Die aufgeklärte Familie: Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung 9783110912876, 9783484180956


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German Pages 298 [300] Year 1988

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Table of contents :
Vorwort
A. DIE AUFKLÄRENDE FAMILIE
I. Die Familie als Erziehungsgemeinschaft Gottscheds Entwurf der Idealfamilie in seiner Moralischen Wochenschrift »Der Biedermann«
II. Der Autor als Erzieher Gottscheds Universalisierung des familialen Erziehungsverhältnisses
III. Geld oder Erziehung als Fundament der Familie Zur widersprüchlichen Auflösung des Verhältnisses von Ökonomie und Tugend in Hinrich Borkensteins »Bookesbeutel«
IV. Die Extrapolation der Familienordnung zur Gesellschaftsordnung Gottscheds Strategie zur Moralisierung der Herrschaft
V. Soziale Realität und familiale Tugendwelt Zum Verhältnis von erfolgreichem und tugendhaftem Handeln in Johann Christian Krügers »Candidaten«
B. DIE VERKLÄRUNG DER FAMILIE
I. Die Familie als Gefühlsgemeinschaft Gellerts Erhebung der Privatsphäre zum wahren Ort menschlichen Glücks
II. Die Familie als geläuterter Tugendraum Zur Ausgrenzung von Ökonomie, Leidenschaft und Freiheitsverlangen in Gellerts »Zärtlichen Schwestern«
C. DIE AUFKLÄRUNG DER FAMILIE
I. Familienbeziehungen als Naturbeziehungen Zum antiständischen Menschenbild und zur empfindsamen Dramaturgie bei Lessing
II. Die Restitution der Familie im Tod Zur Unvereinbarkeit von Liebe und Ehe in Lessings »Miß Sara Sampson«
III. Der Tod einer Tochter Zum Verhältnis von höfischer und familialer Welt in Lessings »Emilia Galotti«
IV. Die aufgeklärte Familie Zum Verhältnis von Blutsverwandtschaft und Adoptivverwandtschaft in Lessings »Nathan der Weise«
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
LITERATURVERZEICHNIS
PERSONENREGISTER
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Die aufgeklärte Familie: Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung
 9783110912876, 9783484180956

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Band 95

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Günter Säße

Die aufgeklärte Familie Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988

CIP-Tîtelaufnahme der Deutschen Bibliothek Säße, Günter: Die aufgeklärte Familie : Unters, zur Genese, Funktion u. Realitätsbezogenheit d. familialen Wertsystems im Drama d. Aufklärung / Günter Säße. — Tübingen : Niemeyer, 1988 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 95) NE: GT ISBN 3-484-18095-1

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

Ι

A.

5

D I E AUFKLÄRENDE FAMILIE

I.

Die Familie als Erziehungsgemeinschaft Gottscheds Entwurf der Idealfamilie in seiner Moralischen Wochenschrift »Der Biedermann«

5

II. Der Autor als Erzieher Gottscheds Universalisierung des familialen Erziehungsverhältnisses

28

III. Geld oder Erziehung als Fundament der Familie Zur widersprüchlichen Auflösung des Verhältnisses von Ökonomie und Tugend in Hinrich Borkensteins »Bookesbeutel«

44

I V . Die Extrapolation der Familienordnung zur Gesellschaftsordnung Gottscheds Strategie zur Moralisierung der Herrschaft . . V.

Soziale Realität und familiale Tugendwelt Z u m Verhältnis von erfolgreichem und tugendhaftem Handeln in Johann Christian Krügers »Candidaten« . . . .

B.

D I E V E R K L Ä R U N G DER F A M I L I E

I.

61

77 9;

Die Familie als Gefühlsgemeinschaft Gellerts

Erhebung

der Privatsphäre zum

wahren

Ort

menschlichen Glücks

95

II. Die Familie als geläuterter Tugendraum Z u r Ausgrenzung von Ökonomie, Leidenschaft und Freiheitsverlangen in Gellerts »Zärtlichen Schwestern«

. . .

115

V

C.

D I E A U F K L Ä R U N G DER F A M I L I E

I.

135

Familienbeziehungen als Naturbeziehungen Zum antiständischen Menschenbild und zur empfindsamen Dramaturgie bei Lessing

135

II. Die Restitution der Familie im Tod Zur Unvereinbarkeit von Liebe und Ehe in Lessings »Miß Sara Sampson«

146

III. Der Tod einer Tochter Zum Verhältnis von höfischer und familialer Welt in Lessings »Emilia Galotti«

174

IV. Die aufgeklärte Familie Zum Verhältnis von Blutsverwandtschaft und Adoptivverwandtschaft in Lessings »Nathan der Weise«

216

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

263

LITERATURVERZEICHNIS

265

PERSONENREGISTER

287

VI

Denn es handelt sich ja nicht darum, die Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen, sondern in der Zeit, da sie entstanden, die Zeit, die sie erkennt - das ist unsere - zur Darstellung zu bringen. Damit wird die Literatur ein Organon der Geschichte und sie dazu nicht das Schrifttum zum Stoffgebiet der Historie zu machen, ist die Aufgabe der Literaturgeschichte. Walter Benjamin

VORWORT

Als die »Berlinische Monatsschrift« im Dezember 1784 Kants »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« abdruckt,1 tritt die Epoche der Aufklärung entschieden in das Stadium ihrer Selbstreflexion. Interessant ist, aus welchem Kontext heraus diese Frage erwächst. Ein Jahr zuvor wird nämlich in eben dieser »Berlinischen Monatsschrift« kontrovers diskutiert, ob die Ehe als ein Vertragsverhältnis zwischen zwei Partnern noch des kirchlichen Segens bedürfe. 2 Genau in diesem Diskussionszusammenhang stellt dann - in Form einer Anmerkung - einer der Diskutanten, Johann Friedrich Zöllner, die Frage, die die Debatte auf ein ganz neues Niveau heben wird: »Was ist Aufklärung?« Und er fügt hinzu: »Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wol beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und noch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden.«' Daß diese ins Prinzipielle zielende Frage der Erörterung einer eherechtlichen Problematik entspringt, kommt nicht von ungefähr. Denn »Ehe« und damit strikt verbunden »Familie« ist eines der großen Themen der Aufklärung, das sich einordnet in den umgreifenden Kontext von Öffentlichkeit und Privatheit (Habermas), Politik und Moral (Koselleck), Fremdzwang und Selbstzwang (Elias) und der Entdeckung der Kindheit (Ariès).

1

Berlinische Monatsschrift 4, 1 7 8 4 , S. 4 8 1 - 4 9 4 ; aufgn. in: Kant: Gesammelte Schriften (Akademieausgabe), B d . 8, S. 3 3 - 4 2 .

2

Angestoßen wird die Diskussion durch einen Beitrag, der im September 1 7 8 3 in der »Berlinischen Monatsschrift« unter dem Pseudonym Ε . v. K . mit dem U t e l : »Vorschlag, die Geistlichen nicht mehr bei der Vollziehung der E h e n zu bemühen« (S. 2 6 5 - 2 7 6 ) erscheint. Dieser Beitrag, ebenso wie die Reaktionen, die er hervorgerufen hat, finden sich wieder abgedr. in: Norbert Hinske (Hg.): W a s ist A u f k l ä r u n g ? , S. 9 5 - 1 3 8 .

'

J o h a n n Friedrich Zöllner: Ist es rathsam, das Ehebündnis nicht ferner durch die Religion zu sanciren?, in: Berlinische Monatsschrift 2, 1 7 8 3 , S. 5 1 6 ; daß K a n t sich genau auf diese Frage bezieht, w i r d dadurch deutlich, daß seinem Beitrag der Hinweis »(S. Decemb. 1 7 8 3 . S. ; i 6 . ) « vorangestellt wird.

χ

Dabei ist das Thema »Familie« von einer fast zeitlosen Aktualität. Denn Familie hat jeder. Noch als Erwachsene agieren wir immer auch als Söhne und Töchter und damit als Angehörige einer Familie, die nicht nur ganz offensichtliche, sondern auch tief verborgene Spuren in uns hinterlassen hat. Über das hinaus, was dabei jedem einzelnen ganz individuell widerfahren ist, gibt es Momente einer Kollektivität, die in überlieferten Normbeständen gründen. Eines der Ziele dieser Arbeit ist es, diese Bestände, wenn auch nicht an den historischen Ort ihres Ursprungs, so doch an den ihrer wirkungsmächtigen Entfaltung zurückzuverfolgen. Daß dabei das 18. Jahrhundert als der Zeitraum in den Blick kommt, in dem sich die Deutungssysteme und Orientierungsmuster in der Abkehr von einer höfisch geprägten Welt neu formieren, braucht kaum eigens begründet zu werden. Fast genauso selbstverständlich ist es, daß sich in diesem Zusammenhang die Aufmerksamkeit auch auf die Literatur zu richten hat. Denn als Medium der Selbstverständigung, das die neuen >Ideen< nicht nur propagiert, sondern auch dem kritischen Räsonnement offeriert, ist die Literatur dieser Zeit nicht nur Reflex einer ihr äußeren Realität, sondern auch zentrales Instrument in der Ausbildung dieser neuen Wertwelt. Die Feststellung Brechts gilt hier in einem besonderen Maße: das dichten muß als menschliche tätigkeit angesehen werden, als gesellschaftliche praxis mit aller widersprüchlichkeit, Veränderlichkeit, als geschichtsbedingt und geschichtemachend, der unterschied liegt zwischen >widerspiegeln< und >den Spiegel vorhalten^ 4

>Vorgespiegelt< wird die neue >moralische WeltFamilie< das sie bestimmende Zentrum hat, dem Rezipienten mit besonderer Eindringlichkeit vom Drama in seiner gattungsspezifischen Anschaulichkeit. Seit den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts wird in ihm - zuerst in der Komödie und im Rührstück, dann auch in der Tragödie — der private Bereich der Familie zum eigentlichen Ort des Geschehens. Die sozialund kulturgeschichtlichen Forschungen der letzten Jahre zu Familie' und 4 s

2

Bertolt Brecht: Arbeits journal, Bd. i, S. 158. Anstelle vieler Titel sei hier hingewiesen auf die Forschungsberichte von Heidi Rosenbaum: Zur neueren Entwicklung der Historischen Familienforschung; Karin Hausen: Familie als Gegenstand Historischer Sozialwissenschaft; James W. Milden: The Family in Past Time; Werner Conze: Sozialgeschichte der Familie; ders.: Neue Literatur zur Sozialgeschichte der Familie; Hans Medick und David Sabean: Neue Themen in der historisch-ethnologischen Familienforschung; Michael Anderson: Approaches to the History of the Western Family; zur bibliographischen Erfassung siehe Ulrich Herrmann, Susanne Renftle, Rolf Lutz: Bibliographie zur Geschichte der Kindheit, Jugend und Familie.

Kindheit 6 ermöglichen es nun - über eine positivistische Bestandsaufnahme hinaus 7 - die Bedeutung der Familie als Handlungsraum, Orientierungsmuster und thematisches Zentrum dieser Dramatik vor dem Hintergrund sozialgeschichtlicher Zusammenhänge und im Horizont der zeitgenössischen moralphilosophischen und poetologischen Erörterungen schärfer in den Blick zu nehmen. Beide Aspekte der Wirklichkeit - sowohl deren Denkinhalte als auch deren Realitätsmomente gilt es dabei zu berücksichtigen. Denn welche Lebensform wie in den Familiendramen präsentiert wird, ist ja nicht allein literaturimmanent zu erforschen, da diese sich auf mehr oder minder ausgearbeitete außerästhetische Normensysteme beziehen, in denen schon ein je spezifischer Sinnaufbau hergestellt ist. Sie gilt es deshalb als wesentliche Elemente mit in die Analyse einzubeziehen. Zugleich aber darf auch der Bezug zur zeitgenössischen Realität nicht abgebrochen werden, da sich die Dramen selbst in starkem Maße auf sie beziehen, um so - gemäß dem Wahrscheinlichkeitsgebot - die Bühnenwirklichkeit mit der Zuschauerwirklichkeit zusammenzuschließen. Beiden Forderungen - Berücksichtigung des außerästhetischen Bezugssystems und der außerästhetischen Bezugswirklichkeit - unterwirft sich die Arbeit, indem sie die den Dramen inhärente Vermittlungsleistung zwischen ihnen ins Zentrum der Interpretation stellt. Dabei zeigt sich dann, daß über das Wahrscheinlichkeitsgebot ein Alltagswissen in die ästhetischen Handlungszusammenhänge eingeht und die Dramen dadurch ein >anderes< an Bedeutsamkeit produzieren, als nach dem Stand der jeweils herrschenden moralischen Postulate zu erwarten war. Auf diese Weise relativieren sie die Verbindlichkeit der in der Theorie ausgearbeiteten Normensysteme im Hinblick auf

6

7

Siehe hierzu den Forschungsbericht von Jürgen Schlumbohm: Geschichte der Kindheit - Fragen und Kontroversen; zur historischen Sozialisationsforschung siehe v o r allem Ulrich Herrmann: Probleme und Aspekte historischer Ansätze in der Sozialisationsforschung; zur Methodologie der verschiedenen Forschungsrichtungen siehe Manfred Niessen, Heinrich Seiler: Methodologische Konzeptionen in Forschungen zur Sozialgeschichte v o n Kindheit und Familie. Genannt seien hier Henrik Selver: Die Auffassung des Bürgers im deutschen bürgerlichen Drama des 18. Jahrhunderts; Rose Götte: Die Tochter im Familiendrama des achtzehnten Jahrhunderts; Wolfgang Schaer: Die Gesellschaft im deutschen bürgerlichen Drama des achtzehnten Jahrhunderts; Heinz Birk: Bürgerliche und empfindsame Moral im Familiendrama des 18. Jahrhunderts; eine Ausnahme bildet Bengt Algot Sorensen: Herrschaft und Zärtlichkeit, der sehr intensiv die sozial- und kulturgeschichtliche Forschung rezipiert, die Familienthematik allerdings perspektivisch gebunden unter dem Gesichtspunkt des Patriarchalismus behandelt. 3

von ihr ausgeblendete, in der Realität allerdings wirksame Bedingungsmomente familialer Existenz. Die Arbeit folgt einem sich in der historischen Abfolge präsentierenden Dreischritt: a) Gottsched und seine Schule als Vertreter des rationalistischen Konzepts einer Familie, die als Erziehungsinstitution für eine Gesellschaft der Tugendhaften fungiert. b) Geliert und sein Kreis als Vertreter des empfindsamen Konzepts einer Familie, die als Gemeinschaft der Selbstlosigkeit zur Gegenwelt erhoben wird. c) Lessing als derjenige, dessen Dramen das kritisch reflektieren, was die zeitgenössischen Familienkonzepte als fraglos präsentieren. Begonnen wird allerdings nicht mit einer Dramenanalyse, sondern mit dem Idealbild einer Familie, das Gottsched in seiner Moralischen Wochenschrift »Der Biedermann« entwirft - dies nicht nur deshalb, weil hier das frühe Zeugnis einer aufklärerischen Familienkonzeption in der ganzen Ausführlichkeit eines umfänglichen Prosatextes vorliegt, sondern auch, weil auf diese Weise eine der wirkungsmächtigsten Gattungen bürgerlicher Sittenreform 8 in den Blick kommt.

Siehe dazu v o r allem Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. 4

Α. DIE AUFKLÄRENDE FAMILIE

I.

D I E F A M I L I E ALS

ERZIEHUNGSGEMEINSCHAFT

Gottscheds Entwurf der Idealfamilie in seiner Moralischen Wochenschrift »Der Biedermann« Schwerlich wird man behaupten können, daß mit Gottsched etwas ganz Neues beginne, so daß er ohne jede Einschränkung an den Beginn einer Untersuchung zu stellen wäre, die einen historischen Wandel thematisiert. Denn auf häufig verwirrende Weise ist er der Vergangenheit und der Zukunft gleichzeitig zugewandt. Auf vieles greift er zurück, was im Bestand der Tradition seinen festen Platz hat, und gegen vieles wendet er sich, was er glaubt aus der Tradition tilgen zu müssen. So bezieht er sich - wie im Barock üblich — immer wieder auf die Autoren der Antike, um seine Überlegungen zu legitimieren, zugleich aber erhebt er die aufklärerische Vernunft zur obersten Entscheidungsinstanz für unumstößliche Wahrheiten; aus der rhetorischen Tradition des Barock übernimmt er als ein zentrales Argument für seine Literaturkonzeption das Wirkungspostulat, und zugleich unterstellt er die Poesie der philosophischen Wahrheitserkenntnis des frühaufklärerischen Rationalismus; seine »Critische Dichtkunst« will - wie die Poetiken des 17. Jahrhunderts - eine Anweisungslehre zur regelgerechten Herstellung von Literatur sein, und zugleich erhebt sie den Anspruch, deren Wesen zu erfassen; in Fragen der rechten Beurteilung von Literatur folgt er einerseits dem überkommenen Gedanken einer Kunst von Gelehrten für Gelehrte, andererseits aber soll die Poesie nicht mehr eine >ars docta< für den gelehrten Kenner, sondern eine >ars popularis< für den >gemeinen< Bürger sein; in vielem ist für Gottsched der französische Klassizismus einer höfischen Kultur der bestimmende Orientierungshorizont, und zugleich erhebt er die Literatur zum wichtigsten Instrument einer bürgerlichen Sittenreform; immer wieder und mit Nachdruck fordert er geradezu empirische Natürlichkeit auch in der dramatischen Rede, und das Personal seiner eigenen Tragödien spricht im klassizistischen Versmaß des Alexandriners. 5

D a s B i l d , das Gottsched bietet, changiert so auf m e r k w ü r d i g e Weise zwischen Tradition und Moderne; und doch kommt bei allen Zwiespältigkeiten, die man an ihm feststellen kann, eine literaturgeschichtliche A n a l y s e , die tatsächlich historisch sein will, nicht daran vorbei, die verschiedenen Elemente des Gottschedschen Denkens und Handelns im N a c h w e i s des spezifischen Zusammenhangs v o n A l t e m und N e u e m historisch einzuordnen. Dies gilt auch f ü r die folgenden A u s f ü h r u n g e n zu Gottscheds Familienkonzeption, der man ebenfalls auf den ersten Blick alles andere als einen eindeutigen geschichtlichen O r t im

Koordina-

tensystem v o n Tradition und M o d e r n e zuweisen kann. Denn in seiner Moralischen Wochenschrift »Der Biedermann«' entwirft Gottsched in vielen einzelnen Beiträgen zwar das Idealbild einer Familie, aber er stellt sie in ihrem äußeren Lebenszuschnitt prima vista gar nicht als etwas N e u e s dar, sondern als etwas v o n weit her Überkommenes. E s ist die traditionelle Wirtschaftsform des »Ganzen Hauses«, wie sie Otto Brunner als eine soziale, wirtschaftliche, rechtliche und religiöse Einheit beschreibt, 2 in der Gottsched seine Idealfamilie leben läßt. Basis ihrer E x i stenz ist das G u t des Landadligen Sophroniskus: Sein Land-Gut ist nicht groß, aber einträglich: es hat an keinem Dinge Uberfluß; aber auch an keinem Dinge Mangel. E r hat soviel Aecker, Wiesen und Wälder als er nöthig hat, sein Haus zu versorgen und seinen Nachbarn zu dienen. An grossen und kleinem Viehe besitzt er soviel, als sein Land tragen kan: und an Unterthanen, Knechten und Mägden fehlt es ihm niemahls, seine Arbeit gemächlich zu bestellen. (B I, 6) Nicht M a r k t und G e l d bestimmen die landwirtschaftliche Gütererzeug u n g der Gottschedschen Idealfamilie; bei ihr herrscht in allen wirtschaftlichen Tätigkeiten die >Idee der Nahrungväterlichen Gesellschaft; Julius Hoffmann: Die »Hausväterliteratur« und die »Predigten über den christlichen Hausstand«. Siehe Otto Brunner: Adeliges Landleben und europäischer Geist. 7

Doch der erste Blick trügt. Denn bei aller Einordnung des äußeren Lebenszuschnitts der Gottschedschen Idealfamilie in den von der Tradition abgesteckten Rahmen fügen sich die Inhalte ihm nicht bruchlos. So wird zwar Sophroniskus noch als Träger einer politischen Teilgewalt erwähnt, doch hat man de facto - wie sogleich hinzugefügt wird - »wohl in etlichen Jahren keinen Gerichts-Tag bey ihm halten dürfen.« (Β I, 7) Nicht Machtausübung durch äußeren Zwang, sondern die wechselseitige Verpflichtung zur Beförderung des gemeinsamen Bestem hält die von Gottsched geschilderte kleine Gemeinschaft zusammen. Naturrechtliche Vorstellungen freier Vertragsverhältnisse 7 überwölben so eine Lebensordnung, deren inhaltliche Füllung nicht nur in der faktischen Umgestaltung der Rechtsverhältnisse, sondern auch in der inneren Ausgestaltung des häuslichen Lebens der äußeren Form widerspricht, in der Gottsched seine Idealfamilie leben läßt. Dies zeigt sich schon daran, was alles nicht thematisch wird. So erfährt der Leser - ganz entgegen der Tradition, die mit dieser äußeren Form evoziert wird - nichts über Ackerbau und Viehzucht, mit keinem Wort werden die Techniken der Bevorratungswirtschaft und der Herstellung von Gebrauchsgütern erwähnt, und auch all das andere, was die »Hausväterliteratur« breit behandelt, von der Heil- bis zur Kochkunst, von der Gartenanlage bis zur Wasserwirtschaft, vom Hausbau bis zur Feldbestellung, kommt nicht in den Blick. Obwohl Gottscheds Entwurf einer Idealfamilie an der überkommenen Weise einer vornehmlich naturalwirtschaftlich sich reproduzierenden Lebensform partizipiert, hat das, was er dann in ihrer Ausgestaltung schildert, wenig mehr gemein mit dem, was die Uberlieferung hierfür an Details bereithält. Zwar wird die auf Autarkie ausgerichtete Wirtschaftsform des »Ganzen Hauses« als Rahmenbedingung der Idealfamilie aufgerufen, dies aber doch nur beiläufig, gleichsam um das feste ökonomische Fundament zu zeigen, um das man sich nicht weiter zu bekümmern braucht. Daß die Sphäre des Wirtschaftens in ihrer Durchdringung personaler und ökonomischer Bezüge nicht thematisch wird, kommt nicht von ungefähr. Denn die Familie des Sophroniskus wird nicht als wirtschaftliche Zweckeinheit geschildert, in die die einzelnen Mitglieder gemäß ihrer Tätigkeitsfelder funktional eingebunden sind, sondern als Erziehungsgemeinschaft. Alles, was die Familie in ihren wesentlichen 7

8

Die naturrechtliche Konzeption eines auf Freiwilligkeit beruhenden, zeitlich begrenzten Vertragsverhältnisses zwischen »Herrschaft« und »Gesinde« entwickelt Gottsched in seiner »Weltweisheit«, Praktischer Teil, S. i4Haus< orientierte Besitzstandswahrung, maßgeblich.9 So legt Sophroniskus keinerlei Wert auf die Mitgift seiner Braut - dies zur großen Verwunderung ihrer Eltern, die es als selbstverständlich ansehen, »daß der Freyer bei seiner Anwerbung, auch zugleich wegen des Brautschatzes eine Forderung thun würde.« (Β I, 9) Hiergegen opponiert Sophroniskus heftig, indem er auf das Angebot der Brauteltern erwidert: Wenn ich nach G e l d e gefreyet hätte; so wäre es mir leicht gewesen eine viel reichere Parthey zu finden; als diese ist: A b e r mir hat Euphrosyne, und nicht das Vermögen ihrer Eltern gefallen. Ich w ü r d e sie lieben, wenn ich gleich keinen Thaler mit ihr zu gewarten hätte. (Β I, 1 0 )

In durchaus polemischer Abgrenzung gegen die zeitgenössische Heiratspraxis, in der Besitz ein zentrales Motiv ist,'" bindet Gottsched entschieden Liebe an Tugend. Sie ist es, was Sophroniskus an Euphrosyne liebt. Und damit auch ja kein Zweifel aufkommt, ob nicht deren Schönheit sein Heiratsmotiv sei, wird eine zweite Grenzlinie gezogen, diesmal gegen die >galante Welt< der >äußeren Reize< und der >SinnlichkeitVernunft< geläuterten familialen Tug e n d r a u m Vernunftwidriges ein, das eine Tugend, die sich gerade im T r i u m p h der Vernunft über das ihr Feindliche einer unkontrollierten A f f e k t i v i t ä t dokumentiert, 2 1 aufs äußerste gefährden würde. Wie sehr sich nun die Eltern - u m der Tugend ihrer K i n d e r willen - bemühen, deren A f f e k t e unter Kontrolle zu halten, zeigt der Bericht des

fiktiven

Herausgebers über die dabei angewendete Erziehungsmethode:

19

20

21

12

Siehe hierzu Otto Könnecke: Rechtsgeschichte des Gesindes, S. 289fr.; vgl. auch Michael Mitterauer: Vorindustrielle Familienformen, der darauf hinweist, daß viele Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts die Angehörigen einer Hausgemeinschaft nach ihrer funktionalen Stellung im Haus, nicht aber nach ihrem Verwandtschaftsverhältnis bestimmen. In einem nur dem heutigen Leser satirisch erscheinenden »kleinen Register der gemeinen Thorheiten alter Vetteln« (Β II, 197fr.) werden die tradierten Praktiken der Kinderpflege vorgestellt. Für viele von ihnen findet sich ein entsprechender Beleg im »Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens«, hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli u. a. Zum Verhältnis von Tugend, Vernunft und Affektkontrolle, wie es Gottsched in seiner »Weltweisheit« im Detail entfaltet, siehe S. 28ff. dieser Arbeit.

Überhaupt wurden ihre Affecten bey aller Gelegenheit unterdrücket. Oflft habe ich gesehen, daß sie mitten im Weinen gantz still zu seyn, und keinen Laut von sich zu geben, ja wohl gar freundlich auszusehen gezwungen wurden. So schwer ihnen dieses angekommen; so nützlich ist es ihnen itzo geworden: indem keine einzige Leidenschaft rechte Wurtzeln bey ihnen fassen können. (Β I, 20)

Daß bei einer solch rigorosen Affektaustreibung das Gesinde geradezu perhorresziert wird, liegt auf der Hand, wenn man sieht, wie sehr Gottsched hierauf all das ablädt, was es an Bedrohlichem für eine Tugend gibt, die sich gerade in der Beherrschung der Affekte erweist: Das Gesinde bestehet aus Thieren, die von der Wiegen an, ohne alle Regeln irgend einer Sittenlehre, aufgewachsen sind: ja die durch Aberglauben, Unvernunft und die Gewalt ihrer Begierden noch viel wilder geworden sind, als sie von Natur seyn würden. 22

Daß Gottsched die Bedrohung der Tugend durch die Affekte so sehr auf das Gesinde projiziert, mag auch in psychologisch deutbaren Prozessen gründen; die Abweisung des Gesindes aus dem inneren Kreis der Familie hat aber ebenfalls eine geschichtliche Dimension. Denn wie schon bei der Bestimmung der Familie als Erziehungsinstanz zeigt auch diese Grenzziehung, wie sehr die überkommene Lebensform des »Ganzen Hauses«, in der Gottsched seine Idealfamilie leben läßt, inhaltlich neu gefüllt wird. Hierfür ist nun allerdings nicht schon die bloße Tatsache der Gesindekritik ein Indiz, sondern deren neue Stoßrichtung. Wurden üblicherweise die Faulheit und Unbotmäßigkeit, der Schlendrian und die Verlogenheit des Gesindes gebrandmarkt, 2 ' so zielt Gottscheds Kritik nicht auf die mangelnde Aufgabenerfüllung, sondern auf die Gefahr für die familiale Erziehungsgemeinschaft. Aus ihr wird das Gesinde ausgewiesen, und dies im Namen eines allgemeinen Gesetzes, 24 das die potentielle Gleichheit aller Menschen vor der Vernunft postuliert, zugleich aber diejenigen rigide ausgrenzt, die diesem Postulat faktisch nicht nachkommen können. Diese durch Ausschließung charakterisierte intensive Eltern-KindBeziehung, für die das mütterliche Stillen ein Indiz und die Abweisung zusätzlicher Bezugspersonen die Voraussetzung ist, bildet das Fundament, auf dem alle weiteren Erziehungsmaßnahmen von Sophroniskus 22

24

Gottsched: Die Vernünftigen Tadlerinnen I, 29. Stück, '1748, S. 254. Siehe hierzu Willi Flemming: Deutsche Kultur im Zeitalter des Barock, S. 222; Ernst Finder: Hamburgisches Bürgertum, S. 8of. Z u Einzelheiten dieses rationalistischen >Vernunftgesetzes< siehe S. 28ff. dieser Arbeit.

13

und Euphrosyne ruhen. Denn die Ausschaltung aller >Störeinflüsse< ermöglicht es den Eltern, sich ohne Umschweife in die genau zu registrierenden Eigentümlichkeiten ihrer Zöglinge hineinzuversetzen, um sie als Bedingungsfaktoren ihrer erzieherischen Anstrengungen zu berücksichtigen. So werden die Charaktereigenschaften, Vorlieben und Begabungen der Kinder mit größter Akribie registriert und mit einem jeweils spezifischen Erziehungsverhalten beantwortet. 2 ' Dieses empathische Verhalten der Eltern 2 ' ist jedoch nicht in dem Sinne kindzentriert, als ginge es ihnen darum, die im Kind angelegten Möglichkeiten zur vollen Wirklichkeit zu bringen, sondern es ist von der Absicht bestimmt, die Möglichkeiten des Kindes auf dem Wege über die Vermittlung mit den Normen der rationalistischen Moralphilosophie in die >Wirklichkeit der Vernunftordnung< zu überführen. So ist die Kindheit zwar etwas, was Sophroniskus und Euphrosyne ihren Kindern über eine bloße biologische Entwicklungsphase hinaus als eigenständigen Abschnitt ihrer Existenz zubilligen, Kindheit ist für sie damit aber keineswegs eine Lebensepoche, die ihren Zweck in sich selbst hat. Für Sophroniskus und Euphrosyne befinden sich ihre Kinder in einer pädagogischen Phase des Ubergangs, in der ihnen gerade durch die Freisetzung von den Zwecken und Zwängen des Alltags >Vernunft< und >Tugend< vermittelt werden sollen. Diese Vermittlung geschieht nun nicht als Zwang zur Anpassung, sondern als Motivation zur Verinnerlichung. Das zeigt sich insbesondere, wenn über Art und Funktion der Strafen gesprochen wird. Aufs schärfste wird der den Eltern vom Recht her zugebilligte 27 und in der Zeit üblicherweise auch praktizierte äußere Zwang 28 abgelehnt, da er 2

' D i e Charaktereigenschaften mit dem entsprechenden Erzieherverhalten werden vorgestellt in Β I, (Söhne) und in Β I, 25fr. (Töchter). 26 L l o y d de Mäuse: E v o l u t i o n der Kindheit, S. 1 2 - 1 1 1 , läßt die Empathie in der voll entfalteten F o r m der von ihm so genannten »Unterstützung« (S. 84f.) erst f ü r die Mitte des 20. Jahrhunderts gelten, nimmt aber auch f ü r das 18. Jahrhundert schon empathisches Elternverhalten an (S. 83 F.). 27 Wie groß die Z w a n g s w e l t der Eltern ist, wird deutlich, wenn im »Zedier« das v o n ihnen zu verhängende Strafmaß nach geringen und großen »Capital-Verbrechen« unterschieden wird: »Bey den erstem ist den Eltern zugelassen, ihre ungehorsamen K i n d e r so wohl mit Worten, als auch mit Schlägen und G e fängniß zu züchtigen, und ihre Sinne zu beugen, wohin auch zu rechnen die Macht, die K i n d e r ins Z u c h t - Raspel - oder Spinn Haus, item in die Festungen zu bringen.« »Zedier«: Art.: Haus-Wirth, Bd. 1 2 , Sp. 918. 28 Siehe hierzu Ferdinand Oerter: Die Familie, S. 8f., der betont, daß die »unmenschliche Strenge und Härte« der Väter gegenüber ihren K i n d e r n im 18. Jahrhundert »gar nicht außergewöhnlich, sondern weit eher zeitgemäß war.« Vgl. auch Michael Bacherler: Deutsche Familienerziehung, S. 2oc)f.; Gustav Stephan: Die häusliche Erziehung, S. 127fr.; Helmut Möller: Die kleinbürgerliche Familie, S. 43fr.

14

nicht die Einsicht, sondern n u r äußerliches Wohlverhalten fördere. E n t g e g e n der herrschenden A u f f a s s u n g der Z e i t gilt es nicht, den E i g e n willen eines K i n d e s mit aller Macht zu brechen/ 9 sondern ihn im E i n g e hen darauf so zu verändern, daß den K i n d e r n der F r e m d w i l l e ihrer E l tern als E i g e n w i l l e erscheint. Praktiziert w i r d derjenige Erziehungsstil, durch den an die Stelle der A u ß e n k o n t r o l l e die Selbstkontrolle tritt. S o sucht E u p h r o s y n e die Gemüther ihrer Kinder in einen rechten Stand zu setzen. Sie bemüht sich, ihren Hertzen eine solche Liebe zur Schamhafftigkeit und Zucht einzupflanzen, daß sie hernach keiner fremden Aufsicht in ihrer Aufführung benöthiget seyn mögen. Eine jede von denselben soll ihre eigene Aufseherin werden, und sich vor niemanden so sehr, als vor ihrem eigenen Gewissen fürchten, dessen Gegenwart ihr gewiß allezeit unvermeidlich seyn wird. (Β I, 37) U m diese psychische Selbststeuerung, die s o w o h l v o n den S ö h n e n als auch v o n den Töchtern g e f o r d e r t w i r d , zu erreichen, sind die elterlichen Strafen v o n besonderer E i g e n a r t . Sie w e r d e n nicht als G e w a l t erkennbar, die v o n einer überlegenen Macht herrührt, v o n der sich die K i n d e r innerlich distanzieren k ö n n e n , , c denn sie erscheinen als »Beschämung« 5 ', die die B e s t r a f u n g zur E i g e n b e s t r a f u n g u m f o r m t . E s geht u m das, was

51

Vielfach liegt diesem Verhalten die religiös bestimmte Auffassung von der angeborenen Sündhaftigkeit der Kinder zugrunde, der nur mit Gewalt beizukommen sei; siehe dazu Julius Hoffmann: Die »Hausväterliteratur« und die »Predigten über den christlichen Hausstand«, S. 151£.; diese Auffassung wird für den Pietismus beispielhaft ausgearbeitet von August Hermann Francke: Kurzer und einfaltiger Unterricht. Siehe auch das von Katharina Rutschky herausgegebene und eingeh >SchwarzbuchJungen Herrn< zum »Hoffnungsvollen Jünglinggalante< Erziehung der Zeit ausrichtet, interessiert ihn überhaupt nicht. Mit einem »philosophischen Verstand« (Β I, 21) begabt, beschäftigt er sich allein mit den unterschiedlichsten Wissensdisziplinen und hat es dazu gebracht, sich in allen »Theilefn] der Gelehrsamkeit« (Β I, 22) umfängliche Kenntnisse anzueignen. Allerdings hat ihn sein Wissen keineswegs zu Hochmut und Eitelkeit verleitet; ganz im Gegenteil - er ist geradezu ein Ausbund an Tugend: E r liebet Wahrheit und Tugend über alles; und verachtet dagegen Wollust, Stoltz, Pracht, Falschheit, Geitz und Übermuth. Schlecht und Recht ist sein Wahlspruch, den er aber mehr in der That an sich zeiget, als im Munde führet. Schmeicheln und Verstellen hält er vor was niederträchtiges, wodurch man, wie er redet, den Adel der menschlichen Natur beschimpfet. Einem jeden der ihn um etwas befraget, sagt er seine Meynung sonder Vorbehalt heraus, und hat das Hertz, seine Meynung zu behaupten, wenn sie gleich dem Fragenden unangenehm fallen sollte. Wenn dieses aber gleich geschiehet; so gefällt doch einem jeden seine Redlichkeit, womit er ohne Unterscheid Freunden und Feinden die Wahrheit saget: indem er weder an diesen das Gute tadelt; noch an jenen das Böse lobet. Ein solcher ist Aristides seinem Verstände und Willen nach. (Β I, 22) 56

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Zur elenden Lage der Hofmeister als einer sozial verachteten und materiell schlecht gestellten Gruppe von >Jungakademikern< siehe Gustav Stephan: Die häusliche Erziehung, S. 79fr.; Franz Neumann: Der Hofmeister, S. 48fr.; Ludwig Fertig: Die Hofmeister, S. 62fr. Siehe dazu Georg Steinhausen: Die Idealerziehung im Zeitalter der Perücke.

Daß der sonst eher beiläufig in Erscheinung tretende Aristides so sorgfaltig beschrieben wird, ist mehr als nur Ausdruck einer Liebe zum Detail. Denn in seiner Beschreibung schwingt durchaus ein polemischer Unterton mit. Er wird so recht erst deutlich, wenn man erkennt, wie sehr allein schon seine Charaktereigenschaften dem kontrastieren, was die Hofmeister in der Zeit gemeinhin ihren Zöglingen beizubringen haben. Nicht nur in den Hofmeisterlehren, sondern auch in den vielen anderen Lehrbüchern der Galanterie und Zeremonialwissenschaft, in den Anstandsbüchern und den Rhetoriken mit den ihnen häufig zugeordneten Komplimentierlehren' 8 geht es immer wieder um die Antwort auf die Frage, wie man gesellschaftlich erfolgreich sein kann. Und die Mittel, die dazu angegeben werden, stammen allesamt aus den Arsenalen einer Verhaltenslehre, die Verfahren und Ziel erfolgsorientierten Handelns nicht von der sachbezogenen Leistung, sondern von der adressatenbezogenen Wirkung her bestimmt. Aristides könnte für ein solches Erziehungsziel niemals ein Vorbild sein. Denn für ihn geht Wissen - anders als es ζ. B. Talander fordert nicht auf in seiner Kommunizierbarkeit, und ebenso macht er um der Wirkung willen keinerlei Abstriche am Wahrheitsgehalt seiner Rede. Damit aber steht er im genauen Gegensatz zu den Grundsätzen des Redens, die der ideale Hofmeister Talanders seinen Zöglingen beibringen soll. Diese sollen lernen, wie sie ihre Rede allein auf das Wohlwollen des Adressaten auszurichten haben. Deshalb habe der Hofmeister den Kindern kleine Komplimente von etwan zwei bis drei Zeilen öfters auffzusetzen, die sie bei vornehmen Leuten entweder zur Anrede oder sonst zur Antwort auff ' 8 Zur großen Anzahl dieser Art von Lehrbüchern heißt es bei Julius Bernhard von Rohr in seiner »Einleitung zu der Klugheit zu leben«: »Man hat von dieser Materie gantze Lastwagen voll Bücher.« (S. 587) 59 Bei Talander [August Bohse] lautet die einschlägige Stelle seiner »Vorrede« zum »Getreuen Hoffmeister« (n. p.): »Denn obschon das Studieren demjenigen, der sich darauff leget, in seinem Verstände ein grosses Licht giebt: So ist es doch mit der Gelehrsamkeit alleine nicht ausgerichtet, wenn einer nicht zugleich seine Sitten also polirei, daß er vor einen höflichen und die Conversation wohl urtheilenden Menschen passiren kan\ Zumal da der gelehrte Spanische Jesuit Gradan in der zwey und zwanzigsten Maxime seines Homme de Cour nicht unrecht urtheilet: Daß die Kunst wohl zu conversiren vielen mehr Nutzen gebracht, als alle sieben freye Künste zusammen; und daß zuweilen (wie er in einem andern Tractat, el Discreto genannt, raisonniret) wenn einer ein geschicktes Wort zu rechter Zeit in Gesellschaft vorzubringen weiß, und einen guten Brief machen kann, er dadurch mehr gewonnen hat, als mit aller Wissenschafft des Bartoli Baldi.«

geschehene Frage an sie können anbringen. [ E r solle sie diese dann; G . S.] memoriren lasse und dieselbe mit ihnen in der Studier=stube erstlich exerziere: Z u m a l , wenn der K n a b e n mehr als einer sind, da sie dann gegen einander solche mit anständiger Höflichkeit und Gebehrden sollen üben. 40

Nichts von alledem soll Aristides seinen Zöglingen beibringen. Sein Bemühen hat ihrer Verstandesausbildung und der Entfaltung ihrer Tugendhaftigkeit zu gelten; er soll ihnen allein die Wahrheit philosophischer Gedanken und die Moral wohlanständigen Verhaltens vermitteln. Deutlich markiert auch dieser Erziehungsauftrag die Grenze, die schon in der Wahl von Aristides zum Erzieher sichtbar wurde. Die noch weithin prägende Lebensform der höfisch-aristokratischen Gesellschaft ist nicht der Bereich, auf den hin sich alle erzieherischen Bemühungen auszurichten haben; und deshalb haben sich die Kinder von Sophroniskus und Euphrosyne auch nicht mit all ihrem Tun am »äußeren« oder auch »situativen aptum« 4 ' als der Summe aller erfolgsrelevanten Faktoren einer personalen Situation auszurichten, ebensowenig wie das »iudicium« 42 die hierfür auszubildende Erkenntnisinstanz ist. Allein >Vernunft< und >Tugend< sind Maßstab eines Handelns, das nicht von den faktischen Gegebenheiten gesellschaftlicher Hierarchien, sondern von den Gesetzlichkeiten eines allumfassenden Ordnungszusammenhangs bestimmt wird. (Vgl. a. Β I, 3) N u n grenzen nicht nur Art und Inhalt der Erziehung und die Wahl eines solch ungewöhnlichen Erziehers wie Aristides, sondern auch die Art und Weise, wie die Gottschedsche Idealfamilie lebt, sie aus der Sphäre einer repräsentativen Öffentlichkeit aus, die im Hof ihr eigentliches Orientierungszentrum hat. Die Grenzlinien werden dabei wiederum mit aller Sorgfalt gezogen. So dient das Haus der Familie des Sophroniskus nicht der Zurschaustellung des eigenen Ranges und der Zelebration großer Gesellschaften, 4 ' sondern ist in seiner Solidität ganz auf die Bequemlichkeit der in ihm Wohnenden zugeschnitten (s. Β I, 6); so sind die Mahlzeiten zwar sättigend und schmackhaft, aber jenseits jeder Üppig40 41

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4J

20

Talander: D e r getreue Hoffmeister, § 4 3 , S. 29F. Siehe dazu Volker Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat, S. 66ff. Siehe hierzu die zeitgenössische Definition v o n J o h a n n Christian Barth: Galante Ethica, § 9, n. p., der den »galant H o m m e v o r eine Creatur« bestimmt, die »1. Z e i t , Ort und Personen judiciren [soll], damit er II. Sich manierlich in Wercken, und III. Galant in Worten aufzuführen wisse.« Allgemein zum »iudicium« siehe Gotthard Frühsorge: »Der politische K ö r p e r « , Kapitel I: »Bürgerliche Klugheit«, S. 10-58; bes. S. 24-27 und S. 5 1 - 5 5 . Z u dieser Funktion des »Hauses« siehe Norbert Elias: D i e höfische Gesellschaft, S. 8 ; .

keit und jedes Raffinements höfischer Prunkessen (s. Β I, 8, 2o, 127). D i e K l e i d u n g der Gottschedschen Idealfamilie ist einfach und bequem, nicht aufgeputzt wie bei den jungen Kavalieren (s. Β II, 5f.), 44 ihre kleinen Geselligkeiten werden nicht v o n Etikette und Zeremoniell geregelt - so kommt die Tischordnung nicht gemäß des Ranges, sondern durch freie Wahl zustande (s. Β I, 126) - , die Gespräche sind frei v o n hohlen K o m plimenten, und gegen die formvollendete Verstellung (s. Β I, i j ι ) wird der natürliche Ausdruck als Garant herzlicher Z u n e i g u n g proklamiert (s. Β I I , 158). D a s alles mag zunächst als bloße N e g a t i o n einer höfisch-aristokratisch geprägten Lebenswelt mit ihrem durch Zeremoniell und Etikette geprägten Verhalten, mit ihren ostensiblen F o r m e n des L u x u s und mit ihren an Prestige und G u n s t e r w e r b ausgerichteten Verhaltensweisen erscheinen. U n d in gewisser Weise ist es das auch, wenn Gottsched sich zur Gestaltung seiner Idealfamilie des Darstellungsprinzips ex negatione bedient. Denn das Bild, das Gottsched v o n ihr zeichnet, entwirft er auch als G e g e n b i l d zu einer höfischen Welt, in der der v o n ihm porträtierte Herr Chamaeleon, dessen redender N a m e schon auf seine Gewandtheit im Anpassen an vorgegebene Situationen verweist, so überaus erfolgreich ist. Dieser ist effektsicher im Auftreten, er beherrscht die Techniken der Insinuation v o l l k o m m e n , seine A f f e k t e setzt er strategisch ein, und präzise und voller A r g w o h n beobachtet er die Menschen, u m deren Schwächen f ü r seinen Vorteil ausnutzen zu können (s. Β I, 1 3 1 ) , 4 ' während die Mitglieder der Familie des Sophroniskus offen, ehrlich, frei v o n äußeren Z w ä n g e n , desinteressiert an Macht, E h r e und Reichtum ein beschauliches Landleben in betonter Solidität führen. Sie haben alles, was sie begehren, und sie begehren nichts, was sie nicht schon haben.

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45

Siehe auch Gottscheds Polemik gegen eine Kleiderordnung, die Aussehen mit Status koppelt (s. Β I, 1 ; 9f.). Daß Gottscheds Polemik einen realen Hintergrund hat, wird deutlich, wenn man sich die Leip2iger Kleiderordnung vor Augen hält, die den vier voneinander unterschiedenen Ständen den erlaubten Kleideraufwand vorschreibt. Siehe dazu Wolfgang Zorn: Sozialgeschichte 1648-1800, S. 580. Zur Funktionalisierung der Kleiderordnung für die ständische Abgrenzung siehe Liselotte C. Eisenbart: Kleiderordnungen. In den Schriften von Baltasar Gracián, bes. in seinem »Oráculo manual y arte de prudencia« (1647), ist dieses Bild eines Menschen vorgezeichnet, der im anderen prinzipiell nicht den Mitmenschen, sondern den Gegner sieht, den man mit aller Raffinesse zum Vehikel des eigenen Erfolges zu machen habe. In Christian Thomasius und Christian Weise findet diese Idee eines >politischen< Verhaltens - allerdings stärker christlich abgemildert - ihre wirkungsmächtigen Vertreter in Deutschland. 21

Offensichtlich ist, daß sich Gottsched hier zur Abgrenzung seiner Idealfamilie einer seit Jahrhunderten eingeschliffenen topischen Argumentation bedient, in der dem Hofleben das Leben auf dem Lande als positi vierter Kontrast gegenübergestellt wird. 46 Doch bei aller Übereinstimmung mit den Vorgaben der Tradition zeigt sich auch hier wiederum Gottscheds modifizierender Zugriff. Denn während im überkommenen Hof-Land-Topos gemeinhin bei aller gegenüber dem Hofleben ex negativo vollzogenen Positivierung des Landlebens der Rückzug vom Hof letztlich für die Flucht aus der Welt überhaupt steht, und - besonders in Verbindung mit dem barocken vanitas-Motiv47 — asketische Weltverneinung zu einem der Grundzüge des Topos wird, 4 ' verändert Gottsched das übernommene Argumentationsmuster auf charakteristische Weise. Das Landgut der Familie des Sophroniskus ist ihm nicht das Refugium der asketischen Verneinung einer Welt, die im Hof ihr Sinnbild findet,49 sondern der genuine Lebensbereich seiner an Wohlanständigkeit, Auskömmlichkeit und Nützlichkeit ausgerichteten, diesseits-orientierten und lebensbejahenden Bewohner.' 0 Daß die Idealfamilie Gottscheds nicht als bloße Negation der höfischaristokratischen Lebenswelt erscheint, sondern als ein Gegenentwurf, gründet letztlich in dem veränderten Menschenbild, das Gottsched dieser Familienordnung zugrundelegt, wenn er Erziehung zu ihrem eigentlichen Zweck erhebt. Denn was den Wert des Menschen ausmacht, basiert ausschließlich auf ihr: das ist die Perspektive, unter der allein die Kinder der Familie des Sophroniskus in den Blick kommen. Sie erscheinen nicht 46

Z u diesem Topos allgemein siehe Claus Uhlig: Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance; Helmuth Kiesel: »Bei Hof, bei Holl«. Im »Bayle« nimmt Gottsched selbst auf einen Hauptvertreter dieser Tradition, auf Fray Antonio de Guevara, allerdings unter einer mehr stilkritischen Perspektive, Bezug; siehe Herrn Peter Baylens Historisches und Critisches Wörterbuch, Bd. 2, S. 674. 47 Siehe dazu Ferdinand van Ingen: Vanitas und Memento mori in der deutschen Barocklyrik. 48 Dies verdeutlicht schon die formale Anlage des Werkes von Fray Antonio de Guevara: Menosprecio de corte y alabanza de aldea. Gerade in den begrenzenden Kapiteln I und X X wird die asketische Weltverneinung als Reflex der elenden Lage des Menschen in der scheinhaften Welt geschildert. Vgl. dazu Claus Uhlig: Hofkritik, S. 246. 49 Siehe dazu das Kapitel »Der Hof als vollkommenes Abbild des >theatrum mundi«< bei Wilfried Barner: Barockrhetorik, S. ιιγίΓ. >° Siehe auch Burghard Dedner: Vom Schäferleben zur Agrarwissenschaft, der das Motiv des Landlebens im 18. Jahrhundert untersucht und eine fortschreitende »Emanzipation des Motivs vom höfischen Kategoriensystem« konstatiert. (S. 350) Ähnlich auch Anke-Marie Lohmeier: Beatus ille, S. 4x4fr. 22

als Abkömmlinge eines adligen Geschlechts, sondern einzig als Erziehungsprodukte vorbildlicher Eltern. Dabei verblassen angesichts von >Vernunft< und >Tugend< als den höchsten Leitwerten ihrer Erziehung Name, Rang, Herkunft und auch Besitz und die damit verbundenen Privilegien zu bloßen Nichtigkeiten, die nicht den wahren Wert des Menschen ausmachen. Doch auch wenn hierdurch der feudalen Welt, in der Geburt fast alles ist, die Legitimationsbasis entzogen wird, so hegen die Mitglieder der Gottschedschen Idealfamilie nicht einmal im Ansatz umstürzlerische Gedanken. Die scharfe Kritik von Sophroniskus an dem ihn umgebenden Adel, der seinen Rang durch nichts anderes als durch seine Abstammung rechtfertige, bleibt rein moralisch: Ein sehr ungegründeter Hochmuth und fast unerträglicher Stoltz ist allen denen wie angebohren, die sich weder durch den Degen, noch durch die Feder eigene Verdienste zuwege gebracht. [. . .] Ihr gantzer Vorzug, den sie vor andern Leuten haben, gründet sich auf ihr Geschlecht. (Β II, 29) Sophroniskus kann einem Adligen, »von dem ich weiter nichts als seine sechzehn Ahnen erzehlen höre« (Β II, 30), keinerlei Wertschätzung entgegenbringen. Denn für ihn begründen allein persönlich zurechenbare Eigenschaften, die er bezeichnenderweise »Verdienste« nennt, und zu denen er »Verstand, Gelehrsamkeit, Klugheit, Redlichkeit, Mäßigkeit, Wohlthätigkeit und Tapferkeit« zählt (Β II, 30), den »Adel der menschlichen Natur« (Β I, 22)." Tugendadel statt Geburtsadel: das ist die Devise, unter der dann im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts breite Teile der literarischen Intelligenz antreten;' 2 und in Sophroniskus erfindet Gottsched einen ihrer frühen Vertreter, f ü r den nicht gilt, von wem einer abstammt, sondern was einer geworden ist. Doch ist diese Haltung, die den sittlichen Adel über den ständischen stellt, auf den ersten Blick so neu nicht, wie die '' Daß dies auch Gottscheds Auffassung ist, demonstriert sehr nachdrücklich seine »Lob- und Gedächtnißrede auf den Vater der deutschen Dichtkunst, Martin Opitzen von Boberfeld«. Dort heißt es an bezeichnender Stelle: »Man verehret zwar billig alle die berühmten Geschlechter, deren Stammtafeln fast eine unzertrennte Kette großer Leute darstellen; wo man fast eben so viel Helden, als Ahnen, zählet, und die Lorberreiser zu hunderten rechnen kann, die ihre Bilder und Helme vormals gekrönet haben. Allein, es bedünkt mich allemal viel rühmlicher zu seyn, wenn ein edler Sohn seine unberühmten Aeltern adelt, und denjenigen Stamm, so zu reden, krönet, dem er seine Geburt zu danken hat: als wenn sich ein fauler Ast mit denen Früchten breit machet, die andre fruchtbare Zweige seines Baumes getragen haben.« Gottsched: Ausgew. Werke, Bd. IX/i, S. 156-192, S. 164. ,z Siehe hierzu Jochen Schulte-Sasse: Literarische Struktur und historisch-sozialer Kontext, bes. S. zzft.

2}

E m p h a s e vermuten läßt, mit der Gottsched dieses P r o g r a m m zur moralischen Subversion ständischer Hierarchien verkünden läßt. D e n n seit der A n t i k e ist das Verhältnis v o n G e b u r t s - und Tugendadel ein geläufiges

T h e m a , das in den unterschiedlichsten K o n t e x t e n immer wieder

a u f g e g r i f f e n wird. D o c h auch diesmal greift Gottsched nicht nur schlicht die Traditionsbestände auf, wie sie das Barock ihm offeriert. D e n n anders als im 1 7 . Jahrhundert vielfach üblich, zielt er mit seiner B e t o n u n g eines A d e l s , der in persönlich zurechenbaren Eigenschaften gründet, nicht auf den Stand der »nobilitas literaria«, der als höchster Bürgerstand an den Privilegien des A d e l s partizipierte" - ganz im Gegenteil: ihm geht es nicht u m die Anerkennung v o n Gelehrsamkeit als

statuserhöhendes

M e r k m a l , sondern u m eine U m w e r t u n g gesellschaftlich geltender Wertmaßstäbe. Im selektiven Rückgriff auf Vorstellungen, wie sie sich z. B. im 16. Jahrhundert in Wickrams frühbürgerlichem R o m a n » D e r J u n g e n Knaben

Spiegel« ( 1 5 5 4 ) artikulieren,' 4 erhebt er >Tugend< und >Ver-

nunft< zu den Geltungskriterien allgemeiner Wertschätzung. Und da >Tugend< und >Vernunft< für Gottsched allein E r g e b n i s einer gelungenen E r z i e h u n g sind, so ist die Schlußfolgerung ganz konsequent: Erziehung statt G e b u r t - das ist die rechte Überzeugung, die er Sophroniskus mit auf den Weg gibt, so daß dieser nicht darauf pocht, a u f g r u n d m o r a l i schen Qualitäten adelsgleich zu sein, sondern als A d l i g e r alle Adligen einem >moralischen< Bewertungsmaßstab unterwirft. Eines der großen Themen des 18. Jahrhunderts klingt an. Reinhart K o s e l l e c k hat es als »das Moralische, das danach trachtet, politisch zu w e r d e n « bezeichnet," und J ü r g e n Habermas hat ihm sekundiert, wenn er auf die Familie als den Ort dieser im Privaten sich entfaltenden M o ralität a u f m e r k s a m macht. , 6 Gottscheds Idealfamilie ist hierfür ein Beleg; und sie ist zugleich weniger und mehr als das. Weniger, weil sie als Fiktion ein bloßer E n t w u r f mit A u f f o r d e r u n g s c h a r a k t e r zur Nachahm u n g ist, und mehr, weil durch sie anschaulich wird, wie gerade in der M o d i f i k a t i o n des Überlieferten sich der Status der Familie des Sophroniskus verändert. S o ist sie zwar noch eingebunden in den R a h m e n des ' 3 Siehe dazu Erich Trunz: Der deutsche Späthumanismus, S. i5of., der die Privilegien der »nobilitas literaria« im einzelnen aufführt. Allgemein zum Problem der Integrationsbestrebungen »Bürgerlicher« mittels der Gelehrsamkeit siehe Volker Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat, S. 228ff.; vgl. auch Conrad Wiedemann: Barockdichtung in Deutschland, bes. S. 183. ,4 Siehe hierzu Harald Fricke: Norm und Abweichung, S. 2}off. " Reinhart Koselleck: Kritik und Krise, S. 31. 56 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 55fr.

24

»Ganzen Hauses« - doch thematisch gereinigt von Problemen der Arbeitswelt, handlungsmäßig entlastet von der Sorge um die Nahrung und kommunikativ aufgewertet in der Zentrierung auf die kindliche Erziehung, ist sie als exklusiver Erziehungsraum genau das nicht mehr, was ihr äußerer Rahmen eigentlich vorgibt: die den Wechsel der Generationen überdauernde Einheit von Produktion und Konsumption, in der die Kinder nur das wiederholen, was die Eltern ihnen vorgemacht haben." Diesen Wandel zeigt schon die Eheschließung von Sophroniskus und Euphrosyne. Denn sie ist ja kein Akt bloßer Reproduktion der alten Familienordnung; sie steht nicht im Zeichen des Herkömmlichen als Verpflichtung zu dessen Tradierung, sondern im Zeichen der >Vernunft< als Verpflichtung zu deren Vermittlung. Und besonders deutlich wird dieser Wandel, wenn die Kinder das Elternhaus verlassen. Nicht was die Eltern sind, sollen die Kinder auch werden, sondern sie sollen als » M ü n dige«' 8 am Leitfaden von >Vernunft< und >Tugend< das ihnen gemäße Tätigkeitsfeld finden. Nicht als Erben, sondern als künftige Leistungsträger für den Staat oder als Erzieher kommen die Kinder in den Blick. Es gibt überhaupt nur diese zwei relevanten Aufgabenfelder: ein Amt in der Gesellschaft oder die Erziehung der zukünftigen Inhaber dieses Amtes: Denn ich halte davor, daß nach der redlichen Verwaltung wichtiger Aemter in der Republic, nichts edlers und riihmlichers sey, als die Vorbereitung solcher Leute, die dermahleins dem gemeinen Wesen, durch ihre Klugheit und Redlichkeit, zu statten kommen werden. (Β I, 24)

Doch was ist das für eine »Republic«, für die die Kinder erzogen werden? Zweifellos ist es nicht die faktische Gesellschaftsordnung. Die Abgrenzung gegen eine an den Normen und Werten der herrschenden gesellschaftlichen Elite ausgerichtete >galante< Erziehung ist ja ganz strikt. In Gottscheds rhetorischer Frage »Wodurch kommen Republiken em57

,8

Generell zum veränderten Verhältnis zwischen Eltern und Kindern aufgrund des Kontinuitätsbruchs mit der Welt überlieferter Gewohnheiten, durch den die >Welt< der Erwachsenen für die Kinder nicht mehr durch Anschauung und Nachahmung konkret erfahrbar ist, siehe Jan Hendrik van den Berg: Metabletica, S. 4 5 ff. Römische Rechtsvorstellungen aufgreifend, heißt es dazu ganz lapidar in Gottscheds »Weltweisheit«, Praktischer Teil, S. 225f. ( = Ausgew. Werke Bd. V/2): »So lange nun die Kinder noch einer fremden Anleitung in ihrem Thun und Lassen nöthig haben, und sich selbst nicht versorgen können, so werden sie minderjährig genennet. So bald sie aber sich selbst zu versorgen und zu regieren wissen, nennet man sie mündig. Jene stehen unter der väterlichen Gewalt, diese aber nicht mehr.« 25

por, als durch eine gute; und wodurch gehen sie wieder zu Grunde als durch eine schlimme Kinder=Zucht?«", deutet sich schon das gegenüber der >galanten< Erziehung veränderte Verhältnis zur Gesellschaft an. Diese erscheint nicht mehr als fraglos akzeptierte Vorgegebenheit, an der sich die Erziehung auszurichten hat, sondern umgekehrt: Erziehung wird zum entscheidenden Motor gesellschaftlicher Prozesse bestimmt. Das alles hat seinen spezifischen Hintergrund. Er ist aufzuhellen, nicht nur, um das Verhältnis von Erziehung, Familie und Gesellschaft genauer zu erfassen, sondern auch um das organisierende Prinzip zu erkennen, nach dem Gottsched Traditionsbestände aufgreift, modifiziert und zu einem neuen Familienbild zusammenfügt. Dabei ist zunächst noch einmal zu unterstreichen, daß fast alle Bestimmungsmerkmale, mit denen Gottsched die Familie des Sophroniskus ausstattet, ihre Wurzeln in älteren Auffassungen haben. Die Elemente seiner Polemik gegen den vom Zwang zur Repräsentation diktierten Lebenszuschnitt des Adels entnimmt er den Toposarsenalen traditioneller Hofkritik; seine Schilderung des ländlichen Lebens der Familie steht in der alten Tradition der »laus ruris«; der Auffassung, daß das Übel in der schlechten Erziehung gründet, gaben schon humanistische Autoren der Renaissance Ausdruck; Anstrengungen zur Beförderung der weiblichen Bildung unternahm schon Fénelon; bereits in Lockes Erziehungskonzept finden sich ähnliche Gedanken zur Knabenerziehung; Gottscheds Propagierung des Selbststillens setzt fort, was schon von Plutarch gefordert wurde; seine Kritik am Gesinde verstärkt den vielstimmigen Chor derjenigen, die im Verhalten von Dienern, Knechten und Mägden den Ruin des »Hauses« beschwören; seine Rehabilitierung des Hauslehrerstandes knüpft an Bemühungen an, die schon in der Antike zu beobachten sind, und auch seine Rede vom Adel des Geistes und der Tugend hat dort ihren Ursprungsort. Wenn man dies alles in den Blick nimmt, scheint sich die Frage nach dem spezifischen Hintergrund eigentlich zu erübrigen. Eklektizismus wäre die zutreffende Antwort bei einem Denker, der in dem, was er zum Bild seiner fiktiven Familie zusammenfügt, keineswegs originell ist. Doch auch diesmal bliebe das von Norbert Elias süffisant beschriebene akademische Gesellschaftsspiel, »bei dem derjenige den Preis gewinnt, der in einem Buch ein Zitat findet, das nachweisbar eine bestimmte Idee früher zum Ausdruck bringt als es bisher von den anderen Spielteilnehmern auf Grund der von ihnen zitierten Bücher angenommen wurde,« 6 " ein müßiges Spiel, wenn nicht die spezifische Funktionalität der aufge59 60

26

Gottsched: Die Vernünftigen Tadlerinnen II, 43. Stück, '1727, S. 341. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 345.

griffenen Ideen bedacht würde. D e n n mit dem bloßen Verweis auf die Traditionsbestände ist ja die Frage, nach welchem Gesichtspunkt Gottsched auswählt, modifiziert und zusammenfügt, nicht beantwortet. 6 ' Und eine A n t w o r t ist nötig, denn die v o n ihm benutzten einzelnen Elemente seines Familienbildes

stammen aus den unterschiedlichsten

Verwen-

dungskontexten, so daß ihnen v o n daher noch kein einheitliches Prinzip ihrer V e r k n ü p f u n g mitgegeben war.

6l

Gottsched selbst hat wiederholt betont, wie sehr es auf die kritische Überprüfung der Überlieferung ankommt. So schreibt er in seiner »Weltweisheit«: »Die W i s s e n s c h a f t ist ein gründliches Erkenntniß eines Dinges; oder die Fertigkeit des Verstandes, alles, was man behauptet, unwidersprechlich darzuthun. Ein Weltweiser ist also nicht mit einer bloßen Wahrscheinlichkeit seiner Lehren zufrieden; sondern er strebet allezeit nach dem größten Grade der Gewißheit. Daher gründet man auch die wahre Weltweisheit, nicht auf die ungewissen Meynungen neuer oder alter Weltweisen; sondern auf die gründlichsten Vernunftschlüsse, und auf ungezweifelte Erfahrungen, daraus man ihre Lehren ganz augenscheinlich erweisen kann.« Gottsched: Weltweisheit, Theoretischer Teil ( = Ausgew. Werke Bd. V / i ) S. 123 (im folgenden abgekürzt als WW I); Praktischer Teil ( = Ausgew. Werke Bd. V/2, im folgenden abgekürzt als W W I I ) ; siehe auch die Vorrede zur 1. Aufl. seiner »Critischen Dichtkunst«, Anderer Besonderer Theil ( = Ausgew. Werke Bd. VI/2), S. 394fr., bes. S. 395 (im folgenden abgekürzt als C D II); Erster allgemeiner Theil ( = Ausgew. Werke Bd. VI/i, im folgenden abgekürzt als C D I). 2

7

II.

D E R A U T O R ALS ERZIEHER

Gottscheds Universalisierung des familialen Erziehungsverhältnisses Die moralphilosophische Basis, auf der Gottscheds Konzeption der Idealfamilie beruht, bildet zweifellos die Wolffsche Philosophie. Deren Kenntnis war für ihn - wie er selbst berichtet - von geradezu lebensbestimmender Bedeutung.' Die Wolffsche Philosophie hat nicht nur sein ganzes Denken geprägt, sondern auch alle seine verschiedenen Aktivitäten - angefangen von seiner frühen Tätigkeit als Erzieher über seine vielfaltigen >volkspädagogischen< Unternehmungen bis hin zu seinem Bemühen, die Literatur theoretisch neu zu fundieren und praktisch neu zu formieren. Auch die Gesichtspunkte, nach denen Gottsched für seine Idealfamilie auswählt und modifiziert, was die Überlieferung an geeignetem >Material< bereithält, haben in der Philosophie Wolffs ihren Bezugspunkt. Die Familie als der exklusive Erziehungsraum zur Ausbildung der Vernunft: das ist die in die pädagogische Konkretion gewendete rationalistische Moralphilosophie Wolffs. So wie die Familie des Sophroniskus muß eine Familie aussehen, in der >Vernunft< und >Tugend< zu den Leitlinien eines Verhaltens werden, das den umgreifenden Ordnungszusammenhang der Welt, wie ihn Wolff deduziert, zur Orientierungsinstanz wählt. In seiner »Weltweisheit«, mit der er zentrale Gedanken Wolffs auf eingängige Weise zu popularisieren sucht, liefert Gottsched nicht nur die Begründung für diese Leitlinien der Erziehung nach, sondern er führt auch aus, wie die Erziehung angelegt sein muß, um ihr Ziel zu erreichen. Dies alles läuft ab in der Art der von Wolff penetrant bis zum kleinsten argumentativen Schritt durchgeführten sogenannten mathematischen Methoden* An den Anfang seiner Beweiskette, mit der Gottsched 1

2

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Im Rückblick auf seinen geistigen Werdegang heißt es dazu bei Gottsched: »Ich lernte [. . .] Herrn Hofrath Wolfs Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen kennen. Hier gieng mirs nun wie einem, der aus einem wilden Meere wiederwärtiger Meynungen in einen sichern Hafen einläuft und nach vielem Wallen und Schweben, endlich auf ein festes Land zu stehen kommt. Hier fand ich diejenige Gewißheit, so ich vorhin allenthalben vergeblich gesucht hatte.« Gottsched: »Vorrede« zu: Erste Gründe der Gesamten Weltweisheit, Erster, Theoretischer Theil, Leipzig 1755, n. p. Siehe dazu Wolffs Rechtfertigung des von Spinoza her überlieferten Beweisganges >more geometrico< in: Christian Wolff: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften, S. 52fr. Zu Gottscheds Bezugnahme auf diese »mathematische Lehrart« und deren Illustration am Beispiel der Komödie siehe WW I, 1 9 3 f r .

seine »Weltweisheit« beginnt, stellt er den angeborenen Trieb des Menschen nach G l ü c k , ' und am E n d e kommt die Familie als Erziehungsinstitution zur Vernunftausbildung heraus. 4 A l l e Menschen wollen glücklich werden (s. W W II, io4f.): in Übereinstimmung mit älteren eudämonistischen A u f f a s s u n g e n ist dies f ü r Gottsched zweifelsfrei, und so zielen seine Überlegungen nur noch darauf, wie der einzelne dies bewerkstelligen kann. Auch hier hat Gottsched eine sichere A n t w o r t parat, die schon Wolff formulierte: Vernunftausbildung ist der K ö n i g s w e g zum Glück. D e n n allein die Vernunft ist es, die dem Menschen die rechte Einsicht in das ermöglicht, was f ü r ihn gut ist. E r s t die Deutlichkeit ihrer Begriffe 5 setzt ihn in die L a g e , »ein Scheingut [ . . . ] , das nur ein kurzes Vergnügen giebt, hernach aber viel M i s v e r g n ü g e n nach sich zieht« ( W W I I , IIO) v o n einem »Scheinübel« zu unterscheiden. I m Prinzip ist damit ein jeder f ü r sein Glück selbst verantwortlich; sollte er nicht glücklich werden, so liegt dies nicht an den äußeren Umständen, sondern am Zustand seines Verstandes, der nicht zur Deutlichkeit der Begriffe aufgestiegen ist. D e r Unglückliche wird v o n den »niederen Seelenvermögen« der »Einbildungskraft« und der »Sinne« beherrscht. Sie führen ihn auf 3

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Gottsched beginnt seine umfangreiche »Weltweisheit« mit dem Satz: »Die Weisheit überhaupt ist eine Wissenschaft der Glückseeligkeit.« (WW I, 1 2 1 ; siehe auch WW 1, 627) Auch im »Biedermann« wird dieses Streben nach Glück als das bestimmende Handlungsmotiv hervorgehoben: »Die Begierde glücklich zu werden« - heißt es dort - »ist unserem Wesen so fest eingepräget, daß man ihr nicht wiederstehen kan: Ja man muß ihr nicht wiederstehen; sondern sie auf alle Weise befördern. Sie ist gleichsam die einzige Feder, die das gantze Menschliche Geschlecht in Bewegung setzet, und einen jeden ins besondere treibet, das Gute zu thun und das Böse zu lassen. Sie ist der sicherste Grund der gantzen Sittenlehre: denn was würden doch wohl vor Mittel übrig bleiben, uns zur Tugend zu leiten und von den Lastern abzuhalten; wenn es uns gleichviel wäre, ob wir glücklich oder unglücklich würden?« ( B 1, 5 ) Siehe WW II, 2 3 5 f f . und WW II, 4 4 7 f f . Wie wichtig Gottsched seine Überlegungen zur Kindererziehung sind, verdeutlicht seine Reaktion auf ein diesbezügliches Lob, die seine Frau in einem Brief vom 19. 12.1753 der Frau von Runckel mitteilt: »Ich bin ebenfalls Ihrer Meynung, daß der praktische Theil von Gottscheds ersten Gründen der Weltweisheit der beste ist. Der Verfasser ist mit dem Beyfall, den dieses Werk gefunden, sehr zufrieden, und doppelt vergnügt, daß Sie seinen theoretischen Entwurf von der Kinderzucht so viel Lob beylegen.« Louise Adelgunde Victorie Gottsched: Briefe, 2. Theil, S. 166-168, S. 166. Zur Abstufung der Begriffe und Erkenntnisgrade von »dunkel« über »klar« bis »deutlich« und den zusätzlichen Modifikationen siehe Gottsched: WW I, i j j f f . Diese Abstufung geht zurück auf Gottfried Wilhelm Leibniz: Meditationes de Cognitione veritate et ideis. 29

den falschen Weg, indem sie ihm als Glücksverheißung etwas vorgaukeln, was der Verstand kraft der Deutlichkeit seiner Begriffe als Täuschung durchschaut hätte, wäre er nur schon ausreichend entwickelt. N i c h t s fällt uns, in A u s ü b u n g des G u t e n und U n t e r l a s s u n g des B ö s e n , so h i n d e r l i c h , als die Sinne und die E i n b i l d u n g s k r a f t . Denn jene verleiten uns gemeiniglich zu verkehrten Urtheilen vom Guten und Bösen, indem sie uns die Scheingüter und Scheinübel als wahre vorstellen. [. . .] Diese aber erinnert uns bey gegenwärtigen Dingen gar zu sehr derjenigen sinnlichen Lust, oder desjenigen Verdrusses, die wir sonst davon haben, und ersticket also ebenfalls in uns die vernünftigen Betrachtungen, so wir sonst darüber anstellen würden. (WW II, 117; s. a. WW II, joof.) Verstandesausbildung, die verhindert, daß die »vernünftigen Betrachtungen« als rechter Weg zum Glück blockiert werden, liegt folglich im wohlverstandenen Interesse eines jeden einzelnen (s. W W II, 299^). Wie dabei vorzugehen ist, ist für Gottsched zweifelsfrei. E s gilt, den Verstand so auszubilden, daß er in seinen deutlichen Vorstellungen des G u ten nicht mehr durch die miederen SeelenvermögenVemunftnatur< 15 im Medium der Literatur reproduziert werden; und zum anderen gilt es - um der Wirkung willen - , an die Erfahrungswelt des Rezipienten anzuknüpfen. In der Terminologie der Zeit sind es >VernunftwahrheitenTatsachenwahrheitenanalytisch< - >synthetisch< zielt sie allerdings bei diesem auf den Gegensatz von >logisch< vs. >empirischVernunftwahrheiten< aber nicht inhaltlich gefüllte moralische Wahrheiten. Siehe G o t t f r i e d Wilhelm Leibniz: Les principes de la Philosophie ou la Monadologie·

Siehe W W II, 88: »Was an sich selbst böse oder gut ist, das ist vermöge seines Wesens, gut oder böse. Das Wesen der D i n g e aber ist unveränderlich und ewig. K a n n nun eine böse Handlung dergestalt niemals gut, und eine gute niemals böse werden: so wird auch das Gesetz der Natur jene niemals anbefehlen, und diese niemals verbieten können; das heißt: das Gesetze der Natur w i r d unveränderlich und ewig seyn.« '* Wenn im folgenden von »Wahrscheinlichkeit« die Rede ist, dann im Sinne einer rezeptionsorientierten »Glaublichkeit«, die ihren Bezugspunkt im Alltagswissen des Rezipienten hat. D a v o n zu unterscheiden ist das, was G o t t sched ebenfalls mit dem Terminus »Wahrscheinlichkeit« belegt, wenn er die durch N a c h a h m u n g der »Vernunftnatur« gesicherte immanente Widerspruchsfreiheit von Dichtung meint.

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E s ist wahr, daß zu Homers Zeiten, die Lehre v o n G o t t noch in dicken Finsternissen gestecket hat. Die Philosophen hatten sich noch nicht auf die Untersuchung der göttlichen Natur geleget: und von einer Offenbarung wußte man nichts. Was uns also heute zu Tage sehr unwahrscheinlich v o r k ö m m t , das konnte damals dem Volke sehr wahrscheinlich klingen. ( C D I, 259)

Da aber jetzt die »Welt [. . .] viel aufgeklärter als vor etlichen Jahrhunderten« (CD I, 2 38f.) ist, muß all das, was nach dem entwickelteren zeitgenössischen Wissensstand nicht »auch glaublich herauskommen« (CD I, 255) kann, aus der Dichtung verbannt werden, es sei denn, das eigentlich >Unglaubliche< — wie insbesondere die äsopischen Fabeln (s. C D I, 205) - werde durch eine vorgeschaltete >Erklärung< gleichsam >verglaublichtEinkleidungen< des »moralischen

Lehrsatzes«

»falsch« sind: aus wirkungsästhetischen Gründen dürfen sie auf keinen Fall - wie Gottsched immer wieder betont und wie es dann auch ins Lexikonwissen der Zeit eingeht

24

unwahrscheinlich sein. Viele der

manchmal sehr ins einzelne gehenden Bestimmungen Gottscheds haben in diesem Postulat ihren gemeinsamen Hintergrund. Harlekin und Scaramutz werden v o n der Bühne >vertriebenmoralischen Unwahrheit^ 2 7 sondern auch wegen

ihrer

hochgradigen Unwahrscheinlichkeit. Denn

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27

Siehe »Zedier«: Art.: Schau-Spiel, Bd. 34, Sp. 1040: »Die Wahrscheinlichkeit muß durchgehends in einem Schauspiel herrschen. Denn sonst wird in den Zuschauern nicht das geringste gewürcket. Wenn der Mensch nicht siehet, wie es zugegangen, daß dieses oder jenes geschehen, so glaubet er nicht, oder bleibet doch in einem grossen Zweifel; Wo er aber in der Handlung den Zusammenhang der Würckung mit der Ursache, so zu reden mit seinen eigenen Augen entdecken kan, so wird er davon überführet, und machet aus dem Exempel oder an dessen Statt aus der Fabel ein Muster, nach welchem er seine Handlungen entweder anders, oder eben so klug einrichten will.« Zu Gottscheds praktischen Versuchen, die Kostümtreue auf deutschen Bühnen durchzusetzen, siehe Sybille Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert, S. 54fr. Zu Gottscheds Kampf gegen die Oper allgemein siehe Alfred R. Neumann: Gottsched versus the Opera; Joachim Birke: Gottsched's Opera Criticism; John D. Lindberg: Gottsched gegen die Oper. Im »Biedermann« kritisiert Gottsched des öfteren den schädlichen Einfluß der Opern auf die Sitten der Zuschauer; siehe insbes. Β II, 138fr. und Β II, 177fr. 39

die Leute [der Oper; G . S.] denken, reden und handeln ganz anders, als man im gemeinen Leben thut: und man würde für närrisch angesehen werden, wenn man im geringsten Stücke so lebte, als es uns die Opern vorstellen. [. . .] Ich schweige noch der seltsamen Vereinbarung der Musik, mit allen Worten der Redenden. Sie sprechen nicht mehr, wie es die Natur ihrer Kehle, die Gewohnheit des Landes, die Art der Gemüthsbewegungen und der Sachen, davon gehandelt wird, erfordert: sondern sie dehnen, erheben, und vertiefen ihre Töne nach den Phantasien eines andern. Sie lachen und weinen, husten und schnupfen nach Noten. Sie schelten und klagen nach dem Tacte; und wenn sie sich aus Verzweifelung das Leben nehmen, so verschieben sie ihre heldenmäßige That so lange, bis sie ihre Triller ausgeschlagen haben. Wo ist das Vorbild dieser Nachahmungen? Wo ist die Natur, mit der diese Fabeln eine Aehnlichkeit haben? (CD II, jóóf.)

Da sich die Antworten auf diese Fragen von selbst zu verstehen scheinen, ist für Gottsched die Oper auf jeden Fall zu verdammen. Denn das, was auf ihrer Bühne geschieht, hat mit dem von Gottsched so häufig und auch in diesem Zusammenhang wiederum nachdrücklich apostrophierten »gemeinen Leben«, das es in moralischer Absicht nachzuahmen gilt, nicht das geringste zu tun - und folglich kann die Oper die moraldidaktische Aufgabe nicht erfüllen, die Gottsched der Literatur insgesamt stellt. Eigentlich aber müßte er nun bei seiner durchgängigen Hervorhebung des »gemeinen Lebens« als der bestimmenden Bezugsinstanz einer Dichtung, die die Aufgabe hat, den intellektuell Ungeschulten die Zusammenhänge der >moralischen< Welt auf anschauliche Weise zu präsentieren, auch die überkommene Tragödienform mit der ständischen Exklusivität ihres Personals und ihrer Geschehnisse verwerfen. Denn was kann schon der >gemeine< Zuschauer von dem, was den Großen der Welt widerfährt, auf sein >gemeines< Leben anwenden? Gottsched selbst weiß um diese Konsequenz, wenn er in seiner Rede über den Nutzen der Schauspiele mögliche Einwände gegen die Tragödie antizipiert: Ich weis wohl, was man hier einwenden kann. Das sind Bilder von den Großen dieser Welt. Das sind Schauspiele für Könige und Fürsten: diese mögen sich Lehren aus solchen Tragödien ziehen, und die berühmten Fjxempel der Helden sich zu Mustern vorstellen lassen. Aber was nützet dieses andern, von mittlerm und geringerm Stande?*8

Die Überlegungen, mit denen Gottsched den Einwänden zwar ein gewisses Recht zugesteht, sie aber dann doch auszuräumen sucht, sind ganz traditionell; sie lassen sich dem stoizistischen >Abhärtungspostulat< der barocken Wirkungsästhetik 29 zuordnen. Fürstenspiegel für die >Gro28

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Gottsched: Die Schauspiele, in: ders.: Ausgew. Werke, Bd. IX/z, S. 492-500, S. 497. Z u r Tradition der >Abhärtungsdramatik< siehe Hans-Jürgen Schings: Consolatio Tragoediae.

ßenBrot- und Butter-Stück< nicht nur der Schönemannschen Schauspieltruppe; auch Schröder, Koch, Schuch und Ackermann hatten es fest im Repertoire; es wurde an den verschiedensten Orten Deutschlands gespielt (siehe Heitmüller: Hamburgische Dramatiker, S. 7Êf.), auch in Berlin, wo es sogar Lessings »Minna« vom Spielplan verdrängte. (Siehe den Brief Karl Lessings an seinen Bruder vom 11.4.1768, in: Lessing: Sämtliche Schriften, hrsg. von Karl Lachmann und Franz Munker, Bd. X I X , S. 251 f.; im folgenden abgekürzt als LM) Hrsg. und mit einer Einführung versehen von Franz Ferdinand Heitmüller (im folgenden abgekürzt als BB). In der Regel haben die Typenkomödien der Gottsched-Schule zwar in Obersachsen ihren >GeburtsortKlimaunvernünftigen< Herkommen verhaftet, einzig darauf bedacht, gegen nichts zu verstoßen, was die alten Bräuche vorschreiben; und die Tochter Susanna ist und bleibt ungebildet, einzig darauf bedacht, einen reichen Freier zu bekommen. Von inneren Konflikten, von psychologischer Differenzierung, von Skrupeln und Unschlüssigkeiten findet sich bei diesen Familienangehörigen keine Spur; sie reagieren vom Anfang bis zum Ende allein im Sinne der Eigenschaften, die sie zu veranschaulichen haben. Gottsched hat das Konstruktionsschema für diese Art der typologischen Figurengestaltung am Beispiel eines Geizigen illustriert, nicht ohne allerdings hinzuzufügen, daß das Wahrscheinlichkeitsgebot die nicht zu überschreitende Grenze markiert: Z . E . Wenn ich in einer Comödie einen Geizhals vorstelle, so muß ich freylich keinen mittelmäßigen Geiz abbilden, den noch viele für eine Sparsamkeit ansehen könnten; sondern ich muß alles zusammen suchen, was ich an verschiedenen kargen Leuten bemerket habe, und aus diesen Stücken einen vollkommenen Geizhals zusammen setzen. [. . .] Ich könnte also meinen Geizhals das G o l d von den Pillen schaben und alles übrige thun lassen, was Canitz in seiner Satire v o m Harpax gesagt hat. Da wäre noch alles wahrscheinlich, so seltsam es auch wäre und so wunderbar es aussehen würde. A b e r wenn ich den Harpax so mistrauisch vorstellete, daß er seinen Bedienten, die v o n ihm giengen, allezeit die Hände und Taschen besuchte, ehe er sie herausließe, ja ihm wohl gar, nach A u f w e i s u n g beyder Hände die Worte in den M u n d legte: » E y die dritte Hand?« Das, dünkt mich, hieße das Wunderbare in diesem Laster aufs höchste treiben; und ein jeder w ü r d e dieses zwar f ü r einen leichtfertigen Einfall des Poeten, aber f ü r kein wahres Nachbild der Natur ansehen. ( C D 1, 245f.)

Borkenstein hält sich bei der Konzeption seines Geizhalses Grobian genau an dieses unter dem Gesichtspunkt der Wahrscheinlichkeit begrenzte Übertreibungsgebot der Satire; und auch dessen Frau und Tochter entwirft er in einer gleichsam >idealtypischen< Überhöhung alles dessen, was die Empirie an geeignetem Anschauungsmaterial bereithält. Funktional ist diese Figurenkonzeption für einen Handlungsverlauf, der — wie auch in den anderen sächsischen Typenkomödien - immer nur einem quod erat demonstrandum dient. Was es dabei zu demonstrieren gilt, schreibt Gottscheds Literaturdoktrin unmißverständlich vor: eine Gerechtigkeit, die im Feld der Poesie als das nachgeahmt wird, was die 48

Moralphilosophie als Ordnung der Welt vorgezeichnet hat. Grobians Familie muß folglich scheitern, denn sie ist das genaue Gegenbild all dessen, was Gottsched in seiner Idealfamilie des Sophroniskus als vorbildlich präsentiert hat. Nicht die Vernunft, sondern ein als Ausdruck höchster Unvernunft gekennzeichnetes Brauchtum diktiert die Lebensvollzüge dieser Negativfamilie. Schon der Titel des Dramas spielt darauf an. Denn als der traditionelle (Andachts-)>Buchbeutel< der weiblichen Moralapostel steht der »Bookesbeutel« — wie schon fast zwei Jahrzehnte früher die hamburgische Moralische Wochenschrift »Der Patriot« zu berichten weiß - für ein als abergläubisch gebrandmarktes Verhalten, das sich einzig am >unaufgeklärten< Herkommen ausrichtet.' 4 Und der Name »Grobian« und das ihm korrespondierende Verhalten signalisieren, wie sehr noch in dieser Familie die >finsteren< Verhältnisse des überkommenen »Grobianismus«' 5 herrschen. Alles, was Grobian, seine Frau Agneta und die Tochter Susanna tun, soll dem Zuschauer unmißverständlich deutlich machen, daß Laster und überlebte Lebensformen eins sind. Dabei ist es vor allem Agneta, die für alle Lebensvollzüge - von der Wiege bis zur Bahre - genaue Verhaltensregeln hat, die allein in der Grundmaxime ihres Handelns, »das Alte ist immer besser als das Neue« (BB, 8; I/2), ihre Rechtfertigung finden. Wann was zu essen ist (s. BB, 17; I/5), wie die Mahlzeiten abzulaufen haben (s. BB, 29^; II/i), wer wann zu Besuch kommen darf (s. BB, 18; 1/6), wie Verlobte miteinander umzugehen haben (s. BB, 57; III/2), wie eine Heirat zu arrangieren ist (s. BB, 34; II/3), wie man sich bei Geburt 14

Der »Patriot« schildert ausführlich, daß die Bedeutung des Namens »BooksBeutel« als Abbreviatur für tradiertes Brauchtum aus Ort und Art der Rechtssprechung derjenigen Matronen resultiert, die über die Einhaltung der alten Bräuche und Sitten wachen. Nach dem Kirchgang versammeln sich diese Frauen und beurteilen das Verhalten der einzelnen Menschen gemäß der überkommenen Vorstellung von dem, was recht und billig in Fragen der »Kleider-Trachten, Gastereyen, Hochzeiten, Wochen=Betten, Leich=Begängnissen und dergleichen« ist (Der Patriot II, S. 22}); und während sie dies tun, baumelt an ihrer Hand in einem Beutel das Andachts-Buch, so »daß die in den Kreisen so vieler Bücher-Beutel gut befundene und festgestellete, ob gleich nimmer schriftlich receßirte Gewohnheiten und Gebräuche der B o o k s B ü d e l genennet worden.« (Ebd.) '' Das Phänomen des »Grobianismus« erscheint in der Literatur und bildenden Kunst im Zeitraum zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert, allerdings mit einem deutlich gehäuften Erscheinen im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert; siehe dazu Adolf Hauffen: Caspar Scheidt. Der Lehrer Fischarts, S. 18-93. Der Name »Grobian« findet sich wohl zuerst im 72. Kapitel von Sebastian Brants »Narrenschiff«, in dem es heißt: »Eyn nuwer heylig heisszt Grobian / Den will yetz fyren yederman.« (S. 70, Z. if.) 49

und Tod zu verhalten habe (s. B B , 42; II/5): für all dies kennt sie präzise Vorschriften, die es unbedingt einzuhalten gilt. In dieser geschlossenen Welt vorgegebener Verhaltensmuster, aus der jeglicher geschichtlicher Wandel ausgeblendet ist und künftige Erfahrungen auf die Wiederholung tradierter Muster beschränkt bleiben, hat die Erziehung der Tochter Susanna keinerlei Ähnlichkeit mit derjenigen Erziehung, die die Gottschedschen Idealeltern mit so viel Hingabe und Akribie praktizieren. Von Verinnerlichung der Normen, von Vernunftausbildung, v o m E r w e r b literarischer Bildung und sprachlicher Fertigkeiten, v o n Unterweisungen in Philosophie und Wissenschaften ist nirgends die Rede; eine am Leitfaden aufgeklärter Vernünftigkeit durchgeplante Erziehung, die Sophroniskus und Euphrosyne auf so vorbildliche Weise ausüben, findet nicht einmal im Ansatz statt. Anders als die Kinder der Gottschedschen Idealfamilie wächst Susanna nicht in einer aus der Umwelt ausgegrenzten Erziehungswelt auf. Bediente und Hausgesinde sind ihr täglicher Umgang (s. B B , z2f.; I/7); und das, was sie können soll, erfahrt sie im Nach- und Mitvollzug einer Lebenspraxis, in die sie voll integriert ist. Susanna soll werden, wie ihre Mutter ist (s. B B , 45; II/6); und indem sie in deren vorgeprägte Aufgabenfelder hineinwächst, ist sie auf dem besten Weg dazu. Agneta berichtet voller Stolz, was ihre Tochter schon alles kann: Sie kann so viele G e r i c h t e kochen, als T a g e in der Woche sind, u n d ich und mein M a n n essen, J a h r aus J a h r ein, i m m e r einerley; das w i r d sich mein k ü n f t i g e r S c h w i e g e r s o h n auch g e f a l l e n lassen. Sie kann stricken u n d nähen. (BB,4I;

II/5)

F ü r Grobians Frau sind diese Fertigkeiten zusammen mit einer reichlich bemessenen Mitgift der sichere Garant für die Heiratschancen ihrer Tochter (s. B B , 28f.; II/i). Denn bessere Gründe für eine Eheschließung als praktische Fähigkeiten und Besitz kann es f ü r Agneta gar nicht geben. Nach diesen Gesichtspunkten ist ihre Ehe mit Grobian von den Eltern arrangiert worden, ohne daß ein vorheriges Kennenlernen für nötig erachtet wurde (s. BB, 34f.; II/3); und so ist auch die Eheschließung der Tochter geplant. Während für die Heirat der Gottschedschen Idealeltern ein langwieriger vorehelicher >Umgang< geradezu unabdingbar ist, um am Maßstab der Vernunft die Übereinstimmung der Gemüter feststellen zu können, reicht für Agneta und Grobian ein Blick aufs Vermögen des zukünftigen Schwiegersohns, um sofort zu wissen, daß die Brautleute zueinander passen — gemäß der Maxime Grobians: »Wenn G e l d und Geld zusammen kommt, das gibt die besten Ehen.« (BB, 35; Π/3)

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Doch es kommt anders, als Grobian und Agneta vermuten - denn es kommt, wie es nach der Gottschedschen Doktrin von der »poetischen Gerechtigkeit« kommen muß. Der in Aussicht genommene Schwiegersohn ist nämlich nicht nur reich, sondern zugleich auch noch tugendhaft. E r könnte geradezu ein Sproß der Familie des Sophroniskus sein. Schon sein Name »Ehrenwert« signalisiert seine Zugehörigkeit zur Welt der Tugend; und was er dann wortreich und überdeutlich an Gesinnungen verrät, zeigt, wie sehr er die von Gottsched nachdrücklich propagierte Maxime, daß Ehe und Familie auf Tugend und nicht auf Geld zu gründen seien, zu seiner eigenen gemacht hat. Deshalb willigt er nicht ohne vorherige >moralische< Prüfung der ihm zugedachten Susanna, die die Ubereinstimmung ihrer >Gemüther< als Garant ehelichen Glücks erweisen soll (s. B B , 35; II/3), in die Heirat ein. Denn, so heißt es in einer der vielen »mehrfach adressierten Äußerungen«' 6 , die das dramatische Gegenüber ansprechen und den Zuschauer meinen: Z u m Ehestande gehöret mehr als Essen, Trinken und Schlafen. Es w i r d ein angenehmer U m g a n g und eine gute B e g e g n u n g beyder Gatten erfordert, welche die verdrießliche Stunden, so im Ehestande v o r k o m m e n , versüssen; wodurch einer den andern beständig aufmuntert, und wodurch die Liebe immer wachset, an statt sie bey andern abnimmt. ( B B , 58; ΠΙ/2)

Ehrenwert verlangt von einer Frau, die man heiraten kann, anderes und mehr als praktische Fähigkeiten und eine große Mitgift; denn für ihn ist Ehe und Familie anderes und mehr als eine Versorgungsgemeinschaft, die auf Besitz und produktiver Tätigkeit gründet; f ü r ihn ist sie vor allem eine Erziehungsgemeinschaft, die auf Tugend und Vernunft basiert. Hierfür aber bietet ihm Susanna, wie er schon nach kurzer >Prüfung< feststellen kann, keinerlei Gewähr. Unmißverständlich artikuliert er deshalb seine aus dem Geist frühaufklärerischer Sittenreform geborene Absage an Grobians Tochter, da sie all dem nicht entspricht, was er von einer wohlerzogenen Braut erwartet: Nachdem ich sie aber gesehen, und ihre schlechte Erziehung wahrgenommen habe, so habe ich meine Meinung geändert. I m Heirathen muß man seiner eigenen und nicht anderer Leute N e i g u n g folgen, und also sagen sie nur meinethalben dem Herrn Schwager: daß ich zwar gesonnen, meine Freiheit zu 16

Terminus von Dieter Wunderlich, der damit Äußerungen bezeichnet, mit »denen gleichzeitig zwei oder mehr verschiedene Sprechhandlungen ausgeführt werden, dadurch, daß sich diese Äußerungen an verschiedene Adressaten wenden. Als Adressaten kommen s o w o h l die direkt Angesprochenen infrage wie auch alle Personen, die als Publikum im engeren oder weiteren Sinne bezeichnet werden können.« Wunderlich: Z u r Konventionalität v o n Sprechhandlungen, S. 57.

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verkaufen, aber nicht um einen so schlechten Preis, als seine Tochter. (BB, 5 4; II/10) Wen seine Eltern so ausschließlich nach den >unaufgeklärten< Regeln des Herkommens und nicht nach denen der >Vernunft< erzogen haben, der geht in der aufgeklärten Welt der Tugendhaften leer aus. Dies ist die Lehre, die das Drama auf anschauliche Weise den Zuschauern als Wahrheit einer Moralphilosophie zu vermitteln sucht, nach der sich als E r gebnis rechter Erziehung Vernunft, Tugend, Vollkommenheit und Glück zur unauflöslichen Einheit zusammenschließen. U m diese Lehre nun auch noch positiv zu bekräftigen, führt das Drama in Charlotte dann diejenige vor, die auf rechte Weise erzogen ist und deshalb belohnt wird. Zwar ist sie ohne jede Mitgift, doch dem Tugendhaften macht das nichts, denn dieser Mangel wird für ihn mehr als ausgeglichen durch ihre gute Erziehung. G e g e n den äußeren Wert der >mitgiftbeladenen< Susanna siegt Charlottes innerer Wert; gerade sie, für die Grobian nur Verachtung übrig hat, weil sie nichts besitzt, wird die Braut Ehrenwerts, der »vergnügter mit ihrer blossen Person [. . .] [ist], als mit der reichsten Jungfer ohne Erziehung.« (BB, 70; III/9) S o stehen Grobian nebst Frau und Tochter am Ende als die Dummen da, die nicht >wissenerzeugten< inneren Wert kommt es an: dies ist die Botschaft der K o m ö d i e , die den Zuschauern nachdrücklich die Lebensform der Familie Grobians als überholt und zum Scheitern verurteilt v o r Augen führen will. Borkenstein ist so der Lehre Gottscheds vom »moralischen Satz«, den dieser zum Ausgangspunkt und Wahrheitszentrum seiner literarischen Anweisungslehre macht, getreulich gefolgt. Und ebenso folgte er dessen wirkungsästhetischen Hinweisen, die >Moral< auf wahrscheinliche Weise einzukleiden, damit die Zuschauer das Dramengeschehen mit ihrer Alltagserfahrung verbinden können. Schon der Titel stellt auf geradezu >handgreifliche< Weise - ein Wort, das Gottsched selbst in diesem Z u sammenhang gerne gebraucht (s. Β II, 57; C D I, 215) - diesen Realitätsbezug her. Denn er bezieht sich nicht nur auf das im »Patrioten« erläuterte Bild v o m »Bookesbeutel« als Metapher f ü r >unaufgeklärtes< Verhalten, das sich einzig am Herkommen ausrichtet, sondern auch ganz manifest auf ein in Stein gehauenes Bild in der Hamburger Petri-Kirche.' 7 17

52

Siehe dazu Christian Ludewig von Griesheim: Anmerkungen und Zugaben

D a s , w o r a u f der Titel anspielt, war im zeitgenössischen keineswegs

ein randständiges Verhalten

weniger,

sondern

Hamburg durchaus

kennzeichnend f ü r breite Schichten des Mittelstandes. S o berichtet J o n a s L u d w i g v o n Heß über die kulturelle Situation Hamburgs um die Mitte des 18. Jahrhunderts und zeichnet dabei ein Bild, dessen dramatische K o p i e in vielem die Lebenswelt der Familie Grobians sein könnte: Damals herrschte die neue Idee von Aufklärung noch nicht in den Köpfen; Niemand wußte, daß er klüger war, als die Urheber seines Lebens; das höchste Vorbild der Vortrefflichkeit waren Vater und Mutter, welche strenge Zucht hielten, und weder zur Rechten noch Linken von den bei der Familie hergebrachten Regeln und Gewohnheiten abschweiften; man tadelte alles, was gegen die Gebräuche des Hauses und der Stadt lief, man war ungemein ängstlich, dem Nachbaren, der Börse, den Caffeehäusern, den Wirthstischen keinen Anlaß zum Gerede zu geben. 18 In dieser v o m Herkommen geprägten Welt der strengen Beachtung der Gepflogenheiten w a r eine nach R e g e l n a u f g e k l ä r t e r Vernünftigkeit< praktizierte Erziehung durchaus unüblich. E s herrschte noch vielfach die traditionelle, durch Mit- und Nachvollzug geprägte altständische Erziehungsweise,' 9 der es mehr u m das E i n f ü g e n der K i n d e r in die überlieferte O r d n u n g vorgegebener Verhaltensmuster ging, als um die intellektuelle und moralische B i l d u n g der Person. D a ß Susanna als P r o d u k t einer solch traditionellen E r z i e h u n g in der damaligen Realität H a m b u r g s viele Vorbilder hat, belegen zeitgenössische Äußerungen mit aller Deutlichkeit. S o ist das, was der Senator J o h a n n Michael Hudtwalcker v o n über den Tractat: die Stadt Hamburg, S. 249^: »Der Bocks-Beutel zu Hamburg ist in der Petri=Kirche durch ein gehauen Bild einer andächtigen Frau, die in der linken Hand ein Buch und einen Beutel träget, vorgestellet; ich bin darbey keine Minute stehen geblieben, die Kunst hat nichts zur Bewundrung angebracht, aber bey dem moralischen Bocks-Beutel der Sitten habe ich mich länger verweilet, und thue es noch, ich werde des Sehens nicht satt.« ' 8 Jonas Ludwig von Heß: Hamburg topographisch, politisch und historisch beschrieben, Bd. 2, S. }88f. 19 Siehe dazu Wilhelm Roessler: Die Entstehung des modernen Erziehungswesens, S. 61: »Der Heranwachsende lebt in einer durch jahrhundertealte Muster strukturierten Gemeinschaft und wird so gehalten, daß er sich dieser Welt möglichst vollkommen einpaßt, in Haus und Stand aufgeht. Die Erziehung vollzieht sich weniger nach bewußten und geplanten Maßnahmen als vielmehr nach überkommener Sitte, nach Erziehungsbräuchen und Erziehungsgewohnheiten, in denen bereits die Vorfahren herangewachsen sind. Das Kind lebt sich in die Grundhaltung und Grundeinstellung sowie in die einzelnen Tätigkeiten des Hauses ein, wie noch zu Beginn unseres Jahrhunderts das Kind in den bäuerlichen Lebenskreis, in Haus und Hof, hineinwuchs.« Vgl. auch Heinz Reif: Westfälischer Adel 1770-1860, S. i n f . 53

seiner seit 1746 verheirateten Mutter berichtet, durchaus auch eine Beschreibung, die auf Susanna passen würde: Obwohl mein Großvater ein sehr gebildeter Mann war, so konnten doch seine Frau und seine erwachsenen Töchter nur etwa so viel schreiben und rechnen, als sie im Hausstande gebrauchten. Meine Mutter hatte ihren Katechismus gelernt und war danach konfirmiert, hatte etwas Tanzen und etwas Klavierspielen gelernt, das beides bald nicht mehr gebraucht wurde. Sie konnte aber fertig weißnähen, sticken und die Küche selbst besorgen, ohne sich um etwas, was außer Hamburg in der Welt vorging oder vorgegangen war, zu bekümmern. 20 Nicht nur der geringe Bildungsstand Susannas, sondern auch die A u f fassung ihrer Eltern, u m die Heiratschancen der Tochter zu sichern, reichen allemal deren praktische Fertigkeiten und eine große Mitgift, finden im zeitgenössischen H a m b u r g ihr Realitätspendant. S o verweist schon fast zwanzig J a h r e v o r h e r »Der Patriot« auf die vielen Heiratsanzeigen, die allein auf den Besitz als Heiratsgrund a b h e b e n , " und kritisiert den auch v o n anderen Zeitgenossen 2 2 konstatierten Tatbestand der weit verbreiteten Geldheiraten: Wir haben unter uns ein altes eingewurtzeltes Vor-Urtheil, daß Geld nichts anders, als Geld, heyrathen kann.23 Diese hamburgische Realität der Geldheiraten, des geringen weiblichen Bildungsstandes, der traditionellen E r z i e h u n g und des Festhaltens am Ü b e r k o m m e n e n — sie geht detailgenau ein in die fiktionale Handlungs20

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Zitiert nach Percy Ernst Schramm: Neun Generationen, Bd. 1, S. 161. Siehe auch Jonas Ludwig von Heß: Hamburg topographisch, politisch und historisch beschrieben, der in seinem »ethognomischen« Rückblick aus dem Jahre 1789 auf die kulturellen Zustände im Hamburg der Jahrhundertmitte den geringen Bildungsstand der Frauen beklagt. (Bd. 2, S. 589): »Ausser der Bibel, Schmolkens oder einer andern Andachtssammlung und dem Calender, sah die Hausfrau die Woche über in kein Buch. Am Sonntage vermehrte sie ihre Leetüre mit dem Texte des Hauptpredigers in ihrem Kirchenspiel, der Neumeisterischen, auch wol einer andern Postille, und dem Gesangbuch.« Allgemein zum geringen Bildungsstand der >mittelständischen Hausfrau< im 18. Jahrhundert siehe Rolf Engelsing: Der Bürger als Leser, S. 296ÍF. Der Patriot I, S. 8;. Siehe ζ. B. Ernst Finder: Hamburgisches Bürgertum, S. 34: »Ausschlaggebend war [bei der Wahl des Ehepartners; G. S.] vor allem der Gedanke der wirtschaftlichen Ebenbürtigkeit, über die man sich in sorgfältiger Nachforschung unter der Hand und in aller Heimlichkeit durch Verwandte oder Freunde Gewißheit zu verschaffen suchte.« Vgl. auch Christian Ludewig von Griesheim: Anmerkungen und Zugaben über den Tractat: die Stadt Hamburg, S. 3 2 9 ff. Der Patriot I, S. 297; vgl. auch Der Patriot III, S. 2joff.

welt des Borkensteinschen Dramas. Es ahmt so in vielem eine Wirklichkeit nach, die der zeitgenössische Zuschauer als die seine wiedererkennen konnte; doch ahmt es sie - so wie es Gottsched vorschreibt - in der kritischen Absicht einer Moralkonzeption nach, die gegenüber dem Besitz die Bildung als das siegreiche und in die Zukunft weisende Prinzip herausstellt. Wahrheitsmoment und Wahrscheinlichkeitsgebot gehen auf diese Weise die in der »Critischen Dichtkunst« geforderte Verbindung einer wirkungsästhetischen Beglaubigung des moralphilosophisch Deduzierten ein. Doch greift diese Verbindung nur auf den ersten Blick nahtlos ineinander. Es mag so erscheinen, als werde die moralphilosophische Wahrheit von der Überlegenheit der Tugend über das Geld durch die Realitätsnähe des dramatischen Handlungsgangs auf eine für den Zuschauer überzeugungskräftige Weise dargestellt. Doch bei genauerem Hinsehen ergibt sich ein anderes Bild. Denn die »realitätsverbürgenden kleinen Details«, 24 die die Aufgabe haben, das dramatische Geschehen als ein in der Alltagswelt der Zuschauer mögliches Geschehen auszuweisen, fügen sich nicht widerspruchslos dem Diktat eines Handlungsablaufs, in dem die poetische Gerechtigkeit als Signum einer moralischen Weltordnung fungiert. Gezeigt werden soll, daß Tugend und Bildung allemal eine noch so große Mitgift überragen; doch gezeigt wird auch — und dies nicht aus Unvermögen, sondern gerade um das dramatische Geschehen realitätsnah und damit überzeugungskräftiger halten zu können —, wie die tugendhafte, aber arme Charlotte wegen ihrer Armut so lange nicht heiraten kann, bis ein tugendhafter, zugleich aber auch noch reicher Freier auftaucht. Bis dahin war sie mit dem ebenfalls tugendhaften Sittenreich verlobt, konnte jedoch die Ehe nicht schließen, weil dieser dann enterbt worden wäre. Ohne Vermögen aber - so führt sie ihrem Verlobten vor Augen - würde die Ehe zwangsläufig scheitern: Nun stellen sie sich vor, wie es ihnen gehen würde, wenn ihr Herr Vater erführe, daß sie sich auf eine ihm nicht anständige Art verheirathen wollten. Sie kennen sein hartes und unempfindliches Herz. Er würde sie ohnfehlbar enterben. Die Person, welche sie sich erwählet, wäre sodann die Ursache ihres Unfalls; die Liebe würde erkalten, und Noth und Verdruß würden die Früchte einer übereilten Verbindung seyn. (BB, 25f.; 1/8)

Daß Charlotte hier keine realitätsfremden Vermutungen anstellt, bekräftigt sie gegenüber Sittenreich, der vom Verzicht aus ökonomischen 24

Terminus von Karlheinz Stierle, der damit die pragmatische Funktion derjenigen sprachlichen Faktoren benennt, die dem Aufbau von Wahrscheinlichkeitsindizes dienen; siehe Stierle: Geschichte als Exemplum, bes. S. izfi.

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Gründen zunächst nichts wissen will, indem sie auf das Schicksal ihrer Freundin hinweist: Verzeihen sie, mein Herr, das Exempel einer meiner Freundinnen, welche sich auf eben die Art, an einen jungen Herrn verheirathet, welcher deßhalben von seinem Vater, drey Tage vor seinem Ende, enterbet worden, aus Verzweifelung Kriegsdienste genommen, meine Freundin erst in Armuth, und kurze Zeit darauf v o r Gram und Sorge ins Grab gestürzet hat, lieget mir in gar zu frischem Andenken, als daß ich ihr so bald nachahmen sollte. (BB, 26; 1/8)

Erst als der tugendhafte, und zum Glück für die armen Tugendhaften auch noch reiche Ehrenwerth nebst Schwester aus Leipzig die Bühne betritt, verflüchtigen sich all die ökonomischen Probleme, die die Realität aufwirft, und das Glück, das den Tugendhaften gebührt, breitet sich aus — so wie es die Moralphilosophie der Frühaufklärung bestimmt. Es kommt, wie es kommen muß: die Tugend findet zur Tugend; und ebenso kommt es, wie es nach dem Wahrscheinlichkeitsgebot der »Critischen Dichtkunst« kommen muß: auch die materielle Seite wird gesichert. Der tugendhafte und reiche Ehrenwert verlobt sich mit der tugendhaften und armen Charlotte, und seine tugendhafte und reiche Schwester verlobt sich mit dem tugendhaften und armen Sittenreich. Das alles geht ohne jegliche emotionale Beunruhigung ab. Ehrenwert hat erkannt, wie lasterhaft, weil schlecht erzogen, seine ihm zugedachte Braut Susanna und wie tugendhaft dagegen Charlotte ist, und dieser Erkenntnis folgt (gleichsam automatisch) die Liebe — so wie es dem von Gottsched im »Biedermann« zur Anschauung gebrachten Konzept einer »vernünftigen Liebe« 25 entspricht. Auch bei Sittenreich folgt die Liebe der Einsicht; doch daß es bei ihm eine andere Einsicht ist, die seine Liebe bestimmt, wirft ein bezeichnendes Licht auf eine Realität, die sich nicht so reibungslos in Moralität auflöst, wie es Gottscheds »Weltweisheit« gerne haben möchte. Denn Sittenreichs Einsicht bezieht sich nicht ausschließlich auf die Tugend der auserkorenen Partnerin, sondern auch auf das, was das Drama an Susanna als falsche Einsicht brandmarkt - das Geld. Charlotte hatte er aus finanziellen Gründen nicht heiraten können, doch jetzt eröffnet sich ihm in Carolina eine neue Möglichkeit, die es ihm erlaubt, zugleich dem Gebot der Moral und dem Gebot der Ökonomie Folge zu leisten. In einem gleichsam quantifizierenden Vergleich kommt er zu dem Schluß, Carolina »hat eben so viel reizendes, als die Charlotte« (BB, 40; II/4; s. a. BB, 27; 1/8), zusätzlich aber auch noch Vermögen, und daraufhin wechselt er dann ohne jegliche innere Skrupel die Partnerin. 2!

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Siehe S. 9 ff. dieser Arbeit.

A u f diese Weise bleibt zwar das G e b o t der frühaufklärerischen M o ralphilosophie gewahrt, E h e auf Tugend zu gründen, denn Carolina ist ja ebenso wie Charlotte ein A u s b u n d an Tugendhaftigkeit; aber indem die Dramenhandlung damit zugleich auch dem G e b o t der Wahrscheinlichkeit nachkommt und die Alltagserfahrung der Zuschauer v o n der N o t wendigkeit einer gesicherten finanziellen Basis v o n E h e und Familie berücksichtigt - was übrigens f ü r viele K o m ö d i e n der A u f k l ä r u n g gilt verkehrt sich letztlich das, was v o n Borkensteins D r a m a als Triumph der Tugend über das G e l d gemeint ist: statt daß der Reichtum aus der Tugend folgt, wird gezeigt, wie sehr das G e l d v o r g ä n g i g da sein muß, damit die Tugend auch auf wahrscheinliche Weise das E r f o l g s p r i n z i p sein kann. D e n n das Glück — hier der E h e - ist ja keineswegs, wie es die Moralphilosophie Gottscheds im deduktiven Ableitungsverfahren entfaltet, und wie es der »Bookesbeutel« zu veranschaulichen trachtet, eine bloße F o l g e der Tugend, sondern es bedarf der v o r g ä n g i g e n materiellen Sicherung. Die Vermutung G r o b i a n s und seiner Frau Agneta, daß der Brautschatz der Tochter B ü r g e f ü r ihre Heirat sei, ist folglich durchaus nicht so unbegründet, wie das D r a m a den Zuschauern weismachen will, stünden nicht die vier Tonnen G o l d v o n Ehrenwehrt dagegen, die gleichsam als deus ex machina die D o m i n a n z der Tugend über das Laster sichern, auf daß die Tugendhaften als strahlende Sieger die B ü h n e verlassen können. D a m i t aber erweist sich die >VernichtungVernichtung< einer Handlungsweise, die faktisch keineswegs unterlegen ist; und das D r a m a macht gerade in den »realitätsverbürgenden Details«, die den Triumph der Tugend über das Laster beglaubigen sollen — entgegen seiner »auktorial intendierten Rezeptionsperspektive« 2 7 -

darauf auf-

merksam. D e n n G r o b i a n , der Repräsentant des hemmungslosen Gelderw e r b s , f ü r den »nichts mehr V e r g n ü g e n bringet, als wenn man viel G e l d hat, und täglich was dazu erobert« ( B B , 36; II/3), ist gegenüber Ehrenwehrt, dem Repräsentanten der Tugendhaftigkeit, f ü r den G e l d ein bloßes Mittel wohlanständiger Lebensweise ist (s. B B , 68; III/8), nicht deshalb unterlegen, weil dieser tugendhaft, er selbst aber lasterhaft ist, sondern weil E h r e n w e h r t noch mehr G e l d hat als er selbst. z6

27

Siehe hierzu Hans-Richard Altenhein: Geld und Geldeswert im bürgerlichen Schauspiel des 18. Jahrhunderts, S. 2off.; vgl. auch Hans Friederici: Das deutsche bürgerliche Lustspiel der Frühaufklärung, S. 6off. Terminus von Manfred Pfister: Das Drama, S. ioof., der damit die dem Zuschauer vom Drama vorgegebene eindeutige Bewertung des Geschehens bezeichnet. 57

S o soll zwar die auf Kapitalakkumulation ausgerichtete ökonomische Vernunft Grobians als Unvernunft lasterhaften Verhaltens dem Verlachen preisgegeben werden, und zugleich soll die Überlegenheit einer >moralischen< Vernunft demonstriert werden, die ihr Ziel in einer Tugendgemeinschaft hat, in der Geld keine Rolle spielt; da aber v o r w e g der Triumph der Tugend ökonomisch in den vier Tonnen G o l d gesichert werden muß, damit das Geschehen plausibel bleibt, wird die Dominanz der auf Gelderwerb ausgerichteten instrumenteilen Vernunft über die auf tugendhaften Umgang ausgerichtete >moralische< Vernunft bloß kaschiert, faktisch aber realisiert. Denn die postulierte Überlegenheit der Tugend über das Geld erwies sich ja bei näherem Hinsehen als Abhängigkeit der Tugend v o m Geld. Nur wenn dies vorhanden ist, kann jene zum Handlungsprinzip werden. Wären aber die vier Tonnen G o l d nicht, deren E r w e r b das Drama bezeichnenderweise und in genauer Übereinstimmung mit dem, was Gottsched dazu sagt, 28 ausspart, so hätten die Tugendhaften keine Möglichkeit, über Grobian zu triumphieren. Wenn nun das Drama Grobian am Ende uneinsichtig zeigen will in seinem Ausruf: »Geld ist die Losung« (BB, 73; III/9), so läßt sich das auch als Ausdruck der besseren Einsicht verstehen - der Einsicht nämlich, daß Geld und nicht Tugend allein den E r f o l g sichert. Nach allem, was die Komödie entgegen ihrer »auktorial intendierten Rezeptionsperspektive« in ihrem Realitätsbezug preisgibt, scheint es durchaus zweifelhaft, ob sie das didaktische Ziel erreicht, das Gottsched ihr vorschreibt, wenn er im Verlachen der Lasterhaften den A b schreckungseffekt betont. 29 Denn in das dramaturgisch postulierte Ver28

29

E h r e n w e h r t ist nämlich einer derjenigen, die - wie Gottsched einen solchen Fall beschreibt - unabhängig v o n ökonomischen Sorgen, tugendhaft leben können, da »seine Vorfahren soviel erworben haben, daß er mit aller Gemächlichkeit der E r w e i t e r u n g seiner Gemüthskräffte obliegen kan, ohne durch die Sorgen der N a h r u n g darinnen gestöret zu werden.« (Β I, 147) In den »Vernünftigen Tadlerinnen« erläutert Gottsched, wie er sich die didaktische Funktion des Verlachens vorstellt: »So werden darinnen [in der K o mödie; G . S.] die Laster und üble Gewohnheiten der Menschen lächerlich gemacht, der Nutzen und Schade der daraus erwachsen kan, wird sehr lebhafft vorgestellet, und die Zuschauer, die damit vielleicht behafftet sind, werden b e w o g e n sich dererselbigen zu entledigen: indem sie besorgen müssen eben so auslachenswürdig zuerscheinen, als die lasterhafften Personen auf dem Schau-Platze gewesen. Wer nur die allergeringste Ehrliebe, bey sich hat, kan dieses unmöglich erdulden, und es ist ihm unerträglich, wenn er andern zum Gelächter werden soll. Darum haben diese Vorstellungen einen sehr tiefen Eindruck in seinem Gemüthe, und sind offt kräfftigere B e w e g u n g s - G r ü n d e v o m Bösen abzustehen, als die besten Vemunfft-Schlüsse eines Sitten-Lehrers.« Gottsched: D i e Vernünftigen Tadlerinnen I, 17. Stück, ' 1 7 2 7 , S. 1 3 2 .

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lachen des Lasters mag sich durchaus auch ein Lachen der ästhetischen Entlastung von der im Drama als nichtig deklarierten, faktisch aber dominierenden Welt des Geldes mischen. Ein solches Lachen der fiktionalen Erleichterung vor der empirischen Realität aber ließe sich als ein Hinweis darauf verstehen, daß die >Tugend< nicht nur - wie immer wieder behauptet - die Kampfansage eines Bürgertums ist, das auf dem Feld der Moral die Geltung einklagt, die ihr die herrschende Gesellschaftsordnung versagt, sondern daß sie auch innerhalb eines ganz und gar nicht einheitlichen Bürgertums die Abwehrgeste einer bürgerlichen Intelligenz gegen ein Wirtschaftsbürgertum ist, dessen Macht des Geldes sich dem frühaufklärerischen Postulat einer >moralischen< Vernunft nicht fügt. Daß dieses Moment der Abwehr in einem realitätsnahen Hamburger Lokalstück sichtbar wird, kommt nun allerdings nicht von ungefähr. Denn stärker als in vielen noch weitgehend geburtsständisch bestimmten Gesellschaften galt im zeitgenössischen Hamburg das Vermögen als Kriterium der Statuszuweisung - und dies nicht nur, weil Hamburg keine Adelsgesellschaft war, sondern auch aus spezifischeren Gründen seiner damaligen Lokalgeschichte. Nach den großen hamburgischen Revolten um die Jahrhundertwende, in denen die niederen Bevölkerungsschichten zeitweilig die Macht an sich rissen, 3 " wurden nämlich durch den von einer kaiserlichen Kommission erlassenen »Hauptrezeß« die politischen Mitwirkungsrechte strikter als bisher vom Nepotismus' 1 gelöst und ans Vermögen gebunden.' 2 Um in Hamburg zu Amt und Würden zu kommen, reichte danach der ererbte große Name nicht mehr aus, man mußte zur Gruppe der Reichen gehören, die im »Reglement wegen des KopfGeldes«, das die Stadtbürger in neun Vermögensklassen einteilte, genau umrissen war." Nach Hermann Rückleben: Die Niederwerfung der hamburgischen Ratsgewalt, S. 339, wurde im Jahre 1699 »die totale Niederwerfung der Ratsgewalt und die Errichtung der Herrschaft der niederen Bevölkerungskreise« erreicht. Zur verwandtschaftlich ausgerichteten Rekrutierung der alten Ratsgewalt siehe Gisela Rückleben: Rat und Bürgerschaft in Hamburg 1595-1686, S. 1 1 çfF. '* Nach dem Beschluß von 1 7 1 0 durfte nur derjenige, der in Hamburg Hausund Grundbesitz mit mindestens 1000 Talern hypothekarisch nicht belasteten Geldes (bei Grundbesitz außerhalb der Stadt: 2000 Taler) besaß, an den Entscheidungen der Erbgesessenen Bürgerschaft mitwirken. Siehe dazu: Neues Reglement der Hamburgischen Raths- und Bürger-Conventen de Dato 4. Junii, Anno 1710. Mit den durch den Rath- und Bürgerbeschluß vom 2zsten September 1 7 1 2 angenommenen Randbemerkungen; abgedr. in: Johann Heinrich Bartels (Hg.): Neuer Abdruck der vier Haupt-Grundgesetze der Hamburgischen Verfassung, S. 57-109, S. ;7ff. " Siehe Franklin Kopitzsch: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona, S. 191.

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Nach dem, was Grobian alles an Besitz angehäuft hat, gehört er zweifellos zu dieser Gruppe der Reichen. Das Drama will damit zwar eigentlich nur zeigen, daß er trotz all seines Reichtums gegen die Armen äußerst hartherzig ist; gezeigt wird dem Hamburger Zuschauer damit zugleich aber auch, daß Grobian als außerdramatische Gestalt zur kleinen Gruppe der politisch mitspracheberechtigten Hamburger gehören würde, 34 denen die gesellschaftliche Ehre gebührt, die ihm das Stück als eine moralische absprechen will. So unrecht, wie dem Zuschauer weisgemacht werden soll, hat Grobian folglich nicht, wenn er auf den engen Zusammenhang von Ehre und Geld hinweist: GROBIAN: Wenn man reich ist, muß jeder unsere Freundschaft suchen, und sichs für eine Ehre schätzen, wenn wir einmal zugeben, daß er in unserm Hause sich eine halbe Stunde vor uns schmieget und bücket. (BB, 68; III/8)

Gegen diese >betrübliche< Erkenntnis, die Grobian hier ausspricht, hat das Drama vieles unternommen, um zu zeigen, wie falsch sie ist - und es hat dabei in der realitätsnahen Veranschaulichung, die es wählte, um den Nachweis auf überzeugungskräftige Weise führen zu können, genau das gezeigt, was es zu widerlegen galt: die Wichtigkeit des Geldes für das Glück. Nach Gottscheds erkenntnistheoretischen Prämissen dürfte so etwas allerdings gar nicht passieren. Denn das deutlich Erkannte des »moralischen Satzes« geht ja im Wahrheitsgehalt immer der bloß in klaren Begriffen der Veranschaulichung verfaßten Literatur voraus; daß ein dramatischer Handlungszusammenhang, der allein der >Beglaubigung< des moralphilosophisch Deduzierten dienen soll, das als falsch erweisen könnte, was doch kraft der deutlichen Begriffe nur wahr sein kann, das ist bei Gottsched nicht vorgesehen. Wenn nun aber trotzdem Borkensteins Drama, das sich strikt an Gottscheds Anweisungslehre gehalten hat, entgegen seiner moralischen Botschaft gerade in den Momenten ihrer dramatischen >Beglaubigung< zeigt, wie wenig sich die Empirie ihrer rationalistischen Vereinnahmung fügt, so verweist dies darauf, daß selbst eine Komödie, die gar nicht diesen Anspruch erhebt, einen eigenständigen Erkenntniswert haben kann - nicht Magd der Philosophie, sondern ihr Richter, der prüft, ob das, was das rationalistische Denken aus obersten Prinzipien ableitet, auch mit dem, was die Empirie an Gesetzen >erläßtDie wahre und gründliche Gottseligkeit aller ChristenUnsere ganze Wohlfahrt besteht darin, wenn es uns in dieser Welt übel geht. Die Scheingüter dieser Erde sind nur für solche Leute, welche keine besseren hoffen und keine wahrhafteren suchenOhrenbläser< und Schmeichler, die schlechten Ratgeber und intriganten Höflinge, f ü r die Mißstände verantwortlich gemacht werden, 4 3 gemeinsam ist aller K r i t i k der Hinweis auf eine Machtausübung, die keineswegs die Wohlfahrt der Untertanen zu ihrem obersten Handlungsziel erhebt. 44 E s ist allerdings erst K a n t , der die K r i t i k an der Landesvaterideologie fundamental faßt, indem er das M o m e n t der Unmündigkeit und nicht die schlechte Praxis ins Zentrum seiner scharfen Verurteilung der »väterlichen R e g i e r u n g « stellt: Eine Regierung, die auf dem Princip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine v ä t e r l i c h e R e g i e r u n g (imperium paternale), wo also die Unterthanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaft nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genöthigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urtheile des Staatsoberhaupts und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare D e s potismus.45 Wenn auch erst K a n t entschieden die K r i t i k ins Prinzipielle wendet und sich nicht mit dem Verweis auf die schlechte Praxis begnügt, erkennen kann man — wie gezeigt - das Täuschende der Landesvaterideologie durchaus schon zur Zeit Gottscheds. D o c h das Erkannte auch öffentlich auszusprechen, ist nicht nur im L a n d A u g u s t s des Starken höchst riskant. 46 U n d so streicht E b e r t die Strophe v o r dem Druck der übrigen 4i

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So z. B. bei Gottsched im »Biedermann« (Β I, 130), als er einen fiktiven Briefschreiber schildern läßt, wie der redliche Mann durch Intrigen vom Hof vertrieben wird und der Fürst dadurch wieder in die Hände schlechter Ratgeber fällt. Vgl. hierzu auch die unter dem Hinweis: »Ursachen und Charakter der Anhänglichkeit der untern Klassen an die Person des Regenten« gestellten Ausführungen von Karl Biedermann: Deutschland im 18. Jahrhundert, Bd. I, S. 165 ff. Belege für eine Kritik an der Landesvaterideologie finden sich bei Bengt Algot Sorensen: Herrschaft und Zärtlichkeit, S. 55-57. Kant: Uber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 273-31;, S. 2Ç)of. 1727 erläßt August der Starke ein Edikt, in dem »Dero ernster Wille, Meynung und Befehl« verkündet wird, »daß sich hinführo dergleichen unwahre, falsche, widrige, oder sonst bedenckliche und verdächtige Zeitungen und Nachrichten zu schreiben, zu verfertigen und öffentlich bekannt zu machen, oder hier oder dahin wegzuschicken, weiter niemand unterfangen, und auch überhaupt des vielen unwahrhafften Zeitung-Schreibens und unzulässigen Raisonnirens, zumahl von denen in Statum publicum laufenden Sachen, sich iedermänniglich enthalten, oder widrigen Falls harter und unnachbleiblicher 75

O d e in den »Belustigungen« ( 1 7 4 4 ) , nicht o h n e sich noch zu w u n d e m , »das die C e n s u r sie größtentheils [hat] durchgehen lassen.« 47 E r k e n n e n , p r i v a t mitteilen, öffentlich aussprechen und ins Prinzipielle w e n d e n : das sind die sich durchdringenden Stadien auf dem Weg der A u f k l ä r u n g ü b e r die nach dem B i l d der Familie modellierte aufklärerische Gesellschaftskonzeption, die zugleich als Vorschein eines moralischen Gemeinschaftslebens und als falscher Schein erfahren w i r d , als G e g e n b i l d zur faktischen Herrschaft u n d als deren K u l i s s e , und die dann v o n K a n t als das ganz falsche B i l d g e b r a n d m a r k t w i r d , das die U n m ü n d i g k e i t festschreibt, selbst wenn die Herrschaft diesem B i l d f o l g e n sollte. A m E n d e g e h t dieser Weg aufklärerischer S e l b s t a u f k l ä r u n g über in ein vielstimmiges öffentliches Räsonnement, 4 8 das auch bestimmt w i r d v o n einer N e u g i e r , die Lichtenberg mit der ganzen P r ä g n a n z aphoristischer P o i n t i e r u n g zu einem Wunsch bündelt: Ich möchte was darum geben, genau zu wissen, für wen eigentlich die Taten getan worden sind, von denen man öffentlich sagt, sie wären für das Vaterland getan worden. 49

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Bestrafung darfür, nach Befinden, mit Gefangnisse, Verweisung von der Stadt, oder dem Vestungs-Baue gewarten oder darmit beleget werden solle.« Zitiert nach Georg Witkowski: Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig, S. 228f.; ähnlich z. B. auch die Verordnung, die der Herzog von SachsenWeimar Ernst August im Jahre 1737 erläßt, in der er »das vielfaltige Raisonniren der Untertanen bei halbjähriger Zuchthausstrafe verbot«; es haben »die Beamten solches auf Beschehen sogleich anzuzeigen, massen das Regiment von Uns, nicht aber von den Bauren dependirt und wir keine Raisonneurs zu Unterthanen haben wollen.« Zitiert nach Otfried Nippold: Einleitung zu: Christian Wolff: Jus Gentium Methodo Scientifica Pertractatum, S. X I I I - L V I , S. X V I I I . Ebert an Hagedorn am 29.1.1744, in: Friedrich von Hagedorn: Poetische Werke, Teil 5, S. 238-244, S. 243. Siehe dazu Fritz Valjavec: Geschichte der abendländischen Aufklärung, S. 3ioff.; allgemein hierzu siehe Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, darin bes. das Kapitel »Publizität als Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral (Kant)« (S. 117fr.); darauf, daß durchs ganze 18. Jahrhundert hindurch in der Regel nicht gegen, sondern mit der Obrigkeit eine Reform der Verhältnisse angestrebt wurde, weist hin Rudolf Vierhaus: Politisches Bewußtsein in Deutschland vor 178g. Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, Bd. 2, S. 450.

76

V.

SOZIALE REALITÄT UND FAMILIALE TUGENDWELT

Zum Verhältnis von erfolgreichem und tugendhaftem Handeln in Johann Christian Krügers »Candidaten« Wenn sich auch bei vielen die Neugier nicht entwickelt, die Lichtenberg zu seiner Frage nach den wahren Motiven der angeblich vaterländischen Taten provoziert, weil sie die Familienkulisse für die Sache der Gesellschaft selbst nehmen, so ist der Weg der Aufklärung über eine Herrschaftsordnung, die alles andere ist als eine ins Gesellschaftliche gewendete Idealfamilie, doch von Anfang an auch geprägt von leidvollen Erfahrungen. Denn viele Aufklärer bekommen es selbst zu spüren, daß die Obrigkeit keineswegs der wohlwollende und fürsorgliche >Vater< ist, als der sie von ihnen ausgerufen wird.' So berichten Mitstreiter Gottscheds, die sich vornehmlich aus dem Kreis der mittelständischen Intelligenz rekrutieren, 2 von den Enttäuschungen angesichts der rationalistischen Verheißungen einer Welt, in der die Vernunft als Garant des Glücks triumphiert. In ihren Briefen malen sie das Bild der deutschen Misere in düsteren Farben. Ein in Lübeck lebender Gottschedianer konstatiert zum Beispiel, daß er »in einer Ecke lebe, welche von der gelehrten Welt gleichsam mit Brettern abgesondert ist«', und ein Helmstedter klagt, daß er an einem Ort lebe, »wo die [. . .] deutsche Welt mit Brettern vernagelt zu seyn scheinet.« 4 Sie alle erleben, daß das Licht der Vernunft doch nicht so hell leuchtet, wie sie Gottsched glauben machte. Und vielfach können sie auch nicht der Erfahrung ausweichen, daß das moralisch Vernünftige, das den Tugendhaften auszeichnet, nicht zugleich auch das gesellschaftlich Vernünftige ist, das den Erfolgreichen auszeichnet. 1 Das '

Z u m despotischen Verhalten der Obrigkeit siehe Hans Rosenberg: Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy, bes. S. 88-108; unter dem Gesichtspunkt der Militarisierung des Alltagslebens siehe O t t o Büsch: Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1 7 1 3 - 1 8 0 7 , bes. S. u f f .

2

Z u Gottscheds Korrespondenten A n f a n g der dreißiger Jahre siehe Marianne Wehr: Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel, Teil 1, S. 4Jungakademiker< häufig blockiert, da im Verhältnis zu den B e w e r b e r n die Z a h l der freien Stellen s c h r u m p f t . 1 0 In höhere Ä m t e r h i n e i n z u k o m m e n , w i e es f r ü h e r auch f ü r Bürgerliche durchaus m ö g l i c h w a r , " ist fast u n m ö g l i c h g e w o r d e n durch den erneut privilegierten Z u g a n g des A d e l s zu allen höheren Stellen,' 2 w o d u r c h nachhaltig die »Zirkulation der Eliten« unterbunden w i r d . 1 ' A b e r auch die niederen Ä m t e r stehen den A n g e h ö r i g e n der >bürgerlichen< Intellig e n z nicht nur w e g e n der großen K o n k u r r e n z , sondern auch w e g e n der weithin noch herrschenden Praxis einer nicht an strikte Qualifikationsm e r k m a l e gebundenen Ä m t e r v e r g a b e nicht ohne weiteres offen. D e n n noch i m m e r w i r d in Ä m t e r eingeheiratet' 4 oder sie werden g e k a u f t , ' ' noch immer g i b t es die Ä m t e r h ä u f u n g in einer H a n d ' 6 und noch i m m e r erschwert die G ü n s t l i n g s w i r t s c h a f t einer sich vielfach selbst r e p r o d u zierenden Beamtenoligarchie' 7 den Z u g a n g zu einer A n s t e l l u n g , die dann h ä u f i g nicht einmal ein sicheres E i n k o m m e n garantiert, sondern n u r unregelmäßige

Einkünfte

aus

Gebühren,

Sportein,

Naturaldeputaten,

IO

Siehe hierzu Alberto Martino: Lohenstein, S. 427. ' ' Z u r Rekrutierung der preußischen Beamtenschaft aus dem Bürgertum und der damit häufig verbundenen Nobilitierung zur Zeit Friedrich Wilhelm I. siehe Gustav Schmoller: Der preußische Beamtenstand unter Friedrich Wilhelm I. 12 Z u r Überlegung, daß der absolutistische Staat den Andrang bürgerlicher Bewerber für die höheren Staatsstellungen durch die Betonung der geburtsständischen Abkunft abzuwehren trachtete, siehe für Bayern Rainer A. Müller: Sozialstatus und Studienchancen in Bayern im Zeitalter des Absolutismus, bes. S. 131 f.; zur Funktionalisierung des Adels im Zeitalter des Absolutismus durch die Übertragung der wichtigsten Ämter in Staat, Militär und Kirche an Adlige siehe Günter Birtsch: Z u r sozialen und politischen Rolle des deutschen, vornehmlich preußischen Adels am Ende des 18. Jahrhunderts, der analysiert, wie auf diese Weise das »traditionsständische Sozial- und Herrschaftsgefüge in eine funktionsständische Ordnung« umgeformt wurde. (S. 78) Siehe Alberto Martino: Lohenstein, S. 420fr.; vgl. auch Rudolf Vierhaus: Vom aufgeklärten Absolutismus zum monarchischen Konstitutionalismus, S. i3of.; Johannes Kunisch: Die deutschen Führungsschichten im Zeitalter des Absolutismus, S. 1 4 1 , und den Forschungsbericht von Wolfgang Zorn: Deutsche Führungsschichten des 17. und 18. Jahrhunderts, S. i92ff. ' 4 Z u r Einheirat in Pfarrämter siehe Paul Drews: Der evangelische Geistliche, S. 138. Siehe Horst Müller: Ämterkäuflichkeit in Brandenburg-Preußen im 17. und 18. Jahrhundert; siehe ebenfalls Wolfgang Reinhard: Staatsmacht als Kreditproblem, bes. S. 2i4f. ' 6 Siehe Siegfried Isaacsohn: Geschichte des Preußischen Beamtenthums, Bd. 2, S. 3 5 off. ' 7 Siehe ebd., S. 6 7 ff. 79

L a n d p f r ü n d e n und zu einem nicht geringen Teil aus

Bestechungs-

geldern. 1 8 S o kann man - unter dem Vorbehalt der anachronistischen R e d e w e i s e - durchaus v o n einem a k a d e m i s c h e n Proletariat sprechen, das sich im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts herausbildet, 1 ' und fast z w a n g s l ä u f i g werden auch K l a g e n über eine zu große Z a h l v o n Studenten laut. 20 D i e s ist in großen Z ü g e n und ohne die eigentlich notwendige regionale Differenzierung die soziale L a g e v o n vielen A n g e h ö r i g e n der mittelständischen Intelligenz, die an den R a n d der Gesellschaft gedrängt werden. Sie gehören zu jener durchaus noch kleinen Schicht derjenigen, die ihren Platz in der altständischen Gesellschaft verlassen haben, denen aber die vielstimmig

hypostasierte

>Vernunftordnung< keinen

neuen

zugewiesen hat, an dem das, was sie f ü r gültig halten, mit dem korrespondiert, was die Gesellschaft an materiellen und ideellen Gratifikationen offeriert. Weder partizipieren sie an den Herrschaftsrechten des Adels oder an den Verfügungsrechten der gewerbe- und

handeltreibenden

K a u f m a n n s c h a f t noch am überkommenen Prestige der Juristen; und die Privilegienordnung einer >nobilitas literaria< nimmt sie auch nicht auf, seitdem Bildung ihren exklusiven A n s p r u c h verloren hat. 21 So liegt, trotz aller Widrigkeiten der Stellensituation, ihre Chance, um dem elenden Hofmeisterdasein zu entgehen, häufig allein darin, mit aller A n s t r e n g u n g und u m fast jeden Preis eine Anstellung im Dienst eines der sich zunehm e n d verwaltungsmäßig organisierenden Fürstenstaaten zu finden. A b e r auch wenn dies gelingen sollte, steht ihnen in der Regel keine v o r fürstlicher Willkür gesicherte auskömmliche Beamtenexistenz bevor, sondern n u r die unsichere Existenz eines patrimonialen Beamten, der dem Herrscher auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. 22 J o h a n n Christian K r ü g e r ist einer derjenigen, die ihren Platz im tradierten O r d n u n g s g e f ü g e der Gesellschaft verlassen haben, aber keinen neuen finden können, der das einlöst, was ihnen die zeitgenössische Ver18 19

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Siehe Dietrich Gerhard: Amtsträger, S. 242. Siehe Rolf Grimminger: Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen, S. iÓ4f.; für das frühe 18. Jahrhundert siehe Wolfgang Zorn: Hochschule und Höhere Schule in der deutschen Sozialgeschichte der Neuzeit, bes. S. 32;. Siehe Johann David Michaelis in der »Vorrede« zum 1. Bd. seines »Raisonnements über die protestantischen Universitäten in Deutschland«, S. 1 5 ; ; siehe ebenfalls Grete Klingenstein: Akademikerüberschuß als soziales Problem im aufgeklärten Absolutismus, bes. S. 166. Siehe dazu Anke-Marie Lohmeier: Beatus ille, S. 374^ Zum Typ des patrimonialen Beamten siehe Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 5 94fr.; vgl. auch Dietrich Gerhard: Amtsträger, S. 241.

nunftpropaganda Gottscheds und seiner Mitstreiter verspricht. 1723 als Kind armer Eltern geboren, ermöglicht ihm ein Gönner den Besuch des Gymnasiums, dem sich ein von großen Entbehrungen geprägtes Studium der Theologie in Halle und Frankfurt a. d. Oder anschließt. Danach beginnt für ihn die erniedrigende und vergebliche Stellungssuche; er schlägt sich als Hauslehrer durch, wird aus lauter Not und Verzweiflung Mitglied der Schönemannschen Schauspieltruppe,2' verbessert nebenher seinen kargen Unterhalt mit Übersetzungen/ 4 schreibt einige Komödien und stirbt mit 28 Jahren »an der Hektik« eines überanstrengten Lebens - wie es bei Christian Heinrich Schmid heißt.25 Dieses Leben hinterläßt Spuren in seinem Werk. Insbesondere in seine beiden Lustspiele »Die Geistlichen auf dem Lande« und »Die Candidaten, oder: Die Mittel zu einem Amte zu gelangen« gehen die leidvollen Erfahrungen ein, die er in seinem kurzen Leben machen mußte. Als ehemaliger Theologiestudent kennt er die Amtsführung so mancher Geistlicher, und wenn er in seiner Komödie »Die Geistlichen auf dem Lande« in den Dramenhelden Muffel und Tempelstolz zwei Prediger zeigt, die ihr Interesse mehr auf Ackerbau und Viehzucht als auf ihr geistliches Amt richten, so entspricht das durchaus der elenden Lage vieler Landpfarrer, die gezwungen waren, ihre Einkünfte durch landwirtschaftlichen Nebenerwerb, der häufig zum Haupterwerb wurde, zu verbessern.26 Auch daß die beiden Geistlichen seines Dramas sich nicht für ihr Amt berufen fühlen, sondern es einzig als Quelle des Erwerbs ansehen, reflektiert eine soziale Realität, in der häufig allein ökonomische Gründe den Ausschlag für die Wahl des Theologiestudiums abgaben, da es bei weitem am wenigsten kostete.27 Und wenn das Drama darüber 25

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Der Prinzipal Schönemann bestätigt aus eigener Kenntnis, »daß die meisten, welche den Stand eines Komödianten erwählen, bloß aus Not [. . .] dieses Brot ergreifen.« Vorrede zum 5. Bd. seiner »Schaubühne«, Auszug abgedr. in: Hugo Fetting: Conrad Ekhof, S. ιοηί., S. 207. Vor allem handelt es sich hierbei um die Überset2ung von 12 Dramen Marivaux', die 1747 und 1749 in Hannover in zwei Bänden erschienen sind unter dem Titel: »Sammlung einiger Lustspiele aus dem Französischen des Herrn von Marivaux übersetzt«; Christian Heinrich Schmid: Chronologie, S. 83, weist darauf hin, daß Krüger aus purer Not diese Übersetzungen anfertigte. So Schmid: Chronologie, S. 95, der sich sicherlich auf die »Vorrede« von Johann Friedrich Löwen zur Ausgabe von Krügers Werken bezieht, in der der Zusammenhang zwischen Krügers Existenzkampf und dessen frühem Tod ausführlicher herausgestellt wird. Z u weiteren biographischen Einzelheiten siehe außerdem Wilhelm Wittekindt: Johann Christian Krüger, bes. S. 1-8; David G . John: Einleitung zu: Johann Christian Krüger, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Tübingen 1986, S. I X - X V I I I . Siehe dazu Paul Drews: Der evangelische Geistliche, S. 139. Siehe Franz Werner: Soziale Unfreiheit und bürgerliche IntelligenzEin ehrwürdiges Amt suchen heißt in einigen Parochien so viel als des gnädigen Herrn Kammermädchen heirathen!Mietpoeten< siehe Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht, S. 182fr.; auf die Nachahmung der Repräsentationskunst durch Bürgerliche und darauf, welche Rolle dabei die Gelegenheitsgedichte spielen, verweist Uwe-K. Ketelsen: Poesie und bürgerlicher Kulturanspruch, S. 9 5 f. Zur Praxis der Bestechung und des Ämterkaufs siehe Jacob van Klaveren: Die historische Erscheinung der Korruption. In Sachsen drangen die Stände im Jahre 1780 auf die Abstellung der Praxis des Kaufs von Ämtern, um ihnen den Pfründencharakter zu nehmen. Doch erst im Jahre 1795 bekamen die Angehörigen der Justiz eine feste Besoldung und mußten sich nicht mehr aus dem Amt selbst ernähren. Siehe dazu Karl Biedermann: Deutschland im 18. Jahrhundert, Bd. 1, S. 84fr. So heißt es auf einem zeitgenössischen Theaterzettel, den Wilhelm Wittekindt: Johann Christian Krüger, S. 119, zitiert: »Wer eine recht natürliche Schilderung der Sitten des gemeinen Lebens zu sehen verlanget, dem können die Candidate« völlige Genüge leisten.« Siehe dazu Marianne Wehr: Johann Christoph Gottscheds Briefwechsel, Teil ι, S. 179fr. Siehe dazu Hans Devrient: Johann Friedrich Schönemann und seine Schauspielergesellschaft. Zu nennen sind hier insbesondere die Vorspiele »Der Richterstuhl des Geschmacks«, »Die mit den freyen Künsten verschwisterte Schauspielkunst« und »Halle, die Beförderinn der schönen Künste« (in der von David John herausgegebenen Kritischen Gesamtausgabe, S. 133-141, S. 77-90, S. 91-101). Es handelt sich um »Die mit den freyen Künsten verschwisterte Schauspielkunst«, die im Bd. V I der »Deutschen Schaubühne«, S. ; ; 2-564 abgedruckt ist. Gottsched begründet den Abdruck in seiner Vorrede damit, daß das Krügersche Vorspiel »die Regeln der guten Schaubühne in vielen Stücken erläutert.« (S. X I X * ) 83

gäbe und Wesen der Poesie nachdrücklich; und wenn er über das dramatische Geschehen seiner beiden Komödien das moralische Bewertungsmuster legt, so erweist er sich ebenfalls als treuer Anhänger des Leipziger Literaturreformators. Nicht nur in dem, was die tugendhaften Leitfiguren in ihren »mehrfach adressierten Äußerungen« 4 2 an Einsichten verkünden, 43 sondern auch im Handlungsausgang seiner Komödien folgt er ihm. Denn daß den Tugendhaften am Ende des Dramas der Sieg zusteht, ist auch bei Krüger nicht bloßer Ausfluß einer gattungsspezifischen >poetischen Gerechtigkeit^ sondern Manifestation der in den Stücken selbst artikulierten Überzeugung vom strikten Zusammenhang zwischen Tugend, Vernunft, Vollkommenheit und Glück. So gehen in den »Geistlichen auf dem Lande« die lasterhaften Pfarrer in all ihrem intriganten Tun leer aus, und den tugendhaften Brautleuten Wahrmund und Wilhelmine winkt das Glück einer Familie, wie Gottsched sie im »Biedermann« als Ideal entworfen hat; und am Schluß der »Candidaten« sind der wollüstige Graf nebst eitler Ehefrau und dümmlichem Licentiaten Chrysander die Düpierten, während Herrmann das Glück des Tüchtigen hat, dem seine Tugend Amt und Ehefrau verschafft. Krügers Dramen folgen so dem doppelten Aspekt des Gottschedschen Nachahmungsgebots, indem sie in bezug auf die Erfahrung der Zuschauer die Wahrscheinlichkeit der dramatischen Handlungswelt und in bezug auf die >Vernunftordnung< die Wahrheit des dramatischen Handlungsausgangs sichern. Zwar greift diese doppelte Sicherung schon in Hinrich Borkensteins »Bookesbeutel« nicht problemlos ineinander, da die >Vernunftwahrheit< der Glücksgarantie für den Tugendhaften mit der >Tatsachenwahrheit< der Erfolgsgarantie für den Skrupellosen kollidiert, aber in der Regel blenden die sächsischen Typenkomödien Unstimmigkeiten ab zwischen dem, was wahrscheinlich ist gemäß der Empirie, und dem, was wahr ist gemäß der Moralphilosophie. Denn auch wenn sie gesellschaftliche Gegebenheiten in vielfältigen Momenten ins Drama hineinnehmen, ein Eigengewicht als Handlungsdeterminanten bekommen sie nicht. Sie dienen nur als Beglaubigungsfolie für ein Fehlverhalten, das auf den Mangel an Einsicht und Erziehung zurückgeführt wird, dabei aber die institutionelle Ordnung der Gesellschaft als bestimmendes Moment eines gesellschaftlichen Verhaltens ignoriert. 42 4i

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Siehe dazu S. 51 dieser Arbeit. So ist ζ. B. Herr Wahrmund - die Vorbildgestalt aus Krügers erstem Lustspiel - ein Dozent der Aufklärungsphilosophie, der eine Vernunftreligion vertritt, wie sie Gottsched in seiner »Weltweisheit« entfaltet, und Herrmann aus den »Candidaten« ist als Vertreter jener Tugendhaftigkeit gezeichnet, wie sie in der Frühaufklärung von Gottsched nachdrücklich propagiert wird.

Eine Ständedramatik, wie sie wenig später Diderot konzipieren wird, wenn er fordert »C'est la condition, ses devoirs, ses avantages, ses embarras, qui doivent servir de base à l'ouvrage«, 44 kommt den Autoren der sächsischen Typenkomödie nicht in den Sinn, und sie darf ihnen auch gar nicht in den Sinn kommen, denn Gottsched verlangt ja von der Komödie - genau umgekehrt - sie habe lauter solche Laster und Tugenden abzuschildern, [. . .] die im gemeinen Leben, unter Leuten von allerley Ständen, häufig vorzukommen pflegen. 4 '

Die unterschiedliche Zugehörigkeit zu einem Stand wird als akzidentell abgetan, wichtig ist allein die unterschiedliche Teilhabe an der einen und gleichen Vernunft für alle. Bei einem solchen Menschenbild, das die gesellschaftlichen Bedingungen der Existenz zugunsten der Allgemeinheit eines »Gesetzes der Natur« ausblendet, gilt allein die Position des Menschen im Koordinatensystem von Tugend und Laster. Und so fungieren dann auch die einzelnen lasterhaften Dramenfiguren mit ihren redenden Namen 46 zwar als Exempel, aber nicht für den Berufsstand, dem sie jeweils angehören, sondern für die Vernunftordnung, die sie auf spezifische Weise verletzen. 47 Nicht die Justiz als Organ des Rechts, sondern die Unvernunft des Richters Zankmann, der das Urteilen nicht lassen kann, wird dem Verlachen überantwortet (Quistorp: »Der Bock im Processe«); nicht die Institution der Kirche, sondern die Amtsführung derjenigen Vertreter, für die der Glaube nur die Fassade ihres schändlichen Treibens ist, wird gebrandmarkt (Krüger: »Die Geistlichen auf dem Lande«); und ebensowenig soll die Ärzteschaft als Organ der Heilkunst mit dem Spott der Satire überzogen werden, sondern einzig das Quacksalbertum, dem es ums Geld und nicht um die Patienten geht, wird mit beißender Kritik bedacht (Mylius: »Die Ärzte«). Damit den Zuschauern 44

Denis Diderot: D o r v a l et moi [ 1 7 5 7 ] , in: ders.: Œ u v r e s complètes, B d . 7, S. 8 5 - 1 6 8 , S. 1 5 0 ; » K ü n f t i g muß der Stand, müssen die Pflichten, die Vorteile, die Unbequemlichkeiten desselben zur Grundlage des Werks dienen.« Ubers, v o n Lessing, in: ders.: Werke, Teil 1 1 , S. i4Ç)f.

45

Gottsched: D i e Vernünftigen Tadlerinnen I, 1 7 . Stück, " 1 7 2 7 , S. 1 3 3 .

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Z u r Tradition der redenden N a m e n siehe Hendrik Birus: Poetische N a m e n g e -

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Siehe dazu auch Günter Wicke: Die Struktur des deutschen Lustspiels der

bung, S. 6off. A u f k l ä r u n g , S. 23: »Polemik richtet sich also nie gegen Persönlichkeiten, nicht einmal gegen anonyme Personengruppen, sondern nur gegen Mißstände in abstracto. W o gesellschaftliche Zustände kritisiert werden, und das geschieht oft in scharfer Weise, werden nicht die Gesellschaft und ihre Institutionen selbst in Frage gestellt, sondern nur der Mensch, der nicht imstande ist, sie zu erfüllen. Mit einem Worte: das Lustspiel der A u f k l ä r u n g verfolgt nicht politische, revolutionäre Ziele, sondern pädagogische!«

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nun aber auch deutlich wird, daß nicht gesellschaftliche Institutionen, sondern das Fehlverhalten einzelner Gestalten die Zielscheibe des von der Komödie zu provozierenden Verlachens ist, wird auch immer auf die positive Gegenfigur aus der gleichen Sphäre hingewiesen. Der aufrechte Jurist, der fromme Prediger, der gute Arzt sollen jede Generalisierung auf den Berufsstand verhindern und die Aufmerksamkeit auf das lenken, was als bestimmend angesehen wird: die rechte Teilhabe an der umgreifenden Vernunftordnung. Die lasterhaften Personen sind >un vernünftige also gilt es, ihren Verstand und nicht die Institutionen zu verbessern, um das Laster zu besiegen: das ist der pädagogische Grundgedanke, der die Wirkungsabsichten der Komödien bestimmt. Selbst der Adel kommt dabei nicht als Stand, sondern nur in seinen >unvernünftigen< Vertretern in den Blick. So stellt die Gottschedin (»Ungleiche Heirath«) der lasterhaften Familie Ahnenstolz das vernünftige Fräulein Amalia aus der näheren Verwandtschaft gegenüber; und ebenso wenig läuft in Krügers »Candidaten« die moralische Scheidelinie parallel zur Ständegrenze. Denn obwohl er wie kein anderer zeitgenössischer Autor seine Komödie den sozialen Mißständen seiner Zeit öffnet, formt auch er seine Figuren nach dem moraltypologischen Schema der rationalistischen Vernunftordnung und nicht nach den Gegebenheiten der empirischen Sozialstruktur. Adlig sind sowohl das aufrechte Fräulein Caroline und der redliche Fähnrich Valer als auch das wollüstige und eitle gräfliche Ehepaar, und bürgerlich ist neben dem intriganten Arnold und dem dümmlichen Chrysander auch der tugendhafte Herrmann. So folgt Krüger nicht nur im Handlungsausgang, sondern auch darin, daß er seine Personen nach Gesichtspunkten der Moral- und nicht der Sozialordnung gestaltet, dem doppelten Gebot der Gottschedschen Nachahmungsdoktrin. Denn die soziale Realität erscheint als bloße Beglaubigungsinstanz ohne handlungsprägende Kraft, während die Vernunftordnung die Wahrheitsinstanz für das ist, was den Figuren des Dramas am Ende zu Recht geschieht. Im Zentrum der Dramenhandlung, die die dramatis personae an ihr von der Tugenddoktrin vorherbestimmtes Ende bringen wird, stehen die Bewerbungen der drei Kandidaten Herrmann, Chrysander und Valer um eine Ratsherrenstelle, die ein Graf zu besetzen hat. Bestechungen, Schmeicheleien, sich mehrfach kreuzende Intrigen, Versuche des gräflichen Ehepaares, sich gegeneinander auszuspielen, um den Kandidaten der eigenen Wahl durchzubringen, Versprechungen und ihre Zurücknahme, Verstellungen und ihre Entdeckungen bestimmen den verwickelten Handlungsgang, an dessen Ende Herrmann das erlangt, was ihm nach 86

der frühaufklärerischen Lehre von der Tugend als Erfolgsprinzip gebührt: die Anstellung als wohlverdiente Belohnung dafür, daß er sich als einziger aufrichtig, leistungsbewußt und redlich bemühte. Düpiert dagegen stehen am Ende des Dramas die gräflichen Eheleute da. Sie werden dem Verlachen preisgegeben, denn ihre Wunschkandidaten, die ihre lasterhaften Bedürfnisse zu befriedigen versprachen, gehen leer aus. So bleibt das Formprinzip der sächsischen Typenkomödie in allen Aspekten gewahrt. Personengestaltung und Handlungsende verweisen auf die Vernunftordnung der Moralphilosophie, und die im Drama als lasterhaft abqualifizierten »Mittel zu einem Amte zu gelangen« - so der Untertitel des Dramas - verweisen auf den Zustand der Erfahrungswirklichkeit. Doch wie schon im »Bookesbeutel« fügt sich auch diesmal nicht die Wahrscheinlichkeitsgarantie des empirischen Gehalts problemlos dem Wahrheitspostulat des »moralischen Satzes«. Denn dem gräflichen Ehepaar, das in seiner Libertinage und mangelnden Ausrichtung auf die Kinder so eklatant gegen alle Normen des >aufgeklärten< Familienideals verstößt, wird zwar der moralische Prozeß gemacht, aber das Urteil suggeriert nur die Macht einer Moral, die das Drama selbst bei näherem Hinsehen - wiederum entgegen seiner »auktorial intendierten Rezeptionsperspektive« 48 - dementiert. Herrmann steht am Ende zwar als der Sieger dar und das gräfliche Ehepaar als der Verlierer; doch dies ist nicht Resultat seiner Tugend und ihres Lasters, wie es die Moralphilosophie wahrhaben will, sondern es verhält sich genau umgekehrt: trotz seiner Tugend und ihres Lasters kommt das gute Ende zustande. In seinem Bemühen um Realitätsnähe offenbart das Drama dies selbst — entgegen seiner moralischen Botschaft. Denn es wird von dem sozialen Gehalt der Ämtervergabe, der in es eingegangen ist, geradezu >genötigtWahrheit< der moralischen Botschaft willen preis, indem er im Schlußbild seines Dramas den Bezug zur Wirklichkeit abbricht. Bliebe er bis zum Ende erhalten, dürfte eine Heirat, die sich so offensichtlich über die existierenden Gesetze hinwegsetzt, nicht stattfinden - so wie sie in Lessings »Juden« nicht stattfindet. In diesem Drama steht die Hochzeit zwischen der Tochter eines Barons und dessen tugendhaftem Retter unmittelbar bevor. Doch wie selbstverständlich wird sie rückgängig gemacht, als der Retter sich als Jude offenbart. Edel, tapfer und großmütig konnte Lessing ihn zeichnen und sich dabei sogar den Vorwurf von Johann David Michaelis gefallen lassen, ein solcher Jude sei wider die Wahrscheinlichkeit;' 8 aber eine Heirat zwischen einem Juden und einer Christin war auch für Lessing jenseits dessen, was die Plausibilität des dramatischen Handlungsgangs erlaubte. Zwar läßt er noch einmal die Tochter des Barons ganz erstaunt fragen: »Ey, was thut das?«", als alle erschrocken auf die Information reagieren, der Bräutigam sei Jude, doch verweist er sogleich in der Antwort, die Lisette daraufhin gibt, auf die Zwänge einer Realität, die einzig die Braut in ihrer Naivität nicht zu erkennen vermag: »St! Fräulein, st! ich will es Ihnen hernach sagen, was das thut.« 6 ° Gesagt wird es dann gar nicht mehr, denn Lessing konnte annehmen, daß die Zuschauer die Heiratsverbote zwischen Juden und Christen kennen. Daß die Zuschauer auch die Heiratsverbote zwischen Adligen und Nicht-Adligen kennen, ist gleichfalls anzunehmen. Doch während Lessing die Wirklichkeitskenntnis der Zuschauer antizipiert und die dramatische Fiktion den Bedingungen der Realität unterwirft, um sein Drama zu einem wahrscheinlichen Ende zu bringen, ignoriert Krüger diese Kenntnis und klammert die Zwänge der Realität am Schluß seines Dramas aus, um es zu einem guten Ende zu bringen. Das Brautpaar Herrmann und Caroline wird aus den sozialen Bedingungen seiner Existenz gelöst und einer gesellschaftsabgewandten Sphäre von Ehe und Familie 58

Die Rezension von Michaelis und Lessings Reaktion darauf ist abgedr. in: L M V I , S. 159-166. " L M I, S. 410; I/22. 60 Ebd. 93

zugeordnet, in der erst die Tugend als das gilt, was ihr nach aufklärerischem Optimismus gebührt. Denn erst hier gewinnt sie den Ort ihrer strahlenden Existenz in einer Gefühlsgemeinschaft, in der das »Herz [. . .] mehr [ist] als Adel und Reichthum« (Can, 377; V/8). Sie kompensiert, was Herrmann in der Machtsphäre des gräflichen Paares schmerzlich bewußt wurde: das Auseinanderfallen von Selbstwert und Sozialwert. Caroline selbst weiß, noch bevor sie ihre adlige Abkunft erfährt, wie sehr die Gefühlsgemeinschaft diese Kompensationsfunktion hat: CAROLINE [zum Grafen]: Was uns an äusserlichem Glücke abgehet, müssen wir uns durch das Glück einer zärtlichen und tugendhaften Liebe ersetzen; Leute von ihrem Stande aber können dieser Wollust leicht entbehren, denn sie können sich in dem Überfluß andrer Güter sättigen. (Can, 521; III/3)

Der Rückzug in die Binnenwelt einer abgeschlossenen Gefühlsgemeinschaft, den dann Geliert so wirkungsmächtig propagiert, deutet sich hier an; und auch ein Grund wird angegeben in dem Mangel an »äusserlichem Glücke«, so wie ihn viele Angehörige der zeitgenössischen Intelligenz erleiden.

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Β. DIE VERKLÄRUNG DER FAMILIE

I.

D I E F A M I L I E ALS G E F Ü H L S G E M E I N S C H A F T

Gellerts Erhebung der Privatsphäre zum wahren Ort menschlichen Glücks

Eines der Kennzeichnen der Aufklärungsgesellschaft ist der Z u s a m menschluß v o n Menschen quer zu den herrschenden gesellschaftlichen Hierarchien.' Reinhart Koselleck verweist dazu auf die Geheimgesellschaften und Freimaurerlogen und spürt den G r ü n d e n f ü r ihr Entstehen im staatlichen Bereich der absolutistischen Machtorganisation nach/ und J ü r g e n Habermas deutet auf die vielen Lesegesellschaften des 18. J a h r hunderts und bestimmt die Ursachen f ü r deren Genese in den soziokulturellen Prozessen einer veränderten Offentlichkeitsstruktur.' D o c h noch eine andere Quellschicht ist auszumachen, aus der heraus die sich in vielfältiger F o r m bildenden Inseln einer privaten Geselligkeit gespeist werden. Wenn Caroline in K r ü g e r s »Candidaten« auf den »Mangel an äußerem G l ü c k « zu sprechen kommt und in diesem Zusammenhang die kleine Gemeinschaft der Vertrauten in ihrer K o m p e n s a t i o n s f u n k t i o n benennt, so mag dies ein erster Hinweis darauf sein, w o diese Quellschicht aufzusuchen ist. Was »Mangel an äußerem G l ü c k « heißen kann, ist dabei allerdings näher zu bestimmen, um es als etwas Zeittypisches kenntlich zu machen. Mangel an äußerem Glück hat es zwar immer gegeben, aber im 18. Jahrhundert gewinnt dieser Mangel f ü r viele A n g e h ö r i g e der mittelständischen Intelligenz eine spezifische Gestalt. E r erscheint nicht so sehr als manifestes E l e n d , sondern ähnelt mehr dem, was Herrmann in K r ü g e r s

1

2 5

Siehe dazu allgemein Ernst Manheim: Aufklärung und öffentliche Meinung, bes. S. 20-54. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise, bes. S. 49fr. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, bes. S. 84ff. 95

»Candidatene so lange erfährt, bis ihn das gütige Geschick einer poetischen Gerechtigkeit den K u m m e r in den Armen seiner Braut vergessen läßt. Was Herrmann als Dramenfigur erleben muß, ist durchaus bezeichnend für das, was vielen Gebildeten der Zeit widerfährt. So wie er haben auch sie den ihnen v o n der Herkunft vorbestimmten festen Platz im soziale G e f ü g e der Gesellschaft verloren. Sie haben durch Ausbildung und Studium mehr als nur das Elternhaus verlassen, in das sie in aller Regel nicht mehr zurückkehren werden. Sie haben die überkommene Welt der Väter verlassen, in der alles weitgehend noch nach Gewohnheit und Sitte so geregelt war, daß Wiederholung des Gebräuchlichen und nicht Ausprobieren des Neuen das generelle Handlungsmuster bestimmte.4 Diese bis ins 18. Jahrhundert hinein in großen Bereichen noch weitgehend >geschichtsresistente< Welt, die in der Lebensform des »Ganzen Hauses« ihren Ausdruck findet,' ist nicht mehr die Welt jener zeitgenössischen Intelligenz, die sich von den Banden des Herkommens löst. Nicht ihm, sondern der >Vernunft< fühlen sie sich verpflichtet; in ihrem Namen ziehen sie (wie an den Jüngern Gottscheds besonders deutlich wird) in eine >neue< Welt, in der die tradierten Selbstverständlichkeiten nicht mehr gelten sollen. Doch ein solcher Aufbruch hat seinen psychischen Preis. Denn mit dem Schwinden der unbefragten Selbstverständlichkeiten des Überkommenen schwinden auch die traditionalen Sicherheiten des Erlebens und Handelns. Arnold Gehlen hat hierauf immer wieder hingewiesen: Wenn Institutionen im Geschiebe der Zeiten in Verfall geraten, abbröckeln o d e r bewußt zerstört werden, fallt diese Verhaltenssicherheit dahin, man wird mit Entscheidungszumutungen gerade da überlastet, w o alles selbstverständlich sein sollte. 6

Seit Emile Dürkheims großem Werk über den Selbstmord 7 spricht man von >Anomiewahren< Werten ausrichtet, keineswegs beeinträchtigen kann. 40 Diese Umdeutung wird besonders daran deutlich, wie Geliert die alte Unterscheidung von Sein und Schein aufgreift. Zunächst wirkt es allerdings gar nicht so neu, was er macht. Insbesondere das Barock hatte die Scheinhaftigkeit allen irdischen Daseins immer wieder betont und dafür in der theatrum-mundi-Vorstellung den metaphorischen Ausdruck gefunden. Sein und Schein, endliche Existenz und Unsterblichkeit, Diesseits und Jenseits sind in der theozentrischen Perspektive des barocken Selbstverständnisses Gegensatzpaare, bei denen die Wertigkeit außer aller Frage steht. Und doch — darauf hat Wilfried Barner hingewiesen - 4' gibt es hier auch eine anthropozentrische Perspektive, in der die Rollenmetaphorik des Welttheaters für den gesellschaftlichen Umgang der Menschen ausgearbeitet wird. Der Mensch hat theatralisch zu agieren, auf daß er im Macht- und Prestigekampf gegenüber seinen Konkurrenten erfolgreich ist. Was Gracián breitenwirksam entfaltet hat,42 wird zur Handlungsmaxime einer höfisch geprägten Welt, in der der einzelne sich unter einen permanenten Selbstbehauptungszwang gestellt sieht. Ein hierdurch geprägtes Verhalten, das im anderen als dem >Gegner< seinen bestimmenden Bezugspunkt hat, ist Geliert wohl bekannt. So illustriert er am Beispiel des von ihm erfundenen Hofmannes Damis außerordentlich präzise den Verhaltenszwang einer Gesellschaft, in der die glanzvolle Präsentation der eigenen Person Ausfluß des Ringens um Rang- und Prestigevorteile ist: D a m i s , dieser Große, spricht. Alles hört ihn als ein Orakel an. E r redt von den Geschafften des Staats mit einsichtsvoller Beredsamkeit. Wie angenehm 40

Die folgenden Ausführungen stützen sich im wesentlichen auf Gellerts »Moralische Vorlesungen«. Auch wenn diese erst posthum im Jahre 1770 veröffentlicht werden, so sind sie doch der direkteste Ausdruck seiner weltanschaulichen Grundhaltung, die er seit den vierziger Jahren in den verschiedensten Texten verkündet. Die pietistische Wende am Ende von Gellerts Leben, wie sie sein Tagebuch dokumentiert, findet in seinen Vorlesungen keinen Widerhall. Vgl. dazu auch Hans M. Wolff: Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung, S. i6of.; Peter Weber: Das Menschenbild des bürgerlichen Trauerspiels, S. 254. Siehe auch Goethe: Dichtung und Wahrheit (Hamburger Ausgabe, Bd. 9), S. 295, der den seit langem gehegten Wunsch nach Drucklegung der »Moralischen Vorlesungen« herausstreicht: »Jedermann wünschte sehnlich, jenes Werk gedruckt zu sehen, und da dieses nur nach des guten Mannes Tode geschehen sollte, so hielt man sich sehr glücklich, es bei seinem Leben von ihm selbst vortragen zu hören.«

41

Siehe Wilfried Barner: Barockrhetorik, S. 92ff. Siehe hierzu S. 21 dieser Arbeit.

42

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und nachdrücklich ist sein Ton, und wie beredt und edel seine Miene! Alles ist Anstand an ihm. Die Pracht seiner Kleidung erhebt sein Ansehn, und wo er hintritt, folgen ihm Aufwärter und Verehrer. Man bewundert ihn überall; denn auch Kleinigkeiten erhalten einen Werth durch ihn. 4 '

Daß diesem Verhalten eine eigene >Vemünftigkeit< innewohnt, kommt bei Geliert nicht in den Blick. Was Norbert Elias als »höfische Rationalität« beschreibt, die um die »Repräsentation des Ranges durch die Form« 44 weiß, verwirft Geliert als bloße Äußerlichkeit, die für ihn Betrug ist. Mit aller Macht versucht er deshalb, in der Gestalt Damis' die Faszinationskraft einer am Verhaltensideal der honnêteté ausgerichteten Lebensführung zu brechen, indem er aufzeigt, wie kläglich in Wahrheit die glänzende Erscheinung ist. Doch ist für ihn dabei nicht mehr die barocke Dichotomie von Diesseits und Jenseits das Darstellungsmuster, nach dem das wahre Sein vom falschen Schein zu scheiden ist. Wo die Wahrheit aufgesucht werden muß, ist für einen, der das Sein des Menschen in seiner gesellschaftlichen Unbezüglichkeit sieht, selbstverständlich: gegen die öffentliche Selbstpräsentation von Damis kontrastiert Geliert dessen privates Verhalten als das eines intriganten, zermürbten und wollüstigen Menschen. Unter Gellerts moralisierendem Blick zerfällt so die Einheit eines höfischen Menschen, dem die Erscheinung sein Wesen ist, in eine seinshafte und in eine scheinhafte Hälfte. Und bei einer solchen Sehweise ist es selbstverständlich, daß sich die Wahrheit der Existenz nur im Raum des Privaten bezeugt, während allem öffentlichen Agieren der Schein des bloß Äußerlichen anhaftet: Wer weis nicht, daß das Kleid, der Aufzug, das Gefolge, der Stand, das Geschlecht, die Miene, das Gespräch, die äußere Lebensart, nicht der Mensch, nicht das Selbst des Menschen, nicht seine wahre Würde, und also auch nicht sein wahres Glück ist? (MV, 13 7)

Doch was Geliert hier als selbstverständliches Wissen deklariert, wird selbstverständlich nur im Kontext eines antihöfischen Wertsystems, das zwischen dem unterscheidet, wie einer öffentlich agiert, und dem, was einer im Privaten ist. Unablässig versucht Geliert, diesen Unterschied kenntlich zu machen. So wie sich hinter der von ihm zur bloßen Fassade deklarierten glänzenden Selbstdarstellung eines Damis ein Mensch in der ganzen Kläglichkeit seiner Existenz verbergen kann, so vermag umgekehrt auch hinter einem unscheinbaren Äußeren das Glück eines zufriedenen Lebens zu Hause sein! Doch weiß Geliert dabei ganz genau, 4i

44

Geliert: Die Moralischen Vorlesungen, in: ders.: Sämmtliche Schriften in 6 Theilen, 4. Theil, S. 1-442, S. 137 (im folgenden abgekürzt als MV). Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 98; vgl. auch ebd., S. i68ff.

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wie schwer [. . .] es uns [wird], die T u g e n d im S t a u b e , und das V e r d i e n s t in der H ü t t e zu erkennen und zu schätzen, wenn wir uns gewöhnet haben, beides nur im äußerlichen Schimmer und in dem Ansehen des Standes und der Würden zu suchen! Wie schwer wird es uns, zu glauben, daß man ohne Pracht und Reichthümer und ausgesuchte Bequemlichkeiten, ohne eine herrliche Tafel, ohne Würden, ohne Gefolge und Bewundrer, ohne Palläste, ohne die äußerlichen Merkmale der Verdienste, ruhig und glücklich genug seyn könne! (MV, 141) Weil Geliert weiß, wie schwer es ist zu zeigen, daß man in der Hütte glücklich und im Palast unglücklich sein kann, läßt er nichts unversucht, um alle äußeren Attribute eines vermeintlichen Glücks als nichtig zu erweisen. Was zählt, sind nicht Prestige, Reichtum und Macht - all das, was in der »Sprache der Welt« 45 als Glück bezeichnet wird - , sondern nur das, was jenseits aller Offensichtlichkeit allein im »Herzen« gründet. A l les, was an gesellschaftlichen M o m e n t e n in den Vorstellungen

vom

Glück steckt, wird in der K o n f r o n t a t i o n mit den nach innen gewendeten »Gütern des Herzens« ( M V , 18) als unwichtig abgetan (s. M V , z ì i . ) . Denn allein auf sie kommt es an; und da sie jenseits aller gesellschaftlichen Zuordnungskriterien in der Lauterkeit der Gesinnung gründen, der nichts Äußeres zu entsprechen hat, können sie auch v o n allen Menschen erworben werden. M i t dem rationalistischen G l ü c k s b e g r i f f , wie ihn Gottsched vertritt, wenn er zwischen Vernunft, T u g e n d und Handlungserfolg einen strikten Z u s a m m e n h a n g herstellt, 46 hat das kaum noch etwas zu tun. Gottscheds fester Glaube, das Glück hänge allein d a v o n ab, daß man seinen Verstand recht ausbilde, w i r d v o n Geliert - wie v o n den vielen anderen seiner Zeitgenossen, die erfahren mußten, daß Verstandesausbildung keineswegs eine Glücksgarantie ist - nicht mehr geteilt. So weist er entschieden die auch v o n Gottsched nachdrücklich vertretene M a x i m e »Der Mensch [. . .] ist der Schöpfer seines Glücks« ( M V , 263) zurück und betont - viel realistischer (und resignativer) - die vielfältigen Bedingtheiten menschlicher Existenz: Hohe Einsichten und Wissenschaften zu besitzen, Gesundheit, Ehre und Macht zu haben, und beständig zu haben, kömmt nicht auf unsern Willen, nicht auf unsere Bemühung und Vorsichtigkeit allein an; sie hängen oft von der Geburt, und oft von den Umständen ab, die wir weder herbey rufen, noch vorher sehen können. Sie sind nie ganz unser. 45

46

Siehe dazu die moralische Charakterskizze »Der Mann mit Einem Laster und mit vielen Tugenden, in: Geliert: Sämmtliche Schriften in 6 Theilen, 4. Theil, S. 454-456, in der zwei Wertsysteme mit den Bezeichungen »Sprache der Welt« und »Sprache der Wahrheit« diametral gegenübergestellt werden. Siehe dazu S. 28ff. dieser Arbeit. 105

Doch Geliert hält einen Trost bereit, indem er fortfahrt: Aber die Güter der Seele bieten sich allen Sterblichen an. (MV, 18)

Die von Gottsched postulierte Einheit von Tugend, Handlungserfolg und Glück verlagert Geliert nach innen und formt sie um zu einer Einheit der Gesinnung, indem er das Gottschedsche Zwischenglied des Handlungserfolgs eliminiert. Auf diese Weise wird das Sichtbare zum Unwichtigen, zum Trügerischen eines Augenscheins, der ein falscher Schein ist. So führt Kriton, einer der »Moralischen Charaktere« Gellerts, 47 in den Augen der Welt ein durch und durch tugendhaftes Leben; geschäftig, freigebig, opferbereit, ehrlich, fürsorglich: das sind die Attribute, die man ihm zusprechen muß, will man seinen Lebenswandel beschreiben. Doch da seine durchaus mit dem Moralgesetz rationalistischer Aufklärungsphilosophie übereinstimmenden Handlungen nicht in der Lauterkeit einer Gesinnung gründen, sondern auf »Eigenschaften des Herzens« 48 verweisen, die Selbstsucht verraten, werden sie von Geliert als unmoralisch disqualifiziert, auch wenn die Folgen gemeinnützig sind. 49 Wenn aber die »Verantwortungsethik« von einer »Gesinnungsethik«' 0 verdrängt wird, die jede Korrespondenz von innen und außen negiert, dann müßte eigentlich die Tugend in solipsistischer Abkapselung verharren, die allein das allwissende Auge Gottes durchdränge. Doch so weit geht Geliert nicht. Denn er negiert nur den Zusammenhang von innen und außen in bezug auf die von ihm so genannte »Welt«, für die Macht, Prestige und Reichtum Gradmesser des menschlichen Werts sind. In der Gemeinschaft der Wenigen aber, die durch Tugend sich verbinden, wird das Innen zum Außen. Denn dieser private Zirkel durchschaut 47 48 49

,0

Siehe Geliert: Sämmtliche Schriften in 6 Theilen, 4. Theil, S. 445-447. Ebd., S. 447. Unter formgeschichtlichen Gesichtspunkten weist Ute Schneider: Der Moralische Charakter, S. 63f., auf die Differenz zur Gattungstradition hin, in der die Anschaulichkeit der Charakterbilder in der Einheit von innen und außen gesichert ist. Geliert zerbricht sie und wird so zum wertenden Kommentar genötigt, der darauf hinweist, wie sehr sich der Lebenswandel von der Gesinnung unterscheidet. Diese Unterscheidung folgt Max Weber, der davon ausgeht, »daß alles ethisch orientierte Handeln unter %jvei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann«: unter der gesinnungsethischen, die religiös gefaßt - meint: »>Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim< - , oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.« Max Weber: Gesammelte Politische Schriften, S. 5 51 F.

106

die Scheinhaftigkeit aller als äußerlich erachteten Attribute menschlicher Existenz und erhebt allein die Lauterkeit der Gesinnung zum Maßstab menschlicher Wertschätzung, so daß hier dem wahrhaft Tugendhaften der »stille Beyfall der Rechtschaffenen und der wenigen Klugen« ( M V , 157) gewiß ist. In doppelter Frontstellung gegen eine »höfische Rationalität«, die sich an »Status- und Prestigechancen« orientiert, und gegen eine »berufsbürgerliche Rationalität«, der es um »wirtschaftliche Machtchancen« 51 geht, und eingespannt in ein moralisch eindeutiges Bewertungsschema grenzt Geliert diesen Bereich >wahrhaft< menschlicher Existenz aus der zeitgenössischen Realität ständischer Prestigezuweisung und wirtschaftsbürgerlichen Erwerbs aus. Und er steht hier durchaus nicht allein; denn viele andere Autoren formulieren ähnliche Gedanken. In den Lehrgedichten eines Uz, Haller und Hagedorn,' 1 wie auch in vielen Schriften der »Bremer Beiträger«," wird ebenfalls das Bild eines Menschen jenseits von sozialem Ansehen und materiellem Reichtum als ein Bild inneren Glücks und bescheidener Zufriedenheit gezeichnet. Was nun aber Geliert von den übrigen Autoren unterscheidet, ist nicht nur seine wirkungsvolle Darstellungsart, die die Beziehung zwischen Werk und Publikum ins E n g e einer identifikatorischen Intimität zieht, 54 sondern auch die Tatsache, daß seine Ausgrenzung der zeitgenössischen Realität ständischen und wirtschaftsbürgerlichen Verhaltens an zeitgenössische Erfahrungen einer Privatheit anknüpft, die in der Familie ihren Erlebnishintergrund haben. Denn nicht - wie so häufig im Lehrgedicht - ist es bei ihm der Weise," der sich nicht vom Glanz äußerer Glücksgüter blenden läßt, sondern es ist die kleine Welt der Vertrauten, die von Geliert zum Hort des Glücks jenseits aller materiellen Entsprechungen bestimmt wird: Was sorgst du, ob dein Ruhm die halbe Welt durchstrich? Dein Freund, dein Weib, dein Haus sind Welt genug für dich. Such sie durch Sorgfalt dir, durch Liebe zu verbinden, Und du wirst Ehr und Ruh in ihrer Liebe finden.'6 " Siehe hierzu Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 14if. 52 Siehe hierzu Alois Wierlacher: Über die Bedeutung des Lehrgedichts, bes. S. 3 6 5 f. " Siehe hierzu bes. Helmut Paustian: Die Lyrik der Aufklärung, S. 53-89. 54 Siehe hierzu Erich Kleinschmidt: Fiktion und Identifikation, S. 5 iff.; vgl. auch Alessandro Pellegrini: Die Krise der Aufklärung, S. 77. " Siehe hierzu Alois Wierlacher: Über die Bedeutung des Lehrgedichts, bes. S. 365fF. 56 Geliert: »Reichthum und Ehre«, in: ders.: Sämmtliche Schriften in 6 Theilen, ι. Theil, S. 326-336, S. 334. 107

Anders als Gottsched, der in seiner Moralphilosophie immer wieder auf die Vernunft des einzelnen als Glücksbringer pocht, erhebt Geliert diese gesellschaftsabgewandte und gefühlsgesättigte Privatsphäre von Freundschaft, Liebe und Familie zum eigentlichen Ort einer glückhaften Existenz. Ihn beschwört er in vielen seiner Musterbriefe, in denen die Beteuerung der Freundschaft fast den Inhalt zu verdrängen droht.57 Sie hat das Fundament wahrer zwischenmenschlicher Beziehungen zu sein, und »eheliche Freundschaft« (MV, 407) und Familie (s. M V , 393) sind - über alle juristischen und biologischen Grenzen hinweg - der Bildbereich, der die Vorstellungen einer gesellschaftsabgewandten Privatsphäre von im Gefühl verbundenen Menschen speist. Bezeichnend hierfür ist, daß Geliert auf die Familie kommt, als er in einem seiner Musterbriefe den hohen Ton der Freundschaft anschlägt: Ich weis mir überhaupt kein edler Vergnügen zu machen, als wenn ich meine Freunde in Gedanken sammle, und mich mit diesen rechtschaffnen Männern so betrachte, als ob wir eine eigne Familie in der Welt ausmachten.' 8

Nicht nur in seinen Briefen, sondern auch in vielen anderen Schriften rückt Geliert die kleine Gemeinschaft, die sich mit dem Rücken zur Welt formiert, ins strahlende Licht der Verheißung einer glückhaften Existenz. So liegt in seinem Roman »Das Leben der schwedischen Gräfin von G * * « der Wertakzent ebenfalls auf dem durch Liebe und Freundschaft verbundenen Kreis weniger Menschen, die sich gegen eine Welt höfischer Intrigen und wirtschaftsbürgerlichen Kommerzes zusammenschließen. Zwar wird im Roman mit Inzest, Mord, Bigamie, Ehebruch, Verführung, Selbstmord, Flucht, Verschleppung, Raub, Krieg und Gefangenschaft das opulente Panorama barocker Geschehensvielfalt ausgebreitet, aber im Kontrast dazu wird immer wieder die familiale Privatsphäre tugendhafter Menschen gezeigt, die von dem wechselseitigen Wohlwollen geprägt ist, das die >Welt< vermissen läßt.15 So wird auch hier die >Welt< zum >Anderen< der Familie, zu ihrer feindlichen Gegenwelt - ganz anders als bei Gottsched, der die Familie zwar ebenfalls ausgrenzt aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen, doch dies nur, um sie als Sphäre der Erziehung für die Gesellschaft in ihrer Funk-

" Siehe dazu bes. den 1., 12., 18., 19., 42., 43., 47. und 48. Musterbrief Gellerts, in: Geliert: Briefe, in: ders.: Die epistolographischen Schriften, S. I 2 ; f . , 154F., 165fr., 168ff., 2 3 0 , 2 3 if., 238fr. und 2 4 1 f r . " Ebd., S. 2 4 1 . " Z u m »familialen Beziehungsaspekt« in Gellerts Roman »Das Leben der schwedischen Gräfin von G**« siehe Erich Langendorf: Zur Entstehung des bürgerlichen Familienglücks, S. 6 9 - 8 0 . 108

tionalität zu steigern. Denn Gottsched will die Gesellschaft mit den Mitteln der Erziehung aus dem Geist der Familie nach den einheitlichen Prinzipien abstrakter Ordnungszusammenhänge reformieren, während für Geliert die zur Gefühlsgemeinschaft erhobene Familie nicht mehr die Sozialisationsinstanz für die Gesellschaft ist, sondern deren bestimmte Negation, die auf kein Drittes einer Synthese hinzielt, sondern zum eigentlichen Lebensraum erkoren wird. Denn allein hier herrschen das Mitgefühl und die Zuneigung, die den Menschen in seiner Moralität auszeichnen. 6 " Nicht nur im Verhältnis von Familie und Gesellschaft, sondern auch in der Fundierung der Moral ist der Unterschied zu Gottsched evident. Denn bei diesem war die Moral gekoppelt an den in der Erziehung auszubildenden Verstand, während Geliert das im Miteinander sich entfaltende Gefühl, das auf den Nächsten zielt, zum bestimmenden Bezugspunkt menschlichen Erlebens und Handelns erhebt. Zwar bleibt auch bei Geliert noch der Verstand und letztlich G o t t die Kontrollinstanz, die darüber wacht, daß das Gefühl nicht den Rahmen des Zulässigen sprengt - insoweit ist er nicht gänzlich frei vom rationalistischen Mißtrauen gegenüber den »niederen Seelenvermögen«; aber als ein auf seine gemeinschaftsstiftende Funktion gereinigtes Gefühl gewinnt es bei ihm eine ethische Dimension. In seinen »Moralischen Vorlesungen« erwähnt er das Gefühl zunächst als ein bloß zusätzliches Vermögen, das sich der Vernunft zugesellt, gleichsam als würde die rationalistische Moralphilosophie durch die Ethisierung des Gefühls bloß komplettiert und nicht in ihren Fundamenten erschüttert: Meine Herren, es giebt außer dem Unterrichte, den uns die V e r n u n f t von unsem Pflichten anbeut, noch eine andere B e l e h r u n g , die uns das H e r z durch eine angebohrne Empfindung von dem, was gut oder böse ist, ertheilet. Diese E m p f i n d u n g s k r a f t des Herzens unterstützet den Verstand in der Beurtheilung der Pflicht, und kömmt ihm nicht selten zuvor; oder anders ausgedrückt: wir haben in unsrer Natur nicht nur das Licht der Vernunft, das uns nöthiget, ein göttliches Gesetz der Tugend zu erkennen, sondern wir besitzen in unserm Herzen auch ein V e r m ö g e n , durch welches wir empfin60

Siehe dagegen Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund, S. 38-43, der im Konzept der »tugend-empfindsamen Freundschaft«, so wie es in der Nachfolge Gellerts, Mosers und Klopstocks in den Moralischen Wochenschriften der Jahrhundertmitte vertreten wird, keinen Rückzug ins Private erkennt, sondern darin den »Inbegriff politischer Verantwortlichkeit des Bürgertums der Tugendempfindsamkeit« sieht (S. 42); Meyer-Krentler verkennt jedoch, daß dabei die Gesellschaft nicht in ihren Machtstrukturen in den Blick kommt, sondern als große Gemeinschaft gesehen wird, so daß von einer »politischen Verantwortlichkeit« keinesfalls die Rede sein kann. 109

den können, ob etwas edel oder u n e d e l , e r l a u b t oder s t r a f b a r , rühml i c h oder s c h ä n d l i c h sey. Dieses Vermögen, diese E m p f i n d u n g des H e r z e n s ist der Grund des Gewissens, das eigentlich nur durch den Ausspruch über unsre Handlungen, ob sie gut oder böse sind, sich offenbaret. (MV, 25) Spricht Geliert in dieser frühen Vorlesung noch v o n der >Unterstützung< des Verstandes durch das G e f ü h l , das er aber unter der H a n d schon a u f w e r t e t , w e n n er es zum >Grund des Gewissens< erhebt, so wird zunehmend das >Herz< gegenüber dem >Kopf< zum eigentlichen Garanten der M o r a l - allerdings niemals ohne den f ü r Geliert selbstverständlichen Hinweis auf G o t t : Sie [die Tugend; G. S.] ist kein Wahlgesetz, das uns die Weisen lehren; Sie ist des Himmels Ruf, den nur die Herzen hören! Ihr innerlich Gefühl beurtheilt jede That, Warnt, billigt, mahnet, wehrt und ist der Seele Rath. Wer ihrem Winke folgt, wird niemals Unrecht wählen; E r wird der Tugend nie, noch ihm das Glücke fehlen! (MV, 35; vgl. a. MV, 86f., 161, 290) A u c h hier - w i e fast immer - sind es f r e m d e Gedanken, die Geliert a u f g r e i f t und eklektisch zu einem w i r k u n g s v o l l e n A m a l g a m aus christlichen, rationalistischen und empfindsamen Elementen so zu verbinden weiß, daß sich in ihm die i d e o l o g i s c h e m Bedürfnisse eines großen Teils der mittelständischen Intelligenz formuliert finden. Richardson ist dabei f ü r ihn - w i e f ü r so viele andere seiner Z e i t - die große Vorbildgestalt f ü r eine gefühlsgesättigte Moralität; in einem Brief spricht Geliert v o n seiner tränenreichen Ergriffenheit bei der Lektüre des »Grandison«, 6 ' in seinem Gedicht »Ueber Richardsons Bildniß« setzt er ihm ein D e n k m a l , das ihn über H o m e r stellt, 62 und die R o m a n e v o n Richardson empfiehlt er nachdrücklich in seinen »Moralischen Vorlesungen« (s. M V , 1 8 1 ) . Wenn er in ihnen dann auf seinen philosophischen Hintergrund zu sprechen k o m m t , sind es auch die schottischen Moralphilosophen, die er anspricht (s. M V , iôçf.). 6 ' Sie hatte er über Andreas R ü d i g e r und dessen 61

62

Siehe Gellerts Brief an Hans Moritz von Brühl vom 3.4.1755, in: C. F. Gellerts Briefwechsel, hrsg. von John F. Reynolds, Bd. I, S. 23 if.; vgl. auch den Brief an Ernst Samuel Jacob Borchward vom 4.12.1754 (ebd., S. 208) und den Brief an Emanuel Falkner vom 5.12.1754 (ebd., S. 209f.). Geliert: Sämmtliche Schriften in zehn Theilen, 10. Theil, S. 168. Siehe dazu auch Max Dorn: Der Tugendbegriff Chr. F. Gellerts; zur These, daß die Empfindsamkeit nicht so sehr säkularisierter Pietismus sei, sondern in erster Linie Adaption angelsächsischer Moralphilosophie, siehe Gerhard Sauder: Empfindsamkeit, Bd. I, S. 5 8ff. Gegen Sauder weist neuerdings wieder Lothar Pikulik: Leistungsethik contra Gefühlskult, S. i9off., darauf hin, wie sehr »der Pietismus der Empfindsamkeit in mancher Hinsicht präludiert.« (S. 191)

110

Schüler Α . F. H o f f m a n n , bei dem er seine philosophischen Unterweisungen erlangte, kennengelernt. Vor allen Hutcheson und F o r d y c e - und nicht der stärker antireligiös orientierte Wortführer der schottischen M o ralphilosophie Shaftesbury - sind es, auf die er sich dabei bezieht. 64 Deren Lehre v o m »moral sense« als einem Vermögen des G e f ü h l s zum ethischen E m p f i n d e n greift Geliert auf und bringt sie ein in die v o n ihm proklamierte >Ideologie< weitabgewandter Gemeinschaft. Dies gelingt ihm problemlos. D e n n mit der Rehabilitierung des G e fühls als einer sittlichen Macht verändert sich ja auch das Bezugsfeld, in dem Moralität sich entfalten kann. Nicht mehr die Erkenntnis eines v o m »Gesetz

der Natur«

repräsentierten

abstrakten

Ordnungszusammen-

hangs aller Welttatsachen sichert die Ethik planvollen Tuns, sondern es ist die E m p f i n d u n g des G e g e n ü b e r s , die die Ethik einer G e s i n n u n g begründet, die sich vornehmlich in der Gefühlsgemeinschaft der Vertrauten zu entfalten mag. D e n n nur hier kann der Mensch sich so zeigen, wie er ist, da nur hier die >Natürlichkeit< herrscht, die in der höfisch-aristokratischen Welt zur Künstlichkeit eines wirkungsbezogenen Agierens v e r k o m m e n ist, in der Verstellung und hohle K o m p l i m e n t e zählen, nicht aber der unverfälschte Ausdruck des >HerzensWelt< nachjagen, während das wahre Glück doch in der Bescheidung liege. 68 Mit der Sonderung des wahren Glücks vom falschen und mit der entsprechenden Zuordnung zur privaten und öffentlichen Sphäre entpolitisiert Geliert geradezu die Moral, indem er die Größe des Glücks von ihrer äußeren Manifestation löst und sie zur seelischen Befindlichkeit der Zufriedenheit entmaterialisiert. Um die Scheinhaftigkeit des Glücks der Großen zu demonstrieren, ist Geliert dabei keine Person hochgestellt genug: Wie glänzend ist L u d w i g , der G r o ß e , w e n n ihn uns die Geschichte v o n ferne a u f dem T h r o n e , in seinen E r o b e r u n g e n und auf d e m Theater königlicher Anstalten zeigt! Wie glücklich scheint er zu seyn! U n d doch wie sehr ein Mensch, w i e klein, wie unglücklich wird er uns, w e n n w i r ihn in der N ä h e , auf seinem Z i m m e r , in der G e w a l t verstellter Lieblinge, an der Seite unglücklicher K i n d e r , unter der Last seiner Leidenschaften, in den Fesseln der Wollust, unter den Z u r u f u n g e n der Schmeichler, unter der Unruhe seiner leeren Stunden, und endlich an der Hand einer Maintenon voller Scham über seine Verg e h u n g e n erblicken, und, um den Herrn aller Herren zu seinem F r e u n d e zu machen, ihn, in der falschen M e y n u n g die R e l i g i o n zu beschützen, g e g e n ihre aufrichtigsten B e k e n n e r mit einem blutdürstigen Schwerdte w ü t e n sehen! ( M V , 146)

Wenn das Glück der Großen mehr Pein als Freude enthält, dann wäre jeder Wunsch nach sozialem Aufstieg reine Torheit, die auf ein Trugbild hereinfallt, hinter dem sich ein elendes Dasein verbirgt. In seiner Fabel »Der junge Drescher« 6 ' schildert Geliert das Leiden eines Mannes, dem der Aufstieg gelungen ist und der sich danach nichts sehnlicher wünscht, 67

Z u den äußerst verhaltenen A n k l ä n g e n einer moralischen Herrscherkritik siehe K u r t M a y : D a s Weltbild in Gellerts D i c h t u n g , S. j6ff.; v g l . auch Helmut Paustian: D i e L y r i k der A u f k l ä r u n g , S. 63.

68

Siehe hierzu u. a. Gellerts Fabeln: D a s Füllen, D a m o k l e s , D e r Held und der Reitknecht, D e r j u n g e Krebs und die Seemuschel, D a s Testament, in: Geliert: Fabeln u n d E r z ä h l u n g e n , S. 78fr., 138fr., 28of., 3oof., 3ογί.

δ'

In: ebd., S. 178-181.

112

als wieder in seinen alten, bescheidenen Verhältnissen leben zu können. Und damit es auch alle deutlich merken, schließt diese Fabel mit dem Appell: O lernt, ihr unzufriednen Kleinen, Daß ihr die Ruh nicht durch den Stand gewinnt. Lernt doch, daß die am mindsten glücklich sind, Die euch am meisten glücklich scheinen.7"

Um glücklich zu sein, bedarf es keiner Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung, ist doch das Glück jenseits aller Gesellschaftlichkeit in der Gemeinschaft der durch Tugend verbundenen Freunde und Familienmitglieder zu finden. So kann von einem erstarkenden bürgerlichen Selbstbewußtsein, das hinausdrängt in die Sphäre der Politik, um sie nach den Postulaten der Moral zu verändern, bei Geliert keine Rede sein. Schwerlich ist er als Identifikationsgestalt eines Wirtschaftsbürgertums anzusehen, das den Widerspruch zwischen seiner ökonomischen Macht und seiner politischen Ohnmacht in der Moralisierung der Politik unterläuft. Eher schon konnten sich viele Gebildete von Gellerts Lobpreis des Privaten angesprochen fühlen. Ihnen ermöglichte er, ihre enttäuschten Aufstiegswünsche und ihre »gesellschaftslose Lage« 7 ' in der Dichotomie von Schein und Sein, wahrem und falschem Glück, Gesellschaft und Gemeinschaft, Verstellung und Aufrichtigkeit, Berechnung und Empfindung zu verarbeiten, indem er ihnen all das, was die Gesellschaft ihnen versagte, als Unwert deklarierte. Denn wenn das, was die Gesellschaft an Reichtum, Macht und Prestige offeriert, doch nur falsche Glücksgüter sind, dann ist jedes gesellschaftliche Handeln nur das Handeln in einem Bereich, auf den es - zum Glück für den einzelnen — gar nicht ankommt. So wird bei Geliert »Zufriedenheit mit seinem Zustande«, wie eines seiner bekanntesten Kirchenlieder überschrieben ist, 71 zur Beschwörungsformel, die die gesellschaftlichen Wunden heilen soll, indem sie ihnen abspricht, schmerzhaft zu sein. Lutherische Gedanken von der Ehre, die jedem gebührt, der seinen ihm von Gott zugeteilten Platz 70

Ebd., S. 181. ' Siehe dazu im einzelnen Hans-Jürgen Haferkorn: Der freie Schriftsteller, S. 590ff. 72 In: Geliert: Sämmtliche Schriften in 6 Theilen, 1. Theil, S. 45 if., bes. Strophe 4: Genieße, was dir Gott beschieden, Entbehre gern, was du nicht hast. Ein jeder Stand hat seinen Frieden, Ein jeder Stand auch seine Last. 7

" 3

gehorsam ausfüllt, auch wenn die Aufgaben noch so gering sind, die protestantische Aufteilung des Menschen in einen inneren und einen äußeren Bereich, der alte Topos vom Gegensatz zwischen Hof und Land mit dem ihm inhärenten Wertakzent: all dies greift Geliert auf, um zu zeigen, worauf es im Leben allein ankommt. Dabei verändert er jedoch die überkommenen Gedanken, wenn er sie in den veränderten Kontext der weitabgewandten Gefühlsgemeinschaft einbindet. Die wahre Ehre ist nicht allein die Ehre, die Gott dem Menschen zuerkennt, der gehorsam seine Pflicht tut, sondern sie ist auch die Ehre, die im »Beyfall der Rechtschaffenen« (MV, 15 7) gründet, für die allein die Lauterkeit der Gesinnung zählt; der innere Mensch ist nicht allein der Mensch, der jenseits aller Äußerlichkeiten sich allein dem Wort Gottes aufschließt, sondern er ist auch derjenige, der das wahre Glück der Zufriedenheit im Kreis der ihm Vertrauten findet; und der gesellschaftsferne Raum einer tugendhaften Gemeinschaft ist nicht allein das negative Gegenbild zu Hof und Stadt, sondern auch der Gegenentwurf eines Lebens, das an die Stelle von Prestige, Macht und Reichtum den rückhaltlosen Gefühlsaustausch setzt.

114

II.

D I E F A M I L I E ALS G E L Ä U T E R T E R T U G E N D R A U M

Zur Ausgrenzung von Ökonomie, Leidenschaft und Freiheitsverlangen in Gellerts »Zärtlichen Schwestern«

Gellerts D r a m a »Die zärtlichen Schwestern« bringt in der prototypischen Verdichtung einer Familie diese empfindsame Gemeinschaft offener G e fühlsaussprache, die er in seinen »Moralischen Vorlesungen« entwirft, zur Anschauung. V o n der Zärtlichkeit urid der zärtlichen Liebe, die die Familienmitglieder gegeneinander hegen, v o m redlichen und edlen Herzen, das sie auszeichnet, von den sanften Rührungen und den wehmütigen E m p f i n d u n g e n , v o n denen sie ergriffen werden, v o n der selbstlosen G r o ß m u t und der edlen G e s i n n u n g , die sie bestimmt, ist allenthalben die Rede. Unmißverständlich wird dem Zuschauer in einer Sprache des G e f ü h l s , die mehr benennt als ausdrückt, 1 die Familie als eine G e fühlsgemeinschaft präsentiert, in die der einzelne eintaucht, u m als Mitglied der Familie, das im anderen Familienmitglied recht eigentlich erst sich selbst erfährt, wieder zu erscheinen. S o wird das Leid des einen zum Leid des anderen; und was den einen freut, freut auch den anderen. Dieses gleichgestimmte E m p f i n d e n geht sogar so weit, daß die eigentliche Freude die Freude über die Freude des anderen ist. Gleich zu Beginn des Dramas wird Lottchen als Tochter v o r g e f ü h r t , die sich auf solch vorbildliche Weise freut. Ihr Vater Cleon spricht mit ihr über ihre Z u kunft und bedauert, daß die jüngere Schwester Julchen w o h l v o r ihr den reichen Damis heiraten werde, während ihre Hochzeit nicht stattfinden könne, da ihr Verlobter Siegmund ohne Besitz sei. D o c h entschieden wehrt Lottchen dieses Bedauern ab, ist doch die Freude ihrer Schwester zugleich auch ihre Freude: Ich mache mir eine Fjhre daraus, mich an dem günstigen Schicksale meiner Schwester aufrichtig zu vergnügen, und mit dem meinigen zufrieden zu seyn. (4; I/O2 1

2

Zur gefühlsbenennenden Sprache in den sächsischen Komödien allgemein siehe Diethelm Brüggemann: Die sächsische Komödie, S. In einer Wortstatistik zeigt Stefanie Schweitzer: Der Stil der Gellertschen Lustspiele, S. 57-59, wie sich bei Geliert im Ubergang von der »Betschwester«, die noch in wesentlichen Teilen der sächsischen Typenkomödie zugerechnet werden muß, zur Komödie »Die zärtlichen Schwestern«, die die sächsische Rührkomödie verkörpert, die Worte der Gefühlsbenennung verdreifachen. Geliert: Die zärtlichen Schwestern, in: ders.: Lustspiele, S. i - n o , S. 4 (im folgenden abgekürzt als ZS). IM

Das Mitempfinden mit den Glücksempfindungen der Schwester wird Lottchen zur Quelle eigenen Glücks. Damit nun aber auch der Zuschauer keinerlei Zweifel daran hegt, daß dieses über den anderen vermittelte Glücksgefühl ein Zeichen von Tugend ist, streicht der Vater die Tugendhaftigkeit seiner älteren Tochter noch einmal nachdrücklich heraus, und sie wehrt dieses Lob ebenso nachdrücklich ab, auf daß jeder merke, es handele sich um >wahre< Tugend, die sich mit Bescheidenheit paart. LOTTCHEN: Dazu gehört ja gar keine Tugend, einer Person etwas zu gönnen, für welche das Blut in mir spricht. (ZS, 5F.; I/i)

Dieses Credo eines empfindsamen Familienbewußtseins entfaltet nun im Gang des dramatischen Geschehens seine wahre >Hallkraft< in einer äußerst verwickelten Erbschaftsangelegenheit. Immer wieder ist es dabei vor allem Lottchen, die in ihrer Selbstlosigkeit einzig das Wohl der Familienangehörigen im Auge hat. So reagiert sie auf die Nachricht, daß die eigentlich ihr zustehende Erbschaft der Schwester zugefallen sei, mit großer Freude - und dies, obwohl es ihre Hochzeit ist und nicht die ihrer Schwester, die aus finanziellen Gründen nicht stattfinden kann. Der Gedanke, daß es nicht nur recht, sondern auch billig wäre, wenn ihr die Erbschaft zufiele, da Julchen ja - im Gegensatz zu ihr — einen reichen Freier hat, bewegt Lottchen nicht einen Augenblick. Sie denkt an nichts anderes, als ihrer Schwester die Nachricht von deren Erbschaft selbst zu überbringen. LOTTCHEN: Gönnen Sie mir doch das Vergnügen, daß ich meiner Schwester und Ihrem Herrn Mündel die erste Nachricht von dieser glücklichen Erbschaft bringen darf. Es ist meine größte Wollust, die Regungen des Vergnügens bey andern ausbrechen zu sehen. Und wenn ich viel hätte, ich glaube, ich verschenkte alles, nur um die Welt froh zu sehen. Lassen Sie mir immer das Glück, meiner Schwester das ihrige anzukündigen. (ZS, 49; II/7)

Gänzlich selbstlos scheint die Selbstlosigkeit Lottchens allerdings nicht zu sein - ja, man könnte geradezu von einer selbstsüchtigen Selbstlosigkeit sprechen, für die der Altruismus ein bloßes Mittel zur Befriedigung eigener Bedürfnisse ist. Der Eindruck drängt sich auf, daß sich in Lottchens reflexivem Selbstbezug, der im Nachempfinden der Empfindungen des anderen sich selbst empfindet, nur der Egoismus eines empfindsamen Narzißmus offenbart, den Lothar Pikulik als generelles Merkmal des empfindsamen Mitgefühls hervorhebt: Nichts wäre so falsch wie anzunehmen, daß es sich bei diesem um ein ursprünglich altruistisches Gefühl, etwa christlicher Observanz, handelt. Sondern es erwächst allein aus dem Bedürfnis nach Selbstgenuß und bestätigt 116

daher auf paradoxe Weise den grundsätzlich egoistischen Trieb des empfindsamen Menschen.'

Doch so falsch ist die Annahme einer altruistischen Komponente im empfindsamen Mitgefühl im Falle Lottchens nun doch nicht, selbst wenn sich ihr Selbstempfinden mit den guten Taten so zu verquicken scheint, als seien diese nur Mittel zum Zweck für jenes. 4 Denn was die isolierende Betrachtung von Lottchens Selbstbekundung nahelegt, dementiert der dramatische Gang des Gellertschen Dramas nachdrücklich. In Lottchens wiederholten Verzichthandlungen wird ihr unzweifelhaft der Tugendausweis einer Tochter ausgestellt, der die Familie so sehr alles ist, daß sie gänzlich in ihr aufgeht. Über die Empfindungen der anderen Familienangehörigen empfindet sie sich als Teil eines Ganzen. Diese empfindsame Auflösung des Ich, das im Fremdempfinden sich selbst empfindet, geht bei Lottchen so weit, daß sie noch auf die Nachricht hin, sie selbst, und nicht - wie irrtümlich angenommen — ihre Schwester, sei die tatsächliche Erbin des Ritterguts, einzig den Verlust ihrer Schwester bedauert, mit keinem Wort aber die dadurch gegebene Verbesserung ihrer bislang mißlichen Situation bedenkt. Der Applaus, den ihr die anderen Protagonisten des Dramas spenden, signalisiert unmißverständlich Lottchens Tugend, die sich so nachdrücklich im Verzicht auf das eigene materielle Wohlergehen äußert. Am Prüfstein des Geldes, an dem sich für Geliert die Tugend besonders deutlich zu erkennen gibt, 5 hat sie gezeigt, wie sehr sich bei ihr alle individuellen Bestrebungen im Kollektivsubjekt der Familie aufgelöst haben. Wenn auch nicht ganz so glänzend, so besteht doch ebenfalls Lottchens Schwester Julchen die am Geld ausgerichtete Tugendprobe in überzeugender Manier. Zwar zögert sie einen kurzen Moment, als sie erfahrt, daß nun doch nicht sie das Rittergut erben soll, aber sie besinnt sich sofort wieder des Besseren ihres Familiensinns. JULCHEN: Meine Schwester ist es? Meine Schwester? Bald hätte ich sie beneidet; aber verwünscht sey diese Regung! Nein. Ich gönne ihr alles. (ZS, 91; III/10) 3 4

'

Lothar Pikulik: »Bürgerliches Trauerspiel« und Empfindsamkeit, S. 90. Daß diese Überlegungen schon in der Zeit selbst angestellt wurden, dokumentieren die Äußerungen von Thomas Abbt: Die Abhandlung vom Verdienste, S. 136: »Die Empfindnisse für andre, oder das gute Herz belohnen sich auf der Stelle durch das Vergnügen, das sie mit sich führen, und dieses Vergnügen kann sogar ein Reiz zu ihrer Wiederholung werden; kann fast eine Leidenschaft werden. Es wäre aber sehr hart, daraus zu folgern, daß sie also eigennützig wären.« Siehe hierzu allgemein Hans-Richard Altenhein: Geld und Geldeswert, bes. S. 85fr.; vgl. auch Lothar Pikulik: »Bürgerliches Trauerspiel«, S. 48fr. " 7

So entschieden, wie sich hier Julchen selbst zur Ordnung der Familie ruft, wäre es gar nicht nötig gewesen; denn mit der Erbschaft wollte sie doch nichts anderes als ihren Traum von einer Familienidylle verwirklichen. JULCHEN: Ich wollte meinen Vater und meine liebe Schwester mit in mein G u t nehmen. Ich ließ schon die besten Z i m m e r für sie zu rechte machen. ( Z S , 90; I I I / 1 0 )

Bei soviel Familiensinn ist es nun schon fast selbstverständlich, daß auch der Vater an nichts anderes denkt, als an das Wohl seiner Kinder. Alles, was er erben sollte, will er für eine Doppelhochzeit seiner beiden Töchter hergeben. CLEON [ZU Lottchen]: Mein K i n d , wenn mir die Frau M u h m e Stephan etwas vermacht haben sollte: so sähe ichs sehr gerne, wenn ich euch, meine Töchter auf einen T a g versprechen, und euch in kurzem auf einen Tag die Hochzeit ausrichten könnte. Ich wollte gern das ganze Vermächtniß dazu hergeben. ( Z S , j o f . ; I//11)

Daß sich durch eine solche Doppelhochzeit die Familie nicht auflöst, sondern nur um zwei tugendhafte Schwiegersöhne erweitert wird - davon kann der Vater mit gutem Grund überzeugt sein. Denn auch Damis und Siegmund präsentieren sich im Glanz einer tugendhaften Liebe, die sich in ihrer ökonomischen Uneigennützigkeit beweist. So ist es Damis völlig gleichgültig, ob seine Braut geerbt hat oder nicht, denn ihm würde »Julchen auch in einer Schäferhütte besser gefallen« als ein anderes »Frauenzimmer [mit] zehn Rittergüter[n]« (ZS, 66; II/19). Und ähnlich klingt es bei Siegmund, wenn dieser nachdrücklich betont, seine Braut sei ihm »mehr, als ein reiches Testament« (ZS, 80; III/4). Nach einigen Verwicklungen, die die zunächst unklare Erbschaftsangelegenheit hervorgebracht hat, könnte jetzt eigentlich die vom Vater so sehnlichst erwünschte Doppelhochzeit stattfinden, die in einem harmonischen Schlußbild für immer festhält, was das Drama den Zuschauern in der Abfolge verschiedener Situationen zur Anschauung gebracht hat die Familie als empfindsamer Tugendbund, der auf vorbildliche Weise alle die Wertvorstellungen verwirklicht, die Geliert in seinen »Moralischen Vorlesungen« propagiert: vom Mitempfinden des Glücks des anderen bis zur Mißachtung materieller Besitztümer, von der zärtlichen Liebe bis zur Betonung des inneren Werts des Menschen. Daß es dann doch nicht zu dieser Doppelhochzeit kommt, weil Siegmund sich am Ende als ein unredlicher Liebhaber erweist, der in der Zwischenzeit einen >Blick< auf Lottchens Schwester Julchen geworfen hat, hat sicherlich zunächst wirkungsästhetische Gründe: so glücklich, 118

daß beim Zuschauer keine »Tränen der Rührung« 6 erzeugt werden, darf das Ende einer Rührkomödie nicht sein - und deshalb muß das so überaus tugendhafte Lottchen leer ausgehen. 7 Und daß das Drama so lange um die Frage kreist, ob Julchen und Damis zueinander finden werden, hat sicherlich auch dramaturgische Gründe: ganz ohne retardierende Momente, die beim Zuschauer Spannung erzeugen, darf der Handlungsverlauf einer Komödie nicht sein. »Verschiedene Hindernisse und Beschwerlichkeiten« 8 - wie Geliert sagt - muß es für die Liebe geben, sonst wäre es keine Komödie; und ihr Ende muß den Zuschauer traurig stimmen, sonst wäre es keine Rührkomödie. Daß Julchen und Siegmund diese Funktion haben, befreit einen nicht von der Aufgabe, zu analysieren, wie beide Dramenfiguren innerdramatisch so motiviert sind, daß für den Zuschauer deren Funktion verdeckt bleibt. Denn der Zuschauer, der in Spannung versetzt und gerührt werden soll, darf ja das Arrangement nicht bemerken, das dies zum Ziel hat. Die Analyse der innerdramatischen Motivierung von Gang und Ausgang der Handlung macht es nötig, die Familie mit all ihren Wertvorstellungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Zwar hat es zunächst den Anschein, als sei die im Drama präsentierte Familie von vornherein der stillgestellte Bereich einer Idylle, dem sich alle Protagonisten in bruchloser Harmonie zuordnen. Doch ist dies nur der kurze Zustand einer Idealität, auf den hin alles bis zur kurz bevorstehenden Doppelhochzeit zuläuft, und von dem es dann - in der Enttäuschung des Erwarteten, die den Rühreffekt produziert - wieder wegläuft. An Siegmund und Julchen konkretisieren sich diese beiden Bewegungsrichtungen. Denn beide machen - in spiegelbildlicher Entsprechung — eine exemplarische Wandlung durch. So ist Julchen zu Beginn des Dramas die spröde, ihren Liebhaber abweisende, von innerer Unruhe erfüllte und von der Idee der Freiheit eingenommene junge Frau, die alle Bande von Ehe und Familie zu meiden trachtet; und am Ende ist sie die sanfte, ihrem Liebhaber zugetane, innerlich ausgeglichene und von zärtlicher Liebe erfüllte Braut. Umgekehrt ist Siegmund zunächst 6

Z u den >Tränen der Rührung< als Wirkzweck der Rührkomödie heißt es bei Geliert: »Diejenigen wenigstens, welche K o m ö d i e n schreiben wollen, werden nicht übel thun, wenn sie sich unter andern auch darauf befleißigen, daß ihre Stücke eine stärkere E m p f i n d u n g der Menschlichkeit erregen, welche so gar mit Thränen, den Z e u g e n der R ü h r u n g , begleitet wird.« Geliert: Pro comoedia commovente,

zitiert nach der Übersetzung v o n Lessing, in: L M V I ,

S. 32-49, S. 48. 7

Siehe hierzu Horst Steinmetz: Die K o m ö d i e der A u f k l ä r u n g , S. 50.

8

Geliert: P r o comoedia commovente, in: L M V I , S. 36.

119

der wohlwollende, selbstlose und empfindsame Liebhaber, der voll in die Familie integriert ist, während er am Schluß als der egoistische, berechnende und intrigante Betrüger entschieden aus ihr verwiesen wird. Das dramatische Geschehen, das diesen Platzwechsel hervorruft, durch den Julchen >eingegrenzt< und Siegmund >ausgegrenzt< wird, empfangt seinen Impuls von einem Problem, das den Vater von Julchen und Lottchen zu Beginn des Dramas stark bewegt. Denn seine beiden Töchter haben zwar einen Freier, doch bei beiden scheint die vom Vater so sehnlichst erwünschte Hochzeit in weiter Ferne. Lottchen kann Siegmund nicht heiraten, da Vermögen und Einkünfte fehlen; ein sicheres materielles Fundament aber ist die unabdingbare Voraussetzung für eine Ehe, die ökonomischen Bestand haben will - wie die zeitgenössischen Komödien immer wieder betonen 9 und wie es der zeitgenössischen Realität entspricht. 10 Julchen dagegen könnte zwar heiraten, da ihr Freier Damis alle finanziellen Voraussetzungen erfüllt, doch glaubt sie ihn nicht zu lieben; Liebe aber ist die unabdingbare Voraussetzung für jede Ehe, die emotionalen Bestand haben will - wie die zeitgenössischen Ehekonzepte unaufhörlich wiederholen und wie es der Auffassung des Gellertschen Dramenpersonals entspricht. Da für Julchen diese Voraussetzung nicht erfüllt scheint, weist sie Damis als ihren Liebhaber ab. Einzig als Freund, der sie nicht bindet, will sie ihn gelten lassen. JULCHEN [ZU Damis]: Dieses ist eben mein Wunsch, viele Freunde und keinen Liebhaber zu haben; mich an einem vertrauten Umgange zu vergnügen, aber mich nicht durch die Vertraulichkeit zu binden und zu feßeln. Wenn sie mir nichts mehr von der Liebe sagen wollen: so will ich ganze Tage mit ihnen umgehen. (ZS, 14; I/5)

Julchens subjektive Hindernisse bei der Eheschließung und Lottchens objektive werden zum Motor einer Dramenhandlung, die nicht allein als Ermöglichungsgrund für Tugenddemonstrationen fungiert, sondern auch ein beziehungsstiftender Geschehenszusammenhang ist, in dem sich die Hauptakteure des Dramas im Wandel neu gruppieren. In der Abfolge des Geschehens lassen sich dabei drei miteinander verknüpfte Phasen unterscheiden. In der ersten Phase wird mit allem Nachdruck und in verschiedenen Anläufen versucht, Julchen zur Heirat mit Damis zu be'

Siehe Hans-Richard Altenhein: Geld und Geldeswert, bes. S. 3fr. Siehe Heidi Rosenbaum: Formen der Familie, S. 286: »Unabdingbare Voraussetzung für eine bürgerliche Ehe war ein sicheres materielles Fundament, sei es in Form von erworbenem oder ererbtem Vermögen oder einer gesicherten Position im Staatsdienst. Wer diesen Nachweis nicht führen konnte, mußte auf Ehe und Familie verzichten, auch wenn es an Zuneigung nicht mangelte.«

120

wegen; in der zweiten Phase verfolgt Siegmund den Plan, die vermeintlich reiche Erbin Julchen für sich zu gewinnen; und in der Schlußphase wird er entlarvt und aus dem Kreis der Familie verstoßen. Zunächst jedoch gilt alle Aufmerksamkeit der Akteure Julchens Weigerung, den in jeder Hinsicht vorbildlichen und obendrein auch noch reichen Freier Damis zu heiraten. Was sich in der Typenkomödie »Der Bookesbeutel« wie selbstverständlich vollzieht, wenn die arme und tugendhafte Charlotte zur Braut des reichen und ebenfalls tugendhaften Ehrenwert wird" - in Gellerts Komödie wird es zu einem Problem, da sich Julchen sträubt, dem zu folgen, was ihr alle nahelegen und was der Doktrin der »vernünftigen Liebe« entspricht: die Ehe mit einem tugendhaften Freier einzugehen. Daß diese Weigerung nur eine vorübergehende Verhärtung Julchens sein kann, die blockiert, was sie eigentlich wünscht - (und gemäß einer Liebesauffassung, nach der die Liebe gleichsam automatisch der erkannten Tugend des Partners folgt, auch zu wünschen hat) - , dies ist die feste Überzeugung der anderen Familienmitglieder. In Wirklichkeit liebe sie Damis, verberge diese Liebe aber vor sich selbst und den anderen. Lottchen spricht dies unmißverständlich aus: Sie liebt den Herrn Damis, und weis es nicht, daß sie ihn liebt. Ihr ganzes Bezeigen versichert mich, daß der prächtige Gedanke, den sie von der Freyheit mit sich herum trägt, nichts als eine Frucht der Liebe sey. Sie liebt; aber die verdrüßliche Gestalt, die sie sich vielleicht von der Ehe gemacht hat, umnebelt ihre Liebe. Wir wollen diese kleinen Nebel vertreiben. (ZS, io; I/3)

Der Unterschied zur sächsischen Typenkomödie ist auffallig. Denn während dort die tugendhaften Brautleute den äußeren Widerstand des personifizierten Lasters zu überwinden haben, um zum Glück der Ehe zu gelangen, ist in Gellerts Rührkomödie der Konflikt verinnerlicht zu einer gleichsam psychischen >Liebesblockademittleren< Stände sich wiedererkennen können. Immer wieder kreisen seine Gedanken dabei um den Bereich einer weltabgeschlossenen Gefühlsgemeinschaft, in der von der »zärtlichen« Liebe bis zum selbstlosen Wohlwollen alle die gemeinschaftsstiftenden Tugenden herrschen, die in der >großen< Welt von Macht, Prestige und Reichtum verlorengehen. So grenzt Geliert entschieden die »lermende Liebe« der Tragödie gegen die »angenehm unruhige Liebe« der Komödie ab und fährt dann fort: Das, was ich aber von der Liebe, und von dem Ansprüche der Komödie auf dieselbe, gesagt habe, kann, glaube ich, eben so wohl von den übrigen Stücken behauptet werden, welche die Gemüther zu bewegen vermögend sind; von der Freundschaft, von der Beständigkeit, von der Freygebigkeit, von dem dankbaren Gemüthe, und so weiter. Denn weil diese Tugenden denjenigen, der sie besitzt, zwar zu einem rechtschafnen, nicht aber zu einem grossen und der Tragödie würdigen Manne machen, und also auch vornehmlich nur Zierden des Privatlebens sind, wovon die Komödie eine Abschilde11 2S

Geliert: Pro comoedia commovente, in: L M V I , S. 44. Siehe S. 4off. und S. 67 dieser Arbeit.

130

rung ist: so wird sich auch die Komödie die Vorstellung dieser Tugenden mit allem Rechte anmaassen, und alles zu gehöriger Zeit und an gehörigen Orte anwenden dürfen, was sie, die Gemüther auf eine angenehme Art zu rühren, darbiethen können. 24

Bei soviel Abdämpfung aufs Wohltemperierte einer privaten Lebenswelt haben Gellerts Dramen nicht von ungefähr den Eindruck großer Wirklichkeitsnähe hervorgerufen. Lessing ist der Stichwortgeber, wenn er zu den Komödien Gellerts durchaus lobend bemerkt: E s sind wahre Familiengemälde, in denen man sogleich zu Hause ist; jeder Zuschauer glaubt, einen Vetter, einen Schwager, ein Mühmchen aus seiner eigenen Verwandtschaft darinn zu erkennen. 25

Viele haben es Lessing nachgesprochen. Es seien »realistisch geschaute Familienstücke des sächsischen Bürgers seiner Zeit«26, in ihnen finde sich eine »peinlich getreue Wirklichkeitsabschilderung engsten Umkreises«27; konstatiert wird, »dass er deutsches, bürgerliches Milieu schildert, realistische Familienbilder gibt« 2 '; er liefere eine »getreue Nachzeichnung des damaligen Mittelstandes« 2 ' - mit einem Wort: Geliert suche »als naturalistischer Aufklärer Wirklichkeit zu erreichen.«'0 Daß dieser Eindruck >naturalistischer< Wirklichkeitstreue entstehen konnte, kommt sicherlich nicht von ungefähr. Denn in vielen kleinen Details erzeugen Gellerts Komödien den Eindruck von Milieutreue: sei es, daß ständig vom Kaffee- oder Teetrinken die Rede ist; sei es, daß von Erbschaften, Testamenten, Lotterien, von Mitgiften, Marktgeld und Spenden gehandelt wird; sei es, daß Vormünder, Gevatter, Magister, Brautleute, Ehepaare und Eltern auftreten; sei es, daß auf die Lektüre zeitgenössischer Werke wie die »Pamela«, den »Zuschauer«, die »Bremer Beiträge« und auf die Fabeln eines Leipziger Autors verwiesen wird. Und doch ist der kritische Einwand von Lothar Pikulik nicht ohne weiteres abzuweisen, daß die faktische zeitgenössische Familie mit der Dramenfamilie, so wie sie Geliert zeichnet, wenig zu tun habe: Während in der empfindsamen Familie ein milder und nachsichtiger Hausvater seinen Kindern mit Liebe und Verständnis entgegenkommt, steht der bürgerliche Vater zu den seinen, und ebenfalls zu seiner Frau, in einem autoritären Herrschaftsverhältnis. Auf Seiten der Kinder korrespondiert hier dem 24

Geliert: Pro comoedia commovente, in: L M V I , S. },ηί. ' Lessing: L M I X , S. 273. 26 Karl Holl: Geschichte des deutschen Lustspiels, S. 165. 27 Hugo Ellenberger: Der Dramatiker Johann Elias Schlegel, S. 219. 28 Erich Hardung: Friedrich Maximilian Klingers »Falsche Spieler«, S. 64. 29 Johannes Coym: Gellerts Lustspiele, S. 21. JO Otto Mann: Grundlagen und Gestaltung, S. 22. 2

131

Verhältnis der Autorität das der Pietät, wohingegen in der empfindsamen Familie die Kinder zum Vater in ein, wie das Familiendrama gern zeigt, zärtliches Freundschaftsverhältnis treten. Die empfindsame Familie wird auch nicht wie die bürgerliche von objektiven moralischen Grundsätzen und ökonomischen Interessen beherrscht, sondern ihr einziges Prinzip ist die Pflege des zärtlichen Gefühls.' 1

Wenn nun allerdings Pikulik von dieser Diskrepanz zwischen Fiktion und Realität her das >Unbürgerliche< am empfindsamen Familiendrama betont, da ja kein genaues AbbildungsVerhältnis vorliege, geht er von der gleichen Grundannahme einer simplizistischen Widerspiegelung aus wie diejenigen, die in Gellerts Dramen die naturalistische Tendenz herausstreichen. Geliert selbst hingegen bestimmt in seinen theoretischen Reflexionen über die Rührkomödie das Verhältnis von Dramenwirklichkeit und Zuschauerwirklichkeit differenzierter. Zwischen Fiktion und Realität habe eine Ähnlichkeitsbeziehung zu herrschen, damit der Zuschauer das Bühnengeschehen auf sich appliziere,'' doch dürfe sich die Wahrscheinlichkeit nicht in der bloßen Reproduktion der Alltagserfahrung erschöpfen, denn dann verlöre das Drama seinen moralischen Besserungsanspruch." Dabei weiß Geliert ganz genau um die Gefahren des Umschlags einer als >naturwahr< dargestellten tugendhaften Welt in die Illusion eines bloß >Kunstwahrenwahren< Menschseins erhoben wird. Allein in der Welt der kleinen Gemeinschaft komme der Mensch ganz zu sich, während er sich im wirkungsbezogenen Agieren in der Öffentlichkeit v o n sich selbst entferne. U m die Mitte des 18. Jahrhunderts gerinnt diese Aufspaltung des Menschen in Schale und K e r n , Schein und Sein und die Aufteilung der beiden Hälften auf die öffentliche und private Sphäre zur wohletablierten Argumentationsfigur. In R o m a n und Lehrgedicht, in der Moralphilosophie und im populären Schrifttum, in der R ü h r k o m ö die und im bürgerlichen Trauerspiel wird dieses K o n z e p t eines Allgemeinmenschlichen entfaltet, das dem Menschen diesseits v o n allen als äußerlich erachteten Attributen eine Würde zuschreibt, die allein auf seinem tugendhaften Menschsein beruht.' D i e polemische Stoßrichtung mag dem distanzierten Betrachter deutlich werden, der sieht, wie gegen die ständische Gesellschaft ein Bereich neuer Wertsetzungen etabliert wird, der sich ex negativo v o n den geltenden Werten einer »repräsentativen Öffentlichkeit« (Habermas) her bestimmt und sich dabei zugleich als allgemein ausgibt. 2 D e m Zeitgenossen 1

'

Siehe dazu im einzelnen S . ιογίί. dieser Arbeit. Siehe dazu Reinhart Koselleck: Z u r historisch-politischen

Semantik

asym-

metrischer Gegenbegriffe, S. 9 ; f.: »Im Zeitalter der A u f k l ä r u n g hatte die Berufung auf den Menschen oder die Menschheit eine kritische, mehr noch: eine die Gegenpositionen negierende Funktion. Sie zielte in drei Richtungen, gegen die verschiedenen Kirchen und Religionen, gegen ständische Rechtsab1

35

allerdings bleibt diese Sehweise häufig versperrt. D e n n die Sphäre des P r i v a t e n w i r d nicht n u r als >bürgerlicher< Widerpart einer feudalabsolutistischen Wirklichkeit bestimmt,' sondern auch als eine überständische E x i s t e n z f o r m , s o als verlöre sich in ihr, w e n n auch nicht die G e g e b e n h e i t einer hierarchisch gestuften Gesellschaft, s o doch deren Bedeutsamkeit f ü r die E x i s t e n z als ein >wahrer< Mensch. A l l e i n f ü r wichtig angesehen w e r d e n die B e z i e h u n g e n menschlicher Unmittelbarkeit, die sich diesseits aller ständischen R a n g z u w e i s u n g e n in F r e u n d s c h a f t und L i e b e manifestieren. D i e L i e b e der Eltern zu ihren K i n d e r n ist dabei deren höchste F o r m und sicherster B e w e i s , denn in dieser L i e b e äußere sich die N a t u r des Menschen jederzeit ganz unverfälscht v o n allen ständischen Vermittl u n g e n u n d s i n n l i c h e n Verrohungen*. 4

5

4

stufungen und gegen die persönliche Herrschaft der Fürsten. In diesem sozialen und politischen Kontext veränderte sich der Stellenwert des Ausdrucks >Mensch< oder >Menschheitbloßen< Menschen diesseits aller ständischen Attribute des Ranges und Ansehens zur Identifikationsinstanz erhebt, zeigt der Kontext, in den er seine Überlegungen stellt. 29

Ebd., S. 266. Zur erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auftretenden Erscheinung des Duzens zwischen Eltern und Kindern im Bürgertum siehe die kritischen Bemerkungen von Ernst Brandes: Ueber das Du und Du zwischen Eltern und Kindern: »Unwidersprechlich hatte an der Abweichung von der Weise der Väter, der Versündigung gegen den Sprachgebrauch, die uns beschäftigt, die langfortdauernde Revolution, welche seit den Rousseau-Basedow'schen Zeiten in der Pädagogik herrschte, einen sehr großen Antheil.« (S. 38; im Original gesperrt); vgl. auch Wilhelm Heinrich Riehl: Die Familie, der vom 19. Jahrhundert her mit bedauerndem Blick auf die Vergangenheit den Untergang der traditionellen Anredeform in der Familie beklagt: »Altbürgerliche Sitte war es, daß wenigstens das Kind den Vater Sie oder Ihr nannte. Neubürgerliche Sitte dagegen ist's, daß sich die ganze Familie, für welche die Gemütlichkeit des häuslichen Lebens an die Stelle der patriarchalischen Zucht des Hauses getreten ist, durch die Bank du^e.« (S. 49) 31 L M X, S. 32. ' 2 L M IX, S. 239.

50

142

Denn zur Erläuterung fügt er ein umfängliches Zitat von Jean François Marmontel hinzu, in dem dieser eine rührende Familienszene ausmalt: Die geheiligten Namen des Freundes, des Vaters, des Geliebten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter, des Menschen überhaupt: diese sind pathetischer, als alles; diese behaupten ihre Rechte immer und ewig. Was liegt daran, welches der Rang, der Geschlechtsname, die Geburt des Unglücklichen ist, den seine Gefälligkeit gegen unwürdige Freunde, und das verführerische Beyspiel, ins Spiel verstricket, der seinen Wohlstand und seine Ehre darüber zu Grunde gerichtet, und nun im Gefängnisse seufzet, von Scham und Reue zerrissen? Wenn man fragt, wer er ist; so antworte ich: er war ein ehrlicher Mann, und zu seiner Marter ist er Gemahl und Vater; seine Gattinn, die er liebt und von der er geliebt wird, schmachtet in der äußersten Bedürfniß, und kann ihren Kindern, welche Brod verlangen, nichts als Thränen geben. Man zeige mir in der Geschichte der Helden eine rührendere, moralischere, mit einem Worte, tragischere Situation! 53

Lessing gibt hier keineswegs bloß fremde Gedanken wieder, sondern er sieht sich in seinen Überlegungen, die ihn schon seit langem bewegen, bestätigt. Dies belegt u. a. sein Brief, den er ein Jahrzehnt vorher an Friedrich Nicolai schickte.54 Denn das traurige Schicksal einer Familie, das Lessing in ihm erzählt, ähnelt in vielem der Familienszene, die Marmontel ausmalt; und die Perspektive, in der das Geschehen erscheint, stimmt damit ebenfalls weitgehend überein. Denn auch Lessing geht es in seiner Geschichte von einem Familienvater, der wegen seiner Ehrlichkeit vom Minister entlassen wird, nicht um eine soziale Anklage, sondern um die Festlegung der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit beim Rezipienten Rührung hervorgerufen wird. Der Mensch als Familienangehöriger, das traurige Familienschicksal als Geschehenszusammenhang und die Rührung als Wirkung seiner dramatischen Ausgestaltung: das ist die Gedankenkette, die in Lessings Brief durchscheint. Als Teil des umfänglichen Briefwechsels über das Trauerspiel, an dem sich außer Nicolai auch noch Mendelssohn beteiligt, ist dieser Brief einer der Versuche Lessings, den wirkungsästhetischen Zweck der Tragödie näher zu bestimmen. Vordergründig stimmt er dabei mit seinen Briefpartnern überein. Denn ebenso wie er verwerfen auch sie die ratiozentrierte Literaturauffassung Gottscheds und erheben die emotionale Wirkung zum Zweck der Tragödie. Doch während Mendelssohn und Nicolai der Literatur einen gleichsam moralfreien Raum zugestehen, in dem es allein um die Erregung von Leidenschaften » L M I X , S. 240. 54 Brief vom 29.11.1756, abgedr. in: Jochen Schulte-Sasse (Hg.): Briefwechsel über das Trauerspiel, S. 67-69. H?

geht," opponiert Lessing gegen diese Trennung von Kunst und Moral. In immer erneuten Anläufen versucht er zu zeigen, wie gerade die Affekterregung die Moralität des Menschen befördert. Denn gemäß seiner empfindsamen Anthropologie, die viele Züge des Gellertschen Menschenbildes aufweist, gründet die Moralität des Menschen auf seiner Empfindungsfahigkeit. Sie zu steigern ist deshalb die Aufgabe einer Tragödie, die den Menschen bessern will. Ihr Zweck ist es nicht - wie bei Gottsched - , den Zuschauer in spezielle Verhaltensnormen einzuüben, sondern seine Gefühlsdisposition so zu entfalten, daß diese sich in verschiedensten Situationen als gute Tat konkretisiert. So soll die Tragödie uns nicht blos lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß. [. . .] Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes thut, thut auch dieses, oder - es thut jenes, um dieses thun zu können.' 6

Die dem Mitleid eingeräumte zentrale Stellung, deren ethische Legitimation in der Verschränkung von Empfindungsfähigkeit und Moralität gründet, verdeutlicht Lessing in einer geradezu provokanten Abgrenzung gegen das rationalistische Grundaxiom einer Bindung der Moralität an die Erkenntnis: Gesetzt auch, daß mich der Dichter gegen einen unwürdigen Gegenstand mitleidig macht, nehmlich vermittelst falscher Vollkommenheiten, durch die er meine Einsicht verführt, um mein Herz zu gewinnen. Daran ist nichts gelegen, wenn nur mein Mitleiden rege wird, und sich gleichsam gewöhnt, immer leichter und leichter rege zu werden. 37

Schärfer kann die Absage an eine rationalistische Moralphilosophie, die Tugend auf Einsicht gründet, kaum sein. Zwar ist Lessing dabei gegenüber Nicolai und Mendelssohn insofern traditioneller, als er - wie Gottsched — Kunst und Moral zusammenbindet, aber er ist radikaler, 55

36 57

So heißt es bei Nicolai im Brief an Lessing vom 31. August 1756, in dem er ihm die Quintessenz seiner »Abhandlung über das Trauerspiele« mitteilt: »Ich setze also den Zweck des Trauerspiels in die Erregung der Leidenschaften, und sage: das beste Trauerspiel ist das, welches die Leidenschaften am heftigsten erregt, nicht das, welches geschickt ist, die Leidenschaften zu reinigen.« abgedr. in: Jochen Schulte-Sasse (Hg.): Briefwechsel über das Trauerspiel, S. 47. Im 13. Brief »Über die Empfindungen« kommt Mendelssohn zu einer analogen Bestimmung. »Der Zweck des Trauerspiels ist Leidenschaften zu erregen.« abgedr. in: ebd., S. 142. Lessing an Nicolai vom Nov. 17)6, abgedr. in: ebd., S. 52-57, S. 55. Lessing an Mendelssohn vom 18.12.1756, abgedr. in: ebd., S. 76-8;, S. 80.

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weil er - gegen Gottsched, jedoch durchaus in Übereinstimmung mit dem von Geliert aufgegriffenen Konzept des »moral sense« - nicht nur die Kunst, sondern auch die Moral an das Gefühl bindet. Bei allem Unterschied in der Ausdifferenzierung und dem Reflexionsniveau: die Übereinstimmung Lessings mit Grundzügen des Gellertschen Menschenbildes und seiner damit verbundenen Wirkungsästhetik liegt auf der Hand. Sie erstreckt sich bis auf einzelne Worte und Wendungen. Heißt es ζ. B. in der Gellertschen Antrittsvorlesung »Pro comoedia commovente«, die Lessing ü b e r s e t z t e , ü b e r die Verfasser von Rührkomödien, daß ihre Stücke eine stärkere E m p f i n d u n g der Menschlichkeit erregen, welche so gar mit Thränen, den Z e u g e n der R ü h r u n g , begleitet wird, 5 9

so heißt es bei Lessing ein halbes Jahrzehnt später: U n d nur diese Thränen des Mitleids, und der sich fühlenden Menschlichkeit, sind die Absicht des Trauerspiels, oder es kann gar keine haben. 4 "

>8 In: L M V I , S. 32-49. "

E b d . , S. 48.

40

L M V I I , S. 68.

145

II.

D I E R E S T I T U T I O N DER F A M I L I E IM T O D

Zur Unvereinbarkeit von Liebe und Ehe in Lessings »Miß Sara Sampson«

Lessing an der Seite Gellerts - sicherlich ein etwas befremdlicher Anblick. Denn Lessing ist ja gegenüber Geliert so unendlich mehr, nicht nur was das geistige Format angeht, sondern auch, was die Vielfalt des Denkens betrifft. Und doch gibt es diese Momente von Übereinstimmung in der empfindsamen Dramaturgie, die Lessing im Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai entwickelt. Und auch die Frontstellung stimmt weitgehend mit der Gellerts überein. Gottsched ist der Antipode, von dem sich beide abgrenzen, indem sie hervorheben, daß das Drama nicht der Beförderung von Einsichten, sondern der Steigerung der Empfindungsfähigkeit zu dienen habe. Doch während Geliert in all seiner Ängstlichkeit die Abwendung von Gottsched so vorsichtig vollzieht, daß er sogar die satirische Anspielung auf ihn in den »Zärtlichen Schwestern« am liebsten ungeschehen machen würde, 1 so scheut Lessing nicht die pointierte Zuspitzung. Sein 17. Literaturbrief ist hierfür nur das berühmteste Beispiel, 2 viele Rezensionen schließen sich an,' und auch in einer Selbstrezension seiner Schriften ist die Mokanz im Tonfall nicht zu überhören. 4 In dieser Selbstrezension stellt Lessing mit der ihm eigenen polemischen Überheblichkeit gegenüber Gottsched, die nicht einmal gewillt ist,

1

2 3

4

Geliert selbst weist in der Vorrede zur ersten A u s g a b e seiner Lustspiele darauf hin, daß er mit seinem Magister keine bestimmte Person meine: »In den zärtlichen Schwestern kömmt ein kleiner Pedant vor, der weiter keinen Fehler hat, als daß er zur Unzeit gelehrt und in seine Art der Gelehrsamkeit, mit Verachtung der übrigen Arten, verliebt ist. Dieser Charakter herrscht so allgemein unter den Gelehrten und Künstlern, daß ich nicht geglaubt hätte, daß man das Original dazu in dieser oder jener einzelnen Person suchen würde. Allein kaum waren die zärtlichen Schwestern gedruckt: so mußte ich den schrecklichen V o r w u r f hören, als ob ich diesen oder jenen wackern Mann in der Person des Magisters gemeynt hätte.« Geliert: Vorrede zu: ders.: Lustspiele, hrsg. v o n Horst Steinmetz, n. p. Siehe L M V I I I , S. 41-44. Darauf, daß allerdings viele der äußerst polemischen Rezensionen gegen G o t t sched bis 1 7 5 1 , die bei Muncker stehen, nicht von Lessing sind, macht aufmerksam K a r l S. Guthke: Aufgaben der Lessing-Forschung heute, S. 13 8f. Siehe L M V I I , S. 2Óf.

146

dem Leipziger Literaturreformer ein zumindest historisches Recht einzuräumen,' die f ü r ihn selbst bloß rhetorische Frage: Der sechste Theil fángt mit einem bürgerlichen Trauerspiele an, welches Mtß Sara Sampson heißt. - Ein bürgerliches Trauerspiel! Mein Gott! Findet man in Gottscheds critischer Dichtkunst ein Wort von so einem Dinge? 6 Doch eine A n t w o r t erübrigt sich nicht; denn gegen das rhetorisch implizierte Nein steht die Ä u ß e r u n g Gottscheds in der vierten A u f l a g e seiner »Critischen Dichtkunst« v o n 1 7 5 1 : Allein, wenn es ja eine solche Art von Schauspielen geben kann und soll: so muß man sie nur nicht Komödien nennen. Sie könnten viel eher bürgerliche, oder adeliche Trauerspiele heißen; oder gar Tragikomödien, als ein Mittelding zwischen beyden, genennet werden. 7 Offensichtlich hat Lessing also unrecht, wenn er so voller E m p h a s e unterstellt, bei Gottsched finde sich kein »Wort v o n so einem Dinge« wie dem »bürgerlichen Trauerspiel«. Hat Lessing nicht aber, wenn auch nicht in der Benennung, so doch in der Sache, allen G r u n d , die Neuheit seines Dramas hervorzuheben, da Gottsched mit seinem terminologischen Vorschlag ja auf die zeitgenössische R ü h r k o m ö d i e reagiert, er selbst aber die Tragödie meint? Ohne weiteres ist auch dies nicht zu bejahen. Denn so groß, wie Lessings E m p h a s e signalisiert, scheint der Unterschied zwischen der R ü h r k o m ö d i e eines Geliert und Lessings Trauerspiel auf den ersten Blick gar nicht zu sein. Beide zielen erklärtermaßen mit ihren Dramen auf die G e f ü h l e der Zuschauer; auch scheint der Unterschied nicht in den dramaturgischen Mitteln zum übereinstimmenden

wir-

kungsästhetischen Z w e c k zu liegen. D e n n auch in bezug auf Personengestaltung, thematische Ausrichtung und Handlungsverlauf sieht es so aus, als herrsche weitgehende Übereinstimmung. S o gruppieren sich ebenso wie in den »Zärtlichen Schwestern« auch in der »Sara« die Personen um eine einzige Familie, die zum privaten G e fühlsraum wird. In beiden Fällen fehlt bezeichnenderweise die Mutter, '

6 7

Siehe hierzu Peter Michelsen: Der Kritiker des Details, S. 150-158, bes. S. 15 2f.; vgl. auch Joachim Birke: Der junge Lessing als Kritiker Gottscheds, bes. S. 392f. L M VII, S. 26. Versuch einer Critischen Dichtkunst, 4. Aufl., S. 644. Eine vergleichende Betrachtung der vier Auflagen findet sich bei Alfred Pelz: Die vier Auflagen von Gottscheds Critischer Dichtkunst. Zu frühen Verwendungen des Terminus »Bürgerliches Trauerspiel« siehe Richard Daunicht: Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland, S. 191fr.; vgl. dazu auch Alois Wierlacher: Das bürgerliche Drama, S. 29fr.; Karl S. Guthke: Das bürgerliche Trauerspiel, S. ;ff.

147

deren Stelle ein Vater einnimmt, der nicht m e h r als patriarchalisches F a m i l i e n o b e r h a u p t die Familie mit der O r d n u n g der Gesellschaft v e r mittelt, sondern sich im empfindsamen M i t g e f ü h l allein der Binnensphäre der Familie zuwendet. S o w o h l die Sphäre der Politik und der M a c h t als auch das H a n d l u n g s f e l d der heroischen Taten u n d d e r Personen v o n h o h e m Stand sind jeweils ausgeblendet. U n d w e n n auch die S a m p s o n s v o n A d e l sind, so lassen sie sich doch — ebenso w i e die Familie C l e o n s — jenem >Mittelstand< zuordnen, aus d e m neben der R ü h r k o m ö die (nach G o t t l o b Benjamin Pfeil) auch das »bürgerliche Trauerspiel« sein Personal zu rekrutieren habe: Es giebt einen gewissen Mittelstand zwischen dem Pöbel und den Großen. Der Kaufmann, der Gelehrte, der Adel, kurz, Jedweder, der Gelegenheit gehabt hat, sein Herz zu verbessern, oder seinen Verstand aufzuklären, gehöret zu denselben. Aus dieser Klasse müssen wir die Charaktere der handelnden Personen hernehmen. Diese Leute sind jederzeit desjenigen Grades der Tugend und des Lasters fähig, den die tragische Schaubühne erfordert, wenn sie ihre Absicht erreichen will. 8 A u c h thematisch liegt die N ä h e der »Sara« zur R ü h r k o m ö d i e zunächst auf der H a n d . D e n n in L e s s i n g s Trauerspiel geht es ebenfalls u m jene »zärtliche« L i e b e einer privaten L e b e n s w e l t , die Geliert als T h e m a der R ü h r k o m ö d i e entschieden abgrenzt v o n der heroischejn] Liebe, welche durch die Bande wichtiger Angelegenheiten, der Pflicht, der Tapferkeit, des größten Ehrgeitzes, entweder unzertrennlich verknüpfet, oder unglücklich zertrennet wird. 9 Darüber

hinaus

f o l g t auch

der

Handlungsverlauf

des

Lessingschen

Trauerspiels auf den ersten Blick w e i t g e h e n d einem Schema, das Geliert der R ü h r k o m ö d i e als dramatische E n t f a l t u n g v o n

Liebesbeziehungen

v o r g i b t . D e n n auch in der »Sara« handelt es sich ein Stück weit um eine angenehm unruhige Liebe, welche zwar in verschiedene Hindernisse und Beschwerlichkeiten verwickelt wird, die sie entweder vermehren oder schwächen, die aber alle glücklich überstiegen werden, und einen Ausgang gewinnen, welcher, wenn auch nicht für alle Personen des Stücks angenehm, doch dem Wunsche der Zuschauer gemäß zu seyn pflegt. 10 8

9 10

Anonym [Gottlob Benjamin Pfeil; G . S.]: Vom bürgerlichen Trauerspiele, abgedr. in: Karl Eibl: Gotthold Ephraim Lessing Miß Sara Sampson, S. 187; allgemein zum sozialen Ort des sich neu konstituierenden Familienbildes im bürgerlichen Drama des 18. Jahrhunderts siehe Bengt Algot Serensen: Herrschaft und Zärtlichkeit, S. 4 5 ff. Geliert: Pro comoedia commovente, in: L M VI, S. 36. Ebd.; generell zur Bindung des bürgerlichen Trauerspiels an das Formmuster der Komödie siehe Hans Rempel: Tragödie und Komödie im dramatischen Schaffen Lessings, und Klaus-Detlef Müller: Das Erbe der Komödie im bürgerlichen Trauerspiel.

148

Bis zum vierten Akt trifft dies ebenfalls auf Lessings Trauerspiel zu. Auch die Liebe zwischen Sara und Mellefont ist zunächst geprägt von allerlei »Hindernissen und Beschwerlichkeiten«, die aber gegen Ende des dritten Aktes in der sich ankündigenden Vereinigung aller tugendhaften Protagonisten »glücklich überstiegen« scheinen. Was aber unterscheidet dann - bei so viel erwiesener Übereinstimmung - noch die »Sara« von der Rührkomödie eines Geliert? Zunächst einmal: das traurige Ende. Doch welchen Stellenwert hat dieses Ende? War es einzig der Gesichtspunkt der Wirkung, der Lessing dazu bestimmt hat, sein Drama mit Saras Tod enden zu lassen, um so eine stärkere emotionale Erschütterung beim Zuschauer hervorzurufen? Vieles spricht zunächst für einen rein wirkungsästhetisch motivierten Tod Saras, dem jede innerdramatische Notwendigkeit mangelt. Denn es sieht ganz danach aus, als vergifte die Marwood Sara bloß aufgrund eines plötzlichen Einfalls - wodurch dann das sich anbahnende Glück einer wiederhergestellten Familienharmonie von außen zerstört wird. Dieses Glück steht ja - im wahrsten Sinne des Wortes - unmittelbar vor der Tür. Der Vater wohnt Wand an Wand mit Sara und ist zur vollständigen Vergebung bereit. Sein einziges Bestreben ist es, die durch die Flucht der Tochter zerstörte Familie als Gemeinschaft sich zärtlich Liebender zu restaurieren. Er trifft damit Saras tiefsten Wunsch, den sie noch kurz vor ihrem Tode gegenüber Mellefont im Bild einer empfindsamen Familiengemeinschaft artikuliert: Glückliche Tage, wenn mein Vater, wenn Sie, wenn Arabella, meine kindliche Ehrfurcht, meine vertrauliche Liebe, meine sorgsame Freundschaft um die Wette beschäftigen werden! (LM II, 342; V/4)

Von Anfang an scheint das Drama auf diese Vision Saras hinauszulaufen, denn von Anfang an wird dem Zuschauer Sir Williams grenzenlose Vergebungsbereitschaft und Saras grenzenlose Sehnsucht nach Vergebung signalisiert. Und am Ende des dritten Aktes steht einer allseitigen Versöhnung, die sich zum rührenden Schlußtableau runden kann, so wie es das spätere Familienschauspiel immer wieder wirkungsvoll in Szene zu setzen weiß," eigentlich nichts mehr im Wege. Wenn also Lessing gegenüber Gottsched mit allem Nachdruck die Neuheit der Gattungsbezeichnung »bürgerliches Trauerspiel« betont, so hat er — allem Anschein nach — nicht nur in terminologischer Hinsicht, sondern auch in sachlicher Hinsicht unrecht. Denn Gottsched verwendet den Terminus ja gerade in bezug auf die comédie larmoyante, der auch "

Siehe hierzu S. 217fr. dieser Arbeit. 149

Lessings Drama so sehr verpflichtet ist, daß das aus dem Geschehenszusammenhang nicht ableitbare traurige Ende auf den ersten Blick bloß zur Wirkungssteigerung angehängt scheint." Gibt es aber nicht doch, bei aller aufgewiesenen Übereinstimmung, einen Unterschied, der substantieller ist als ein allein zur Steigerung der Wirkung angehängtes trauriges Ende, das sich mit dem nach dem Schem a der R ü h r k o m ö d i e gestalteten Handlungsverlauf nicht >organisch< verbindet? Wäre dies nicht der Fall, müßte man tatsächlich Lessings emphatische Betonung der Neuheit seines Stückes als durchaus überzogen bezeichnen. Wie gesagt: vieles verweist zunächst auf die Logik eines Geschehenszusammenhangs, dessen glückliches Ende durch retardierende M o m e n t e bloß hinausgezögert scheint, das aber am Ende des dritten Aktes unabweisbar eintreten müßte. Schon die zeitgenössische Kritik ist dieser Auffassung, wenn sie darauf hinweist, daß Lessing mit aller >Macht< ein Stück traurig enden lasse, dessen erster Akt schon ein glückliches Ende prognostiziere: Dreymal habe ich das Trauerspiel schon gelesen, und noch weis ich nicht, wie und warum ein Mellefont es aufschob, die Miß zu heyrathen? Eben so wenig weis ich, warum der alte Vater seine Tochter nicht eher zu sehen bekömmt, als in der letzten Handlung, da sie stirbt - ? Nun das mußte ja seyn, wenn es ein Trauerspiel werden sollte! - Eine vortreffliche Entschuldigung! 1 '

Lessing selbst hätte sicherlich diese Entschuldigung nicht akzeptiert. Denn ein bloß gattungsästhetisches Motiv für ein trauriges Ende, ohne dessen zwingende Begründung aus dem Geschehenszusammenhang des Dramas heraus, wäre auch für ihn Indiz dramatischen Unvermögens. So kolportiert er in der »Hamburgischen Dramaturgie« das Gespräch zweier Zuschauer, um die geringe Qualität eines Stückes zu kennzeichnen, dessen Ende unmotiviert bleibt: In einem [. . .] Trauerspiele, w o eine von den Hauptpersonen ganz aus heiler Haut starb, fragte ein Zuschauer seinen Nachbar: Aber woran stirbt sie denn? - Woran? am fünften Akte; antwortete dieser.

12

IJ

So ζ. B. bei Jürgen Schröder: Gotthold Ephraim Lessing, S. 176, für den die Katastrophe »nur Funktion und Mittel für die Absicht des bürgerlichen Trauerspiels [ist]: die rührende Wirkung auf den Zuschauer«; ähnlich auch Gerhard Fricke: Bemerkungen zu Lessings »Freigeist« und »Miss Sara Sampson«, S. 108; Peter Weber: Das Menschenbild des bürgerlichen Trauerspiels, S. 54. Johann Jakob Dusch: Vermischte kritische und satyrische Schriften, abgedr. in: Karl Eibl: Gotthold Ephraim Lessing - Miß Sara Sampson, S. 22;.

150

Lessing fügt hinzu: In Wahrheit; der fünfte Akt ist eine garstige böse Staupe, die manchen hinreißt, dem die ersten vier Akte ein weit längeres Leben versprachen. ~' 4 Ist nun nicht die Marwood von der Art einer solchen »Staupe«, wenn sie — wie gemeinhin konstatiert — w i e eine dea ex machina auf Sara niederfährt und sie ermordet? Lessing selbst allerdings hat sein Stück auch im nachhinein der »Hamburgischen Dramaturgie« nicht verworfen, in der er bekanntlich auf innerdramatische Kausalität den allergrößten Wert legt. Sie nimmt er auch für seine »Miß Sara Sampson« in Anspruch. So besteht er in der »Hamburgischen Dramaturgie« nachdrücklich auf der inneren Stringenz seines Werks, wenn er auf eine kritische Rezension hin zwar einräumt, daß sein Stück »Fehler« habe, zugleich aber deren Notwendigkeit für das Ganze des Dramas hervorhebt, indem er an das erinnert was Voltaire bey einer ähnlichen Gelegenheit sagte: >Man kann nicht immer alles ausführen, was uns unsere Freunde rathen. Es giebt auch nothwendige Fehler. Einem Bucklichten, den man von seinem Buckel heilen wollte, müßte man das Leben nehmen. Mein Kind ist bucklicht; aber es befindet sich sonst ganz gut.Rettung< vor einem Leben, das sie aufgrund der Heiratsscheu Mellefonts nicht tugendhaft zu führen vermag, da für sie außerhalb der Ehe »auch die aufrichtigste Liebe eine unheilige Leidenschaft bleibet« (LM II, 333; IV/8). Geradezu sentenzenhaft spricht sie die Gefahrdung ihrer tugendhaften Lebensführung aus, vor der allein der Tod sie retten könne: Die bewährte Tugend muß Gott der Welt lange zum Beyspiele lassen, und nur die schwache Tugend, die allzu vielen Prüfungen vielleicht unterliegen würde, hebt er plötzlich aus den gefahrlichen Schranken. (LM II, 350; V/10)

40

Siehe Luk. 22/43.

164

Wenn sich nun in Saras Tod die für sie nicht lebbare Situation des blockierten Ubergangs aus der Herkunfts- in die Zeugungsfamilie manifestiert und sich somit durchaus ihr Charakter und ihr Schicksal zusammenschließen, wenn also auf diese Weise der Schluß des Dramas nicht bloß das angehängte Mittel zur Wirkungssteigerung ist, dann bliebe immer noch der mögliche Einwand, daß es letztlich ja allein Mellefonts Heiratsscheu sei, die zwar Saras Tod aus dem inneren Geschehenszusammenhang heraus motiviere, aber kein darüber hinausgehendes Problem reflektiere. Denn Mellefonts Hinauszögern der Heirat verweise auf nichts anderes als auf einen bloßen Charakterfehler. Gemeinhin sieht man ja in ihm den »charakterschwache[n] Verführer, der von seiner schlechten Vergangenheit nicht loskommt«, 4 ' und verurteilt seinen Charakter als »zwiespältig, haltlos und darum im entscheidenden Moment hilflos«. 42 Und auch wenn er nicht als »schwächlicher Flattergeist« 4 ' moralisch abqualifiziert wird, bleibt es bei der charakterologischen Erfassung, die höchstens als literaturgeschichtlicher Vorverweis »der subjektivistischen Zeit des Sturmes und Dranges und noch mehr [. . .] der hochsubjektivistischen Zeit der Frühromantik« 44 bestimmt wird. Doch Mellefonts Ehescheu ist anderes und mehr als ein bloßer Charakterfehler. Ähnlich wie bei Tellheims >Ehrsucht< handelt es sich auch bei ihm nur vordergründig um eine fixe Idee, die dem Arsenal der Typenkomödie entlehnt ist. Zwar spielt Mellefont selbst hierauf an, wenn er seine Ehescheu dem Diener Norton gegenüber eine »Grille« nennt; doch zugleich weiß er, daß sie damit nicht zureichend charakterisiert ist. MELLEFONT: ES ist wahr; so g e w i ß es ist, daß ich meine Sara ewig lieben werde: so wenig will es mir ein, daß ich sie e w i g lieben soll, - Soll! - A b e r besorge nichts; ich will über diese närrische Grille siegen. Oder meynst du nicht, daß es eine Grille ist? Wer heißt mich, die Ehe als einen Z w a n g ansehn? Ich wünsche es mir ja nicht, freyer zu seyn, als sie mich lassen wird. ( L M II, 520; IV/3)

Aufklärung: Erläuterungen zur deutschen Literatur, hrsg. v o m Kollektiv für Literaturgeschichte, S. 505. 42 Heinrich B o m k a m m : Die innere Handlung in Lessings »Miss Sara Sampson«, S. 386. 4 ' Waldemar Oehlke: Lessing und seine Zeit, Bd. 1, S. 294t. 44 Fritz Brüggemann: Lessings Bürgerdramen, S. 89; siehe auch Wolfram Mauser: Lessings »Miß Sara Sampson«, S. 15: »Lessing charakterisiert Mellefont als schwach, unentschlossen, wankelmütig, haltlos, verführerisch, verführbar, eigensüchtig, unaufrichtig und rücksichtslos.« - dagegen wird Mellefont ins positive Licht gerückt v o n Hans M. Wolff: Mellefont: unsittlich oder unbürgerlich?, ohne daß allerdings die charakterologische Bestimmung aufgegeben wird; siehe bes. S. }j6f. 41

165

Nicht mangelnde Liebe oder das Wissen um seine Unbeständigkeit lassen Mellefont vor einer Heirat zurückschrecken. Denn daß er »Sara ewig lieben werde«, daran läßt er keinen Zweifel aufkommen. Und das Bühnengeschehen macht nachdrücklich deutlich, daß er sich und auch andere in dieser Hinsicht keineswegs täuscht. Wenn also der Mellefont der Dramenhandlung keineswegs mit einem Libertin - so wie ihn die Tradition zeichnet — gleichzusetzen ist, dem die E h e nur Einschränkung eines abwechslungsreichen Sinnengenusses ist, 4 ' warum sperrt Mellefont sich überhaupt gegen sie ? Im Gespräch mit Norton deutet er das Problem an, wenn er den Gegensatz v o n Liebe und Ehe unter dem Gesichtspunkt v o n Freiwilligkeit und Z w a n g betont, und in seinem selbstgrüblerischen M o n o l o g benennt er es präzis: Was für ein Räthsel bin ich mir selbst! Wofür soll ich mich halten? Für einen Thoren? oder für einen Bösewicht - oder für beides? - Herz, was für ein Schalk bist du! - Ich liebe den Engel, so ein Teufel ich auch seyn mag. - Ich lieb' ihn? J a , gewiß, gewiß ich lieb' ihn. [. . .] Und doch, doch — Ich erschrecke, mir es selbst zu sagen - [ . . . ] Und doch fürchte ich mich vor dem Augenblicke, der sie auf ewig vor dem Angesichte der Welt, zu der meinigen machen wird. [. . .] - Sara Sampson, meine Geliebte! Wie viel Seligkeiten liegen in diesen Worten! Sara Sampson, meine Ehegattinn! - Die Hälfte dieser Seligkeiten ist verschwunden! und die andre Hälfte - wird verschwinden. (LM II, 318; IV/2) N e u ist diese Einsicht nun keineswegs, die Mellefont hier artikuliert. Schon bei Andreas Capellanus wird ja das Thema erörtert, ob sich Liebe mit Ehe vereinbaren lasse, eine Streitfrage, die in dem Urteilsspruch der Gräfin von Champagne mündet, »Dicimus enim et stabilito tenore firmamus, amorem non posse suas inter duos iugales extendere vires.« 4Í Ebenfalls bekämpft Heloisa — wie sie Abaelard schreibt - den »coniugium nostrum«, um den »amorem coniugium« 47 zu retten; und auch in der »Princesse de Clèves« der M m e de L a Fayette verzichtet die Titel-

4

' Siehe hierzu Gerhard Schneider: Der Libertin, bes. S. 2 r 5 ff. Andreas Capellanus: De amore, S. 153. Siehe ebenfalls das Streitgespräch im siebten Dialog, das zu der von der adligen Frau bestrittenen Feststellung des adligen Mannes führt: »Vehementer tarnen admiror, quod maritalem affectionem quidem, quam quilibet inter se coniugati adinvicem post matrimonii copulam tenentur habere, vos vultis amoris sibi vocabulum usurpare, quum liquide constet inter virum et uxorem amorem sibi locum vindicare non posse.« ebd., S. 141. Zu der im hohen Mittelalter diskutierten Problematik einer Unvereinbarkeit von Liebe und Ehe siehe insbes. Joachim Bumke: Höfische Kultur, Bd. 2, S. 529-534; dort auch auf S. 530 die Zitate dieser Fn. 47 Siehe Petrus Abaelardus: Epistola II. Quae est Heloissae ad Petrum deprecatoria, S. 185. 46

l66

heldin auf die Ehe mit ihrem Geliebten, dem Herzog von Nemours, da ihr das Ende der Liebe in einer Ehe unausweichlich scheint: L a fin de l'amour de ce prince, et les maux de la jalousie qu'elle croyait infaillibles dans un mariage, lui montraient un malheur certain òu elle s'allait jeter. 4 ®

Doch so richtig brisant wird das Problem erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts, als - wenigstens dem normativen Anspruch nach — Ehe auf Liebe gegründet wird. Denn solange objektive gesellschaftliche Gegebenheiten wie Name, Geld, Macht, Prestige oder auch Arbeitskraft als Heiratsgründe fungierten, und »die eheliche Liebe [. . .] nichts anderes als die Summe häuslicher Verhaltenspflichten« war,49 entstand kein Widerspruch zwischen der subjektiven Ich-Du-Beziehung und der transubjektiven Ordnungsform der Ehe. Eine individuelle Liebesbeziehung zwischen den Eheleuten war nach dem normativen Anspruch der Institution Ehe ja nicht notwendig. Erst sobald dieser Anspruch erhoben wird, Ehe und Liebe hätten eins zu sein, entsteht das Dilemma zwischen Freiwilligkeit und Zwang, 50 wie es Mellefont gegenüber Norton artikuliert - und wie es dann gegen Ende des Jahrhunderts unter dem Stichwort einer »freien Liebe« vielfältig diskutiert wird. 51 Wenn also Mellefont die Ehe zu vermeiden trachtet, ist das folglich nicht primär Ausdruck eines Charakterfehlers, sondern Reflex des paradoxen Signums einer bürgerlichen Ehevorstellung, die die individuelle Liebesbeziehung zur Grundlage einer institutionellen Ordung macht und damit ihres individuellen Charakters entkleidet, diesen aber zugleich als konstitutiv für die Ehe bestimmt.' 2 In einem pointierten Ausspruch macht nicht von ungefähr ein heutiger Schizophrenieforscher auf diesen paradoxen Sachverhalt aufmerksam: 48

Madame de L a Fayette: L a Princesse de Clèves, S. 392.

49

Dieter Schwab: Art.: Familie, S. 284.

50

Allgemein

hierzu siehe Helmut

Schelsky:

Soziologie der Sexualität,

bes.

S. „ f f . Siehe J o s van Ussel: Sexualunterdrückung, S. io8f.; Dieter Schwab: A r t . : Familie, S. 286; Paul Kluckhohn: Die A u f f a s s u n g der Liebe, S. i z S f f . 12

Unter dem Gesichtspunkt der Sittlichkeit reflektiert Hegel das Problem, wenn er die Eheauffassung ablehnt, »welche die E h e nur in die Liebe setzt, denn die Liebe, welche E m p f i n d u n g ist, läßt die Zufälligkeit in jeder Rücksicht zu, eine Gestalt, welche das Sittliche nicht haben darf. D i e E h e ist daher näher so zu bestimmen, daß sie die rechtlich sittliche Liebe ist, wodurch das Vergängliche, Launenhafte und bloß Subjektive derselben aus ihr verschwindet.«

Georg

Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders.: Sämtliche Werke (Jubiläumsausgabe), Bd. 7, § 1 6 1 , S. 240; thematisch w i r d das v o n Hegel angesprochene Problem schon in Rousseaus »Julie ou L a N o u v e l l e Héloise«.

167

Wenn ein Mann und eine Frau sich entscheiden, ihre Beziehung durch Heirat zu legalisieren, so werfen sie damit eine Frage auf, die sie für die Dauer ihrer Ehe beschäftigen wird: Behalten sie die Ehebeziehung bei, weil sie es wollen oder weil sie müssen?"

Genau dies ist das Problem, das Mellefont in seinem langen Reflexionsmonolog bewegt. War ihm in seiner Jugend die Liebe Ausdruck seiner Freiheit, so ist ihm jetzt die Freiheit Ausdruck seiner Liebe. Auf dieser Freiwilligkeit muß er beharren, um seine Liebe zu Sara in ihrer Einzigartigkeit gegenüber aller Konventionalität zu erfahren, darauf aber kann er nur beharren um den Preis seiner Geliebten. Denn Mellefonts Weigerung, die Ehe zu schließen, verhindert ja - wie gezeigt - , daß Sara in der sittlichen Ordnung der Familie die Liebe mit der Ehe zu verbinden vermag. Daß es für Sara einzig der Tod ist, der sie aus dieser für sie unhaltbaren Situation befreien kann, verdeutlicht sie selbst, indem sie die Marwood als ihre »mördrische Retterinn« (LM II, 336; IV/8) bestimmt. Wie nun der Tod für sie zur Rettung wird, zeigt ihr aktlanges Sterben. Erst in ihm gelingt es Sara, eine Familie zu stiften, in der alle durch Liebe verbunden sind. Doch obwohl sie selbst von ihrem baldigen Ende noch nichts weiß, ahnt sie schon die Irrealität dieser familialen Liebesgemeinschaft: Glückliche Tage, wenn mein Vater, wenn Sie, wenn Arabella, meine kindliche Ehrfurcht, meine vertrauliche Liebe, meine sorgsame Freundschaft um die Wette beschäftigen werden! Glückliche Tage! Aber ach! - sie sind noch fern in der Zukunft. - Doch vielleicht weiß auch die Zukunft nichts von ihnen, und sie sind bloß in meiner Begierde nach Glück! (LM II, 34z; V/4)

Daß sich für Sara die Familienharmonie als Vorschein und Schein zugleich erweist, reflektiert die Paradoxie einer Situation, in der erst ihr Sterben zum gemeinschaftsstiftenden Movens wird. Denn Sara stirbt nicht in der monologischen Isolation einer Leidenden, die im Gegenüber keinen Widerhall findet - ganz im Gegenteil: ihr Leiden wird im Mitleiden der ihr Nächsten zum gemeinsamen Leid. Sara wird von einem heftigen Anfall geschüttelt, und Mellefont durchläuft die Extrempunkte des Mitleids, wie Lessing sie theoretisch formuliert hat.54 " M

Jay Haley: Strategies of Psychotherapy, zitiert nach Paul Watzlawick u. a.: Menschliche Kommunikation, S. 67. Siehe den Brief Lessings an Nicolai vom November 1756: »Die Staffeln sind also diese: Schrecken, Mitleid, Bewunderung. Die Leiter aber heißt: Mitleid; und Schrecken und Bewunderung sind nichts als die ersten Sprossen, der Anfang und das Ende des Mitleids.« Abgedr. in: Jochen Schulte-Sasse (Hg.): Briefwechsel über das Trauerspiel, S. 52-57, S. 54.

168

MELLEFONT: Welcher plötzliche Uebergang von Bewundrung zum Schrecken! - Eile doch, Betty! Schaffe doch Hülfe! - Was fehlt Ihnen, großmüthige Miß! Himmlische Seele! Warum verbirgt mir diese neidische Hand (indem er sie wegnimmt.) so holde Blicke? - Ach es sind Mienen, die den grausamsten Schmerz, aber ungern, verrathen! - Und doch ist die Hand neidisch, die mir diese Mienen verbergen will. Soll ich Ihre Schmerzen nicht mit fühlen, Miß? Ich Unglücklicher, daß ich sie nur mit fühlen kann! - Daß ich sie nicht allein fühlen soll! (LM II, 342; V/4)

Empfinden des eigenen Leids, Mitempfinden des Leids des anderen, das sich bis zum Wunsch steigert, an dessen Stelle zu treten: dies entfaltet die Intersubjektivität eines Empfindungsraumes, der die Isolation des individuellen Fühlens aufsprengt. Die Reziprozität des wechselseitigen Empfindens geht dabei sogar soweit, daß die leidende Sara mit dem Mitleid des Vaters leidet und ihm Trost zuspricht. Dem Vater erscheint dies als Manifestation eines Heilsgeschehens, in dem sich die erwarteten Zuordnungen verkehren: Wir sollten dir Muth einsprechen, und dein sterbendes Auge spricht ihn uns ein. Nicht mehr meine irdische Tochter, schon halb ein Engel, was vermag der Segen eines wimmernden Vaters auf einen Geist, auf welchen alle Segen des Himmels herabströmen? (LM II, 350; V/10)

Im Akt ihres Sterbens stiftet Sara eine Gemeinschaft, in der der Selbstbezug des einzelnen in der Intersubjektivität wechselseitigen Empfindens von Leid und Mitleid aufgehoben ist. Dieser vollkommenen Empfindungsharmonie einer zur höchsten Idealität gesteigerten Gemeinschaft versucht Sara über ihren Tod hinaus Dauer zu verleihen. Was ihr im Leben nicht gelang — die sittliche Ordnung der Familie mit dem subjektiven Liebesanspruch zu versöhnen - , soll ihr Tod ermöglichen, an den sie eine letzte Bitte knüpft: Wenn ich hoffen dürfte, liebster Vater, daß Sie einen Sohn, anstatt einer Tochter, annehmen wollten! Und auch eine Tochter wird Ihnen mit ihm nicht fehlen, wenn Sie Arabellen dafür erkennen wollen. Sie müssen sie zurückholen, Mellefont; und die Mutter mag entfliehen. - Da mich mein Vater liebt, warum soll es mir nicht erlaubt seyn, mit seiner Liebe, als mit einem Erbtheile umzugehen? Ich vermache diese väterliche Liebe Ihnen, und Arabellen. Reden Sie dann und wann mit ihr von einer Freundinn, aus deren Beyspiele sie gegen alle Liebe auf ihrer Hut zu seyn lerne. (LM II, 349f.; V/10)

Sara weiß um die Gefahren einer ordnungssprengenden Liebe — denn nicht von ungefähr stellt sie sich als warnendes Beispiel dar. Und sie sieht ihren Tod in einem ursächlichen Zusammenhang mit dieser Liebe denn sonst könnte sie ihr Schicksal ja nicht als ein solches Beispiel darstellen. Was der Vater als Entschuldigungsgrund anführt, wenn er vom »Fehler eines zärtlichen Mädchens« (LM II, 268; I/i) spricht, erweist sich 169

ihr in seiner gefährlichen Potenz. Denn Sara hat - anders als ihre empfindsame Vorgängerin Lottchen, die noch rechtzeitig zur Ordnung der Familie gerufen wird, anders aber auch als die Lessing vielfach als Vorbild vorgehaltene Clarissa" - das Band, das die Liebe an die sittliche Ordnung der Familie bindet, durchtrennt und ist - wie Lessing in einem anderen Zusammenhang formuliert - »durch ihre Zärtlichkeit selbst unglücklich«' 6 geworden. Das Glück in der Familie kann sie wegen der Ehescheu Mellefonts im Leben nicht finden, ein Glück außerhalb der Familie aber vermag sie sich nicht vorzustellen. Hat ihre Liebe zu Mellefont auch die objektive sittliche Ordnung der Familie verletzt, in ihrem Tod will sie sie mit der Bitte an ihren Vater, Mellefont als Sohn und Arabella als Tochter zu adoptieren, restituieren. Doch Mellefont kann diesen Wandlungsprozeß noch nicht mitvollziehen, denn er fühlt sich schuldig an der Zerstörung einer Familienordnung, die mit dem Tod Saras endet. A u f deren Leichnam weist er Sir William hin, auf daß dieser ihn verdamme: Das ist Ihre Tochter! Ich bin ihr Verführer! Denken Sie nach, Sir! - Wie soll ich Ihre Wut besser reizen? - Diese blühende Schönheit, über die Sie allein ein Recht hatten, ward wider Ihren Willen mein Raub! Meinetwegen vergaß sich diese unerfahrne Tugend! Meinetwegen riß sie sich aus den Armen eines geliebten Vaters! Meinetwegen mußte sie sterben! ( L M II, 351; IV/8) 55

Goethe ist hier nur der prominenteste, keineswegs aber der erste oder der letzte, der dies tut, wenn er im 13. Buch von »Dichtung und Wahrheit« (Hamburger Ausgabe, Bd. 9, S. 5 όγί.) schreibt: »Schon die Richardsonschen Romane hatten die bürgerliche Welt auf eine zartere Sittlichkeit aufmerksam gemacht. Die strengen und unausbleiblichen Folgen eines weiblichen Fehltritts waren in der >Clarisse< auf eine grausame Art zergliedert. Lessings >Miß Sara Sampson< behandelte dasselbe Thema.« Zwar hat Lessing die Romane Richardsons geschätzt (siehe L M V , S. 201 und S. 398f.), doch wehrt er sich noch 1 2 Jahre nach der Uraufführung der »Sara« entschieden gegen den Vorwurf, den von Bielefeld erhebt: »>Sara Sampson, sagt H. v. Bielefeld, ist zwar ein ursprünglich deutsches Stück; gleichwohl scheint der Stoff aus englischen Romanen genommen oder nachgeahmt zu seyn, und der Geist, so wie der Geschmak dieser Nation, darinn zu herrschen.< Was soll dies eigentlich sagen? Der Stoff scheint aus englischen Romanen genommen zu seyn? Einem die Erfindung von etwas abzustreiten, ist dazu ein >es scheint< genug? Welches ist der englische Roman.« (LM X V , S. 3 8f.) Lessing stellt sich hier nicht einfach dumm, liegt doch die vielberufene Parallele zur »Clarissa« keineswegs auf der Hand. Denn Sara ist ja nicht wie Clarissa die durch ein Betäubungsmittel willenlos gemachte und dann geschändete Unschuld, die nach ihrer Vergewaltigung langsam dahinsiecht und stirbt, sondern die Geliebte, die sich aus freien Stücken ihrem Geliebten hingibt und dann ihre Liebe nicht in die Familienordnung integrieren kann.

>6 L M I X , S. 345.

170

Geradezu provozierend will Mellefont Sir Williams patria potestas hervorrufen, die jeden Angriff auf die Familienordnung unnachsichtig straft. Doch wie schon die ganze Bühnenhandlung gezeigt hat, daß Saras Vater auf die »Rechte der väterlichen Gewalt« zugunsten der »Vorrechte der väterlichen Huld« (LM II, 303; III/j) verzichtet, so erweist er sich auch jetzt als der »zärtliche Vater« (LM II, 347; VI/9), dem der Wunsch seines Kindes Gebot ist, und will Mellefont als Sohn adoptieren. Doch immer noch sperrt sich dieser, da für ihn die Zerstörung der Familie eine Schuld ist, die er nur im Tod glaubt sühnen zu können. MELLEFONT (sterbend): Ich fühl' es - daß ich nicht fehl gestoßen habe! Wollen Sie mich nun Ihren Sohn nennen, Sir, und mir als diesem die Hand drücken, so sterb' ich zufrieden. (LM II, 351; V/10)

Erst im Tod ordnet sich Mellefont der Familie zu, die er im Leben zerstört hat. Als Lebender verweigert er Sir William die Anrede Sohn, denn als Lebender fühlt er sich am Gang der Dinge schuldig. Nachdem er aber den Dolch gegen sich gekehrt hat, integriert er sich sterbend in die Familie. Denn jetzt kann er sich den Bindungen der familialen Ordnung unterwerfen, als sie für ihn keine realen mehr sind, die ihn in das Dilemma von Zwang und Freiheit stürzten. Das alles ist von Lessing wirkungsästhetisch genau kalkuliert: das langsame, in empfindsamer Kommunikation gipfelnde Sterben Saras, das kontrapunktisch dazugesetzte schnelle Sterben Mellefonts und dann der abrupte Wechsel in die zukunftsverheißende Perspektive, die Sir William mit Arabella umspannt. Viele der theoretischen Äußerungen Lessings erscheinen vom fünften Akt her als nachträgliche Reflexion dieser dramatischen Praxis. Mag dabei auch die Vollkommenheit, die Sara in ihrem Sterben zeigt, dem heutigen Zuschauer monströs erscheinen — für Lessing ist gerade sie in Verbindung mit ihrem Tod das, was den Wirkzweck des Trauerspiels, Mitleid zu erregen, sichert. So schreibt er in einem Brief an Mendelssohn: Ein großes Mitleiden kann nicht ohne große Vollkommenheiten in dem Gegenstande des Mitleids seyn, und große Vollkommenheiten, sinnlich ausgedrückt, nicht ohne Bewunderung. Aber diese großen Vollkommenheiten sollen in dem Trauerspiele nie ohne große Unglücksfalle seyn, sollen mit diesen allezeit genau verbunden seyn, und sollen also nicht Bewunderung allein, sondern Bewunderung und Schmerz, das ist, Mitleiden erwecken.' 7

Damit nun aber diese bewunderungswürdigen und unglücklichen Helden des Dramas nicht den falschen Affekt einer bloßen Bewunderung " Lessing: Brief an Mendelssohn vom 18.12.1756, abgedr. in: Jochen SchulteSasse (Hg.): Briefwechsel über das Trauerspiel, S. 76-85, S. 77. l l

7

hervorrufen, dürfen sie sich nicht in stoischer Unerschütterlichkeit dem Zuschauer präsentieren. Sie müssen das Leid selbst empfinden, das ihnen widerfährt. Deshalb soll nach Lessings Ansicht der Dichter seinem Helden nur so viel Standhaftigkeit geben, daß er nicht auf eine unanständige Art unter seinem Unglück erliege. Empfinden muß er ihn sein Unglück lassen; er muß es ihn recht fühlen lassen; denn sonst können wir es nicht fühlen. Und nur dann und wann muß er ihn lassen einen effort thun, der auf wenige Augenblicke eine dem Schicksal gewachsene Seele zu zeigen scheint, welche große Seele den Augenblick darauf wieder ein Raub ihrer schmerzlichen Empfindungen werden muß.' 8

Das klingt wie auf Sara gemünzt. Sie gehört nicht zu dem von Lessing häufig sehr polemisch abgewiesenen Personenbestand der >haute tragédie< und des barocken Trauerspiels, denn sie zeigt nicht die stoische Unempfindlichkeit eines heroischen Helden, der - nach einer bissigen Bemerkung Lessings — »sterben für ein Glas Wasser trinken« hält." Ihr Sterben eröffnet einen Gefühlsraum, der das Dramenpersonal im wechselseitigen Bezug aufeinander zu einer Gemeinschaft empfindsam Kommunizierender zusammenschließt, in der das gefühlte eigene Leid zum Leid des Gegenüber wird, das wiederum das Mitleid des ursprünglich Leidenden hervorruft. In diese sich im vielfach reflektierenden Leid konstituierende Gefühlsgemeinschaft soll der Zuschauer einbezogen werden. Denn das empfindsame Bühnengeschehen soll die Rampe überspringen, um seine Empfindungsfähigkeit zu steigern. Dies ist der Zielpunkt von Lessings dramatischem Schaffen; und dies ist deshalb auch der tiefere Grund für seine Ablehnung jeder Spielart des Stoizismus. »Alles Stoische«, so resümiert er seine Auffassung im »Laokoon«, ist untheatralisch; und unser Mitleiden ist allezeit dem Leiden gleichmäßig, welches der interessierende Gegenstand äussert. Sieht man ihn sein Elend mit grosser Seele ertragen, so wird diese grosse Seele zwar unsere Bewunderung erwecken, aber die Bewunderung ist ein kalter Affekt, dessen unthätiges Staunen jede andere wärmere Leidenschaft, so wie jede andere deutliche Vorstellung, ausschliesset.6"

Daß Sara in ihrem empfindsamen Leiden keinen kalten Affekt der Bewunderung hervorgerufen hat, bezeugen viele Zuschauerreaktionen. So berichtet zum Beispiel Karl Wilhelm Ramler - und was er berichtet ist durchaus paradigmatisch für viele ähnliche Reaktionen —61 über die Ur!

® Lessing: Brief an Mendelssohn vom 2 8 . 1 1 . 1 7 5 6 , abgedr. in: ebd., S. 62-67, S. 65. « L M I X , S. 187. 60 L M I X , S. 10. 61 Siehe dazu Wilfried Barner u. a.: Lessing, S. 31 ; f. 172

aufführung des Dramas in Frankfurt/Oder: »Die Zuschauer haben drey und eine halbe Stunde zugehört, stille geseßen wie Statiien, und geweint.« 62 Offenkundig hat Lessing mit seinem Drama die von ihm angestrebte Absicht erreicht, von der es heißt: Thränen des Mitleids, und der sich fühlenden Menschlichkeit, sind die Absicht des Trauerspiels, oder es kann gar keine haben. 6 '

Das Drama macht dabei dem Zuschauer vor, was er zu werden hat: Mitglied der einen empfindsamen Familie, in der die Adoption Arabellas die Blutsbande, in der der Verzicht auf die Verdammung des Verführers die patria potestas und in der die Integration des Dieners Waitwell in die Familie die Standesschranken aufhebt. Insofern ist Peter Horst Neumann zuzustimmen, wenn er schreibt: Das Trauerspiel endet mit der Apotheose einer allumfassenden gütigen Vaterschaft, welche die Bluts-, Rechts- und Standesschranken hinter sich läßt. 64

Doch es ist eine Apotheose, die im rührenden Effekt das Problem überstrahlt, dessen Ausdruck sie ist. Denn es ist der Tod, der eine Gemeinschaft stiftet, und es ist die ihm immanente Paradoxie, daß dies nur im Zugleich ihrer faktischen Auflösung gelingt. Daß es der Tod ist, durch den die Integrität der Familie auf paradoxe Weise restituiert wird, verweist dabei auf die schon zu Beginn des Dramas exponierte tragische Situation der beiden Liebenden, die sich zwischen ihrer subjektiven Liebe und dem normativen Anspruch der Familienordnung aufbaut. So stiftet - wie Lessing wiederholt gefordert hat - 65 das Geschehen von Anfang an einen Zusammenhang, in dem der Tod kein zufalliges Ereignis ist, hervorgerufen vom Zorn einer enttäuschten Geliebten, sondern notwendiger Ausdruck des ungelösten Konflikts der >neuen< Familienkonzeption, die das Gefühl zum beziehungsstiftenden Motiv erhebt, es zugleich aber als ordnungssprengende Bedrohung erfährt.

In: Richard Daunicht (Hg.): Lessing im Gespräch, S. 88. 6)

L M V I I , S. 68.

64

Peter Horst Neumann: D e r Preis der Mündigkeit, S. 29.

65

Siehe z. B. Lessings Brief an Heinrich Wilhelm von Gerstenberg v o m

25.

Februar 1 7 6 8 ; L M X V I I , S. 244-249, in dem er daraufhinweist, daß es zwar dem Dichter freigestellt ist, »eine Tragödie eben so wohl einen glücklichen, als einen unglücklichen A u s g a n g « nehmen zu lassen; aber wenn die Fabel einmal entworfen ist, »so sehen wir es doch gleich aus der ersten Anlage, welche v o n beyden sie haben wird.« (S. 247f.)

173

I I I . D E R TOD EINER TOCHTER

Zum Verhältnis von höfischer und familialer Welt in Lessings »Emilia Galotti« Nicht ohne mokanten Unterton kommt Lessing im 63. seiner »Briefe, die neueste Litteratur betreffend«' auf Wielands Trauerspiel »Lady Johanna Gray« zu sprechen und moniert dabei vor allem die Vollkommenheit, die alle Familienangehörigen dieses Stücks auszeichne: Die J o h a n n a G r a y ist ein liebes frommes Mädchen; die L a d y S u f f o l k ist eine liebe fromme Mutter; der Herzog von S u f f o l k ein lieber frommer Vater; der L o r d G u i l f o r d ein lieber frommer Gemahl; sogar die Vertraute der J o h a n n a , die S i d n e y , ist eine liebe fromme - ich weiß selbst nicht was. Sie sind alle in einer Form gegossen; in der idealischen Form der Vollkommenheit, die der Dichter mit aus den ätherischen Gegenden gebracht hat. 2

Lessing selbst ist dieser »Klippe der vollkommnen Charaktere«', von der er in seiner Auseinandersetzung mit Diderots Konzept einer Ständedramatik ausführlich handelt, in seinem ersten Trauerspiel ausgewichen. Denn obwohl Sara im vollen Glanz der Tugend stirbt, so stirbt sie doch nicht aus dem Ungefähr eines Zufalls, sondern aufgrund der Unmöglichkeit, Liebe und Ehe zur Familie vereinen zu können. Doch während Lessing in seinem Drama zeigt, wie die Tragik in den Antagonismen der sich neu konstituierenden Familienordnung selbst gründet, 4 wird in der Dramatik der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend die Familie als Ordnungsform des Erlebens und Handelns entproblematisiert. Nicht aufgrund immanenter Widersprüche, sondern durch das Eindringen familienfeindlicher Personen in den geschützten Tugendraum entsteht dann die Katastrophe, wenn überhaupt. Denn die unverkennbare Tendenz geht dahin, daß die Familiendramen nicht mehr >traurig< enden.5 Das Familienschauspiel ist die Gattung, auf die hin sich der

'

2

'

4

'

I

In: L M V I I I , S. 1-285. Ebd., S. i66f. L M X , S. 150. Ganz anders dagegen Peter Weber: Das Menschenbild des bürgerlichen Trauerspiels, S. 199, in bezug auf die »Sara«: »Da der idyllisch-familiale Bereich als ideales geselliges Modell ohne antagonistische Widersprüche vorgestellt wird, muß die Katastrophe von außen herbeigeführt werden. Die dramatische Handlung trägt in diesem Sinne ein Moment der Zufälligkeit.« Siehe hierzu Wolfgang Schaer: Die Gesellschaft im deutschen bürgerlichen Drama des 18. Jahrhunderts, S. 10.

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breite Strom von bürgerlichen Trauerspielen, 6 die in der Regel immer auch Familiendramen sind, bewegt. Für dieses Familienschauspiel ist eine dreisätzige Form konstitutiv: intake Familienordnung, ihre Zerstörung durch Ehrgeiz, nicht standesgemäßes Verhalten, Torheit, Irrtum oder auch durch den bloßen Zufall und die Wiederherstellung der Ordnung durch das tatkräftige Handeln einer Person mit Familienbewußtsein. Häufig wird dann noch im Schlußtableau die gelungene Restauration der Familie dem Zuschauer sinnfällig als ein Zusammenschluß von Menschen präsentiert, die sich gegen die als lasterhaft deklarierte Umwelt abschließen. 7 Iffland ist dann der Autor, der dieses Schema virtuos in Szene zu setzen weiß. Immer wieder propagieren seine Dramenfiguren die ländliche Rückzugsidylle als Erfahrung wahren Menschseins im Familienverband. 8 Die Gesellschaft ist die feindliche Welt schlechthin, in der geschehen mag, was will, bleibt nur die Binnenwelt der Familie davon unberührt. In Ifflands erfolgreichstem Schauspiel, dem »ländlichen Sittengemälde« »Die Jäger«, mit dem sogar Goethe seine Leitung des Weimarer Theaters begann und das er mit am häufigsten wiederholte, 9 wird gegen korrupte adlige Machenschaften die Redlichkeit eines Hausvaters gestellt, der allen Widrigkeiten und Intrigen zum Trotz in ländlicher Idylle die Harmonie seiner Familie sichert. Sie preist der Pastor mit verklärter Stimme: Das Leben des Menschen enthält viel Glückseligkeit. Man sollte uns nur früh lehren, sie nicht glänzend, auch nicht ununterbrochen zu denken. Im Zirkel einer guten Haushaltung ist tausendfache Freude, und g u t getragne Widerwärtigkeit ist auch Glück. Hausvaterwürde ist die erste und edelste, die ich kenne. Ein Menschenfreund, ein guter Bürger, ein liebevoller Gatte und Vater, in der Mitte seiner Hausgenossen - wie alle auf ihn sehen - wie alle von ihm empfangen, und er, im Gedeihen des Guten, wieder von allen empfangt O das ist ein Bild, welches ich mit frommer Rührung, mit Entzückung ehre! 6

7 8

9

Bibliographisch erfaßt durch Reinhart Meyer: Das deutsche Trauerspiel des 18. Jahrhunderts. Eine Bibliographie. Siehe dazu S. 217fr. dieser Arbeit. Siehe dazu vor allem die Dramen »Albert von Thurneysen«, »Der Herbsttag«, »Die Reise nach der Stadt«, »Die Advokaten«, »Leichter Sinn«, »Die Höhen« und »Die Familie Lonan«. Karl-Heinz Klingenberg: Iffland und Kotzebue als Dramatiker, S. 71, schreibt dazu: »In allen Stücken wird der Unrast und Herzlosigkeit des städtischen Lebens, in den >Höhen< der Gesellschaft, den Kreisen des Adels und des besitzenden Bürgertums, das unverfälschte Glück eines bescheidenen idyllischen Privatlebens im Kreise der Familie in schöner Ländlichkeit gegenübergestellt.« Siehe dazu C. A. H. Burkhardt: Das Repertoire des Weimarischen Theaters unter Goethes Leitung 1 7 9 1 - 1 8 1 7 , S. 1 und S. X X X V I . 175

Und der so gefeierte Hausvater Warberger fügt hinzu: U n d in einer Landhaushaltung, meine ich, könnte das am besten so sein. 1 0

Zwar spricht sich hier durchaus auch die persönliche Gesinnung Ifflands aus; 11 aber dieser partizipiert dabei an der weitverbreiteten Wertschätzung einer gesellschaftsabgewandten familialen Privatheit in seiner Zeit. Selbst Moses Mendelssohn teilt sie, wenn er in bezug auf Lessings kurze Ehe an August Hennings über die »häusliche Glückseeligkeit« schreibt: A m E n d e ist diese doch die wahre Bestimmung des Menschen, und die bewährte Glückseeligkeit des Weisen. A u c h Lessing ist dieses nach langem Widerstreben inne geworden, aber leider zu spät, und zu einem sehr kurzen Genüsse.12

Ob für Lessing nach seiner Heirat die Familie tatsächlich zum Ort »häuslicher Glückseeligkeit« geworden ist, mag dahingestellt bleiben. Seine ergreifenden Briefe an Eschenburg, in denen er diesem den Tod seines Sohnes mitteilt, der kurz nach der Geburt starb, und den wenige Tage darauf erfolgenden Tod seiner Frau, mit der er nur ein gutes Jahr verheiratet war,' 5 verraten allerdings in ihrem Lakonismus den abgrundtiefen Schmerz eines Menschen, der - wie er schreibt - »es auch einmal so gut haben wollte, wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen.« 14 Aber auch für sein »langes Widerstreben« gegen Ehe und Familie gibt es eine Fülle von Hinweisen. Nicht nur, daß erst der Vierzigjährige an Heirat denkt, sondern auch die ein halbes Jahrzehnt dauernde, durch vieljährige Trennung geprägte und mit allerlei Schwierigkeiten verbundene Verlobungszeit mit Eva König, sind Indizien hierfür. Und aus den Briefen an seine Eltern spricht die Kühle einer Distanz, die in auffalligem Kontrast zur gefühlvollen Aufladung des zeitgenössischen Familienbildes steht. Auf alles, was an familiären Ereignissen Anteilnahme erheischt, von Geburt über Taufe bis zur Heirat, hat Lessing äußerst 10

A u g u s t Wilhelm Iffland: »Die J ä g e r « , in: Theater von A u g u s t Wilhelm Iffland, B d . 2, S. 1 1 1 - 2 5 6 , S. 22 8f.

"

Siehe ζ. B. Ifflands Brief an seine Schwester Louise v o m 2 1 . 1 . 1 7 8 4 : »Für mich ist es eine besondere Glückseligkeit, eine Familie um mich her entstehen zu sehen. Bin ich es doch so gewohnt alle Glückseligkeit in einer guten Familie zu finden, und selbst jede gegenwärtige Freude, in Gedanken mit meiner Familie zu theilen.« A . W . Ifflands Briefe an seine Schwester Louise und andere Verwandte, S. 1 3 7 .

lz

Brief v o n Moses Mendelssohn an A u g u s t Hennings v o m 8 . 5 . 1 7 8 1 , abgedr. in:

15

Siehe die Briefe v o m

Richard Daunicht (Hg.): Lessing im Gespräch, S. 5 γόί., S. 577. 3 1 . 1 2 . 1 7 7 7 und v o m

E s c h e n b u r g ; L M X V I I I , S. 259 und S. 262. 14

E b d . , S. 259.

176

10.1.1778

an J o h a n n

Joachim

beiläufig reagiert, so wie er auch seine Heirat zu keinem Ereignis machte, das er für mitteilungswürdig erachtete. 1 ' N u n haftet dem immer etwas Forciertes an, wenn zwischen der biographischen Situation und der literarischen Produktion ein zu enger Zusammenhang hergestellt wird. Denn von der >Entsprechung< bis zur >Kompensation< bieten sich diametral entgegengesetzte Zuordnungsmöglichkeiten an, die damit leicht ins Beliebige abgleiten. Z u konstatieren war jedoch, daß Lessing sich in seinen theoretischen Äußerungen und in seiner dramatischen Praxis im zeitgenössischen Kontext eines Menschenbildes bewegt, das die >wahre< Natur des Menschen in ihrer Familiarität sieht. Doch schon sein erstes bürgerliches Trauerspiel machte deutlich, daß er sich in diesem Kontext keineswegs unkritisch bewegt. Es wäre allerdings auch erstaunlich, wenn ein Mann, der den Widerspruch zum kreativen Prinzip seines Denkens erhoben hat,' 6 in seiner dramatischen Praxis ein vorgegebenes Familienkonzept bloß reproduzieren würde. Wenn es sich also bei Lessing schon fast von vornherein verbietet, davon zu sprechen, er reproduziere bloß etwas Vorgegebenes, so läßt sich doch feststellen, daß er in seinem Drama »Emilia Galotti« wesentliche Elemente des zeitgenössischen Menschenbildes und des damit verbundenen Familienkonzepts >zitiertgroße< Welt scharf abzugrenzen ist. Galottis Ideal, das Appiani zu realisieren verspricht, ist die Vorstellung von einer >wahren< menschlichen Existenz jenseits der Gesellschaft in der Abgeschiedenheit ländlicher Idylle. Daß sich dieser Familie als künftiger Schwiegersohn ein Graf verbindet, markiert dabei den überständischen Charakter eines Familienkonzepts, das auf den einzelnen diesseits seiner gesellschaftlichen Bestimmung abhebt. Die Frage ist nun allerdings, wie Lessing die aus dem zeitgenössischen Wirklichkeitsmodell ausgewählten Elemente zu einem Handlungszusammenhang verknüpft? Ist diese Frage nur nachdrücklich genug gestellt, wird nämlich sofort das Problem aufgeworfen, wie überhaupt eine Handlung zustande kommt, die die höfische und die familiale Welt umgreift. Denn es ist ja offensichtlich, daß in dem Drama »Emilia Galotti« zwei in ihren normativen Ordnungsvorstellungen diametral entgegengesetzte >Welten< gezeigt werden. In der höfischen >Welt< gelten die Verhaltensregeln des Zeremoniells und der Etikette, die Marinelli so virtuos zu handhaben weiß; es herrscht die Sprache der Galanterie, die Emilia blendet; das eheliche Zusammenleben steht unter den Bedingungen der Konvenienz, deren Mißachtung Appiani den »Zirkel der ersten Häuser« (LM II, 388; 1/6) verschließt; und es herrscht die Staatsräson, die den Prinzen nötigt, zwischen Ehefrau und Geliebter zu unterscheiden. Diese Gesetzmäßigkeiten des Hofes reflektieren sich im familialen Kreis der Galottis als Laster, denen die eigenen Wertvorstellungen entgegengesetzt werden. Für Odoardo ist die Aufspaltung von Liebe und Ehe nicht Ausdruck politischer Klugheit, sondern Inkarnation der Wollust. Und wenn Claudia Emilia über die Sprache der Galanterie aufklärt, so beurteilt sie diese nicht gemäß den Gesetzmäßigkeiten höfischer Rationalität, sondern gemäß den Ansprüchen einer an der Wahrhaftigkeit der Rede orientierten Moral. Dem Raffinement einer Orsina, die alle Künste der Verführung beherrscht, um den Liebhaber zu fesseln, kontrastiert die >natürliche< Einfachheit Emilias, die selbst an ihrem Hochzeitstag auf die prunkvolle Präsentation der eigenen Person verzichtet. Während Marinelli hierin nur ein bloßes Mittel zum Zweck sieht, die Begehrlichkeit des Mannes zu steigern, so daß er davon sprechen kann, finden sich bei Bengt Algot Sorensen: Herrschaft und Zärtlichkeit, S. 87; die kritisch-politische Dimension der dualistischen Scheidung des Menschen vom Herrscher arbeitet heraus Reinhart Koselleck: Kritik und Krise, S. 97fr. 178

Emilia habe Appiani »in ihre Schlinge zu ziehen gewußt, - mit ein wenig Larve: aber mit vielem Prunke von Tugend und Gefühl und Witz« (LM II, 387; 1/6), ist es für die Galottis selbst Ausdruck einer anderen Wertwelt. Nicht die wirkungsbezogene Zurschaustellung der eigenen Person nach außen, um Prestige und Gunst zu erwerben, ist der Motor ihres Handelns, sondern ihnen geht es um die Entfaltung von Moralität nach innen in den Binnenraum tugendhafter Gesinnungen. Für sie ist die Familie der Hort der Tugend und die außerfamiliale >große Welt< die Sphäre des Lasters.' 9 Mit aller Anstrengung sind beide Bereiche voneinander getrennt zu halten; nicht einmal ein Kirchgang darf einen möglichen Berührungspunkt abgeben. Wie kommt es aber dann, daß diese diametral entgegengesetzten Bereiche überhaupt in Kontakt miteinander kommen? Die schlichte Antwort, ein Wollüstling dringe in den umfriedeten Bereich der Familie ein, übernimmt einfach die Perspektive Odoardos. Doch eine solch schlichte Antwort verweigert das Drama, indem es zeigt, wie die jeweilige Lebensform aus den internen Bedingungen ihrer Ordnung heraus das Verhalten auf den anderen Lebensbereich orientiert. Auf den ersten Blick will es so scheinen, als treffe dies nur auf den Prinzen zu, für den die höfische Ordnung einen Mangel produziere, der ihn Emilia als Produkt familialer Ordnung attraktiv erscheinen läßt, während die Affinität der weiblichen Familienmitglieder zu Hof und Residenzstadt im individuellen Charakter Claudias gründe. Doch schon die Tatsache, daß Odoardo nicht sein Ideal einer weitabgewandten familialen Gemeinschaft realisieren konnte, verweist darauf, daß die Familie der Galottis keineswegs so in sich abgeschlossen ist, wie es Odoardos Wertvorstellungen entspricht. Die Ursache dafür, daß Mutter und Tochter getrennt vom Vater in der Residenzstadt leben, nun einzig aus dem Charakter Claudias abzuleiten, die in ihrer >Eitelkeit< und >Torheit< mehr »die Zerstreuung der Welt, mehr die Nähe des Hofes« (LM II, 396; II/4) suche, heißt jedoch zu 19

Odoardos Bewertung des höfischen und familialen Bereichs nach Maßgabe des Tugend-Laster-Schemas wird von der Forschung häufig - ohne Berücksichtigung der für Hof und Familie spezifischen Wert vorstellungen - bloß nachvollzogen, und das von ganz unterschiedlichen Ansätzen aus; zur marxistischen Interpretation siehe Paul Michael Lützeler: Die marxisitische Lessing-Rezeption; ders.: Die marxistische Lessing-Rezeption (II); zur seelengeschichtlichen Interpretation siehe Fritz Brüggemann: Lessings Bürgerdramen und der Subjektivismus als Problem; zur soziologischen Interpretation siehe das Forschungsreferat von Reinhart Meyer: »Hamburgische Dramaturgie« und »Emilia Galotti«, S. 268fF.

:

79

ignorieren, daß dies Odoardos Charakterisierung seiner Frau ist,2° und es heißt darüber hinaus zu ignorieren, daß er - entgegen seinem »alten Argwohn« (LM II, 396; II/4) - dem Aufenthalt von Frau und Tochter in der Residenzstadt zustimmte. Die Gründe hierfür aber verweisen auf die beiden fundamentalen Bedingungen der >bürgerlichen< Familie, nämlich Erziehung und Liebesheirat. Denn in dem Moment, in dem die Kinder nicht mehr in eine vorgegebene Lebenswelt durch Beobachten und Nachahmen hineinwachsen, sondern als Produkt expliziter Erziehung angesehen werden, ist »die Nothwendigkeit, unserer Tochter eine anständige Erziehung zu geben« (LM II, 39Óf.; II/4), die nur in der Stadt möglich ist, ein auch für Odoardo unabweisbares Argument. Und da die Ehe sich auf Liebe gründen soll und nicht auf den elterlichen Willen, hat Odoardo ebenfalls Claudia nichts entgegenzusetzen, wenn sie konstatiert: A b e r laß mich heute nur ein einziges f ü r diese Stadt, f ü r diese Nähe des H o f e s sprechen, die deiner strengen T u g e n d so verhaßt sind. - Hier, nur hier konnte die Liebe zusammen bringen, was f ü r einander geschaffen war. Hier nur konnte der G r a f Emilien finden; und fand sie. ( L M II, 397; II/4)

Beide Faktoren - Erziehung und Liebesheirat - begründen die örtlichen Voraussetzungen dafür, daß der Prinz Emilia überhaupt begegnen konnte. Wenn es nun auch nicht allein diese beiden familienkonstitutiven Faktoren sind, die Claudia den Aufenthalt in der Residenzstadt wählen ließen, so heißt dies nicht, daß ihr individueller Charakter sie zur »Randoder Marginalpersönlichkeit«21 mit loser Verbindung zur familialen Welt macht. Denn gerade auch ihre Affinität zu Hof und Residenzstadt ist Reflex der Familienordnung, die bei Emilias Mutter einen Mangel erzeugt. Wie Mellefont in »Miß Sara Sampson« weiß auch sie um die Differenz zwischen Ehe und Liebe und um die Veränderungen, die die 2

° In der Forschung wird zumeist Odoardos Charakterisierung seiner Frau aus ihrer perspektivischen Gebundenheit an ihn gelöst und als objektive Wesensbestimmung aufgefaßt; so sieht Harry Steinhauer: Die Schuld der Emilia G a lotti, S. 5 1 , z. B. in Claudia die »schwache, eitle, törichte Mutter, die [. . .] das bürgerliche Strebertum darstellt und so v o m aristokratischen Glanz geblendet ist, daß sie es f ü r eine Ehre hält, wenn ein Prinz ihre Tochter entehrt.« Ä h n lich Hinrich C. Seeba: Die Liebe zur Sache, S. 92: »Als >eitle, törichte Muttererzogene NaturBehaglichkeit< als Grund seiner Liebe zu Emilia ab. Nicht angenehmer will er sich fühlen, sondern er glaubt besser zu sein. Gegen die Sinnlichkeit der höfischen Liebe betont er die Moralität seiner Liebe zu Emilia und zeigt dadurch, wie nachhaltig er von außerhöfischen Vorstellungen infiziert ist. Seine Liebe zu Emilia läßt sich nicht einbinden ins höfische »divertissement«, das Leichtigkeit, Esprit, Vergnügen und spielerischen Unernst zu Bedingungen einer Lebensform macht, in der der einzelne sich immer in der Hand zu behalten hat. Für Marinelli als die Inkarnation höfischen Reglements ist dies alles unverständlich und überraschend. Es liegt außerhalb seines Vorstellungshorizontes, daß Ereignisse jenseits der Sphäre des Hofes überhaupt von Wichtigkeit sein könnten. So gibt er auf die Frage des Prinzen: Geht denn gar nichts vor, in der Stadt?«

zur Antwort:

2

> L M I, S. 384. Siehe hierzu auch Friedrich A. Kittler: »Erziehung ist Offenbarung«, S. I26f.

24

182

S o gut, wie gar nichts. - Denn daß die Verbindung des Grafen Appiani heute vollzogen wird, - ist nicht viel mehr, als gar nichts. (LM II, 587; 1/6)

Daß den Prinzen diese Nachricht zutiefst erschüttert, er sich »voll Verzweiflung in einen Stuhl wirft« und ausruft: »So bin ich verloren! — So will ich nicht leben!« (LM II, 389; 1/6), trifft den Kammerherrn - im Unterschied zu den Zuschauern - völlig unvorbereitet. Diesen war nämlich in den ersten Auftritten nachdrücklich demonstriert worden, daß der Prinz nicht als ein Herrscher agiert, der schon am frühen Morgen seinen Amtsgeschäften nachgeht, sondern als ein affektiv gestimmter Liebhaber, dem jegliche Konzentration auf die sachlichen Belange seiner Herrschaft fehlt. Schon das, was einer politischen Interpretation zum Beweisstück für einen menschenverachtenden Despotismus wird, Gonzagas »Recht gern« (LM II, 392; 1/8) angesichts eines ihm zur Unterschrift vorgelegten Todesurteils, verdeutlicht nur, daß er die Regeln staatsklugen Verhaltens nicht befolgt, sondern von seinen Affekten beherrscht wird. Hettore Gonzagas Wirklichkeitserfassung wird allein bestimmt durch seine Liebe zu Emilia. Alle Informationen haben für ihn nur Gewicht in bezug auf sie. Zwar zeigt ihn der Beginn des Dramas bei der Lektüre von Bittgesuchen und damit in seiner Funktion als Machthaber, der über sie zu befinden hat, doch nur, um zu demonstrieren, wie schnell er aus dieser Funktion herausfallen kann. Nicht der Herrscher, sondern der Liebhaber entscheidet diesseits aller sachlichen Erwägungen aufgrund einer bloßen Identität der Vornamen. Auch die weiteren Ereignisse der ersten Auftritte des Dramas zeigen den Prinzen ausschließlich als Liebhaber, der zwar durch den Maler Conti von seiner Liebe zu Emilia abgelenkt zu werden wünscht, aber durch deren Porträt sich wiederum nachdrücklich auf sein Gefühl verwiesen sieht und es im kunstsinnigen Gespräch offenbart. Als der Prinz dann durch Marinelli von Emilias bevorstehender Hochzeit hört, ist das Extrem seiner Gefühlsaufwallung erreicht, die sich in der Verzweiflung eines Todeswunsches äußert. In seinem ganzen Verhalten in den ersten Auftritten hat sich der Prinz von dem im »Tacitismus« ausgebildeten Herrscherideal,'' das vom Für15

Z u r Tacitusrezeption allgemein siehe Jürgen v o n Stackelberg: Tacitus in der Romania, der resümierend feststellt: »In Italien, in Frankreich und Spanien hat sich um die Wende zum 17. Jahrhundert allgemein die Auffassung von Tacitus als dem meisterlichen Darsteller des höfischen Lebens, dem Magister politicae rei durchgesetzt. Man suchte und fand in den Annalen und Historien nicht nur das äußere Verhalten der Menschen im Umgang miteinander, sondern auch deren innere Antriebe dargestellt. Man glaubte aus Tacitus lernen zu können, wie die Herrschenden mit ihren Untertanen verfahren und wie man sich im umgekehrten Sinne verhält.« (S. 9) 183

sten die Fähigkeit zur »dissimulano« als dem Verbergen und Vortäuschen von Affekten nach Maßgabe der Staatsklugheit verlangt, extrem weit entfernt. Von Diego Saavedra Fajardo in seiner »Idea de un Príncipe político cristiano« (1640) ausgearbeitet, forderte sie vom Herrscher die völlige Beherrschung der Affekte, um sich ihrer zum Zweck der Machtausübung bedienen zu können. 26 Während der Prinz im Wechsel der Situationen und Informationen seinen Affekten vollständig preisgegeben ist, darf der kluge Herrscher sich niemals von Situation und Gefühlen bestimmen lassen, sondern muß die Fähigkeit besitzen, diese - um des Erfolges willen — kalkuliert einzusetzen. Höfische Rationalität, die sich »in Verbindung mit ganz bestimmten Zwängen zur Selbstkontrolle der eigenen Affekte« 27 herausbildet, läßt sich dem Prinzen keineswegs zusprechen. Z w a r sind für den Prinzen die Regeln höfischen erträglichen Zwang geworden, doch bedient er sich Realisierung seiner unhöfischen Liebe. Gegen das setzt er - gleichsam in ruckartiger Entschlossenheit

Verhaltens zum unhöfischer Mittel zur passive Sich-Fühlen — auf die Tat:

Geschmachtet, geseufzet hab' ich lange genug, - länger als ich gesollt hätte: aber nichts gethan! und über die zärtliche Unthätigkeit bey einem Haar' alles verloren! (LM II, 391; I/7) Sein Kammerherr Marinelli soll ihm den Weg zu Emilia ebnen. DER PRINZ: Sie sehen mich einen Raub der Wellen: was fragen Sie viel, wie ich es geworden? Retten Sie mich, wenn Sie können: und fragen Sie dann. (LM II, 390; 1/6) Unfähig, seine Emotionen einem rationalen Kalkül zu unterwerfen, sucht er dieses in Marinelli. 28 26

27

28

Zur Affektbeherrschung des Souveräns siehe Reinhart Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 15 jff., bes. S. i j j f . Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 140. Elias grenzt den Typ der »höfischen Rationalität« strikt ab von dem der wissenschaftlichen und dem der ökonomischen: »Die höfische >Rationalität< [. . .] erhielt ihren spezifischen Charakter weder, wie die wissenschaftliche Rationalität, primär auf Grund des Bemühens, um Kenntnis und Kontrolle von außermenschlichen Naturzusammenhängen, noch, wie die berufsbürgerliche, primär auf Grund der kalkulierenden Planung der eigenen Verhaltensstrategie im Konkurrenzkampf um wirtschaftliche Machtchancen, sondern [. . .] in erster Linie auf Grund der kalkulierenden Planung der eigenen Strategie im Hinblick auf den möglichen Gewinn oder Verlust von Status- und Prestigechancen unter dem Druck einer unablässigen Konkurrenz um Machtchancen dieser Art.« (ebd., S. 141E) Nach Benjamins Bestimmung des Intriganten wäre Marinelli dem Traditionsbestand des 17. Jahrhunderts zuzurechnen. »Der überlegne Intrigant ist ganz Verstand und Wille. Darin entspricht er einem Ideal, das Machiavelli zum

184

Liebster, bester Marinelli, denken Sie für mich. Was würden Sie thun, wenn Sie an meiner Stelle wären? (LM II, 590; 1/6)

D E R PRINZ:

Der Fürst, der bloß Mensch sein will und seinem >Herzen< folgt, bedarf, um als Mensch Fürst zu sein, der kalkulierenden Rationalität seines Kammerherrn. Dieser fungiert dabei nicht als der lasterhafte Schmeichler, der seinen Fürsten auf die Abwege einer schlechten Regierungspraxis bringt - so der Topos traditioneller Hofkritik - s o n d e r n als das willenslose Werkzeug seines Herrn, dessen Begierden ihm das Ziel vorgeben, nach dem er zweckrational die Mittel zu bestimmen hat. Dadurch aber kehrt sich die rationalistische Seelendynamik um, die der Vernunft die Herrschaft über die Leidenschaft sichert. Den Leidenschaften des absolutistischen Herrschers ist die Vernunft dienstbar. Von ihrer in der Frühaufklärung vollzogenen Hypostasierung zum Garanten der Tugend wird sie auf diese Weise zurückgestuft zu einem bloß instrumentellen Vermögen. Um seine Intrige einfädeln zu können, läßt sich Marinelli vom Prinzen freie Hand geben. Zunehmend gerät dieser nun in der Folge seines Plazets in eine Abhängigkeit von Marinelli, der ihn immer wieder vor vollendete Tatsachen stellt. Der rational kalkulierende Intrigant dominiert den durch seine Leidenschaften orientierungslos gewordenen Prinzen und treibt ihn zur Billigung von Verbrechen, die die von Gonzaga selbst als tugendhaft empfundene Liebe zu Emilia desavouieren. Es klingt nun wie Zynismus, wenn der Prinz nach der bis zum Mord gehenden Intrige Marineiiis einen neuen Halt sucht und das bei einem der Leidtragenden der Intrige selbst. E r äußert den Wunsch: »O Galotti, wenn Sie mein Freund, mein Führer, mein Vater seyn wollten!« (LM II, 446; V/5). Für Dilthey ist es unfaßlich, daß Odoardo nicht in dem Moment, in welchem der Prinz ihn mit der furchtbaren Bitte verläßt, er möge sein Freund, sein Führer und Vater sein, denselben ersticht.'"

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ersten Mal gezeichnet hatte und das in der dichterischen und theoretischen Literatur des siebzehnten Jahrhunderts energisch ausgebildet wurde.« Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 94. Siehe auch Werner Kraft: »Emilia Galotti«, S. 207. Einseitig in die literarische Tradition der commedia dell'arte stellt Klaus-Detlef Müller: Das Erbe der Komödie im bürgerlichen Trauerspiel, das Drama und sieht in Marinelli die intrigante Dienerfigur der Komödie durchschimmern. Siehe dazu Helmuth Kiesel: »Bei Hof, bei Holl«, S. 26S., 42fr., 5 if., 5 5 ff., 83, 128, 135f., 21 ;ff. Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung, S. 52. 185

Wenn man in der Bitte des Prinzen allerdings nur ein Höchstmaß an Infamie sieht, wird es keineswegs verständlich, warum der Prinz diesen Wunsch überhaupt äußert. Auch die Vermutung von Ruth K. Angress, Hettore sei vom »paternal magnetism« Odoardos angezogen, 3 ' ist in der psychologisierenden Unterstellung eines physikalischen Vorgangs wenig erhellend. Ein versteckter Ehewunsch, der die Tochter meint und den Vater nennt, kann Gonzagas Bitte auch nicht sein. Denn eine Ehe mit Emilia erlaubt sowohl die ständische Ordnung als auch die aktuelle Situation nicht. Daß dieser Wunsch jedoch keine bloß beiläufige Äußerung des Prinzen ist, signalisiert schon die Emphase der exklamatorischen Anrede. Dabei weist die Stufung »Freund«, »Führer«, »Vater« in die Richtung, in der eine Antwort gefunden werden kann. Zum »Freund« wollte der Prinz auch Marinelli und zu seinem »Führer« ist dieser geworden, von dessen Entscheidungen er zunehmend abhängig wurde. Von Odoardo wünscht der Prinz mehr: er soll sein »Vater« sein. Es ist der Wunsch desjenigen, für den die höfische Wertwelt ihre zweifelsfreie Gewißheit verloren hat. Dies aber erfährt Hettore als Mangel, da er jeglicher handlungsleitenden Prinzipien verlustig gegangen ist. In der Uberantwortung der Handlungskompetenz an Marinelli wurde dieser Mangel nicht kompensiert, sondern manifest. Denn dieser versteht sich einzig als Erfüllungsgehilfe des ihm vom Prinzen vorgegebenen Ziels, nicht aber als Repräsentant einer Ordnung, die die destruktiven Energien der Leidenschaft bannt. Bedenkt man diese spezifische Situation des Prinzen, greift man zu kurz, in seinem Wunsch bloß die Infamie eines Herrschers zu sehen, der sein Laster mit Zynismus paart. Denn in dem Wunsch Hettores reflektiert sich die Orientierungslosigkeit eines von seinen Affekten Ergriffenen, für den die eigene Lebenswelt nur noch ein Zwangssystem ist, nicht aber ein Regulativ, das die Leidenschaften dem strengen Kalkül höfischer Rationalität unterwirft. Keineswegs ist es dann aber gänzlich verwunderlich, wenn der Prinz in Odoardo die Ordnungsgewißheit zu finden hofft, die ihm als Sohn die Identität seiner Person sichern würde, die er als ein von seinen Leidenschaften überwältigter Herrscher verloren hat. Daß er sich der von Odoardo repräsentierten Welt der Familie verbunden fühlt, kommt nun offensichtlich nicht von ungefähr. Denn schon seine Liebe zu Emilia gründet ja nicht allein in deren äußerer Erscheinung, sondern auch in ihrer Repräsentanz für eine von ihm zur Kontrafaktur der eigenen Lebenswelt hypostasierten familialen Welt, die ihm 31

Ruth K . Angress: T h e Generations in »Emilia Galotti«, S. 2 1 .

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das verspricht, was er in der höfischen Welt nicht finden kann: die moralische Integrität seiner Person, die gegen das »behäglichere Fühlen« das »bessere Sein« setzt. Bleibt diese Deutung von Gonzagas Wunsch als Reflex seiner Orientierungslosigkeit durchaus noch eine hypothetische Konstruktion, da Hettore den i m Weggehen geäußerten Wunsch nicht weiterhin bekräftigt, so w i r d doch deren Plausibilität erhöht, wenn man einen ganz ähnlichen Wunsch von der weiblichen Repräsentantin der höfischen Ordnung hört, und wenn dieser Wunsch aus einer analogen psychischen Befindlichkeit resultiert. ORSINA: Guter, lieber Vater! Was gäbe ich darum, wann Sie auch mein Vater wären! (LM II, 434; IV/7)

Auch für Orsina hat die höfische Wertwelt ihre Geltungskraft verloren, und auch sie zeigt sich affiziert von dem, was Odoardo als familiale Gegenwelt repräsentiert. Vordergründig liegt das sicherlich daran, daß der Prinz sie als seine Mätresse verstoßen hat. Denn damit ist ihre soziale Existenz am Hof vernichtet, was sie auch sofort bei ihrer A n k u n f t auf dem Lustschloß zu spüren bekommt. ORSINA: Was ist das? Niemand kömmt mir entgegen, außer ein Unverschämter, der mir lieber gar den Eintritt verweigert hätte? Ich bin doch zu Dosalo? Zu dem Dosalo, wo mir sonst ein ganzes Heer geschäfftiger Augendiener entgegen stürzte? wo mich sonst Liebe und Entzücken erwarteten? - Der Ort ist es: aber, aber! (LM II, 426; IV/3)

Der Prinz hat sie nun nicht von ungefähr verstoßen. Er fing an zu fühlen - und hat damit das höfische R ä d e r w e r k in U n o r d n u n g gebracht; sie fing an zu denken - und wird von diesem Räderwerk sozial vernichtet. Denn daß sie sich ein eigenständiges Urteil erlaubte, das war es, was die Liebe des Prinzen in Häme umschlagen ließ. Im Kommentar zu ihrem Bild und in der verächtlichen Bemerkung über ihre Buchlektüre (s. L M II, 382; I/4 u. 387; 1/6) bestätigt er im vorhinein, daß nicht bloß Eifersucht und gekränkter Stolz Orsina das Wort führen, wenn sie darüber räsoniert, w a r u m der Prinz sie als Mätresse verstoßen habe. Auf die B e m e r k u n g Marineiiis, es sei ja bekannt, » d a ß Sie eine Philosophinn sind«, antwortet sie verbittert, aber durchaus hellsichtig: Nicht wahr? - Ja, ja; ich bin eine. - Aber habe ich mir es itzt merken lassen, daß ich eine bin? - O pfuy, wenn ich mir es habe merken lassen; und wenn ich mir es öfter habe merken lassen! Ist es wohl noch Wunder, daß mich der Prinz verachtet? Wie kann ein Mann ein Ding lieben, das, ihm zum Trotze, auch denken will? Ein Frauenzimmer, das denket, ist eben so ekel als ein Mann, der sich schminket. Lachen soll es, nichts als lachen, um immerdar den gestrengen Herrn der Schöpfung bey guter Laune zu erhalten. (LM II, 428; IV/3) 187

In der Rolle der Mätresse wollte Orsina als eigenständige Person geliebt werden. Doch die höfische Ordnung läßt dies nicht zu. Der Prinz verstößt sie, und Orsina wird zur schärfsten Anklägerin einer Institution,' 2 die sie in ihrer sozialen Existenz vernichtet hat, weil sie nicht in der Funktion einer Mätresse aufgehen wollte. Dieses nun läßt sie dort einen neuen Bezugspunkt ihrer Orientierung suchen, wo sie um einen ähnlichen antihöfischen Affekt weiß. Mit der Familie der Galottis, die sich gegen den Hof als eigenständige Sphäre privater Gemeinschaft etablierte, wünscht sie sich zu verbinden im Akt der Identifikation mit dem Leid, das dieser vom Hof widerfuhr. ORSINA: Ich wollte (LM II, 434; IV/7)

treulich

Schmerz

und

Wuth

mit

Ihnen

theilen.

Zweifellos ist Orsinas proklamiertes Mitgefühl auch davon bestimmt, Odoardo in ihre Rachepläne einzuspannen. Doch zugleich ist es mehr. Denn erst vor dem Hintergrund des Verlustes ihrer sozialen Identität wird überhaupt nur verständlich, daß sie im antihöfischen Bereich der Familie den väterlichen Schutz Odoardos sucht, der ihre Ehre als Ehre eines Familienmitglieds wiederherstellen soll. Der Hof hat sowohl für den Prinzen als auch für Orsina an Integrationskraft eingebüßt. Die ihm gegenüber gleichsam ex negativo präsentierte familiale Lebensform übt auf beide in der Figur des zum Vater ersehnten Odoardo eine Attraktivität als Verheißung einer identitätsverbürgenden Gewißheit aus, die ihnen die höfische Ordnung versagt. Ist beim Prinzen und bei Orsina diese Verheißung durchaus mitbedingt durch spezifische situative Faktoren und bleibt sie ein unerfüllter Wunsch, so scheint bei Appiani diese Verheißung in Erfüllung gegangen zu sein. Auch für ihn ist der Hof nicht mehr der Ort, der ihm den Sinn seines Lebens sichern kann. Aber anders als beim Prinzen und Orsina verläßt er ihn tatsächlich und integriert sich in die familiale Lebenswelt Odoardos. In ihr sieht er sein Bestreben nach einer Moralität jenseits höfischer Konventionen verwirklicht. Fast will es scheinen, als beabsichtige Appiani Emilia nur zu heiraten, um zum Sohn Odoardos zu werden. Denn kaum sind Emilia und er zum ersten Male durch die Bühnenhand' 2 Herder hat das Wahrheitsmoment der Rede Orsinas nachdrücklich hervorgehoben: »Wenn sie nicht den Mund öfnet, wer soll ihn öffnen? Und sie darfs, die gewesene Gebieterin eines Prinzen, die in seiner Sphäre an Willkühr gewöhnt ist. Als eine Beleidigte, Verachtete muß sie anjetzt übertreiben, und bleibt in der größesten Tollheit die redende Vernunft selbst, ein Meisterwerk der Erfindung.« Johann Gottfried von Herder: Sämmtliche Werke, Bd. 17, Berlin 1881, S. 186. 188

lung zusammengeführt, hat Appiani nichts Eiligeres zu tun, als ihr seine Gefühle ihrem Vater gegenüber mitzuteilen. APPIANI: Eben habe ich mich aus seinen Armen gerissen: - oder vielmehr er, sich aus meinen. - Welch ein Mann, meine Emilia, Ihr Vater! Das Muster aller männlichen Tugend! Zu was für Gesinnungen erhebt sich meine Seele in seiner Gegenwart! Nie ist mein Entschluß immer gut, immer edel zu seyn, lebendiger, als wenn ich ihn sehe - wenn ich ihn mir denke. Und womit sonst, als mit der Erfüllung dieses Entschlusses kann ich mich der Ehre würdig machen, sein Sohn zu heißen; - der Ihrige zu seyn, meine Emilia? (LM II, 403; II/7)

Der Sohn geht dem Ehemann voran; die Verbindung mit der Familie Odoardos präformiert die neu zu gründende Familie, die als Fortsetzung jener figuriert. Appiani müßte der zufriedenste und glücklichste Mensch sein, glaubt er doch in seiner familialen Identität als Sohn und Ehemann seine wahre Bestimmung gefunden zu haben. In der Rede des Prinzen, der ihn beneidet (s. LM II, 387; 1/6), in der Rede Marineiiis, dem seine Haltung unverständlich ist (s. LM II, 387; 1/6), und in der Rede Odoardos, der in ihm sein Lebensideal verwirklicht sieht (s. LM II, 396; II/4), wird er als der Mann geschildert, der nur seinem eigenen Wollen gehorcht als ein Adliger, der seine ständischen Adelsfreiheiten nicht um den Preis einer bloß als äußerlich erachteten höfischen Ehre einzutauschen gewillt ist. Und doch erscheint Appiani auf der Bühne alles andere als ein zufriedener und glücklicher Mensch. »Tiefsinnig« betritt er »mit vor sich hingeschlagenen Augen« das Zimmer Emilias, sieht »ihr mit einer niedergeschlagenen Miene« nach, spricht »nachdenkend und schwermüthig« und bezeichnet sich selbst als »heut' ungewöhnlich trübe und finster« (alles LM II, 402-405; II/7 u. II/8). Emilia ist sein Gemütszustand, der so gar nicht dazu passen will, daß er kurz vor der Erfüllung aller seiner Wünsche steht, nicht entgangen. EMILIA: Ich wünschte Sie heiter, Herr Graf, auch wo Sie mich nicht vermuthen. - So feyerlich? so ernsthaft? - Ist dieser Tag keiner freudigem Aufwallung werth? (LM II, 402; II/7)

Merkwürdig mutet Appianis Begründung an, wenn er seine Gemütslage, die so gar nicht zu seiner Situation passen will, gerade mit dem Glück dieser Situation begründet: [. . .] mag es wohl diese Glückseligkeit selbst seyn, die mich so ernst, die mich, wie Sie es nennen, mein Fräuliein, so feyerlich macht. (LM II, 402; II/7)

Und noch merkwürdiger mutet es an, wenn er auf Emilias Bitte um »eine kleine Geduld« (LM II, 404; II/8) bis sie sich umgekleidet habe, über die 189

Diskrepanz zwischen der subjektiv erlebten Zeit und dem objektiven Zeitmaß räsoniert: [. . .] Eine kleine Geduld! - Ja, wenn die Zeit nur außer uns wäre! - Wenn eine Minute am Zeiger, sich in uns nicht in Jahre ausdehnen könnte! (LM II, 404; II/8)

Auf die Frage der Mutter, ob ihn nicht der Entschluß zur Ehe mit Emilia reue, setzt er sein Räsonnement fort, wenn er — wider alle Logik und Erfahrung - die unmittelbare Nähe zum Ziel in eins setzt mit dem Start, (s. L M 1 1 , 4 0 5 ; II/9) Sind es grundlose Befürchtungen, und ist es folglich allein ein dramaturgischer Kunstgriff Lessings, die Erwartungen der Zuschauer zu spannen, oder läßt sich darüber hinaus für Appianis Gefühlslage ein zureichender Grund angeben? Davon, daß der Prinz Emilia um jeden Preis für sich gewinnen will, weiß er nichts; und die Eltern sind hocherfreut, in ihm den künftigen Schwiegersohn begrüßen zu dürfen, so daß er von ihrer Seite keine Schwierigkeiten zu erwarten hat. Beides kann also nicht der Grund für seine trübsinnige Gemütslage sein. Als bloß additives Moment, das seine Stimmung zusätzlich trübe, gibt Appiani allerdings noch das Drängen der Freunde an, den Prinzen über seine bevorstehende Hochzeit zu informieren. APPIANI: Meine Freunde verlangen schlechterdings, daß ich dem Prinzen von meiner Heyrath ein Wort sagen soll, ehe ich sie vollziehe. Sie geben mir zu, ich sey es nicht schuldig: aber die Achtung gegen ihn woll' es nicht anders. Und ich bin schwach genug gewesen, es ihnen zu versprechen. Eben wollt' ich noch bey ihm vorfahren. (LM II, 405; II/9)

Die zunächst äußerst merkwürdig anmutende Tatsache, daß Appiani auf die fröhliche und verheißungsvolle Verabschiedung Emilias hin anfangt, über die Zeit zu reflektieren, erscheint plötzlich in einem anderen Licht, wenn man erfährt, daß es gar nicht das Warten auf Emilia war, was ihm die Zeit unerträglich lang vorkommen läßt, sondern die von ihm eingegangene Verpflichtung, dem Prinzen seine Hochzeit mitzuteilen." Was " Die fundamentalontologische Deutung Nolles greift zu kurz, da sie das Fehlen jedes Bedingungszusammenhangs für Appianis Gemütszustand zur Grundlage der Interpretation macht - um den Preis der Ignorierung der spezifischen Situation des Grafen: »Gerade daß kein konkreter Anlaß zu Appianis melancholischer Stimmung vorliegt, verdeutlicht, daß dieses Zeiterlebnis in der Befindlichkeit fundiert ist, über die sich nicht verfügen läßt. Die Schwermut, die Gestimmtheit erschließen Appiani das Dasein als solches. E r ist hineingehalten in die offene Zukunft, die wegen ihrer Unbestimmbarkeit und Unfaßbarkeit ihn beschwert. Daß er nichts zu besorgen hat, setzt ihn so sehr der Sorge aus.« Volker Nolle: Subjektivität und Wirklichkeit in Lessings dramatischem und theologischem Werk, S. (igf.

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kann aber hieran so gravierend sein, daß es ihn »ärgerlich über meine Freunde, über mich selbst« ( L M II, 405; II/9) macht? Und warum diese doppelte Gerichtetheit seines Argers? Und weiterhin ist zu fragen, warum Claudia nicht bloß erstaunt, sondern sogar »stutzig« nachfragt, als könne sie es nicht glauben: »Bey dem Prinzen?« ( L M II, 405; II/9) Eine Antwort auf diese Fragen erhält man, wenn man sich vor Augen hält, daß es ja nicht bloß um eine schlichte Information geht, die Appiani dem Prinzen geben will. Denn mit der Bekanntgabe seiner Heirat teilt er diesem zugleich mit, daß er sich dem höfischen Reglement, dessen Z w a n g er sich mit seiner Heirat und der Wahl seines zukünftigen Wohnortes entziehen will, noch im A k t der Aufkündigung unterwirft. Z w a r gibt er nur dem Drängen der Freunde nach, doch daß er ihnen nachgibt, signalisiert eine prinzipielle Schwierigkeit, sich aus der höfischen Lebenswelt zu lösen. Denn die radikale Ablösung hieße auch, sich von seinen Freunden zu trennen, die ja das höfische Reglement praktizieren, unter das sie ihn noch im Akt der Aufkündigung nötigen wollen. Diesen Preis, der ihn aus der Paradoxie eines Zugleichs von Aufkündigung der Geltungskraft der höfischen Ordnung und Unterwerfung unter sie befreien würde, ist er nicht bereit zu zahlen. Hierin manifestiert sich die Ambivalenz einer Haltung als Ausdruck eines symptomatischen Zwiespaltes, in die ihn das Konzept einer gesellschaftsabgewandten Sphäre familialer Privatheit stürzt: die konträre Bestimmung von Autonomie und sozialer Identität. 54 Noch der Disput mit Marinelli, dessen Plan es ist, ihn als Gesandten nach Massa zu schicken, verdeutlicht, daß Appiani sich vom Hof als dem Ort sozialer Identität nicht völlig gelöst hat. Denn den ihm als höfischen Ehrerweis übermittelten Auftrag will er durchaus übernehmen. Z w a r ist er zunächst überrascht, daß der Prinz ihm die A u f g a b e überantworten will, die Hochzeit mit der Prinzessin von Massa vorzubereiten, aber nachdem Marinelli ihn nachdrücklich auf die damit verbundene Ehre hingewiesen hat, die er sicherlich »mit Begierd' ergreifen« ( L M II, 406; II/10) werde, bestätigt er ihm dies »nach einiger Ueberlegung« mit einem »Allerdings« ( L M II, 406; II/10). Erst danach kommt es zum Eklat, als jener auf sofortige Abreise drängt und dabei in süffisanter Weise auf die Sittsamkeit Emilias und ihrer Eltern anspielt (s. L M II, 408; II/10). In seinen dadurch provozierten Reaktionen bricht Appiani endgültig alle Brücken zur höfischen Welt ab. Nun erst weicht der starke psychische Druck, den die Paradoxie seiner Situation bei ihm hervorgerufen hat, durch ihre Reduktion zu einer einzigen Handlungsmöglichkeit. So kann ' 4 Vgl. Karl Eibl: Identitätskrise und Diskurs, S. 149^ 191

er Claudia, die aufgrund des »heftigen Wortwechsels]« »eiligst und besorgt« sich nach dem erkundigt, was vorgefallen ist, geradezu erleichtert beruhigen. APPIANI: Nichts, gnädige Frau, gar nichts. Der Kammerherr Marinelli hat mir einen großen Dienst erwiesen. E r hat mich des Ganges zum Prinzen überhoben. (LM 11,409; II/11)

Erst jetzt, da Appiani gar nicht mehr anders kann, als Odoardos Ideal einer gesellschaftsabgewandten familialen Existenz zu verwirklichen, fühlt er sich »anders und besser« (LM II, 409; II/11). Seine ambivalente Haltung ist einer Eindeutigkeit gewichen. Und doch bleibt die angestrebte Lebensform in ein Zwielicht getaucht, denn sie ist für Appiani nur um den Preis der Aufgabe des für einen Adligen wichtigen sozialen Gefüges zu realisieren." Es ist ein Preis, der auf die objektiven Gründe seiner ambivalenten Haltung verweist. Diese haben durchaus ihren sozialgeschichtlich bestimmbaren Ort: für einen Adligen bedeutet der Rückzug vom Hof zur Zeit des Absolutismus mehr und anderes als nur die Trennung von Freunden, mit denen er sich emotional verbunden weiß. Es bedeutet die Aufgabe aller Chancen zu reüssieren, die in der höfischen >Ehre< als dem Ausweis der Zugehörigkeit ihre spezifische Voraussetzung haben.'6 Die durch Odoardo repräsentierte Familie, die für zwei der höfischen Protagonisten, für Hettore Gonzaga und Orsina, in der Orientierungslosigkeit ihrer Existenz als Moment einer Verheißung von Sicherheit des Erlebens und Handelns aufscheint, offenbart sich für zwei der familialen Protagonisten, für Appiani und Claudia, durchaus in einem gebrochenen Glanz. Denn beide wissen um den Preis, den sie zahlen müssen, um in "

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Daß Lessing selbst kritisch zum antihöfischen Rückzug in die gesellschaftsabgewandte Sphäre des Landlebens Stellung nimmt, zeigt seine Rezension zur deutschen Übersetzung von Fray Antonio de Guevaras »Menosprecio de corte y alabanza de aldea« (»Das vergnügte Land- und beschwerliche Hofleben, worinne sowohl die Anmuthigkeit des einen, als auch die Mühseligkeiten des andern auf das artigste abgebildet werden; [. . .]«): »Die Menschen sind am Hofe, in der Stadt und auf dem Lande Menschen; Geschöpfe, bey welchen das Gute und Böse einander die Wage hält. Schwachheiten und Laster zu fliehen, muß man nicht den Hof sondern das Leben verlassen.« (LM I V , S. 348) Siehe dazu Norbert Elias: Höfische Gesellschaft, S. 14;: »Ein bezeichnender Ausdruck für diese Bedeutung und diese Funktion der gesellschaftlichen Meinung in jeder >guten Gesellschaft ist der Begriff der >Ehre< und seine Derivate. [. . .] Ursprünglich jedenfalls bildete die >Ehre< den Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer Adelsgesellschaft. Man hatte seine Ehre, solange man nach der >Meinung< der betreffenden Gesellschaft und damit auch für das eigene Bewußtsein als Zugehöriger galt.«

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der von der Gesellschaft abgesonderten Privatsphäre der Familie den alleinigen Ort wahrer Tugend zu finden. Für Claudia heißt das, nicht als Geliebte umworben, sondern als Ehefrau der Familie ein- und untergeordnet zu werden; und für Appiani heißt das, die für einen Adligen wichtigen Sozialbezüge preiszugeben. Für Odoardo dagegen ist die Familie die ihm einzig mögliche Welt seiner moralischen Existenz. Alles, was jenseits ihrer Grenzen liegt, wird von ihm als verabscheuungswürdige Sphäre des Lasters gebrandmarkt. Deshalb ist sogar der Kirchgang Emilias strikt zu überwachen, auf daß kein Außenstehender Gelegenheit erhalte, über die Tochter in den geschützten Binnenraum der Familie einzudringen. Bezeichnend ist Odoardos Erschrecken, als er von der Begegnung des Prinzen mit Emilia im Haus der Grimaldis hört. ODOARDO: — Ha! wenn ich mir einbilde - Das gerade wäre der Ort, w o ich am tödtlichsten zu verwunden bin! - Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt. - Claudia! Claudia! der bloße Gedanke setzt mich in Wut. (LM II, 598; II/4; Hervorhebung von mir)

In dieser auf sich und nicht auf Emilia bezogenen Reaktion manifestiert sich deutlich Odoardos familiales Selbst V e r s t ä n d n i s . Denn er artikuliert ja nicht nur seine Angst um Emilias physische Unversehrtheit, sondern auch die Angst um seine >ideologische< Unversehrtheit. Würde nämlich die durch ihn repräsentierte familiale Ordnung durch den Übergriff eines »Wollüstlings« zerstört, wäre er in seiner Rolle als schutzgewährendes Oberhaupt der Familie und damit in seiner moralischen Existenz vernichtet. Dies ist der Zusammenhang, den seine selbstbezogene Rede andeutet. Für Odoardo ist seine Tochter, die ein Begehren auf sich lenken könnte, das sich dem väterlichen Gebot nicht fügt, die potentielle Einbruchsteile in die von ihm gegen die >feindliche Welt< zu sichernde Sphäre der Familie. Daß er jedoch seine Wut so schnell zügelt, ist nicht als Hinweis auf die geringe Intensität seiner Betroffenheit zu werten. Denn er beruhigt sich ja nur bei dem Gedanken, daß Emilia am selben Tage noch in den Schutzraum einer neuen Familie gelangen wird und dann als Ehefrau jeglichem fremden Begehren entzogen ist. Der kritische Moment im Ubergang seiner Tochter aus der Herkunfts- in die Zeugungsfamilie scheint Odoardo damit zu seiner vollsten Zufriedenheit überwunden. Kritisch ist dieser Moment, weil nach dem familialen Selbstverständnis die Ehe auf persönlicher Liebe basiert - nur so ist ja Claudias Rechtfertigung des städtischen Aufenthalts zu verstehen - und somit prinzipiell dem väterlichen Verdikt entzogen ist. Wie leicht aber ist es dann möglich, daß die subjektive Liebe die familiale Ordnung zerstört. J

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In der »Sara« ist dies die Vorgeschichte des Dramas, das dann davon handelt, wie die beiden Bereiche in einem komplementären Wechsel der Positionen wieder zur Deckung zu bringen sind. Anders aber als Sara ist Emilia jedoch von Anfang an auch in der Wahl des Ehemanns das »gehorsame« und »fromme« Mädchen, das Lessing schildern wollte.' 7 Für sie ist die Eheschließung keine krisenhafte Phase in der Ablösung von der sie bislang prägenden Bindung an die Eltern. Denn sie muß sich ja gar nicht von ihrer Herkunftsfamilie ablösen. Auch als Braut und baldige Ehefrau bleibt sie Tochter, allerdings nicht, indem sie sich dem ehelichen Konsensrecht des Vaters unterwirft, sondern indem sie seinen Wunsch zu dem ihren macht. Odoardo sieht in Appiani das Ideal eines Schwiegersohns, und Emilias Liebe zu ihm ist der Vollzug seines Wunsches in ihrem Wunsch. Mit ihrer Heirat wird Emilia damit nur formal ihren Tochterstatus verlieren und den Status einer Ehefrau gewinnen. Denn da ihre Liebe zu Appiani nur den Wunsch Odoardos als eigenen verwirklicht, wird sie immer seine »gehorsame« Tochter bleiben, die in Appiani nur die verjüngte Ausgabe ihres Vaters heiratet. Die Heirat Emilias, die sich als Wunscherfüllung Odoardos darstellt, wird von diesem nicht nur als Glück für die Tochter erfahren, sondern auch als Bestätigung des eigenen Lebenskonzepts, das in Emilias Ehe mit Appiani seine Fortsetzung finden soll. Denn mittels seiner Tochter glaubt der Vater mit dem Schwiegersohn die unverbrüchliche Ordnung der Familie über die Generationsfolge hinweg zu stiften. Sein mangelndes Interesse an der Tochter als einer individuellen Person, seine Fixierung auf die normativen Gehalte der von ihm repräsentierten familialen Lebensform dokumentiert dabei nicht nur seine selbstbezogene Angst angesichts der Möglichkeit, ein »Wollüstling« könne sich an Emilia vergreifen, sondern auch sein Verhalten am Hochzeitstag. Es ist nicht Emilias Glück, sondern »das Glück des heutigen Tages« (LM II, 393; II/2), das ihn so früh weckte. Daß Odoardo sich nicht mit dem Glück seiner Tochter identifiziert, sondern sie mit dem seinen, zeigt sich darin, daß er trotz des Einwandes der Mutter, »es würde sie schmerzen, deines Anblicks so zu verfehlen« (LM II, 396; II/4), nicht auf Emilia warten will, sondern beabsichtigt, sofort zu seinem künftigen Schwiegersohn zu eilen. ODOARDO: Kaum kann ichs erwarten, diesen würdigen jungen Mann meinen Sohn zu nennen. Alles entzückt mich an ihm. Und vor allem der Entschluß, in seinen väterlichen Thälern sich selbst zu leben. (LM II, 396; II/4) 37

Lessing in bezug auf Emilia an seinen Bruder Karl am 10.2.1772: »Ich kenne an einem unverheirateten Mädchen keine höhere Tugend, als Frömmigkeit und Gehorsam.« (LM X V I I I , S. 18)

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In A p p i a n i sieht O d o a r d o die Inkarnation seines eigenen Wollens, die Realisierung aller seiner Wertvorstellungen. Die bevorstehende Heirat bestätigt ihm dabei aufs nachdrücklichste Emilias Übereinstimmung mit dem, was er f ü r richtig hält. E r kann sein Selbstverständnis bewahren durch die Bestätigung seines Lebenskonzepts in der neu zu gründenden Familie. Deshalb macht es ihm auch nichts aus, daß Emilia sich als Person durch ihre Heirat auf Dauer v o n ihm entfernt, bleibt sie doch eingebunden in das v o n ihm repräsentierte normative O r d n u n g s g e f ü g e . Nicht mit Bedauern, sondern mit G e n u g t u u n g , daß die Brautleute ein Leben fern der Stadt und fern des H o f e s führen wollen, weist er Claudias K l a g e über den Verlust der Tochter ab: »nun laß sie ziehen, wohin Unschuld und R u h e sie rufen.« ( L M II, 397; II/4) Ihm genügt ihr Porträt, das er bei Conti in A u f t r a g gegeben hat (s. L M I I , 384; I/4). Claudia dagegen, die die Heirat nicht bloß als Bestätigung ihrer Wertvorstellungen, sondern auch als Verlust ihrer geliebten Tochter erfährt, ist v o n der A u s sicht, daß Emilia fern den Eltern in den Piemontesischen Tälern mit Appiani leben wird, emotional zutiefst betroffen: Das Herz bricht mir, wenn ich hieran gedenke. - So ganz sollen wir sie verlieren, diese einzige geliebte Tochter? (LM II, 396; II/4) F ü r O d o a r d o spricht sich hier eine unbillige Egozentrik aus: Was nennst du, sie verlieren? Sie in den Armen der Liebe zu wissen? Vermenge dein Vergnügen an ihr, nicht mit ihrem Glücke. (LM II, 396; II/4) Das, was O d o a r d o selbst tut - allerdings nicht auf die individuelle Person Emilia bezogen, sondern auf das familiale Wertsystem, das sie ihm bestätigt - , w i r f t er seiner Frau vor. Denn sein »Vergnügen« an Emilia gründet ja nicht vornehmlich im personalen U m g a n g mit ihr, sondern darin, daß sie in ihrer Heirat seine Vorstellungen v o n einer gesellschaftsabgewandten Familienordnung realisiert; und dazu gehört, daß sie mit Appiani in die Einsamkeit fernliegender Täler zieht. Emilia ist in diese familiale Welt, in der das väterliche G e b o t dem mütterlichen G e f ü h l korrespondiert, hineingeboren als eine wohlbehütete Tochter, die in ihrer Liebe zu Appiani G e b o t und G e f ü h l vereint. Ein ruhiges, v o n keinerlei Zwiespältigkeiten erfülltes Dasein müßte die F o l g e sein. U n d doch ist ihre Bühnenpräsenz in keinem M o m e n t geprägt v o n der ruhigen Selbstgewißheit einer Tochter, f ü r die die Familie der Ort ist, an dem sie die Unverbrüchlichkeit eines Selbstbildes gewonnen hat, das den problemlosen Ü b e r g a n g v o n der Herkunfts- in die Z e u gungsfamilie sichert. Schon ihr erster Bühnenauftritt zeigt sie v o n panischem Entsetzen erfüllt. V ö l l i g außer sich, v o m V e r f o l g u n g s w a h n er!

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griffen, stürzt sie ins Zimmer der Mutter. Claudia gelingt es nur mit Mühe, sie so zu beruhigen, daß sie den Grund für ihre »ängstliche Verwirrung« (LM II, 398; II/6) angeben kann. Art und Inhalt ihres Berichts werfen ein bezeichnendes Licht auf ihre durch keinerlei außerfamiliale Sozialbezüge geprägte Rollenidentität als Tochter. In zunehmender, wohlabgestufter Konkretion über »etwas«, »es«, »ihn«, »ihn selbst«, »den Prinzen« teilt sie der Mutter mit, daß dieser sich ihr in der Kirche auf unschickliche Weise genähert habe. Doch nicht erst die Wahrnehmung des Prinzen, sondern allein schon die mit keiner bestimmten Person verbundene Tatsache einer erotischen Annäherung versetzt sie in äußerste Furcht.' 8 Daß sie durch die Situation allerdings in irgendeiner Weise selbst erotisch affiziert ist, signalisiert ihr Bericht an keiner Stelle. Auch der von Odoardo als »eitel« gebrandmarkten Mutter liegt eine solche Annahme völlig fern; sie erwartet geradezu, daß Emilia dem Prinzen ihre äußerste Verachtung gezeigt habe. CLAUDIA: Ich will hoffen, daß du deiner mächtig genug wärest, ihm in Einem Blicke alle die Verachtung zu bezeigen, die er verdienet. (LM II, 400; II/6)

Emilia muß dies jedoch verneinen, allerdings nicht, weil eine uneingestandene Zuneigung ihr die geforderte Abweisung blockierte, sondern weil sie durch diese Situation wie paralysiert ist. Unfähig, einen zweiten Blick auf den Prinzen zu werfen, flieht sie, wird aber vom Prinzen in der Halle der Kirche festgehalten und angesprochen. Einzig von dem Gedanken beseelt, keine Aufmerksamkeit hervorzurufen, gelangt sie schließlich auf die Straße und nach Hause, von dem Gefühl ergriffen, vom Prinzen bis auf die Treppe verfolgt zu werden. Goethes sich hieran anschließende Vermutung, Emilia liebe den Prinzen, andernfalls »hätte sie ihn ablaufen lassen«,'9 verkennt ihre spezifischen Sozialisationsbedingungen. Als »fromme« und »gehorsame« Tochter hat sie nicht die Fähigkeit erworben, mit außerfamilialen Erfahrungen umzugehen.40 Denn alles jenseits der Familie wurde ihr als Laster 38

Peter Horst Neumann schließt daraus, daß Emilia den Prinzen zunächst mit »es« benannt habe, Lessing habe hier durchaus Freudsche Einsichten vorweggenommen. »Bemerkenswert bleibt es wohl doch, daß Lessing durch den Gebrauch des Fürwortes >es< den Prinzen als Verkörperung des Eros in die Anonymität verweist und so Emilia das Affiziertsein gerade jenes unterdrückten Triebbereiches aussprechen läßt, für dessen Bezeichnung Sigmund Freud kein besseres Wort hat finden können.« Peter Horst Neumann: Der Preis der Mündigkeit, S. 46; ähnlich auch Albert M. Reh: Die Rettung der Menschlichkeit, S. 2iof. " Goethe, aus: Friedrich Wilhelm Riemer: Mittheilungen über Goethe, abgedr. in: Horst Steinmetz (Hg.): Lessing - ein unpoetischer Dichter, S. 230. 40 Lessing selbst hingegen kannte das Werk von Baldesar Castiglione: »II Libro

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präsentiert, das für sie nicht zu existieren habe. Und entsprechend verhält sie sich. Ignorierungswünsche sind die einzige Reaktion auf die Provokation des Prinzen. Dabei zeigt ihre Verwendung des Pronomens »es«, daß es nicht seine Person ist, sondern die vom väterlichen Gebot als Laster inkriminierte Leidenschaft, die sie zu ignorieren wünscht. daß laute Donner mich verhindert hätten, mehr zu hören! - Es sprach von Schönheit, von Liebe - Es klagte, daß dieser Tag, welcher mein Glück mache, - wenn er es anders mache sein Unglück auf immer entscheide. - Es beschwor mich - hören mußt' ich dieß alles. Aber ich blickte nicht um; ich wollte thun, als ob ich es nicht hörte. •- Was könnt' ich sonst? - Meinen guten Engel bitten, mich mit Taubheit zu schlagen; und wann auch, wann auch auf immer! - Das bat ich; das war das einzige, was ich beten konnte. (LM II, 399f.; II/6)

EMILIA: O

In ihrer angstbesetzten Reaktion auf die Bedrohung durch die aus dem Familienverband ausgegrenzte Leidenschaft reflektiert Emilia nur das väterliche Gebot. Denn Odoardos Angst, die Leidenschaft könne die familiale Ordnung sprengen, hat ja dazu geführt, die Wirklichkeit jenseits der Familie als Sphäre der bloßen Sinnlichkeit zu tabuieren. Als tabuierte Sinnlichkeit aber >produziert< sie bei Emilia die Angst, sie könne das Tabu verletzen. Diese Angst ist keineswegs das Resultat ihrer Erfahrung, daß ihre Sinnlichkeit mächtiger ist als das Tabu, sondern sie ist das Produkt der vom Tabu zugleich mitgeteilten Botschaft, die Sinnlichkeit sei etwas äußerst Bedrohliches. Nur so ist ihre Annahme verständlich, sie habe wenigstens insoweit dem Werben des Prinzen nachgegeben, als sie ihm geantwortet habe (s. LM II, 4oof.; II/6). Daß diese Annahme das alleinige Produkt ihrer Angstphantasie ist, demonstriert der Bericht des Prinzen von seiner Begegnung mit Emilia in der Kirche. Er habe bei ihr nur »sprachlose Bestürzung« (LM II, 417; III/5 ) hervorgerufen, seine Werbung sei ein völliger Fehlschlag gewesen: Mit allen Schmeicheleyen und Betheuerungen könnt' ich ihr auch nicht ein Wort auspressen. Stumm und niedergeschlagen und zitternd stand sie da; wie eine Verbrecherinn, die ihr Todesurtheil höret. (LM II, 414F.; III/})

Fast wie eine programmatische Äußerung Lessings klingt es, wenn Claudia Emilias Erlebnis in der Kirche kommentiert: »Die Furcht hat ihren del Cortegiano« und die in ihm ausgearbeiteten Ratschläge, wie sich eine Frau auf schickliche Weise zur Wehr setzen könne; siehe Baldesar Castiglione: »Das Buch vom Hofmann«, S. jo2f. Daß er seine Kenntnis nicht Emilia unterlegt, zeigt sein Bestreben, sie als eine ausschließlich familienzentrierte Person zu präsentieren; siehe LM XXII/2, S. XIVf. 1 97

b e s o n d e r n S i n n , meine Tochter!« ( L M I I , 4 0 1 ; II/6) D o c h im Sinne L e s sings als selbstbezügliches Mitleid 4 1 löst Claudia diesen Sinn nicht ein. V i e l m e h r ist ihr ganzes B e m ü h e n darauf gerichtet, den Selbstbezug der F u r c h t zu eliminieren, indem sie E m i l i a s Erlebnisse verharmlost: Nimm es für einen Traum, was dir begegnet ist. Auch wird es noch weniger Folgen haben, als ein Traum. (LM II, 401; II/6) A b e r auch das u m g e k e h r t e V e r f a h r e n , E m i l i a v o n der p r o d u k t i v e n Verarbeitung ihrer E r f a h r u n g abzuschneiden, wendet Claudia an. Sie depotenziert nicht nur die bedrohliche Wirklichkeit z u m T r a u m , sondern sie v e r h a r m l o s t auch den bedrängenden T r a u m zur plausiblen Wirklichkeit. E m i l i a träumte, daß sich die Steine des G e s c h m e i d e s , welches ihr A p p i a n i schenkte, in lauter Perlen v e r w a n d e l t e n , und deutete die Perlen als Tränen. Ihre unheilvollen A h n u n g e n , die den Ü b e r g a n g v o n der H e r k u n f t s - in die Z e u g u n g s f a m i l i e doch nicht so v ö l l i g p r o b l e m l o s erscheinen lassen, w e r d e n von der M u t t e r a b g e w i e s e n , indem sie dem T r a u m einen planen Realitätsgehalt unterschiebt: Kind! Die Bedeutung ist träumerischer, als der Traum. - Wärest du nicht von je her eine grössere Liebhaberinn von Perlen, als von Steinen? - (LM II, 404; Π/7) 42 In doppelter Weise w i r k e n die Eltern an dem G e w e b e , das E m i l i a v o n außerfamilialen E r f a h r u n g e n abschirmt: durch K o n t r o l l e der Vater und 41

4!

Siehe dazu die zentralen Passagen Lessings zum Verhältnis von »Furcht« und »Mitleid« im 74. bis 78. Stück der »Hamburgischen Dramaturgie«. Lessing hatte die Worte Claudias allerdings zunächst Emilia in den Mund gelegt, jedoch auf Anraten des Bruders, der einen Abschreibfehler vermutete (siehe Brief Karl Lessings vom 3.2.1772; L M X X , S. izyf.), sie dann als Aussage Claudias gekennzeichnet: »Die Stelle [. . .] D i e F u r c h t hat i h r e n b e s o n d e r n S i n n ; muß ich Dir gestehen, ist, so wie sie ist, zwar kein Fehler des Abschreibers. Doch laß ich mir Deine Veränderung gefallen. Im Grunde soll es gar keine besondere tiefe Anmerkung seyn, welche Emilia freylich in ihrer Verfassung nicht machen könnte; sondern sie soll bloß damit sagen wollen, daß sie nun wohl sehe, die Furcht habe sie getäuscht. Aber freylich, der Ausdruck ist ein wenig zu gesucht. Wenn es der Claudia in den Mund gelegt wird, so laß hinter das Wort Sinn einen Strich ( - ) setzen, daß es mit dem Folgenden nicht zusammen ausgesprochen wird.« (Lessing an seinen Bruder Karl am 10.2.1722; L M X V I I I , S. 18) Lessing selbst weist in einer brieflichen Mitteilung vom 10.2.1772 an seinen Bruder darauf hin, daß Claudia Emilias Traum nur rational deute, darüber hinaus aber ein unaufgelöster Rest bei Emilia bleibe. »Emilia glaubt nicht an den Traum; sondern sie erkennt mit ihrer Mutter den Traum für sehr natürlich: wegen ihres größern Geschmacks an Perlen als an Steinen. Aber, ob sie schon nicht an den Traum als Vorbedeutung glaubt: so darf er doch gar wohl sonst Eindrücke auf sie machen.« ( L M X V I I I , S. 19)

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durch Verharmlosung die Mutter. Da Emilia auf diese Weise alle außerfamilialen Erfahrungen verwehrt sind, kann sie ein positives Selbstbild nur als Familienangehörige gewinnen, indem sie sich nach Maßgabe der an sie herangetragenen Erwartungen der Eltern verhält. Gemäß dieser normativen Verhaltenserwartungen wird von Emilia alles abgewehrt, was die Familienordnung stören könnte, und alles, was dieser zuträglich ist, wird befolgt. Emilia unterwirft sich dem Rat der Mutter, um Dissonanzen mit dem Vater und dem zukünftigen Ehemann zu vermeiden; sie akzeptiert die Deutungen der Mutter, um Dissonanzen mit sich selbst zu vermeiden; und sie realisiert in ihrer Liebe zu Appiani das väterliche Gebot, um Dissonanzen mit dem familialen Wertsystem zu vermeiden. A u f diese Weise werden die familialen Wertvorstellungen mit Emilias individuellen Bedürfnissen nachdrücklich so zu einer Einheit verbunden, daß jegliches Antriebspotential sich den internalisierten Werten familialer Lebensweise fügt. In dieser Verabsolutierung der Familie zur einzigen Bezugsgruppe gewinnt Emilia eine ausschließliche Rollenidentität als Tochter im Familienverband. Sie spielt nicht die Rolle der Tochter in der Familie, sondern sie ist diese Rolle. 45 Wie sehr sie nur Tochter ist, die einzig im Familienverband sicher aufzutreten vermag, demonstrieren dabei nicht nur ihre panischen Reaktionen in der Kirche, sondern auch ihre Verhaltensweisen auf dem Lustschloß. Denn auch hier fällt sie von einem Schrecken in den anderen. Furcht ist wiederum das sie kennzeichnende Charakteristikum. Ihre Ankunft auf Dosalo beobachtet der Prinz: »Die Furcht, wie es scheinet, beflügelt ihre Füße« (LM II, 414; III/3). »Außer Athem« (LM II, 415; III/4) erscheint sie auf dem Schloß, die Nachricht von der Ankunft des Prinzen registriert sie »äußerst bestürzt« ( L M II, 416; III/4), ihm selbst begegnet sie »die Hände ringend« (LM II, 417; III/5), fällt vor ihm nieder (s. L M II, 417; ΙΠ/5% um schließlich »der Mutter ohnmächtig in die Arme« zu stürzen (LM II, 422; IV/1). Bis zum Ende des vierten Aktes demonstriert das Drama nachdrücklich, daß Emilia keine Handlungsfähigkeit gewonnen hat, die den Rahmen der Familie übersteigt. Wird sie bis dahin als ein Geschöpf gezeigt, das den Herausforderungen des außerfamilialen Bereichs hilflos gegenübersteht, auf diese voller Panik und Unruhe reagiert, so ist sie allerdings im letzten A k t die Inkarnation der überlegenen Ruhe, die selbst den Vater in Erstaunen versetzt (s. L M II, 447; V/7). 4i

Allgemein zur Rollenidentität siehe Ralf Dahrendorf: H o m o Sociologicus. Vgl. auch Hans Peter Dreitzel: D i e gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Z u m Forschungsstand siehe Hans Joas: Die gegenwärtige L a g e der soziologischen Rollentheorie. Z u r Kritik an der Forschung siehe Frigga Haug: Kritik der Rollentheorie.

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S c h o n den Z e i t g e n o s s e n ist dieser Wandel a u f g e f a l l e n u n d unerklärlich geblieben. S o v e r w u n d e r t sich A n t o n v o n K l e i n , daß »das M ä g d c h e n , das s o f r o m m , so andächtig, s o ganz seiner R e l i g i o n ergeben ist«, plötzlich »zur stoischen Heldin« »mit dem G e i s t e einer R ö m e r i n « werde. 4 4 T u t sich hier ein eklatanter Widerspruch zu den in der » H a m b u r g i s c h e n D r a maturgie« d u r c h g ä n g i g erhobenen F o r d e r u n g e n nach der Einheit des Charakters a u f ? Kontinuität, G l e i c h f ö r m i g k e i t u n d Plausibilität sind die v o n L e s s i n g i m m e r wieder herausgestellten B e s t i m m u n g s m e r k m a l e f ü r die dramatische Menschengestaltung: Nichts muß sich in den Charakteren widersprechen; sie müssen immer einförmig, immer sich selbst ähnlich bleiben; sie dürfen sich itzt stärker, itzt schwächer äußern, nach dem die Umstände auf sie wirken; aber keine von diesen Umständen müssen mächtig genug seyn können, sie von schwarz auf weiß zu ändern. 4 ' In L e s s i n g s brieflicher Charakterisierung E m i l i a s ist nun allerdings auch k e i n e s w e g s v o n einem Wandel in ihrem Charakter die R e d e ; f ü r ihn bleibt sie bis zu ihrem E n d e die »gehorsame« u n d » f r o m m e « Tochter, die z w a r zum Schluß a k t i v e r werde, k e i n e s w e g s jedoch eine heroische Statur gewinne: Die jungfräulichen Heroinen und Philosophinnen sind gar nicht nach meinem Geschmacke. [. . .] Ich kenne an einem unverheiratheten Mädchen keine höhere Tugenden, als Frömmigkeit und Gehorsam. [. . .] Am Ende wird denn auch freylich der Charakter der Emilia interessanter, und sie selbst thätiger. 46

44

Anton von Klein: Ueber Lessings Meinung vom heroischen Trauerspiel und über »Emilia Galotti«, Auszug abgedr. in: Horst Steinmetz (Hg.): Lessing ein unpoetischer Dichter, S. 1 1 8 . Reinhart Meyers Versuch in seinem Buch: »Hamburgische Dramaturgie« und »Emilia Galotti«, S. 329fr., durch die Rekonstruktion der zeitlichen Entstehung des Trauerspiels den Bruch in der Charakteristik Emilias plausibel zu machen, indem er auf die Schwierigkeiten Lessings hinweist, einen geeigneten Schluß zu finden, der mit dem schon Fertiggestellten verbindbar sei, ignoriert, daß der Ausgang des Stückes für Lessing über einen Zeitraum von 15 Jahren feststand (siehe dazu Lessings Brief an Nicolai vom 21. Januar 1758; L M X V I I , S. 133). Auf den Schluß hin hat Lessing sein Drama geschrieben, er suchte keinen Schluß für die schon vorliegenden Akte. Daß er durchaus mit dem Schluß zufrieden war, verdeutlicht seine Reaktion auf die ihm vom Bruder mitgeteilten Gerüchte, er habe den Schluß verändert: »Wer Dir gesagt hat, daß ich den Schluß meiner Tragödie geändert, der hat gelogen - Was will man denn, das ich daran ändern soll?« (Brief an Karl Lessing vom 2. Mai 1772; L M X V I I I , S. 40)

41

L M I X , S. 325; siehe auch ebd., S. i88f., 192, 261, j i 6 f . Brief an Karl Lessing vom 10. Februar 1772; L M X V I I I , S. i8f.

46

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Was aber macht ihren Charakter interessanter und wieso wird sie tätiger? Ist etwas passiert, was sich allerdings nur >ahnen< läßt, weil es nur für die Fabel rekonstruierbar ist, jedoch nicht in der Bühnenhandlung sichtbar wird, 47 oder offenbart sich erst am Ende des Dramas ihre verdrängte Leidenschaft für den Prinzen?4® Lessing selbst spricht nur davon, daß Emilias Charakter am Ende interessanter und sie tätiger werde, aber nicht davon, daß sie keine »gehorsame« und »fromme« Tochter mehr sei. Nach dem bisherigen Verlauf des Dramas scheinen sich allerdings »Frömmigkeit« und »Gehorsam« mit »Tätigwerden« nicht verbinden zu lassen. Ist Lessing selbst seiner programmatischen Äußerung untreu geworden, daß ein »Genie [. . .] nur Begebenheiten beschäftigen [können], die in einander gegründet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen«49, und hat die Veränderungen in Emilias Verhalten unmotiviert gelassen? Nur eine genaue Analyse des Schlußaktes kann auf diese Fragen eine Antwort geben. Sie hat insbesondere die Art des Zusammenhangs zwischen Emilias Aktivität, ihrer Ruhe und der Rede von ihrer Verführbarkeit zu bestimmen. Besonders daß sie, die bislang als »fromme« und »gehorsame« Tochter dem auf sie eindringenden Geschehen bloß angstvoll abwehrend gegenüberstand, nach der Ermordung ihres Bräutigams in der »Verführung [. . .] die wahre Gewalt« sieht und dabei auf ihr »jugendliches, so warmes Blut« (LM II, 448f., V/7) verweist, hat entweder abolutes Unverständnis oder kühne Spekulationen provoziert. In seinen »Briefen über >Emilia Galotti«< artikuliert Johann Jakob Engel seine nachhaltige Irritation: Denn sagen Sie selbst, mein Freund, wie kann sich Emilie, in ihrer jetzigen Lage, vor Verführung fürchten? und vor Verführung vom Prinzen? Sie weiß, wie sie selbst gesteht, warum Appiani tot ist, dieser ihr teurer, geliebter Appiani, dessen Tod ihr, wo sie nicht das nichtswürdigste Mädchen ist, an die innerste Seele gehen muß; sie sieht gleichsam sein Blut noch an den Händen des Prinzen kleben: und wäre nun dieser Prinz ein Adonis, wäre er der liebenswürdigste aller Sterblichen, so müßte er ihr doch um dieses Blutes willen, in diesem ersten Augenblicke der empörten Leidenschaft, das gräßlichste, verabscheuungswürdigste Ungeheuer dünken, das je die Erde getragen. Dazu kömmt noch, daß sie den ganzen Plan durchsieht, den er gegen ihre Tugend gemacht, diesen ehrlosen, schändlichen Plan: und wie sehr muß nicht das, bei einem so frommen, so ehrliebenden, für ihre Seele so besorgten Mädchen, den vorigen Abscheu noch verstärken! Immer mag ihre Religion ihr sagen, daß bei 47

48 49

So der eine Typ der von Reinhart Meyer: »Hamburgische Dramaturgie« und »Emilia Galotti«, S. 343fr., beschriebenen Versuche zur Plausibilisierung des vermeintlichen Bruches im Charakter Emilias. So der andere Typ der von Meyer, ebd., beschriebenen Versuche. L M IX, S. 308.

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der Verderbnis des menschlichen Herzens kein Verbrechen unmöglich sei: in der jetzigen Verfassung kann ihre Seele auf keinen Gedanken achten, keinen Gedanken annehmen, als der ihrem äußersten Abscheue gegen den Prinzen gemäß ist, ihn verstärkt, ihn bestätigt. Wenn sie sich also nicht vor Gewalt fürchtet, vor ebender Gewalt, die ebenjene Heiligen vermeiden wollten, da sie sich in die Fluten stürzten; vor was sonst kann sie sich fürchten? Davor nimmermehr, daß je der Prinz ihr gefallen, daß je ihr Blut für ihn wallen, daß je ihre Sinne an ihm Gefallen finden sollten; oder ich gestehe gern, daß ich keinen Begriff von dem habe, was ein menschliches Herz ist.' 0 Abgebaut wird die durch Emilias Selbstcharakterisierung hervorgerufene Irritation, wenn man eine heimliche Liebe Emilias zum Prinzen unterstellt. In Goethes bekanntem Diktum v o n der »Gans« oder dem »Luderchen« triumphiert bis in aktuelle Theateraufführungen hinein diese, der Handlung mehr zugedachte, als durch sie bestätigte Vermutung. S I Eine andere Möglichkeit, auf spekulativem Weg das Befremdliche der Rede Emilias von ihrer Verführbarkeit zu eliminieren, haben Hermann J . Weigand' 2 und Harry Steinhauer" ergriffen, indem sie postulierten, Emilia habe ihre Selbstcharakterisierung bloß taktisch eingesetzt, um den Vater zur Tat anzustacheln. Wenn aber Emilias Verhalten dem Prinzen gegenüber keineswegs von ihrer heimlichen Liebe zu ihm zeugt, sondern 50

Johann Jakob Engel: Briefe über »Emilia Galotti«, Auszug abgedr. in: Horst Steinmetz (Hg.): Lessing - ein unpoetischer Dichter, S. i o ; f . Ähnlich äußert sich auch Matthias Claudius: »Eines kann ich mir in diesem Augenblick nicht recht auflösen, wie nämlich die Emilia [. . .] sozusagen bei der Leiche ihres Appiani an die Verführung eines andern und dabei an ihr warmes Blut denken konnte. Mich dünkt, ich hätte in ihrer Stelle halb nacket durch ein Heer der wollüstigen Teufel gehen wollen, und keiner hätte es wagen sollen, mich anzurühren.« Matthias Claudius: Über »Emilia Galotti«, Auszug abgedr. in: Horst Steinmetz (Hg.): Lessing - ein unpoetischer Dichter, S. 89. 51 Goethe, aus: Friedrich Wilhelm Riemer: Mittheilungen über Goethe, abgedr. in: Horst Steinmetz (Hg.): Lessing - ein unpoetischer Dichter, S. 2 3of. : »Das proton pseudos in diesem Stück sei, daß es nirgends ausgesprochen ist, daß das Mädchen den Prinzen liebe, sondern nur subintelligiert wird. Wenn jenes wäre, so wüßte man, warum der Vater das Mädchen umbringt. Die Liebe ist zwar angedeutet, erstlich in der Art, wie sie den Prinzen anhört, wie sie nachher ins Zimmer stürzt: denn wenn sie ihn nicht liebte, so hätte sie ihn ablaufen lassen; zuletzt sogar ausgesprochen, aber ungeschickt, in ihrer Furcht vor des Kanzlers Hause: denn entweder sei sie eine Gans, sich davor zu fürchten, oder ein Luderchen. So aber, wenn sie ihn liebe, müsse sie sogar zuletzt lieber fordern zu sterben, um jenes Haus zu vermeiden.« Z u aktuellen Inszenierungen durch Fritz Kortner und Peter Palitzsch, die die Liebe zwischen Emilia und dem Prinzen herausstellen, siehe Wilfried Barner u. a.: Lessing. Epoche - Werk - Wirkung, S. 3 3 zf. 52 Herrmann J . Weigand: Warum stirbt Emilia Galotti?, S. 480. " Harry Steinhauer: Die Schuld der Emilia Galotti, S. 57. 202

nur Ausdruck der Angst vor dem Tabuierten ist, dann hätte sie doch gar keinen Grund, ihren Tod herbeizuwünschen. Deshalb ist aus Emilias Beteuerung, sie sei verführbar, weder auf ihre heimliche Liebe zum Prinzen zu schließen noch darauf, daß ihre Selbstcharakterisierung keinen Wahrheitsgehalt habe. Wenn aber diese Deutungsmöglichkeiten ausfallen, bleibt dann nicht nur die Konsequenz, die Fred Otto Nolte 14 gezogen hat, nämlich daß Lessing unter dem Zwang seiner Vorlage gestanden habe, aufgrund der Eliminierung ihres politischen Stützpfeilers jedoch genötigt worden sei, stattdessen einen psychischen in das dramatische Gebäude einzufügen, wodurch dann die Unplausibilität des Schlusses entstanden sei? Diese Frage weist auf die oben gestellte Aufgabe einer genaueren Analyse des Dramenendes zurück, die zeigen soll, ob und wie Handlung und Charakter zusammenhängen. Einzubeziehen sind dabei die von Lessing selbst nahegelegten Überlegungen, ob dieser Zusammenhang ein Schuldzusammenhang ist. Besonders in seiner Auseinandersetzung mit Christian Felix Weißes »Richard III.«" und in seiner Kritik an Corneilles Überlegungen zu Aristoteles' Begriff der »hamartia«' 6 hat Lessing entschieden betont, daß das Leid einer Person mit einem ihr zurechenbaren Fehler zu vermitteln sei. Wie so oft, ist auch hier Aristoteles sein Kronzeuge, dessen Ausführungen er jedoch ins Weltanschaulich-Religiöse wendet: Der Gedanke ist an und für sich selbst gräßlich, daß es Menschen geben kann, die ohne alle ihr Verschulden unglücklich sind. Die Heiden hätten diesen gräßlichen Gedanken so weit von sich zu entfernen gesucht, als möglich: und wir wollten ihn nähren? wir wollten uns an Schauspielen vergnügen, die ihn bestätigen? wir? die Religion und Vernunft überzeuget haben sollte, daß er eben so unrichtig als gotteslästerlich ist?' 7

Ist Emilias Sinnlichkeit, mit der sie ihre Verführbarkeit begründet, ihr Verschulden, das sie unglücklich macht? Und wie verhält es sich mit der persönlichen Zurechenbarkeit? Auch dies sind Fragen, die nur im Durchgang durch die genaue Analyse des Dramenendes zu beantworten sind. Im siebten Auftritt des fünften Aktes trifft Emilia ihren Vater genau in dem Moment an, als er sie ihrem Schicksal überlassen und sich heimlich aus dem Lustschloß entfernen will. Dies ist keineswegs sein spontaner Entschluß; ihm gehen drei Monologe Odoardos voraus, die nach einem 14

Fred Otto Nolte: Lessings »Emilia Galotti«, bes. S. 242. " Siehe L M X , S. 1 1 8 - 1 2 2 . 56 Siehe ebd., S. 1 3 1 - 1 3 5 . 57 Ebd., S. 134. 203

festen Schema jeweils zu dem selben Resultat führen: jedes aktive Eingreifen in den Geschehensablauf ist zu vermeiden. Seine M o n o l o g k e t t e beginnt, nachdem Orsina ihn mit einer gezielten Redestrategie affektuös zur E r m o r d u n g des Prinzen aufgestachelt hat.' 8 O d o a r d o s Selbsträsonnement i m ersten M o n o l o g (s. L M I I , 439f.; V/2) neutralisiert jedoch diesen Handlungsimpuls, indem er die Tugend mit dem Erleiden und das Laster mit dem Handeln koppelt. Nach seiner handlungsdispensierenden Frage: »Was hat die gekränkte Tugend mit der Rache des Lasters zu schaffen?« ( L M I I , 440; V/2), kompensiert er seine Passivität durch eine Bestrafungsphantasie, in der das schlechte Gewissen

den Prinzen quält. U n f ä h i g zur A k t i o n , entwirft er eine

Phantasiewelt, in der er befehlen kann, was der Traum dem Prinzen antun soll. ODOARDO: Wenn nun bald ihn Sättigung und Eckel von Lüsten treiben; so vergälle die Erinnerung, diese eine Lust nicht gebüßet zu haben, ihm den Genuß aller! In jedem Traume führe der blutige Bräutigam ihm die Braut vor das Bette; und wann er dennoch den wollüstigen Arm nach ihr ausstreckt: so höre er plötzlich das Hohngelächter der Hölle, und erwache! (LM II, 440; V/2) D e r zweite M o n o l o g , der von der A n k ü n d i g u n g Marineiiis, die Tochter müsse nach Guastalla gebracht werden, ausgelöst w i r d , erweist O d o a r d o zunehmend als handlungsohnmächtigen Untertan. Hatte er sich im ersten M o n o l o g noch in der Irrealität des Tagtraumes eine Handlungsvollmacht ausgestellt, so ist er jetzt sogar prinzipiell bereit, sich dem Spruch des Prinzen zu unterwerfen. Z w a r unterliegt er auch in diesem Selbstgespräch zunächst einem affektbestimmten Handlungsimpuls, aber wiederum gelingt es seinem Verstand, diesen niederzukämpfen.

Seinem

nicht v o m Verstand kontrollierten Z o r n schreibt er es zu, daß er zunächst die absolutistische Staatsordnung f ü r sich suspendierte, indem er die Macht des über den Gesetzen stehenden Souveräns gleichsetzte mit der Macht desjenigen, der das Gesetz mißachtet, und daraufhin dem Prinzen den K a m p f ansagte: Mit dir will ich es wohl aufnehmen. Wer kein Gesetz achtet, ist eben so mächtig, als wer kein Gesetz hat. Das weißt du nicht? Komm an! komm an! Aber, sieh da! Schon wieder; schon wieder rennet der Zorn mit dem Verstände davon. (LM II, 441; V/4) A u c h diesmal holt der Verstand den Z o r n wieder ein und veranlaßt O d o a r d o , sich der Allmacht des Souveräns zu unterwerfen. Seine v o m ,8

Zur Analyse dieser Redestrategie siehe Jürgen Schröder: Gotthold Ephraim Lessing, S. 191-198.

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Zorn diktierte In-Frage-Stellung des Rechtsverhältnisses zwischen Fürst und Untertan weicht einer Willfährigkeit, die den Rechtsspruch Hettores abwarten will, einzig darauf bedacht, die passende Antwort zu finden. Die Haltung, die Odoardo einnimmt, als der Prinz ihm gegenübertritt, ratifiziert nur noch seine vorweg schon vollzogene Unterwerfung. 59 Er reagiert nicht als einer, der mit dem Mörder seines innig geliebten Schwiegersohnes konfrontiert wird, sondern als Untertan, wenn er auf die leutselige Begrüßung Hettore Gonzagas hin ihn mit »gnädiger Herr« anredet und »Selbst itzt [. . .] um Verzeihung« (LM II, 442; V/5) bittet. Noch in seinem höhnisch-triumphierenden »Nun, mein Herr?« (LM II, 443; V/5), mit dem er gegenüber Marinelli zum Ausdruck bringt, daß dieser mit seiner Vermutung nicht rechtbehalten habe, der Prinz werde Emilia nach Guastalla bringen lassen, artikuliert sich bloß die Genugtuung eines Untertans, dem der Fürst die Verfügungsgewalt über die eigene Tochter belassen hat. Doch Odoardos Gefühl der Genugtuung ist nur von kurzer Dauer. Denn die auf das Interesse des Prinzen, Emilia von ihrer Familie abzusondern, gerichtete intrigante Redeführung Marineiiis, in die Hettore Gonzaga sogleich einstimmt, verschafft dem Begehren des Herrschers eine juristische Scheinlegitimation. Emilia soll zum Zwecke des Verhörs in »besondere Verwahrung« (LM II, 445; V/5) genommen werden. Erst diese Provokation seines patriarchalischen Selbstverständnisses läßt Odoardo voller Empörung zum Dolch greifen, um den Prinzen umzubringen. Doch sein spontaner Handlungsimpuls wird durch die herrschaftlich-leutselige Beschwichtigung Hettores sofort paralysiert, der wie ein Vater, der sein Kind beruhigen will, auf Odoardo zugeht. DER PRINZ: (schmeichelhaft auf ihn zutretend) Fassen Sie sich, lieber Galotti ( L M 1 1 , 4 4 5 ; V/5)

Und Odoardo läßt sich die Rolle des aufbrausenden Kindes zuschreiben und beruhigt sich. ODOARDO: {bey Seile, indem er die Hand leer wieder heraus %ieht) Das sprach sein Engel! ( L M II, 445; V/5)

"

Diese Unfähigkeit, im U m g a n g mit höhergestellten Personen verhaltenssicher aufzutreten, hat G a r v e für das Bürgertum insgesamt konstatiert und es als das »bürgerliche Air« bezeichnet: »Die Verlegenheit, im U m g a n g mit Höhern, ist das Charakteristische bürgerlicher Sitten.« Christian Garve: Ueber die Maxime Rochefoucaults: das bürgerliche A i r verliehrt sich zuweilen bey der Armee, niehmals am H o f e , S. [641].

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Doch war es nicht sein Engel, der da sprach, sondern der Prinz, der als Herrscher väterlich auf einen Vater zugeht, der seinerseits weiß, daß man als Untertan Gehorsam schuldig ist. Der Mörder seines Schwiegersohnes redet Odoardo begütigend zu, er solle die Maßnahme, die das Ganze auf die Spitze treibt, gelassen hinnehmen, und der »liebe Galotti« reagiert wie ein braves K i n d und fügt sich. E r verhält sich damit ganz anders als seine von ihm als »eitel« und »thöricht« (s. L M II, 398; II/4) getadelte Frau, die sich keineswegs im untertänigen Gehorsam auflöst, sondern wie eine »Löwinn, der man die J u n g e n geraubet« ( L M II, 421; II/8) agiert. Sie schleudert Marinelli »alle meine Galle, allen meinen Geifer mit einem einzigen Worte ins Gesicht« ( L M II, 4 2 1 ; III/8) und zerreißt das Lügengespinst, indem sie den Prinzen als Ursache des »Bubenstück [s]« brandmarkt und ihn einen »Mörder« ( L M II, 4 2 1 ; III/8) nennt. Claudias Mut kommt allerdings nicht von ungefähr, denn sie glaubt, des Rückhalts durch Odoardo sicher sein zu können. Sein Auftreten begrüßt sie in eben dieser Sicherheit: »Ah, unser Beschützer, unser Retter! Bist du da, Odoardo? Bist du da?« ( L M II, 437; IV/8) Claudias Sicherheit erweist sich jedoch als illusionär. N u r in den Anweisungen an seine Frau zeigt sich Odoardo als ein patriarchalisch verfügender Vater, während er in der außerfamilialen Sphäre des Hofes handlungsohnmächtig ist. Nicht ein einziges Wort setzt er der von Marinelli und dem Prinzen inszenierten Intrige entgegen. N u r gleichsam verstohlen in sich gekehrt schlägt er einen »höhnischfen]« und »bitterfen]« Tonfall an, bis er »in tiefe Gedanken« versinkt, um sich schließlich selbst einzugestehen: »Ich lasse mir ja alles gefallen; ich finde ja alles ganz vortrefflich.« ( L M II, 443-446; V/5) Erst als der Prinz Odoardos nach außen hin gebrochene väterliche Autorität auch im innerfamilialen Bezug zu seiner Tochter ignoriert, indem er ihn anweist, zu Emilia zu gehen, begehrt Odoardo auf: O , die Tochter kann auch wohl zu dem Vater kommen. Hier, unter vier A u g e n , bin ich gleich mit ihr fertig. Senden Sie mir sie nur, gnädiger Herr. ( L M II, 446; V / ; )

Während Odoardo - alleingelassen im Saal des Lustschlosses - auf die A n k u n f t Emilias wartet, verfällt er in resignativen Sarkasmus. Fast will es scheinen, als ob er tatsächlich gemäß der Rede Orsinas, daß derjenige, der »über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, [. . .] keinen zu verlieren [hat]« ( L M II, 434; IV/7), seinen Verstand verliert. Doch genau wie in seinen beiden vorangegangenen Monologen setzt auch diesmal an der Schwelle des Übergangs v o m Handlungsimpuls zur Handlung der 206

Verstand als Kontrollinstanz ein und blockiert sein aktives Eingreifen in das Geschehen. 6 0 A n die Stelle der Bestrafungs- und Machtphantasien tritt jetzt eine Rettungsphantasie, durch die sich O d o a r d o v o n seiner väterlichen Pflicht suspendiert, die Tochter zu beschützen. Seine eigene Ohnmacht ersetzt er durch die Allmacht G o t t e s , dem er die Rettungstat zuweist, während er selbst fliehen will. ODOARDO: Fort, fort! Ich will sie nicht erwarten. Nein! - (gegen den Himmel) Wer sie unschuldig in diesen Abgrund gestürzt hat, der ziehe sie wieder heraus. Was braucht er meine Hand dazu? Fort! (LM II, 446Í.; V/6) In diesem M o m e n t tritt Emilia auf. Sie weiß nichts v o n der Absicht ihres Vaters, sich heimlich davonzumachen und ihr Schicksal G o t t zu überlassen. Sie registriert nur seine Unruhe, die in einem auffälligen Kontrast zu ihrer R u h e steht. Sie kennt den gesamten Hintergrund des arrangierten Überfalls, und ihr Wille ist einzig darauf gerichtet, mit dem Vater aus dem Machtbereich des Prinzen zu fliehen. »Lassen Sie uns fliehen, mein Vater!« ( L M I I , 447; V/7), fordert sie ihn inständig auf. D o c h der Vater wehrt ab mit einem A r g u m e n t , das mehr Ausdruck der U n t e r w e r f u n g unter die Obrigkeit ist als Hinweis auf die tatsächliche A u s w e g l o s i g keit 6 ' der Situation: Fliehen? - Was hätt' es dann für Noth? - Du bist, du bleibst in den Händen deines Räubers. (LM II, 447; V/7) Was der Zuschauer schon weiß, und was sich Emilia höchstens in der Unruhe des Vaters angedeutet hat, wird f ü r sie in diesem Moment zur unabweisbaren E r f a h r u n g . O d o a r d o ist handlungsunfähig und erfüllt nicht die ihm als Vater obliegende A u f g a b e , sie zu beschützen. D e r A u f lösung seiner Familie setzt er nichts entgegen, sondern nimmt es als unabwendbar hin, daß Emilia v o n ihren Eltern getrennt und der Macht des Prinzen unterstellt werden soll. 6 ' Damit aber löst sich O d o a r d o als Garant der Einheit seiner Familie auf. G a n z folgerichtig stellt E m i l i a daraufhin nachdrücklich seine Rolle als Vater in Frage: 60

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62

Ganz anders interpretiert Kommereil die Funktion des Verstandes, wenn er Odoardos tragischen Fehler darin sieht, daß dieser »sich seine Besonnenheit in jeder schwierigen Lage verdunkeln läßt.« Max Kommerell: Lessing und Aristoteles, S. I28f. Angelo macht deutlich, daß durchaus eine Möglichkeit besteht, aus dem Machtbereich des Prinzen zu fliehen, da die Grenze in wenigen Stunden zu erreichen ist. Gegen Mittag fand der Überfall statt, und er will noch am gleichen Tag über die Grenze. (Siehe L M II, 413; III/2) Rose Götte: Die Tochter im Familiendrama des achtzehnten Jahrhunderts, S. i28fF., weist darauf hin, daß in vielen »Familiendramen« die Verführung der Tochter mit ihrer vorherigen Abtrennung von der sie schützenden und bewahrenden Familie einhergeht. 207

Ich allein in seinen Händen? — Nimmermehr, mein Vater. - Oder Sie sind nicht mein Vater. ( L M II, 448; V/7)

Bislang war Emilia immer die »fromme« und »gehorsame« Tochter, doch plötzlich muß sie erfahren, daß die Vaterrolle sich nicht komplementär zu ihrer Tochterrolle verhält. Denn ihrer Frömmigkeit und ihrem Gehorsam korrespondiert nicht die Macht eines Vaters, sie vor den Übergriffen einer von ihm als lasterhaft deklarierten >Welt< zu schützen. Aus dieser Erfahrung heraus artikuliert sie sich geradezu gegen den Vater als eine Person, die dessen Willfahrigkeit für sich nicht zu akzeptieren bereit ist, wenn sie fortfahrt: Gut, lassen Sie mich nur; lassen Sie mich nur. - Ich will doch sehn, wer mich hält, - wer mich zwingt, - wer der Mensch ist, der einen Menschen zwingen kann. (LM II, 448; V/7)

Bezeichnet Emilia zunächst im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung um ihr familiales Rollenverständnis die väterliche Ineinssetzung von Ruhe und Passivität mit einer rhetorischen Frage als unannehmbar für sich, so stuft sie danach das von Odoardo als Faktizität akzeptierte Geschehen in den Rang einer bloßen Möglichkeit zurück, dem Widerstand zu leisten sei. ODOARDO: [. . .] Denke nur: unter dem Vorwande einer gerichtlichen Untersuchung, o des höllischen Gauckelspieles! - reißt er dich aus unsern Armen, und bringt dich zur Grimaldi. EMILIA: Reißt mich? bringt mich? - Will mich reißen; will mich bringen: will! will! - Als ob wir, wir keinen Willen hätten, mein Vater! (LM II, 448; V/7)

Der an den Vater gebundene Familienwille, der diesem die Handlungskompetenz und ihr die Befolgung der Handlungsanweisung zuschreibt, ist für Emilia zerbrochen. Um ihn zu restituieren, verkehrt sie das Verhältnis zwischen Vater und Tochter in sein Gegenteil, wenn sie ihren Willen im suggestiven »als ob wir, wir keinen Willen hätten, mein Vater« auch zu dem seinen machen will. Im verdoppelten »wir« beschwört sie eine Gemeinsamkeit, in die sie den Vater hineinzwingen will durch die von ihm zu widerlegende hypothetische Frage. Emilias geradezu emphatisches Bemühen, den Vater wieder in die von ihm preisgegebene Rolle des handlungsmächtigen Familienoberhaupts zu zwingen, verweist darauf, daß ihre komplementär dazu bestimmte Rollenidentität als Tochter dadurch zutiefst erschüttert ist, daß der Vater sich als willfähriger Untertan erweist. Diese Erschütterung bewirkt aber nicht, daß Emilia sich als von ihrem Tochterdasein unabhängiges Selbst erfahrt, das aus einem autonomen Zentrum heraus eigenbestimmt handeln könnte, sondern sie erfährt sich - ohne den väterlichen Schutz, der 208

ihre Tugend im Familienverband sichert - gleichsam widerstandslos allen Einflüssen der außerfamilialen >Welt< ausgesetzt. In der Rede von ihrer Verführbarkeit artikuliert sie diese Erfahrung einer Tochter, die von der Familie als der Lebensform, die - nach zeitgenössischem Verständnis - 6> Sinnlichkeit in eheliche Liebe wandelt, abgetrennt wird. EMILIA: Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne, sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut. (LM II, 4 4 8f.; V/ 7 )

Als Tochter besaß Emilia im umfriedeten, von der >großen Welt< abgegrenzten Bereich der Familie die Sicherheit eines Erlebens und Handelns, die vom Vater garantiert wurde. Mit seiner Selbstsuspendierung, durch die sich die von ihm markierte Grenzscheide zwischen der tugendhaften Familie und der von ihm als lasterhaft deklarierten >Welt< auflöst, verliert Emilia diese Sicherheit. Sie verliert die subjektive Gewißheit, sie selbst könne ihre Sinnlichkeit unter Kontrolle halten. Doch nicht ihre Sinnlichkeit selbst erzeugt diese Ungewißheit; sie ist der bloße Reflex einer Erziehung, die in dem Verlangen, sogar den kürzesten Weg nicht unkontrolliert zu lassen, ihr beständig ihre eigene Unfähigkeit unterstellte, der >Welt< zu widerstehen. Denn im Akt der Kontrolle wurde Emilia ja nicht nur das Verbot mitgeteilt, sondern es wurde ihr zugleich auch Verführbarkeit zugeschrieben, 64 die das Verbot erst motivierte. So geht von der Abschirmung vor der >Welt< eine doppelte Botschaft an sie aus: die eine, die besagt: hüte dich vor der >WeltWeltWelt< ausgeliefert. Die in der »Hamburgischen Dramaturgie« erhobene programmatische Forderung nach Kontinuität, Gleichförmigkeit und Plausibilität des dramatischen Charakters löst Lessing damit in seinem Drama - entgegen aller anderslautender Kritik durchaus ein, indem er an Emilia zeigt, »daß dieser Charakter, in dieser Situation, bey dieser Leidenschaft, nicht anders als so habe urtheilen können.« 6 ' Denn Emilias Rede von ihrer Verführbarkeit markiert ja ge6

' Siehe dazu S. 127 dieser Arbeit. Daß Odoardo Emilia für verführbar hält, offenbart besonders deutlich sein letzter Monolog, in dem er vermutet, Emilia könne sich mit dem Prinzen verstehen, und es wäre folglich »das alltäglich Possenspiel« (LM II, 446; V/6). 61 L M I X , S. 192. 64

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nau die von ihrer Erziehung produzierte Angst, außerhalb der Familie nicht der >Welt< standhalten zu können. Ihre Reaktion auf die Erlebnisse im Haus der Grimaldi interpretiert sie für sich selbst als Indiz hierfür. EMILIA: Ich kenne das Haus der Grimaldi. Es ist das Haus der Freude. Eine Stunde da, unter den Augen meiner Mutter; - und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Uebungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten! - Der Religion! Und welcher Religion? (LM II, 449; V/ 7 )

Von der Begegnung mit dem Prinzen und ihren Gefühlen ihm gegenüber spricht Emilia nicht. Zu schließen ist nur, daß der äußere Glanz, die festliche Stimmung, die aufwendige Garderobe und die »Sprache der Galanterie« (LM II, 402; II/6) den Tumult ihrer Seele verursacht haben. Denn für Emilia war dies alles ganz ungewohnt; sie kannte nur die schlichte >Natürlichkeit< von Kleidern »fliegend und frey« und von Haar »in seinem eignen braunen Glänze; in Locken, wie sie die Natur schlug« (LM II, 404; II/7). Ihre geplante Hochzeitsfeier in der Abgeschiedenheit des Landgutes im Kreis weniger Freunde könnte in keinem größeren Kontrast zur vegghia im Haus der Grimaldi stehen. Dieses »Haus der Freude«66, entzieht sich den von Emilia in ihrer familialen Sozialisation erworbenen Mustern der Erlebnisverarbeitung. Einzig die Religion steht ihr zur Verfügung - allerdings nicht als Instrument produktiver Bewältigung der zur familialen Lebenswelt konträr stehenden Erlebnisse, sondern als Abwehrinstrument, mit dessen Hilfe sie in wochenlangen »strengsten Uebungen« diese Erlebnisse abweist. Erst diese genauere Analyse der Situation, in der Emilia ihre Verführbarkeit ausspricht, gibt Aufschluß über die durchgängige Plausibilität ihres Charakters und führt zur Erkenntnis, daß schon die Frage nach Gründen eines scheinbar vorliegenden Bruches falsch gestellt ist. Denn es ist ja keine Antwort auf die Frage zu suchen, warum die bis zum vierten Akt »fromme« und »gehorsame« Tochter plötzlich zur sinnlichen Frau wird, sondern warum Emilia von sich selbst glaubt, in einer Situation, in der der Vater nicht mehr Garant der familialen Ordnung ihrer Lebenswelt ist, verführbar zu sein.

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Alois Wierlacher: Das Haus der Freude, S. 148, hat nachdrücklich daraufhingewiesen, daß Emilia mit den Worten des >Predigers< des Alten Testaments (Ecclesiastes 7, 3-4) mit dem »Haus der Freude« das »Haus der Lebensfreude, der Lebenszugewandtheit, des Lebensgenusses« meint. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts werde mit dem Ausdruck auch ein Bordell bezeichnet.

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Die Antwort auf diese Frage wurde gefunden in der Analyse der familialen Erziehungssphäre der Galottis. In der Abwehr der familienexternen >Welt< produziert die Erziehung in Emilia eine Angst, der >Welt< als dem >Anderen< der Familie nicht außerhalb des familialen Schutzraums widerstehen zu können. 67 In ihrer Angst befolgt sie dabei nur die ihrer Erziehung zugrunde liegende Botschaft, allein die geschützte Sphäre der Familie garantiere eine tugendhafte Lebensweise. Wenn ihr nun beständig signalisiert wurde, Tugend und Familie seien eins, dann reagiert sie ganz konsequent, wenn sie annimmt, daß sie zugleich von der Tugend abgetrennt werde, wenn sie von der Familie abgetrennt wird. Dies läßt sich ihr zwar als Fehler zurechnen - und insoweit findet sich hier die von Lessing aufgegriffene Bestimmung der Aristotelischen »hamartia« wieder - ; aber es ist kein von Emilia subjektiv zu verantwortender Fehler, sondern ein in der Struktur der Erziehungssphäre gründender objektiver Fehler. Nun mag dagegen der Einwand erhoben werden, Lessing betone so nachdrücklich die Dominanz des Charakters über die Umstände, daß es nicht angehe, jenen auf diese zurückzuführen. In der »Hamburgischen Dramaturgie« heißt es nämlich, daß die Charaktere dem Dichter weit heiliger seyn müssen, als die Facta. Einmal, weil, wenn jene genau beobachtet werden, diese, insofern sie eine F o l g e von jenen sind, v o n selbst nicht viel anders ausfallen können; da hingegen einerley Factum sich aus ganz verschiednen Charakteren herleiten läßt. Zweytens, weil das Lehrreiche nicht in den bloßen Factis, sondern in der Erkenntniß bestehet, daß diese Charaktere unter diesen Umständen solche Facta hervor zu bringen pflegen, und hervor bringen müssen. 68

Doch wenn auch Lessing die »Facta« zu einer abhängigen Größe des Charakters macht, so wird dies von ihm primär als dramaturgisches Problem erörtert, inwieweit der Dichter der historischen Wahrheit verpflichtet sei. Das heißt aber nicht, daß Lessing von der aufklärerischen Grund67

Lessing hat auch explizit auf den Zusammenhang zwischen Verführbarkeit und Abschirmung von der Welt hingewiesen, wenn er anläßlich der A u f f ü h rung des Stückes »Die Mütterschule« v o n Nivelle de la Chaussée auf das gleichnamige Stück v o n Marivaux zu sprechen kommt. Dieser präsentiere »die Geschichte einer Mutter, die ihre Tochter, um ein recht gutes gehorsames K i n d an ihr zu haben, in aller Einfalt erziehet, ohne alle Welt und E r f a h r u n g läßt: und wie geht es damit? Wie man leicht errathen kann. D a s liebe Mädchen hat ein empfindliches Herz; sie weiß keiner G e f a h r auszuweichen, weil sie keine G e f a h r kennet; sie verliebt sich in den ersten in den besten, ohne M a m ma darum zu fragen, und Mamma mag dem Himmel danken, daß es noch so gut abläuft«. ( L M I X , S. 269)

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L M I X , S. 323; siehe auch ebd., S. z8of. 211

Überzeugung abweicht, der Charakter sei Produkt der Erziehung. Noch in der »Erziehung des Menschengeschlechts«, in der er Phylogenese und Ontogenese des Menschen zusammenführt, betont schon der erste Paragraph ganz nachdrücklich die zentrale Rolle der Erziehung. »Was die Erziehung bey dem einzeln Menschen ist, ist die Offenbarung bey dem ganzen Menschengeschlechte.«6' Und ein Gespräch mit Johann Heinrich Friedrich Müller dokumentiert Lessings Übereinstimmung mit der aufklärerischen Prämisse vom Menschen als einem Produkt seiner Erziehung auf besonders deutliche Weise: Durch Jahrtausende hat es die Erfahrung bewiesen, daß die erste Grundlage der Erziehung den Charakter des Menschen für die Zukunft bestimme. Diese Eindrücke sind unvertilgbar, und ihr Einfluß wirkt durch das ganze Leben. Alle Empfindungen, Leidenschaften, Neigungen und Fähigkeiten müssen in ihrem ersten Keime geleitet werden, w o das weiche unbegangene Herz noch jeder Biegung gehorcht. 70

Nicht nur aus dem Drama heraus, sondern auch vor dem Hintergrund der Teilhabe Lessings am Grundgedanken der Aufklärung, der Mensch sei Produkt der Erziehung, den noch der Tempelherr im »Nathan« in seinem großen Monolog über die Legitimationsbasis der »wahren« Vaterschaft mit Nachdruck bekräftigt,7' erscheint es gerechtfertigt, Emilias Rede von ihrer Verführbarkeit aus den Bedingungen ihrer Erziehung vom Tatbestand der aufgelösten Familie her zu deuten. Erst wenn man dies tut, dann gewinnt auch die Art ihres Todes ein hohes Maß an Folgerichtigkeit. Das vermeintlich Heroische ihres Todes ist nämlich dann nicht als Ergebnis ihres plötzlichen Wandels zur »stoischen Heldin« »mit dem Geiste einer Römerin«7* zu verstehen, sondern als die ihr ein69 70

71 72

L M X I I I , S. 416. Zitiert nach Richard Daunicht (Hg.): Lessing im Gespräch, S. 413. Daß die Umstände Einfluß auf den Charakter haben, betont Lessing auch, wenn er sich in seiner Auseinandersetzung mit Diderot auf den Charakter Dorvals bezieht. E r sei als Resultat eines besonderen Lebensganges anzusehen, da »der Umstand der unehelichen Geburt, und der daraus erfolgten Verlassenheit und Absonderung, in welcher sich Dorval von allen Menschen so viele Jahre hindurch sähe, ein viel zu eigenthümlicher und besonderer Umstand ist, glcichwohl auf die Bildung seines Charakters viel zu viel Einfluß gehabt hat, als daß dieser diejenige Allgemeinheit haben könne, welche nach der eigenen Lehre des Diderot ein komischer Charakter nothwendig haben muß.« (LM X ,

S. 153) Siehe dazu S. 246 dieser Arbeit. Anton von Klein: Ueber Lessings Meinung vom heroischen Trauerspiel und über »Emilia Galotti«, Auszug abgedr. in: Horst Steinmetz (Hg.): Lessing ein unpoetischer Dichter, S. 1 1 8 . Ähnlich neuerdings auch Roy C. Cowen: On the Dictates of Logic in Lessing's »Emilia Galotti«, S. 15 : »Thus Emilia's character is by no means heroic, for heroism implies, in the moral sphere, conquest of self.«

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zig verbliebene integre Handlungsmöglichkeit in einer f ü r sie ausweglosen Lage: Emilia glaubt, nur als behütete Tochter tugendhaft sein zu können, und andererseits weiß sie, daß ihr Vater nicht mehr Garant des familialen Schutzraums ist. Daß nun ihr Tod die Möglichkeit eines wirklichen Handelns ist und nicht nur eine Flucht angesichts einer für Emilia ausweglosen Situation, zeigt sich in ihrem Bemühen, in der Art ihres Todes das Unvereinbare doch noch zu vereinen. Nicht von ungefähr spielt sie dabei auf die Virginia-Sage an, um ihren Vater dazu aufzufordern, sie zu töten. (in einem bittern Tone, mährend daß sie die Rose zerpflückt) Ehedem wohl gab es einen Vater, der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten den besten Stahl in das Herz senkte - ihr zum zweyten das Leben gab. Aber alle solche Thaten sind von ehedem! Solcher Väter giebt es keinen mehr! (LM II, 449; V/7)

EMILIA:

Bezeichnend ist, wie Emilia in ihrer Anspielung auf charakteristische Weise die von Livius überlieferte Geschichte umdeutet und überdehnt. Denn dem römischen Vater geht es ja nicht darum, seine Tochter v o r der Schande zu bewahren, sondern vor der konkreten Unfreiheit. Sie soll Sklavin des Appius Claudius werden und damit ihren politisch-rechtlichen Status als Freie verlieren. Dieses Moment tritt für Emilia und Odoardo völlig in den Hintergrund. So wäre ihm sogar das höchste Maß an Unfreiheit, ihre Verwahrung »in dem tiefsten Kerker« ( L M II, 445; V/5), gerade recht. Deutlich ist damit die Akzentverlagerung markiert. In der Transformation der Sphäre einer Öffentlichkeit, der die Tötung der Tochter zu einem Fanal wird, den despotischen Übergriff auf die überkommenen republikanischen Freiheitsrechte abzuschütteln, in die Privatsphäre eines innerfamilialen Disputs zwischen Vater und Tochter manifestiert sich nicht nur die veränderte politische Realität eines absolutistischen Staatswesens, sondern auch die damit verbundene Konsequenz der Privatisierung einer familialen Existenz, die abgetrennt ist von der Sphäre der Macht. 73 Ist der römische Vater als unumschränkter Herrscher über die 7Î

In Lessings Projekten zur Dramatisierung des Virginia-Stoffes spielt die Privatisierung des Todes als Reflex politischer Verhältnisse zunächst noch keine Rolle. Seine 1754 im ersten Stück der »Theatralischen Bibliothek« veröffentlichte Übertragung einer französischen Zusammenfassung der spanischen Tragödie »Virginia« von A. de Montiano y Luyando, seine Übersetzung des Beginns der »Virginia« von Samuel Crisp und sein Fragment »Das befreite Rom« von 1756 deuten daraufhin, daß er zunächst durchaus in direkter Weise ein politisches Drama konzipierte, das Tyrannei und republikanische Freiheit gegenüberstellt. Aber schon im Brief an Nicolai vom 21. Januar 1758 suchte er die Aktualität des Dramas gerade dadurch zu sichern, daß er die Elimina21?

>familia< Inhaber einer patria potestas, der seine rechtliche Stellung als Freier korrespondiert, 74 so ist Odoardo der politisch entmündigte Untertan, der einzig in der Familie den Ort seiner moralischen Existenz sieht, sich angesichts der Übergriffe der Macht auf sie jedoch als handlungsohnmächtig erweist. Was Virginia nie hätte tun müssen, da Virginius sein Selbstverständnis als handlungsmächtiges Subjekt durch die Tat bezeugt, muß Emilia tun: sie muß den Vater zur Tat überreden, da Odoardos Handlungsohnmacht sein paternales Selbstverständnis dementiert. Indem sie dies tut, will sie ihren Vater zur Identifikation mit dem historischen Vorbild zwingen, um auf diese Weise die Handlungsohnmacht des Vaters, die ihr Selbstverständnis als Tochter erschüttert, zu eliminieren - sogar um den Preis ihrer Selbstvernichtung. Es geht ihr also nicht um die Rettung ihrer »anatomische[n] Unschuld«, wie Ludwig Börne in einer sarkastischen Bemerkung betont, 7 ' sondern um die Rettung ihrer >ideologischen< Unschuld als Tochter. Diese aber kann Emilia nur in einer doppelten Paradoxie bewahren: sie unterwirft sich dem väterlichen Schutz im Akt der Bestimmung seines Tuns, und sie bewahrt sich als »fromme« und »gehorsame« Tochter im Akt ihrer Selbstpreisgabe. Diese Bewahrung gelingt ihr allerdings nur in der Aufspaltung ihrer Person in eine sinnliche und eine moralische Existenz. Abgetrennt von der familialen Ordnung, die Sinnlichkeit und Moral zur ehelichen Liebe kontaminiert, muß die Sinnlichkeit vernichtet werden, damit die Moral überleben kann. Alte, christlich geprägte Vorstellungen von der Abtötung fleischlicher Begierden spielen hinein; und Emilia bezieht sich direkt auf sie, wenn sie auf das Verhalten der Heiligen hinweist, die in die Fluten sprangen, um den Verlockungen der Sinnlichkeit zu entgehen, (s. L M II, 449; V/7)

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tion des Politischen aus der Sphäre der Familie thematisiert als Signum einer absolutistischen Staatsverfassung, die den Bürger von der Sphäre der Macht absondert. Dies habe, wie Lessing treffend formuliert, zur Konsequenz, daß der »Staat [. . .] ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen« ist. ( L M I X , S. 239) Z u r patria potestas, die das ius vitae necisque einschließt, siehe Max Käser: Römisches Privatrecht, S. 2 2 5 ff.; zum Tötungsrecht des pater familias, das formell bis in die späte Kaiserzeit gilt, siehe auch Antonie Wlosok: Vater und Vatervorstellungen in der römischen Kultur, bes. S. 2iff.; zur Praxis der Kindestötung in der Antike siehe Lloyd de Mäuse: Evolution der Kindheit, S. 4;ff.; zur Geschichte des Kindermords siehe Wilhelm Wächtershäuser: Art.: Kindestötung, bes. Sp. 7j6f. Ludwig Börne: »Emilia Galotti« von Lessing, abgedr. in: Horst Steinmetz (Hg.): Lessing - ein unpoetischer Dichter, S. 247.

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Diese religiöse Einfárbung der Haltung Emilias verbindet sich mit ihrem Selbstverständnis als Tochter, wenn sie die Tat des Virginius als Zeugungsakt deutet: » - ihr zum zweyten das Leben gab«. (LM II, 449; V/7) Mag man hier durchaus auch einen »Hauch von Inzest«76 verspüren: bei der frommen Emilia liegt allerdings der Bezug auf christliche Glaubensinhalte näher. Im ersten Petrusbrief heißt es, Gott habe die Christen »neu geboren, damit wir durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten eine lebendige Hoffnung haben«.77 Tod und Wiedergeburt Christi, an denen der Christ durch die Taufe teilhat, sind geläufige christliche Glaubensinhalte. Wenn Emilia diesen Zusammenhang abruft und ihn zugleich an den Vater bindet, so tut sie genau das, was schon Sara tat: sie spiritualisiert ihren Vater. Odoardo soll für sie zum allmächtigen Gottvater werden, der ihr im Durchgang durch den Tod »zum zweyten das Leben« gibt. Diese Ineinssetzung von Vater und Gott reflektiert im religiösen Vorstellungshorizont Emilias erschütterte familiale Existenz. Nur mit der Identität einer Tochter versehen, die der komplementären Ergänzung durch einen beschützenden Vater bedarf, kompensiert sie auf diese Weise ihr durch die Realität zerstörtes Vaterbild, indem sie die Allmacht Gottes auf Odoardo versammelt in der Transformation ihrer Tötung zur Neuzeugung. Das, was seine Vaterschaft destruiert, nämlich die Tochter nicht vor dem feindlichen Übergriff schützen zu können, überhöht Emilia zu dem, was sie begründet, in der Übernahme christlicher Vorstellungsinhalte von Tod und Wiedergeburt. So wird im Bild des die Tochter umarmenden Vaters und der seine Hand küssenden Tochter noch einmal das familiale Verhältnis von Liebe, Schutz, Gehorsam und Dankbarkeit evoziert und zugleich in seinen irrealen Momenten offenbar: ist doch die schützende, liebevolle väterliche Umarmung der Tochter zugleich auch die tödliche Umarmung.

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Peter Horst Neumann: Der Preis der Mündigkeit, S. 49. ι. Petrus 1.3. 215

I V . D I E AUFGEKLÄRTE FAMILIE

Zum Verhältnis von Blutsverwandtschaft und Adoptivverwandtschaft in Lessings »Nathan der Weise« Mit dem Drama »Emilia Galotti« bringt Lessing »das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werther ist, als ihr Leben« 1 , nicht als ein singulares Schicksal zur Anschauung. Denn daß Emilia von Odoardo umgebracht wird, gründet ja nicht primär in unableitbaren individuellen Charaktereigenschaften, sondern in den überindividuellen Eigenschaften als Vater und Tochter einer Familienordnung, die durch Verbot und Kontrolle die >Welt< aus ihrer Sphäre ausklammern will, in der Konfrontation mit ihr allerdings versagt. Damit aber ist das Drama durchaus etwas anderes und mehr »als die alte Römische Geschichte der Virginia in einer modernen Einkleidung« 2 , wie Lessing beschwichtigend dem Herzog Karl von Braunschweig mitteilt. Denn was Lessing als Aufgabe des Genies bestimmt, wenn es »in dem Felde der Geschichte arbeitet«', hat er selbst geleistet. Er hat »die unnützen Schätze des Gedächtnisses in Nahrungen des Geistes« 4 verwandelt, indem er in seinem Drama die gesellschaftsabgewandte Moralität einer Familie problematisiert, die sich überlegen dünkt,' anders aber als das römische Vorbild unfähig ist, der Destruktion ihrer Lebensordnung handelnd entgegenzutreten. Das ist für die Zuschauer »Nahrung des Geistes«, die sie zum Nachdenken nötigt. Denn mit der dramatischen Entfaltung dieses Zusammenhangs hat Lessing ein zentrales Element bürgerlichen Selbstver1

Brief Lessings an Friedrich Nicolai vom 21.1.1758; L M X V I I , S. 132-134, S. 133. 2 Brief Lessings an Herzog Karl von Braunschweig Anfang März 1772; L M X V I I I , S. Z2f., S. 23. » L M I X , S. 308. 4 Ebd. ' Der von Odoardo erhobene moralische Überlegenheitsanspruch wurde häufig als tatsächliche moralische Überlegenheit rezipiert. Erich Schmidt schreibt darüber: »Odoardo wurde als Typus des Heldenvaters so maßgebend wie Michel Angelos Jehovah als Gottvatertypus. Er hat den grauen Alten der deutschen Tragödien und Ritterstücke seine Züge geliehen, den würdigen Greisen, die noch keine Thräne geweint haben, die ihre weichen Gefühle durch Barschheit maskiren, das Schwert gewandter als das Wort führen, nicht den kleinsten Makel an ihrer und der Ihrigen Ehre leiden und als Freie im Kampf gegen Tyrannei und Laster siegen oder fallen.« Erich Schmidt: Lessing, Bd. 2, S. 51. 216

ständnisses den Bedingungen eines fiktiv erstellten Wirklichkeitsszenariums unterworfen. Unaufhörlich haben ja popularphilosophische Darstellungen, Romane und Dramen die Familie als den Ort wahrer Tugend hingestellt und sie von der als lasterhaft deklarierten >großen Welt< abgegrenzt. Lessings Drama unterzieht diese Vorstellungen einer Probe und offenbart die Irrealität eines familialen Selbstverständnisses, das in der familienexternen Sphäre nur das schlechthin >Andere< sieht, dem man sich nach Möglichkeit zu entziehen habe. Doch Lessings kritische Auseinandersetzung mit einer familialen Rückzugsmoral, die der Sphäre des Handelns ohnmächtig gegenübersteht, ist nicht seine endgültige Antwort zum Problem »Familie«. Mit seinem letzten Drama »Nathan der Weise« greift er es wieder auf und exponiert es in einer auf den ersten Blick völlig neuen Weise.6 Fast hat es sogar den Anschein, als reihe er sich jetzt unter die Apologeten der Familie ein. Denn mit der Regieanweisung »Unter stummer Wiederhohlung allerseitiger Umarmungen fällt der Vorhang« reproduziert Lessing augenscheinlich den Tableau-Schluß, der im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in der affirmativen Familiendramatik hoch konventionell ist. Ihn gilt es in seinen verschiedenen Ausprägungen zu skizzieren, um die Ubereinstimmungen und Unterschiede zum »Nathan« aufzeigen zu können. Denn auch mit diesem Drama greift Lessing Ideologeme seiner Zeit auf, die ihren dramaturgischen Ausdruck im Schlußtableau gefunden haben; und wiederum setzt er sie einer kritischen Überprüfung aus. Denn auch diesmal - so läßt sich im Vorgriff sagen - geht es ihm darum, »nichts als Fermenta cognitionis aus[zu]streuen«. 7 Diderot ist es, der das Tableau als Dramenschluß theoretisch gefordert und praktisch demonstriert hat. E r begründet dies mit der Ersetzung tragisch-heroischer Charaktere durch empfindsam-familiäre, und er bezieht dies auf eine veränderte Konzeption des dramatischen Handlungsverlaufs. Nicht das zugespitzte, durch Peripetie und Katastrophe bestimmte Aktionsfeld exzeptioneller Charaktere, die in Ausnahmesituatio6

Daß Lessings »Nathan« nicht ausschließlich als Familiendrama interpretiert werden kann, da die Familie hier als Bildbereich und Modell für eine weitergehende Thematik in den Blick kommt, wird fast immer betont, allerdings häufig um den Preis, daß die Familienthematik selbst nicht intensiv genug analysiert wird. So heißt es z. B. bei Lothar Pikulik: Leistungsethik contra Gefühlskult, S. 261: »Da jeder Mensch Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter, Bruder oder Schwester ist, zu welcher sozialen Schicht er auch gehört und wenn er auch seine familiäre Eigenschaft verleugnet, ist die Familie hier ein Sinnbild für die Menschheit schlechthin und, wenn nicht gerade etwas Unbürgerliches, so doch Uberbürgerliches.«

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L M X , S. 188.

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nen agieren, sondern das identifikationsheischende, emotionsgefüllte Erlebnisfeld allgemein-menschlicher Charaktere, die sich vornehmlich als Familienangehörige darstellen, erhebt er zum eigentlichen Thema der von ihm proklamierten mittleren Gattung des genre sérieux. Deren bestimmendes Formprinzip ist das »tableau«, in dem sich die Emotionalität zum gefühlsgesättigten Familienbild staut.8 Die beiden Familiendramen Diderots enden so. Im »Fils naturel« vereinigen sich Rosalie, Clairville, Dorval und Constance um den zurückgekehrten Vater, der im Schlußbild des Dramas für die gerührten Zuschauer den Prospekt einer immerwährenden Familienordnung öffnet. LYSIMOND: Puisse le ciel, qui bénit les enfants par les pères, et les pères par les enfants, vous en accorder qui vous ressemblent, et qui vous rendent la tendresse que vous avez pour moi!'

Ebenso mündet Diderots »Père de famille« ein in das Bild einer sich um den Vater gruppierenden Familie, der er mit seinem Segen zur Doppelhochzeit die Unverbrüchlichkeit einer zeitenthobenen Ordnung verleiht: Une belle femme, un homme de bien, sont les deux êtres les plus touchants de la nature. Donnez deux fois, en un même jour, ce spectacle aux hommes . . . Mes enfants, que le ciel vous bénisse, comme je vous bénis! 10

Dem Vorbild Diderots, insbesondere dem von ihm theoretisch postulierten und praktisch realisierten Schlußtableau, sind viele deutschsprachige Familiendramen des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts verpflichtet." In ihnen mündet das Geschehen nach allerlei Verwicklungen, Intrigen, Unglücksfällen, unstandesgemäßem Verhalten, nach Leichtfertigkeiten und ehrgeizigem Aufstiegsstreben ein in die Restauration der durch dieses Verhalten zeitweilig zerrütteten Familienordnung. Sie wird dem Zu8

Siehe dazu auch Peter Szondi: Tableau und coup de théâtre. Denis Diderot: Œuvres complètes, Bd. 7, S. 20-84, S. 84; dt. von Lessing, in: ders.: Werke, hrsg. von Julius Petersen u. Waldemar von Olshausen, Bd. 9, S. 91: »Lysimond: Wolle doch der Himmel, der die Kinder durch die Eltern, und die Eltern durch die Kinder segnet, euch Kinder schenken, die euch ähnlich sind, und die eure Zärtlichkeit belohnen!« 10 Ders.: ebd., S. 1 86-298, S. 298; dt. von dems., in: ebd., S. 247: »Eine schöne Frau, ein rechtschaffner Mann sind die zwei rührendsten Wesen der Schöpfung. Schaffet der Welt zweimal an einem Tage diesen Anblick . . . Der Himmel segne euch, meine Kinder, wie ich euch segne!« " Z u r prägenden Kraft der Diderotschen Dramen seit den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts siehe Roland Mortier: Diderot in Deutschland, bes. S. 49fr. und S. 71fr.; zum rührenden Familienstück allgemein siehe Horst Albert Glaser: Das bürgerliche Rührstück.

9

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schauer am Schluß des Dramas im gestellten Bild harmonischer Eintracht als erbauliche Glücksverheißung präsentiert. Deren Botschaft lautet, daß alle Verwirrungen sich auflösen, wenn nur die Familienbande sich wieder zum festen Knoten knüpfen. Und zugleich signalisiert das Schlußbild, daß in der Auflösung aller Verwirrungen die Zeit stillsteht in der Präsentation der Familie als einer aller Zeitumstände enthobenen Ordnung. So versammelt sich im Schröderschen Drama »Kinderzucht oder Das Testament« die Familie um den Hofrat Wallner, der voller Emphase zugleich die Angehörigen, sich selbst und die Zuschauer anspricht: »Sagt mir um des Himmels Willen! wie finden sich so viele gute Menschen zusammen!«" Ähnlich endet der sich schon im Titel auf Diderot beziehende »Deutsche Hausvater« von Gemmingen mit der Regiebemerkung: »Die ganze Familie sammelt sich um den Hausvater, und ja ohne Kompliment zu machen, fallt der Vorhang.«'' Er fällt über ein Stück, in dessen Verlauf der Hausvater seine Rolle als Garant der Familienordnung mit nachdrücklich demonstrierter Bravour gespielt hat. Seine drei Kinder, die während seiner Abwesenheit durch eine nicht-standesgemäße Liebschaft, durch ein Ehezerwürfnis und durch unehrenhaftes soldatisches Verhalten von der rechten Bahn abgekommen sind, bringt er kraft seiner hausväterlichen Autorität wieder auf den Pfad der Tugend, und das ist der Pfad der Familie, zurück. Immer wieder ist es eine solche Autorität, die die Familienordnung wiederherstellt - und dies so, daß ein Leben außerhalb der Familie als nicht wünschenswert erscheint. Sie wird zu dem Horizont erhoben, den man - wie die Dramen nachdrücklich zeigen - nicht ungestraft überschreiten darf. Ähnlich wie Gemmingens Hausvater agiert auch der Oberförster Warberger in Ifflands erfolgreichstem Drama »Die Jäger« als redliches Familienoberhaupt, das die Übergriffe des korrupten und intriganten adligen Amtmanns von Zeck nach allerlei Scheinverdächtigungen und irrtümlichen Annahmen mit Hilfe wohlgesonnener »Biedermänner« abwehrt und so die Familie wieder zu einer geschlossenen Einheit formiert, in der sich alle Konflikte im immerwährenden Glück auflösen. Und als eine solche Glücksverheißung präsentiert sich dann auch die Familie im Schlußtableau mit einer Wendung ans Publikum.

12

In: Friedrich Ludwig Schröder: Dramatische Werke, Bd. i, S. 297-360, S. 560. '' Otto Freiherr von Gemmingen: Der deutsche Hausvater, S. 140; zum Einfluß Diderots auf das bürgerliche Schauspiel in Deutschland im allgemeinen und auf Gemmingen im besonderen siehe Cäsar Flaischlen: Otto Heinrich von Gemmingen, bes. S. i i f . und S. iioff. 219

OBERFÖRSTER: Und wer Freude hat an unserm Glücke - ihr Alle, die ihr Gott dankt mit Wasser im Auge - kommt in acht Tagen auf das Hochzeitsfest der jungen Leute; dann wollen wir sagen und singen: Zwanzig Jahr wie heute! 14

Nicht immer muß es der leibliche Vater sein, der Garant einer Familie ist, die den Zuschauern im Schlußtableau als Verheißung von Glück und Tugend präsentiert wird. So übernimmt z. B. in dem »bürgerlichen Familiengemälde« »Der Vetter in Lissabon« von Friedrich Ludwig Schröder der Titelheld diese Rolle einer Ordnungsmacht, die die zerbrochene Familienharmonie wiederherstellt. Denn das Familienoberhaupt der bürgerlichen Familie Wagner ist zwar durchaus tugendhaft, aber so schwach, daß er sich gegen die Renommier- und Verschwendungssucht seiner Frau und seiner Kinder Charlotte und Wilhelm nicht durchzusetzen vermag. An seine Stelle tritt deshalb der reiche und tugendhafte Vetter, der bis kurz vor dem völligen Zusammenbruch der Familie inkognito das Treiben beobachtet, sich dann zu erkennen gibt und die Familienangehörigen wieder zur Ordnung der Familie ruft. So mündet nach allerlei Verwirrungen auch dieses »bürgerliche Familiengemälde« ein in die allseitige Vergebung der sich zum Tableau gruppierenden »glücklichstefn] Familie auf Erden.«' 5 Der Weg zurück in die Familie kann zwar sehr lang werden, aber als Endpunkt aller Verwicklungen ist die Restitution der Familienordnung für das Rührstück geradezu gattungskonstitutiv. Iffland läßt sogar einmal seine Helden erst am Ende von drei Dramen den Frieden in der Familie finden. In der sogenannten Ruhberg-Trilogie (»Verbrechen aus Ehrsucht«' 6 , »Bewußtsein«' 7 und »Reue versöhnt«' 8 ) wird im ersten Drama die Zerstörung der Familie Ruhberg durch den Ehrgeiz der Mutter, die schwache Autorität des Vaters und den über seinen Stand hinausstrebenden Sohn Eduard gezeigt. Dieser greift, um Spielschulden zu begleichen, in die väterliche Amtskasse. Daraufhin verstößt ihn sein Vater, doch der Kassenprüfer, Oberkommisär Ahlden, ersetzt den Fehlbetrag aus eigener Tasche, da sein Sohn, der junge Sekretär Ahlden, Louise, die Schwester Eduard Ruhbergs, aufrichtig liebt. Und so wird das Geschehen dann doch zu guter Letzt zu einem glücklichen Ende geführt. An diesem Ausgang wurde Kritik geübt (so u. a. von Joseph II.)' 9 - denn Verbrechen gehörten bestraft. Iffland schreibt daraufhin das 14

August Wilhelm Iffland: Die Jäger, in: ders.: Theater, Bd. 2, S. ζ56. '' In: Friedrich Ludwig Schröder: Dramatische Werke, Bd. 3, S. 59-100, S. 100. ,6 In: Iffland: Theater, Bd. 2, S. 3-110. 17 In: ebd., Bd. 3, S. 3-130. " In: ebd., Bd. 4, S. 3-122. ' 9 Siehe hierzu Iffland: Ueber meine theatralische Laufbahn, S. X X X V I I . 220

Fortsetzungsdrama »Bewußtsein«, das E d u a r d als einen v o n Schuldgefühlen geplagten, reuigen Menschen zeigt, der aufrichtig strebt, das O p fer einer Intrige wird und trotz seiner Rehabilitation den neuen Ort seines Wirkens verläßt. Erst im Schlußdrama »Reue versöhnt« findet er wieder eine Familie, die ihn v o r den G e f a h r e n der Welt schützt. Z w a r ist sein leiblicher Vater in der Zwischenzeit verstorben, aber im Fabrikanten Walsing tritt ein Ersatzvater auf, der alle zum Schlußbild einer versöhnten Familie vereint. »Alle sammeln sich um Walsing«, 20 so lautet die Regiebemerkung am E n d e der Trilogie, und die herbeigeeilte Mutter R u h b e r g erhebt ihre Stimme zum H y m n u s der zum Tableau erstarrten Familienidylle: O du der du dem Menschen so viele Wonne gibst - Dank dir für diesen Tag! Wenn ich nun auch einst von euch scheiden soll - so kann ich mit dem Bilde dieser Reihe guter Menschen sanft entschlummern, und weiß: - so sehen wir uns wieder! 21 Unaufhörlich w i r d v o n den verschiedenen Autoren der Familiendramatik des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts ein spezifisches Handlungsschema variiert und bühnenwirksam in Szene gesetzt. Eingegrenzt auf die nur partiell mit öffentlichen Angelegenheiten in Berührung kommende Familie wird diese in die A b f o l g e dreier Zustandsstadien gebracht: eine v o r g e g e b e n e feste Familienordnung wird v o n innen oder v o n außen durch allerlei lasterhaftes Verhalten empfindlich gestört. Die Bühnenhandlung zeigt dann, wie diese Störungen bis zum P u n k t der A u f l ö s u n g der Familie gehen, u m daraufhin in eine G e g e n b e w e g u n g umzuschlagen, die einmündet in die Verklärung der vorgegebenen Familienordnung zur N a t u r o r d n u n g , in der die Zeit dann stillzustehen scheint. 22 Damit aber w o h n t der Dynamisierung des Geschehens zum Handlungsverlauf v o n vornherein das M o m e n t seiner A u f h e b u n g inne. Nicht v o n ungefähr zeigen schon viele der gewählten Gattungsbezeichnungen, daß die A u f h e b u n g jeglicher Handlungsdynamik im Schlußtableau prägend f ü r das ganze D r a m a ist. S o bezeichnet G r o ß m a n n sein D r a m a »Nicht mehr als sechs Schüsseln« als »Familiengemälde«, Iffland wählt 20 21 22

In: Iffland: Theater, Bd, 4, S. 122. Ebd. Bei allen Unterschieden in der inhaltlichen Füllung und bei aller Psychologisierung der Handlungsmotivationen greifen die Rührstücke damit auf das Handlungsschema der Neuen Komödie zurück, die ihr Handlungsziel ebenfalls in der Wiederherstellung der alten Familienordnung als einer zeitenthobenen Naturordnung hat. Siehe hierzu Manfred Fuhrmann: Lizenzen und Tabus des Lachens, S. 6; ff. 221

die gleiche Gattungsbezeichnung für sein Drama »Verbrechen aus Ehrsucht«, und Schröder variiert sie zum »bürgerlichen Familiengemälde« für sein Stück »Der Vetter in Lissabon«. 2 ' Mit seinem Ende, an dem sich die Familienmitglieder zum Schlußtableau gruppieren, mit seinem Handlungsverlauf, in dem sich die getrennten Glieder einer Familie wiedervereinen, mit der Übernahme traditioneller Rollenfacher des Rührstücks 24 und mit dem dramaturgischen Mittel der Anagnorisis ordnet sich der »Nathan« auf den ersten Blick durchaus dem rührenden Familienstück zu.25 Denn die Wiedervereinigung räumlich getrennter Familienmitglieder und das Wiedererkennen als Angehörige einer Familie sind die vom Familiendrama immer wieder wirkungsvoll eingesetzten Mittel zur Erzeugung von Rührung. 26 Daß es auch in Lessings Absicht liegt, durch sein Drama »Nathan der Weise« zu rühren, bekundet er in einem Brief an seinen Bruder. »Es wird ein so rührendes Stück, als ich nur immer gemacht habe.«27 Elise Reimarus bestätigt ihm, daß diese Absicht gelungen sei: »Sie haben Wort gehalten; eins Ihrer rührendsten Stücke ist Nathan geworden, in dem ganzen Umfang und der edelsten Beziehung des Worts; auch haben wir beim Lesen oft laut lachen müssen, um nicht laut zu weinen.«28 Wenn nun auch von der Familienthematik, dem Handlungsverlauf und den spezifischen Formelementen her die Nähe des »Nathan« zur zeitgenössischen Familiendramatik offensichtlich ist, so zeigt doch eine genauere Analyse seines Schlußtableaus die entscheidenden Differenzen. Üblicherweise markiert das Familientableau am Ende des Rührstücks den Stillstand eines Geschehens, das seinen Impuls aus der Destruktion einer Ordnung empfängt, die zum Schluß durch die Reintegration der Abtrünnigen wiederhergestellt wird. Heirat ist dabei häufig das aus der 2)

Z u Einzelheiten und weiteren Belegen siehe Wolfgang Schaer: Die Gesellschaft im deutschen bürgerlichen Drama, S. u f f . und S. 189; Walter Hinck: Das deutsche Lustspiel, S. 354f.; zur theoretischen Verwendung dieser Gattungsbezeichnung seit der Mitte der ;oer Jahre des 18. Jahrhunderts siehe Alois Wierlacher: Das bürgerliche Drama, S. 41. 24 Siehe hierzu Gustav Kettner: Lessings Dramen, S. 340fr. 2 ' A u f diese literaturgeschichtlichen Bezüge weist hin Peter Demetz: Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise, S. 125: »Als Theaterstück ist Nathan der Weise, wie schon die positivistische Forschung zu Recht erkannte, in jener reichen Tradition des rührenden Familienstückes gegründet, die sich von La Chaussée, Geliert und Diderot herleitet.« 26 Siehe hierzu Wolfgang Schaer: Die Gesellschaft im deutschen bürgerlichen Drama, S. 93fr. 27 Brief an Karl Lessing vom 20.10.1778; L M X V I I I , S. 289^ S. 289. 28 Brief vom 18.5.1779; L M X X I , S. 2;6f., S. 256. 222

Komödientradition entlehnte Siegel auf die proklamierte Unverbrüchlichkeit der Familienordnung als dem einzigen Ort tugendhafter Existenz. Von dieser motivgeschichtlichen »Quasi-Norm« 29 weicht der »Nathan« aufs deutlichste ab. Schon das Fehlen einer Hochzeit weist darauf hin. Dies ist um so bemerkenswerter, als dieses Ende ja nahegelegen hätte und für Lessing zunächst auch nahelag. Im Szenar hatte er nämlich den Schluß noch in Anlehnung an den Schluß des »Fils naturel« konzipiert, indem er über die rührende Wiedervereinigung der beiden Geschwister hinaus noch eine Doppelhochzeit andeutet. So wie Dorval statt Rosalie, in der er unwissend die eigene Schwester liebt, als Ersatzbraut die tugendhafte Constanze erhält, und so wie deren Bruder Clairville stattdessen Rosalie heiratet, so wird dem Tempelherrn anstelle seiner Schwester Recha (die hier noch Rahel heißt) die errötende Sittah zugeführt, und diese wiederum führt Recha ihrem Bruder, dem Sultan, zu.' 0 Dieses Konzept eines mit einer Doppelhochzeit endenden Dramas hat Lessing verworfen. Sein ausgeführtes Schlußtableau spielt dagegen auf die Legitimationsbasis einer Familienordnung an, der im zeitgenössischen Familiendrama durch die Heirat ihre Unverbrüchlichkeit für alle Zeit attestiert wird. So besteht Saladin - wenn auch nicht ohne Koketterie — gegenüber dem Tempelherrn auf dem Paradox einer pflichtgemäßen Liebe, die ihm als Onkel gebühre: »Nun mußt du doch wohl, Trotzkopf, mußt mich lieben!« (V, 690) Ebenso kehrt er gegenüber Recha die Blutsverwandtschaft als unabweisbares Zugehörigkeitskriterium heraus: »Nun bin ich doch, wozu ich mich erboth? / Magst wollen, oder nicht!« (V, 691 f.) Anders als Saladin betont Nathan dagegen die Freiwilligkeit in der Annahme seiner Vaterschaft, die nicht auf Blutsverwandtschaft, sondern auf zustimmungsbedürftiger Adoptivverwandtschaft beruht. Seine Offerte, den Tempelherrn als sein K i n d anzunehmen, artikuliert er unter der Voraussetzung der Anerkennung seiner Anerkennung: »Denn meiner Tochter Bruder wär mein K i n d / Nicht auch,sobald er will?« (V, 66if.) Diese in der Schlußsequenz aufweisbare Differenz zwischen einer auf Zustimmung und einer auf >natürlicher< Pflicht gründenden Beziehung erlaubt es nun nicht ohne weiteres, diese zum Grund für jene zu erheben, so als sei das ganze dramatische Geschehen darauf angelegt, die vorgegebenen verwandtschaftlichen Beziehungen als wahres Antriebsmoment 29

JO

Zum Begriff der »Quasi-Norm« siehe Harald Fricke: Norm und Abweichung, S. 162fr. Siehe dazu LM III, S. 48 9 f. 223

des Handelns zu erweisen. Häufig jedoch wird im Gefolge der Annahme, die vorweg etablierte Verwandtschaftsordnung sei die eigentliche Wirkungsmacht, sogar ein genuines Handeln der Protagonisten ganz in Abrede gestellt und ihnen ein bloßes Verhalten nach Maßgabe dieser Ordnung zugestanden — einer Ordnung, die in der Vorsehung als dem eigentlichen Akteur des dramatischen Geschehens gründe. Mendelssohns Bestimmung des »Nathan« als »eine Art von >Anti-CandideSchattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers< zurückgenommen. Der menschliche Wille endet in der Determination, die Freiheit in der Notwendigkeit, die menschliche Verständigung in der göttlichen Vorsehung und das dramatische Geschehen in der statuarischen Demonstration."

Die Interpretation des »Nathan« als Drama der Vorsehung findet zwar in vielen Belegen für Lessings Vorsehungsglauben ihre Stütze. Zugleich aber gibt es vom »Herrenhuther«-Fragment über das »Testament Johannis« bis hin zu den »Freimaurer«-Gesprächen auch immer wieder Lessings nachdrückliches Beharren auf einer Tat, durch die der Mensch sich als eigenverantwortliches Subjekt der Geschichte zu erweisen habe. Nur die Interpretation des Dramas selbst, nicht aber der Rückgriff auf externe Belege kann folglich eine Antwort auf das in ihm präsentierte Verhältnis von Tat und Vorsehung geben. Verhielten sich die Personen allerdings nur nach Maßgabe eines göttlichen Plans, müßte ihnen jedes Moment ' ' Moses Mendelssohn: Morgenstunden, oder Vorlesungen über das Dasein Gottes, Auszug abgedr. in: Horst Steinmetz (Hg.): Lessing - ein unpoetischer Dichter, S. 143. ' ! So heißt es bei Günter Rohrmoser: Lessing. Nathan der Weise, S. 119: »Daß die im dramatischen Spiel Vereinten sich als Mitglieder einer Familie erkennen, ist nicht das Resultat ihres vernünftigen Handelns, sondern das einer geheimnisvollen Fügung.« Ähnlich schon Gustav Kettner: Lessings Dramen, S. 398. " Jürgen Schröder: Gotthold Ephraim Lessing, S. 248; anders dagegen Horst Turk: Dialektischer Dialog, S. 18 iff., der für den »Nathan« gegenüber der »Theodizee« die »Gesprächshandlung« hervorhebt. 224

von Autonomie abgesprochen werden, das sich in der eigenständigen Uberwindung einer konflikthaften Situation erweist. Darauf, daß Nathan sich in einer solchen Situation befindet, weist nun allerdings schon die Eingangsszene nachdrücklich hin - und dies sogar um den Preis einer etwas gezwungenen Motivierung. Denn daß er einerseits nach langer Abwesenheit und im Wissen um den Brand seines Hauses nicht sofort zu seiner Tochter eilt, und daß sie andererseits in ihrer Sehnsucht nach dem Vater nicht sofort zu ihm geht, nachdem sie von seiner Ankunft weiß, hat noch andere Gründe als ihre Ohnmacht und seine Neugier: es handelt sich um die innerdramatisch motivierte Exposition der Problemlage, in der sich Nathan befindet. Der Zuschauer soll gleich zu Beginn erfahren, daß Nathan in seinem Verhältnis zu Recha etwas zu verbergen hat. Heißt es dazu im Szenar noch ganz lapidar: »Es schimmert so etwas durch, wer R a h e l [Recha; G. S.] eigentlich sey«' 4 , so offenbart die ausgeführte Dialogsequenz zwischen Nathan und Daja nicht nur, daß das Rechtsverhältnis zwischen ihm und seiner Tochter fraglich ist, sondern auch, daß er genötigt ist, Dajas Schweigen zu >erkaufensubversive< Gesprächsstrategie, die die vorgegebenen Wahrnehmungsund Beurteilungszusammenhänge des Tempelherrn unterläuft, hat dies bewirkt und es so ermöglicht, daß sich die Gesprächspartner auf der Ebene zwischenmenschlicher Verständigung als Subjekte der Kommunikation wahrnehmen. Auf diese Weise mündet eine durch Vorurteil und Entwertung des Gegenüber geprägte Gesprächssituation ein in die wechselseitige Bekundung der Freundschaft. TEMPELHERR:

N a t h a n , ja;

Wir m ü s s e n , m ü s s e n F r e u n d e w e r d e n . NATHAN:

Sind

E s schon. (Ii,

531-533)

Freundschaft wird zum Siegel zwischen Menschen, denen »es genügt, ein Mensch / Z u heissen!« (II, 525^). Die Differenz zum zeitgenössischen Familienschauspiel, auf das sich Lessings letztes Drama in vielen seiner Elemente durchaus bezieht - wie oben gezeigt -, 4 4 ist dabei offenkundig. 44

2

Siehe S. zizf.

34

dieser Arbeit.

Denn Nathans ganzes Bestreben geht ja nicht dahin, sich gegen die zum feindlichen >Draußen< deklarierte Welt abzuschließen, sondern sich auf den hin zu öffnen, der gezeigt hat, wie sehr er im anderen den Mitmenschen diesseits aller religiösen, ständischen und nationalen Barrieren sieht. Gegen eine privatistische Rückzugsmoral, die Lessing in der Familie Galottis der scharfen Probe aufs Exempel unterzieht, zeigt er in Nathan einen Protagonisten, der - genau umgekehrt - gerade im Bezug auf die Welt eine Gesinnung praktiziert, die denjenigen sucht, der aus der Welt der Vorurteile ausbricht und im anderen den Nächsten sieht. Besonders markant kommt diese Differenz zu einer Moral, die sich allein im Rückzug aus der Welt in der abgeschlossenen Sphäre familialer Privatheit zu behaupten vermag, in den Blick, wenn man sieht, wie anders als Odoardo sich Nathan in der Sphäre der Macht verhält. Z w a r haben beide den Kontakt zum Herrscher nicht gesucht, aber im Gegensatz zu Odoardo löst Nathan sich nicht in devoter Untertänigkeit auf, als er in den Palast des Sultans gerufen wird. Die Situation, in der sich Nathan Saladin gegenüber befindet, ähnelt dabei in ihren Ausgangsbedingungen in mancher Hinsicht derjenigen, in der er sich zunächst dem Tempelherrn gegenüber befand. Als er von dessen Begnadigung durch Saladin hört, fühlt er sich auch diesem »auf ewig« (II, 565) verbunden und ist »Bereit zu allem« (II, 568). Und ebenso wie beim Tempelherrn ist die durch die Tat gestiftete Verbundenheit wiederum durchaus einseitig. Denn auch dem Gnadenakt des Sultans fehlt die sittliche Qualifiaktion als eine ihm moralisch zurechenbare Tat. Ganz im Gegenteil: die Begnadigung des Tempelherrn ist Ausdruck einer Herrscherlaune, entsprungen einer »bloßefn] Leidenschaft« (III, 589) und nur dem Augenblick des Erlebnisses einer verwandtschaftlichen Ähnlichkeit verpflichtet (s. I, 247-250 u. ö.); sie ist die einmalige Ausnahme von der sonst durchgängig befolgten Regel, alle gefangenen Tempelherrn hinzurichten (s. I, 2 3 i f . ) , und sie ist schnell wieder vergessen (s. III, 574-576). Insofern trifft ihre Qualifizierung durch den Patriarchen als moralisch unverbindlich durchaus zu (s. I, 694-701). O b w o h l nun sowohl dem Tempelherrn als auch dem Sultan deren Tat moralisch nicht zurechenbar ist, fühlt Nathan sich ihnen wegen des jeweils in ihr liegenden >objektiven< moralischen Gehalts verbunden. Diese einseitige Verbindlichkeit führt in beiden Fällen zunächst zu asymmetrischen Gesprächssituationen - schon die jeweilige Anrede macht dies sichtbar. Klingt sie beim Tempelherrn unwirsch und verächtlich: »Was, Jude? was?« (II, 413), so beim Sultan leutselig herablassend: »Tritt näher, Jude! - Näher! - N u r ganz her! - / N u r ohne Furcht!« (III, 281 f.). Auch wenn der Ton freundlich ist, so begegnet Saladin Nathan doch in 2

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der Rolle des Herrschers. 45 Schon daß er ihn sitzend empfangt, zeigt, daß er diese Rolle einnimmt; und die Art, wie er mit Nathan spricht, läßt — bei aller Verbindlichkeit im Ton - keinen Zweifel darüber aufkommen, daß er von seinem Untertan etwas einzufordern gedenkt. Von Saladin geht die Redeinitiative aus, auf die Nathan anfänglich noch geistreich ausweichend in Topoi der Bescheidenheit reagiert, bis ihm die Frage gestellt wird: »Was für ein Glaube, was für ein Gesetz / Hat dir am meisten eingeleuchtet?« (III, 324f.). Noch einmal weicht Nathan mit dem Hinweis auf das pure Faktum seines Judentums aus, doch von nun an bis zu seinem Abgang ins Nebenzimmer spricht Saladin allein. Herrisch redet er auf Nathan ein, fordert ihn auf, seine Frage nach der Wahrheit der Religion unverzüglich zu beantworten: »So rede doch! / Sprich!« (III, 343f.), drängt ihn: »Denk nach! / Geschwind denk nach!« (III, 347Í.) und verläßt ihn dann mit der Bemerkung: »Ich säume nicht, zurück / Z u kommen« (III, 348f.), um nachzuschauen, ob seine Schwester gelauscht habe. Nathan, der die ganze Zeit über nicht zu Wort kommt, ist über die Art des Verhaltens von Saladin sehr verwundert: Hm! hm! - wunderlich! - Wie ist Mir denn? - Was will der Sultan? was? - Ich bin Auf Geld gefaßt; und er will - Wahrheit. Wahrheit! Und will sie so,- so baar, so blank,- als ob Die Wahrheit Münze wäre! (III, 349-3 5 3) Für Nathan geht das nicht zusammen: einerseits nach der Wahrheit zu fragen und sie andererseits ungeduldig und herrisch als dinglichen Besitz einzufordern. 46 Inhalts- und Beziehungsaspekt der Rede 47 Saladins klaffen auseinander. Im Inhalt der Frage nach der Wahrheit unterstellt er sich der einen und gleichen Vernunft für alle und betont auf diese Weise die prinzipielle Gleichheit der Menschen v o r ihr und durch sie.

4i

46

47

Siehe hierzu auch Helmut Göbel: »Nicht die Kinder bloß, speist man / Mit Märchen ab.«, S. 1 ζηΆ. Lessing selbst betont in seiner »Duplik«, wie unangemessen es sei, gegenüber der Wahrheit einen dinglichen Besitzanspruch zu erheben: »Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu seyn vermeynet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worinn allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet.« (LM XIII, S. 23f.) Zur Unterscheidung von Inhalts- und Beziehungsaspekt der Rede siehe S. 122, Fn. 13 dieser Arbeit.

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SALADIN: Wohlan! so theile deine Einsicht mir D a n n mit. Laß mich die G r ü n d e hören, denen Ich selber nachzugrübeln, nicht die Zeit Gehabt! Laß mich die Wahl, die diese G r ü n d e B e s t i m m t , - versteht sich, im Vertrauen - wissen, Damit ich sie zu meiner mache. (III, 3 3 3 - 3 3 8 )

Verbindet sich Saladin im Inhalt der Frage nach der Wahrheit mit Nathan als einem vor der Vernunft Gleichen, so präsentiert er sich in der Art seines fordernden Fragens als ein Herrscher, der Antwort erheischt, indem er die Wahrheit als Besitztum einfordert. Diese doppelte, auf der Inhalts- und Beziehungsebene widersprüchliche Mitteilung, die Gleichheit und Ungleichheit zugleich voraussetzt, bestimmt das Nachdenken Nathans. Wie soll er sich verhalten: wie es der Inhalt der Frage fordert, als ein Gleicher gegenüber Saladin gemäß dem Gebot einer Vernunft, die sie beide auf die eine und gleiche Weise verpflichtet, oder - wie es die Art des Fragens fordert - als ein Untertan, gegenüber dem der Herrscher als der Mächtige vorweg immer schon Recht hat? Nathan ist in einem Dilemma gefangen. Wenn er als Untertan reagiert, bricht er das mit der Wahrheitsfrage errichtete Gebot, in der Vernunft die alleinige Entscheidungsinstanz anzuerkennen. Wenn er dagegen als einer reagiert, der sich nur der Vernunft verpflichtet weiß und somit von der prinzipiellen Gleichheit der Menschen vor ihr ausgeht, mißachtet er seine Stellung als Untertan. Nathans Überlegungen, wie er dieses Dilemma für sich auflösen könne, sind dabei nicht finanziell motiviert. Denn es geht ihm nicht darum, sein Geld zu behalten. Ganz im Gegenteil: er ist »auf Geld gefaßt« (III, 351), nachdem er durch Al Hafi von der Finanzmisere des Sultans erfahren hatte, und er ist von Anfang an gegen ihn »bereit zu allem« (II, 568). Daß dies kein leeres Gerede ist, bekräftigt er gleich zu Beginn seiner Begegnung mit dem Sultan, als er ihm eine Offerte wider jede ökonomische Rationalität unterbreitet (s. III, 308fr.). Anders als Melchisedech in der Boccaccio-Vorlage versucht Nathan also nicht, sich mittels der Ringparabel aus der ökonomischen Affäre zu ziehen, sondern ihm geht es darum, sich aus einer für ihn moralisch unhaltbaren Lage zu befreien. Doch wie fängt er dies an? Das Spezifikum seiner Reaktion besteht darin, daß er auf Saladins Frage gar nicht adäquat antwortet. Denn statt der erwarteten konstativen Sprechakte mit Wahrheitsanspruch erzählt er ein »Mährchen« (III, 374), für das gerade kein Wahrheitsanspruch erhoben wird. Zunächst hat es jedoch den Anschein, als suspendiere Nathan nur zeitweilig den Wahrheitsanspruch, um den allgemeinen Satz

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von der UnUnterscheidbarkeit der Religionen mit dem besonderen Fall zur Koinzidenz zu bringen — so wie es Lessing in seiner Fabeltheorie fordert.4® Denn am Ende der von ihm modifiziert nacherzählten Geschichte des Boccaccio kehrt er auf die >Realebene< des Dramas zurück, wenn er explizit die Parallele zwischen der Ununterscheidbarkeit der Ringe und der Ununterscheidbarkeit der Religionen zieht: NATHAN: der rechte Ring war nicht Erweislich; [·•·] Fast so unerweislich, als Uns itzt - der rechte Glaube. (III, 446-448)

Auf dieser >Realebene< des Dramas sind auch Saladins Einwände gegen die von Nathan vollzogene Parallelisierung angesiedelt, wenn er auf die vorfindlichen Unterschiede der Religionen hinweist. Noch will er die Wahrheit wohlfeil als »Münze«, »die man aufs Bret / Nur zählen darf« (III, 3 5 6f.), wenn er auf die herkömmlichen Unterscheidungsmerkmale der Religionen abhebt, die sich doch »Bis auf die Kleidung; bis auf Speis und Trank« (III, 457) unterscheiden. Mit dem Hinweis auf den Unterschied zwischen »Vernunftwahrheiten« und »GeschiehtsWahrheiten«49 entkräftet jedoch Nathan Saladins Einwand. Nicht Wahrheit, sondern allein Respekt vor dem eigenen familialen Traditionszusammenhang komme den jeweiligen historischen Manifestationen der Religion zu. NATHAN: Wie kann ich meinen Vätern weniger, Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. Kann ich von dir verlangen, daß du deine Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht Zu widersprechen? Oder umgekehrt. Das nehmliche gilt von den Christen. Nicht? (III, 469-474)

48

49

Siehe Lessings Zusammenfassung seiner Ausführungen zur Fabel: »Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit ertheilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel.« (LM VII, S. 446) Zu Lessings Fabeltheorie in Abgrenzung zur Gottschedschen siehe Siglinde Eichner: Die Prosafabel Lessings, bes. S. 146fr. Siehe dazu Lessing: »Ueber den Beweis des Geistes und der Kraft« (LM X I I I , S. 1-8, S. ;): » z u f ä l l i g e G e s c h i c h t s w a h r h e i t e n k ö n n e n d e r B e w e i s v o n n o t h w e n d i g e n V e r n u n f t s W a h r h e i t e n nie w e r d e n . «

238

Saladin stimmt dem zu - und akzeptiert damit, daß seine F r a g e nach der Wahrheit der Religion nicht zu beantworten ist: (Bey dem Lebendigen! Der Mann hat Recht. Ich muß verstummen.) (III, 47 5 f·) Warum beendet Nathan zumindest jetzt nicht sein »Mährchen«, hatte er es doch schon f ü r beendet erklärt, als der Vater seinen drei Söhnen jeweils einen R i n g gibt und stirbt? (s. I I I , 441). Denn m e r k w ü r d i g ist es ja, daß er seine Erzählung sogar dann noch fortsetzt, nachdem er den E i n w a n d Saladins ausgeräumt hat und dieser ihm vorbehaltlos darin zustimmt, daß die Religionen nicht zu unterscheiden seien. Jetzt hätte er sich doch verabschieden können. Statt dessen fährt er fort: »Laß auf unsre R i n g ' / Uns wieder kommen.« (III, 476f.) D e r F o r t g a n g der Erzählung verändert Saladins Verhältnis zu der v o n Nathan erstellten fiktionalen Welt. D e n n jetzt bezieht Saladin sie nicht mehr auf sich, indem er sie auf sein Wissen um die empirischen G e g e benheiten projiziert, sondern er bezieht sich auf die fiktive Welt, indem er sich den in ihr hergestellten Bedingungszusammenhängen unterwirft. Sein D r ä n g e n , in der Geschichte fortzufahren (s. I I I , 492f.), seine Bek u n d u n g der Begeisterung über ihren F o r t g a n g (s. I I I , ; 1 2 ) und die Artikulation seiner Betroffenheit über ihr E n d e (s. I I I , 538) markieren diesen veränderten Bezug. H e r v o r g e r u f e n wird er dadurch, daß sich das Geschehen nicht mehr nur als ein Geschehen zwischen den Personen der fiktiven

Welt abspielt, sondern daß sich Saladin durch Identifikationsakte

in es integriert. Schon daß Nathan v o n »unseren« Ringen spricht, auf die sie zurückkommen möchten, verweist auf die eingezogene Distanz. Und am E n d e der Erzählung hat sich Saladin im A k t »assoziativer Identifikation« 50 vollständig unter die Bedingungen der fiktional erstellten Welt gestellt, wenn er die fiktive Rolle des letzten Richters f ü r sich ablehnt nicht weil ihm dessen Existenz fraglich ist, sondern weil ihm durch sie seine eigene Existenz f r a g w ü r d i g g e w o r d e n ist. SALADIN:

Ich Staub? Ich Nichts?

O Gott! NATHAN:

Was ist dir, Sultan?

SALADIN: Nathan, lieber Nathan! Die tausend tausend Jahre deines Richters

10

Zum Typ der »assoziativen Identifikation« siehe Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung, S. 227fr. 239

Sind noch nicht um. - Sein Richterstuhl ist nicht Der meine. - Geh! - Geh! - Aber sey mein Freund! (III, 540-544)

Warum lehnt Saladin das Richteramt ab, und waum verbindet er diese Ablehnung mit der Bitte um Freundschaft? Es sind dies Fragen nach der gänzlichen Veränderung der Ausgangssituation zwischen ihm und Nathan. War diese durch die Diskrepanz einer auf Gleichheit zielenden Inhaltsebene und einer auf Ungleichheit basierenden Beziehungsebene gekennzeichnet, so hat sich jetzt die asymmetrische Komplementärsituation zur Freundschaft zwischen Gleichen verwandelt. Um nun den Gründen für das veränderte Verhältnis zwischen Nathan und Saladin nachspüren zu können, sind die Konturen der von Nathan - in Fortsetzung der Novelle des Boccaccio - fiktional erstellten Welt nachzuzeichnen, unter deren Bedingungen sich Saladin vom Herrscher zum Freund wandelt. Schon bei der Wiedergabe der Boccaccio-Erzählung hatte Nathan ihren Inhalt leicht modifiziert. Sind die Ringkopien in der Vorlage so gut, daß selbst der Vater »kaum im Stande war, den echten von dem unechten zu unterscheiden«'', so verbessert Nathan ihre Güte bis zur UnUnterscheidbarkeit vom Original (s. III, 43 5 f.). Und während in der Vorlage aus dem Besitz des Ringes die herausgehobene Stellung seines Trägers abgeleitet wird, subjektiviert Nathan das Verhältnis zwischen dem Ring und seinem Träger, indem er dessen »Zuversicht« als Bedingungsmoment der Wirkung des Rings herausstellt. NATHAN: Der Stein war ein Opal, der hundert schöne Farben spielte, Und hatte die geheime Kraft, vor Gott Und Menschen angenehm zu machen, wer In dieser Zuversicht ihn trug. (III, 597-401)

An diese beiden Modifikationen der Vorlage knüpft Nathan im Fortgang der von ihm in die Konsequenz geführten Erzählung an. Denn daß die Söhne vor Gericht ziehen, um einen Rechtsanspruch auf die an den Besitz des Ringes geknüpfte Herrschaft zu erheben, verweist nachdrücklich darauf, daß einerseits der »rechte Ring [. . .] nicht / Erweislich« (III, 44Óf.) ist und daß ihnen andererseits die »Zuversicht« geschwunden ist. Nicht diese als Ausdruck einer Haltung, sich dem anderen als »angenehm« zu erweisen, sondern der Anspruch, daß die anderen sich dem Träger des Ringes als »angenehm« zu erweisen hätten, läßt die Söhne um einen richterlichen Urteilsspruch nachkommen. 51

Giovanni Boccaccio: Das Dekameron, S. 40.

240

In diesem Beharren auf einem Rechtsanspruch, der die Vorherrschaft garantieren soll, kann der Richter allerdings nur Eigenliebe erkennen. Da aber »der rechte Ring / Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen; / Vor Gott und Menschen angenehm« (III, 499-501), müsse er verloren gegangen sein, denn anderenfalls würde ja einer der Söhne auch bei den beiden anderen beliebt sein und sich folglich ein Rechtsspruch erübrigen (s. III, 501-510). Mit dieser Schlußfolgerung wehrt der Richter den Anspruch der Söhne ab, jeweils »beliebter« zu sein als die beiden anderen. Während die Söhne auf die objektive Kraft des Steines setzen, verweist er sie auf das subjektive Bedingungsmoment seiner Wirkung: eine Haltung, in der sich »Zuversicht« ausdrückt. Anstelle eines im Urteil gesicherten Rechtsanspruchs gibt er deshalb den Rat zum ethischen Handeln: Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochnen Von Vorurtheilen freyen Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag Z u legen! komme dieser Kraft mit Sanftmuth, Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohlthun, Mit innigster Ergebenheit in Gott, Z u Hülf ! (III, 524-552)

Diese Umkehrung der Bedingungsverhältnisse zwischen dem Stein und seinem Besitzer - nicht jener verleiht diesem die Eigenschaften, sondern dieser >offenbart< in einer Art selbsterfüllender Prophezeiung die Eigenschaften des Steins - suspendiert die Frage nach seiner Echtheit. Nicht eine Konkurrenz, den anderen zu überwinden, sondern eine Konkurrenz, diese Art von Konkurrenz zu überwinden, ist gefordert. Da es auf das ethische Handeln und nicht auf die Echtheit des einen Steins gegenüber seinen Kopien ankommt, kann Nathan dann auch im Plural von »der Steine Kräfte« sprechen, die sich »Bey euern Kindes-Kindeskindern äussern« (III, 5 3 2). Nathan zieht nun im Fortgang seiner Geschichte den Sultan in dieses Geschehen hinein, indem er ihn fragt, ob er derjenige zu sein glaube, der nach »tausend tausend Jahre[n]« (III, 5 34) den Spruch über die sich im ethischen Handeln offenbarende >Kraft< der Steine fällen werde? Angesichts der Geschichtsenthobenheit des letzten Richters am Ende der Zeiten wäre Saladins Bejahung der Frage Hybris. Die geschichtstranszendierende Frage marginalisiert seine geschichtliche Rolle als Herrscher, der glaubt, über die Gründe für die Wahrheit der Religionen befinden zu 241

können. Ihm wird auf diese Weise deutlich, daß er nicht außerhalb der Welt steht, sondern daß er innerhalb der Welt nach der Maxime des »bescheidnefn] Richter[s]« (III, 538) zu handeln habe. Diese ethische Verpflichtung verbindet ihn mit Nathan als einem Gleichen, gegen den er keinen Anspruch auf Unterwerfung zu erheben hat. In seiner Bitte um Nathans Freundschaft äußert sich diese Auflösung einer Herrschaftsbeziehung zwischen Sultan und Untertan. Zugleich löst sich damit das Dilemma, in dem Nathan gefangen war. Sowohl gegenüber dem Tempelherrn als auch gegenüber dem Sultan ist es Nathan kraft seiner Rede gelungen, einen Wandel im zwischenmenschlichen Bezug herbeizuführen, und zwar dadurch, daß er beide auf die zu ihrer jeweiligen Tat (Begnadigung des Tempelherrn, Rettung Rechas) >passende< Gesinnung festlegt. Damit aber artikuliert sich Nathans Rede nicht wie übliche Rede vor dem normativen Hintergrund soziokulturell eingespielter Lebensformen und hierarchischer Institutionen als eine Rede in vorgegebenen Situationen, sondern sie erweist sich als eine Kraft, die die vorgegebenen Situationen der Trennungen zwischen Herrscher und Untertan und zwischen Jude und Christ überwindet.5 2 Warum begnügt sich das Drama nun nicht mit der Ausrundung der um Freundschaftsbeziehungen erweiterten Familie durch das Schlußbild einer Heirat, dem der Sultan seinen Segen gibt? Mangelnder Umfang kann nicht der Grund sein, hat das Drama doch jetzt schon den der »Emilia Galotti« überschritten. Auch rein inhaltlich-stoffliche Gründe scheinen auf den ersten Blick auszuscheiden. Denn das zentrale Problem Nathans - sein mit der Todesstrafe bedrohter Rechtsbruch - ist ja durch die Freundschaft mit Saladin, der als Sultan die unumschränkte Rechtsgewalt besitzt, gelöst. Was mag also Lessing dann bewogen haben, dennoch den Umfang des Dramas auf das doppelte der üblichen Aufführungsdauer auszudehnen?" Und weiter ist zu fragen, warum er dabei in der Konzeption der Fabel - mit ihrer verwickelten Vorgeschichte und deren unwahrscheinlicher Auflösung in der Wiedervereinigung bislang getrennter Glieder einer Familie - die fatale Nähe zum Rührstück nicht 52

53

Z u r konstitutiven Kraft von Sprechakten, die nicht bloß an einer vorgängigen Verhaltensregelung partizipieren, sondern diese erst einführen, siehe Horst Turk: Pragmatismus und Pragmatik, bes. S. 15 off. Lessing selbst war der Ansicht, daß sein Drama - nicht zuletzt wegen der Uberlänge - mehr ein Lesedrama sei, das wahrscheinlich nie zur Aufführung kommen würde: »Es kann wohl seyn, daß mein Nathan im Ganzen wenig Wirkung thun würde, wenn er auf das Theater käme, welches wohl nie geschehen wird.« Brief vom 18.4.1779 an seinen Bruder Karl; L M X V I I I , S. 314.

242

gemieden hat? W a r u m

w i r d die A u f d e c k u n g der wahren

Verwandt-

schaftsverhältnisse z u m zentralen T h e m a der zweiten Hälfte des D r a m a s , so daß Hendrik Birus mit Recht die Konzentration »auf die Personennamen der Protagonisten« 1 4

in diesem Teil hervorheben

kann?

Eine

schnelle A n t w o r t liegt auf der Hand: b e v o r Nathan der Heirat zwischen Recha und dem Tempelherrn zustimmen könne, müsse er sich v e r g e w i s sern, o b seine A h n u n g zutreffe, sie seien Geschwister. D o c h w a r u m zieht sich N a t h a n s V e r g e w i s s e r u n g über mehrere A k t e hin, w o b e i er sich sogar dem Verdacht des Tempelherrn aussetzt, seine tolerante G e s i n n u n g sei bloß leeres Gerede? TEMPELHERR: Der tolerante Schwäzer ist entdeckt! Ich werde hinter diesen jüd'schen Wolf Im philosoph'schen Schafpelz, Hunde schon Z u bringen wissen, die ihn zausen sollen! (IV, 401-404) D i e Heftigkeit des emotionalen

Ausbruchs

des Tempelherrn

kommt

nicht v o n ungefähr. D e n n nachdem er Recha näher kennengelernt hat, ist er v o n L i e b e entbrannt und drängt auf Heirat. N a t h a n s

hinhaltende

Reaktion auf seinen Wunsch kann er sich dabei nur als Heuchelei auslegen. D e n n daß er ihn z w a r » F r e u n d « nennt, aber nicht » S o h n « nennen w i l l , " ist für den Tempelherrn völlig unverständlich. U n d Nathan leistet diesem Unverständnis V o r s c h u b , indem er ihm nicht offen seine Verm u t u n g mitteilt, er und Recha seien w o m ö g l i c h Geschwister. Z w a r erkundigt er sich danach, »Was f ü r ein Staufen E u e r Vater denn / G e w e s e n ist« (III, 6 ηBedenkzeit< einräumen? NATHAN: Ich will Euch ja Nur bey dem Worte nicht den Augenblick So fassen. - Weiter nichts. ( m , 703-705) E s ist in der Tat ein zwischen Freunden seltsames Verhalten, das Nathan an den T a g legt. Z w a r hat der Tempelherr Unrecht, w e n n er daraus eine Diskrepanz zwischen N a t h a n s G e s i n n u n g und seinem Handeln konstatiert: H 55

Hendrik Birus: Poetische Namengebung, S. 91. Siehe dazu das wiederholte Insistieren des Tempelherrn auf der Anrede »Sohn«. (III, 663; 664; 668)

243

Der Aberglaub', in dem wir aufgewachsen, Verliert, auch wenn wir ihn erkennen, darum Doch seine Macht nicht über uns. - Es sind Nicht alle frey, die ihrer Ketten spotten.

(IV, 377-380) Daß der Tempelherr mit diesen auf Nathan gemünzten Feststellungen unrecht hat, demonstrierte der ganze bisherige Verlauf des Geschehens. Unrecht hat er aber nur, da er Nathan religiöse Intoleranz als Motiv für dessen Zögern bei der Zustimmung zur Heirat unterstellt. Bei näherer Betrachtung wird nämlich deutlich, daß Nathan in einem viel handfesteren Sinne unfrei ist. Denn das gesellschaftliche Prinzip der Blutsverwandtschaft, auf dem recht eigentlich alle Verbindungen und Trennungen beruhen, da es als das fundamentale Zugehörigkeits- und Absonderungskriterium der Gesellschaft fungiert, hat Nathan ja durch den Akt der heimlichen Adoption Rechas keineswegs außer Kraft gesetzt. Zwar muß er nicht mehr die Todesstrafe befürchten, sollte seine Adoption bekannt werden; aber die Gefahr, daß er Recha dann verlöre, scheint ihm noch nicht gebannt. Dies ist der eigentliche Grund, warum Nathan dem Tempelherrn seine Vermutung, er und Recha seien womöglich Geschwister, verschweigt: er möchte nicht voreilig die wahren Zusammenhänge aufdecken, um weiterhin vor den anderen und vor Recha selbst als ihr leiblicher Vater zu gelten, sollte seine Vermutung nicht zutreffen. NATHAN:

( W ü ß t ' ich n u r

Dem Tempelherrn erst beyzukommen, ohne Die Ursach meiner Neugier ihm zu sagen! Denn wenn ich sie ihm sag', und der Verdacht Ist ohne Grund: so hab' ich ganz umsonst Den Vater auf das Spiel gesetzt.)

(IV, 5*7-5 3*) Doch so wie Nathan beim Tempelherrn und Sultan die zur Tat >passende< Gesinnung im Gespräch >produziertmoralischen< Vaterschaft, die auf wechselseitiger Anerkennung gründet, und einer >sozialen< Vaterschaft, die auf biologischer Abstammung beruht, unterscheidet, so stellt er damit doch keineswegs eine Rechtsordnung in Frage, die die Blutsverwandtschaft zum bestimmenden Zugehörigkeits- und Absonderungskriterium erhebt. NATHAN:

Wer

A u f sie [Recha; G . S.] nicht größre Rechte hat, als ich; Muß frühere zum mindsten haben [...] Die ihm Natur und Blut ertheilen. ( I V , 704-707)

Die »früheren Rechte« der biologischen Verwandtschaft begründen in den Augen Nathans zwar kein »größeres« Vaterrecht als das seine, das er »allein / [ . . . ] der Tugend [dankt]« (I, 3 5 f.), sehr wohl aber einen faktischen Rechtsanspruch, dem er sich nicht widersetzen will (s. V , 301-303). Zwar kann Nathan - wie gesagt — davon ausgehen, daß ihm aufgrund seiner Freundschaft mit Saladin die auf Apostasie stehende Strafe erlassen wird, besonders, nachdem ihn das Brevier über die Verwandtschaft Saladins mit Recha und dem Tempelherrn aufgeklärt hat. Keineswegs aber kann er davon ausgehen, daß mit der Erlassung der Strafe auch seine Adoptivvaterschaft anerkannt wird und ihm Recha als Tochter bleibt. Mehrfach betonen ja Saladin, Sittah und der Tempelherr, daß Familienbeziehungen auf Blutsverwandtschaft gründen. SALADIN: Oh! das Mädchen muß Ihm [dem Tempelherrn; G . S.] Nathan geben. [. . .] [. . .] Was hätte Nathan, S o bald er nicht ihr Vater ist, für Recht A u f sie? Wer ihr das Leben so erhielt, Tritt einzig in die Rechte deß, der ihr E s gab. ( I V , 460-466)

Sittah stimmt dieser Auffassung ihres Bruders, einzig der Tempelherr als der Retter Rechas könne in die Rechte des biologischen Erzeugers treten, vorbehaltlos zu, wenn sie Nathan als »unrechtmäßigen Besitzer« (IV, 468) bezeichnet. Und auch der Tempelherr betont die Unrechtmäßigkeit des Verhältnisses von Nathan und Recha, da es einzig auf Gewalt gründe, die dieser der wahren Natur Rechas angetan habe. Als könne er es nicht glauben, fragt er zurück, nachdem Daja ihn über Rechas Abkunft aufgeklärt hat:

245

Nathan - Wie? Der weise gute Nathan hätte sich Erlaubt, die Stimme der Natur so zu Verfalschen? - Die Ergiessung eines Herzens So zu verlenken, die, sich selbst gelassen, Ganz andre Wege nehmen würde? (III, 841-846)

Das, was der aufgebrachte Tempelherr Nathan vorwirft, dementiert er jedoch in seinem späteren Reflexionsmonolog. Denn jetzt erkennt er, daß das, was er als Gewalt gebrandmarkt hatte, ein Akt der Humanisierung ist. Der dem Gewaltvorwurf zugrundeliegende Rousseauismus, der in der >Stimme der Kultur< eine Verzerrung der >Stimme der Natur< sieht,'6 weicht der aufklärerischen Betonung der Erziehung, die den Menschen recht eigentlich erst zum Menschen mache. Sie sei kein Zwang, der den Kindern angetan werde, sondern der eigentliche Akt der >Zeugungpädagogischen< Vaterschaft erhebt der Tempelherr diese gegenüber jener zur »wahren« Vaterschaft. Die Begründung hierfür spricht er nachdrücklich aus, indem er Recha als Produkt einer Erziehung erkennt, die ihre Physis zum bloß naturalen Substrat reduziert. Der Erzieher wird ihm zum »Künstler«, der formt, was ihm die Natur als bloßes >Rohmaterial< offeriert. Es ist nicht Gott, der den Menschen nach seinem Ebenbild formt, sondern jener, »der in dem hingeworfnen Blocke / Die göttliche Gestalt sich dachte, die / E r dargestellt« (V, 96-98). Auch Recha selbst weiß, daß sie sich in ihrer >moralischen< Existenz allein Nathan verdankt. Im Gespräch mit Sittah betont sie nachdrücklich ihre durch Nathans ganze Person beglaubigte Erziehung (s. V , 581-389). Für sie bleibt er auch weiterhin ihr »wahrer« Vater, nachdem sie davon erfahren hat, daß er nicht ihr leiblicher ist. Geradezu flehentlich wünscht sie deshalb, daß Saladin die an ihn gerichtete Frage verneint: »Aber macht denn nur das Blut / Den Vater? Nur das Blut?« (V, 5 ozf.) Und Saladin verneint diese Frage, indem er die biologische Vaterschaft als etwas bestimmt, das moralisch >aufzuheben< sei: J a wohl: das Blut, das Blut allein Macht lange noch den Vater nicht! macht kaum Den Vater eines Thieres! giebt zum höchsten D a s erste Recht, sich diesen N a m e n zu Erwerben! (V,

jii-JM)

Erst jetzt, nachdem auch der Sultan als Rechtsinstanz der Gesellschaft die Dominanz der moralischen Vaterschaft über die biologische anerkannt hat, braucht Nathan sich nicht mehr dem legalen Prinzip der Blutsverwandtschaft zu unterwerfen. Auf Rechas angstvoll besorgten Ausruf: »Mein Vater! . .« (V, 553) kann er nun ganz zuversichtlich antworten: »Dein Vater ist / Dir unverloren!« (V, 5 5 6f.) Denn die letzte und fundamentalste aller Barrieren, die die Menschen einander zuordnet und voneinander trennt - das Prinzip einer auf Blutsverwandtschaft beruhenden Familienordnung - , ist überwunden. Daß der Adoptivvater Nathan weiterhin der »wahre« Vater bleibt, nachdem und obwohl die tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisse aufgeklärt worden sind, daß somit - ganz anders als üblich - die Anagnorisis keine Veränderung in den positiven Gefühlsbeziehungen bewirkt,' 7 zeigt, wie sehr die biologischen Ver"

Siehe dazu auch Hendrik Birus: Poetische N a m e n g e b u n g , S. 95: »Dies aber macht v o r allem das Einzigartige an der Anagnorisis des >Nathan< aus: daß die Offenbarung der wahren N a m e n zwar bei allen Beteiligten einen >Umschlag v o m Nichtkennen ins Kennen< (Aristot. poet. 1 4 5 2 a 29fr.) bewirkt, daß dies

247

wandtschaftsverhältnisse >aufgehoben< sind in der schon vorgängig etablierten Gesinnungsgemeinschaft derjenigen, denen »es genügt, ein Mensch / Zu heissen!« (II, 525 f.) Hat Lessing nun dadurch, daß er sein Drama im Schlußtableau einer Familienharmonie ausklingen läßt, tatsächlich eine eindeutige Antwort darauf gegeben, worauf sich diese Gemeinschaft gründet? Gerade bei einem kritischen Denker wie ihm, dem es - nach seiner vielzitierten Selbstbekundung in der »Duplik« - nicht um den Wahrheitsbesitz, sondern um das Streben nach Wahrheit geht,' 8 wäre das erstaunlich; vor allem, wenn man sich dabei noch vor Augen hält, daß er ja auch in der »Erziehung des Menschengeschlechts« zwischen der der Blutsverwandtschaft analogen positiven Setzung der Offenbarung und der der Adoptivverwandtschaft analogen selbstbestimmten Vernunft kein schlicht eindeutiges Begründungsverhältnis herstellt." Zunächst einmal kann man jedoch auf den ersten Blick - nämlich auf den Blick, der unberücksichtigt läßt, warum wer alles nicht ins Schlußtableau aufgenommen wird — sagen, daß im Akt der Anerkennung der Adoptivvaterschaft Nathans als der »wahren« Vaterschaft die Blutsverwandtschaft als ausgrenzendes Zugehörigkeitskriterium >aufgehoben< wird in der Moralität einer durch Gesinnung und Tat verbundenen Gemeinschaft. Sie kommt zur Anschauung im Schlußtableau des Dramas, in dem sich »unter stummer Wiederholung allerseitiger Umarmungen« (V/8) die Protagonisten zur Familie vereinen. Nicht als ein Exklusionsverhältnis - wie im zeitgenössischen Familienschauspiel - , sondern als Prinzip zwischenmenschlichen Umgangs diesseits aller Trennungen der Nation, der Religion und des Standes erweist sie sich dadurch, daß der mit keinem verwandte Nathan aus ihr nicht ausgeschlossen wird, sondern als ihr eigentlicher Stifter erscheint. Denn er war es, der die zur Familie Vereinten vorweg schon im Akt der Produktion der zur Tat passenden Gesinnung< miteinander verbunden hat. Die nachträglich zwischen ihnen aufgedeckte Blutsverwandtschaft verliert damit ihre bestim-

aber nicht eigentlich zu einem Umschlag des G e f ü h l s - >sei es in Freundschaft, sei es in F e i n d s c h a f t (ebd., 1 4 5 2 a 3 1 ) führt, sondern lediglich zu seiner veränderten A u s l e g u n g . « 58

Siehe L M X I I I , S. 24: »Wenn G o t t in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner L i n k e n den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusätze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke, und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!«

"

Siehe hierzu Helmut Thielicke: Offenbarung, Vernunft und Existenz, bes. S . 57-92.

248

mende Kraft. Sie erscheint im nachhinein des Dramenschlusses als bloß positive Vorgabe, die in der Moralität einer wechselseitigen, auf Übereinstimmung der Gesinnung gründenden Anerkennung überstiegen wird — ähnlich der Offenbarung, die Lessing in der »Erziehung des Menschengeschlechts« ebenfalls als positive Vorgabe bestimmt, die in Vernunft überzugehen habe. Doch anders als die so qualifizierte Offenbarung ist die Blutsverwandtschaft nicht anzusehen als »das Facit, welches der Rechenmeister seinen Schülern voraus sagt, damit sie sich im Rechnen einigermaassen darnach richten können«,60 da die Personen sich zunächst ja nicht nach Maßgabe ihrer gewußten Verwandtschaft aufeinander beziehen, sondern sie ist als die >Gegenprobe< anzusehen, die das Ergebnis der gesinnungsmäßig Vereinten >beglaubigt L M X I I I , S. 337. 64 Siehe dazu Harald Fricke: Norm und Abweichung, S. 222-230, der generell den Appellcharakter fiktionaler Werke hervorhebt, indem er darauf hinweist, daß wir fiktional dargestellte Möglichkeiten nicht anders denn als Möglichkeiten für uns auffassen könnten. Sie seien ein Appell an uns, entweder die gute Möglichkeit herzustellen oder die schlechte zu vermeiden. 250

Indem nun Lessing - wie es das Schlußtableau zur Anschauung bringt - die auf Moralität gründende Familie als regulative Idee< zwischenmenschlichen Umgangs mit normativer Verbindlichkeit faßt, macht er deutlich, daß er die aus der Familie erwachsenen Ideen nicht als bloße Täuschung ansieht, die sich - wie in der »Emilia Galotti« gezeigt — vor der Realität der Macht auflösen. Doch hält in diesem Zusammenhang tatsächlich seine Beteuerung, er habe mitnichten vergessen, »wie die Welt wirklich ist«, der kritischen Überprüfung stand? Oder kann das Drama nur deshalb den Appell erheben, nach dem Muster familialer Beziehungen seien die gesellschaftlichen Trennungen im zwischenmenschlichen Umgang zu überwinden, weil aus ihm alle widerstrebenden Elemente der Handlungsrealität getilgt sind? Die Voraussetzung zur Beantwortung dieser Fragen ist die Bestimmung des Stellenwerts, den Lessing dem vom Drama proklamierten unvoreingenommenen zwischenmenschlichen Umgang gibt. Denn es ist ja keineswegs von vornherein klar, wie sich dieser auf die Gesellschaftsordnung bezieht. Ist er das Vorbild für sie oder ihr Korrektiv? Soll das, was in der Familie gilt, auch in der Gesellschaft gelten, und kann es überhaupt in ihr gelten? Hinweise auf Antworten zu diesen Fragen finden sich in Lessings gesellschaftstheoretischer Schrift »Ernst und Falk. Gespräche für Freymäurer« 6 ', da in ihr das Verhältnis von Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft thematisch wird und da zweifellos — bei der Fülle der Parallelen zum »Nathan« — die dort geäußerten Ansichten für die Ausarbeitung des Dramas mitbestimmend waren. Fast könnte man sogar davon sprechen, daß die »Gespräche für Freymäurer« die Theorie zur fast gleichzeitigen Praxis des »Nathan« sind. 66

6

> In: L M X I I I , S. 3 3 9 - 3 6 8 und S. 3 8 7 - 4 1 1 .

66

D e r Bezug zwischen »Nathan« und »Ernst und Falk« wird entschieden hergestellt v o n Klaus Bohnen: »Nathan der Weise«, bes. S. 378ff. Die zeitliche A b f o l g e zwischen beiden Texten Lessings stellt sich wie folgt dar: seit N o vember 1 7 7 7 kursieren die ersten drei Gespräche in Handschriften (gedruckt 1 7 7 8 ) , seit Herbst 1 7 7 8 liegen dann die letzten beiden Gespräche in Handschriften v o r (gedruckt 1780), (siehe L M X I I I , S. 340 und S. 388). Seit dieser Zeit arbeitet Lessing auch an der Fertigstellung seines »Nathan«, dessen Entw u r f schon » v o r vielen Jahren« entstanden sei (siehe Brief an seinen Bruder K a r l v o m 1 1 . 8 . 1 7 7 8 ; L M X V I I I , S. 2 8 5 ^ ) . Z u Einzelheiten der Entstehungsgeschichte der »Freimaurergespräche«, die in der Planung bis 1 7 6 7 zurückzuverfolgen sind, und zu Lessings tiefer Enttäuschung über die tatsächliche Praxis der Freimaurer siehe Heinrich Schneider: Lessing und die Freimaurer, bes. S. 1 7 3 .

251

In beiden Texten wird der Akzent auf den einzelnen gelegt. So ist im »Nathan« nicht der Spruch, durch den der einzelne unter das Gesetz subsumiert wird, sondern der Rat, der auf den einzelnen in seiner Individualität zielt, nicht also der Patriarch, sondern der weise Richter vorbildhaft. Von ihm erwarten die Brüder in der Parabel einen Rechtsspruch und bekommen einen Rat, während der Tempelherr den Patriarchen um Rat fragt und einen Spruch hört. Auch in »Ernst und Falk« ist der einzelne Ausgangs- und Endpunkt aller Überlegungen. Nachdrücklich wird sein Glücksanspruch dem des Staates übergeordnet: Das Totale der einzeln Glückseligkeiten aller Glieder, ist die Glückseligkeit des Staats. Ausser dieser giebt es gar keine. Jede andere Glückseligkeit des Staats, bey welcher auch noch so wenig einzelne Glieder leiden, und leiden m ü s s e n , ist Bemäntelung der Tyranney. Anders nichts!67

Doch diese »Tyranney« rechtfertigt keinen gewaltsamen Umsturz, weil ihm durch die Art des Vorgehens die auf das Glück des einzelnen bezogene Legitimation entzogen würde. »Was Blut kostet ist gewiß kein Blut werth.« 68 Sie rechtfertigt auch deshalb keinen gewaltsamen Umsturz, weil die Gesellschaft prinzipiell den Glücksanspruch des einzelnen nie vollständig einlösen kann. Denn obwohl sie für das Glück des einzelnen die notwendige Voraussetzung ist, entspringen selbst der »besten Staatsverfassung, Dinge [. . .], welche der menschlichen Glückseligkeit höchst nachtheilig sind.« 69 Der Mensch kann nämlich nur in einem gesicherten Staat glücklich werden. Damit dieser aber gesichert ist, muß er sich von anderen Staaten abgrenzen und produziert damit ein »Übel«. Ebenso gehören die Trennungen der Stände und Religionen zu den »unvermeidlichen Uebeln« 70 , die mit der Gesellschaft zugleich gesetzt sind. Als gleichsam ontologische Vorgegebenheiten, die jeder historischen Gesellschaftsform vorgeordnet sind, erweisen sich Nation, Religion und Stand als prinzipiell niemals zu überwindende Trennmauern. Es ist folglich nicht Resignation von Ernst, sondern seine Einsicht in die Struktur menschlicher Vergesellschaftung, wenn er resümierend feststellt: Nun ja, die Menschen sind nur durch Trennung zu vereinigen! nur durch unaufhörliche Trennung in Vereinigung zu erhalten! Das ist nun einmal so. Das kann nun nicht anders seyn. 71

67 68 69 70 71

L M X I I I , S. 352. Ebd., S. 401. Ebd., S. 354. Ebd., S. 363. Ebd., S. 3 5 8£.

252

Obwohl nun diese Trennungen »unvermeidlich« sind, werden sie doch nicht positiviert. Sie bleiben ein »Übel«, das es zu bekämpfen gilt. Denn sie bewirken, daß sich die Menschen nicht als Individuen, sondern als Exemplare begegnen, deren Verständigung vorweg immer schon blockiert ist: [Es] begegnet nicht mehr ein b l o s s e r Mensch einem b l o s s e n Menschen, die vermöge ihrer gleichen Natur gegen einander angezogen werden, sondern ein s o l c h e r Mensch begegnet einem s o l c h e n Menschen, die ihrer verschiednen Tendenz sich bewußt sind, welches sie gegen einander kalt, zurückhaltend, mißtrauisch macht, noch ehe sie für ihre einzelne Person das geringste mit einander zu schaffen und zu theilen haben. 72

Die »wahren Thaten«75 der Freimaurer bestehen deshalb darin, die jede unverstellte Verständigung vorgängig verhindernden Trennungen der Religion, der Nation und des Standes, »wodurch die Menschen einander so fremd werden, so eng als möglich wieder zusammen zu ziehen.«74 Folglich besteht ihre eigentliche Aufgabe nicht in der Beseitigung historisch vorfindlicher sozialer Mißstände - das sind »nur ihre Thaten ad extra«" - , sondern darin, die für jede Gesellschaft konstitutiven Trennungen »nicht grösser einreissen zu lassen, als die Nothwendigkeit erfordert. In Absicht, ihre Folgen so unschädlich zu machen, als möglich.«76 Dies ist das »Opus supererogatum«77 jener Männer, die keineswegs dem Namen nach Freimaurer zu sein brauchen, denn sie zeichnet nicht die Mitgliedschaft in einer Loge aus, sondern eine spezifische Gesinnung. Für Falk sind dies Männer, die über die Vorurtheile der Völkerschaft hinweg wären, und genau wüßten, wo Patriotismus, Tugend zu seyn aufhöret [ . . . ] , die dem Vorurtheile ihrer angebohrnen Religion nicht unterlägen; nicht glaubten, daß alles nothwendig gut und wahr seyn müsse, was sie für gut und wahr erkennen [ . . . ] , welche bürgerliche Hoheit nicht blendet, und bürgerliche Geringfügigkeit nicht eckelt.78 72

Ebd., S. 356. Ebd., S. 349. 74 Ebd., S. 361. " Ebd., S. 349. 76 Ebd., S. 360. 77 Ebd., S. 360. 78 Ebd., S. 360. Wenn Lessing hier, wie auch an anderen Stellen, zur Kennzeichnung der Gesellschaft das Adjektiv »bürgerlich« verwendet, so keineswegs als spezifisch historische oder sozioökonomische Kennzeichnung, sondern vornehmlich im Sinn von >civilis< oder sogar noch allgemeiner als Synonym für >menschlichstrukturelle< Ungerechtigkeit zur Voraussetzung. DERWISCH: Ey was! - Es war' nicht Geckerey, Bey Hunderttausenden die Menschen drücken, Ausmärgeln, plündern, martern, würgen; und Ein Menschenfreund an Einzeln scheinen wollen? Es war' nicht Geckerey, des Höchsten Milde, Die sonder Auswahl über Bös' und Gute Und Flur und Wüsteney, in Sonnenschein Und Regen sich verbreitet, - nachzuäffen, Und nicht des Höchsten immer volle Hand Z u haben? Was? es war' nicht Geckerey . . . NATHAN: G e n u g ! h ö r auf!

DERWISCH: Laßt meiner Geckerey Mich doch nur auch erwähnen! - Was? Es wäre nicht Geckerey, an solchen Geckereyen Die gute Seite dennoch auszuspüren, Um Antheil, dieser guten Seite wegen, 256

A n dieser Geckerey zu nehmen? Heh? D a s nicht? (I, 480-496)

Hat man erst - wie Al-Hafi - den Gegensatz zwischen einer inhumanen Gesellschaftsordnung und einer sich am einzelnen ausrichtenden Moralität erkannt, so gibt es nur zwei Möglichkeiten: die Moral hat in Politik überzugehen mit dem Ziel der Veränderung der >strukturellen< Inhumanität, oder sie hat sich in der gesellschaftsabgewandten Sphäre der Einsamkeit zu bewahren. Al-Hafi und der Klosterbruder wählen die zweite Möglichkeit. Deren Chiffren als Orte sozialer Insignifikanz sind der Ganges und die Einsiedelei auf Tabor. Vor allem die Figur des Derwisch, die im Entwurf des Dramas noch als bloßer Funktionsträger konzipiert war, ist es, die die so oft gepriesene >schattenlose< Welt des Dramas in ein Zwielicht taucht.'7 Denn Al-Hafis kritische Einsicht bleibt unwiderlegt, auch wenn er frühzeitig aus dem dramatischen Handlungsablauf abgedrängt wird und sein Agieren so im Rückblick zur Episode reduziert erscheint.88 Dies aber hat seinen guten Grund: er paßt nicht in das Schlußbild einer Familienharmonie, die alle gesellschaftlichen Trennungsmomente überwunden zu haben scheint. Denn sein gesellschaftskritischer Blick stellt die Humanitätskonzeption einer sich auf den einzelnen ausrichtenden Ethik aus dem Ganzen der Gesellschaft so prinzipiell in Frage, daß der sonst so beredte Nathan nur mit Abwehrgesten zu reagieren vermag. Einzig »Gemach, mein Derwich, / Gemach!« (I, 479f.) und »Genug! hör auf!« (I, 490) weiß er gegen dessen kritische Einsichten einzuwenden, um sich schließlich ganz abzuwenden:

87

Diese Sehweise findet sich vereinzelt: so bei Dominik von K ö n i g : Natürlichkeit und Wirklichkeit, S. 55fr.; Peter Horst Neumann: G i b t es eine Kunst des Abschiednehmens?, S. 8 3 fF.; Klaus Briegleb: Lessings Scheitern, S. ηβΐ. In der Regel ist man dagegen der Auffassung, Lessing habe an A l - H a f i und dem Klosterbruder die Weltflucht kritisieren wollen; siehe dazu Paul Hernandi: Nathan der Bürger, S. 1 5 3 ; Fritz Brüggemann: Die Weisheit in Lessings »Nathan«, S. 80; Hinrich C. Seeba: Die Liebe zur Sache, S. i i o f . ; weitere Belege bei Dominik v o n K ö n i g , S. J 7 .

88

D a ß Lessing die F i g u r des A l - H a f i nicht in ihr volles Recht gesetzt hatte, war ihm selbst bewußt. Nicht v o n ungefähr wollte er deshalb dem D r a m a das Nachspiel mit dem Titel »Der Derwisch« anfügen. A n seinen Bruder Karl schreibt er am 1 5 . 1 . 1 7 7 9 : »Auch sollte, nach meinem ersten Anschlage, noch ein Nachspiel dazu kommen, genannt d e r D e r w i s c h , welches auf eine neue A r t den Faden einer Episode des Stücks selbst wieder aufnähme, und zu E n d e brächte.« ( L M X V I I I , S.

3o4f.)

257

Al-Hafi, mache, daß du bald In deine Wüste wieder kömmst. Ich fürchte, Grad' unter Menschen möchtest du ein Mensch Zu seyn verlernen. (I, 49 6 -499)

Lessings dramatische Präsentation des Schlußtableaus mag so schon von den Personen her, die nicht ins Schlußtableau aufgenommen sind, nicht mehr ohne weiteres als das ungetrübte Hohelied der Menschheitsfamilie erscheinen. Denn wer ausgeschlossen ist und warum er dies ist, das verweist auf die Partialität einer sich »auf dem gemeinschaftlichen Gefühl sympathisierender Geister«8' gründenden Lebensform, zu der sich die Familienmitglieder diesseits aller gesellschaftlichen Trennungen formieren. Diese Lebensform kann ja die Trennungen - nach den Erkenntnissen von »Ernst und Falk« — prinzipiell nicht überwinden, sondern sie kann ihnen nur entgegenwirken. Die Trennungen können zwar - dies hat Nathans Verständigungshandeln nachdrücklich deutlich gemacht im persönlich-zwischenmenschlichen Bereich außer Kraft gesetzt werden; sie bleiben aber — und dies hat die durch Ausgrenzung hergestellte Personenkonstellation des Schlußtableaus ebenfalls deutlich gemacht - im öffentlich-gesellschaftlichen Bereich in Kraft. Daß sich die gesellschaftlichen Bedingungen der Vergemeinschaftung letztlich sogar im Schlußtableau selbst noch reflektieren, zeigen dessen >Verwerfungen^ Schon Walter Jens sind die Dissonanzen in der Harmonie des Schlußakkords aufgefallen, wenn er die von ihm allerdings unbeantwortet gebliebene Frage stellt: Aber wenn das so ist — und Nathans Sache wirklich triumphiert! — : Warum dann das große Schweigen am Schluß? Das Zurücktreten Nathans jenes mächtigen Redners und Räderbewegers, der fünf Akte lang das Spiel nach seinem Willen gelenkt hat?'0

Es ist wirklich erstaunlich, daß Nathan während der letzten sieben Repliken schweigend daneben steht, während Saladin das Wort führt; und noch erstaunlicher ist, was hier gesprochen wird. Demonstrierte das Drama, wie die vorgegebenen verwandtschaftlichen Beziehungen zur Gesinnungsgemeinschaft aufgehoben werden, so betont Saladin zum Schluß geradezu umgekehrt die Dominanz der Legalität blutsverwandtschaftlicher Beziehungen über die Moralität von Beziehungen, die auf wechselseitiger Anerkennung beruhen.

90

LM XIII, S. 402. Walter Jens: Theologie und Theater, S. 135.

258

Das D r a m a endet nämlich nicht, nachdem Recha und der Tempelherr Nathan als A d o p t i v v a t e r anerkannt haben. D e n n nach der U m a r m u n g der drei »tritt Saladin mit unruhigem Erstaunen zu seiner Schwester« (V/8), getrieben v o n der Vermutung, Recha und der Tempelherr seien die K i n d e r seines Bruders Assad. Fast widerwillig, so als ob er ohne ausdrückliche

Aufforderung

Saladin

keinesfalls über die

Verwandt-

schaftsverhältnisse aufgeklärt hätte, bestätigt ihm Nathan seine Vermutung: » N u n , wenn du selbst darauf verfällst: - / N i m m die Versichrung hier in diesem Buche!« ( V , 679^) Eindringlich gibt er ihm jedoch dabei zu bedenken, Recha und dem Tempelherrn ihre legale Zugehörigkeit zu verschweigen: »Noch wissen sie v o n nichts! N o c h stehts bey dir / Allein, was sie d a v o n erfahren sollen!« (V, 682Í.) Daß die bei Nathan anklingende Sorge, die Legalität blutsverwandtschaftlicher Beziehungen könne sich gegen die Moralität adoptivverwandtschaftlicher Beziehungen doch wieder durchsetzen und damit die moralische A u f h e b u n g biologischer Zugehörigkeit wieder rückgängig machen, durchaus nicht unberechtigt ist, erweist die Reaktion Saladins, mit der er Nathans Bedenken wegwischt: Ich meines Bruders Kinder nicht erkennen? Ich meine Neffen - meine Kinder nicht? Sie nicht erkennen? ich? Sie dir wohl lassen? (V, 684-686) Nachdrücklich, w e n n auch nicht ohne Koketterie, die aber doch nur das voraussetzt, was sie rhetorisch in F r a g e stellt, besteht Saladin auf Blutsverwandtschaft

als

legalem

Zugehörigkeitskriterium,

das

zwischen-

menschliche Beziehungen nicht durch wechselseitige A n e r k e n n u n g , sondern durch einzufordernde Z u w e n d u n g stiftet. SALADIN ( z u m T e m p e l h e r r n . ) :

Nun mußt du doch wohl, Trotzkopf, mußt mich lieben! (zu Recha): Nun bin ich doch, wozu ich mich erboth? Magst wollen, oder nicht! (V, 690-692) Fast hat es den Anschein, als hätten sich die Personen neu gruppiert. Verbanden sich zunächst Recha und der Tempelherr mit Nathan aufgrund freier Z u s t i m m u n g , so verbindet sie Saladin daraufhin mit sich und

Sittah

aufgrund

blutsverwandtschaftlicher

Zuordnung.

Zwar

scheint dann Nathan doch noch in die Schlußumarmungen einbezogen zu werden, wenn das D r a m a mit der R e g i e b e m e r k u n g schließt: »Unter stummer Wiederhohlung allerseitiger U m a r m u n g e n fällt der Vorhang« 259

(V/8). D o c h als situationsmächtige Gestalt erscheint Nathan ganz zum E n d e nicht mehr. N o c h im Szenar sah das sehr anders aus. D i e dort konzipierte Schlußrede Saladins rückt Nathan noch einmal in das strahlende Licht einer moralischen Vorbildgestalt. Unter der Überschrift »Schluß« heißt es da: SALADIN: DU sollst nicht mehr Nathan der Weise,

Du sollst nicht mehr Nathan der Kluge Du sollst Nathan der Gute heissen.9' In der endgültigen Fassung des D r a m a s wendet sich niemand mehr an Nathan. Saladin führt das Wort, das er an Recha und den Tempelherrn richtet. D e r A d o p t i v v a t e r Nathan steht daneben — stumm, so als habe er (im doppelten Sinne des Wortes) nichts mehr zu sagen, w e n n Saladin die blutsverwandtschaftlichen Bande betont. Hat L e s s i n g sich nicht klar entscheiden können, ob moralische oder biologische Z u g e h ö r i g k e i t den Ausschlag f ü r den zwischenmenschlichen B e z u g geben soll? O d e r ist er in den S o g des zeitgenössischen Rührstücks geraten und hat das dort immer wieder verwendete Muster zur E r z e u g u n g v o n Rühreffekten - die Vereinigung bislang getrennter Familienmitglieder - aufgegriffen? D a ß er mit seinem Stück R ü h r u n g erzeugen wollte, war ja seine erklärte Absicht, 9 ' und Saladin spricht sogar v o m besonders rührenden M o m e n t , das in der Wiedervereinigung getrennter Familienmitglieder liegt, w e n n er aufgrund seiner Vermutung über die wahren Verwandtschaftsverhältnisse Sittah mitteilt, er »schaudere / V o r einer größern R ü h r u n g fast zurück« ( V , 664f.). E i n e A n t w o r t auf diese Fragen nach dem G r u n d f ü r das durchaus zwiespältige Schlußtableau und damit auch eine genauere A n t w o r t auf die oben gestellte F r a g e nach dessen Stellenwert ermöglicht Lessings »Ankündigung«

seines

Dramas

und

seine

gesellschaftstheoretische

Schrift »Ernst und Falk«. In seiner » A n k ü n d i g u n g « hatte er ja davon gesprochen, daß er beim E n t w u r f einer Welt, »wie ich mir sie denke«, keineswegs vergessen habe, »wie die Welt wirklich ist«. 93 D a s

Dra-

menende - so läßt sich dessen Uneindeutigkeit interpretieren - reflektiert die Welt, wie sie wirklich ist, nicht allein in den Personen, die nicht zum Schlußtableau versammelt sind, sondern auch in der A m b i v a l e n z des Schlußtableaus selbst. In »Ernst und Falk« hatte Lessing theoretisch ausgeführt, wie nach seiner Ansicht die Welt wirklich ist. In seiner Analyse der Dialektik v o n Trennung und Vereinigung h o b er dabei nach9

" L M III, S. 490. Siehe dazu S. izzf. dieser Arbeit. 9i L M X I I I , S. 337. 92

260

drücklich die Momente des Trennenden als »unvermeidliche Uebel«' 4 einer jeden Gesellschaft hervor: Sie kann die Menschen nicht vereinigen, ohne sie zu trennen; nicht trennen, ohne Klüfte zwischen ihnen zu befestigen, ohne Scheidemauern durch sie hin zu ziehen. 9 '

Wenn man sich nun vor Augen hält, daß nicht nur die Gesellschaft zur Zeit Lessings, sondern auch die des Stücks selbst als Feudalgesellschaft eine Gesellschaft geburtsständischer Privilegien ist, und daß es hier besonders die Blutsverwandtschaft ist, die die Menschen vereinigt, indem sie sie von anderen trennt, dann wird nicht nur an den vom Schlußtableau ausgeschlossenen Personen, sondern auch an Saladins Reklamation der Blutsverwandtschaft als Zugehörigkeitskriterium die Welt sichtbar, »wie sie wirklich ist«. Dies ist der ins Drama aufgenommene Widerspruch der Empirie gegen ihre utopische Aufhebung,' 6 der deutlich macht, daß die durch das Verständigungshandeln Nathans erzeugte Gesinnungsgemeinschaft ein »Gegenbild« ist, das die Gesellschaft in ihrer auf Trennungen beruhenden Ordnung nicht auslöscht, sondern nur kontrapunktiert. Mit gutem Grund kann das Drama »Nathan der Weise« nicht nur im literaturgeschichtlichen, sondern auch im wortwörtlichen Sinn als Drama der Aufklärung bezeichnet werden. Denn es klärt auf über eine für die Epoche der Aufklärung spezifische Thematik, die Familie, und dies in dreifacher, aufeinander bezogene Weise: — Als analytisches Drama klärt es die Protagonisten auf über ihre wahren Verwandtschaftsverhältnisse als Onkel und Tante, Bruder und Schwester.

94

"

96

Ebd., S. 363. Ebd., S. 557. Ein analoger Zusammenhang läßt sich schon an Lessings frühem Lustspiel »Die Juden« feststellen. Auf die sozialkritische Argumentation von Johann David Michaelis, die Juden könnten wegen der sozialen Zwänge, unter denen sie lebten, gar nicht so edel sein, wie sie sein Stück zeige, antwortet Lessing: »Können denn diese [die Zwänge; G . S.] nicht wirklich im gemeinen Leben eben so wohl wegfallen, als sie in meinem Spiele wegfallen?« (LM V I , S. 162) Zugleich aber reflektiert sich die empirische Realität am Heiratsverbot zwischen Juden und Christen und relativiert damit den utopisch-appellativen Gehalt des Stückes. Denn eigentlich - und dem Komödientyp ja auch gemäß sollte der Jude die Tochter des Barons als Dank für seine Rettungstat heiraten. Aber wie selbstverständlich, ohne jede weitere Erörterung, findet die Heirat nicht statt, als offenbar wird, daß der Retter ein Jude ist. Siehe hierzu auch S. 93 dieser Arbeit. 261

— Dieser sich im Drama vollziehende Prozeß der Aufklärung über den Status der dramatis personae als Familienmitglieder verbindet sich mit ihrer Aufklärung über das, worauf zwischenmenschlicher Bezug zu gründen habe. In der Anerkennung Nathans als des »wahren« Vaters wird das legale Zugehörigkeitskriterium der Blutsverwandtschaft aufgehoben zur Moralität einer auf wechselseitiger Zustimmung gründenden Gesinnungsgemeinschaft. — Zugleich aber klärt das Drama über den Status dieser Aufhebung der Legalität in Moralität auf, indem es an den nicht ins Schlußtableau aufgenommenen Personen und an diesem selbst deutlich macht, daß die auf dem »gemeinschaftlichen Gefühl sympathisierender Geister« beruhende Familienordnung an die Bedingungen gesellschaftlicher Existenz gebunden bleibt. Scheint so zunächst die Aufklärung über die wahren Verwandtschaftsverhältnisse einzumünden in die Aufklärung über ihren Status als einer positiven Vorgegebenheit, die in die Moralität freier Anerkennung aufzuheben ist, so klärt das Schlußbild über den Status dieser Aufhebung als »Gegenbild« auf. Auf diese Weise bezieht Lessing die beiden Momente der Familienkonzeption kritisch aufeinander und relativiert sie wechselseitig aneinander. Die Familie als Ort eines auf den anderen als Nächsten gerichteten Verhaltens diesseits aller Voreingenommenheiten und Interessen ist einerseits die Möglichkeit, die mit der Gesellschaft gesetzten Trennungen zu unterlaufen, und sie ist andererseits die Illusion, als könnten die für die Gesellschaft konstitutiven Trennungen, deren Produkt als blutsverwandtschaftliche Ausgrenzung sie ja gerade ist, überwunden werden.

262

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

Β I

Johann Christoph Gottsched: Der Biedermann. Faksimiledruck der Originalausgabe. Leipzig 1727-1729, mit einem Nachwort und Erläuterungen hrsg. v o n Wolfgang Martens, Stuttgart 1975, i . - ; o . Stück.

Β II

- . 51.--100. Stück.

CD I

Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil ( = Ausgewählte Werke, Bd. VI/i).

C D II

. Anderer Besonderer Theil ( = Ausgewählte Werke, Bd. VI/2).

WW I

Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit [. . .]. Theoretischer Teil, 7. verb. A u f l . , Leipzig 1762 ( = Ausgewählte Werke, Bd. V/i).

W W II

- . Praktischer Teil, 7. verm. und verb. Aufl., Leipzig 1762. ( = Ausgewählte Werke, Bd. V/2).

BB

Hinrich Borkenstein: D e r Bookesbeutel (1742), hrsg. und mit einer Einführung vers, von Franz Ferdinand Heitmüller, Leipzig 1896.

Can

Johann Christian Krüger: Die Candidaten oder: D i e Mittel zu einem Amte zu gelangen (1748), in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von D a v i d G . John, Tübingen 1986, S. 271-377.

ZS

Christian Fürchtegott Geliert: Die zärtlichen Schwestern, in: ders.: Lustspiele. Faksimiledruck nach der Ausgabe v o n 1747, mit einem Nachwort v o n Horst Steinmetz, Stuttgart 1966, S. 1-110.

MV

Christian Fürchtegott Geliert: Die Moralischen Vorlesungen, in: ders.: Sämmtliche Schriften. Neue rechtmäßige Ausgabe in sechs Theilen, 4. Theil, Leipzig 1840. S. 1-442.

LM

Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften, hrsg. v o n Karl Lachmann, 3., aufs neue durchges. und verm. Aufl. bes. durch Franz Munker, Bd. 1-23, Stuttgart (ab Bd. 12: Leipzig, ab Bd. 22/1: Berlin-Leipzig) 1886-1924 [ L M I - L M X X I I I ] ,

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