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German Pages 659 [664] Year 1964
D I E
D E U T S C H E
T H O M A S - A U S G A B E
Vollständige,
ungekürzte
deutsch-lateinische
SUMMA
Ausgabe der
THEOLOGICA
Übersetzt und kommentiert von DOMINIKANERN UND
BENEDIKTINERN
DEUTSCHLANDS UND
ÖSTERREICHS
Herausgegeben von der ALBERT US-MAGNUS-AKADEMIE WALBERBERG BEI
KÖLN
21. B A N D
1964
GEMEINSCHAFTSVERLAG F. H. K E R L E HEIDELBERG
VERLAG
STYRIA
GRAZ-WIEN-KÖLN
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TAPFERKEIT M A S S H A L T U N G (l.TEIL)
Kommentiert von J O S E F F U L K O G R O N E R OP
II-II 123—150
1964
G E M E I N S C H A F T S V E R L AG F. H. K E R L E HEIDELBERG
VERLAG
STYRIA
GRAZ-WIEN-KÖLN
Sämtliche
R e c h t e f ü r die d e u t s c h e
und lateinische
Sprache
und
Ausgabe vorbehalten C o p y r i g h t 1964 b y V e r l a g S t y r i a , G r a z - W i e n - K ö l n , u n d F. H. K e r l e , Heidelberg Das I m p r i m a t u r
wurde erteilt vom P r o v i n z i a l
der
Deutschen
D o m i n i k a n e r p r o v i n z T e u t o n i a P. H i l a r i u s M. A l b e r s O P , S . T h e o l . L e c t . , u n d d e m E r z b i s c h ö f l i c h e n O r d i n a r i a t zu S a l z b u r g
SCHRIFTLEITER-KOLLEGIUM P. H e i n r i c h M. C h r i s t m a n n
OP, S. T h e o l . Lect., W a l d n i e l / N d r h .
—
P. Dr. P a u l u s E n g e l h a r d t OP, W a l b e r b e r g — P. Dr. A d o l f H o f f m a n n OP, W a l b e r b e r g — P. Dr. A r t h u r F r i d o l i n U t z OP, Univ.-Prof., F r e i b u r g / S c h w e i z — P. Dr. E b e r h a r d
Welty
OP, S. T h e o l . Mag., W a l b e r b e r g
MITARBEITER DIESES BANDES Die E i n l e i t u n g s c h r i e b P. Dr. P a u l u s E n g e l h a r d t OP — D e n K o m m e n t a r v e r f a ß t e Univ.-Prof. P. Dr. J o s e f F u l k o G r o n e r OP — Die Ü b e r setzung
arbeiteten
P. L e c t . B e r n w a r d
Dietsche
OP
(Tapferkeit)
u n d P. Dr. G i s b e r t Solch OP ( M a ß h a l t u n g ) — Die A n m e r k u n g e n v e r f a ß t e n Univ.-Prof. P. Dr. J o s e f F u l k o G r o n e r O P , P. L e c t .
Dietmar
E i c k e l s c h u l t e OP, P . Dr. P a u l u s E n g e l h a r d t OP u n d P. Dr. Diego A r e n hoevel
OP — Die
Redaktion
des l a t e i n i s c h e n
Textes
besorgten
P. C o e l e s t i n D o r l ö c h t e r OP u n d P. L e c t . D i e t m a r E i c k e l s c h u l t e OP, d a s A u t o r e n - u n d S c h r i f t s t e l l e n v e r z e i c h n i s P. C o e l e s t i n
Dorlöchter
OP, d a s S a c h v e r z e i c h n i s P. L e c t . D i e t m a r E i c k e l s c h u l t e
OP
1. b i s 3. T a u s e n d
EinbaDdentwurf von Rudolf Koch (1876—1934) D r u c k : U n i v e r s i t ä t s - B u c h d r u c k e r e i „ S t y r i a " , Graz
EINLEITUNG Josef P i e p e r zeichnete m i t seiner Schrift „Vom Sinn der T a p f e r k e i t " (Leipzig 1934) „das gesollte R i c h t b i l d des Menschen" (S. 14) in jene Zeit hinein, in d e r die aus dem Zusamm e n h a n g m i t Gerechtigkeit, Besonnenheit u n d Maß gerissene .Tapferkeit' jene .heldische H a l t u n g ' vorbereitete, m i t der Völker v e r n i c h t e t werden sollten. I n d e m „Zeitalter, aus dessen Gesichtsfeld der Begriff u n d die reale Möglichkeit des Blutzeugnisses ausgelöscht" w a r e n (ebd., S. 30) — von der Ostkirche ü b e r n a h m m a n Gebete u n d H y m n e n , zunächst noch ohne eigentliche Solidarität m i t ihrem M a r t y r i u m —, predigte Dietrich B o n h o e f f e r in Berlin (19. J u n i 1932): „Muß es d e n n so sein, d a ß das Christentum, das einstmals so revolutionär begonnen, n u n f ü r alle Zeiten konservativ ist? D a ß jede neue Bewegung ohne die K i r c h e sich B a h n brechen m u ß , d a ß die K i r c h e i m m e r erst zwanzig J a h r e hinterher einsieht, was eigentlich geschehen ist ? Muß dem wirklich so sein, d a n n müssen wir uns nicht w u n d e r n , w e n n auch f ü r unsere K i r c h e wieder Zeiten k o m m e n werden, wo Märtyrerb l u t gefordert werden wird. Aber dieses Blut, w e n n wir d e n n wirklich noch den M u t u n d die T r e u e h a b e n , es zu vergießen, wird nicht so unschuldig u n d leuchtend sein wie jenes der ersten Zeugen. Auf unserem B l u t e läge große eigene Schuld: die Schuld des u n n ü t z e n K n e c h t e s , der hinausgeworfen wird in die Finsternis." (Gesammelte Schriften IV. München 1961, S. 71.) W a r der aus d e m Gewissen mit d e m W i d e r s t a n d konspirierende Bonhoeffer ein M ä r t y r e r ? I n der Tegeler Gefängniszelle schrieb er a m 8. J u n i 1944: „Wir h a b e n n u r einen H e r r e n , d e m wir gehorchen; seine Befehle sind klar u n d stürzen uns nicht in K o n f l i k t e . . . Alle irdische H e r r s c h a f t ist allein b e g r ü n d e t in der H e r r s c h a f t Gottes, in ihr h a t sie Vollmacht u n d E h r e , sonst ist sie U s u r p a t i o n u n d h a t keinen A n s p r u c h auf G e h o r s a m . . . Gott, der H e r r , h a t aber nicht n u r das alleinige H e c h t , zu gebieten, sondern a u c h die alleinige Macht, seinem Gebote Geltung zu v e r s c h a f f e n . . . W e r sich neben ihm zum H e r r n a u f w i r f t , m u ß stürzen." (Ebd., S. 601; vgl. u . K o m m . S. 485 5 .) Dies schrieb ein T a p f e r e r des Geistes. T a p f e r k e i t schlechthin ist m e h r u n d anderes als jene „politische T a p f e r k e i t " (s. K o m m . S. 453), der es u m die öffentliche A n e r k e n n u n g geht, u n d vor allem als bloßes ,Kriegsheldentum' oder leiden(5)
schaftliche Verbissenheit (ebd.). Sie ist vielmehr gelassene Bereitschaft zum K ä m p f e n und Scheitern angesichts des Todes. F ü r den Getauften ist sie Schicksalsgemeinschaft mit Jesus Christus (III 5 1 , 1 : Bd. 28; I n Rom 6 , 6 : lect. 2 nr. 478 ff.). „Christus h a t t e den tapfersten und sieghaftesten Geist" (III 15, 2 E. 3: Bd. 25), mit dem er Welt und Teufel besiegte (ebd. Zu 3). Die tiefste Gemeinschaft mit I h m ist „das Lsiden der Märtyrer, mit deren Blut der ganze Leib Christi, das heißt die Kirche, gerötet wird" (In J o 19, 2: lect. 1 nr. 2376). „Der Hinübergang Christi aus dieser Welt zum Vater" ist „zugleich der Hinübergang von uns allen, die wir Christus durch Buße oder Martyrium nachfolgen" (In J o 13, 1: lect. 1 nr. 1728). „Christus wollte unser Lehrer sein, damit er uns das Beispiel gebe, den Tod zu erleiden.. ., das Beispiel, keine A r t des Todes zu fliehen" (In Mt 2 7 , 3 5 : nr. 2362), „damit er uns lehre, den Tod zu verachten" ( I n M t 2 7 , 50: nr. 2389). Das Martyrium ist der äußerste Vollzug der Tapferkeit, weil in ihm alle Todesfurcht um eines Höchsten willen, „aus Liebe zur Wahrheit" (CG I V 55: nr. 3952) besiegt wird (vgl. K o m m . S. 480 u. 483). N u r das Hohe im Auge haben, f ü r das Höchste sich einsetzen, das ist die H a l t u n g des Großgesinnten. Thomas entfaltet das Wesen der Großgesinntheit nicht nur deshalb so sorgfältig, weil „der Philosoph" — Aristoteles — das Bild des Großgesinnten in der Nikomachischen E t h i k zeichnet, sondern wohl auch, weil er damit — ohne es zu wissen — etwas von seinem eigenen Ethos aussagt. Die fromme Legende weist — mit Recht — auf die Demut des Studenten und des Magisters Thomas von Aquin hin. Demut besagt nicht Minderwertigkeitskomplex. I m Gegenteil: Minderwertigkeitskomplexe können nur durch echte Demut überwunden werden — durch eine Haltung, die sich nicht dauernd mit anderen vergleicht, sondern die eigenen Gaben als Geschenk Gottes annimmt und sie unbeirrt für die eigene Aufgabe einsetzt. Gerade dazu aber gehört Großgesinntheit. Der Großgesinnte des Aristoteles hat deutliche Züge des Massen- und Menschenverächters an sich. Diese Züge scheinen doch recht ungut und unchristlich zu sein, besonders die „Ironie", die der Großgesinnte „der Menge gegenüber braucht" (129, 3 E. 5). Thomas a n t w o r t e t : „Es h e i ß t . . . , daß er sich der Ironie bediene, nicht sofern sie der Wahrheit (6)
widerstreitet, etwa so, daß er Niedriges von sich aussage, was nicht zutrifft, oder Großes leugne, welches zutrifft, sondern weil er nicht seine ganze Größe zeigt, vor allem nicht vor der Menge der Geringeren" (ebd. Zu 5), „um in rücksichtsvoller Weise seine eigene Überlegenheit zu verdecken, die den anderen. . . bedrückend werden kann" (Komm. S. 508). Die berühmte Begebenheit mit dem massigen, schweigsamen, oft geistesabwesenden Studenten aus Italien, den seine Mitstudenten zu Köln den ,3tummen Ochsen' nannten, mag nicht nur ein Zeugnis frommer Demut, sondern auch dieser Ironie sein. Ein Mitstudent hatte Mitleid und wollte ihm bei der Repetition der Vorlesung des Magisters Albert helfen. Thomas nahm es an — dankbar und demütig. An einer Stelle verlor der hilfsbereite Mitstudent den Faden. Da begann Thomas in aller Ruhe weiter zureden, wiederholte die Vorlesung ganz genau und ergänzte vieles, was der Magister Albert nicht gesagt hatte. Die Nachrichtenvermittlung ließ dies schnell über alle Grenzen des klösterlichen Stillschweigens zum Magister Albert gelangen. Dieser formulierte ein besonders schwieriges Problem, mit dem er selbst wohl noch nicht fertig war, und beauftragte Thomas, es am nächsten Tage in öffentlicher Diskussion zu lösen und seine Lösung zu verteidigen. In der Disputation nahm Albert seine ganze dialektische K u n s t zusammen, um Thomas aus der Fassung zu bringen. Doch Thomas antwortete ganz ruhig und selbstverständlich auf alles und entschuldigte sich noch: „Magister, ich sehe nicht, wie ich die Frage anders hätte beantworten können!" Da soll Albert prophetischen Geistes ausgerufen haben: „Wir nennen diesen den stummen Ochsen! Aber er wird mit seiner Lehre ein solches Gebrüll anheben, daß es in der ganzen Welt ertönen wird." 1 Die Züge des Großgesinnten, zu denen auch die ,Ironie' gehört, werden durch die Gott und der Sache hingegebene Demut verchristlicht. Dieser Bezug muß festgehalten werden, weil die Demut im Aufbau der thomasischen Tugendlehre an weniger hervorragender Stelle (Fr. 161: Bd. 22) als die Großgesinntheit steht. Der Kommentar unseres Bandes stellt die Frage, ob damit eine heidnische Tugend den Vorrang vor einer spezifisch christlichen erlangt habe (vgl. S. 501 f.). Thomas selbst antwortet uns: „Christus war im höchsten 1 W i l h e l m v. T o c c o , Vita S. Thomae Aquinatis, c. 12. In: D. P r ü m m e r OP, Fontes vitae S. Thomae Aquinatis (RT Suppl.) 1212 ff, 78 f.
(7)
Maße großgesinnt" (III 15, 8 E. 2: Bd. 25). Ihm ging es um das Höchste: die Ehre des Vaters und das Heil der Menschen. In seiner Nachfolge geht es dem Christen um das Höchste: sein Ziel eröffnet dem Leben Dimensionen der Tiefe und Weite, die allein der unendlichen Offenheit und dem Vermögen des Geistes entsprechen. Nicht nur die Scheingröße des Hochmütigen, sondern auch die echte Größe des auf sich selbst verwiesenen Weisheitssuchers erweisen sich angesichts der durch Christus eröffneten Möglichkeit menschlicher Größe als schmerzliches Zurückbleiben. 1 Großgesinntheit und Demut zusammen machen das Selbstverständnis des heiligen Thomas als Magister der Theologie aus. In einer vorübergehenden Pause des Kampfes der Professoren aus dem Stand der Weltpriester gegen die Bettelorden wurde Thomas zum Magister, das heißt zum ordentlichen Professor der Theologie ernannt. Er war etwa 31 Jahre alt. Im Frühjahr 1256 mußte er seine Antrittsvorlesung halten, obgleich er wegen der ungünstigen öffentlichen Stimmung lieber darauf verzichtet hätte. Der älteste Biograph, Wilhelm von Tocco, berichtet (a. a. 0., 85), daß er am Vorabend „lange unter Tränen betete und dann einschlief". In einem Traumgesicht soll ihm der heilige Dominikus — so erklärte man es sich um 1300 — als Thema seiner Antrittsvorlesung das Psalmwort (104[103], 13) vorgeschlagen haben: „Du gibst Regen den Bergen aus höchsten Höhen; von der Frucht deiner Werke sättigt sich die Erde." Vor einigen Jahrzehnten hat man diese Antrittsvorlesung 2 wiedergefunden. Thomas spricht in ihr sein Verständnis vom hohen Amt des Lehrers aus: „Wir sehen mit unseren Augen, wie der Regen aus den hohen Wolken fließt, wie die Berge das empfangene Wasser in Bächen ausströmen lassen und wie die Erde durch sie gesättigt und fruchtbar wird. Gleicherweise wird aus den Höhen der Weisheit Gottes der Geist der Lehrer — der mit den Bergen verglichen wird — erfüllt. Durch ihren Dienst pflanzt sich das Licht der Weisheit Gottes bis zum Geist der Hörer fort!" (nr. 1209). „Die Lehrer müssen [wie die hohen Berge] weit über das Irdische er1 Vgl. I-II Fr. 2: Bd. 9; Fr. 69: Bd. 11; die Beiträge von D. Eickelschulte 0 P , P. Engelhardt OP und N. Hinake in: P. E n g e l h a r d t OP, Sein und Ethos. Untersuchungen zur Grundlegung der Ethik. Mainz 1963, 158—227; P. Engelhardt OP, „Summa contra gentiles" des Thomas von Aquin. In: W. S a n d f u c h s , Bücher der Entscheidung. Würzburg 1964, 42—54. • De commendatione S. Scripturae. In: Opuscula theologica I. Ed. Marietti. Turin-Rom 1954.
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haben sein und nur nach dem Himmlischen sich sehnen... Wie über Bergesgipfeln muß in ihrem Geist der Glanz göttlicher Wahrheit zuerst aufgehen" (nr. 1212). Aber nicht nur der Lehrer, sondern auch der Hörer muß Größe besitzen. Zwar muß er „demütig" bereit sein, die Lehre aufzunehmen; er muß aber auch den weiten Horizont und den großen, rechten Sinn haben, „um das Gehörte zu beurteilen" (nr. 1214). „Die Lehrer aber teilen die Weisheit nur als Diener m i t . . . Durch sich und aus sich selbst ist keiner würdig zu einem so großen Dienst. Aber er darf hoffen, von Gott zu erlangen, was er dazu braucht.. . Lasset uns beten! Christus gewähre es uns! Amen" (nr. 1215). Die hohe Aufgabe, die der Lehrer als Diener der Weisheit Gottes übernimmt, bedeutet Kampf gegen den Teufel, den Vater der Lüge. Der Lehrer besiegt den Teufel nicht nur im Widerstand, sondern auch im Angriff, und zwar in einem Angriff für die Gemeinschaft (Suppl. 97, 7: Bd. 36). Sein Werk ist also ein Werk der Tapferkeit. In seinem zweiten Pariser Aufenthalt (1269 — 1272) steht Thomas in einem Dreifrontenkrieg. Nicht nur die Gegner der Bettelorden, nicht nur die Feinde der Philosophie — auch im eigenen Orden —, sondern auch die von der arabischen Philosophie beeinflußten ,Neuheiden' der Artistenfakultät sind erbitterte Gregner. Der meist so sachlich distanzierte Thomas kennt die Lust des Kampfes (vgl. 123, 8). E r schließt die polemische Schrift „Über die Einheit der Vernunft gegen die (lateinischen) Averroisten", in der er das geistige Personsein des Einzelmenschen gegen das Aufgehen in eine überindividuelle Vernunft verteidigt, mit dem Bewußtsein, mit dem Gegenangriff den Irrtum besiegt und vernichtet zu haben: „Wenn jetzt jemand gegen das, was wir geschrieben haben, auftreten will, um sich einer Scheinwissenschaft zu rühmen, dann soll er das nicht in verborgenen Winkeln tun und nicht vor Kindern, die in so schwierigen Dingen nicht zu urteilen vermögen. E r soll gegen diese Schrift eine Gegenschrift verfassen — wenn er es wagt! Und er wird nicht nur mich, den Geringsten, auf dem Plane finden, sondern viele andere Eiferer für die Wahrheit, die seinem Irrtum entgegnen und seiner Unwissenheit helfen werden" (