewigen. „Ihm werde ich mich verantworten und ich weiss, er spricht mich frei.“ Denn: Er bereue nichts; stünde er wieder am Anfang, würde er wieder handeln wie er gehandelt habe. Diese Äußerung stammt nicht von einem Opfer des Nationalsozialismus oder von einem mutigen Widerstandskämpfer, sondern von einem der Täter; es war Rudolf Heß, der sie während des Nürnberger Prozesses getan hatte.137 Niemand kann ihm eine solche Sicht auf transzendente Dinge rational widerlegen. Es sei denn, man hätte im Einzelfall belegbare Anhaltspunkte zu einer psychopathologischen Deprivation, wofür es bei Heß in der Tat Anzeichen gab. Vor dem Hintergrund einer heute jahrzehntelangen, politisch aufgeklärten und wissenschaftlich seriös reflektierten Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte, also einmal mehr wieder aus der Sicht der Nachwelt, ist man jedoch selbst als hartnäckiger Agnostiker geneigt zu sagen, wir glauben es nicht, dass die Jenseitshoffnung, wie ein Heß sie hier äußerte, sich erfüllen wird. Doch ein solches, „wir glauben es nicht“, ist mehr und etwas anders als ein bloßes: Wir wissen es nicht! Nein, wissen tun wir es natürlich nicht, ob es einen jenseitigen Richter gibt, der einen Heß, den die Richter in Nürnberg schuldig gesprochen haben, freisprechen wird. Wie aber sollte man mit der Aussicht leben, dass es ein Jenseits gäbe, in dem ein solcher Richter regierte: ein Heß, freigesprochen. Nein, daran wollen und können wir, Nachgeborene die wir sind, aus reiner Selbstachtung nicht glauben. – Die Extreme führen uns an die Grenzen eines säkularen Agnostizismus. Das Extrem aber macht vor allem auch deutlich, dass der Frage, was geschieht mir, mir allein, im Tod, eine universale Dimension innewohnt. Es wird nicht so sein, dass die Antwort, die wir positiv nicht kennen können, nach Gusto und nach eigenem Ermessen gegeben wird – der Dschihadist und Rudolf Heß sich einfach selbst freisprechen können. Auch wir nicht, die säkularen Erben einer langen Religions- und Weltgeschichte. Betrachtet man diese Problematik aber einmal aus historischer Sicht, so zeigt sich gerade bei der Religionsgeschichte, dass ihre vielfältigen Wurzeln tiefer reichen und sie älter sind als jener historische Vorgang um 1500, als die Menschheit im Zuge der interkontinentalen Seefahrt sich in all

137 Zit. nach Alfred Seidl (1988), S. 253.

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ihren Verästelungen selbst entdeckte und sich erstmals in ihrer erdumspannenden Gesamtheit und Universalität zu begreifen begann. Die monotheistischen Religionen, die lange zuvor schon aus dem Judentum hervorgegangenen waren und die, bei großer innerer Heterogenität untereinander, die alte Welt damals beherrschten, mussten realisieren, es gab andere Weltgegenden, in denen große Teile der jetzt neu bekannt werdenden Menschheit lebten, die ihrerseits historisch in einer ganz anderen Religionspraxis und Religionsauffassung beheimatet waren. Als die Menschheit empirisch und weltweit sich so erstmals ihrer Gesamtheit bewusst wurde, waren die Religionen, einschließlich der Naturreligionen in ihrer Verschiedenheit somit bereits da. Wie die schier unübersehbare Vielfalt der Sprachen waren sie unabhängig voneinander aus der universalen Diversität der Völker, Ethnien und Kulturen heraus entstanden; sie begegneten sich erstmals und nahmen sich erst wahr, als sie weltgeschichtlich gesehen längst im reifen Alter waren. Zu spät gewissermaßen, um sich in einer Art von universalem Religions- und Philosophenkongress grundlegend und verbindlich auf „die Wahrheit“ in Dingen der Transzendenz zu einigen und zu einem für alle, für die gesamte Menschheit akzeptierten Konsens zu gelangen. Reflektierte und moderne Religion und Religionspraxis sieht sich daher unaufhörlich mit dem Zwiespalt konfrontiert, selbst Wahrheiten und Glaubensinhalte mit universalem Anspruch zu verkünden, zugleich aber erkennen zu müssen, dass dieser Anspruch in der vertrauten Gestalt und Erscheinungsweise, ggf. mit noch so großen Missionierungsanstrengungen, faktisch nicht universal durchsetzbar ist, dass er auf das schwere Gegengewicht der anderen, ebenfalls bereits längst existierenden Religionen und Weltanschauungen trifft. Das Universalistische in all seinen Schattierungen – religiös, philosophisch, in Gestalt der ausformulierten und kodifizierten Menschenrechte, dann aber auch das hier vorgestellte Konzept der generativen Universalien – ist, historisch einmal in der Welt entstanden, eine so grundlegende, nicht mehr revidierbare Erfahrung, dass sie in diesen wichtigen Fragen alles polytheistische und diversifizierte Denken durchdringt. Es wäre unsinnig zu sagen, christlich geprägte Menschen des Okzidents kämen nach dem Tod eben in Himmel oder Hölle, während gleichzeitig die Menschen des fernen Orients ins Rad der Wiedergeburten müssten; in einer anderen Weltgegend würden sie sich posthum hingegen in den Ahnenschrein zurückziehen; und wer kompromisslos Materialist und vom rest- und folgenlosen Auflösen des Inneren mit dem Erlöschen der Körperfunktionen daher überzeugt wäre, für den wäre eben alles zu Ende. Wohl würde jeder dieser „Gläubigen“ für seine Sicht absolute Wahrheit beanspruchen, die auch für die anderen Gültigkeit habe. Faktisch und weltlich erfahrbar aber doch ein Nebeneinander und unter Umständen ein Gegeneinander, in der Exklusivität ihrer Wahrheitsansprüche nicht entscheidbar. Das ist die Klemme, in der die Menschen heute alle stecken, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht: Bei der Frage, was geschieht mit mir – mir allein – in und mit meinem Tod nicht mehr mit dem Bild eines polytheistisch-vielfältigen Götterhimmels antworten zu können; von wegen, es

… das Rätsel der Transzendenz …

geschehe jedem das, woran er subjektiv glaubt oder nicht. Es muss etwas Universales sein, was, von höchst verschiedenen Lebenswegen herkommend, letztlich allen gleichermaßen widerfährt, was im Tod sich über unser Leben offenbart: strafend den einen, erlösend den anderen, oder nichts von beidem, nichts als ein harmloses Abstreifen zeitlicher Rollen im Theatrum mundi in einer jenseitigen Backstage oder etwas ganz anderes, unvorstellbares. Dieses universale Widerfahrnis, das allen bevorsteht und das die Toten schon absolviert haben, alle „hundert Milliarden“: Hitler ebenso wie Anne Frank; der dschihadistische Selbstmordattentäter nicht anders als die von ihm Getöteten; der radikale Materialist genauso wie der religiös Inspirierte, und auch der Laue und Ironische, der es mit Leichtigkeit anzugehen versucht. Unauflösbar aber ist und bleibt dieses Rätsel der Transzendenz – solange wir leben. Wer zu hoffen wagt, mag hoffen, dass es sich löst, wenn wir die Schwelle des Todes überschreiten, über die wir alle müssen, jeder allein – löst, für alle. Gewiss ist aber auch das nicht.

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Personenregister

Zahlen in Klammern verweisen auf Seiten, auf denen auf die betreffende Person indirekt Bezug genommen wird. Zahlen in Kursivsetzung verweisen auf eine Erwähnung in einer Fußnote auf der angegebenen Seite. Adenauer, Konrad 155 f., 171 Akerma, Karim 162 Aly, Götz 167 Arendt, Hannah 11, 71 Aristoteles 182 Augustinus 242 Beatrix (Königin der Niederlande) 130 Beauvoir, Simone de 182, 189, 205, 215, 217 Beethoven, Ludwig van 149 Benatar, David 230 Benda, Julien 189 Benedikt XVI. (Papst) 130 Bergmann, Ludwig 88 Bingen, Hildegard von 204 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 160 Böhme, Gernot 20, 35 Borgia (Päpste) 129 Bourbonen 67 Brown, Louise 186 Büchler, Andrea 223 Butler, Judith 210, 212, 213, 217, 219 f. Capa, Robert 85 Cäsar 244 Charles III. (König von England) 130 Claudia Felicitas v. Tirol 51, 53 Clinton, Bill 132 Dahrendorf, Ralf 119–121, 141, 145–148 Dalai Lama siehe Lhamo Döndrub Demnig, Gunter 244 Descartes, René (20) Didion, Joan 89 f., 118

Don Carlos 137 Dönitz, Karl 252 Dunne, John Gregory 89 Dunne, Quintana Roo 89 f. Egmont 137 Einstein, Albert 204 Eleonore v. Pfalz-Neuburg 51, 53 Elisabeth I. (Königin von England) 76, 122, (134) Elisabeth II. (Königin von England) 125, 130 Elisabeth (Zarin) 218 Eon - Charles-Geneviève-Louis-AugusteAndré-Timothée d’Éon de Beaumont (Chevalier d’Eon) 218 Ernaux, Anni 57 Evans-Pritchard, Edward E. 117 Ferdinand I. (Kaiser) 125 Ferdinand Wenzel v. Habsburg 59 Frank, Anne 252, 255 Franz I. (Kaiser) 126, 168 Franz II./I. (Kaiser) 168 Freud, Sigmund 23, 35, 100 Friedrich II. (Kaiser) 88, 95 Friedrich II. (preußischer König) 135, 137, 168 f. Gahlings, Ute 214 f. Gandhi, Mahatma 137 Ganserer, Tessa 222 Ganz, Bruno 137 Goethe, Johann Wolfgang v. 22, 37 f., 99, 134, (229), 244

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Personenregister

Goffman, Erving 133, 137 Gogh, Vincent van 137, 246 Grabbe, Christian Dietrich 233 Grimm (Brüder) 204 Gugutzer, Robert 215 Habsburger 12, 33, 41, 43 f., 51, 56, 67, 123, 125–128, 167 ff. Hajnal, John 65 Hanks, Tom 136 Haraway, Donna 18 Harris, Kamala 132 Hauser, Kaspar 88 He Jankui 187 Heidegger, Martin 34, 54, 231, 247 Heinrich VIII. (König von England) 80, 82 Hermanis, Alvis 135 Heß, Rudolf 253 Himmler, Heinrich 84 Hitler, Adolf 100, 137, 244, 251 f., 255 Hohenzollern 67 Honecker, Erich 132 Höß, Rudolf 252 Humboldt, Alexander v. 49 Husserl, Edmund 252 Huxley, Aldos 96, 186 Jesus von Nazareth 52, 64 Johannes Paul II. (Papst) 130 Joseph I. (Kaiser) 51, 59 Joseph II. (Kaiser) 168 f. Juan Carlos I. (König von Spanien) 130 Kafka, Franz 101, (103), 110, 137, (234) Kant, Immanuel 93, 150, 230, 242 Kantorowicz, Ernst H. 122 Karl der Große 244 Karl II. (König von Spanien) 123 Karl V. (Kaiser) 127 Karl VI. (Kaiser) 51, 125 f., 168 Karl IX. (König von Frankreich) 125 Katharina de Medici 125 Katharina II. (Zarin) 218

Kaufmann, Franz-Xaver 156 Kingsley, Ben 137 Kohl, Helmut 132 Kolumbus, Christoph 14, (31) Korczak, Janusz 252 Kurzweil, Ray 18, 248 Lenin, Wladimir Iljitsch 244 Leopold I. (Kaiser) 12, 33, 44–46, 50–56, 59 f., 123, 175, 208 Leopold II. (Kaiser) 168 Lévy-Strauss, Claude 55 Leyen, Ursula von der 200, 202 Lhamo Döndrub (14. Dalai Lama) 235 Ludwig XIV. (französischer König) 218 Ludwig XV. (französischer König) 169 Ludwig XVI. (französischer König) 169 Luther, Martin 204 Maas, Georg 88 Mandela, Nelson 204 Mann, Golo 242 Mann, Michael 242 Mann, Thomas 137, 165, 204, 242 Mannheim, Karl 23, 38, 140 f., 149 Margarethe v. Habsburg 127 Margarethe von Parma 127 Margarita (Kaiserin) 33, 44, 53, 59, 123, 208 Maria Anna Antonie v. Habsburg 59 Maria Theresia (Erzherzogin von Österreich, Königin von Ungarn und Böhmen) 125 f., 137, 167–169 Maria von Habsburg 127 Marie Antoinette (französische Königin) 88, 169 Marie Antonia v. Habsburg 59 f. Marx, Karl 18 Maximilian II. (Kurfürst, Bayern) 60 Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom 77 Medici 51 Merkel, Angela 132, 200, 205

Personenregister

Michelangelo 114, 244 Money, John 210–212 Moravec, Hans 248 Müller-Stahl, Armin 137 Nero 244 Nielsen, Asta 136 Nietzsche, Friedrich 22, 176, 240, 246 Obama, Barak 132 Oevermann, Ulrich 23, 118, 230 f. Otto I. (König von Bayern) 68, 132, 181 Ötzi (Gletschermann) 49 Parsons, Talcott 23 Pharaonen 47 Philipp II. (spanischer König) 137 Platon 177–181, 185 f., 244 Plessner, Helmuth 22, 94 f., 119, 146 Plowden, Edmund 122 Reimer (Familie) 211 f. Reimer, Brian 211 Reimer, Bruce / Brenda / David 211 f. Richard III. (englischer König) 137 Ridgeway, Lydia 93 f. Ridgeway, Timothy 93 f. Rigaud, Hyacinthe 218 Rousseau, Jean-Jaques 28, 100, 146, 182 Salier 43, 46 Schmidt, Helmut 132 Schmitz, Hermann 20, 97, 106, 214 f., 215 Schneider, Hans 104, 108, 138 Scholz, Olaf 200 Schönborn (Familie) 129 Schopenhauer, Arthur 21, 33, 72 f., 230, 232

Schröder, Gerhard 132 Schwarzer, Alice 221 Schwerte, Hans siehe Schneider, Hans Shakespeare, William 115, 134 f. Simmel, Georg 190 f. Singer, Peter 72 Sophokles 230 Speer, Albert 251 Stadler, Arnold 233 Stein, Edith 252 Stock, Kathline 221 Süßmichel, Johann Peter 80 Thalbach, Anna 135–137 Thalbach, Katharina 135–137 Thatcher, Margret 132 Toman, Walter 57, 60, 80 Tönnies, Ferdinand 26, 67 Touseau, Simone 85 Trump, Donald 124 Tshering Chökyong 235 Tshering Dekyi 235 Türcke, Christoph 93 Turing, Alan 112 Varadkar, Leo 220 Washington, George 183 Watson, Dr. 89 Weber, Max 16, 30, 64, 146, 203, 227, 236 Wittelsbacher 67 Woolf, Virginia 76 Z., Bernhard 90 Zedlitz, Joseph Christian von 242 Zweig, Stephan 169

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