Science Fiction in Deutschland : Untersuchungen zur Genese, Soziographie und Ideologie der phantastischen Massenliteratur

Science Fiction stellt eine populäre Form der Gegenutopie dar. In ihr ist an die Stelle des Fortschritts die bloße „Neue

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German Pages [282] Year 1972

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Titel
INHALTSVERZEICHNIS
VORBEMERKUNG
EINLEITUNG
I. VON DER UTOPISCHEN OPPOSITIONSLITERATUR ZUR KONFORMLITERATUR DER SCIENCE FICTION
1. Das Ende des revolutionären utopischen Romans
2. Von der Utopie zur utopischen Methode
3. Die Nachtseiten der Naturwissenschaft
II. DIE KONSOLIDIERUNG DER SCIENCE FICTION
1. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und Innerlichkeit
2. Nationalismus und Evolution als Revolutionsersatz
3. Auf der Suche nach irrationalen Autoritäten
4. Science Fiction in der Kolportage und als Groschenhef
5. Exkurs über den "Kampf gegen Schmutz und Schund"
III. ZWISCHEN DEN WELTKRIEGEN — SCIENCE FICTION AUF DEM WEG ZUR REALISIERUNG
IV. SCIENCE FICTION — TECHNOKRATISCHE IDEOLOGIE FÜR DIE WISSENSCHAFTLICH-TECHNISCHE DIENSTLEISTUNGSKLASSE
V. LITERATURVERZEICHNIS
VI. REGISTER
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Science Fiction in Deutschland : Untersuchungen zur Genese, Soziographie und Ideologie der phantastischen Massenliteratur

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Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen im Auftrag der Tübinger Vereinigung für Volkskunde herausgegeben von Hermann Bausinger, Utz Jeggle, Gottfried Korff, Martin Scharfe und Rudolf Schenda

30. Band

1972 TÜBINGER VEREINIGUNG FÜR VOLKSKUNDE E. V. TÜBINGEN SCHLOSS

MANFRED NAGL

SCIENCE FICTION IN DEUTSCHLAND Untersuchungen zur Genese, Soziographie und Ideologie der phantastischen Massenliteratur

TÜBINGER VEREINIGUNG FÜR VOLKSKUNDE E. V. TÜBINGEN SCHLOSS

Für die Umschlagsgestaltung wurde mit freundlicher Erlaubnis des Moewig Verlags, München, ein Ausschnitt aus dem Titelbild des Heftes Nr. 411 der Serie »Perry Rhodan“ („Brennpunkt Mimas“) verwendet.

Alle Rechte vorbehalten. Druck: Guide-Druck, Tübingen

INHALTSVERZEICHNIS VORBEMERKUNG.................................................................................................

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EINLEITUNG..........................................................................................................

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I. VON DER UTOPISCHEN OPPOSITIONSLITERATUR ZUR KONFORMLITERATUR DER SCIENCE FICTION ......................... 1. Das Ende des revolutionären utopischen Romans................................. 2. Von der Utopie zur utopischen Methode................................................. 3. Die Nachtseiten der Naturwissenschaft.....................................................

23 23 29 40

II. DIE KONSOLIDIERUNG DER SCIENCE FICTION ........................ 51 1. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und Innerlichkeit.................... 51 2. Nationalismus und Evolution als Revolutionsersatz............................ 64 3. Auf der Suche nach irrationalen Autoritäten............................................. 100 a) Omnia ad maiorem Dei gloriam............................................................. 100 b) Die Regression in den künstlichen Mythos............................................. 105 4. Science Fiction in der Kolportage und als Groschenheft........................ 130 5. Exkurs über den „Kampf gegen Schmutz und Schund“........................ 143

III. ZWISCHEN DEN WELTKRIEGEN — SCIENCE FICTION AUF DEM WEG ZUR REALISIERUNG .................................................150 1. Revanche für Versailles................................................................................. 154 2. Faschistische Mythen und Geheimwissenschaften.................................... 172 IV. SCIENCE FICTION — TECHNOKRATISCHE IDEOLOGIE FÜR DIE WISSENSCHAFTLICH-TECHNISCHE DIENSTLEISTUNGS­ KLASSE ................................................................................................................. 195 V. LITERATURVERZEICHNIS

VI.

.........................................................................223

REGISTER........................................................................................................... 271

VORBEMERKUNG

Die lange Zeit vorherrschende Ignoranz des deutschen Kultur- und Wis­ senschaftsbetriebs gegenüber der Unterhaltungsliteratur spiegelt sich noch heute im Fundus der öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken: Lie­ ferungsromane, Unterhaltungszeitschriften, Groschenhefte, Comics und Leihbuchromane sind dort bestenfalls sporadisch vorhanden. Hinzukommt die Tradition, mißliebige Literatur im Rahmen öffent­ licher Veranstaltungen bei einer Temperatur von „Fahrenheit 451“ den Aggregatzustand wechseln zu lassen (während des Zweiten Weltkrieges in unerwarteter Weise durdi Luftangriffe der Alliierten unterstützt), die weit­ gehende Blockierung des Leihverkehrs mit der Deutschen Zentralbibliothek in Leipzig und das Fehlen einer gesetzlich verbindlichen Regelung über die Sammlung von Druckerzeugnissen aller Art. All dies hat zu der paradoxen Situation geführt, daß die von Hermann Bausinger konstatierten „Schwie­ rigkeiten bei der Untersuchung von Trivialliteratur“ hierzulande vorab in der Beschaffung des Untersuchungsmaterials liegen. Ein Beispiel zur Illustration der Misere: Die Jahrgänge des Börsenblattes für den Deutschen Buchhandel, das um 1900 eine Auflage von dreieinhalb­ tausend Exemplaren hatte, finden sich in jeder besseren Bibliothek meter­ weise. — Von dem guten Dutzend der Fachzeitschriften des Kolportage­ gewerbes, die zur selben Zeit Auflagehöhen zwischen vier- und achttausend erreichten, ist in westdeutschen Bibliotheken eine einzige — unvollständig — erreichbar. Bei der vorliegenden Arbeit mußten dreiviertel der Arbeitszeit für die Materialbeschaffung verwendet werden. Daß diesem Aufwand wenigstens ein Teilerfolg beschieden war, verdanke ich Heinz-Jürgen Ehrig (Berlin), Prof. H. J. Stammer (Erlangen), Franz Rottensteiner (Quarb, Österreich), Hagen Zboron (Unterensingen), dem „Science-Fiction-Club Deutschland“, den Verlagen „Karl May“ (Bamberg), „Heyne“ und „Moewig“ (München), „Pabel“ (Rastatt), vor allem aber Jakob Bleymehl (Fürth/Saar). Mein besonderer Dank gilt Prof. Hermann Bausinger, den Freunden am Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen für ihr Interesse und ihre stetige Diskussionsbereitschaft und mei­ ner Frau, die das Typoskript dieser Arbeit anfertigte.

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„In geistige Hohlräume ist zu allen Zeiten nicht die Revolution, sondern die Reaktion eingeströmt.“ Walter Heist „Zweifellos werden wir auch auf andere Planeten Menschen bringen, weiter und weiter entfernt von der Erde. Aber der Höhepunkt wird erreicht sein, wenn eine wissenschaftliche Expedition schließlich in den Elendsquartieren der New Yorker 125. Straße, in Watts oder Newark landet; ich bezweifle, daß dies zu unseren Leb­ zeiten geschieht.“ Arthur Miller

„Daß man es den Leuten nicht nehmen darf, hat von je zum Sprichwörterschatz derer gehört, welche es den Leuten nehmen.“ Theodor W. Adorno

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EINLEITUNG Das engere soziale Umfeld der Science Fiction unterscheidet sich von dem anderer Formen populärer Literatur nicht zuletzt dadurch, daß die Science Fiction eine recht aktive, zum Teil organisierte und fanatische Lobby be­ sitzt. Im Bemühen um die rationalisierende Legitimation ihrer Lieblings­ lektüre — oft aber auch finanziell engagiert —, hat sie die Public-Relations-Arbeit für die Science Fiction übernommen. Von dieser Lobby stammt der größte Teil der bisher zum Thema erschienenen „Sekundärliteratur“. In diesen Apologien werden mit Vorliebe zwei scheinbar gegensätzliche Thesen zur Genese der Science Fiction vertreten. Einmal wird eine Ent­ stehungsgeschichte praktisch überhaupt geleugnet. Durch die Gleichsetzung von Mythos, abenteuerlichem Epos und Science Fiction wird postuliert, letztere sei von archetypischer Dauer und besitze mythische Weihe. Sie beginne „mit der Kunst des Erzählens“, spätestens aber mit dem „Epos von Gilgamesh“1. Die andere geläufige These kommt dagegen präzis-aktuell daher. Ihr zufolge schlug die Geburtsstunde der Science Fiction im April 1926 in den USA, als Hugo Gernsback, „der Vater der Science Fiction“, das erste expressis verbis der Science Fiction gewidmete Magazin („Amazing Stories“) herausgab. Da diese extremen Thesen die triviale Lösung einer Wahrheit „irgendwo dazwischen“ nahelegen, gesellt sich dazu die dritte Variante der Genese, die besagt, die Science Fiction sei ein Apfel vom Baum der frühbürger­ lichen Utopie, also legitimer Nachkomme von Morus’ Utopia oder — tech­ nisch-naturwissenschaftlicher — von Bacons Nova Atlantis. In der Praxis der Image-Pflege vereinen sich diese drei Thesen zu einer Gesamtapologie. Sie suggeriert, in der Science Fiction (und in dieser allein) verbinde sich das Archetypische eines Mythisch-Humanen mit aktueller technisch-naturwissen­ schaftlicher Prognose und dem seriösen Anspruch sozialer und politischer Verantwortlichkeit. Die Realität freilich hat ein anderes Gesicht. John T. Sladek, selbst Autor und Kenner des Genres, stellte in einer Kritik der gängigen Science Fiction den folgenden charakterisierenden Themenkatalog zusammen, der erkennen 1 P. Versins: 4000 Jahre Science Fiction. In: Science Fiction, 1968, S. [7].

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läßt, wie wenig jene mit dem zu tun hat, was ihr wohlmeinend nachgesagt wird: Wie viele Fliegen uns die SF-Magazine noch vorsetzen werden, weiß ich nicht, sicher aber sehen sie etwa so aus: 1. Das telepathische Überkind 2. Der Roboter (oder schleimige Außerirdische), der ein Leben rettet 3. Im tausendjährigen Krieg des pangalaktischen Reiches gegen die Vulv ist der Raumranger Jake gerade auf Routinepatrouille, als plötzlich ... 4. Des Helden Zeitmaschine trägt ihn ins Jahr ... 5. 1984, re-revisited 6. Die stahlgrauen Augen des Helden sehen die Lösung eines technischen Problems, die das Mädchen, das Raumschiff oder gar die Erde retten wird 7. Die Fremden herrschen grausam über die versklavten Erdlinge, bis der Held ihre geheimgehaltene Verwundbarkeit entdeckt 8. Einer von uns in der Raumstation ist in Wirklichkeit ein Androide und will uns alle vernichten 9. Der große Zentralkomputer macht einen einzigen kleinen Fehler 10. Der letzte Mensch der Erde 11. Neuer Feudalismus nach dem großen Atomkrieg 12. Erwachen nach hundertjährigem Kälteschlaf, der Held wird dringend gebraucht 13. Als er von der schwarzuniformierten Roboterpolizei gehetzt wird, gewährt ihm der Untergrund Zuflucht, ein Geheimbund von netten alten Männern und hübschen jungen Mädchen, jener Untergrund, den er in seiner Präsidentenzeit vergeblich zu zersprengen versucht hatte 14. Sprung in ein Paralleluniversum.2

Die ersten umfangreicheren deutschen Untersuchungen zur Science Fiction haben nicht zuletzt wegen ihres soziologisch-positivistischen Wissenschafts­ verständnisses die apologetischen Thesen der Science-Fiction-Interessen kol­ portiert und bestätigt. Die, von der Materiallage her nur teilweise entschuld­ bare, mangelnde Empirie wurde dabei durch voluntaristische Definitionen wettgemacht. Martin Schwonke3 sieht in der Science Fiction, nachdem er die „anspruchslosen Serienprodukte“4 (d. h. mindestens 90 % der Science Fiction) kurzerhand ausgeschlossen hat, die legitime zeitgenössische Nachfolgerin des utopischen Staatsromans. Hans-Jürgen Krysmanski5 kritisiert zwar Schwonkes Stammbaum der Science Fiction, stimmt aber im übrigen mit ihm über­ ein: „Science Fiction im strengen Sinn ist jedoch nicht mit dem technischen Zukunftsroman zu verwechseln: sie ist in ihren reinen Formen wortwörtlich ,naturwissenschaftliche Literatur1 [. . .] Als fiktiver Dialog mit der naturwis2 3 4 5

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R. Scheck: Kotitus 80, 1970, S. 199 f. M. Schwonke: Vom Staatsroman, 1957. Ebd., S. 143 H.-J. Krysmanski: Die utopische Methode, 1963.

senschaftlichen Hypothese ist die Science Fiction eine spezifisch amerikani­ sches Phänomen Was immer diese Science Fiction im „strengen Sinn“ oder in ihrer „reinen Form“ sein mag, und vor allem, wo sie zu finden ist, bleibt unbestimmt oder wird der eingangs erwähnten Apologetik entnom­ men. Das von Schwonke vorgelegte Material jedenfalls trägt — trotz be­ mühtester Überinterpretationen — keine dieser Behauptungen. Eine frühe Kritik der Thesen Schwonkes von Heinz Ischreyt* 7 in den VDI-Nachrichten blieb vom Literaturbetrieb weitgehend unbeachtet. Das auffällige Faible der neueren Soziologie, auch der deutschen Nachkriegs-Soziologie8, für die Science Fiction resultiert aus mehreren Gründen. Einmal war es wohl das Desinteresse der philologischen Disziplinen an der Massenliteratur überhaupt, das auch die Analyse dieses Genres der Soziolo­ gie zuzuweisen schien. Da dieses Desinteresse zugleich mit einer negativen ästhetischen Wertung gekoppelt ist, mußte die Versuchung naheliegen, mit anderen Fragestellungen auch andere, zugleich positivere, Wertungen ein­ zubringen. Dafür spricht auch, daß Schwonke wie Krysmanski — obwohl Soziologen — bei der Auswahl des Untersuchungsmaterials sich vornehm­ lich von philologisch-eklektizistischen Kriterien leiten ließen. Ein weiterer — banal erscheinender — Grund für das Faszinosum, das die Science Fic­ tion für die deutsche Soziologie darstellt, dürfte darin zu sehen sein, daß sie sich den Anschein gibt — gleichsam wie neuere Trends der Soziologie selbst —, aus den USA auf die tabula rasa des Nachkriegsdeutschlands zu kommen. Der eigentliche Grund für die Affinitäten zwischen dem soziologischen Positivismus und der Science Fiction aber liegt darin, daß beide — auf ver­ schiedenen Ebenen — dieselbe, als wertfrei ausgegebene, technokratische9 « Ebd., S. 89. 7 H. Ischreyt: Science fiction, 1958. 8 Das von W. Bernsdorf herausgegebene Wörterbuch der Soziologie — 2. Aufl. 1969 — enthält ein eigenes (von Schwonke verfaßtes) Stichwort „Science Fiction“, obwohl andere, ihrer Verbreitung nach relevantere, Genres fehlen. Vgl. auch die auffällige Überrepräsentation der Science Fiction in der Bibliographie zu Alphons Silbermanns Artikel „Systematische Inhaltsanalyse“ im Handbuch der em­ pirischen Sozialforschung, 1, 1962, S. 570—600. hg. v. R. König u. H. Maus. Die International Encyclopedia of Social Sciences — hg. v. D. L. Sills, 1968, vol. 14, S. 437—480 — beschränkt sich immerhin auf „Social Science Fiction“. — Daß die Science-Fiction-Enthusiasten nach wie vor die Mär verbreiten, sie seien Anhän­ ger einer verfemten und unterdrückten Literatur, hat — wie noch zu zeigen sein wird — sozial- und psychopathologische Gründe. fl „Technokratie“ ist hier nicht nur vordergründig als „Herrschaft der Techniker“

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Auffassung von der Gesellschaft vertreten. Die „Wertfreiheit“ bezeichnet dabei nichts anderes als den ausdrücklichen Verzicht auf einen humanen postulathaften Begriff von Gesellschaft, von dem her die kritische Gesell­ schaftstheorie [...] nicht nur die Einrichtungen und Sozialprozesse beschreibt und abwägt, son­ dern jene mit diesen, mit dem darunterliegenden Leben derer konfrontiert, über welche die Institutionen gesetzt sind [.. .].10

Und eben dieser Verzicht auf eine Theorie der Gesellschaft kennzeichnet auch die Science Fiction gegenüber der Utopie, charakterisiert sie als „Rückfall hinter die Höhe der rationalen Utopie der Aufklärung“11. Wenn utopische Intention sich in ihren heute relevanten Formen theoretisch reflek­ tiert äußert, so mag sie sich auf der untersten und breitesten Stufe ihrer literarischen Artikulation in verstellten Wunschphantasien, trüben Mythen und Märchenklischees als ungeklärter Impuls niederschlagen. Die alte literarische Utopie hielt einmal bei­ des verbunden: das Wünschen als utopische Bestrebung des ,Lustprinzips' und die theoretische Anstrengung, die zeigen sollte, daß und wie der Wunsch realisierbar sei. Auseinandergefallen, hat sich das Wünschen im utopisch-theoretischen Denken auf karge Weise zurückgezogen, und wo es noch prall aufzutreten sucht, fehlt ihm die theoretische Anstrengung. Ohne sie aber bleibt es unmündig, preisgegeben jeder Manipulation, die ihm die kritische Spitze nimmt, seine wahren Inhalte verfälscht und seine gesellschaftlichen Ziele umbiegt.12

Schwonkes und Krysmanskis Bemühungen sind darauf gerichtet, den Be­ griff der Utopie zu neutralisieren. Die teilweise grotesken Überinterpreta­ tionen des Untersuchungsmaterials bei Schwonke und ihre unkritische Über­ nahme von Krysmanski erklären sich dadurch, daß es beiden weniger um Analysen der belletristischen Utopie geht, die — inzwischen abgewirt­ schaftet — für den soziologischen Positivismus bestenfalls noch ein histo­ risches Ärgernis darstellt, sondern um eine Uminterpretation des Begriffs des Utopischen überhaupt. Im Insistieren auf der Hersteilbarkeit mensch­ lichen Glücks und dem Abbau überflüssiger Herrschaft, ja der Abschaffung der Klassenherrschaft als deren Vorbedingung, ist dieser Utopiebegriff in der kritischen Gesellschaftstheorie ebenso virulent, wie er sinngebendes Ele­ ment jedes humanen und emanzipatorischen Wissenschaftsverständnisses überhaupt ist. Damit stellt er aber zugleich das schlechte Gewissen eines gemeint, obwohl dies immer mitintendiert ist, sondern als „Herrschaftsver­ schleierung“ durch einen ideologischen Technikbegriff. 10 Institut für Sozialforschung: Soziologische Exkurse, 1965, S. 28. 11 A. Neusüss in: Utopie, 1968, S. 91. 12 Ebd., S. 92.

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theorie- und utopielosen Pragmatismus dar, der seinen Stolz darin sieht, sich nicht über das zu erheben, was ohnehin ist. „Was anders ist, was auf die Frage nach der Legitimation von Gesellschaftlichem drängt, anstatt bloß festzustellen und zu klassifizieren, was der Fall ist, verfällt dem Arg­ wohn“12 und wird des Verstoßes gegen wissenschaftliche Objektivität oder die Logik bezichtigt. Wann immer sich die Stimme der Wissenschaftlichkeit am pathetischsten erhebt, kann man sicher sein, daß sie etwas sich selbst verbietet, und zwar genau das, wes­ wegen die Menschen eigentlich über die Gesellschaft nachdachten. Äquivokationen haben oft ihren guten Sinn: ,positiv' ist die Soziologie geblieben, nicht nur, weil sie sich ans Gegebene halten und den Wunsch, den Vater des Gedankens, ausrotten will, sondern auch, indem sie zu dem, was nun einmal ist, sich positiv verhält. Sie ver­ wehrt es sich, kritisch an das Bestehende zu rühren.13 14

Während Karl R. Popper gegen die Utopie anging und ihr das social engineering positiv gegenüberstellte15*, versuchen Schwonke und Krysmanski eine elegantere Lösung des „Positivismusstreits“ zugunsten systemimmanen­ ter Planungsrationalität. Sie erklären — in der Nachfolge David Riesmans18 — social engineering zur zeitgemäßen und progressivsten Form der Utopie und unterschiedslos alles, was sich damit nicht bescheidet, zur kon­ servativen „Gegenutopie“. (Obwohl es diesen Begriff, wegen der von ihnen postulierten „Wertneutralität“ der Utopie „wissenschaftslogisch“ nicht mehr geben dürfte.) Dabei kommen ihnen die Science-Fiction-Produkte gerade recht, die bestenfalls „Utopien bloß realisieren, um den Menschen die Utopie auszutreiben“17. Populärer „Zeitgeist“ dient als Indiz und Legitimation für das Wissenschaftsverständnis des Positivismus. Wann immer Schwonke oder Krysmanski die Science Fiction oder die „utopische Methode“ von der Utopie positiv absetzen, ist damit eigentlich die Überwindung der kritischen Soziologie durch den soziologischen Posi­ tivismus gemeint. Gleichzeitig liefern sie aber eine vorzügliche, weil unkon­ trollierte, Entlarvung ihres Wissenschafts- und Gesellschaftsverständnisses: Die Utopie, die ihre eindeutigen Ziele verliert, die aufgehört hat, Parteiideologie einer vorwärtsstrebenden, aktionswilligen Schicht zu sein, wird für viele Einflüsse und nach vielen Richtungen offen.

13 Institut für Sozialforschung: Soziologische Exkurse, 1965, S. 17. 14 Ebd., S. 14. 15 K. R. Popper: Die offene Gesellschaft, 1947/48. 18 D. Riesman: Utopisches Denken in Amerika. In: A. Neusüss: Utopie, 1968, S. 327—338. 17 Th. W. Adorno, zit. n. J. Menningen: Mythos und Kolportage. In: Egoist, 3. Jg. 1967, H. 3, S. II.

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[. . .] so kann man als wichtigstes Kennzeichen der modernen Utopie die Wieder­ aufnahme von Fragen der Weltorientierung, und zwar aus einer neuen Distanz zu den Problemen und Möglichkeiten des Menschen feststellen18.

Krysmanski setzt von der „diffusen ideologischen Utopie“ eine „kon­ krete“ ab, die sich „vom Wunschbild [...] längst entfernt“19 hat: Die konkrete Utopie ist aber instrumental und daher zunächst ,wertfrei' [...]. Auch die Eigenschaft der politischen Idealgestalt ist ihr zu einer bestimmten Zeit zuge­ flogen und hat sie wieder verlassen [. . ,]20. Wahrscheinlich ist die Einsicht in die instrumentale Funktion der konkreten Utopie erst heute möglich geworden, nachdem der normative und politische Anspruch der ideologischen Utopien zusammengebrochen ist21.

Der wissenschaftslogisch aufgeputzte Positivismus und die Science Fic­ tion, die dessen literarisches Vehikel ist, bieten sich als systemerhaltendes Krisenmanagement und innenpolitisch-ideologische Verteidigungsstrategie des industrialisierten Kapitalismus an: Der orthodoxe Marxismus hat sich in den hochindustrialisierten Ländern — Eng­ land, USA und auch Deutschland — am wenigsten durchsetzen können: Je mehr sich das Veränderungsdenken mit der zunehmenden Technisierung durchsetzt, um so größer wird der Widerstand gegen eschatologisches Denken, in welcher Form es sich auch zeigen mag22.

Die Identität der Ideologien zwingt die Vertreter des technokratischen Positivismus zu verschleiernden Uminterpretationen der Science Fiction, da­ mit jener nicht durch diese allzu schnell entlarvt werde. So muß Schwonke das in der Science Fiction auf Schritt und Tritt anzutreffende magische und eschatologische Element (zum Zwedc erneuter Fremdbestimmung) mit Vehe­ menz abstreiten, um es in seinem eigenen Wissenschaftsbegriff zu vertu­ schen. Der Vorwurf der Eschatologie ist zudem — wie der Ideologie- und Totalitarismusverdacht — als Diffamierungsmittel für all jene reserviert, die gegenüber den systemerhaltenden Symptomkuren technokratischer Pla­ nungsstrategien auf dem Primat der Abschaffung der Klassenherrschaft be­ stehen. Wo die zum Selbstzweck gewordenen inhaltlichen Klischees der Science Fiction23 in ihrer Banalität zu offensichtlich sind, muß argumentiert wer­ den, erst das Gesamtspektrum des Genres leiste den neuen Utopiebegriff. 18 19 20 22 23

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M. Schwonke: Vom Staatsroman, 1957, S. 143 (Hervorhebung M. N.). H.-J. Krymanski: Die utopische Methode, 1963, S. 19. Ebd., S. 20 f. 21 Ebd., S. 121 f. M. Schwonke: Vom Staatsroman, 1957, S. 177. Vgl. hierzu die eingangs zitierte Charakterisierung von Sladek.

Denn natürlich muß sich hier eine Soziologie zutiefst getroffen fühlen, die selber aus „der Not des Verlustes eines Begriffs von der Gesellschaft [...] die Tugend der Überschaubarkeit ihrer Teilgebiete gemacht“24 hat und dar­ auf vertröstet, ihr induktiver Detailfetischismus, dem längst selbst die Funk­ tion der Verschleierung zukommt, werde eines Tages doch noch zu einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft „zusammenschießen“. Die Behauptung vom brandneuen und spezifisch amerikanischen Ur­ sprung der Science Fiction muß aufgestellt werden, weil eine historische Analyse der entsprechenden deutschen Produkte vor dem Zweiten Welt­ krieg nur zu augenfällig machen würde, daß die hier wie dort gepredigte „Auflösung aller schützenden humanen Garantien [. . .] in die Verabsolutie­ rung der nackten Institutionen, der bloßen Herrschaft umschlägt“25 und zum blanken Faschismus tendiert. Gerade die Überwindung alles Humanen als Subjekt der Geschichte und damit die totale Fremdbestimmung — durch numinoses Schicksal oder tech­ nischen „Sachzwang“ — ist es, was Schwonke als Novum an der Science Fiction feiert. Er übersieht geflissentlich, daß es sich dabei nur um die apo­ logetischen Extrapolationen der schon bestehenden Entmündigung und Un­ terdrückung handelt. Wenn er von einem herstellbaren „homo superior“ schwärmt, in dem der Mensch als Objekt der Veränderung solange defor­ miert werden soll, bis er als gut funktionierender Sozialroboter endlich den zwar inhumanen, aber sakrosankten Verhältnissen angepaßt ist, so ist es hoffentlich seiner ahistorischen Naivität zuzuschreiben, wenn ihm dabei nicht die Nähe zu prominenteren Gestalten der jüngsten Geschichte bewußt wird, die Science Fiction in die Tat umsetzen und den „neuen Menschen“ „herausmendeln“ wollten: Der Utopist wandelt sich vom Konstrukteur, der den Bauplan der Welt entwirft, um ihn der Menschheit als erstrebenswertes Ziel vorzustellen, zum Generalstäbler der Menschheit, der Feldzugspläne für alle möglichen, für die Zukunft zu erwarten­ den Ereignisse aufstellt: für den Fall einer radioaktiv verseuchten Erde nach einem Atomkrieg, für den Fall einer Invasion aus dem Weltraum, für den Fall des Auf­ tretens des ,homo superior' usw. Die Veränderung der Welt ist nicht mehr das direkt angesteuerte Ziel, die programmatische Forderung gegenüber konservativ ein­ gestellten Gegnern, sondern eine selbstverständlich gewordene Gegebenheit, mit der man sich auseinanderzusetzen hat. Auch hier liegt in der Betonung des exzentrischen Aspekts das Neue der modernen Utopie. Erst aus dem Abstand zum menschlichen Schicksal, aus der Sicht von außen gelingt ihr die Musterung der Zukunftsmöglichkeiten [...]. Sie will die Menschen

24 Institut für Sozialforschung: Soziologische Exkurse, 1956, S. 12. 25 Ebd., S. 28.

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lehren, auf alles Mögliche gefaßt zu sein. Das ist die Funktion, die sie in einer als das leere Worin möglicher Veränderung begriffenen Zeit zu erfüllen hat28.

Für diese weitverbreitete Apologie der Science Fiction als neuer Form der Utopie ist es schon tödlich, bei der Analyse lediglich positivistischer vorzu­ gehen als die „Positivisten“ und zur „Science Fiction zu rechnen, was die Verlage unter diesem Namen auf den Markt werfen“27, wie dies kürzlich Michael Pehlke und Norbert Lingfeld in einer Momentanalyse von 150 Science-Fiction-Produkten unternahmen. Diese Untersuchung ist um so willkommener, als sie die vorliegende Arbeit von der aktuellen Illustration weitgehend entlastet28. Sie muß allerdings soziographisch ergänzt werden, weil Pehlke und Lingfeld peinlicherweise das Versprechen, mit dem sie ihre gegenwartsbestimmte Auswahl legitimieren, nicht einlösen — nämlich „die Verhältnisse literarischer Produktion und Konsumption [...] transparent“29 zu machen —, sondern sich mit einer ideologiekritischen Textexegese be­ scheiden. In ihrem Rechtfertigungsbemühen geraten sie ungewollt in die Nähe jener „history-is-bunk“-Attitude, die sie zu Recht auch bei der Science Fiction kritisieren30. So gehen sie der Science-Fiction-Apologetik zumin­ dest dort auf den Leim, wo diese von dem historisch manifest gewordenen Faschismus ihrer Ideologie ablenkt und Science Fiction als genuin amerika­ nisches, d. h. unbelastetes, Produkt ausgibt31. Eine stärkere Einbeziehung der historischen Entwicklung des Genres hätte ihnen das Erstaunen erspart, mit dem sie feststellen, daß die Ideologie der Science Fiction letztlich „die un­ verhüllte Aufforderung zum faschistischen Staatsstreich“32 propagiert. Sie hätte aber auch ihren vorschnell auf Praxis ausgerichteten Optimismus ge­ dämpft, „eine Science-Fiction-Literatur zu schaffen, die ohne Popularitäts­ verlust die Ehre des Sujets rettet“33. In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch unternommen, die histori­ sche Genese der Science Fiction neben der Utopie und als ein gegen sie ge­ richtetes Genre der Massenliteratur zu begreifen. Dabei wird (mit Neusüß) an einem gesellschaftskritischen Begriff der Utopie festgehalten, bei dem Utopie nicht in einem „Synonym für bloße Phantastik“34 aufgeht und sich 28 M. Schwonke: Vom Staatsroman, S. 146. 27 Pehlke/Lingfeld: Roboter und Gartenlaube, 1970, S. 16. Die Arbeit konnte nut noch in Anmerkungen berücksichtigt werden. 28 Vgl. auch M. Nagl: Unser Mann im All, 1969. 29 Pehlke/Lingfeld: Roboter und Gartenlaube, 1970, S. 19. 30 Ebd., S. 62. 31 Ebd., S. 10. 32 Ebd., S. 97. 33 Ebd., S. 22 u. 143 f. Vgl. auch S. 139, wo den Autoren ihr eilfertiger Vorschlag zur aufklärerischen Praxis mit anti-aufklärerischen Mitteln selbst nicht ganz ge­ heuer vorkommt. 34 Ebd., S. 12.

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auch nicht mit der pragmatisch-„prognostischen Orientierung“ im Sinne Schwonkes deckt. Kennzeichen der Utopie ist dagegen zum einen die kritische Analyse der bestehenden Gesellschaft, insbesondere des Verhältnisses zwischen dem Stand und den objektiven Möglichkeiten der Produktivkräfte auf der einen und dem Grad der ausgeübten überflüssigen gesellschaftlichen Repression auf der anderen Seite. Schließlich zeichnet sich die Utopie dadurch aus, daß sie auf die Herstellbarkeit menschlichen Glücks, soziale Gerechtigkeit und damit auf die Überzeugung der bewußten Gestaltung der Geschichte durch den Men­ schen selbst insistiert. Dies gilt auch dann noch, wenn die Utopie — nicht zuletzt dank der Science Fiction — heute aus der Belletristik, zumal der populären, weitgehend eliminiert wurde. Zwar zeigte die bürgerliche Utopie schon vor der Französischen Revolu­ tion Tendenzen zur Auflösung in die Beschwichtigung des bloß noch Unter­ haltsam-Phantastischen. Ihr endgültiger Niedergang wurde aber im 19. Jahrhundert betrieben. Nicht weil sie funktionslos geworden wäre, wie glauben gemacht werden soll, sondern weil sie angesichts des Abbruchs der Revolution im Stadium der kapitalistischen Klassenherrschaft mit ihren uneingelösten Forderungen nach dem größtmöglichen Glück aller Menschen höchst gefährlich schien. So schrieb sich das herrschende Bürgertum zunächst seinen eigenen Utopieersatz, den es dann, mit entsprechenden Pointierungen versehen, auch anderen Klassen der Bevölkerung zur gesellschaftskonfor­ men Befriedigung informatorischer und literarischer Bedürfnisse verordnete. In dieser eigentlich „gegenutopischen“ Literatur wird mit Hilfe der un­ terhaltsamen Dramatisierung des Zukunftsbildes die Apologie des Gegen­ wärtigen als eines Ewig-Menschlichen gepredigt, das auch und gerade in einer durch Technik veränderten Zukunftswelt sich bestätige. Der SchauPlatz der Utopie wurde durch den Handlungsort einer durch Technik und Exotik zur Zukunft verfremdeten Gegenwart ersetzt. Für die Handlungs­ trächtigkeit der Dramatisierung, die mehr und mehr den eigentlichen Inhalt dieser Romane ausmachte, wurden systematisch die Handlungsmuster ande­ rer, bereits vorhandener Gattungen der populären Literatur ausgeschlachtet. Hierin liegt ein erster Grund für das Diffuse des Genres. Ein eigenes Hand­ lungsschema wurde lediglich für die Katastrophen-Romane entwickelt, die dem Leser mit der Drohung, daß alles noch viel schlimmer kommen könne, als es schon sei, den sozialen Frieden nahelegen. Gemeinsames Merkmal des Genres ist, daß in ihm, bei aller Phantastik, keine — oder nicht ungestraft — humane oder soziale Phantasie entwickelt werden darf, die über das Toleriert-Bestehende hinausgeht. (Nicht die Befriedigung eines legitimen Un­

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terhaltungsbedürfnisses wird also moniert, sondern dessen Befriedigung mit reaktionären Handlungsmustern und Ideologien.) Um diese Literatur nominal von der Utopie abzusetzen, werden hier auch ihre historischen Entwicklungsformen mit dem erst im 20. Jahrhundert ge­ prägten Etikett „Science Fiction“ belegt. Dies geschah auch deshalb mit gutem Grund, weil in der so verstandenen Science Fiction (und in der popu­ lären naturwissenschaftlich-technischen Sachbuch-Literatur, aus der sie sich speist) relativ früh eine ideologische Interpretation der Naturwissenschaft und Technik gemein wurde, die inzwischen als „technokratische Ideologie“ erkannt worden ist. Diese Ideologie zeichnet sich durch ein grundsätzlich emotionales Verhältnis zur Technik aus, führt von da zu ihrer Ontologisierung und Hypostasierung und gibt die Technik schließlich als „objektiven Sachzwang“ aus, als eigentliches Subjekt der Geschichte und als Legitima­ tion von Herrschaft. Technik wird gleichzeitig oder alternierend als schick­ salhafte Bedrohung und als einzige, aber unkontrollierbar-eigengesetzliche, Möglichkeit eines positiven gesellschaftlichen Wandels interpretiert. Für die Entstehung und Wirksamkeit dieser Ideologie sind die folgenden Voraus­ setzungen konstituierend, die im industrialisierten Kapitalismus (aber auch unter der staatsmonopolistischen Cliquenherrschaft des revisionistischen So­ zialismus) gegeben sind und — wiederum unter Einsatz dieser Ideologie — gefördert werden: 1. die hochgradige Entfremdung von Produzent und Produkt; 2. eine unter dem Primat effizienter Arbeitsteilung und des „divide et impera“ betriebene Teilausbildung und -aufklärung; 3. die Undurchschaubarkeit und zusätzliche Verschleierung der gesellschaft­ lichen Verwertungszusammenhänge dieser Ausbildung und der Verwer­ tungsprozesse des Kapitals überhaupt; 4. das Fehlen oder die Abwehr von Erscheinungsformen der Technik, die nicht unter dem Prinzip der Profitmaximierung stehen. Hierin hat die technokratische Ideologie ihren Nährboden und ihre Funk­ tion, wenn sie die tatsächliche Wertfreiheit und Zweckrationalität in den Mikrobereichen naturwissenschaftlich-technischer Arbeitsweisen als solche des gesellschaftlichen Makrobereichs ausgibt und so die bestehenden Verwer­ tungsmechanismen und Herrschaftsinteressen als angeblich technische Sach­ gesetzlichkeit tarnt35. Also nicht Technik und Wissenschaft sind „selber ideologisch“ geworden, wie Habermas (in gefährlicher Nähe zum metaphysierenden und dämonisierenden Ontologismus der idealistischen Kultur­ 35 Vgl. hierzu das Konstanzer Technologiepapier, 1969.

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kritik, die komplementärer Teil dieser Ideologie ist) meint36 38, sie werden 37 vielmehr ideologisch interpretiert: Der ideologische Trick ist so alt wie die bürgerliche Produktionsweise. Von Anbe­ ginn hat die Bourgeoisie darauf bestanden, das, was ihr nützt, für sachlich not­ wendig auszugeben. Mit der progressiven technologisch bedingten Vergesellschaftung der Produktion ist es einfacher geworden, Herrschaft sachlich zu legitimieren, weil die Funktionszusammenhänge insgesamt unübersichtlicher geworden sind37.

Insgesamt läuft die technokratische Ideologie auf die Behauptung hinaus, dank der Technik werde die Klassenherrschaft und Herrschaft überhaupt überwunden. So verkündet Helmut Schelsky das Ende der Politik und da­ mit von Herrschaft: „Die Herrschaft von Menschen über Menschen“ weiche den „Sachgesetzlichkeiten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation“38, der „Ratio eines rein ,technischen Staates'“, der „weder ein Instrument der Menschlichkeit noch einer Klasse“39 sei und — wie die Technik selbst — keiner Legitimation mehr bedürfe. Die Absicht ist offenkundig: entfremde­ te, verdinglichte Herrschaft braucht nicht mehr hinterfragt zu werden. Dem Marxismus aber wird ein personalisierter Herrschaftsbegriff unterschoben, der mit Hilfe der „Sachgesetzlichkeiten“ des sich als „industrielle Gesell­ schaft“ ausgebenden Kapitals falsifiziert und gegenstandslos gemacht wer­ den soll. Dagegen bleibt festzuhalten, daß nach Marx die Produktionsweise selbst die Herrschaftsform ist: Es ist nach der bisher gegebenen Entwicklung überflüssig, von neuem nachzuweisen, wie das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit den ganzen Charakter der Produk­ tionsweise bestimmt. Die Hauptagenten dieser Produktionsweise selbst, der Kapita­ list und der Lohnarbeiter, sind als solche nur Verkörperungen, Personifizierungen von Kapital und Lohnarbeit; bestimmte gesellschaftliche Charaktere, die der gesell­ schaftliche Produktionsprozeß den Individuen aufprägt; Produkte dieser bestimm­ ten gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse40.

Ein anderer Grund für die scheinbare Vielfalt der Erscheinungsformen der Science Fiction liegt darin, daß sie das belletristische Vehikel der techno­ kratischen Ideologie ist und — quasi als einzelnes Produkt noch arbeitstei­ lig — das ganze Ensemble von Widersprüchen, von Irrationalitäten und J. Habermas: Technik und Wissenschaft. 1968, S. 92 f. H. G. Helms: Fetisch Revolution, 1969, S. 169. H. Schelsky: Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation. 1966, S. 453. Ebd., S. 455 f. — Wie in diesem Bemühen rechte Apologie und sich als links ausgebende metaphysische Technik-Kritik Zusammenarbeiten, zeigt das Beispiel Günther Anders’, der zu denselben Ergebnissen kommt. Vgl. ders.: Die Antiquiertheit des Menschen. 1956 u. Der Blick vom Mond. 1970. 40 K. Marx: Das Kapital. In: Marx/Engels: Werke, 1956 ff., 25, S. 886 f. — Im wei­ teren wird diese Ausgabe als MEW zitiert.

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Teilrationalitäten permanent und aufschaukelnd wiedergibt, aus denen sich diese (wie jede) Ideologie aufbaut und zusammensetzt41. Hierin und in der angedeuteten Variabilität liegen — neben der miß­ lichen Materiallage — die spezifischen Schwierigkeiten, mit denen diese Untersuchung zu kämpfen hat. Auf den ersten Blick scheint sich als Lösung die Anwendung der quantifizierenden Inhaltsanalyse anzubieten zumal der Anspruch erhoben wird, das Genre, stärker als bisherige Arbeiten dies ta­ ten, nach seiner quantitativen Repräsentanz zu untersuchen. Dagegen spre­ chen mehrere Umstände. Zum einen ist das zur Verfügung stehende Mate­ rial trotz langwieriger Recherchen noch immer so zufallsbestimmt, daß es einer Irreführung gleichkäme, ein daraus gezogenes Sample als repräsenta­ tiv auszugeben. Zum andern hätte aber schon die formalisiert-kategoriale Aufbereitung des greifbaren Materials — wollte man sich nicht mit den phänomenologischen Banalitäten bisheriger Inhaltsanalysen der Science Fic­ tion4243 zufrieden geben — einen Aufwand erfordert, für den weder die Zeit noch die finanziellen und technischen Mittel zur Verfügung standen. In dem gegenüber bisherigen Interpretationsverfahren relativ großen Aufwand, den solide Inhaltsanalysen erfordern, dürfte ein Grund für ihre häufige Belang­ losigkeit liegen. Um diesen Aufwand in traditionellen Grenzen zu halten, werden handliche Kategorienkataloge mit minimaler Aussagekraft konstru­ iert, die eine theoretisch-dialektische Interpretation auch dort von vornher­ ein erschweren, wo Faktenfetischismus nicht bloß Theorie- und Kritiklosig­ keit kaschieren soll. Bei vielen quantitativ-inhaltsanalytischen Studien ist al­ lerdings eine intime Affinität zwischen griffigem Kategorienapparat und kurzläufiger Theorie festzustellen. Dies gilt zum Beispiel für die mathe­ matisch makellose Untersuchung von Horst Schmelzer über 'Naturwissen­ schaft und Technik im Urteil der deutschen Presse™. Sein Klassifikations­ schema der Wertaussagen läßt im Grunde nur zwei Möglichkeiten zu, näm­ lich, „inwieweit Naturwissenschaft und Technik positiv und/oder negativ beurteilt werden“44. Als ideologisch, d. h. technik- und wissenschaftsfeind­ lich kommt bei Schmelzer, einem Anhänger der Parsonschen Systemtheorie, 41 Zum Begriff der Ideologie vgl. W. Hofmann: Grundelemente der Wirtschafts­ lehre. 4. Aufl., 1970, S. 16 ff. 42 Vgl. etwa L. Treguboff: A Study of the social criticism of popular fiction. 1955; W. Hirsch: American science fiction, 1926—1950, 1957; ders.: The image of the scientist in science fiction. 1958. 43 H. Schmelzer: Naturwissenschaft und Technik im Urteil der deutschen Presse, 1968. 44 Ebd., S. 65.

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in Wahrheit aber auch all das ins Kästchen, was die derzeitigen gesellschaft­ lichen Verwertungsformen von Technik und Naturwissenschaft kritisiert. Letztlich diskriminieren seine Kategorien nur, ob eine Wertaussage sich „funktional“ (d. h. positiv) oder „dysfunktional“45 (d. h. negativ) zum ge­ genwärtigen Gesellschaftssystem der BRD verhält. Daran ändern auch die weidlich durchgeführten Überprüfungen mit dem CHI-Quadrattest nichts. Angesicht dieser Problematik versuchte ich, das Thema methodisch mul­ tipel anzugehen. Um nicht in einen haltlosen Impressionismus zu verfallen, bemühte ich mich — soweit mir dies möglich war und der Aufwand verant­ wortbar erschien —, den quantitativen Stellenwert der Texte deutlich zu machen und sie mit relevantem Hintergrundsmaterial zu ergänzen oder zu konfrontieren. Daß die zum großen Teil kaum zugänglichen Texte teilweise ausführlich dargestellt werden, sollte nicht nur die Überprüfung der Ana­ lysen erleichtern. Es soll dadurch auch deutlich werden, aufgrund welcher tatsächlichen Inhalte die Apologeten der Science Fiction zu ihren enthusia­ stischen Urteilen kommen und warum sie mit der direkten Vorlage der Texte so geizen. Als Dilettant auf dem Gebiet der Psychologie habe ich psychoanalytische Aspekte nur soweit einbezogen, als mir die postulierten psychischen Prozesse als verinnerlichte Korrelate und Reproduktionen sozialer Verhältnisse durchschaubar erschienen. Am unsichersten ist der Boden dort, wo Hypothe­ sen über die mutmaßliche Wirkung der Science Fiction auf ihre Leser auf­ gestellt werden. Über die Einsicht hinaus, daß das Charakteristikum der Massenliteratur als „Konformliteratur“ darin zu liegen scheint, daß sie sich auf bereits vorhandene, durch andere (und zwar real-gesellschaftliche) Mecha­ nismen verursachte Stagnation und Deformation stützt46, sich durch diese „Prädispositionen“ entschuldigt, sie bestätigend verfestigt und verstärkt, Kon­ flikte also apolitisch verarbeitet, hat die Wirkungsanalyse bisher kein zufrie­ denstellendes Instrumentarium entwickeht, verschiedene Einflüsse gleicher Tendenz exakt zu isolieren und zu bewerten. Vor allem dann nicht, wenn es sich um so sekundäre wie die der Literatur handelt. Am ehesten greifbar wird die Wirkung der Science Fiction, beziehungsweise die durch andere Einflüsse schon hergestellte Affinität zwischen ihr und ihren Lesern, an den Äußerun­ gen der organisierten Science-Fiction-Fans. Abgesehen von dem Einfluß, den diese ihrerseits auf die Science Fiction und deren Bild in der „öffent-*48 45 Ebd., S. 28. 48 Vgl. hierzu R. Schenda: Volk ohne Buch, 1970, S. 467—494. Dort weiterfüh­ rende Literatur.

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liehen Meinung“ nehmen, stellen sie eine extreme, jedenfalls nicht repräsen­ tative Lesergruppe dar. Schlüsse, die von ihr auf den Durchschnittsleser übertragen werden, müssen daher als hypothetische und bestenfalls tenden­ zielle relativiert werden. Wenn hier Massenliteratur als „Konformliteratur“ begriffen wird, so nicht im Sinne von Walter Nutz, der die Manipulation den Manipulierten selbst in die Schuhe schiebt, indem er den — in Wahrheit durch schichten-spezifische Sozialisationsprozesse massiv deformierten — Lesern eine naturgege­ bene Inferiorität unterstellt, der sich die Trivialliteratur lediglich „an­ schmiegt“4748 . Vielmehr bezieht sich der Begriff der Konformität auf die Adäquanz der Inhalte dieser Literatur zu systemkonformen Herrschafts­ interessen, also — unter weitgehender Vernachlässigung ästhetischer Aspekte — auf die direkte oder latente Propagierung von Ideologie zur Legitima­ tion bestehender Herrschaftsverhältnisse, die diese Literatur als Teil einer umfassenderen „Bewußtseins-Industrie“ auszeichnet. Als Kriterien des Ideologie Verdachts wurden herangezogen: 1. die Konfrontation sozialrelevanter Aussagen der Texte mit den jeweils objektiv gegebenen sozialen Realitäten; 2. die Frage nach der gesellschaftlichen Interessenlage dieser Aussagen, also die Frage nach dem „cui bono“.

Sollte Oskar Negt mit seiner Feststellung recht haben, daß „die akademi­ schen Disziplinen, die praktisch verwertbare wissenschaftliche Informationen liefern, [...] den Marxschen Anspruch der Emanzipation des Menschen und die historische Dimension der ,objektiven Möglichkeit' als wissenschafts­ fremd ausgeschieden und in den Bereich der utopischen Konstruktion ver­ bannt“48 haben, dann muß sich das der vorliegenden Untersuchung zu­ grunde liegende Wissenschaftsverständnis den Vorwurf der Utopie gefallen lassen — im Gegensatz zu der im folgenden analysierten Literatur.

47 W. Nutz: Der Trivialroman, 2. Aufl. 1966, S. 18 f. 48 O. Negt: Soziologische Phantasie, 1968, S. 59.

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I. VON DER UTOPISCHEN OPPOSITIONSLITERATUR ZUR KONFORMLITERATUR DER SCIENCE FICTION 1. Das Ende des revolutionären utopischen Romans

Die Roman-Utopien der Renaissance und Aufklärung waren gewiß keine Massenliteratur im umfassenden Sinn aktueller Produkte der modernen Massenkommunikation und Kulturindustrie. Sie konnten es schon aufgrund der fehlenden Lesefähigkeit des größten Teils der Bevölkerung gar nicht sein1. Aber sie waren, wie sich aus den Auflagehöhen und der Masse der Titel schließen läßt, ein signifikanter Teil der schichtspezifischen Populär­ literatur des gebildeten Bürgertums und der aristokratischen wie klerikalen Führungsgruppen2. Mit Bildern besserer Gesellschaftsformen, die meist als Reiseberichte ge­ tarnt waren, attackierten das sich emanzipierende Bürgertum und seine fort­ schrittlichen Parteigänger im Adel und Klerus das mittelalterliche Feudal­ system und meldeten zugleich den bürgerlichen Führungsanspruch bei der propagierten Umgestaltung der Gesellschaftsordnung an. Es ist auffällig, welche Vorliebe diese Utopien zunehmend für die Dar­ stellung naturwissenschaftlicher Probleme entwickelten, die — etwa als astronomische Theorien oder mechanisch-technische Spekulation — auf den ersten Blick nichts mit den politischen und sozialen Inhalten der Romane zu tun haben. Die „materialistischen“ Naturwissenschaften jedoch, die sich synchron mit dem Emanzipationsprozeß des Bürgertums entwickelten, bildeten nicht nur als Basis für die technisch-industrielle Produktionsweise eine wesentliche Voraussetzung für die ökonomische Führungsposition des Bürgertums; sie boten sich auch als wirksames ideologisches Kampfmittel gegen die Autori­ tät der Kirche, die Hauptstütze des traditionellen Feudalsystems, an. 1 Vgl. R. Schenda: Volk ohne Buch, 1970, bes. S. 441—452. Nach Schenda kom­ men als „potentielle Leser“ für Mitteleuropa in Betracht: „um 1770: 15 %, um 1800: 25 %, um 1830: 40 %, um 1870: 75 %, um 1900: 90 %“. Ebd. S. 444. 2 W. Krauss: Reise nach Utopia, 1964, S. 16: „Alljährlich wurden in Frankreich [im 18. Jh.] etwa zehn bis zwanzig, in einigen Jahren aber auch bis zu dreißig neue Utopien auf den Markt geworfen.“

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Nachdem sich das Handels-, Finanz- und Industriebürgertum in England und Frankreich durch eine Reihe politischer und ökonomischer Reformen seine wirtschaftliche Führungsrolle auch politisch honorieren lassen konnte, ging sein Interesse an weitergehenden gesellschaftspolitischen Änderungen nicht nur zurück, sondern schlug in den Konservativismus einer Bourgeoisie um, die ihre Hauptaufgabe in der Absicherung der eben erlangten Positio­ nen sah und dabei selbst zu weitgehenden Arrangements mit der alten feu­ dalen Führungsklasse bereit war. Dies um so mehr, als der Verlauf der Französischen Revolution paradigmatisch gezeigt hatte, daß die Prozesse, mit denen sich das Großbürgertum ökonomisch und politisch inthronisierte, ihm zugleich im Proletariat einen neuen spezifischen Gegner beschert hatten, der sich mit dem bloßen Revirement der politischen Führungsgruppe und der exklusiv-bürgerlichen Auslegung der Egalitätsparole nicht zufrieden geben wollte. Die ersten literarischen Anwälte der neuen Klasse aber — „Sozialuto­ pisten“ wie Cabet, Fourier, Owen, Saint-Simon oder Weitling — bedienten sich zur Propagierung ihrer sozialistischen Vorstellungen eben der literari­ schen Methoden und politischen Argumente, die vordem in bürgerlichen Utopien entwickelt worden waren. Spätestens als sich im Wirkungsbereich einiger dieser, mit den Mitteln der Utopie arbeitenden, Frühsozialisten Ansätze zu realen politischen Bewe­ gungen zeigten, mußten die Sozialutopien dem herrschenden Bürgertum suspekt und gefährlich erscheinen. Und da sie — wie die Satire — mit Zen­ surmaßnahmen nur ungenügend zu eliminieren waren, wurden sie als un­ realistische Phantastereien und Hirngespinste diffamiert. Der Glaubwür­ digkeit deses Verdikts kam nun zugute, daß es auf das, was sich im Laufe der Konsolidierungsphase der bürgerlichen Gesellschaft alles als Utopie ausgab, in weitem Umfang tatsächlich zutraf. Der Rückzug der bürger­ lichen Utopie ins Unverbindlich-Phantastische oder bestenfalls in die Dar­ stellung systemimmanenter Aporien und Überbauphänomene wurde im 19. Jahrhundert noch beschleunigt durch die Entwicklung des Sozialismus zur Massenbewegung und zur eigentlichen Alternative der bürgerlich-kapitalisti­ schen Gesellschaft. Auf diese Weise produzierte sich das Bürgertum in seinen Utopien selbst das Alibi und die Argumente seiner Utopiekritik, die sich zu­ dem auf alle politischen Konzepte anwenden ließen, die konstituierende Elemente der bestehenden Gesellschaft in Frage stellten, ob diese nun belle­ tristisch verpackt waren oder nicht. Diese Taktik der bürgerlichen Öffentlichkeit mag zwar die Kritik der literarischen Utopie durch den Marxismus akzentuiert haben — ausschlag24

gebend waren hier aber andere Gesichtspunkte. Während die bürgerliche Utopiekritik der Angst vor den potentiellen Wirkungen revolutionärer Uto­ pien entsprang, kritisierte der Sozialismus die Utopie wegen ihrer politi­ schen Harmlosigkeit. Nicht weil er — wie das Bürgertum — suggerieren wollte, daß die Antizipation humanerer Gesellschaftsformen a priori un­ sinnig sei, kritisierte Engels die Utopie, sondern weil sie — im Gegensatz zur nunmehr entwickelten Gesellschaftswissenschaft des dialektischen Ma­ terialismus — über den bloßen Wunsch einer besseren Gesellschaft hinaus weder eine umfassende und wissenschaftlich fundierte Analyse der herr­ schenden Gesellschaftsform liefern, noch einen realisierbaren Weg zur er­ wünschten Veränderung zeigen konnte: Hiernach erschien jetzt der Sozialismus nicht mehr als zufällige Entdeckung dieses oder jenes genialen Kopfes, sondern als das notwendige Erzeugnis des Kampfes zweier Klassen, des Proletariats und der Bourgeoisie. Seine Aufgabe war nicht mehr, ein möglichst vollkommnes System der Gesellschaft zu verfertigen, sondern den ge­ schichtlichen ökonomischen Verlauf zu untersuchen, dem diese Klassen und ihr Widerstreit mit Notwendigkeit entsprungen, und in der dadurch geschaffenen öko­ nomischen Lage die Mittel zur Lösung des Konflikts zu entdecken. Mit dieser mate­ rialistischen Auffassung war aber der bisherige Sozialismus ebenso unverträglich wie die Naturauffassung des französischen Materialismus mit der Dialektik der neue­ ren Naturwissenschaft. Der bisherige Sozialismus kritisierte zwar die bestehende kapitalistische Produktionsweise und ihre Folgen, konnte sie aber nicht erklären, also nicht mit ihr fertigwerden; er konnte sie nur einfach als schlecht verwerfen. Je heftiger er gegen die von ihr unzertrennliche Ausbeutung der Arbeiterklasse eiferte, desto weniger war er imstand, deutlich anzugeben, worin diese Ausbeutung bestehe und wie sie entstehe3.

Engels erkannte der Sozialutopie zwar historische Verdienste bei der Entwicklung des Sozialismus zu, stellte aber zugleich ihren Reliktcharakter als Ausdrucksmittel einer „vorwissenschaftlichen“ Gesellschaftskritik in der noch nicht voll entwickelten Phase des Kapitalismus heraus. Als ob es dieses Beweises bedurft hätte, zeigte sich die politische Hilflosigkeit der Utopien am deutlichsten in den von ihnen ausgehenden utopistischen Experimenten sektiererhafter Kleingruppen: Die Lösung der gesellschaftlichen Aufgaben, die in den unentwickelten ökonomi­ schen Verhältnissen noch verborgen lag, sollte aus dem Kopf erzeugt werden. Die Gesellschaft bot nur Mißstände, diese zu beseitigen war Aufgabe der denkenden Vernunft. Es handelte sich darum, ein neues, vollkommneres System der gesell­ schaftlichen Ordnung zu erfinden und dies der Gesellschaft von außen her, durch Propaganda, womöglich durch das Beispiel von Musterexperimenten aufzuoktroyie3 F. Engels: Die Entwicklung des Sozialismus, in: MEW, 19, S. 208 f.

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ren4. Diese neuen sozialen Systeme waren von vornherein zur Utopie verdammt, je weiter sie in ihren Einzelheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr mußten sie in reine Phantastereien verlaufen56.

Die Entwicklung der Sozialutopie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­ derts zeigt, daß ihr die politische Relevanz, die ihre besten Beispiele in der Emanzipationsphase des Bürgertums und des Frühsozialismus ausgezeichnet hatte, nicht erst ausgeredet werden mußte. Im Konkurrenzverhältnis zur in­ zwischen ausgebauten sozialistischen Bewegung traten ihre politische Unver­ bindlichkeit und ihr wissenschaftlicher Anachronismus deutlicher als je zu­ tage. Sie wurde zum bevorzugten Vehikel unmaßgeblicher Kundgebungen bürgerlicher Individual- und Kathedersozialisten vom Schlage Edward Bellamys. Sozialistische Zukunftsbilder in der Art seines Rückblicks aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887 (Looking Backward: 2000—1887, dt.)8 hat­ ten zu Ende des 19. Jahrhunderts ihre Hochkonjunktur im Kleinbürgertum, das sich zwar durch die Konzentrationsbewegungen der Industrie und des Großkapitals bedroht fühlte, aber in der Abwehr zu mehr als irrationalen Regressionen nicht fähig war. Der sozialistischen Bewegung kamen solche Utopien wegen ihrer mög­ lichen propagandistischen Wirkung im mittelständischen und proletarischen Bürgertum zwar nicht ganz ungelegen, gleichzeitig wurde aber betont, daß diese Werke nicht dem „poetischen Drang der Arbeiterklasse, der ersehnten Zukunft ihre Geheimnisse abzulauschen“7 entsprungen seien, sondern es sich um das „Bedürfnis von Sozialisten aus den höheren Gesellschaftsschichten, in ihren Kreisen Propaganda für ihre Ideen zu machen“8 handle: [.. .] um den Philister zu verlocken, gilt es da vor allem ,positiv' zu sein. Die Kri­ tik der bestehenden Gesellschaft [. . .] soll [. ..] hauptsächlich dem Nachweis ge­ widmet sein, wie ungemütlich sich doch heutzutage der Bourgeois fühlt, dem Streiks und politische Unruhe, Seuchen aus den verpesteten Proletariervierteln, verfehlte Spekulationen und dergleichen, das Leben sauer machen9. 4 Gemeint sind einige amerikanische Kommunen religiöser Separatisten und die sozialistischen Gemeindeexperimente in England und USA, die auf den Sozial­ utopien Robert Owens, Etienne Cabets und John Goodwin Barmbys basierten. (Vgl. Engels: Beschreibung der in neuererer Zeit entstandenen und noch be­ stehenden kommunistischen Ansiedlungen. In: MEW, 2, S. 521—535). 5 Engels: Die Entwicklung des Sozialismus, S. 194. 6 Looking Backward war die erfolgreichste Utopie überhaupt: allein in Deutsch­ land erschien sie zwischen 1889 und 1891 in mindestens fünf Ausgaben, beglei­ tet von einer kaum mehr überschaubaren Flut von Gegen- und Verteidigungs­ schriften. 7 Anonyme Rezension Bellamys in: Die Neue Zeit, 7. Jg. (1889), H. 6, S. 268 f. 8 Ebd. 8 Ebd.

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Die Naivität und Harmlosigkeit des Bellamyschen „Sozialismus“ charak­ terisiert nichts besser als die Gründung von zeitweise über 150 „BellamyClubs“ in den USA, in denen begeisterte Leser den Zukunftsstaat verwirk­ lichen wollten — wohl auf die Art, wie er im Roman zustande kommt, wo die Menschheit im Laufe des 20. Jahrhunderts aus unerfindlichen Gründen plötzlich von einer Welle der Vernunft und des brüderlichen Gemeinsinns erfaßt wird. Mutatis mutandis kennzeichnet dies auch die Machart und Rezeption an­ derer erfolgreicher Utopien der Jahrhundertwende, wie Theodor Hertzkas Freiland, ein soziales Zukunftsbild10 oder die einschlägigen Werke Bertha von Suttners. Mit der Berufung auf die „Realistik“ ebenso kleinkarierter wie alberner Detailausmalungen sollten der politische Opportunismus und die unhistorische Motivierung dieser Zukunftsbilder vertuscht und legiti­ miert werden. In Bezug auf Hertzkas bodenreformerisches „Freiland“ in Ostafrika kann sich A. L. Morton beispielsweise über die „Ausrüstung je­ des einzelnen Mitgliedes der Vorausabteilung ,mit sechs Garnituren Unter­ kleidung aus leichtem, elastischem Wollstoff — der sogenannten Jäger­ wäsche'“11 mokieren und mit angebrachter Ironie feststellen: „Nach einem solchen Start kann man sich vorstellen, wie glänzend alle Hindernisse beim Aufbau des utopischen Staates überwunden werden1213 .“ Bertha von Suttners Utopie Das Maschinenzeitalter10 wurde von der sozialistischen Neuen Zeit zwar als „utopisch“ abqualifiziert, weil „der Ver­ fasser selbst noch in seinem Fühlen und Denken stark von dem Ideengang der herrschenden Gesellschaft beeinflußt ist“14, trotzdem galt das Buch „im Ganzen“ als „eine gute Propagandaschrift für weniger fortgeschrittene Leserkreise“1516 . Wie geeignet aber im Grunde diese so gutgemeinte wie naive Literatur war, Beschwichtigungs- und Alibifunktionen bei den „weniger fortgeschrit­ tenen Leserkreisen“ des Bürgertums zu übernehmen, macht eine Besprechung von Suttners pazifistischem Bestseller Die Waffen nieder! Eine Lebens­ geschichte10 in der Fach-Zeitung für den Colportage-Buchhandel deutlich. Leipzig 1890 (10. Aufl. 1897). A. L. Morton: Die englische Utopia, 1958, S. 244 f. Ebd„ S. 245. Erschien zunächst anonym: Das Maschinenzeitalter. Zukunftsvorlesungen von Jemand. 1889. (3. Aufl. 1899). 14 Die Neue Zeit, 7. Jg. (1889), S. 520. 15 Ebd., S. 523 (Hervorhebung M. N.). 16 Erstausg. Dresden 1889, 2 Bde; 28. Aufl. 1907! Im folgenden handelt es sich um die (zweite) „Volksausgabe“ (Dresden 1906) zum Preis von einer Mark.

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Diese Zeitschrift, die sich gewöhnlich für Werke ganz anderer Couleur be­ geisterte17, konnte von Suttners Roman unbesorgt wünschen: „mögen auch manche Ereignisse der neueren Zeit den Pessimisten Anlaß zu Zweifeln gegeben haben, Rom ward nicht an einem Tage erbaut, und das letzte Ziel der gewaltigen sittlichen Bewegung18, zu der dies Buch den Anstoß gegeben hat, einmal wird es doch erreicht sein!“19 Soweit sich die literarische Utopie — von sozialistischer Seite mit ge­ wichtigen Argumenten im Stich gelassen — noch neben und in der aufkom­ menden Science Fiction behauptete, geriet sie zu Partialremeduren mit grundsätzlich affirmativem Charakter, indem die progressiven Details die Zukunftsträchtigkeit des Bestehenden als Ganzes zu suggerieren hatten. Für dieses Geschäft boten sich drei Themenkreise besonders an: 1. Die Darstellung des „alten Traums aller kleinbürgerlichen Radikalen“20, einer freien Wirtschaft ohne Ausbeutung. 2. Die Perhorreszierung sozialistischer Systeme mit Hilfe der utopiekriti­ schen Satire21, die bald aus der autoritären Bürokratisierung der SowjetUnion ihren Profit schlagen konnte. 3. Plädoyers für den offen-reaktionären Rückzug in vorindustrielle Idyllen, die meist als „über“- oder „post“-industriell verkauft werden, — in „ein Leben und Treiben wie von nackten Klavierlehrern in Arkadien“22. (In der neueren Science Fiction werden diese Idyllen zwar immer noch vor­ geführt, aber zugleich als unterträglich demaskiert. Sie dienen so als pro­ phylaktischer Beweis dafür, daß es im Grunde keine bessere Gesellschaft als die bestehende geben kann.)

17 Etwa den anonymen Zukunftsroman Englands Untergang oder der anglo-franko-russische 'Zukunftskrieg. Mostar 1904 (nicht in der Bibliographie von I. F. Clarke!), dessen Rezension mit chauvinistischem Enthusiasmus schließt: „Heute gibt es keine Engländer mehr! . . . Alle Seewege sind frei, das britannische Reich zertrümmert — die Welt atmet frei auf.“ In: Fach-Zeitung für den ColportageBuchhandel, 20. Jg., 1904, Nr. 24, S. 196. Ähnlich die Ankündigung von Luft­ schiff 13. Ein Zukunftsroman. 1908. Ebd. 24. Jg., 1908, Nr. 24, S. 195. 18 Gemeint ist der „Wiener Verein der Friedensfreunde bzw. das „Internationale Friedensbureau“ in Bern. 19 22. Jg., 1906, Nr. 4, S. 35 (Hervorhebungen M. N.). 20 A. L. Morton: Die englische Utopia, 1958, S. 244. 21 Z. B. J. I. Samjatins Wir. (Erschien zunächst in engl., franz, und tschech. Übers. 1924.) Neueste dt. Ausg.: 1970, ( = Heyne-Buch 3218) 22 Ernst Bloch über H. G. Wells’ Menschen, Göttern gleich, 1927. In: E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung, 1959, S. 720.

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2. Von der Utopie 2ur utopischen Methode

Der rapide Abbau des politischen und sozialen Anspruchs der Utopie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist eklatant. Doch die Eindeutig­ keit dieses Prozesses könnte zu einer voreiligen Generalisierung des Genres und der Chronologie seines Niedergangs verleiten. Dagegen muß hervor­ gehoben werden, daß bereits in der vorrevolutionären Epoche der bürger­ lichen Emanzipation, in der Zeit der quantitativen Blüte des utopischen Romans, die Masse der so etikettierten Werke kaum mehr oder doch nur in Teilbereichen unserer Utopiedefinition entspricht. Allgemein läßt sich feststellen, daß in den „klassischen“ frühen Utopien eines Morus, Andreae, Campanella, Bacon oder Harrington die politischen und sozialen Intentionen nur in eine karge, streng funktionale epische Fik­ tion gebettet waren23. Aber schon im 17. Jahrhundert finden sich etwa bei Cyrano de Bergerac24 oder Denis Vairasse25*Tendenzen zu einer autarken Fiktionalisierung, die zu einer Aufweichung des politischen Kerns der Utopie führten28 und spätestens im 18. Jahrhundert nicht nur inflationäre, sondern — in bezug auf die formale Geschlossenheit des Genres — geradezu zentri­ fugale Wirkungen zeigten. Denn sehr bald schon gingen die Autoren über den ursprünglichen Zwang zur Tarnung der oppositionellen politischen Aussage mit Hilfe der geographischen Entrückung und des einfachen Reise­ berichts hinaus. Die geographische Tarnung wurde zunächst mit satirischen Verfremdungs­ techniken angereichert. Die grundsätzlich andere Zielrichtung der Satire führte aber zu einer Kollision mit der utopischen Intention. Die Satire tritt dort auf der Stelle, wo für die Utopie lediglich der Ausgangspunkt liegt: bei der Kritik des Bestehenden. Der Wille zu Veränderung ist gewiß auch bei der Satire vorhanden, er steht aber „hinter“, also außerhalb des Textes

23 Ansätze zum rein spielerischen Gaudium finden sich allerdings bereits bei Mo­ rus, der sich die Zeit nahm, ein Alphabet der Utopier zu entwerfen. 24 Histoire comique des estats et empires de la Lune. 1657 und: L’Histoire des estats et empires du soleil. 1662. Dt. Übers.: Reise in die Sonne. Halle 1909 und Mondstaaten und Sonnenreiche. Phantastischer Roman. München 1913, zu­ letzt ebd.1962. 25 L’Histoire des Sevarambes, 1677. Dt. Übers.: Historie der neuerfundenen Völ­ ker Sevarombes genannt, oder Beschreibung des neuerfundenen Südlandes. Sulz­ bach 1689. 28 So konnte selbst Swifts misanthropische Satire Gulliver’s Travels zum Kinder­ märchen kastriert werden.

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und kann nur indirekt und potentiell durch Reflexionen des Lesers erschlos­ sen werden. Als Vexierspiegel der Gegenwart konkurriert die Satire mit der Realität und muß sich daher auch literarisch mit Formen der Wirklichkeitsdarstel­ lung messen. Wo in der Utopie das satirische Element überwiegt, schieben sich deshalb Techniken der realistischen Epik und Detailbeschreibung auf Kosten der utopischen Absicht in den Vordergrund: Es wird nicht mehr in erster Linie eine in sich geschlossene und dauerhafte Ordnung konstruiert, sondern die Wirklichkeit wird Zug um Zug mit den umgekehrten Vor­ zeichen versehen, die Zwischenräume aber werden mit freien Erdichtungen ausge­ füllt [. . .] Mit anderen Worten: die Utopie schlägt den Weg zum Roman ein27.

Solchermaßen geriet die Utopie in eine Schere aus dem Zwang, die Illu­ sion der Realität durch immer dichtere Fiktionalisierungen aufrechtzuerhal­ ten und der utopischen Intention, die durch die Pseudorealistik und Detail­ lierung kompromittiert und unglaubwürdig werden mußte. In dieser Situa­ tion schlug die Lösung des Dilemmas fast immer zugunsten des Romans aus. Hatte sich das Schema der Reisebeschreibung anfangs als offenste epische Form zur Tarnung der oppositionellen Modelle angeboten, so assimilierte die Utopie als Konkurrent des realistischen Romans auch die inhaltlichen Klischees und Handlungsabläufe der noch weitgehend identischen Reiseund Abenteuerliteratur. Begünstigt wurde diese Entwicklung zweifellos durch das Vorbild antiker Autoren, die in ihren Reiseromanen bereits die Vermischung von Realität und Phantastik vorexerziert hatten. Als „voyage imaginaire“ aber war die Utopie nicht mehr bloß getarnt oder des Eindrucks der Glaubwürdigkeit wegen fiktionalisiert; — vielmehr bot sie sich dergestalt selbst als potenzierte Form der phantastischen Sensations- und Abenteuerliteratur dar. Mit einem festen Kanon inhaltlicher Klischees und der zur Formelhaftigkeit erstarrten Perfektion ihrer Fiktionalisierungstechnik wurde sie einerseits im Bereich der phantastischen Unterhaltungsliteratur geradezu genrebildend; auf die politische und lite­ rarische Stringenz der Utopie dagegen wirkte diese Entwicklung auflösend, denn die Autarkie des Verfahrens erlaubte auch seine Ablösung von der utopischen Absicht, reduzierte diese bestenfalls auf relikthafte Pflichtübun­ gen28 oder gab als solche jede beliebige Beschreibung irgendeines Sozialver27 H. Freyer: Die politische Insel, 1936, S. 122. — Zum Problem der Fiktionalisierung vgl. P. U. Hohendahl: "Zum Erzählproblem des utopischen Romans, 1969. 28 François de Salignac de la Motte Fénelon baute in seinen Roman Les aven­ tures de Télémaque, 1699, beispielsweise ein eigenes utopisches Kapitel ein.

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bandes aus, die sich ja im Rahmen der exotischen Abenteuerliteratur ohne­ hin kaum vermeiden ließ. In Ludwig Holbergs Nicolai Klims unterirdischer Reise29*unternimmt der Held nicht nur eine Sightseeing-Tour durch mehrere satirisch dargestellte Staatsmodelle, er wird auch aktiv in deren Geschichte eingeschaltet und be­ tätigt sich sogar als eine Art „Yankee an König Artus Hof“. Gewiß erhielt die Utopie durch den Einbruch solcher Handlungselemente eine Dimension der Bewegung, mit der auch politische und soziale Prozesse darstellbar wur­ den. Aber der Wert dieses Verfahrens ist doch zu bezweifeln, da es kaum der Darstellung möglicher Realisierungsprozesse der Utopie, sondern fast ausschließlich dem Aufbau abenteuerlicher Handlungsstrukturen und Schein­ konflikte sowie deren Lösung diente. Paradigmatisch läßt sich dieser Vorgang an Schnabels Insel Felsenburg29 ablesen, die als pietistische Sozialutopie beginnt, aber in einem dauernden Aufschaukelungsprozeß von fiktivem Realismus und Phantastik auf über 2000 Seiten zur exotisch-phantastischen Abenteuerschwarte mutiert. In Schnabels Phantasmen finden sich — wie auch bei Holbergs lebenden Bäu­ men und Büschen, Tier- und Rumpfmenschen, oder Rétif de la Breton­ nes31 Sortiment von Löwen-, Riesen-, Affen-, Tag- und Nachtmenschen — zwar noch Reste der satirischen Verfremdungstechniken — etwa der „ver­ kehrten Welt“; als Elemente einer romanhaften Handlung und kruden Phantastik aber verlieren sie ihre satirische oder allegorische32 Funktion zu­ sehends. Sie stehen und fallen nun mit der möglichst plausiblen Realistik ihrer Darstellung. Die satirische Kritik wird von pittoresken Exotismen überwuchert und durch banale Skurrilitäten entschärft. Indem sich die Uto­ pie mit dem Inventar der Kuriositäten-Sammlungen des 17. Jahrhunderts ausstaffiert, verkommt sie selbst zum Kuriositätenkabinett. 29 (Nicolai Klimii lter Subetrraneum Novam Teiluris Theoriam [...], dt.), Copenhagen und Leipzig 1741. Mehrere dt. Aufl. u. Übers., die neueste erschien im Zeichen des gegenwärtigen literarischen Kuriositäten-Booms 1970 in Hamburg („wiederentdeckt von Herrn Ekkehard Hieronimus“, einem Science-FictionFan). — Benutzt wurde für die vorliegende Arbeit die „neue und vermehrte Auflage“, Kopenhagen und Leipzig 1765. 39 Wunderliche Fata einiger See-Fahrer, 1. T. 1731, 2. T. 1732, 3. T. 1736, 4. T. 1743. Hermann Ullrich zählt in seiner Bibliographie Robinson und Robinsonaden (1898) bis 1778 acht Aufl. des ersten, sieben des zweiten und dritten, und fünf Aufl. des vierten Teils! (S. 125—131). 31 La découverte australe par une homme volant, 1781, 4 Bde. Dt. Übers.: Der fliegende Mensch, 1784. 32 So die Seeungeheuer als Verkörperungen der Laster in Abbé Morellys Nau­ frage des isles flottantes, 1753.

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Die Methoden, mit denen beispielsweise Holberg seine Erfindungen der Nachprüfung entzieht und der Kritikfähigkeit des Lesers durch autoritäre Einschüchterung vorbeugt, gehören noch heute zum gängigen Handwerks­ zeug der Science-Fiction-Autoren: und werden die Ruder der Schiffe gleichsam durch eine Zauberkraft geführet; in­ dem sie durch gewisse Maschinen, wie unsere Uhrwerke, getrieben, und nicht mit der Hand regieret werden. Ich kann aber die eigentliche Art, und die Kunst selber, wie sie zugerichtet werden, nicht beschreiben, denn in der Mathematik habe ich eben nicht viel vergessen; und über dieses wissen die Bäume alles dermaßen künstlich einzurichten und zu verbergen, daß einer noch schärfer als ein Argus sehen [...] müßte, wenn er dieses Kunststück entdecken wollte33.

Die Existenz diverser Monstren, die Holbergs Unterwelt zusätzlich bevöl­ kern, wird — da Darwin noch nicht zur Verfügung steht — durch den Hinweis auf Plinius (den Älteren) legitimiert34. Einem Höhepunkt pseudorealistischer Verbindlichkeit bildet die beige­ bundene Faltkarte mit der Reiseroute des Helden. Sie signalisiert zugleich die zunehmende Autonomie und Isolierung Utopias. Bei Holberg steht die­ sem Trend zwar noch die satirische Gegenwartskritik gegenüber, in der Mehrzahl der „voyages imaginaires“ aber wurde die Utopie zum bloßen geographischen — und bald auch zeitlichen35*— Faktum. An die Stelle des Appells zum politischen Handeln und zur Realisierung der Utopie trat die Fluchtbewegung und das Problem einer Touristik durch Raum und Zeit38. Je mehr sich die Utopie als realistischer Roman ausgab, desto stärker mußte sie zugleich vor einer Kollision mit der Gegenwart geschützt werden. Dem Entpolitisierungs- und Isolierungsprozeß parallel verlief eine immer inten­ sivere Vermischung der verschiedensten epischen Formen, an deren End­ punkt sich eine phantastische Sensationsliteratur etablierte, deren Autoren ihre Aufgabe lediglich in der möglichst effektvollen Übertrumpfung ihrer Konkurrenten sahen37. Die politische Verbindlichkeit der Utopie wurde 33 L. Holberg: Nicolai Klims unterirdische Reise, S. 69. 34 Ebd., S. 246. 35 Unter der wachsenden Zahl von Romanen, die Utopia in die Zukunft verleg­ ten, war Louis Sebastian Merciers L’an deux mille quatre cent quarante, 1772, zwar nicht der erste, aber der erfolgreichste und am meisten plagiierte: fünf Aufl. bis 1799 ( = An VII). 38 Für einen anonymen, pseudowissenschaftlichen Plagiator Holbergs im 19. Jahr­ hundert war das Problem der Realisierung der Utopie nur noch eine Finanzie­ rungsfrage der Expedition ins Erdinnere, denn: „Hinter dem Tartarus, es ist keine Fabel, liegt ein Elysium.“ Die Unterwelt, 1828, S. 144. 37 Die Verfilzung und Akkumulation der Motive läßt sich in vielen Fällen schon an den Titeln ablesen: Des Robinson Crusoe dritter und vierter Theil, oder

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durch die Verbindlichkeit der Handlungsstrukturen und Motive der Unter­ haltungsliteratur ersetzt, die zum einzigen Ordnungsprinzip dieser Romane wurden. Wie wenig diese Literatur noch mit den politischen und sozialen Eman­ zipationsbestrebungen des Bürgertums zu tun hatte, wird auch aus ihrer quantitativen nationalen Verbreitung deutlich. Während England und Frankreich auf Grund der dort fortgeschritteneren politischen und ökonomi­ schen Verhältnisse bei der Produktion und Konsumtion der Utopien gegen­ über anderen Ländern einen deutlichen Vorsprung hatten, läßt sich für den Bereich der pseudoutopischen Reise- und Abenteuerliteratur kein signifikan­ ter Unterschied zur deutschsprachigen Produktion feststellen. Nach der Bibliographie Goves38 verteilt sich die Nationalität von 201 der zwischen 1700 und 1800 erfaßten 215 imaginären Reisen folgendermaßen: 67 eng­ lische, 65 französische, 59 deutsche und 10 holländische. Die Höhe des deut­ schen Anteils ist um so erstaunlicher, als das englische, französische und hol­ ländische Aufkommen mit der realen kolonialen Expansion dieser Länder korrespondierte. Die Banalität und die klischeehafte Phantastik dieser Populärliteratur wurde bereits von der zeitgenössischen Literaturkritik angeprangert. Moncrif stellte in einer Rede vor der Académie Française fest: Das Verfahren liefe in all diesen Romanen immer wieder auf denselben Trick hin­ aus: auf die einfache Umkehrung dessen, was uns durch Erfahrung geläufig ist, die Übertragung von Eigenschaften auf Wesen, denen sie fremd sind und umgekehrt; so wenn es in »Gullivers Reisen“ Pferde mit Menschenverstand und Menschen mit Pferdeinstinkt gibt. Dieselbe Grundtendenz eignet auch dem Versuch, durch Ver­ zerrung der Dimensionen, durch den Gegensatz von Riesen und Zwergen, die Phanlustige und seltsame Lebens-Beschreibung Peter von Mesange, worinnen er seine Reise nach Grönland und anderen nordischen Ländern, nebst dem Ursprung, Historien, Sitten und vornehmlich das Paradies deren Einwohner des Poli critici, nebst vielen ungemeinen Curiositäten, artig und wohl beschreibet. Leyden 1721. [Übers, a. d. Frz.J, — Hilarius Goldsteins Leben und Reisen oder der un­ sichtbare Robinson welcher die Kunst der Unsichtbarkeit erlanget und vermit­ telst derselben die guten und bösen Handlungen der Menschen entdeckt hat. Frankfurt u. Leipzig 1753, — Die Wunderinseln, oder Karl's und Richard's Irr­ fahrten auf unbekanntem Meere und merkwürdige Begebenheiten auf einem wüsten Eilande unter wilden Riesen, einem guten Zwergvölkchen, den Meer­ wilden, auf einer schwimmenden Insel, sowie ihre Rückkehr. Ein Lesebuch für gute Kinder von M. Hulter. Leipzig: Magazin für Industrie 1830. Alle Titel zit. n. H. Ullrich: Robinson und Robinsonaden, S. 223, 237 u. 199. 38 Ph. B. Gove: The imaginary voyage in prose fiction. 2. Aufl., 1961. (Für den deutschsprachigen Bereich ist Goves Bibliographie keineswegs vollständig!)

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tasie des Lesers anzusprechen. Das Vergnügen, das mit bloßem Auge Gesehene bald vergrößert bald verkleinert wie durch ein umgekehrtes Fernglas zu sehen, kann [...] nicht gerade als Geniestreich gelten39.

Zu Recht merkt Werner Krauß in diesem Zusammenhang an, daß diese Kritik eine Literatur nicht mehr berührte „deren breite Leserschaft durch das Kriterium des Geschmacks und der Bildung überhaupt nicht betroffen werden konnte“40. Diese Konsequenz hatte bereits der Literaturhistoriker Hermann Hettner im 19. Jahrhundert gezogen, als er — wenn auch indirekt — darauf hin­ wies, daß diese Literatur nicht mehr an den klassischen Beispielen der Uto­ pien und der Defoeschen Robinsonade zu messen war: Sie haben alles Ideelle und Gedankenmäßige im Robinson abgestreift. Sie halten sich nur an das Überraschende und Außergewöhnliche der Schicksale und Begeben­ heiten, die dem Helden zustoßen. Das Wundersame steigern sie zum Wunderbaren und Fabelhaften, das Mögliche und Naturwahre zum Unmöglichen und Phantasti­ schen. Es ist nicht mehr die einfache Szenerie des Robinsons, die hier festgehalten wird, es ist die Phantasmagorie des Shakespear’schen Sturm oder vielmehr, da es unzulässig ist, hier an ein so vollendetes Kunstwerk zu erinnern, die Phantasmago­ rie und Romantik der alten wundersüchtigen Reise- und Abenteuergeschichten, wel­ che ursprünglich aus der Verwilderung der spanischen Schelmenromane hervorge­ gangen sind41.

Für Hettner lag die Entscheidung, daß es sich hier um den Entstehungs­ prozeß einer eigenen Form der Unterhaltungsliteratur handelte, die mit der Utopie nichts mehr verband als einige Äußerlichkeiten und die Fiktionalisierungstechnik, die sie von ihr entlehnte, noch relativ nahe. Er konnte sie auf der Basis der noch intakten Definition der Utopie als Staatsroman und Sozialutopie treffen. Heute fällt diese Einsicht wesentlich schwerer, ange­ sichts einer aufgeweichten Utopiedefinition, die sich nicht nur willig nach allem relativiert, was sich als Utopie verkauft, sondern deren Verfechter dieses Prädikat um so eifriger verleihen, je deutlicher der Auszug des Uto­ pischen aus der Belletristik geworden ist. Der neuere Utopiebegriff ist so bescheiden konzipiert, daß man bereits im schlicht „Anderen“, der bloßen Phantastik, das Utopische zu erkennen vermag. Krysmanski etwa kritisiert zwar Schwonkes apologetische Inter­ pretation der „technisch-wissenschaftlichen Utopie“ (d. h. der Science Fic­ tion), weil auch er den „strategischen“ und „prognostischen“ Wert einer 39 Zit. n. der indirekten Wiedergabe von W. Krauss: Reise nach Utopia, S. 17. 40 Ebd., S. 17 f. 41 H. J. T. Hettner: Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. 1893—94, 4. u. 5. Aufl., Bd 1, S. 284.

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Zeitreise oder eines „Universums in der xten Dimension“42 bezweifelt, aber doch nur, um an die Stelle der technokratischen Apologie die Fetischisie­ rung des Phantastischen zu setzen. Die Utopie wird als „utopische Methode“ wiederbelebt. Die „soziale Relevanz der utopischen Methode“ liegt nach Krysmanski darin, „daß sie den Einzelnen frei macht, die ,unmögliche', d. h. die echte [!] Möglichkeit zu denken, durch die sich die Wirklichkeit ver­ ändert43.“ Konsequenterweise definiert denn Krysmanski die „utopische Methode“ auch so, daß sie sich in nichts mehr von bloßer Phantastik unter­ scheidet: Die utopische Methode verschließt in ihrem Modell Elemente gemeinsamer Vorstel­ lungen, Tatsachenbruchstücke, wissenschaftliche Grenzhypothesen etc. und mischt sie mit Unmöglichkeiten. Sie gibt damit das auf die Sicherheit der Faktizität tendie­ rende Subjekt der »unendlichen Möglichkeiten rationaler Bestimmung' (Jonas) preis, in der keine künftige Wirklichkeit vorweggenommen wird. Das utopische Denken bewegt sich in einem ,mittleren Jenseits' (Gotthard Günther), auf der Ebene der Reflexion, auf der das Denken das Subjekt bis zu einem gewissen Grade auflöst (be­ freit, öffnet), indem es eine Wirklichkeit produziert, die jenseits des seinsverhafteten Subjekts liegt44.

Krysmanskis Definition trifft exakt das Verfahren der sich als Utopie gerierenden Phantastik. (In diesem Sinne wurde sein Begriff der „utopischen Methode“ für die vorliegende Arbeit übernommen.) Krysmanski muß je­ doch dort widersprochen werden, wo er zu suggerieren versucht, daß es sich bei der utopischen Methode um den eigentlichen Kern oder zumindest um den zeitgenössischen Ausdruck der Utopie und des „utopischen Den­ kens“ handle. Im Gegensatz zur sozial und politisch determinierten Utopie zeichnet sich die utopische Methode gerade durch ihre unverbindliche Phan­ tastik, ihre sozusagen „wertfreie“ Autonomie gegenüber Entwürfen des hu­ maneren Lebens aus. Wohl nicht zufällig nimmt sich Krysmanskis positive Wirkungsanalyse der utopischen Methode heute wie eine Antizipation der Apologien eines geschäftigen Undergrounds aus, der seine Kunden mit den Utopiesurroga­ ten bewußtseinserweiternder Drogen, psychodelischen Kunstgewerbe und irrationalen Regressionen von politischer Aktivität und Verantwortung ab­ hält. Das logische Pendant dazu ist der Versuch fixer Apologeten der Scien­ ce Fiction, die die jeweils modischste Definition ihrer Lieblingslektüre zur

42 H.-J. Krysmanski: Die utopische Methode, S. 135 f. 43 Ebd. 44 Ebd.

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Hand haben, diese neuerdings als „psychodelische Literatur“ des „inneren Universums“45*an den Mann zu bringen. Die Verselbständigung der utopischen Methode, die es in letzter Kon­ sequenz auch ermöglicht, sie gegen die Utopie einzusetzen, ist nicht erst eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Heinrich Zschokke exerzierte sie schon Ende des 18. Jahrhunderts mit seinem Ritter- und Geheimbund-Roman Die schwarzen Brüder™ vor, einem Roman, der zugleich den Rückzug der deutschen Aufklärung widerspiegelt. In den beiden ersten Bänden des Wer­ kes, die in der Gegenwart spielen, macht Zschokke den Versuch, das be­ liebte Genre der Ritter- und Räuberromane als Vehikel für die Populari­ sierung republikanischer, antiklerikaler und sozialer Fortsdirittsideen zu benutzen. Allerdings werden schon hier Unvereinbarkeiten des gewählten Genres mit der politischen Absicht deutlich; die progressive Politik von der Gründung der Demokratie in den USA bis zur Französischen Revolution wird zum positiv-verschwörerischen Werk des Geheimbundes der „schwar­ zen Brüder“. Der dritte und letzte Teil des Romans setzt die Handlung im 24. Jahr­ hundert fort. Um den Übergang zum Zukunftsroman glaubwürdig zu ma­ chen, werden die „schwarzen Brüder“ auch noch zu raunenden Hütern ge­ heimer Wissenschaften: Glaubt mir, Bruder, daß zwischen Erd und Himmel noch Währheiten und Möglich­ keiten im geheimnisvollen Dunkel wohnen; wo Sinne für gewisse Dinge vorhanden sind, von welcher der großen Schaar hochgelahrter Akademisten und Stubengelehr­ ten noch nicht die flüchtigste Muthmaaßung angeschwebet ist47.

Aus dieser Position heraus spielt Zschokke bereits mit dem Gedanken an eines der extremsten Philosopheme der Entmündigung, auf dessen angeb­ liche Erfindung die Science Fiction des 20. Jahrhunderts so stolz ist: Die Menschen seien nicht um ihrer selbst willen da, sondern nur „Haustiere“ höherer Intelligenzen48! Während technokratische Verfechter der Science Fiction, wie Gotthard Günther und Martin Schwonke, diese Idee als höch­ sten Ausdruck eines brandneuen, antieuropäischen, supra-aristotelischen, „innerweltlichen“ (Schwonke) und nicht mehr anthropozentrischen Welt­ 45 So der Science-Fiction-Fan und -Autor (Männer gegen Raum und Zeit. 1958 — auch als Terra-Heft Nr. 56, 1959) Jürgen vom Scheidt im Nachwort zu seiner Anthologie Das Monster im Park. S. 251—[259]. 48 M. J. R. [d. i. Heinrich Zschokke]: Die schwarzen Brüder. 3 Bde, 1791, 1793 U. 1795. 47 Ebd., S. 114, 2. Bd. (Hervorhebungen im Original). 48 Ebd., S. 37—40, 1. Bd.

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bildes feiern, sind wir bei Zschokke den abgestandenen und trüben Quel­ len, aus denen hier geschöpft wird, noch näher. Denn diese Repressions­ ideologie ist nichts anderes als die mit Hilfe der Astronomie rationalistisch aufpolierte Fremdbestimmung des Menschen der alten religiösen Herr­ schaftslegitimationen. Bei Zschokke findet der Umschlag in die fatalistische Reaktion — dank der utopischen Methode — im dritten, „utopischen“ Teil statt. Dem Leser wird nun eingebläut, daß die politischen und sozialen Forderungen, mit denen sich der Autor 1791 und 1793 identifizierte, im Grunde unwesent­ lich, ja sinnlos seien. Die aufklärerisch-revolutionären „schwarzen Brüder“ haben sich — angesichts der Realisierung ihrer Ideale im 24. Jahrhundert (= 1975) — in abgeklärte Spießer verwandelt: das Loos der Menschheit ist und bleibt durch alle Weltalter, in allen Graden der Cultur, unter allen Zonen immer dasselbe, und verwandelt sich nicht; Lust und Jammer bleiben die ewigen Gefährten der Menschheit, und auch über sechstausend Jahren werden keine Rosen wachsen ohne Dornen49.

hätt’ ich gelebt in der barbarischen Vorwelt, als die Wissenschaften kaum noch der Wiege entschlüpft waren, so wär’ ich glücklicher. Die Wissenschaften ziehen den Menschen ab von der Welt und auf sich zurück — ach, und je mehr er abläßt von jener, je enger er mit sich vertraut wird, je elender er wird; denn er erkennt dann, daß die Gottheit seines Wesens ein disharmonisches Nervenspiel, sein Himmel ein eitler Traum sey. Glaube nicht, [...] daß die Menschheit vollkommner werde, je länger sie auf dem Stern dieser Erde lebet und webet, Sie bleibt ewig, die sie von Anbeginn war50.

Fünfzehn Jahre später, 1810, erschien der Zukunftsroman Ini. Ein Ro­ man aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert51, verfaßt von dem ebenso populären wie produktiven Schriftsteller Julius von Voß. Mit diesem Ro­ man läßt sich eine weitere Station in der Eigenentwicklung der utopischen Methode markieren. Daß Voß es sich ersparen konnte, die zukünftige Handlung eigens zu motivieren, kann einerseits als Indiz für einen relativ hohen Bekanntheits­ grad des Genres Zukunftsroman gelten; zum anderen weist es auf die wei­ tere kontrastbildhafte Isolierung Utopias hin, bei der das Realisierungspro­ 49 Ebd., S. 157, 3. Bd. 50 Ebd., S. 131, 3. Bd. Ob Zschokke damit seine Enttäuschung über den Gang der Französischen Revolution ausdrücken wollte oder das Ausbleiben einer deut­ schen Revolution resignativ kompensierte, läßt sich an Hand des Textes nicht entscheiden. Im Vorwort des 3. Bandes [S. 5 ab Titels.] bezeichnet er seinen Ro­ man als „Leichenstein erstorbner Freuden; ein kleines Monument großer seeligkeitsvoller Augenblicke, die wir einst unser nannten [. . .] “ 51 Zu J. v. Voß vgl. Meusel’s Gelehrtes Teutschland. 5. Aufl., 1812, Bd. 16.

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blem nicht mehr zur Debatte steht, sondern einem selbstverständlichen und allgemeinen Fortschrittsautomatismus zugeschrieben wird: Und eine bessere Zukunft naht so gewiß, als die Vergangenheit von der Gegenwart übertroffen wird. Wenigstens gilt die Behauptung, insofern wir, von der immer mehr entwickelten Kultur, das Heil der Sterblichen erwarten52.

Die Einschränkung des letzten Satzes deutet den Preis an, der für diese Zukunftsgewißheit zu zahlen ist. Die Utopie wird entpolitisiert, reduziert sich auf „kulturelle“ Überbauphänomene und bescheidet sich mit techni­ schen und wissenschaftlichen Antizipationen. (Im Kulturbegriff von Voß bilden sie noch eine Einheit.) In letzter Konsequenz zeichnet sich damit be­ reits das Ende der Utopie ab — jedenfalls dann, wenn ihre Definition be­ wußte politische und soziale Intentionen des Humaneren beinhalten soll. Was Voß’ utopische Methode allerdings noch von kruder Science Fiction unterscheidet, ist die stillschweigende Überzeugung, daß technisch-wissen­ schaftlicher und politisch-sozialer Fortschritt sich gegenseitig notwendig be­ dingen. Unter einem anderen Aspekt kann von Voß als direkter Vorläufer der Science Fiction gelten. In Ini wird mustergültig vorgeführt, wie ein dürf­ tiges und abgestandenes Handlungsschema mit Hilfe der utopischen Me­ thode neu aufgeladen, verfremdet und wieder genießbar gemacht wird: Ini und Guido, zwei Kaiserkinder, die natürlich ihre wahre Herkunft nicht kennen, verlieben sich ineinander gegen den Widerstand ihrer Erzieher. Guido muß eine Ausbildung absolvieren, wobei er sich beim Bau von flie­ genden Musikinstrumenten, in Technik und Wissenschaft, als Heerführer, bei Zweikämpfen und Abenteuern am Nordpol als echter Supermann erweist. Nebenbei lüpft er in galanter Absicht die Schleier von Damen, die sich aber immer als Ini entpuppen. Den Höhepunkt bildet die Enttarnung Guidos als Sohn des Kaisers von Europa, der — ob seiner Taten — als Nachfolger für würdig befunden wird, aber aus Gründen der Staatsraison die ihm un­ bekannte Tochter der Kaiserin von Afrika heiraten muß. Resigniert lüftet er bei der Hochzeit den Schleier der Braut. Es ist — Ini, seine Geliebte! Dem Leser wird also versichert, daß auch in Zukunft Pflicht und Nei­ gung zusammenfallen. Und daß es sich hier um eine „Utopie“ handelt, kann er daran erkennen, daß der Roman in der Zukunft spielt, die Welt nur noch aus einigen großen Kaiserreichen besteht und die Engländer als Kolo­ nial- und Handelsmacht endlich geschlagen sind. Gerechtigkeitshalber muß hinzugefügt werden, daß Voß nebenbei auch die Volksrente, die Kranken­ 52 J. v. Voß: Ini [S. 10 f.].

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Versicherung, die progressive Erbschaftssteuer, die Religion als Philosophie, „ohne Priester, ohne Kultus“53, die Vergeudungswirtschaft54 einführt und daß (aus dem Handel!) alle Privilegien verbannt sind. Aber diese Anklänge an die Sozialutopie nehmen sich doch nur als pflichtgemäße Schlenker aus gegenüber der Fülle von politisch unverfänglichen Erfindungen und Ent­ deckungen aus dem Bereich der Wissenschaft und Technik und der gewich­ tigen Begeisterung, mit der sie beschrieben werden. Da gibt es Taucherglokken, mechanische Greifarme für Unterwasserarbeit, schwimmende, von ge­ zähmten Walen gezogene Inseln, lenkbare Luftschiffe, Häuser auf Rädern, das Periskop, Bomben mit Mehrfach-Sprengsätzen, Musik als Mittel der psychologischen Kriegführung, künstlich hergestellte Diamanten (für „die Frauen der niederen Klassen“55* ), Antizipationen der Spektralanalyse und des Napalms, die Abtragung und den Neuaufbau ganzer Gebirge, die künst­ liche Einschläferung von Menschen über Jahrhunderte58, „die endlich gefun­ dene Quadratur der Rundung“57, Kriege unter Wasser, unter der Erde und in der Luft mit Giftgasen und künstlichen Seuchen. — „Und warum nicht? Strebt doch alles höherer Vollkommenheit entgegen58.“ Die Methode der „wissenschaftlichen Extrapolation“ hat bereits die Prä­ zision und Genialität der späteren Science Fiction; auf die Zähmung der Wale kam man aus folgender Überlegung: „Denn, dachte er, geht dies bei Thieren vom Lande an, wo ist der Grund, es werde hier nothwendig miß­ lingen59?“ Die Technik ist in Vossens Roman so weit fortgeschritten, daß in den Fahrzeugen eine eigene „Kammer für die Dienerschaft“80 installiert werden kann — ein Wunsch, der in der Science Fiction bis heute immer wie­ der imaginiert wird, zumal er in der realen Raumfahrt noch immer nicht berücksichtigt werden kann und in den Raumkapseln eine öde und politisch bedenkliche Gleichmacherei herrscht. Voß beanspruchte für seinen Roman nicht das Prädikat der politischen Sozialutopie. Er wollte ausdrücklich ein Stück Konsolations-Literatur schrei­ ben: „Wenn nun aber die Zeit gar unfriedlich ist, sollte da nicht ein Blick in die Zukunft das bedrängte, oft zagende Herz trösten, beleben, erhei­ tern81?“ Diese Bescheidenheit ehrt gewiß den Autor. Aber es ist doch nur noch ein Schritt von ihm zur spezifischen Fortschrittsideologie der Science Fiction, die den deklamatorisch beibehaltenen Anspruch, Utopie zu sein, mit tech­ nischen Apparaturen und wissenschaftlichen Manipulationstechniken ein33 Ebd., S. 158. 58 Ebd., S. 265—273. 59 Ebd., S. 296.

54 Ebd., S. 246. 57 Ebd., S. 209. 80 Ebd., S. 24.

55 Ebd., S. 252. 58 Ebd., S. 282. 81 Ebd., [S. 10].

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löst, unter gleichzeitiger Beibehaltung, ja Affirmation der jeweils gegen­ wärtigen politischen, sozialen und ökonomischen Determinanten des Ge­ sellschaftssystems, indem sie letztere zu allgemein-menschlichen — nur bei Strafe des Untergangs veränderbaren — Grundbedingungen des Daseins verklärt. Unter dem Zeichen dieser Ideologie können dann Aufklärung als „Beleuchtungstechnik“, und „reaktionäres Gerechne“62 als gesellschaftspoli­ tischer Fortschritt ausgegeben werden.

3. Die Nachtseiten der Naturwissenschaft

Die Reaktion der zur Macht gekommenen Schicht des Bürgertums und der alten Herrschaftsgruppen gegen eine weitere Revolutionierung der Ge­ sellschaft von unten beschränkte sich in der Restaurationsepoche nicht auf die Zensur und Prohibition politischer und sozialer Forderungen. Nur zu gut mußten gerade die emanzipierten Teile des Bürgertums um die politische Sprengkraft der Naturwissenschaften wissen, die nicht mehr „die demütige Magd der Kirche“83 waren; hatten sie doch selbst mit ihrer Hilfe in der Phase des Materialismus und der frühen (eigenen) Aufklärung gegen die religiöse Herrschaftslegitimation des Feudalsystems rebelliert. Die Gefahr, daß mit wissenschaftlichen Argumenten auch gegen die neuen Staatsautoritäten opponiert wurde (die sich mit den alten, klerikal-feudalen liiert hatten und die deren Legitimationshilfen nun schätzen lernten), lag auf der Hand. Ihr wurde bildungspolitisch mit einer drastischen Einschrän­ kung der gerade in Gang gekommenen Massenaufklärung begegnet, wobei man notfalls selbst Rückwirkungen auf den eigenen Bewußtseinsstand in Kauf nahm: Mehr als je galt es jetzt, das Volk im Zaum zu halten durch moralische Mittel; das erste und wichtigste moralische Mittel aber, womit man auf die Massen wirkt, blieb — die Religion. Daher stammen die Pfaffenmajoritäten in den Schulbehörden, da­ her die wachsende Selbstbesteuerung der Bourgeoisie für alle möglichen Sorten frommer Demagogie, vom Ritualismus bis zur Heilsarmee84.

In Deutschland, der bis weit ins 19. Jahrhundert hinein politisch, ökono­ misch und gesellschaftlich „verspäteten Nation“, bedurfte es dazu keiner eklatanten Kehrtwendung. Die Aufklärungsbewegung war hier schon vor 62 Peter Rühmkorff in: Der Spiegel, 24. Jg., 1970, Nr. 45, S. 248. 68 F. Engels: Die Entwicklung des Sozialismus (Einleitung z. engl. Ausg., 1892), MEW, 22, S. 299. 84 Ebd., S. 309.

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der Revolution in Frankreich durch obrigkeitsstaatliche Bedenken gebremst worden. Der progressive protestantische Theologe Johannes Kern stellte bereits 1787 fest: Weil man uns so oft vorsagt, daß der Gebrauch des Verstandes gar leicht zum Un­ glauben, zur Irreligiosität und zum Laster führe; weil man uns so oft vorsagt, daß der Gebrauch des Verstandes gar leicht zu Respektlosigkeit gegen die Obrigkeit, zu Meutereyen und Rebellionen verleite, so muß der eigene Gebrauch des Verstandes, besonders da er ohnehin schon mit Mühe und Anstrengung verknüpft ist, immer mehr unterdrückt werden85.

Als sich die politischen Einflüsse der Französischen Revolution auch in Deutschland stärker bemerkbar machten, führte dies nur allzu schnell dazu, „daß [...] selbst die abergläubische Haltung Mittel zum Zweck, daß sie als moralische und gesellschaftliche Stütze betrachtet“8® wurde. Die erneute Propagierung der traditionellen, metaphysischen Formen der Herrschaftslegitimation wurde dadurch erleichtert, daß hierbei gar nicht notwendig und explizit gegen Wissenschaft und Technik Front gemacht werden mußte87. Wenn die Naturwissenschaften weiterhin in der Öffentlich­ keit den Charakter und die Aura von undurchschaubaren Geheimwissenschaf­ ten behielten — indem man einerseits die Masse der Bevölkerung, soweit als möglich, in ihren vorwissenschaftlichen Denk- und Ordnungsvorstellungen beließ und andererseits der Wissenschaftsbetrieb, inklusive seiner technischen Auswertungsmöglichkeiten, einer allgemeinen und verbindlichen Diskussion und Kontrolle entzogen blieb — konnten Wissenschaft und Technik selbst zu Auslösern von irrationalen Regressionen werden. Cagliostro, Mesmer, Swedenborg, Beßler und viele andere hatten aus diesem Syndrom schon in einer frühen Phase der Aufklärung, in der sich die Naturwissenschaften erst teilweise von ihrem metaphysischen Überbau gelöst hatten, bei einem ver­ wirrten bürgerlichen Publikum ihren Profit geschlagen88. Sicherlich wurde dieser Wirkungsmechanismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weder in vollem Ausmaß erkannt noch bewußt gesteuert. Aber zu seinem 85 In: Schwäbisches Magazin zur Beförderung der Aufklärung. Ulm 1787, 2, S. 16. Zit. n. H. Bausinger: Aufklärung und Aberglaube, S. 350. 88 H. Bausinger, ebd. S. 355. 87 Zum Komplex „gescheiterte Volksaufklärung“ vgl. die historisch differenzierte Darstellung bei R. Schenda: Volk ohne Buch, S. 40—90. 88 Über die Technik als „Auslöser von Regressionen“ vgl. H. Bausinger: Volks­ kultur in der technischen Welt. 1961, S. 13—52. Über die Rolle der galvanischen Elektrizität, der Chemie bei Betrugsmanövern, Wunderheilungen usw. vgl. E. Friedell: Kulturgeschichte, 54.—79. Tsd., S. 669—679 u. 694—698,sowieE.Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 734—738.

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Funktionieren genügte es, wenn die oben angeführten Voraussetzungen — aus welchen Gründen auch immer — gegeben waren. Irrationales und regressives Rezeptionsverhalten gegenüber den Natur­ wissenschaften und der beginnenden Industrialisierung war keineswegs auf die unteren Bevölkerungsschichten beschränkt. Es scheint zunächst vielmehr ein ausgesprochenes Merkmal der gebildeteren Mittel- und Oberschichten gewesen zu sein69. Aus diesen Kreisen rekrutierten auch die verschiedenen Illuminaten-, Freimaurer-, Theosophen- und Rosenkreuzerzirkel des „auf­ geklärten“ 18. Jahrhunderts ihre Mitglieder. Egon Friedell sah gerade in solchen Atavismen günstige Faktoren für die Rezeption aufklärerischer Innovationen: Nur jene dilettantische Vermengung von philosophischer Spekulation und exakter Forschung hat es ermöglicht, daß der Materialismus in so vielen und selbst einigen sehr erleuchteten Köpfen des Zeitalters die herrschende Weltanschauung wurde7071 .

In der populären bürgerlichen Belletristik manifestierte sich von den Ver­ werfungen dieses Innovationsprozesses zunächst nur die pure Regression. Im Schauerroman, der „gothic novel“, die von England — der politisch und ökonomisch fortgeschrittensten Nation Europas — ihren Ausgang nahm, wurde die materialistisch-wissenschaftliche Aufklärung mit einer Hervorhebung des Sentimental- und Pathologisch-Psychologischen, mit dä­ monischen Geheimkulten und Femgerichten kontrastiert, die politische Auf­ klärung und die Auflösung traditioneller Sozialbindungen mit Konspira­ tionsphantasien von mittelalterlichen Geheimbünden und der Betonung — meist geheimnisvoller — Verwandtschaftsbeziehungen beantwortet. Der Be­ griff des „German terror“, auf den sich die englische Schauerliteratur dabei berief, speiste seine vage Faszination sowohl aus touristisch genossenen Eindrücken eines vorindustriellen Deutschlands als auch aus der vorindu­ striellen deutschen Populärliteratur des 18. Jahrhunderts. In Frankreich hatte sich zur selben Zeit im Umkreis der aufklärerischen Utopien und der „voyages imaginaires“ eine besondere Form der phanta­ stischen Literatur herausgebildet, die als Pendant zur englischen Schauerlite­ ratur gelten kann. Im Titel der umfangreichsten Sammlung phantastischer Reisen — Voyages bnaginaires, songes, visions, et romans cabalistiques11 69 Diese Feststellung muß insofern relativiert werden, als die Quellen auf die, da­ mals nur diesen Gruppen möglichen, literarischen Artikulationen beschränkt sind. 70 E. Friedell: Kulturgeschichte, S. 669. 71 36 Bde., Amsterdam et Paris 1787—1789.

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— wurde diese Richtung besonders hervorgehoben, und Charles Garnier, der Herausgeber, charakterisierte sie in einem Vorwort: Ces découvertes n’exigent point que nos lecteurs quittent leurs foyers; il nous suffira de désiller leurs yeux, & soudain ils seront entourés d’une multitude d’êtres dont ils ne soupçonnoient pas l’existence. Leurs regards perceront les entrailles de la terre, & iront y découvrir les Gnomes; il verront l’air rempli de Sylphes; du milieu des flammes, ils apercevront s’élever les Salamandres, & le sein des eaux ne cachera plus pour eux les Ondines & les Nymphes. Ce n’est pas tout; l’avare Acheron laissera échapper sa proie, les morts sortiront de leurs tombeaux, leurs âmes viendront converser avec nous, & nous dévoiler des mystères qui semblent hors de la portée des foibles mortels. Tel est le reste de la tâche que nous avons à remplir. Les romans cabalistiques & de magie que nous allons donner, tiennent de très-près aux Voyages imaginaires, & se trouvent naturellement à leur suite7273 .

Beide Strömungen — die englische „gothic novel“ wie die französische mär­ chenhaft-mythologische Phantastik — wurden zu Fundamenten der litera­ rischen Romantik, in der sich die metaphysisch-religiöse und politische Reak­ tion gegen wissenschaftlichen Materialismus, Liberalismus und Sozialismus artikulierte. Während sie in Deutschland zur „Heidelberger Romantik“ mit ihren harmlos-märchenhaften Phantasmen, landschaftlichen, sozialen und politi­ schen Idyllen führte, entwickelte sich in England, den USA und Frankreich aus ihr eine „zweite“74, „schwarze Romantik“, die es — angesichts der fort­ geschrittenen politischen und ökonomisch-industriellen Entwicklung dieser Länder — nicht mehr allein bei nostalgischen Beschwörungen vorindustriel­ ler und vorwissenschaftlicher Ordnungs- und Denkvorstellungen belassen konnte. Nicht daß diese Literatur ihre grundsätzliche Opposition gegen den Ab­ bau des metaphysischen Weltbildes und der traditonellen Gesellschaftsord­ nungen aufgegeben hätte; sie verstärkte und aktualisierte vielmehr ihren Widerstand, indem sie die Objekte ihrer Kritik — vertreten durch die Na­ turwissenschaften — in ihre Argumentation einbezog. Sie verließ sich nicht mehr auf die „Zeremonialisierung der gleichsam erledigten Ängste“74 im Stil der konventionellen Schauerliteratur, sondern spekulierte auf neue Realängste und wurde bei deren literarischer Artikulation federführend. Die Phantastik dieser neuen Variante der „tale of terror“ zeichnete sich 72 Ebd., Bd 33, S. 4 f. (zit. n. Ph. B. Gove: The imaginary voyage, S. 62). 73 Benedetto Croce: Storia d’Europa nel secolo decimonono. Bari 1932, S. 53. Zit. n. M. Praz: Liebe, Tod und Teufel. 1963, S. 17. 74 Jürgen Habermas in der Diskussion zu Richard Alewyns Vortrag: Die literari­ sche Angst. In: H. Ditfurth: Aspekte der Angst. 1965, S. 37.

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durch die wissenschaftliche — genauer: pseudowissenschaftliche — Motiva­ tion aus. Sie beschwor nicht mehr den Rückzug in die geschlossene, „heile“ magische Welt des Märchens, wie er in der deutschen Romantik propagiert wurde, sondern versuchte den wissenschaftlichen Rationalismus mit seinen eigenen Mitteln zu verunsichern, indem sie die Naturwissenschaften selbst der Magie und des Unheimlichen verdächtigte. Dies konnte um so leichter gelingen, als der Regressionsmechanismus von fortschreitend rationalisierten Lebensbedingungen und retardierender Aufklärung, dessen Ausdruck diese Literatur war, auch im außerliterarischen Bereich ähnliche Ergebnisse zei­ tigte7576 . Roger Caillois hat in seinem Essay De la Féerie a la Science-Fiction die unterschiedlichen Erzählhaltungen im Märchen und in der neueren phanta­ stischen Literatur herausgearbeitet. Seine Analyse kann — cum grano salis — auch zur Differenzierung der spätromantischen deutschen und der west­ europäischen und amerikanischen Phantastik des 19. Jahrhunderts dienen. Le féerique est un univers merveilleux qui s’ajoute au monde réel sans lui porter atteinte ni en détruire la cohérence. Le fantastique, au contraire, manifeste un scandai, une déchirure, une irruption insolite, presque insupportable dans le monde réel79. Le prodige y devient une agression interdite, menaçante, qui brise la stabilité d’un monde dont les lois étaient jusqu’alors tenues pour rigoureuses et immanuables. Il est l’impossible, survenant à l’improviste dans un monde d’où l’impossible est banni par définition77. ailleurs, où la féerie l’emporte, tout est prodige ou présage de prodige. L’effroi qui vient de la violation des lois naturelles assez fixes et assez bien définies pour que le phénomène qui les nie, provoque une sorte de panique mentale. Le fan­ tastique, j’y insiste, est partout postérieur à l’image d’un monde sans miracle, soumis à une causalité rigoureuse78.

Mary Wollstonecraft-Shelleys Roman Frankenstein or, the modem Pro­ metheus (1818), Edgar Allan Poes und Nathaniel Hawthornes „wissen­ schaftlich“ motivierte Schauergeschichten bilden den eigentlichen Auftakt der Science Fiction — entgegen der landläufigen These, diese sei ein Pro­ dukt der optimistischen Fortschrittsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts. Das Thema des künstlichen Menschen, das Wollstonecraft-Shelley in 75 76 77 78

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Vgl. hierzu H. Bausinger: Volkskultur in der technischen Welt, S. 13—52. R. Caillois: De la Féerie à la Science-Fiction. In: Ders.: Images, 1966, S. 14 f. Ebd., S. 16. Ebd., S. 27 f. Für den Bereich des Volksmärchens hatte diese Beobachtung — Jahre vor Caillois — bereits Max Lüthi gemacht und sie mit dem Begriff der „Eindimensionalität“ gefaßt. Vgl. z. B. M. Lüthi: Das europäische Volksmär­ chen. 2. Aufl. 1960.

Frankenstein aufgriff, war an sich, nach den Homunculus-Spekulationen seit Paracelsus, der literarischen Verarbeitung der Golem-Sage79 und den Automaten-Geschichten von E. T. A. Hoffmann, nicht mehr gerade neu. Was den Augenblickserfolg und die anhaltende Wirkung dieses Romans aus­ machte, war die stringente naturwissenschaftliche Motivierung des Stoffes. Mrs. Shelley’s novel firmly established the theme in modern imaginative literature. All the shambling hords of modern robots and androids are descendants of Fran­ kenstein’s sadly malevolent monsters80.

Noch bedeutsamer als das Thema des Androiden erwies sich die Aktuali­ sierung des Zauberlehrling-Motivs in der Gestalt des in seinem Privatlabo­ ratorium gegen die metaphysische Ordnung frevelnden Wissenschaftlers, der dann — nach den Gesetzen der Trivialliteratur — mit seiner Schöp­ fung und durch sie untergeht81. Um das Problem der wissenschaftlichen Realisierung eines künstlichen Menschen ging es der Autorin nach eigener Aussage noch nicht82. Vielmehr steht „Frankenstein“ allgemeiner für eine Naturwissenschaft, die religiöse Bindungen nicht mehr anerkennt und sie durchbricht. Und bei Wollstone­ craft-Shelley finden sich — zwar teilweise von rousseauistischen Interessen überdeckt — in nuce bereits die wesentlichsten Argumente der bürgerlich­ konservativen Wissenschafts- und Technikkritik, die ihre Objekte dämoni­ siert und ihnen autonome (negative) Sachzwänge unterstellt. Mit pessimi­ stischem Fatalismus, der bestenfalls die Hoffnung auf das rechtzeitige Ein­ greifen einer schicksalhaften höheren Gerechtigkeit auf Lager hat, wird von der Notwendigkeit der demokratischen Kontrolle dieser Bereiche abgelenkt, die sie aus politischen Gründen für ebenso undurchführbar erklären muß, wie sie den rationalen Humanismus abzulehnen hat, der diese Kontrolle in einer human orientierten Demokratie ohne antitechnische und antiwissen­ schaftliche Implikationen leisten könnte. Dergestalt — in einer Art Nega­ tivbild — schrieben die Verfechter der traditionellen Herrschaftslegitima­ tionen Wissenschaft und Technik längst die ontologisierte und hypostasierte Rolle zu, welche sie später in einer bewußten technokratischen Herrschafts­ ideologie — zunächst ins Positive gewendet — tatsächlich übernehmen soll­ ten. 79 Z. B. in Achim von Arnims Isabella von Ägypten, 1812. 80 L. Sprague de Camp: Science Fiction Handbook, 1953, S. 42. 81 Ein weiteres Standardthema der Science Fiction — die Weltkatastrophe — verarbeitete Wollstonecraft-Shelly in dem Roman The last Man. 1826. 82 M. Shelley: Frankenstein. 1970, S. 5.

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Auch Poes Bedeutung für die Entwicklung der Science Fiction lag nicht so sehr in der Erweiterung der stofflichen Thematik als vielmehr im Ausbau der pseudowissenschaftlichen Motivierung des Unheimlichen und in der zur Perfektion getriebenen Aufschaukelung von „horror“ und „ratiocination“, von rationaler Aufklärung und ihrer Negation. (Vielleicht wissen gerade deshalb Vertreter eines formalen „Utopie“-Begriffs mit ihm als „ScienceFiction-Pionier“83 so wenig anzufangen84.) In Deutschland hatte die wissenschaftlich-phantastische Literatur des Schreckens zunächst wenig Resonanz. Nicht einmal E. T. A. Hoffmann, des­ sen Geschichten zudem ein noch relativ frühes Stadium dieser Entwicklung darstellten, fand einen direkten Nachfolger. Während Wollstonecraft-Shelleys Frankenstein in England und Frank­ reich — auch in Theaterfassungen — sofort ein großer Erfolg wurde8586 , er­ schien die erste deutsche Übersetzung erst 1912. (Bezeichnenderweise in dem auf Okkultismus spezialisierten Leipziger Verlag Max Altmann — in einer Reihe mit Bram Stokers Dracula, Bulwer-Lyttons Romanen, Büchern und Telepathie, „Gedankenwellen“, Wünschleruten, Neutemplern, Rosenkreuzern und dem Zentralblatt für Okkultismus.) Die breite Rezeption Poes setzte in Deutschland, trotz vereinzelter früher Übersetzungen88, erst in der Phase der literarischen Neuromantik und des Okkultismus um 1900 und vor allem nach dem ersten Weltkrieg ein, als die Poe-Nachdrucke fast unüberschaubar wurden87. In Deutschland fanden sich Tendenzen, die diesen Frühformen der Science Fiction vergleichbar waren, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts — am ehesten in den spekulativen Werken von Wissenschaftlern, die der ro­ 83 Vgl. C. Olney: Edgar Allan Poe, 1959. 84 Z. B.: M. Schwonke: Vom Staatsroman, S. 36. 85 Ebeling berichtet von elf dramatischen Fassungen des Stoffes zwischen 1823 und 1826. In: M. Shelley: Frankenstein, S. 338 f. — Die dritte engl. Aufl. des Romans erschien 1831. 86 Die erste deutsche Poe-Anthologie erschien unter dem Titel Unbegreifliche Er­ eignisse und geheimnißvolle Thaten 1859 bei Scheible in Stuttgart. 87 Das gilt besonders für die Nachdrucke in Zeitschriften. — Ein ähnlicher Rezep­ tionsverlauf liegt auch bei den Werken Edward Bulwer-Lyttons vor: während die historischen und „konventionell“-okkultistischen Romane Bulwer-Lyttons schon um die Jahrhundertmitte in mehreren großen Lieferungsausgaben ver­ trieben werden konnten, wurde The Coming Race (1871), trotz einer Überset­ zung von 1874, erst in der Ausgabe des Max Altmann Verlags von 1907 (zum Preis von zwei Mark) und in der anthroposophischen Ausgabe von 1922 ein Erfolg. (Von anthroposophischer Seite wird das Werk in Deutschland auch heute noch betreut; letzte Ausgabe: Dörnach 1958.)

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mantischen Bewegung nahestanden. Sie versuchten, die antitranszendentalen und emanzipatorischen Implikationen der Naturwissenschaften, welche den Menschen zum alleinigen und bewußten Gestalter seiner Geschichte und der Natur erheben sollten, durch erneute metaphysische Spekulationen im Be­ reich der Wissenschaft selbst aufzufangen. Die Erkenntniskritik Kants88 wurde mit Schellings Naturphilosophie „überwunden“, wobei Schellings Philosophie insofern Berührungspunkte mit der Bewußtseinslage früher Science-Fiction-Autoren aufwies, als in ihr die primäre Einsicht in die Un­ haltbarkeit des metaphysischen Weltordnungssystems umschlug in „Angst davor, daß man nicht mehr seiner selbst als eines vernünftigen Wesens Herr ist. . . durch den Zweifel einer absoluten Vernünftigkeit der Welt“89* . Programmatisch für die Mischung von naturwissenschaftlichem Rationalis­ mus und metaphysischer Reaktion ist der Titel einer Vorlesungsreihe des Theologen, Arztes und Professors der Naturwissenschaft, Gotthilf Heinrich Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft™. In diesen Vorlesungen bekämpfte Schubert die materialistische „Philosophie des Un­ raths“91, indem er ihr die „hohe untergegangene Naturweisheit“9293 94 einer pa­ radiesisch-glücklichen Vorwelt gegenüberstellte, deren Reste er in Mythen und Sagen erahnte. Im übrigen erging sich Schubert in Spekulationen, die teilweise noch heute zum Standardrepertoire der Science Fiction gehören: Atlantis, die geistige und physische Weiterentwicklung des Menschen durch „die noch unausgebildeten Organe eines künftigen höheren Daseyns [.. Mesmerismus, Somnambulismus, Hellseherei und Neptunismus91. Ganz im Sinne der politischen Vorstellungen der jüngeren Romantik und der Ordnungsparolen der Restauration stellte er der aufklärerischen Idee des mündigen Menschen ein mystisch-organisches Weltbild gegenüber, in dem auch die Wissenschaften wieder an die Kandare der Religion genom­ men wurden. Die emanzipatorische Zielrichtung des wissenschaftlichen Fort­ 88 „Wer freilich nach Kant noch immer versucht, diese von ihm so klar gezogene Grenze zu verwischen oder zu verrücken, und als Naturforscher Metaphysiker, als Metaphysiker Naturwissenschaftler sein will, ist nicht mehr ein zeitgebun­ dener Geist wie jene materialistischen Denker der französischen Aufklärung, sondern nur noch ein vorsündflutlicher Schwachkopf.“ E. Friedell: Kulturge­ schichte, S. 669. 88 W. Schulz: Das Problem der Angst in der neueren Philosophie. In: H. v. Ditfurth: Aspekte der Angst, S. 1—14, S. 7. 80 Dresden 1808 (4. Aufl.. 1840). 82 Ebd., S. 3. 93 Ebd., S. 364 u. S. 318 f. 94 Vgl. hierzu E. Friedell: Kulturgeschichte, S. 666—668.

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schritts wurde umgebogen auf die Wiedererlangung einer mystischen Natur­ einheit: Es scheint das höchste Ziel unsrer Bildung, daß wir das eigentliche Wesen jenes tie­ fen innren Strebens, und das wornach es unwandelbar gerichtet ist, rein und innig anerkennen [. . .] Auf diese Weise allein wird unsrem Geschlecht, und zwar selb­ ständiger und bleibender, jene heilige Unschuld und hohe Vollendung aller Kräfte wiederkehren, welche es am Anfang seiner Geschichte verherrlichte, und jene glück­ liche Nachwelt wird sich das durch ihr eignes hohes Streben wieder erringen, was der ersten Vorwelt ohne ihr Verdienst, von der Natur gegeben war95* .

Literatur dieser Art markierte auch in Deutschland einen stärkeren Durch­ bruch okkultischer Strömungen im gehobenen Bürgertum als Teil der meta­ physischen „Selbstbesteuerung“ im Sinne Engels. Der Okkultismus der be­ ginnenden Restauration zeigt bereits die Merkmale eines „Aberglaubens aus zweiter Hand“99, wie sie Theodor W. Adorno am Beispiel der modernen Astrologie analysierte. Schon hier handelt es sich nicht mehr um einen Aber­ glauben „auf früheren Stufen“, den „wie immer unbeholfenen Versuch, mit Fragen fertig zu werden, die damals anders und vernünftiger nicht sich hätten lösen lassen“, sondern um eine bewußte „intellektuelle Regres­ sion“97: Astrologie fällt nicht einfach auf ältere Stufen der Metaphysik zurück. Vielmehr verklärt sie die aller metaphysischen Qualitäten entkleideten Dinge zu quasi meta­ physischen Wesenheiten wie die science fiction. Nie wird der Boden unter den Füßen verloren. Die hypostasierte Wissenschaft behält das letzte Wort98.

Der Verspätungscharakter Deutschlands zeigt sich aber darin, daß bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts der potentielle Abnehmerkreis für eine auf diesem Okkultismus basierende, populäre, wissenschaftlich-phantastische Belletristik — also die Science Fiction —, im Gegensatz zu Frankreich und den angelsächsischen Ländern, noch sehr gering war99. Noch fehlte in breiten Schichten des deutschen Bürgertums sowohl eine technisch-naturwissenschaftliche Bildung als auch die direkte Konfrontation mit den entsetzlichen Resultaten des frühkapitalistischen Manchestertums 95 G. H. Schubert: Ansichten, S. 383 f. 98 T. W. Adorno: Aberglaube aus zweiter Hand. 1955. 97 Ebd., S. 144. 98 Ebd., S. 164. 99 Zur Situation in England und Frankreich vgl. M. Praz: Liebe, Tod und Teu­ fel. — Für die USA vgl. H. B. Franklin: Future Perfect. 1966. „There was no major nineteenth-century American writer of fiction, and indecd few in the second rank, who did not write some science fiction or at least [!] one utopian romance.“ Ebd., S. X.

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und dem sich politisierenden Proletariat, um allgemeinere Kompensationen der neuen Realängste notwendig zu machen. In Deutschland konnte die rigorose Industrialisierung und Zerschlagung der handwerklich-agrarischen sozioökonomischen Strukturen erst nach den Stein-Hardenbergschen Reformen und der Zolleinigung (1834 und 1868) in vollem Umfang einsetzen. Dabei blieb die politische Führungsstellung des feudalen Großagrariertums und seine religiöse Herrschaftslegitimation noch weitgehend intakt. Das reaktionäre Kleinbürgertum konnte seine anti­ industriellen Forderungen 1848 vorübergehend durchsetzen. Und auch in der um die Mitte des Jahrhunderts beginnenden Phase des Wirtschaftslibe­ ralismus erhielt das Führungsbündnis der Finanz- und Industriebourgeoisie mit den Großagrariern das vorindustrielle und absolutistische Gepräge des Deutschen Reiches. Präventive Sozialisten- und Sozialgesetze sowie eine von innenpolitischen Spannungen ablenkende Kolonialpolitik erlaubten die Beibehaltung dieses Kurses bis in den ersten Weltkrieg hinein100. Zwar hatte auch in Deutschland die Diskussion um Technik und Maschine begonnen, aber zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts er­ kannte der durch die Industrialisierung bedrohte Mittelstand die neue Ent­ wicklung nicht in ihrer ganzen Tragweite. Noch glaubte man, ihr mit Ein­ schränkungen der Gewerbefreiheit, mit Torsperren und dem Verbot des Hausierhandels Herr werden zu können. Die biedermeierliche populäre Belletristik bestärkte ihre Leser in dem Glauben, durch bloße Ignoranz gegenüber der bereits unabwendbaren In­ dustrialisierung, mit „Phantasien über das häusliche Glück der Handspinner und die Poesie der Spinnstuben den Gang der Dinge aufhalten [. . .]“101 zu können. Diese Haltung deckte sich zugleich mit dem Interesse der Machteli­ ten, den sozialen und politischen Konsequenzen des wissenschaftlich-techni­ schen Fortschritts durch die Beibehaltung der alten, vorindustriellen Herr­ schaftsideologie zu entgehen. Ausschließlich vorindustrielle Inhalte eigneten auch der massenhaften Kolportageliteratur bis in die siebziger Jahre. Hier war sowohl vom Be­ wußtseins- wie Bildungsstand der Leser wie aus obrigkeitsstaatlichen und herrschaftsideologischen Gründen erst recht kein Platz für eine Literatur wie die frühe Science Fiction, in der sich die politischen und sozialen Span­ 100 Vgl. hierzu J. Hirsch: Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und politisches System. 1970, S. 11—41. Dort auch weiterführende Literatur. 101 Peter Christian Beuth (Preuß. Staatsrat, 1781—1853), zit. n. F. Schnabel: Deut­ sche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Die moderne Technik und die deutsche Industrie, S. 80.

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nungen der Industrialisierung als Schreckenskabinett aus Wissenschaft und Technik niederschlugen. Die Schauerromantik der Aufklärung überlebte in Deutschland vor allem in mild sozialkritischen, halb rousseauistischen Räuberromanen. Und als sie beim Mittel- und Kleinbürgertum passé waren, bestimmten sie — in einem sozialen time lag — bis ins 20. Jahrhundert wie kein anderes Genre die The­ matik der massenhaften Kolportageliteratur102, die nach den Gewerbebe­ rechtigungsnovellen in den fünfziger und sechziger Jahren sprunghaft an­ wuchs und endlich die Kapazität der Schnellpresse und die potentielle Lese­ fähigkeit von inzwischen über fünfzig Prozent der Bevölkerung voll nutzen konnte103.

102 Noch 1900 waren von 35 angezeigten Lieferungsromanen acht, 1906 von 41 Romanen zehn, 1909 von 49 Romanen 17 Räuberromane. (Fach-Zeitung für den Colportage-Buchhandel, 16. Jg. 1900, Nr. 2, S. 13; 22. Jg. 1906, Nr. 2, S. 16 u. 25. Jg. 1909, Nr. 4, S. 29). Von 201 Heftreihen und Lieferungsromanen, die 1915 u. 1916 durch die deutschen Militärbehörden verboten wurden, waren 66 Räuberromane. Allerdings fielen sie inzwischen ohne Ausnahme unter die Rubrik „ältere, noch gangbare Schundliteratur“. (P. Samuleit: Kriegsschundlite­ ratur. 1916, S. 48—54 u. Die Hochwacht. 6. Jg. 1916, H. 10, S. 196—198.) 103 Hinzu kam das Erlöschen vieler alter Verlagsrechte im Jahr 1867. Fast alle führenden Kolportage-Verlage wie Werner Große (Berlin, später „Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst“), Münchmeyer, Weichert, Dietrich, Tittel (alle Dresden) und Sacco (Berlin) wurden Mitte der sechziger Jahre gegründet. Vgl. hierzu E. Drahn: Geschichte des deutschen Buch- und Zeitschriftenhandels. 1914, S. 31, 39 u. 65.

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II. DIE KONSOLIDIERUNG DER SCIENCE FICTION 1. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und Innerlichkeit

1862 entschloß sich der Theaterautor und Librettist Jules Verne, den Rat des Verlegers Jules Hetzel zu befolgen, ein Manuskript zu dem Roman Cinq semaines en ballon, voyage de découvertes umzuarbeiten. Er schrieb damit seinen ersten Welterfolg. Als Ende 1862 der Roman bei Hetzel erschien, wurde in Frankreich ge­ rade der Plan des Schriftstellers, Karikaturisten und Photographen Nadar (d. i. Felix Tournachon) — eines Freundes Vernes — diskutiert, sich mit dem Riesenballon „Le Géant“ bis an die afrikanische Mittelmeerküste treiben zu lassen, und David Livingstones erste Afrikadurchquerungen waren ein bevorzugtes Thema der Presse. In Cinq semaines en ballon waren beide Themen zu einer abenteuerlichen Afrikaexpedition per Ballon verbunden und gesteigert. Zugleich charakterisiert dieses Verfahren das durchgängige Erfolgsrezept Vernes, bei den Stoffen seiner Romane sich von realen und aktuellen Anlässen inspirieren zu lassen1. Literaturgeschichtlich läßt sich Vernes dauerhafter Erfolg dadurch erklä­ ren, daß er die Tradition der voyage imaginaires in einer Form erneuerte, die den gewandelten und bis dahin ungestillten Bedürfnissen der vornehm­ lich bürgerlichen Leserschaft entgegenkamen. Die phantastische Reiseliteratur war zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu­ sammen mit den bürgerlichen Utopien fast ganz aus dem Themenkanon der populären Literatur verschwunden. Sie überlebte allenfalls vereinzelt in

1 Als Paradebeispiel für diese Methode gilt Vernes Roman Vingt mille Heues sous les mers, 1870, in dem er die Idee des Unterseebotes perfektionierte, nachdem solche Boote im amerikanischen Bürgerkrieg erfolgreich eingesetzt worden wa­ ren. Den Namen „Nautilus“ trug schon Robert Fultons Tauchboot (1804), von dem sich der Erfinder die „Freiheit der Meere“ erhoffte. (Vgl. hierzu Meyer's Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl., 1908, Bd 19, S. 942 u. J. O. Bailey: Pilgrims through space and time. 1947, S. 271. Der Verne-Biograph Max Popp vermutet als Inspirationsquelle Vernes den Tauchapparat „Nautilus“, mit dem der Amerikaner Hallelt 1858 in Paris vielbeachtete Versuche anstellte. (M. Popp: Julius Verne, 1909, S. 136 f.)

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der sich entwickelnden und nach Mustern suchenden Jugendliteratur2, wo die der Utopie verdächtigte Phantastik noch am ehesten toleriert wurde, oder in spiritistischen, kosmischen Exkursionen nach dem Vorbild Sweden­ borgs3 und schließlich in den Spekulationen pseudowissenschaftlicher Spintisierer, die ihr Eldorado — ganz real — im hohlen Inneren der Erde zu finden hofften4. Als geographische Fiktionen waren die voyages imaginaires durch die weitgehende Erkundung der Erdoberfläche zunehmend unglaub­ würdiger geworden, und an kosmische Reiseromane im Stil der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, in denen mit Hilfe neuer Erkenntnisse der Astrono­ mie das Lehrgebäude der Kirche angegriffen worden war, war in der kleri­ kalen Restaurationsepoche nicht zu denken. Die Utopie geriet unter den Händen der Frühsozialisten in eine erneute Phase der traktathaften Theorie, so daß sie kaum als Ersatz für die phan­ tastische Abenteuerliteratur fungieren konnte. Zudem mußte dem bürger­ lichen Leser das Interesse an wissenschaftlichen und technischen Antizipatio­ nen in diesen Utopien dadurch vergällt werden, daß in ihnen Wissenschaft und Technik „nur“ als „ein Moment der Unterstützung der gesellschaft­ lichen Arbeit“5 in einer sozialistisch organisierten Gesellschaft oder — z. B.

2 Vgl. z. B.: Die Wunderinseln, oder Karl’s und Richard's Irrfahrten auf unbe­ kanntem Meere, a.a.O. 3 Z. B.: Reisen in den Mond, in mehrere Sterne und in die Sonne. Geschichte einer Somnambule in Weilheim an der Teck [. . .] Ein Buch, in welchem Alle über das Jenseits wichtige Aufschlüsse finden werden, 1834 und: Helionde, oder Abenteuer auf der Sonne, 1855. 4 Vgl. hierzu: Die Unterwelt, 1828. In einer Fortsetzung „bewies“ der anonyme Autor — ganz auf der Höhe der neuesten geisteswissenschaftlichen Methode — die Existenz eines bewohnten Erdinneren mit Hilfe der Mythologie: Die Un­ terwelt 2. Theil. 1832. öffentliches Aufsehen und literarischen Einfluß erzielte schon früher John Cleve Symmes mit seiner Theory of Concentric Spheres, 1826, mit Rundschreiben an wissenschaftliche Institute in den USA und Europa (1818), öffentlichen Vorträgen, der offiziellen Petition, eine Expedition ins hohle Erdinnere auszurüsten und — wahrscheinlich — dem Roman Symzonia: A Voyage of Discovery, 1820, der unter dem Pseudonym „Captain Adam Sea­ born“ erschien. In der Unterwelt wird auf Symmes’ Petition Bezug genommen und wahrscheinlich sind Poes Erzählungen MS. Found in a Bottle (1833), The Unparalleled Adventures of One Hans Pfaall (1835) sowie sein fragmentarisch gebliebener Roman The Narrative of Arthur Gordon Pym (1838) von Symmes’ Theorie beeinflußt. Vgl. hierzu: J. O. Bailey: Pilgrims, S. 40—42 u. E. A. Poe: Werke II. 1967, S. 1080. 5 W. Krauss: Reise nach Utopia, S. 57.

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bei Cabet* 78 — als Faktoren des Auf- und Ausbaus einer solchen Gesell­ schaftsordnung gesehen wurden7. Christliche Gegenentwürfe wie der des bretonischen Heimatdichters Emile Souvestre (Le monde tel quil sera3) nahmen diese Interpretation in wissen­ schaftsfeindlicher und denunziatorischer Absicht auf und entsprachen mit ihrem frömmelnden Irrationalismus nicht dem positiv gestimmten Informa­ tionsbedürfnis des liberalen Bürgertums. Die ehemals sensationelle Topographie der Utopien und phantastischen Reisen war inzwischen soweit formalisiert und ausgeschrieben, daß sie be­ stenfalls noch zu augenzwinkernden Parodien taugte. Und das Vertrauen in die Seriosität von wissenschaftlichen Sensationsmeldungen war durch einige geschickt aufgezogene, bewußte Falschinformationen erschüttert wor­ den9. 8 Voyage en Icarie, 1846. Dt. Übers.: Reise nach Ikarien. 1847. 7 Die Enttäuschung darüber, daß Technik und Wissenschaft selbst nicht die eigentlichen Gegenstände dieser Utopien waren, wird noch in neueren Unter­ suchungen spürbar, z. B. bei M. Schwonke: Vom Staatsroman, S. 33. 8 Paris (1846), 2. Aufl. ebd. 1859. Benutzt wurde die Ausgabe im Bd 35 der Oeuvres completes d’Emile Souvestre. 1871. Ein deutscher Vertreter dieser Richtung war Robert Hamerling mit Ein Schwanenlied der Romantik. 1861. (Benutzt wurde die 4. Aufl. 1873) und Homurtculus. Modernes Epos in zehn Gesängen, 1886. (Benutzt wurde die 5. Aufl., 1888.) Vgl. hierzu M. Schwonke: Vom Staatsroman, S. 62. 9 Mit milder, vormärzlicher Kritik parodierte Eduard Boas fast sämtliche Kli­ schees und Topoi der Utopien und phantastischen Reisen, wobei die Satire um ihrer selbst willen im Vordergrund stand. Man könnte in diesem Fall auch von einer verselbständigten „satirischen Methode“ sprechen. — E. Boas: Reiseblüthen aus der Oberwelt. 1834. 2 Bde. Ders.: Reiseblüthen aus der Sternenwelt und Mond-Novelle. 1836. (In der Mond-Novelle macht sich Boas über den Er­ folg des von Locke lancierten „moon-hoax“ lustig — s. u.) Ders.: Reiseblüten aus der Unterwelt. 1836. 2 Bde (mit direkten Anspielungen auf Holbergs Niels Klims und die Unterwelt. Eine Bemerkung Boas’ — S. 100 — ist möglicherweise als Enttarnung des Anonymus zu verstehen. Demnach wäre der Verfasser der Unterwelt ein Prof. Steinhäuser aus Halle gewesen). — Das größte Aufsehen er­ regte der Journalist Richard Adams Locke mit seinem moon-hoax, einem fik­ tiven Bericht über die sensationellen Entdeckungen auf dem Mond, die der Astronom Sir John Herschel am Kap der Guten Hoffnung — Herschel war zu dieser Zeit tatsächlich dort — mittels eines neuen Riesenteleskops gemacht ha­ ben sollte. Der Bericht erschien zunächst in Fortsetzungen in der New Yorker Tageszeitung Sun (1835). Buchausgaben erschienen 1836 in New York u. Lon­ don u. d. T.: Some account of the great astronomical discoveries made by Sir ]. H., at the Cape of Good Hope. (Dt. Übers.: Neueste Berichte vom Kap der Guten Hoffnung über Sir J. Herschels [. . .] astronomische Entdeckungen, den Mond und seine Bewohner betreffend. 1836.) Poe bezichtigte Locke des Plagiats,

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Als für Frankreich Anfang der sechziger Jahre die antiliberale Liaison zwischen Napoleon III. und Papst Pius IX. zu Ende ging, das französische Erziehungswesen sukzessive säkularisiert und die Pressezensur gelockert wurde, entsprachen Jules Vernes Romane in idealer Weise dem aufgestau­ ten Bedürfnis nach einer neuen, wissenschaftlich-technisch ausgerichteten und zugleich unterhaltsamen Lektüre. Indem Verne abenteuerliche Handlungsmuster mit technischen und natur­ wissenschaftlichen Themen kombinierte, wertete er durch das didaktische Element den von der Literaturpädagogik ungeliebten Abenteuerroman auf. Möglichen Angriffen der unterhaltungsfeindlichen ästhetischen Literatur­ kritik entzog er sich wiederum dadurch, daß er sich mit der Rolle des Ju­ gendbuchschriftstellers beschied. Diese Beschränkung kam sicherlich nicht ohne den Einfluß seines Verlegers Hetzel zustande, dem sich Verne — auch in stilistischen Fragen — anvertraute „wie Telemachos seinem Mentor Pal­ las Athene“10. Hetzel11 gründete zusammen mit Jean Macé und J. P. Stahl 1864 das Magasin d'éducation et de récréation, und Verne wurde der populärste und zugkräftigste Autor dieser Jugendzeitschrift. In ihr wurden von nun an seine Romane zunächst in vierzehntäglichen Fortsetzungen veröffentlicht, bevor sie in Buchform als „voyages extraordinaires“ in Hetzels Bibliothèque d’éducation et de récréation erschienen. Vernes Aufgabe im Rahmen des Magasin war es : de résumer toutes les connaissances géographiques, géologiques, physiques, astro­ nomiques, amassées par la science moderne, et de refaire, sous la forme attrayante et pittoresque qui lui est propre, l’histoire de l’univers12.

Mit der Darstellung wissenschaftlicher Fakten nahm es Verne teilweise so genau, daß er ganze Passagen aus wissenschaftlichen Werken fast unverän­ dert in seine Romane übernahm13 und sich astronomische oder ballistische

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denn er hatte mit seiner nur einige Wochen oder Monate zuvor veröffentlichten Erzählung Hans Pfaall ähnliche Absichten verfolgt. Weil Locke ihm zuvorge­ kommen war, unterließ es Poe, dem als „ball-hoax“ konzipierten „Hans Pfaall“ eine Fortsetzung folgen zu lassen, die ebenfalls auf dem Mond spiegeln sollte. Vgl. hierzu: E. A. Poe: Werke II, S. 1072—1077 u. J. O. Bailey: Pilgrims, S. 46 f. A. Adler: Möblierte Erziehung. 1970, S. 85. Vgl. den Ausstellungskatalog der Bibliothèque Nationale: De Balzac à Jules Verne un grand éditeur du XIXe siecle: D.-J. Hetzel. Paris 1966. Hetzel im Vorwort zu Vernes Voyages et aventures du capitaine Hatteras. (1867 — unveränd. Nachdr. 1966.) Zit. n. A. Adler: Möblierte Erziehung, S. 82. Popp liefert dafür den Beweis am Beispiel von Vernes Der Goldvulkan {Le volcan d'or, dt.) und Elisée Reclus Nouvelle géographie universelle, de la terre et les hommes. Paris 20 vols, 1876—1894. M. Popp: Julius Verne, S. 149 f.

Berechnungen von Fachleuten anfertigen bzw. überprüfen ließ. Diese Prä­ zision der Fakten brachte Verne den Ruf seriöser Populärwissenschaftlich­ keit ein, der in einer Epoche des wissenschaftlichen Positivismus und litera­ rischen Realismus notwendig war, um auch die phantastischen Elemente seiner Romane als exakte Prognosen zu legitimieren. Vernes Romane bestimmten die weitere Entwicklung der Science Fiction auf mehrfache Weise. Er gab dem Genre die Reife der Serienproduktion und eröffnete ihm den Bereich der Jugendliteratur. Sein Stil ist zumindest für die von literaturpädagogischer Seite tolerierte Form des didaktisch-informierenden, sich eng an die absehbaren Entwicklungstendenzen der Technik haltenden Zukunftsroman bis heute verbindlich14. Mit der quantitativ kei­ neswegs repräsentativen Interpretation, die Science Fiction sei vor allem eine naturwissenschaftlich-technische und seriös-prognostische Sachliteratur, bestreiten die Apologeten der Science Fiction ziemlich erfolgreich die Aus­ einandersetzung mit Kritikern des Genres1516 *. Hinzu kommt, daß gerade dieser Aspekt von den Massenmedien als Aufhänger sensationeller Feuille­ tons geschätzt und verwertet wird18. Der sachliterarische Anspruch der 14 Als Beispiele dieser pädagogischen Einstellung seien genannt: K. E. Maier: Jugendschrifttum. 1965, bcs. S. 89—94; L. Santucci: Das Kind, sein Märchen und sein Mythos. 1964, bes. S. 160 ff. u. L. Dietz: Der Zukunftsroman als Ju­ gendlektüre. Dietz, S. 83: „die sich im Unmöglichen bewegende Science Fiction scheidet aus, da sie nicht zur Erweiterung und Ordnung der Gemütskräfte und Kenntnisse des Jugendlichen beitragen, sondern diese nur verwirren kann.“ Ähnlich auch R. Naujok: Das technische Jugendbuch. Heiner Schmidt nahm in seine Bibliographie Schulpraktische Jugendlektüre, 1960, nur derartige Romane auf (hauptsächlich von Erich Dolezal u. Hans K. Kaiser). Im Register (S. 342) werden sie unter „Utopien (Raumfahrt)“ [!] geführt. 15 Am erfolgreichsten verwendete diese Argumentation bisher der englische Sci­ ence-Fiction- und Sachbuchautor Patrick Moore, der damit 1955 sogar bei der UNESCO reüssierte. Er teilt die Science Fiction kurzerhand in zwei Typen ein: „1. Those which are scientifically inaccurate. 2. Those which are as accurate as they can be made in the light of our present knowledge, though a good deal of licence must necessarily be allowed“ und bezeichnet den zweiten Typus als den eigentlichen und im Vormarsch befindlichen. P. Moore: Science and Fiction. 1957, bes. S. 186—189 u. S. 10. 16 Seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte dieses Verfahren anläßlich der Bericht­ erstattung über das Apollo 11-Programm, als die Feuilletons der Tages- und Wochenzeitungen, des Rundfunks und des Fernsehens — mangels anderweitigen „human-interest“-Materials — dankbar auf richtige wie absurde Prognosen der Science Fiction zurückgriffen. — Ein permanentes Prinzip scheint diese Methode im Spiegel zu sein, wo Berichte über naturwissenschaftliche Entdeckungen und technische Neuerungen, wenn irgend möglich, mit Hinweisen auf — damit ein-

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Science Fiction wird auch ihren Lesern unermüdlich suggeriert, und mög­ licherweise verleiht er auch den nicht-technischen Inhalten eine intensivere und normativere Wirkung, als dies bei den meisten anderen, sich „nur“ als unterhaltende Belletristik gebenden Formen der Populärliteratur der Fall ist, zumal diese Inhalte im Kontext der Antizipationen und Prognosen unwillkürlich das Gewicht des Geschichtsunabhängig-Dauerhaften und Un­ wandelbar-Allgemeinmenschlichen erhalten. Jules Verne selbst sah sich als Nachfolger Edgar Allan Poes, von dessen Erzählungen er sich mehrfach thematisch anregen ließ* 17. Aber anders als die Vertreter der rationalisierten und wissenschaftlich motivierten Schauerlite­ ratur entdämonisierte der Jugendschriftsteller Verne diese Bereiche und ver­ band sie — zumindest anfangs und an der Oberfläche — mit dem Fort­ schrittsoptimismus des liberalen Bürgertums18. Nach dem Urteil des Jules-Verne-Enthusiasten Arno Schmidt fällt Verne das Verdienst zu, „daß er die von den Blaublümlern festgehaltene, angeb­ lich ,fundamentale' Differenz zwischen Kultur & Zivilisation, glatt ab­ stritt“19. Selbst wenn diese Behauptung zuträfe, könnte Verne dafür nicht, wie Arno Schmidt meint, die Erstrechte beanspruchen. Weder die Utopien der Aufklärung noch die des Frühsozialismus oder die marxistische Ge­ schichtsphilosophie kannten diese Trennung: Im 18. Jahrhundert sollte sich der Fortschritt der Wissenschaften auf dem Wege über die Aufklärung eines Publikums bürgerlicher Privatleute in moralische Fort­ schritte umsetzen; im 19. Jahrhundert sollte eine fortschreitende Technik die Fesseln eines enggewordenen institutionellen Rahmens sprengen und sich auf dem Weg über die revolutionäre Tat des Proletariats in eine Emanzipation der Menschen umset­ zen. Der Fortschritt der Wissenschaft wurde mit Reflexion, mit der Zerstörung von

getroffene — Prognosen von Zukunftsromanen gewürzt werden. (Vgl. S. 220 die­ ser Arbeit.) 17 U. a. schrieb Verne den Aufsatz Edgar Poe et ses oeuvres (in: Musée des fa­ milles, vol. XXXI, April 1868, S. 193—208). Die Pointe des Romans Voyage autor du monde en 80 jours (1872) — durch die Erdumrundung wird ein Tag eingespart — stammt aus Poes Erzählung Three Sundays in a week. (1841). 1897 erschien Vernes Le Sphinx des glaces, eine Fortsetzung von Poes The narrative of Arthur Gordon Pym. Auch seine Vorliebe für Geheimschriften und Ballonreisen dürfte auf Poe zurückgehen. 18 Daß sich auch schon in frühen, scheinbar unproblematisch-optimistischen Ro­ manen Verdrängungen, Regressionen und pathologische Elemente finden, die wahrscheinlich aus dem sexualfeindlichen Konzept einer „sauberen“ Jugend­ literatur resultieren, wies kürzlich der Romanist Alfred Adler nach. A. Adler: Möblierte Erziehung, S. 82—113. 19 A. Schmidt: Jules Verne. S. 331.

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Vorurteilen identifiziert, der Fortschritt der Technik mit der Befreiung von Repres­ sionen, von repressiven Gewalten der Natur und der Gesellschaft in einem20.

Angesichts dieser Positionen stellte Vernes Verbindung von Kultur und Zivilisation eine Scheinlösung, bestenfalls einen Rückschritt ins 18. Jahrhun­ dert dar. Die Differenz zwischen Kultur und wissenschaftlich-technisch ge­ prägter Zivilisation war für das Bürgertum des ausgehenden 19. Jahrhun­ derts in der Tat fundamentaler, als daß sie durch die einfache Verbindung von technisch-wissenschaftlichen Themen und Unterhaltungsliteratur hätte beseitigt werden können. Verne war in seinen frühen Romanen geradezu ängstlich bemüht, eben jene emanzipatorischen und revolutionären Implikationen des technisch­ wissenschaftlichen Fortschritts, die sich die Aufklärung und der Sozialismus erhofften, nicht oder doch nur in individueller Isolierung manifest werden zu lassen und ernsthaften Kollisionen mit der bestehenden Gesellschafts­ ordnung als ganzer aus dem Wege zu gehen. Mögliche gesellschaftliche Ver­ änderungen wurden allenfalls deklamatorisch und vage-hypothetisch an­ gedeutet. So sind denn Vernes fiktive Erfindungen nicht nur aus Gründen einer Spannungsdramaturgie oder der Glaubwürdigkeit wegen die — meist ge­ heimen — Produkte einzelner, genialer Individuen und die Schauplätze seiner Romane außerhalb der Zivilisation, d. h. außerhalb der sakrosankten bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Diese Exotik hatte im Zeitalter des kolo­ nialen Imperialismus überdies noch eine weitere, aktuelle Bedeutung: Ver­ nes Zivilisationshelden besichtigten den ihnen Untertanen Erdkreis mit Vehi­ keln, die Produkte und Symbole eben der Ökonomie sind, auf die sich die koloniale Vorherrschaft gründete. Wobei sich das Konkurrenzprinzip des industriellen Kapitalismus als spannungsförderndes, agonales Element ein­ bringen ließ21. Im Grunde werden in Vernes frühen Romanen gesellschaftspolitischer und wissenschaftlich-technischer Fortschritt streng getrennt, da die Anwen­ dung und Wirkung von Technik und Wissenschaft unabhängig von politi­ schen und ökonomischen Gegebenheiten sind und nur der persönlichen und autonomen sittlichen Entscheidung des Einzelnen unterliegen. Mit Hilfe dieser verinnerlichten Individualethik werden wissenschaftliche Entdeckun­ gen und ihre technische Nutzung als eigentliche und einzig machbare Opti­ mierungsmöglichkeiten der Gesellschaft ausgegeben, die dann irgendwie 20 J. Habermas: Praktische Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. S. 335. 21 Am deutlichsten in Voyage autour du monde en 80 jours.

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auch die moralische Reife aller Einzelindividuen und damit den gesell­ schaftlichen Fortschritt nach sich ziehen sollen. Die Sozialexperimentatoren des utopischen Frühsozialismus hatten — nach Marx — den Fehler began­ gen, die Utopie hinter dem Rücken der Gesellschaft verwirklichen zu wol­ len; Vernes Konzept des Fortschritts kam über weite und entscheidende Strecken überhaupt ohne die Gesellschaft aus. Dank der rigorosen Indivi­ dualisierung und Psychologisierung der gesellschaftlich relevanten Anwen­ dung und Richtung des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts, die weit über frühere aufklärerische Vorstellungen hinausgingen, konnten seine Ro­ mane auch innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung spielen, ohne daß die Neuerungen oder Entdeckungen zu irgendwelchen über sie selbst hinausweisenden Änderungen der Gesellschaft führen mußten. Die eigentlichen Ursachen für Vernes Erfolge liegen demnach darin, daß er — im Bereich der Unterhaltungsliteratur als erster — in einer neuen Phase des Abbaus der überkommenen religiös-metaphysischen Herrschafts­ legitimation, wesentliche Elemente einer neuen, säkularisiert-bürgerlichen und technokratischen Ideologie der Herrschaftssicherung und Systemstabili­ sierung lieferte. Dabei konnte die verinnerlichte Individualethik zugleich als Brücke zur alten, dogmatisch gesetzten, repressiven Moral des Christen­ tums dienen. Von den vollentwickelten Formen der technokratischen Herrschaftsideo­ logie unterschied sich Vernes Konzept allerdings dadurch, daß er noch nicht das Argument eines autonomen „technischen Sachzwangs“ zur Entschuldi­ gung gesellschaftlicher Repressionen zur Hand hatte. Diesem wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts durch die engere Interdependenz zwischen wis­ senschaftlicher Forschung und technisch-ökonomischer Auswertung und die massivere interventionistische Wissenschaftspolitik des Staates der Boden bereitet22. Wie sehr sich Verne als Anwalt eines Fortschrittsbegriffes verstand, dem es nur um den kontinuierlichen Ausbau der bestehenden Gesellschaftsord­ nung ging, wird vor allem in seinen späten Romanen deutlich, als er glaubte, sich nicht mehr um das Hetzelsche Erfolgsrezept einer optimistischen und sauberen Jugendliteratur kümmern zu müssen. Sein Hauptaugenmerk galt nun der Gefahr, daß technische Machtmittel in falsche Hände geraten und zur Veränderung und Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft mißbraucht werden konnten. Solche Möglichkeiten perhorreszierte er mit individuell­ verbrecherischen Schreckbildern (etwa in Maître du monde, 1904). Der Pa­ 22 Vgl. hierzu: J. Habermas: Technik und Wissenschaft als ,Ideologie'. 1968, S. 48—103 u. J. Hirsch: Wissenschaftlich-technischer Fortschritt.

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triotismus, an den Verne appellierte und mit dem der Held in Face au drapeau (1896)23 das Schlimmste verhindert, hatte hier wie in der realen Politik die Funktion der sozialen Disziplinierung und Beschwichtigung gegenüber den immer stärker hervortretenden Antagonismen zwischen tech­ nisch-ökonomischer und sozialer Entwicklung im kapitalistischen System. Die Gefahr einer Revolutionierung der bürgerlichen Gesellschaft mittels der Technik erschien Verne so drohend, daß er sogar der bisher von ihm vertretenen Ontologisierung der Technik und Wissenschaft abschwor und propagierte, was er bisher abgestritten hatte und verschleiern half: die be­ wußte oder unbewußte antirevolutionäre Steuerung und Dosierung des technisch-wisenschaftlichen Fortschritts, bei der die individualisierte Ethik als Sündenbock fungierte: Citoyens des États-Unis, dit-il, mon expérience est faite; mais mon avis est dès à présent qu’il ne faut rien prématurer, pas même le progrès. La science ne doit pas devancer les moeurs. Ce sont des évolutions, non des révolutions qu’il convient de faire. En un mot, il faut n’arriver qu’à son heure. J’arriverais trop tôt aujourd’ hui pour avoir raison des intérêts contradictoires et divisés. Les nations ne sont pas encore mûres pour l’union. Je pars donc, et j’emporte mon secret avec moi. Mais il ne sera pas perdu pour l’humanité. Il lui appartiendra le jour où elle sera assez instruite pour en tirer profit et assez sage pour n’en jamais abuser ... Et maintenant, toujours cette question: ,Qu’est-ce que ce Robur? Le saura-t-on jamais?' On le sait aujourd’hui. Robur, c’est la science future, celle de demain peut-être. C’est la réserve certaine de l’avenir. Quant à ¡’Albatros, voyage-t-il encore à travers cette atmosphère terrestre, au milieu de ce domaine que nul ne peut lui ravir? Il n’est pas permis d’en douter. Robur-le-Conquérant reparaîtra-t-il un jour, ainsi qu’il l’a annoncé? Oui! il viendra livrer le secret d’une invention qui peut modifier les conditions sociales et politiques du monde. Quant à l’avenir de la locomotion aérienne, il appartient à l’aéronef, non à 1’ aérostat. C’est aux Albatros qu’est définitivement réservé la conquête de l’air24!

„Utopien“ dieser Art, in denen gerade der utopische Angriff gegen die be­ stehende Gesellschaftsordnung auf die Innovation neuer technischer Verfah­ rensweisen abgebogen wurde, konnte das Bürgertum nicht nur beruhigt auf die Gabentische seiner Jugend legen; sie konnten auch getrost in Be­ triebsbibliotheken gestellt werden. — Die Folgerungen, die etwa ein Arbei­ 23 Dt. u. d. T. Vor der Flagge des Vaterlandes und neuerdings Die Erfindung des Verderbens. Zürich 1968. 24 Robur-le-conquerant. 1886. Zit. n. d. unveränd. Nachdr. 1966, S. 246 f. (Her­ vorhebungen im Original.)

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ter aus der Lektüre Vernes ziehen durfte, konnten darin bestehen, sein Soll auch weiterhin zu erfüllen, zur permanenten Weiterentwicklung und Steige­ rung der industriellen Produktion beizutragen, sich bei politischen und so­ zialen Forderungen mit der Eroberung des Luftraumes als Abschlagszah­ lung zufrieden zu geben, auf den Zusammenschluß aller Nationen zu war­ ten und sich der Pflege seiner moralisch-ethischen Integrität zu widmen2526 . Stellt man derartige Beschwichtigungsappelle in den Kontext des Ge­ samtWerkes Vernes, vor allem in den der technischen Droh- und Strafphantasien seiner Spätphase28 ; so wird deutlich, daß Verne bereits jenen so­ zialpsychischen Mechanismus aus Angst, gesellschaftlicher Akkomodation und Entpolitisierung in Gang setzt, den die neuere kritische Sozialpsycholo­ gie als Charakteristikum technokratisch beherrschter Gesellschaften ansieht: “als Formen des Arrangements zwischen objektiver gesellschaftlicher und subjektiver psychischer Verdinglichung“27, die dann auftreten, „wenn Men­ schen ihre politische Lebensform nicht selbst bestimmen, sondern sich der Technifizierung ihrer sozialen Beziehungen anpassen“28. Vernes Mischung aus technisch-wissenschaftlichem Optimismus, der als verbrecherisch denunzierten und durch Untergangsdrohungen tabuierten radikalen politischen Veränderung der Gesellschaft und moralischer Inner­ lichkeit kann geradezu als Lehrbeispiel für jene insgeheime Aufforderung zur Entpolitisierung und politischen Apathie gelten, die entsteht durch „das Mißverhältnis zwischen der Tatsache, wie auf die Verantwortung des Ein­ zelnen gepocht wird, einerseits und den gesellschaftlichen radikalen Anpas­ sungsforderungen andererseits. Die Verantwortung besteht ja praktisch nur in der Erfüllung von Anpassungsforderungen, und in diesem politisch und ökonomisch manipulierten Ausschluß von Verantwortung liegt die Wurzel der politischen Apathie [. . .].“29 Mit seinen verlockenden und bedrohlichen technischen Apparaten stellt Verne gleichzeitig die Objekte für die aus dieser Situation resultierenden Zwänge zu „Omnipotenzbeweisen“ und der „Projektion der eigenen Angst 25 In der Interpretation Popps liest sich das so: ». . . dank der versöhnlichen Phan­ tasie des Dichters laufen alle ihre Heldentaten glücklich aus, so lange sie keine Himmelsstürmer sind. Übersteigen sie aber die ihnen von der göttlichen Welt­ ordnung gezogenen Schranken, so erliegen sie dem Übermut [. . .]“ M. Popp: Julius Verne, S. 88. 26 Etwa Maître du monde, Face au drapeau oder — schon früher — Les cinq cents millions de la Bégum (1879). 27 K. Horn: Über den Zusammenhang zwischen Angst und politischer Apathie. 1968, S. 65. Dort auch weiterführende Literatur. 28 Ebd. 2» Ebd., S. 75.

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auf einen Bereich der Realität, der gerade dadurch zum Ziel aggressiver Impulse werden kann, ohne daß das Überich Einspruch erhebt.“30 Die Darstellung und Funktion der Technik ist bei Verne schon gekenn­ zeichnet durch jene ausweglos „irrationale Homöostase“, in der auf Grund des Verbotes tatsächlicher gesellschaftlicher Befreiung und persönlicher Selbstbestimmung „infantile Abwehrformen und objektive Irrationalität einander eskalierend in die Hände spielen [. . ,].“31 In ihrem Dienste steht seit Verne die Darstellung der Technik in der Science Fiction. Sie wird geradezu zum perpetuierenden ökonomischen Prin­ zip dieser Literatur, insofern als Technik und Naturwissenschaften abwech­ selnd als Bedrohung des gegen sie ohnmächtigen Einzelnen, als magisches Mittel infantiler Omnipotenz- und Wahnvorstellungen und als einzig legi­ time Optimierungsmöglichkeit der Gesellschaft fungieren, deren mangelnde Befriedigung wiederum dem Einzelnen als persönliches moralisches Versa­ gen schuldhaft angelastet wird. Politische Apathie entspricht unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen dem Lustprinzip auf einer sehr niedrigen Entwicklungsstufe des Ichs. Die Konser­ vierung des sozialen Status quo, ja dessen Rationalisierung im Sinne einer Optimalisierung der vorhandenen Mittel im gegebenen Herrschaftsrahmen — und das heißt: die technokratische Lösung der sozialen Konflikte — entspricht dem Bedürfnis der Süchtigen, denen der Zugang zur Realität in ihrer Vermittlung zugunsten eines konkretistischen Bewußtseins verlorenging. Die technokratische Lösung sozialer Kon­ flikte erscheint als der Versuch der Ritualisierung süchtiger Lust und hat die Auf­ gabe, archaische Ängste zu übertönen. Dieses archaische Zusammenspiel zwischen Triebbedürfnissen und Rollenaufgaben ist ein großes Experiment mit der sozialen Angst. Denn neben der Erfüllung kurz­ fristig auftretender Bedürfnisse nach Art Süchtiger bildet die Angst den Kitt solcher Sozietäten: die Angst, über diese Bedingungen nicht selber auch verfügen zu kön­ nen32.

Dieses skrupellose „Experiment mit der sozialen Angst“ ist bis heute das eigentliche Geschäft der Science Fiction geblieben. Es ist ihr Beitrag zur Herrschaftssicherung und Systemstabilisierung der technokratischen Gesell­ schaft. Die Leser werden dadurch süchtig und bei der Stange gehalten, daß ihnen in einer Art psychischen Wechselbades, in auswegloser Eskalierung pa­ ranoide Scheinlösungen verabreicht werden, als deren „Überwindung“ oder „Synthese“ dann wiederum — wenn überhaupt — eben der ökonomische, gesellschaftliche und politische Status quo ausgegeben wird, aus dem die Science Fiction ihr Kapital schlägt. Hatte Hetzels Magasin in den sechziger Jahren noch gegen die katholi30 Ebd., S. 68.

31 Ebd., S. 69.

32 Ebd., S. 77 f.

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sehe Reaktion zu lavieren — die Enzyklika Quanta Cura Pius’ IX. mit dem berüchtigten Syllabus complectens praecipuos nostrae aetatis errores er­ schien Ende 186433 —, so hatte die erste deutsche Verne-Ausgabe34, inmit­ ten des Kulturkampfes, von vornherein einen guten Start. Der an Alexan­ dre Dumas geschulte „journalistische“ Stil sicherte Verne, über die zunächst anvisierte Zielgruppe der männlichen bürgerlichen Jugend hinaus, eine breite Leserschaft, und die Konstanz seiner Themen machte die Romane zu einem dauerhaften Geschäft für die allgemeine Kolportage. Die Rezeptionsbreite läßt sich an der Vielzahl verschiedener Ausgaben ablesen. Allein die auf über neunzig Bände projektierte Werkausgabe des Wiener Verlages Hart­ leben erschien in vier verschiedenen Aufmachungen3536 . Diese Ausgaben und die des Leipziger Verlages Weichert38 beherrschten trotz einer unüberschau­ baren Zahl von Raubdrucken, Bearbeitungen, Kürzungen und Schulausga­ ben (für den Französisch-Unterricht) den deutschsprachigen Kolportage- und Sortimentsmarkt. In den Volksbibliotheken Österreichs gehörte Verne be­ reits anfangs der neunziger Jahre zu den Lieblingsautoren37, und in Deutschland erreichte der Lesekonsum Vernes um die Jahrhundertwende seinen Höhepunkt. Neben dem allgemeinen Mangel an unterhaltender und zugleich beleh­ render Literatur über Naturwissenschaft und Technik dürfte vor allem das Utopie-Verbot des Sozialismus, das den bürgerlichen Autoren eine Mono­ polstellung bescherte, dazu beigetragen haben, daß Vernes Romane zu die­ ser Zeit auch eine bevorzugte Lektüre der Arbeiterschaft wurden. Nach einer 1900 veröffentlichen Untersuchung Was liest der deutsche Arbeiter?™ ge­ hörte Verne sowohl in Fabriks- wie Gewerkschaftsbibliotheken zu den am häufigsten gelesenen Autoren: in einer Berliner Betriebsbibliothek rückte Verne in der Ausleihfrequenz vom 26. (1891) auf den fünften Platz (1899) vor39, in einer Leipziger Gewerkschaftsbibliothek bis 1898 auf den zweiten Platz (hinter Gerstäcker und neben Marlitt)40, und in einer Bibliothek des 33 Vgl. Brecht: Kirchliche Aktenstücke, 7: Papst Pius IX. Enzyklika und Syllabus vom 8. Dezember 1864. 1894. 34 Ab 1872 bei Hartleben, Wien. 35 Eine „illustrierte Prachtausgabe“, schon ab 1873, eine Lieferungsausgabe und eine „wohlfeile Oktav-Ausgabe“, die gebunden und geheftet geliefert wurde. Vgl. hierzu: Fach-Zeitung für den Colportage-Buchhandel, 18. Jg. 1902, Nr. 12, S. 117. 36 Vgl. hierzu: Ebd., 18. Jg. 1902, Nr. 16, S. 154. 37 R. Schenda: Volk ohne Buch, S. 467. 38 A. H. Th. Pfannkuche: Was liest der deutsche Arbeiter? 1900. 39 Ebd., S. 17. 40 Ebd., S. 23.

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gewerkschaftlichen Ortsvereins in Brandenburg lag er zusammen mit Her­ mes an der Spitze (vor Bebels Die Frau und der Sozialismus)*1. Insgesamt kam Verne bei allen befragten Bibliotheken hinter Zola und Bebel und vor Marlitt und Gerstäcker auf den dritten Platz41 42. Der Erfolg Jules Vernes verhalf der Science Fiction endgültig zu einem festen Platz im Bereich der durch spezialisierte Autoren serienmäßig produ­ zierten Massenliteratur. Vernes Name wurde geradezu zum Parameter und Synonym für das ganze Genre. Mit Verne wurde für andere „utopi­ sche“ Serien geworben. Von ihm hatten sich andere Autoren abzusetzen; ihn versprachen sie zu übertreffen43. Der Hinweis auf die einst verlachten, inzwischen aber verwirklichten oder übertroffenen Prophezeiungen Vernes wurde in der Science Fiction zu einem beliebten Topos, der allein schon als gültiger Beweis für die Realistik, Glaubwürdigkeit und Seriosität irgend­ welcher Zukunftsspekulationen ausreicht44. 41 Ebd., S. 29. 42 Ebd., Tabelle im Anhang. Vgl. auch: Die Hochwacht, 4. Jg. 1914, Nr. 4, S. 90: Was der Berliner Arbeiter liest. 43 Angesichts der Unzahl von Beispielen hier nur einige willkürlich herausgegrif­ fene Belege: Für die Heftserie Der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff (ab 1908) wurde ebenso mit Verne geworben wie für die Romanserien Robert Krafts oder die Nachkriegs-Serie Utopia — Jim Parkers Abenteuer im Welt­ raum {Der Luftpirat, 102, 1910, 4. Umschlags.; Fach-Zeitung für den Colportage-Buchhandel, 19. Jg. 1903, Nr. 17, S. 139; Utopia — Jim Parkers Abenteuer im Weltraum, 7, 1953, 4. Umschlags.). Robert Kraft wurde — wie viele andere nach ihm — als „der deutsche Jules Verne“ bezeichnet {Fach-Zeitung für den Colportage-Buchhandel, 20 Jg. 1904, Nr. 17, S. 134 u. 22. Jg. 1906, Nr. 6, S. 53). — Auch in Rezensionen wurde gerne der Geist Vernes herbeizitiert. Da­ gegen setzte sich beispielsweise Emil Sandt in seinem dritten Zukunftsroman — unberechtigterweise — zur Wehr: „Damals [1906] hatte man den heute hoffent­ lich nicht mehr vorhandenen Geschmack besessen, mir eine Ehre antun zu wol­ len, indem man mich mit Jules Verne verglich; mit einem Manne, dessen Phan­ tasie zu übertreffen keine Schwierigkeit bot; dessen Abenteuerzone aber ein viel zu enges Gebiet war; mit einem Manne, der die an ihm vielleicht zu lobende Mäßigkeit besaß, seinen jedesmaligen Helden bei den Abenteuern von jeglichem Zusammenhänge mit der Menschheit loszulösen [. . .] — Wir Deutsche können mit ganz anderen Leistungen aufwarten. Es sei nur an zwei turmhoch über je­ nem Franzosen stehende Männer erinnert: an Max von Eyth und an Kurd Laßwitz. [. . .] Und so verschone man uns [. . .] mit dem Vergleiche mit einem amüsanten, spielbegabten Blender.“ Emil Sandt: Das Lichtmeer. 1912, S. [5]. 44 „Als Jules Verne vor Jahren in seinen phantasievollen Romanen einen Blick in die Zukunft bot und dem Leser die Wunder des Meeresbodens und die Ge­ heimnisse der Lüfte erschloß, da begegneten seine Schilderungen noch manchem zweifelnden Kopfschütteln.

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2. Nationalismus und Evolution als Revolutionsersatz

Im vorrevolutionären Europa des 18. Jahrhunderts war für den größten Teil der Bevölkerung „die christliche Religion [. ..] die unbezweifelte Grundlage, der gemeinsame, die Homogenität verbürgende Boden zwischen Herrschern und Beherrschten“45*gewesen. In der Restaurationsepoche des 19. Jahrhunderts wurde der Versuch unternommen, mit der Idee eines “christ­ lichen Staates“ diese Herrschaftslegitimation zu festigen oder erneut zu in­ stallieren. Das Ergebnis waren Surrogate: das Königtum von Gottes Gnaden, der Bund von Thron und Altar, die heilige Allianz [. . .] Das Christentum wurde zum Dekor für höchst weltliche Geschäfte, eingesetzt zur Stabilisierung von Machtlagen und zur Sanktion zeitbedinger politisch-sozialer Verhältnisse, um sie gegenüber ejnem ver­ ändernden Zugriff zu konservieren48.

Zu diesen Surrogaten gehörte auch die Verinnerlichung einer vagen, pseu­ doreligiösen Moral und Ethik, mit der beispielsweise Verne seine bürger­ lichen Fortsdirittshelden ausstattete, um sie vor zweierlei zu bewahren: ein­ mal vor dem allzu schrankenlos-egoistischen und unverschleierten, d. h. die sozialen Konflikte verschärfenden und damit systemgefährdenden Einsatz ihrer technischen Mittel im Stil des wildwüchsig-liberalen Manchestertums und zum anderen vor ihrer systemzerstörerisch-revolutionären Anwendung. Da die herrschenden Gruppen des Bürgertums mit Recht auf die sozialprohibitive Wirkung der von ihnen selbst mißbrauchten, individualisierten Stillhalte-Moral allein und auf Dauer nicht vertrauen mochten, mußte sie durch wirksamere Mittel der Herrschafts- und Systemstabilisierung er­ gänzt Werden47. Heut sind die Phantasien Vernes zu Tatsachen geworden“. (Der Luftpirat, 102 1910, 4. Umschlags. — Hervorhebung im Original.) „Nicht immer sind die Erwägungen über die Zukunft unseres Kosmos zutrefend. Aber wie vieles hat sich erfüllt, seitdem Jules Verne seine phantastischen Prognosen über die Zukunft der Welt stellte. Damals wurden sie als Dichtung belächelt, manches ist inzwischen eine teilweise bittere Wahrheit geworden.“ (Luna-Utopia-Roman, 5, 1957, 2. Umschlags.) 45 E. W. Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. 1967, S. 82. 48 Ebd., S. 90. — Es ist zwar bedenklich, aber in diesem Zusammenhang irrele­ vant, daß Böckenförde damit zugleich suggerieren möchte, die christliche Reli­ gion hätte erst im 19. Jahrhundert und in säkularisierter Form diesen Zwecken gedient. 47 Auch Jules Verne griff — wie dargelegt wurde — in seinen späten Romanen zu massiveren Mitteln des Revolutionsverbotes. — Albert Klein wies darauf hin,

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Hierzu boten sich die klassenübergreifende Ideologie des Nationalismus, aber auch der imperialistische Kolonialismus an, mit dem die sozialen Kon­ flikte sozusagen exportiert werden konnten, indem die Expropriation teil­ weise nach außen verlagert wurde. Beide Bewegungen waren geeignet, von der ernsthaften Verwirklichung der „sozialen Utopie“* 48 abzulenken, die der Staat auf sein Programm setzen mußte, seit er nicht mehr auf die „inneren Bindungskräfte“49 seiner Bevölkerung vertrauen konnte. So lag es — auch von der realen politischen Situation her — nahe, Nationalismus, Imperialis­ mus und Kolonialismus in belletristischen oder strategischen Spekulationen über zukünftige Kriege zu verbinden und kulminieren zu lassen. Die permanente imaginäre Bedrohung von außen konnte, zumindest im fiktiven Bereich der Literatur, von innenpolitischen und systembedingten „Unzulänglichkeiten“ ablenken, zur überzeugenderen Propagierung einer nationalen Gemeinsamkeits- und militärischen Ordnungsideologie beitra­ gen, die vorenthaltenen sozialen Gratifikationen mit Rüstungszwängen le­ gitimieren, die aus sozialen Frustrationen resultierende Aggressivität staats­ erhaltend kanalisieren, diese und die expansive Aggressivität des Wirt­ schaftssystems selbst ausländischen Sündenböcken anlasten und schließlich die Entfremdung im kapitalistischen Arbeitsprozeß mit der Drohung des physischen Untergangs überlagern50. Ausschlaggebend für den Aufschwung einer speziellen Zukunftskriegslitedaß die zunehmende Phantastik und Irrealität der Unterhaltungsliteratur im 19. Jahrhundert — auch außerhalb der Science Fiction — die Funktion eines sozialen und politischen Palliativs hatte: „Die Befreiung aus der Unmündigkeit wird für die unteren Schichten ein Bewußtwerden ihrer selbst. Bedürfnisse und Wünsche werden wachgerufen, vor denen die Wirklichkeit versagt. Dem Bruch zwischen bewußtgewordenen Realitätseinsichten und Wunschvorstellungen bietet sich mangels sozialer Veränderung eine Lösung im fiktiven Bereich der Literatur. Die gärenden, unkontrollierten Wünsche, die unter anderen Voraussetzungen zu einer revolutionären totalen Emanzipation des dritten Standes führen soll­ ten, wurden durch die Aktivierung der Phantasie mittels der Romane weit­ gehend entschärft. Der Verlust des objektiven Halts in der Religion und der entsprechend sinnvollen Ordnungsvorstellungen bedeutet gerade für die in die allgemeine Entwicklung hineingerissenen, kaum oder nur teilgebildeten unteren Volksschichten einen Lösung fordernden Konflikt.“ A. Klein: Die Krise der Un­ terhaltungsliteratur. 1969, S. 68. 48 E. W. Böckenförde: Die Entstehung des Staates, S. 94. 49 Ebd. 50 „Zusammenarbeit für ein gemeinsames Ziel ist, wie die Kriegserfahrungen zei­ gen, die stärkste Bindung für die Betriebsgemeinschaft.“ J. Habermas: Die Dia­ lektik der Rationalisierung, S. 21.

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ratur waren der deutsch-französische Krieg von 1870/71 und die Populari­ sierung der Evolutionstheorie Darwins: The sudden emergence of tales about the future, which based on Darwinism and on the idea of progress, followed on the war of 1870; and in that war two great nations had demonstrated the fact of technological progress in a savage struggle to survive51.

Um eine Popularisierung handelt es sich dabei auch insofern, als der „Kampf ums Dasein“ — was Darwin selbst bewußt nie im Sinn gehabt hatte — auf die soziale Lebenswelt des Menschen übertragen wurde. In die­ ser Form aber war die Evolutionstheorie dazu angetan, dem rigorosen ka­ pitalistischen Konkurrenz- und Ausbeutungsprinzip und dessen nationalisti­ schen oder rassistischen Filiationen, bis hin zum direkten Krieg, die Weihe eines wissenschaftlich begründeten und schicksalhaften Grundprinzips allen Lebens zu geben. Es ist der Darwinsche Kampf ums Einzeldasein, aus der Natur mit potenzierter Wut übertragen in die Gesellschaft. Der Naturzustand des Tiers erscheint als Gip­ felpunkt der menschlichen Entwicklung52.

Die so popularisierte Evolutionstheorie war vorzüglich geeignet, sowohl die Fortschrittsidee wie die realen Fortschrittsbewegungen innerhalb der Gesellschaft zu entpolitisieren und den Menschen als selbstbestimmenden und sich selbst verwirklichenden Gestalter seiner Umwelt und Geschichte erneut zu entmündigen, indem ein von ihm unabhängiger Fortschrittsautomatis­ mus postuliert wurde, dem er unterworfen war und den er bestenfalls un­ terstützen konnte. Die Natur trat gleichsam in den Dienst des Kapitalismus, denn die konstituierenden Agentien dieses Entwicklungsgesetzes waren eben jene der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Sie zu zer­ stören — so wurde suggeriert — hieße sich gegen den Fortschritt und das 51 I. F. Clarke: Voices prophesying war, 1966, S. 56. — Clarke gibt als anschau­ lichen Beleg für die Popularität der Evolutionstheorie ein Zitat des Saturday Review von 1868: „So rapid has been the hold that it [Darwins „Origin of species“] has taken on the public mind that the language incident to the ex­ planation of the ,struggle for life', and the gradual evolution of new forms consequent thereon, has passed into the phraseology of everyday conversation.“ Ebd., S. 55. Verne lieferte seinen Beitrag zur „revanche" für 1870/71 mit dem Roman Les cinq cents millions de la Begum (1879), wo die sauerkrautfressenden, prä­ faschistischen deutschen Bewohner von „Kohlenstadt“ vergeblich versuchen, die friedliebenden, französischen Einwohner von „FranceVille“ per Gasgranate zu vernichten. 52 F. Engels: Die Entwicklung des Sozialismus, MEW, 19, S. 216.

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Grundprinzip des Lebens wenden. Ein Leben ohne diese Antagonismen, d. h. ohne den „naturgesetzlichen“ Kampf, ohne Unterdrückung und Aus­ beutung des Schwächeren, war demnach eine lebensfeindliche Degenerations­ erscheinung, die zum baldigen Untergang verdammt war. Dergestalt konnte die bisherige, sich hauptsächlich aus dem Protestantis­ mus speisende, religiöse Erfolgsethik „naturwissenschaftlich“ abgestützt, aus­ geweitet und brutalisiert werden. Dem Vulgärdarwinismus kam demnach — bevor er durch die vollentwickelte Technokratie mit ihren hypostasierten, autonomen Sachzwängen ersetzt oder mit ihr verbunden werden konnte — die Funktion einer neuen, säkularisierten Form der Herrschaftsideologie zu. Dies um so mehr, als sich die Evolutionstheorie auf Grund ihres Wider­ spruchs zur Genesis der Bibel, des Widerstandes der Kirchen und des Fort­ schrittsprinzips auch als Widerpart aller metaphysischen Herrschaftslegiti­ mationen und als Progreß per se darstellte. In dieser Auslegung, die vor allem von Ernst Haeckel vertreten wurde, erschien die Evolutionstheorie geradezu als Bundesgenosse des Sozialismus: Denn Fortschritt ist ein Naturgesetz, das keine menschliche Gewalt, weder Tyran­ nenwaffen noch Priesterflüche, jemals dauernd zu unterdrücken vermögen53.

In seiner Studie Darwinismus und Zeitgeist versuchte Fritz Bolle, die Über­ legungen, die zur zeitweiligen Amalgamierung von Evolutionismus und so­ zialdemokratischem Sozialismus führten, nachzuzeichnen: Sie [die „Männer der frühen Sozialdemokratie“] glaubten an den Fortschritt, und sie glaubten unerschütterlich an die Zukunft. Hatte nicht die Wissenschaft mit Dar­ win bewiesen, daß es diesen Fortschritt wirklich gebe? Mußte dieser Fortschritt, ge­ fordert vom ehernen Naturgesetz der Entwicklung, nicht die ,Verdammten dieser Erde' hinausführen aus dem Elend in jenen Zukunftsstaat, von dessen idealen Zu­ ständen sie jene Träume träumten, die ihre Broschüren und Flugblätter ihnen ein­ gaben? Wichtiger noch aber als dieser Fortschrittsglaube, für den der Darwinismus, wie sie ihn kennenlernten, ihnen das Fundament lieferte, war ein zweites Argument, geliefert von der Darwin-Haeckelschen Abstammungslehre: das Argument von der Gleichheit aller Menschen. Bevorrechtigte Klassen — das war wider die Natur! Aus­ beutung — das war wider die Natur54!

53 E. Haeckel: Über die Entwicklungstheorie Darwins, öffentl. Vortrag i. d. allg. Vers. dt. Naturf. u. Arzte zu Stettin, am 19. Sept. 1863 (Amtl. Bericht über d. 37. Vers., S. 17 ff.) Zit. n. F. Bolle: Darwinismus und Zeitgeist. S. 238, der wie­ derum nach W. May: Ernst Haeckel. Versuch einer Chronik seines Lebens und Wirkens. Leipzig 1909, S. 13 zitiert. 54 F. Bolle: Darwinismus und Zeitgeist, S. 242.

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Der Kampf gegen diese „ungemein bedenkliche Seite [der Evolutions- und Deszendenztheorie], und daß der Socialismus mit ihr Fühlung genommen hat.. .“55 einte nicht nur den „großen Liberalen“56 Rudolf Virchow mit den noch konservativeren Teilen des herrschenden Bürgertums, sondern zeit­ weise dieses — inmitten des Kulturkampfes — sogar mit den christlichen Klerikalen. In der Science Fiction schlugen sich fast ausnahmslos die spezifisch anti­ sozialistischen Interpretationen des Darwinismus nieder. Die Darstellungen diverser Zukunftskriege (in dieser Form vor allem hielt die Science Fiction ihren Einzug in die Massenliteratur57) verband sich mit dem Plädoyer für eine nationale Lösung des „survival of the fittest“. Dieses Ausleseprinzip, so wurde direkt oder indirekt argumentiert, sei zwar als Naturgesetz nicht zu umgehen, es könne aber für den Einzelnen und die binnenstaatlichen Grup­ pen dadurch entschärft werden, daß es vor allem gegenüber anderen Natio­ nen gelte. Wobei dann der jeweiligen Siegernation die Möglichkeit und das naturgesetzliche Recht zufiel, den „lebensuntüchtigeren“ Verlierer dafür zah­ len zu lassen und sich durch die Kriegsbeute sozial zu befrieden. Britain, France and Germany were united in spite of themselves by an interest in tales of future wars that described how these nations fought and defeated one another58.

Clarkes eingehender Untersuchung der imaginären Kriegsliteratur ist — soweit sie den Zeitraum zwischen 1870 und 1920 betrifft — wenig hinzuzu­ fügen, lediglich, daß auch in seiner Bibliographie die deutschsprachige Scien­ ce Fiction, auf Grund der spezifischen Schwierigkeiten5960 , unterrepräsentiert ist und so erneut der Eindruck entsteht, diese Literatur sei eine Domäne Englands und Frankreichs gewesen00. Clarke nennt als gemeinsame Hauptmerkmale der Zukunftsromane vor dem ersten Weltkrieg: 55 Virchow 1877 auf der 50. Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturfor­ scher und Ärzte in München. Zit. n. F. Bolle: Darwinismus und Zeitgeist, S. 247. 50 Ebd., S. 248. 57 ökonomische u. soziologische Daten bei I. F. Clarke: Voices prophesying war, S. 64—68. 58 Ebd., S. 68. 59 Vgl. hierzu die „Vorbemerkung“ dieser Arbeit. 60 Die Zahl deutschsprachiger Zukunftsromane in Clarkes Bibliographie ließe sich auf Anhieb und nach nur unsystematischen Nachforschungen bereits um mehr als ein Drittel vermehren. Geradezu grotesk ist dieses Mißverhältnis bei Clarke für die Zeit nach 1945: ganze zwei deutschsprachige Romane sind erwähnt!

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A taste for the exotic, a delight in the marvels of military technology, a desire for adventure, an aggressive spirit of nationalism, the constant appeals frorn demagogues in Press and politics — these were some of the discernible influences that began to play with increasing effect upon the pattern of the imaginary war6162 .

Das Beispiel des ersten weitgehend technisierten Krieges zwischen Deutsch­ land und Frankreich und die zunehmende Reduktion der Fortschrittsidee auf eine bloße Weiterentwicklung der Technik erlaubten auch ökonomisch und militärpolitisch unbedeutenden Staaten die kompensatorische Teilnah­ me an den imaginären Kriegsspielen. Und in der Hauptfigur des geheimen Erfinders, des zurückgezogen lebenden, aber „genialen“ Ingenieurs, der plötzlich mit einer neuen Wunderwaffe zum Heiland der Nation avan­ cierte, schuf sich das nach Anerkennung und Ersatzbefriedigung suchende, politisch unterprivilegierte Bürgertum des Vorkriegseuropas einen Identifi­ kationshelden, der auch für die unpolitischen Teile der Arbeiterschaft attrak­ tiv war, zumal dann, wenn der bürgerlichen Hauptfigur noch ein treu er­ gebener, redlich-fleißiger und geschickter Werkzeugmacher oder Werkmei­ ster beigegeben war, durch den die Erfindung erst realisiert werden konnte. Als eindrucksvollstes — diesen Rahmen zwar sprengendes, aber doch auf dessen Grundkonstanten beruhendes — Beispiel kann Der Roman des künf­ tigen Jahrhunderts™ [Jövö szäzad regenye, 1872] des auch in Deutsch­ land und Österreich sehr populären63 ungarischen Erfolgs- und National­ schriftstellers Maurus Jokai gelten. Im Vorwort zum ersten Band des Romans entwickelt Jokai ein global angelegtes Konzept, das aber letztlich doch nur in einen vulgärdarwinistisch motivierten, nationalen Pseudosozialismus mündet und vor allem der unga­ rischen Nationalbewegung zu geradezu welthistorischer Bedeutung verhel­ fen sollte. (Es soll aber nicht übersehen werden, daß es sich bei diesem Ro­ man immerhin um ein Stück spätaufklärerischer, bürgerlicher Oppositions­ literatur handelte.) Dieses Werk macht nicht den Anspruch, unter die sogenannten „Staatsromane“ ge­ zählt zu werden [.. .]

61 I. F. Clarke: Voices prophesying war, S. 68. 62 M. Jokai: Der Roman des künftigen Jahrhunderts. 1879. 4 Bde. Eine, von mir nicht eingesehene, spätere dt. Ausg. erschien etwa zwischen 1916 u. 1918 bei Haupt & Hammon (Radebeul u. Leipzig) u. d. T. Der Prophet des Weltbran­ des. 63 Vgl. hierzu R. Schenda: Volk ohne Buch, S. 467. — Kayser’s Vollständiges Bücher-Lexicon verzeichnet z. B. für die Jahre 1895—1898 34 deutsche Über­ setzungen Jokaischer Werke in über 40 Ausgaben. (Jokai schrieb über 200 Er­ zählungen und Romane.)

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[...] dieser Roman [...] wird ein Zeitereigniß erzählen, welches sich ,noch‘ nicht zugetragen hat und wird die schwierige Aufgabe zu erfüllen trachten, Handlungen und Personen, das äußerliche und das innere Leben eines zukünftigen Zeitabschnit­ tes in einer Weise zu schildern, daß der Leser sagen soll: Das kann noch alles ge­ schehen. Es werden in diesem Romane keine utopischen Staaten und ikarische Menschen vor­ kommen; sein Schauplatz ist nicht eine noch unentdeckte Insel; — die Handlung be­ wegt sich bis zum Schlüsse allenthalben auf bekanntem Boden und entwickelt sich aus Verhältnissen, welche heutzutage in der That bestehen, aus Ideen, welche auf die Gestaltung der Weltlage auch heute von Einfluß sind. Ich habe die Erkenntnis, den Glauben und die Phantasie zu Hilfe gerufen. Ich habe die Außenwelt in der Auffassung, wie die Geschieht sie uns vermittelt, erkennen gelernt: die Bildung und Gestaltung der Staaten, die bewegenden Faktoren und die Phasen ihres Zerfalls und ihrer Regeneration; — ich habe jene Riesen­ nationen bewundern und beneiden gelernt, welche die Apostel der Zivilisation sind, und in meine Bewunderung mischte sich die anspornende Regung der Liebe, der Bekümmerniß, des Erhaltungstriebes für meine eigene, kleine und zurückgebliebene Nation und für mein Vaterland. Mit Aufmerksamkeit bin ich den großen Zeitideen gefolgt, welche eine Neugestaltung der Welt anstreben, und ihren langwährenden Kämpfen mit der ihnen widerstrebenden Wirklichkeit. [...] Es waren das Kämpfe, welche ein Meer von Blut und Milliarden von Werthen verschlungen haben, und die Ideen, um die sie geführt wurden — ob siegreich, ob besiegt — leben fort. Und mitten aus diesen großen Kämpfen mußte ich dann auch die Einzelkämpfe der engeren Gruppierungen menschlicher Interessen herausgreifen; alle diese unzähligen, kleinen Sonderinteressen leben und regen sich und platzen aufeinander unaufhör­ lich; höchstens, daß sie angesichts irgendeiner großen, das ganze Land in’s Mitleid ziehenden Katastrophe ihre Bewegung zeitweilig einstellen [...]. Das sind die Elemente des ewigen Kampfes. [• • •] Und nun denken wir uns zu Allem dem, daß es auch nach hundert Jahren noch Menschen — viele Menschen geben wird, die ihr Vaterland lieben, die sich bestreben werden, die großen Uebel der Menschheit zu heilen, — die die Sitten des Volkes ver­ edeln, die Aufklärung verbreiten, die sich bemühen werden, aus dem Nichts zu er­ schaffen, die Menschenkraft zur Götterkraft erheben; — die Garde des „Gemein­ wesens“ ist auch nach hundert Jahren noch immer „Legion“! Aber ihr gegenüber steht dann jener andere Riese, dessen Name das „nihil“, das „Nichts“ ist, der nichts glaubt; keinen Gott, kein Vaterland, keine Nation, kein Jenseits, keinen Staat, kein menschliches Gesetz, keine Familie, keine Ehre, keine Poesie; der die Vergangenheit verleugnet und die Zukunft sich nicht kümmern läßt; der kein anderes Ziel erkennt, als das „Heute“, keinen anderen Herrn, als das „Ich“, kein anderes Gesetz, als Alles das zu thun, was ihm wohlgefällt. Das ist der ewige Kampf zwischen „Gott“ und dem „Thiere“ — beide in Gestalt des Menschen. [• • -] Und folgt auf diese Erkenntnis nicht von selbst der Glaube, daß das nicht ewig fortgehen kann? Auf diesem Glauben beruht das Werk, welches ich schreibe. Mein Roman zerfällt in

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zwei Theile; der eine heißt: „Der ewige Kampf“; er reicht bis dahin, wo dieser Kampf ferner unmöglich wird; — der zweite heißt: „Der ewige Friede“ und spielt in der Zeit, wo ein solcher zur zwingenden Nothwendigkeit geworden ist und sich verwirklicht. Es ist wahr, das Ganze ist auf eine Hypothese gebaut: auf eine Erfindung, deren Folge eine Umgestaltung der Welt sein wird. Ich weiß wohl, daß man mir deshalb nachsagen wird, ich sei ein „Narr“. Je nun — ich werde mich als solcher sehr guter Gesellschaft zu rühmen haben. Fulton wurde im Jahre 1805 von der Pariser Akade­ mie der Wissenschaften für einen „Narren“ erklärt, weil er behauptete, man könne mit Wasserdampf Schiffe treiben; Grey wurde wegen seiner Idee der Eisenbahn 1815 im „Edinburgh Review" [!] für „verrückt“ erklärt, und Stephenson wollten wegen seiner Dampflokomotive einige hervorragende Mitglieder des englischen Parlamen­ tes im Jahre 1825 in’s Irrenhaus stecken lassen. Ich glaube also an das Zustandekommen jener Erfindung [. ..] Einmal wird’s wohl Jemand finden. Und Der wird dann dem ewigen Kampfe ein Ziel setzen. Der wird die Millionen, die einander gegenüber stehen, bereit sich zu vernichten, zur Entwaffnung zwingen, [. . .] [•••].. Der wird die Verbannten aus Sibirien zurückführen in ihr, zu neuem Leben erstan­ denes Vaterland. Der wird Einfluß üben auf die Witterung und eindringen in die Geheimnisse der Natur. Der wird grassirende Seuchen stillen und die menschlichen Lebensorgane wieder zu ihrer ursprünglichen Kraftfülle erstarken machen.

[•■•] Der wird die Technik um einen neuen Stoff bereichern, den Jedermann gebraucht und der kostbarer sein wird als das Gold, und wohlfeiler als Eisen.

[••’]... Der wird die reißenden Thiere ausrotten in ihren Urwäldern und in ihren Wüsten. [•••]. Der wird das [!] Cölibat aufheben und den Priester dem Familienleben wieder­ geben.

[•••] Der wird nur einer Partei Raum geben, und deren Devise wird lauten: „Fhätige Vaterlandsliebe".

[...] ... Der wird uns auch jenen Erdenwinkel auffinden helfen, in dem, abgeschieden von der Außenwelt, der Urstamm des Ungarvolkes wohnt, und wird uns diesen zu einem neuen Brudervolke machen. Das sind die gestaltenden Ideen meines Werkes. [•••] Dann wird — möglicherweise — es gibt keine Unmöglichkeit im Sternensysteme — der Weltenschöpfer zum Frommen der vervollkommneten Menschheit auch noch jenen Fehler an der Erde verbessern, welcher die Hauptursache aller Störungen in

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unseren klimatischen und Witterungsverhältnissen ist: die Abneigung der Erdachse von der Erdbahn. Damit wird mein Roman schließen84.

Schon aus diesem Vorwort lassen sich — über das Schema des nationalisti­ schen Zukunftsromans hinaus — einige für die Science Fiction bis heute typischen Verfahrensweisen entnehmen: 1. Das Anführen früherer Fehlurteile „akademischer“ Wissenschaftler als Argument für die mögliche Richtigkeit unwissenschaftlicher Hypothesen. 2. Der bewußte Einsatz von Katastrophen, globalen Bedrohungen usw. als nationales und soziales Disziplinierungsmittel. (Die Gesellschaft soll zur schicksalhaften Gefahren- und Notgemeinschaft „zusammengeschweißt“ werden.) 3. Die ahistorische Verbindung von mythischer Vergangenheit und Zukunft zur Befriedigung eines die entfremdete Realität kompensierenden Bezie­ hungswahns und Identifikationsbedürfnisses und zur emotionalen Aktua­ lisierung der Fiktion64 65* . 4. Die „technische“ Lösung sozialer und politischer Probleme mittels magi­ scher Gerätschaften, die Produkte einer aus sozialen und politischen Fru­ strationen resultierenden Omnipotenzphantasie sind. 5. In einer futurisch verfremdeten Umwelt werden von der Gegenwart inva­ riante Handlungsmuster vorgeführt, die als allgemein-menschlich ausge­ geben werden und — wie das Gemeinschaftsideal — auf die Internalisie­ rung und Verfestigung gegenwärtiger sozialer Leitbilder und Oktrois ab­ zielen und zur ausschließlichen Wertorientiertheit dieser Handlungsmuster führen sollen68. 6. Gesellschaftliche und politische Tatbestände werden über charismatische Führergestalten und Konspirationsphantasien personalisiert und psychologisiert. 64 M. Jokai: Das künftige Jahrhundert, I, S. 1—9 (Hervorhebungen im Original). 65 Hierauf ließe sich auch das von Karl Kraus in anderem Zusammenhang ge­ prägte Bonmot von der „Journalisierung der Ewigkeit“ anwenden. 68 Unter „wertorientiertem Handeln“ ist ein Handeln gemeint, „das sich aus­ schließlich an von dem Handelnden überzeugungsmäßig geteilten, geglaubten immateriellen Werten orientiert, seien sie ethischer, religiöser, ästhetischer [. . .] Art, unter Hintansetzung möglicher nachteiliger Folgen für den Handelnden selbst.“ G. Eisermann: Allgemeine oder „reine“ Soziologie. 1965, S. 63. — Da­ für ein Beispiel aus dem Romantext: „Und das weibliche Herz bleibt doch in allen Jahrhunderten ein weibliches Herz.“ (M. Jokai, a.a.O., IV, S. 19.) — Wie in anderen Formen der Populärliteratur erweist sich durch die happy-end-Struktur angeblich wertorientiertes Handeln zugleich als optimale Form zweckorien-

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Der im Vorwort von Jokai beschworene, vielbeschäftigte Einiger Ungarns und Retter der Welt vor dem Nihilismus ist der „gemeine“ ungarische Sol­ dat David Tatränyi. Mit Unterstützung seines Königs kann er seine Braut von einer Mädchenhändlerorganisation loskaufen und das „Aerodrom“, eine Erfindung seines greisen Vaters, finanzieren. Mit Hilfe dieser in Serie gefertigten Flugmaschinen und weiterer Erfindungen — z. B. des Wunder­ stoffes „Ichor“ — beginnt er sein Einigungswerk. Seine Hauptwidersacher sind die Nihilisten, die in Rußland durch eine Revolution an die Macht ge­ kommen sind und nun Welteroberungspläne schmieden. Aber auch die eigene ungarische Nation verkennt zeitweilig den edlen Altruismus des Helden. So gründet er zunächst — entgegen dem Versprechen des Autors im Vorwort — eine „unabhängige“ Musterrepublik auf der Basis von Volksaktien im urbar gemachten Donaudelta und eine Weltsprache aus Bilderzeichen. Otthon ist, wie wir wissen, ein auf Aktien gegründeter Staat. Zweimalhunderttau­ send Menschen sind (halb freiwillig, halb genöthigt) zur Gründung einer Aktien­ gesellschaft und Handels-Niederlassung zusammengetreten [. . .]87. Alle Aktionäre, weß Berufes sie sein mögen, sind vor der Gesellschaft gleich auf jedem Gebiete. Unter Allen, welche diese Konvention unterzeichnet haben, hat vor Allem jeder soziale Unterschied zwischen Mann und Weib aufgehört88.

Aufstände von ewig Unzufriedenen und von den Nihilisten Verhetzten werden durch künstliche Unwetter niedergeschlagen89. Mit seinen Aerodro­ men wird Tatränyi überdies zum Garant des Weltfriedens. In einem von der Außenwelt abgeschlossenen Gebirgstal Asiens findet er den in arkadischen Zuständen lebenden „Urstamm des Ungarvolkes“, der seine Taten besser zu schätzen weiß als seine Landsleute: Bei so einfachen Sitten hielt es nicht schwer, die zivilisatorischen Begriffe der Neu­ zeit im Volke heimisch zu machen. Es erhob sich nirgends ein Widerstand. Die Dampfmaschine, der elektrische Telegraph, die Druckerpresse, die Flugmaschine sind unwiderstehliche Apostel des neuen Evangeliums*70.

Im Kampf gegen die Nihilisten läßt er zeitweise den ganzen Balkan unter Wasser setzen71. Der letzte siegreiche Kampf gegen die Nihilisten wird in tierten Handelns. Indem wertorientiertes Handeln am Ende materiell belohnt, zweckorientiertes aber bestraft wird, erhält erfolgreiches ökonomisches Handeln zugleich positive moralische und ethische Qualität. 87Ebd., III, S. 138. 88 Ebd, III, S. 139. 89 Ebd., IV, S. 138 ff. 70 Ebd., IV, S. 67. 71 Vor allem wohl deshalb, weil der Autor einen sinnfälligen und sensationellen Kontrastreiz zu den herkömmlichen Kriegs- und Ordnungsmitteln „Stock, Feuer, Eisen“ (ebd., IV, S. 133) braucht.

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einer Luftschlacht ausgetragen, bei deren Darstellung sich Jokai bereits an jenes Erfolgsrezept hält, nach dem seither fast alle „space operas“ geschrie­ ben werden: einer Mischung aus gigantomanem Massenaufgebot technischer Vehikel in dreidimensionaler Kavallerieordnung und alles entscheidendem Einzelkampf. Der Flügelschlag der vierzigtausend Aerodrome brachte eine zauberhafte himm­ lische Musik in den Höhen der Lüfte hervor [.. .]72 Die russische Flotte zog in schöner Ordnung daher [...], über je hundert Luft­ schiffen aber folgte noch tausend Fuß höher ein Kommandeurschiff, und noch wei­ tere tausend Fuß über diese Kommandeurschiffe hinaus zog eine, aus zehn Schiffen bestehende Eskadre: diese trug den Generalstab73. Die Czarina trat nun selber an die Maschine und flog so nahe an Davids Schiff heran, daß dieser durch die rosenfarbene Glaswand hindurch das dämonische, triumphirende Lächeln der Dame sehen konnte. Noch eine Minute und das russische Admiralschiff schwebte über ihm. Da drehte David [. ..] einen Hahn an der Seitenwand der verschlossenen Kastens und sofort schoß aus dem Rohre, welches zum Schiffsschnabel hinausragte, ein lan­ ger, glänzender von Dämpfen umwallter Strahl nach dem kaiserlichen Luftschiffe empor. Es war ein Naphtastrahl74.

Nach diesem sexualsymbolischen und militärischen Sieg über die verführeri­ sche Erzschurkin und ihr Heer kann der Held endlich der Welt seine zwölf Bedingungen für den „ewigen Frieden“ geben und die ungarische Nation auferstehen lassen. Der Leser kommt in jeder Beziehung auf seine Kosten; Jokai arbeitet mit allen Mitteln des Trivialromans. Die intrigante nihilisti­ sche Gegenspielerin, „Madame Saßa“, ist natürlich in Tatranyi verliebt und möchte mit ihm Bett und Weltherrschaft teilen. Niemals war sie dieselbe; Tag für Tag erschien sie in anderer und immer wieder anderer Gestalt, und jede war die berückende, bezaubernde Erscheinung eines Wei­ bes, in welchem der Dämon steckt75.

Wie anders dagegen Rosalia, Tatränyis Frau: Und als sie zurückkamen, da war Rosalien’s Antlitz strahlend geworden, als ob sie die Krone trüge, nicht die Krone des babylonischen Weibes, sondern die Krone der Gottesmutter70.

Auch bei anderen Anlässen liefert der Autor drastische Entscheidungshilfen: Dort Ordnung, rührige Thätigkeit, gesundes Leben; hier hohler Prunk, hinter dem der Ruin lauert, betäubendes Geräusch, libertinistischer Jubel, ungezügelte Bewegung, welche von massenhaften Bacchanalien immer wieder in blutige Zusammenstöße umschlägt77. 72Ebd., IV, S. 177. 75 Ebd., S. 90.

74

73 Ebd., S. 172. 76 Ebd., S. 129.

74 Ebd., S. 179. 77 Ebd., S. 68.

was bei den Völkern der heißen Zone Reiz, Koketterie, sinnberückende Leidenschaft ist, erscheint hier in völliger Nacktheit, die nicht mehr reizt, sondern betroffen macht, Aller Augen preisgegeben, alles poetischen Zaubers entkleidet; und was der übersättigten, sinnlichen Schwelgerei am Fuße folgt, das ist Ekel, ohnmächtige Gier

Der Liebhaber des technischen Zukunftsromans wird ebenso bedacht wie Antialkoholiker und Sprachforscher: Im Winter werden die Wände des Saales durchwärmt, — im Sommer dagegen sind künstliche Eisbereitungsvorrichtungen angebracht, welche die Hitze mäßigen. Ferner sind zwei physikalische Apparate unausgesetzt in Thätigkeit, deren einer Sauerstoff erzeugt und im Saale vertheilt, — der andere aber den Ueberschuß an Stickstoff absorbirt, und aus dem Dunste der Peroration — Sodawasser bereitet79. Ueberdies kennt das Volk von Kin-Tseu keine geistigen Getränke80. Was aber für David von weitaus größerem Werthe war, als alle Schätze des neu­ entdeckten Landes, das ist die Sprache des Volkes. Es ist ein reines, unvermischtes Ungarisch. Kein Dialekt, kein bloß verwandtes Idiom, sondern identisch mit dem europäischen Ungarisch [. . .]81.

Es entwickeln sich Menschen, die im Finstern sehen können82; es gibt „Hyalichorpanzer“, die nahezu unverwundbar machen83; der Kontakt mit anderen Planeten und ihren weit über dem Menschen stehenden Bewohnern steht kurz bevor84, der „fossile Mensch“ wird entdeckt, und am Nordpol werden die unversehrten Überbleibsel des Tertiär gefunden85*. Der Vater Tatränyis wird am Nordpol beigesetzt; das Luftschiff reißt sich aus der Verankerung und verschwindet mit der Leiche im „unermeßlichen Welten­ raum“88. Einen Höhepunkt des Werkes stellt zweifellos die als Plädoyer für die Ab­ schaffung der Todesstrafe und als Charakterisierung der Nihilisten getarnte Schilderung einer „Dampfguillotine“ mit anschließender Gondelfahrt auf dem Blutsee dar: Dann ward es todtenstille — ein schwerer der Ewigkeit abgerungener Augenblick! Die windmühlenähnlichen Flügel der räthselhaften Maschine setzten sich in Bewe­ gung, während in demselben Momente aus den vier runden Oeffnungen vier Men­ schenköpfe hervortauchten. Im nächsten Augenblicke waren die Köpfe nicht mehr dort oben! Sie schwammen unten im Teiche. [...] Das muß man der Dampfguillotine lassen: Sie war eine meisterhaft konstruirte Maschine. Im Innern des Thurmes ein Zahnrad, welches vier Brücken hin und zurück bewegt; auf jeder Brücke liegt ein Mensch; die Maschine schiebt ihn

78 Ebd.,S. 81 Ebd.,S. 84 Ebd., 88 Ebd.,

69. 79 Ebd., I, S. 214. 60. 82 Ebd., III, S. 178. S. 163u.177. 85 Ebd., S. 174. S. 80 ff.u.IV, S. 164 f.

80 Ebd., IV, S. 59. 83 Ebd., S. 51.

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sammt der Brücke vorwärts, mit dem Kopfe zu der Oeffnung hinaus, bis an die Schultern; mit derselben Umdrehung setzt die Scheibe die Schwerter der vier Flügel in Bewegung, und sofort stoßen die Federn die Brücken wieder zurück und mit diesen die darauf Liegenden — ohne Kopf; schließlich wirft ein Stoß die Leichname in die bereitstehenden eisernen Karren; Alles geht mit einer Genauigkeit von statten, wie die Arbeit einer Dreschmaschine. . . . Die Arbeit nimmt ihren ordentlichen Fort­ gang. Am Fuße des Thurmes sind drei Abflußrohre angebracht; binnen Kurz er­ gießen dieselben in vollen Strömen dunkelrothes Blut in das Wasser des Teiches. Eine entsetzliche Fontaine! [•••] Als er dem betäubenden Schauspiele erst eine Weile zugesehen hatte: wie die eiserne Windmühle da oben mit der Schnelligkeit eines Haspels zu den vier Oeffnungen heraus die Menschenköpfe wegsäbelte, — wie diese so einer nach dem andern in die Wellen des Teiches niederhüpften und nah und immer näher heran geschwommen kamen und die späteren die früheren anstießen und immer vorwärts drängten: da überkam ihn allmählig jenes betäubend wollüstige Gefühl, von welchem die Krimi­ nalprozesse Zeugniß geben, die das grauenvolle Räthsel des menschlichen Herzens aufgedeckt, gleichwohl aber unerklärt gelassen haben, daß die Trunkenheit welche der Anblick von Blut erzeugt, und die Wollust in einem und demselben Bette ge­ boren werden. [. ..] Und die höllische Maschine haspelte ihr entsetzliches Pensum herab, mit einer Gleichförmigkeit, um wahnsinnig zu werden; die purpurnen Kata­ rakte ergossen rauschend ihre Wogen [...] Und nun erfaßte eine Hand Severus am Arme und eine glühende Stimme flüsterte ihm ins Ohr: ,Komm!‘ Er ließ sich betäubt von dannen führen. Man geleitete ihn in die Gondel. [. . .]87.

Die Mehrzahl der vor dem ersten Weltkrieg erschienenen ZukunftskriegRomane lieferte allerdings vorerst noch bescheidenere und präzisere Projek­ tionen heimlicher Träume. Mit irgendwelchen Wunderwaffen wurden die jeweiligen kriegslüsternen Feindnationen — in deutschen Romanen waren dies vornehmlich die Franzosen und Engländer und nach der Jahrhundert­ wende auch die „gelbe Rasse“ — total geschlagen und der Weltfriede unter dem gerechten, aber strengen Patronat der Siegernation installiert88. Auf das nationalistisch präzisierte Plagiat einer anderen Variante, die Jules Verne mit Robur-le-conquerant kreiert hatte, spezialisierte sich in Deutsch­ land Emil Sandt. Sein Anliegen war es, dem „revolutionären“, nidit von der nationalen Staatsmacht und ihren Trägern gelenkten Einsatz technischer Mittel durch idealistisch-weltfremde und womöglich mit der Sozialdemokra­ tie sympathisierende Erfinder vorzubeugen. Diese Erfinder müssen nach schmerzlich-desillusionierenden Erfahrungen mit dem neidischen Ausland 87 Ebd., IV, S. 120—122. 88 Als Beispiele hierfür, die sich nicht in I. F. Clarkes Bibliographie finden, seien genannt: O. Hoffmann: Die Eroberung der Luft. 1908. (13. Aufl. 1913!), (mir lag die 4. Aufl. vor) und W. Middeldorf: An Bord des Sirius. 1913.

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oder mit sozialen Unruhen im eigenen Land einsehen, daß die Verwertung ihrer Erfindungen am besten unter der Regie des deutschen Kaisers vorge­ nommen wird: Man hob Brigitte von ihm weg. Sie war auch tot. Aus ihrer Brust sickerte Blut. Und als man die Wunden näher untersuchte, fand man, daß eine der Kugeln, die von der „Pax“ abgeschickt waren, Brigitte von den Schultern her durchbohrt und noch ihren Weg in Attilas Brust genommen hatte. Wie ein letzter Herzensgruß89. „Mir bleibt nur ein Bekenntnis übrig. Eure Majestät haben recht gehabt: der ein­ zelne, der nur auf sich gestellt ist, vermag die Gesamtheit nicht zu zwingen. Auch nicht zu ihrem Besten. — Und die Liebe ist ein Traum, wo es um die Macht geht. — Auch die Liebe für alle Menschen. — Ich habe sie gehabt. Und mein Wunsch, mein Gebet für die Zukunft kann nur sein, daß der fernere Weg rein bleibt von Fluch und Tränen, wie mein Streben rein war von Selbstsucht. „Zu Euer Majestät starken Händen übergebe ich meinem Vaterlande von heute ab das, was mir nicht Lebenswerk werden konnte90.“

Sieht man von einigen frühen und unvollständigen entwicklungstheoreti­ schen Ansätzen — etwa bei Goethe und Lamarck — ab, so lieferte erst Dar­ wins Evolutionstheorie die Koordinaten für eine konsequent rationale und naturwissenschaftlich valide Erklärung der Naturgeschichte, die sich mit Hilfe des allgemein-gültigen Entwicklungsprinzips — per Analogieschluß — anscheinend beliebig weit in die Vergangenheit wie in die Zukunft verlän­ gern ließ. So war die Evolutionstheorie geradezu prädestiniert, als Grund­ lage für eine Literatur wie die Science Fiction zu dienen, die einerseits räumlich und zeitlich evasiv-expansiv und zum anderen dabei auf eine rationalistisch-scientistische Legitimation angewiesen war. Die Dichtung hat das Vorrecht, in die Zukunft zu sehen. Wenn aber das, was sie uns erzählt, uns wirklich Vertrauen erwecken soll, muß sie die Wirklichkeit zu Rathe ziehen und eng an die Erfahrung sich anschließen. Aus dem Verlaufe der Culturgeschichte und dem gegenwärtigen Standpunkte der Wissenschaft kann man

89 E. Sandt: Cavete! 1906, S. 458. — Benutzt wurde die 5. Aufl. 90 Ebd., S. 461 f. — Ähnlich: Das Lichtmeer, 1912, Im Äther, 1910 und — noch 1926, diesmal allerdings ohne Kaiser Wilhelm — Die Schmiede, 1926 (benutzt wurde die 3. Aufl.). — In Das Lichtmeer liefert Sandt im übrigen ein anschau­ liches Beispiel für aggressive, durch das Medium der Technik entschuldigte, Omnipotenzphantasien: „Wir erzeugen einen elektrischen Strom von dem viel­ fachen der bisher gekannten Stärke. [. . .] Die erste elektrische Barriere warnt die Menschen [...], wer aber bis zur dritten gelangen sollte, ist unfehlbar eine Leiche. Ob das zehn- oder zwanzigtausend Menschen sind, — jeder Angriff, jeder Sturm erledigt sich durch einen Fingerdruck auf den einen oder anderen Knopf.“ (Ebd., S. 377.)

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mancherlei Schlüsse auf die Zukunft ziehen, und die Analogie bietet sich der Phan­ tasie als Bundesgenossen91. [...] es kommt darauf an, zwischen phantastischem Fabulieren und lehrhaftem Auseinandersetzen die richtige Mitte zu finden. Denn auch das Fremdartige muß durch schon Bekanntes unserem Verständnis vermittelt werden [.. .]92.

Mit Recht wurde in Untersuchungen zur Science Fiction immer wieder darauf hingewiesen, daß es — im Verein mit der beschleunigten Entwick­ lung der Technik — vor allem die Evolutionstheorie und die sich aus der Auseinandersetzung mit ihr speisende naturwissenschaftlich-populäre Auf­ klärungswelle waren, die die Science Fiction zu einem eigenständigen und festen Bestandteil der Populärliteratur werden ließen. Als quantitatives wie qualitatives Indiz für die wachsende Beliebtheit und Verbreitung des Genres können die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ins Kraut schießenden Parodien und Satiren gelten. Sie trugen ihrerseits zum weiteren Ausbau der Science Fiction bei, indem sie karikaturistisch gemeinte, über­ zogene Topoi lieferten, die wiederum zur Anregung und Grundlage neuer, undistanzierter Science-Fiction-Spekulationen werden konnten93. 91 K. Laßwitz: Bilder aus der Zukunft. 3. Aufl. 1879, „Vorbemerkung“, S. VII. (Die erste Erzählung Bis zum Nullpunkt des Seins erschien zuerst im Feuilleton der Schlesischen Zeitung, Breslau 1871. Vgl. hierzu M. Popp: Julius Verne, S. 180 f.) 92 Ebd., S. IX. 93 Beispielsweise die oben genannten Bilder aus der Zukunft Laßwitz’. Darin wird bereits über die Ablösung der Menschen durch andere „Formen des Seins“ nach einer durch die Menschheit selbst künstlich herbeigeführten „Selbstver­ nichtung der Welt“ und „Erstarrung des Alls“ (I, S. 32 u. 74) diskutiert, die Ausbeutung der Goldadern des Mondes in Angriff genommen (II, S. 134—158), die manipulative Intelligenz- und Bewußtseinssteuerung mittels der „Psychophy­ sik“ in „Hirnschulen“ praktiziert (II, S. 79—88) und, als unkritische, aber kon­ sequente antizipative Krönung des kapitalistischen Arbeitsteilung- und Klassen­ systems, die Entwicklung und kastenhafte Einteilung der Menschheit in „Denk-“, „Gefühl-“ und „Arbeitsmenschen“ vorgeschlaagen (II, S. 148). — Auf diesen Über­ legungen baute bekanntlich Aldous Leonard Huxley seine erfolgreiche satirische Utopie Brave new world, New York 1932, auf. — In Alfred de Valmys [Julius Stinde] Die Opfer der Wissenschaft, 1878, wird über die kommende Weltherrschaft riesiger, tentakelbewehrter, fleischfressender Pflanzen spekuliert (S. 65—68. Mit die­ sem Plot reüssierte 1951 John Wyndham [John Beynon Harris]: The day of the Triffids. — dt.: Die Triffids, 1955 u. Heyne-Buch 39, 1960.). — A. Daiber: Anno 2222. Ein Zukunftstraum. 2. Aufl. 1905, malt eine kosmische Umwälzung aus, bei der sich „Luna [. . .] unserer Erde“ (S. 33), die „Zentralsonne“ sich „unse­ rem Fixsternsysteme“ (S. 36) nähert, Amerika „ein neuer Trabant [. . .] unseres verkleinerten Planeten“ (S. 96) wird, dafür der alte Kontinent „Lemuravida“ wieder auftaucht (S. 105) und schließlich, durch eine Veränderung der Erdum­

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Spätestens dieser Aufschaukelungsprozeß markiert die Etablierung der Science Fiction als ein inhaltlich und methodisch eigenständiges Genre, das sich mehr und mehr mit sich selbst zu beschäftigen beginnt und an seiner Selbststilisierung arbeitet94. Nachdem durch die systematische wissenschaftliche Erforschung und kolo­ niale Aufteilung der Erdoberfläche gegen Ende des 19. Jahrhunderts sensa­ tionelle Spekulationen im irdisch-exotischen Bereich immer unwahrschein­ licher wurden, waren die Evolutionstheorie und die durch sie möglichen astronomischen Hypothesen die Vehikel für die Verlegung der exotischen Abenteuer und Entdeckungsreisen in die Zukunft und den Weltraum. Evo­ lutionistische Analogien erlaubten bei Annahme einiger weniger physikali­ scher, astronomischer und biologischer Grundkonstanten die ausmalende „wissenschaftliche“ Beschreibung des Unbekannten. Einzelnen Planeten wur­ den ganz bestimmte — noch heute gängige — Stereotypen zugeordnet; so dem Mars und dem Mond — von denen angenommen wurde, daß sie älter als die Erde waren — Bewohner, die in ihrer Entwicklung weit über dem Menschen standen, degeneriert oder schon den „Artentod“ gestorben waren: weil [...] der Mars eine stattliche Million Jahre älter war als die Erde, so mußte logischerweise auch alles organische Wesen bedeutend vollkommener, die mensch­ lichen Geschöpfe bei weitem intelligenter sein und ihre Schöpfungen die unseren naturgemäß um ein Vielfaches übertreffen95. laufbahn und des Achsenwinkels für „unsere alte [. . .] geschrumpfte Mutter [...] Erde [...], ein neuer, letzter Frühling“ beginnt (S. 110). — Ludwig Hevesi: Die fünfte Dimension. 1906 (darin bes. Jules Verne in der Hölle, S. 1—16 u. Jules Verne im Himmel, S. 17—29), wartet mit einer satirisch gemeinten Kritik des „anthropozentrischen“ Weltbildes auf, das „den Menschen für den Mittel­ punkt des Allinteresses, für das Wesen par excellence“ hält (S. 26 f.). — Vgl. ferner A. Fetz: Ein Blick in die Zukunft 2407. 1907, und schließlich Albert Robida: Le vingtième siècle. 1883 u. La guerre au vingtième siècle. 1887 (zuerst 1883 in der Zeitschrift La Caricature; benutzt wurde die Neuausgabe Paris 1916). In dt. Übers, erschien von Robida Das elektrische Jahrhundert. (La vie électri­ que, dt.) = Kürschners Bücherschatz, Nr. 128. 1899. 94 In Paul Mantegazzas Novelle Das Jahr 3000. 2. Aufl., 1887 — einem der wenigen Werke, die eine sozialistische Version der Evolutionstheorie vertreten (dies gilt auch für A. Fetz: Ein Blick in die Zukunft 2407) — nehmen die Helden auf ihre Besichtigungsfahrt durch die Welt des Jahres 3000 als Reiselektüre den eintau­ send Jahre alten Zukunftsroman Das Jahr 3000 mit (S. 2). 95 C. Redzich: Ein Besuch auf dem Mars im Jahre 3000. 1922, S. 43 f. [Hervor­ hebungen M. N.]. Von ähnlichen Hypothesen gehen z. B. aus: P. Greg.: Jenseits des Zodiakus. 1882, 4 Bde. (die Weiterentwicklung der Marsbewohner wird hier als antikommunistisches Argument benutzt); K. Laßwitz: Auf zwei Plane­ ten. 1897, 2 Bde.; H. G. Wells: Die ersten Menschen im Mond. 1905; O. Hoff-

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In dieser Verlagerung der Handlungsräume in kosmische Regionen sieht Martin Schwonke nicht nur den eigentlichen Mutationssprung vom „roman scientifique“ Vernescher Provenienz (Vernes Romane wurden weder in Frankreich noch in Deutschland unter diesem Etikett verkauft) zur „Science Fiction“, sondern auch den Übergang des qualitativen und quantitativen Führungsanspruchs von Frankreich an die „angelsächsischen Länder“: „Ein äußeres Kennzeichen ist das sprunghafte Anwachsen der Planetenromane um 1890“9697 . Schwonke belegt diese Feststellung mit dem Hinweis auf E. F. Bleilers Checklist of fantastic literature61, wonach — im Gegensatz zu frü­ heren Jahrzehnten und zu nicht-angelsächsischen Ländern, wie Schwonke meint — zwischen 1889 und 1915 55 englisch-sprachige Planetenromane erschienen. Allein in bezug auf die deutschsprachige Produktion des gleichen Zeitraums kann sich dieser Führungsanspruch aber nur durch ein Plus von höchstens elf Romanen ausweisen. — 48 derartige Romane ließen sich, trotz der miserablen bibliographischen Verhältnisse im Bereich der deutschen Un­ terhaltungsliteratur schon bei flüchtiger Suche eruieren9899 . Noch verwegenere Mutmaßungen in dieser Richtung stellt allerdings Hans-Jürgen Krysmanski an: In einem ,Katalog ... von Werken utopischen Inhalts' (1912) vom 16. bis 20. Jahr­ hundert sind rund 1900 Titel aufgeführt, von denen ca. 1000 tatsächlich .utopisch' sind".

96 97 98

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mann: Mac Milfords Reisen ins Universum. 1902 („im übrigen wird man die Seleniten als degenerierte Nachkommen eines vor Jahrtausenden existieren­ den, vielleicht hochentwickelt gewesenen Kulturvolkes zu betrachten haben.“ — S. 2); J. Zulawski: Auf silbernen Gefilden. 2. Aufl., 1914; O. Hoffmann: Unter Marsmenschen. 1905 (vorher als Erzählung in: Deutscher Jugendfreund, 55, 1900); F. Kringel: Von der Erde zum Mars. 1907 („Dem degenerierten Mars­ geschlechte mochte eine Auffrischung durch Einheirat einer frischen Erdenmaid wohl frommen!“, S. 81); A. Fetz: Ein Blick in die Zukunft 2407; W. Mader: Wunderwelten, 1912; W. Schilling.- Fünf Jahre auf dem Mars. 1913; A Daiber: Im Luftschiff nach dem Mars. 1913; ders.: Vom Mars zur Erde. 1914 u. a. M. Schwonke: Vom Staatsroman, S. 42 f. Ebd., S. 158, Anm. 181; F. Bleiler: Checklist of fantastic literature. 1948. Grundlage dieser Recherche waren Heinz Bingenheimers Bibliographie Trans­ galaxis. 1959/60, Jakob Bleymehls Bibliographie Beiträge zur Geschichte und Bibliographie der utopischen und phantastischen Literatur. 1965; eine Kopie des Inventarverzeichnisses der Privatsammlung von H. J. Stammer, Erlangen, und eigene Bemühungen anhand der offiziellen Bibliographien Heinsius, Kayser, Ge­ orgi, DBV, Hinrich, GVK usw. Es wurden nur solche Werke gezählt, die sich durch Autopsie oder eindeutige Titel als „Planetenromane“ erwiesen. Daß Schwonkes These auch für die französische Science-Fiction-Produktion unhalt­ bar ist, demonstrierte 1967 die Sciencc-Fiction-Ausstellung in Bern. H.-J. Krysmanski: Die utopische Methode. S. 25, Anm. 55.

Wollte man eine vollständige Bibliographie der deutschen utopischen Literatur des 20. Jahrhunderts zusammenstellen, so käme man je nach den zugrunde liegenden Auswahlkriterien auf etwa 100 bis 150 Titel für die Zeit von 1890 bis 1960100.

Krysmanski fährt dann fort: Wenn man all diese Minderungsgründe berücksichtigt [die sich aus Krysmanskis Definition der ,utopischen Methode' ergeben, vgl. S. 35 dieser Arbeit], bleibt eine Zahl von etwa 30 für unsere Zwecke ergiebigen deutschen utopischen Romanen übrig. Das ist im Vergleich zum angelsächsischen Bereich verhältnismäßig wenig, hält sich aber im Rahmen des ,utopischen Vorkommens* (Bloch) in anderen Ländern (etwa Frankreich, Italien, Rußland)101.

Gegen eine arbeitsökonomisch sinnvolle Beschränkung des Untersuchungs­ materials ist gewiß nichts einzuwenden. Nur sollten solche pragmatischen Erwägungen nicht zugleich als empirischer Gesamtbefund ausgegeben wer­ den; zumal dann nicht, wenn dies dazu beiträgt, ein in der Forschungslitera­ tur ungeprüft reproduziertes, fast axiomatisches Vorurteil erneut zu stützen. Dagegen ist festzustellen, daß bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhun­ derts hinein ein quantitativ signifikanter „Führungsanspruch“ der angel­ sächsischen Länder, weder in bezug auf spezielle Planetenromane, noch auf die allgemeine Science Fiction (vielleicht mit Ausnahme der spiritistischen und der Schauerliteratur, auf die noch eingegangen wird) empirisch haltbar ist. Das unbefangenere Interesse der angelsächsischen Literaturwissenschaft für Trivial- und Unterhaltungsliteratur, die daraus resultierende lückenlo­ sere bibliographische Erfassung, globale völkerpsychologische Thesen und schließlich unzulässige Analogiesdilüsse von früheren oder späteren Stadien der nationalen Produktionsverhältnisse im Bereich der Utopi eund Science Fiction haben hier zu einem falschen Bild geführt. Schwonkes These von der Konsolidierung der Science Fiction um die Jahrhundertwende ist aber —ohne die implizierten nationalen Präferen­ zen — zuzustimmen. Vor allem bildete sich in dieser Zeit ein dominierender Idealtypus heraus, in dem das Weltraumabenteuer mit der Zukunft oder wenigstens mit futuristischer Technik und Wissenschaft verbunden wurde. Einer der bisher erfolgreichsten deutschen dieser Romane war Kurd Laßwitz’ Auf zwei Planeten102. Auf annähernd tausend Seiten schildert Laß100 Ebd., S. 27. 101 Ebd. 102 K. Laßwitz: Auf zwei Planeten. 1897, die 2. Aufl. erschien auch in 20 Lieferun­ gen (1898). 1930 erreichte die Auflage 70 000. (Benutzt wurde die „Volksaus­ gabe“ in einem Band, Lpzg. 39.—41. Tsd., etwa 1922.) Nach dem zweiten Welt­ krieg erschienen nurmehr gekürzte Fassungen; die erste Donauwörth [1948], eine Heftausgabe (Abenteuer im Weltraum, 5 u. 6), eine in der Reihe „Die Welt von morgen im Roman von heute“, Bin. (1959) und die bisher letzte — mit

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witz die Entdeckung einer Forschungsstation der Marsbewohner am irdi­ schen Nordpol, die Einladung einiger Deutscher zu einem Besuch des Mars, die Herrschaft der ethisch und wissenschaftlich-technisch zwar über dem Menschen stehenden, aber durch ihre Macht und das irdische Klima bald korrumpierten Martier über die Erde und zu guter Letzt — nach Brechung der Fremdherrschaft — die friedliche Nachbarschaft beider Planeten. Laßwitz, in seiner Ethik und Naturphilosophie von Kant, Schiller und Gustav Th. Fechner103 beeinflußt, lieferte eine liberal-bürgerliche Variante des evolutionistischen Fortschrittsgedankens. In ihr wurden das aufklärerische Potential und die kritische Rationalität, die — von der kognitiv-naturwis­ senschaftlichen Weitsicht des Darwinismus modellhaft ausgehend — auch auf die Erkenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge und deren emanzipatori­ sche Veränderung hätten durchschlagen können, durch verinnerlichte, indi­ vidualistische „Gemütswerte“ abgeblockt. Laßwitz ist darin Repräsentant der populären naturwissenschaftlichen Aufklärungswelle, die mit Haeckels monistischer, sozialistisch eingefärbter und antiklerikaler Naturreligion begann, aber — wie sich an der Entwick­ lung bekannter Autoren dieser Bewegung (etwa Max Haushofer, Wilhelm Bölsche oder Bruno Wille) und des Friedrichshagener Dichterkreises zeigte — nur allzuschnell zum Rückzug in „idealistische“ und „panpsychistische“, un­ politisch-irrationale Bereiche deutschnationaler Innerlichkeit, der Waldbzw. Nachthimmelfrömmigkeit und Naturkontemplation blies104. Darwins Bild einer streng gesetzlichen Welt erfordert keine mechanistischen oder materialistische Philosophie, sondern paßt auch in den Rahmen eines idealistischen Naturbegriffes hinein [...]. Wir [...], Freund Bölsche, sind Idealisten, indem wir der gesamten Natur einen seelischen, geistigen Charakter zuschreiben. Zugleich be-

einem banalen, aber zugkräftigen „Geleitwort“ des deutschen Kriegs- und Nach­ kriegsheros Wernher von Braun — Frankfurt/M. 1969. 103 Fechner verarbeitete seine romantisch-spiritistischen Thesen von der Beseeltheit aller Natur auch in einigen Science-Fiction-artigen Erzählungen, z. B. — unter dem Pseudonym „Dr. Mises“ — in: Beweis, daß der Mond aus Jodine bestehe, 1821; Schutzmittel für die Cholera, 1832 und Vier Paradoxa, 1846. — Laßwitz schrieb eine Biographie Fechners {Gustav Theodor Fechner, Stuttgart 1896. = Frommann’s Klassiker der Philosophie, 1). Am deutlichsten schlug sich der Ein­ fluß Fechners bei Laßwitz nieder in: Aspira (1905), Sternentau (1909), Hörn­ chen (1907) und in Erzählungen der Sammlungen Seifenblasen, 1890 [2. verm. Aufl. Weimar 1894] u. Traumkristalle, 1902. — Zu bibliogr. u. inhaltlichen De­ tails vgl. die Studie von Franz Rottensteiner: Kurd Laßwitz. 104 So beginnen die Planetenromane und populären astronomischen Darstellungen bevorzugt mit einer schwärmerischen Beschreibung des nächtlichen Sternenhim­ mels.

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kennen wir uns zum Darwinismus, weil er bei mancher Lückenhaftigkeit doch im großen ganzen eine durch reine Vernunft klar einleuchtende und daher in gewissem Sinne unwiderlegbare Theorie darstellt. Oft haben wir auf unseren Waldgängen Darwins Lehre in unser panpsychistisches Naturbild hineingezeichnet ... Warum ich Wert auf die Idee einer geistigen Natur und auf die Einpassung des Darwinismus in eine idealistische Weltanschauung lege? Weil der Idealismus, wenn er nicht halt­ loser Glaube, sondern mit Wissenschaft und Logik streng einig ist, den ganzen Men­ schen, auch Gemüt und Charakter, befriedigt, indem er die Möglichkeit zeigt, daß die höchsten Werte unseres Geisteslebens im Weltall unverwüstlich überdauern, und weil ich ja nach harmonischer Betätigung unserer höchsten Kräfte, nach jener leben­ digen Wissenschaft strebe, die zugleich Religiosität, Andacht ist105* .

Laßwitz allerdings konnte für sich in Anspruch nehmen, von vornherein gegen die Anfälligkeiten für den Sozialismus in den „Sturm- und Drang­ jahren“108 des Haeckelianismus gefeit gewesen zu sein. Im Marsroman Auf zwei Planeten sind zunächst auf sinnfällige Weise — in der Gestalt der „Martier“ — der „moralische Imperativ“ im und der „gestirnte Himmel“ über dem Haupt des liberalen Bürgers identisch. Politik, die Durchsetzung von Macht- und Interessenansprüchen, wird ersetzt durch Appelle an Ge­ müt und Gemeinschaft. Und für diejenigen, die sich diesen Idealismus nicht leisten wollen, weil er nicht zugleich ihre noch nicht durchgesetzten Inter­ essen sichert, hält Laßwitz die psychische Bedrohung von außen bereit, die sie Mores lehren soll: Zeigen wir, daß wir das große Beispiel ihres Planeten begriffen haben, eine Gemein­ schaft freier Vernunftwesen zu bilden, in der die Ordnung herrscht nicht durch die egoistische Gewalt einzelner Klassen, sondern durch das lebendige Gemeinschafts­ gefühl aller [. . .] Der Mars hat uns den gewaltigen Dienst geleistet, uns zu zeigen, wie die Not des Daseins bezwungen werden kann. [.. .] Er hat die Völker geeint in dem gemeinsamen Bewußtsein, daß sie als Kinder der Erde zusammengehören und ihre häuslichen Streitigkeiten zu begraben haben, um die Kräfte des Planeten zusammenzufassen, er hat uns gezeigt, daß es gilt, dem überlegenen und geeinten Planeten zu begegnen [. . .]107. 105 Bruno Wille: Darwins Weltanschauung. Heilbronn 1906. S. XI—XIII, zit. n. F. Bolle: Darwinismus, S. 265 f. Einen Höhepunkt der Anthropomorphisierung der Natur brachte Wilhelm Bölsches weitverbreitetes Werk Das Liebesleben in der Natur. Bd 1 Florenz 1898, Bd 2 Lpzg. 1900, Bd 3 ebd. 1903. (Bereits 1909/10 erreichten alle drei Bde. das 35. Tsd.) Mit umgekehrten Vorzeichen feiert die­ ses Verfahren heute in der populären Verhaltensforschung neue Erfolge. 108 F. Bolle: Darwinismus, S. 265. 107 K. Laßwitz: Auf zwei Planeten, II, S. 387 f. In diesem Sinne ist wohl auch die zaghafte und vordergründige Kritik des Kolonialismus eher als innenpolitische Drohung nach unten zu verstehen. Inkonsequent ist diese Kritik deshalb, weil sie nicht den Kolonialismus in toto angreift, sondern — nachdem der Kolonial­ besitz arrondiert ist — nur für eine humanere und technisierte Form der Aus­ beutung plädiert. (Vgl. ebd., I, S. 259 u. II, S. 524.)

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Mit dem Internationalismus Laßwitz’ ist es im übrigen nicht weit her. Auch er steht im Dienste innenpolitischer Beschwichtigung, und der Hoch­ mut des perfiden Albinos wird zwar nicht durch Gott, aber wenigstens durch die Marsbewohner bestraft108. Das ideale politische System, das Laß­ witz auf dem Mars verwirklicht, ist so recht im Sinne eines Liberalismus, der keiner der herrschenden Machtgruppen wehe tun will: Ebenso mannigfaltig wie die Größen waren die Verfassungen der Einzelstaaten. Die republikanischen Staatsformen herrschten vor, aber auch unter ihnen gab es eine bunte Musterkarte von kommunistischen, sozialistischen, demokratischen und aristo­ kratischen Verfassungen [!]. Die Monarchien waren besonders unter den kleineren Staaten vertreten. [. . .] im Ganzen unterschieden sie sich von den republikanischen nur dadurch, daß das Staatsoberhaupt nicht durch Wahl, sondern durch Erbfolge bestimmt war und sich eines größeren Einkommens und einer glänzenderen Hof­ haltung als die Präsidenten erfreute. [. . .] Die reiche Entwicklung, welche die Ver­ feinerung des Lebens durch die Hofhaltung eines intelligenten Fürsten erfahren konnte, und der Einfluß, den eine hochsinnige Persönlichkeit hier zu entfalten ver­ mochte, sollte auch auf dem Mars nicht verlorengehen. [...] Zwischen allen Staaten herrschte, durch das Bundesgesetz garantiert, vollständige Freizügigkeit und Er­ werbsfreiheit. Wem es in dem einen Staate nicht gefiel, transportierte sein Haus in einen anderen, [...] Dadurch war eine natürliche Regulierung dafür gegeben, daß kein Staat seine Machtbefugnis mißbrauchte, denn er riskierte sonst, sehr bald seine Einwohner zu verlieren. Die natürliche Verschiedenheit der Individuen, ihre Ge­ wohnheiten und ihre Anhänglichkeit für das Hergebrachte sorgten andrerseits dafür, daß den einzelnen Staaten ihre Eigentümlichkeiten erhalten blieben und der Fluß der Bevölkerung nicht in Unbeständigkeit ausartete. Jede Gegend hatte ihre Vor­ züge109.

Bemerkenswert erscheint hierbei, daß sich Laßwitz lieber der Mühe unter­ zieht, transportable Häuser zu erfinden, um dem Bürger den Umzug samt Besitz zu garantieren, als die Vorstellung sakrosankter, von oben gesetzter und unveränderlicher Staats- und Gesellschaftsformen aufzugeben. An anderer Stelle erklärt sich Laßwitz deutlicher und läßt an der eigent­ lichen Frontstellung seines liberalen Idealismus und der antisozialistischen Funktion seines in das Gewand der Utopie gekleideten Romans keine Zwei­ fel. Gleichzeitig aber verkörpert das Werk des humanistisch gebildeten Gymnasialprofessors der Naturwissenschaften das Höchstmaß dessen, was sich die liberalen Teile des Bürgertums noch als Utopie vorstellen konnten. Mit anderen Autoren und der Science Fiction allgemein verbindet ihn die Vorstellung, daß Veränderungen im politischen und gesellschaftlichen Be­ 108 Ebd., I, S. 214 f. u. 227: „England war aus der Welt gestrichen. Aber die Welt ging weiter.“ 109 Ebd., II, S. 142 f.

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reich nur durch die Einwirkung von außen kommender, nicht kalkulierbarer und autonomer Mächte möglich seien — also durch Einflüsse, die eben jene Fremdbestimmung und Repression verkörpern, die es gerade zu vermindern gälte: Da ist der religiöse Glaube; er ist die Form, wie die Persönlichkeit das Weltgesetz in ihr Gefühl aufnimmt; die Menschen aber machen daraus ein Bekenntnis, das andre verpflichten soll und sich damit aufhebt. Da ist das Vaterland, die nationale Gemeinschaft; sie ist ein Mittel, die Macht des Einzelnen zusammenzufassen, um für die Menschheit zu wirken; die Menschen umkleiden sie mit einem Gefühl, das sie zum Selbstzweck macht und infolge dessen Feindschaft der Nationen bewirkt. Da ist der natürliche, berechtigte Trieb der Selbsterhaltung; die Menschen machen daraus einen vernichtenden Egoismus, der zum Kampfe der Gesellschaftsklassen führt. Und so mit allem. Hier kann Aufklärung helfen. Natürlich nicht, um Voll­ endung zu schaffen, die es überhaupt nicht giebt, aber eine höhere Stufe der Kultur. Es wäre nicht das erste Mal, daß Aufklärung die Menschen befreit hat, aber da mußte sie sich blutig durchkämpfen. Diesmal soll eine überlegene Macht den Sieg von vornherein gewähren [sic!].

[•••] Das Niveau der Gesamtbildung läßt sich binnen kurzem so heben, daß sie [die Menschen] eine klare Einsicht in das gewinnen, was im Leben möglich und erstreb­ bar ist. Sie werden erkennen, daß es eine Utopie ist, die Gleichheit der Lebensbedin­ gungen anzustreben, daß die Gleichheit nur besteht in der Freiheit der Persönlich­ keit, mit der ein jeder sich selbst bestimmt, und daß diese Freiheit gerade die Un­ gleichheit der Individuen in der sozialen Gemeinschaft voraussetzt. Wir haben ja doch viele Jahrtausende hindurch die sozialen Kämpfe durchgemacht, bis wir er­ kannt haben, daß der Kampf selbst unvermeidbar, die Gehässigkeit aber auszu­ schließen ist, daß in einem edlen Wettstreit alle Stufen der Lebensführung neben­ einander bestehen können. Nur Eines ist dazu notwendig: dem einzelnen die Zeit zu geben, sich selbst zu bilden, zu kultivieren. Die Menschen können sich darum nicht selbst helfen, [...] weil sie die Mittel nicht haben, den Massen die Sicherheit der notwendigsten Lebenshaltung zu geben. Diese Not der Massen können wir abstellen, ohne jede Utopie der Nivellierung des Vermögens. Wir können ihnen zeigen, daß das Hin- und Herschwanken des individuellen Besitzes sich nicht ändern läßt und auch nicht geändert zu werden braucht, daß aber jedem, der arbeitet, ein befriedi­ gendes, seinen Fähigkeiten angemessenes Auskommen gewährleistet werden kann, und daß niemand Not zu leiden braucht. Denn wir können den Menschen die Quelle des Reichtums erschließen durch unsre Technik, und wir können erzwingen, daß die damit verbundenen Besitzveränderungen sich in Ruhe vollziehen. Den klein­ lichen Eigennutz, den Krämersinn, die Unduldsamkeit, die Klassenherrschaft brin­ gen wir zum Verschwinden, sobald ein jeder klar zu durchschauen vermag, welche Stelle im großen Zusammenwirken der einzelnen er ausfüllt. Der tückische, nagende Neid entflieht aus der Welt, und Menschenliebe hält den siegreichen Einzug. [-;•] Nicht daß ich meinte, Leid und Schmerz aus der Menschheit verbannen zu können. Ohne sie stände das Weltgetriebe still. Aber reinigen können wir dieses Leid, ver­

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edeln zu dem heiligen Schmerz, der untrennbar ist von der Liebe und dem Einblick in uns selbst110.

Nadi dieser grundsätzlichen Klärung, in der ein vom ständisch-mittel­ alterlichen „großen Welttheater“ nur geringfügig abweichendes Sozialmo­ dell geboten wird, kann Laßwitz dann auch für eine „volkstümlichere Poli­ tik“111 und gegen die „Übermacht der reaktionären Parteien“112 in Deutschland eintreten, ohne befürchten zu müssen, von seinen Lesern miß­ verstanden zu werden. Auch sonst bleibt die bürgerliche Welt in ihren Fugen. Die „barbarischen“ Menschen, vornehmlich „die Deutschen“, erweisen sich schließlich nicht nur als die politisch und ethisch edleren Wilden, sondern — in einer ins Positive umgepolten Motivation des Fremden- und Rassenhasses — auch als die er­ folgreicheren Liebhaber, unter deren starken Händen die ätherischen Martierinnen kirre werden und gerne auf allen Fortschritt und die Emanzipa­ tion pfeifen: „Es ist merkwürdig, Ihr Menschen seid so ganz anders, und doch — oder vielleicht darum — habt Ihr etwas, wodurch man sich zu Euch hingezogen fühlt.“ Saltner ergriff ihre Hand113. „Ja, ja! Ich komme, um Dich zu fangen und nie wieder freizugeben. Ich komme vom Nu [d. i. der Mars], und ich will bei Dir bleiben auf der Erde, oder wo Du willst — nur nicht allein, nicht länger allein. Ich kann es nicht!“ Sie sank aufs neue an seine Brust114. „Du sollst Deine La sehen“, sagte sie, sich an ihn schmiegend, „die fliegende und die wandelnde, denn beide haben ihren Herren gefunden115* .“

Die latente „erotische Betriebsamkeit“110, die an der Oberfläche eben jene Tabus strikt einhält, aus denen sie sich speist, entlädt sich in zufällig-situa­ tiven Verfänglichkeiten117, geographischen Sexualsymbolismen118 und in reizsteigernden spiritualisierenden Überhöhungen des Lustobjektes durch Marienattribute119. Obwohl Laßwitz kein Mittel trivialer Belletristik scheute, rekrutierte sich seine Leserschaft aufgrund der übersteigerten sentimentalen Innerlichkeit, 110 113 118 117 118 119

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Ebd., II, S. 94—97. 111 Ebd., II, S. 510. 112 Ebd., II, S. 470. Ebd., I, S. 264. 114 Ebd., II, S. 448. 115 Ebd., II, S. 453. Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung. 1955, S. 168. K. Laßwitz: Auf zwei Planeten, I, S. 98. Ebd., I, S. 144 ff. Z. B. ebd., I, S. 217 u. II, S. 544. — Die Steigerung des tabuierten Sexualverkehrs durch Spiritualisierung findet sich schon in Gregory Lewis’ Schauerroman The Monk, 1796 (mehrere Übers, ins Dte.), wo die Andacht des schurkischen Mön­ ches vor einem Marienbild zum Anlaß blasphemischer Sexualphantasien wird.

der penetranten idealistischen Ethik und philosophischen Gelehrsamkeit vor allem aus den mittleren und gehobenen Schichten des Bürgertums120. Sein Stil wie sein persönlicher literarischer Geschmack entsprachen in idealer Weise der Verfassung eines Publikums, das sich selbst sein Bedürfnis nach atavistischer und sensationeller Lektüre nur in Verbindung mit humanisti­ schen und ethischen Inhalten erlaubte. Eigentlich lese ich am liebsten zweierlei, Indianergeschichten und Goethe. Bei ande­ rer Lektüre muß man sich zu sehr anstrengen. Indianergeschichten sind vollständig anspruchslos und Goethe befriedigt alle Ansprüche; bei diesen guten Dingen braucht man sich nicht mit Kritik zu quälen, man kann sich bei dem, was über alle Kritik erhaben und unter aller Kritik naiv ist, gleichsam erholen121.

Darwins The Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (1859) und — darauf aufbauend — Haeckels Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868) und Die Welträtsel (1899) waren nicht nur diejenigen naturwissenschaftlichen Werke, welchen als ersten — oder doch am überzeugendsten — der Durch­ bruch zur Massenliteratur gelang122 und die ihrerseits wieder eine Flut von oft recht auflagestarken populär-darwinistischen Schriften evozierten, ihre Inhalte wurden (in einem weiteren Schritt der Popularisierung) zum „ardiimedischen Prinzip“123 der Science Fiction, die sich als Massenliteratur ge­ rade im Status nascendi befand. So gibt es kaum eine Variante des Evolu­ 120 Ein Indiz dafür ist — neben den zahlreichen zeitgenössischen Rezensionen —, daß man heutzutage seine Bücher kaum in zerlesenen Leihbuchexemplaren er­ hält, wie dies bei den meisten Science-Fiction-Autoren sonst der Fall ist, son­ dern in „gediegenen“ Ausgaben im Antiquariatsbuchhandel. Daß Laßwitz’ Wer­ ke in den Kanon der positiv sanktionierten und per Geschenk oktroyierten Jugendliteratur aufgenommen waren, schließe ich auch aus der Beobachtung, daß acht der elf von mir eingesehenen Exemplare des Romans Auf zwei Plane­ ten die Schenkungswidmungen von Eltern, Großeltern, Onkeln und Tanten tru­ gen. Wahrscheinlich wurde Laßwitz von der zeitgenössischen deutschen Litera­ turpädagogik als Gegenmittel zur Science Fiction in der Kolportage und der­ jenigen ausländischer Autoren propagiert. (Zu Verne vgl. S. 63 Anm. 43 dieser Arbeit.) „Ein Mars-Roman, wie er sein soll, vollkommen fast in jeder Richtung, künstlerisch wie wissenschaftlich, ist Laßwitz* Auf zwei Planeten.“ — „Nicht Wells sollte mehr in Deutschland, sondern Laßwitz mehr in England gelesen werden.“ (M. Popp: Julius Verne, S. 202 u. 186.) 121 Laßwitz über Laßwitz, in: Thomas Achelis: Kurd Laßwitz. Ein Dichter-Philo­ soph der Gegenwart. Westermanns Monatshefte, Juni 1905, 49. Jg., S. 334 bis 338, S. 337; zit. n. F. Rottensteiner: Kurd Laßwitz, S. 41. 122 Vgl. hierzu F. Bolle: Darwinismus, bes. S. 239 u. 257; G. Müller-Schwefe: Dar­ win and the poets. 1966, S. 103 f. 123 Ebd., S. 104.

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tionismus, die nicht zur Grundlage von Romanen oder Erzählungen gewor­ den wäre. Gemeinsam ist diesen belletristischen Umsetzungen — wie den populären Spielarten des Darwinismus selbst, auf die sie zurückgehen — die platte Übertragung des Evolutionsprinzips auf die menschliche Gesellschaft sowie die Überlagerung und Indienstnahme der Naturtheorie durch irrationale Wertvorstellungen, die schließlich zur metaphysisch-biologischen Heilslehre des Sozialdarwinismus führten. Zwar schienen der anfängliche Haeckelsche Natur-Sozialismus124 und die spätere national-gefärbte Naturmystik eines Bölsche oder Laßwitz zunächst durch aufklärerisch-antiklerikale oder bürgerlich-humanistische Sperren vor dem direkten Umschlag in den präfaschistischen Rassismus gesichert zu sein. Aber sie hatten doch mit diesem von vornherein die Biologisierung gesell­ schaftlich-ökonomischer Sachverhalte und die Ideologisierung naturwissen­ schaftlich-biologischer Tatbestände durch metaphysische Werte oder „sitt­ liche“ Ideale gemein, deren Zielrichtung die Naturalisierung, Entpolitisie­ rung und Konservierung eben der gesellschaftlichen Normen waren, aus denen sie durch Hypostasierung gewonnen worden waren. Diese irrationale, aber finale Besetzung der Evolutionstheorie brauchte lediglich etwas eindeu­ tiger, konsequenter akzentuiert zu werden, um sich als nationaler, rassisti­ scher Sozialaristokratismus zu verdeutlichen. — Haeckel selbst tat diesen Schritt schon 1878 in der Auseinandersetzung mit Virchows Vorwürfen, er, Haeckel, betreibe mit seiner Theorie die Geschäfte des Sozialismus125: Der Darwinismus ist alles andere eher als sozialistisch! Will man dieser englischen Theorie eine bestimmte Tendenz beimessen, so kann diese Tendenz nur eine aristo­ kratische sein und am wenigsten eine sozialistische. Die Selektionstheorie lehrt, daß im Menschenleben wie im Tier- und Pflanzenleben überall und jederzeit nur eine kleine bevorzugte Minderzahl existieren und blühen kann; während die übergroße Mehrzahl darbt und mehr oder minder frühzeitig elend zugrunde geht [...]. [...] diese unaufhörliche und unerbittliche Konkurrenz alles Lebendigen ist eine unleugenbare Tatsache; nur die auserlesene Minderzahl der bevorzugten Tüchtigen ist imstande, diese Konkurrenz glücklich zu bestehen, während die große Mehrzahl der Konkurrenten notwendig elend verderben muß! Man kann diese Tatsache tief beklagen, aber man kann sie weder wegleugnen noch ändern*128.

In Deutschland war es vor allem der Germanistikdozent Alexander Tille, der — unter Zuhilfenahme von Nietzsches Idee des Übermenschen — den 124 Vgl. S. 70 dieser Arbeit. 125 Vgl. ebd. 128 E. Haeckel: Freie Wissenschaft und freie Lehre. In: Ders.: Gemeinverständliche Werke. Leipzig u. Berlin 1924, Bd 5, S. 269 f.; zit. n. F. Bolle: Darwinismus, S. 270.

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Vulgärdarwinismus am wirkungsvollsten mit den Interessen des Kapitals verband127. In dieser zynisch-barbarischen Herrenreiter-Ideologie waren die Ausgebeuteten und Unterdrückten nicht mehr nur (wie in der säkularisiert­ protestantischen Erfolgsethik) moralisch, sondern auch biologisch minder­ wertig, „zum Tier herabgesunkene Menschen“, und damit lebensunwert128. Der Unternehmer des liberalen Manchestertums aber avancierte in Tilles Theorie zum Stellvertreter und Geschäftsführer der ehernen Naturgesetze. Die so Geadelten lohnten ihrerseits Tilles Verdienste um sie dadurch, daß sie ihn zum stellvertretenden Geschäftsführer und Syndikus mehrerer Indu­ striellenverbände kürten129. Alfred Friedrich Krupp finanzierte mit einem ersten Preis von 50 000 Goldmark ein Preisausschreiben, dessen Thema Haeckel formulierte: „Was lernen wir aus den Prinzipien der Deszendenz­ theorie in bezug auf die innerpolitische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten?“130 Die prämiierte Arbeit des Mediziners Wilhelm Schallmeyer beantwortete diese Frage für den kapitalistischen Imperialismus im allge­ meinen und den Rüstungsindustriellen im besonderen zufriedenstellend: Alle kulturellen Errungenschaften, alle gesellschaftlichen Einrichtungen, besonders die durch Sitte und Recht geschaffene sexuelle Ordnung einschließlich der Familien­ ordnung, die Eigentum- und Wirtschaftsordnung, die politische Organisation, die religiösen Einrichtungen, die geltenden Anschauungen über Gut und Böse oder Gut und Schlecht, die Verbreitung und Tiefe der sittlichen Bildung, der Stand der Wis­ senschaften und das Maß ihrer Popularität, die Entwicklung der Technik, die Rechts­ pflege usw. müssen unter den Gesichtspunkt der Daseinskonkurrenz der Stämme, Völker und Staaten gestellt werden131.

Wenn auch die deutsche Science Fiction die erste Phase der Popularisie­ rung des faschistischen Sozialdarwinismus zwischen 1890 und 1918 noch weitgehend theoretischen Pamphleten überließ und erst nach dem ersten Weltkrieg zu seiner Propagierung diente132, so finden sich doch schon in der Wilhelminischen Ära einzelne Autoren, die sich an der antisozialistischen [Alexander Tille:] Volksdienst. 1895. Ders.: Qstlondon als Nationalheilanstalt. In: Zukunft, 5 (1893), S. 268. H. Conrad-Martius: Utopien der Menschenzüchtung. 1955, S. 214. Ebd., S. 74. W. Schallmeyer: Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker. 1900. Zit. n. d. 3. Aufl. 1918, S. 321. — Zur Geschichte des Sozialdarwinismus vgl. H. Conrad-Martius: Utopien der Menschenzüchtung. Obwohl die Autorin neoscho­ lastisch-katholisch (und beispielsweise direkt mit Korintherbriefen — S. 188) ar­ gumentiert, ist ihre Darstellung noch immer unentbehrlich. 132 Eine Art „two-step flow“, der für die Science Fiction allgemein, die wie kein anderes Genre auf ihre avantgardistische wissenschaftliche Aktualität pocht, be­ zeichnend und entlarvend ist.

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Front, zu der sich die Science Fiction mittlerweile formiert hatte, mit so­ zialdarwinistischen Mitteln schlugen. In Hans Ludwig Roseggers Zukunftsroman Der Golfstrom133 droht Europa und besonders Deutschland gleich mehrfach Gefahr. Nicht nur, daß die Amerikaner den Lauf des Golfstroms umlenken und damit Europa in eine „neue Eiszeit“ stürzen wollen, [. . .] noch vor einer zweiten, nicht minder drohenden Gefahr bebte Europa, vor einer sozialen, dem sozialdemokratischen Umsturz. In allen Ländern suchten die vorzüglich organisierten Arbeiterparteien, die den Kommunismus oder den Kollek­ tivismus an die Stelle des Kapitals setzen wollten, die bestehende ökonomische und gesellschaftliche Ordnung zu stürzen [...]. Das Proletariat gewann allerorts an gewichtigem Einfluß, die Staaten demokratisier­ ten sich, wurden dadurch schwerfälliger und zerfahrener . . . Dazu machte die Frauenemanzipation unablässige Fortschritte [...] Der von der Natur bestimmte Gegensatz zwischen Mann und Frau, der, so alt wie das Menschengeschlecht selbst, nur durch die Liebe verkleistert werden kann, vertiefte sich und wirkte ungünstig auf das Familienleben ein134. Der Überschwang in der Lebenshaltung auch der breiten Massen des Volkes erreichte einen besorgniserregenden Grad, die Verweichlichung demoralisierte die Menschen M135*Ein besonders schmerzliches Symptom des allgemeinen Verfalls war die Rassen­ verschlechterung Europas. Da die Industrie eine Unsumme von Kräften benötigte, um die gröbsten und beschwerlichsten Arbeiten auszuführen, [...] zog das Groß­ kapital systematisch billigere, rassenfremde Elemente vom Balkan, aus Afrika, und sogar aus China heran, die sich niederließen, ansiedelten, naturalisierten und durch Vermischung mit der ansässigen Bevölkerung die tüchtigen germanischen und roma­ nischen Rassen verdarben138.

Vergebens appelliert in dieser prekären Situation Kaiser Wilhelm II. an den amerikanischen Präsidenten: Herr Präsident, auch in Ihren Adern und in den Adern von Millionen amerikani­ scher Bürger fließt deutsches Blut. Blut ist dicker als Wasser. Seien Sie eingedenk der hohen Kulturmission, die das Germanentum zum Heil der Welt zu erfüllen hat, strafen Sie das Wort des Genies: ,Am germanischen Wesen wird die Welt genesen', nicht Lüge und lassen Sie von dem unheilschwangeren Beginnen ab, das uns in den [!] Chaos und die Wildheit zurückschleudern kann137.

Aber Amerika ist von seinem Vorhaben nicht abzubringen. Es kommt zur entscheidenden Luft- und Seeschlacht138, bei der Europa aufgrund der Un133 134 137 138

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H. L. Rossegger: Der Golfstrom. 1913. Benutzt wurde die 6.—8. Aufl. Ebd., S. 27 f. 135 Ebd., S. 30. 138 Ebd., S. 31 f. Ebd., S. 70. Bei der Beschreibung des Kriegsgeräts tauchen bereits all jene atavistischen Metaphern der Technik auf, die noch heute zum unentbehrlichen Handwerks-

fähigkeit, Hinterlist oder Feigheit der Verbündeten Deutschlands geschla­ gen wird. Danach „wühlten“ in Deutschland „die Sozialisten des marxisti­ schen Flügels“139, „denen sich der Mob, alles lichtscheue Gesindel“140, kurz, „die untersten Schichten des Proletariats“ anschlossen. Sie proklamierten „großartig den Generalstreik" und „gründeten eine nebelhafte ,Deutsche Republik'“141. Dagegen schickte Preußen seine verläßlichsten ostelbischen Musketiere, [. . .] und auf der Wallstatt des dreitägigen Kampfes lag erschlagen die [...] ,Deutsche Republik' samt allen überschwenglichen Hoffnungen der marxistischen Himmelstürmer und etlicher bebrillter Kathedersozialisten [...] Das Proletarierheer, das davon ge­ träumt hatte, die Welt zu regieren, zerstob in alle Winde und die monarchische Idee, das Symbol von Zucht und Ordnung, ging aus der Krisis neugestärkt her­ vor142.

Die hereinbrechende neue Eiszeit ergänzt den politischen Reinigungsvor­ gang auf biologisch-sozialdarwinistische Weise: Ein großer bedeutungsvoller Ausleseprozeß bereitete sich vor. Die Stärkeren poch­ ten auf ihre Kraft, aus der sie für sich Sonderrechte ableiteten, und gingen daran, die Schwächeren und Schlechteren zu versklaven, wenn notwendig, sogar auszu­ tilgen143.

Die Eiszeit rettete uns vor dem Verfaulen und unser Volk wurde wieder enthalt­ sam, stark, bescheiden, arbeitsfreudig, es gesundete144.

Nicht nur „Mammuts waren plötzlich [wieder] da“145: Die Einheimischen und Fremden, welche in den Straßen Berlins standen [...], unter­ schieden sich beträchtlich von dem Mob, der seinerzeit bei ähnlichen Gelegenheiten zusammenströmte. Hochgewachsene, blonde blauäugige Gestalten bildeten Spalier [. . .] Verschwunden waren die Rassenschädlinge, [. . .] die Kleinen, Gedrungenen, Untersetzten, die Schwarzhaarigen mit platten Nasen, die Dunkeläugigen mit den mongolischen Backenknochen und die Verunstalteten, deren körperliche Häßlichkeit der Ausdruck ihrer geistigen Beschaffenheit war — die Eiszeit rottete sie aus, trieb sie dahin, wo es sich bequem leben ließ, nach Afrika, nach Amerika. Und übrig blieb das Germanische, das nun, befreit von keltischen, mittelländischen und orien­ talischen Parasiten, aufatmete146.

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zeug der konservativen Kulturkritik gehören: „Soweit das Auge schweifte, nichts als gepanzerte Giganten, mit unheimlichen Riesengeschützen bestückt, mit den fadigen Spinnenfingern der drahtlosen Telegraphie“ (S. 77); „Wie die Aero­ plane gleich Drachen kämpften“ (S. 102); „Den Abschluß der Revue bildeten die Schiffsmonstra, die stählernen Mastodons, [. . .] undurchdringlich gewapp­ nete, grünliche Schildkröten“ (S. 19). 141 Ebd., S. 115. 146 Ebd., S. 112. Ebd., S. 115. 143 Ebd., S. 130 f. 144 Ebd., S. 149. Ebd., S. 115 f. 146 Ebd., S. 150. Ebd., S. 139.

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In Amerika dagegen reißen eben jene Zustände ein, die zuvor in Europa herrschten. Der „Häuptling“ des Proletariats, der „Sohn eines Chinesen und einer Mexikanerin“, wiegelt den Mob mit einem „Elaborat sozialdemo­ kratisch-anarchistisch-nihilistischer Phrasen“ „gegen das Privateigentum“ auf; „Tom-Tom, ein sechs Fuß hoher, im Boxen geübter Halunke, predigte in einem mangelhaften Englisch die Überlegenheit der Schwarzen über die Weißen“147 und „eine üble Rassenmischung verdarb das Volk“148. In Deutschland, das zum rassistischen Bürgerparadies geworden ist, lehnt man nun eine Wiederherstellung des ursprünglichen Laufs des Golfstroms ab: Die Todesahnungen retteten uns, das Entsetzen vor dem nahen Ende reinigte uns von Schlacken, von Fehlern und Gebrechen, wir steiften den Nacken und sind heute [...] stärker und gesünder und besser als unsere Vorfahren vor einem halben Jahr­ hundert waren149. Wir verzichten freiwillig auf Wunderbares, um Wunderbareres zu bewahren. [...] Wir verachten das gefährliche Glück eines milden Klimas, um unser Volk dadurch für immer unüberwindlich zu machen150. Europa, du einziges! Heimat! Wache über deinem Glück und verscherze es nicht! Jage nicht nach Trugbildern! Herrliche, göttliche, wunderwirkende Eiszeit — sei gesegnet151.

Während sich der späte Jules Verne auf die angsthafte Besetzung der Technik konzentriert hatte, weiteten andere Science-Fiction-Autoren sie auch auf naturwissenschaftliche, vor allem astronomische und evolutioni­ stische Theorien aus. Die Untergangsstimmung, das „Fin-de-si£cle“-Gefühl, war nicht allein Ausdruck der Funktionslosigkeit und der „daraus wiederum folgendefn] Bereitschaft zur Selbstproblematisierung bei den nichtarbeitenden Angehöri­ gen der Oberschicht“152, obwohl einige Autoren derartiger Werke dieser Gruppe angehören. Die Weltuntergangsliteratur entsprach — den Auflage­ höhen und der Menge der Titel nach zu schließen — auch den Bedürfnissen breiterer Leser schichten. Diese Variante der Science Fiction ist vermutlich ein Indiz für ein allgemeineres Angstsyndrom der bürgerlichen Gesellschaft 147 148 149 150 151 152

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Alle Zitate ebd., S. 155. Ebd., S. 156. Ebd., S. 147. Ebd., S. 168. Ebd., S. 169. W. Schoene: Zwr Frühgeschichte der Angst. S. 119. Dort auch weiterführende Literatur. Vgl. auch S. 60 Anm. 27 dieser Arbeit. Zu den individualpsychologi­ schen Aspekten der Angst vgl. M. Bálint: Angstlust und Regression. 1960.

um die Jahrhundertwende, bei dessen Entstehung von oben her manipu­ lierte Einflüsse und objektive gesellschaftliche Tatbestände als Auslöser zu­ sammenwirkten. Die im Zusammenhang mit Jules Verne angedeuteten not­ wendigen Agenzien der Angst sollen hier präzisiert und ergänzt werden, um einer möglichst zureichenden Erklärung für die Entstehung dieses Angst­ aggregats nahezukommen. Der äußeren Durchrationalisierung der Gesellschaft nach scheinbar lo­ gisch-autonomen ökonomischen Gesetzen stand (und steht) durch die gleich­ zeitig wachsende Komplexität und Interdependenz eine vom Einzelnen psy­ chisch, materiell und politisch erfahrene Undurchschaubarkeit und Irrationa­ lität ihrer Zweckbestimmung im hochentwickelten kapitalistischen System gegenüber. Diese angstproduzierende Bewußtseinslage der Unsicherheit wird verstärkt: 1. durch die Beibehaltung des phrasenhaften Postulats individuellen, selbst­ bestimmenden Handelns; 2. durch das aktive Herrschaftsinteresse der als „Staat“ auftretenden Macht­ gruppen an der Beibehaltung dieses Zustands und die absichtliche „Pro­ duktion“ von Undurchschaubarkeit; 3. durch die Ausdehnung der materiellen und Statushaften Deprivation in der Konzentrationsphase des Hochkapitalismus auf bürgerliche Schich­ ten, die sich bisher noch als Nutznießer des politischen und ökonomischen Systems gesehen hatten; 4. durch die Furcht vor der totalen Deprivation durch einen innenpolitischen Umsturz von unten (angesichts der wachsenden sozialistischen Arbeiter­ bewegung) und — außenpolitisch — vor dem Zusammenbruch des durch nationale Rivalitäten der Ausbeuter verunsicherten Kolonialsystems; 5. die hieraus resultierenden Ängste wurden noch intensiviert durch atavi­ stisch-regressive Sehnsüchte, die sich in einer schuldhaften, „deutlich no­ stalgisch gefärbten Ambivalenz“153 des Verhältnisses zu den (gleichzeitig ausgebeuteten) ethnisch und sozialen „Primitiven“ und in Strafphanta­ sien manifestierten; 6. durch die Erschöpfung der äußeren geographischen Expansionsräume; 7. durch die Erschöpfung der inneren, binnengesellschaftlichen Expansions­ felder durch die dichte Besetzung der sozialen Positionen und die Verfe­ stigung des Positionssystems154, also durch die Erhöhung des sozialen 153 W. Schoene: Zwr Frühgeschichte der Angst, S. 126. 154 Vgl. hierzu: D. Claessens: Über gesellschaftlichen Druck, Angst und Furcht. Bes. S. 145 f.

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Drucks von außen und innen bei gleichzeitiger Beibehaltung der bisheri­ gen sozial-, ökonomisch- und militärisch-aggressiven Verhaltensideale155*; 8. durch die Konfrontation der angsthaften Gefühle der Unsicherheit und Machtlosigkeit mit ausgeprägt zukunftsgerichteten Theorien wie der der Evolution158; 9. durch das profitorientierte Interesse der inzwischen konsolidierten Massen­ presse an der dauerhaften Verstärkung psychopathisch fixierter Bedürfnis­ se nach „sensationellen“ Themen. Die Versuche der Angstabfuhr und der Angstgewöhnung im Bereich der Science Fiction eint die einhellige antisozialistische Argumentation, das Plä­ doyer für eine aristokratische Untergangsbereitschaft (die durch die „litera­ rische Gerechtigkeit“ der Populärliteratur schmackhaft gemacht wird) und die Projektion der Verursachung des Untergangs auf autonom-anonyme Mächte. Nicht nur die Kometenfurcht, die seit dem 18. Jahrhundert überwunden zu sein schien157, bekam eine neue, astronomisch-säkularisierte Aktualität; alle nur erdenklichen Weltuntergänge — vom Sturz der Erde in die Sonne bis zum evolutionistischen „Artentod“ der Menschheit — wurden aufgebo­ ten und anschaulich illustriert158. Die Thematik blieb weder auf die Science Fiction beschränkt, noch ging sie allein von ihr aus. Wilhelm Bölsche bei­ spielsweise, der fixe und geschäftstüchtige Praeceptor naturwissenschaftli­ cher „Volksaufklärung“ in Deutschland159, nahm die günstige Marktlage 155 W. Schoene: Zwr Frühgeschichte der Angst, S. 129. 158 „Wenn der Mensch an der Zukunft stark interessiert ist, versucht er, sie mit Hilfe seiner Phantasie desto mehr zu bemühen oder ihr freien Lauf zu lassen, je weniger sicher er sich angesichts der Zukunft fühlt.“ H. Flohr: Angst und Poli­ tik, S. 44. 157 Vgl. hierzu R. Schenda: Die deutschen Prodigiensammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts. 158 Hier nur einige Beispiele: V. Chiavacci: Der Weltuntergang. 1897; Max Haus­ hofer: Planetenfeuer. 1899; ders.: An des Daseins Grenzen. 1908; Herbert Ge­ orge Wells: Im Jahre des Kometen. (1906, dt.); Meggendorfer Blätter, Spezialnr. 1010 v. 3. 5. 1910: Weltuntergang; im selben Jahr eine österliche Extranummer Weltuntergang des Kladderadatsch. Ein Höhepunkt symbolischer Entmündigung und Entfremdung findet sich in Edmund Boisgilberts [Ignatius Donnelly] Welt­ untergang. 1893: die der kosmischen Bedrohung folgende politische Umwäl­ zung wird von Saturn her gelenkt! 159 Bölsches Hausverlag („Kosmos“, Stuttgart) verleiht — in Erinnerung an seinen erfolgreichsten und fruchtbarsten Autor — jährlich eine „Wilhelm-Bölsche-Medaille“ für besondere schriftstellerische Leistungen auf dem Gebiet des populä­ ren naturwissenschaftlichen Sachbuchs. (Bölsches Kosmosbändchen — ab 1904 — erreichten Millionenauflagen.)

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zum Anlaß einer vorgeblich kritischen Abhandlung180, die den Boom er­ neut anheizte und dem Thema neue Dimensionen eröffnete. Die Kritik diente lediglich der Abwehr unliebsamer Konkurrenz durch die Massen­ presse und der Beweisführung, daß nur Autoren wie er befugt und fähig waren, das Geschäft mit der Angst zu machen: Es giebt, wenn ich schon einmal träumen soll [sic!], für mich zwei Wege, wie der Menschengeist jene drohenden Zukunftsereignisse des Planetensystems überstehen könnte, ja sie geradezu als neue Entwicklungsanstöße in sich aufnehmen könnte. Der Menschengeist könnte sich in jenen Jahrbillionen soweit entwickelt haben, daß Raumentfernungen für ihn gleichgültig werden. Gerade die nahende Verlangsa­ mung der Erdbewegung und gleichzeitige Erkaltung der Sonne könnten dann der Anstoß für ihn werden, sich mit einer unendlich vervollkommneten Technik in die Planetenräume hinauszuwagen. Die gesondert entwickelte Intelligenz der verschie­ denen Planeten könnte sich vereinigen und schließlich würde ein Verlassen des sin­ kenden Schiffs dieses alten Planetensystems zur That. Mit Lichtesschnelligkeit auf wunderbaren Apparaten reisend, eilten die ,Menschen“ fernen, glücklicheren Syste­ men zu, — vielleicht jenem roten Doppelstern im Sternbild des Kentauren, der nur vier Billionen Meilen von uns entfernt ist. [. . .] Es giebt aber noch eine andere Lösung [...]. Das äußere Bild der Menschheit könnte eines Tages wirklich wieder hinweggelöscht werden. Die Erde rollte in die Sonne, ein neuer Gasball bildete sich. Aber in seiner Entwicklung zeigten sich wunderbare Fügungen. Die Materie, Billionen von Jahren durch menschliche Gehirne gewandert, in Billionen von Generationen denkender Wesen, hätte sich im tiefsten Grunde ver­ ändert. [. . .] Durch eine Art Welt-Vererbung wären gewisse Dinge von Anfang an dieser ganzen Neu-Welt leichter gemacht und so die Entwicklungskette ansteigend doch gerettet. [•■-] Die äußere Form der Menschheit könnte dabei im Augenblick, da diese innere Um­ formung der Materie ausreichend stattgefunden hätte, ruhig in irgendeinem SonnenHochofen verschwinden wie die Leiche eines großen Einzelmenschen, den die Lei­ chenverbrennung rasch wieder verzehrt. Und doch wäre die große Entwicklungs­ kette gerettet. Eine neue Entwicklungskette würde entstehen, die aber auf einer ganz neuen Grundlage stände. In ihrem „Naturgesetz“ wäre gewissermaßen etwas neu, etwas höher160 161.

Der Psychoanalytiker und Kultursoziologe Gershon Legman kam in einer brillanten Studie über die amerikanische Science Fiction späterer Jahrzehnte zu dem Fazit: 160 W. Bölsche: Wenn der Komet kommt! In: Ders.: Vom Bazillus zum Affenmen­ schen. 1900, S. 44: „In unseren Zeitungen von heute spielt der ,Weltuntergang“ eine Art fester Rolle. Er erscheint neben der Seeschlange. Die Seeschlange tum­ melt sich im Sommer, wenn die Dampfer über den Ozean schnaufen. Der Welt­ untergang füllt die Spalten, wenn in der Frostnacht des November die Stern­ schnuppen fallen.“ 161 Ebd., S. 85—87.

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Nach menschlichem Empfinden — und was sonst gibt es für uns? — ist das schreck­ lichste an der ganzen Sache die offenkundige Ungeduld und die Gier danach, hin­ auszufahren und die Dinge dort zu zerstören, anstatt hierzubleiben und sie hier in Ordnung zu bringen. [...] Diese tiefe und ambivalente Bereitwilligkeit, die Welt in Flammen aufgehen zu sehen und sich selbst mit ihr [.. .]182.

Diese Feststellung muß bereits für die europäische Science Fiction und die naturwissenschaftliche Populärliteratur der Jahrhundertwende getroffen werden. 1902 erschien im „Allgemeinen Verein für Deutsche Literatur“ ein popu­ lär-astronomisches Werk, das ausschließlich „irdische und kosmische Kata­ strophen“, „das Leben auf den Weltenkörpern und sein normales Ende“183 zum Inhalt hatte. Hier sind, dank der ungewollten Naivität des Autors, die gesellschaftlichen Motivationen der Angst, aber auch deren Einsatz für die staatserhaltende politische Apathie und wehrertüchtigende Untergangsbe­ reitschaft prägnant zusammengefaßt: Wie oft sagen wir es uns in den Wirren unserer Zeit, daß der Aufbau unserer menschlichen Weltordnung so gründlich verfahren worden ist, daß ein Neubau [...] leichter und vorteilhafter zu bewerkstelligen sei, als die beständig notwendig wer­ denden Reparaturen und Ergänzungsbauten an dem alten, so vielfach morschen Ge­ bäude des Menschheitsstrebens. [. . .] Unsinnig und verderblich für alle, insbesondere für die Anstifter sind die mensch­ lichen Revolutionen, denn Menschen gegen Menschen kämpfen diesen Kampf nie­ mals aus. Wenn aber einmal aus den Tiefen des Weltgebäudes ein fürchterliches Machtwort erschallen würde184? Einem kleinen Häuflein Menschen gehört dann die in Trümmer gelegte Welt [...]. Aber die neue Menschheit beginnt ihre Kulturarbeit auf einer höheren Stufe [...]. Das Geschlecht, das aus diesem Weltuntergang hervorblüht, wird übermenschlich, und der Tod von Millionen wird nicht umsonst gewesen sein185. vielleicht sind wir es mit unseren Lieben, die auserwählt wurden, der allgemeinen Vernichtung zu entgehen und Besitz zu ergreifen von der neu aufstrebenden Erden­ natur nach diesen weltzertrümmernden Stürmen188. In der Natur ist nichts Zweckloses, denn das Bessere wird überall siegreich sein und das weniger Gute verdrängen [...]. Es gäbe keinen Tod, wenn er nicht nützlich wäre; ja, da er so allgemein ist, muß er zu den nützlichsten Dingen gehören187.

Die Science Fiction, die sich (gegenüber anderen Formen der Massenlite­ ratur), als pervertiertes Erbe der Utopie, die direkte politische Indoktrina­ tion zugunsten der bürgerlichen Reaktion bewahrt hat, liefert dazu den 182 G. Legman: Folk literature and folklore. With a few words on science-fiction 1964, S. 313—331. Zit. n. d. dt. Übers, in Nibelungen, Nr. 5, S. 340 f. 183 M. W. Meyer: Der Untergang der Erde. 1902 (Inhaltsverzeichnis). 184 Ebd., S. 184. 183 Ebd., S. 98. 188 Ebd., S. 184. 187 Ebd., S. 4.

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unmißverständlichen Klartext. In einem Katastrophenroman des Professors der Nationalökonomie, Max Haushofer, heißt es: Was nützt es, von einer politischen Gleichwertigkeit der Menschen auszugehen, wenn man weiß, daß sie nicht vorhanden ist168? Geschichte setzt Ausnahmemenschen und Ausnahmezustände, Rücksichtslosigkeiten und Vergewaltigung voraus. Sonst ist nur Versumpfung denkbar189. Ob, wenn irgend welche ungeheure Ereignisse auf die Menschheit einstürmen, nicht durch sie eine großartige Erneuerung unserer besten Eigenschaften, ein Aufflammen herrlichsten Heldentums herbeigeführt wird [.. .]170? Und ich denke, wenn die Trümmer aller Planeten auf uns herunterprasseln sollten, wird es immer noch furchtlose Männer geben, die mit uns rufen: Es lebe Deutsch­ land und seine Zukunft171!

Am konsequentesten und folgenreichsten setzte Herbert George Wells die Evolutionstheorie für die Zwecke der Katastrophen- und Schauerliteratur ein. Seine frühen Erzählungen „can be considered as the most effective mo­ dern equivalents of the old Tales of Terror“172. Wells setzte mit diesen Er­ zählungen der Science Fiction nicht nur einen Standard an literarischer und psychologisch-motivierender Perfektion, wie er nach ihm nur noch verein­ zelt erreicht wurde173174 *. Mit der Zeitmaschine™ etwa, dem Menschenexpe­ 175 rimentator Dr. Moreau™, der Invasion blutsaugender, schleimiger, geifern­ der, pulsierender und tentakelbewehrter Marswesen178, ihren riesigen robo­ terhaften, Todesstrahlen aussendenden Kampfmaschinen und diversen hy­ pertrophen Tier- und Pflanzenformen, die die Menschheit bedrohen177, lie188 M. Haushofer: Planetenfeuer, S. 176. 189 Ebd., S. 29. 179 Ebd., S. 47. 171 Ebd., S. 186. 172 R. Gerber: Utopian fantasy. 1955, S. 37. — Zu Wells vgl. auch B. Bergonzi: The early H. G. Wells. 1961, u. M. R. Hillegas: The future as nightmare. 1967. 173 Wells war ein Gruselspezialist, der selbst aus der Stille noch etwas machte: „The silence came like a thunderclap.“ In: The war of the worlds. New York 1953, Pocket Book 947, S. 166. 174 Die Zeitmaschine. 1902. 175 Dr. Moreaus Insel. 1908. 178 Der Krieg der Welten. 2. Aufl. 1917. In der dtn. Übers, werden diese Szenen nur unzureichend wiedergegeben: „the lipless brim of which quivered and pant­ ed and dropped saliva [...]. The whole creature heaved and pulsated convul­ sively. [. . .] the Gorgon groups of tentacles [...], the extraordinary intensity of the immense eyes — were at once vital, intense, inhuman [...]. There was something fungoid in the oily brown skin.“ Zit. n. der Pocket-Book-Ausg., a.a.O., S. 16 f. 177 Vor allem in kürzeren Erzählungen wie The empire of the ants (1905), The flowering of the strange orchid, The Avu observatory (1903), The sea riders (1896) oder The valley of spiders (1903). Teilweise finden sich diese Erzählun­ gen in den ins Dt. übersetzten Anthologien Der gestohlene Bazillus und andere Geschichten. 1909 u. Der Apfel vom Baum der Erkenntnis. 1930.

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ferte Wells der Science Fiction aktuelle pseudowissenschaftliche Motivatio­ nen und neue „archetypische“ Topoi des Schreckens, auf die das Genre bis heute angewiesen ist. Wells had great impact on the lower reaches of science fiction, beginning with the first issues of Hugo Gernsback’s Amazing in 1926. For years pulp writers, at first interested in adventure and sensational effects, took ideas from Wells178.

Diese an sich zutreffende Beobachtung (sieht man einmal von der unan­ gemessenen, aber üblichen angloamerikanischen Zentrovertiertheit ab) wird aber in den apologetischen Interpretationen der Science Fiction dazu be­ nützt, mit Wells eine „superior science fiction“179 zu installieren und diese dann als einzig repräsentative und „eigentliche“ Form der Science Fiction auszugeben. Glaubt die pädagogische Literaturkritik, die Problematik der Science Fiction auf die Frage der Realisierbarkeit der naturwissenschaftlich­ technischen Hypothesen reduzieren zu können180, so erfolgt hier die Re­ duktion auf literarisch-stilistische Aspekte. Hinzu kommt die ganz offen­ sichtliche Verdrängung der quantitativen Mehrheit der Science-Fiction-Produkte als Untersuchungsgegenstand: „It is this superior science fiction with which this book is concerned and which at the moment we are trying to de­ fine.“181 Die Definitionen der Science Fiction, die in derartigen Untersuchungen geliefert werden, sind aufgrund der apologetischen Intention so formal, daß sie — um nicht mit der Realität in Konflikt zu geraten — keines der qualitativen Unterscheidungsmerkmale liefern, von denen die Autoren vor­ geblich ausgehen: Science fiction is that class of prose narrative treating of a situation that could not arise in the world we know, but which is hypothesised on the basis of some innova­ tion in science or technology or pseudo-science or pseudo-technology, whether human or extraterrestrial in origin182.

Wie wenig etwa ernsthafte sozialkritische Absichten, die für Kingsley Amis das Qualitätskriterium der Science Fiction sind183, sich mit den priM. R. Hillegas: The future as nightmare, S. 12. Ebd., S. 7. Vgl. S. 54 f. dieser Arbeit. R. M. Hillegas: The future nightmare, S. 7. Ähnlich verfahren R. Gerber: Uto­ pian fantasy, M. Schwonke: Vom Staatsroman, K. Amis: New maps of hell. 1960 u. v. a. 182 K. Amis: New maps of hell, S. 14. 183 Bezeichnenderweise trägt schon die Umschlagseite der Taschenbuchausgabe von New maps of hell das Motto: „The book that made science ficition grow up“,

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mären Zwecken dieser Gattung, nämlich der reaktionären politischen In­ doktrination im Gewand sensationell-modernistischer Unterhaltung, verein­ baren lassen, wird gerade an Wells, dem Kronzeugen solcher Argumenta­ tion, deutlich. In The war of the worlds, in The time machine und in man­ chen anderen seiner populären frühen Erzählungen finden sich zweifellos Ansätze zu einer Kritik des Kolonialismus oder des Kapitalismus. Daß sie nicht zum Tragen kamen, lag nicht allein an Wells’ „fabianistischem“, eli­ tärem „Sozialismus“*184. Gerade die stilistische Brillanz, seine Vorliebe für handfest-sinnträchtige und sensationelle Metaphern185, die in bester Tra­ dition der Populärliteratur stehenden Scheinlösungen der Konflikte erlaub­ ten und förderten den völlig unkritischen Konsum seiner Erzählungen, bo­ ten die bloße Faszination des Schreckens an. Angesichts der evolutionisti­ schen Schlußapothese in The time machine (Spekulationen über den zukünf­ tigen Untergang des Sonnensystems und die prähistorischen Epochen der Erdgeschichte) wird jede partielle Gegenwartskritik belanglos und jeder Ge­ danke an eine emanzipatorische politische Aktivität der Unsinnigkeit und Lächerlichkeit preisgegeben. Ob Wells mit solchen Werken überhaupt jemals mehr als dieses im Sinn hatte, kann bezweifelt werden, trotz der Interpre­ tationskünste feinsinniger Philologen der leisure dass, für die „Kunstgenuß“ mit einer gewissen delectatio morbosa identisch ist. Jedenfalls scheinen die skrupellosen Plagiatoren der Science-Fiction-Branche den frühen Wells hier besser verstanden zu haben; denn, nachdem er sich durch seine Schauer­ geschichten finanziell saniert hatte, hielt Wells mit der Selbsteinschätzung solcher Produkte nicht mehr hinter dem Berg: Der erfahrene Leser wird erkennen, daß dieses Buch zu einer fließenden Erzählung geworden wäre, wenn ich gewisse spekulative und metaphysische Stoffe fortgelas­ sen, die Geschehnisse aber breiter ausgemalt hätte. Aber gerade auf jene Stoffe wollte ich diesmal [sic!] nicht verzichten. Ich sehe nicht ein, warum ich dem gemeinen Ge­ schmack nach bloßen Erzählungen Vorschub leisten sollte186.

und das redaktionelle Vorwort verheißt den Fans ungetrübtes Lesevergnügen: „Ingenuity, inventiveness, and imagination are the qualities that aficionados of this literary form have long admired. Kingsley crystallises their interest — citing the best examples.“ (Der Taschenbuchverlag Ballantine gehört zu den aktivsten Science-Fiction-Produzenten der USA.) 184 Zum Einfluß Alexander Tilles auf Wells vgl. B. Bergonzi: The early Wells, S. 8—12. 185 Etwa die oben zitierten Marsmonstren oder die Arbeiterrasse der „Morlocks“ in The time machine, die als unterirdisch lebende, bösartig-kannibalische Gnomen dargestellt sind. 186 Jenseits des Sirius. 1912. Vorwort S. X.

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1. Auf der Suche nach irrationalen Autoritäten

a) Omnia ad maiorem Dei Gloriam

Zur selben Zeit, als Jules Verne mit Abenteuererzählungen, in denen die Technik und Naturwissenschaften einen breiten Raum einnahmen, die Reli­ gion aber nur „en marge“187 behandelt wurde, eine neue Form der Jugend­ literatur kreierte und als Sozialisten glauben konnten, daß Darwin mit seiner Evolutionstheorie der metaphysischen Naturauffassung den gewaltigsten Stoß versetzt [. . . habe] durch seinen Nachweis, daß die ganze heutige organische Natur [...] und damit auch der Mensch, das Produkt eines durch Millionen Jahre fortgesetzten Entwick­ lungsprozesses [... sei]188.

und so von der Naturtheorie her eine wesentliche Voraussetzung für den „Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“189 geschaffen worden sei — zu diesem Zeitpunkt hatte die christliche Reaktion schon wieder Tritt gefaßt. Für sie galt es, die neueren astronomischen, physikalischen und entwick­ lungstheoretischen Erkenntnisse der Naturwissenschaften wieder unter den Überbau einer übernatürlichen, göttlichen Offenbarung und Zweckbestim­ mung zu bringen. Da dies nicht ohne weiteres möglich war, mußte dabei auf spiritistische und theosophische Spekulationen zurückgegriffen werden, die zwar nicht alle zum offiziellen Glaubenskanon der beiden großen christ­ lichen Kirchen gehörten, deren Tradition aber seit der Spätantike nie ganz abgebrochen war190, und die zudem im Spätmittelalter und der Renaissance noch Ingredienzien der sich aus der Philosophie und Theologie entwickeln­ den Naturwissenschaften gewesen waren. Diese Spekulationen besaßen einen größeren Argumentationsspielraum als die mit den Naturwissenschaften in Konflikt geratene biblische Schöpfungsgeschichte und der paulinische Deis­ mus. So erfolgte die Verteidigung des Christentums für die Neuzeit mit einem Rückgriff auf das Denken des Mittelalters. Für die katholische Kirche markierte die Enzyklika Aeterni Patris Papst Leos XIII. vom 4. August 1879 die Rückkehr zur Scholastik und zum Thomismus. 187 188 189 190

A. Adler: Möblierte Erziehung, S. 84. F. Engels: Die Entwicklung des Sozialismus, MEW, 19, S. 205. Ebd., S. 226. In diese Tradition gehören z. B. Plotin, Picodella Mirándola, Agrippa von Net­ tesheim, Paracelsus, Jakob Böhme, Athanasius Kircher, Emanuel Swedenborg, Friedrich Christoph Oetinger und Gustav Theodor Fechner.

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Die alte wissenschaftliche Tradition lebt wieder auf, und die alten Folianten schüt­ teln den hundertjährigen Staub ab und verjüngen sich in der Berührung mit den Gedanken und Bedürfnissen der neueren Zeit191.

Willkommene Hilfe erhielt die christliche Theologie in dieser Sache von einigen renommierten akademischen Irrläufern, wie Camille Flammarion, Giovanni Virgino Schiaparelli oder Johann Karl Friedrich Zöllner, deren religiöser Glaube mit den — teilweise vorzüglichen — Ergebnissen ihrer eigenen naturwissenschaftlichen Forschungen in Konflikt geraten war und den sie nun mit irrationalen Mitteln auszutragen versuchten. Der katholische Astronom und Spiritist Flammarion unternahm zuerst 1862 mit La pluralité des mondes habités™2 und danach mit einer Viel­ zahl recht auflagenstarker Werke eine Vorwärtsverteidigung des Christen­ tums, wie sie in diesem Ausmaß nach ihm nur noch Teilhard de Chardin lieferte. Noch 1905 besaß Flammarion „den Ruf eines der besten (etwas phantasievollen) populären astronomischen Schriftsteller“193. Die „Entthronung" des persönlichen Gottes und Naturschöpfers und die damit verbundene Entlassung des Menschen aus dem Autoritätsverhältnis zu ihm, als seines liebsten und einzigen Kindes, durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Hypothesen, bog Flammarion zu einem neuen, sensatio­ nellen Gottesbeweis um, bei dem gerade die Spekulationen über mögliches intelligentes Leben auf anderen Planeten und Bruchstücke der Evolutions­ theorie dazu herhalten mußten, ein neues, auf den Menschen bezogenes, göttliches Sanktionssystem zu begründen. Mit den hypothetischen Bewoh­ nern anderer Himmelskörper und den Stadien ihrer physischen und gei­ stigen Entwicklung führte Gott — nach Flammarion — den Menschen lediglich seine potentiellen Strafen bzw. Belohnungen vor. In diesem System wurden dann unversehens aufklärerische Postulate der Naturwissenschaf­ ten und der Philosophie zu neuen Stützen des christlichen Glaubens194. Die ganze Natur samt der außerirdischen „Vernunftwesen“ ist demnach nur

191 Max Schneid im Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie, I, 1887, S. 272. Zit. n. R. Rochhausen: Der Sputnik und der liebe Gott. 1958, S. 8. 192 1890 erschien die 34. Aufl. 193 Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6, S. 658. 194 So die Postulate, daß die Erde keinen bemerkbaren Vorrang vor anderen Pla­ neten habe; diese bewohnbar und bewohnt seien wie sie und „daß die Erde keines­ wegs die vorzüglichste aller Welten“ sei. (C. Flammarion: Die Mehrheit be­ wohnter Welten, 1865, S. 98 u. 136. Die 2. dt. Aufl. erschien 1885 u. d. T. Das bewohnte Welten-All.)

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dazu da, die Menschen „Demuth“ zu lehren und ihre „angeborne Eitelkeit“ auszutreiben195. Mit Urania196 lieferte Flammarion eine belletristische Illustration seiner repressiv-religiösen Thesen, die an „Ausdehnungsdenken“, „exzentri­ scher“ Welt- und Menschheitsinterpretation197 und pseudowissenschaftlicher Phantastik alles in den Schatten stellte, was sich professionelle Science-Fiction-Autoren an derartigem bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts hinein einfallen ließen. „Geflügelte Wesen“, intelligente „belebte Pflanzen“ aus Phosphor mit elektrisch wirkenden Blicken, „Seelen“, die nach Belieben „den Körper wechseln“198 können und sich so begatten199, Zwitter200, le­ bende „Selbsttelegraphen“201, die Überholung des von der Erde ausgehen­ den Lichtes zum Studium der irdischen Vergangenheit202, die Unendlichkeit des Weltalls und der Zeit werden zur neu motivierten Entmündigung des Menschen aufgeboten. Die Entsprechungen zur aktuellen Science Fiction reichen bis ins Vokabular: Das neue Weltall, in das wir eindrangen, bestand aus roten, rubin- und granatfar­ benen Sonnen; mehrere hatten geradezu die Farbe des Bluts. Der Flug durch das­ selbe war ein wahres Wetterleuchten. Pfeilschnell flogen wir dahin von Sonne zu Sonne, aber unaufhörliche elektrische Strömungen berührten uns wie die Ausstrah­ lungen eines Nordlichts. Welch sonderbare Aufenthalte sind jene durch rote Sonnen einzigartig beleuchteten Welten! Darauf bemerkten wir in einer Gegend dieses Welt­ raums eine Gruppe von Nebensonnen, die aus einer großen Anzahl von rosenfarbe­ nen und blauen Sternen bestand203.

Eine besondere Bedeutung erhielten diese Phantasmen dadurch, daß sie offi­ zielleren kirchlichen Autoren erlaubten — unter Beibehaltung der Flamma-

195 Ebd., S. 189 u. 270. 198 1894. Das 30. Tsd. d. frz. Ausg. erschien 1893. 197 Dies sind die Charakteristika der „neuen“ amerikanischen Science Fiction nach Krysmanski {Die utopische Methode, a.a.O., S. 90) und Schwonke {Vom Staats­ roman, S. 145). 198 C. Flammarion: Urania, S. 16 ff. 199 Ebd., S. 23. 200 „Es gibt [dadurch] weniger große Unruhen auf der Welt“ (ebd., S. 16). — Der­ artige Formen der Sexualität (beiFlammarion noch eindeutig religiös motiviert) gewannen in einer phantastischen Literatur wie der Science Fiction, die nicht zuletzt für männliche Jugendliche bestimmt ist, besondere Bedeutung. 201 Ebd., S. 24. 202 Ebd., S. 39. Diese Idee wurde u. a. von Laßwitz in Auf zwei Planeten wieder aufgegriffen. 203 C. Flammarion: Urania, S. 28.

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rionschen Grundhypothesen —, sich „nüchtern“ von dessen „Übereifer“204205 abzusetzen. So verfuhr etwa Joseph Pohle in seiner weitverbreiteten katholischen po­ pulärastronomischen Darstellung Die Sternenwelt und ihre Bewohner™. Pohle, der sich scheinheilig um die Opfer der Inquisition sorgt206, exerziert den repressiven Einsatz der kosmischen Untergangs- und Bewohnbarkeits­ phantasien zugunsten des Katholizismus vor, den die Science Fiction in teilsäkularisierter Form und allgemeiner für den politisch-gesellschaftlichen Bereich übernommen hat: Sollte Gott sich nun aber auf anderen Welten nicht entschädigt haben für die empö­ renden Verunglimpfungen und Lästerungen, die seinem heiligen Namen tagtäglich widerfahren? Wenn ein irdischer Vater die Wahl seiner Söhne so in der Hand hätte, daß er sich die guten und die schlechten nach Belieben auswählen könnte, würde er sich wohl mit lauter ungeratenen Kindern umgeben? [...] Würde er seinen Trost ferner nicht darin suchen, daß er in der Wahl von möglichst vielen guten und dank­ baren Kindern sich einen teilweisen Ersatz für die Schmähungen zu verschaffen suchte, die ihm der Bösewicht [also der Mensch] zuzufügen nicht müde wird207? Es liegt im eigenen Interesse Gottes — menschlich gesprochen — die erdähnlichen Welten des Universums nicht ohne Bewunderer und Anbeter seiner göttlichen Größe zu lassen, um so mehr, als das ruchlose Menschengeschlecht in dieser Hinsicht zu wünschen übrig läßt208.

Gegenwärtig sind derartige Argumentationen lediglich auf die breitere, aber unauffälligere Ebene der kirchlichen Klein- und Flugschriften abge­ sunken, in denen nun auch die „Fliegenden Untertassen“ zur höheren Ehre Gottes und zur einschüchternden Verdummung des Kirchenvolkes fliegen. Das folgende Zitat ist einer solchen Kleinschrift entnommen, die das Impri­ matur am 30. März 1955 vom Münchner Generalvikar und am 27. Oktober 1956 vom Bischöflichen Ordinariat in Regensburg erhielt: 204 J. Pohle: Die Sternenwelten und ihre Bewohner. 1885. Benutzt wurde die verb. u. verm. 3. Aufl. 1902, S. 60 u. 416. 205 S. Anm. 1. 208 „Unter sothanen Umständen wird man sich über das Einschreiten der römi­ schen Inquisition gegen [. . .] Galilei [...], dessen trotziger Ungehorsam gewiß mehr als seine kühn vorgetragene Lehre die kirchliche Behörde herausforderte, um so weniger verwundern dürfen, als [... er] keine völlig zwingenden Beweis­ gründe für seine wahre Ansicht beizubringen wußte [...]“ (ebd., S. 44). „Auch der Katholik bedauert aufrichtig das harte Schicksal eines Mannes [Giordano Bruno], der durch die mildere Kerkerstrafe oder durch liebevolle Behandlung vielleicht doch zur besseren Einsicht gekommen wäre.“ (Ebd., S. 47.) 207 Ebd., S. 450 [Hervorhebung im Original]. 208 Ebd., S. 459.

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Könnte es nicht letzten Endes der Wille Gottes sein, uns auf die Existenz anderer Welten aufmerksam zu machen und dies aus einem ihm allein bekannten Grund, vielleicht um uns zu zeigen, wie wenig er unser bedarf und wie er in keiner Weise auf uns angewiesen ist? Wenn wir ihm die schuldige Ehre versagen, so stehen ihm doch ungezählte Möglichkeiten offen, seine Verherrlichung im vollsten Maße zu gewinnen209.

Dem Leser wird anheimgestellt, sich selbst zu überlegen, was dann Gott mit der für ihn überflüssigen und ärgerlichen Erde tun könnte. Ihre Schlagkraft beziehen diese Einschüchterungsversuche aus Analogie­ bildungen zu bewährten Disziplinierungsmechanismen der liberal-kapitali­ stischen Ökonomie. Der Christenmensch wird auch in seinem Glauben unter das konkurrierende Leistungsprinzip gestellt. Das hoflieferantenartige Mo­ nopol seiner Geschäftsbeziehungen zu Gott wird ihm aufgekündigt. Er soll den Konkurrenzdruck anderer, außerirdischer Mitbewerber um die Gunst des göttlichen Konsumenten spüren. Der Kosmos wird zum Schauplatz einer freien Marktwirtschaft der Religion. Einig sind sich die Autoren beider christlicher Kirchen in ihrer Front­ stellung gegen die Science Fiction, die ihnen bei diesem Geschäft zunehmend Konkurrenz macht. Während die Katholikin di Rocca aus Jesus einen po­ tenzierten „Perry Rhodan“ macht („Christus ist der König des Alls“210), klagt G. F. Hartlaub, unter Bezugnahme auf die Panik, die am 30. Oktober 1938 eine Hörspielfassung von H. G. Wells’ „The war of the worlds“ in den USA hervorrief211, und mit dem scharfen Blick des Branchenkonkurrenten über die „Leichtgläubigkeit“, die „psychische Anfälligkeit“, „den heillos ge­ ringen Bildungsstand der Massen und die Macht einer halb spiritistischen, halb utopisch-technischen Popularliteratur“212. Der „Heil-losigkeit“ des ge­ ringen Bildungsstandes (nur um diesen Aspekt der Verdummung geht es ihm) hilft Hartlaub mit der folgenden Information ab: Vielleicht sind unter den zahllosen kosmischen Intelligenzfamilien manche schon so weit entwickelt, daß sie darauf sinnen, wie sie ihre Einsamkeit und Verlorenheit auf ihren Welteninseln durchbrechen und sich mit anderen Familien ,mental1 zusammen­ schließen können, deren Dasein ihnen längst verbürgt ist. Um gemeinsam Gott zu loben! Vielleicht ist ein solches Sich-Finden, Sich-Einigen ihrer höchstentwickelten Kreaturen letzter Sinn, letztes Hoffen der Schöpfung. Was allerdings voraussetzen würde, daß keine Blüte des Geistes im Weltall verblüht ist oder verblühen wird,

209 A. di Rocca: Bei Gott ist kein Ding unmöglich. 1956. Benutzt wurde die 3. Aufl. 1959. S. 19. 210 Ebd., S. 21. Auf dem Titelbild des Heftchens prangt Gott in der typischen Flugpose des Comic-Helden „Superman". 211 Vgl. hierzu H. Cantrill: The invasion from Mars. 1966 (1. Aufl. 1940). 212 G. F. Hartlaub: Bewußtsein auf anderen Sternen? 1951. S. 8.

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daß vielmehr auf irgend eine unvorstellbare Weise die reif gewordenen Bewußt­ seinsfrüchte untergegangener Welten überpflanzt und gerettet bleiben, bis ans Ende aller Tage [.. .]213.

b) Die Regression in den künstlichen Mythos

Die bisher behandelten Varianten der Science Fiction könnten den Ein­ drude erwecken, daß die Evolutionstheorie ausschließlich zur Rationalisie­ rung von Zukunftsspekulationen benutzt wurde. Dagegen ist festzustellen, daß die ersten belletristischen Adaptionen der Entwicklungslehre — hierin dem Vorgehen Darwins folgend — auf eine sensationelle Interpretation und Konfrontation mit der vorgeschichtlichen Vergangenheit abzielten214. Noch mehr und eher als für die Zukunft ermöglichte die Evolutionstheorie eine plausible Rekonstruktion der Naturgeschichte: Bis zum Schlüsse des 18. Jahrhunderts hatte man die lebende Welt auf der Erde als das Produkt einer willkürlichen Schöpfung aufgefaßt. So wie die Tiere und Pflan­ zen vor langer Zeit geschaffen wurden, so waren sie nach dieser Ansicht unverändert geblieben bis auf den heutigen Tag. Beide Reiche der Natur waren unter sich wieder scharf getrennt in viele, viele Arten, die selbstständig nebeneinander bestanden, ohne daß die eine in die andere überging. [•••] Als man dann in den verschiedensten Erdschichten unzählige Reste einer unterge­ gangenen Lebenswelt entdeckte, hielt man diese anfangs für müßige Naturspiele oder für Schöpfungsversuche des großen Weltenschöpfers. [...] bis schließlich die große Erkenntnis dämmerte: die heutige Lebenswelt ist entstanden aus zahlreichen früheren, auf dem Wege einer allmählichen Entwicklung215.

An der Funktion, die der Evolutionstheorie in der Science Fiction und in weiten Bereichen der populärwissenschaftlichen „Aufklärungs“-Literatur (von der erstere bis heute ihre Anregungen bezieht) von Anfang an zukam, läßt sich ein wesentliches Charakteristikum dieser Literatur verdeutlichen. Die Darwinsche Naturtheorie muß zur „wissenschaftlichen“ Legitimation und Glaubwürdigkeit gerade solcher Spekulationen herhalten, die durch sie wissenschaftlich nicht mehr haltbar sind; z. B. für die völlig willkürliche An­ nahme einer Unzahl pittoresker anthropomorpher und intelligenter „Ent­ wicklungslinien“ auf der Erde216, das Wiederauftauchen oder muntere 213 Ebd., S. 65 (Hervorhebung im Original). 214 Z. B. J. Verne: Voyage au centre de la terre. 1874. 215 M. Popp: Julius Verne, S. 77 f. Wie hilflos man noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bei der Erklärung von Fossilien war, zeigt sich beispielsweise in Die Unterwelt, 1828. 216 So stellte etwa Gouverneur Morris in der Erzählung Back there in the grass einen fußhohen Schlangenmenschen vor, der das Produkt einer anderen Ent­

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Überleben irgendwelcher prähistorischer Menschen-, Tier- und Pflanzen­ monstren und schließlich die effektvolle kontrastierende Vermischung aller nur erdenklicher vergangener und zukünftiger Entwicklungsstufen217. Mit anderen Worten: rationale Details dienen zur Etablierung und Legiti­ mation eines irrationalen Ganzen, aufklärerische Partikel stützen die totale Antiaufklärung. Der Widerspruch des gesellschaftlichen Gesamtsystems218 und die Wider­ sprüche zwischen den objektiv vorhandenen materiellen Ressourcen, den Produktivkräften und ihrer tatsächlichen gesellschaftlichen Verteilung, zwi­ schen den gegebenen Möglichkeiten kritischer, emanzipierter Rationalität und der tatsächlich mittels irrationaler, ideologischer Wertsysteme betriebe­ nen Repression verdoppeln sich in der Science Fiction — verdinglicht — zum Stilprinzip. Die gesellschaftlichen Antagonismen werden ästhetisch ge­ nießbar gemacht und als literarische Erwartungshaltung eingeübt219. Die absichtsvoll gepflegte Exklusivität, ja Sakralisierung naturwissen­ schaftlicher Forschung220, der jeder öffentlichen Diskussion oder gar demo­ wicklungslinie der irdischen Evolution sein soll. In: ders.: It und other Stories. 1912. 217 Dieses Verfahren führte zu einer eigenen Sparte der Science Fiction, den so­ genannten „lost-race“- und „lost-continent“-Romanen. Als relativ frühe Bei­ spiele auf dem deutschsprachigen Markt seien — neben Vernes Reise nach dem Mittelpunkt der Erde — erwähnt: M. Jokais Der Roman des künftigen Jahrhun­ derts, dessen Erzählungen Océanien. Die Geschichte eines untergegangenen Welttheiles. 1884, und Zwanzigtausend Jahre unter dem Eise. Romantische Erzäh­ lung. 1893. (Benutzt wurde die Neuausg. 1914.) Mit dieser Klitterungsmethode wurden sehr bald auch Weltraumromane aufgeladen. Vgl. hierzu etwa: A. Nie­ mann: Aetherio. 1909; O. Hoffmann: Mac Milfords Reisen im Universum (das „missing link“ wird hier auf einem erdnahen, bisher unbekannten Planeten ge­ funden! — ebd., S. 59) und W. Mader: Wunderwelten. 218 „Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung stellt sich [. . .] dar als Gegensatz zwischen der Organisation der Produktion in der einzelnen Fabrik und der Anarchie der Produktion in der ganzen Gesellschaft.“ — F. Engels: Die Entwicklung des Sozialismus, MEW, 19, S. 216 (Hervorhebung im Original). 219 Der Widerspruch zwischen möglicher Emanzipation und tatsächlicher Repres­ sion findet sich in der Science Fiction vor allem in solchen Konstruktionen ver­ schlüsselt, in denen sich fortgeschrittenste Technik und Wissenschaft mit ana­ chronistischen, meist faschistoiden oder feudalen Herrschaftsformen und reli­ giösem Wertsystemen paaren. 220 Noch heute muten die Berichte über naturwissenschaftliche Themen in den Feuilletons der Presse wie Geheimberichte aus Hexenküchen an, und die Auto­ ren zelebrieren sich selbst als Hohepriester und Initiierte geheimer Künste. Vgl. hierzu vor allem die entsprechenden Sparten des Spiegel oder die Artikel eines

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kratischen Kontrolle über seine gesamtgesellschaftliche Zweckbestimmung entzogene Einsatz der Technik, die zunehmende Indienstnahme beider für eine neue Herrschaftsideologie und schließlich die nur widerwillig und allen­ falls zweckgebunden-partiell gestattete Aufklärung förderten die Internali­ sierung der irrational-metaphysischen und autoritären Besetzung dieser Be­ reiche, führten zur virtuellen Unfähigkeit weiter Teile der Bevölkerung, po­ tentiell aufklärerische Erkenntnisse der Naturwissenschaft zu ihrer gesell­ schaftlichen Emanzipation zu nutzen oder diese Möglichkeit als solche über­ haupt zu erkennen. Im Gegenteil: in dem fast lückenlosen System von Auto­ ritätsbindungen — als väterliches Autoritätsprinzip bis in die Familien­ struktur hinein wirksam221 — wurde die zunehmende Unhaltbarkeit der christlich-metaphysischen Herrschaftsideologie lediglich als Autoritätskrise empfunden, die zur hektischen Suche nach neuen oder zur aktuellen Legiti­ mation der alten Autoritäten führte: „ein Prozeß, in dem fortschreitende Rationalisierung [...] sich verbündet mit fortschreitender Regression. Sie müssen sich selber nochmals antun, was ihnen, vielleicht, früher bloß angetan wurde.“222 So stützten einerseits die christlichen Kirchen — wie im vorigen Abschnitt dar gelegt — ihre durch die Erkenntnisse der Naturwissenschaften angeschla­ gene Position mit „wissenschaftlichen“ Argumenten, andererseits trat in einer Art Scheinrevolte ein Objektwechsel der Autoritätsfixierung ein, wo­ bei all jene Attribute und Funktionen der alten metaphysischen Autoritäten auf die neue naturwissenschaftlich-technische übertragen wurden oder zu­ mindest insgeheim von dieser erwartet wurden. Die Irrationalität des sakro­ sankten Gesellschaftssystems verlangte nach der erneuten Ideologisierung dieser Irrationalität, wobei sich dann — analog der Ideologisierung der pa­ triarchalischen Familienautorität — wie „vor jeder Autorität [...] unauf­ löslich rationale und irrationale Elemente“223 verschränkten. Um eine Scheinrevolte handelte es sich dabei insofern, als die Krise der alten und die Unzulänglichkeit der neuen Autorität nur zur Installation von „eigentlichen“ Autoritäten führte, zum angst- und lustbesetzten para­ noiden Systematisieren der Autoritätsfixierung anhand neuer Überautori­ täten. Bis hin zu den derzeit selbst im Fernsehen gewürdigten Aufgüssen Thomas von Randow in der Zeit, der sich konsequenterweise mit Vehemenz gegen jeden Versuch einer öffentlichen Kontrolle der Wissenschaften wende,t wie ihn etwa — in bescheidenen Ansätzen — das neue hessische Hochschulgesetz vor­ sieht. (Vgl. Die Zeit, 25. Jg. 1970, Nr. 45 u. Nr. 47, S. 4.) 221 Vgl. hierzu M. Horkheimer: Studien über Autorität und Familie. 1936. 222 Institut für Sozialforschung: Soziologische Exkurse, S. 36. 223 Ebd., S. 122.

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eines Erich von Däniken sind derartige Scheinrevolten dadurch gekennzeich­ net, daß das ■ autoritätsfeindliche trial-and-error-Verfahren der empirischen Wissenschaftsmethode (d. h. die Postulierung sich widersprechender, vor­ läufiger Hypothesen zur Erklärung bestimmter, noch nicht eindeutig erklär­ barer Phänomene) nicht ertragen wird und die „Widersprüche der akademi­ schen Wissenschaften“ — also deren Offenheit und Revidierbarkeit — durch scheinbar widerspruchsfreie und geheime (sprich: autoritäre) Überwissen­ schaften und Phantastereien „überwunden“ werden. Der paranoide Charak­ ter solcher Versuche zeigt sich meist schon daran, daß nicht nur neue, phan­ tastische Hypothesen aufgestellt werden, sondern gegen gesicherte wissen­ schaftliche Erkenntnisse und die Existenz von Naturgesetzen überhaupt re­ voltiert wird224. Träger der paranoiden Verarbeitung der Autoritätskrise waren zunächst vor allem Angehörige des gehobenen Bildungsbürgertums und des niederen Adels. Realpolitisch zunehmend funktionslos und zu einer Weiterführung der bürgerlichen Revolution bzw. Wiedereinführung der feudalen Reaktion unfähig, hatte man in diesen Kreisen schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Flucht in apolitische Bildungsbereiche angetreten, in die intensive Inter­ nalisierung christlicher oder säkularisiert-humanistischer Wertsysteme. Die realen Gesellschaftsprozesse sprachen zwar diesen asketisch-altruistischen Verhaltensidealen längst Hohn, sie erlaubten aber eine Kompensation im Bereich des Überbaus und die Suggestion einer gesellschaftlich relevanten Funktion als sittliches Rückgrat der Nation. Als selbsternannte Hüter dieses — vornehmlich als Disziplinierungsmittel für die unteren Schichten gedachten — ideologischen Wertsystems reagierten sie besonders affektiv auf jede tatsächliche oder vermeintliche Desavouierung dieser Ideale; mußte doch jeder Angriff gegen sie zugleich als Angriff auf die eigene gesellschaftliche Position erscheinen. Hinzu kam die Furcht vor der Entfesselung des angewachsenen und sich politisch organisierenden Proleta-

224 Als Beispiele seien an dieser Stelle nur die Schriften von Th. Newest [Hans Goldzier] erwähnt: Einige Weltprobleme. 1. Die Gravitationslehre [...] ein Irr­ tum! 1905; 2. Gegen die Wahnvorstellung vom heißen Erdinnern. 1906; 3. Er­ gründung der Elektrizität ohne Wunderkultus. 1906; 4. Nom Kometentrug zur Wirklichkeit der letzten Dinge. 1906; Gegen Einstein: die Erfahrung im Weltall. Einige Weltprobleme. 2. Aufl. (1921). Max Popp hält seinen Landsmann „New­ est“ für einen typischen Amerikaner und bemerkt dazu: „Wie die Amerikaner stets zu Übertreibungen geneigt sind, so lassen sie sich auch auf wissenschaft­ lichen Gebieten leicht zu haltlosen Spekulationen verleiten.“ (M. Popp: Julius Verne, S. 178).

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riats, sobald dieses nicht mehr durch die Propagierung eben dieser Wert­ haltungen und Verhaltensideale diszipliniert werden sollte. Diese Autoritätskrise, die mit der Entstehung eines sich politisierenden Proletariats und der Umstrukturierung des Wirtschaftsgefüges durch die industrielle Auswertung der Naturwissenschaften zusammenfiel, akzentuier­ te erneut die an sich schon antitechnischen und antinaturwissenschaftlichen Implikationen des bürgerlichen Bildungshumanismus, steigerte sich zu Attakken gegen den „nihilistischen Materialismus“ der Naturwissenschaften und endete in paranoid-regressiven, metaphysischen Phantastereien225. Auch hierbei zu radikalen Konsequenzen unfähig, versuchte man, naturwissen­ schaftliche Theorien und Erkenntnisse metaphysisch aufzuladen oder zu Stützen irrationaler Systeme umzubiegen. Die Systeme selbst aber waren nichts anderes als Modernisierungen des seit der Aufklärung grassierenden Okkultismus, Spiritismus und der Theosophie. Vor allem evolutionistische Ideen wurden mit den interpretatorischen Verfahren der in Mode stehenden Mythologie und Etymologie verbunden und zur Absicherung der betreffenden Wahnsysteme benutzt. Ausgehend von dem Glauben, daß in allen mythischen Überlieferungen ein wahrer Kern steche (die archäologischen Erfolge Schliemanns in den siebziger Jah­ ren schienen dies spektakulär zu bestätigen), ging man nun daran, das Ver­ fahren umzukehren und zur Glaubwürdigkeit der Spekulationen die ent­ sprechenden Mythen zu erfinden226*228 . Wie die popularisierte mythologische Methode selbst, bot auch dieses Verfahren — bei gläubiger Annahme einiger weniger Prämissen — jedem halbwegs instruierten Laien die scheinbar wi­ derspruchsfreie Erklärung und metaphysische Deutung alles bisherigen und zukünftigen Weltgeschehens. Die Bruchstücke mythologischer Überlieferun­ gen aller Regionen und Epochen ließen sich verbinden, schienen sich gegen­ 225 Die Anmeldung oder gar Durchsetzung materieller und politischer Interessen wurde damit (je nach Verankerung der Ideologie) als sündhaft oder unsittlich diffamiert. Der kalvinistische Adlige Jokai ließ in seiner Erzählung Oceanien mit Hilfe der evolutionistischen Deszendenztheorie und des direkten Eingrei­ fens Gottes einen ganzen Erdteil untergehen, „weil dessen Bewohner die Voll­ kommenheit anstrebten und untergingen, als sie glaubten, den Kopf so hoch gehoben zu haben, wo es keinen Gott mehr giebt.“ (Ebd., S. 42). Bei der Be­ schreibung der geläuterten Überlebenden wird die moralisch getarnte politische Absicht vollends deutlich: „Das Volk ist freisinnig und tugendhaft, betet einen unsichtbaren Gott an, ist keusch in seiner Liebe, einfach in seiner Lebensweise und mit seinem Los zufrieden.“ (Ebd., S. 125 f. — Hervorhebung M. N.). 228 Die mythologische Schule exerzierte auch dieses Verfahren selbst vor. So wurde z. B. aus etymologischen Gründen eine germanische Frühlingsgöttin „Ostara“ erfunden.

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seitig zu ergänzen und zu dem jeweils postulierten Gesamtmythos zusam­ menzuschließen. Die immer undurchschaubareren Interdependenzen der po­ litisch und ökonomisch arbeitsteiligen Gesellschaft, die blinde Irrationalität ihres Entwicklungsganges erschienen dann plötzlich als das durchdachte Werk irgendwelcher metaphysischer Überautoritäten, denen man sich nur willig zu unterwerfen brauchte, um selbst zu den wahrhaft Eingeweihten zu gehören und die Lösungsschlüssel für alles Unerklärbare, Bedrohliche und Fremdbestimmte zu erhalten. Die Zentren dieser Bewegungen waren zunächst die USA und England227. Was sich zuerst in Romanen wie Bulwer-Lyttons The coming race (1871, anon.)228 oder Samuel Butlers Erewhon, or over the range (1872)227 229 an­ 228 kündigte — vor allem eine okkult-metaphysische Technik und Naturwis­ senschaft —, wurde schließlich von „Madame“ Blavatsky230, der Mitbe­ gründerin der „Theosophical Society“, systematisiert. In ihren voluminösen Hauptwerken Isis unveiled; a master-key to the mysteries of ancient and modern science and theology (1877) und The secret doctrine, The synthesis 227 Auf diese Situation bezog sich Engels’ Bemerkung über „die wachsende Selbst­ besteuerung der Bourgeoisie“ in der englischen Einleitung zu Die Entwicklung des Sozialismus (vgl. S. 40 dieser Arbeit). 228 Dt. Ausg.: Das Geschlecht der Zukunft. 1874. Vgl. S. 46 dieser Arbeit. 220 Dt. Ausg.: Ergindwon oder Jenseits der Berge. 1879. 230 Elena Petrovna Blavatskaja, geb. v. Hahn, 1831—1891, ließ sich nach aben­ teuerlichen Reisen in New York nieder und gründete dort 1875 zusammen mit Colonel Henry Steel Olcott die „Theosophical Society“. Schon 1879 konnte sie bei Madras ein 266 acres (1 US-acre = 4046,87 m2) umfassendes theosophi­ sches Zentrum beziehen und vor einem Kreis erlauchter Schüler Wunder wir­ ken. Die Zeitschriften der Bewegung waren The Theosophist (ab 1879 — dt. Ausg. u. d. T. Adyar) und Lucifer. The light-bearer (ab 1887 — dt. Ausgabe: Lucifer-Gnosis seit 1903, hrsg. v. Rudolf Steiner). Die deutsche Gruppe um Steiner spaltete sich 1912 ab, als Blavatskys Vertraute und Nachfolgerin, Annie Besant, geb. Wood, auf die Idee verfiel, der kommende „Weltenlehrer“ werde durch den 13jährigen Krischnamurti wirken. Zur gewaltigen literarischen Pro­ duktion Blavatskys und Besants vgl. The National Union catalog. Pre-1956 im­ prints. 1969, vol. 61, S. 40—49; vol. 50, S. 687—698 u. vol. 51, S. 1—14. Besant war gleichzeitig Mitglied der anti-marxistischen „Fabian Society“ (benannt nach Fabius Maximus „Cunctator“). Schon über diese Gesellschaft ergeben sich über­ raschende Transfers zu einigen führenden „Utopisten“, vgl. z. B.: Socialism, the Fabian essays, b. G. Bernard Shaw, [. . .] Annie Besant [...]. Ed. by G. Bernard Shaw, with an introduction to this American edition by Edward Bellamy [. . .]. Boston (1894). (H. G. Wells sympathisierte mit der Gesellschaft, und Shaw schrieb seine Science Fiction mit Back to Methuselah. A metabiological Penta­ teuch. 1921. — Dt. Ausg.: Zurück zu Methusalem. 1923.)

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of science, religion and philosophy (3 Bde., ab 1888)231 kombinierte sie in pathologischem Kompilationszwang und Beziehungswahn alle ihr erreich­ bare okkult-spiritistische, mythologische und pseudowissenschaftliche Litera­ tur zu einem wirren System der „Theosophie“232, von deren Inhalten und methodischen Prinzipien der Beweisführung bis heute nahezu alle Filiationen des neueren Aberglaubens zehren: die Anhänger der Wunderkraft „Vril“, die Atlantis-, Thule-, Welteis- und Hohlweltgläubigen der zwanzi­ ger und dreißiger Jahre ebenso wie die „Ufo“-Anhänger, die Adepten der derzeit für Autoren wie Pauwels, Bergier, Charroux und Däniken233 lukra­ tiven „phantastischen Vernunft“ oder das pseudo-buddhistische, „makrobiotische“ Hippietum (dessen Ideologen aus Ländern, in denen Menschen zu Hunderttausenden an Unterernährung und Seuchen verrecken, mit Räu­ cherstäbchen, Sitars und Nirwana-Phantasien zurückkehren). Rudolf Steiner domestizierte die Theosophie zur Anthroposophie. Und die Versöhnung der aufklärerischen Psychoanalyse Freuds mit dem Faschismus (dieser „Zug zum Protoplasma“, der Gottfried Benn so faszinierte) durch Dacque, C. G. Jung und seine Schule korrespondierten ebenso mit Implikationen der Blavatskyschen Werke, wie die Evolutions-Spekulationen Teilhard de Char­ dins, Pierre Bertaux’234 oder die plots jener Hauptmasse der Science Fiction, die sich nicht auf die rein technische Prognostik beschränkt — auch dann, wenn diese Ideen direkt erst durch spätere Plagiatoren (wie Charles Fort oder H. P. Lovecraft235* ) vermittelt sein mögen. 231 Man beachte jeweils die programmatischen Untertitel! — Dt. Ausg.: Isis ent­ schleiert. (Bd. 2: Die entschleierte Isis.) [Bd 1: 1907, Bd 2:1907—1909]; Die Ge­ heimlehre, Bd. 1: Kosmogenesis, Bd. 2: Anthropogenesis ab 1897 in 20 Lfg. Der posthume 3. Bd, Esoterik erschien mit der 2. Aufl. 1905/6. Beide Werke erleb­ ten auch in Deutschland eine Vielzahl von Auflagen und Bearbeitungen. (Für 1971 sind neue Reprints angekündigt.) Für die Wirkungsgeschichte Blavatskys in Deutschland könnte relevant sein, daß, bereits vor den oben genannten Ge­ samtausgaben, Teilübersetzungen, Bearbeitungen und Plagiate existierten. (Die deutsche Theosophische Gesellschaft wurde 1888 in Würzburg gegründet.) 232 Übersichtliche Zusammenfassungen der Theosophie — soweit die Abstrusität des Systems dies erlaubt — finden sich in: Encyclopaedia Britannica 1967, vol. 21, S. 1000 f. u. The Encyclopaedia Americana 1958, vol. 26, S. 523—526. 233 Vgl. hierzu beispielsweise H. P. Blavatsky: The esoteric character of the Gos­ pels. A study in occultism. Toronto 1927. (Zuerst in Lucifer. The Lightbearer, vol. 1, Nov. 1887 bis Febr. 1888.) Dt. Ausg.: Die Esoterik der Bibel. 1907. 234 Vgl. P. Bertaux: Mutationen der Menschheit. 1963. 235 Charles Hoy Fort (1874—1932) war — in Weiterführung einiger Ideen Blavats­ kys — davon überzeugt, daß uns fremde Wesen als Haustiere halten und sam­ melte Beweise ihrer Existenz. Seine Sammlungen The book of the damned. New York 1919 (3. Aufl. 1931) und The books of Charles Tort. Publ. by the

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Ausgangspunkt des Blavatskyschen Wahnsystems war das autoritäts­ fixierte Unbehagen am Abbau repressiver Metaphysik durch das Vordringen naturwissenschaftlicher Denkweisen und die Weiterentwicklung rationaler Denkweisen zu sozialrevolutionären Bewegungen: alles ist Zweifel, Verneinung, Bildersturm und brutale Indifferenz in unserem Zeit­ alter von hundert ,ismen‘ und keiner Religion. Jedes Götzenbild ist zerbrochen mit Ausnahme des goldenen Kalbes*238.

Sie bejahte zwar die Übertragung des Ausleseprinzips auf die mensch­ liche Gesellschaft, den „Kampf ums Dasein“, das „Überleben der Tauglich­ sten“ (I, 233), da es schließlich auch im Kosmos „Kämpfe [. . .] zwischen Monden und Planeten“ (ebd.) gebe237, wandte sich aber mit Vehemenz gegen die darwinistische Abstammungslehre, in ihr zu Recht einen Angriff auf alle Entmündigungsmetaphysik und transzendente Herrschaftsideolo­ gien vermutend. Die Kritiker sind im Irrtum, wenn sie Haeckels Lehren ,abscheulich, revolutionär, unmoralisch' nennen — obwohl der Materialismus das folgerichtige Ergebnis des Affenahnenmythus ist — sie sind einfach zu absurd, um eine Widerlegung zu er­ heischen. (II, 718).

So sammelte sie denn „Waffen gegen die Verleumder der esoterischen Lehre im Arsenal der modernen Wissenschaft selbst.“ (I, 528).

Fortean Society. New York 1941 gehören bis heute zum geistigen Vademecum amerikanischer Science-Fiction-Autoren. Die „Fortean Society“ wurde 1931 ge­ gründet. Ihr gehörte — nach Schwonke — auch Theodor Dreiser an. In Deutsch­ land wurden ähnliche Ideen beispielsweise durch Maurice Renards Roman Die blaue Gefahr. 1922 erneuert (vgl. hierzu S. 36 f. dieser Arbeit). Schwonke tut Fort als „Außenseiter“ der Science Fiction ab. Für die Person Forts mag dies gelten, nicht aber für den Niederschlag seiner Ideen in der amerikanischen Science Fic­ tion. (M. Schwonke: Vom Staatsroman, S. 171, Anm. 367). — Ähnliches gilt auch für Howard Phillips Lovecraft (1890—1937), der — in der Nachfolge Poes —die amerikanische Grusel-Science-Fiction beeinflußte. Besonders bekannt ist sein „Cthulhu“-Mythos. (Die dt. Ausg. seiner Werke wird zur Zeit vom InselVlg. betreut.) 238 H. P. Blavatsky: Die Geheimlehre. Benutzt wurde der Nachdruck 1958. Im fol­ genden beziehen sich die im laufenden Text in Klammern gesetzten Zahlen auf dieses Werk, wobei die erste Zahl den Band und die zweite die Seitenzahl an­ gibt. 237 Die „Evolution“ bestand für Blavatsky darin, daß sich aus der Natur die „halb­ intelligenten Wesen“ und schließlich die „planetarischen Geister“ entwickeln. Andrerseits besitzen schon die Minerale „ein Bewußtsein ihrer eigenen Art“. (I, 298).

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Sie [„die Wissenschaft“] ist nicht einmal darüber übereingekommen, was sie glauben soll, da Dutzende von Hypothesen über einen und denselben Gegenstand, die von verschiedenen und sehr bedeutenden Gelehrten ausgehen, einander entgegenstehen und sich oft in sich selbst widersprechen.“ (ebd.)

Deshalb folgerte sie: „Moderne Wissenschaft ist verzerrtes altes Denken“ (ebd., Hervorhebung im Original): Die Okkultisten oder Kabbalisten sind somit die einzigen vernünftigen Ausleger der alten Überlieferungen, die jetzt im dogmatischen Glauben auf der einen Seite [ge­ meint sind die christlichen Kirchen] und im dogmatischen Unglauben auf der ande­ ren Seite [den modernen Naturwissenschaften]gipfeln. (I, 307).

Für die Hintanstellung seines kritischen Verstandes wird der Leser im weiteren reichlich entschädigt, denn die „archaischen“ Wissenschaften, die Blavatsky vertritt, sind den modernen weit überlegen. Das „ganze Weltall [ist] von intelligenten und halbintelligenten Kräften und Mächten be­ herrscht“ (I, 307). Alles ist von einer intelligenten „kosmischen Elektrizi­ tät“ durchwirkt, für die „die moderne Wissenschaft“ sogar den Beweis lie­ fern mußte: sie ist „zu dem Schlüsse gekommen [. . .], daß jede Gehirntätig­ keit von elektrischen Erscheinungen begleitet ist.“ (I, 113.) Deshalb „lebt“ auch jedes einzelne Atom, besitzt „Instinkt“ und „Intelligenz“238 (I, 269). Unseren Ursprung verdanken wir nicht dem „Bathybius Haeckelii, dem gallertartigen Einsiedler der salzigen Tiefe“, sondern „den Göttlichen Vor­ fahren“, den „lunaren Pitris“ (II, 693). Diese „Pitris“ sind „Mondgotthei­ ten und unsere Vorfahren, weil sie den physischen Menschen geschaffen ha­ ben.“ (I, 114; Hervorhebungen im Original): Die lunaren Monaden, oder Pitris [.. .] werden in Wirklichkeit zum Menschen selbst. Sie sind die Monaden, die in den Kreislauf der Entwicklung auf Kugel A ein­ treten und die, indem sie die Ketten der Globen umlaufen, die menschliche Form evolvieren [.. .] (I, 203).

Dies geschah vor 300 Millionen Jahren (II, 159). „In den vorsintflut­ lichen drei Naturaltern“ konnte es allerdings auch Menschen gegeben ha­ ben, „die aus Materialien und Atom Verbindungen bestanden haben, die jetzt der Naturwissenschaft gänzlich unbekannt sind [. . .].“ (II, 170.) Je sieben Götter haben eine der „arischen Wurzelrassen“ (II, 5) geschaf­ fen oder werden dies noch tun. Den bisherigen fünf Rassen wurden die folgenden Kontinente als Wohnorte zugewiesen:

238 Der neuere Okkultismus beruft sich dabei lieber auf die „Heisenbergsche Un­ schärferelation“.

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1. Das unvergängliche Heilige Land, 2. Der hyperboreische Kontinent, 3. Lemurien, 4. Atlantis, 5. Europa (II, 6 f.)239. Der Mensch war das erste Säugetier (II, 164). Das Unglück und die Affen kamen durch den „ersten physischen ,Fall in die Materie““ (II, 194), d. h. durch die Fortpflanzung „nach der Weise des gegenwärtigen Tierreiches" (II, 206) in die Welt. Zuvor bewerkstelligte man die Fortpflanzung „durch Ausschwitzung“ (II, 2) oder „ovipar“ (II, 140) bzw. „ovivipar“ (II, 175). Durch den Koitus aber konnten sich die Monaden, die dabei menschliche Ge­ stalt annahmen, nicht mehr zum eigentlichen Menschen, dem „Astralmen­ schen“, entwickeln (I, 206). Die Menschen der dritten Rasse schufen „durch ununterschiedene Vermischung mit Tierarten, die niedriger standen als sie selbst“ (I, 213 f.), die Anthropoiden und Affen. So sind auch die „Höhlen­ menschen“, deren Reste man gefunden hat, eine spätere Seitenentwicklung, wie — nach Blavatsky — die „zyklopischen“ Bauten in Ägypten und Ame­ rika eindeutig beweisen (I, 229)240. Durch dieses sodomitische Treiben ent­ standen — als „Fehlversuche“ — auch die „schrecklichen und bösen Wasser­ menschen“, janusköpfige Wesen, „Tierkörper mit Menschenköpfen“ oder umgekehrt „Frankensteinsche“ Ungeheuer (II, 58 ff.). Diese Monstren, die mit „ungeheuren^ weiblichen Tieren“ gezeugt wurden, stellen das gesuchte „missing link“ der Evolutionstheorie dar und waren (zur Strafe) stumm (II, 194). „In den Tagen der Atlantis“ lebten „solche vorsintflutlichen Un­ getüme“ noch und wurden als „heilige Tiere“ verehrt (II, 121). In der Erin­ nerung der Menschen leben sie bis heute als Drachen fort (II, 228 f.)241. In auch für den Nicht-Science-Fiction-Leser bekannteren Regionen be­ wegt sich Blavatsky bei der Feststellung: Daß die Rasse, die als erste in die Zeugung verfallen sollte, eine dunkle Rasse (zalmatqaqadi) war, die sich die Adamu oder dunkle Rasse nennen und daß Sarku oder die lichte Rasse für eine lange Zeit noch in der Folge rein blieb. (II, 4 f.)242. 239 Vgl. hierzu auch Bd I, S. 210 f. 240 Dieses Argument findet sich auch in den Machwerken Erich von Dänikens. 241 Vgl. hierzu besonders Bd II, S. 202 f. u. 210 f. Auch „Leda mit dem Schwan“ wird für Blavatsky zum konkreten Tatbestand, zur Erfüllung des — inzwischen gestrichenen — § 175 b des StGB. 242 Daß bei Blavatsky und Besant, ihrer Vertrauten und Nachfolgerin, „zielge­ hemmte Sexualität“ (Freud), abgebogene Triebwunscherfüllungen im Spiele wa­ ren, macht auch beider Lebenslauf wahrscheinlich. Blavatsky wurde mit 17 Jah-

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Deshalb sind noch heute besonders die „Semiten“ und „alle Juden“ ins Tierisch-Stoffliche „entartet“. Sie vor allem bilden die „Chandala“, d. h. den Kern des menschlich-tierischen Rassenchaos (II, 210)243. Die Folgen dieses Sündenfalls waren der Verlust des „dritten Auges“ und der „archaischen“ Wissenschaft und Technik. Die „mahabhäratischen Arier“ besaßen noch mit „vril“ angetriebene Luftfahrzeuge („Vimänas“ — II, 444) und Waffen, vor denen „ein ganzes Arsenal von Dynamitbom­ ben [. . .] verblassen“ (III, 107) würde. Die Venus übt seither als eine zweite Erde, „verfallen in die Zeugung oder Fortpflanzung der Art durch ge­ schlechtliche Vereinigung“ (II, 33—35) einen unheilvollen Einfluß auf un­ seren Planeten aus. — Jedenfalls sollte dies alles eine Warnung für die heu­ tigen Menschen sein, die sich in den „zivilisierten Ländern“ der „Zügellosig­ keit“ hingeben (II, 249, Anm. 1). Dennoch besteht die Hoffnung auf biologische Wandlung und Erlösung. Denn außer der Venus gibt es „im Sonnensystem“ noch eine Vielzahl ande­ rer Planeten, die man zwar „durch physische Mittel“ nicht ausmachen kann, deren Einfluß auf die Erde aber den „Meistern“ und „hohen Okkultisten“ wohlbekannt ist (I, 187). Vor allem aber: „Die ,Wächter' herrschen über die Menschen“ auch weiterhin als „inkarnierte Dhyani-Buddhas“ (nach Blavatsky die „Engel“ des Christentums). Getarnt als Könige und Führer lehren sie „die Menschheit ihre Künste und Wissenschaften“ (I, 287). Sie sind es auch, die dafür sorgen werden, daß in den nach uns folgenden sechsten und siebten „Runden“ der Entwicklung die Monaden sich wieder rein astral ausgestalten können (I, 206 f.). Diese „psychisch“ und „mental“ völlig neuartigen Rassen werden sich zunächst in anomalen Kindern ankün­ digen (II, 464). Wir, die Geschöpfe der fünften Rasse, werden für diese ren an einen 60jährigen Staatsrat verheiratet und nach drei Monaten geschie­ den. Besant heiratete mit 20 Jahren einen Geistlichen, von dem sie sich nach sechs Jahren wieder trennte. Sie trat dann zunächst der „Fabian Society“ und später der „Theosophical Society“ bei. Meyer's Großes Konversations-Lexikon (Bd 21, S. 135) umschreibt den psychischen Prozeß zurückhaltend, doch prä­ gnant: „Hier [in New York] warf sie [Blavatsky] sich dem Spiritismus in die Arme.“ — Zur psychoanalytischen und sozialpsychologischen Theorie über den Mechanismus von Triebunterdrückung, Autoritätsfixierung, Feindprojektion und neuerlicher Unterwerfung unter eine Überautorität vgl. bes. S. Freud: Massen­ psychologie und Ich-Analyse. Gesammelte Werke, Bd XIII. London 1955 (auch als Taschenbuch Nr. 851 in der Fischer-Bücherei erschienen) und A. Freud: Das Ich und die Abwehrmechanismen. London 1946. (Neuausg. als Taschenbuch Nr. 2001 in der Rhe. „Geist und Psyche“ des Kindler-Vlgs.) 243 „Lanz von Liebenfels“ — auf den noch einzugehen sein wird — bezeichnete da­ nach alle nicht-arischen und nicht-germanischen Rassen als „Tschandalen“.

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Übermenschen wie „Fossilien [...] von kleinen unbedeutenden Affen“ (I, 207) erscheinen244. Alle diese Weisheiten sind Teile der von den „Wächtern“ der Menschheit verwalteten „Geheimwissenschaft, die für unzählbare Zeitalter [wegen der Gefahr des Mißbrauchs] dem profanen Blick verborgen bleiben“ (I, S. 8) mußte. Das Zentrum dieses Wissens liegt heute in Tibet (I, S. 9). Dort will Blavatsky dies alles erfahren haben. Von dem, was stattgefunden hat, kann die Naturwissenschaft in Wirklichkeit nichts wissen, denn solche Dinge liegen gänzlich außerhalb der Sphäre ihrer Untersuchun­ gen. (I, 209).

244 Vgl. hierzu die besonders beliebten Science-Fiction-Romane, in denen — den Omnipotenzphantasien der jugendlichen oder infantil gebliebenen Leser gemäß — Kinder via Mutationen (die vor allem nach der deshalb ersehnten atomaren Katastrophe auftreten) als „Mutanten“ plötzlich mächtige parapsychische Fähig­ keiten entwickeln und deshalb (also in typischer projizierter Umkehrung der tatsächlichen Motivation) von der Umwelt mißverstanden und gejagt werden. Z. B. Jack Williamson: The Humanoids. (New York 1949). Dt. Ausg. u. d. T. Wing 4. (1952 u. 1962 als Goldmanns WELTRAUM Taschenbuch, 03); Theo­ dore Sturgeon: Synthetic man. (New York 1957). Dt. Ausg. u. d. T. Syntheti­ sches Leben. Hamburg 1958 (= Der Weltraumfahrer, 2); George Ofliver]. Smith: The fourth ,R‘. (1959). Dt. Ausg. u. d. T. Das Geheimnis der Wunderkinder. 1965, (= Heyne-Buch, 3035); H. L. Lawrence: Children of light. (1960). Dt. Ausg. u. d. T. Kinder des Lichts. 1962, (= Heyne-Buch, 188); John Wyndham [d. i. John Beynon Harris] : Midwich Cuckoos. (London 1957 — verfilmt). Dt. Ausg. u. d. T. Es geschah am Tage X . . . 1965, (=Heyne-Buch, 3039); Lewis Padget [d i. Henry Kuttner] : Mutant. (New York 1953). Dt. Ausg. u. d. T. Die Mutanten. 1966, (= Heyne-Buch, 3065); Lawrence Schoonover: Central Pas­ sage. (O. u. J. unbekannt). Dt. Ausg. u. d. T. Der rote Regen. 1964 (= Gold­ manns WELTRAUM Taschenbuch, 043), Kurt Mahr [d. i. Klaus Mann] : Stern­ kolonie Troja. 1965, (= Perry Rhodan Planetenromane, 13) und vor allem A[lfred]. E[lton]. van Vogts Sian (zuerst — 1940 — im Magazin Astounding Science Fiction u. viele weitere Buchausg.). Dt. Ausg. 1967 (= Heyne-Buch, 3094). Dieser Roman bildete eine der Grundlagen für die zu Beginn der fünfziger Jahre in den USA grassierende Heilsbewegung der „Dianetics“, die van Vogt und der Science-Fiction-Autor L[a Fayette], R[onald]. Hubbard ins Leben riefen. Vgl. hierzu auch van Vogts Romane World of Null-A u. The Pawns of Null-A; dt. Ausgaben zuletzt u. d. T. Welt der Null-A u. Kosmischer Schachzug als Heyne-Buch 3117 u. 3119, 1968. Hubbard benannte die Bewegung später in „Scientology“ um und ist heute ihr alleiniger Manager. Den in Clubs organi­ sierten Science-Fiction-Lesern lieferte van Vogt einen ihrer Wappensprüche: „Fans are Sians“ (d. h. Übermenschen — M. N.). — Frappante Entsprechungen zu Blavatskys Ideen finden sich auch in Arthur C. Clarkes Roman Childhood’s End. (New York 1956, London 1956). Dt. Ausg. u. d. T. Die letzte Generation. Berlin 1960 — auch als Goldmanns WELTRAUM Taschenbuch, 070, erschie­ nen.

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Hermann Bausinger stellte als „relative ,Konstante'“ trivialer Literatur deren „Schicksalhaftigkeit“245 fest. Während Science-Fiction-Autoren, de­ nen es nur um die Antizipation der Raumfahrt geht, dazu Meteoritenein­ schläge, blinde Passagiere oder Meutereien der Besatzung bemühen müssen, lieferte Blavatsky für den Hauptteil der Science Fiction das entsprechende übergreifende Prinzip: „zyklische Evolution und Karma“ (Überschrift der XV. Abt., Bd. I). Schon im zweiten Band ihrer Geheimlehre konnte Blavatsky erfreut fest­ stellen: „Unsere modernen Schriftsteller fangen an, [. ..] okkulte Träume zu haben.“ (II, 331, Anm.). In der Tat: wie ihre eigenen Werke Symptome einer neuen Ideologisierung und Mythisierung der Ungleichzeitigkeiten und Irrationalitäten der Gesellschaft waren, so bildeten sie nun das Themen­ reservoir für eine neue Welle von „gothic tales“ und „fantasies", die — un­ ter dem Etikett „weird-fiction“ — sich mit der pseudowissenschaftlichen Argumentationsweise und den Topoi der Theosophie und der Science Fic­ tion verbanden, ja mit diesen weitgehend identisch wurden. Der Okkultis­ mus Blavatskyscher Provenienz, dieser „Aberglaube aus zweiter Hand“ trug entscheidend zur endgültigen Abkoppelung der Science Fiction von der Utopie bei und stellte die Weichen in Richtung auf eine sich progressiv ge­ bende, insgeheim aber regressive phantastische Literatur246. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erschienen in den USA die erste auf „weird-fiction“ spezialisierten Magazine, die mit ihrem konstanten Bedarf an gleichartigem Material wesentlich zur Perfektionierung und Populari­ sierung der Science Fiction beitrugen. Zu den beliebtesten Themen unter Science-Fiction-Fans gehören definitorische Trennungsversuche von „fantasy" bzw. „weird-fiction“ und Science Fiction. Während die Phantastik der „fantasies“ und „weird-fiction“ — so wird argumentiert — auf der Annahme übernatürlicher Mächte und Er­ scheinungen basiere, legitimiere die Science Fiction ihre Phantastik als „Extrapolationen“ dessen, was nach dem Stand der jeweiligen Wissenschaft und Technik antizipatorisch und logisch denkbar sei. Dabei handelt es sich um ein mit der Intensität des Hobbys betriebenes Scheingefecht247. Selbst 245 H. Bausinger: Kontinuität und Geschichtlichkeit trivialer Literatur. 1968. S. 409 f. 246 Blavatsky selbst trat belletristisch mit der Sammlung Nightmare tales (London, New York 1892) hervor. (Dt. Ausg. u. d. T. Höllenträume. 1908.) 247 Unter Betreuung der führenden französischen Science-Fiction-Manager (Pierre Versins, Georges H. Gallet, Michel Demuth u. Alain Doremieux) machte Simo­ ne-Christine Renard-Cheinisse dieses Scheinproblem zum Thema ihrer Disser­ tation Etude des Phantasmes dans la littérature dite de ¡Science Fiction’.

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wenn man davon absieht, daß nach wie vor Autoren, Publikum und Publi­ kationsorgane bei der „weird-fiction“ und der Science Fiction weitgehend identisch sind, es sich bestenfalls um profitable, das Einerlei verschleiernde Scheindifferenzierungen handelt und kaum ein Okkultist oder Autor von Horrorgeschichten es sich leisten kann, auf eine pseudowissenschaftliche Le­ gitimation seiner Stoffe zu verzichten, so erweisen sich die Unterscheidungs­ versuche schon deshalb als Unsinn, weil mit der großzügigen Auffassung von „wissenschaftlicher“ und „rationaler“ Antizipation, die in der Science Fiction allenthalben praktiziert wird, sich jedes beliebige „übernatürliche“ Sujet motivieren läßt (und auch motiviert wird). Erscheint einem Autor bei­ spielsweise das willkürliche Mutationsprinzip unzureichend oder zu abge­ droschen, so schreibt er die gewünschten Phänomene eben einer anderen Galaxie, einem anderen Millenium, einer anderen Dimension oder einer „Überwissenschaft“ zu. Was das zureichende definitorische Merkmal der Science Fiction sein soll, ist nicht mehr als eine augenzwinkernde Überein­ kunft zwischen Autor und Leser darüber, wie die Phantasmen einer ratio­ nalen Überprüfung entzogen werden sollen248. Dergestalt haben in der Science Fiction Wissenschaft und Technik die Funktion der Magie über­ nommen und wurden zum Omnipotent-Übernatürlichen gesteigert. Denn während Magie und Okkultismus selbst in ihren abstrusesten Formen noch gewissen Regeln folgen, systematisiert und ritualisiert sind, gehört zum ka­ nonisierten Glaubensgut der Science-Fiction-Autoren und ihrer Leser, daß in der Wissenschaft, der Zukunft oder im Universum „nichts unmöglich“ ist. (Mit Ausnahme eines humanen Sozialismus, versteht sich.) Bezeichnenderweise wird die Unterscheidung von „fantasy“ und Science Fiction z. B. dort aufgegeben, wo es dem quantitativen Führungsanspruch der anglo-amerikanischen Produktion dienlich ist: Von den 141 Werken, 1967. Das Ergebnis der Arbeit ist entsprechend: „La seule caution que donne l’auteur de Fantastique est celle de sa bonne foi. Or, s’il arrive à l’auteur d’un récit de Science-Fiction de donner cette même caution, celle-ci ne s’y trouve jamais seule, elle ne peut qu’être accompagnée d’une caution rationelle (qui peut être scientifique) car la caution rationelle est toujours présente dans les récits de Science-Fiction.“ Ebd., S. 58. 248 Der erfolgreiche Science-Fiction-Autor Robert Anson Heinlein unterscheidet „fantasy fiction“ als „imaginary-and-not-possible“ und „all other fiction“ (zu der er auch die Science Fiction zählt) als „imaginary-but-possible“ und führt dazu aus: „You will hâve noted that I make the category ,possible' very broad. Faster-than-light, time travel, reincarnation, ghosts, all these may strike you as impossible, contrary to scientific fact. No, they are contrary to present orthodox theory only [. . .].“ R. A. Heinlein: Science ficition: its nature, faults and virtues. In: B. Davenport: The science fiction novel. 1959. S. 25.

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die eine Bibliographie der amerikanischen Science Fiction zwischen 1880 und 1915 aufzählt249, sind — den mitglieferten Inhaltsangaben nach zu schließen — 18 okkulten oder mystischen Inhalts, 37 pseudo-historisch250 und weitere zehn beides zusammen. Die Amalgamierung phantastischer und wissenschaftlicher Elemente wur­ de in Deutschland (und vermutlich auch in anderen industrialisierten Län­ dern) nicht nur durch okkultistische Traktate, sondern ebenso von der popu­ lärwissenschaftlichen Sachliteratur her betrieben. Die Abkehr von der anfangs durch Haeckel vertretenen emanzipatori­ schen, zumindest aber politisch und gesellschaftlich relevanten Interpretation naturwissenschaftlicher Aufklärung und das Bemühen, naturwissenschaft­ liche Themen dennoch für ein möglichst breites Publikum attraktiv zu hal­ ten, führten mehr und mehr zur abwiegelnden Konzentration auf pitto­ reske Marginalaspekte und abenteuerliche Spekulationen. Naturwissenschaft und Technik wurden damit unter der Hand zu Vehikeln einer neuerlichen Flucht in exotische und metaphysische Bereiche oder dienten direkt der ideo­ logischen Vernebelung. Der schon erwähnte Nationalökonom Max Haushofer251 umriß im Vor­ wort zu seiner Sammlung An des Daseins Grenzen. Geschichten und Phanta­ sien (1908) den — alles Gegenwärtig-Relevante ausklammernden — thema­ tischen Spielraum dieser Sachbuchliteratur: Die Daseinsgrenzen sind in der fernen Vorzeit, wo zwar die forschende Naturwis­ senschaft noch in die Geschichte der steinernen Erdrinde zu dringen, aber keinen Aufschluß mehr zu geben vermag über die ersten Gedanken des Menschengeistes. Und es sind solche Grenzen in den Fernen des Raumes, wo zwar die Astronomie noch Planetenbahnen ausmißt, aber darauf verzichtet, sich in das Seelenleben zu versenken, das möglicherweise jenseits jener Sonnenfernen schimmernde Weltkörper vergeistigt. Und es sind solche Grenzen um jedes einzelne Menschendasein gezogen dort, wo es von den Schleiern des Todes umfangen wird. Endlich sind die Daseins­ grenzen für die Gesamtmenschheit dort, wo in der Zukunft groß und tief umwölkt die letzten Marksteine der Weltgeschichte stehn252.

Die Flucht aus der Relevanz führt thematisch in die „Drachenzeit“, zu den

249 In: Extrapolation, Vol. I, No. 1, Dec. 1959. 250 Hält man sich an die Kategorien dieser Bibliographie, so wären im deutsch­ sprachigen Bereich (als „pseudo-historical romances“) zur Science Fiction Ro­ mane wie David Friedrich Weinlands Rulaman (1876) oder Max Haushofers Unhold, der Höhlenmensch (1880) zu zählen. 251 Vgl. S. 97 dieser Arbeit. 252 M. Haushofer: An des Daseins Grenzen, S. 3 f

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Mondbewohnern258 und zu den diversen Möglichkeiten des Erd- oder Welt­ untergangs in fernster Zukunft. Alfred Bester, einer der beliebtesten Science-Fiction-Autoren, charakteri­ sierte diese Art von „Politik“ mit zynischer Selbstironie: What [...] is in the inwardness of science fiction writers that appeals to fans when they are calm and euphoric? Let’s immediately dismiss all notions of serious social criticism, valuable scientific speculation, important philosophic extrapolation, and so on. These are the pretences of science fiction and they’re really worthless. [••.]. It [science fiction — M. N.J knows little and cares less about details of reality; it’s only interested in making the big decisions: Who runs for galactic president. What to do about Mars. Should we help Alpha Centauri253 254.

Aber auch dort, wo scheinbar die weitere soziale und politische Entwick­ lung der Gegenwart angesprochen wird, in den „futurologischen“ „Sach­ büchern“, wie sie um die Jahrhundertwende aufkamen, wußte man die sinnvolle, zusammenhängende Verarbeitung von Informationen und die Bildung eines historisch konturierten, auf die jeweilige objektive gesell­ schaftliche Interessenlage der Leser bezogenen Wissens zu verhindern. Dabei praktizierte man bereits Verfahren, die später als Charakteristika der Mas­ senmedien analysiert wurden: einen abstrakten Utopismus und, mehr noch, ein atomistisches, wohl dosiertes Mischungsprinzip, das zudem als „tolerant“ und „objektiv“ ausgegeben werden konnte, oder ein „emotionales Wechsel­ bad zwischen Idylle und Detonation“255*257 , die Präsentation von „Tischlein 258 deck dich“ und „Knüppel aus dem Sack“258. In einem von Arthur Brehmer herausgegebenen Sammelband Die Welt in hundert Jahren251 steht der Bei­ trag Die Welt in 100 Jahren des Militaristen Rudolf Martin258 neben Ber­ 253 Dabei gibt Haushofer das bis heute gültige Rezept preis, nach dem die Mon­ stren in der Science Fiction gebraut werden: „Was von der irdischen Tierwelt und ihren verwegensten Formen dem Forscher nur mehr im Mikroskop ent­ gegentritt, ist dort vielleicht zum herrschenden Hauptgebilde geworden. Was sich unsere Phantasie an abenteuerlichen Mischungen von pflanzlicher und tie­ rischer Wesenheit, von unglaublichen Übergängen aus leblosen Dingen in tausendgliedriges Leben träumt, wird dort vielleicht von der Wirklichkeit noch übertroffen.“ Ebd., S. 70.) 254 A. Bester: Science fiction and the renaissance man. In: B. Davenport: The sci­ ence fiction novel, 1959, S. 114 f. 255 H. M. Enzensberger: Einzelheiten I. 1969, S. 122. 258 H. Holzer: Massenkommunikation und Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. 1969, S. 54. 257 Berlin 1910. 258 Martin schrieb u. a.: Die Zukunft Rußlands. 1906; Berlin — Bagdad. 1907 u. Der Weltkrieg in den Lüften. 1909.

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tha von Suttners Der Frieden in 100 Jahren, eine frühe Kritik der Techno­ kratie von Eduard Bernstein neben dem Plädoyer für eine brutalere Kolo­ nialpolitik von Karl Peters. Das scheinbar so unverbindliche und diffuse Gesamtarrangement gerinnt zu einer unverblümten Apologie des Status quo. Die schlechte Gegenwart, aus der man zunächst die Flucht in eine bessere Zukunft (oder Vergangen­ heit) anzubieten scheint, präsentiert sich — zwischen Urtierchen und Welt­ untergang — als die beste aller möglichen Welten. (Je nach Dringlichkeit der politischen Situation wurde man dabei auch deutlicher. In einem ver­ gleichbaren Werk von 1932 findet sich die Illustration einer Szene, die ver­ mutlich noch heute zu den Wunschträumen aller Technokraten gehört, die sich um eine „Versachlichung“ der Herrschaftsausübung bemühen: „Licht­ elektrisch gelenkte Automatensoldaten schlugen die meuternde Menge nie­ der . . ,“259.) Die „naturwissenschaftlichen“ Antizipationen eines Wilhelm Bölsche*280 unterschieden sich nur graduell von den pathologischen Wahnsystemen Blavatskys. Und wenn diese behauptete, Atome und Minerale „lebten“, besä­ ßen Instinkt und Intelligenz, so lieferten dazu — in vermeintlich aufkläreri­ scher und informierender Absicht — Autoren wie Kurd Laßwitz, Carl Grunert281 oder Hans Dominik mit „naturwissenschaftlichen“ oder „technischen Märchen“282 die Illustration. Sie gingen dabei einerseits von dem verhäng­ nisvollen Konzept einer „volkstümlichen“ Didaktik aus, in der — um der angeblich notwendigen Emotionalität willen — auch sachlich falsche Dar­ stellungsweisen in Kauf genommen wurden, und sie versuchten zum andern, in Kreisen des antirational und antitechnisch eingestellten Bildungsbürger­ tums (dem sie selbst zutiefst verpflichtet waren) mit Hilfe einer platt anthropomorphisierenden Poetisierung, die nichts mit jener Dimension der Sinnlichkeit zu tun hattte, die die Sprache eines Keplers oder Galilei auszeich­ nete, wissenschaftliches und technisches Interesse zu wecken. Tatsächlich be­ stätigten sie damit lediglich der Naturwissenschaft und Technik inadäquate Denkweisen und verstärkten die weitere emotional-irrationale Besetzung dieser Bereiche. — Was Karl Kraus angeblich auf die Psychoanalyse münzte, 256 D. Papp: Zukunft und Ende der Welt. 1932. Legende zur Illustr. zwischen S. 136 u. 137. 280 Vgl. S. 95 dieser Arbeit. 281 Unter dem Einfluß der „naturwissenschaftlichen Märchen“ von Laßwitz schrieb Grunert die folgenden Novellensammlungen: Feinde im Weltall. 1904; Im irdi­ schen Jenseits. 1904; Menschen von Morgen. 1905 u. Der Marsspion und an­ dere Novellen. 1908. 282 H. Dominik: Technische Märchen. 1903.

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gilt hier zu Recht: sie hielten für die Therapie, was die eigentliche Krank­ heit war. Da entschuldigten sich Blutkörperchen: „Verzeihe, lieber Nachbar, daß ich dich angestoßen habe!“283, und Dominik führt jugendliche Leser auf die folgende Weise in die „Geheimnisse“ der Physik ein: „Ich muß euch jetzt entlassen“, sagte der Oberleitungsdraht zu den 50 Ampere [...] „Der zweite Pol der Dynamomaschine wartet mit Sehnsucht auf euch [...] „[. . .] wir müssen nach Hause und den Stromkreis schließen [. . .]“ „[. . .] seid ihr alle da?“ rief der negative Pol der Dynamomaschine“, [.. .] ihr lie­ derlichen Herumtreiber“263 264265 ? „Also doch heißgelaufen“, brummte die Dampflokomotive und stoppte ab263. „Könnte ich nur, wie ich wollte“, knurrte der Phasenverschiebungswinkel, während er die Leitung entlang huschte, „hätte ich nur meine Verbündeten, den FerrantEffekt und die Resonanz hier, ich wollte das neumodische Ding schon klein be­ kommen266.

Dies alles ließe sich heute als skurrile Antiquität abtun, „erzählte“ nicht noch immer im Grundschulunterricht „das Regentröpfchen von seiner Reise“ und würden Befürworter einer solchen Poetisierung — wie C. P. Snow267 oder Heinrich Schirmbeck (ein glühender Verehrer der Science Fiction übrigens268269 ) — nicht als Progressisten gefeiert. Für Schirmbeck, der als Kronzeugen seiner Theorie mit Vorliebe reaktionäre und technokratische Irrationalisten vom Schlage eines Ludwig Klages, Ernst Jünger, Friedrich Georg Jünger, Arnold Gehlen oder Teilhard de Chardin heranzieht, sind denn auch im „Todesblitz über der japanischen Stadt [. . . ] Physik und Theologie eins geworden“289. Die Antagonismen des Gesellschaftssystems werden zu anthropologischen „Synchronisationsdefekten“270 entpolitisiert, wobei der Poesie die Funktion des Nebelwerfers zukommen soll. Man braucht nur „begriffliche Erkenntnis, Denkmodelle wissenschaftlichen Welt­ verständnisses in emotionale Poesie umzuschmelzen, derart, daß sie mensch­ lichen Rang und menschliches Interesse erhält“271, und Systemzwang kann C. Grunert: Im irdischen Jenseits, S. 137. H. Dominik: Technische Märchen, S. 24, 27 u. 34. Ebd., S. 70. Ebd., S. 74. Vgl. hierzu C. P. Snow: Die zwei Kulturen. 1967, und — mit teilweise kriti­ schen Beiträgen — H. Kreuzer: Literarische und naturwissenschaftliche Intelli­ genz. 1969. 268 Vgl. hierzu auch H. Schirmbeck: Die erfundene Zukunft. 1967. — In Die For­ mel und die Sinnlichkeit. 1964, sieht Schirmbeck Ernst Blochs Das Prinzip Hoff­ nung großzügig als „ein durchaus ebenbürtiges Korrelat“ zur „angelsächsischen“ Science Fiction eines Robert Heinlen und Isaac Asimov an. Ebd., S. 141 f. 269 Ebd., S. 83 . 279 Ebd., S. 20. 271 Ebd., S. 23. 263 264 265 266 267

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als Sachzwang mit „human touch“ ausgegeben werden. Wo Wissenschaft und Technik unter der Devise der „Wertfreiheit“, dem Prinzip der Profit­ maximierung und als Herrschaftsinstrumente kaum mehr zur Humanisie­ rung der Lebenswelt beitragen, werden diese Bereiche selbst vermenschlicht. Nicht mehr die Welt, sondern der Mensch ist dann das Objekt der Verände­ rung. Er hat sich als dysfunktionales Relikt in einem inhuman-technokrati­ schen System zu transformieren oder unterzugehen. Notfalls soll ihm durch genetische Manipulationen auf die Sprünge geholfen werden272. Die Dich­ tung hat demnach nicht mehr hinterwäldlerisch auf dem Primat des Huma­ nen zu beharren, sondern dem „Dichter der Zukunft“ kommt nach Schirmbeck die Aufgabe zu, „in seinem Werk ein Äquivalent zur Laboratoriums­ ethik des Wissenschaftlers zu erreichen“273. „Science Fiction wird Dichtung oder Dichtung Science Fiction werden müssen, einen anderen Weg gibt es nicht.“274 Wie sich Schirmbeck diese Dichtung und zugleich die Arbeitsatmo­ sphäre in den Labors der Universitäten und Konzerne vorstellt, läßt sich indirekt dem folgenden Appell entnehmen: Wo aber ist der Dichter, der die Sprache der Atome verstünde, wie der Held des Märchens die Sprache der-Vögel; der das Atom zum Sprechen brächte und in kom­ munizierender [!] Wechselrede den Einsamen aus dem Turm seines anarchischen Selbst lockt, bis ihm im jauchzenden Reigen der Atome die Musik von der Geburt einer neuen Welt erklingt275?

Auch dieser so progressiv klingende technokratische Umweg zur Rechtferti­ gung des Inhumanen ist keineswegs so neu, wie er sich geriert. Daß dabei die Vorläufer solcher poetischer Verklärungen der Herrschaftsverhältnisse, die italienischen Futuristen nämlich, nicht mehr so recht gewürdigt werden, ist allerdings verständlich. Zu offen liegen mittlerweile sowohl die Motiva­ tionen wie die politische Zielrichtung dieser Bewegung zutage. Im Futurismus revoltierte zwar die Jeunesse doree Italiens276 gegen das Risorgimento ihrer Väter. Aber nur, um sich um so heftiger den zu auto­ nomen Mächten hypostasierten Entwicklungstendenzen zu unterwerfen, die die bisherige zentrale gesellschaftliche und ökonomische Stellung des Bürger­ tums ins Wanken gebracht hatten. Die Scheinrevolte wurde durch neue Überautoritäten gedeckt und erschien damit risikolos. 272 Vgl. hierzu auch H. Schirmbeck: Ihr werdet sein wie Götter. 1966. 273 H. Schirmbeck: Die Formel und die Sinnlichkeit, S. 80. 274 Ebd., S. 75. 275 Ebd., S. 177. 270 Filippo Tommaso Marinetti: „Ich hatte das Glück, von meinem Vater ein be­ achtliches Vermögen zu erben [. . .]“ Il processo e l’assoluzione di ,Mafarka il

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Die formale „Revolution“ des „verso libero“ wurde ergänzt durch platte Poetisierungen der Technik im Stile Laßwitz’, Grunerts oder Dominiks* 277 und durch die glorifizierende Ideologie eines entfesselten hochindustrialisier­ ten Kolonialimperialismus. Nous sommes las de grignoter les brise-lames et de croquer au large les escadres. L’heure est venue de conquérir l’espace et de monter à 1’ assaut des Étoiles278.

Da dieser Kolonialisationsraum (in dem nach herkömmlichem Brauch die Gesetze christlicher Politik und Seefahrt außer Kraft gesetzt sind) damals noch nicht zur Verfügung stand, beschied sich Marinetti mit der Verherr­ lichung der Metzeleien Italiens unter den Libyern279 im besonderen und des Krieges im allgemeinen als „diese einzige Hygiene der Welt“280, — priesen die Futuristen „den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat des Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes“281. Vom anwachsenden Sozialismus sich zu Recht bedroht fühlend und der angekränkelten Kultur ihrer Elternhäuser überdrüssig, riefen die Futuristen mit herostratischem Autismus zur Vernichtung aller Kultur und Geschich­ te282 auf. Die Welt sollte ihretwegen untergehen oder sich in einer Mi­ schung aus technisierter Barbarei und atavistischer Irrationalität erneuern: Die Wissenschaft hat nach unserer Meinung die Menschen zu einer Barbarei zurück­ geführt, zur wunderbaren, höheren Barbarei283.

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Futurista'. In: F. T. Marinetti: Distruzione. Mailand 1911, S. 4. Übers, u. Zit. N. Ch. Baumgarth: Geschichte des Futurismus. 1966, S. 62. Vgl. hierzu etwa die Anthologie I poeti futuristi. Mailand 1912, bes. die bei Ch. Baumgarth (s. Anm. 1) wiedergegebenen Gedichte An meinen Pegasus v. Marinetti, Himmelstürmer v. Libero Altomare, Flucht im Flugzeug v. Enrico Cavacchioli und Das Auto spricht v. Auro d’Alba (S. 263—265 u. 271—274). F. T. Marinetti: La conquête des étoiles. Paris 1902. Zit. n. Ch. Baumgarth: Geschichte des Futurismus, S. 12, Anm. 10. Im Krieg um Libyen kamen — 1911 — zum erstenmal Flugzeuge und Bomben zum Einsatz. Fondazione e manifesto del futurismo (v. 11. 2. 1909). Übers, und Zit. n. Ch. Baumgarth: Geschichte des Futurismus, S. 26. Ebd. „Vor allem, was ist mit Futurismus gemeint? Ganz einfach ausgedrückt bedeu­ tet Futurismus: Haß auf die Vergangenheit.“ F. T. Marinetti: Rapporto sulla vittoria del futurismo a Trieste. In: Aldo Palazzeschi: L’incendiario. Mailand 1910, S. 12. Übers, u. Zit. n. Ch. Baumgarth: Geschichte des Futurismus, S. 37. Umberto Boccioni: Pittura scultura futuriste. Mailand 1914, S. 30 f. Übers, u. Zit. n. Ch. Baumgarth: Geschichte des Futurismus, S. 133.

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Verherrlichung des Instinkts und des Spürsinns im Tier Mensch, Pflege der wahr­ sagenden Intuition, des wilden und grausamen Individualismus, Verachtung der alten wucherischen Weisheit, Verschwendung unserer Gefühle und psychologischen Kräfte, täglicher Heroismus von Leib und Seele. Das ist es, was wir wollen284. [. . .] die Witterung, die Witterung allein genügt den Bestien285!

Die Verachtung alles Weiblichen (die Projektion des scheinrevolutionären, ödipalen Vaterhasses) ging Hand in Hand mit dem Wunsch nach der „Überwindung“ des Menschen und künstlichen (asexuellen) Schaffung eines Übermenschen, für den der hemmungslose Individualismus des frühindu­ striellen Unternehmertums und die als übermächtig empfundene Maschine das Leitbild abgaben. Wenn man LAMARCKS Hypothese der Verwandlungsmöglichkeiten akzeptiert, dann muß man zugeben, daß wir die Schaffung eines nicht-menschlichen Typs er­ streben, in dem der moralische Schmerz, die Güte, die Zuneigung und die Liebe abgeschafft sind, denn sie sind die zersetzenden Gifte der unerschöpflichen Lebens­ energie, sie unterbrechen unsere starke physiologische Elektrizität. [.. .] Der mecha­ nische, nicht-menschliche Typ, der für eine allgegenwärtige Geschwindigkeit kon­ struiert ist, wird selbstverständlich grausam, allwissend und kämpferisch sein. Er wird mit unerwarteten Organen ausgestattet sein [. ..] Der Mensch der Zukunft wird sein Herz auf seine wahre Verteilerfunktion reduzieren. Das Herz muß in gewisser Weise eine Art Magen des Gehirns werden, der sich methodisch auffüllt, damit der Geist in Aktion treten kann. Man begegnet schon heute Menschen, die fast ohne Liebe in einer schönen, stahlfarbenen Atmosphäre durchs Leben gehen. [. ..] Aber dazu ist nötig, daß die jungen Männer unserer Zeit, von den erotischen Büchern und dem zweifachen Alkohol der Sentimentalität und der Fleischeslust angeekelt, endlich immun gegen die Krankheit der Liebe werden und lernen, [...] ihren Geschlechtstrieb durch rasche und unverbindliche Kontakte mit Frauen ständig abzulenken286. Der Mensch wird mechanisch Lebewesen schaffen! Die wissenschaftlichen Experi­ mente von Überpflanzungs- und Zeugungsversuchen bei Tieren sind in der Physio­ logie schon ein weiterer rudimentärer, aber herrlicher Sieg des Menschen über die Natur287.

Den Höhepunkt von Marinettis Zukunftsroman Mafarka Le Futuriste: Roman Africain (Paris 1909) bildet — neben den detailliert beschriebenen sadistischen Massenvergewaltigungen von Negerinnen — die Konstruk284 F. T. Marinetti in: Archivo del futurismo, Bd I, Rom 1958, S. 31. Übers, u. Zit. n. Ch. Baumgarth: Geschichte des Futurismus, S. 35. 285 F. T. Marinetti in: U. Boccioni: Pittura scultura futuriste, S. 75. Übers, u. Zit. n. Ch. Baumgarth: Geschichte des Futurismus, S. 131. 286 F. T. Marinetti: Le Futurisme. Paris 1911, S. 73 ff. Übers, u. Zit. n. Ch. Baum­ garth: Geschichte des Futurismus, S. 135 f. 287 U. Boccioni: Pittura scultura futuriste, S. 24 f. Übers, u. Zit. n. Ch. Baumgarth: Geschichte des Futurismus, S. 136 f.

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tion eines riesigen „Sohnes“, dem Mafarka am Grabe seiner Mutter um den Hals fällt und das Leben einhaucht. Noch deutlicher wird die sexuelle Besetzung dieser Übermenschen- und Technikideologie (die damit über Nietzsches Idee oder das bloße Pygmalionproblem weit hinausgeht) bei Alfred Döblin, einem der wenigen Vertre­ ter futuristischer Ideen im deutschen Spätexpressionismus288. An sadisti­ schen Greueln, sexualneurotischen Wunschvorstellungen und Kastrations­ symbolik übertrifft sein Zukunftsroman Berge, Meere und Giganten (1924) sogar Marinettis Mafarka-. Kaum war der Hauptzug außer Sicht, warfen sich Frauen auf die Fremden, ent­ kleideten sie vor den hohnlachenden Männern, zogen ihnen knappe Knabenhosen an, die in der Schamgegend geöffnet waren. Vorgebunden war da kein Feigenblatt, sondern eine derbe rote Rübe mit grünem Kraut. [.. .] Und als ein Straftrupp zurückkam, die nahegelegenen Häuser verbrannte, da liefen hinter dem zurück­ kehrenden Trupp, der keine Menschenbeute machen konnte, eine Schar Rinder her. Auf ihnen waren Leichen von gefangenen Kriegerinnen gebunden; den schamlosen Rübenschmuck hatte man zwischen ihre blanken Schenkel gepflanzt. Getrieben wur­ den die Rinder von zwei Frauen, die die Hände auf den Rücken gebunden hatten. In kurzen Knabenhosen mit den schwankenden Rüben gingen auch sie, aber nicht stumm mit gesenkten Köpfen wie die früher losgelassenen: ihre Brüste waren ent­ blößt, in einem Sack hatte man links und rechts an ihrem Rumpfe kleine wimmernde Schweine angebunden, deren Schnauzen hervorsahen und gegen die Brüste schnapp­ ten289.

Gershon Legman, der sich vor allem auf diese sexualpathologischen Aspekte der Technik-Verehrung inner- und außerhalb der Science Fiction konzentrierte, kommt zu dem Ergebnis: [...] dieser ganze Vorgang ist nur der klassische neurotische Mechanismus der Erotisierung der Furcht: die Angst vor einer überwältigenden Macht wird in eine ero­ tische Unterwürfigkeit ihr gegenüber umgewandelt und in das Verlangen [...], ver­ zückt unter ihr zu sterben. Hier, in der tiefsten Schicht, beginnt man die unvermeid288 Trotz ähnlicher Ausgangslage (vgl. etwa die Tagebucheinträge Georg Heyms, in denen er einen Krieg herbeisehnt) und dem typischen „Vater-Sohn-Konflikt“ fand im dtn. Expressionismus zwar die poetische und malerische Theorie des Futu­ rismus Resonanz (bes. im Künstlerkreis um Herwart Waldens Zeitschr. Der Sturm, kaum aber die Technik-Ideologie des Futurismus. Zur magischen Rolle der Technik im dtn. Expressionismus vgl. H. Geerken: Die goldene Bombe. 1970. An Konzepte des Futurismus erinnert die Dämonisierung der Technik (und Technisierung der Natur) in Bernhard Kellermanns Bestseller Der Tunnel. 1913 (358. Tsd. 1940). 289 A. Döblin: Berge, Meere und Giganten, S. 226. — In der Neufassung, die u. d. T. Giganten, ein Abenteuerbuch (1930) erschien, wurden diese und ähnliche Passagen ausgemerzt.

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liehe Verbindung zwischen der SF [Science Fiction] und dem Nazi-Traum von der Herrenrasse zu verstehen [...]. [.. .] die psychologische Dynamik ist folgende: im ersten Schritt des paranoiden Komplexes versucht das Individuum, seinen Haß auf mächtige Vaterfiguren — und letztlich auf alle autoritären Gestalten — abzureagie­ ren durch eine Scheinrevolte gegen eine ganze Serie solcher Ersatzfiguren, aber nie­ mals gegen die wirkliche. [. . .] Wenn jedoch diese Flucht oder dieses Ablenkungsmanöver vor dem Problem zusam­ menzubrechen beginnt, dann fängt das Individuum an, die Schuld für seinen Haß auf die wirkliche oder ersetzte Machtperson zu schieben, gegen die er tatsächlich gerichtet ist. Sie wird dann beschuldigt, das Individuum zu hassen oder ihm Scha­ den zuzufügen. Dies ist das entscheidende Element im Negerhaß, im Antisemitismus und ähnlichen xenophoben Ideen, wobei gewöhnlich der gehaßten Gruppe ziemlich offen eine geheime physisch-sexuelle oder geistige Überlegenheit angekreidet wird, oder gar irgendein sexuelles oder geistiges Komplott [. . .] gegen das paranoide Individuum selbst [...]. Diese Verschwörung ist natürlich völlig identisch mit sei­ nem eigenen Phantasiekomplott gegen die Vaterfigur oder Autoritätsperson und zeigt eigentlich gewöhnlich nur, wie es sich in seiner Phantasie den Angriff, den es selbst führen möchte, gedacht hat. Bevor das zutiefst geängstigte Individuum sich schließlich in diese völlig paranoiden Ideen seiner eigenen privaten Verschwörungen flüchtet, die von ,dunkelhäutigen', ,minderwertigen' oder geistig ,überlegenen' Rassen (vom Mars) oder gar von Mon­ stren, die es selbst losgelassen oder von selbstgeschaffenen Maschinen wimmeln, die nun — außer Kontrolle geraten — in seinem Kopf oder Unterleib brummen [...], macht das Individuum [. . .] einen letzten Versuch, alle diese Haß- und Rebellions­ ideen, die seine Kräfte übersteigen und es zerstören wollen, abzuschütteln. Den Haß gegen seine Eltern, die Autorität oder die Außenwelt richtet es selbstanklagend gegen sich, legt ihn als Schwäche und Armseligkeit aus und versucht, mit der Autori­ tät der Außenwelt Frieden zu schließen und sie wieder wie als Kind zu lieben. [. . .] Es identifiziert sich mit der überwältigenden Macht der Autoritätsperson, bewundert und anerkennt sie als gehorsamer Sohn. Es gibt sich ihr hin — homo­ sexuell, da die Macht als männlich empfunden wird — wie ein neuer Ganymed, der sich Jupiter anbietet, da er ihn anders nicht bezwingen kann290.

Der Wunsch nach der Unterwerfung unter neue Überautoritäten mani­ festierte sich im Futurismus von Anfang an auch politisch. Zu einer Zeit, als Benito Mussolini noch Agitator der SPI war und den italienischen Überfall auf Libyen dadurch verhindern wollte, daß er Arbeiterfrauen aufforderte, sich auf die Eisenbahnschienen zu legen, um die Abfahrt der Soldatentrans­ porte zu verhindern, konnten die Futuristen schon für sich in Anspruch neh­ men, für eine „zynische, schlaue und aggressive Außenpolitik — koloniale Expansionspolitik — freie Wirtschaft“ plädiert, zur „patriotischen Erzie­ hung des Proletariats“, gegen „das schmutzige Gesindel der Pazifisten“ 290 G. Legman: Ein Exkurs über die Science Fiction, S. 338 f. — Vgl. auch V. Tausk: Über die Entstehung des „Beeinflussungsapparates “, 1919, H. Sachs: Die Verspätung des Maschinenzeitalters, 1934.

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aufgerufen und „mit Vergnügen“291 auf offener Straße Kriegsgegner ver­ prügelt zu haben. 1919 stellten sie gemeinsam mit Mussolini die erste fa­ schistische Wahlliste auf und agitierten besonders erfolgreich unter der ita­ lienischen Studentenschaft. Die „Revolutionäre“ wurden „getreue Bürger des neuen Staates“292. Marinetti, der vordem zur Vernichtung von Biblio­ theken, Museen und Akademien aufgerufen hatte, wurde 1929 Mitglied der neuen Akademie Italiens. Die futuristische Technik- und Sexual-Ideologie blieb als IntellektuellenRevolte vor dem ersten Weltkrieg und in den zwanziger Jahren noch auf jene Kreise der Ober- und Mittelschichten beschränkt, in denen derartige Exzesse der Selbstzerstörung und sadistischen Ersatzsexualität auf Grund der verunsicherten gesellschaftlichen Lage, beziehungsweise der dort beson­ ders ausgeprägten repressiven Sexualmoral, eine besondere Faszination und Schockwirkung haben mußten293. In der populären Science Fiction der Zeit fand sich zwar eine ähnliche Behandlung der Sexualität; aber die spezifischen Untergangssehnsüchte des Futurismus hielten in nennenswertem Ausmaß erst nach 1945 ihren Einzug — mit der Drohung und Verlockung atomarer Vernichtung. Jedoch auch da­ für hatte die metaphysische Scheinrevolte Blavatskyscher Provenienz, die mit Hilfe einer Über-Wissenschaft und Über-Technik gegen Naturwissen­ schaft und Technik anlief, den emotionalen Vorbau und den ideologischen Überbau geliefert. Von den USA und England ausgehend, wurde diese Bewegung Grundlage für ein ganzes Kontinuum pseudo-wissenschaftlich-phantastischer Literatur, das sich spätestens um die Jahrhundertwende auch in Deutschland etablierte, seinen Höhepunkt hier aber während und nach dem ersten Weltkrieg — in der Transformationsphase zum manifest faschistischen Gesellschaftssystem — erreichte. Einmal gab der systematisierte Irrationalismus den direkten Anstoß zu einem neuen Aufschwung okkultistischer Traktate und Romane, die der Science Fiction thematisch meist voraus waren294, und dieser wie­ 291 Marinettis zweites futuristisches Manifest v. 11. 10. 1911. Übers, u. Zit. n. Ch. Baumgarth: Geschichte des Futurismus, S. 78. 292 Ch. Baumgarth: Geschichte des Futurismus, S. 109. 293 Vgl. hierzu W. Reich: Massenpsychologie des Faschismus, 2. Aufl., bes. S. 101 f. 294 Etwa J. U. Lloyd: Etidorpha [Anagramm für Aphrodite] oder das Ende der Welt. (1899) 2 Bde. Die Rieseninsekten und überlebenden Saurier (schon da­ mals nicht mehr ganz neu) wurden ins Standardrepertoire der Science Fiction übernommen, die Illustration des unterirdischen Pilzwaldes (ebd., Bd 1, zwi­ schen S. 198 u. 199) in Oskar Hoffmanns Mondroman Mac Milfords Reisen im Universum (zwischen S. 120 u. 121) direkt plagiiert. Zu nennen sind weiter

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derum Stoff lieferten, zum andern beherrschte er auch die phantastische Literatur der deutschen Neoromantik, um die sich vor allem der GeorgMüller-Verlag in München annahm, und deren rührigste Vertreter Hanns Heinz Ewers295 als Autor, Übersetzer und Herausgeber und Alfred Kubin als Illustrator waren. Im Rahmen dieser phantastischen Literatur kommt der „Science Fiction“ nur deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil sie sich — auf die Dauer und international gesehen — als das erfolgreichste Etikett erwies. In Deutsch­ land, wo dieser Begriff erst Anfang der fünfziger Jahre übernommen die Romane von Otto Schultzky: Modernismus. 1911 u. 1913, 2 Bde.; Im Sa­ turnsystem. 1919. Sie können an räumlich-zeitlicher Expansion, an technischer, biologischer und pseudowissenschaftlicher Phantastik sowie in der Überwindung des „alten anthropo- und geozentrischen Weltbildes“ (M. Schwonke: Vom Staatsroman, S. 85) mit den neuesten Science-Fiction-Romanen konkurrieren. In Modernismus betreibt der „Erzpriester“ und „Großdenker Ormud“ — an­ läßlich des Durchgangs des Halleyschen Kometen („seines Schweifes katalyti­ sche Molekülzeugung atmet schöpferisch in der irdischen Atmosphäre“ — ebd., Bd 1, S. 2) und mit Hilfe einer „von auswärts kommende(n) psychische(n) Strö­ mung“ (S. 29) — die „seelische Evolution“ der „germanischen Staaten“ (Deutsch­ land, England u. USA) zur „Weltraummenschheit“, zur „kommenden Herren­ rasse“ und zur „halbgöttlichen Fixsternmenschheit“ (S. 25). Dabei bleibt offen, ob uns nicht auch dann „Vollgötter“ nur als Haustiere benutzen. Ormund muß zunächst gegen „Lateiner und Slaven, Gelbe und Schwarze“ (S. 41), das „ortho­ doxe“ Christentum und den Materialismus kämpfen. Vorbild sind ihm diejeni­ gen der „billionen Menschheiten der Sterneninsel“ (S. 226), die sich auf irgend­ eine obskure Art nicht-geschlechtlich fortpflanzen und bei denen „Religion und Wissenschaft innig verquickt in Eintracht miteinander“ (S. 177) sind. In der 1919 erschienenen Fortsetzung Im Saturnsystem kämpft Ormud, Schultzkys „Superich“ (S. 72), auch gegen „Republik, Sozialismus und Schacher“ (S. 73). Obwohl „fleischliche Begierden“ noch immer seine „Höchstnatur“ hemmen (S. 104), gründet er eine „intersternige Nation im Saturnbereich“, die sich „auf das ganze Sonnensystem ausdehnen“ soll: „Im Zukunftsreich gebietet, wer/ Den Raum durcheilt auf eignem Denken/ Es aus der Erdgewohnheit hehr/ Zum Sternenepos weiss zu lenken.“ (S. 43). Der psychotische Charakter dieser Werke zeigt sich sowohl in der Sprache (die der Schirmbeckschen Science-Fiction-Poetik vermutlich sehr nahe kommt), wie in den selbstgefertigten, infan­ tilen Illustrationen des Autors. 295 Vgl. hierzu R. Kloss: Utopie und Phantastik im Georg Müller Verlag. 1966. Ewers’ {Alraune, 1911 —238. Tsd. 1922; Horst Wessel, 1932 — 200. Tsd. 1934) nazistische Karriere ist hinreichend bekannt. Gustav Meyrink {Der Golem, 1915 191. Tsd. 1931) konvertierte zum Buddhismus. Karl Hans Strobl (Eleagabal Kuperus, 1910 — letzte Ausg. 1928 u. Lemuria, 1917) erbat 1938 die „Bevoll­ mächtigung [für die] Organisation österreichische Schrifttumskammer“. Vgl. hierzu J. Wulf: Literatur und Dichtung im Dritten Reich. 1966, S. 222 f.

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wurde, verwandte man bis dahin Bezeichnungen wie „Roman aus der Zu­ kunft“, „Phantasieroman“, „technischer Zukunftsroman“, „phantastischer Abenteuerroman“, „Roman aus der Zukunft der Technik“, „phantastisch­ naturwissenschaftlicher Roman“, „utopistischer Roman“, „seltsamer Ro­ man“ oder „metaphysisch-phantastischer Roman“ u. ä. ebenso synonym wie in amerikanischen „weird“- und „fantasy“-Magazinen „Science Fiction“ er­ schien — und umgekehrt. In Hans Dominiks Romanen, die als Prototyp des „technischen Zukunftsromans“ gelten296 298, ist ebenso viel Mystik und 297 Okkultismus zu finden wie in „metaphysischen“ oder „phantastischen“ Ro­ manen an technischen oder naturwissenschaftlichen Motivationen297. Der entscheidende und spezifisch angloamerikanische Beitrag zur Konsoli­ dierung der Science Fiction lag demnach nicht im Einbringen des — angeb­ lich nationalcharakteristischen — „selbstverständlichen“ und „unbeküm­ merten“ Umgangs mit der Naturwissenschaft und Technik, sondern vielmehr in einer neurotischen und ideologischen Reaktion darauf, die eben verhin­ derte, daß der Umgang mit den technischen und naturwissenschaftlichen Möglichkeiten allzu unbekümmert wurde und etwa den bestehenden Herrschafts- und Kapitalinteressen hätte zuwiderlaufen können. Denn Mystik ist der Dampf, der solche gesellschaftlichen Landschaften vernebeln soll, die vor dem klaren Auge als Sumpf und Wüste entlarvt würden. Die Mystik ist allerwege der Lückenbüßer, der dort einspringt, wo drückende Privilegien sich mit klaren Gründen nicht zu rechtfertigen vermögen298.

Sie wird überall dort in Szene gesetzt, „wo die Ketten der rational nach­ rechenbaren Verursachung gesprengt und auf Erklärungsgründe zurückge­ griffen wird, die Symbole für ein jenseits aller Vernunft Liegendes sind“299. 4. Science Fiction in der Kolportage und als Groschenheft

Ein Blick in die amerikanische Bibliographie Library of Congress catalog of printed cards300 läßt vermuten, daß Jules Vernes Romane in den USA kein allzu großer Erfolg waren. Sie wurden verstreut als Einzelausgaben herausgegeben; eine dreibändige Ausgabe (Famous travels and travellers) wurde 1887 in New York veröffentlicht, und erst ab 1911 erschien eine grö296 Dominik selbst verwendet diesen Begriff nicht. 297 Vgl. etwa O. Hoffmann: Die Vierte Dimension. Metaphysischer Phantasie­ roman. 1909, oder A. Niemann: Aetherio. 298 E. Niekisch: Ost und West. 1963, S. 30. 299 Ebd., S. 27. 300 Vol. 156, 1946.

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ßere Werkausgabe (Works of Jules Verne, ed. by Charles F. Horne. New York). Die Gründe dafür waren wohl nicht thematischer, sondern vielmehr äußerlicher Natur. Während im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Deutschland der Kolportagevertrieb voluminöser Lieferungsromane seine Hochkonjunktur erlebte, beherrschte in den USA schon eine neue Publi­ kationsform den Markt der Massenliteratur — die sogenannten „dime no­ vels“. Für diese Heftreihen, in denen jedes Heft durch jeweils abgeschlos­ sene Einzelabenteuer eines oder mehrerer Serienhelden sein eigenes Gewicht erhielt, eigneten sich Vernes umfangreiche und großstrukturierte Romane kaum. In den „dime novels“, die meist mit dem Zusatztitel „library“ in Serie gingen, dominierten zwar Wildwest-Erzählungen; es gab aber auch Pen­ dants zur Verneschen Thematik, ja einen „amerikanischen Jules Verne“: Actually, more than 75 per cent of all the hundreds of prophetic dime novels written during that period [etwa zwischen 1870 und 1900] were the work of a single man — Luis Philip Senares — concealed beneath the masquerade of ,Noname‘301.

Senares, der in etwa 30 Jahren unter 27 Pseudonymen mehr als 1500 Er­ zählungen schrieb302, spezialisierte sich unter anderem auf Serien, in denen ein jugendlicher Erfinder seine Abenteuer mit allerlei selbstgebauten Vehi­ keln (vom Dampfroß bis zum Helikopter) und Apparaten bestritt. Zu den bekanntesten dieser Serien gehörten Frank Reade, Frank Reade, Jr., Tom Edison, Jr., Bulger Boom, the inventor, Electric Bob, Jack Wright und — nach der Jahrhundertwende — Tom Swift. Auch in anderer Hinsicht war in den USA die Entwicklung der Massen­ literatur dem europäischen Markt voraus. Die amerikanischen Anti-SchundKampagnen erreichten 1898 — also gut zehn Jahre früher als in Deutsch­ land — mit Händler-Boykotts ihren Höhepunkt und machten den meisten dieser Serien den Garaus. Bis zum Ende des zweiten Weltkriegs und dem Durchbruch der „pochet books“ beherrschten danach die „pulp-magazines“ (kurz „pulps“ genannt) den Markt303. In der deutschen Kolportageliteratur dominierten die Lieferungsausgaben und billigen Nachdrucke von Vernes Romanen so stark, daß sich Plagiate zunächst wahrscheinlich kaum lohnten. Jedenfalls lassen sich solche nur spo­ 301 S. Moskowitz: Explorers of the infinite. 1963, S. 108. 302 Ebd., S. 122. 303 Zu den „pulps“ vgl. T. Goodstone: The pulps. 1970, u. J. Steranko: The Steranko history of comics. 1970, Vol. I, S. 14—33.

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radisch (und heute überdies nur mehr als Titelankündigungen) nachwei­ sen304. Auch in den Heftserien der nach amerikanischem Vorbild aufge­ machten „Bibliotheks“-Reihen finden sich nur vereinzelt einschlägige Ti­ tel305. Einen relativ festen Platz dagegen hatte die Science Fiction in Jahr­ büchern wie dem „neuen Universum“, deren Konzept auf Hetzels „Maga­ sin d’éducation et de récréation“ zurückging. Schon der erste Band des „neuen Universums“ enthielt eine derartige Erzählung306307 , und vor dem Ersten Weltkrieg gehörten vor allem Hans Dominik und Wilhelm Mader zu seinen Stammautoren. Eine neue Phase kündigte sich kurz nach der Jahrhundertwende an. 1902/3 erschien der schon erwähnte und auf Serie angelegte Roman Mac Milfords Reisen im Universum von Oskar Hoffmann als „Kollektion Kos­ mos“ auch in Heftform; ein Jahr zuvor — 1901 — enthielt das Illustrierte Wochenblatt für die Schweizerfamilie („Für’s Schweizer Haus“) unter dem Titel Aus anderen Welten den auf 25 Fortsetzungen angelegten Bericht über die Abenteuer, welche Johann Heinrich Fürst und seine junge Gattin auf ih­ rer Hochzeitsreise ins Weltall erlebten, und im selben Jahr erschien die Heft­ reihe Aus dem Reiche der Phantasie™, die publikationstechnisch ganz dem Vorbild der amerikanischen „dime novels“ entsprach. Der Autor dieser Se­ rie war Robert Kraft. Unter Titeln wie Der letzte Höhlenmensch, Die To­ tenstadt, Die Weltallschiffer, Das Stahlroß, Die Ansiedlung auf dem Mee­ resgründe plagiierte und verarbeitete Kraft systematisch nahezu alle Kli­ schees der damaligen Science Fiction. Die Erzählungen werden durch eine kurze Einleitung und die durchgängige Hauptfigur zusammengehalten. „Ri­ chard“, einem gelähmten Gymnasiasten, erscheint die „Phantasie“ in Ge­

304 So etwa: Reise um die Welt in 72 Tagen. 100 Lfgn., Berlin: Verlagshaus f. Volksliteratur (1893/94); Im Lande der Höhlen. 103 Lfgn., Dresden: Münchmeyer (1893/94); Der Untergang der Welt. Mindestens 70 Lfgn., ebd. (1899/ 1900). 305 Z. B. Emil von Nord: Der Untergang der Erde und die Reise der letzten Erd­ bewohner nach dem Mars. Berlin 1896 = Indianer- und Volksbibliothek, Bd. 25. J. Pohle (Die Sternenwelten, S. 5) erwähnt eine nicht näher datierte Ausgabe des „Frankfurter Pfennigmagazins“, die von phantastischen Mondbewohnern handelt. 308 Das neue Universum. 1880, Bd. 1. Dieser Bd. war mir nicht zugänglich. Den Inhalt der betreffenden Erzählung (eine roboterartige, intelligente Lokomotive macht sich selbständig und terrorisiert Mexiko) referiert E. W. Eschmann in sei­ nem Feature Die großen Gehirne. 1964, S. 1 f. 307 Aus dem Reiche der Phantasie. 1901, H. 1 —10. (Es erschien auch eine bro­ schierte Ausg. zum Preis von einer Mark.)

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stalt „eines jugendlichen Weibes“308 und läßt ihn per Traum Abenteuer in den verschiedensten Dimensionen erleben. Was würde er sich jetzt zum Beispiel wünschen? Er hatte neulich viel über die vor­ sintflutliche Zeit der Erde gelesen, es hatte ihn sehr interessiert — ja, das möchte er, in die Urzeit der Erde einmal zurückversetzt sein, er selbst, so wie er war — natür­ lich mit gesunden Füßen und kräftig, und auch ein Boot wünschte er sich [...], ein gutes Gewehr mit Patronen, die niemals alle wurden, und dann Jagdabenteuer mit Höhlenbären, mit Mammuts, Ichtyosauren und allen anderen riesenhaften Un­ geheuern — kurz, ein Lederstrumpfleben im vorsintflutlichen Urwalde, anstatt der Indianer aber Höhlenmenschen, denen er ja mit seinem Gewehr309 und seinen Kennt­ nissen wie ein Gott erscheinen mußte310.

In der ersten Erzählung also hilft Richard dem „letzten Höhlenmen­ schen“ (der sich expressis verbis als solcher vorstellt!!) und dessen Tochter gegen die „feigen Pfahlfbaujbewohner“311, die nur allzu bekannte Züge tragen: Sie sind „kurz und untersetzt“ und ihre „Gesichtszüge“ erinnern „an die der Romanen oder mehr noch an die der Slaven“312. In der nächsten Geschichte gerät durch einen Rutsch der Erdachse („Erdrevolution“!313) Leipzig auf den Äquator. Die Leute fallen tot um, und Richard „begann kein anderes Leben, als wie es Robinson auf seiner weltverlassenen Insel ge­ führt hatte . . .“3U. „Alles war tot, alles gehörte ihm!“315 In Die Weltall­ schiffer erfindet und baut Richard ein „Weltallschiff“, besichtigt damit den Mond und die „Aetherwesen“, die dort hausen, entdeckt einen neuen Plane­ ten, der von 30 bis 40 Meter hohen Riesen bewohnt wird, und erfindet nebenbei das „Nihilit“, einen Stoff, der unsichtbar macht. Im fünften Heft wünscht sich Richard „eine Insel [. ..], die genau der von Robinson Crusoe entspricht“316. Dort entdeckt er ein unterirdisch lebendes Gnomenvolk, „menschengleiche, nicht höher als ein großer Finger gewachsene, mit einem schwarzen, glänzenden Felle bekleidete Geschöpfe“ mit einem „faltigen Gesicht und ohne Augen“317. In der sechsten Geschichte entlarvt Richard den „König der Zauberer“ als „fliegenden Holländer“, der mit Hilfe eines Lebenselexiers die Jahrhun­ derte überdauert und durch Hypnosestrahlen Schiffbrüchige aller Epochen in seinem Sklaven- und Gelehrtenstaat hält. Die pseudo-sozialistischen Welt­

308 300

310 313 316

Ebd., Einleitung, S. 3. Aus dramaturgischen Gründen funktioniert das Gewehr dann doch nicht. 311 Ebd., H. 1, S. 14. 312 Ebd., S. 21. Ebd., S. 5. 314 Ebd., S. 12. 315 Ebd., S. 4. Ebd., H. 2, S. 3. 317 Ebd., S. 31 f. Ebd., H. 5, S. 1.

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verbesserungspläne des Zauberers sind frevlerisch und müßten schon aus folgendem Grund scheitern: Gott ist allmächtig, allwissend und allgütig. Warum läßt er das Leben der Wesen, die er geschaffen hat und die er schon darum lieben muß, in einem ununterbroche­ nen Kampfe sein? Warum verwandelt er nicht durch ein einziges Wort die ganze Welt in ein Paradies, in welchem es keine Mühe und keine Thränen mehr giebt? Weil die einzige Freude in der Welt die Arbeit ist und deren Segen die Entwicklung, und an dieser langsamen Entwicklung durch Ringen und Mühe hat Gott selbst seine Freude318.

(Der „Spaß“ dieser angeblich so kompensatorischen „Fluchtliteratur“ hört also spätestens dort auf, wo es um die ökonomischen und politischen Grund­ lagen des Systems geht.) Ganz im Stil Vernes und der amerikanischen „Frank-Reade“-Serien ret­ tet Richard mit seinem automatischen „Stahlroß“ in der gleichnamigen sieb­ ten Erzählung eine deutsche Jungfrau aus den gierigen Händen eines schur­ kischen (englischen) Tyrannen in Südafrika. Die Ansiedlung auf dem Mee­ resgründe findet Richard mittels eines neuen Taucheranzuges. In der ver­ sunkenen Stadt haust ein Misanthrop, der sich von Vernes Kapitän Nemo dadurch unterscheidet, daß er nicht „Nemo“ heißt, sondern von sich ledig­ lich sagt: „Ich habe keinen Namen mehr, habe auch nie einen bekannten gehabt [.. ,]“319 In der letzten Erzählung nimmt Kraft das Thema der Pol­ verschiebung wieder auf. Der Schauplatz ist diesmal Siam, das nun in der Polarregion liegt. Die Malayen entwickeln sich hier unter den neuen Um­ weltbedingungen und unter Richards Anleitung zu „indischen Eskimos“320. Ein elftes, nicht mehr erschienenes Heft sollte den Titel Vor Troja tragen und hätte vermutlich eine neue Zeitreise Richards geboten. Schon an diesen wenigen Details läßt sich der Konsolidierungsprozeß der Science Fiction charakterisieren. Als relativ späte genrehefte Verfestigung im Kanon der Massenliteratur erweist sie sich als typisches Sekundärphäno­ men. Nicht nur ideologisch liefert die Science Fiction Mythen aus zweiter 318 Ebd., S. 19 f. 319 Ebd., H. 8, S. 26. 320 Auch in dieser Situation erweist sich Richard als rechter Deutscher: „diese Tiere [Hunde] waren ihm schon jetzt weit angenehmere Gesellschafter, als die Malayen, und er glaubte, sich mit ihnen viel besser unterhalten zu können, als mit jenen.“ (H. 10, S. 29). Wer in diesem „Reich der Phantasie“ nur relativ harmlose Emanationen eines „Zeitgeistes“ zu sehen vermag, sei daran erinnert, daß es keine vierzig Jahre brauchte, bis sich derartiges endlich realisieren ließ und KZ-Schergen ihre deutschen Schäferhunde mit dem Kommando „Mensch, pack den Hund!“ auf das Zerfleischen der Genitalien von „Untermenschen“ dressierten.

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Hand. Auch literaturmorphologisch stellt sie weniger eine festgefügte Gat­ tung als vielmehr eine parasitäre Aufbereitungsmethode dar, ein Amalga­ mierungsverfahren, das — nach dem „Prinzip des totalen Plagiats“321 — die schon vorhandenen, „ausgeschriebenen“ Genres der Populärliteratur, vom Märchen bis zum Detektivroman322, durch Kulissenschieberei, Kompilations- und Verfremdungstechniken verwertet, wobei pathologische Pro­ jektionen, infantile Omnipotenz- und regressive Kompensationsphantasien die eigentlichen, Naturwissenschaft und Technik die sekundär-rationalisierenden Motivationen liefern. Robert Kraft kam bei der Popularisierung der Science Fiction in Deutsch­ land eine zentrale Bedeutung zu. Nachdem sich Karl May vom Münchmeyer-Verlag getrennt hatte, sprang Kraft als neuer Hauptautor ein. Schon zu Beginn der jahrelangen Prozesse zwischen May und Münchmeyer323 wurde Kraft systematisch als „deutscher Jules Verne“ aufgebaut324. Was seine Romane von denen Vernes unterschied, war eben jene Ausweitung ins Okkult-Phantastische, die die Science Fiction Blavatsky und anderen Ver­ tretern des neuen Aberglaubens verdankte. Zwar schrieb Kraft auch einige Erfindungs- und Entdeckungsromane in der Art Vernes325326 *; das Haupt­ gewicht seiner Produktion wie seines Erfolges lag aber auf voluminösen Lie­ ferungsromanen, die geradezu als Dramatisierungen der Blavatskyschen Theosophie gelten können. Mit einer thematischen Ökonomie, die schon seine bereits erwähnten Jugenderzählungen auszeichnete, wiederholte er ste­ reotyp ein Schema328: ein mit übersinnlichen Kräften ausgestatteter welt­ licher „Guru“ steht im Kampf mit schwarzen Magiern, die die Weltherr­ schaft anstreben. Beiden Parteien steht eine verzweigte Geheimorganisation und ein Arsenal von magischen und technisch-futuristischen Waffen zur Ver­ fügung, die von Golems und Zyklopen bis zum „Elektrodenmesser“, von der Hypnose bis zum gläsernen U-Boot und Fernsehen reichen. Die Aktionen 321 G. Legman: Ein Exkurs über die Science Fiction, S. 335. 322 Vgl. beispielsweise O. Soyka: Die Söhne der Macht. Ein Zukunfts-Detektiv­ roman. 1911. 323 Vgl. hierzu Klaus Hoffmann: Nachwort ztim Faksimiledruck des Waldröschens. 1971, S. 2617—2686. 324 Vgl. S. 63, Anm. 43 dieser Arbeit. 323 Z. B. Im Panzerautomobil um die Erde, Der Herr der Lüfte, Die Nihilit-Expedition, Im Aeroplan um die Erde. (1908—1910). 326 Dieses Urteil bezieht sich vor allem auf folgende Lieferungsromane: Detektiv Nobody’s Erlebnisse und Reiseabenteuer (1904—1906); Atalanta. Die Geheim­ nisse des Sklavensees, (etwa 1912 — benutzt wurde die Aufl. v. 1922) u. Loke Klingsor, der Mann mit den Teufelsaugen. (1927) [geschrieben 1915/16].

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gehen von unterirdischen oder unterseeischen Domizilen aus; die Kämpfe werden unter Wasser (in Lemurien und Atlantis), in riesigen Höhlen oder abgeschiedenen Teilen der Welt ausgetragen. Hier entscheiden sich die wah­ ren Geschicke unseres Planeten. Dem politischen Zustand der Erde entspricht ein geographischer. Sie ist — wie schon Blavatsky wußte — durchzogen von einem „Labyrinth“ aus „unterirdischen Höhlen und Korridoren“327, die den weißen und schwarzen Magiern als privates Verkehrsnetz dienen. So nämlich, wie jedes Haus Tapetentüren, Geheimgänge und verschlossene Ge­ mächer birgt, so wie der Erdboden von Labyrinthen, Schatzhöhlen und ganzen unterirdischen Palästen zernagt ist [...], so ist die Welt insgesamt von Geheimnis­ sen durchwaltet, ja, das Geheimnis ist die eigentliche Wirklichkeit. Man sieht deutlich, wie hinter dem Phänomen gleich dem Beziehungswahn eines Manisch-Depressiven, eine zweite Wirklichkeit konstruiert wird, die sich nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten erschließt. Man muß sich hüten, das als Ausdruck eines philosophisch oder sonstwie gearteten Zweifels an der Realität mißzudeuten: es ist die Ideologie all jener, die aus dem Mythos des ,Geheimnisses' ihren Profit schlagen328329 .

Daß diese auf Ian Flemings „James-Bond“-Romane gemünzte Charakte­ risierung ebenso für die Romane Krafts gelten kann, mag verdeutlichen, wie wenig sich an den konstituierenden ideologischen Implikationen, ja, selbst an den durchgängigen Kulissen einer Literatur geändert hat, die — wie kaum eine andere — bemüht ist, ihre Modernität zu beteuern. Wie Fleming seinem Bond, so gesteht auch Kraft seinen Über-Helden Promiskuität (oder wenigstens Polygamie) zu. Aber selbst diese kleinbürger­ liche Halluzination bleibt projektiv-tabuiert und neurotisch-autoritätsfixiert. Der „Harem, voll abgerichteter Frauen“328, wird nur der übermächtigen Führerfigur zugestanden. In seiner Autobiographie stilisierte sich der ständig unter Produktions­ zwang stehende Kraft zu einem von übernatürlichen Eingebungen über­ schütteten „Trance-Schreiber“330 (auch hierin dem Vorbild Blavatskys fol­ gend). Da in jüngster Zeit Albert Klein diese Mystifikation wieder für bare 327 Blavatsky: Die Geheimlehre, Bd. II, S. 231. Ebenso dürfte Krafts allerorts auf­ tauchende Lieblingsidee von einer Polverschiebung direkt Blavatskys Geheim­ lehre (Bd II, S. 11 u. 35) entnommen sein, obwohl sich ähnliche Spekulationen schon bei Charles Fourier finden und die Vorstellung einer total unterhöhlten Erde sich mindestens bis zu Athanasius Kircher zurückverfolgen ließe. 328 H. Ch. Buch: James Bond oder Der Kleinbürger in Waffen, S. 41. 329 E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 33. 339 R. Kraft: Eine kurze Lebensbeschreibung, von ihm selbst erzählt. (1908 od. 1909), S. 2 f.

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Münze nahm331, sei angemerkt, daß dagegen nicht nur die planvolle Aus­ wertung der theosophischen Schriften Blavatskys spricht, sondern, daß die Trancezustände Krafts auch deshalb nicht allzu intensiv gewesen sein konn­ ten, weil sie durch den dauernden Griff zum Konversationslexikon unter­ brochen sein mußten. Seine abgebrochene Ausbildung kompensierend, füllte er seine Romane mit ganzen Passagen penetrant-schullehrerhafter Beleh­ rung und Besserwisserei. Von den Bildungszitaten deutscher Klassiker bis zu Operettenlibretti, von der Kulturgeschichte des Fahrrads, der Etymologie des Wortes „Cocktail“, sämtlichen Kobra-Arten Indiens bis zum Ersatzkulinarismus eines Rezepts für „vierfach gefüllten Truthahn“ oder den reizvollen genitalen Besonder­ heiten der Asiatinnen332 trat er den ganzen Wust quizhaften Detailwissens breit, der geeignet war, dem Autodidakten die Aura eines Bildungsgiganten zu verleihen. Kraft täuschte damit in seinen Romanen nicht nur (wie andere Autoren der Branche) „ein Niveau und einen Wert vor, der nicht vorhanden ist“333334 . Neben der des bloßen Seitenfüllens hatte diese — an sich undramatische und retardierende — Faktenhuberei auch die Funktion, die Phantastik und Ir­ rationalität der Grundkonzeption durch Detailrealistik glaubhafter zu ma­ chen. Von dem wieder auf mehrere Bände geplanten Roman Die neue Erde™* erschien lediglich der erste Band. (Kraft starb 1916 im Alter von 47 Jahren.) In diesem Werk, mit dem Kraft endgültig aus der Kolportage­ schreiberei ausbrechen wollte, verarbeitete er erneut das Thema der Pol­ verschiebung. Die Erdkatastrophe steht — da eine fesselnde „einfache“ Exo­ tik wahrscheinlich Krafts stilistische Darstellungsmöglichkeiten überstieg — im Dienst einer sensationellen Kulissenverschiebung: Leipzig liegt in den Tropen, Indien in der Arktis. In dieser Situation wird dem geheimen Her­ renmenschen im Kleinbürger Gelegenheit gegeben, die Welt nach seinem Bilde neu zu gestalten. Hierbei erweist sich aufs neue die blanke Utopie­ feindlichkeit dieser sich als Utopie gebenden Literatur. Gerade dort, wo an­ scheinend alles möglich ist, darf sich nichts ändern. Die „neue Erde“ wird 331 A. Klein: Die Krise des Unterhaltungsromans, S. 150. 332 Detektiv Nobody, 11, S. 291 f. — daß diese anatomische Wunschvorstellung noch nichts von ihrer Faszination eingebüßt hat, zeigt die Titelschlagzeile der Sexillustrierten Sylt-intim vom Mai 1971: „Schlitzi macht’s quer“. 333 H. Bausinger: Volkskultur in der technischen Welt, S. 170. Vgl. auch W. E. Peuckert: Die kleinbürgerliche Welt im Schundroman. 334 Die neue Erde. Phantastisch-weltgeschichtlicher Roman. 1910. (Benutzt wurde eine posthume Ausg. mit einem „Anhang des Herausgebers“.)

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mit Hilfe eines Konversationslexikons nach der alten rekonstruiert. Ent­ völkert wird dieser Planet vor allem deshalb, um das Thema der Sexualität als Pflicht zur Arterhaltung motivierbar zu machen (ohne daß sie dabei ihren zwanghaften Charakter verloren hätte): Claudius [...] weihte die Heiraten unter den Indiern nach christlicher Art, aber er gestattete auch Vielweiberei, d. h. er duldete sie nicht nur heimlich [...], sondern er bestätigte sie, [...] er[...] hielt es für geboten, für seine Pflicht, sobald ein Miß­ verhältnis zwischen der Zahl der Jünglinge und Mädchen eintrat [... zu] töten [...] oder erlaubte Unzucht335.

Die affektive Motivation dieses Romans liegt darin, daß dem in der Realität unterdrückten und manipulierten Leser hier die Möglichkeit gebo­ ten wird, sich selbst als Unterdrücker und Manipulant zu fühlen, und zwar Gruppen gegenüber, denen sich noch der erniedrigteste Europäer auf Grund seiner Rassenzugehörigkeit überlegen fühlen durfte: Aberglauben ist sehr gut, nur muß er von der vorsichtigen und starken Faust einer Person, die selbst durchaus darüber erhaben ist, im Zügel gehalten werden. Die Religionsstunden waren der einzige Unterricht, den die indischen Eskimos genos­ sen [. . .]33fl.

Wie sich schon an dem vorliegenden ersten Band ablesen läßt, sollte sich auf der „neuen Erde“ die bisherige Geschichte minutiös wiederholen. Es kommt zur Völkerwanderung der „neuen Germanen“, und die „Hunnen der neuen Erde“ (Zwerge, die auf Hunden reiten) rüsten sich wieder zu ihrem Sturm auf das neue Europa. Dem Herausgeber zufolge sollte der Zyklus mit dem Nachweis schließen, daß auf dieser neuen Erde, obwohl sie anders geformt und mit anderen Menschen und Tieren belebt ist, zuletzt die gleiche Kultur herrscht, wie heutzutage, daß also die Entwicklung stets einen vorgezeichneten Weg zu gehen hat. [. . .] [.. .] was heute Tatsache ist, wird bei der neuen Erde zur sagenhaften Mythe337!

Anders gewendet: Der ganze Aufwand dient lediglich der bestätigenden Verdoppelung der Realität, der schicksalhaften Legitimation und mythisierenden Überhöhung der Gegenwart. Die historische Entwicklung der bür­ gerlich-kapitalistischen Gesellschaft wird als einzig mögliches und ewig gül­ tiges Weltprinzip ohne Alternative geboten. Die Affirmation des Gegen­ wärtigen aber bezieht die Intensität ihrer Wirkung — hier wie in anderer Science Fiction — gerade aus der requisitenhaften Verfremdung, mit der sie getarnt ist. 335 Ebd., S. 154.

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330 Ebd., S. 157.

337 Ebd., S. VI.

Der große Erfolg Robert Krafts (fast alle seine größeren Romane erschie­ nen noch in den zwanziger Jahren in mehreren Auflagen) markiert — wie der von Jules Verne — den Durchbruch der Science Fiction zur Massenlite­ ratur. Der neue Markt und die neuen Leserschichten wurden zunächst meist mit plumpen Plagiaten beliefert, neben denen sich Krafts Blavatsky-Dramatisierungen als Ausbund von Originalität ausnehmen. Unter dem Pseudonym „John Merriman“ schrieb ein deutscher Autor die Buchreihe Thomas Alva Edison, der große Erfinder™, die als Übersetzung aus dem Amerikanischen ausgegeben wurde, in der Hauptsache aus WellsPlagiaten bestand und ausschließlich über große Warenhäuser vertrieben wurde338 339340 . Ebenfalls auf krude Weils-Nachahmungen spezialisierte sich Robert Heymann mit der taschenbuchartigen Heftreihe Wunder der Zukunft — Roma­ ne aus dem dritten Jahrtausend™. Der Text, mit dem für diese Serie ge­ worben wurde, kann zugleich als Programm der Science Fiction im allge­ meinen und für das Prinzip ihrer „Wissenschaftlichkeit“ im besonderen stehen: Wunder der Zukunft/Romane aus dem dritten Jahrtausend ... — Weldi besserer Titel ließe sich für eine Serie von Romanen wählen, die unter Benutzung aller Hypothesen, die sich für das neue Jahrtausend aufstellen lassen, in unterhaltender, fesselnder Form Erzählungen aus einer Zeit bringen, die der Phantasie weitesten Spielraum läßt. [. . . diese] Serie, die in der modernen Literatur einzig in ihrer Art dasteht, bietet eine Unterhaltungslektüre, die kaum an Spannung übertroffen werden kann. Der Verfasser gibt, ohne an den Leser durch wissenschaftliches Beiwerk Anforderungen zu stellen, die einem Werke, welches der Unterhaltung gewidmet ist, nicht entspre-

338 Es erschienen fünf Bände: Das lenkbare Luftschiff; Die Marsmenschen kom­ men; Die künstlichen Menschen; Die Welt verhungert; Der Weltstreik (alle 1908). Der letzte Band fällt insofern aus dem Genre, als er die positive Darstel­ lung einer, zwar antiquierten, aber doch sozialistischen Modellvorstellung ent­ hält, nämlich Owens Idee des Arbeitsgeldes. (In Heftform wäre dies kaum denkbar gewesen, da Groschenhefte — wie noch zu zeigen sein wird — ganz besonders der „öffentlichen“, d. h. der bürgerlich-nationalistischen, Kontrolle unterlagen.) 339 Vgl. M. Popp: Julius Verne, S. 188. 340 Die Hefte hatten einen Umfang von 96 Seiten und kosteten eine Mark. Wieviele Hefte tatsächlich erschienen, ließ sich nicht feststellen. Eingesehen habe ich die ersten drei Nummern: Der unsichtbare Mensch aus dem Jahre 2111; Der rote Komet, u. Die über und unter der Erde (alle 1909). — Mit den para­ noiden Paradoxa einer „Zeitreise“ in die Vergangenheit beschäftigte sich eine Fortsetzung von Wells’ Time machine in der Reihe „Illustrierte WeltraumBibliothek“: W. Bastine: Die wiedergefundene Zeitmaschine. (1914).

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eben, eine Fülle interessanter Anregungen. Er weiß den Lauf der Handlung und die Episoden ebenso geschickt zu führen, wie er die Schürzung des Konflikts bewerk­ stelligt341.

Eher von Verne als von Wells ließ sich derselbe Autor in seiner Serie Illustrierte Collection Heymann3*2 inspirieren. Obwohl von anderen, vermutlich ebenfalls einschlägigen Serien heute kaum mehr als die Titel festzustellen sind343, weist ihre Häufung doch dar­ auf hin, daß die Science Fiction (auch wenn diese oder eine entsprechende Sammelbezeichnung damals noch fehlte) schon vor dem ersten Weltkrieg zum gängigen Kanon der Massenliteratur gehörte. Auch außerhalb eigen­ ständiger Serien — z. B. in der Reader’s-Digest-artigen Reihe Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens“ — bekamen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Zukunftserzählungen einen festen Platz. Als Indiz kann auch das Angebot eines österreichischen Bürgerschullehrers an einen Berliner Kol­ portageverlag gelten, in dem er versichert, daß er in der Lage sei, Ihnen fortlaufend eine Reihe spannendster, abenteuerlichster und aufregendster Detektiv-, Abenteuer-, Indianer-, Seeräuber-, Unterseeboot- und Luftschiffer­ 341 R. Heymann: Die über und unter der Erde, 4. Umschlags. 342 Z. B. in Bd 7: Sergeant Pucks Abenteuer. Erlebnisse eines Vielgereisten . . . (— Die Abenteuer des Sergeanten Puck. 2. Bd): Die Todesfahrt im lenkbaren Luftschiff. O. J. 343 Z. B. Rund um die Welt. Erlebnisse und Schicksale merkwürdiger Menschen. Mchn. Vlgsanst. „Sect“ ab 1907; Minx, der Geistersucher. Bin. Neuer Bin. Vlg. moderner Lektüre; Seltsame Abenteuer aus aller Welt. Breslau Sonnenvlg. (vgl. hierzu W. Fronemann: Die Schundliteratur nach dem Kriege, bes. S. 8 u. S. 14). Die Reihe Phantasie und Wirklichkeit, Mainz Diemer-Vlg. (ab Juli 1908) wurde dem Kolkportagehandel folgendermaßen angezeigt: „Erstklassige Kriminal- und Detektiv-Romane, abenteuerreiche Geschichten aus fremden Ländern und phan­ tasievolle Schilderungen moderner technischer Errungenschaften sind heute die gelesensten und gesuchtesten Bücher! [. . .] Unser Autor: Emanuel Müller-Baden tritt nicht unvorbereitet an seine schwierige Aufgabe. [. . .] Besonders bevorzugt er den Detektivroman, ganz eigenartig wirken aber auch seine Erzählungen aus fremden Ländern und seine phantasievollen Schilderungen moderner techni­ scher Errungenschaften. [. . .]“ Das Argument, mit dem in der gleichen Anzeige die Exotik und Phantastik legitimiert werden, gehört auch heute noch ins Arse­ nal der Science-Fiction-Apologetik: „Doch nicht nur die Phantasie des Lesers soll befriedigt werden, nein auch die Wirklichkeit wird zu ihrer Rechnung kom­ men. Nicht nur unterhaltend, auch belehrend [sic!] sind unsere Geschichten. Fremde Länder und Erdteile [. . .] lernen wir kennen und würdigen, und die Errungenschaften moderner Technik, die die geheimnisvollen Kräfte der Natur in ihren Dienst stellt und Zeit, Entfernung und Raum spielend zu überwinden versteht.“ {Fach-Zeitung für den Colportage-Buchhandel, 24. Jg. 1908, Nr. 14, S. 116 — Hervorhebungen im Original).

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geschickten ganz nach der Art, der in ihrem gesch. Verlag erscheinenden Reihen einzusenden344.

Zu diesen „Luftschiffergeschichten“ gehörte auch die Grosdienheftserie Der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff. Die äußerlich nach dem Kon­ zept der „dime novels“ aufgemachte Reihe erschien ab Herbst 1908 wö­ chentlich in der „Berliner Drude- u. Verlagsgesellschaft“345346 , kostete zehn Pfennig pro Heft und brachte es auf mindestens 165 Nummern. Eine zweite Auflage erschien unter dem Serientitel Der Fliegerteufel340. Sie war damit die umfangreichste und erfolgreichste deutsche Science-Fiction-Serie mit einem Dauerhelden vor „Perry Rhodan“ (ab 1961). Da die Mutmaßungen über die Auflagenhöhen der Groschenhefte vor dem ersten Weltkrieg zwischen 100 000 und 40 000 Exemplaren (wöchentlich) schwanken (von den Verlegern wahrscheinlich untertrieben, von den Schund­ gegnern eher überschätzt), lassen sich auch für diese Serie keine gesicherten Angaben machen. Die Auszählungsergebnisse der Umtauschaktionen und Schundheftrazzien in den Schulen lassen aber den Schluß zu, daß der „Luft­ pirat“ zwischen 1909 und 1913 zu den zehn beliebtesten Heftreihen in Deutschland zählte, vornehmlich in größeren Städten Nord- und Mittel­ deutschlands verbreitet war und hauptsächlich von 10- bis 16jährigen männ­ lichen Jugendlichen gelesen wurde347. Der Luftpirat „Kapitän Mors, der Mann mit der Maske“, ehemaliger U-Boot-Kapitän und eine Mischung aus Vernes „Kapitän Nemo“, „Welt­ detektiv“ und sozial motiviertem Edel-Räuber sorgt mit seinem wunder­ baren, „geheimnisvollen, lenkbaren Luftschiff“348 auf der Erde, unter den 344 Die Hochwacht, 6. Jg. 1916, H. 6, S. 114. 345 Später umbenannt in „Verlag moderner Lektüre (M. Lehmann)". 346 Nicht zu verwechseln mit der Serie Hans Stark, der Fliegerteufel. Bln.: Pinkert (ab 1914, Neuaufl. 1919/1920), in der ebenfalls ein wunderbares Vehikel mit geheimnisvoller Technik eine tragende Rolle hatte. (Vgl. Die Hochwacht, 4. Jg. 1914, Nr. 11/12, S. 287 f.) — Zu solchen Neuausgaben mit verändertem Serientitel sahen sich auch andere Heftverlage gezwungen, als um 1911 die Erstserien ver­ boten oder auf „schwarze Listen“ gesetzt wurden. (Vgl. Die Hochwacht, 2. Jg. 1912, Nr. 6, S. 158 f.) 347 E. Schultze: Die Schundliteratur. 3. Aufl., 1925, S. 26 f.; Die Hochwacht, 1. Jg. 1911, Nr. 5, S. 157 u. Nr. 7, S. 204. Zum Konsum Erwachsener liegt kein Ma­ terial vor! 348 Die Idee und äußere Gestaltung für dieses „Weltenfahrzeug“ lieferte das „Antigrafitationsvehikel ,Sirius'“ aus Oskars Hoffmanns Max Milfords Reisen im Universum (Abb. S. 8/9). Auch der Stil des Anonyms erinnert streckenweise stark an Hoffmann. Titelbildreproduktionen und der Abdruck eines ganzen Heftes des „Luftpiraten“ finden sich in Anabis, 1968, Nr. 21.

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Meeren, hauptsächlich aber im Universum für Ordnung und ausgleichende Gerechtigkeit: Und wie einst Vernes geheimnisvoller Kapitän Nemo mit seinem Unterseeboot die Meere beherrschte, so beherrscht heut Kapitän Mors mit seinem geheimnisvollen Fahrzeug die Luft. Und die Welt nennt ihn den Luftpiraten! Warum wohl? Kapitän Mors entreißt denen, die nur mit der Macht des Kapitals enorme Reich­ tümer zusammenscharren ihre Schätze und verteilt dieselben an Arme und Elende. So lindert er Not und Elend mit diesen Schätzen. Der Luftpirat schützt die ver­ folgte Unschuld, er bestraft heimtüdcische Verbrecher [. . .] [•.••] nichts bleibt ihm verborgen! Eine Kette der wunderbarsten Abenteuer, die je ein Mensch erlebt, zieht vor dem Auge des Lesers vorüber. Reidi an packenden Situationen, phantasievoll in der Schilderung und gewaltig in der Ausführung, bilden die Erlebnisse des Luftpiraten eine unterhaltende und belehrende [sic!] Lektüre349.

Das Genie des Luftpiraten ist „seiner Zeit um Hunderte von Jahren voraus­ geeilt“350. Sein Fahrzeug betreibt er mit „der furchtbaren Sonnenenergie“, die „sonst nur [. ..] andere, fremde Intelligenzen [...] verwenden“351. An „Expansionsdenken“ kann sich die Serie durchaus mit späterer Scien­ ce Fiction messen352, auch wenn dieses — hier wie dort — weniger natur­ wissenschaftlich-philosophischen Überlegungen, als vielmehr dem schlichten Zwang zur steigernden Fortsetzung entsprungen sein dürfte. Die Unge­ heuer sind „schleimig“ und „furchtbar“353, die Technik besteht aus „eigen­ artigen Vorrichtungen“354, die Erde ist — pseudo-nostalgisch — die „Mut­ ter Erde“355. Und bei der Beschreibung des Weltraums jenseits der irdischen Atmosphäre ist späteren Autoren auch nicht viel mehr eingefallen als: Es war in der Tat ein wunderbarer Anblick [...] Rabenschwarz war der Himmel und die Sterne daran flimmerten nicht mehr. Sie standen allenthalben wie kleine, scharf glänzende Punkte und unbeweglich356.

Der Luftpirat, Bd. 102, 4. Umschlags. Ebd., Bd. 42, S. 1. Ebd., Bd. 102, S. 8 f. Einige Titel (die Hefte selbst standen nicht zur Verfügung) mögen dies illu­ strieren: Bd. 52: Der Kampf mit den Bewohnern des Kriegsplaneten; Bd. 76: Das Rätsel des unsichtbaren Planeten; Bd. 80: Der Tempel in der Mondland­ schaft Plato; Bd. 84: Am Ende der Sonnenwelt; Bd. 128: Auf dem KrystallMond des Saturn; Bd. 134: Die Signalstation am Mondkrater Cassini; Bd. 140: Im Urmeer des fernsten Planeten. 354 Ebd., Bd. 108, S. 8. 353 Ebd., Bd. 42, S. 21. 356 Ebd., Bd. 102, S. 18. 355 Ebd., Bd. 42, S. 31. 349 350 351 352

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Vergleicht man den „Luftpiraten“ mit der Science Fiction, die zur selben Zeit in den USA populär war, z. B. mit Edgar Rice Burroughs’ Mars-Ro­ manen, die seit 1912 im „All-Story“-Magazin erschienen, so stellt die deut­ sche Serie in bezug auf astronomisches Interesse, räumliche Expansion und technische Phantasie sogar eine rational avanciertere Stufe der Science Fic­ tion dar. Burroughs und andere amerikanische Autoren produzierten derweil Geschichten, die man als astronomisch-exotische Märchen mit technisch-ma­ gischem Inventar, atavistisch-reaktionärer Handlung und Gesellschaftsform bezeichnen kann. It is a world where savagery and science live side by side and where the strength of a man’s swordarm count for as much as the achievements of science in the struggle for survival and power357.

Nach Bailey ist dies auch noch für die populäre amerikanische Science Fic­ tion der beiden nächsten Jahrzehnte charakteristisch: But even A Honeymoon in Space [von George Griffith, 1901] is too austere, has too much science in it and not enough love-rivalry and personal adventure for the pulp-paper magazine fans of the 1920’s and 1930’s. The formula for the pulp­ paper story (reflected, for instance, in the ,comic' sheets of newspapers) demands, mutatis mutandis, a gold-and-jeweled society in towered cities on a strange planet, a beautiful queen, a space-traveller in love with the queen, a jealous rival, an antagonistic highpriest, death-dealing rays for weapons in a fierce, chromatically repeated struggle, hair-breadth escapes, and finally the victory of the hero and sometimes his marriage to the queen358.

5. Exkurs über den „Kampf gegen Schmutz und Schund“

Es spricht für die Beliebtheit des „Luftpiraten“, daß sich diese Serie auf dem Höhepunkt der „Bekämpfung des Schundes und Schmutzes in Wort und Bild“359360 361 in Deutschland so lange auf dem Markt halten konnte. Denn das Konzept der Reihe mußte bei der Schundkritik gleich zweifach Anstoß er­ regen. Soweit sich die Kritik nicht auf die sprachlich-ästhetische Seite be­ schränkte380, richtete sie sich vornehmlich gegen „Druckschriften [...], die das sittliche Wohl jugendlicher Personen durch Überreizung ihrer Phantasie, durch Erregung der Abenteuerlust [. . .] zu gefährden geeignet sind“381. In 357 358 359 360

S. Moskowitz: Explorers of the infinite, S. 174. O. Bailey: Pilgrims through space and time, S. 113. So der Untertitel der ersten fünf Jahrgänge der Zeitschrift Die Hochwacht. Dies galt für den der Sozialdemokratie nahestehenden Hamburger Kreis um die Ztschr. Die Jugendschriften-Warte unter Führung Heinrich Wolgasts. 361 Die Hochwacht, 1. Jg. 1911, Nr. 9, S. 242.

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Wahrheit sorgte man sich weniger um das „sittliche Wohl“ als um die Ar­ beitsmoral des Proletariats: Der Hang zu diesem müßigen Schwelgen in einer fremden Vorstellungswelt wird schließlich unüberwindlich. Wird ihm dauernd nachgegangen, so wird der Körper verweichlicht, die Sinne verlieren an Schärfe, das Gedächtnis und der Verstand werden allmählich geschwächt, die Phantasie wird überreizt, der Wille zum Auf­ merken wie zu jeder ernsthaften Tätigkeit wird gebrochen382383 . Die Unfähigkeit zur Arbeit [...] ruft stets eine starke Unlust zu jeder ihnen auf­ gezwungenen Arbeit hervor, eine Unlust, von der wir »sozial eingegliederten’ Men­ schen uns schwer eine richtige Vorstellung machen, und die sich zum Nichtarbeiten­ wollen und zur echten Arbeitsscheu' steigert303.

Deshalb vor allem waren „Religion und Vaterlandsliebe“ die „beiden stärk­ sten Faktoren“384385 bei der geistigen Konditionierung der Massen. Mit gleicher Vehemenz richtete sich der Kampf gegen literarische Räuberund Verbrecherfiguren, deren Taten (wie die des „Luftpiraten“) politisch motiviert waren und so den Lesern der Unterschicht eine fiktive Ersatz­ revolte und einen Revolutionsersatz boten. Im Grunde arbeiteten sich beide Parteien, die Kolportageindustrie und die bürgerliche Schundkritik, gegenseitig in die Hand. Während die einen mit vordergründigen Identifikationssignalen mit den „unteren Schichten“ ihre Geschäfte machten, bestätigten die anderen die Ernsthaftigkeit dieser Surro­ gate. Dies um so lieber, als damit zugleich auf die Schundliteratur als die eigentliche Ursache aller Miseren des Gesellschaftssystems abgelenkt werden konnte. Um die Hausbesitzer zu bewegen, Kolporteuren den Zugang zu ih­ ren Mietskasernen zu verbieten und sich so um das geistige Wohl der von ihnen Ausgebeuteten verdient zu machen, warnte beispielsweise der Parochialverein zu St. Johann (Berlin), diese Literatur [. . .] sei danach angethan [...], unser Volk von Gott zu entfremden, die Morde und Selbstmorde vermehren zu helfen, die Unsittlichkeit zu fördern, die Social­ demokratie groß zu ziehen [. . .] und zum „Klassenhaß“ aufzufordern305.

Weichert, einer der größten Kolportageverleger vor dem ersten Welt­ krieg, konnte mit Recht diese unverdiente Ehre zurückweisen, indem er auf die Palliativ-Funktion dieser Literatur hinwies:

302 Ebd., 2. Jg. 1911, Nr. 2, S. 28. 383 Ebd., 1. Jg. 1910, Nr. 2, S. 39. 364 Ebd., 2. Jg. 1911, Nr. 8, S. 234 f. Vgl. auch den Artikel Auch eine Dienstboten­ not. Ebd., 2. Jg. 1912, Nr. 5, S. 113—116. 385 Fach-Zeitung für den Colportage-Buchhandel, 6. Jg. 1890, Nr. 23, S. 245.

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Wenn eine arme Näherin in ihrer Kammer in einem Roman liest, daß ein armes Mädchen trotz aller Nachstellungen, die man ihm bereitet hat, sich zu einem zufrie­ denen Loose durchgearbeitet hat, so wird ihr ein solcher Roman Kraft geben, ihre Leiden zu ertragen, er giebt ihr den Muth, den Nachstellungen von Wüstlingen zu trotzen und zu entgehen. Die Hoffnung, die der Schriftsteller im Menschenherzen aufrecht erhält, bedingt den Erfolg des Romans388.

Die Kolportageindustrie konnte sich gar als Anwalt der unterprivilegierten Massen aufspielen und unwidersprochen feststellen, daß beispielsweise der „Verein zur Massenverbreitung guter Schriften“ hauptsächlich von „Groß­ industriellen und Großgrundbesitzern“ und dem „Centralverband der Deut­ schen Industriellen“ finanziert wurde387. Tatsächlich aber richtete sich der Kampf gegen die Schundliteratur nicht gegen eine besondere Literatur für die Massen, denn es sollte ja „nicht einer planlosen Allgemeinbildung und Verbildung solcher Kreise das Wort geredet werden“388. Der Streit ging le­ diglich um die optimalste Methode einer staatskonformen Indoktrination der Fehrheit der Bevölkerung. Während die Kolportageindustrie den ihr eigenen Widerspruch zwischen möglichst profitabler Bedürfnisbefriedigung des damals noch klassenbewuß­ teren Proletariats und ihrem mit dem übrigen Kapital identischen Interesse an einer staatserhaltenden geistigen Konditionierung der Massen im Lavie­ ren mit sozialen Identifikationsmustern nur unvollkommen lösen konnte*367 369, 368 forderte das übrige Bürgertum, das bei seinen Geschäften weniger Rücksicht auf Appetenzen der Unterschicht nehmen mußte, die unverblümtere Dar­ stellung seiner Staats- und Sozialdoktrin. Es verlangte auch, und gerade in 368 Ebd., 7. Jg. 1891, Nr. 2, S. 12. 367 Ebd., 6. Jg. 1890, Nr. 10, S. 82 f. 368 Die Hochwacht., 2. Jg. 1912, Nr. 5, S. 114. 369 Wie sich einer Kritik entnehmen läßt, sprang dabei — unabsichtlich — eine zu­ treffende Ätiologie der Kriminalität heraus: „Die meisten Kolportageromane haben die Taten großer Verbrecher und Verbrecherinnen zum Gegenstand und deren Verherrlichung zur Aufgabe. Der Held ist in der Regel durch die Schuld der ,Gesellschaft', besonders durch ungerechte Vorgesetzte, philiströse Arbeit­ geber [. . .] in die Bahn des Verbrechens getrieben worden und bestätigt nun seine von Haus aus groß angelegte Natur durch die [. . .] ebenso kühne wie geniale Ausführung seiner Einbrüche, Bankberaubungen und ähnlicher Leistun­ gen. Dabei handelt es sich eigentlich um eine Art ausgleichender Gerechtigkeit, denn der edle Räuber nimmt natürlich den Reichen und gibt den Armen [...]. Der Kolportageroman erweckt Mitgefühl und Bewunderung für den Verbrecher und wird so zur Schule des Verbrechens. Und dieses Gift hat [. . .] eine unge­ heure [. . .] Ausbreitung erlangt. In den Hütten der Armut, in den Arbeiterwoh­ nungen, in den Familien kleiner Handwerker, überall finden wir diese Hefte [. . .]“ (Ebd., 1. Jg. 1911, Nr. 7, S. 196 f.).

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der Massenliteratur, eine „Weltanschauung, die noch heilig hält Religion und Vaterland“, einen ,,gesunde[n] Glauben an die ewigen Menschheits­ ideale“, die „zur Erhöhung wahrer Menschenwürde und inneren [!] Frei­ heit“370 führen sollten. Und es plädierte für die Darstellung des [. . .] schlichten Heldentums einer in ihrem Berufe sich aufopfern­ den Krankenpflegerin nicht minder als des Heldentums des einfachen Soldaten oder des Generals, die ihre Treue mit ihrem Blute besiegeln371.

Aber eben dieser idealistische bürgerliche Glaube an die disziplinierende Kraft und „die Bedeutung der sittlichen Mächte, mit denen noch je und je die scheinbar erdrückende Übermacht materieller Kräfte überwunden wer­ den konnte [.. . ]“372, verhinderte den Erfolg der mit erheblichen finanziel­ len Mitteln geförderten „guten Volksliteratur“. Dies galt jedenfalls so lange, wie der Literaturkonsum nicht durch diktatorische Mittel gesteuert werden konnte. Im Ersten Weltkrieg gehörte dann die Erstellung von Listen „ver­ botener Schundliteratur“ zu den ersten Verordnungen der Generalkomman­ dos. Gleichzeitig aber war der Kampf gegen die Schundliteratur gegen­ standslos geworden. Im Schützengraben hatte man einen verläßlicheren und von wirtschaftlichen Zwängen unabhängigeren „Erzieher“, als dies die Mas­ senliteratur je sein konnte: Die Hand des großen Schulmeisters, der über den Völkern die Rute schwingt, hat sie alle, groß und klein, gepackt, bunt durcheinander in die Schützengräben gestopft und liest ihnen nun dort ein Privatissimum über die Einheit des Blutes. [...] Im Schützengraben wird unserem ganzen Volke ein Kursus der Brüderlichkeit, der Dul­ dung, des gegenseitigen Erkennens und Verstehens gelesen, von noch nie dage­ wesener Eindringlichkeit. [.. .] Ein Kursus, den viele mit dem Kostbarsten bezahlen, was sie haben — mit ihrem Blut373.

Nach dem Krieg wurde der Kampf gegen den Schund erneut aufgenom­ men. Bürgerliche Sozialeinrichtungen brauchten ihn wieder als Alibi für die Unterlassung systemverändernder „Sozialarbeit“. Nichts macht dies deut­ licher als die Haltung der SPD, die nun — nachdem sie ihren Frieden mit der Gesellschaftsordnung geschlossen hatte — sich beeilte, mit von der Partie zu sein: Die Sozialdemokratie steht im Kampfe gegen die Schundliteratur in gleicher Front mit dem Bürgertum und den kirchlichen Kreisen [...]. [...] Leider war die Sozial­ demokratie zu stark mit anderen Dingen beschäftigt, um so aktiv im Schundkampf 370 371 372 373

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

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S. 191. S. 187. 4. Jg. 1914, Nr. 7, S. 183 (Hervorhebungen im Original). 5. Jg. 1915, Nr. 10, S. 205 (Der Schützengraben als Erzieher.)

zu arbeiten, wie es wünschenswert gewesen wäre. Ihr ganzer Entwicklungsgang hat sie erst spät zur Bannerträgerin werden lassen. Hatte sie doch ganze Jahrzehnte mit sich zu ringen, um den Bildungsgrad zu erreichen, der Voraussetzung erfolgreichen Kampfes ist374.

Die evangelischen Kirchen Deutschlands unterhielten in den zwanziger Jahren sechs Vereine zur Bekämpfung des Alkoholismus; sie hielten regel­ mäßig „Schundkampftage“ und „Schundkämpferfreizeiten“ ab, hatten eine „Materialsammlung im Giftschrank unserer Reichsschundkampfstelle“, ver­ öffentlichten die Zeitschrift „Der Schundkampf“, einen vierzehntäglich er­ scheinenden „Schundkampf-Pressedienst“, „besondere Schundkampfpostkar­ ten, Siegelmarken und -Schilder“. — Zur „Bekämpfung der Wohnungsnot [... waren] auf evangelischer Seite keine besonderen Organisationen vor­ handen [.. . ]“375376 . Die konsequente Fortsetzung der Schundkritik, als Sorge um die ideologi­ sche Festigkeit der Massenliteratur, bilden heute beispielsweise Vereinigun­ gen wie der in Österreich ins Leben gerufene „Verein der Freunde für Volks­ literatur“. Die Fronten haben sich dabei nur scheinbar verkehrt. Schon vor und erst recht während des ersten Weltkrieges zielten die Angriffe der Schundkritiker zunehmend auf „die Moderne“, d. h. auf „undeutsche Lite­ ratur und Kunst“378. Nach der weitgehend erfolgreichen geistigen Konditionierung (der „Ver­ bürgerlichung“) des Proletariats während des Dritten Reichs und angesichts der in der Literatur sich niederschlagenden Antagonismen des Spätkapitalis­ mus erscheint der blanken Reaktion die Massenliteratur als Hort der bar­ barisch-heilen Welt des „gesunden Volksempfindens“: Der normale Alltagsmensch kann sich für Würmer, Eiterbeulen und Perversitäten nicht begeistern. Er sucht das Schöne und nicht das Häßliche. Das Volk in seiner überwiegenden Mehrheit empfindet noch gesund und lehnt den krankhaften Unter­ menschen als Helden und Leitbild ab377.

Da die „sogenannte ,hohe‘ Literatur“ in „unserem Zeitalter der ,Sexual­ zivilisation'“378, der „praktizierten Gleichheitsdemokratie“379 und der 374 G. Starke: Bildungsstreben und Schundkampf der Sozialdemokratie. In: Schund und Schmutz als sozialpathologische Erscheinung. 1926, S. 66—77, S. 66. 375 A. Sellmann: Der Kampf gegen Schmutz und Schund von evangelischer Seite. In: ebd., S. 51—65, bes. S. 53, 59 u. 63. 376 Die Hochwacht, 2. Jg. 1911, Nr. 2, S. 32 f. (Der Mut zum Unmodernsein.) u. 6. Jg. 1916, H. 4 ff. Der Untertitel lautete jetzt: „Monatsschrift zur Wahrung und Pflege deutscher Geisteskultur.“ 377 Blätter für Volksliteratur, 6. Jg. 1967, Nr. 2, S. 2. 378 Ebd., [1 Jg. 1962, H. 1], S. 6 . 379 Ebd., 3. Jg. 1964, Nr. 4, S. 2.

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„pluralistischen Gesellschaft“380 nur noch „betont femininen Idealen“381 und den „abartigsten Trieben“ huldigt, aber vergessen hat, „daß alles Le­ ben Kampf ist“382, stellen sich die „Freunde für Volksliteratur“, denen ver­ mutlich die ganze Richtung seit 1945 nicht mehr paßt, die Frage: Hat da die Volksliteratur, einschließlich der so viel geschmähten Heftromane, nicht eine wirkliche Sendung zu erfüllen, indem sie diesen Unfug nicht mitmacht383384 ?

Sie hat sie, denn „sie ist, fast ausnahmslos, durchaus sauber“™* geblieben; und: Viele Menschen würden wahrscheinlich ihr einförmiges Dasein gar nicht ertragen, könnten sie nicht ab und zu in die Welt ihres Märchens flüchten385386 .

Eine besonders wichtige Aufgabe haben dabei die „Landser“-Hefte zu er­ füllen, „gegen die [.. .], inspiriert von gewisser Seite, eine Art Hexenjagd gemacht wurde.“388 Sie allein wahren „die Kontinuität der Überlieferung“, die bei „den Besiegten des zweiten Weltkrieges [...] — aus welchen Grün­ den immer — [...] unterbrochen worden“387 ist. Solange in unserer friedlosen Welt von heute noch Menschen leben, denen Pflicht­ erfüllung, Treue und Kameradschaft echte Tugenden sind, solange befriedigen die ,Landser-Bände" ein echtes Bedürfnis388.

Nicht ganz so zufrieden ist man mit der Science Fiction. Man vermißt hier einen „wirklich eigenständischen europäischen Stil“389. Selbst an der faschistischen deutschen „Perry-Rhodan“-Serie390, deren „galaktischer Na­ tionalismus“ und „sittlicher Ernst“391 gelobt werden, ist zu bemängeln, daß die Autoren nicht „einen Menschen auch in 3000 Jahren noch deutsch re­ den [. ..] lassen, statt des ewigen Englisch oder, Interkosmo', ,Intergalaktic‘ u. dgl.“392. 380 381 382 383 384 383 386 387 388 389 390 391 392

Ebd., 6. Jg. 1967, Nr. 2, S. 2. Ebd., 2. Jg. 1963, Nr. 3, S. 6. Ebd., S. 1. Ebd., [1. Jg. 1962, Nr. 1], S. 6 (Hervorhebung im Original). Ebd. (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 7. Ebd., 2. Jg. 1963, Nr. 1, S. 6. Ebd., 4. Jg. 1965, Nr. 2, S. 8. Ebd., 6. Jg. 1967, Nr. 2, S. 6 (Hervorhebung im Original). Ebd., 8. Jg. 1969, Nr. 2, S. 2. Vgl. M. Nagl: Linser Mann im All. Blätter für Volksliteratur, 3. Jg. 1964, Nr. 3, S. 4. Ebd., 6. Jg. 1967, Nr. 4, S. 5.

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Immerhin werden aber auch vermutlich in einigen tausend Jahren die Großtaten deutscher Forscher und Techniker (Oberth, Sänger, von Braun, um nur einige zu nennen) nicht vergessen sein. Schade, daß die deutschen Autoren von diesen Män­ nern und ihren Großtaten nichts zu wissen scheinen. [. . .] Schade!893

Von der Science Fiction (in der die Sexualverdrängung und Ersatzsexua­ lität die pathologischsten Blüten treiben) wird auch hier erneut lobend be­ hauptet, sie sei eine im Grunde asexuelle Literatur: Wohl wimmelt es in vielen Romanen von schönen Sklavinnen, von Gehirnwäschen, und Willenlähmungsdrogen stärkster Potenz, die Darstellung bleibt jedoch meist kühl und am Sexuellen uninteressiert, die offenkundige Vorliebe der Utopisten für das technisch-soziologische Zukunftsmodell [...] verhindern jedes Abgleiten in Nebeninteressen393 394.

Wären die Autoren der „Blätter für Volksliteratur“ nur besser infor­ miert, so könnten sie renommierte Science-Fiction-Autoren als Gesinnungs­ freunde zitieren, die — pathologisch wie sie — zum Beispiel jede offen se­ xuelle Darstellung im besonderen und die moderne Literatur im allgemeinen als „pathologisch“ ablehnen, während sie selbst eine unheilbar gesunde Lite­ ratur produzieren: But as for contemporary-scene literature, it is sick with a deep sickness [...]. [•••]. A sick literature [...] Autobiographical novels centered around neurotics, even around sex maniacs, concerning the degraded, the psychotic [.. .]395. Ich halte nämlich sehr wenig von der modernen Literatur und den anerkannten, heute großen Schriftstellern. [...] Ja ich muß sagen, sie enttäuschen mich so. Diese Problemchen, die hier angesprochen werden, das sind oft direkt lächerliche Dinge, nicht wichtig, absurd oft, pathologisch. Nicht wahr, wenn man in der normalen Sphäre keine Probleme mehr findet [. . .]396.

393 Ebd., 3. Jg. 1964, Nr. 3, S. 7. — Als Beispiel für die Heroisierung Wernher von Brauns zum „Raumfahrt-Siegfried“ — die KZ-Opfer der deutschen Raketenrü­ stung werden dabei zu ersten Märtyrern der Raumfahrt — vgl. B. Ruland: Wernher von Braun. Mein Leben für die Raumfahrt. 1969 (zuvor als Serie in der Bunten Illustrierten u. d. T. Sturm zu den Sternen). 394 Ebd., 8. Jg. 1969, Nr. 2, S. 2. Ähnlich argumentiert Heinrich Schirmbeck: Eros, Weltraum, Science Fiction. In: Die Formel und die Sinnlichkeit, S. 111—145. 395 R. A. Heinlein: Science Fiction, in: B. Davenport: The science fiction novel. 1959, S. 55. 396 Herbert W. Franke, der als bester deutscher Science-Fiction-Autor gilt, in einem Interview. In: Mutant, Nr. 10/11, 1967, S. 88 f.

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III. ZWISCHEN DEN WELTKRIEGEN — SCIENCE FICTION AUF DEM WEG ZUR REALISIERUNG In literaturgeschichtlichen Darstellungen mit soziologischem Anspruch wird gern mit der griffigen These operiert, das Erlebnis des ersten Weltkrie­ ges, der Großeinsatz der Technik als Vernichtungsmittel, habe zu einem Wandel des „utopischen Denkens“ zugunsten der „Gegenutopie“ geführt1. Abgesehen davon, daß bürgerliches Denken schon vor 1914 nur noch sein eigenes Sein als Utopie anzubieten hatte, trifft diese Behauptung allenfalls für einige wenige Werke der gehobenen Belletristik und die Technik-Dis­ kussion in den Feuilletons derjenigen Presse zu, in der das intellektuelle Bürgertum mit seiner spätkapitalistischen Katerstimmung unter sich blieb. Viel mehr als Aldous Huxleys Brave new world2 und Samjatins eher anti­ kommunistischen als antitechnischen Roman Wir3 weiß man denn auch nicht anzuführen4. An originär deutschsprachigen Werken können hierzu die Romane Balthasar Tipho von Hans Flesch5*und Tttzub 37 von Paul Gurk8 gezählt werden. Beide verkünden in einer von der „Lebensphilosophie“ geprägten expressionistischen Zivilisationskritik das Ende der Menschheit durch eine autark gewordene Technik. Ihre technisch-phantastischen Anti­ zipationen übertreffen die der anspruchslosen Serienprodukte der Science Fiction bei weitem. In den populären Formen der Science Fiction der zwanziger Jahre ist von „gegenutopischem“ Denken (im Sinn der utopiekritischen Satire) kaum etwas zu spüren. Das Primat beschwichtigender („zerstreuender“) UnterhalZ. B. Ch. Walsh: From utopia to nightmare. 1962. London 1932. (Erste dt. Ausg. Lpzg. 1932 u. d. T. Welt — wohin?) A.a.O. In diesen Zusammenhang gehört auch Karel Capeks Drama W. U. R. Werstands Universal Robots. Utopisches Kollektivdrama in drei Aufzügen. [RUR, dt.J 1922, das die Vokabel (nicht den Begriff) „Roboter“ in die Science Fiction ein­ führte. — „Roboten“ (für: unablässig arbeiten, schuften) war zumindest in der Berliner Umgangssprache schon früher geläufig. Vgl. den pornographischen Ro­ man von „Hans von B----- r“: Ein Roman aus Berlin W. (Nachdr. d. unter dem Titel James Grunert 1908 erschienenen Privatdr., 1971) S. 103 u. 137. 5 H. Flesch [-Brunning]: Balthasar Tipho. 1919. 8 P. Gurk [Franz Grau]: Tuzub 37. 1935.

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tung — die Frohbotschaft des happy-ending um jeden Preis — ließen, da­ mals wie heute, desillusionierenden Pessimismus nur dann zu, wenn er gegen sozialistische Zukunftsentwürfe gerichtet war oder wenn ganz allgemein einem quietistischen Fatalismus das Wort geredet wurde. Eine Änderung der Ideologie hätte überdies einen radikalen Wandel der bisherigen Machtgruppen oder wenigstens ihrer Herrschaftstechniken vor­ ausgesetzt. Gerade dies war aber nicht der Fall7. Im Gegenteil: der Schock der demokratischen Revolution von 1918, die nur mit Hilfe der SPD rück­ gängig gemacht werden konnte8, die zunehmende Proletarisierung des klein­ bürgerlichen Mittelstandes in den Wirtschaftskrisen des Spätkapitalismus und die Verschleierung der Ursachen des Krieges und seiner Ergebnisse als Folgen des kapitalistischen Imperialismus und der deutschen Vorkriegspolitik im besonderen erforderten — sollte alles beim alten bleiben — eine In­ tensivierung der bisher propagierten antisozialistischen, nationalistischen Ideologie und ihrer kompensatorischen Irrationalismen. Sieht man von rühmlichen Außenseitern wie Paul Scheerbart ab”, so hatte die Science Fiction schon vor und während des Krieges dem Deutschen Reich, das sich bei der imperialistischen Verteilung der Welt zu kurz ge­ kommen fühlte, die Erfüllung seiner Machtträume durch die scheinbar un­ politischen Mittel der Technik und Wissenschaft imaginiert. Als reaktionärer Utopie-Ersatz war das Genre gerade in der prekären sozialen und politi­ schen Situation der zwanziger Jahre prädestiniert, die Plattform zu bilden

7 Zur Tatsache, daß die großbürgerlichen Führungscliquen und die Bürokratie des Wilhelminischen Deutschland auch während der Weimarer Republik und im Dritten Reich am Ruder blieben, vgl. F. L. Neumann: Behemoth. 2. Aufl., 1944. 8 Selbst ein liberaler Historiker wie Karl Dietrich Bracher kommt zu dem Schluß: „1918 bedeutete weder einen absoluten Bruch noch eine völlige Umgruppierung der politischen Kräftfe, vielmehr setzen sich nach dem Einschnitt der Revolu­ tionen die Tendenzen der Vorkriegs- und Kriegsjahre in einem Maße fort, das geradezu erstaunlich anmutet.“ K. D. Bracher: Die deutsche Diktatur. 1969, S. 77. 8 Scheerbart distanzierte sich mit einer privaten Kosmologie und märchenhaften Phantasmen von dem militärischen Technik- und Wissenschaftsverständnis des Imperialismus und der Science Fiction: „Aus Wut bin ich zum Humoristen gewor­ den, nicht aus Liebenswürdigkeit.“ Was Scheerbarts Verhältnis zur Science Fic­ tion angeht, so stellte schon Salomon Friedländer (besser bekannt unter dem Pseudonym „Mynoma“) fest2 „Man darf den Namen Jules Vernes nur ausspre­ chen, um sofort von allen Göttern Scheerbarts verlassen zu werden.“ Beide Zitate nach der Dokumentation von F. Rottensteiner: Paul Scheerbart. 1969, S. 43 u. 29.

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für Irrationalismen und den Revisionismus, der nichts weniger versprach als die Annullierung des Krieges und seiner Folgen. Veränderungen der bisherigen Ideologie lassen sich nur im Sinne einer Verdeutlichung und Verschärfung zum offenen Faschismus feststellen. Und in dieser Funktion — als literarisches Sprachrohr der konservativ-kapita­ listischen Gegenrevolution — erlebte die Science Fiction in Deutschland ihre eigentliche Blüte. Was bisher nur sektenhafte Zirkel zusammengehalten hatte — abstruse Verschwörungslegenden, völkisch-rassistische „Geheimwis­ senschaften“ und Kosmogonien — wurde in der Krise des Spätkapitalismus zum Inhalt öffentlicher Massenindoktrination10. Die sozialen und politischen Ressentiments der proletarischen Unter­ schicht, mit denen die Science Fiction, analog anderen Genres der Massen­ literatur, noch vor dem Krieg wenigstens teilweise kokettiert hatte, wurden jetzt ignoriert oder umgebogen. Von den innen- und außenpolitischen Kri­ sen wurde mit der Legende von einer „jüdisch-bolschewistischen Weltver­ schwörung“ und „Zinsknechtschaft“ abgelenkt. Diese und ähnliche Kon­ strukte waren der Ideologie des heruntergekommenen Mittelstandes ent­ nommen, dem sie als — zwar irrationale — aber systemkonforme und anti­ sozialistische Erklärungsmuster für seine zunehmende Depossedierung dien­ ten11. Die ideologischen Inhalte der neueren Meinungs- und Bewußtseins-Indu­ strie können geradezu durch ihre strikte Orientierung an dieser kleinbür­ gerlichen Bewußtseinslage definiert werden. Diese Ideologie, mit deren be­ stätigender Verfestigung und Popularisierung zugleich die politische Funk­ tion der Massenliteratur umschrieben ist, hat Kracauer folgendermaßen cha­ rakterisiert: Auf das Monatsgehalt, die sogenannte Kopfarbeit und einige andere ähnlich belang­ lose Merkmale gründen [...] gegenwärtig große Teile der Bevölkerung ihre bür­ gerliche Existenz, die gar nicht mehr bürgerlich ist; durchaus im Einklang mit der von Marx ausgesprochenen Erfahrung, daß der Überbau sich nur langsam der von 10 Daß sich dieser Prozeß nicht auf Deutschland beschränkte, zeigt das Beispiel Henry Fords, der in den USA die Verbreitung der Protokolle der Weisen von Zion finanzierte. — „Über den Irrationalismus als internationale Erscheinung in der imperialistischen Epoche“ vgl. das gleichnamige Vorwort bei G. Lukäcs: Die Zerstörung der Vernunft. 1962, S. 9—35. Eine „wertfreie“ Untersuchung des deutschen Irrationalismus legte Helmut Plessner vor: Die verspätete Nation. 2. erw. Aufl. 1959. 11 Nach Siegfried Kracauer hatte sich in der Weimarer Republik die Zahl der Angestellten verfünffacht, die der Arbeiter aber nur verdoppelt. S. Kracauer: Die Angestellten. 3. Aufl., 1959, S. 4 f.

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den Produktivkräften heraufbeschworenen Entwicklung des Unterbaus anpasse. Die Stellung dieser Schichten im Wirtschaftsprozeß hat sich gewandelt, ihre mittelstän­ dische Lebensauffassung ist geblieben. Sie nähren ein falsches Bewußtsein. Sie möch­ ten Unterschiede bewahren, deren Anerkennung ihre Situation verdunkelt; sie frö­ nen einem Individualismus, der dann allein sanktioniert wäre, wenn sie ihr Geschick noch als Einzelne gestalten könnten. Auch dort, wo sie in und mit den Organisatio­ nen als Arbeitnehmer um bessere Daseinsbedingungen kämpfen, ist häufig ihr wirk­ liches Dasein durch das bessere bedingt, das sie einst hatten. Eine verschollene Bür­ gerlichkeit spukt in ihnen nach12.

Der ideologischen Position entsprechend läßt sich auch im Bereich der Science Fiction in den zwanziger Jahren eine Ausweitung auf ausgesprochen bürgerliche Medien feststellen. Die Heftform wurde zwar — vornehmlich als Jugendliteratur — beibehalten13, der Trend ging jedoch eindeutig zum Buch (das als Leihbuch einen großen Leserkreis erreichte14), zu Wochenzeit­ schriften, Illustrierten und schließlich zum Film. Vehikel und Apparate aus dem Arsenal der Omnipotenzsehnsüchte (Tarnkappen, „Todesstrahler“ usw.) und Ereignisse aus dem Reservoir der Katastrophenphantasien gehörten in­ zwischen ohnehin ins Repertoire der gängigen abenteuerlichen und krimi­ nalistischen Heftchenliteratur15. 12 Ebd., S. 75 f. — Die „Verbürgerlichung“ läßt sich selbst am zu Ende gehenden Genre des Räuberromans feststellen. Als Sozialrebell darf der Held nur noch in Ländern wie Argentinien agieren. Er endet aber nicht mehr auf dem Schafott der Klassenjustiz, sondern übersetzt — nach einem Bonmot Blochs — Mono­ gamie mit Einheirat und wird selbst Schloßherr. So in Rigo Muratti. Der größte Räuberhauptmann der Cordillen, genannt: Der schwarze Rigo. 1924. 13 Z. B. Phil Morgan, der Herr der Welt. Breslau: Sonnen-Vlg. (1920); Jens Rolfs mystisch-abenteuerliche Erlebnisse. Dresden: Berga-Vlg. (um 1925); Sir RalfClifford, der unsichtbare Mensch. Dresden: Mignon (mindestens 192 Hefte, 1922 bis 1925); Im Radio-Club. Aus dem Tagebuch des Ingenieurs Joe West. Bln.: Vlgshs. f. Volkslit. u. Kunst (1924/25); Jack Nelson von Tric-Trac-Tric. Dres­ den: Mignon (1925). Als Neuaufl. erschienen die Vorkriegs-Serien: Rund um die Welt. Erlebnisse und Schicksale merkwürdiger Menschen; Seltsame Aben­ teuer als aller Welt; Hans Stark, der Fliegerteufel; Minx, der GeisterSucher; Er­ lebnisse einsamer Menschen, von W. Belka [d. i. Walter Kabel], Zuerst Bin. Vlg. mod. Lekt. (1916—1919), Bd 1—105. 14 Selbst die Neuauflagen der Lieferungsromane Robert Krafts erschienen nach dem Krieg vornehmlich als mehrbändige Leihbuchausgaben. 15 Vgl. hierzu M. Kelchner u. E. Lau: Die Berliner Jugend und die Kriminallite­ ratur. 1928, S. 28 f. — In der taschenbuchartigen Kriminalserie John Klings Er­ innerungen, Lpzg.: Dietsch (1931—1939) erschienen Titel wie: Die Höhle des ewigen Schlafes, Die Riesenfliege, Das Ungeheuer aus der Tiefe, Der blaue Komet, Die unbekannte Welt, Das Teufelsmädel aus Utopia. Phantastische Titel finden sich auch in den Serien Pitt Strong [d. i. Elisabeth von Aspern]: Tom

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Die Industrialisierung und Rationalisierung der Massenliteratur im Laufe der zwanziger Jahre läßt sich an der Produktions- und Verbreitungstechnik der Bestseller von Hans Dominik ablesen. Die Romane, die er mit automatenhafter Regelmäßigkeit und immer gleicher Thematik verfaßte, wurden in der Literaturfabrik des Scherl-Verlags von Genre- und Detailspezialisten überarbeitet, von Umschlags-, Titel- und Werbefachleuten aufbereitet, von einem „Lesekomitee“ und durch Vorabdrucke in der verlagseigenen Zeit­ schrift „Die Woche“ vorgetestet*16.

1. Konterrevolution und Revanche für Versailles Schon während des ersten Weltkrieges machte die deutsche Science Fiction Vorschläge, wie dieser Krieg für Deutschland doch noch zu gewinnen wäre. Eine geläufige Variante der Lösungsvorschläge stammt von Robert Kraft. In seinem 1916 verfaßten Roman Der Untersee-Teufel17 bringt der Privat­ krieg einer Handvoll deutscher Matrosen mit Hilfe eines gekaperten UBootes, eines telepathisch begabten Voodoo-Negers und vieler „sinnreicher“ technischer Erfindungen den deutschen Endsieg18. Bei Joseph Delmont, der das Thema in seinem 1925 erschienenen Roman Die Stadt unter dem Meere19 wieder aufgriff, hatte sich gegenüber Kraft nicht nur die Irrationalität der Wunschvorstellung einer unpolitisch-techni­ schen Lösung der deutschen Misere verstärkt, sondern die geheime politische Tendenz gab sich jetzt als offener Antisozialismus und Faschismus zu erkennen. Nach Kriegsende flüchtet sich ein deutscher Kapitän der Kriegsmarine mit Boot und Mannschaft in eine „Riesenfelsenhöhle“, die nur durch einen Un­ terwasserkanal zugänglich ist. An eine Rückkehr nach Deutschland ist nicht zu denken, da dort die „sogenannten Volksbeglücker, die seit Jahren von

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Shark. Der König der Detektive. Heidenau [1929—1939] und F. L. Barwin [d. i. Lisa Barthel-Winkler]: Alaska-Jim. Ein Held der kanadischen Polizei. (Heiden­ au 1937—39). H. Dominik: Vom Schraubstock zum Schreibtisch. 1942, S. 222, 225 u. 227. Der Roman erschien 1918 (posthum) unter dem Pseudonym „Knut Larsen“ in Radebeul. Der Stoff bildete später die Grundlage für die erfolgreiche Heftserie von Hans Warren [d. i. Wilhelm Reinhard]: Jörn Farrow’s U-Boot-Abenteuer. Bln.: Dt. Vlgshs. f. Volkslit. [1932—1939], Auch nach dem zweiten Weltkrieg, ja bis in die sechziger Jahre hinein half diese Serie in immer neuen Auflagen, Deutsch­ lands Schmach zu lindern. Benutzt wurde die zweite, undatierte Auflage.

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einer Weltverbrüderung schrieben“20 und die „Bestie Mob“21 herrschen. Auch nach der Niederschlagung der Revolution bessert sich die Lage kaum: An der Spitze des Landes schwache Männer. Schwankendes Rohr im Winde. Kein Rückgrat. Der Steuermann fehlte, der es mit sicherer Hand wagte, das Schiff der Heimat aus den Wellen der Gefahr zu retten und aus dem Morast der Korruption hinauszuführen. Der eiserne Besen mangelte, der die Allerweltsbeglücker in den Orkus und zum Teufel fegte. Der Messias fehlte, der imstande war, Deutschland zu einigen22. [• • •] Nein! Dann lieber noch hier unter der Erde vergraben bleiben, als in die Heimat zurück. Besser hier schaffen, arbeiten, damit Deutschland an dem Tage der Freiheit auch ein Schock großer Erfindungen und Hilfsmittel erhalte, die ihm, — wenn auch wenig — doch immerhin etwas helfen23.

So machen sich Kapitän und Mannschaft („ganz einwandfreies, ausge­ suchtes Menschenmaterial“24) daran — finanziell von Junkern unterstützt, die 1918 nach Südamerika emigrierten —, die Ehre der deutschen Kriegs­ marine zu retten, das Rad der Geschichte mit Hilfe neuer Erfindungen zu­ rückzudrehen und das Deutsche Reich in altem Glanz wieder erstehen zu lassen: Durch nichts abgelenkt, ohne jede materielle Sorge hatten die Jahre der Abgeschlos­ senheit praktische Gelehrte aus den Männern gemacht, die — vielleicht unbewußt — bestrebt waren, der Welt auf ihrem Erdenwege Dinge zu schenken, die eine Um­ wälzung der alltäglichen Lebensgewohnheiten im ganzen Weltall hervorzurufen imstande waren. Jeder Erfinder war von dem Wunsche beseelt, der Welt und insbesondere dem Vaterlande zu dienen25.

Als sie Strahlen entdecken, die „die Geschosse sämtlicher Kaliber außer Kraft“20 setzen, können sie endlich auftauchen und den „Regierungen sämt­ licher Staaten“*27 ein prodeutsches Ultimatum stellen. In den USA bricht daraufhin eine echte „Revolution“ aus, die zum „sofortigen Rücktritt der Senatoren und Einführung der Militärdiktatur “28 führt. In Frankreich put­ schen „farbige Truppen“: Scheußlichkeiten widerlichster Art wurden von den Negern, Anamiten und Arabern verbrochen. Notzucht, Päderastie und Lustmorde waren an der Tagesordnung. Die Franzosen bekamen jetzt am eigenen Leibe zu spüren, womit sie in sadistischer Rachsucht jahrelang die Deutschen gequält29. 20 Ebd., 23 Ebd., 26 Ebd., 29 Ebd.,

S. S. S. S.

28. 88 f. 364. 380.

21 Ebd., S. 45. 24 Ebd., S. 34. 27 Ebd., S. 363.

22 Ebd., S. 118. 25 Ebd., S. 214. 28 Ebd., S. 375.

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Es gärte überall. Die Weltrevolution war im Gange, aber nicht in dem von den Bolschewisten und Kommunisten erwarteten Sinne. Nicht im internationalen Sinne wurde Revolution gemacht. Nein! National, rein national war die Strömung in allen von der Revolution ergriffenen Ländern30.

Schließlich kommt auch in Deutschland das Ende der „Plutokratie“ und des Klassenkampfes: [. . .] was alle Reden nicht vollbrachten, wozu alle Propaganda nicht imstande ge­ wesen, die unüberwindlichen geheimnisvollen Quarzlinsenstrahlen hatten es ver­ mocht, die Deutschen zusammenzuschweißen. Obwohl die Apostel der internationa­ len Völkerverbrüderung die größten Anstrengungen machten, mit ihren Ideen durch­ zudringen, war all ihre Mühe fruchtlos. Die Einigkeit der Deutschen war vollzogen. Weder die Sozialdemokraten noch die Kommunisten waren imstande, das Abbröckeln in ihren Reihen zu verhindern. Das Volk hatte seinen Weg zurückgefunden. 'Zuerst die Heimat! Zuerst das Vaterland! Und genau sechs Monate, nachdem die U-Vaterland [...] die ,Stadt unter dem Meere' verlassen, ... wurde das neue Deutsche Reich in Berlin gegründet. Auf ewig unbesiegbar. Fußend auf seiner Kraft. Jedem das Seine gönnend und ohne angreifenden Charakter. Das Land, das jeder Nation als vorbildliches Beispiel diente. Das einige große Deutsche Reich. Die größten Ehren, die je einem Deutschen zuteil wurden, erfuhr Kapitän Mader. Er war der Abgott der Deutschen geworden. Der unsterbliche Nationalheros seines Volkes31.

Was die im Dienste der Reaktion stehende irrationalistische „Lebens­ philosophie“ und Belletristik ihren intellektuelleren Kunden vorerst noch in Philosophemen verklausuliert anbieten mußte, konnte in den populär-vul­ gären Pendants, zumal in der Science Fiction, bereits ungeniert als Drittes Reich in Szene gesetzt werden. Stimmt beispielsweise Alfred Reifenbergs Behauptung, er habe seine „po­ litische Zukunftsphantasie“ Des Götzen Moloch Ende (1925) schon 1920 ver­ faßt, dann lag damit — lange vor Hitlers Mein Kampf — eine Vision des Dritten Reiches vor, an deren Realistik sich bis in die Details die innenund außenpolitischen Ordnungsvorstellungen des Nationalsozialismus able­ sen ließen. Der Roman sollte „ein Samenkorn zur Wiedergeburt unseres Volkes“, ein „Grundstein zum Wiederaufbau des Hauses deutscher Macht, 30 Ebd., S. 392 f. 31 Ebd., S. 430 (Hervorhebungen im Original). Delmont schrieb mindestens noch ein weiteres derartiges Machwerk: Der Ritt auf dem Funken. 1928.

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Größe und Herrlichkeit“3233sein. Die „tiefste Ursache der Zertrümmerung des Deutschen Reiches und des völkischen Niederbruchs“ war nach Reifen­ berg „das Erlöschen“ des „Heimatgefühls der entwurzelten Volkskreise“83, das zum „landesverräterischen Friedenswillen“34 führte. Schließlich greift „Konrad Eckhart Tietmar“, ein „Oberst der Reichswehr“, ein, da die „kle­ rikalen und sozialistischen Parlamentarier“ „völlig abgewirtschaftet“ hat­ ten: [.. .] er ließ die gewissenlosen [kommunistischen] Hetzer und die Führer der Empö­ rer [. ..] sofort vor Volksgerichte stellen und binnen 24 Stunden nach Urteilsspruch standrechtlich erschießen. [• • •] Dann griff er aus eigener Macht, aber mit dem Willen der überwältigenden Mehrheit des Volkes das Steuer des Staatsschiffes und riß es aus dem bisher verfolgten Fahr­ wasser einer internationaldemokratisch eingestellten Politik kraftvoll herum auf neuen Kurs. Am 15. Februar löste er den Reichstag auf und schickte die Abgeordne­ ten, die durch ihr ewiges Parteigezänke das Volk innerlich nicht zur Ruhe kommen ließen, kurzerhand heim. [...] Sodann berief Tietmar nach freier Wahl 35 der be­ sten Männer aller schaffenden Stände des Reiches und bildete aus ihnen nach dem Vorbild Spartas einen Ältestenrat. [•■•] Tietmar legte dem Ältestenrat [.. .] ein Gesetz für Bodenreform und Heimstätten­ schutz, sowie ein weiteres für die allgemeine Arbeitspflicht vor, um einerseits den vielfach wurzellos gewordenen Volksangehörigen eine Heimat und damit einen eigenen Anteil am Vaterlande zu geben, auf der anderen Seite, um die nach Wegfall der allgemeinen Wehrpflicht entsetzlich verwahrloste Jugend wieder zu Zucht und Ordnung zurückzuführen35. Der Diktator [...] überwachte den Gesetzesvollzug und griff energisch ein38.

Von Hitler unterscheidet sich Tietmar lediglich durch seine Rhetorik und das Äußere: [...] klar, kühl und sachlich waren die Worte von Tietmars Lippen gefallen. Er stand seltsam leuchtenden Antlitzes, dessen graublaue Augen stählern loderten, hochaufgerichtet, unbeweglich, das Urbild eines germanischen Recken der Vorzeit37.

Und wovon Hitler in Mein Kampj nur träumte, gelingt Tietmar auf An­ hieb: ein gegen Frankreich gerichtetes Bündnis mit den „stark mit germani­ schem Blut durchsetzten Angelsachsen“38. England sichert Deutschland die im ersten Weltkrieg verlorenen Gebiete zu, „die deutschstämmigen Gebiete der Tschechoslowakei“, Südtirol, das Baltikum, „Grenzregulierungen an der 32 33 35 37

A. Reifenberg: Des Götzen Moloch Ende. Vorw. Ebd., S. 9. 34 Ebd., S. 17. Ebd., S. 85 ff. 38 Ebd., S. 88. Ebd., S. 92. 38 Ebd., S 112 f.

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Westgrenze“ und „erklärt die Ostsee als rein deutsches Interessengebiet“39. Polen fällt leicht in deutsche Hand, da selbst die „polnischen Bevölkerungs­ teile den Befreiern von sarmatischer Lotterwirtschaft entgegenjauchz­ ten .. .“40. Nachdem Frankreich den Krieg erklärt hat, kann Tietmar den deutschen „Volksgenossen“41 erklären, daß „unser deutsches Vaterland die führende Rolle in Europa übernehmen [wird]“42. „Deutsche Hiebe began­ nen die Versailler Schmach aus dem Buch der Weltgeschichte zu löschen.“43 Mit Wunderwaffen, wie „Riesenflugzeugen“, „fliegenden Torpedos“ und „Todesstrahlen“ wird Frankreich besiegt: sorgsam verborgene Minenfelder warfen die Franken gleich bataillonsweise in die Höhe und schleuderten sie, zu formlosen Klumpen geballt, in alle vier Winde44.

In Asien erhebt sich derweil Japan gegen England und okkupiert Austra­ lien. In Afrika und Vorderasien erheben sich die „Eingeborenen gegen die weiße Rasse“: Die triebhaften, bestialischen Urinstinkte dieser menschlichen Tiere tobten sich fürchterlich aus und vernichteten in sechs Wochen die europäische Kolonisations­ arbeit zweier Jahrhunderte45. Mochten sich die wahnwitzigen, wild verzweifelten Anpralle der Farbigen auch mit der unwandelbaren Regelmäßigkeit der Meereswellen gegen die Europäer wälzen, — alle zerschellten am todverachteten [!] Titanentrotz, an der granitnen Härte der Herrenmenschen48.

Nach dem Endsieg wird Frankreich als „Störenfried der Welt“ bestraft und die überlebende Bevölkerung zum Senegal verbannt: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht; sie fordert Auge um Auge, Zahn um Zahn. Weil euer Volk die schwarze Pest über die Völker Europas gebracht hat, soll euer Volk daran zugrunde gehen47!

Im Deutschen Reich gehen danach „alle deutschstämmigen Länder der Habsburgischen Monarchie“ auf, die Niederlande und Belgien schließen sich an. Die „Bismarcksche Verfassung“ — allerdings mit „Wahlkaisertum“ — wird wieder eingeführt und das Frauenwahlrecht „grundsätzlich aufgeho­ ben“. Da „große, einflußreiche Parlamente stets zum Unsegen ihres Volkes ausschlagen“48, wird ein „Reichsrat“ mit 50 „berufenen Vertretern“ einge­ führt. 39 42 45 48

41 Ebd., S. 122. Ebd., S. 118. 40 Ebd., S. 139. 44 Ebd., S. 149 f. Ebd., S. 125. 43 Ebd., S. 139. 47 Ebd., S. 202. Ebd., S. 183. 48 Ebd., S. 184. Ebd., S. 205. — Als ähnlich präzise Vision des Dritten Reiches erwies sich ein Roman von Konrad Loele: Züllinger und seine Zucht. 1920. Er war als Satire

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Die Verzweiflung, Leichtgläubigkeit und Empfänglichkeit für rettende Wunder, die besonders im Kleinbürgertum und den politisch unbewußten Teilen des Proletariats aus der sich ständig verschlechternden sozialen Lage resultierten, wurden nicht nur in der offenen, politischen Propaganda der Reaktion, sondern auch mit deren literarischem Synonym, der „phantasti­ schen“ Unterhaltungsliteratur, ausgenützt und in faschistische Bahnen ge­ lenkt. Dem reformistischen Kurs der Weimarer Koalitionen, von dem sich das Proletariat zu Recht um die Revolution betrogen sah und der zugleich der bürgerlichen Reaktion zu demokratisch-lasch war, wurde das faschisti­ sche Führerprinzip entgegengestellt. Im Widerstreit von Kapitalismus und Sozialismus wurde der als „nationaler Sozialismus“ verschleierte Kapitalis­ mus als erlösendes tertium datur ausgegeben. Dem Appell der faschistischen Propaganda an irrationalistisches Wunsch­ denken kam die Science Fiction in hervorragender Weise entgegen, weil sie sich — genregemäß — der politischen Realisierung ihrer Versprechungen durch den Einsatz technischer Erfindungen (vor allem „Wunderwaffen“) oder gar von Naturereignissen entziehen kann. (Da der Kapitalismus und der Nationalsozialismus sich darauf berufen, eine „naturgewollte“, „orga­ nische“ Gesellschaftsordnung zu vertreten, steht auch der Kosmos mit ihnen im Bunde.) So kreierte die deutsche Science Fiction zwischen den Weltkriegen Legio­ nen von faustisch-genialen Erfindern und Ingenieuren, die — umringt von rassisch „minderwertigen“ Verrätern und ausländischen Spionen — in ge­ heimen Laboratorien daran arbeiteten, das Rad der Geschichte zurückzu­ drehen, die Welt unter deutscher Regie neu zu verteilen, „unser Volk zu schützen und ihm eine Macht zu verleihen, wie sie noch nie jemand besessen hat [. . .]48*, — kurz, um (wie der faschistische Technokrat Hans Dominik es formulierte): politische Auswirkung größten Ausmaßes mit einer scheinbar nur aus wissenschaft­ lichem Interesse unternommenen Ingenieurarbeit zu verbinden50. auf einen faschistischen „Rassensozialismus“ gedacht! Da die Science Fiction wie die ganze populäre Literatur eine Domäne der bürgerlich-kapitalistischen Reaktion war und blieb, lassen sich die sozialistischen Gegenentwürfe an einer Hand aufzählen. Zu nennen sind: W. Illing: Utopolis. 1930 u. Ri Tokko (Pseud.): Das Automatenzeitalter. 1931. Letzterer ist insofern bemerkenswert, als im Vor­ wort expressis verbis „die Methode der Extrapolation“ (S. 6) erwähnt wird. In beiden Romanen zeigt sich das Dilemma, die Utopie einer befriedeten Mensch­ heit mit den Prinzipien der Unterhaltungsliteratur darzustellen. 49 B. S. Wiek: Phantasten. 1935, S. 160. 50 H. Dominik: Vom Schraubstock zum Schreibtisch, S. 277. Bei der Masse der-

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Unter dem Primat einer national-imperialistischen Kompensation standen auch die — scheinbar harmlosen — Exkursionen zu anderen Himmelskör­ pern*51. Selbst in populär-astronomischen Darstellungen der Jugendliteratur hatte beim Anblick der Erde auf dem luftlosen Mond das „Deutschland, Deutschland über alles“ aus „kräftigen Kinderkehlen“52 zu erklingen. Schließlich griffen sogar die der Menschheit weit überlegenen Bewohner an­ derer Planeten53 und Sonnensysteme54 ein, um dem „vergewaltigten Deutschland“ zu seiner rechtmäßigen Rolle als Bollwerk gegen die bolsche­ wistischen Horden, als irdischer Friedensstifter und führende Weltmacht zu verhelfen: Das deutsche Volk ahnte noch nichts von diesen geheimnisvollen Marsluftschiffen, die zu seinem Schutze bereit standen55. Mit sechs solcher Marsluftschiffe könnten alle Mächte der Welt in Schach gehalten werden56. Die für den Krieg gerüsteten Mächte der Welt sollen gezwungen werden, abzu­ rüsten, und zwar so gründlich, daß künftige Kriege ein für allemal unmöglich wer­ den. Und dieser Zwang soll durch das vergewaltigte Deutschland ausgeübt wer­ den57.

Eine andere — in ihrer Irrationalität und politischen Tendenz aber eben­ bürtige — Variante repräsentieren die Weltuntergangs- und KatastrophenRomane. Die „gewaltige Symbolkraft“, die ihnen üblicherweise attestiert wird, resultiert aus der simplen Gleichsetzung von bürgerlich-kapitalisti­ scher Wirtschafts- und Gesellschaftsform und kosmischer Weltordnung über­ haupt. Als Alternative zur ersteren (die „der Natur freien Lauf“ läßt) ist nur das Ende der Welt oder allenfalls ein chaotisches Zwischenspiel (wie die deutsche Revolution von 1918/19) denkbar. Aber selbst dann ist es — um im vulgärphilosophischen Jargon jener Jahre zu sprechen — „das Leben selbst“, das hier „reinigend und verjüngend“ eingreift, um die alte Ordnung

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artiger Romane erübrigen sich hier wie im folgenden detaillierte Belege. Es wird deshalb pauschal auf die Serienprodukte von Hans Dominik, Rudolf Hein­ rich Daumann, Stanislaus Bialkowski, Paul Alfred Müller (damaliges Pseud.: Lok Myler), Karl August von Laffert, Walther Kegel u. a. im Literaturverzeich­ nis verwiesen. Z. B.: M. Heinrichka: Ein Flug um den Marsplaneten. 1918 u. C. Redzich: Ein Besuch auf dem Mars im Jahre 3000. 1922. K. Meier-Lemgo: Eine Mondfahrt. (1921 — 10. Aufl. 1925), S. 79. T. Täschner: Der Mars greift ein. 1934. H. Dominik: Das Erbe der Uraniden. 1928. T. Täschner: Der Mars greift ein, S. 207. Ebd., S. 157. Ebd., S. 156.

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von den „Schlacken“ der Demokratie und des Sozialismus zu befreien. Wie im Faschismus selbst wird zugleich die Abschaffung und Bewahrung der Ordnung (also sie „konservative Revolution“) suggeriert: Vielleicht mußten wir durch all die Schrecknisse hindurch, um zu solcher Läuterung zu gelangen. Jeder Organismus [sic!] schleppt alte, längst vernichtensreife Zell­ gruppen mit sich, die an seiner Kraft zehren, Gift in sein Blut senden und doch so fest mit ihm verwachsen sind, daß auch vieles Gesunde mitgerissen wird, wenn der Gesamtkörper endlich an die Selbstreinigung geht und alle offene und verborgene Fäulnis von sich stößt58. Ja, wir tragen einen Teil des Lebens der Ewigkeit in uns, darum ist unser Leben­ diges so unerschütterlich und unzerstörbar, daß es selbst den Tod nur für den Spuk einer schlimmen Macht nimmt59! Wir sehen keinen Zerstörungswütigen an der Arbeit, der Faust und Mut genug be­ sitzt, um eine Welt in Trümmer zu schlagen, sondern einen klaren, zielbewußten Baumeister, der aus den gigantischen Ruinen sofort wieder das Unzerstörbare in Staat, Gesellschaft und Familie auf sicher errechnetem Grunde emporrichtet60.

Eine weitere Funktion dieser Romane besteht (damals wie heute61) dar­ in, den Krieg und seine Folgen durch ihn an Schrecken überbietende Ereig­ nisse zu bagatellisieren und als Teilaspekt eines schicksalhaften Wechsels von „Stirb-und-werde“ im grundsätzlich unwandelbaren Kontinuum der kapi­ talistisch-kosmischen Weltordnung zu naturalisieren. Wenn diese Produkte überhaupt eine warnende Intention haben (die ihnen so gerne nachgesagt wird), dann richtet sie sich jedenfalls nicht gegen den Krieg, sondern gegen den revolutionären Umsturz des Bestehenden, für dessen Wiederherstellung dann selbst ein Krieg mit dem Risiko der Vernichtung der Erde legitim er­ scheint. Dabei erweist sich der „kosmisch-exzentrische“ Standpunkt, der als Charakteristikum der neueren Science Fiction gelobt wird, unversehens als philosophisch drapierte ideologische Vorbereitung, als nihilistische Einstim­ mung auf das, was zu inszenieren man bereit ist, wenn an den „Grund­ festen“ des ökonomischen und gesellschaftlichen Status quo gerüttelt werden sollte: Seine Hand löst sicherlich oftmals an den schwarzen Haubitzen den zuckenden Blitz, und seine lauschende Seele freut sich, wenn der wetternde Donner nachhallend über die Täler rollt. Dann zieht gewiß auch manchmal ein flüchtiges Lächeln über das ernste Antlitz, und eine verlorene Erinnerung meldet sich, wie winzig, ja atomhaft aller Menschenstreit sich verhält gegen die kosmische Gefahr, von der stündlich be­ droht unser Planet durch die Jahrtausende fliegt62.

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Th. H. Mayer: Tod über der Welt. 1930, S. 5. Ebd., S. 6. W. Scheff: Die Arche. 1917 (25.-27. Tsd.), Vorrede, S. 8. Vgl. S. 214 f. dieser Arbeit. 62 Ebd., S. 9.

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Daß reaktionäre Gruppen, wenn sie ihre Positionen erschüttert sehen, wild agieren, mit Massenmordphantasien und globalen Untergangsdrohun­ gen zur Hand sind, zeigt auch der Roman Bilbilis™ des katholischen Fa­ schisten Pierre Lhande. Angesichts der Verirrungen der Nachkriegszeit schicht Gott einen Kometen, um das Leben auf der Erde zu zerstören: Gab es denn zu dieser Stunde noch ein Volk, ein einziges, das das Wort Gottes ehrt? [. . .] Eines doch! [. . .] Meine Basken, [. . .] die den Papst bei sich aufgenom­ men haben, als alle Welt ihn verstieß! Wie wäre es, wenn man dem Feuer sein Teil ließe und nur Auserwählte rettete84?

Gesagt, getan: Um „wenigstens einen Teil des Menschengeschlechtes aus dem allgemeinen Sterben zu retten und zum Ruhme Gottes und der Kirche Chri­ sti zu erhalten“85, nehmen der Papst und seine Kamarilla in das unterirdi­ sche Quartier nur die Basken mit, „dieses fromme und treue Volk, das seinen Oberhirten blind gehorchen wird, dieses Volk, das sich als einziges in ganz Europa von den Ansteckungskeimen des Aufruhrs zu bewahren verstan­ den hat [. . .]88. Während die übrigen Menschen, „die Leute ohne Rasse und Heimat“87, die Bolschewiken und Revolutionäre“88, vernichtet werden, indoktriniert der Klerus schon seinen zukünftigen Nährstand: Die Gleichheit, die unserem Jahrhundert als ein unerreichbarer Traum vorgeschwebt hat, wird für eine Weile unter euch verwirklicht werden — allerdings nicht in der Weise, wie es sich ein abwegiger Sozialismus oder ein verbrecherischer Kommunis­ mus vorgestellt, sondern vielmehr, wie sie die Kirche in der frühchristlichen Gesell­ schaft durchzuführen verstanden hat89.

Danach aber, wenn die Katastrophe überstanden ist, „wird [...] wieder wahr werden, was unser Herr prophezeit: Immer wird es Arme unter euch geben [.. .]“70. Da Lhandes Klerikalfaschismus71 nicht ganz auf der Parteilinie der deut­ schen Nazis lag, indizierten sie das lästige Konkurrenzwerk72. 63 P. Lhande: Bilbilis, die versunkene Stadt. 1930. 84 Ebd., S. 82. 85 Ebd., S. 110. 88 Ebd. 87 Ebd., S. 197. 88 Ebd., S. 113. 89 Ebd., S. 167. 79 Ebd., S. 232. 71 „An Stelle der verschwundenen Rasseneinheit tritt eine seelische [d. h. der Ka­ tholizismus], Das ist übrigens der Grundgedanke eines Treitschke oder auch Houston Chamberlain, dieses Briten, der dann seiner geistigen Einstellung nach ganz zum Deutschen geworden ist.“ (Ebd., S. 26). 72 Liste der in der Deutschen Bücherei unter Verschluß gestellten Druckschriften. 1. Monat, 11. Jan. 1940, Nr. 11.

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In das Spektrum faschistischer Ideologie gehören auch Romane, die den „Untergang des Abendlandes“ durch die „Dekadenz der Moderne“, den „Amerikanismus“ und eine „Technik ohne Seele“ beschworen. In Hermann Harders Novelle Die versunkene Stadt13 führt die Unfruchtbarkeit der „weißen Weiber“, die Technisierung und, in ihrer Folge, die Landflucht und Versteppung des Bodens zu einer „neuen Urzeit“. Nur „die einfachsten und stärksten“73 74 Weißen überleben: „Alle glichen einander wie enge Ver­ wandte, wie Tiere reiner Art.“75*Sie verehren die „Erdmutter Asis“ und le­ ben nach der Blut-und-Boden-Devise: „Bleibt der Erde treu! Die Erde ist ewig.“78 Nach dieser Erneuerungsphase im Primitivismus und der Barbarei — die nichts anderes als die zum Naturgesetz geweihte zyklische Krisen­ produktion des Kapitalismus in mythische Bilder faßt — blüht stets wieder das alte Leben aus den neuen Ruinen: „Türme werden aufsteigen und zer­ brechen. Aber Leben wächst auf über versunkenen Städten im heiligen Kreis­ lauf“77. Regressionen dieser Art standen nur scheinbar im Widerspruch zur messianischen Technikgläubigkeit des Faschismus. Als ideologisches Pendant einer Krise des Spätkapitalismus lebte er gerade aus der schizoiden Verbin­ dung solcher Widersprüche und bezog aus ihnen seine irrationalistische Faszi­ nationskraft. In Deutschland wurden nach 1933 nicht nur Sonnenwend­ feiern und Julleuchter kreiert, sondern zugleich die modernste Wehrmacht aufgebaut. Hitler und seine Vasallen träumten nicht nur von einem SSKönigreich „Burgund“, von feudal beherrschten Siedlungsräumen im Osten mit „Reichsbauernhöfen“, Gouverneurspalästen78 und „Vizekönigen“70, sondern auch von Gezeitenkraftwerken80 und einer Eisenbahnverbindung zwischen dem „Altreich“ und dem Donezbecken mit einer Spurbreite von vier Metern81. Die Affinitäten zwischen der Science Fiction und dem Na­ tionalsozialismus beschränkten und beschränken sich nicht nur auf die ge­ 73 H. Harder: Die versunkene Stadt, (1932). 74 Ebd., S. 16. 75 Ebd., S. 20. 78 Ebd., S. 42. 77 Ebd., S. 140. — Vgl. auch Fritz Malleczewen: Des Tieres Fall. 1931. Der NSDichter Edwin Erich Dwinger nannte diesen Roman im Vorwort die „erste deutsche Kampfansage an den Amerikanismus“ (ebd., S. V). 78 H. Picker: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941—1942. 2. Aufl., 1965, S. 143 . 79 Ebd., S. 137. 80 Ebd., S. 477. 81 Ebd., S. 299. — Vgl. auch das Nürnberg-Dokument L — 221 in: H.-A. Jakobsen: 1939—1945. Der zweite Weltkrieg in Chronik und Dokumenten. 5. Aufl., 1961, S. 255—260 und die von Helmut Heiber herausgegebene Dokumentation zum „Generalplan Ost“ in: 'Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1958, S. 281 bis 324.

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meinsame Vorliebe für megalomane Architektur. Im Dritten Reich sollte das realisiert werden, woraus die Science Fiction noch immer ihr Kapital schlägt82. Die Intention einer Verbindung von atavistischer Herrschafts­ technik und hemmungslosem Industrialismus wird in der Science Fiction schon in scheinbar harmlosen Topoi signalisiert, auf die kaum ein Autor des Genres verzichtet: Einen schroffen Kontrast zu dem düster-mittelalterlichen Bild des Klosters bieten die hellen villenartigen Holzhäuschen [...]. Eine Drahtseilbahn, [...] ein Netz von Hochspannungsleitungen überzieht die Hänge, und tiefes Brummen von Generato­ ren läßt die Mauern des Klosters erzittern. Mittelalterliches Mysterium und neuzeit­ liche Technik, alte Kultur und moderne Zivilisation scheinen in dem entlegenen Tal auf gute Kameradschaft vereint83.

Auch in jenen Romanen, die nicht direkt zur faschistischen Machtüber­ nahme aufriefen, finden sich zumindest Teile jenes Syndroms von autori­ tären, elitären, apolitischen (nicht unpolitischen!), rassistischen, antidemo­ kratischen und vor allem antisozialistischen Tendenzen, das die emotionale Basis des Nationalsozialismus bildete. Unentwegt wurde nach dem starken Mann, dem diktatorischen Führer und Retter der Nation gerufen: Ich bin der Meinung, daß in einem gesunden Staatswesen nur ein einzelner den Ausschlag in den letzten Dingen geben darf84.

Polizei und Reichswehr bewährten sich — die Regierung erließ Notgesetze. (...) Aber trotzdem, der rechte Mann fehlte85*. der Mann, der mehr wert war als die ganze übrige Mannschaft zusammengenom­ men88.

Bei Hans Dominik (der Robert Krafts Lieferungsromane lediglich auf Leihbuchformat komprimierte und sie politisch und technisch aktualisierte) nehmen die stets nordischen Helden als Personifizierungen Deutschlands re­ ligiöse Züge an. Sie werden — wie zum Beispiel „Gorm, der Deutsche“87 — zum „Heiland“88 der Welt und stehen mit dem „Karma“ im Bunde, das für Deutschlands Aufstieg zur Weltmacht sorgt: Er war bei uns. Wir haben ihn gesehen, mit ihm gegessen, getrunken und wußten nicht, daß er es war89.

82 Vgl. S. 106 (bes. Anm. 219) dieser Arbeit. 83 O. W. Gail: Der Schuß ins All. 1925, S. 12. 84 K.-A. von Laffert: Flammen aus dem Weltenraum. 1927, S. 201. 85 Ebd., S. 188. 88 Th. von Harbou: Frau im Mond. 1928, S. 25. 87 H. Dominik: Das Erbe der Uraniden. S. 23. 88 Ebd., S. 139. 89 Ebd., S. 243.

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Er ist der Größere. Er weiß, was der Menschheit gebührt90. Gorm! Seine Werke, seine Taten, immer größer, gewaltiger! Unmöglich, sich mit ihm zu messen [...], für jeden anderen Menschen der Erde. Alles, was der begann, führte zum Sieg. Seine Größe so übermenschlich! Was würde den das Geheul der verblendeten Menschen berühren91? Gorm, der Geächtete, von der Welt Gehaßte, frei von jeder Schuld! Kein Makel haftete an seinem Werk, seinem Namen. [. . .] Die Scham bei allen so groß. Keiner wagte es von neuem ihm zuzujubeln. Stumm, demütig nahmen sie es hin. Nur leise, scheu nannten sie seinen Namen92.

In schroffem rassischem Kontrast zu den Helden mit den „germanisch­ blonden Augen“93 und ihren weiblichen Pendants94 stehen die Verräter, die stets besoffenen Bolschewiken und das von ihnen aufgehetzte „städtische Gesindel“95*: Ich habe noch nie eine Physiognomie von so vertrackter Mischung gesehen. Kein Eurasier, kein Mestize, ein Mulatte am wenigsten, und doch etwas von allem [...]". Ich könnte mir denken, daß er nicht wie andere Menschen geboren werden konnte: daß man ihn aus dem Mutterleibe schneiden mußte, weil ihr Schoß sich weigerte, ihn zu gebären [. . .]97.

Fahrten in die Zukunft dienen im Grunde nur dazu, die Leser von der Un­ sinnigkeit des Kommunismus, ja, von der Unsinnigkeit jeder politisch moti­ vierten Veränderung der Gesellschaft zu überzeugen: Hatte er seine Vorträge und Artikel bisher rein wissenschaftlich sachlich abgefaßt und es vermieden, tendenziös zu werden, von heute ab wollte er, nachdem er er­ kannt hatte, welchen Weg die Menschen gingen, nämlich den zum Kommunismus, und zu seinem erloschenen Seelenleben, sich dieser Entwicklung entgegenwerfen98. Alles Grübeln über die Welt und ihre Entwicklung hat schließlich doch keinen Zweck; ich bin zufrieden, wenn ich in deiner Nähe bin, und das ist mir wichtiger als alles andere99! Er vertiefte sich in die Werke der spekulativen Philosophie und nahm aus ihnen das auf, was ihm zusagte100.

00 Ebd., S. 241. 91 Ebd., S. 311. 92 Ebd., S. 319. 93 K.-A. von Laffert: Flammen aus dem Weltenraum. S. 6. 94 Th. von Harbou: Frau im Mond. S. 51: „Das Mädchen [. . .] schüttelte den Kopf, daß sein morgenblondes Haar einen gleißenden Triumphbogen um seine ungestüme und kriegerische Magdlichkeit bildete.“ 95 H. Dominik: Das Erbe der Uraniden. S. 35. 98 Th. von Harbou: Frau im Mond. S. 15. 97 Ebd., S. 67. 98 H. Christoph: Die Fahrt in die Zukunft. (1922); benutzt wurde die 2. Aufl., 1925. Zit. ebd., S. 242. 99 Ebd., S. 210. 100 Ebd., S. 277.

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Spielte sich in der Exotik der Science Fiction die räumliche Flucht als Be­ wältigung auf, als Kompensation der territorialen Verluste und der außen­ politischen Isolierung des Nachkriegsdeutschland, so kam der gleichzeitig propagierten Regression in die Innerlichkeit — ins „Reich der Seele“ — eindeutig gesellschaftspolitische Bedeutung zu. Im Drehbuch zu Fritz Langs Film Metropolis101, das zunächst als Roman erschien, wird dies womöglich noch deutlicher als im Film selbst, der mit unterschwelligeren Disziplinie­ rungsappellen arbeiten konnte (etwa dem „Ornament der Masse“102). Film wie Roman — in der kurzen ökonomischen Stabilisierungsphase der Wei­ marer Republik entstanden — sind eine einzige Stillhalteparole des Bürger­ tums an die Adresse der Arbeiterschaft. Selbst die ablenkenden, sensatio­ nellen Details stammen aus dem Inventar des gutbürgerlichen, neurotischen Innenlebens: der spätexpressionistische Vater-Sohn-Konflikt im Fabrikan­ tenhaus, die als kunstgewerbliches Detail verwandte expressionistische Sprachgeste103 (die schon in dem 1919 erschienenen Film Das Cabinet des Dr. Caligari buchstäblich zur Kulisse geworden war), das Robotermotiv, an dem nicht das Ökonomische, sondern nur das Alchimistische und Pygmalionhafte interessiert, und schließlich die Problematik der Maschine und technischen Rationalisierung überhaupt, die — mit den Augen des ChefSohns Freder gesehen — nur eine neurotisch-sexuelle ist: Er drückte den Kopf sacht an die Maschine. Mit einer unaussprechlichen Zärtlichkeit fühlte er ihre kühlen, schmiegsamen Glieder. .Heute nacht', sagte er, ,werde ich bei dir sein. Ich werde mich ganz von dir um­ schließen lassen. Ich werde mein Leben in dich ausströmen und ergründen, ob ich dich lebendig machen kann.'104

Was das Motto des Romans bereits verrät105, wird in der Fabel unent­ wegt handfest illustriert: Ein Aufstand oder Streik schadet nur den Arbei­ tern selbst. Gelingt er dennoch, so nur deshalb, weil er von oben geplant 101 Th. von Harbou: Metropolis. 1926. Benutzt wurde die 2. Aufl. aus demselben Jahr. Der Film wurde 1927 uraufgeführt. 102 Vgl. hierzu S. Kracauer: Von Caligari bis Hitler. 1958, S. 98, u. ders.: Das Or­ nament der Masse. 1963, S. 50—63. 103 „Alle Häuser schienen verzerrt und hatten Gesichter. Die schielten böse und tückisch auf mich herab, der ich tief zwischen ihnen auf glimmender Straße ging.“ Ebd., S. 142. 104 Ebd., S. 19. 105 „Dieses Buch dient keiner Tendenz, keiner/ Klasse, keiner Partei. / Dieses Buch ist ein Geschehen, das sich/ um eine Erkenntnis rankt:/ Mittler zwischen Hirn und Händen! muß das Herz sein.“ Ebd., S. [8 — Hervorhebung im Ori­ ginal).

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und angezettelt worden ist* 108. Im übrigen ist er als politisches Mittel für 107 Veränderungen untauglich, weil die eigentliche Ursache aller Übel in der fehlenden Herzenswärme liegt. Sinnvoll und angemessen ist dagegen die Versöhnung von Kapital und Arbeit mittels Heirat. Sie wird stellvertretend vom Sohn des Tyrannen mit dem Arbeitermädchen Maria vollzogen. Ihrem biblischen Vorbild gemäß107 erlöst sie die Arbeiterschaft aus dem Jammer­ tal und legt bei ihrem Gatten, dem säkularisierten Sohn Gottes, Fürbitte für ihre verirrten (d. h. aufrührerischen) Menschenbrüder ein. Die beschäm­ ten und zur Räson gebrachten Arbeiter bewegt danach nur noch eines: Wir warten darauf, [...] daß einer kommt, der uns sagt, welchen Weg wir gehen sollen [.. .]108.

1933 ließ Goebbels Fritz Lang zu sich kommen und teilte ihm mit, der Führer habe ihn auf Grund dieses Films schon „vor vielen Jahren [...] dazu ausersehen, künftig einmal die Filme des Dritten Reiches in Szene zu set­ zen“109. In vielen Fällen werden die Intentionen der Science Fiction gerade dort am deutlichsten, wo sie sich in den räumlich oder zeitlich entferntesten Be­ reichen und abstrusesten Phantasmen zu verlieren scheint. An den Projek­ tionen in Freksas Roman Drwso110 beispielsweise läßt sich nicht nur die sexualpathologische Sekundärmotivation des Rassenhasses (insbesondere des Antisemitismus) ablesen, sondern auch das, was in seiner Folge schließlich in den Konzentrationslagern verwirklicht werden sollte. Die Handlung beginnt im 21. Jahrhundert, als die Geburtenregelung (durch Sterilisation und „Zuchtwahl“) eingeführt wird. Es gibt nur noch zwei „Menschenklassen die fruchtbare und die andere“111. Der „un­ geheuerliche russische Versuch [...], die Menschen in rohe Kollektivwirt­ schaften zusammenzuschweißen“ (10), ist gescheitert. Es herrscht „die ganz neue Form des Wirtschaftslebens“, die der „Selbstverantwortlichkeit“ (9 f.): Ja, das ließ sich nicht aus der Welt schaffen. Es gab welche, die befehlen konnten, und welche, die die gehorchen mußten. (84)

100 „Die Stadt soll untergehen, Freder, damit du sie wieder aufbaust.“ Ebd., S. 211. 107 „in ihren zärtlichen Marienaugen [spiegelte sich] das bunte Himmelreich der Heiligenlegenden“. Ebd., S. 270. 108 Ebd. 109 Lang im New York World Telegram v. 11. 6. 1941, zit. n. S. Kracauer: Von Caligari bis Hitler. S. 108. 110 F. Freksa: Druso oder: Die gestohlene Menschenwelt. 1931. („Freksa“ ist ein Pseud. f. Kurt Friedrich.) 111 Ebd., S. 8. Im folgenden werden Zitate aus Druso durch die eingeklammerten Seitenzahlen im fortlaufenden Text belegt.

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so wird es immer sein und wird es immer bleiben, Unterschiede zwischen Herr­ schern und Beherrschten sind unauslöschbar. (109).

Die „gelben Völker“ aber träumen von einer „mongolisch geworden Erde“ (10). Sie umgehen die ihnen auferlegte Rüstungsbeschränkung dadurch, daß sie Tausende von Soldaten in den künstliechen Winterschlaf schicken und für den Krieg speichern. Dasselbe geschieht mit „Millionen von jungen Wei­ bern“, die als „Zeugungsreserven in der Erde ruhen, wie die Engerlinge der Maikäfer“ (18). Dieser Plan wird von der herrschenden weißen Rasse ent­ deckt, „und dann setzte die Vernichtung ein, schweigend, sachlich, schreck­ lich.“ (20). Danach beginnt man „die Menschheit neu aufzuzüchten“ (10); „nicht lebenskräftige Stämmlinge“ werden „thermisch vernichtet“ (23). Der Erfolg dieser Maßnahme zeigt sich rasch: „in keiner Zeit auf Erden [war] die Frau so schön gleichmäßig gezüchtet und reif an Geist wie damals“ (27). Da „Menschen mit nordischem Blut die Anlage zum Winterschlaf in ihrer Generationsreihe“ (17) haben, werden jeweils ausgewählte Vertreter einer Generation eingeschläfert und nach hundert Jahren wieder geweckt, um der nächsten Generation „die Keime der großen Ideen“ (22) weiter­ zugeben. Die um 2300 n. Chr. in den Kälteschlaf versetzte Mannschaft wacht unprogrammgemäß erst 283 Jahre später wieder auf. Die Menschheit ist inzwischen — verweichlicht durch die Annehmlichkeiten der Technik — unter die Herrschaft des „Raubsterns Druso“ geraten und hat sich zur „Zi­ vilisation der Bronzezeit“ (102) zurückentwickelt. Nur „das weiße Volk von Atlantikern“ (7), das sich in den Norden nach „Boothia Felix“ gerettet hat, läßt sich nicht unterjochen und hält auf strikte Rassentrennung zur übrigen Menschheit (den „Eingeborenen“). Die wiedererwachten „Schläfer“ greifen mit ihrem technischen Wissen in den Kampf gegen die „Drusonen“ ein. Der „Raubstern“ und seine Bewohner, riesige ameisenartige Insekten, tra­ gen — kaum verfremdet — all jene Attribute, die der Antisemitismus und Nationalsozialismus den Juden anhängte. Gegenüber der Drastik des vor­ liegenden Romans nehmen die berüchtigten Ungeziefer- und KartoffelkäferVergleiche eines Himmler oder Goebbels, die pornographischen Projektio­ nen des „Stürmer“ sich fast harmlos aus. Es scheint, daß der Raubstern [i. e. das Judentum] die Kräfte anderer Planeten [i. e. Völker] braucht, um sich regenerieren zu können. (117). Die Drusonen waren einmal [i. e. in biblischer Zeit] eine große lebensfähige Rasse. [. ..] Ihre Denker sind Molluskenwesen [in der Science Fiction eine beliebte Metapher für Wesen, die nur aus Hirn bestehen, also Intellektuelle], und ihre Wei­ ber sind nicht mehr fähig, selbst ihre Eier auszubrüten. Darum brauchen sie die

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Menschen, weil sie degeneriert sind. Sie brauchen die Milch der Frauen, sie brauchen die Wärme der Frauen, sie brauchen die Arbeitskraft unserer jungen Männer [i. e. der Jude regeneriert sich als Schmarotzer in seinen „Gastvölkern“, sexuell-genetisch durch „Rassenschande“ und ökonomisch, indem er andere für sich arbeiten läßt]. (257).

Das „der Dekadenz entgegenstehende Schmarotzervolk, das eigene Ar­ beit kaum noch leisten könnte“ (191), benutzt die Einsteinsche Formel E = mc2 [die Erfindung eines Juden] „in überlegener Anwendung“ (198) [i. e. mit jüdischem Intellekt] zur Steuerung ihres Planeten und verfrachten mit Raumschiffen („Räumern“) „Kinder, stillende Mütter und besonders kräftige junge Leute“ (190) auf ihren Planeten. Was sich dort abspielt, mußte selbst für die KZ-Kommandos ein Wunschtraum von sexueller Per­ version und technologischem Perfektionismus bleiben112: Hier ruhten auf Steinbänken Frauen oder Mädchen, und sie hatten auf ihren nack­ ten Leibern kleine, kugelförmige Wesen, die sie zu hüten schienen. [• - -] Sie und noch eine Frau waren um ein Wesen bemüht, ein Rieseninsekt mit gewalti­ gem, haarigem Hinterleib. [. . .] Sie strichen von oben nach unten den haarigen Riesenleib mit den Händen, sie übten eine Art Massage aus. [• • •] Wir sahen auch wieder eine gekrümmte nackte Menschenfrau hocken. Auf ihrem Schoß, geschützt durch die angezogenen Oberschenkel, ruhte ein braunes, ovales Paket [...]• [. . .] diese Frauen müssen Drusoneneier ausbrüten! (247—249). Säugende Frauen, deren Kinder gestorben, wurden Milchgeberinnen. In einem besonderen Wäldchen wurden die Frauen gehegt, die Milch geben sollten. Die Drusonen hatten Maschinen erfunden, die an die Brüste gesetzt wurden, und die Frauen wurden mit besonderer Nahrung gefüttert, die eine Verlängerung der Milchperiode ermöglichte. Sonst hatten sie es gut. Sie wurden alle sehr dick, da sie wenig Be­ wegung hatten, wurden aber sehr sauber gehalten, dreimals am Tage gescheuert und abgebürstet von alten Melkerinnen. Einzelne Drusonen ließen sich Frauen kommen und sogen an der lebendigen Menschenbrust. Das schmerzte, und jede Frau fürchtete diesen Dienst. Aber es dauerte nicht lange, denn die Drusonen waren Feinschmecker. Sie unterschieden die Frauenjahrgänge und sogar die Rassen nach der Milch. Jede Frau war nach Alter und Herkunft auf dem Rücken gestempelt [...]. (283 f.)

Die verbrauchten Frauen und Arbeiter werden auf folgende Weise ver­ wertet : Unter Gesang und Musik führte der Priester die in einer langen Reihe geordneten hinzu und rief: „Euch Beseeligten wird nun offenbar, was an Geheimnissen und 112 Daß es sich dabei in Wahrheit um die Projektion eigener Wünsche handelt, wird bereits im Roman selbst signalisiert: „Wir sehen dieses System der Be­ herrschung ein, [. . .] und weil wir es einsehen, weil wir das Joch empfinden, wollen wir es brechen.“ (120).

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Wundern die Götter Euch vorbehalten haben!“ [...] Immer schlug eine kreisende Pforte zu hinter jedem einzelnen der Schreitenden, der eingetreten war. [...] Jeder einzelne glitt auf einer schiefen Ebene mit erhobenen Armen herab. Aus der Wand streckte sich ihm ein spitzer Dorn entgegen, der das Herz genau traf, zumal die Arme sich fingen auf Stangen, die sie nach oben hochhielten. In die Haare und das von den Priestern angeordnete Geflecht senkte sich alsbald eine Greifzange. Unter den Achseln hielten den Körper, der noch zuckte, die Stangen. Zwischen die Beine schob sich ein dreieckiger Blick, der sie im Gleiten spreizte. [. . .] In einem einzigen Arbeitsgange wurden dem Opfer Kopf, Hände und Füße mit scharfen Messern ab­ getrennt. [...] Der dieser Glieder entblößte Rumpf wanderte mit gespreizten Bei­ nen weiter [...], wurde gestreckt, und nun begannen Messer den Rutschenden zu bearbeiten. Arme, Beine wurden geschlitzt, Einschnitte unten am Körper gemacht, Haken schoben sich ein, Gewichte hängten sich an, und Muskeln und Fett waren in kürzester Frist ausgeschält aus der Haut, die an einem Greifer für sich weiter wan­ derte. Arme, Schenkel wurden abgetrennt. — Ein großes Messer teilte den Rumpf in zwei Stücke, Fett wurde abgeschabt, kunstvoll oberes Teil vom unteren gesondert, so daß der Rumpf in vier Teilen weiterwanderte auf Platten.

[•••].

Ohne zu wissen, was sie taten, schnitten nun diese Blinden nach dem Gefühl Nie­ ren, Lebern und Drüsen heraus. Im Nebenraum wurden die Hirne zugerichtet. Denn die Köpfe waren ihrer oberen Hälfte indessen durch Maschinenringschnitt beraubt und der Schädelinhalt in an Drähten wandernde Bottiche entleert.

[•;■]

Die kräftigen Rücken und Bauchstücke wurden durch Maschinen in kleine, gulasch­ ähnliche Teile zerhackt. Sie wanderten in Retorten, und andere Frauen gossen Was­ ser auf, um aus menschlichem Fleisch etwas zu bereiten, das dem früheren Beeftea entspricht. (259—261).

Bleibt noch nachzutragen, daß die „Atlantiker“, die die Prinzipien „der ewigen Wiederkunft aller Dinge“ (44), „das Leben selbst, das ewige“ (146), das „Es“ gegenüber der „Erkrankung am Ich“ (306) und den ewigen Kampf verkörpern, am Ende siegen, die „alten europäischen Kulturlande“ von der „wilden Bevölkerung“ säubern und letztere durch die herrenlos gewordenen Orakel der Drusonen beherrschen (295). Derart intime Affinitäten zum Faschismus, die ja nicht nur in der deut­ schen Science Fiction zu finden sind oder waren113, mußten den Verfechtern des Genres nach 1945 allzu verräterisch und peinlich erscheinen. Dies trug gewiß zur Bildung der Legende bei, die Science Fiction sei ein genuin ame113 Eine (gekürzte?) Übersetzung von Freksas Druso erschien 1934 in dem ScienceFiction-Magazin Wonder Stories. In der angloamerikanischen Science Fiction sind Wunschvorstellungen dieser Art entweder rassisch nicht so eindeutig prä­ zisiert — verrückte Wissenschaftler experimentieren mit jungen Mädchen — oder aber auf die Farbigen bezogen wie etwa James S. White: Frauen für Pieja. (The devils egg, dt.) 1954, Utopia-Großband 9. Zu den rassisch ungezielteren deutschen Romanen gehört R. Betsch: Das Experiment des Dr. Tintelott. 1931.

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rikanisches Produkt. Demgegenüber kann festgestellt werden, daß dem prä­ faschistischen Deutschland der zweifelhafte Ruhm zukommt, die hierin führende Nation gewesen zu sein (sowohl auf dem Feld der Literatur wie des Films)114. Als Hugo Gernsback 1926 das erste Science-Fiction-Magazin ins Leben rief, mußte er zunächst auf Nachdrucke von Poe, Verne und Wells zurück­ greifen, „until others were developed“115. Zwischen 1920 und 1933 wurden weit mehr deutsche Science-Fiction-Romane ins Englische übersetzt als um­ gekehrt116. Beiträge deutscher Science-Fiction-Routiniers wie Max Valier, Ludwig Anton, Otto Willi Gail, Bruno H. Bürgel und Otfried von Hanstein fanden sich bis in die dreißiger Jahre hinein in amerikanischen Maga­ zinen. Anstoß und Vorbild für die Organisation amerikanischer ScienceFiction-Clubs war der 1927 gegründete „Verein für Raumschiffahrt“117. Willy Ley, der 1929 die Unterhaltungsbeilage der Vereinszeitschrift Die Ra­ kete redigierte, schreibt seit seiner Emigration regelmäßig populärwissen­ schaftliche Artikel für amerikanische Science-Fiction-Magazine. Noch 1933 wurde der nach einem Roman von Kurt Siodmak gedrehte Film F. P. 1 ant­ wortet nicht1™ von vornherein auch in einer für den amerikanischen Markt bestimmten Fassung hergestellt. Siodmak ist seit den vierziger Jahren einer der rührigsten Produzenten von Science-Fiction-Filmen in den Vereinigten Staaten119. 114 Zum Bereich des Films vgl. S. Kracauer: Von Caligari bis Hitler, u. J. Baxter: Science Fiction in cinema. 1970. 115 D. H. Tuck: A handbook of science fiction and fantasy. 2nd ed., 1959, Bd 1, S. 5. 116 Der Versuch, nach dem Erfolg der Tarzan-Reihe auch Burroughs Mars-Serie in Deutschland nachzuschieben, scheiterte. Es blieb bei dem ersten Band: Eine Marsprinzessin. [A princess of mars, dt. — ursprüngl.: Under the moons of mars, 1912] 1926. Auf dem Höhepunkt einer Anti-Burroughs-Kampagne — ihm wurden deutschfeindliche Tendenzen vorgeworfen — verzichtete der Verlag zwar nicht auf die Fortsetzung der Tarzan-Serie selbst, aber auf die Science-FictionReihe, die — im Gegensatz zu den Tarzan-Romanen — in Deutschland keine Originalität beanspruchen konnte. (Zur Kampagne gegen Burroughs vgl.: Schmutz und Schund als sozialpathologische Erscheinung, S. 17.) 117 Vgl. hierzu S. Moskowitz: The immortal Storm. 1954. 118 Weitere Science-Fiction-Romane von Siodmak waren: Stadt hinter Nebeln. 1931; Rache im Äther. 1932; Die Macht im Dunkeln. 1937; Donovan’ Brain. 1943, dt. u. d. T.: Der Zauberlehrling. Nürnberg 1951 u. Donovans Gehirn. 1960 (= Heyne-Buch, Nr. 66). 119 Z. B.: The invisible man returns. (1940); The invisible woman. (1940); The lady and the mortster. (1944); The magnetic monster. (1953); Donovans’s brain. (1953); Riders to the stars. (1956); Earth versus flying saucers. (1956).

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Erst als in den USA politische Bedingungen herrschten, die denen der Wei­ marer Republik wenigstens annähernd vergleichbar waren — also nach der Wirtschaftskrise und vor allem in den letzten Jahren vor dem zweiten Welt­ krieg —, stieg die Zahl der Science-Fiction-Publikationen sprunghaft an (von vier Magazinen im Jahre 1938 auf über 20 im Jahre 1941)120. Zu die­ ser Zeit hatte die Science Fiction in Deutschland ihre politische Mission schon erfüllt: ihre politischen und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen waren realisiert, die aggressiv-imperialistischen Wunschträume schienen sich im Krieg, die pathologischen in den Konzentrationslagern, Ordensburgen und Lebensborn-Heimen zu erfüllen. Politisch unbefangenere Phantasien — und das heißt in diesem Genre immer noch: Romane, in denen „bloß“ irgendein Planet besucht, die dort ansässige Prinzessin befreit und unter den Eingeborenen oder Monstren ein Blutbad angerichtet wird — blieben in Deutschland vor 1945 Ausnahmen, die sich hauptsächlich auf die Jugendliteratur beschränkten121. 2. Faschistische Mythen und Geheimwissenschaften

Es soll hier nicht einer Bagatellisierung des Nationalsozialismus als pit­ toresker Spintisiererei das Wort geredet werden. Jedoch rührt die „Unfaß­ lichkeit“122 dessen, was der Nationalsozialismus auf dem Höhepunkt seiner Macht inszenierte, zu einem guten Teil aus der Vernachlässigung und Ver­ harmlosung seiner irrationalen Züge her, die von Anfang an offen zutage traten. Der Nationalsozialismus stellte auch insofern ein konsequentes ideologi­ sches Derivat kapitalistischer Gesellschafts- und Herrschaftsformen dar, als in ihm die Widersprüche und Irrationalismen dieser Produktionsweise und ihrer Herrschaftsmechanismen zu ihrer eigenen, scheinbar naturwüchsigen Apologie und Ideologie gerannen: das Ausbeutungs- und klassenspezifische Herrschaftsprinzip zum Rassismus (mit Herrenrasse und Führerprinzip), die 120 Vgl. hierzu S. de Camp: Science fiction handbook. S. 15 f. u. 89 f. Für diese These spricht auch die Tatsache, daß nach Kriegsende in den USA die Zahl der Magazine auf neun zurückging und 1950, einem Höhepunkt des Kalten Krieges, wieder auf 25 anstieg. 121 Z. B. Ch. Haugen: Die Reise nach dem Ken. 1927; N. Meyn: Die Reise zur Venus. 1930; N. Reitter: Planetenflieger. 1935, W. Heichen: Jenseits der Stratrophäer (1937, 2. Aufl. 1939 u. d. T.: Luftschiff im Weltenraum). Ein weiterer in dieser Hinsidn einschlägiger Venus-Roman erschien in der Schweiz: O. Eklund: Die Reise der ,Tellus‘. (1943). 122 Vgl. W. F. Haug: Der hilflose Antifaschismus. 1967.

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ökonomischen Krisenzyklen und die Fremdbestimmung zu einem kosmi­ schen Naturgesetz von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, der Entfrem­ dungscharakter der Produktionsweise und der technologische Einsatz von Wissenschaft und Technik als Herrschaftsmittel zur Vorstellung von pseudo­ religiösen Geheimwissenschaften, der Atavismus von ökonomisch-techni ­ schen Möglichkeiten und den sozialen Lebensbedingungen der Massen zum Ineinander von entfesseltem Industrialismus und „Blut und Boden“. Der Fortbestand überflüssiger Herrschaft wurde durch Verschwörungslegenden gesichert und den Unterdrückten zur Aggressionsabfuhr die Sündenbockjagd freigegeben. Wer nicht schon die irrationalistischen Systemapologien der „seriösen“ Philosophie (von Schopenhauer und Nietzsche bis Klages, Spengler oder C. G. Jung) als tendenziellen Faschismus identifiziert, wer den Obskuran­ tismus völkischer Sektierer nicht ernst nimmt, muß allerdings fassungslos werden, wenn in der konkreten Herrschaftsphase des Faschismus damit plötzlich ernst gemacht wird. Spätestens seit 1919, als der deutschen Bourgeoisie zur Verteidigung der Herrschaft jedes Mittel recht sein mußte, wurde auch außerhalb der Salons und Kaffeehäuser mit Mythos und Magie gegen Vernunft und Revolution angegangen. Die Flut pseudowissenschaftlicher Traktate wurde unüber­ schaubar, und die Science Fiction übernahm dabei die Aufgabe, die system­ konformen Irrationalismen massenhaft auch in jenen Schichten zu verbrei­ ten, die von der philosophischen und pseudowissenschaftlichen Traktatlitera­ tur nicht erreicht wurden. Unablässig suggerierten die Autoren den Lesern, daß nun auch in der Literatur die Zeit reif sei für eine „geistige Neubesin­ nung“, für Sensationen und Phantastik, um den „Materialismus“ und sein literarisches Pendant, den Realismus, zu überwinden. Politisch unverfänglich wurde dies beispielsweise so formuliert: Der Weltkrieg hat uns allen so an den Nerven gezerrt und hat uns alle vollständig umgekrempelt, daß uns „ruhige Romane“ der hergebraditen Art nicht mehr ge­ nügen123. [. . .] der Leser unserer Zeit verwirft [. . .] alles Alte, er will etwas noch nie Dage­ wesenes, nie Gehörtes, mit einem Worte „Sensationelles“, lesen. Ja, der moderne Mensch braucht Sensationen, einen gewissen Nervenkitzel will er beim Lesen eines Buches verspüren. Er ist ein geistiger Abenteurer. Dadurch wird es natürlich dem Schriftsteller der Gegenwart nicht leicht gemacht, denn er muß ver­ suchen, immer neuen Stoff heranzuschaffen, Spannendes, womöglich phantastisch, bringen, jedoch immer in Grenzen der Glaubwürdigkeit bleiben124. 123 H. Dominik: Vom Schraubstock zum Schreibtisch. S. 221. 124 B. Heyn: Die Weltensegler. 1924, S. [5].

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Viele Anzeichen deuten darauf hin, daß der mechanische Materialismus, der — aus der exakten Naturwissenschaft kommend — dem letzten Jahrzehnt sein Signum aufgedrückt hatte, durch die Revolution der Geister allgemach zum Abklingen ge­ bracht wird. Das transzendentale Bedürfnis des weitaus größten Teils der Menschen läßt sich nun einmal nicht auf die Dauer unterdrücken [...]. Zunächst einmal sind wir gegenwärtig wieder auf dem Standpunkt angelangt, uns zu „wundern“, das will heißen: nicht schlechthin alles als „Unsinn“ abzulehnen, was nicht durch die bisher bekannten Gesetze der Physik zu erklären ist. Geheim­ nisvolle, unabhängig von Ort und Zeit bestehende Verbindungen fern voneinander lebender Menschen, Spuk, Geistererscheinungen treten wieder in den Kreis des Mög­ lichen ein125.

Das letzte Zitat stammt aus der Zeitschrift Der Orchideengarten, die sich — analog amerikanischen Science-Fiction-„weird“- und „fantasy“-Magazinen — ausschließlich der phantastischen Literatur und Graphik widmete126. Die politischen Implikationen solcher Plädoyers für den Irrationalismus werden unversehens deutlich, wenn in der gleichen Zeitschrift dadaistische Dichtungen wie Kurt Schwitters’ Anna Blume, die die verlogene Innerlich­ keit der bourgeoisen Kunst karikierten, als „geistiger Bolschewismus“, als „Beilage zum Journal eines Irrenarztes“ und „nur psychiatrisch zu erfas­ sen“127 rezensiert wurden. Max Valier, der spätere Raketen-Pionier und Vorsitzende des „Vereins für Raumschiffahrt“, der seine Vorträge über den Weltuntergang, Atlantis und Lemurien, die Welteislehre und den „Vorstoß in den Weltenraum“ durch ein Tournee-Büro vermitteln ließ128129 , wurde noch deutlicher: Gerade unsere gegenwärtige Zeit bedarf mehr als irgendeine andere eines im wah­ ren Sinne des Wortes kosmischen Quellpunktes geistiger Hinordnung. Wir brauchen eine große, ja geradezu überirdische Erschütterung, um endlich wieder zur Besin­ nung auf uns selbst zu gelangen, die wir im Strudel der Eigensüchte des Alltags verloren haben120. Wir wollen auf der Grundlage neuer Lehre für unser Erkennen tiefer gegründetes

125 Der Orchideengarten, 1. Jg. 1919, H. 2, S. 23. 126 Text- und Rezensionsteil dieser Zeitschrift sind ein weiterer Beleg für die Iden­ tität von Science Fiction und phantastisch-okkultistischer Literatur. Die Illustra­ tionen zeichnen sich durch ihre erotische Thematik und die anthropomorphe Darstellung der Technik aus. 127 Ebd., 2. Jg. 1920, H. 21, S. [16]. 128 Die Rakete, 1. Jg. 1927, Ergänzungsh. Jan.—Juni, S. 28. — 1929 versuchte Va­ lier vergeblich Hitler für die Möglichkeiten von Raketenwaffen zu interessieren. (Vgl. hierzu B. Ruland: Wernher von Braun. Mein Leben für die Raumfahrt. S. 56 f.) 129 M. Valier: Welt-Untergang. (Erweiterte Ausg. v. Untergang der Erde. 1927) 1923, S. 7.

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Wissen und für unser Fühlen wahrhaft urkräftiges Erschüttern suchen, auf daß uns auch der Welt und Erde Untergang aufbauendes Erlebnis werde130. [...] wir glauben, daß gerade die Astronomie und die Astrophysik durch die Natur ihres Stoffes selbst schon vielleicht mehr als irgendeine andere Wissenschaft geeignet sein mögen, jene Erhebung und geistige Revolution in unserem Volke einzuleiten, der wir dringend bedürfen, soll jemals das Los unseres eigenen Vaterlandes aber auch der ganzen Welt sich bessern. Der Krieg als äußere Erscheinung war nur eine Frucht des materialistischen Geistes der Zeit, der als der Vater des unbegreiflichen Egoismus unserer Tage genannt werden muß. Nur eine Rückkehr zu einer tief emp­ fundenen transzendentalen Weltanschauung kann die Wunde von innen heraus zu heilen vermögend sein. Und hat erst diese sich geschlossen, dann werden zugleich auch die äußerlichen Erscheinungen mit der inneren Krankheit vergehen131.

Die nebulösen Metaphern, mit denen hier politische und soziale Realitä­ ten beschrieben werden und bewältigt werden sollen, lassen sich noch halb­ wegs mit der „Präferenz für die privaten Tugenden“132 fassen, die Ralf Dahrendorf als Spezifikum des „deutschen Charakters“ ansieht. Aber schon Valiers Bemerkung, „in Einstein [.. .] einen Vertreter der »äußersten Lin­ ken' [. . .] sehen zu müssen“133, sprengt den liberalen Euphemismus dieser Formel, mit der Dahrendorf das Syndrom der faschistischen Tendenzen im „autoritären Charakter“ politisch verharmlost134. Ein Werk des ValierKompagnons „G. W. Suryas“ über Das Übersinnliche und den Weltkrieg wurde folgendermaßen angekündigt: Sind Weltkriege bloß Menschenwerk oder wirken dabei auch andere Einflüsse mit? [...] eine sehr sehr wichtige politische Schrift [...] indem sie die aktuell gewordene Schuldfrage am Ausbruch des Weltkrieges von höchster, unparteiischer, Warte be­ trachtet und beweist, daß es absolut unzulässig ist, dem deutschen Volke allein die Schuld am Weltkrieg beizumessen. Durch diese Lüge aber wird der Vertrag von

130 Ebd., S. 8. 131 Surya [d. i. Demeter Georgievitz-WeitzerJ/Valier: Okkulte Weltallslehre. 1922, S. 294. 132 R. Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. S. 397. 133 M. Valier: Welt-Untergang, S. 19, Anm. 1. 134 Es geht in diesem Zusammenhang nicht um die Frage, die Dahrendorf an die sozialpsychologischen Befunde von Fromm, Erikson, Adorno u. a. stellt, ob nämlich der „autoritäre Charakter“ als Sozialcharakter ein deutsches Spezifi­ kum sei. — Nimmt man die internationale Science Fiction als Indiz, so ist diese Frage zu verneinen. Das ändert aber nichts an der Richtigkeit der psychologi­ schen Analyse und der hier aufgestellten These, daß dem reaktionären deut­ schen Bürgertum nach 1918 jedes Mittel recht war, um die konstituierenden Verhaltens- und Denkweisen dieses Typus zu propagieren und so entscheidend zur faschistischen Konditionierung der kleinbürgerlichen Mittelschichten beizu­ tragen, die nichts mehr fürchteten als ihre schon vollzogene Proletarisierung.

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Versailles aufrechterhalten. Sie zu zerreißen, heißt auch den Vertrag von Versailles zu zerreißen135* .

Die politische Funktion der apolitischen Attitüde erweist sich vollends in den Schriften des ehemaligen Zisterziensermönchs Adolf Lanz, alias „Jörg Lanz von Liebenfels“, alias „Dr. Jörg Lanz“, des Schöpfers der „Theozoologie“ und Gründers des „Ordo Novi Templi“ („ONT“). „Materialis­ mus“ und „Egoismus“ erweisen sich dabei als Chiffren für rationale Politik, Sozialismus, Revolution und „jüdisch-bolschewistischen Intellektualismus“. Die „geistige Revolution“, der Glaube ans „Transzendentale“ und „Idealis­ mus“ stehen dagegen für soziale Beschwichtigung, innenpolitische Reaktion und außenpolitischen Revisionismus: [. . .] im weiteren Verlauf der Entwicklung des talmudisch-tschandalischen Welt­ reiches wußte sich das Judentum und Tschandalentum die Intelligenz der arisch­ christlichen Völker durch den [. . .] Geheimbund der Freimaurer dienstbar zu ma­ chen. Das Werk dieser Dunkelmännergesellschaft waren das ,Aufkläricht‘, die ver­ schiedenen Revolutionen, der Liberalismus, Sozialismus und Materialismus des XIX. Jahrhunderts, der Bolschewismus des XX. Jahrhunderts.

[••
z’ii-Zukunftsromane. Etwa 550 H. Rastatt (1954—1969). Wallisfurth, R[ainer], M[aria].: SOS, Fliegende Untertassen. Phantastischer Roman. Hattingen 1952.

269

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270

VI. REGISTER Personen, Reihentitel, anonyme Werke, die im Text angeführt sind

Achelis, T. 87 Adler, A. 54, 56, 100 Adorno, T. W. 13, 48, 86, 175, 177, 221, 213 f., 219, 220, 222 d’Alba, A. 124 Alewyn, R. 43 Aley, P. 192 f. All-Story 143 Ahornare, L. 124 Amazing Stories 9 Amis, K. 98 f. Anabis 141 Anders, G. 19 Andreae, J. V. 29 Andrew, B. 201 Andromeda 206, 217, 218, 219 Antares, E. (E. Seitz) 200 Anton, L. 171 Archivo del futurismo 125 Argument, Das 210 Arnim, A. v. 44 Arnim, B. v. 199 Asimov, I. 122, 192, 212 f., 216 Aspern, E. v. 153 Astounding Science Fiction 116, 208 Astronautenfamilie Robinson 204 Atlan 205 Avengers, The 204 Bacon, F. 9, 29 Bailey, J. O. 51, 52, 54, 143 Bálint, M. 92 Balzac, H. de 54 Barmby, J. G. 26 Barthel-Winkler, L. 154 Barwin, F. L. (L. Barthel-Winkler) 154 Bastiné, W. 139 Batman 207

Baumgarth, C. 124—128 Bausinger, H. 41, 117, 137 Baxter, J. 171 Bebel, F. A. 63 Behrens, F. 210 Belka, W. (W. Kabel) 153 Bellamy, E. 26 f., 110 Benn, G. 111 Berger, A. 196 Bergier, J. 111 Bergius, R. 195 Bergonzi, B. 97, 99 Bericht über die Abenteuer ... 132 Bernsdorf, W. 11 Bernstein, E. 121 Bertaux, P. 111 Besant, A. 110, 114 f., 187 Besser, J. 177 Beßler 41 Bester, A. 120 Betsch, R. 170 Beuth, P. C. 49 Bialkowski, S. 160, 184 Bibliothek der Unterhaltung . . . 140 Bibliothek des Hauses Usher 208 Bibliothèque d’éducation ... 54 Bild (-Zeitung) 204 Bilse, F. O. 178 Bingenheimer, H. 80 Blavatsky, E. P. 110—117, 135, 139, 187 Bleiler, F. 80 Bleymehl, J. 80 Blick in die Zukunft 200, 216, 218 Bloch, E. 28, 41, 81, 122, 136, 153, 194 Blue, P. 194 Boas, E. 53 Boccioni, U. 124, 125

271

Böckenförde, E. W. 64 Börsenblatt d. Dt. Buchhandels 221 Böhme, J. 100 Bölsche, W. 82 f., 88, 94 f. Boisgilbert, E. (I. Donnelly) 94 Bolle, F. 67 f., 83, 87, 88 Bollmus, R. 180 Bracher, K. D. 151, 177 Brand, K. 201 Braun, W. v. 81, 149, 174, 202 f. Bravo 204 Brecht 62 Bretonne, R. de la 31 Bröll, W. W. 201 Bronder, D. 177 Brown, F. 218 Brown, W. (W. Scholz u. a ) 201 Bruno, G. 103 Buch, H. C. 136 Bürgel, B. H. 171, 193 Bulger, Boom, the inventor 131 Bulletin of the Menninger Clinic 202 Bulwer-Lytton, E. 46, 110 Bunte Illustrierte 149, 204 Burda, F. 204 Burmester, A. K. (A. Berger) 196 Burroughs, E. R. 143, 171 Butler, S. 110 Cabet, E. 24, 26, 53 Cagliostro, A. v. 41 Caillois, R. 44 Cantrill, H. 104 Campanella, T. 29 Campbell Jr., J. W. 192, 211 Capek, K. 150, 193 Cavachioli, E. 124 Chamberlain, H. S. 162 Charbonneau, L. 204 Charroux, R. 111 Chiavacci, V. 94 Christoph, H. 165 Christopher, J. 204 Claessens, D. 93 Clarke, C. 116 Clarke, I. F. 66, 68 f. Clement, H. (H. C. Stubbs) 222

272

Conrad-Martius, H. 89 Cooper, E. 194 Coover, W. (W. D. Rohr) 2C0 Cox, A. J. 192 Croce, B. 43 Cyrano de Bergerac 29

Dacque, E. 111 Dahrendorf, R. 175 Däniken, E. 111, 114, 203, 220 Daim, W. 177, 190 Daiber, A. 78 f. Darlton, C. (W. Ernsting) 216 Darwin, C. 66—68, 87—89, 105 Daumann, R. H. 160, 193 Bavenport, B. 118, 120, 149 Delmont, J. 154—156 Demuth, M. 117 Deppe, F. 210 Deutsche Nachrichten 180 Deutscher Jugendfreund 80 Deutsches Bücherverzeichnis (DBV) 80 Dietz, L. 55 Ditfurth, H. 43, 46 Dublin, A. 126 Doktor Solar 204 Dolezal, E. 55, 196 Dominik, H. 121 f., 124, 130, 132, 154, 159, 160, 164 f„ 173, 193, 196 Donnelly, I. („E. Boisgilbert“) 94 Donrath, M. 204 Dorcmicux, A. 117 Drahn, E. 50 Dreiser, T. 112 Dvorak, R. 197 Dwinger, E. E. 163

Eickcrmann, W. F. 194 Eiscrmann, G. 72 Eklund, O. 172 Ekstein, D. 202 Ekstein, R. 202 Electric Bob 131 Engels, F. 25, 40, 66, 100, 106, 110 Englands Untergang ... 28 Fnzensberger, H. M. 120 Erikson, E. H. 177 Erlebnisse und Schicksale ... 153

Ernsting, Walter („C. Darlton“) 202, 216, 217 Eschmann, E. W. 132, 202 Ewers, H. H. 129 Eyth, M. 119 Extrapolation 119

Fabius Maximus „Cunctator“ 110 Fachzeitung für den Colportage-Buchhandel 27 f., 50, 62, 63, 140, 144 Fauth, P. 178 f. Fechner, G. T. 82, 100 Fenelon, F. 30 Fetz, A. 79, 80 Fischer Bücherei 208 Flammarion, C. 101 f. Fleming, I. 136 Flesch (-Brunning), H. 150 Fliegerteufel, Der 141 Flohr, H. 94 Ford, H. 152 Fort, C. 111 f. Fourier, C. 24, 136 Frank Kenney-Kriminalabenteuer 198 Frank Reade Jr. 131, 134 X Franke, H. W. 149, 215 f. Frankfurter Pfennigmagazin 132 Franklin, H. B. 48 Freed, C. V. (K. W. Röcken) 196 Freksa, F. (K. Friedrich) 167—170 Freud, A. 115 Freud, S. 111, 115 Freyer, H. 30 Friedell, E. 41, 42, 47 Friedländer, S. („Mynona“) 151 Friedrich K. („F. Freksa“) 167—170 Fromm, E. 175, 177 Fronemann, W. 140 Fulgor 203 Fulton, R. 51 Future 218 Galaxis 202 Galbraith, J. K. 210 Galilei, G. 103 Gallet, G. H. 117 Garnier, C. 42 Geerken, H. 126

Geiss, R. 194 Generalplan Ost 163 Gerber, R. 97 Georg Schlagwort-Katalog 80 Georgievitz-Weitzer, D. („Surya“) 175 f. Gernsback, H. 9 Gerstäcker, F. 62 f. Gesamt-Verlags-Katalog (GVK) 80 Goebbels, J. 167 Goethe, J. W. v. 77 Goldmanns Weltraum Taschen-Bücher 116, 204, 205 Goldzier, H. („Th. Newest“) 108 Goodstone, T. 131 Gove, P. 33 Grau, F. („P. Gurk“) 150 Greg, P. 79 Griffith, G. 143 Grüner, A. K. 201 Grunert, C. 121 f., 124 Grunert, J. 150 Günther, G. 35, 36, 201, 210 Gurk, P. (F. Grau) 150 Habermas, J. 18, 43, 57, 58, 65, 211, 212, 214 Hacks, P. 196 Haeckel, E. 51, 67, 82, 87—89 Hallberg SF 204 Hallelt 51 Hamburger Abendblatt 204 Hamerling, R. 53 Hans Stark, der Fliegerteufel 153 Hanstein, O. V. 171 Harbou, T. v. 165—167 Harder, H. 163 Harrington, J. 29 Harris, J. B. („John Wyndham“) 116 Hartlaub, G. F. 104 f. Häuf, W. F. 172 Haugen, C. 172 Haushofer, M. 82, 94, 97, 199 f. Hawthorne, N. 44 Heer, F. 177, 188, 190 Heiber, H. 163, 180, 181 Heichen, W. 172 Heinlen, R. A. 118, 122, 149, 214 f., 220 Heinrichka, M. 160

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Heinsius Allgemeines Bücher-Lexikon 80 Helionde ... 52 Helms, H. G. 19 Henseling, R. 186 Herbert, F. 212 Herschel, J. 53 Hertzka, T. 27 Hettner, H. 34 Hetzel, J. 51, 54, 61 Hevesi, L. 79 Heym, G. 126 Heymann, R. 139 f. Heyn, B. 173 Heyne-Bücher 28, 78, 116, 171,194,205, 208, 212, 222 Hieronimus, E. 31 Hilarius Goldsteins Leben ... 33 Hillegas, M. R. 97, 98 Himmler, H. 180, 181, 190 Hinrichs Bücher-Catalog 80 Hirsch, J. 20, 49, 58 Hit-Comics 204 Hitler, A. 156, 163, 167, 177, 180, 181, 183, 188, 190, 192, 206 Hochwacht, Die 50, 63, 141, 143—147 Hörbiger, H. 178 f., 180 Hoffmann, E. T. A. 45, 46 Hoffmann, K. 135 Hoffmann, O. 79 f., 106, 130, 132, 141 Hofmann, W. 19 Holberg, L. 31 f. Holk, F. van (P. A. Müller) 196 f. Holzer, H. 120 Homo 219 Horkheimer, M. 86, 107, 214 Horn, K. 60 Hortleder, G. 210 Hubbard, R. 116 Hulter, M. 33, 52 Huxley, A. L. 78, 150, 211, 213 f.

Illing, W. 159 Im Lande der Höhlen 132 Im Radio-Club 153 Indianer- und Volksbibliothek 132 Infratest 204 Ischreyt, H. 11

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Jade Nelson von Tric-Trac-Tric 153 Jach Wright 131 Jakobsen, H. A. 163 Jefremov, I. 222 Jim Parkers Abenteuer .. . 63, 203 John Klings Erinnerungen 153 Jokai, M. 69—76, 106, 109 Jonas, F. 35 Joyce, J. 222 Jünger, E. 122 Jünger, F. G. 122, 197 Jugendschriften-Warte, Die 143 Jung, C. G. 173

Kabel, W. („W. Belka“) 153 Kadinsky, M. 217 Kärrner, D. 186, 192 Kafka, F. 222 Kahn, H. 220 Kaiser, H. K. 55 Kant, I. 46 Kater, M. H. 180 Kayser’s Vollständiges Bücher-Lexicon 69, 80 Keen, Mac 201 Keene, D. 194 Kegel, W. 160 Kelchner, M. 153 Kellermann, B. 126 Kern, J. 40 f. Keyen, W. (P. A. Müller) 196 Kircher, A. 100, 136 Kiß, E. 179—183 Kladderadatsch 94 Klages, L. 122, 173 Klein, A. 64 f., 136 f. Kloss, R. 129 Knight, E. 193 Knilli, F. 199 Koch, Richard („H. C. Nulpe“) 201 Köhler, O. 221 König, R. 11 Kommissar X 184 Konstanzer Tedtnologiepapier 18 Kopernikus, N. 180 Kracauer, S. 152 f., 166, 167, 171 Kraft, R. 63, 132—139, 153, 154, 164, 181

Kraus, K. 72, 121 f. Krauss, W. 23, 34, 52 Kreuzer, H. 122 Kringel, F. 80 Krischnamurti 110 Krupp, A. F. 89 Krysmanski, H.-J. 10, 12, 13, 34 f., 80 f., 102, 201 Kubin, A. 129 Kürschner’s Bücherschatz 79 Kunkel, K. 201 Kuttner, H. 116 Laffert, A. v. 160, 164, 165 Lamarck, J. B. de 17, 125 Landser-Romane 148, 199 Lang, F. 166 f., 179 Lang, J. 185 Lanz, A. J. („Jörg Lanz“, „Lanz-Lie­ benfels“, „Jörg Lanz von Liebenfels“) 175—177, 186—192 Larsen, K. (R. Kraft) 154 Lassmann, A. 201 Laßwitz, K. 63, 78, 79, 81—87, 102, 121, 124 Lau, E. 153 Lawrence, H. L. 116 Legman, G. 95 f., 126 f., 135 Lem, St. 222 Leo XIII 100 Lewis, G. 86 Ley, W. 179 Lhande, P. 162, 193 Library of Congress catalog 130 f. Liebenfels, L. v. (A. J. Lanz) 115 Liste der . . . ungeeigneten Druckschrif­ ten 193 Liste der . . . unter Verschluß gestellten Drucksdirif ten 162 Lingfeld, N. 16 Locke, 53 f. Lóele, K. 158 Lovecraft, FL P. 111, 112 Lucifer, the light-bearer 110 Lucifer-Gnosis 110 Lüthi, M. 44 Luftpirat, Der 63 f., 141—143 Luftsdiiff 13, 28

Lukäcs, G. 152 Luna-Utopia-Roman 64 Luxemburg, R. 188

Mace, J. 54 Mader, W. 80, 106, 132 Magasin d’éducation ... 54, 61, 132 Magazin für Industrie 33 Magnus 204 Mahr, K. (K. Mann) 116 Maier, K. E. 55 Malleczewen, F. 163 Mann, K. („K. Mahr“) 116 Mantagezza, P. 79 Mardicke, F. („W. Marken“) 196 Marinetti, T. 123—128 Mark Powers 184 Marken, W. (F. Mardicke) 196 Marlitt, E. (E. John) 62 f. Martin, R. 120 Marx, K. 19, 58, 209, 210, 216 Marxismus-Digest 210 Maschinenzeitalter, Das 27 Maus, H. 11 May, K. 135, 206 May, W. 67 Mayer, Th. H. 161 Meggendorfer Blätter 94 Meier-Lemgo, K. 160 Mel’nikov, A. 208 Menningen, J. 13 Mercier, L. S. 32 Merriman, J. 139 Merten, K. H. 201 Meteor-Science-Fiction 204 Meyer, M. W. 96 Meyer’s Konversations-Lexikon 51, 101, 115 Meyrink, G. 129 Meyn, N. 172 Mesmer, F. A. 41 Michalek, K. 203 Middeldorf, W. 76 Mingo, der Nick Carter der Luft 179 Minx, der Geistersucher 140, 153 Miracle Man 204 Mirándola, P. 100

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Mit Schirm, Charme und Melone (The Avengers) 204 Mitchell, A. 177 Mitrani, M. 217 Moncrif, P. de 33 f. Moderne Frau 204 Moore, P. 55 Morelly, A. 31 Morris, G. 105 f. Morton, A. L. 27, 28 Morus, T. 9, 29 Moskowitz, S. 131, 143, 171 Mosse, G. L 177 Mühlmann, E. W. 219 Müller, P. A. („Lok Myler“ usw.) 160, 183—186, 193, 196 f. Müller-Baden, E. 140 Müller-Schwefe, G. 87 Münchner Illustrierte Presse 178 Munro, C. R. (K. Brand) 201 Mussolini, B. 127 f. Myler, L. (P. A. Müller) 160, 183—186, 193 Mynona (S. Friedländer) 151

Nadar (F. Tournachon) 5 Nagi, M. 16, 206 Napoleon III. 54 National Union catalog 110 Naujok, R. 55 Naundorf, G. 194 Negt, O. 22 Nettesheim, A. v. 100 Neue Universum, Das 132 Neue Weltschau 204 Neue Zeit, Die 26, 27 Neues Kriminal-Magazin 203 Neumann, F. L. 151 Neupert, K. 185 Neusüss, A. 12 New York Herald Tribune 207 New York World Telegram 167 Newest, T. (H. Goldzier) 108 Nick. Der Weltraumfahrer 204 Niekisch, E. 130 Niemann, A. 106 Nietzsche, F. 88, 173 Nord, E. v. 132

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Nulpe, H. C. (R. Koch) 201 Nutz, W. 22, 198

Oberth, H. 179 Oetinger, F. C. 100 Olcott, H. S. 110 Olney, C. 46 Orchideengarten, Der 174 Ostara 109, 175—177, 186—192 Osten, L. (F. Mardicke) 196 Owen, R. 24, 26 Pabel, E. 217 Pabel-Taschenbuch 205 Padget, L. (H. Kuttner) 116 Palazzeschi, Aldo 124 Papp,D. 121 Paracelsus, P. A. 45, 100 Pauwels, L. 111 Pehlke, M. 16 Perry Rhodan 104, 141, 148, 197, 200, 204, 205, 207, 208 Perry Rhodan Planetenromane 205 Perry Rhodan — SOS aus dem Weltall 204 Peters, K. 121 Peuckert, W. E. 137 Pfannkuche, A. H. T. 62 f. Phelps, R. 177 Phil Morgan, der Herr der Welt 153 Picker, H. 163, 180, 181, 183, 190, 191, 206 Pius IX. 54, 62 Plessner, H. 152 Plotin 100 Pluto 218 Poe, E. A. 44—46, 52, 53 f., 56, 112 Poeti futuristi, I 124 Pohle, J. 103, 132 Popp, M. 51, 60, 78, 87, 105, 108, 139 Popper, K. 13 Praz, M. 43, 48 Protokolle der Weisen von Zion 152 Pruyn, L. 194 Ptolemäus, C. 180

Quarber Merkur 200

Radar 204 Raka 203 Rakete, Die 171, 174, 178, 179 Randow, T. v. 107 Rauchs-Weltraum-Bücher 192, 201 Raumpatrouille 204 Rauschning, H. 180, 190 f., 192 Reclus, E. 54 Redzich, C. 79 Reed, A. (W. D. Rohr) 200 Reifenberg, A. 156—159 Reihe der Zukunftsromane 196 Reinhard, W. („H. Warren“) 154 Reise um die Welt 132 Reisen in den Mond ... 52 Reitter, N. 172 Ren Dhark, Weg ins Weltall 204 Renard, M. 112 Renard-Cheinisse, S.-C. 117 f. Renker, G. 196 Rex Corda 204 Richtlinien des NS Lehrerbundes 192 Rigo Muratti 153 Robida, A. 79 Robinson Crusoe dritter u. vierter Theil 32 f. Rocca, A. di 104 Rockhausen, R. 101 Rock, C. V. (K. W. Röcken) 196 Röcken, K. W. („C. V. Rock“) 196 Rohr, W. D. („A. Reed“) 200 Rosegger, L. 90—92 Rosenberg, A. 180 Rottensteiner, F. 82, 87, 151, 200, 222 Rühmkorff, P. 40 Ruland, B. 149, 174 Rund um die Welt 140, 153 Sachs, H. 127 Saint-Simon, C. H. 24 Samjatin, J. 28 Samson 204 Samuleit, P. 50 Sandt, E. 63, 76 f. Santucci, L. 55 Saturday Review 66 Schallmeyer, W. 89 Scheck, R. 10

Scheer, K. H. („A. Turbojew“) 200, 205 Scheerbart, P. 151 Scheff, W. 161 Scheidt, J. vom 36 Schelsky, H. 19, 210 Schenda, R. 21, 62, 69, 94 Schiller, F. 82 Schilling, W. 80 Schirmbeck, H. 122 f., 149 Schleßische Zeitung 78 Schliemann, H. 109 Schmelzer, H. 20 f. Schmidt, A. 56 Schmidt, H. 55 Schmidt, Helmut 197 Schmidtchen, G. 200 Schmutz und Schund als sozialpath. Erscheinung 171 Schnabel, F. 49 Schnabel, J. G. 31 Schneid, M. 101 Schoene, W. 92, 93, 94 Scholz, W. („W. W. Shols“) 200 Schoonover, L. 116 Schopenhauer, A. 173 Schubert, G. H. 47 Schultze, E. 141 Schultzky, O. 129 Schulz, W. 47 Schundkampf, Der 147 Schundkampf-Pressedienst 147 Schwäbisches Magazin ... 41 Schwarzen Brüder, Die 36 f. Schwarzenauer, W. 207 Schwitters, K. 174 Schwonke, M. 10, 12, 13, 14, 15, 34, 36, 46, 53, 80, 81, 98, 102, 112, 129, 195, 201, 208 Science Fiction für Kenner 208 Science fiction & fantástica 208 Science Fiction Times 205 Seaborn, A. (J. C. Symmes) 52 Sechstes und siebtes Buch Mosis 184 Seitz, E. („J. E. Wells“) 200 Sellmann, A. 147 Seltsame Abenteuer ... 153 Señares, L. P. 131 Shakespeare, W. 34

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Shaw, B. 110 Shols, W. W. (W. Scholz) 200 Silbermann, A. 11 Sild, E. 204 Sills, D. L. 11 Siodmak, K. 171, 193 Sladek, T. J. 9, 13 Smith, A. 216 Sir Ralf Clifford 153 Smith, G. O. 116 Snow, C. P. 122 Snyder, G. 203 SOL 200, 215 Souvestre, E. 53 Soyka, O. 135 Soziologische Exkurse 12, 13, 15, 107 Spannuth, J. 180 Spengler, O. 173, 189 f., 192 Spiegel, Der 40, 55 f., 106, 207, 219 f., 221 Sprague de Camp, L. 45, 172 Stahl, J. P. 54 Stammer, H. J. 80 Starke, G. 147 Steen, I. (P. A. Müller u. H. Schmidt) 196 f. Steiner, R. 110, 180 Steiner, H. 210 Steinhäuser, 53 Steranko, J. 131 Stinde, J. („A. de Valmy“) 78 Stoker, B. 46 Strindberg, A. 187 Strobl, K. H. 129 Strong, P. (E. v. Aspern) 153 Stubbs, H. C. („H. Clement“) 222 Sturgeon, T. 116 Sturm, Der 126 Sun, The 53 Superman 104, 204 Supermann 203 Surya (D. Georgievitz-Weitzer) 175 f. Suttner, B. v. 27 f., 121 Swedenborg, E. 41, 100 Swift, J. 29 Sylt-intim 137 Symmes, J. C. („C. Saeborn“) 52

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Täschner, T. 160 Tausk, V. 127 Teilhard de Chardin, P. 111, 122 Terra Extra 204 Terra Sonderreihe 205 Terra-Utopische Romane 204 Testpilot Speedy 204 Theosophist, The 110 Tille, A. 88, 99 Tina 204 Titanus 204 Tokko, Ri 159 Tom, der Unsichtbare 204 Tom Edison Jr. 131 Tom Swift 131 Torsten, L. (K. Brand) 201 Treguboff, L. 20 Treitschke, H. v. 162 Tuch, D. H. 171 Turbojew, A. (K. H. Scheer) 200 Ullrich, H. 31 Ullstein 2000 208 Untergang der Welt, Der 132 Unterwelt, Die 32, 52, 105 Ura-Linda-Chronik 180 Utopia 203 Utopia-Großband 170, 202, 216, 217 Utopia-Krimi 203 Utopia-Magazin 203 Utopia-Science-Fiction-Magazin 203 Utopia-Sonderband 203 Utopia-Zukunftsroman 201, 204 Utopia-Zukunftsromane 184 Vairasse, D. 29 Valier, M. 171, 174—176, 179 Valmy, A. de (J. Stinde) 78 Verne, J. 51 f., 54—63, 66, 76, 79, 80, 87, 92, 93, 100, 105, 130 f., 134, 135, 142, 151 Versins, P. 9, 117 VDI-Nachrichten 11 Virchow, R. 68 Vogt, A. E. van 116 Voß, J. v. 37—40

Walden, H. 126 Walsh, C. 150 Walter, H. (K. W. Röcken) 196 Warren, H. (W. Reinhard) 154 Weichert, A. 144 f. Weinland, D. F. 119 Weitling, W. 24 Wells, H. G. 79, 87, 94, 97—99, 104, 110, 139 Wells, J. E. (E. Seitz) 200 Welt von morgen, Die 217 Weltraumgirls 204 Westermanns Monatshefte 87 Weyer, F. 198, 200 White, J. S. 170 Wiek, B. S. 159 Wiener, N. 220 Wilhelm II. 77 Wille, B. 82 f.

Williamson, Jack 116, 192, 212 Winther-Bücher, Science Fiction 205 Wirth, H. 180 Woche, Die 154 Wochenblatt für die Schweizerfamilie 132 Wolgast, H. 143 Wollstonecraft-Shelley, M. 44 f. Wonder Stories 170 Wulf, J. 129 Wunderliche Fata ... 31 Wyndham, J. (J. B. Harris) 78, 116 Z-Science Fiction 204 Zboron, H. 184, 215 Zeit, Die 107 Zentralblatt für Okkultismus 46 Zschokke, H. 36 f. Zulawski, J. 80

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KORREKTURHINWEISE 14, Anm. 19: lies Krysmanski. 26, Anm. 4, Z. 4: lies neuerer. 28, Anm. 18: lies Friedensfreunde“. 29, Abs. 2, Z. 7: lies und die spätestens. 31, Anm. 29: lies Subterraneum. 36, Anm. 46, Z. 2: statt U. lies u. 54, Anm. 9, Z. 3: lies „ballon-hoax“. 60, Abs. 2, Z. 4: lies Akkommodation. 67, Abs. 6, Z. 11: lies Natur!54 71, Abs. 2, Z. 7: statt Review lies Rewiev. 73, Abs. 5: lies von den durch Nihilisten. 76, Abs. 5, Z. 2: lies politisch präzisere. 78, Anm. 93, Z. 10: lies vorgeschlagen. 79, Anm. 93: lies Achsenwinkels, für. 80, Anm. 98, Z. 6/7: lies Georg. 81, Abs. 4, Z. 15: lies Utopie und. 96, Abs. 7: lies Vielleicht. 97, Abs. 4, Z. 3: lies [.. .]?170. 97, Abs. 5, Z. 3: lies Zukunft!171. 97, Anm. 177, Z. 4/5: lies Der gestohlene Bazillus und andere Geschich­ ten. 104, Abs. 4, Z. 10: lies Heil-Losigkeit. 107, Anm. 220, Z. 2: lies wendet, 107, Anm. 220, Z. 3: ergänze Randow zählte auch zu den ersten Förde­ rern Dänikens. Nachdem Dänikens Manuskript vom Lektorat des Econ-Verlages abgelehnt worden war, stellte Randow erfolgreich eine Direktverbindung zum Verleger selbst her. (Vgl. Bourquin/Golowin: Die Däniken-Story. 1970, S. 149, Anm. 167.) 110, Z. 1/2: lies zusammenschießen. 121, Anm. 262: statt 1903 lies 1901. 141, Anm. 348, Z. 2: statt Max lies Mac. 141, Anm. 348, Z. 3: lies Anonymus. 142, Anm. 354: statt 108 lies 102. 145, Abs. 2, Z. 10: lies Mehrheit. 150, Abs. 2, Z. 13: lies allerdings übertreffen. 163, Z. 4: lies führten. 164, Abs. 6: statt Mannschaft lies Menschheit.

S. 168, S. 174, S. 176, S. 192, S. 192, S. 194, S. 197, S. 200, S. 205, S. 206, S. 208, S. 219, S. 223, S. 224, S. 225, S. 229, S. 231, S. 237, S. 238, S. 239, S. 240, S. 244, S. 246, S. 249, S. 252: S. 255, S. 257, S. 257, S. 261, S. 262, S. 263, S. 263, S. 267, S. 268, S. 268, S. 268, S. 270, S. 270: S. 270,

Abs. 2, Z. 3: lies künstlichen. Anm. 129: statt 1927 lies 1922. Abs. 2, Z. 2: lies Adolf Joseph Lanz. Anm. 212, Z. 5: lies Rauchs Weltraum-Bücher. Anm. 215, Z. 6: statt „Kämpfen“ lies „Kämpen“. Abs. 2, Z. 10: lies schändet, rettet und rächt. Anm. 8: statt Schmidt (Bd. 1 —127) lies Schmidt]:. Anm. 25, Z. 6: statt werden? lies werden:. Abs. 3, Z. 7: lies „Exposes“. Z. 32: statt 12 °/o lies 7 °/o. Anm. 60: statt 100 lies 150. Abs. 5, Z. 6: lies Populärliteratur. Abs. 2, Z. 3: lies kleinster. Z. 20: lies suhrkamp. Z. 23: lies Bloch. Z. 12: lies Hans; Papalekas, Johannes Chr.; Weipert. Z. 39: lies LXII, 1958. Z. 27: statt Merkur, Quarber lies Quarber Merkur. Z. 3: statt Merkur, ßuarber lies Quarber Merkur. Z. 8: lies Ausg. — 1968. Z. 7/8: lies Anthologie. Z. 4: statt 1941 lies 1841. Z. 19: lies Tauchbootkrieg. Z. 18: lies Aufl. Z. 34 gehört zwischen Z. 12 u. Z. 13. Z. 1: statt frank lies fran. Z. 24: lies Adolf Joseph Lanz. Z. 37: lies Bilbilis, die versunkene Stadt. Z. 27: lies Jürgen. Z. 47: lies Auf. Z. 13: statt 1958 lies 1968. Z. 18: lies Balve. Z. 42: lies Kriminalroman. Z. 6: statt der lies des. Z. 28: lies Schmidberger. Z. 42: lies Spanuth. Z. 17: lies Eugen. Z. 17 u. Z. 18 streichen. Z. 37: statt 5. H. lies 5 H.

Science Fiction stellt eine populäre Form der Gegen Utopie dar. In ihr ist an die Stelle des Fortschritts die bloße „Neuerung” getreten; der Phantastik und Zukunftsorientierung im tech­ nischen Detail steht die massive Reaktion im gesellschaftlich-politischen Bereich gegenüber. Die herrschaftsideologischen Funktionen der Science Fiction werden historisch an einer Fülle von bisher unbeachtetem Material aufgedeckt und an der gegenwärtigen Produktion belegt.