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German Pages 295 [296] Year 1980
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Band 61
Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Friedrich Sengle
Konradin Zeller
Pädagogik und Drama Untersuchungen zur Schulcomödie Christian Weises
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1980
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Zeller, Konradln: Pädagogik und Drama : Unters, zur Schulcomödie Christian Weises / Konradin Zeller. — Tübingen : Niemeyer, 1980. (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 61) ISBN 3-484-18057-9
ISBN 3-484-18057-9
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1980 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten (Allgäu). Einband: Heinr. Koch, Tübingen.
Inhalt
Vorwort Einführung 1. Der pädagogische Zweck als Ärgernis der Literaturwissenschaft: Weises Schuldrama im Licht der Forschung 2. Pädagogik, Rhetorik und Drama: Weise in neuer Sicht 3. >Der geschickte Comoediantc Die Dramaturgie der Schulcomödie als Untersuchungsgegenstand
IX 1 2 14 19
ERSTER TEIL
Die pädagogischen Funktionen des Schuldramas
25
1. Kapitel: Exercitatio. Schultheater und Rhetorikunterricht
28
a) Der »freimütige und höfliche Rednerc Dramatisches Spiel als Übung der Artificia externa b) >Ein guter Weg zur galanten Maniere Das Schuldrama im Dienst der Stilbildung
42
2. Kapitel: Informatio. Das Schulspiel als Mittel der Belehrung
53
29
a) >Dem gemeinen Leben was nütze werdenc Weises Ideal einer praktischen Gelehrsamkeit b) Der >Blick in die politische Welte Das Schuldrama als Medium einer realistischen Redepädagogik c) Die Schulcomödien als >Proben von der vertrauten Redens-Kunst< . . .
62 72
3. Kapitel: Admiratio. Das Spiel und sein Publikum
78
a) Repräsentation: Theater als Möglichkeit der Selbstdarstellung b) Das Schultheater als ökonomischer Faktor
79 84
54
V
Zwischenbilanz Lust und Nutz - die zweifache Aufgabe des Schuldramas
93
a) Aut prodesse aut delectare? Zur Verteidigung des Weiseschen Nützlichkeitsanspruchs b) Vom pädagogischen Sinn des Vergnügens im Schuldrama
94 97
ZWEITER TEIL
Aspekte der Schultheater-Dramaturgie bei Christian Weise
107
1. Kapitel: Pädagogische Dramaturgie. >Das Spiel nach den Personen richten< .
109
a) Die unvermeidliche Weitläufigkeit b) Poetologische Norm und pädagogische Lizenz c) >Besorgliche Confusione Die Weitläufigkeit als Perspicuitas-Problem . .
109 118 128
2. Kapitel: Persuasive Dramaturgie. >Probare< und >insinuare
umständliche< Beweisverfahren . . 2. >Weitläufig und scheinbare die dramatische Interpretation b) Der Zucker über der harten Speise: Dramaturgische Strategien zur Gewinnung des Publikums 1. Publikumsstruktur, Erwartungshorizont und dramaturgische Insinuation 2. Die unverhofften Abwechslungen 3. Die eingemischten Bauer- und Pickelheringspossen< 4. Die >Leute bei der Attention erhalten< 3. Kapitel: Didaktische Dramaturgie. Lehrhafte Strukturen im Drama
138 138 146 163 163 170 180 197
210
a) Die allegorische Umrahmung-das Drama als Beweisverfahren b) Der lehrreiche Kontrast c) Die >Stelle der allgemeinen satirischen Inclination : Der Narr als kritischer Kommentator d) Demonstrative Hinweise auf redetaktische Manöver im dramatischen Dialog
211 223
SCHLUSS
248
Anmerkungen zur Schreib- und Zitierweise
251
VI
229 238
Literaturverzeichnis
252
I.
252 252 252 260 261
Quellen Α . Christian Weise 1. Dramatisches Werk 2. Episches und lyrisches Werk 3. Rhetorik und Poetik 4. Sonstige Lehrbücher, erbauliche Werke und pädagogische Schriften B . Sonstige Quellen C. Anthologien II. Forschungsliteratur
264 266 273 273
VII
Vorwort
Rollenspiel, so können wir lesen, ist »eine pädagogische Möglichkeit, Lernende auf Bewältigung von Realität vorzubereiten. Spielinhalt ist demzufolge stets ein Realitätsausschnitt. Unter fiktiven Umständen wird Realität simuliert. Spielen ist hier Probehandeln. Die Spielerfahrung soll in Realitätssituationen genutzt werden.« Christian Weise, hätte er 300 Jahre später gelebt, würde den Zweck seiner schuldramatischen Bemühungen vielleicht mit ähnlichen Worten - und Schlagworten - umschrieben haben, wie sie uns heutigen Tags nicht unvertraut sind (das Zitat entstammt Barbara Kochans Einleitung zu ihrem Sammelband >Rollenspiel als Methode sprachlichen und sozialen Lernensbarockgermanistisch< konzipiert war. Die Arbeit wurde im Frühjahr 1977 abgeschlossen und im folgenden Sommersemester vom Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft II der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Seither erschienene Literatur konnte ich nur in Ausnahmefällen berücksichtigen. Für den Druck mußte die Arbeit erheblich gekürzt werden; so ist ein umfangreiches Kapitel aus dem Zweiten Teil der Untersuchung fortgefallen: >Rhetorische Dramaturgie - Das Drama als Gegenstand angewandter RhetorikStudien zur deutschen Literatur< fühle ich mich den Herausgebern, insbesondere Herrn Prof. Dr. Wilfried Barner, und dem Max Niemeyer Verlag dankbar verpflichtet. Meine Eltern haben durch vielfache Hilfe entscheidend dazu beigetragen, daß diese Arbeit ihren Abschluß finden konnte; ihnen fühle ich mich in tiefer Dankbarkeit verbunden. Zuletzt möchte ich hier der Wohngemeinschaft in der Mathildenstraße gedenken, die einen guten Teil des mühevollen Weges mitgemacht hat. Ihr, die mit dem heutigen Tag ein Ende nimmt, sei dieses Buch gewidmet. Planegg, Aschermittwoch 1979
X
Konradin Zeller
Einführung
Das literarische Werk Christian Weises ist noch erstaunlich ungleichmäßig erschlossen. Während seine Lyrik nach wie vor als terra incognita gelten muß, 1 haben die Romane hin und wieder Beachtung gefunden, ohne daß dabei genaue Einzelanalysen in Angriff genommen worden wären. 2 Weitaus am besten erforscht ist demgegenüber Weises dramatische Produktion. Bereits um die Mitte des vorigen Jahrhunderts beginnt mit der Dissertation von E. W. Kornemann (1853) eine lange Kette einschlägiger Abhandlungen, die nur zwischen 1935 und 1955 für zwei Jahrzehnte spürbar unterbrochen ist. Überblickt man diesen Hauptteil der Weiseforschung, so fällt auf, daß die inhaltliche Interpretation der Stücke deutlich hinter dem vorrangigen Interesse an formalen Problemen und dramaturgischen Fragen zurücktritt. Wenn wir hier erneut an dieser Blickrichtung festhalten wollen, so bedarf dies der Begründung. Die folgende Einführung gibt zunächst einen thematisch in bestimmter Weise akzentuierten Forschungsbericht (erster Abschnitt), entwickelt daraus dann eine größere Forschungsaufgabe (zweiter Abschnitt) und grenzt schließlich (dritter Abschnitt) jenen Bereich ein, der das Untersuchungsfeld der vorliegenden Studie bilden wird.
1
Außer der summarischen Behandlung der Weiseschen Lyrik in den verschiedenen Literaturgeschichten (eine Ausnahme bildet der ausführliche Abschnitt bei G. Witkowski, Geschichte des literarischen Lebens 262ff) existiert m. W. nur die gleichfalls recht allgemein gehaltene Einleitung M. v. Waldbergs zu seiner Edition der >Überflüssigen Gedanken< (1914). 2 Zu nennen sind hier die Arbeiten von A. Dau (1893/94), J. Beinert (1907), R. Becker (1910), dann nach langem Intervall - in den allerdings das wichtige Weise-Kapitel von A. Hirsch (1934) fällt - erst wieder die neueste WeiseStudie von G. Frühsorge (1974).
1
1. Der pädagogische Zweck als Ärgernis der Literaturwissenschaft: Weises Schuldrama im Licht der Forschung In welchem Ausmaß die wissenschaftliche Erforschung der eigentlichen Barockliteratur lange Zeit von problematischen Wertbegriffen behindert, der Zugang zum stilistischen Maniermus des Hochbarock von Vorurteilen verstellt war, vermögen wir inzwischen recht gut zu übersehen.3 Auf ganz andere, aber nicht minder deutliche Art hat auch die Weiseforschung ihr Wertungsproblem; das wird im folgenden herauszuarbeiten sein. Die ältere Forschung, die dem »Schwulst« der barocken Literaten verständnislos gegenübersteht, begrüßt in Weise einen der wichtigsten »Gegner der zweiten Schlesischen Schule« 4 und vermerkt dankbar, daß nicht zuletzt durch ihn »dieser krankhafte Zustand« 5 des literarischen Hochbarock ein Ende genommen, mithin eine Wiedergenesung der deutschen Literatur eingesetzt habe. So sieht man in seinen historischpolitischen Dramen »gegen die armseligen Haupt- und Staatsaktionen, gegen die hochtrabenden und abgeschmackten Trauerspiele Lohensteins, ja selbst gegen die Alexandrinertragödien des Gryphius einen ganz bedeutenden Fortschritt«. 6 Gepriesen wird hier vor allem Weises Wechsel vom Vers zur Prosa, wodurch er »von all der hohlen und aufgeblasenen Rhetorik wieder zum natürlichen Ausdruck der Leidenschaften« 7 zurückgeführt habe: »Gerade hier mit dem unglückseligen Alexandriner gebrochen zu haben, ist ein Verdienst Weises, und nicht sein geringstes«.8 Doch die Anerkennung, die Weise aus diesem Grunde findet, schlägt nur allzu leicht ins Gegenteil um. Seine stilistische Opposition gegen die Schlesier wird nämlich doch als übertrieben empfunden, er hat gewissermaßen des Guten zuviel getan: »Feind des verstiegenen Schwulstes der Lohensteiner, strebte er nach Einfachheit des Ausdrucks und 3
Es sei hier nur auf die bisher wohl gründlichste Aufarbeitung dieses Fragenkreises hingewiesen: H. Jaumann, Die deutsche Barockliteratur. Wertung Umwertung (1975). 4 So der Titel der 1883 von L. Fulda edierten Sammlung, deren II. Teil Weise in einer umfangreichen Einleitung und mit zwei Dramen (BM und BöC [die im folgenden gebrauchten Abkürzungs-Siglen für Weises Dramen sind im Literaturverzeichnis aufgelöst]) vorstellt. 5 O. F. Lachmann, Einleitung (1885) 4 6 L. Fulda, CW XLIV 7 Ebd. 8 Ebd.
2
wurde nüchtern und seicht.«9 Was schon Gottsched an Weise und einigen Gleichgesinnten getadelt hatte,10 wird nun in aller Schärfe kritisiert : »Weise will natürlich und ungezwungen sein, aber das Natürliche ist für ihn das Alltägliche, er fällt daher ins Hausbackene, Triviale und Platte, und, was noch schlimmer ist, er gefällt sich darin und macht aus seiner Unzulänglichkeit ein Prinzip.« 11 Um eben das Maß, das die Lohensteinianer zu >hoch< hinausgehen, liegt Weise mit seiner Dichtung zu >niedrigDichter< führt: »Von wenigen Jugendversuchen abgesehen hatte daher seine [= Weises] ganze umfangreiche dichterische Thätigkeit nur pädagogische Tendenzen. Von diesem Gesichtspunkt aus muß man ihn beurteilen, wenn man einerseits die schweren Mängel, die groben Geschmacklosigkeiten und Mißgriffe erklären, andererseits sein bedeutendes Talent, welches doch immer wieder durchbricht, richtig erkennen will«. 21 Der außerliterarische Zweck liefert die Erklärung für die ästhetische Unzulänglichkeit, die - solchermaßen entschuldigt umso freimütiger konstatiert werden darf; Fulda hat sich ja in der Tat mit krassen Wertungen hauptsächlich gegen die biblischen, teils auch gegen die historisch-politischen Dramen Weises ausgelassen. Ist in diesen beiden Gattungen das Schulmeisterhafte die Ursache allen literarischen Übels, so kommt erst in den Possen und Schwänken der >wahre< Weise zum Vorschein: »Hier hat er vor allem seine didaktischen Schrullen fast gänzlich beiseite gelassen oder sie doch in unschädliche [!] Vorund Nachspiele verbannt. Der poetische Kobold, der ihm im Nacken saß, triumphiert über den würdigen Schulmeister, reißt ihm die steife Perücke ab und offenbart ihn als das, was er seinem innersten Wesen nach ist, als einen Volksdichter im eigentlichsten Sinn«. 22 Weil alles Pädagogisch-Zweckhafte seinem Begriff von Literatur grundsätzlich widerstreitet, ist Fulda nicht bereit, die pädagogischen Intentionen des Dramatikers Weise ernstzunehmen (>didaktische Schrullenpoetischen KoboldsSchulmeisterperücke< übergestreift haben soll, für ihn war der Zittauer Rektor vielmehr »mit Leib und Seele Pädagog«, war sogar »einer der besten Schulmänner L. Fulda, CW LXXIV; diese Auffassung wirkt in der Forschung noch lange nach, vgl. etwa K. Holl, Geschichte (1923), 101 ; A. H. J. Knight, Das Komische (1935), 116; und noch 1957: »Nur dann und wann, in seinen kleinen Nachspielen vor allem, in den derben Volksstücken führt der Mann aus dem Volke den Humanisten Weise hinters Licht« (L. Hoffmann, Einleitung 12). 21 L. Fulda, CW IV 22 Ebd. LIV 20
5
seines Jahrhunderts«. 23 Mit großem Nachdruck fordert Lachmann daher, »daß ein unparteiischer Litterarhistoriker, um ein gerechtes Urteil über Christian Weise zu fällen, sich durchaus auch auf seinen Standpunkt als Pädagog und Schulmann stellen muß«. 24 Damit ist die pädagogische Zweckbestimmung der Dramatik freilich noch nicht gutgeheißen, denn er stellt gleichzeitig fest, daß »gegenüber dem delectare das prodesse ein ungebührliches Übergewicht«25 habe. So kann es nicht verwundern, daß Lachmann sich letztlich doch wieder mit Fulda trifft. Dessen polemische Kritik vollzieht er zwar nicht mit, doch in der Würdigung des Positiven nähert er sich der Fuldaschen Position bis in die Formulierung hinein. Weise erscheint ihm mit seiner dramatischen Produktion dort »am glücklichsten«, wo er »die didaktische Richtung [...] gänzlich bei Seite gelassen«26 hat - nämlich in den Lustspielen: »die Schulmeisterwürde schwindet und der liebenswürdige Schalk siegt über alle ängstlichen pädagogischen Scrupel«.27 Auch Lachmann bleibt, trotz seiner Bereitschaft zu vorurteilsloser Berücksichtigung des Schulzwecks, der Tendenz verhaftet, aus dem Schuldramatiker Weise den >eigentlichen< Lustspieldichter Weise herauszuschälen. Bezeichnenderweise wird die These vom Widerspruch zwischen dem Schulmann und dem Volksdramatiker nie mit konkreten Belegen erhärtet. Es bleibt beim pauschalen Verdacht gegen die Pädagogik, die man sich nur als >steife Schulmeisterperücke< vorstellen kann und von der man nur »ängstliche Skrupel< erwartet - was immer das sein mag. Fulda verzichtet nicht umsonst darauf, die von ihm konstatierten >Geschmacklosigkeiten< im einzelnen wirklich auf ihre angebliche pädagogische Ursache zurückzuführen; nur so hat die These Bestand. Bei näherem Zusehen zeigt sich, daß die Begriffe >volkstümlich< und >schulmeisterlich< eine höchst fragwürdige Opposition bilden, von der im Falle Weises keine Klärung zu erhoffen ist. Vor allem aber ist der Versuch, die »volkstümlichem Possen und Lustspiele gegen die »schulmeisterlichem Bibel- und Geschichtsdramen auszuspielen, methodisch schon deshalb prekär, weil er die konkreten Verhältnisse im Zittauer Schultheaterbetrieb mißachtet. Weise hat sich, über die gesamte Hauptperiode seiner Theaterarbeit (also während des ersten Jahrzehnts seiner Zittauer Amtszeit) hin, strikt an die von ihm in die lokale Tradition eingeführte Regelung gehalten, bei den dreitägigen Schulspielen »den 23 24 25 26 27
6
O. F. Lachmann, Einleitung 4 Ebd. 4f Ebd. 4 (Hervorhebung von mir) Ebd. 14 Ebd.
ersten Tag eine geistliche Materie aus der Bibel/ den andern eine Politische Begebenheit aus den Historien/ letzlich ein freyes Gedichte neben einem lustigen Nachspiele« 28 zu präsentieren. Die drei Gattungen bilden jeweils eine Aufführungseinheit, und es verbietet sich von daher grundsätzlich, aus dieser festen Trias eine Einzelgattung als nicht pädagogisch-zweckgebunden herauszubrechen und in Widerspruch zu den beiden anderen Gattungen zu setzen. Wo die Forschung einen derartigen Widerspruch wahrnimmt, besteht aller Anlaß, ihren Begriff des >Pädadogischen< infragezustellen. Mit Weises Bildungsidee und praktischer Erziehungslehre hat dieser Begriff jedenfalls nicht viel gemein : Die germanistische Weiseforschung hat sich nie die Mühe gemacht, Weises Pädagogik wirkliche Beachtung zu schenken. Robert Petsch spricht offen aus, daß die pädagogischen Schriften wenig erhellend für das literarische Werk Weises seien.29 Trotzdem will er den Dichter mit dem Lehrer zusammengesehen wissen, denn »Weises ganze Dichterei ist auf die Schule berechnet und nach Gehalt, Stoff und Form nur von hier aus richtig zu würdigen«.30 Das braucht zunächst nicht mehr zu sein als die bekannte Anerkennung des Schulzwecks, dem die ästhetischen Entgleisungen angelastet werden können, so etwa, wenn es heißt, Weise habe den Stoff seiner Schuldramen »mit einer uns bisweilen unerträglichen, aber durch den erzieherischen Zweck bedingten Redseligkeit aufgetrieben«. 31 Doch Petschs Forderung, Weise >richtig zu würdigem, ist mehr als ein Appell an die Nachsicht der Literaturwissenschaft, ein Plädoyer auf mildernde Umstände. Wenn er feststellt, der unmittelbare Vergleich Weises mit einem Gryphius oder Lohenstein sei ungerecht, 32 so liegt darin natürlich eine starke Wertung - die 28
Zweyf. Poeten-Zunfft, Vorr. Α 2Γ. Daß tatsächlich Weise selbst diesen Aufführungsmodus geschaffen hat, halte ich für evident. Die lokale Schultheatertradition gibt nur die Regelung vor, es sollten »alle Jahr drey unterschiedene Schauspiele von den Studirenden gehalten werden« (Zweyf. Poeten-Zunfft, Vorr. Α 2Γ). Die Einführung der konstanten Gattungstrias ist offensichtlich Weises Werk: »Weil es auch eingeführet ist/ daß man drey Tage nach einander was neues hat sehen wollen: So machte ich bald im Anfange [d. h. gleich zu Beginn seiner Amtszeit] die Eintheilung/ daß erstlich was Geistliches aus der Bibel/ darnach was Politisches aus einer curiösen Historie/ letzlich ein freyes Gedichte [...] die Zuschauer bey dem Appetit erhalten möchten.« (Lust und Nutz, Vorr. )( 3V, Hervorhebung von mir; vgl. ferner Lieb.-Alliance, Vorr. a 3V). 29 R. Petsch, Einleitung (1907), V 30 Ebd. Vf 31 Ebd. X; man vermißt allerdings eine nähere Erklärung, inwiefern die pädagogische Absicht (also wohl Redeerziehung) mit der angeblichen >Redseligkeit< zusammenhängt. 32 Ebd. VI 7
Genannten sind in ihrem literarischen Rang inkommensurabel. Gleichzeitig wird damit aber die Wertungsfrage überhaupt in den Hintergrund geschoben, und darauf will Petsch offenkundig hinaus. Sein Versuch, Weises Dramaturgie aus ihren eigenen Voraussetzungen zu verstehen, hebt ihn in gewissem Grad gegen die ältere Forschung ab und ordnet ihn einer mittleren Phase zu, die sich einem Studium dieser Dramaturgie widmet. In seiner Untersuchung zu den biblischen Dramen Weises kommt auch Hans Schauer zu dezidierten Werturteilen. Für ihn spielt jedoch das pädagogische Moment nur eine beiläufige Rolle, wenn er insgesamt eine »erstaunliche Vernachlässigung des Formalen« 33 feststellen muß. Welcher Natur seine Kriterien sind, beweist er mit dem Vorwurf, Weise gehe den »entgegengesetzten Weg [...], den heute die Kunstlehre vom Drama fordert«. 34 So verwundert es kaum, daß seine Beschreibung der Weiseschen Dramaturgie in ein Fazit mündet, das der Wertungsfreude Fuldas nicht nachsteht. Weise muß sich sagen lassen, daß »seine Begabung nicht eigentlich dramatisch war, sondern zu betulicher, geschwätziger Belehrung neigte. [...] Die gefährliche Gepflogenheit, jedes Drama nur einmal aufzuführen, öffnete ihm niemals die Augen über die eigene Unzulänglichkeit. [...] Überall verlor er sich, von einer falschen Auffassung des Dramatischen ausgehend, in liebevoll ausgeführte Einzelheiten, die man aus dem sinnlosen Wust seiner Dramen herausheben muß, um seiner Begabung gerecht zu werden«.35 Stärker zur Geltung kommt die Position Petschs dann in Heinrich Haxels >Studien zu den Lustspielen Christian Weises< aus dem Jahr 1932. Er läßt keinen Zweifel daran, daß Weises Dramen »dem rhetorischen Zweck untergeordnet«, 36 daß sie - als Schuldramen - »technisch [...] merkwürdig« 37 seien: eben eine »Gebrauchskunst«, 38 die allein vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Schuldramatik kritisch bewertet werden dürfe. Damit ist der Weg frei für eine unvoreingenommene Untersuchung, die - auch Haxels Interesse gilt vorrangig den formalen Problemen der Weiseschen Dramatik - an ihren Gegenstand wesentlich näher herankommt als die älteren Arbeiten. Ihren Abschluß findet diese mittlere Periode der Forschung, die sich gegenüber der wertenden Selektion der älteren Forschung verstärkt um 33
H. Schauer, CW's biblische Dramen (1921), 55 Ebd. 29 Ebd. 123 (Hervorhebung von mir) 36 H. Haxel, Studien 14 37 Ebd. 1 38 Ebd. 6 34
35
8
eine deskriptive Erfassung bemüht, 39 mit der breit angelegten Arbeit von Walther Eggert über >Christian Weise und seine Bühne< (1935). Ihr Ziel ist - wie der Titel schon andeutet -, Weise nicht als Dramatiker zu behandeln, sondern als »jenen Schul=Meister [ . . . ] , der seinen Ehrgeiz darin sah, auch als ein >Meister der Bühne< zu gelten«. 40 Weises Schuldrama wird hier unter einer neuen Perspektive dargestellt: Die Schule tritt nicht als pädagogischer Zweck, sondern als Institution in Erscheinung. Eggert stellt Weise in die Tradition des Zittauer Schultheaters und untersucht vor allem die äußeren Verhältnisse, unter denen Weise seine Schulspiele schuf. Diese an sich wichtige Arbeit leidet allerdings unter der positivistischen Selbstgenügsamkeit, mit der Eggert über weite Strecken immense Materialberge zusammenträgt, deren Auswertung dann aber unbefriedigend bleibt. G a n z anders setzt die Weiseforschung nach dem Zweiten Weltkrieg wieder ein; sie steht nunmehr im Zeichen der geistesgeschichtlichen Orientierung der Literaturwissenschaft. Unter dieser Perspektive kommt es jetzt zu jenem Vergleich zwischen Gryphius und Weise, den ein halbes Jahrhundert zuvor - in Bezug auf die formale Gestaltung - R. Petsch als unstatthaft abgelehnt hatte. Franz-Josef Neuß möchte in seiner Dissertation (1955) anhand einer Gegenüberstellung der beiden Dramatiker den Wandel von der hochbarocken Weltsicht des Gryphius zum spätbarocken Weltbild Weises aufzeigen. Dessen Pädagogik soll dabei keine entscheidende Rolle spielen: »Überhaupt geht es hier ja nicht um die eigentlich pädagogischen Ziele des Rektors, die zwar nicht unberücksichtigt bleiben dürfen, sondern u m die geistesgeschichtlich bedeutsame Struktur seines Schaffens«. 41 Wenn dies Verfahren jedoch dazu führt, aus dem >Ancre< , den Neuß in erster Linie auswertet, »die üngemilderte Reserviertheit des jungen Rektors gegenüber dem Erziehungsideal seiner Schule« 42 herauszuinterpretieren, dann rächt sich in 39
Eine Periodisierung, wie sie hier versucht wird, ist allerdings nur mit Vorbehalt möglich. Gerade in der Frage des pädagogischen Zwecks lassen sich die Pro- und Contra-Stimmen bzw. die Enthaltungen nicht in eine klare chronologische Abfolge bringen. Die hier gegebene Darstellung glaubt dennoch, anhand einzelner Schwerpunkte eine gewisse Entwicklung aufzeigen zu können. 40 W. Eggert, CW 22 41 F.-J. Neuß, Strukturprobleme 43 42 Ebd. 48; vgl. »Seiner Aufgabe als Lehrer der >Politic< steht er reserviert gegenüber« (ebd. 92); wenn gar behauptet wird: »Ratlos steht der junge Rektor der >großen Welt< gegenüber.« (ebd. 55), so möchte man kaum glauben, daß hier von Weise die Rede ist, dem erfolgreichen Autor >politischer< Romane und engagierten Vertreter einer praktisch-nützlichen Bildungskonzeption.
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einem solch widersinnigen Befund der Verzicht auf eine genauere Auseinandersetzung mit Weises Bildungsvorstellungen. Immerhin stellt Neuß seine Analyse der Strukturmerkmale der historisch-politischen Dramen unter die leitenden Aspekte der staatsbürgerlichen und politischen Erziehung und billigt auch den Komödien ein belehrendes Moment zu - insgesamt eine Berücksichtigung der Pädagogik, die ihm bald Kritik einträgt. Ziel der sechs Jahre später erschienenen Dissertation von Joachim Wich (1961) ist es, »eine Beurteilung der gesamten dramatischen Produktion des Dichters [Weise] in ihren verschiedenen Formen und geistigen Manifestationen« 43 zu geben. Mit kritischem Blick auf Neuß wird die Bedeutung der Pädagogik in diesem Zusammenhang erheblich eingeschränkt: »Weise hat zwar immer wieder in den Vorreden zu seinen Dramen auf deren pädagogischen Zweck hingewiesen, aber mit der Erkenntnis dieser pädagogischen Intention ist nicht einmal die gehaltliche Interpretation erschöpft, ganz abgesehen davon, daß über das Formalaesthetische dieser Dramen damit noch sehr wenig ausgesagt ist«.44 Dezidiert wie nie zuvor wird hier auf der ästhetischen Autonomie eines literarischen Werks insistiert, das - ob seinem Schöpfer bewußt oder nicht - an einem »Zwiespalt von programmatischer [d. h. erzieherischlehrhafter] Tendenz und im Drama selbst gestalteter Weltanschauung« 45 leidet. Dabei geht Wich nicht so weit zu behaupten, Weise habe den erzieherischen Zweck wider besseres Wissen nur zum Schein vorgegeben, - es scheint vielmehr so zu sein, daß in der »Verselbständigung des theatralischen Spiels gegenüber den moralisch-pädagogischen Anforderungen des Lehrtheaters« 46 eine unaufhaltsame autonome Eigendynamik der Literatur sich manifestiert, gegen die der Schulmann auf verlorenem Posten steht: »Es gelingt ihm [= Weise] nicht mehr, die ästhetische Selbständigkeit des dramatischen Spiels der pädagogischen Tendenz unterzuordnen«. 47 Es bedarf kaum eines Hinweises mehr, daß Wichs Studie von ihrem methodischen Ansatz her der vorliegenden Arbeit diametral gegenübersteht. Wichs Leistung, auf der Basis von ausgewählten Einzelinterpretationen Weises dramatisches Werk unter form- und geistesgeschichtlichem Aspekt als eine in vier Perioden sich gliedernde Einheit beschrieben zu haben, wird dennoch durch unsere Untersuchung im Kern nicht angegriffen. Problematisch ist die Arbeit 43
J. Wich, Studien 1 Ebd. 3f 45 Ebd. 4 « E b d . 13 47 Ebd. 44
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Wichs weniger in ihren Resultaten, auch wenn diese bisweilen von seinem anti-pädagogischen Affekt verzerrt erscheinen, als vielmehr in ihrem Selbstverständnis, genauer gesagt in ihrem Mißverständnis, die zu eruierenden »geistigen Manifestationen« müßten notwendig in Opposition zur Sphäre des Pädagogischen stehen - als sei die Pädagogik nicht selbst Geistesgeschichte! In Wichs Perspektive artikuliert sich am deutlichsten die generell zweckfeindliche, daher auch den pädagogischen Zweck bestreitende Haltung der Literaturwissenschaft, von der zum Abschluß dieses Abschnitts gleich noch einmal zusammenfassend zu sprechen sein wird. Zuvor gilt es jedoch noch den Überblick über die Forschung zu vervollständigen. Im Jahre 1960 trägt die DDR-Germanistik zwei Dissertationen zur Weiseforschung bei. Klaus Schaefer untersucht >Das Gesellschaftsbild in den dichterischen Werken Christian Weisest Nicht nur eine Gattung, sondern Lyrik, Romane und dramatisches Werk werden gleichzeitig in die Analyse einbezogen, was sicherlich verdienstvoll ist, doch könnten gerade bei dieser Problemstellung eine stärkere Berücksichtigung der nichtliterarischen Schriften Weises und ein Ausgreifen über die Person Weises hinaus der Arbeit tiefere Dimension geben.48 Daß Weises Werk von seinem pädagogischen Anliegen getragen wird, steht für Schaefer außer Frage. In der Bewertung der Auswirkung dieses Umstands schließt er sich der alten Position an: »Bei Weise tritt das Moment der Erziehung beherrschend in den Vordergrund; oft so weit, daß dadurch die Grundelemente künstlerischen Schaffens aufgehoben werden. Er weiß die echte künstlerische Synthese zwischen Erziehungs- und Gestaltungswillen nicht zu finden«. 49 In der anderen Arbeit behandelt Horst Hartmann >Die Entwicklung des deutschen Lustspiels von Gryphius bis WeiseNach-Spiel< zum >Curiositaeten Krähmer< angeprangert.« (K. Schaefer, Das Gesellschaftsbild 77, Anm. 1). 49 K. Schaefer, Das Gesellschaftsbild 151; vgl. ein halbes Jahrhundert zuvor in nicht unähnlichem Wortlaut: »Die moralisierend-belehrende Tendenz hebt bei ihm [= Weise] die Tendenz zu künstlerischer Wirkung auf.« (O. Karstädt, Das Urbild 1157).
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aktiv auf die Gesellschaft einzuwirken«, 50 , sie soll, genauer gesagt, »durch eine parteiliche Gestaltung für die Durchsetzung der progressiven Ideen dieser Zeit kämpfen«.51 Unter diesem Aspekt findet der erzieherische Zweck im engeren Sinne keine Beachtung, Weises dramatisches Schaffen wird in Theorie und Praxis ganz unter literarischem Blickwinkel betrachtet. Ähnliches gilt für die thematisch unmittelbar anschließende Dissertation von Werner Rieck (1963), die die Entwicklung des deutschen Lustspiels nun >von Weise bis zur Gottschedin< verfolgt - einsetzend im Jahre 1688, also mit Weises Schauspiel von der >Unvergnügten SeeleUnvergngten Seele< ein problematischer Wendepunkt52 gewählt ist, kann hier nur am Rande angemerkt werden. Rieck bringt die späte Schaffensperiode Weises in einen eigenartigen Gegensatz zum pädagogischen Zweck, den er nur für die mittlere Periode der regelmäßigen Dreieraufführungen gelten lassen will: »Der Schulmann Christian Weise läßt sich seit 1688 nicht mehr allein davon leiten, für Schulzwecke zu schreiben. Seit 1688 schreibt er fast ausschließlich Komödien, die im Bürgertum spielen«. 53 50
H. Hartmann, Die Entwicklung 4 Ebd. 52 Formal gesehen wird man in dem Stück keine zum bürgerlichen Drama hinführenden Züge entdecken können; abgesehen von der eingemischten Parnaß-Allegorie ist es vor allem durch die Struktur des Revuespiels ganz ausgehendes 17., nicht beginnendes 18. Jahrhundert. Was nun das Unvergnügtsein des Vertumnus anbelangt, so sollte man behutsam umgehen mit der Behauptung einer vorweggenommenen Empfindsamkeit (vgl. etwa H. O. Burgers »Hypothese, bei Weise werde [...] schon ein Grundzug der Geistes- und Seelenhaltung dieses [=des 18.] Jahrhunderts sichtbar.« [Die Geschichte der unvergnügten Seele 127]). Die Weisesche Glückseligkeitslehre artikuliert sich nicht erst hier, sie begegnet schon im wesentlich früheren Romanwerk in eigentümlicher Verbindung mit der >politischen< Klugheitslehre. Dazu nur ein schlaglichtartiger Hinweis: »Der kluge sucht sein glück inwendig in seinem gemüthe; der närrische sucht es aussen/ wo er nicht zu befehlen hat.« (Klügste Leute 344). Schließlich ist die Apotheose glücklichen Lebens in der Einsamkeits-Idylle von Contento und Quiete (UvS V, lOff) eine direkte Herübernahme der ganz ähnlichen Episode mit den glücklichen Alten Coridon und Tityra wiederum aus den >Klügsten Leuten< (II. Buch, 2. Kap.), die Weise schon 1675 publiziert hat! 51
Mit mehr Recht setzt H. Haxel die >Nachbarskinder< als Wendepunkt an, in denen er »das erste deutsche bürgerliche Schauspiel« sieht (Studien 41); dies Stück wurde 1699 mit wenigen vornehmen Schülern privat aufgeführt, woraus Haxel folgert, daß »dieser bedeutsame Schritt nicht etwa das Erzeugnis eines neuen Stilwillens war, sondern aus den Zittauer Schulverhältnissen erwuchs« (ebd.).
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Bis hierher soll unsere Forschungsübersicht zunächst führen. Sie hat insgesamt das Bild einer Literaturwissenschaft entworfen, der die schulischen Zwecke Weises - und man könnte, mit Ausnahme der letztgenannten Arbeiten, wohl sagen: jegliche Zwecksetzung der Literatur ein Dorn im Auge sind. Sie vermag sich ihres Gegenstandes nur zu versichern, indem sie ihn nach Möglichkeit aus der Bindung an solche konkreten Ziele herauslöst, ihm dadurch literarische Dignität und literarhistorisches Interesse verleiht. Die Position der älteren Forschung ist hier noch weniger frei; sie empfindet das Pädagogische im Falle Weises als eine beinahe erdrückende Einengung des >Dichtersmit Leib und Seele Pädagoge< war, so erkennt man sehr bald, daß die Literaturwissenschaft sich den Zugang verstellt, wenn sie - um mit ihrem Selbstverständnis nicht in Konflikt zu kommen - diesem Schulmann aus Passion ein geschicktes Unterlaufen der Schulzwecke, einen aktiven Willen zur Emanzipation vom pädagogischen Auftrag meint unterstellen zu müssen. Natürlich ist es die Aufgabe der literarhistorischen Forschung, vorab das literarische Werk Weises zu untersuchen; dies darf jedoch nicht auf dem Wege geschehen, daß der Dramatiker oder >Dichter< vom Pädagogen abgetrennt bzw. eben sogar in Widerspruch zu ihm gesetzt wird. Von der Möglichkeit, diese herkömmliche Trennung zu überwinden, ist im folgenden zu sprechen.
53
W. Rieck, Das deutsche Lustspiel 12; vgl. »Außerdem waren die Weiseschen Stücke nicht mehr nur Schuldramen, sondern Schauspiele, deren Inhalte nicht mehr vom engen Schulzweck bestimmt wurden« (ebd. 90). 54 J. Wich, Studien 138
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2. Pädagogik, Rhetorik und Drama: Weises Schuldrama in neuer Sicht Weises schriftstellerisches Gesamtwerk als Einheit zu begreifen fällt deshalb besonders schwer, weil sich die Literaturwissenschaft seit je nur für die eine Hälfte seiner Person, für Weise den Dichter, zuständig fühlte, die andere Hälfte hingegen, nämlich den Schulmann Weise, den Erziehungswissenschaftlern vorbehalten wissen wollte, die sich seiner freilich - wie Hans Arno Horn moniert55 - recht stiefmütterlich annahmen. So tritt Weise, und das muß als symptomatisch für die allgemeine Einschätzung seines Schaffens gelten, in der Allgemeinen Deutschen Biographie< als geteilte Person in Erscheinung: Dichter und Pädagoge in getrennten Artikeln von einschlägigen Experten behandelt.56 Selbstverständlich hat diese Arbeitsteilung zwischen den beiden Diziplinen ihren guten Sinn. Man muß sich dabei aber der Tatsache bewußt sein, daß damit etwas auseinandergerissen wird, das für Weise und seine Zeit noch unverbrüchlich verbunden war. Speziell für den Umgang mit der Weiseschen Dramatik bringt nun die Arbeitsteilung zwischen Literatur- und Erziehungswissenschaft ihre besonderen Probleme mit sich. Denn gerade das Drama bildet jenen Bereich, in dem sich das Dichterische mit dem Pädagogischen vor allem überschneidet - ein Umstand, dem keine der beiden Fachdiziplinen gerecht zu werden vermochte. Von pädagogischer Seite ergaben sich naturgemäß keine Schwierigkeiten, den lehrhaften Zweck der Schuldramen zu konstatieren.57 Doch die Dramen selbst fallen eben nicht ins Ressort des Erziehungswissenschaftlers, der darum allenfalls seinem Kollegen von der Literaturwissenschaft entsprechende Ratschläge geben kann: »Die Hauptbedeutung der Schulkomödien lag für Weise in dem oratorischen Übungszweck, in dem Bereiche der >Prudentia oratoriaBäurischen Machiavelli 59 so erarbeitet auch Fritz Martini im Zusammenhang seines >MasanielloMasaniello< orientiert bleibt und so der Vielgestaltigkeit der Dramatik Weises nicht gerecht wird.61 Zuvor schon ist Weises Drama unter pädagogischem Aspekt untersucht worden. In ihrer Dissertation von 1969, die der vorliegenden Arbeit trotz gemeinsamer Zielrichtung noch genügend Raum zu lassen scheint,62 versucht Emmi Plett, »erstmalig einen Nachweis der Lehrhaftigkeit in den Dramen des Zittauer Rektors zu erbringen«. 63 Die Studie, die sich sicherlich in manchem auch mit unserer Untersuchung berührt, akzentuiert besonders die ethische Perspektive : Sittlichkeit und Glauben seien für Weise die wichtigsten Punkte hinsichtlich der Nützlichkeit des Schultheaters,64 und die drei Tugend-Lehren Weises werden »als eine didaktische >Poetik< behandelt«. 65 In diese Zeit fällt auch ein ganz anderer Vorstoß, der die Weiseforschung zunächst nur am Rande betrifft. Seit der Mitte der sech59
W. Schubert, Materialien (1966); hier vor allem der Abschnitt >Gattungsgeschichtliche Einordnung< (112ff). F. Martini, Masaniello. Die Abhandlung erschien erstmals 1970 und wurde dann als Nachwort in Martinis >MasanielloCuriösen Gedancken Von Deutschen Versen< (1692), unter dieser Perspektive nicht übermäßig ergiebig ist, was die im gleichen Jahr erschienene Arbeit von Renate Hildebrandt-Günther mit ihrem Weise-Kapitel ungewollt bestätigt.68 Zwar kann Ludwig Fischer, der in den Beziehungen von Dichtung und Rhetorik im 17. Jahrhundert »charakteristische Wandlungen gegenüber der Tradition« 69 herausarbeiten will, Weise sinnvoll einbeziehen, doch die in diesen Untersuchungen aufgezeigte Verschwisterung von Poetik und Rhetorik bringt insgesamt für den speziellen Fall Weises nicht allzuviel Gewinn. Ungleich fruchtbarer erscheint demgegenüber der von Wilfried Barner gewählte Ansatz, denn die Erforschung der »geschichtlichen Grundlagen« 70 der Barockrhetorik führt in die schulische Rhetorikerziehung, die gleichzeitig als Zentrum des Weiseschen Schaffens freigelegt wird. Barner hat die germanistische Barockforschung in eine Art produktiver Irritation geführt, 71 und seine Untersuchung, die Weise in einem eigenen Kapitel würdigt,72 stellt auch die Weiseforschung vor eine neue Situation. Rhetorik, so zeigt sich,73 ist für Weise nicht allein jener altbekannte Unterrichtsgegenstand, der auch bei ihm - allerdings in neuem, näm66
C. Wiedemann, Barocksprache 21 J. Dyck, Ticht-Kunst (1966), 21 68 R. Hildebrandt-Günther, Antike Rhetorik und deutsche literarische Theorie (1966), I. Teil, Kp. V: Dichtkunst ist Propädeutik der Rhetorik (60ff) 69 L. Fischer, Gebundene Rede (1968), 2 70 W. Barner, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen (1970) 71 Dies spiegelt am deutlichsten der Untertitel, den C. Wiedemann seinen Überlegungen zur Neuordnung der Forschungslandschaft gibt: Perspektiven der Forschung nach Barners >BarockrhetorikDer Werdegang eines großen Barockrhetorikers : Christian Weise< (Barockrhetorik 190ff; im Inhaltsverzeichnis abweichend als >Werdegang eines großen BarockrhetorsDie Oratorie als Grundlage der politischen Bildung< (88ff). 67
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lieh muttersprachlichem Gewände - den schulischen Lehrplan unumschränkt dominiert. Rhetorik ist für ihn viel mehr: eine »universale, den ganzen Menschen betreffende Disziplin«. 74 Weises Pädagogik ist eine ganz und gar rhetorische Pädagogik, ein auf die Beredsamkeit sich gründendes Bildungskonzept. Das aber bedeutet, daß sich in der Rhetorik das Literarische mit dem Erzieherischen unmittelbar begegnet: Die Trennung des Dichters vom Schulmann wird unter diesem Blickwinkel hinfällig, ja widersinnig - die Oratorie hat als das eigentlich integrierende Moment nicht nur in Weises vielseitiger praktischer Tätigkeit, sondern in seinem Denken überhaupt zu gelten. Dieser Umstand gewinnt nun vor allem für die Beschäftigung mit Weises Dramen Bedeutung. Barner hat sich ihrer im Rahmen seiner Arbeit nicht angenommen, aber er hat insbesondere der neueren Forschung, die den Dramatiker Weise aus dem Pädagogisch-Zweckhaften herauszulösen bemüht war, den Nachweis entgegengestellt, daß auch bei Weise noch - wie schon bei den Humanisten des 16. Jahrhunderts mit aller Selbstverständlichkeit das »Schultheater als Teil des >eloquentiapolitischer< Rhetorik zu stellen«. 76 In dieser Frage steckt soviel wie eine Gegenthese, die durch Barners nicht völlig korrekte Begründung nichts von ihrer Plausibilität einbüßt. 77 Die Rhetorik bildet in der Tat das notwendige, das vermittelnde Zwischenglied zwischen der Pädagogik 74
W. Barner, Barockrhetorik 191 Ebd., Kapitelüberschrift 302 76 Ebd. 315; Barner bezieht sich hier kritisch auf C. v. Faber du Faur, German Baroque Literature 412f. 77 Seine gegen Faber du Faur gerichtete Frage, »ob Weise überhaupt je zum >dramatist< geworden wäre ohne die konkrete, zweckbestimmende Bindung an das Schultheater« (ebd.), wird man weit eher zu bejahen haben als die oben zitierte zweite Frage, denn es stimmt nicht, daß »Weise vor seiner Berufung nach Zittau (mit Ausnahme eines Singspiels) nur Gedichte und Romane geschrieben« hat (ebd. 315, Anm. 302), wie Barner als Begründung angibt. Weise hat vor seiner Amtszeit in Zittau immerhin fünf Dramen verfaßt: Außer dem Sangspiel >Galathee< die >Triumphirende Keuschheit< (die biblische Geschichte vom keuschen Josef transponiert in die höfische Welt der Zeit), das Intrigenstück von der >Beschützten UnschuldDreyfachen Glück< als allegorische Huldigung an Leipzig, sowie schließlich nur als Lesedrama gedacht - die in den Politischen Redner< aufgenommene >Complimentier-ComödieDer geschickte Comoediantc Die Dramaturgie der Schulcomödie als Untersuchungsgegenstand Mit den Arbeiten von Horn und Barner hat die Weiseforschung einen Punkt erreicht, von dem sehr wohl vermutet werden kann, daß er einmal als Wendepunkt zu erkennen sein wird. Wer von der »politischem Redepädagogik her den Zugang zu Weises dramatischem Schaffen sucht, wer den »schulischen Zweck< - den nur mißgünstige Literarhistoriker mit einer moralisierend-pedantischen Zeigefingerbelehrung ineins setzen können - nicht leugnet oder ignoriert, der betritt ein vermeintlich wohlbekanntes Land unter ganz neuer Perspektive. Und er betritt ein weites Land. Das Feld, das sich zwischen den drei Eckpunkten Pädagogik, Rhetorik und Drama erstreckt, läßt sich nur schrittweise neu erschließen. An die genannten Vorarbeiten anknüpfend und sie weiterführend, unternimmt die vorliegende Studie den nächsten Schritt. Welcher Art der zu sein hat, folgt nahezu zwangsläufig aus der Lage der Dinge. Bevor man daran denken kann, Gehalt und lehrhafte Aussage der einzelnen Dramen unter Beziehung auf Weises oratorisch->politisches< Bildungskonzept auszuwerten, gilt es zunächst die hierfür nötigen Grundlagen bereitzustellen. Sie zu erarbeiten, soll die Aufgabe der folgenden Untersuchung sein. Die Arbeit setzt sich also zum Ziel, Weises Dramatik in ihrer besonderen Geprägtheit durch die >heteronomen< Bedingungen und Funktionen im Rahmen der Schule zu analysieren oder, allgemeiner formuliert, seine Dramaturgie als eine spezifische Schultheater-Dramaturgie einsichtig zu machen. Damit ist unsere Untersuchung in ihrem generellen Charakter bereits festgelegt: Sie fühlt sich einer historisch-deskriptiven Methode verpflichtet und möchte im wesentlichen eine beschreibende Analyse dieser Dramatik liefern. Insofern zwar bewußt >immanent< verfahrend, versucht die Arbeit dennoch, diese Eingrenzung des Blickfeldes in zweifacher Richtung zu überwinden. So wird Weises dramatische Produktion zum einen hinsichtlich ihrer Zielsetzung und Mittel in den Traditionszusammenhang der Schultheatergeschichte einzuordnen sein, zum anderen sollen ihre Beziehungen zur zeitgenössischen Dramenpoetik genauer verfolgt werden. Den methodischen Ausgangspunkt unserer Untersuchung bildet die Frage nach den strukturellen Besonderheiten des >SchuldramasSchulspielSchultheater< ist erst dort angebracht, wo solche Schulspiele eine mehr 19
oder weniger feste Einrichtung darstellen, wie dies vor allem für die Tradition des institutionalisierten schulischen Theaterspiels im 16. und 17. Jahrhundert zutrifft. Nicht jedes Schauspiel hingegen, das über die Schulbühne geht, ist als >Schuldrama< zu bezeichnen. So wenig heutzutage ein Stück von Brecht, Wilder oder Frisch zum Schuldrama wird, indem es eine Schüleraufführung erlebt, so wenig paßt dieser Terminus auf die Komödien von Plautus und Terenz, also jenen beiden Dramatikern, die dem historischen Schultheater humanistischer Tradition als bevorzugte Schulautoren dienten, bevor eine eigenständige Produktion von >SchulcomödienKeuscher Joseph< dagegen gehört ohne Frage unter die Schuldramen, obwohl es mit einiger Sicherheit nie von Schülern aufgeführt worden ist.83 Was also ist ein >Schuldrama