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German Pages 232 Year 2005
Friederike Küster Rousseau Die Konstitution des Privaten
Deutsche Zeitschrift für Philosophie Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung
Sonderband
Friederike Küster
Rousseau Die Konstitution des Privaten Zur Genese der bürgerlichen Familie
Akademie Verlag
ISBN 3-05-004161-7 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2005 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Satz: Veit Friemert, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Geimany
L'amour du bien public est la seule passion qui me fait parler au public. Jean-Jacques Rousseau, Lettre à d'Alembert
Inhaltsverzeichnis
Vorwort Einleitung
1.
25 37 37 46 51
Die Entstehung der Familie im Discours sur l'inégalité 2.1 Vorvertragliche Sozietäten: Nation und Familie 2.2 Arbeit und Eigentum 2.2.1 Geschlechtliche Aufgabenteilung 2.2.2 „Une sorte de propriété"
3.
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Vorklärungen: Traditions- und Positionsbestimmungen 1.1 Der Herrschaftsverband Familie als politisches Paradigma 1.2 Naturzustand und Familie 1.2.1 Der Naturzustand 1.2.2 Präsoziale Generativität 1.2.3 Discours sur l'origine de l'inégalité und Essai sur l'origine des langues: ein Vergleich
2.
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67 73 74 81
Rousseaus Oikos zwischen Neoaristotelismus und bürgerlicher Familie 3.1 Vorüberlegungen 3.1.1 Auflösung der Kontinuität von häuslicher und politischer Gesellschaft 3.1.2 Das Verhältnis der Gatten: Discours sur l'origine de l'inégalité und Discours sur l '(Economie politique
91 91 96
8
INHALTSVERZEICHNIS
3.2 La Nouvelle Héloïse oder Der sentimentale Oikos 3.2.1 Die Konzeption der œconomie domestique 3.2.2 Das Problem von Gleichheit und Ungleichheit 3.2.3 Die Verhältnisse von Ciarens 3.2.4 Aktive und passive Staatsbürgerschaft 3.2.5 Das Ideal der Autarkie 3.2.6 Der Status der Hausherrin Exkurs zur Rechtsstellung der Frau 3.2.7 Die œconomie domestique zwischen „ganzem Haus" und bürgerlicher Kleinfamilie Exkurs zum Discours préliminaire
4.
100 100 104 109 117 124 129 134 136 139
Die Familie als intime Gemeinschaft 4.1 Auf dem Weg zur „Kontrastinstitution" 4.1.1 pouvoir paternel" und,pouvoir civile"". Ordnung des Herzens und Ordnung der Vernunft 4.2 Das sentimentale Familienkonzept 4.2.1 Die Familie als narzißtischer Schonraum: Absenz von amour-propre 4.2.2 Das Alter der Empfindsamkeit 4.2.3 L'amour-passion versus l'amour conjugal 4.2.4 Ars amatoria und die Dynamik des Geschlechterverhältnisses . . 4.3 Die intime Gemeinschaft als Enklave von Authentizität 4.3.1 Das Eltern-Kind-Verhältnis im Rahmen der intimen Gemeinschaft
143 148 151 151 163 168 175 182 194
Schlußbetrachtung: Zwei Sphären der Einmütigkeit
197
Verzeichnis der zitierten Literatur
215
Personenverzeichnis
229
Vorwort
Es ist das Anliegen der vorliegenden Untersuchung, die für das bürgerliche Selbstverständnis zentrale Dimension des Privaten in den Kontext der politischen Philosophie zu reintegrieren. Leitend ist dabei die These von Rousseaus Schlüsselstellung für die bürgerliche Geschlechter- und Familienordnung. Die Arbeit wurde in der ersten Phase durch ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Graduiertenkollegs „Phänomenologie und Hermeneutik" der Universitäten Bochum und Wuppertal gefordert und im Wintersemester 2003/04 vom Fachbereich 1 der Universität Siegen als Habilitationsschrift angenommen. Für den Druck wurden geringfügige Veränderungen und Ergänzungen vorgenommen. Die Untersuchung zu Rousseau ist in den Zusammenhang einer historisch-systematischen Rekonstruktion der philosophischen Geschlechter- und Familienkonzeptionen gestellt; ein Vorhaben, das allein nicht zu bewältigen ist. Verbunden bin ich Marion Heinz und Sabine Doye, die mit mir gemeinsam das Unternehmen einer Aufarbeitung der philosophischen Geschlechtertheorien auf den Weg gebracht haben. Ich danke Marion Heinz für ihre Unterstützung und für unsere langjährige freundschaftliche und fruchtbare Kooperation und Diskussion. Meinem umfassenden Dank an Sabine Doye möchte ich damit Ausdruck geben, daß ich ihr die vorliegende Studie widme.
Wuppertal, im August 2005
F.K.
Einleitung
„Eine neue Arbeit über Rousseau scheint dringend der Rechtfertigung zu bedürfen", so eröffnet Iring Fetscher 1960 seine Monographie zur politischen Philosophie Rousseaus.1 Auch Roger D. Masters läßt seine Rousseau-Studie im Jahr 1968 mit einem zögerlichen Zweifel beginnen: „Another book on Rousseau?"2, und gleichfalls in den 60er Jahren stellen sich die Herausgeber eines Bandes, der namhafte Rousseau-Interpreten versammelt, die eben gleiche Frage: „Encore un ouvrage sur Rousseau?"3 Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf ein überwältigendes Forschungsfeld scheinen erneute Bemühungen um Rousseau zwei Generationen später unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck zu stehen. Freilich bleibt die Rezeption der politischen Philosophie Rousseaus bei aller Breite und Vielfalt in ihrer Interessenrichtung einseitig und lückenhaft. Der vorliegenden Studie liegt die These zugrunde, daß bestimmte Theoriestücke in den Themenbereich der politischen Philosophie gehören, die in der Forschung eher beiläufig behandelt, bzw. sogar systematisch ausgeblendet werden: Es sind dies Rousseaus Konzepte zur Geschlechter- und Familienordnung. Die komplexen und nicht immer widerspruchsfreien Aspirationen, denen Rousseaus politisches Denken gerecht werden will und die sich in seinem Versuch manifestieren, das neuzeitliche Vertragsmodell mit einem Konzept von Polissittlichkeit und den empfindsamen Individualismus der Spätaufklärung mit klassisch politischen Tugendidealen zu vereinen, finden in der Forschung zwar ihren Niederschlag, so freilich, daß eher die Brüche und Unzulänglichkeiten der Theoriebildung thematisiert werden, als daß der Versuch unternommen würde, durch Einbeziehung der für Rousseau gewichtigen gesellschaftlich-politischen und sozio-kulturellen Dimension der Familien- und Geschlechterordnung deren Konsistenz aufzuzeigen.
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Iring Fetscher, Rousseau politische Philosophie, Frankfurt/M. 71997, S. 14. Roger D. Masters, The PoliticalPhilosophy of Rousseau, Princeton 1968, S. V. Samuel Baud-Bovy et al., Jean-Jacques Rousseau, Neuchätel 1962, S. 7.
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EINLEITUNG
Es kann nicht anders als eine theoretische Fahrlässigkeit gewertet werden, das V. Buch des Emile oder die Invektiven gegen das öffentliche Agieren von Frauen im Brief an d'Alembert als einen zeitbedingten Appendix oder als misogyne Entgleisungen des Autors abzutun; eine Haltung, die implizit behauptet, was unweigerlich nicht Rousseaus Ansicht war: daß nämlich das Verhältnis der Geschlechter in Hinblick auf die Verfaßtheit einer Gesellschaft nicht mehr als eine Marginalie oder eine Angelegenheit persönlicher Vorlieben oder Idiosynkrasien darstellt. Es sind nun vor allem die theoretischen Anstrengungen feministischer Philosophinnen der letzten 30 Jahre, die aus einem emanzipatorischen Interesse ihre Aufmerksamkeit auf die im main-stream der Diskussion abgespaltenen Anteile gerichtet haben. Dieses „Philosophieren am Leitfaden der Befreiung der Frau"4 zielt primär auf eine Verständigung über die gesellschaftlichen Bedingungen und auf die theoretische Aufarbeitung der gesellschaftlichen Positionierung von Frauen angesichts der frappierenden Tatsache, daß in demokratischen Gemeinwesen heute noch die Frauen de facto weitestgehend aus dem Kreis der Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft ausgeschlossen bleiben. Vor diesem Hintergrund richtet sich das philosophiegeschichtliche Interesse vorrangig auf die Rekonstruktion der Legitimationsmuster einer politischen Unterdrükkungsgeschichte. Die Fragen, die an einen politischen Autor wie Rousseau gestellt werden, sind folgende: Wie ist ursprünglich der Ausschluß von Frauen aus der politischen Öffentlichkeit legitimiert worden? Wie ist es zu verstehen, daß das liberale Gleichheitspostulat dauerhaft durch das Faktum der Geschlechterdifferenz konterkariert werden konnte? Wie lassen sich Geschlechterhierarchie und Geschlechtsvormundschaft angesichts der Forderung nach allgemeiner individueller Selbstbestimmimg erklären?5 Rousseau ist nicht zuletzt deshalb ins Zentrum der feministischen Aufmerksamkeit geraten, weil sein Programm der Geschlechtererziehung und sein Modell der bürgerlichen Familie aus heutiger Perspektive ausschließlich dazu geeignet scheinen, den Ausschluß der Frauen aus der öffentlichen Sphäre und die Negierung ihrer autonomen politischen Existenz für das heraufziehende bürgerliche Zeitalter dauerhaft zu fixieren: Rousseau ist
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5
Herta Nagl-Docekal, Was ist Feministische Philosophie?, in: Dies. (Hg.), Feministische Philosophie, München Wien 1990, S. 7-39, hier: S. 11. Zur Erschließung dieses Fragehorizontes haben vor allem beigetragen: Susan Moller Okin, Women in Western Political Thought, Princeton 1979, Kap. 5-8; Lorenne M. G. Clark/ Lynda Lange (Hg.), The Sexism of Social and Political Theory. Women and Reproduction from Plato to Nietzsche, Toronto u.a. 1979; Joan B. Landes, Women and the Public Sphere in the Age of the French Revolution, Ithaca 1988; Carole Pateman, „ The Disorder of Women ": Women, Love, and the Sense of Justice, in: Ethics 91 (1980/81), S. 20-34; dies., The Sexual Contract, Stanford 1988; Diana H. Coole (Hg.), Women in Political Theory. From Ancient Misogyny to Contemporary Feminism, Brighton 1988; Seyla Benhabib/ Linda Nicholson, Politische Philosophie und die Frauenfrage, in: Iring Fetscher/ Herfried Münkler (Hg.), Pipers Jahrbuch der politischen Ideen, Bd. 5, München 1987, S. 513-568; Mary Lyndon Shanley/ Carole Pateman (Hg.), Feminist Interpretations and Political Theory, Cambridge 1991.
EINLEITUNG
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gewissermaßen zum Stammvater weiblicher Unterdrückung im bürgerlichen Zeitalter avanciert. Den feministischen Ansätzen ist es zu verdanken, daß sie allererst sichtbar gemacht und zur Diskussion gestellt haben, was bis dato ignoriert wurde. Aber diese Perspektive ist ihrerseits nicht ganz frei von der Gefahr, Einseitigkeiten und Verzerrungen zu erliegen; grob gesagt fuhrt diese verkürzte Sichtweise zu der These, daß Rousseaus Interesse bei der Behandlung der Geschlechterfrage sich in der Zurückweisung der emanzipatorischen Ansprüche der Frauen und in der bleibenden Fixierung ihrer Subordination erschöpft. Das fuhrt letztlich zu der theoretisch wenig befriedigenden Auskunft, Rousseaus Geschlechterpolitik lasse sich als Ausdruck einer intellektuell organisierten konstitutiven Misogynie und als in irrationalen, unbewußten Antrieben wurzelnd begreifen.6 Trotz aller Unterschiede der Erkenntnisinteressen im Zugriff auf Rousseau: Beiden Rezeptionsformen - sowohl der traditionellen Rekonstruktion seines politischen Denkens, wie der feministisch-emanzipatorischen Theorie - entgleitet die entscheidende Dimension des Hauses, die im Rahmen der Politik im klassischen Sinne der politischen Sphäre ab origine zur Seite gestellt ist. An der Ausklammerung der Geschlechter- und Familienkonzepte wird deutlich, daß im Rahmen des politischen Denkens die anfangliche Unterscheidung von oikos und polis als konstitutiver Gegensatz unbedacht bleibt und damit versäumt wird, das Verhältnis der Sphären zu analysieren. Die sich im modernen politischen Denken nachgerade reflexhaft einstellende Abbiendung der Sphäre des Privaten - ein Reflex auf eine Weichenstellung, die, wie zu zeigen sein wird, Rousseau befördert hat - bringt es mit sich, daß auch noch feministische Interpretationen auf die liberale Dichotomie von Individuum und Staat fixiert bleiben, und d.h. mit Bezug auf Rousseaus Schriften, auf eine mehr oder minder unvermittelte Gegenüberstellung von Emile und Contrat social. Vor dem Hintergrund der These, daß der zentrale Stellenwert der Familie innerhalb des sozialphilosophischen und politischen Denkens Rousseaus grundsätzlich nicht angemessen Beachtung findet, versteht sich die vorliegende Arbeit als der Versuch, eine Forschungslücke durch eine möglichst vollständige und textnahe Rekonstruktion der Familienthematik in Rousseaus Werk zu schließen. Es sind nicht zuletzt Rousseaus Schriften selbst, die der Vernachlässigung der Familienthematik Vorschub leisten; denn obgleich ein Thema von zentraler Bedeutung, wird die Familie als solche in keiner seiner Schriften zentral herausgestellt und diskutiert. In ihren verschiedenen, dem jeweiligen Zuschnitt der Schriften korrespondierenden Perspektivierungen, zeigt sich die Familienthematik schließlich zersplittert in ein Ensemble von Versatzstücken. Darüber hinaus finden sich für die eher defensive Behandlung der Problematik auch sachliche Motive: Rousseau selbst betreibt systematisch die Abtren6
Vgl. z.B. Sarah Kofman, Rousseau und die Frauen, Tübingen 1986; dies., Rousseau 's Phallocratie Ends, in: Hypatia 3 (1988), S. 123-136.
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EINLEITUNG
nung der Sphäre des Häuslichen vom politischen Diskurs. Im Zuge des Kampfes gegen die politische Dominanz patriarchaler Legitimationsmuster scheint er eine Kontamination der politischen Sphäre durch die patriarchale Organisation des Häuslichen dann zu furchten, wenn die Strukturprinzipien beider Bereiche nicht radikal getrennt werden: Die Sphäre des Häuslichen wird systematisch abgeblendet, wenn die Prinzipien des Staatsrechts erörtert werden, und zwar im Contrat Social nicht anders als im Artikel Œconomie politique. Nicht abgewehrt, aber weitestgehend unbeachtet figuriert die Familie im Diskurs über die Ungleichheit als eine frühe Etappe von Vergesellschaftung. Trotz der zentralen Thematisierung der Entstehungsbedingungen gesellschaftlicher Ungleichheit im Zweiten Diskurs entzieht sich fur Rousseau der Familienverband als die geschichtlich sich herausbildende „Enklave der Ungleichheit"7 und erweist sich von daher mit Bezug auf die Frage der politischen Gerechtigkeit als irrelevant. Diese bloß beiläufige Form der Akzentuierung in den theoretischen Schriften wird dadurch nicht behoben, daß Rousseau in Julie ou La Nouvelle Héloïse immerhin eine ausführliche Darstellung der häuslichen Gemeinschaft liefert, denn die Einbettung in einen empfindsamen Briefroman entzieht dies Thema zumeist dem Zugriff des politischen Denkens. Wird diese œconomie domestique indes als eine Zwischensphäre, gleichsam als Scharnier zwischen Emile und Contrat Social eingefugt, konstelliert sich das Bild des politischen Rousseau anders und läßt die Rousseausche Republik weniger in dem individualistisch-kontraktualistischen Licht erscheinen als gemeinhin üblich. Für die vorliegende Arbeit ist die Hypothese leitend, daß Rousseau als Gesellschaftskritiker und Entfremdungstheoretiker avant la lettre sich nach der kritischen Bestandsaufnahme der Gegenwart im Ersten Diskurs und nach der Rekonstruktion ihrer geschichtlichen Voraussetzungen im Zweiten Diskurs sich vor die Aufgabe gestellt sieht, ein umfassendes Programm zur gesellschaftlich-politischen Erneuerung zu entwerfen. Die vielfach konstatierte Amalgamierung von modernen mit modernitätsfeindlichen Elementen im Denken Rousseaus zeigt die Anlage seines Projekts darin, daß das gesellschaftliche Reformprogramm sich in der für die praktische Philosophie verbindlichen klassisch-aristotelischen Trias, nämlich auf die drei Ebenen des Individuum, der häuslichen Gemeinschaft und des Staates erstreckt. Geraten Individuum und Staat in ein unvermitteltes Gegenüber, so entstehen Interpretationen, für die homme und citoyen alternative, wenn nicht sogar inkompatible Modelle von Selbstverwirklichung darstellen.8 Diesen Lesarten zufolge mündet Rousseaus Kritik der Gesellschaft in eine „dualité d'idéals", in zwei Modelle authentischen Lebens, wobei die individualistisch-existentielle Option in einer solitären, sozialitätsverneinenden Selbstgenügsamkeit, die politische in der vollständigen Durchbildung des Individuums zum Patrioten besteht. 7 8
Dieter Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1987, S. 33f. So z.B. Groethuysen, dem Derathe folgt, wie auch Rang. (Bernard Groethuysen, J.-J. Rousseau, Paris 3 1949, S. 117ff.; Robert Derathe, L'homme selon Rousseau, in: Etudes sur le Contrat Social de Jean-Jacques Rousseau, Paris 1964, S. 201-217; Martin Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, Göttingen 1959, S. 88ff.)
EINLEITUNG
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Den nachstehenden Überlegungen liegt demgegenüber die These zugrunde, daß die drei großen Werke der Reifezeit, Emile, Nouvelle Helo'ise und Contrat Social wechselweise aufeinander verweisen, mehr noch: einander implizieren. Die diese Schriften verbindende und leitende gesellschafts- und kulturkritische Idee gewinnt Gestalt in einem umfassenden Programm republikanischer Bürgerlichkeit unter den Bedingungen der Moderne. Gegen den freigesetzten Individualismus seiner Zeit strebt Rousseau eine Wiedereinsetzung der klassisch dualen Sphärengliederung des sozialen Raumes an, nicht ohne allerdings den Ansprüchen einer zivilisatorisch ausdifferenzierten Innerlichkeit Rechnung zu tragen. Diese Schriften sind Ausdruck einer politisch-ethischen wie einer existentiellen Zielsetzung: Rousseau entwirft ein Modell von Selbstverwirklichung innerhalb einer demokratisch-bürgerlichen Lebenskultur, die sich gleichermaßen auf die häuslich-intime Privatsphäre wie auf die Dimension republikanischer Öffentlichkeit erstreckt. Aus diesem weiteren Blickwinkel stellt sich die Familie nicht mehr vorrangig als eine Zwingburg weiblicher Autonomie dar, sondern als eine in Opposition zur bürgerlichen Gesellschaft konzipierte autarke Enklave authentischer Gemeinschaftlichkeit, die als solche Basis und Verwirklichungsbedingung der Republik bildet. Rousseau entwirft sein Modell der bürgerlichen Familie in der Absicht, von diesem Nucleus her das gesellschaftlich-politische Leben insgesamt zu reformieren. Unzweifelhaft bleibt Rousseau darin der Tradition verhaftet, daß seine Republik sich als eine demokratische Republik der Haushaltsvorstände konstituiert. Unter dieser Voraussetzung lassen sich Frauen zunächst nur negativ thematisieren als der öffentlichen Sphäre nicht zugehörige und der häuslichen bloß inhärierende. In Anbetracht der Tatsache, daß sich in Stellung und Ansehen der Frau nichts ändert, wenn das „ganze Haus" seine dritte Gliedgemeinschaft abstößt, die als eigenständiges Subjekt die politische Bühne betritt, wird die Frauenfrage zum Politikum. Als politischer Vorgang läßt sich der Ausschluß der Frauen aus der öffentlichen Sphäre anläßlich der Forderung der Frauen nach politischer Teilhabe im Zuge der Französischen Revolution erfassen. Für die politisch-praktische Rezeption Rousseaus bedeutet dies: Erst in dem Moment, da weiblich-emanzipative Forderungen angesichts der Etablierung des Dritten Standes als Souverän historisch als realisierbar erscheinen, wird auf Rousseaus Familienkonzept erfolgreich und Epoche machend zurückgegriffen. Bereitwillig wird zu diesem Zeitpunkt von einem in zeitgemäßem Zuschnitt sich präsentierenden neoaristotelischen Programm zur Konsolidierung der althergebrachten Familienorganisation Gebrauch gemacht. Dies Konzept, das erst im Angesicht der radikalen Herausforderungen durch eine revolutionäre Situation als ein intellektuell organisiertes System der Abwehr bedrohlich empfundener Forderungen seine wahre Konjunktur erhält, hat seine Wirksamkeit auch heute noch nicht verloren. Aufklärungsbedürftig ist also der offenbare Widerspruch zwischen den Organisationsprinzipien und dem Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft einerseits und der Familienstruktur andererseits. Nur die Frauenbewegung hat es als ein Skandalon
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EINLEITUNG
empfunden, daß die bürgerliche Kleinfamilie zu eben der Zeit als System persönlicher Abhängigkeit organisiert ist und damit das verkleinerte Abbild einer überholten Gesellschaftsordnung bildet, da das Bürgertum sich als politische Klasse konstituiert und die alten Herrschaftsformen abstößt.9 Zu fragen ist also, auf welche Weise sich der patriarchale Charakter der bürgerlichen Familie unbeschadet des Legitimationsverlustes der traditionell ständischen Herrschaftsmuster erhalten und die patriarchal organisierte bürgerliche Kleinfamilie schließlich den Kern der Privatsphäre der bürgerlichen Gesellschaft bilden kann. Rousseau hat nicht schon die Endgestalt der bürgerlichen Kleinfamilie im Auge gehabt, und er hat sie in dieser Form, nämlich als die Binnensphäre der von ihm perhorreszierten bürgerlichen Gesellschaft, auch politisch nicht angestrebt - dennoch hängt das politische Beharrungsvermögen des patriarchalen Familienmodells mit den gesellschaftstheoretischen und sozialphilosophischen Umcodierungen zusammen, die Rousseau vorgenommen hat. Eine Rekonstruktion der Genese der bürgerlichen Familie folgt also der Frage, aus welchen Vorgaben und Konstellationen der Tradition einerseits und aus welchen Frontstellungen andererseits Rousseau das Modell der bürgerlichen Familie gleichsam herausarbeitet. Vor dem Hintergrund der so skizzierten Forschungs- und Motivlage sollen im Folgenden die Leitfragen und Thematisierungshinsichten der Untersuchung vorgestellt werden.10 An Rousseaus Behandlung der Familie lassen sich grundsätzlich zwei verschiedene Thematisierungsstränge unterscheiden: Neben dem programmatischen Entwurf eines Familienmodells, welches die sozioökonomische Basis und somit eine Verwirklichungsbedingung der Republik des Gesellschaftsvertrags bildet, findet sich in Rousseaus Schriften die Erörterung des Hausverbandes auch im Kontext staatsrechtlicher Prinzipienfragen; in dieser staatstheoretischen Perspektivierung hat die Familienthematik einen grundsätzlich anderen Status. Rousseau bekämpft an der Seite prominenter Theoretiker seiner Zeit das sich zählebig behauptende patriarchalische Legitimationsmuster der absolutistischen Monarchie, gegen das schon Locke seine Zwei Abhandlungen über die Regierung gerichtet hatte. In diesem Zusammenhang ist die Familie primär in negativer Weise behandelt, nämlich in der Form der Zurückweisung eines familial strukturierten Herrschaftsmusters als Geltungs- und Legitimationsgrundlage der gesamten sozio-politischen Ordnung. Die kritische Intention, welche die Diskussion der häuslichen Regimentsformen leitet, richtet sich gegen die Theoretiker des Absolutismus: Die für die Sphäre des Politischen charakteristische Herrschaftsform kann nicht diejenige des Vaters über das Kind, sprich: die
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Vgl. Eric J. Hobsbawm, Zum Zusammenhang von Erwerbsleben und bürgerlicher Familienstruktur, in: Heidi Rosenbaum (Hg.), Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur. Materialien zu den sozioökonomischen Bedingungen von Familienformen, Frankfurt/M. 21978, S. 404-412, hier: S. 407. Auf einschlägige Forschungsliteratur wird in den jeweiligen Kapiteln verwiesen.
EINLEITUNG
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des väterlichen Monarchen sein. Rousseau folgt Locke in der Diskussion um den pouvoir paternel bis zu dem Punkt, wo er einen „natürlichen" Charakter der Familie behauptet und sich so mit Bezug auf die Sphäre des Häuslichen vom kontraktualistischen Grundmuster der Naturrechtslehren distanziert. Die nur graduelle Scheidung des Hauses vom Staat, die Locke auf kontraktualistischer Basis vornimmt, radikalisiert Rousseau zu einer qualitativen, setzt damit die traditionelle Sphärendualität von oikos und polis wieder in Geltung, er beendet aber zugleich die auch im neuzeitlichen Vertragsdenken noch ungebrochene Kontinuität der Strukturformen des Häuslichen und des Öffentlichen, die sich in der wechselseitigen Übertragung der Regierungsformen manifestiert hatte. Was sich zunächst als ein Verteidigungsreflex gegen die Usurpation des politischen Raumes durch ein familiales Herrschaftsmuster ausnimmt, stellt sich im weiteren als eine über den Kontext der staatsrechtlichen Kontroverse ausgreifende fundamentale Weichenstellung für die Konzeption der Familie dar: Es ist dies die Postulierung ihres „natürlichen", d.h. nicht-gesellschaftlichen - wenngleich auch nicht naturwüchsigen - Charakters, welcher der auf Vertrag gegründeten der öffentlichen Sphäre entgegengesetzt ist. Diese Apostrophierung der Familie als natürliche Gesellschaft verweist zu ihrer Explikation an den Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit, in dessen Rahmen Rousseau das triadische Staatsgründungsschema von Naturzustand, Vertrag und Gesellschaftszustand der Naturrechtslehren kulturevolutionistisch umdeutet und so die Tradition des rationalen Naturrechts in Richtung auf eine Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft hin überschreitet. Die Voraussetzungen für die Ausgrenzung des ausschließlich privaten Raums des Gefühls als Ort der Familie und ihre Fixierung als reine Gemütsgemeinschaft liegen in dieser geschichtlichen Dynamisierung begründet. Der Zweite Diskurs zeichnet folgendes Bild: Die Familie stellt ebenso wie die Nation eine Form von vorvertraglicher Sozietät dar, wobei die Familie getragen ist von wechselseitigem Wohlwollen der Angehörigen, die Nation von einem in der Gemeinsamkeit der Herkunft gründenden Ethos. Als eine evolutionsgeschichtliche Gestalt ist die Familie also nur insofern natürlich zu nennen, als sie nicht auf Vereinbarungen beruht; sie ist jedoch nicht naturwüchsig in dem Sinne, daß sie als eine unmittelbare Folge der anthropologischen Grundausstattung des Menschen anzusehen ist. An der sonderbaren Gestalt der Inzestfamilie des Essai sur l 'origine des langues läßt sich vor allem eines erkennen: Die Entstehung der Familie, genauer: der Familien, muß als ein Resultat der Vergesellschaftung verstanden werden und stellt nicht ihr Fundament und ihre Ausgangsbasis dar. Die nach Rousseau unableitbare, zufallige Entstehung des gesellschaftlichen Charakters des Menschen manifestiert sich in den menschheitlich ersten Institutionen: nämlich Sprache und Verwandtschaftsordnung. Im weiteren bleibt die Familie von der Dynamik des voranschreitenden Vergesellschaftungsprozesses, die schließlich auf eine politische Regelung im Medium des Vertrags drängt, ausgeschlossen. Ohne daß Rousseau dies explizit formuliert, läßt sich feststellen, daß die Vergesellschaftungsgeschichte zwei Muster von Sozialität ausprägt:
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EINLEITUNG
dasjenige der geschlossenen Gemeinschaft in der Form der Familie und das der dynamischen Gesellschaft. Letztere bildet den produktiven Interaktionszusammenhang der ihr Leben durch Arbeit reproduzierenden Individuen und erscheint in zeitlich gerichteter Dimension als Fortschritt der Menschheit vom vorhistorischen Naturzustand zum zivilisatorischen Kulturzustand. Rousseau entwirft im Zweiten Diskurs die Vergesellschaftungsgeschichte als diejenige der männlichen Produzenten, d.h. der Familienoberhäupter. Aufgrund der einseitigen Schätzung der Produktionsarbeit verschwinden die für die häusliche Sphäre konstitutiven Momente von Lebensökonomie und Hausarbeit im Eigentum des produzierenden Familienvaters. Unsichtbar als von ihm angeeignete und den Produktionsbeziehungen entzogene Produkte sind diese indes die unentbehrliche Unterlage der Marktbeziehungen und bilden damit den unreflektierten „doppelten Boden" der bürgerlichen Gesellschaft.11 Ungleichheit kann unter diesen Voraussetzungen nurmehr als ein mit politischen Mitteln zu bewältigendes Problem zwischen männlichen Familienoberhäuptern gefaßt werden und ist auf der Ebene der häuslichen Geschlechterorganisation als solcher nicht greifbar. Durch die Abkoppelung vom geschichtlichen Prozeß und die für das Selbstverständnis der bürgerlichen Familie allgemein charakteristische Abbiendung der geschlechtlichen Arbeitsteilung und der geschlechtsspezifischen Eigentumsverteilung bleibt die Familie im Zweiten Diskurs ausschließlich durch ihre evolutionsgeschichtlichursprüngliche Gestalt definiert, die bereits diejenige der bürgerlichen Kleinfamilie als Verband von Gatten und Kindern vorwegnimmt, dessen Vergemeinschaftungsgrundlagen. allein Freiwilligkeit und wechselseitige Zuneigung bilden. Die weitere Voraussetzung für die Idealisierung der Familie als Gefühlsgemeinschaft bildet die Tatsache, daß Rousseau die Familie nicht nur unter ökonomischer, sondern auch unter sozialpsychologischer Rücksicht von den Beziehungs- und Interaktionsmustern der Gesellschaft abtrennt. Die Familiengründung liegt entwicklungsgeschichtlich vor der Entfaltung der deformierenden und desintegrativen Potentiale des genuin gesellschaftlichen amour-propre; aus dieser geschichtlichen Position wächst der Familie ein Reservoir unversehrter Humanität zu: Sie bildet das Muster und Milieu einer unverzerrten Form von Vergemeinschaftung. In der Gestalt der Familie erhalten sich unbeschadet des sich ausdifferenzierenden Vergesellschaftungsprozesses ursprüngliche humane Ressourcen, welche das familiale Milieu als Ausgangsbasis für einen gesellschaftlichen Regenerationsprozeß prädestinieren. Rousseaus Reformbestrebungen sind grundsätzlich gegen die bürgerliche Gesellschaft gerichtet, wobei der Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft" hier nicht mehr die societas civilis, die latinisierte koinonia politike und damit traditionelle Definition des Staates repräsentiert, sondern in gesellschaftskritischer Wendung Hegels Umcodierung des klassischen Begriffs zur Bezeichnung der besitzbürgerlichen Gesellschaft oder zur Gesellschaft als Bourgeoisie antizipiert. Der Zerrissenheit dieser bürgerlichen Gesell11
Vgl. Ute Gerhard, Gleichheit ohne Angleichung. Frauen im Recht, München 1990, S. 37.
EINLEITUNG
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schaft und den durch Prozesse einer frühkapitalistischen Modernisierung in Gang gesetzten desintegrativen Tendenzen setzt er das Ideal einer wiederzugewinnenden quasiorganischen Einheit sozialer Lebensvollzüge entgegen, die emotional getragen und auf integrierenden Werten und Handlungsorientierungen errichtet, sich in Form kollektiv reproduzierbarer Gemeinsamkeiten stabilisieren. In diesen Zusammenhang ist die Idealgestalt der Hausgemeinschaft zu stellen, wie sie Rousseau mit der minutiösen Beschreibung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse des Landgutes Ciarens entworfen hat. Hier nimmt die Rückwendung auf traditionelle Formen kollektiven Lebens konkrete Gestalt an. Die Hausgemeinschaft zeigt sich nicht als Interessenverband, sondern als eine Gemeinschaft der Gefühle und der persönlichen Verbundenheit, die sich von einem ethisch-ästhetischem Gemeinschaftsideal regiert erweist: Authentizität und Expressivität der Persönlichkeit sind verankert in einem auf persönliche Relationen gegründeten Zusammenleben. Die Kultivierung familiärer Empfindsamkeit entfaltet sich auf der Grundlage einer hausständischen Organisation, in deren Rahmen das Prinzip der Rechtsgleichheit suspendiert ist. Das Gleichheitsprinzip Rousseaus beschränkt sich auf die Herstellung ökonomischer Gleichheit und d.h. auf die weitgehende Nivellierung sozialer Ungleichheit in der Gestalt extremer Vermögensunterschiede; deren Angleichung stellt in Hinblick auf die Ausbildung einer homogenen politischen Willenslage ein praktisch-politisches Erfordernis dar. Das heißt: Gleichheit besteht zwischen den oikoi als den basalen Organisationseinheiten der Republik, nicht aber innerhalb der ständisch gegliederten Hausgemeinschaften als solcher. In deren Rahmen bleiben soziale Ungleichheit und persönliche Abhängigkeit erhalten, wobei der schroffe Patriarchalismus der Feudalität einem aufgeklärten, empfindsamen Paternalismus weicht; die faktische Ungleichheit im sozialen Status wird ferner kompensiert durch ein Gefühl allgemein menschlicher Verbundenheit und Solidarität. Die Gezwungenheit der Konstruktion der sentimentalen Hausgemeinschaft manifestiert sich im internalisierten Zwang der Verhältnisse: Untertänigkeit und Abhängigkeit sind zu sentimental-affektiven Bindungen umgeformt, die traditionellen Herrschaftsverhältnisse in den psychischen Innenraum verlagert und zu Gefuhlsdispositionen transformiert. Das Ideal der moralischen Integrität der Hausmitglieder und der Unmittelbarkeit ihrer Beziehungen bedarf der Abstützung durch eine entsprechende Organisation der materiellen Grundlagen. Nur die häusliche Subsistenzwirtschaft gewährleistet maximale Autarkie: Rousseaus Vorschläge zur Organisation der ökonomischen Basis der Republik beziehen ihre Plausibilität allein aus ethischen Optionen. Subjektive Bedürfnisse, interpersonale Beziehungen und das Verhältnis zu den Dingen können sich nur außerhalb der unkontrollierbaren Vermittlungen des Marktes und der Geldwirtschaft in einem unverzerrten natürlichen Gleichgewicht erhalten. Aus der Analyse der sozio-ökonomischen Organisation der ständischen Hausgemeinschaft läßt sich eine entscheidende Einsicht gewinnen: Als ökonomische Grundlage und Bedingung des Bürgerstatus sieht Rousseau allein die agrarische Subsistenzwirtschaft
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EINLEITUNG
vor und billigt folglich in einer ständisch-feudalen Fixierung den Status des citoyen nur dem Grundeigentümer zu. In dem Maße wie das autarke Hauswesen primär als Garant einer Lebensform ethisch-existenzieller Autonomie konzipiert ist und ein Konkurrenzmodell zur bürgerlichen Marktgesellschaft mit ihrem Geflecht der wechselseitigen Abhängigkeiten und der allgemeinen Vermittlung ihrer Teilnehmer darstellt, d.h. der Markt nach Rousseauschem Verständnis als selbständigkeitsfeindlich angesehen werden muß, wird ein nachgerade anti-bürgerlich zu nennender ständischer Immobilismus zementiert. Die Idee allgemeiner bürgerlicher Privatautonomie ist im Rahmen der Rousseauschen Republik nicht vorgesehen. Denjenigen Personen, die dem Hauswesen inhärieren, den Frauen und den Mitgliedern der unteren Ständen, les inférieurs, ist es als unselbständigen Existenzen und persönlich Abhängigen grundsätzlich nicht möglich, in die bürgerliche Wirtschaftsgesellschaft einzutreten und sich über den Erwerb von Privateigentum als aktive Staatsbürger zu qualifizieren. Der ständische Faktor in Rousseaus republikanischem Gemeinwesen erweist sich nicht nur als ein feudales Relikt oder als Manifestation des Übergangscharakters der zeitgenössischen Gesellschaft auf dem Weg vom Status zum Kontrakt12, sondern auch als eine bewußte Option gegen die grundsätzlich emanzipatorischen Potenzen der bürgerlichen Marktgesellschaft. Deren allgemeine Zugänglichkeit ist dadurch gewährleistet, daß unter der Bedingung gleicher Chancen und allgemeiner Erwerbs- und Vertragsfreiheit jeder den Status des Eigentümers erwerben und damit die Qualifikation zum Bürger erfüllen kann. Der Autor des Gesellschaftsvertrags hält sich demgegenüber an der für die ältere Sozialordnung selbstverständlichen Annahme fest, daß nur die durch Herrschaft über Unfreie und Domestiken qualifizierten Männer außerhalb des Hauses die vollen Rechte und Freiheiten der bürgerlichen Existenz genießen. Die für die Frauen geltende geschlechtsspezifische Ausgrenzung vom Bürgerstatus unterscheidet sich unter dieser Rücksicht nicht von der Eigentumslosigkeit männlicher Unterprivilegierter und ständischer Unterschichten. Vor diesem Hintergrund kann man nur schwer umhin, Rousseau mit Kersting eine „Unzeitgemäßheit" der politischen Idee zu attestieren.13 Tatsächlich bedeutet gesellschaftliche Reformierung für Rousseau, über die Einziehung der Sphäre der bürgerlichen Marktgesellschaft ihre desintegrativen Tendenzen zur Individualisierung und Atomisierung wieder rückgängig zu machen. Die dabei leitende Idee besteht in der Restituierung eines vormodernen Tugendideals, in der Wiederbelebung der Polissittlichkeit der Alten angesichts des Verfalls der politischen Tugend: Nicht die Kompatibilisierung der Privatinteressen stellt für Rousseau das Mittel der gesellschaftlichen Integration dar, sondern den Schlüssel zur gesellschaftlichen Synthese bildet die politische Tugend, d.h. eine verläßlich internalisierte Gemeinwohlorientierung der Bürger.14 12
13 14
Wie die berühmte Formulierung von Henry Summer Maine lautet (vgl. Ancient Law: it's connection with the early history of society and its relation to modern ideas, London 1866, S. 170). Wolfgang Kersting, Jean-Jacques Rousseaus „ Gesellschaftsvertrag", Darmstadt 2002, v.a. S. 204ff. Hierzu vgl. Herfried Münkler, Die Idee der Tugend. Ein politischer Leitbegriff im vorrevolutionären Europa, in: Archivßr Kulturgeschichte 73 (1991), S. 379-403.
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Rousseau hat die für die gesamte Moderne leitende qualitative Trennung des Privaten vom Öffentlichen vor- und festgeschrieben. In seinem politischen Modell einer Tugendrepublik erweisen sich jedoch beide Sphären weiterhin, wenngleich in neuartiger Weise, miteinander verklammert; nicht mehr durch die wechselseitige Übertragbarkeit ihrer Strukturprinzipien, sondern durch ein ethisches Grundmuster transparenter, unverzerrter Kommunikation und Interaktion. Haus und Staat erscheinen unter dieser Perspektive als zwei Sphären, die durchherrscht sind von einem Ethos der Unmittelbarkeit und Einmütigkeit: als die intime Gemeinschaft des Mitfühlens auf der einen und als ein Bund unvermittelter bürgerlicher Solidarität auf der anderen Seite. Nicht das Modell der ständischen Hausgemeinschaft als solcher, noch viel weniger das Ideal einer Tugendrepublik, wohl aber das im Rahmen der Institution des sentimentalen oikos von Rousseau erstmalig ausformulierte Ideal einer empfindsam-introspektiven Beziehungskultur hat sich als ein genuiner Beitrag zur politisch-sozialen Kultur des Bürgertums behaupten können: Die Familie wird zum Ursprungsort und zum Erfahrungsraum einer selbstbezüglichen Innerlichkeit. Im Umkreis von Privatheit und Intimität entsteht eine Kultur des subjektzentrierten Gefühls und es gedeiht ein Streben nach einer neuen Unmittelbarkeit, wobei gesteigerte Individualität und empfindsame Geselligkeit zusammenfließen. Der empfindsame Selbstbezug gehört in dieser Sicht gleichsam zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen selber; im Nach- und Mitvollzug von Formen eines introspektiven Selbstverhältnisses vergewissert man sich seiner Humanität ohne Ansehen des Standes und frei von ökonomischen Zwängen und sozialer Kontrolle. In dem über das empfindsame Interaktionsmodells in die Alltagspraxis eingelassenen Universalismus des natürlichen Menschseins manifestiert sich ein gleichermaßen anti-höfischer wie antibourgeoiser Affekt.15 Diese Kultur der authentischen und wahrhaftigen Interaktion und Kommunikation drückt schließlich ein moralisches Überlegenheitsgefühl gegenüber der herrschenden Form von Gesellschaftlichkeit aus, wobei Gleichheitsmoral und innere Tugendqualitäten, der Adel der Seele und des Herzens, Transparenz und wechselseitige Durchdringung die entscheidenden, gegen Heuchelei, Kalkül und Distanz gerichteten Charakteristika darstellen. Gegen Verhaltensmaximen, die auf Affektkontrolle zum Zwecke des erfolgsorientierten, strategischen Verhaltens im Öffentlichen und Privaten gleichermaßen gerichtet sind, wird der affektive Gleichklang einer zärtlich-empfindsamen Geselligkeit gesetzt. 15
Auf den Streit in der Literaturwissenschaft um den bürgerlichen oder anti-bürgerlichen Charakter der Empfindsamkeit sei hier nur verwiesen. Vgl. dazu Gerhard Sauder, Empfindsamkeit. Band 1: Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974; Lothar Pikulik, Leistungsethik contra Geföhlskult. Über das Verhältnis von Bürgerlichkeit und Empfindsamkeit in Deutschland, Göttingen 1984; ferner: Klaus P. Hansen, Neuere Literatur zur Empfindsamkeit, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), S. 515-528; und allgemein: Nikolaus Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988.
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Diese Charakteristika der sich bis zum Kult steigernden Kultur der Empfindsamkeit lassen sich bei Rousseau, für den die Innerlichkeitskultur den Raum von Privatheit und Intimität genuin konstituiert, unmittelbar aus seinen geschichtsphilosophisch-anthropologischen Grundannahmen erschließen. Durch seinen ursprünglich vorgesellschaftlichen Charakter erweist sich der familiäre Binnenraum als prädestiniert für die Entfaltung einer gefühlsbetonten Innerlichkeit. Dies wird plausibel, wenn man den Zweiten Diskurs und den Emile übereinanderblendet. Die im Emile entwickelte affektive Disposition der Adoleszenz verhilft zu einem vertieften Verständnis dessen, was im Zweiten Diskurs und der dort entfalteten Entwicklungsgeschichte der Familie als „erste Entwicklungen des Herzens" entfaltet wird. Rousseau entwirft auf dieser Entwicklungsstufe, die den Übergang von der physischen zur moralischen Ordnung markiert, eine Form des sozialen Bezugs, der den vormoralischen, rein selbstbezüglichen amour de soi auf eine Dimension der Interpersonalität hin überschreitet, welche von den sozialdestruktiven Deformationen des gesellschaftlich induzierten amour-propre unberührt bleibt. Den zentralen Faktor bildet die erschließende Potenz des Mitfühlens, mittels derer sich dem Individuum die Dimension allgemeiner Humanität in dem Maße eröffnet, als es sich selbst in Hinblick auf seine Selbstverwirklichungs- und Glücksmöglichkeiten als soziales Wesen erfahrt. Dieses primäre Milieu von Sozialität kann als solches im begrenzten Umkreis von Liebes- und Freundschaftsverhältnissen, innerhalb der intimen Gemeinschaft konserviert werden. Allein im narzißtischen Schonraum familiärer Intimität sind Erfahrungen eines gesteigerten Selbstseins in den Formen wechselseitig sich spiegelnder Selbstentfaltung möglich: In der Privatsphäre existiert das Individuum als Mensch schlechthin. Von diesem Erfahrungsraum her konturiert sich das ethisch-existentielle Fundament der Kritik an den Verkehrsformen der bürgerlichen Gesellschaft. Die bourgeoise Existenz fungiert für Rousseau als Chiffre existentieller Bedeutungslosigkeit inmitten entfremdeter Verhältnisse. Erst ein rückhaltloser Gemeinschaftsbezug leistet die Steigerung der Ichrealität, die der Erfahrung persönlichen Glücks zugrunde liegt: das sentiment de l'existence, das sich in empathischer Steigerung zum Selbstgenuß hebt. Es sind genuin Rousseausche Voraussetzungen, die bedingen, daß das Ideal erfüllter Existenz vorrangig an Kommunikationsformen ästhetisch-expressiver Natur gebunden ist, desgleichen, daß die Anerkennung der unvertretbaren Individualität des Einzelnen für Rousseau nur in der Form der sympathetischen Spiegelung denkbar ist. Darüber hinaus formt sich ein Modell von Privatheit als einem emotionalen Milieu, welches Möglichkeitsbedingungen dafür bereitstellt, daß das Individuum in der Einzigartigkeit seiner Person risikolos in Erscheinung treten kann. Vor dem Hintergrund dieser Form von Privatheit als einer umfassenden Atmosphäre des Wohlwollens kristallisiert sich bei Rousseau auch ein neues, empfindsames Eheideal heraus, an welchem sich der Versuch einer Überwindung des Dualismus von häuslicher Freundschaft und außerehelicher Sinnlichkeit erkennen läßt und damit die Tendenz, die eheliche Beziehung in eine die
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„gesamte Person engagierende psychische Disposition"16 zu transformieren. In dem Maße wie sich die eheliche Liebe zu einem sinnlich-geistigen Milieu geteilter Innigkeit und Verbundenheit wandelt, vollzieht sich eine Personalisierung des Liebesverhältnisses und eine moralische Kultivierung der erotischen Liebe. Die positive Übereinstimmung der Gefühle, d.h. wechselseitige Anerkennung der Partner in ihren individuellen Bedürfnisnaturen wird so zur Basis der ehelichen Gemeinschaft. Grundsätzlich zeigen die sich im Umkreis des Privaten herausbildenden Formen der liebend-freundschaftlichen Anerkennung als von grundsätzlich anderer Valenz als diejenigen, die in die Verkehrsformen der bürgerlichen Gesellschaft als institutionalisierte eingelassen sind und in deren Medium sich die Individuen in ihrem Status als Rechtsperson und als Eigentümer anerkennen; sie sind ebensowenig vermittelt über die gesellschaftlichen Statuszuweisungen der estime publique und befreien das Individuum aus den Zwängen einer gesellschaftlich-komparativen Existenzweise. Es bleiben schließlich die Ergebnisse der Untersuchung zu bündeln in Hinblick auf das Verhältnis von Familie und Staat: Die Familie bildet die sozioökonomische Grundlage des Staates. Zwar konstituiert sich die Souveränität der Bürger im Medium des Gesellschaftsvertrags, entscheidend sind aber die vertragstranszendenten Integrationsmedien, auf welche die Rousseausche Republik als ethisch-politisches Gemeinwesen angewiesen ist: Die Organisation der ökonomischen Basis in der Gestalt des autarken Hausverbandes gewährleistet die für das Zustandekommen der volonté générale unabdingbare Homogenisierung der partikularen Interessenlagen. Neben diesem auf die materiellen Voraussetzungen bezogenen Gesichtspunkt stellt die Familie auch die psychosoziale Grundlage der Republik dar. Ist die überkommene Auffassung, nach der allererst die Leitung eines Hauswesens zum Staatsbürger qualifiziert, durch das Zurückweichen des herrschaftlichen Moments im Verständnis der Familie schon entscheidend modifiziert, so tritt nun der Bildungsaspekt als neue Funktionsbestimmung der Familie in den Vordergrund: Nur im bürgerlich-familiären Umfeld ist eine gelingende Sozialisation zum Bürger denkbar. Das familiäre Milieu wird so zum Biotop republikanischer Bürgerlichkeit. Dies ist die Konsequenz der Ablehnung des liberalen Konzepts bourgeoiser Existenz. An die Stelle der Wahrnehmung von auf die Verfolgung partikularer Interessen zugeschnittener rechtsgesicherter Handlungsräume setzt Rousseau das Konzept politischer Partizipation in der Form einer unter sozioökonomisch homogenen Bedingungen gesicherten, vertrauensgesättigt solidarischen Einmütigkeit. Unanimité als Einmütigkeit des Gefühls in der privaten und als Einträchtigkeit der Gesinnung in der öffentlichen Sphäre erweist sich schließlich als das organisierende Zentrum seines politischen Denkens. Was sich auf der Ebene der politischen Zwecksetzung im solidarischen Bund der Bürger manifestiert, ist zuvor schon im Rahmen der Gefuhlsgemein-
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Dieter Schwab, Artikel „Familie", in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner/ Werner Conze/ Reinhart Koselleck, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 253-301, hier: S. 285.
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schaft erfahren: menschliche Gleichheit. Die nicht-diskursive Natur des die Republik tragenden allgemeinen Willens hat ihre Verankerung in der subjektiven Empfindung menschheitsumspannender Gleichheit, wie sie ausschließlich im Umkreis der Familiensittlichkeit entspringen und bewahrt werden kann. Auf diese Weise werden, wenn die besitzbürgerliche Erwerbsgesellschaft eliminiert ist, homme und citoyen, humane und bürgerliche Existenz wieder vereinbar. Die von Rousseau ursprünglich betriebene Abkoppelung der Sphäre des Privaten von der des Politischen führt schließlich zu einer Refamiliarisierung des Politischen. Die im Gefühl fundierte gemeinsinnsfahige Rationalität, die die Republik trägt, bleibt jedoch aufgrund natürlicher Disposition und gesellschaftlicher Erfordernisse allein den männlichen Bürgern, näherhin den Haushaltsvorständen vorbehalten. Was somit die traditionelle Sphärendualität von Privatheit und Öffentlichkeit in herkömmlicher Weise restituiert, ist die Geschlechtertrennung. Mit der geschlechtsspezifischen Fixierung der Wirksphären von Familie und Staat sind allererst die Möglichkeitsbedingungen für die Entfaltung einer genuin politisch-öffentlichen Sphäre geschaffen. Rousseaus Brief an d'Alembert fordert in aller Deutlichkeit, daß die republikanische Öffentlichkeit als Spielraum der die politische Willensbildung fundierenden deliberativen Prozesse von der verzerrenden Einflußnahme konstitutiv nicht gemeinsinnsfähiger Individuen, d.h. von Frauen freizuhalten ist. Vor diesem Hintergrund avanciert die in den Sphären des Privaten und des Öffentlichen stabil verankerte Polarität der Geschlechter schließlich zum Index für die Wohlgeordnetheit des Gemeinwesens.
1. Vorklärungen: Traditions- und Positionsbestimmungen
1.1 Der Herrschaftsverband Familie als politisches Paradigma Wird im Rahmen der Tradition der politischen Theorie das Verhältnis von Familie und Staat zum Gegenstand der Erörterung gemacht, ist es in erster Linie der Staat, dem in diesem Zusammenhang das Interesse gilt, und nur sekundär die Familie. Sei es als Vorform oder als Gegenentwurf, als Möglichkeitsbedingung oder Risikopotential, die Einordnung und Einschätzung der Familie wird in Hinblick auf den Staat vollzogen, die Umkehrung der Blickrichtung scheint schwer vorstellbar: Die kategorialen Vorgaben für die Analyse der Familie werden der Theorie des Staates entnommen. Die Beschäftigung mit dem Thema der Familie innerhalb der politischen Philosophie beginnt mit Piatons provokantem Vorschlag, im Rahmen seiner Idealstaatskonzeption die Familiengemeinschaft zumindest für gewisse Bevölkerungsschichten in eine Geschlechter- und Kindergemeinschaft aufzulösen. Piaton nimmt in Kauf, daß sein Konzept, wie er selbst einräumt, für das normal menschliche Empfinden eine Zumutung darstellt: Denn der angestrebte Zweck ist die Auflösung partikulärer Familienverbände; erst diese schafft die hinreichenden Bedingungen für die innerstaatliche Einigung und damit für die staatliche Einheit im Ganzen. Im Gegensatz zur platonischen Konzeption, die sich sporadisch und in Abwandlungen im Kontext der Piaton beerbenden Utopien und Idealstaatsentwürfe wiederfinden läßt, bildet Aristoteles' Lehre von oikos undpolis das für die Theorie wie für die Realität der politischen Welt des Abendlandes gleichermaßen grundlegende Paradigma. Der philosophische Zugriff auf die polis ist bei Aristoteles ein grundsätzlich anderer, weil er davon ausgeht, daß der Mensch zoon politikon, ein auf Gemeinschaft hin angelegtes Wesen ist. Für ihn steht weniger das theoretisch zu bewältigende Problem staatlicher Einheit im Zentrum des ersten Buches seiner Politik, als das Bemühen, die Wesensformen des Häuslichen einerseits und die des Staatlichen auf der anderen Seite zu bestimmen. Das Haus bildet den Ursprung und die Vorform, wie gleichermaßen auch den definitorischen Gegensatz zum Staat. Denn insofern als der Staat der Gefahrdung unter-
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liegt, sein eigentliches Ziel, welches in der politischen Organisation freier und gleicher Bürger besteht, zu verfehlen, bildet das Haus mit seinem spezifischen Charakter eines Herrschaftsverbandes Unfreier und Ungleicher dessen latente Verfallsform. Trotz ihrer grundsätzlich anti-aristotelischen Stoßrichtung bleibt die Orientierung an der klassischen Konzeption des oikos und damit zusammenhängend an der aristotelischen Unterscheidung von oikos und polis für die Autoren des neuzeitlichen Naturrechts bestehen. Dort, wo in den Naturrechtslehren über die Familie bzw. den Hausverband gehandelt wird, findet sich wiederkehrend die Diskussion der seit Aristoteles kanonischen häuslichen Herrschaftsverhältnisse. Autoren wie Hobbes und Locke geht es im Rückgriff auf Aristoteles primär nicht um eine philosophische Festschreibung des Wesens der häuslichen Gemeinschaft als solcher, vielmehr geht es um das Problem der Herrschaftslegitimation, das mittels des kontraktualistischen Paradigmas auf eine grundsätzlich neue Weise gelöst wird. Die Erörterung der drei Formen der häuslichen Herrschaft: der dienstherrlichen, der ehelichen und der elterlichen, ist in diesen Zusammenhang der genuin neuzeitlichen Herrschaftsbegründung zu stellen. So ist es Hobbes' Bestreben, zum Zweck der Validierung seines staatstheoretischen Neuansatzes auch die Familie als eine vertragsförmig verfaßte Gemeinschaft zu rekonstruieren, wobei er den von Aristoteles strukturell gefaßten Unterschied von Familie und Staat auf eine universale Kontraktualität aller menschlichen Gemeinschaftsformen hin einebnet. Diese Aufhebung der Eigenständigkeit der Familie ist grundsätzlich anders gelagert als die platonische Abschaffung der Familie zum Zweck der staatlichen Einigung, sie ist vielmehr als Abweisung vermeintlich genuin naturwüchsiger Herrschaftsformen zu verstehen; allem voran bedeutet sie die Abkehr vom Paradigma väterlicher Herrschaft als einem Legitimationsmuster absolutistischer Herrschaft. Die in dieser Hinsicht unter Absehung von sonstigen weitreichenden systematischen Differenzen identische Absicht - nämlich die Bekämpfung des Patriarchalismus - führt allerdings bei Locke nicht einfachhin zur Nivellierung des Unterschieds zwischen staatlicher und häuslicher Herrschaftsstruktur. Er hält vielmehr in gewisser Weise an der strukturellen Unterscheidung von häuslicher und politischer Gewalt fest, wenngleich unter der Bedingung neuzeitlich-liberaler Prämissen. Damit wird die aristotelische Scheidung von oikos und polis - auch gerade in ihrer definitorischen Valenz - im Rahmen der Lockeschen Position auf der Grundlage des kontraktualistischen Paradigmas wiedereingesetzt.1 An Rousseaus verstreuten und nicht streng systematisierten Ausführungen zum Zusammenhang von Familie und Staat lassen sich verschiedene Ebenen ausmachen. Prägnant hebt sich dabei Rousseaus Anknüpfung an die oben geschilderte Diskussionslage 1
Vgl. John Locke, Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung (im Folgenden: Zweite Abhandlung über die Regierung), in: Ders., Zwei Abhandlungen über die Regierung, hg. und eingel. v. Walter Euchner, Frankfurt/M. 1977, S. 200-354, § 86: „Worin sich aber eine Familie oder irgendeine andere Gesellschaft von Menschen von dem unterscheidet, was wir im eigentlichen Sinne als eine politische Gesellschaft bezeichnen, werden wir am besten erkennen, wenn wir überlegen, was das besondere Wesen der politischen Gesellschaft ausmacht."
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des neuzeitlichen Naturrechts ab. Als ein politischer Philosoph, dessen Intention auf die Bekämpfung, bzw. Widerlegung absolutistischer Legitimationsmuster zielt, bezieht er Position in der Diskussion um den pouvoir paterneh Es geht um die Zurückweisung der väterlichen Herrschaft als eines Legitimationsmodells für die politische Sphäre. Mit der Anknüpfung an die Argumentationsmuster der Naturrechtslehren mit Bezug auf die Scheidung von Haus und Staat wird also keineswegs eine rein akademische Frage verhandelt, sondern eine politische Streitfrage von nicht unerheblicher Brisanz. Neben dieser Positionierung im Rahmen einer politischen Kontroverse findet sich bei Rousseau entsprechend der „ethisch-juridischen Doppelgesichtigkeit' seiner politischen Theorie eine in vollständig anderer Weise akzentuierte Behandlung des Bezugs von Staat und Familie, die auch den weitaus größeren Teil seines Werkes beansprucht. Hier verläßt Rousseau den Boden der rein legitimationstheoretischen Erörterungen und entwirft mit Bezug auf das aristotelische Grundmuster des oikos als einer Gemeinschaft von Ungleichen eine substantielle Konzeption von Familie. Dieser Entwurf der bürgerlichen Familie, wie Rousseau ihn ansatzweise in den Büchern I und V des Emile vor allem aber im programmatischen Teil der Nouvelle Heloise vorstellt, läßt sich in gewisser Weise als die einer anti-kontraktualistischen Stoßrichtung folgende Rückwendung zum traditionellen oikos verstehen. Diese Rückwendung geht freilich in den sich ins Romanhafte weitenden konkreten Ausschilderungen einer neuartigen bürgerlichen Lebensform und Beziehungskultur sowohl dem theoretischen Genre wie auch dem Umfang nach weit über Aristoteles hinaus und greift auf den Bezugsrahmen neuzeitlicher Verhältnisse aus. Beschränken wir uns aber zunächst auf den bereits ansatzweise entfalteten naturrechtlichen Diskussionszusammenhang und auf die Anknüpfung an die traditionelle Erörterung der Familie als eines Herrschaftsverbandes. Obgleich also das neuzeitliche Naturrecht den Zusammenhang von Individuum, Gemeinschaft und Staat von grundlegend anderen Prämissen her bedenkt als es der politische Aristotelismus tut, bleibt dennoch die Intention in der Behandlung des Verhältnisses von Staat und Familie strukturell identisch. Für Aristoteles kann nur dann von einer polis als der verwirklichten Sphäre des Politischen gesprochen werden, wenn tatsächlich politische Herrschaft, nämlich der Form nach eine Herrschaft unter Freien und Gleichen verwirklicht ist. Die Verhältnisse innerhalb des Hauses dagegen sind grundsätzlich durch Ungleichheit, bzw. Ungleichheit und Unfreiheit definiert. Da es allerdings niemals völlig ausgeschlossen ist, daß die das Haus konstituierenden Herrschaftsverhältnisse ihrer Form nach auf den Staat übergreifen können, steht der Staat auch in der Gefahr, sich unter Verlust seiner eigentlich politischen Dimension in ein großes Haus zu verwandeln: In diesem Umstand manifestiert sich für Aristoteles ein pervertiertes Verständnis des Politischen. Analog verläuft die kritische Stoßrichtung des Naturrechts. Das neuzeitliche Naturrecht stellt bekanntlich die Frage nach der Rechtsförmigkeit von Herrschaft in den Mittelpunkt des politischen
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Vgl. Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 165-170.
Darmstadt 1994,
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Denkens. Freiheit und Gleichheit stellen nun allerdings universale menschenrechtliche Prädikate und nicht länger, wie bei Aristoteles, partikulare Zuschreibungen dar und verlangen nach den entsprechenden Regelungen. Mit den Prinzipien der allgemeinmenschlichen Freiheit und Gleichheit bezieht das frühliberale Denken Position gegen den Patriarchalismus als dem herrschenden politischen Paradigma der Zeit und es gewinnt aus dieser Opposition heraus seine entscheidenden Konturen. In der politischen Doktrin des Patriarchalismus ist es die Familie, die als erste, grundlegende und maßgebende Form jedes sozialen Verbandes fungiert. Jedes Individuum ist von den Sphären Familie, Gemeinschaft und Staat konzentrisch umschlossen, Sphären, die alle gleichermaßen durch ein patriarchales Herrschaftsmuster strukturiert sind. Im Rahmen dieses Legitimationsmodells herrscht der Fürst über seine Untertanen nach Art eines Vaters und seine Herrschaft erweist sich als rechtens, weil sie in der Natur ihren Ursprung und in Gottvater ihr höchstes Bild und ihre letzte Legitimationsquelle hat. Demgegenüber bringt nun das frühliberale Denken eine Herrschaftsordnimg in Anschlag, die der naturrechtlichen Freiheit und Gleichheit der Individuen Rechnung trägt und sich allein dadurch als legitime politische Ordnung ausweist. Vor dem Hintergrund, daß die frühliberalen Theoretiker dem sich zu universaler Verbindlichkeit aufspreizenden Vater-Kind-Verhältnis auf der Ebene des Politischen begegnen müssen, wird der in diesem Punkt bereitwillige Rückgriff auf die von Aristoteles maßgebend vorgenommene Unterscheidung von väterlicher bzw. häuslicher und politischer Herrschaft verständlich. Für Hobbes wie für Locke stellt die Diskussion der häuslichen Regimentsformen einen zentralen Punkt im Argumentationsaufbau ihrer politischen Theorie dar. Dort, wo auf die klassische o/fow-Konzeption vordergründig im Sinne einer Reverenz an die Tradition Bezug genommen wird, wird näher besehen die herrschende politische Doktrin einer fundamentalen Kritik unterzogen. Die Rekonstruktion des historischen Argumentationskontextes erweist sich als unerläßlich, will man dem Umstand Rechnung tragen, daß Rousseau dort, wo er sich in die zeitgenössische Diskussion um Regimentsformen und Legitimationsmuster einschaltet, tendenziell eklektizistisch verfahrt. Robert Derathe weist auf ein für Rousseau typisches Argumentationsmuster hin3: zwei etablierte Positionen einer Kontroverse gegeneinander auszuspielen, um auf diese Weise einen eigenen Standpunkt zu gewinnen, der dementsprechend nicht eigentlich originell zu nennen ist. Rousseau hat die legitimationstheoretische Erörterung von familiärer und politischer Herrschaft an drei Stellen seiner explizit politischen Schriften durchgeführt: im Diskurs über die Ungleichheit, dem sogenannten Zweiten Diskurs, zu Beginn des EnzyklopädieArtikels Politische Ökonomie und schließlich im Gesellschaftsvertrag4. Vor allem im 3 4
Robert Derathé, Jean-Jacques Rousseau et la sciencepolitique de son temps, Paris 1979, S. 191. Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit - Discours sur I'inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämtlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien nach den Originalausgaben und den Handschriften neu ediert, übers, und kommentiert von Heinrich Meier, Paderborn, München, Wien, Zürich 31993 (im Folgenden Zweiter Diskurs genannt; der
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Gesellschaftsvertrag macht die Beschränkung auf die knappe Definition väterlicher Gewalt5 und der Aufweis ihrer unzureichenden Legitimationskraft für politisches Recht unmißverständlich die strategische Relevanz klar, die die Erörterung der familiären Gewalten im Kontext politischer Theorie auch zuvor schon besessen hatte: nämlich das theoretische Mittel zur Bekämpfung des sich gemäß patriarchalem Muster legitimierenden Absolutismus zu sein. Die legitimationstheoretische Wirkungsmacht von Robert Filmers um 1640 entstandenen, 1680 veröffentlichten Schrift Patriarcha - A Defense of the Natural Power of Kings Against the Unnatural Liberty of the People, einem Buch, das heute nur noch beiläufig im Zusammenhang mit Lockes Two Treatises on Government Erwähnung findet, darf für die staatstheoretische Diskussionslage des 18. Jahrhunderts nicht unterschätzt werden.6 Filmer fuhrt in seinem Werk unter Berufung auf die Bibel die absolute Monarchie auf die Autorität zurückt, die Gott Adam als dem ersten Menschen über seine Familie und im Weiteren über das ganze Menschengeschlecht verliehen hat. Infolge dieser Urstiftung leitet sich die absolute Herrschaft der Monarchen vermittels der Übertragung der gottgegebenen Autorität auf den jeweils ältesten Sohn, bzw. über die Aufteilung auf mehrere Söhne durch Noah, in einer langen Erbfolge von Adam her ab. So kann allein die absolute Monarchie, die in der väterlichen Autorität die alleinige Quelle der Herrschaftslegitimation hat, als rechtmäßige Regierungsform gelten, im Gegensatz zu anderen Herrschaftsformen, die sich auf Vertrag, auf Wahl oder auf die Akklamation des Volkes gründen. Legitimationsmuster patriarchaler Art leben fort bis ins 18. Jahrhundert, bis in Diderots Enzyklopädie läßt sich ihr Echo vernehmen7, und
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Zweite Diskurs wird nach der genannten zweisprachigen Ausgabe zitiert, die die Paginierung der Pléiade-Ausgabe übernimmt. Die Seitenzahl nach dem Schrägstrich bezieht sich auf den deutschen Text), OCP III, S. 167-168/181-183; Jean-Jacques Rousseau, Politische Ökonomie, hg. u. übers, v. Hans-Peter Schneider und Brigitte Schneider-Pachaly, Frankfurt/M. 1977 (im Folgenden zitiert als: Politische Ökonomie), S. 23-30/ OCP III, S. 241-244; Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 1977 (im Folgenden zitiert als: Gesellschaftsvertrag), I. Buch, 2. Kapitel, S. 6 - 8 / OCP III, S. 352f. Wenn nach einer deutschen Ausgabe zitiert wird, ist die entsprechende Seitenangabe der Pléiade-Ausgabe mit Schrägstrichen angefügt. Im Gegensatz zum Gesellschaftsvertrag findet sich in der Erstfassung, im sog. Genfer Manuskript, an einschlägiger Stelle noch eine ausfuhrliche Passage zur „autorité naturelle d'un Père de famille", die deckungsgleich mit dem entsprechenden Abschnitt im Enzyklopädie-Artikel ist. Vgl. OCP IH, S. 297300. Siehe die kritische Ausgabe von PeteT Laslett Patriarcha and Other Politicai Works of Sir Robert Filmer, Oxford 1949. Bezüglich Rousseaus Kenntnis der Schrift Filmers ist zu vermuten, daß sie sich auf einschlägige Anmerkungen stützt, die Barbeyrac seiner Übersetzung von Pufendorfs Naturrecht hinzugefügt hat. Vgl. OCP III, S. 1392, auch Robert Derathé, Rousseau et la science politique de son temps, a.a.O., S. 185. Vgl. Robert Derathé, Les Philosophes et le Dépotisme, in: Utopie et institutions au XVIIIe siècle: le pragmatisme des Lumières. Textes recueillis par Pierre Francastel, Paris 1963, S. 57-75, hier: S. 71.
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wenn Rousseau mit Spott über die Geschichten von „König Adam und Kaiser Noah" 8 hinweggeht, wird damit seine eigene Position deutlich: Einflußreiche Autoren wie Bossuet und Ramsay vertreten in Frankreich zu Beginn des Jahrhunderts auch ohne den expliziten Rückgriff auf Filmers Offenbarungsgenealogie monarchistische Positionen.9 Deren Kerngehalt besteht in folgenden Thesen: Als Glied einer Generationenfolge ist der Mensch von Natur aus in einen Zustand der Ungleichheit und Abhängigkeit hineingeboren: ,,[L]es hommes naissent tous sujets." 10 Diesem Zustand korrespondierend besteht vorgängig zu jedem Vertrag das natürliche Recht des Vaters, über seine Kinder zu regieren. Existiert ferner Einigkeit darüber, daß es unverzichtbar ist, eine Instanz souveräner Gewalt unter den Menschen zu errichten, so findet diese Gewalt in der ersten und ursprünglichen Form von Herrschaft, der väterlichen, ihr Modell. Die Monarchie, so faßt Bossuet zusammen, „a son fondement et son modèle dans l'Empire paternel, c'est-à-dire dans la nature même"11. Der Monarch regiert seine Untertanen mit väterlicher Autorität und Güte, diesen herrscherlichen Funktionen korrespondieren der kindgemäße Gehorsam und Respekt der Untertanen. Genau in diesem Punkt besteht für Rousseau die Unhaltbarkeit des Patriarchalismus: Dieser will den Menschen in jenem Zustand von Abhängigkeit belassen, der ihm ausschließlich im Status der Kindheit eignet, kurz, in einem lebenslangen Zustand der Unmündigkeit fixieren. Es ist nun im Näheren zu verfolgen, wie Rousseau sich durch die zeitgenössische Argumentationslage hindurcharbeitet, um erwartungsgemäß bei der Verwerfung absolutistischer Legitimationsmuster anzukommen, so allerdings, daß er dabei eine Definition der Familie formuliert, die einen, wie zu zeigen sein wird, zutiefst widersprüchlichen Charakter aufweist. Die Traditionsbestände bieten Rousseau zum einen die Möglichkeit, gegen ein patriarchales Legitimationsmodell das Argumentationsmuster von Hobbes ins Feld zu führen: Hobbes bestreitet grundsätzlich die von den Vertretern des Patriarchalismus behauptete Tatsache der universellen Natürlichkeit von Herrschaft und ihre Fundierung in der naturwüchsigen Vater-Kind-Beziehung. Im Gegenzug macht er eine universelle Künstlichkeit jeder Form von Herrschaft geltend, insofern als jede Art von Gemeinschaft, auch die zweier Personen, nur als ein auf Konsens gegründetes Verhältnis zweier in gleicher Weise freier Willen, also als Vertrag, gedacht werden kann. Da die These von der universellen Vertragsförmigkeit aller menschlichen Beziehungsformen ihre Plausibilität aber gerade auch im Fall der naturwüchsigsten der menschlichen Gemeinschaften, der Familie, erweisen muß, sieht Hobbes sich vor die Aufgabe gestellt, den 8 9
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Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 2. Kapitel, S. 8/ OCP III, S. 353. Jacques-Bénigne Bossuet, Politique tiré des propres paroles de l'Ecriture Sainte, Paris 1709; AndréMichel Ramsay, Essay de politique où l'on traite de la nécessité, de l'origine, des droits, des bornes et des différentes formes de la souverainité, selon les principes de l'auteur de Télémaque, La Haye 1719. Jacques-Bénigne Bossuet, Politique tiré des propres paroles de l'Ecriture Sainte, Buch II, Art. 1, Prop. VU, a.a.O., S. 69. Ibid.
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aristotelischen oikos, spezifiziert nach seinen internen Verhältnissen von Herr und Sklave, Mann und Frau, Vater und Kind gemäß vertragsrechtlicher Parameter zu reformulieren. Auf die Schwierigkeiten, die in diesem Zusammenhang das Mann-Frau-Verhältnis bereitet und die Hobbes durch Stillschweigen zum Verschwinden bringt, sei hier nur hingewiesen.12 Das Vater-Kind-Verhältnis läßt sich für Hobbes indes problemlos kontraktualistisch konzipieren: Die Herrschaft des Vaters „beruht auf Zustimmung des Kindes, die entweder ausdrücklich oder durch andere ausreichende Erklärung erfolgte"13. Ebenso könnte sich Rousseau auch auf die elaboriertere, weil realitätshaltigere Variante der Hobbesschen Position, wie sie von Pufendorf vertreten wird, berufen. Pufendorf vermeidet die nicht realitätsgerechte und damit nicht hinreichend überzeugende Auffassung der kindlichen Vertragsfähigkeit dadurch, daß er die vertragsrechtliche Konstruktion der „stillschweigenden Zustimmung" seitens des Kindes einführt. Diese Konstruktion besagt, daß zum Zeitpunkt der noch unentwickelten Vernunfttätigkeit sich in der faktischen Unterordnung eine unausgesprochene Zustimmung bekundet, die nachträglich vom Level erreichter Mündigkeit aus durch vernünftige Einsicht validiert werden kann. Es wird also davon ausgegangen, daß das Kind, wäre es im Vollbesitz seiner mentalen Fähigkeiten, den herrschenden elterlichen Instanzen „gerne seine Zustimmung erteilen würde"14. Bemerkenswert ist, daß der Vertragstheoretiker Rousseau dieses differenzierte theoretische Angebot nicht aufgreift, sondern im Kampf gegen die Theoretiker des Absolutismus einen anderen Weg einschlägt. Die Reichweite des Anspruchs, der dieser Richtungsänderung zugrunde liegt, läßt sich angemessen nur verstehen, wenn man sich das Grundproblem vor Augen fuhrt. Der radikale Kontraktualismus mit der Grundannahme der universellen VertragsfÖrmigkeit aller menschlichen Gemeinschaftsformen ebnet die traditionell qualitative Unterscheidung des Häuslichen vom Politischen vollständig ein und bleibt gleichsam in Form eines Negativs dem bekämpften patriarchalen Grundmuster verbunden; es werden nämlich alle möglichen gesellschaftlichen Herrschaftsformen als homolog, als von
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Vgl. Sabine Doye/ Marion Heinz/ Friederike Küster (Hg.), Philosophische Geschlechtertheorien. Ausgewählte Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 2002, S. 133ff. Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. und eingel. von Iring Fetscher, übers, von Walter Euchner, Frankfurt/M., Kap. 20, S. 156; in De Cive wird der Sachverhalt in anderer Weise rekonstruiert: Nicht die Zustimmung des Kindes, sondern die „durch Ernährung" gewährte Sorge bezüglich des Lebenserhalts des Kindes stiftet die Herrschaftsbefugnis der Eltern. Vgl. Thomas Hobbes, Vom Menschen, Vom Bürger, eingel. und hg. von Günter Gawlick, Hamburg, 1959, S. 165-169. Samuel Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, hg. und übers, v. Klaus Luig, Frankfurt/M., Leipzig 1994, Kap. 3, § 2; in gleicher Weise lehrt Christian Wolffin seinem Naturrecht die conventia ficta, quasi pactum zwischen Eltern und Kindern: vgl. Ius naturae methodo scientiflcapertractatum Bd. 7, § 196, § 634.
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grundsätzlicher gleicher Struktur angesetzt. So wie die Patriarchalisten den sozialen Raum durch ein einziges Prinzip strukturiert sehen, gleichermaßen homogenisieren auch die Vertragstheoretiker die soziale Sphäre. Im Gegensatz dazu nun postuliert Rousseau - gegen die kontraktualistische Tradition - eine grundsätzliche, qualitative Differenz von häuslicher und politischer Sphäre: Für ihn ist die Familie gerade keine auf Vertrag gegründete Institution, sondern, wie es im Gesellschaftsvertrag heißt: „die älteste aller Gesellschaften und die einzig natürliche"15. Daß Rousseau der familialen väterlichen Gewalt ein natürliches Fundament einräumt, rückt ihn unweigerlich in die Nähe der Vertreter des Absolutismus. Den familiären Verhältnissen eine natürliche Grundlage zu konzedieren, ist indes das einzige Zugeständnis, das Rousseau in diese Richtung macht, und er hebt im Gegenzug gerade die Eigenart der politischen Gewalt von der väterlichen um so deutlicher ab: Väterliche und politische Gewalt gleichzusetzen ist nicht möglich, ohne sich „falsche Vorstellungen von den Grundgesetzen der Gesellschaft zu machen und ohne für das Menschengeschlecht verhängnisvollen Irrtümern zu erliegen."16 So stellt die vom absolutistischen Monarchen in Anspruch genommene Selbstdeutung als eines fürsorglichen Familienvaters bestenfalls eine Selbsttäuschung dar. Wie der Blick auf die Realität zeigt, herrscht der Monarch keineswegs mit der von Bossuet in Anschlag gebrachten väterlichen bonté über die seiner Sorge anbefohlenen Untertanen, sondern vielmehr in despotischer Willkür über gleichsam sklavisch Unterworfene; schon allein in Form und Art der faktischen Ausübung der Herrschaftsbefugnisse treten die Differenzen zwischen Familienvater und premier magistrat17 offen zu Tage. Neben dieser auf politische Mißstände zielenden Polemik besteht das letztlich ausschlaggebende Argument für die Widerlegung des patriarchalen Paradigmas indes in der Akzentuierung des zeitlichen Charakters der Vater-KindBeziehung. Bei der in natürlichen Notwendigkeiten begründeten Gewalt des Vaters über das Kind handelt es sich um ein transitorisches Herrschaftsverhältnis, welches mit dem Eintritt des Kindes ins Erwachsenenalter endet. Die Herrschaftsbefugnis des Vaters ist zum einen notwendig angesichts der natürlichen Schwäche und Abhängigkeit des Kindes, das seinen Selbsterhalt nicht aus eigenen Kräften bestreiten kann, zum anderen findet sie ihre Grenze an dem Punkt, wo das Kind die elterliche Schutzherrschaft ablegen kann, so wie es Jahre zuvor sich, wie es Locke ausdrückt, seiner Windeln entledigen konnte.18
15 16 17 18
Gesellschaftsvertrag, I. Buch, Kap. 2, S. 6/ OCP III, S. 352. Politische Ökonomie, S. 29/ OCP III, S. 243. Ibid. John Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, a.a.O., § 55: ,JCinder werden, das gebe ich zu, nicht in diesem völligen Zustand der Gleichheit geboren, sie werden aber doch für ihn geboren. Ihre Eltern haben eine Art Herrschaft oder Gerichtsbarkeit über sie, wenn sie zur Welt kommen und auch noch einige Zeit danach. Sie ist jedoch nur vorübergehend. Die Fesseln dieser Unterwerfung
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Trotz seiner grundsätzlich anti-kontraktualistischen Weichenstellung mit Bezug auf die Familie verdankt sich Rousseaus eigene Position in der Diskussion um das Verhältnis von Vater-Kind respective Monarch-Untertan zu weiten Teilen, wie ein Vergleich mit dem 6. Kapitel der Zweiten Abhandlung über die Regierung zeigt, den ausführlichen Überlegungen Lockes, dessen Position er schließlich in äußerst komprimierter Form im Gesellschaftsvertrag referiert.19 Drei für eine angemessene Konzeptualisierung des Vater-Kind-Verhältnisses ausschlaggebende Sachverhalte sind es, die Rousseau bei Locke finden kann. Zum ersten die bereits erwähnte Vorläufigkeit der väterlichen Befugnisse, zweitens die dem Recht auf Herrschaft korrespondierende Pflicht zur Fürsorge und als Drittes schließlich die aus dem Verhältnis für das Kind resultierende lebenslange Pflicht zu Respekt und Dankbarkeit. Hatte die temporäre kindliche Unfähigkeit zum freiverantwortlichen Selbsterhalt die transitorische Ausübung väterlicher Herrschaft notwendig gemacht, so wird dies Recht vom Vater in einer als legitim zu bezeichnenden Weise jedoch nur dann ausgeübt, wenn er seiner Pflicht zur Fürsorge, die allein am Wohle des Kindes orientiert ist, nachkommt. Entgegen dem von den theoretischen Gegnern ins Feld geführten väterlichen Recht, das allein in der Generativität, im puren Faktum der Erzeugung begründet ist, sprengt Locke, wie vor ihm schon Hobbes, diese auf die Fortpflanzung gestützte Rechtsbegründung, der liberalen Überzeugung eingedenk, daß ein natürlicher Akt kein Recht 91
begründen kann. Das Elternrecht, im vorliegenden Zusammenhang beschränkt auf das väterliche, resultiert einzig aus der Gewährung des Lebens und zwar ,glicht durch Erzeugung, sondern durch Ernährung", wie es bei Hobbes zu lesen ist22 und ergibt sich weiter, wie es Locke später spezifizieren wird, aus der verantwortlich übernommenen Erziehungsfunktion, die ihr Ziel in der Entwicklung der kindlichen Verstandeskräfte hat, dergestalt, daß das Kind dereinst in der Lage ist, „sie, wenn es seine Lebensbedingung erforderlich macht, für den eigenen Unterhalt arbeiten zu lassen".23 Kurz gesagt heißt dies, daß die Orientierung an der Befähigung zum künftigen Selbsterhalt der Exekution der erzieherischen Gewalt die Richtschnur vorgibt, gemäß derer sie legitim ausgeübt wird oder, wie Schwab es für diesen Zusammenhang formuliert: „Die ursprüngli-
19 20
21
22 23
gleichen den Windeln, mit denen sie während der Hilflosigkeit ihrer frühen Kindheit gewickelt und geschützt werden." Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 2. Kapitel. Vgl. John Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, a.a.O., §§ 58, 64; § 65: „Ja, diese Gewalt gehört dem Vater so wenig durch ein besonderes natürliches Recht, sondern allein in seiner Eigenschaft als Vormund seiner Kinder, da er seine Gewalt über sie verliert, wenn er seine Fürsorge für sie aufgibt." Außer bekanntlich im Falle der Arbeit gemäß der Lockeschen Eigentumsbegründung. Konsequenterweise betrachtet Locke denn auch Kinder als zwar von den Eltern gezeugt, aber als ein vom Schöpfer erzeugtes Werk, das den Eltern nur anvertraut ist. Vgl. Zweite Abhandlung über die Regierung, a.a.O., § 56. Thomas Hobbes, De Cive, a.a.O., S. 167. John Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, a.a.O., § 64.
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che Freiheit der Kinder verträgt Begrenzungen nur mehr im Rahmen des Erziehungszieles, das in nichts anderem als der Führung zur Mündigkeit bestehen kann."24 In dieser zweckgerichteten Begrenzung liegt die zweite Restriktion der väterlichen Gewalt. Aus der erzieherischen Sorge und Verantwortung, die auf das Kind verwendet wird, erwächst diesem Kind seinerseits eine zeitlich unbegrenzte Pflicht zur Dankbarkeit. Die Tatsache der lebenslangen Kindschaft des Erwachsenen folgt nicht mehr als eine gegenüber den Eltern bestehende moralische Pflicht. Von Seiten des erwachsenen Kindes kann nurmehr Respekt eingefordert werden, d.h. die Wahrnehmung seiner allein moralischen Pflichten in den Formen von Dankbarkeit und Anerkennung. Dies bedeutet, daß von Kindschaft im Sinne der Untertänigkeit als einem lebenslangen Status, wie ihn die politischen Gegner als eine unhintergehbare Tatsache anfuhren, nur in Bezug auf eine daraus resultierende moralische, nicht aber rechtliche Verpflichtung gesprochen werden kann: Denn „die Dankbarkeit ist wohl eine Pflicht, der man nachkommen muß, nicht aber ein Recht, das man fordern kann".25 Betrachtet man die aufgrund ihres politischen Zündstoffes in äußerst akademischer Manier traktierte Streitfrage um den pouvoir paternel, so läßt sich in Anbetracht der fast vollständigen Übernahme des Lockeschen Standpunktes an Rousseaus Position nichts eigentlich Originelles ausmachen. Allein die quasi-definitorische Kennzeichnung der Familie als „älteste und einzig natürliche aller Gesellschaften" im I. Buch des Gesellschaftsvertrag stellt eine Akzentuierung dar, für die Rousseau kein unmittelbares Vorbild bei Locke finden konnte und die eine systematische Verschiebung anzeigt. In dieser Akzentsetzung manifestiert sich der kritische Impuls gegen die künstliche kontraktualistische Homogenisierung der gesamten Sphäre des Sozialen. Diese Abkehr vom Universalismus des Vertragsmodells erlaubt es, die für das traditionelle politische Denken grundlegende und wesensmäßige Unterscheidung von oikos und polis wieder in ihr Recht zu setzen. Nun scheint allerdings im Gegensatz zur radikal-kontraktualistischen Position von Hobbes, auch bei Locke noch die Orientierung an der klassisch-aristotelischen Unterscheidung von oikos und polis vorzuliegen. An Lockes politischer Philosophie läßt sich, Riedel zufolge, deutlich der „Übergang von der traditionell-naturrechtlichen zur neuzeitlich-vernunftrechtlichen Begriffssprache" 26 erkennen. Indem Locke alle Gesellschafitsbildung auf Vertrag gründet und die klassisch-aristotelische Zweckidee der Vollkommenheit durch den Funktionsbegriff der Sicherheit ersetzt, deutet er zwar das traditionelle Schema der in der aristotelischen Politik behandelten menschlichen Gesellschaften weithin um, gibt es jedoch an dem Punkt nicht völlig auf, wo er die traditionellen häuslichen Regimentsformen ausdrücklich von der für die Sphäre des Politischen
24 25 26
Dieter Schwab, Artikel „Familie", a.a.O., S. 283. OCPlll, S. 182/23 3 f. Manfred Riedel, Artikel „Gesellschaft, Gemeinschaft", in: Geschichtliche S. 801-862, hier: S. 810.
Grundbegriffe,
a.a.O.,
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charakteristischen Herrschaftsform abgrenzt.27 Als das Kriterium für die Unterscheidung des Privaten vom Politischen fungiert der Umstand, daß in den drei häuslichen Relationen dem Mann als Dienstherrn, Gatten und Vater nur eine dem jeweiligen Zweck der Verbindung korrespondierende und d.h. bezüglich ihrer Dauer und ihres Ausmaßes begrenzte Gewalt zukommt und gerade nicht diejenige, die nach Locke das Wesentliche des Politischen ausmacht: die Gewalt über Leben und Tod. Trotz dieser Spezifizierung sind die häuslichen Verhältnisse aber allesamt - nicht anders als bei Hobbes - auf Vertrag gegründet. Bereits Locke bezieht also zwischen den beiden Fronten der zeitgenössischen PolitikKontroverse um den familialen oder kontraktualistischen Charakter von Herrschaft einen differenzierten vertragstheoretischen Standpunkt, der eine Abgrenzung der privaten Sphäre von der öffentlichen impliziert. Der Lockeschen Position entsprechend stellt es eine unzulässige Verkürzung dar, wollte man in der universellen Vertragsförmigkeit menschlicher Gemeinschaften schon unmittelbar die durchgängige Gleichförmigkeit der Verhältnisse impliziert sehen; es ist vielmehr der jeweilig definierte Zweck einer Gemeinschaft, der die Reichweite der vertraglich vereinbarten Herrschaftsbefugnis definiert und diese damit spezifiziert. Kurz gesagt: Nicht alle menschlichen Verhältnisse sind von politischer Art, auch wenn sie konsensuelle sind. Rückt man Rousseaus Apostrophierung der Familie als „älteste und einzig natürliche Gesellschaft" in diesen Kontext, wird deutlich, daß er die Familie als eine Vereinigung von qualitativ anderer Art verstanden wissen will, als sie der auf Vertragsschluß, d.h. auf Konvention beruhende und in diesem Sinn als ein künstliches Gebilde zu verstehende Staat darstellt.28 Damit ist eine klare und fundamentale Entgegensetzung der privaten Lebenssphäre zur öffentlichen, die auf dem freien Willen der an ihr partizipierenden Individuen basiert, angezeigt. Was mit der Qualifizierung „natürlich" über den Sinn des Nicht-Konventionellen hinaus positiv anvisiert sein kann, dafür läßt sich im Rahmen des Gesellschaftsvertrags eine Erklärung nicht finden: Daß aber die Familie als „einzig natürliche Gesellschaft" kein Thema mehr ist, dessen Erörterung im Rahmen einer Explikation der „Grundsätze des Staatsrechts" seinen Ort hat, ist nur konsequent. Eine ausfuhrliche Diskussion des Hausverbandes, die z.B. in Lockes Abhandlung über die Regierung noch über 20 Paragraphen umfaßt, findet sich also im Gesellschaftsvertrag nicht mehr - Rousseau legt den Akzent ausschließlich auf das Problem der väterlichen Herrschaft, d.h. er diskutiert das Vater-Sohn-Verhältnis als das gängige Paradigma für das Verhältnis von Monarch und Untertan aus einer ausschließlich politischen Perspektive und Motivation.
27 28
John Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, a.a.O., §§ 77, 86, 89. So auch die zurückhaltende Erläuterung des Satzes durch Derathé: „C'est à dire la seule (société, F.K.) qui ne soit pas fondée sur des conventions." (OCP III, S. 1434)
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So viel läßt sich festhalten: Mit der Kennzeichnung der Familie als „natürlicher" Gesellschaft im Gegensatz zum Staat als einer Gesellschaft, die „auf Vereinbarungen"29 beruht, ist nicht schon unmittelbar auf die klassisch aristotelische o/fcos-Konzeption zurückgegriffen. Die neuzeitliche Dichotomie von „natürlich" und „künstlich" macht in Hinsehung auf den aristotelischen Begriff der Natur und des Naturrechts keinen Sinn. In der aristotelischen Tradition verläuft die Scheidung von oikos und polis entlang der Abgrenzung des reinen Lebens verstanden als die Sphäre Reproduktion des Individuums und der Gattung vom guten, gelungenen Leben des Bürgers als der Sphäre des gemeinsamen öffentlichen Redens und Handelns, eine Scheidung, die als ganze vom teleologischen Begriff der menschlichen Natur umgriffen bleibt. Dennoch legt sich die Vermutung nahe, daß Rousseau im Begriff des Natürlichen der Sache nach zwei genuin für die aristotelische Konzeption des oikos konstitutive Sachverhalte anzielt. Zum einen den Umstand, daß der politischen Sphäre mit dem Hausverband ein Bereich voraus- oder zugrunde liegt, der um des materiellen Selbsterhalts des Individuums und des Erhalts der Gattung willen besteht. Ein grundlegendes Charakteristikum der „natürlichen Gesellschaft" wäre demzufolge, daß sie die Organisationsform der materiellen Bedingungen der gesellschaftlichen Reproduktion abgibt und als die ökonomische Basis der Republik fungiert. Dieser Aspekt wird sich für Rousseaus eigenes ausformuliertes Familienmodell tatsächlich als zentral erweisen. Eigentlich entscheidend ist jedoch der zweite Aspekt, der die interne Verfaßtheit des familiären Verbandes betrifft. „Natürlich" ist eine Ordnung persönlicher Verhältnisse, die sich nicht gemäß dem kontraktualistischen Paradigma buchstabieren läßt, d.h. für die der Zuschnitt des bürgerlichen Rechts, der auf dem freien Willen des Individuums basiert, sich als unpassend erweist. Die Familie besteht nicht aus autonomen Individuen, die sich als Freie und Gleiche gegenüberstehen, sie bildet nicht eine Gesellschaft der Freien und Gleichen, sondern eine Gemeinschaft der Ungleichen. In der Kennzeichnung der Familie als einziger société naturelle im Contrat Social spiegelt sich also bereits die entscheidende Weichenstellung hin auf eine Familienkonzeption, die schließlich im bürgerlichen Modell der Familie als einer substantiell außerhalb der rechtlichen Sphäre stehende Gefühlsgemeinschaft endgültige Gestalt annimmt. Als Beginn dieser Entwicklung kann man das Zurücktreten des herrschaftlichen Moments innerhalb der Konzeption der Familie ansehen, das parallel verläuft zur politisch motivierten Abweisimg des patriarchalen Paradigmas für den politischen Raum und sich in dem Umstand manifestiert, daß z.B. Locke, wie andere aufgeklärte Denker auch, die elterliche Gewalt,glicht eigentlich als Herrschaft, sondern als Pflichterfüllung"30 deutet. Bei Locke stehen, wie gezeigt, Eltern und Kinder nicht länger in einer Herrschaftsbeziehung zueinander, sondern begegnen sich nurmehr als Träger von wechselseitig aufeinander bezogenen Rechten und Pflichten. Desgleichen bei Rousseau - nur mit der 29 30
Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 1. Kapitel, S. 61 OCP III, S. 352. Dieter Schwab, Artikel „Familie", a.a.O., S. 282.
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kleinen, aber bedeutungsvollen terminologischen Verschiebung, daß er dieses Verhältnis als ein „lien naturel"31 als ein „natürliches Band", d.h. als eine natürliche Verbindung bezeichnet. Bereits aus den äußerst knappen Erörterungen im I. Buch des Contrat Social läßt sich also das für Rousseaus Familienmodell entscheidende Moment herauslesen: Eine Konzeptualisierung der familiären Verhältnisse auf der Grundlage des kontraktualistischen Paradigmas ist ausgeschlossen. Welche Bedeutung Rousseaus Kennzeichnung der Familie als einzig natürlicher Gesellschaft darüber hinaus positiv zukommt, muß zunächst noch offenbleiben. Rousseaus staatsrechtliche Position im Rahmen der Diskussion um den pouvoir paternel ist hingegen prägnant zu fassen. Ein patriarchales Legitimationsmuster der Staatsgewalt ist angesichts der natürlichen Befähigung eines jeden Individuums zum freien Selbsterhalt unhaltbar. Es waren nicht zuletzt die Argumente Rousseaus, Lockes und Sidneys, die die Vorstellung vom väterlichen Charakter der absoluten Monarchie im politischen Bewußtsein der Zeitgenossen schließlich zusammenbrechen ließen. Wenn das Bild des Königs, Vater seines Volkes, dem ein oder anderen Literaten im weiteren noch aus der Feder fließen sollte, so war dies als eine Worthülse oder als eine fromme Erinnerung nichts mehr als ein Cliché, das mehr aus Gewohnheit denn aus Uberzeugung wiederholt wurde. 1.2
Naturzustand und Familie
1.2.1
Der Naturzustand
Rousseaus Charakterisierung der Familie als „älteste und einzig natürliche Gesellschaft" rückt die Familienproblematik unmittelbar in den Kontext der Lehre vom Naturzustand. Im Rahmen der Naturrechtstradition liegt der Naturzustand als vorpolitischer Zustand des Menschen der Stufe des status civilis voraus. Rousseau entfaltet seine Konzeption des Naturzustands im Diskurs über die Ungleichheit; im Rückgang auf diese Schrift läßt sich also weiterfuhrende Aufklärung über die Frage der Familie als natürliche Gesellschaft erwarten. Mit dem sogenannten Zweiten Diskurs handelt es sich um ein gleichermaßen originelles wie methodisch komplexes Theoriestück. Rousseaus Naturzustandskonzeption liegt zwischen den Naturzustandstheoremen der neuzeitlichen Naturrechtslehren und den mit Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden Naturgesellschaftslehren. Im Unterschied zu der für die Naturrechtslehren zentrale Alternative von Natur- und Gesellschaftszustand gehen die Naturgesellschaftslehren davon aus, daß ein gesellschaftlicher Zusammenhang bereits vor aller positiv-rechtlichen Insitutionalisierung auf eine naturwüchsige Weise existiert. Diese naturwüchsige Art von Gesellschaftlichkeit wird in synchroner Betrachtungsrichtung zum Gegenstand der politischen 31 32
Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 2. Kapitel, S. 6/ OCP III, S. 352. Vgl. Robert Derathö, Les Philosophes et le Despotisme, a.a.O., S. 72.
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Ökonomie: so bei Quesnay, Turgot, Smith und Ricardo; bei Ferguson und Miliar hingegen überwiegt die diachrone Perspektive, die zum Entwurf einer Naturgeschichte der menschlichen Gattung fuhrt. Auch bei Rousseau wandelt sich das traditionelle Tableau des status naturalis im Zweiten Diskurs in eine Naturgeschichte der Vergesellschaftung; die Rekonstruktion der Dynamik dieser „Naturgeschichte" macht den Zweiten Diskurs zugleich zu einer Abhandlung über die Geschichtlichkeit der menschlichen Natur. Mit dieser kurzen Charakterisierung ist bereits angezeigt, daß Rousseaus Entwurf des Naturzustands die Vorgaben der Naturrechtslehren sprengt. Rousseaus Kritik an den Autoren des rationalen Naturrechts zielt darauf ab, ihnen mangelnde Radikalität in dem Punkt vorzuwerfen, der für ihn selbst das Ziel der Untersuchung darstellt: nämlich unter dem Titel „Naturzustand" „bis zur Wurzel zu graben", wie Rousseau im Sinne der Wortbedeutung radikal sagt, d.h. bis zu den eigentlichen Ursprüngen der Gattung Mensch zurückzuschreiten. Der Vorwurf, der exemplarisch an Hobbes gerichtet ist, lautet, daß im Rahmen des Naturzustandstheorems der Blick auf die Entwicklungsgeschichte der Menschheit versperrt bleibt und so dasjenige als Ursache zählt, was bereits Wirkung ist; was heißt vorzugeben, vom natürlichen Menschen zu handeln, und doch nur den zivilisierten vor Augen zu haben.34 Rousseau liefert im Ausgang von einem vorkulturellen Menschheitsstadium eine Zivilisationsgeschichte, die nicht ausschließlich auf den rein rechtslogischen Zusammenhang der Instituierung der bürgerlichen Gesellschaft fokussiert ist, wenngleich diese Entwicklungslogik als Rahmenvorgabe auch bestehen bleibt. Das dreistufige Argumentationsschema von Naturzustand, Vertrag und bürgerlicher Gesellschaft hat sich damit zu einer Abfolge von markanten Vergesellschaftungsetappen verwandelt. Die eigentliche Explikation der „Grundsätze des Staatsrechts" ist denn auch dem Gesellschaftsvertrag vorbehalten. Die Feststellung, daß zwischen dem Zweiten Diskurs und dem Gesellschaftsvertrag ein methodisch-systematischer Bruch besteht, ist vor diesem Hintergrund nicht gänzlich von der Hand zu weisen.35 33
34 35
Vgl. dazu Jürgen Habermas, Artikel „Soziologie", in: Evangelisches Staatslexikon, hg. von Hermann Kunst und Siegfried Grundmann, Stuttgart, Berlin, S. 2108-2113, hier: S. 2110. OCPlll, S. 69/132. Karlfriedrich Herb argumentiert in der Linie von Vaughan, wenn er die systematische Unverbundenheit von Gesellschaftsvertrag und Diskurs über die Ungleichheit behauptet. Den Kern seiner Argumentation bildet die Trennung von Faktizität und Geltung, von Geschichtsphilosophie auf der einen Seite und staatsrechtlichen Prinzipien auf der anderen, eine Unterscheidung, die Rousseau selbst im Zweiten Diskurs betont (Zweiter Diskurs, S. 235/ OCP III, S. 182). Vgl. Charles Edwin Vaughan, Studies in the History of Political Philosophy, Bd. I, S. 28ff.; Karlfriedrich Herb, Naturgeschichte und Recht, in: Zeitschrift für Politik 40 (1993), S. 355-371 und neuerlich: Zur Grundlegung der Vertragstheorie, in: Reinhard Brandt/ Karlfriedrich Herb (Hg.), Jean-Jacques Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, Berlin 2000, S. 27-43. Die unbeschadet dieser Unterscheidung bestehende theoretische Verklammerung beider Schriften weisen mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung Strauss, Starobinski, Derathe und Kersting nach. Grundsätzlich
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Zunächst ist zu betonen, daß Rousseaus Vorwürfe an seine Vorgänger deren Intention nicht eigentlich treffen: Die Autoren des rationalen Naturrechts wollen, so Rousseau, ihre Lehre von der Politik beim natürlichen Menschen beginnen lassen und liefern doch nur ein ideelles Konstrukt. Anderes als eine Konstruktion zu liefern ist im Rahmen der Naturrechtslehren allerdings auch nicht beabsichtigt. Das Naturzustandstheorem ist als Theoriestück der politischen Theorie von ausschließlich legitimationstheoretischer Bedeutung. Der Anspruch, eine anthropologisch umfassende und theoretisch befriedigende Bestimmung einer ursprünglichen menschlichen Natur zu liefern und im Naturzustand eine realhistorische Ursprungsgestalt der Menschheit zu treffen, wird nicht erhoben. So spricht z.B. Pufendorf ausdrücklich vom Naturzustand als einer Fiktion.36 Allgemein fungiert der Naturzustand als ein Konstrukt, in welchem im Unterschied zum status civilis ein Zustand ohne positive Gesetze fingiert wird. Unangesehen der Unterschiede im Detail - Differenzen finden sich vor allem in Hinblick auf die Sozialnatur des Menschen37 - besteht die grundsätzliche Funktion aller Naturzustandskonzeptionen darin, die Unhaltbarkeit des status naturalis zu demonstrieren und gleichzeitig rechtliche Grundpositionen zu fixieren. Die mittels des Naturzustandtheorems entfaltete Argumentation fuhrt vor, daß der Naturzustand als ein Zustand des gleichberechtigten individuellen Selbsterhalts mit Notwendigkeit verlassen werden muß, weil er als ein Rechtsunsicherheitszustand die Sicherung des gleichberechtigten Selbsterhalts gerade nicht gewährleisten kann.38 So gesehen ist das
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läßt sich sagen, daß sowohl Strauss wie Starobinski und Derathé dem Naturzustand des Zweiten Diskurs eine normative Funktion in Hinblick auf die Republik des Gesellschaftsvertrags einräumen. Vgl. Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, Frankfurt/M., 2 1989, S. 264-307; Jean Starobinski, La pensée politique de Jean-Jacques Rousseau: l'état de société commencée, in: Samuel BaudBovy et. al. (Hg.), Jean-Jacques Rousseau, a.a.O., S. 81-99 und ders., Du Discours de l'inégalité au Contrat Social, in: Études sur le Contrat Social de Jean-Jacques Rousseau, a.a.O., S. 97-109; Robert Derathé, Jean-Jacques Rousseau et la science politique de son temps, a.a.O., S. 125-151. Kersting betont darüber hinaus die Formulierung metakontraktualistischer Voraussetzungen im Diskurs über die Ungleichheit (Wolfgang Kersting, Die Philosophie des Gesellschaftsvertrags, a.a.O., S. 140-149). Daß Rousseau selbst den Zweiten Diskurs und den Gesellschaftsvertrag als in einem Zusammenhang stehend betrachtet hat, belegt ein Fragment aus dem Umkreis des Deuxième Discours. {Diskurs über die Ungleichheit, S. 407/ OCP III, S. 1356-1358) „fingendus ... est": vgl. Iring Fetscher, Der gesellschaftliche „Naturzustand" und das Menschenbild bei Hobbes, Pufendorf, Cumberland und Rousseau, in: Schmollers Jahrbuch fur Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 80 (1960), S. 641-685, hier: S. 651. Im Gegensatz zu Hobbes gehen z.B. Grotius und Pufendorf von einer ursprünglichen Sozialnatur des Menschen aus. Daß die Unausweichlichkeit des naturzuständlichen bellum omnium contra omnes nicht in einer speziellen Konfliktanthropologie, sondern allein in der formalen Tatsache der Rechtsunsicherheit begründet ist, wie schon Kant im § 44 der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten herausgestellt hat, dazu vgl. die ausfuhrliche Anmerkung 441 in: Hobbes über die Freiheit, eingel. und mit Scholien herausgegeben von Georg Geismann und Karlfriedrich Herb, Würzburg 1988 und Georg Geismann, Die Grundlegung des Vernunftstaates der Freiheit durch Hobbes, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), S. 229-265.
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Naturzustandstheorem gerade nicht eine Meditation über ein anfängliches und unverfälschtes Menschsein, sondern es stellt den argumentativen Nachweis der Notwendigkeit der zwangsbewehrten Positivierung natürlicher Rechte dar. Da auch Hobbes radikal zurückgeht auf ein letztes Prinzip für den Aufbau seiner Theorie, nämlich auf das Prinzip des gleichberechtigten Selbsterhalts, stellt sich Rousseaus Vorwurf bezüglich der mangelnden Radikalität seiner Vorgänger einerseits als nicht gerechtfertigt dar. Andererseits hat Hobbes ebenso wie seine Nachfolger das principium nicht im Sinne des historischen Ursprungs verstanden. Rousseaus Konzept des status naturalis ist demgegenüber historisch-genetisch angelegt. Er fingiert nicht nur einen Zustand notwendig scheiternder Sozialität, indem er im Gedankenexperiment die Schicht positiver Gesetzlichkeit substrahiert, sondern er versetzt sich mittels Hypothesenbildung zurück an einen Ausgangspunkt der menschheitlichen Entwicklung, der sich diesseits allen Beginns von Zivilisation überhaupt befindet. Es ist beklagt worden, daß die traditionell im Naturzustandstheorem angelegte rechtsphilosophische Intention vom spezifisch Rousseauschen kulturkritischen Impetus absorbiert wird.39 Naheliegender scheint die Überlegung, daß es gerade die auf der Ebene der Kulturkritik angesiedelte Radikalisierung ist, die es Rousseau erlaubt, den Naturzustand als normativen Maßstab einzusetzen. Versteht man die Organisation des Zusammenlebens als nach dem Muster des bürgerlichen Privatrechts gebildet, wie die Vertreter des rationalen Naturrechts es tun, so ist das sozialphilosophische problème fondamentale40 dann zufriedenstellend gelöst, wenn die rechtliche Sicherung der Kompatibilität der individuellen Freiheitssphären gewährleistet ist. Für Rousseau hingegen sind Individuen mehr und anderes als Privatrechtssubjekte; das sozialphilosophische Grundproblem erschöpft sich nicht in der rechtsphilosophischen Frage nach der Möglichkeit einer sozial kompatiblen Entfaltung subjektiver Willkürsphären. Sein ethischexistenzieller Freiheitsbegriff geht über die sozialverträgliche Ausübung der Willkürfreiheit hinaus auf die Binnensphäre des authentischen Selbstbezugs. So existiert vor aller Kultur, gleichsam am Nullpunkt der Sozialität, das Individuum frei von äußerem Zwang und in der monadischen Geschlossenheit einer unmittelbaren und unvermittelten Beziehung zu sich selbst. Dieser integrale Existenzmodus von reiner Selbstgenügsamkeit und Selbstbezüglichkeit gerät jedoch, wie Rousseau im Rahmen seiner geschichtsphilosophischen Studie zeigt, entlang markanter Vergesellschaftungsstadien auf die unvermeidbare Bahn der Selbstentfremdung. Die Genealogie der Geschichte als einer Geschichte der Vergesellschaftung stellt sich so auch als eine Genealogie der Entfremdung dar, eine philosophische Idee, die Rousseau ,.nicht dem Begriffe, aber der Sache nach hervorgebracht hat"41. 39 40 41
So Karlfriedrich Herb, Zur Grundlegung der Vertragstheorie, a.a.O., S. 32ff. Gesellschaftsvertrag, I. Buch, 6. Kapitel, S. 17/ OCP III, S. 360. Axel Honneth, Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie, in: Ders. (Hg.), Pathologien des Sozialen. Die Aufgaben der Sozialphilosophie, Frankfurt/M. 1994, S. 9-69, hier: S. 19.
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Viel vom Reiz und vom Reichtum des Diskurs über die Ungleichheit leitet sich von der Frage her, die bis heute nicht beantwortet ist: Unklar ist nämlich der methodische Anspruch, der sich mit der Schilderung der natürlichen Lebensform verbindet.42 Rousseaus Rekurs auf Schriften der Tradition reicht weit über die Naturrechtslehren hinaus bis zum fünften Buch von Lukrez' De rerum natura 3. Auffallend ist aber auch sein Interesse an den Methoden der zeitgenössischen empirischen Wissenschaften44, allen voran an Buffons, in den Anmerkungen zum Zweiten Diskurs wiederholt zitierten Histoire Naturelle45, sowie seine nachgerade modern zu nennende Berufung auf die zeitgenössische Ethnographie.46 Zu diesen vielgestaltigen Interessen tritt noch der Ehrgeiz hinzu, die Ergebnisse seiner Forschungen in einer genetischen Perspektive zu fundieren eine Perspektive, die von einer phänomenologische Introspektion, einer selbstangeleiteten Meditation auf „die ersten und einfachsten Operationen der menschlichen Seele" ihren Ausgang nimmt.47 Gestützt auf Resultate einer in die Dimension des Präkulturellen reichenden empirischen Forschung und geleitet durch introspektive Erkundung der fundamentalen anthropologischen Antriebsstruktur, umreißt Rousseau in einem idealisierenden Sprung seine Konzeption des Naturzustands, deren Wahrheit nicht vorrangig in historischer Wahrscheinlichkeit, sondern in ihrer normativen Funktion liegt. Die im Akt des Gesellschaftsvertrags generierte Republik wird sich daran messen lassen müssen, in welchem Maße sie auch die Möglichkeitsbedingungen für eine Wiederholung, d.h. eine Restitution des am Naturzustand abgelesenen, ungebrochenen authentischen Selbstbezug des Individuums auf dem Level ausdifferenzierter Sozialität gewährleisten kann. Rousseaus Kritik an den Autoren des neuzeitlichen Naturrechts kann vor diesem Hintergrund dahingehend konkretisiert werden, daß in den Naturrechtslehren die gesellschaftlichen Konfliktpotentiale, die sich im Phänomen der Entfremdung manifestieren, 42 43
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47
Vgl. ibid., S. 14. Zur Quellenlage zum Zweiten Diskurs siehe Jean Morel, Recherches sur les Sources du Discours de l'inégalité, in: Annales de la Société Jean-Jacques Rousseau 5 (1909), S. 119-198. OCP III, S. 133/71 und 198f./285f. Georges Louis Leclerc de Buffon, Histoire naturelle, générale et particulière, 44 Bde., Paris 1749— 1804. Zu Buffons Einfluß auf Rousseau vgl. neben Jean Morel, Recherches sur les Sources ..., a.a.O., S. 179ff. v.a. die zahlreichen einschlägigen Hinweise von Heinrich Meier im Diskurs über die Ungleichheit und Jean Starobinski, Rousseau und Buffon, in: Ders., Rousseau. Eine Welt von Widerständen. Aus dem Französischen von Ulrich Raulff, München, S. 480-495. Rousseau stutzt sich vor allem auf: Jean-Baptiste Du Tertre, L'Histoire générale des Antilles habités par les François, Paris 1667; Charles-Marie de La Condamine, Rélation abrégée du voyage fait à l'intérieur de l'Amerique méridionale, Paris 1745; Pierre Louis Moreau de Maupertuis, Relation d'un voyage au fond de la Lapponie, in: Histoire de l'Académie Royale des Sciences et des Belles Lettres, Anne 1747, Berlin 1749, S. 432-445; Antoine Françoise Prévost (Hg.), Histoire générale des voyages, Paris 1746-1791. OCP III, S. 125/57. Zu den subjektiv-imaginativen Anteilen Rousseaus in Hinblick auf seine Konzeption des Naturzustands vgl. Jean Starobinski, Das Leben der Augen, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1984, S. 99ff.
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weder analysiert noch gar bewältigt worden sind. Hobbes und Locke gelingt es zwar auf je unterschiedliche Weise, einen Rechtsfrieden zu konzipieren, nicht gefragt wird hingegen nach den gesellschaftlichen Bedingungen, die allererst zu den antagonistischen Interessenlagen der Individuen fuhren. Ebensowenig geht das Interesse von Hobbes und Locke darauf, einen Zustand menschlichen Zusammenlebens zu entwerfen, der den möglichen Handlungskollisionen privater, gegeneinander isolierter Individuen grundlegend den Boden entzieht und damit auch die rechtlichen Regelungsmechanismen in anderer Weise zur Geltung bringt. Die Ebene rechtlich sanktionierter Verkehrsformen läßt sich mit Interaktionsformen zwischen Subjekten, denen es um eine unverzerrte, nicht-deformierte Selbstverwirklichung geht, nicht vermitteln. Die liberalen Naturrechtsautoren, so Rousseau, schaffen eine Ordnung, die das Telos unverkürzten Menschseins nicht berührt. Rousseaus eigene Lösung stellt sich demgegenüber dem ambitionierten Anspruch, das Individuum nicht allein einer bürgerlichen Rechtsordnung zu unterstellen, sondern es umfassend zum citoyen zu versittlichen, Rahmenbedingungen zu schaffen, die das Individuum in den Stand setzen, sich selbst zum neuen Menschen als autonomen Gemeinschaftswesen durchzubilden.48 48
„L'homme naturel est tout pour lui: il est l'unité numérique, l'entier absolu qui n'a de rapport qu'à lui-même ou a son semblable. L'homme civil n'est qu'une unité fractionnaire qui tient au dénominateur, et dont la valeur est dans son rapport avec l'entier, qui est le corps social. Les bonnes institutions sociales sont celles qui savent le mieux dénaturer l'homme, lui ôter son existence absolue pour lui en donner une relative, et transporter le moi dans l'unité commune; en sorte que chaque particulier ne so croye plus un, mais partie de l'unité, et ne soit plus sensible que dans le tout." (OCP IV, S. 249/ Emil oder Über die Erziehung. In neuer deutscher Fassung besorgt von Ludwig Schmidts, Paderborn, München, Wien, Zürich "1993, im Folgenden zitiert als Emil, S. 12) Vgl. auch OCP IV, S. 250 und S. 699f./ Emil, S. 13 und 391ff. und Gesellschaftsvertrag, Kap. 7, S. 43/ OCP III, S. 381: „Wer sich daran wagt, ein Volk zu errichten (instituer), muß sich imstande fühlen, sozusagen die menschliche Natur zu ändern; jedes Individuum, das von sich aus ein vollendetes und für sich bestehendes Ganzes ist, in den Teil eines größeren Ganzen zu verwandeln, von dem dieses Individuum in gewissem Sinn sein Leben und Dasein empfangt; [...] an die Stelle eines physischen und unabhängigen Daseins, das wir alle von der Natur erhalten haben, ein Dasein als Teil und ein moralisches Dasein zu setzen." Die Tatsache, daß die Integration der Einzelnen in das bürgerliche Gemeinwesen sich in einer umfänglicheren Weise vollzieht als es das Vergemeinschaftungsmedium des Vertrags leisten kann, bildet das nicht unproblematische Herzstück der politischen Philosophie Rousseaus. Fetscher spricht in Hinblick auf die „Denaturation" zum Bürger der Republik von einer „geheimnisvollen Verwandlung", von einer Art „Transsubstantiation": Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, a.a.O., S. 107, Brandt von einer „vollständigen Metamorphose": Reinhardt Brandt, Rousseaus Philosophie der Gesellschaft, a.a.O., S. 96, Habermas von „Konversion": Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, Frankfurt/M. 1978, S. 111, Kersting von „Transformation": Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, a.a.O., S. 162 und de Jouvenel ursprünglich von einer „.baptême civique' [...] en tout semblable à l'entrée à l'Église": Bertrand de Jouvenel, Essai sur la Politique de Rousseau, in: Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social, hg. von Bertrand de Jouvenel, Genève 1947, S. 17-147, hier: S. 100. Im letzten Abschnitt der Arbeit wird dieser Punkt noch einmal aufgegriffen.
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Die Leitvorstellungen von Autarkie und Autonomie des vorsozialen homme sauvage werden schließlich im Rahmen der Rousseauschen Republik in zweifacher Weise restituiert: in der Form der ökonomischen Autarkie, welche die materielle Unabhängigkeit des Bürgers sichert und in politischer Autonomie, die die Teilhabe des Einzelwillens am politischen Gemeinwillen und damit Souveränität gewährleistet. Rousseau fixiert mit seinem Konzept des Naturzustands ein Existenzideal, das als ein Maßstab in zweifacher Hinsicht fungiert: zum einen als Indikator für den fortgeschrittenen Stand der kulturellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung, der die geschichtliche Entfernung von einer immer schon verlorenen Natur anzeigt49, zum anderen als die umrißhafte Gestalt gelungenen Lebens, an welchem sich jede Form von bürgerlicher Existenz messen lassen muß. Wenn Rousseau also im ersten Teil des Diskurs über die Ungleichheit zurückschreitet zum Menschen des Naturzustandes und ein Wesen beschreibt das seine Bedürfhisse sämtlich befriedigt, indem es sich „unter einer Eiche satt ißt, [...] am erstbesten Bach seinen Durst löscht" und „sein Bett am Fuße desselben Baumes findet, der ihm sein Mahl geliefert hat"50, fuhrt er dem Leser nicht einen vernunftbegabten und soziablen Vertreter der Gattung Mensch vor, sondern den allesfressenden Zweifußler, wie er ihn in den Schriften Buffons finden konnte. Von Buffon übernimmt Rousseau auch das Modell der Natur51: Alle natürlichen Abläufe stehen in einem allgemeinen Gleichgewicht zueinander. Der zyklische Lauf der Natur vollzieht sich in kosmologischer Gleichförmigkeit, sofern er sich selbst überlassen bleibt und nichts von außen das gestiftete Gleichgewicht stört. Der natürliche Mensch ist Teil dieser Natur, ist bruchlos in sie eingefügt, insofern eine ungezähmte Natur seinen naturwüchsigen Bedürfnissen und spontanen Gelüsten augenblicklich Befriedigung gewährt. Im harmonischen Ordnungsgefüge der Natur ist das Subsystem Mensch seinerseits in einem Gleichgewicht justiert: Bedürfnis, Vermögen und Befriedigung stehen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander. Die Bedürfhisse reichen nicht weiter als das menschliche Vermögen ihnen Befriedigung zu gewähren, und die menschlichen Kräfte ragen nicht über die natürliche Bedürfnislage hinaus. Dieser Mensch der Natur existiert im Modus einer ungebrochenen, durch die Dimensionen der Vergangenheit und der Zukunft nicht relativierten Gegenwart. Ohne Sprache lebt er in unmittelbarer Ungeschiedenheit mit den Dingen seiner Umgebung, ohne Bewußtsein von Vergangenheit und Zukunft, ohne die Möglichkeit der reflexiven Distanznahme und ohne Wünsche, die seine Bedürfnisse überschreiten, in unver49
Ein „Zustand [...], der nicht mehr existiert, der vielleicht nie existiert hat, der wahrscheinlich niemals existieren wird und von dem zutreffende Begriffe zu haben dennoch notwendig ist, um über unseren gegenwärtigen Zustand richtig zu urteilen." (OCP III, S. 123/47f.) Siehe hierzu auch die Bemerkungen von Claude Lévi-Strauss in Traurige Tropen, Frankfurt/M. 1978, S. 386f.
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OCP III, S. 135/79. Vgl. hierzu den Artikel „Nature" von Cathérine Larrère, in: Dictionnaire Européen des Lumières, hg. von Michel Delon, Paris 1997, S. 766-771, hier: S. 770.
51
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mittelter Übereinstimmung mit sich selbst. Der Nebenmensch ist fur ihn nicht mehr als ein Teil der Natur. Der Umstand, daß ihm die Imagination „nichts ausmalt"52, bedeutet, daß Formen von Entgegenwärtigung, welche die primordiale, rein ichliche Gegenwärtigkeit transzendieren könnte, noch nicht entfaltet sind. Angst und Begehren, die zwei fundamentalen Antriebe des Menschen, sind noch nicht geweckt53, der Mensch der Natur, eine Grenzgestalt des Humanen, lebt in einem Zustand, über den hinaus er nichts erstrebt, und kann in diesem Sinne als autark bezeichnet werden. Diese Welt der physischen Unmittelbarkeit ist von der moralischen Welt toto coelo geschieden. Die Natur ist neutral, der Mensch der Natur lebt in der vollständigen Ignoranz von gut und böse.54 Was Rousseau als natürliche Güte, als bonté naturelle55 bezeichnet, ist eine unschuldige Form von Selbsterhaltungsinteresse. Im Naturzustand wird der Erhalt des Individuums und der Gattung durch Selbstliebe und Mitleid, zwei quasi-instinkthafte Motivkräfte, gewährleistet, die den Menschen mit dem Tierreich verbunden halten. Anders als das von den Vertretern des rationalen Naturrechts in Hinblick auf den Menschen und die Verhältnisse der Menschen untereinander formulierte Gesetz der Natur umspannt diese loi naturelle die gesamte Ordnung der Kreatur.56 Im Rahmen dieser Ordnung ist der Naturmensch frei in der Form der Unabhängigkeit, der indépendance51. Diese Form der Freiheit stellt sich vor allem als eine Implikation der isolierten Lebensweise dar58, denn die Abhängigkeit von der äußeren Natur, sofern die Natur in ihrer unabänderlichen Gesetzhaftigkeit weder sprunghaft ist noch willkürlich verfährt, ist nicht spürbar, auch ist dies „Joch der Notwendigkeit"59 auf alle Kreatur in gleicher Weise gelegt. Die Entwicklungsmöglichkeiten der eigentlich humanen Potenzen wie Sprache, Imagination, Reflexion und Empathie sind an die perfectibilité gebunden; im ursprünglichen Stand der Natur besitzt der Mensch sie allein in der Form einer schlummernden Potentialität. Rousseau begreift die perfectibilité als eine neutrale und inhaltsleere Disposition, eine faculté en puissance60, nicht als einen auf die Vervollkommnung der menschlichen Vermögen gerichteten entelechialen nisus formativus, ähnlich dem Herderschen „Bildungstrieb", sondern als eine reine Überschreitungspotenz, die negativ als Möglichkeit den Naturzustand zu verlassen erscheint, aber nicht positiv auf ein huma-
52 53 54 55 56 57
58 59 60
Vgl. OCP III, S. 144/109, vgl. auch S. 158/157. OCP III, S. 143/107. OCP III, S. 152ff./135f. OCP III, S. 156/151. OCP III, S. 125ff./53ff. Vgl. dazu Robert Wokler, Rousseau's two concepts of liberty, in: George Feaver/ Frederick Rosen (Hg.), Lives, Liberties and the Public Good, Basingstoke u.a. 1987, S. 61-100. OCP III, S. 161f./163f. Emil, S. 70/ OCP IV, S. 319. Vgl. OCP III, S. 163/167.
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nes Telos ausgerichtet ist.61 Für Rousseau liegt nichts Humanes in der ursprünglichen Menschennatur als die Möglichkeit der Menschwerdung, die sich als das Heraustreten aus der Ordnung der Natur manifestiert. Dieses Heraustreten aus dem vorgegebenen Ordnungsgefüge der Natur ist für Rousseau freilich nicht aus einem übergeordneten teleologisch konzipierten geschichtlichen oder heilsgeschichtlichen Zusammenhang zu begreifen. Dem Materialismus der französischen Aufklärung fügt er indes in der Frage der Menschwerdung das Moment einer radikalen Faktizität bei. Er konzipiert sie als einen Bruch mit der Natur, wobei die Disposition der perfectibilité zu ihrer Aktualisierung des äußeren Anstoßes bedarf, den Rousseau als strikt kontingentes Faktum denkt. Es sind ,jene singulären und zufalligen Zusammentreffen von Umständen"62 in der Form einer zufalligen materiellen Widerständigkeit der Dinge und der Umstände, welche die Herausbildung der menschlichen Vermögen in Gang setzen. Rousseaus zirkelhafte und aporetische Ausführungen zur Sprachentstehung im Zweiten Diskurs63 zeigen exemplarisch das Problem der Uneinholbarkeit und Unableitbarkeit des Anfangs von Kultur überhaupt. Der Anstoß für die geschichtliche Dynamik der zivilisatorischen Menschwerdung erweist sich als zufallige äußerliche Verursachung, als eine akzidentelle, aber definitive Zäsur, die jedes „Zurückgehen" zur Natur grundsätzlich ausschließt. Die menschliche Geschichte ist irreversibel; weder liegt es in der Intention Rousseaus, noch ist es auf der Basis seiner anthropologischen Voraussetzungen überhaupt möglich, „dazu zurück[zu]kehren, in den Wäldern mit den Bären zu leben"64. 61
62 63 64
Der Terminus perfectibilité ist eine Neuprägung Rousseaus; seinem Gehalt nach bei Buffon vorgebildet, wird er von Rousseau in origineller Weise in Anschlag gebracht. Vgl. Jean Starobinski, Rousseau und Buffon, a.a.O., S. 483ff. Zur Rezeption des Konzepts der perfectibilité in der deutschen Aufklärung, vgl. Frederic C. Tubach, Perfectibilité: der zweite Diskurs Rousseaus und die deutsche Aufklärung, in: Etudes Germaniques, 5 (1960), S. 144—151 und Wilhelm Voßkamp, Perfectibilité und Bildung. Zu den Besonderheiten des deutschen Bildungskonzepts im Kontext der europäischen Utopie- und Fortschrittsdiskussion, in: Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt, hg. von Siefried Jüttner und Jochen Schlobach, Hamburg 1992, S. 117-126. OCP III, S. 140/95 u. 162/167. OCP III, S. 146ff./l 17ff. OCP III, S. 207/319. Rousseaus Position in diesem Punkt war immer eindeutig. Vgl. auch Dialogues, OCP I, 935: „mais la nature humaine ne retrograde pas et jamais on ne remonte vers le tems d'innocence et d'égalité quand une fois on s'en est éloigné" und ist in dieser Weise auch von Kant verstanden worden: „Rousseau wollte im Grunde nicht, daß der Mensch wiederum in den Naturzustand zurück g e h e n , sondern von der Stufe, auf der er jetzt steht, dahin zurück s e h e n sollte." {Anthropologie in pragmatischer Absicht, in: Ders., Werkausgabe Bd. XII: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1977, S. 395-690, hier: S. 681) Ebenso von Fichte: „Ihm (Rousseau) ist Rückkehr Fortgang ...". {Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, in: Ders., Von den Pflichten des Gelehrten. Jenaer Vorlesungen 1794/95, hg. von Reinhart Lauth u.a., S. 1-54, 5. Vorlesung, S. 45) Erstes
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Anders als in den Naturgeschichten der Vergesellschaftung bildet und sozialisiert sich der Mensch also nicht in einem kontinuierlichen Prozeß des Stoffwechsels mit der Natur und ihrer Formation; er setzt die Natur nicht fort, sondern mit dem Eintritt in die Geschichte setzt er ihr ein Ende. Aus diesem Antinaturalismus Rousseaus folgt seine grundsätzlich ambivalente Einschätzung des Zivilisationsprozesses, der sich als Geschichte des zunehmenden Verlustes der Unmittelbarkeit erweist: der Beziehungen des Subjekts zu sich selbst, zur Welt und zu Anderen. Arbeit, Produktionsmittel und Produktivkräfte sind nicht konstitutive Bestandteile einer naturwüchsigen Entwicklung, sondern Störungen im natürlichen Gleichgewicht. Ackerbau und Metallverarbeitung übertreffen die natürliche Fruchtbarkeit nicht, sondern sie fuhren zu Entfremdung, Arbeitsteilung und zur gesellschaftlichen Ungleichheit: zur Spaltung des Individuums, der Arbeit und der Klassen. 1.2.2
Präsoziale Generativität
Nach diesen Vorklärungen zum spezifischen Charakter des Naturzustandes im Zweiten Diskurs und zu Rousseaus im Konzept des Naturmenschen implizierten Ablehnung der traditionellen Annahme einer ursprünglichen Sozialnatur des Menschen, können nun diejenigen Textpassagen konkreter ins Auge gefaßt werden, im Rahmen derer Rousseau die Entstehung der Familie rekonstruieren will und die Aufklärung darüber versprechen können, inwiefern die Familie als die älteste und einzig natürliche Gesellschaft gekennzeichnet werden kann. Im Zweiten Diskurs wird das Phänomen der Generativität an insgesamt drei Stellen behandelt, wovon die Erörterungen, die im ersten Teil der Schrift zu finden sind, sich auf die Diskussion der Sexualität des Menschen im solitären Urzustand konzentrieren, die Ausführungen des zweiten Teils hingegen die Rolle der Generativität im Rahmen der sich allmählich herausbildenden Gesellschaftlichkeit des Menschen behandeln. 65 Im ersten Teil des Diskurs über die Ungleichheit thematisiert Rousseau die menschliche Reproduktion unter zwei verschiedenen Rücksichten: In beiden Fällen geht es ihm weniger um die menschliche Fortpflanzungsfähigkeit als solche, sondern darum, kraft einer Widerlegung naturrechtlicher Argumente seine eigene Konzeption des Naturzustandes zu begründen. Diesen exponiert er als die denkbar radikalste Verneinimg eines mutmaßlichen menschlichen Triebes zur Geselligkeit, so allerdings, daß dieses Konzept noch nicht zur Annahme eines allgemeinen Kriegszustandes nach Hobbesschem Muster führen müßte. Er widerlegt zwei Annahmen bezüglich der menschlichen Sexualnatur: zum ersten die Behauptung Lockes, daß die menschliche Sexualität von sich aus zur Familienbil-
65
und prominentes Beispiel eines böswilligen Mißverstehens ist Voltaires öffentlicher Brief an Rousseau: „Es kommt einem die Lust an, auf allen Vieren zu gehen, wenn man Ihr Werk liest." (CCP III, S. 156f.) OCPlll, 146f./117f, 157f./151ff., 167ff./181ff.
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dung tendiert, zum zweiten die Annahme Pufendorfs, daß die jahreszeitlich unbegrenzte sexuelle Begierde, der permanente „Brunftzustand" des Menschen unausweichlich zu Konflikten führt und so einen Beitrag zum Entstehen des allgemeinen Kriegszustands liefert. Für Rousseau hingegen stellt sich die Sexualität im Sinne eines kreatürlichen Fortpflanzungstriebes weder als sozialitätsstiftend noch als sozialitätsfeindlich dar: Weder bildet sie ein Fundament für die Familienbildung, noch fungiert sie als die Ursache unausweichlicher Konflikte. Eine erste Diskussion der Entstehungsbedingungen familialer Beziehungsformen ist im ersten Teil des Zweiten Diskurs von Rousseau in den Kontext der Sprachursprungsproblematik eingefugt. 66 Indem Rousseau die ursprüngliche Sozialnatur des Menschen als anthropologische Entstehungsbedingung der Familie ablehnt, entwirft er im Gegenzug den Menschen des Naturzustandes als umherschweifendes Mann- oder Frau-Tier, das sporadisch und in promisker Weise sein Bedürfnis nach Kopulation befriedigt. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Hypothese eines naturwüchsig sich herausbildenden familiären Umgangs, eines gewachsenen Generationszusammenhanges und schließlich einer sich spontan entwickelnden Traditionsbildung, welche für Rousseau die Grundlagen der Sprachentstehung abgeben, als nicht haltbar. Das einzige menschliche Verhältnis, das in diesem Zusammenhang eine nicht ausschließlich passagere Begegnungsweise, sondern eine Beziehung von zumindest einer gewissen Dauer darstellt, ist dasjenige von Mutter und Kind. Allerdings liegt auch dieser Verbindung kein natürliches Fundament altruistischer Regungen zugrunde, sondern sie gehorcht der Logik des selbstinteressierten Einzelgängers: „Die Mutter stillte ihre Kinder zunächst ihres eigenen Bedürfnisses wegen; [...] Sobald sie (sc. die Kinder) die Kraft hatten, ihr Futter suchen zu gehen, zögerten sie nicht, die Mutter selbst zu verlassen." 67 Ausfuhrlicher als im Haupttext der Schrift behandelt Rousseau das Thema der Generativität in der Anmerkung XII zum Zweiten Diskurs6*, in welcher er sich detailliert mit Locke auseinandersetzt, der in den Paragraphen 78-80 der Zweiten Abhandlung über die Regierung genau den Zusammenhang herstellt, den Rousseau leugnet: den bruchlosen Übergang von der naturwüchsigen, der Aufzucht des Nachwuchses geschuldeten „conjunction between male and female" (§79) zur bürgerlichen „society of man and wife" (§ 80), einer „society", welche auf den durch die bürgerlichen Gesetze formulierten „Conjugal Bonds" (§81) beruht. Rousseau lehnt die Position Lockes ab, nach der durch die bürgerliche Institution der Familie allein rechtlich positiviert wird, was naturzuständlich bereits angelegt ist, nämlich die permanente Verbindung des Elternpaares im Hinblick auf die Aufzucht der Nachkommenschaft. Letztlich steht in dieser Auseinandersetzung Rousseaus mit Locke, die sich in etwas kurioser Weise um die frühzeitli-
66 67 68
Vgl. OCP III, S. 146f./l 17f. OCP III, S. 147/119. OCP III, S. 214ff./351ff.
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chen Ernährungsgewohnheiten des Menschen in funktioneller Verbindung mit der Häufigkeit der Schwangerschaften des Menschen,,weibchens"69 dreht, die Frage nach einer natürlich fundierten Abhängigkeit der Geschlechter voneinander im Zentrum. Die Argumentation Lockes verläuft in aller Kürze folgendermaßen: Bei den Fleischfressern, und so entsprechend bei den Menschen, ist der Beistand des Männchens bei der Versorgung des Nachwuchses notwendig. In besonderer Weise gilt dies im Falle des Menschen, da hier jeweils eine neue Schwangerschaft des Menschenweibchens eintreten kann, noch bevor das vorhergeborene Kind im Stande ist, sich aus eigenen Kräften zu erhalten. Rousseau bezweifelt schlechterdings alle Annahmen Lockes: Er schlägt den Menschen den Pflanzenfressern zu, gesteht hingegen gerade diesen eine klare Tendenz zur Familienbildung zu, leugnet diese Tatsache jedoch im Falle des ,Ausnahmetiers" Mensch und stellt schließlich ganz grundsätzlich die Tatsache in Frage, daß der Naturmensch überhaupt eine Kenntnis des Zusammenhangs von Kopulation und Niederkunft besitzt.70 Entscheidend ist aber in der Anmerkung XII dasjenige Argument, mit welchem Rousseau seinen grundsätzlich gegenüber Locke wie auch anderen Naturrechtsautoren erhobenen Vorwurf an einem konkreten Beispiel noch einmal wiederholen kann: Die Naturrechtler bilden den Naturzustand aus Vorstellungen, die dem gesellschaftlichen Zustand entstammen, dadurch erscheint der Naturzustand als ein theoretisches Konstrukt mit stark rückprojizierenden Zügen. Als eine solche Projektion erachtet Rousseau das Argument, welches häufige Schwangerschaften als Grund für eine eheähnliche Verbindung anfuhrt. In der Umkehrung der Blickrichtung macht Rousseau geltend, daß allererst das sich Laufe der Vergesellschaftung sich herausbildende dauerhafte Zusammenleben der Geschlechter für das Auftreten einer höheren Schwangerschaftsrate verantwortlich ist.71 Ein als natürlich behauptetes Phänomen erweist sich also als ein gesellschaftlich produziertes. Lockes Fehler in der Argumentation ist nach Rousseau darin begründet, daß er sich bei seiner Konzeption des Naturzustandes gewissermaßen von Wunschdenken leiten läßt: Die Einsicht in den unbestreitbaren Nutzen und Vorteil der bürgerlichen Ehe- und Familienordnung verleiten ihn zu der Behauptung von Ehe und Familie als gleichsam natürlicher Institutionen.
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,/emmelle": OCP III, S. 146 u. S. 166. Für eine ausführliche Rekonstruktion dieses Punktes, vgl. Joel Schwartz, The Sexual Politics of Jean-Jacques Rousseau, Chicago u.a. 1984, S. 22ff. OCP III, S. 217: „M. Locke setzt augenscheinlich voraus, was in Frage steht: Denn es handelt sich nicht darum zu wissen, weshalb der Mann mit der Frau nach der Niederkunft verbunden bleiben wird, sondern weshalb er sich nach der Empfängnis an sie binden wird. Ist die Begierde befriedigt, so hat der Mann eine bestimmte Frau nicht mehr nötig, noch die Frau einen bestimmten Mann. Dieser hat nicht die mindeste Sorge wegen der Folgen seiner Handlung und vielleicht nicht die mindeste Vorstellung von ihnen. Der eine geht in die eine Richtung, der andere in eine andere, und es besteht keine Wahrscheinlichkeit, daß sie nach neun Monaten über die Erinnerung verfügen, einander gekannt zu haben." OCP III, S. 217f.
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Seine Kritik der theoretisch naiven Behandlung der Genese der Familie hatte Rousseau bereits prägnant zu Beginn der Anmerkung zusammengefaßt: „[W]enngleich es für die menschliche Art vorteilhaft sein mag, daß die Verbindung von Mann und Frau beständig ist, so folgt daraus nicht, daß dies von der Natur so eingerichtet worden ist; andernfalls müßte man sagen, daß sie auch die bürgerliche Gesellschaft, die Künste, den Handel und alles, wovon man behauptet, daß es für die Menschen nützlich sei, eingerichtet habe."72 Hier wird die Position Rousseaus deutlich: Zwar existiert der Mensch im Naturzustand als ein sexuelles Wesen, nicht aber als der Träger einer sozialen Rolle, welche einer bestimmten Familien- bzw. Verwandtschaftsordnung zuzuordnen ist. Lokkes Versuch einer naturrechtlichen Ableitung der Familie, gemäß welcher das bürgerliche Gesetz nur ratifiziert, was in der Natur der Sache, der menschlichen Generativität, bereits angelegt ist, die Natur also eine unmittelbar präskriptive Funktion für die vernünftige menschliche Ordnimg übernimmt, ist für Rousseau kein gangbarer Weg. Das heißt aber auch, daß in umgekehrter Stoßrichtung auch Rousseaus Behauptung der anfanglichen radikalen Asozialität des Menschen im Naturzustand keine normative Valenz zukommt. Weil der naturzuständliche Mensch ein egozentrisch promiskes Sexualverhalten zeigt, sind nicht schon geschichtlich entstandene Beziehungsformen wie die elterliche und die eheliche Liebe, bzw. verwandtschaftliche Verhältnisse als ganze im Namen einer ursprünglichen Natur zu destruieren, wie es Voltaire Rousseau indigniert unterstellt hat73; gemeint ist lediglich, daß es sich bei den Institutionen von Ehe, Familie und Verwandtschaft um einen gesellschaftlich- kulturellen Erwerb, nicht hingegen um Einrichtungen der Natur handelt. Rousseaus Ausführungen im ersten Teil der Abhandlung über die Ungleichheit lassen keinen Zweifel daran, daß die menschliche Sexualität an sich nicht den Ausgangspunkt für einen Vergemeinschaftungsprozeß bildet, welcher kontinuierlich zu immer komplexeren Formen voranschreitet. Rousseau übernimmt also nicht das gängige Modell einer stufenweisen Entfaltung menschlicher Vergesellschaftungsformen, das bei der kleinsten gesellschaftlichen Einheit, dem Haus als der Organisationsform der individuellen und generativen Bedürfhisnatur des Menschen seinen Ausgang nimmt. Im Gegensatz zu dieser gleichermaßen in der Tradition wie im common sense verankerten Betrachtungsweise läßt sich nach Rousseau aus den Notwendigkeiten der generativen Natur des Menschen allein nicht schon eine erste Kerngestalt des Sozialen ableiten. Er verzichtet also darauf, die Soziabilität in der Weise in der menschlichen Reproduktionsfahigkeit zu verankern, daß bereits die Sexualität an sich den Menschen naturwüchsig für die Gemeinschaftsformen des Paares und der Familie prädestiniert. 72 73
OCP III, S. 216f. Vgl. George R. Hävens, Voltaires Marginalia on the Pages of Rousseau, New York 1966, S. 26f. und OCP III, S. 1374. Voltaire hat Rousseaus Ausführungen eine normative Absicht unterstellt und die Intention des seines Erachtens „völlig verwahrlosten Philosophen" Rousseau zutiefst mißverstanden. Voltaire sah seinerseits die Phänomene von Ehe, Elternschaft und Familie naiv als naturgegebene affektive Größen an.
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Rousseau spricht der menschlichen Sexualität eine genuin sozialitätsstiftende Kraft ab und schätzt im weiteren auch ihre sozialitätsgefährdenden Potenzen gering ein. So ist für Rousseau der menschliche Fortpflanzungstrieb keineswegs „eine schreckliche Leidenschaft", „die allen Gefahren trotzt, alle Hindernisse überwindet und in ihrer Raserei geeignet erscheint, das Menschengeschlecht zu zerstören, das sie zu erhalten bestimmt ist"74 so wie es sich z.B. für Pufendorf darstellt. Konflikthaft ist für Pufendorf der Naturzustand auch, weil der Mensch im Unterschied zum Tier in einem Zustand permanenter „Brunft" lebt75 und es nicht zuletzt diese ungeregelte Triebhaftigkeit ist, welche die moderierende Gegenkraft einer zivilen Gesetzgebung auf den Plan ruft. Dagegen macht Rousseau geltend, daß, sofern an der Liebesleidenschaft ebenso wie an allen anderen Leidenschaften „das Physische/ le physique" vom „Geistig-Seelischen/ le moral"76 zu unterscheiden ist, sich erst auf der Ebene des „Moralischen", im Kontext entfalteter Sozialität eine natürliche Bedürfhislage in eine leidenschaftliche Begehrensstruktur verwandeln kann. Der Mensch des Naturzustandes, dessen Existenz die Grenzen des rein Physischen nicht überschreitet, steht nicht in der Gefahr, von leidenschaftlichem Begehren affiziert zu werden. Leidenschaftliche Empfindungen richten sich auf präferierte Objekte - Präferenzen aber sind ein Werk der Einbildungskraft und eine Konsequenz der Fähigkeit, Vergleiche zu ziehen und Urteile zu fällen.77 Für den Menschen im Naturzustand ist es allem voran kennzeichnend, daß die „Einbildungskraft, die so viele Verheerungen unter uns anrichtet" nicht „zu wilden Herzen" spricht,78 so daß der natürliche Mensch in Hinblick auf seine Geschlechtlichkeit allein der Dynamik von Bedürfnis und Befriedigung überlassen bleibt, da er die Erfahrung des Liebesgefuhls nicht hat und so den Gefahrdungen durch Leidenschaften nicht ausgesetzt ist. Ebenso wie familiale Bindungen ein Phänomen darstellen, das nur im Rahmen der Vergesellschaftungsgeschichte aufgeklärt werden kann, gilt mit Rücksicht auf die geschlechtliche Liebe, daß sie durch Elemente des Künstlichen oder Konventionellen geprägt ist und damit ebenfalls ein gesellschaftliches Phänomen darstellt: „Sexuality is instinctive, but love is artificial."79 Diese Resultate einer ersten Lektüre des Zweiten Diskurs zeigen, daß, sofern Rousseau die Familie als die älteste und einzig natürliche Gesellschaft bezeichnet, sich damit für ihn nicht die Ansicht verbindet, daß eine erste basale Form von Sozialität sich un74 75 76 77
78 79
OCP III, S. 157. Samuel Pufendorf, Natur- und Völkerrecht II, 1, § 6. OCP III, S. 157: „Commençons par distinguer le moral du Physique dans le sentiment de l'amour." Vgl. auch Émile, OCP IV, S. 493 und S. 494. „Die Neigung des Instinktes ist unbestimmt. Ein Geschlecht wird zum anderen hingezogen, das ist die Bewegung der Natur. Die Wahl, die Bevorzugungen (.préférences'), die persönliche Anhänglichkeit sind das Werk der Einsicht, der Vorurteile, der Gewohnheit. Zeit und Kenntnisse sind erforderlich, um uns zur Liebe fähig zu machen; man liebt erst, nachdem man geurteilt hat, zieht erst vor, nachdem man verglichen hat." OCP III, S. 158. Judith N. Shklar, Men and Citizens, Cambridge 1969, S. 84; vgl. auch Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, a.a.O., S. 304.
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mittelbar aus der Generativität des Menschen ableiten ließe. Der Mensch ist von Natur aus asozial, die familiale Existenzweise ist der menschlichen Natur nicht wesensmäßig eingeschrieben Aus dem naturwüchsigen Sexualtrieb allein erwächst keine geschlechtliche Leidenschaft, aus den reproduktiven Potenzen der Gattung noch keine Verwandtschaftsordnung. Die Kennzeichnung „natürlich" zeigt also auch vor dem Hintergrund des Zweiten Diskurs nicht mehr an als eine Form von Vergesellschaftung, die nicht auf Vereinbarungen beruht. Die Genese der Familie wird im zweiten Teil des Zweiten Diskurs behandelt und d.h. sie wird in den Kontext der menschlichen Kultur- und Vergesellschaftungsgeschichte gerückt und als „älteste" der menschlichen Gesellschaften an ihren Anfang gestellt. Für eine genaue Untersuchung des Beginns der Vergesellschaftung, der Entstehung des l'homme de l'homme, bietet es sich an, dem Zweiten Diskurs den Essai sur l'origine des languesso zur Seite zu stellen. Zwischen den beiden Schriften besteht bekanntlich ein thematischer Chiasmus: Innerhalb des Zweiten Diskurs bildet das Problem des Sprachursprungs einen bedeutsamen Abschnitt, der vermutlich Anlaß für die umfassende Ausarbeitung der Sprachproblematik im Essai geboten hat, im Versuch über den Ursprung der Sprachen findet sich wiederum ein Kapitel, in welchem Rousseau seine Hypothesen zur Genese der Gesellschaft resümiert. 1.2.3
Discours sur l 'origine de l 'inégalité und Essai sur l 'origine des langues: ein Vergleich
Die Thematik der Familie wird von Rousseau weder im Zweiten Diskurs noch im Essai sur /'origine des langues ins Zentrum der Betrachtung gerückt. In beiden Schriften richtet er sein Augenmerk auf die Herausbildung von allgemeinen und umfassenden Formen der Vergesellschaftung: Im Zweiten Diskurs liegt der Fokus der Betrachtung auf den Entstehungsbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft, der Essai ist der Frage nach dem Ursprung der Sprachen als der ersten Stufe allgemeiner Vergesellschaftung gewidmet. Eine unterschiedliche Akzentuierung in Hinblick auf die Familienentstehungsproblematik ließe sich also vom jeweiligen thematischen Zuschnitt der Schriften her mehr oder weniger problemlos erklären. Indes finden sich nicht allein systematisch bedingte Differenzierungen bei der Behandlung der Familie zwischen den beiden Werken, sondern gerade in den Darstellungen der Familienfrage sind die auffälligsten Inkongruenzen zwischen beiden Werken versammelt. Dieser Umstand bedingt, daß die unabgeschlossene Debatte um das Datierungsproblem des Essai und damit der Streit um seine Stellung im „System" der Schriften Rousseaus, sich beharrlich um die differente Behandlung der Familienfrage im Vergleich zum Diskurs rankt, und der Familiengründungsproblematik damit mittelbar die Aufmerksamkeit der Interpreten zuteil 80
Im Weiteren zitiert als Essai, dt. Versuch über den Ursprung der Sprachen, in: Jean-Jacques Rousseau, Sozialphilosophische und Politische Schriften. In Erstübertragungen von Eckehart Koch ..., München 1981, S. 163-221.
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wird. Irritierend ist nämlich, daß im Essai neben einer kurzen Schilderung einer Familiengenese, die der Form nach mit der Konzeption des Zweiten Diskurs übereinstimmt, noch eine menschheitsgeschichtlich frühere Gestalt von Familie eingeführt wird. So viel sei vorweggenommen: Trotz der Inkommensurabilitäten zwischen dem Essai und dem Discours, welche auf den jeweilig zugrundegelegten Chronologien des menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsverlaufs fußen, läßt sich mit Bezug auf die Familie ein entscheidendes Merkmal herauspräparieren: Der Familie als erstem Sozialverband kommt mit Bezug auf die entscheidenden Passagen innerhalb der Menschheitsgeschichte, wie dem Übergang zur ersten allgemeinen Form von Vergesellschaftung im Medium der Sprache, oder der geschichtlich späteren Herausbildung der bürgerlichen Eigentumsgesellschaft keine relevante Rolle zu. Mehr noch: Trotz des unterschiedlichen Rekonstruktionsprofils zeigt sich in beiden Texten, daß die Familie in Hinblick auf die evolutionär markanten Vergesellschaftungsschübe gleichsam als ein Gegensatz zum Gesellschaftlichen zur Darstellung kommt. Die Familie erscheint als ein Effekt des umfassenden Vergesellschaftungsprozesses, bildet aber weder dessen Ausgangsbasis, noch ist sie im weiteren als ein konstitutives Element in die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung miteinbezogen und gerät somit gewissermaßen auf die Seite des Natürlichen im Sinne des Nicht-Gesellschaftlichen, eines Natürlichen, welches in der Form der Gemeinschaft der Gesellschaft schließlich kontrastierend entgegengesetzt wird. Aus diesem weit gefaßten Blickwinkel zeichnen sich die Umrisse von Rousseaus eigenwilliger Familienkonzeption ab. Die Familie kann nicht als natürlich in dem Sinne bezeichnet werden, daß sie als eine unmittelbare Folge der anthropologischen Grundausstattung des Menschen anzusehen ist. Der Familienverband als eine erste Form von Vergesellschaftung stellt sich nicht als unvermittelte, naturwüchsig-spontane Organisation menschlicher Generativität dar: Vielmehr bildet er eine Etappe im Rahmen der Vergesellschaftungsgeschichte, ohne hingegen einen entscheidender Faktor in deren Dynamik zu bilden; der Vergesellschaftungsprozeß folgt grundsätzlich anderen Mustern als denjenigen, die für die Familienverhältnisse charakteristisch sind. Die 81
Einen umfassenden Überblick über die v.a. in Frankreich geführte Debatte um Stellung und Relevanz des postum veröffentlichten Essai in Hinblick auf das Gesamtwerk Rousseaus bietet Charles Porset: >L'„inquiétante étrangeté" de ¡'„Essai sur l'origine des langues": Rousseau et ses exégètes, in: Studies on Voltaire and the l&h Century 154 (1976), S. 1715-1758. Von Relevanz für den vorliegenden Zusammenhang sind neben der maßgeblichen Untersuchung von Jacques Derrida (Grammatologie, übers, von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt/M. 1974, S. 283-459) vor allem der Beitrag von Michèle Duchet und Michel Launay: Synchronie et diachronie: 1'„Essai sur l'origine des langues" et le second „Discours", in: Revue internationale de philosophie 82 (1967), S. 421-442 und ferner Jean Mosconi: Analyse et génèse: regards sur la théorie du devenir de l'entendement au XVIIIè siècle (I), in: Cahiers pour l'Analyse 4 (1967), S. 46-82. Die Introduction zum Essai von Jean Starobinski im fünften Band der Pléiade-Ausgabe bietet neben der Orientierung zur Entstehungsgeschichte eine Zusammenschau der diversen Interpretationsansätze.
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weitreichenden Konsequenzen dieser Entkoppelung des Sozialverbandes Familie vom gesellschaftlichen Interaktionszusammenhang sind im weiteren noch detailliert auszuführen. Zunächst läßt sich festhalten, daß sich gleichermaßen im Essai wie im Diskurs ein Moment der Diskontinuität zwischen Familie und Gesellschaft, zwischen Familialität auf der einen und Gesellschaftlichkeit auf der anderen Seite festhalten läßt. Für Rousseau kann und darf es keine Kontinuität zwischen der Organisation der Familie und der politischen Organisation der Gesellschaft geben.82 Demgemäß geht die Sprache als „erste gesellschaftliche Einrichtung"83 - so die These des Essai - nicht aus den rudimentären Kommunikationsformen einer archaischen Sippe hervor, wie auch die Verkehrsformen der bürgerlichen Gesellschaft - so der Zweite Diskurs - nicht schon in familialen Beziehungsmustern vorgebildet sind. Diese Ergebnisse sind im Folgenden mit der Rekonstruktion der Genese der Familie im Diskurs und im Essai schrittweise einzuholen. Wenden wir uns zunächst dem Zweiten Diskurs zu. Das vorangegangene Kapitel war der Darstellung des asozialen Individuum des vorkulturellen Naturzustandes gewidmet, dessen Fortpflanzungstrieb keinen Verankerungspunkt für eine auch noch so dürftige Form von Vergemeinschaftung bietet. Nach der Schilderung dieses ersten hypothetischen Zustands äußerster menschlicher Primitivität läßt Rousseau, ,,[p] feilgeschwind unzählige Jahrhunderte" durcheilend, „wo der Fortschritt kaum spürbar ist und die Ereignisse in großer Langsamkeit aufeinander folgen", „den nahezu unmerklichen Fortschritt der Anfänge" weitestgehend unexpliziert, um um so schneller bei der „Epoche einer ersten Revolution, welche die Gründung und die Unterscheidung der Familien hervorbrachten" anzukommen.84 Zu diesem Zeitpunkt ist die Entfaltung humaner Potenzen, die sich dem Zusammenspiel von perfectibilité und zu Herausforderungen gewandelten äußeren Bedingungen verdankt, so weit fortgeschritten, daß das menschliche Individuum im Bewußtsein seiner Überlegenheit über die restliche Kreatur auch bereits eine Kenntnis des Mitmenschen gewonnen hat. Damit ist die Möglichkeit erster lockerer sozialer Gruppierungen eröffnet. Im Unterschied zu diesen nur temporären Zweckbündnissen - Rousseau spricht von „Horden" - markiert die Gründung von Familien die „Epoche der ersten Revolution"85. Mit dieser Kennzeichnung wird die Entstehung von Familien als eine markante Vergesellschaftungsetappe herausgestellt und zugleich von der späteren „großen Revolution" unterschieden,
82
Vgl. Michèle Duchet/ Michel Launay, Synchronie et diachronie: ¡'„Essai sur l'origine des langues" et le second „Discours", a.a.O., S. 439; vgl. auch: Jean-Jacques Rousseau, Politische Fragmente III ( Vom Gesellschaftsvertrag), in: Ders., Politische Schriften. Übersetzung und Einführung von Ludwig Schmidts, Paderborn, München, Wien, Zürich 2 1995, S. 209-282, S. 221: „Die große Gesellschaft hat sich nicht nach dem Vorbild der Familie bilden können ...".
83
Essai, S. 165/ OCP V, S. 375. OCP III, S. 167/181. Ibid.
84 85
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im Zuge derer mit der Erfindung von Metallbearbeitung und Ackerbau und der Etablierung von Privateigentum die bürgerliche Gesellschaft ihre endgültige Gestalt annimmt. Grundsätzlich unterscheidet Rousseau im Rahmen der Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft drei Alter des gesellschaftlichen Lebens - Wildheit, Barbarei und Zivi86
lisation : drei Etappen, denen die Gestalten des Jägers, des Hirten und des Ackermanns korrespondieren. Dieses Schema der Evolution konnte bereits zu Lebzeiten Rousseaus als eine „vérité bien connue"87 vorausgesetzt werden und stellt ein Modell dar, das in dieser Form bekanntlich noch von Morgan und Engels übernommen wird. Das mittlere Zeitalter der Barbarei, das sogenannte „Hüttenzeitalter", das zwischen dem Urzustand des solitären Wilden und der Epoche der vollständig entfalteten Gesellschaftlichkeit liegt, ist im Zweiten Diskurs als die Etappe der sich entwickelnden Seßhaftigkeit88 maßgeblich durch die Entstehung zweier sozialer Institutionen charakterisiert: durch die Entstehung des Haushalts aus dem Haus, d.h. der Entwicklung der Sozialform der Familie im Ausgang von der gemeinsam bewohnten Heimstatt und durch die Ausbildung einer allgemeinen Sprache. Rousseau bleibt gerade auch mit dieser Verkoppelung der evolutionären Schritte von Hüttenbau, Familienentstehung und Sprachursprung, wie Goldschmidt bemerkt, „conforme à la tradition"89; wobei die weitreichendesten Übereinstimmungen mit Lukrez bestehen. Der Schutzraum der Hütte stellt im Gegensatz zum „erstbesten Baum" oder zur „Höhle" ein Produkt menschlicher Arbeit und Kunstfertigkeit dar.90 In dem Maße wie sich der Mensch vom Naturzusammenhang durch eine künstlich geschaffene Behausung separiert, zieht er eine Trennlinie zwischen Innen und Außen: Eine abgegrenzte humane Sphäre verweist die Natur in den Außenraum während sich gleichzeitig im Schutze der Behausung Möglichkeiten der Ausdifferenzierung des psychischen Innenraums eröffnen. Da zudem im Kontext des Zweiten Diskurs die Entstehung der Familie nur als Gründung und Unterscheidung von Familienverbänden denkbar ist, so unterliegt auch der bislang undifferenzierte soziale Raum einer analogen Strukturierung: Im Geschlechter- und Generationenverband der Hütte bildet sich eine erste Form von Zusammenge86 87
88
89
90
Essai, S. 191/ OCP V, S. 400. Vgl. hierzu Victor Goldschmidt, Anthropologie et politique. Les principes du système de Rousseau, Paris 1974, S.418. Die Charakterisierung des „Hüttenzeitalters" schließt zwar ein nomadisierendes Hirtentum unter dem Zeichen des „Zeltes" nicht explizit aus, dennoch scheint Rousseau eher ein arkadisches Hirtenleben als z. B. ein biblisches vor Augen zu stehen - im Gegensatz zu Morgan und Engels. Victor Goldschmidt, Anthropologie et politique, a.a.O., S. 420. Vgl. Lukrez, De rerum natura. Lat./ dt. Übers, und mit einem Nachwort hg. von Karl Büchner, Stuttgart 1977, V, 1011-1018: „Dann erbauten sie Hütten, verschafften sich Felle und Feuer und da schloß nun der Mann mit dem einen Weibe den Ehebund. So ward das heilige Recht des ersten Herdes begründet und der Familie, im Kreis der dem Bunde entsprossenen Kinder. Jetzt erst wandte das Menschengeschlecht sich zu milderen Sitten." Dieser Schilderung folgt unmittelbar diejenige des Sprachursprungs: ibid., V, 1028ff. OCP III, S. 167/181.
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hörigkeit und Gemeinschaft aus; diese primäre soziale Gestalt steht in Konnex mit ähnlichen Verbänden, die gewissermaßen die soziale Außensphäre bilden. Wenn Rousseau im Zusammenhang mit der Familiengründung unbestimmt von einer „Art von Eigentum"91 spricht, so ist an diese erste, über den unmittelbaren individuellen Besitz von Leib und Leben hinausreichende Sphäre des Eigenen zu denken, an die primären Sozialbeziehungen, wie sie in der auf einen gewohnheitsmäßigen Umgang gegründeten Verbindung des Individuums mit „den Seinen" bestehen. Als eine Folge eines dauerhaften Zusammenlebens im Binnenraum der Hütte sind die „ersten Entwicklungen des Herzens"92 anzusehen. Im Gegensatz zur augenblickshaften rein physischen Existenzweise der „ersten Zeiten" und im Gegensatz zu den temporären, unsicheren und rein bedürfnisgeleiteten Kontakten zwischen nomadisierenden Einzelnen eröffnet sich im Zeitalter der Seßhaftigkeit die Dimension im Gefühl fundierter menschlicher Verbundenheit: „Die ersten Entwicklungen des Herzens waren das Ergebnis einer neuen Situation, welche die Ehemänner und die Ehefrauen, die Väter und die Kinder in einer gemeinsamen Wohnung vereinigte; die Gewohnheit zusammen zu leben, ließ die süßesten Gefühle, welche die Menschen kennen, entstehen: die Gattenliebe und die Elternliebe."93
Im Rahmen des Zweiten Diskurs führt Rousseau die Entwicklung eines Milieus liebendwohlwollender Verbundenheit als eine Konsequenz des gewohnheitsmäßigen Umgangs vor, welcher der Möglichkeit nach im geteilten Lebensraum gründet. Im Intimraum des Familienverbandes vollzieht sich die Auffaltung einer Dimension der Innerlichkeit und des Gefühls; der Mensch, der sich qua Behausung den elementaren Zusammenhängen des Physischen entkoppelt hat, hat für die Entstehung moralischer Beziehungsformen94, für die allmähliche Ausdifferenzierung expressiver Kommunikations- und Interaktionsformen einen ersten Raum und damit auch Möglichkeitsbedingungen ihrer Beständigkeit geschaffen. Rousseau deutet an dieser Stelle ein eingewurzeltes naturalistisches Begründungsmuster um: Nicht die in der Sexualität wurzelnde Geschlechtsliebe bildet die Ausgangsbasis für den Familienverband, sondern der intime und dauerhafte Umgang der Geschlechter und Generationen prägt allererst soziale Gefühlsmuster aus. Diese Betrachtungsart entspricht dem rekonstruktiven Stil des Zweiten Diskurs: spezifisch menschliche Potenzen, wie z.B. sympathetische Beziehungsformen stellen eine Folge bestimmter, durch die Verschränkung von inneren und äußeren Bedingungen hervorgebrachter bleibender Dispositionen dar. Auf die bemerkenswerte Tatsache, daß die ersten Formen liebender Verbundenheit in der Form der Gatten- und der Elternliebe der Geschlechterliebe genetisch vorausliegen, daß, wie Victor Goldschmidt treffend feststellt,
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Ibid.; vgl. dazu Abschnitt 2.2.2. OCP III, S. 168/183; vgl. dazu Kap. 4.2. OCP III, S. 168/183. Für Rousseau handelt es sich bei einem „moralischen Wesen" um ein „intelligentes, freies Wesen, das in seinen Beziehungen zu anderen Wesen betrachtet wird" (OCP III, S. 124/53).
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„die Ehe der Verlobung vorangeht''^® kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, wir werden später ausführlich darauf zurückkommen. Die Schilderung der Familiengemeinschaften zu Beginn des 2. Teils des Zweiten Diskurs legt nahe, daß mittels eines grundlegenden Bruches mit der Natur im Sinne der Schaffung eines permanenten Ortes und der Abgrenzung einer Enklave des Humanen die Rahmenbedingungen dafür geschaffen sind, daß innerhalb des familialen, generativen Verbandes der für Rousseau entscheidende Übergang von der rein physischen Ordnung der elementaren Bedürfnisse zur moralischen Ordnung der sozialen Beziehungen sich vollziehen kann. Aus menschlicher Technik entsteht das Haus und aus dem Haus erwächst die Institution des Haushalts als die auf Zuneigung und Freiheit gegründete Lebensform der Generationen. Auffallend ist jedoch, daß Rousseau dem Ursprung der Sprache, der neben der Familie zweiten gesellschaftlichen Institution des Hüttenzeitalters im Zweiten Diskurs nur eine kurze Andeutung widmet, die noch dazu mit einer gewissen Vagheit behaftet ist: „Man vermag hier ein wenig besser abzusehen, wie der Gebrauch der Sprache im Schöße einer jeden Familie unmerklich aufkommt oder sich vervollkommnet/ comment l'usage de parole s'établit ou se perfectionne insensiblement dans le sein de chaqué famille ,.." 96
Obgleich es nicht völlig von der Hand zu weisen ist, diesen Satz als einen Beleg für einen „häuslichen Ursprung" der Sprachen zu lesen, scheint Rousseau jedoch eher nahelegen zu wollen, daß sich der „Gebrauch der Rede" im intimen Kreis der Familie allein „unmerklich verfeinert" hat, d.h. daß die Ausdifferenzierung und Vertiefung interpersonaler Relationen einen Zuwachs an expressiven Möglichkeiten mit sich führt, weniger hingegen, daß der Ursprung der Sprache selbst in dem intimen Bezirk des familiären Umgangs zu suchen sei. Diese Lesart erscheint vor allem mit Rücksicht auf den Essai sur Vorigine des langues zutreffend, in welchem die Möglichkeit eines familialen Sprachursprungs kategorisch verneint wird: „Die wahren Sprachen sind keineswegs häuslichen Ursprungs, es bedarf zu ihrer Entstehung einer allgemeingültigeren und dauerhafteren Übereinkunft."97 Rousseau hat die Sprachursprungsthematik im Zweiten Diskurs nicht weiter ausgeführt und ihrer Behandlung mit dem Essai sur Vorigine des langues eine eigene Schrift gewidmet. Beide Schriften lassen keinen Zweifel daran, daß Vergesellschaftungsbeginn, Sprachursprung und Familienentstehung in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen, weniger klar stellen sich indes die Bedingungsverhältnisse zwischen diesen Faktoren dar. 95 96 97
„le manage précède lesfian?ailles"(Victor Goldschmidt, Anthropologie etpolitique, a.a.O., S. 422). OCP III, S. 168/185. Essai, S. 186/ OCP V, S. 395. Der familiale Ursprung der Sprache wird von Rousseau im Zweiten Diskurs an zwei Stellen diskutiert: im ersten Teil, wo eine Sprachentwicklung im Ausgang von der naturzuständlichen Mutter-Kind-Dyade erwogen wird, die jedoch ohne Konsequenzen bleibt, da keine Traditionsbildung stattfindet (OCP III, 147f./121), und an der o.g. Stelle, wo die Fortbildung und Vervollkommnung der Sprache im Familienmilieu betont wird. (OCP III, 168/185)
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Der Versuch einer stringenten Rekonstruktion der Familienentstehung sieht sich noch dazu mit einem weiteren Problem konfrontiert: Neben der Familie des „Hüttenzeitalters" fuhrt Rousseau im Essai noch eine zeitlich frühere, radikal vorgesellschaftliche, inzestuöse Form von Familie ein.98 Mit dieser den genetischen Zusammenhang des Zweiten Diskurs durchkreuzenden Differenzierung in Bezug auf die Familie wird die Position des Zweiten Diskurs konterkariert, welche besagt, daß es sich mit der Familie um die erste soziale Formation im Rahmen des Vergesellschaftungsprozesses handelt. Die sonderbar anmutende Konstruktion einer naturwüchsig-archaischen Fortpflanzungssippe, die in einem der Chronologie des Discours nicht kommensurablen Zeitraum angesiedelt ist, da sie weder dem Stadium der naturzuständlichen Isoliertheit der Individuen, noch der Ära der barbarischen Familialgesellschaften zuzuschlagen ist, leistet vorderhand einem naturalistisch-biologischem Familienverständnis Vorschub. An dieser Stelle eröffnet sich, wie eingangs bemerkt, ein weites Diskussionsfeld über den systematischen Bezug zwischen beiden Schriften, innerhalb dessen sich wie mir scheint folgende Interpretationslinie durchgesetzt hat: Konsens besteht in dem Punkt, daß Rousseau im Rahmen des Zweiten Diskurs die Reflexion auf „den Anfang", den präkulturellen Grenz- und Ausgangspunkt der Menschheitsgeschichte in den Vordergrund rückt, ebenso wie das mit dem Versuch seiner hypothetischen Rekonstruktion verbundene Methodenproblem, während er im einschlägigen IX. Kapitel des Essai seine Aufmerksamkeit verstärkt auf „die Anfange" richtet, auf die komplexen Bedingungsverhältnisse, die den Vergesellschaftungsprozeß initiieren." Mit dieser Interpretationsvorgabe werden beide Schriften in eine fruchtbare Beziehung zueinander gesetzt, insofern vorausgesetzt wird, daß im Kontext des Essai über den Ursprung der Sprachen diejenigen Zusammenhänge in Feineinstellung expliziert sind, die im Rahmen des Zweiten Diskurs von Rousseau der Tendenz nach nur überschlägig resümiert werden. Die einschlägigen Passagen des Essai stehen demnach nicht im Widerspruch zu den Ausfuhrungen des Discours, sondern sie ergänzen die dort stellenweise nur unzureichende Auffaltung der entwicklungsgeschichtlichen Verläufe. In diesem Sinne halten Duchet und Launay fest: „La Chronologie de VEssai comble les vides de celle du Discours, eile ne la contredit pas."100
98
Essai, Kapitel IX. „Der Discours will den Anfang kennzeichnen: Er verschärft also die Züge der Jungfräulichkeit im Zustand reiner Natur und radikalisiert sie. Der Essai will die Anfinge, will jene Bewegung spürbar machen, in der die ,iiber die weite Erde verstreuten Menschen' sich in der entstehenden Gesellschaft kontinuierlich aus dem Zustand reiner Natur herauslösen." (Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 434) 100 Michèle Duchet, Michel Launay, Synchronie et diachronie ..., a.a.O., S. 434; vgl. auch die Einschätzung Dérathés: „C'est dans le chapitre IX de l'Essai sur l'origine des langues que l'on trouve les éclaircissements destinés à compléter cette indication sommaire du Discours sur l'inégalité. Cet chapitre traite en effet autant de l'origine des sociétés que l'origine des langues." (Robert Derathé, Jean-Jacques Rousseau et la science politique de son temps, a.a.O., S. 178f.) 99
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Diese Vorgabe fordert jedoch in verstärkter Weise zur Auflösung des Widerspruchs zwischen den beiden auf den ersten Blick unvereinbaren Familienmodellen von Discours und Essai auf, will man an dieser Stelle nicht den gängigen Lesarten folgen, welche wegen des ohnehin marginalisierten Status der Familienproblematik den Thesen des postum veröffentlichten Essai angesichts der verbrieften Autorität des Zweiten Diskurs als der „Vorrede zum System" gemeinhin keine gesonderte Beachtung schenken. Zieht man allein Rousseaus Ausfuhrungen am Ende des IX. Kapitels des Essai in Betracht, so läßt sich von dort ohne Schwierigkeit zur Darstellung der Familienentstehung im Zweiten Diskurs überblenden: Die Entstehung der „ersten Familienbande" bildet in beiden Schriften den zentralen Aspekt in der Schilderung des „Goldenen Zeitalters", der Ägide der ersten Formen von Vergesellschaftung, für welche die Ausdifferenzierung der Sprachen, die Individualisierung der Beziehungen, dauerhafte Bindungen innerhalb der Familie und Verbindung und Verkehr zwischen den Familien kennzeichnend sind. Die Sachlage wird indes komplizierter durch einen halbironischen Einwand, den Rousseau sich selbst gegenüber macht: „Wie denn! Wurden vor dieser Zeit die Menschen aus der Erde geboren?" Es fragt sich nämlich, ob man sich die Menschen bis dato als „aus der Erde geboren" vorzustellen hat und ob die Generationen einander gefolgt sind, „ohne daß die zwei Geschlechter sich vereinigt hätten". Darauf antwortet Rousseau wie folgt: „Nein, es gab wohl Familien, aber es gab keine Völker. [...] Jede Familie genügte sich selbst und pflanzte sich allein durch ihr eigenes Blut fort. Die Kinder derselben Eltern wuchsen miteinander auf und fanden ganz allmählich Arten und Weisen, sich untereinander zu verständigen. Die Geschlechter erkannten einander mit zunehmenden Alter, die natürliche Neigung reichte hin, sie zu vereinigen; der Instinkt stand anstelle der Leidenschaft, die Gewohnheit stand anstelle des Vorzugs, man wurde Ehemann und Ehefrau ohne aufgehört zu haben Bruder und Schwester zu sein."101
Mit dieser Beschreibung ist nun die endogame, bloß physische „Familie der ersten Zeiten" 102 umrissen, die sich nicht in das zeitliche Schema des Zweiten Diskurs integrieren läßt. Sie erscheint jenseits des Zeitalters der Wildheit und der Isoliertheit der Individuen, aber noch diesseits jeglicher Form von Gesellschaftlichkeit in der Gestalt eines biologisch-naturwüchsigen, präinstitutionellen Phänomens. Mit diesem archaischen Familienverband wird die urzeitliche Zerstreuung des Menschengeschlechts nicht überwunden: Zwar sind einzelne Menschen zu Familien geeint, aber das Menschengeschlecht als ganzes bleibt zerstreut. Den Mitgliedern dieses inzestuösen Verbandes stehen für die wechselseitige Verständigung allein „die Gebärde und einige undeutliche
101 102
Essai, S. 197f./ OCP V, S. 405. Essai, S. 185/ OCP V, S. 395: „In den ersten Zeiten hatten die über die Erde verstreut lebenden Menschen als Gesellschaftsform nur die der Familie".
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Laute" zur Verfugung, auch Einbildungskraft, Erinnerungs- und Reflexionsvermögen sind noch unentfaltet.103 Im Kontext der Frage nach dem Ursprung der Sprachen bildet die Gestalt der Inzestfamilie104 eine prähistorische, vorsoziale und vorsprachliche Ausgangsschicht. Mit ihren Merkmalen der Vereinzelung, der Sprachlosigkeit, der ungebrochenen Dominanz der präreflexiven Empfindung und der Erinnerungs- und Einbildungslosigkeit der Individuen zeigt sie dem solitären Urzustand des Individuums im Zweiten Diskurs analoge Züge: In beiden Schriften fungiert diese Art der Urschicht, wie Derrida es formuliert, als der .jungfräuliche Boden jedes sozialen, historischen und sprachlichen Geschicks".105 Mit der Inzestfamilie entwirft Rousseau eine Grenzgestalt von Gemeinschaft, deren wesensmäßige Beschränktheit die Ausdifferenzierung von Mustern allgemeiner Verständigung und allgemeiner Vergesellschaftung grundsätzlich nicht zuläßt. Menschliche Einbildungskraft und Reflexionsfähigkeit sind gar nicht oder zu schwach entwickelt, als daß die allgemeine Idee des Mitmenschen sich entwickeln könnte. Im Medium der Kohabitation kann sich zwar eine konkrete Anschauung eines Familienangehörigen ausbilden, nicht aber der Begriff des Menschen: „Sie hatten die Vorstellung von einem Vater, einem Sohn, einem Bruder, nicht aber von einem Menschen"106; ebenso wie sich zwar eine Art verwandtschaftlicher Bindung ausbildet, sich aber nicht die im Mitfuhlen begründete gattungsmäßige Verbundenheit erschließt und mit ihr die Idee einer allgemeinen Brüderlichkeit: „Keinerlei gemeinsame Vorstellung von Brüderlichkeit verband sie miteinander."107 Aus der emotional-mentalen Beschränktheit dieses reinen Bluts- und Reproduktionsverbandes führt kein Weg zur Universalität des Menschengeschlechts:
103
Essai, S. 186f./ OCP V, S. 395. Jean Starobinski verweist auf mögliche Quellen zur Frage des Inzestes (OCP V, S. 1566f.). Der Artikel „Inceste" der Enzyklopädie hält u.a. fest, daß: „au commencement du monde, & assez longtems depuis le déluge, les mariages entre frères & soeurs, entre tante & neveu, & entre cousinsgermains, ont été permis. [...] Il n'y a que des barbares qui les ayent permis". Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences des Arts et des Métiers, hg. von Denis Diderot und Jean Le Rond d'Alembert, Paris 1751-1780, Bd. 8, S. 645. Möglicherweise waren Rousseau auch die Ausführungen Pufendorfs in der Übesetzung durch Barbeyrac bekannt. Pufendorf betont stark den rein konventionellen Charakter des Inzestverbots: „L'inceste consiste dans un commerce illicite avec une personne, dont le loix veulent qu'on abstienne, à cause du repect qu'on doit à la proximité du sang en vertu d'une autre loi; et ainsi du reste. Et certainement, si vous ôtez de toutes ces choses-là ce qu'il y a de Moral dans l'Action ou le rapport à la Loi; l'acte Physique ne renferme par lui-même aucune contradiction, qui doive le faire regarder comme nécessairement deshonnête avant l'établissement d'aucune loi." Samuel Pufendorf, Le Droit de la nature et des gens, übers, von Jean Barbeyrac, Amsterdam 1706, Buch I, Kap. II, § 6. 105 Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O. S. 432. 106 Essai, S. 187/ OCP V, S. 396. 107 Essai, S. 186/ OCP V, S. 395. 104
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VORKLÄRUNGEN: TRADITIONS- UND POSITIONSBESTIMMUNGEN „Ihre Hütte beherbergte alle, die ihnen gleich waren, ein Fremder, ein wildes Tier, ein Ungeheuer waren für sie ein und dasselbe: Außerhalb ihrer selbst und ihrer Familie galt das gesamte Universum ihnen nichts."108
Die hermetische Inzestfamilie der Urzeiten und die geschichtlich spätere Familie des sogenannten Goldenen Zeitalters stehen in keinem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang. Ein konstitutives Merkmal der Familie der Vergesellschaftungsepoche ist nämlich ihre exogame Organisation, d.h. sie steht notwendig im Konnex mit anderen Familien109, sie ist eingebettet in ein Netz interfamiliärer Relationen, welches sich im geschichtlichen Verlauf zur „Nation", zu einem auf einer gemeinsamen Sprache und gemeinsamen Sitten fußenden Großverband von Familien ausdifFerenzieren wird. Die Exogamieregel, d.h. die Tatsache des Kommerzium zwischen den Familien und die damit verbundene, das Inzestverbot implizierende exogame Geschlechtspartnerwahl wird im Rahmen des Essai zusammen mit dem Ursprung der Sprachen als der eigentliche Anfang von Gesellschaftlichkeit herausgestellt: „Dies mußte der Ursprung der Gesellschaften und der Sprachen [...] gewesen sein. Dort bildeten sich die ersten Familienbande; dort trafen zum ersten Mal die beiden Geschlechter zusammen." 110 Darüber hinaus zeigt der Essai, daß Sprache und Exogamie, obzwar in ihrem Erscheinen voneinander unabtrennbar, nicht aufeinander rückfuhrbar sind; sie können zudem aus den ihnen vorausliegenden Bedingungen nicht zureichend abgeleitet werden. Das kontingente Auftreten der vergesellschaftenden Faktoren von Sprache und Exogamie markiert den ersten entscheidenden Einschnitt in der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Hier gilt es kurz einzuhalten: In der Schilderung der evolutionären Brüche innerhalb der Naturgeschichte der Menschheit manifestiert sich nämlich eine spezifische methodische Problemstellung, insofern Rousseau in seinen beiden genetisch-rekonstruktiven Schriften, dem Zweiten Diskurs und dem Essai, einer zweifachen Aufgabenstellung Rechnung zu tragen hat. Auf der einen Seite geht es darum, gemäß den Vorgaben des evolutionären Drei-Stadien-Schemas der Menschheitsentwicklung von Wildheit, Barbarei und Zivilisation eine Genesis, d.h. die Rekonstruktion eines in prähistorische Dimensionen zurückreichenden Entwicklungszusammenhanges zu konzipieren, auf der anderen darum, jede neu erreichte Entwicklungsstufe in ihrer Spezifizität adäquat zur Darstellung zu bringen. Diese zweifache Anforderung verleiht, worauf v.a. Jacques Derrida hingewiesen hat, der Vorgehensweise Rousseaus ihren charakteristischen Zuschnitt. Einerseits geben sich aus genetischer Perspektive die inneren Verkettungen und Zusammenhänge des natürlichen Gangs der Dinge zu erkennen, andererseits erweisen sich diejenigen evolutionären Sprünge, die ein neues Entwicklungsstadium einleiten, als strukturelle Brüche und als irreduzibel in ihrem innovativen
108 109
110
Ibid. Vgl. Roger D. Masters, The Political Philosophy of Rousseau, a.a.O., S. 169: „The familiy is not .established' until it is .differentiated' from other families." Essai, S. 197/ OCP V, S. 405.
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Charakter.111 Die Integration dieser diskontinuierlichen Elemente in den entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang, d.h. die Konzeptualisierung der innovativen Entwicklungsschübe, leistet bei Rousseau ein Schema, mittels dessen die Bedingungen des geschichtlichen Fortschritts expliziert werden können. Dieses operative Schema - von Rousseau selbst nicht reflexiv eingeholt - folgt dem Dreischritt von Provokation Antwort - Konsequenzen 112, in der Weise, daß der Mensch kraft der Perfektibilität im Medium von innovativen Bewältigungsstrategien auf eine Herausforderung durch äußere Umstände reagiert, ein Umstand der seinerseits unabsehbare und unkalkulierbare Konsequenzen hervortreibt. Die menschheitsgeschichtlichen Umwälzungen stellen also Reaktionen auf externe Provokationen dar, sie sind als ein Effekt von Katastrophen, nicht zuletzt als Folgen der Intervention der Vorsehung zu begreifen, in jedem Fall verdanken sie sich kontingenten Umständen. Im Zweiten Diskurs benennt Rousseau allgemein „Schwierigkeiten" und „Hindernisse der Natur"113, im Essai spricht er von Naturereignissen drastischerer Art wie „Überschwemmungen, Springfluten, Vulkanausbrüchen, großen Erdbeben, Feuersbrünsten"114, schließlich ist es Fingerzeig der Vorsehung, welcher an entscheidender Stelle aus denkbar größter Ferne agiert und mit der axialen Verschiebung der Erde im Verhältnis zur Sonne den perennierenden Frühling der Menschheit beendet und durch den Wechsel der Jahreszeiten und die Varietät der Klimate die Entwicklung der Sozialität initiiert: „Er, dessen Wille es war, daß der Mensch in Gesellschaft lebe, berührte mit dem Finger die Achse der Erdkugel und neigte sie zu der des Universums hin."115
Bezieht man diese Überlegungen zurück auf den vorliegenden Kontext, ergibt sich folgendes Bild: Der Übergang zur exogamen Verwandtschaftsordnung und der Ursprung der Sprachen, kurz der Beginn der Vergesellschaftung, verdankt sich dem Anstoß durch 111
112
„Die strukturelle Zäsur ist einschneidend, aber die historische Zäsur vollzieht sich allmählich, mühsam, fortschreitend und unmerklich. Auch was diese doppelte Zeitlichkeit angeht, stimmt der Essai mit dem Discours überein." (Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 437)
Jean Starobinski hat dieser Tiefenlogik Rousseaus eine detaillierte Analyse gewidmet. (Jean Starobinski, Interpretation des „ Turiner Gala-Dîners " aus den Bekenntnissen von Jean-Jacques Rousseau, in: Ders., Psychoanalyse und Literatur. Aus dem Französischen von Eckhart Rohloff, Frankfurt/M. 1990, S. 167-220) 113 OCP III, S. 165/175. 114 Essai, S. 193/ OCP V, S. 402. 115 Essai, S. 192/S. 401. Vgl. auch: Politische Fragmente X: Der Einfluß des Klimas auf die Zivilisation, a.a.O., S. 258: „Die Weltachse mit dem Finger neigen oder dem Menschen sagen: Bevölkert die Erde und seid verträglich, wäre für den das gleiche, der keinen Finger zum Handeln und keine Stimme zum Reden braucht./ Couvre la terre et sois soçiable, c'est la même chose pour Celui qui n'a besoin ni de main pour agir ni de voix pour parler" (OCP III, S. 531). Robert Derathé resümiert prägnant: ,Ainsi Rousseau ne peut faire sortir l'homme primitif de l'isolément dans le quel il l'a placé sans faire intervenir la Providence." (Jean-Jacques Rousseau et la science politique de son temps, a.a.O., S. 180)
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externe Faktoren. Gleichviel ob diese Faktoren physischer oder metaphysischer Art sind, Rousseau liefert fur den Eintritt des Menschen in die Vergesellschaftungsgeschichte nicht mehr als, wie Robert Derathé festgestellt hat, „une explication purement arbitraire"116. Hier kann es genügen, Rousseaus Rekonstruktion der Sprachentstehung nur im Umriß zu skizzieren: Die Entstehung globaler Klimazonen zwingt die Menschen zum rassemblement, zur Vereinigung, wobei die Bewohner nördlicher Klimastriche dem Diktat der materiellen Notwendigkeiten der Subsistenzsicherung unterstellt bleiben, und ihre Art der Kommunikation sich in einem instrumenteilen Charakter erschöpft. Demgegenüber ist es der Bevölkerung südlicher Landstriche vorbehalten, in einem zweckentbundenen freien Akt, den Rousseau in das lyrische Bild der ersten Feste bannt, Sprache als reine Expressivität entstehen zu lassen.117 Im Rahmen des evolutionären Schemas von provocation und réponse korrespondiert der Kontingenz der äußerlichen Verursachung auf der einen Seite der menschliche Akt von Freiheit und Spontaneität auf der anderen, mit welchem er auf seine veränderte Umwelt reagiert: Die Sprache verdankt sich der in der perfectibilité verankerten menschlichen Spontaneität. Rousseaus berühmte Schilderung der „Feste an den Brunnen"118 stellt den Versuch dar, mit dem Mittel der sprachlichen Allegorisierung diesen ebenso komplexen wie unableitbaren Moment der Sprachentstehung und des Gesellschaftsbeginns und damit den Übergang von der physischen zur moralischen Ordnung anschaulich zu ...
vergegenwärtigen.
119
„Dies mußte der Ursprung der Gesellschaften und der Sprachen in den warmen Ländern gewesen sein. Dort bildeten sich die ersten Familienbande; dort trafen zum ersten mal die beiden Geschlechter zusammen. [...] Dort begannen die Augen, die von Kindheit an mit denselben Gegenständen vertraut waren, Anmutigeres zu sehen. Das Herz erfreute sich angesichts dieser neuen Gegenstände [nouveaux objets], ein unbekannter Reiz besänftigte seine Wildheit, es
116
Robert Dérathé, Jean-Jacques Rousseau et la science politique de son temps, a.a.O., S. 180. Es ist gerade nicht so, wie Fetscher meint, daß ,,[d]ie kälteren Klimata, welche eine stärkere Kraftentfaltung des Menschen verlangen, [...] daher auch die Heimat der Vergesellschaftung [sind]." Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, a.a.O., S. 39 Nördliche und südliche Breiten unterscheiden sich grundsätzlich in ihrem Vergesellschaftungscharakter, welcher sich in der regionalen Eigenart der Sprache niederschlägt. Der fundamentale Appell des Nordens ist: „aidez-moi", deijenige des Südens: „aimez-moi" - erst im Süden kann sich das Begehren vollständig vom Bedürfnis lösen, dies bildet fur Rousseau den eigentlichen Beginn von Gesellschaft und den Übergang von der physischen zur moralischen Ordnung. 118 Essai S. 197/ OCP V, S.405f. Rousseau macht auch hier deutliche Anleihen bei Lukrez. Vgl. dessen Schilderung der Geburt der Musik aus dem Fest, Von der Natur der Dinge, V, 1390-1402. 119 Der menschheitsgeschichtliche Fortschritt von der rein physischen zur moralischen Ordnung ist für Rousseau die erste „Denaturierung" des Menschen, und als solche Bedingung von Kultur überhaupt. Im Essai markieren die Ersetzung der Geste durch die Sprache, die Ablösung des Instinkts durch das Begehren und die Substitution des Fortpflanzungsverbandes durch die Familie die entscheidenden Faktoren dieses Übergangs. Vgl. dazu: Jean Mosconi: Analyse et génèse: regards sur la théorie du devenir de l'entendement au XVIIIè siècle (1), a.a.O., S. 82.
117
NATURZUSTAND UND FAMILIE
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fühlte das Vergnügen nicht allein zu sein. [...] Nach und nach zähmte man einander; indem man sich mühte, gehört zu werden, lernte man, sich zu erklären. [...] Hier endlich stand die wahre Wiege der Völker, und dem reinen Kristall der Brunnen entsprangen die ersten Feuer der Liebe."120
Rousseau schildert den geschichtlichen Augenblick, in welchem der Mensch das kreatürliche Reich der Notwendigkeit, in welchem er von seinen Bedürfnissen regiert wird, verläßt und die ersten Regungen der Seele in der Gestalt von Gefühlen und Wünschen verspürt, wobei sich ihm zugleich der Andere als Mitmensch und Gegenüber und als der Adressat dieser evolutionsgeschichtlich neuartigen Form des Begehrens erschließt. In diesem Moment eröffnet sich dem Menschen gleichermaßen die Möglichkeit, sich selbst Ausdruck zu verleihen. Bei diesem Erwachen subjektiver Expressivität erweisen sich die innere und die äußere Dimension des Geschehens ineinander verschränkt: Das Gefühl gibt sich Ausdruck im Medium der Sprache und materialisiert sich im Rahmen der konventionellen Zeichenordnung. Indem das Individuum sich selbst Ausdruck verleiht, richtet es sein Begehren auf die Anerkennung durch den Anderen und vermag sich im Medium der Sprache als der ersten gesellschaftlichen Einrichtung an ihn zu adressieren. Die Innerlichkeit des subjektiven Gefühls und Verlangens und die äußere Realität des Anderen werden so in der Dimension des sprachlichen Ausdrucks vermittelt. Der Beginn der Vergesellschaftung, in dem für Rousseau das Grundmuster der Sozialität beschlossen ist, liegt in dieser sich intersubjektiv vermittelnden Expressivität des Individuums. Das obenstehende Zitat zeigt darüber hinaus, daß für Rousseau der Ursprung der Sprachordnung unmittelbar mit der Etablierung der Verwandtschaftsordnung, d.h. mit der Gründung und Unterscheidung von Familienverbänden, der „Bildung der ersten Familienbande" verbunden ist. Das Moment, das es erlaubt, zwischen Sprache und exogamer Verwandtschaftsordnung einen inneren Zusammenhang herauszustellen - der von Rousseau indes nicht expliziert wird - liegt im Phänomen der Substitution, insofern Sprachordnung und Exogamieregel gleichermaßen wesensmäßig auf Substitution basieren. Im Falle der Sprache ist es die Ersetzung der Sache durch das Wort, die die Möglichkeit einer allgemeinen Kommunikation gewährleistet, im Falle der Exogamieregel die Ersetzung von Mutter/ Schwester bzw. Vater/ Bruder durch, die Tochter bzw. den Sohn der anderen Familie, welche den inzestuösen Familienverband aufsprengt und die Möglichkeit einer allgemeinen Form von Gesellschaftlichkeit eröffnet. Das Exogamiegebot impliziert die entscheidende Möglichkeit, die in der Inzestfamilie grundsätzlich nicht angelegt ist: die Möglichkeit das Begehren auf ein entferntes, unvertrautes und prekäres Objekt zu richten, auf das, wie Starobinski formuliert: „l'objet le plus extérieur, la jeune fille de l'autre famille"121.
120 121
Essai, S. 197/ OCP V, S. 405f. Jean Starobinski, Introduction zum Essai sur l'origine des langues, OCP V, S. CLXXXVI.
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VORKLÄRUNGEN: TRADITIONS- UND POSITIONSBESTIMMUNGEN
Es würde den vorliegenden Rahmen sprengen, die Diskrepanzen zwischen dem Sprachursprungsaufsatz und dem Zweiten Diskurs abschließend klären zu wollen. Beschränkt man sich indes auf das hier interessierende Verhältnis von Familie und Vergesellschaftung, dann kommt eine vergleichende Lektüre von Essai und Discours zu folgendem Resultat: Mit Rücksicht auf die Problematik von Vergesellschaftung und Familienbildung erweist sich die Darstellung im Essai als differenzierter als die einschlägigen Ausführungen im Zweiten Diskurs. Der Ursprung eines allgemeinen Verständigungsmediums und einer allgemeinen Verwandtschaftsordnung markieren den Beginn der Vergesellschaftung. Die Vergesellschaftungsgeschichte hebt nicht, wie es die Ausführungen im Zweiten Diskurs für sich allein betrachtet mißverständlich suggerieren könnten, mit den im gewohnheitsmäßigen Umgang ausgebildeten familiären Beziehungen an, diese setzen vielmehr eine allgemeine Vergesellschaftung bereits voraus. Von einer „natürlichen" Familie führt kein Weg zur Gesellschaft, das lehrt der Essai mit der Hypothese der Inzestfamilie. Die Familie etabliert sich im Zuge des Vergesellschaftungsprozesses, sie bildet nicht dessen natürliche Ausgangsbasis: Im Schöße der Familie als reinem Reproduktionsverband schlummern keine vergesellschaftenden Potenzen. Die Familie des Goldenen Zeitalters mit ihrem wesenhaft emotional-personalen Charakter etabliert sich in Folge des uneinholbaren und kontingenten Vergesellschaftungsbeginns, der sich in den Institutionen von Sprachordnung und Exogamieregel manifestiert. Im Aufbau des Zweiten Diskurs ist die Behandlung der Vergesellschaftungsproblematik der Rekonstruktion der Familienentstehung nachgeordnet, die Behandlung der Familie vor die der Gesellschaft gerückt, was dem Umstand geschuldet ist, daß für Rousseau in der Abhandlung über die Ungleichheit primär die der gesellschaftlichen Existenzweise inhärente Problematik des amour-propre im Zentrum steht, weniger die Explikation der Anfänge von Vergesellschaftung, von Gesellschaftlichkeit allgemein. Rousseau hat im Zweiten Diskurs vor allem die zweite menschheitsgeschichtliche Revolution im Visier, die Gründung der bürgerlichen Gesellschaft, im Gegensatz zum Essai, in dessen Mittelpunkt die erste Revolution, der Beginn der Vergesellschaftung steht. Vor diesem Hintergrund fokussiert er im Diskurs vorrangig die nach der Gründung der Familien sich stetig akzeptierende Vergesellschaftungsdynamik, für die außer-familiale Ursachen angeführt werden können: die sozialpsychologische des Prestiges, des Bedürfnisses nach gesellschaftlicher Anerkennung und die ökonomischen der Eigentumsbegründung und der Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Der Roussauschen Evolutionslogik entsprechend treibt der Eintritt in die gesellschaftliche Lebensweise für den Menschen unbeabsichtigte und unkontrollierbare Konsequenzen hervor - der Discours nimmt den Faden an der Stelle auf, wo der Essai endet und widmet sich der Schilderung der Mechanismen einer unaufhaltsam vorantreibenden Vergesellschaftungsgeschichte als Verfallsgeschichte. In diesem reißenden Strom, den die Entstehungsgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, wird die Familie als eine Enklave mittransportiert. Diesem Umstand verdankt es sich, daß in ihrem Kern etwas von der reinen Anfanglichkeit des gesellschaftlichen Schicksals des Menschen bewahrt
NATURZUSTAND UND FAMILIE
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bleibt - das Moment einer unmittelbaren und unverzerrten Expressivität des Individuums, das sich im Medium der Sprache Ausdruck gibt und sich in seiner Einzigartigkeit und Unvertretbarkeit im Angesicht des Anderen in seinem inneren Reichtum erstmalig selbst erfahrt. Was im Rahmen der Menschheitsgeschichte einen glücklichen, aber flüchtigen Moment darstellt, der in der emphatischen Schilderung des Essai beschworen wird, bleibt als ein konstitutives Moment im Kern der Familie erhalten, die von der Dynamik zunehmender gesellschaftlicher Veräußerlichung verschont bleibt.
2. Die Entstehung der Familie im Discours sur l'inégalité
2.1 Vorvertragliche Sozietäten: Nation und Familie Unmittelbar nach der Evozierung des „geheiligten Rechts" der auf menschlicher Vereinbarung fußenden gesellschaftlichen Ordnung im ersten Kapitel des ersten Buchs des Contrat Social kommt Rousseau im zweiten Kapitel auf den natürlichen Status der Familie zu sprechen. Nun hatte den Ausgangspunkt der vorliegenden Überlegungen das Problem geliefert, daß, wie Masters formuliert, für Rousseau die Familie „die erste Gruppe darstellt, die er eine .société' und die einzige, die er je .natürlich' nennt".1 Diese Charakterisierung zeigt das Problem an, um das es im folgenden geht: Nach Rousseau existiert der Mensch im Naturzustand als ungeselliger Solitär, der Zusammenschluß zu einer „société" hingegen bedeutet im traditionellen naturrechtlichen Verständnis gerade das Verlassen des Naturzustandes und den Beginn einer „ k ü n s t l i c h e n " , konventionellen Ordnung des Zusammenlebens. Um die Kennzeichnung der Familie als einer „natürlichen Gesellschaft" plausibel zu machen, müssen die spezifischen Weichenstellungen, die Rousseau in Hinblick auf die Vorgaben der Naturrechtslehren im Deuxième Discours vornimmt, eingeholt werden. Blickt man zunächst noch einmal auf den Gesellschaftsvertrag, so läßt die Positionierung der Familienproblematik erkennen, daß sie in den Kontext der Frage politischer Legitimität gestellt ist. Wie die Erörterung des Rechts des Stärkeren im 3. Kapitel und die Diskussion des Unterwerfungsvertrags im 4. Kapitel hat auch die Behandlung der häuslichen Gewalt im 2. Kapitel abweisenden Charakter: Es geht darum, die Unhaltbarkeit etablierter Legitimationsmuster politischer Gewalt aufzuzeigen. Die Bestimmung der Familie erfolgt nur ex negativo, insofern als ihre Apostrophierung als „natürlich" Index ihrer Untauglichkeit ist, als ein Paradigma für „künstliche", d.h. vertragsförmige und damit allein legitime Herrschaftsverhältnisse zu fungieren. Was darüber hinaus positiv unter einer „natürlichen Gesellschaft" zu verstehen ist, läßt sich nicht auf der
1
Vgl. Roger D. Masters, The Political Philosophy of Rousseau, a.a.O., S. 169.
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DIE ENTSTEHUNG DER FAMILIE IM DISCOURS SUR L 'INÉGALITÉ
Basis des Contrat Social klären, hier läßt sich nur anhand des Deuxième Discours Aufschluß gewinnen. Während Rousseau sich im Rahmen der ersten beiden Bücher des Gesellschaftsvertrags auf der rein rechtslogischen Ebene der Vertragstheorie bewegt, stellt er im Zweiten Diskurs das kontraktualistische Argument in den Rahmen einer geschichtsphilosophischen Rekonstruktion der Entstehung von Gesellschaft und Herrschaft: Die Vertragstheorie wird in ihrem rein juridischen Argumentationsmuster in einen geschichtsphilosophischen Horizont eingerückt. Dieser spezifische methodische Zuschnitt des Zweiten Diskurses erweist sich als bedeutsam für ein adäquates Verständnis des Rousseauschen Familienkonzepts. Ein Blick, der Rousseau vor dem Hintergrund des Gesellschaftsvertrags ausschließlich in der Tradition der Kontraktualisten und Naturrechtler sieht, mag die Nähe des Zweiten Diskurs von 1754 zu den Konzeptionen der „Natural History" der Ökonomen und Soziologen in der Tradition der schottischen Moralphilosophie entgehen. Als eine hypothetische Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht hat sich der Zweite Diskurs von der Tradition des rationalen Naturrecht des 17. Jahrhunderts bereits erheblich entfernt. Dabei handelt es sich um eine Traditionslinie mit fließenden Übergängen: In der Konzeption der „natural history of civil society", in deren Rahmen der gesetzmäßige Fortschritt in der Zivilisierung der Menschheit theoretisch eingeholt wird, entfalten sich unmittelbar Ansätze, die im rationalen Naturrecht im Keim enthalten sind. Im Rahmen der „Naturgeschichte der Gesellschaft" bilden die zur menschlichen Gattung vergesellschafteten, ihr Leben durch Arbeit reproduzierenden Individuen einen produktiven Handlungszusammenhang, der als ein Fortschritt der Menschheit vom vorhistorischen „Naturzustand" zum zivilisierten „Kulturzustand" entwickelt wird.2 Dieser sich bei Rousseau im Zweiten Diskurs entfaltende Zug zu einer historischen Dynamisierung der Naturrechtstheoreme hatte sich in ersten Ansätzen bei Pufendorf und Locke angebahnt.3 2 3
Zur „Natural History" vgl. Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, a.a.O., S. 80ff. u. S. 290ff. Vgl. Hans Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Gesellschaftsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf John Locke und Adam Smith, Göttingen 1973, insbes. S. 57ff. Gemäß Pufendorf kann der Naturzustand unter drei Gesichtspunkten betrachtet werden, wobei der dritte, nach denjenigen des Verhältnisses des Menschen zu Gott (ad Deum) und der einzelnen Menschen zu sich selbst (ad se ipsos), die Beziehung des einzelnen zu anderen Menschen (ad alios homines) darstellt. (De Officio Hominis et Civis, Buch II, Kap. I, § 2.) Hinsichtlich dieses Verhältnisses unterscheidet Pufendorf wiederum zwei Varianten, den „status merus aut absolutus" (übersetzt als „Fiktion") und den „status naturalis qui revera existit" („in der Wirklichkeit") (De Officio Hominis et Civis, Buch II, Kap. I, § 6; auch: De Jure Naturae et Gentium, Buch II, Kap. II, § 4 u. § 7). Im Gegensatz zum absoluten, „fiktiven" Naturzustand mittels dessen Pufendorf die natürlichen Rechte und Pflichten vereinzelter, gleichermaßen triebgesteuerter wie vernunftbegabter Individuen bestimmt, wird im Rahmen des „status naturalis qui revera existit" von Pufendorf der Versuch unternommen, die gesellschaftlichen Konsequenzen und historischen Auswirkungen der Mangel- und Bedürfnisnatur des Menschen mit den Prinzipien des reinen Naturzustandes als ei-
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VORVERTRAGLICHE SOZIETÄTEN: NATION UND FAMILIE
Diese Autoren lassen erkennen, wie neben den apriorisch abstrakten juridischen Gehalten und den methodisch fixierten Modellkonstruktionen sich sukzessiv eine materiale, geschichtsphilosophische Dimension herausbildet und somit eine empirisch konkretisierte, geschichtsphilosophisch reorientierte und auf Praxis bezogene Umbildung des rationalen Naturrechts in Gang kommt.4 Rousseaus Zweiter Diskurs stellt eine entfaltete Form dieser im klassischen Naturrecht nur ansatzweise vorhandenen geschichtstheoretischen Perspektive dar, ohne jedoch den formalen rechtslogischen Rahmen vollständig zu suspendieren: Es dokumentiert sich eine „geschichtsphilosophische Transformation des Naturrechts zu einer neuen Einheit von Jurisprudenz, Geschichte und Philosophie"5 unter Einbeziehung auch der zeitgenössischen Naturwissenschaft und Ethnographie. Auch mit bezug auf die antiken Vorbilder der Kulturentstehungstheorien erweist sich die geschichtsphilosophische Perspektive als anschlußfahig, wobei Rousseau die klassischen topoi den neuzeitlichen Erfahrungshorizonten assimiliert. Diese methodische offene Vorgehensweise erweist sich als ein fruchtbares Instrumentarium für ein Konzept, das aufzeigen will, wie politische Institutionen und moralische Vorstellungen aus den natürlichen und materiellen Ursachen eines sich entwikkelnden gesellschaftlichen Produktionszusammenhangs entstehen. Eine in dieser Weise geschichtsphilosophisch angelegte Theorie der Entstehung von Gesellschaft und Herrschaft verfolgt die Entwicklung bestimmter sittlicher und rechtlicher Vorstellungen entsprechend dem oben geschilderten Modell von „challenge and response" - mittels der Rekonstruktion derjenigen Situationen, die sie gleichermaßen möglich wie notwendig machten. Zwischen den Polen einer hypothetischen Ursituation und der aktuellen Gegenwart verläuft eine durch Kontinuität wie durch strukturelle Umbrüche charakterisierte Vergesellschaftungsgeschichte, die schließlich in letzter Instanz die fiir die bürgerliche Gesellschaft konstitutiven Institutionen von Eigentum, Gesetz und Vertrag aus sich hervortreibt. Erst vor dem Hintergrund der Annahme, daß der Naturzustand des Zweiten Diskurs kein ideell-abstraktes Konstrukt ist, sondern als der Beginn einer hypothetisch rekonstruierten Vergesellschaftungsgeschichte angelegt ist, läßt sich der Status der Familie als „natürliche Gesellschaft" aufklären.
nes Rechtszustandes des souveränen Individuums in Übereinstimmung zu bringen. Im „status temperatus" ist die aus der Bedürfnisnatur des Menschen resultierende soziale Disposition als Moment einer natürlichen Vergesellschaftungsgeschichte wirksam - der wirkliche Naturzustand fungiert als die historische Demonstration des fiktiven. Entscheidend für den Vergleich mit Rousseau ist, daß bereits Pufendorf seine Darstellung des wirklichen Naturzustandes als einer Geschichts- und Gesellschaftstheorie, die die aufeinanderfolgenden Stadien eines kontinuierlichen historischen Prozesses schildert, im Sinne einer „Naturgeschichte" der menschlichen Gesellschafts- und Herrschaftsformen konzipiert. 4
5
Vgl. Hans Medick, Naturzustand S. 23ff. Vgl. ibid., S. 26.
und Naturgeschichte
der bürgerlichen
Gesellschaft,
a.a.O.,
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DIE ENTSTEHUNG DER FAMILIE IM DISCOURS SUR L 'INÉGALITÉ
Zunächst gilt es, sich noch einmal in Erinnerung zu rufen, daß der Mensch nach Rousseau kein von Natur soziales Wesen ist - der Anstoß zur Vergesellschaftung rührt aus kontingenten Umständen her. Obgleich der Prozeß der Vergesellschaftung sich dem Zufall verdankt, entspricht gerade diese Kontingenz der von Rousseau entwickelten Auffassung über die menschliche Natur: Da das spezifische Wesen des Menschen in Virtualität, in reiner Potentialität besteht, ist die geschichtlich kontingente Herausbildung seiner humanen Potenzen konstitutiver Bestandteil dessen, was seine Natur genannt werden kann. Rousseau hat mit den Vorgaben der Tradition insoweit gebrochen, als der Mensch nicht länger im aristotelischen Sinne als ein geselliges Wesen angesehen werden kann; aber die Natur des Menschen ist für Vergesellschaftung offen: Obzwar nicht ausgestattet mit einer Sozialnatur ist er aber gleichwohl „soziabel von Natur".6 Was bedeutet nun vor diesem Hintergrund die Kennzeichnung einer „Gesellschaft", d.h. eines zweckorientierten Zusammenschlusses von Personen zu einem Verband als „natürlich"? Erst der Vergleich mit den einschlägigen Theoriestücken der Naturrechtstradition macht deutlich, daß es sich mit der Apostrophierung der Familie als einer im Naturzustand angesiedelten „natürlichen Gesellschaft" nicht um eine Trivialität handelt. Betrachtet man exemplarisch Pufendorfs Position bezüglich der Gründung der Familie und d.h. im Näheren in Bezug auf die Eheschließung, so ist die Ehe der „erste Stand, der außerhalb des Naturzustandes durch menschliche Handlung bewußt und gewollt begründet wird"7, d.h. „Personen, die miteinander die Ehe eingehen", schließen einen „Vertrag"8. Konsens in den rationalen Vertragslehren besteht darin, daß die Ehe das erste Vertragsverhältnis und damit die kleinste Einheit im Aufbau der societas civilis bildet und der Eintritt in einen gesellschaftlichen, vertraglichen Stand definitionsgemäß ein Heraustreten ex statu naturali bedeutet. Anders bei Rousseau: Zwar hält er am naturrechtlichen Modell dahingehend fest, daß die Gründung der bürgerlichen Gesellschaft im Medium des Vertrags das Ende des Naturzustandes anzeigt, nicht jedoch geht er von der Voraussetzung aus, daß sich jedwede Form von Vergesellschaftung notwendigerweise nach dem Muster von Vertragsverhältnissen buchstabieren lassen muß. Rousseau räumt also die Möglichkeit der Bildung sozialer Gruppierungen ein, deren Vergemeinschaftungsgrundlage nicht rechtsformiger Natur ist; sie liegen der bürgerlichen Gesellschaft voraus und sind ihr der Form nach äußerlich, es sind „natürliche Gesellschaften". Deutlich ist, daß sich Rousseau damit zwischen zwei theoretischen Alternativen positioniert: Die Familie stellt weder eine Stufe in der Entfaltung der genuin sozialen Natur des Menschen dar, noch ist sie eine Emanation seines Geselligkeitstriebes; sie ist vielmehr ein geschichtlicher Erwerb, eine Etappe im Rahmen der Vergesellschaftungsgeschichte. Dennoch ist sie - unangesehen der neuzeitlich individualistischen Prämissen 6 7 8
Vgl. Maximilian Forschner, Rousseau, Freiburg 1977, S. 42. Samuel Pufendorf, De Officio Hominis et Civis, Buch II, Kap. 2, § 1. Ibid., § 4 .
VORVERTRAGLICHE SOZIETÄTEN: NATION UND FAMILIE
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der Rousseauschen Philosophie - nicht als Vertragsverhältnis konzipiert. Der Vertrag stellt somit weder das ursprüngliche noch das einzige Vergesellschaftungsmedium dar, sondern er erweist sich vielmehr erst auf einer entwicklungsgeschichtlich späten Stufe als unabdingbar für die Begründung der bürgerlichen Gesellschaft.9 Im Gegensatz zum Kontraktualismus kennt Rousseau geschichtliche Vorformen des künstlichen Staates; er entwickelt zwei naturwüchsige Formen von Sozietät: die Familie und die Nation. Mit der Nation, die geeint ist durch „Sitten und Charaktere", welche „aufgrund der gleichen Art des Lebens und der Nahrungsmittel und aufgrund des gemeinsamen Einflusses des Klimas"10 entstehen, ist den klassischen Modi der politischen Einigung, nämlich Eroberung und Vertrag, eine tendenziell lockere, natürliche Variante politischer Integration zur Seite gestellt: „Vorschriften und Gesetze"11 sind durch eine Form von unmittelbarer zwangloser Sittlichkeit ersetzt. Nationen stellen gesellschaftliche Zusammenschlüsse größeren Umfangs auf der Grundlage gleichförmiger Lebensbedingungen und einer darauf beruhenden Homogenität der Sitten dar und sind damit unterschieden von den im strikten Sinne politischen Verbänden, deren Einigungsgrundlage rechtsförmiger Natur ist. Sehen wir, wie Rousseau vor diesem Hintergrund die Familie konzipiert:12 „Die ersten Entwicklungen des Herzens waren das Ergebnis einer neuen Situation, welche die Ehemänner und die Ehefrauen, die Väter und die Kinder in einer gemeinsamen Wohnung vereinigte; die Gewohnheit zusammen zu leben, ließ die süßesten Gefühle, welche die Menschen kennen, entstehen: die Gattenliebe und die Elternliebe: Jede Familie wurde zu einer kleinen Gesellschaft, die um so einträchtiger war, als die gegenseitige Zuneigung und die Freiheit ihre einzigen Bande waren; und damals kam der erste Unterschied in der Lebensweise der beiden Geschlechter auf, die bis dahin nur ein und dieselbe gehabt hatten. Die Frauen wurden häusli-
9
10 11 12
Vgl. Robert Derathe, Jean-Jacques Rousseau et la sciertce politique de son temps, a.a.O., S. 177 und Maximilian Forschner, Rousseau, a.a.O., S. 39ff. OCP III 169/ 187. Ibid. Von den Formen vorvertraglicher Vergesellschaftung finden in der Literatur vorrangig die Nationen Beachtung. So z.B. bei Forschner {Rousseau, a.a.O., S. 41f.), desgleichen bei Fetscher, der die Familienbildung übergeht und die eigentliche Vergesellschaftung mit den „nations" beginnen läßt (Rousseaus politische Philosophie, a.a.O., S. 39f.). Auch Heinrich Meier stellt in der kommentierten Ausgabe des Zweiten Diskurs pointiert allein den vorpolitischen Charakter der Nationen heraus (Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, a.a.O., S. 187 Anm. 231). Bei Günther Mensching findet zwischen der Periode der Naturkatastrophen und deijenigen der Eigentumsbegründung nichts Nennenswertes statt {Rousseau zur Einfiihrung, Hamburg 2000, S. 55-57). Dieter Sturma hält immerhin fest, daß ,,[d]as herausragende Element von humaner Emotivität [...] die Liebe [ist], die sich kulturgeschichtlich als konstitutiv für die Herausbildung von Familienverbänden erweist". {Jean-Jacques Rousseau, München 2001, S. 58) Selbst ein so subtiler Interpret wie Jean Starobinski resümiert an dieser Stelle überschlägig: „Der Mensch hat gelernt Hütten zu bauen, und die Familien können jetzt zusammenbleiben. Die Menschheit tritt ins patriarchalische Zeitalter ein." (Jean Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen, a.a.O., S. 440.)
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DIE ENTSTEHUNG DER FAMILIE IM DISCOURS SUR L 'INÉGALITÉ eher und gewöhnten sich daran, die Hütte und die Kinder zu hüten, während der Mann den gemeinsamen Lebensunterhalt suchen ging."13
Im Gegensatz zur Nation stellt die Familie eine vorpolitische Gesellschaftsform dar, deren Vergemeinschaftungsbasis nicht in der Kompaktheit eines geteilten Ethos besteht, sondern auf der zwanglos entwickelten individuellen Zuneigimg der Gatten füreinander beruht. Für Rousseau gehen die Vertreter der Naturrechtslehren fälschlicherweise davon aus, daß die Ehe auf einen Vertrag gegründet ist, aus welchem sich Rechte und Pflichten ableiten lassen. Die Freiheit, die Rousseau für das eheliche Verhältnis reklamiert, stellt hingegen nicht die conditio eines stipulierenden Willens dar, sondern bildet als die Spontaneität des Herzens das Fundament der ehelichen Verbindung. Als zuverlässigster Garant seiner Beständigkeit stellt das liebende Gefühl sich als eine neue Form der Legitimität des Ehebundes dar. Mit der Privilegierung der individuellen Gefühlsdispositionen und Verankerung der coniugalen Gemeinschaft im Gefühl zeichnet sich neben der Abweisung der RechtsfÖrmigkeit der ehelichen Verbindung auch die für die bürgerliche Familie charakteristische Vorordnung der Gattenfamilie gegenüber der Herkunftsfamilie ab. Damit die Ersetzung des Paradigmas der häuslichen Vertragsgesellschaft durch dasjenige der Gefühlsgemeinschaft in überzeugender Weise gelingen kann, ist eine entscheidende Verschiebung gegenüber den Vorgaben der Tradition notwendig. Das Rousseau zugeschriebene „making of the sentimental family"14 wird möglich durch die Schrumpfung des Hauses auf den Kern der Gatten- und Elternverhältnisse. Zum Vergleich: Bei Hobbes, Pufendorf und auch bei Locke ist unter der Familie das aus drei Teilgemeinschaften zusammengesetzte Haus unter der in drei Regimentsformen unterschiedenen väterlichen Herrschaft zu verstehen. Neben der societas coniugalis und der societas parentalis nennt jede Erörterung des Hausverbandes auch die societas herilis, das Verhältnis von Herr und Knecht als die Fortschreibung des antiken Herr-Sklave-Verhältnisses unter den Bedingungen des rationalen Naturrechts. Pufendorf widmet in seinem Kompendium De offieiis der Behandlung der „Pflichten von Herren und Knechten" ein sechs Paragraphen umfassendes Kapitel; bei Locke ist im Vergleich zur ausführlichen Diskussion des väterlichen und der einige Paragraphen umfassenden des ehelichen die Erörterung des Verhältnisses von Herr und Knecht/ master and servant auf einen knappen Paragraphen geschrumpft.15 Die für die Familienkonzeption maßgebliche Abweichung mit Bezug auf das traditionelle Schema des oikos liegt bei Rousseau also in einer signifikanten Lücke, die man 13 14
15
OCPIU, S. 168/183. Vgl. Susan Moller Okin, Women and the Making of the Sentimental Family, in: Philosophy and Public Affairs 11 (1982), S. 65-88. Samuel Pufendorf, Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, II. Buch, Kapitel 4; John Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, 7. Kapitel, § 85.
ARBEIT UND EIGENTUM
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als Weichenstellung für die Entpolitisierung und Sentimentalisierung der verbleibenden Kleinfamilie werten kann.16 Sie läßt sich darüber hinaus auch in grundsätzlicher Weise als ein Beleg für die zunehmende strukturelle Differenzierung von Familie und politischer Herrschaft werten. Vor diesem Hintergrund erweist sich eine Konzeptualisierung der häuslichen Verhältnisse, die sich nicht länger am Muster der politischen Hierarchie orientiert, als komplementär zu den theoretischen Bemühungen, die darauf abzielen, den politischen Raum von patriarchalen Legitimationsmustern freizuhalten. Es läßt sich gleichsam eine Entmischung des Privaten vom Öffentlichen feststellen. Für die systematisch-politische Stoßrichtung des Zweiten Diskurs, welcher die Untersuchung des Ursprungs, d.h. der Rechtfertigungsprinzipien gesellschaftlicher Ungleichheit anstrengt, ist ausschlaggebend, daß Rousseau die Diskussion von Herrschaft und Knechtschaft vollständig aus dem Kontext der Familie herauslöst, und das Problem der Abhängigkeit in den Formen von sozialer Ungleichheit und politischer Unfreiheit als ein gesellschaftlich produziertes Resultat der arbeitsteilig organisierten Eigentümergesellschaft behandelt, für dessen Legitimation das Modell der dienstherrlichen Gewalt nicht länger zur Verfügung steht. Das Auftreten der Herr-Knecht-Relation ist im Vergleich zur Entstehung der Familie der historisch späteren Epoche der „großen Revolution"17 vorbehalten, in deren Verlauf vermittels der Etablierung des Eigentums und des dadurch provozierten gesetzlichen Regelungsbedarfs sich aller erst die gesellschaftlichökonomischen Verhältnisse von Herrschaft und Knechtschaft ausbilden. Kurz: die traditionelle societas herilis hat sich bei Rousseau im Zweiten Diskurs von der einstmaligen societas perfecta abgespalten, ist damit zur „sozialen Frage" avanciert, für die eine angemessene Lösimg nurmehr im Rahmen des politischen Rechts und im Horizont der Forderung nach politischer Gleichheit angestrebt werden kann.
2.2 Arbeit und Eigentum Zuletzt ist gezeigt worden, wie mittels der Herauslösung der societas herilis aus dem Hausverband der an diese häusliche Teilgemeinschaft geknüpfte Problemkomplex von Arbeit, Eigentum und sozialer Abhängigkeit in die Sphäre des Gesellschaftlichen einrückt und somit eine Ausgangsbedingung für den Prozeß der Sentimentalisierung der Familie geschaffen wird.18 Arbeitsteilung und Eigentumsbildung stellen für Rousseau die entscheidenden gesellschaftlichen Entwicklungspunkte dar, die konstitutiv für die 16 17 18
Vgl. zum folgenden Victor Goldschmidt, Anthropologie etpolitique, a.a.O., S. 421 ff. OCP III, S. 171/197 ff. Der Begriff „Sentimentalisierung" lehnt sich an eine Unterscheidung Otto Brunners an, der von der Aufspaltung des ganzen Hauses in die „Rationalität" des Betriebs einerseits und die „Sentimentalität" der Familie andererseits spricht. (Otto Brunner, Das „ganze Haus" und die alteuropäische „Ökonomik". in: Ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 1968, S. 103-127, hier: S. 111)
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DIE ENTSTEHUNG DER FAMILIE IM DISCOURS SUR L 'INÉGALITÉ
schrittweise Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft sind. Das unter vorrechtlichen Bedingungen virulente Problem des provisorischen Eigentums erzwingt Regelungsbedarf und macht schließlich die vertragliche Gründimg der bürgerlichen Gesellschaft im Sinne des traditionellen Übergangs in den status civilis als eines Rechtssicherheitszustandes notwendig. Die Familienentstehung ist grundsätzlich außerhalb dieses Prozesses in einem historisch früheren Stadium angesiedelt, das für Rousseau nicht zuletzt aufgrund der Absenz der Kategorien von Arbeit und Eigentum als das „Goldene Zeitalter" gekennzeichnet ist. War im letzten Abschnitt das Zurücktreten des herrschaftlichen Moments innerhalb der Familie betont worden, so geht es nun darum zu zeigen, daß Rousseau die Familie als eine vorgesellschaftliche Größe ansetzt, deren Grundlage und innere Struktur nicht mittels gesellschaftlicher Kategorien wie Arbeit, Eigentum und Ungleichheit erfaßt werden kann. Die Ausdifferenzierung der Sphären des Privaten und des Gesellschaftlichen resp. Politischen wird durch diese Weichenstellung weiter vorangetrieben. 2.2.1
Geschlechtliche Aufgabenteilung
Sehen wir zunächst, wie Rousseau im Rahmen der Schilderung der Familiengründung die ökonomische Organisation der „petite Société" charakterisiert. Es finden sich dort die folgenden lapidaren Sätze: „... und damals kam der erste Unterschied in der Lebensweise der beiden Geschlechter auf, die bis dahin nur ein und dieselbe gehabt hatten. Die Frauen wurden häuslicher und gewöhnten sich daran, die Hütte und die Kinder zu hüten, während der Mann den gemeinsamen Lebensunterhalt suchen ging."19
Die Hütte, als permanenter Aufenthaltsort Möglichkeitsbedingung eines dauerhaften Zusammenlebens der Geschlechter und Generationen, markiert für das bislang solitäre Individuum das Ende seiner naturzuständlichen Autarkie und fuhrt zu einer ersten Form von bleibender Verbindung sexuell-generativer Art auf gemeinsamer ökonomischer Grundlage: Der Zusammenschluß zu einer Familie bedeutet für Mann und Frau gleichermaßen eine einschneidende Veränderung ihrer bisherigen Existenzform. Im Rahmen des Zweiten Diskurs wird von Rousseau deutlich herausgestellt, daß die unterschiedlichen Lebensweisen von Mann und Frau die Geschlechterdifferenz als ihren Effekt erzeugen. Die geschlechtsspezifische „manière de vivre" gründet nicht in einem männlichen oder weiblichen Naturell, sondern folgt einer sich habituell ausbildenden Aufteilung von Tätigkeitsfeldern. Der Geschlechtscharakter ist historisch erworben: Erst im Zuge eines gemeinsamen Wirtschaftens bilden die einst sexuell-solitären Individuen über die Ausdifferenzierung und Spezifizierung ihrer Tätigkeitsbereiche Geschlechtsrollen aus. 20 19 20
OCPlll, S. 168/183. Diana H. Coole bezeichnet die urzuständlichen Individuen treffend als „sexually differenciated but ungendered". {Women in Political Theory, a.a.O., S. 81)
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So schlicht und einfach Rousseaus diesbezügliche Beschreibung anmutet, so bestehen doch erhebliche Diskrepanzen bezüglich der Einschätzung seiner Konzeption des sozio-ökonomischen Verhältnisses der Geschlechter. Ist z.B. Susan Moller Okin der Meinung, daß Rousseau an dieser Stelle eine klare Konzeption geschlechtlicher Arbeitsteilung einführt21, so stellt Starobinski demgegenüber gerade das Fehlen jeder Arbeitsteilung als ein entscheidendes Merkmal des sogenannten „Goldenen Zeitalters" heraus.22 Bei Fetscher findet die außerhalb des feministischen Spektrums zumeist vernachlässigte „Arbeitsteilung von Mann und Frau" zwar Erwähnung, jedoch nur, um sie klar vom „erstefn] epochemachende[n] Fall von Arbeitsteilung", demjenigen von Ak23
kerbauer und Metallarbeiter, abzugrenzen. Grundsätzlich stellt es aus feministischer Perspektive ein Beispiel androzentrischer Verkürzung dar, daß Rousseau auf die Familie des Naturzustandes das spätbürgerliche Geschlechtsrollensetting des männlichen Familienernährers und der ökonomisch abhängigen Hausfrau rückprojiziert24, dabei jedoch die kritische Reflexion auf die geschlechtliche Teilung der Arbeit als historisch erster Form von Arbeitsteilung überhaupt schuldig bleibt. Der Grund für dies vermeintliche Versäumnis liegt in den entwicklungsgeschichtlichen Voraussetzungen, die Rousseau macht: Die Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern wird nämlich tatsächlich nicht als Arbeitsteilung konzipiert, insofern Rousseau hier nicht von ,Arbeit", sondern von „ L e b e n s w e i s e n " spricht. Das Phänomen der Arbeit ist an die Epoche der „großen Revolution" - metaphorisiert in der Formel „fer et blé"25 - gebunden, und nur diejenige Form der Subsistenzgewinnung wird als Arbeit definiert, die von arbeitsteilig vergesellschafteten Produzenten erbracht wird. Im Zweiten Diskurs, ebenso wie in den einschlägigen Passagen des Essai sur les langues ist die Subsistenz der Familie hingegen durch das einfache Abernten des natürlichen Überschusses von Fauna und Flora, der „productions naturelles"26 gewährleistet.27 Erst wenn die sim21
Susan Moller Okin, Rousseaus Natural Woman, in: The Journal of Politics 41, (1979), S. 398. Die feministisch orientierten Arbeiten zu Rousseau räumen erwartungsgemäß dem Problem der geschlechtlichen Arbeitsteilung bei Rousseau einen wichtigen Stellenwert ein. Dabei ist die Perspektive auf das psychologische Geschlechterprogramm des Emile und auf Rousseaus rigide Geschlechtersphärentrennung als ganze leitend. (Siehe auch Susan Moller Okin, Women in Western Politicai Thought, a.a.O., S. 108ff. und Diana H. Coole, Women in Politicai Theory, a.a.O., S. 81ff.)
22
OCP III, S. 1343; vgl. auch Jean Starobinski, La pensée politique de Jean-Jacques Rousseau, a.a.O., S. 91: „Rousseau désigne ainsi les communautés patriarchales, vivant de chasse, de pêche et de cueillette, ignorant la division et la spécialisation au travail." Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, a.a.O., S. 44. Susan Moller Okin, Rousseaus Natural Woman, a.a.O., S. 399. OCP III, S. 171/197. OCP III, S. 145. Im Essai sur les langues steht die Lebensweise des Hirten fur eine autarke Existenzform ohne Arbeit. Rousseaus diesbezügliche Schilderung ist dementsprechend nicht frei von Stilisierung und Idealisierung: „Die Tätigkeit des Hirten, eine Quelle der Ruhe und der Leidenschaften des Müßiggangs, ist diejenige, die sich selbst am meisten genügt. Sie liefert dem Menschen fast mühelos Le-
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plen Aktivitäten des Pflücken, Sammeins und Jagens durch die arbeitsteilig zum Einsatz gebrachten Kulturtechniken der Lebensmittelproduktion in eine Ertragswirtschaft und schließlich in eine Überschußwirtschaft münden, kann von Arbeit als einem gesellschaftlichem Tatbestand gesprochen werden. Das Netzwerk der gesellschaftlichen Arbeitsteilung knüpft sich vermittels der Arbeiten, die nicht länger allein zu bewältigen sind, und von Künsten, die das „Zusammenwirken mehrerer Hände erfordern"28 und zieht den Verlust der von allen Individuen gleichermaßen geteilten Lebensform des freibestimmten Selbsterhalts nach sich. Ackerbau und Erzgewinnung sind die ersten menschlichen Produktionsformen, durch die der Einzelne in Abhängigkeit von seinesgleichen gerät. Die systematisch betriebene Kultivierung des Bodens leitet jene Stufe der Zivilisation ein, die vom Problem der gesellschaftlichen Ungleichheit wie von ihrem Schatten begleitet sein wird29, insofern mit der neuartigen „Verbindung/ combinaison"30 der Menschen, nämlich ihrer Vergesellschaftung im Medium der Arbeitsteilung, die bis dato folgenlos gebliebenen natürlichen Unterschiede zwischen den Menschen „durch die Unterschiede der äußeren Umstände entwickelt" und damit „fühlbarer, anhaltender in ihren Auswirkungen"31 werden. Erst im Zuge der arbeitsteiligen Vergesellschaftung der männlichen Produzenten bilden sich Strukturen ökonomisch-sozialer Ungleichheit heraus: Die Unterschiede in den Besitzverhältnissen gerinnen schließlich zu Machtstrukturen.32 „Aber von dem Augenblick an, da ein Mensch die Hilfe eines anderen nötig hatte, sobald man bemerkte, daß es für einen einzelnen nützlich war, Vorräte für zwei zu haben, verschwand die Gleichheit, das Eigentum kam auf, die Arbeit wurde notwendig und die weiten Wälder verwandelten sich in lachende Felder, die mit dem Schweiß der Menschen getränkt werden mußten und in denen man bald die Sklaverei und das Elend sprießen und mit den Ernten wachsen sah."33
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bensmittel und Kleidung, sie liefert ihm sogar seine Behausung." (Essai, S. 190f., Übers, von mir verändert; OCP V, S. 400) OCP III, S. 171/195. Raymond Polin fragt: „Est-ce un écho de la malédiction chrétienne? En tout cas le travail apparaît ainsi comme lié à l'esclavage." (Raymond Polin, Le sens de l'égalité et de l'inégalité chez JeanJacques Rousseau, in: Études sur le Contrat Social de Jean-Jacques Rousseau, a.a.O., S. 143-164, hier: S. 154) Meier, a.a.O., S. 205 Anm. 253 weist auf die semantische Nähe zum Begriff der chemischen Verbindung hin, den Rousseau selbst in einem postum veröffentlichten Text Institutions chymiques definiert hatte: „Verbindung nenne ich hier jede Operation, durch welche die Prinzipien des Gemischs oder der Zusammensetzung, obwohl sie dieselben bleiben, Vereinigungen bilden, die von jenen verschieden sind, die sie zuvor darstellten." Les institutions chymiques, Kap. 3, De la combinaison, in: Annales de la Société Jean-Jacques Rousseau 13 (1920/21), S. 134. OCP III, S. 174/205. Vgl. die Anmerkung 253 von Heinrich Meier im Diskurs über die Ungleichheit. OCP III, 171f./195f.
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Dieser Hintergrund macht einsichtig, daß auf dem historischen Level der Familiengründung grundsätzlich keine Form von sozio-ökonomischer Abhängigkeit entstehen kann. „Knechtschaft", d.h. politische Unfreiheit als Konsequenz sozialer Ungleichheit, resultiert aus der ökonomischen Basis der gesellschaftlichen Arbeitsteilung34; in diesen Prozeß werden die Familien als ganze verwickelt, bzw. die männlichen Familienernährer, die zu Produzenten geworden sind. Das bedeutet, daß zwischen der Autarkie des naturzuständlichen Solitärs und der Autarkie der Familie unter der entscheidenden ökonomischen Rücksicht für Rousseau kein Unterschied besteht. Rousseau konzipiert die Familie ökonomisch als eine Person, welche in den Zeiten der „société naissante" im gleichen Maße ihre Autarkie bewahrt wie ehemals der urzuständliche Solitär. Wenn auch die Ausbildung der Geschlechtsrollen im Zuge der Separierung von männlichen und weiblichen Tätigkeitsfeldern von Rousseau defmitionsgemäß nicht als eine erste Form von gesellschaftlicher Arbeitsteilung reflektiert wird, kann dennoch gefragt werden, welche Konsequenzen der Übergang in die geschlechtlich-familiale Lebensweise für die einzelnen Familienmitglieder mit sich fuhrt. Zwar verlieren diese ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit nicht an die Gesellschaft, aber in einem gewissen Maße an die kleine Gemeinschaft der Familie, und ist auch nicht der erste Fall gesellschaftlicher Arbeitsteilung zu konstatieren, so immerhin eine erste Stufe des Verlusts der urzuständlichen Unabhängigkeit.35 Mit der familialen Existenzweise wird die egozentrische, instantané Selbsterhaltungsökonomie des Einzelnen gesprengt, insofern die Familie in ihrer Eigenschaft als Generationenverband mehr als ein kurzkalkuliertes Zweckbündnis darstellt, das zu jedem Zeitpunkt aus Nutzenerwägungen aufgekündigt werden kann. Vor diesem Hintergrund sind es die Frauen, die ihre Autarkie aufgeben, da sie von ihren Männern mit Bezug auf ihre Subsistenz abhängig werden. Doch auch die Männer verzichten auf ihre ursprüngliche ausschließlich selbstbestimmte Existenzweise, indem sie über den solitären Modus des Selbsterhalts hinauswachsen, denn, wie Cranston richtig feststellt: „with a mate and children living with him in his hut, man in nascent society had more than one mouth to feed."36 Bemerkenswert ist, daß Rousseau 34 35
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Vgl. hierzu: Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, a.a.O., S. 43ff. Hierzu Maurice Cranston, Rousseau 's theory of liberty, in: Robert Wokler, Rousseau and Liberty, Manchester 1995, S. 231-243. Ibid., S. 232. Cranston schießt indes weit über das Ziel hinaus, wenn er den Übergang von der primordialen Autarkie des Urzustandes zur Kooperationsgemeinschaft Familie als „sexual servitude" bezeichnet. Als „Knechtschaft" werden von Rousseau alle diejenigen Beziehungsformen angesehen, deren Zuschnitt die Anerkennung eines Menschen als Person im moralischen und/ oder rechtlichen Sinne verhindert. Als vollends verzerrend ist die asymmetrische Akzentuierung der männlichen und der weiblichen „Geschlechtssklaverei" zu werten: „In society, the females are the first to loose their independence in servitude to the family; but then males lose their autonomy in servitude to the females"; schließlich bleibt Cranston die Erklärung dafür schuldig, wie die Frau den Mann erfolgreich dauerhaft „versklaven" kann, wenn sie ganz offensichtlich mit Gründung der Familie auf einen kindhaften Status regrediert: „each woman must make some man love her enough to shelter, feed and protect her ..." (ibid., S. 234).
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diese ersten Modifikationen und Einschränkungen der urzuständlichen Unabhängigkeit des Einzelnen nicht als solche herausstellt. Die Phase der frühen Vergesellschaftung, in welcher sich auf dem Mikrolevel die Familie, auf dem Makrolevel die Nation formiert, buchstabiert sich nicht als eine Geschichte wachsender Abhängigkeiten und des Freiheitsverlustes des Einzelnen, sondern als diejenige der Entfaltung der Soziabilität. Gegenüber der anthropologischen Grenzgestalt des urzuständlichen Solitärs und in Abgrenzung vom historisch späteren Entfremdungszusammenhang der Gesellschaft erscheint die Zeit der locker vergesellschafteten Familien als das juste milieu des Humanen. Die wechselseitige Angewiesenheit der Geschlechter im Rahmen der familialen Existenzweise stellt sich im Kontext des Zweiten Diskurs als eine asymmetrische Komplementarität von Mann und Frau dar. Im Zusammengehen der Geschlechter zu einer häuslichen, wirtschaftlich autarken Lebenseinheit formiert sich die basale Grundgestalt des Sozialen, die in dieser Form den bleibenden Kernbestand aller weiteren, sich aufstufenden Vergesellschaftungsprozesse bilden wird. Daß die Familie im weiteren Verlauf der Zivilisationsgeschichte als eine ungeschichtliche Größe mittransportiert wird, erzeugt schließlich den Schein ihrer Naturwüchsigkeit. So sind im Emile die ursprünglichen Geschlechtsrollen unter den Bedingungen einer ausdifferenzierten Zivilisation in komplexe, die gesamte Persönlichkeit durchherrschende Geschlechtsidentitäten verwandelt, ohne daß indes den historisch veränderten sozio-ökonomischen Bedingungen mit Rücksicht auf das Verhältnis der Geschlechter auch nur ansatzweise Rechnung getragen wäre. Von dort fällt ein Licht auf das Problem von Rousseaus Familienkonzeption, das den von feministischer Seite insistierenden Vorwurf provoziert, daß Rousseau dem Status der Ehefrau als einem der ökonomischen Abhängigkeit und bloßer Inhärenz, d.h. ihrer politischen Nicht-Existenz nicht mit der angemessenen theoretischen Sensibilität Rechnung trägt. Das eigentliche theoretische Versäumnis muß indes an anderer Stelle verortet werden als in der Beschreibung des Ursprungs der Familie. Trotz des bürgerlich anmutenden Zuschnitts der Familie der Frühzeit wandelt sich die auf das Gefühl gegründete Familiengemeinschaft der Jäger- und Sammlerzeit zur bürgerlichen Familie im eigentlichen Sinne erst im Zuge der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft. Daß der „unheilvolle Zufall" 37 , der das Goldene Zeitalter langfristig in die Gesellschaft der Eigentümer verwandelt, auch in Hinblick auf das Geschlechterverhältnis gravierende Folgen zeitigt, bleibt dem Blick Rousseaus verborgen, der ausschließlich fixiert bleibt auf die verhängnisvollen Konsequenzen des Verlusts der Autonomie, welche die Konkurrenzgesellschaft der Eigentümer hervortreibt, und welche sie nur für diese hervortreibt. Entscheidend für eine Beurteilung des Status der Gattin ist, daß allein mittels Arbeit in der Form der Produktionsarbeit ein Anspruch auf Eigentum begründet werden kann:
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OCPlll, 171/193.
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„... denn man vermag nicht zu sehen, was der Mensch beisteuern kann, um sich Dinge anzueignen, die er nicht geschaffen hat, außer seiner Arbeit. Allein die Arbeit, die dem Bauern ein Recht auf das Produkt des Feldes gibt, das er bestellt, gibt ihm folglich ein Recht auf den Boden." 38
Das bedeutet, daß mit der Privilegierung der Produktionsarbeit die Dispositionsgewalt über das familiäre Vermögen beim allein produzierenden Familienvater liegt, handelt es sich hierbei doch um die erwirtschafteten „Güter des Vaters, über die er wahrhaft Herr ist"39. Erst mit Bezug auf die Eigentumsfrage, d.h. erst nach Ausbildung der ökonomischen Basis der bürgerlichen Gesellschaft, entsteht das Problem eines ehelichen Güterrechts. Von der epochemachenden Arbeitsteilung der Produzenten, die den menschheitsgeschichtlichen Naturzustand in ein politisch zu lösendes Problemfeld verwandelt, bleibt auch die Familie nicht untangiert, insofern als die Frage nach der Verfügungsgewalt über äußere Güter auch mit Bezug auf die Enklave Familie zu lösen ansteht. Doch sucht man eine entsprechende Erörterung in den späteren Passagen des Zweiten Diskurs, d.h. im Kontext der Begründung der bürgerlichen Gesellschaft, vergeblich. Der Vorwurf einer androzentrischen Verzerrung erweist sich also an dieser Stelle als durchaus berechtigt, insofern der Tatsache, daß durch die geschichtliche Entwicklung sich das Verhältnis der Geschlechter seinerseits in ein sozio-ökonomisches und in eines der Ungleichheit verwandelt hat, nicht Rechnung getragen wird. Rousseau handelt allein noch vom Vater in seiner Rolle als Eigentümer und in seinem Verhältnis zu seinen erbberechtigten Söhnen.40 Unter fortgeschrittenen gesellschaftlichen Verhältnissen steht der männlichen, produktiven Arbeit die weibliche „unproduktive" Lebensweise gegenüber: Angesichts dieser Voraussetzungen erscheint die väterliche Dispositionsgewalt über das Familieneigentum gewissermaßen als eine Selbstverständlichkeit. Unter ökonomischer Rücksicht bliebt die Gesamtheit der Frauen auf der Stufe der häuslichen „manière de vivre" fixiert und tendiert vollständig zur Unsichtbarkeit, wohingegen die männliche Hälfte der Menschheit in ihrer Rolle als Produzenten und Eigentümer die treibenden Agenten der fortschreitenden Vergesellschaftung darstellen. Rousseau kann überzeugend darlegen, wie im Zuge der Etablierung der arbeitsteiligen Gesellschaft die natürlichen Ungleichheiten der Individuen sich ökonomisch und sozial zu materialisieren beginnen, in welcher Weise schicksalhaft natürliche Dispositionen unter dem Zwang der Verhältnisse sich zu gesellschaftlichen Stratifikationen verfestigen können41. An dieser entscheidenden Stelle bleibt die gewohnheitlich ausgeprägte, bis dato unter sozio-ökonomischer Rücksicht konsequenzenlose Ungleichheit der Geschlechter unberücksichtigt. Doch wäre auch hier zu zeigen, wie, „wenn die Dinge den 38 39 40
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OCP III, 173f./203. OCP III, 182/235. Vgl. OCP III, S. 182/235; auch: Politische Ökonomie, S. 25/ OCP III, S. 263f.: „Weil die Kinder nur besitzen, was sie vom Vater erhalten, ist es völlig klar, daß alle Eigentumsrechte ihm zustehen oder von ihm ausgehen." OCP III, S. 174/205.
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Punkt erreicht haben", daß die natürlich-konstitutionellen Ungleichheiten der Menschen bedingt durch die „Unterschiede der äußeren Umstände" beginnen „Einfluß auf das Schicksal des Einzelnen auszuüben"42, die Differenz der Geschlechter sich als eine signifikante Differenz in den Besitzverhältnissen niederschlägt und sich ein Machtgefalle zwischen Männern und Frauen als zwei unterschiedlich positionierten gesellschaftlichen Gruppen etablieren kann. Erst von diesem Zeitpunkt an läßt sich von einer ökonomischen und sozialen und im weiteren politischen Abhängigkeit der Ehefrau sprechen. Die Tatsache jedoch, daß die Frage der Hausherrschaft erst im Zuge der sich etablierenden Gesellschaft der produzierenden Besitzbürger aufgeworfen wird, macht deutlich, daß die eheliche Herrschaft für Rousseau nicht eine angesichts der herrschaftsbedürftigen Natur der Frau geforderte und durch die Natur legitimierte Geschlechtsuprematie des Mannes darstellt, sondern allein als eine indirekte Konsequenz der Entwicklungsgeschichte der gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnisse anzusehen ist. So ließe sich mit Bezug auf die eheliche Gewalt dasselbe behaupten wie in Hinblick auf die väterliche: „Statt zu sagen, daß die bürgerliche Gesellschaft sich von der väterlichen Gewalt herleite, müßte man im Gegenteil sagen, daß es die bürgerliche Gesellschaft ist, von der diese Gewalt ihre hauptsächliche Macht bezieht." Die Erläuterung, die Rousseau anschließt, zeugt von einem unverstellten Blick auf die basalen Verhältnisse: „Ein Individuum wurde als Vater mehrer erst anerkannt, als sie um ihn versammelt blieben", wobei ,,[d]ie Güter des Vaters, über die er wahrhaft Herr ist", „die Bande sind, die seine Kinder in der Abhängigkeit von ihm erhalten."43 Im Kontext des Zweiten Diskurs hat die Diskussion des Status der Frau auf der Ebene des status civilis, d.h. nach der Gründung der bürgerlichen Gesellschaft, für Rousseau keinen Ort. Rousseau hat sich mit dieser Schrift zum Ziel gesetzt, eine historischmaterialistische Rekonstruktion der Geschichte politischer Unfreiheit zu liefern: Diese Perspektivierung schließt definiertermaßen die Behandlung der „Frauenfrage" aus. Der ökonomisch-politische Status der Frau wird nicht thematisiert, weil die Frau nur innerhalb der Familie existiert. D.h. ab dem historischen Zeitpunkt der Gründung der Familie eignet der Frau nurmehr ein der Familie inhärierender Status, und sie kann nicht zu den gesellschaftlichen Agenten im zivilisatorischen Prozeß gerechnet werden.44 Somit ist ihre Existenz nur definierbar innerhalb des Familienzusammenhangs. Die Familie aber ist ihrem Prinzip - ihrem Anfang und ihrer Natur nach - nicht nur eine vorpolitische, sondern auch eine vorgesellschaftliche Größe.
42 43
44
Ibid. OCP III, S. 182/235: „Au lieu de dire que la Société civile dérive du pouvoir Paternel, il falloit dire au contraire que c'est d'elle que ce pouvoir tire sa principale force:..." Vgl. Herta Nagl-Docekal, Geschichtsphilosophie als Theorie der Geschlechterdifferenz - Das Beispiel Rousseaus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42 (1994), S. 571-589.
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2.2.2 „Une sorte de propriété" Wie im vorangegangenen Abschnitt gezeigt wurde, bildet die mit dem Ackerbau einhergehende Arbeitsteilung und der damit verbundene Übergang vom positiven Gemeinbesitz zum persönlichen Eigentum für Rousseau die entscheidende Etappe im Entstehungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft. Der Eigentumstitel als ein verbindlicher Rechtsanspruch auf den Boden und seine Produkte ist Resultat einer positiv-rechtlichen Distribution, welche mit dem Eigentum auch den Eigentümer schafft, der dank seiner Produzentenrolle zugleich als Vorstand der kleinsten gesellschaftlichen Einheit, der Familie, fungiert. Zum Zeitpunkt der Familiengründung existieren weder Eigentum noch Eigentümer. Vor diesem Hintergrund spricht Rousseau in Hinblick auf die erste dauerhafte Inbesitznahme von Boden und mit Rücksicht auf die Hütte als erster gemeinsamer Wohnstätte und als der Voraussetzung für die Gründung und Unterscheidung der Familien von ,,eine[r] Art von Eigentum/ une sorte de propriété". Diese Formulierung in ihrer Unscharfe und der Kontext, in den sie gestellt ist, haben die Aufmerksamkeit der Interpreten auf sich gezogen: „Bald als man aufhörte, sich unter dem erstbesten Baum schlafen zu legen oder sich in Höhlen zurückzuziehen, erfand man einige Arten von Beilen aus harten und scharfen Steinen, welche dazu dienten, Holz zu fallen, Erde auszuheben und Hütten aus Reisig zu bauen, die man sich danach einfallen ließ mit Lehm und Schlamm zu bestreichen. Das war die Epoche einer ersten Revolution, welche die Gründung und Unterscheidung der Familien hervorbrachte und eine Art von Eigentum einführte; woraus vielleicht schon viele Streitereien und Kämpfe entstanden. Da jedoch die Stärkeren wahrscheinlich die ersten waren, welche sich Behausungen schufen, die zu verteidigen sie sich imstande fühlten, ist anzunehmen, daß die Schwachen es kürzer und sicherer fanden, sie nachzuahmen als den Versuch zu unternehmen, sie aus diesen zu vertreiben; und was jene angeht, die schon Hütten hatten, so muß jeder wenig danach getrachtet haben, sich die Hütte seines Nachbarn anzueignen - weniger, weil sie ihm nicht gehörte, als weil sie nutzlos für ihn war und er sich ihrer nicht bemächtigen konnte, ohne sich einem sehr heftigen Kampf mit der Familie auszusetzen, die sie bewohnte."45 Grundsätzlich scheinen für diese Stelle zwei verschiedene Lesarten möglich, wobei jeweils unterschiedliche Problemkontexte thematisch werden. Die erste Variante, für die 45
OCP III, S. 167/181f. „Bientôt cessant de s'endormir sous le premier arbre, ou de se retirer dans des Cavernes, on trouva quelques sortes de haches de pierres dures et tranchantes, qui servirent à couper du bois, creuser la terre, et faire des huttes des branchages, qu'on s'avisa ensuite d'enduire d'argil et de botte. Ce fut-là l'époque d'une première révolution qui forma l'établissement et la distinction des familles, et qui introduisit une sorte de propriété; d'où peut-être naquirent déjà bien des querelles et des Combats. Cependant comme les plus forts furent vraisemblablement les premiers à se faire des logemens qu'ils sentaient capables de défendre, il est à croire que les foibles trouvèrent plus court et plus sur de les imiter que de tenter de les déloger: et quant à ceux qui avoient déjà des cabanes, chacun dut peu chercher à se s'approprier celle de son voisin, moins parce qu'elle ne lui appartenoit pas, que parce qu'elle lui étoit inutile, et qui ne pouvait s'emparer, sans s'exposer à un combat très vif avec la famille qui l'occupoit."
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sich vielfach Belege in der Rousseau-Literatur finden, bezieht „une sorte de propriété" ausschließlich auf die fabrizierte Behausung, die Hütte; im Rahmen der zweiten, für die zeitgenössische Textreferenzen sprechen, wird ein Bezug zur Familie als dem Geschlechts- und Generationenverband als solchem hergestellt. Die erste Interpretationsmöglichkeit rückt „une sorte de propriété" in den Zusammenhang der naturrechtlichen Begründung des äußeren Eigentums. Unter den Interpreten besteht dahingehend Übereinstimmung, daß es der Sache nach die Hütte und nicht die Familie selbst ist, die von Rousseau als „eigentumsähnlich" eingeführt wird, auch wenn bezüglich der Einschätzung des demonstrativen Gehalts dieser Textsequenz Divergenzen bestehen. Rousseaus auffallig detaillierte Schilderung der „querelles" und „combats" anläßlich der ersten „logements" legt in der Tat nahe, daß an dieser Stelle mit der sogenannten „Hüttenepisode" das naturrechtlich brisante Problem des Zusammenhangs von Inbesitznahme, Besitz und Eigentum noch vor der Explikation seiner rechtlichen Regelung im status civilis verhandelt wird.46 Wie schon bemerkt, markiert die Einführung des Eigentums im vollen Sinne nach Rousseau das letzte Stadium des Naturzustandes - die Eigentumsproblematik bildet auch in Rousseaus politischer Theorie das Scharnier des Übergangs vom status naturalis zum status civilis. Er stellt diesen Zusammenhang zu Beginn des zweiten Teils des Zweiten Diskurs mit einem Satz heraus, der dank seiner rhetorischer Emphase Berühmtheit erlangt hat: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfaltig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft." 47 Damit ist jedoch nur der programmatische Rahmen für die Explikation einer Entwicklungsgeschichte aufgespannt: Der 2. Teil des Diskurs ist der Rekonstruktion der geschichtlichen Voraussetzungen und Vorbedingungen gewidmet, die schließlich den Übergang in einen Rechtszustand unabdingbar machen. Die Gründung des Staates entsteht aus der Notwendigkeit einer rechtlichen Sicherung des äußeren Eigentums in der Form der positiv-rechtlichen Sanktionierung des Besitzstandes. Sofern der Mensch jedoch „viele Fortschritte machen [mußte], viele Fertigkeiten und Einsichten erweitern und sie von Generation zu Generation weitergeben und vergrößern, ehe man bei diesem letzten Stadium des Naturzustandes anlangte"48, markiert die Sanktionierung des äußeren Eigentums den Kulminations- und Kristallisationspunkt eines komplexen Ineinander46
Die Literatur wirkt allerdings z.T. stark verunklarend: So z.B. Lovejoy, wenn er schreibt: „... men [...] finally developed the permanent family, and with it a first and very limited stage of the institution of property - in the form of recognized ownership by each individual of his weapons and other personal belongings and by each family of its own cabin." (Arthur O. Lovejoy, The supposed Primitivism of Rousseau 's „Discours on Inequality ", in: Ders., Essays in the History of Ideas, Baltimore, London, o.J., S. 14-37, hier: S. 29).
47
OCP III, S. 164/173: ,,Le premier qui ayant enclos un terrain, s'avisa de dire, ceci est à moi, et trouva des gens assés simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile." Ibid.
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greifens verschiedener gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse, die insgesamt auf die Gründung der bürgerlichen Gesellschaft zulaufen. Das Interesse, das Rousseau im Zweiten Diskurs vorrangig verfolgt, zielt auf die Rekonstruktion der Genese moralischer und rechtlicher Vorstellungen im menschlichen Bewußtsein: Welches sind die konkreten materiellen Bedingungen, die zur Formation der Ideen von Recht, Eigentum, Verpflichtung und Anerkennung fuhren? Er verwandelt das Theorem des Naturzustandes in einen historisch-genetischen Zusammenhang und betreibt gewissermaßen „Ideengeschichte"49, insofern er moralische und rechtliche Vorstellungen aus evolutionären Prozessen hervorgehen läßt und damit das traditionell überzeitliche und universal gültige Naturgesetz als ein Evolutionsprodukt ausweisen kann. In diesem Zusammenhang zeigt sich auch die Idee des Eigentums als ein voraussetzungsreiches Gebilde, „da diese Vorstellung [...] von vielen vorausliegenden Vorstellungen abhängt; die nur nach und nach haben entstehen können" und sich folglich „nicht auf einmal im menschlichen Geist"50 bildet. Es ist diese entwicklungsgeschichtliche Perspektivierung, in die das Dictum von einer „Art von Eigentum" eingerückt werden muß. Aufgrund des methodischen Zuschnitts des Zweiten Diskurs nimmt die Behandlung der Eigentumsproblematik die Form einer mehr oder weniger offenen Auseinandersetzung mit Locke und seiner Konzeption des natürlichen Rechts an äußerem Eigentum an.51 Diese indirekte Kontroverse mit Locke beläuft sich auf folgende Gesichtspunkte: Wie kommt es erstens überhaupt zur Herausbildung der Idee des äußeren Eigentums im menschlichen Bewußtsein, und wie ist zweitens das Recht auf Eigentum, also der verbindliche Anspruch auf den Eigentumstitel begründet? Zum ersten: Die vollbestimmte Idee des Eigentums ist ein Resultat eines bewußtseinsgeschichtlichen Prozesses, der auf praktischer Erfahrung fußt, wie sie mit den ersten Formen von Inbesitznahme durch Arbeit erworben wird.52 Von daher erweisen sich 49 50 51
52
Vgl. Reinhard Brandt, Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, Stuttgart 1974, S. 149f. OCP III, 164/173. Vgl. Roger D. Masters, The political philosophy of Rousseau, a.a.O., S. 199 Anm. 176, v.a. aber Victor Goldschmidt, Anthropologie etpolitique, a.a.O., S. 438ff.; vgl. auch OCP III, S. 170/191. Im Gegensatz zum Zweiten Diskurs und zum Gesellschaftsvertrag erweist sich der EnzyklopädieArtikel CEconomie politique als stark vom Liberalismus Lockes geprägt. Die unterschiedliche Behandlung der Eigentumsproblematik rückt dort ins Zentrum der Betrachtung, wo die entwicklungsgeschichtlichen Kontinuitäten und Brüche in der Staatsphilosophie Rousseaus abgewogen werden. Vgl. dazu Maximilian Forschner, Rousseau, a.a.O., S. 56ff. Analog zur „Ideengeschichte" des Zweiten Diskurs fuhrt Rousseau im Emile am Beispiel des Eigentums exemplarisch die kognitive Formierung eines Begriffs durch lebensweltlich-praktisches Lernen vor. Emile begreift die komplexe Begründung des Eigentumsrechts durch eigene Bearbeitung des Bodens - nämlich der Pflanzung von Bohnen - und anläßlich der Schlichtung des sich anschließenden Streit um die Frage des Ersterwerbs des Bodens. (Emil, S. 77ff./ OCP IV, S. 330f.) Die sogenannte „Bohnenepisode" macht zugleich den Zuschnitt von Rousseaus Eigentumstheorie deutlich: ein mixtum compositum aus traditioneller Okkupationstheorie und Lockescher Arbeitstheorie.
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die mit der Seßhaftigkeit einhergehende dauerhafte Inbesitznahme des Bodens und die Herstellung einer Behausung in der genetischen Perspektive des Diskurs als Elemente, die für Rousseaus spätere Begründung des Eigentumsrechts maßgeblich sind: nämlich Ersterwerb von Boden (prima occupatio) unter der zusätzlich qualifizierenden Bedingung von bedürfnisgeleiteter Bearbeitung. Somit kann die mit der Seßhaftigkeit verbundene Okkupation von Land durch den Hüttenbau als ein aus der vitalen Praxis der Menschen hervorgegangener „Vorbegriff' von Eigentum angesehen werden. Die implizite Kritik Rousseaus bezieht sich hier auf den ungeschichtlichen Intellektualismus der Naturrechtler, die der geschichtlichen Formierung von Ideen im Bewußtsein nicht Rechnung trägt. Zum zweiten: Die evolutionistische Dynamisierung des Naturzustandes unterläuft die Lockesche Konzeption eines natürlichen, d.h. eines ursprünglichen und überzeitlichen Eigentumsrechts, das Locke bekanntlich allein auf die rechtsbegründende Kraft der Arbeit stützt - eine Begründung, die Rousseau in dieser Form nicht übernehmen wird. Für den vorliegenden Kontext ist jedoch ausschlaggebend, daß, worauf Goldschmidt hinweist, die Hüttenepisode im Zweiten Diskurs auf einem entwicklungsgeschichtlichen Niveau stattfindet, auf welchem die Idee des Rechts noch nicht ausgebildet ist. Erst im Lauf fortschreitender Vergesellschaftung und im Zuge der Entfaltung des amour-propre bildet sich schließlich auch die Idee des Rechts.53 Auf dem evolutionären Niveau der Familiengründung und der ersten Formen der Seßhaftigkeit bestehen nicht nur keine rechtsfÖrmigen Verkehrsformen unter den Individuen, sondern die menschlichen Beziehungen sind allgemein und grundsätzlich nicht von der Art, daß wechselseitige Ansprüche erhoben werden, bzw. nach Hobbesschem Muster, als Ansprüche unausweichlich konflikthaft wechselseitig adressiert werden. Sofern Rousseau das Individuum im Naturzustand mit einem natürlichen Recht ausstattet, handelt es sich dabei um ein „Recht" in einem physischen und nicht juridischen Sinne, insofern dieses Recht sich unmittelbar auf den natürlichen Selbsterhalt bezieht, der als ein monologisches Verhältnis von Mensch und Natur gefaßt ist und somit eher eine Tatsache der Natur als eine Ermächtigung im eigentlichen Sinne bezeichnet. Die Idee des Rechts als eine interpersonale Relation entwickelt sich erst im Rahmen des Prozesses, in welchem die Individuen beginnen, sich zunächst als Personen, dann als Eigentümer aufeinander zu beziehen. Entsprechend hat der Kampf um die Hütten einen rein physischen, keinen moralisch-rechtlichen Sinn: Die Individuen schädigen sich gleichsam nach Art von Naturgewalten, fügen sich aber wechselseitig kein Unrecht zu.54 53 54
Vgl. OCPIIIS. 170/189f. Von daher müßte man konsequenterweise von einer Art von physischer Inbesitznahme der Hütten und nicht von Besitz im juridischen Sinn sprechen, wie z.B. Masters, der „kind of property" als „merely possession ... and not property in the strict sense" interpretiert (The Political Philosophy of Rousseau, a.a.O., S. 199 Anm. 176) und Fetscher, der von der Entwicklung einer „Art von einfacher Besitzvorstellung" angesichts der gemeinsam bewohnten Hütte spricht (Rousseaus politische Philosophie, a.a.O., S. 36) tun.
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Der Sinn der Wendung von „einer Art von Eigentum" läßt sich also aus dem Zusammenhang der von Rousseau angestrengten Widerlegung der Lockeschen Position eines natürlichen Rechts an äußerem Eigentum erschließen. Die zentrale Argumentationslinie Rousseaus im zweiten Teil des Zweiten Diskurses zielt darauf, zu zeigen, inwiefern Eigentum als ein Rechtstitel erst unter allseits entwickelten Bedingungen, der materiellen ebenso wie derjenigen des korrespondierenden Erkenntnisstandes, in einem Akt positiv-rechtlicher Distribution geschaffen wird. Die rechtliche Kategorie des Eigentums wird eingeführt zum Zwecke der Sicherung des Ertrags der Arbeit. Eine verbindliche Aufteilung des Bodens erweist sich als erforderlich, da die Sicherung des Eigentums am Produkt der Arbeit nicht anders als über die Privatisierung des Produktionsmittels Boden erfolgen kann. Die Teilung des Produktionsmittels Bodens, das selbst nicht Produkt menschlicher Arbeit sein kann, ist Ergebnis einer allgemeinen Übereinkunft, welche dem Einzelnen seine exklusive Nutzung garantiert, mithin die Verbindlichkeit des Ausschlusses aller übrigen Individuen von der Nutzung dieser Sache garantiert. Der Eigentumstitel stellt nach Rousseau also kein überzeitlich natürliches Recht dar, sondern eine auf historisch-ökonomische Umstände reagierende menschliche Rechtsschöpfung. Dieser gängigen, der Behandlung der Eigentumsproblematik im engeren Sinne verpflichteten Lesart muß u.E. eine alternative Lesart von „une sorte de propriété" entgegengestellt werden. Diese erweist sich für den Kontext der hier vorfolgten Problemstellung insofern als aussagekräftiger, indem sie die in Frage stehende Wendung auf die Familie selbst bezieht und damit sinngemäß der unmittelbaren Verknüpfung von Eigentum und Familiengründung folgt, wie sie im Text hergestellt wird: „Ce fut-là l'époque d'une première révolution qui forma l'établissement et la distinction des familles, et qui introduisit une sorte de propriété;". Auch ist der Abschnitt, in den die fragliche Zeile eingerückt ist, primär der Familiengründung und den aus ihr resultierenden zivilisatorischen Konsequenzen gewidmet und nicht eigentlich der Eigentumsproblematik als solcher. Für die Annahme, daß mit der Kennzeichnung „une sorte de propriété" die Familie selbst gemeint ist, spricht ferner die Tatsache, daß im Artikel „famille" der Enzyklopädie die Familie gleichfalls als „une sorte de propriété" apostrophiert wird. Jaucourt, der Autor des Enzyklopädie-Artikels, beschreibt die Familie als ein über die männliche Erbfolge verbürgtes und an die Kontinuität des Namens geknüpftes, quasi dinghaftes Eigentum, dessen Fortbestand das primäre Interesse des Vaters gilt: „II est si vrai que la famille est une sorte de propriété, qu' un homme qui a des enfans du sexe qui ne la perpétue pas, n'est jamais content qu'il n'en ait de celui qui la perpétue [...] ajoutons que les noms qui donnent aux hommes l'idée d'une chose qui semble ne devoir pas périr, sont très-propres à inspirer à chaque famille le désir d'étendre sa durée."55
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Artikel „Famille (Droit nat.)", in: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences et des métiers, a.a.O., Bd. 6, S. 390f.
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DIE ENTSTEHUNG DER FAMILIE IM DISCOURS SUR L 'INÉGALITÉ
Die offenkundigen Referenzen lassen mit einigem Recht vermuten, daß dem Verfasser des Enzyklopädie-Artikels „Familie" die einschlägige Stelle aus L'esprit des lois bekannt war, in welcher Montesquieu mit Bezug auf den Familienverband quasi defmitorisch feststellt: „Die Familie ist eine Art Eigentum (une sorte de propriété): ein Mann, der nur Kinder des Geschlechts hat, das die Familie nicht fortsetzt, ist nie zufrieden, bis er nicht solche hat, die Familie fortzusetzen."56
Rousseaus gründliche Kenntnisse von Montesquieu sind nicht zuletzt durch seine zahlreichen Anleihen belegt. Die obenstehenden Verweise legen darüber hinaus nahe, daß es sich mit „une sorte de propriété" um eine zeitgenössisch gängige Zuschreibung in Hinblick auf die Familie handelt. Versuchen wir die Implikationen dieses definitorischen Gemeinplatzes, die von Montesquieu lapidar, von Jaucourt beredter, von Rousseau hingegen bedauerlicherweise gar nicht expliziert werden, in Hinblick auf den Kontext des Zweiten Diskurs zu entfalten. Dabei liegt der erste maßgebliche Gesichtspunkt der Familie als „une sorte de propriété" in der Akzentuierung des Faktums der Vaterschaft, der zweite im von Jaucourt und Montesquieu herausgestellten Aspekt der Fortzeugung einer Blutslinie, eines Geschlechts oder eines Hauses entlang der männlichen Genealogie, woraus schließlich die dritte und entscheidende Bestimmung resultiert: die monogame patriarchale Familie als die Grundlage fur die patrilineare Vererbung von Eigentum. Erwartungsgemäß verliert die offenkundig feudalistisch-genealogische Kontur der Familiendefinition von Montesquieu und Jaucourt im Kontext von Rousseaus bürgerlichem Familienkonzept an Bedeutung, dennoch bleiben zwei mit der Familiengründung intrinsisch verbundene Momente auch für das bürgerliche Familienmodell konstitutiv: nämlich Vaterschaft und Vererbung. Im Zweiten Diskurs erachtet Rousseau das historische Phänomen der Seßhaftigkeit und die Kohabitation der Geschlechter als in einem wechselseitigem Bedingungsverhältnis stehend: Ohne daß der systematische Zusammenhang in befriedigender Weise entfaltet würde, werden Hüttenbau und Familiengründung auf der Ebene des Textes als gleichursprüngliche Phänomene eingeführt. Die systematische Bedeutung der „Hütte" liegt von daher nur vordergründig in der Bezeichnung eines ersten permanenten Aufenthaltsortes, auch nur bedingt in der Erweiterung der individuellen Eigenheitssphäre durch die Herstellung einer Behausung, sondern vor allem im Zusammenschluß der bislang isoliert lebenden Individuen zu einer dauerhaften Geschlechts- und Generationengemeinschaft. Aus der Kohabitation der Geschlechter resultiert nicht nur die Erhöhung der Schwangerschaftsrate gegenüber den Gegebenheiten im Naturzustand57, sondern vor allem das durch ein soziales Arrangement erwirkte Phänomen der leiblichen Vaterschaft. Rousseau schenkt dieser weitreichenden Konsequenz des permanenten Zusammenlebens der ehemals nomadisierenden Einzelgänger im Diskurs nur am Rande Beachtung, wenn 56 57
Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 23. Buch, 4. Kapitel: Von der Familie. Vgl. die Anmerkung XII im Zweiten Diskurs, OCP III, S. 214ff./350ff.
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er lapidar festhält, daß die „neue Situation" der Kohabitation „die Väter und die Kinder in einer gemeinsamen Wohnung vereinigte"58. Erst unter der Voraussetzung der monogamen Ehe als Fundament der Familie ist dem Faktum der Mutterschaft, einer Tatsache von naturwüchsiger Evidenz, die leibliche Vaterschaft - das Wissens um den Zusammenhang von Kopulation und Schwangerschaft vorausgesetzt - als die Konsequenz einer spezifischen Form von Verwandtschaftsordnung zur Seite gestellt. Die Gründung der monogamen Paarungsfamilie, wie sie Rousseau im Zweiten Diskurs rekonstruiert, begründet somit die leibliche Vaterschaft: Der Mann erkennt und anerkennt die Kinder der Frau, mit der er sein Leben teilt, als die seinen, als eine „Art von Eigentum". Die Hütte fungiert in diesem Zusammenhang als die Möglichkeitsbedingung einer patrilinearen Verwandtschaftsordnung.59 Unter der Rücksicht, daß Rousseau es bereits als ein wesentliches Merkmal der bürgerlichen Familie herausstellt, daß sie dazu bestimmt ist „sich aufzulösen" 60 , stehen die Fortsetzung einer Linie, die Bewahrung der Kontinuität des Namens, das Einrücken des einzelnen männlichen Individuums in die Genealogie, gleichermaßen wie das Absterben der Linie und die Auflösung des Geschlechts durch das Ausbleiben des männlichen Erben für Rousseau nicht mehr im Vordergrund der Familienkonzeption. Dennoch wird in den Definitionen von Montesquieu und Jaucourt, welche ein feudales Familienverständnis dokumentieren, ein Zusammenhang berührt, der auch für die bürgerliche Familie von ausschlaggebender Bedeutung ist. In Jaucourts Akzentuierung des Familiennamens in seiner substantiellen Bedeutung: - une chose qui semble de devoir pas périr - spiegelt sich noch die feudale Verkoppelung von Familiennamen und Familienbesitz, welcher im Namen symbolisiert ist.61 Wird demgegenüber im bürgerlichen Verständnis ein rein 58 59
60
61
OCP III, S. 168/183. Allgemein resümierend hält auch Schwartz fest: „One could say that maternal love is the natural response to an natural circumstance, whereas paternal love (and with it the family) is the natural result of an unnatural circumstance." (Joel Schwartz, The Sexual Politics of Rousseau, a.a.O., S. 25) Die grundsätzliche Künstlichkeit der Vaterschaft ist vorrangig von feministischen Autorinnen herausgestellt worden. So Lynda Lange: „Paternity is a product of human artifice, based on knowledge and custom, and therefore, according to his (Rousseaus, F.K.) philosophy, specifically human in a way that maternal love is not thought to be." (Lynda Lange, Rousseau and Modern Feminism, in: Mary L. Shanley/ Carole Pateman (Hg.), Feminist Interpretations and Political Theory, a.a.O., S. 95-111, hier: S. 100) Vgl. auch Nannerl Keohane, „But for Her Sex ... ". The Domestication of Sophie, in: Jim MacAdam/ Michael Neumann/ Guy Lafrance, Trent Rousseau Papers, Ottawa 1980, S. 135-145 und Mira Morgenstern, Rousseau and the Politics of Ambiguity. Self, Culture, and Society, University Park 1996, S. 187. „Die kleine Familie ist dazu bestimmt zu erlöschen und sich eines Tages in mehrere andere Familien aufzulösen." (Politische Ökonomie, S. 25) Theoretisch eingeholt als konstitutives Bestimmungsmerkmal der bürgerlichen Familie wird dieser Umstand bei Hegel im § 177 der Grundlinien der Philosophie des Rechts. Vgl. auch die auf das feudale Eigentumsverhältnis bezogene Charakterisierung von Marx: „im feudalen Grundbesitz scheint wenigstens der Herr als König des Grundbesitzes. Ebenso existiert noch der
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DIE ENTSTEHUNG DER FAMILIE IM DISCOURS SUR L 'INÉGALITÉ
sachliches Verhältnis gegenüber dem Besitz vorherrschend, so ändert dies nichts an der Tatsache, daß mit der Etablierung der monogamen Familie die Möglichkeit zur Vererbung entlang der patrilinearen Geschlechtsfolge verbunden ist. Wie bereits betont, widmet sich Rousseau dem Zusammenhang von Eigentumsbegründung und Staatsgründung in ausfiihrlicher Weise, läßt aber die Verbindung von Eigentumsordnung und Geschlechterordnung gänzlich unberücksichtigt. Zwischen der Phase der Frühzeit, welche die „Gründung und Unterscheidung der Familien" hervorbringt und „eine Art von Eigentum" einfuhrt und dem spätzivilisatorischen Niveau der bürgerlichen Gesellschaft, auf welchem schließlich der patriarchale Familienvorstand souverän über das Familienvermögen in Hinblick auf seine männlichen Erben disponiert62, lassen sich bei Rousseau keine Vermittlungsschritte finden. An dieser Stelle kann an Friedrich Engels erinnert werden, der in seiner 1884 veröffentlichten Schrift Über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats die These vertritt, daß der Übergang zur patriarchalisch-monogamen Gesellschaft bedingt ist durch die Ansammlung persönlichen Besitztums, das nur im Rahmen eines monogamen Systems über eine jeden Zweifel an ihrer Legitimität ausschließende Linie der Abstammung vererbt werden konnte. Zwar nimmt Rousseau im Gegensatz zu Engels keine polygammatriarchalische Frühzeit an, doch terminiert auch bei ihm die Zivilisationsgeschichte in der monogamen patriarchalen Familie, in welcher allein die leiblichen Söhne Ansprüche auf das Familienvermögen erheben können. Dabei ist der zivilisationsgeschichtlich ausschlaggebende Übergang zur Eigentumsordnung auch in Hinblick auf das Verhältnis von Männern und Frauen als gesellschaftlicher Subjekte von einschneidender Bedeutung. In dem Maße wie bei Rousseau Mann und Frau die unschuldige Frühzeit der geschlechtlich differenzierten Lebensformen, den ökonomischen Naturzustand des Jagens und Sammeins mit dem Übergang zur Produktionswirtschaft unweigerlich verlassen müssen, verwandelt sich die monogame Familie der Frühzeiten in eine Organisationseinheit der patriarchalen Eigentumsordnung. Mit der Einführung des Eigentums, das in die Hände der Familienoberhäupter in ihrer Eigenschaft als Produzenten gelegt ist, wird die monogame Ehe zum Vehikel männlicher Kontrolle über Eigentum und Vererbung. Im Zuge der patrilinearen Vererbung von Eigentum verwandelt sich die auf den reproduktiven Fähigkeiten fußende, ehemals gleichberechtigte
Schein eines innigem Verhältnisses zwischen dem Besitzer und der Erde, als das des bloßen sachlichen Reichtums ist. Das Grundstück individualisiert sich mit seinem Herrn [...] Es erscheint als der unorganische Leib seines Herrn [...] Seine Familiengeschichte, die Geschichte seines Hauses etc., alles dies individualisiert ihm den Grundbesitz und macht ihn förmlich zu seinem Haus, zu einer Person." (Karl Marx, Ökonomisch-politische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke (MEW), Ergänzungsband, 1. Teil, Berlin 1973, S. 465-588, hier: S. 505f.) 62
„Die Güter des Vaters, über die er wahrhaft Herr ist, sind die Bande, die seine Kinder in Abhängigkeit von ihm erhalten, und er kann sie nur in dem Maße an seinem Erbe beteiligen, wie sie es sich durch eine ständige Willfahrigkeit gegenüber seinen Wünschen um ihn verdient haben." (OCP III, S. 182/235)
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Lebensweise der Frau in ein unentrinnbares System von ökonomischer und nachfolgend gesellschaftlich-sozialer Diskriminierung: „Der Hauptzweck aller Tätigkeit des 63
gesamten Hauses liegt darin, das Erbe des Vaters zu erhalten und zu mehren." Für den Kontext der Familienentstehungsproblematik erweist sich somit offenkundig die zweite Lesart der mit „une sorte de propriété" umschriebenen Vorform von Eigentum fruchtbarer als die erste Variante. Diese stellt die „Hüttenepisode" im traditionellen Verständnis ausschließlich in den Kontext des Erwerbs sachlichen Eigentums, bzw. in die Perspektive einer entwicklungsgeschichtlichen Rekonstruktion naturrechtlich begründeter Rechtstitel, hier nun der Ausbildung der Vorstellung des äußeren Eigentums. Demgegenüber trägt die alternative Deutung der Stelle mehr zur Aufhellung der chronisch unterbelichteten Familienthematik bei, insofern hier auf den eigentumsähnlichen Charakter der leiblichen Kinder und die Fortzeugung einer Blutslinie als ein erster gleichsam natürlicher Begriff von Eigentum - möglicherweise auch als ein Vorbegriff von Reichtum - auf der einen Seite abgehoben wird und auf der anderen Seite der Zusammenhang herausgestellt wird, der zwischen einer spezifischen Verwandtschaftsordnung und einer bestimmten Eigentumsordnung besteht, für welche jene als Möglichkeitsbedingung fungiert.
63
Politische Ökonomie, S. 25. In einer Auseinandersetzung mit dem Ehekonzept Lockes argumentiert Lorenne Clark, daß der Institution der monogamen Ehe primär die Funktion der männlichen Kontrolle über Eigentum und Vererbung zukommt. (Lorenne M. G. Clark, Women and Locke: Who owns the apples in the Garden of Eden?, in: Dies./ Lynda Lange (Hg.), The Sexism of Social and Political Theory, a.a.O., S. 16-40) Eben dies versucht Engels im Rahmen seiner historischmaterialistischen Rekonstruktion aufzuweisen. Vgl. Sabine Doy6/ Marion Heinz/ Friederike Küster (Hg.), Philosophische Geschlechtertheorien, a.a.O., S. 296-303.
3.
Rousseaus Oikos zwischen Neoaristotelismus und bürgerlicher Familie
3.1
Vorüberlegungen
3.1.1 Auflösung der Kontinuität von häuslicher und politischer Gesellschaft Rousseaus Behandlung der Familie im Zweiten Diskurs folgt nicht mehr dem Muster der klassischen rechtsphilosophischen Diskussion der häuslichen Regimentsformen. An die Stelle der Erörterung des Hausverbandes ist die Rekonstruktion der Genese der Familie getreten; damit ist das Problem der Familie in eine zivilisationsgeschichtliche Dimension gerückt, die allerdings noch vom naturrechtlichen Rahmen mit seiner Dreiteilung von Naturzustand, Vertragsschluß und bürgerlicher Gesellschaft umspannt bleibt.1 So ist im Discours sur l'inégalité zwar kein grundsätzlicher Bruch mit dem neuzeitlichen sozialphilosophischen Paradigma zu verzeichnen, dennoch lassen sich Verschiebungen der Akzente feststellen, die erst vor dem Hintergrund der Voraussetzungen der Tradition in ihrer systematischen Tragweite auszuloten sind. Wie Hobbes im 20. Kapitel des Leviathan zeigt, so ist wegen der durch die universelle Vertragsformigkeit künstlich hergestellten Homogenität des sozialen Raumes die 1
Nach Victor Goldschmidt wird die kulturgeschichtliche Dreiteilung der Stadien von homme sauvage - homme barbare - homme civile in letzter Instanz von der für das neuzeitliche Naturrecht paradigmatischen Zweiteilung von status naturalis und status civilis dominiert. Vgl. Victor Goldschmidt, Anthropologie etpolitique, a.a.O., S. 419 u. S. 432. Goldschmidt zeigt im weiteren auf, in welcher Weise Rousseaus „historisch-,geometrische' Methode" ihre eigene Systematik hervortreibt, insofern der hypothetisch angesetzte Zeitfluß in erster Linie der Verbindung zwischen entwicklungsgeschichtlich markanten Fixpunkten dient. (S. 430ff., auch S. 175ff.) Vor diesem Hintergrund zeugt es von einem grundsätzlichen Mißverständnis, wenn z.B. Mira Morgenstern anmerkt, daß Rousseau die grundsätzliche Frage: „Why does the family develop in the first place?" nicht beantwortet. Damit verkennt sie, daß Rousseau im Zweiten Diskurs keine evolutionistische Sozialanthropologie betreibt, sondern vielmehr die kanonischen Gemeinschaftsformen des Naturrechts als Stationen eines historisch dynamisierten Naturrechts rekonstruiert. (Mira Morgenstern, Rousseau and the Politics of Ambiguity, a.a.O., S. 228f.)
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ROUSSEAUS OIKOS ZWISCHEN NEOARISTOTELISMUS UND BÜRGERLICHER FAMILIE
systematische Vorordnung der Familie vor den Staat nach aristotelischem Muster nicht mehr möglich. Darüber hinaus ist auch der Ansatz einer Entwicklungsgeschichte im Rahmen des kontraktualistischen Paradigmas, demzufolge eine geschichtliche Stufung vertragsförmiger Gemeinschaftsbildung angenommen werden kann, ausgeschlossen. Die Texte nachfolgender Autoren lassen jedoch bereits erkennen, wie im Zuge einer allmählichen Verschiebung der rein rechtslogischen Erörterungen auf eine Rekonstruktion der Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft hin, die Familie, bzw. die Vereinigung von Mann und Frau, an den Anfang der Vergemeinschaftungsgeschichte gerückt wird. So bildet bei Pufendorf und Locke die Verbindung von Mann und Frau die „erste" der menschlichen Gesellschaften.2 Mit dieser Vorgehensweise ergibt sich eine Nähe zur aristotelischen Tradition. In der Aristotelischen Politik nimmt die stufenweise Entfaltung der menschlich-sozialen Potentiale ihren Ausgang bei den häuslichen Teil-Gemeinschaften auf der Ebene des bloßen Lebens und terminiert in der Gemeinschaft der politischen Bürger als der Gestalt des guten Lebens. In diesem Zusammenhang ist die Gemeinschaft von Mann und Frau als Bestandteil des oikos der polis systematisch-genetisch vorgeordnet. Das Leben im oikos und die Vollendung des Lebens in der polis sind gleichberechtigte, qualitativ verschiedene Formen sozialer Organisation, die nicht von gleichem Rang sind. Im Kontext des neuzeitlichen Naturrechts ist mit der Kennzeichnung der Verbindung von Mann und Frau als „erster" menschlicher Gesellschaft hingegen kein Rangverhältnis angezeigt. Im Rahmen der vertragsformigen Organisation der Sozialverhältnisse handelt es sich mit der Ehe um die basale Stufe im Aufbau der societas civilis. Trotz der maßgeblichen Differenz zwischen Antike und Neuzeit bleibt in einem entscheidenden Punkt Übereinstimmung bestehen: Im aristotelischen ebenso wie im neuzeitlichen Verständnis sind häusliche Gesellschaft und politische Gesellschaft in einen Zusammenhang der Kontinuität eingebettet. Klassisch fügen sich die verschiedenen menschlichen Sozietäten in einen umfassenden, vertikalen, qualitativ-hierarchischen Stufenbau ein, neuzeitlich in den horizontalen Zusammenhang einer zunehmenden quantitativen Komplexität von Vergesellschaftung. Das bedeutet, daß sowohl gemäß aristotelischer Parameter wie auch entsprechend neuzeitlich-naturrechtlicher Vorgaben Hausgemeinschaft und politische Gemeinschaft nicht in so grundsätzlicher Weise voneinander unterschieden sind, als daß nicht beide zusammengenommen den Gegenstand der Politik bildeten.
2
Samuel Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, hg. und übers, von Klaus Luig, Frankfurt/M., Leipzig 1994, Kap. II, § 1: „Die Ehe ist der erste Stand, der außerhalb des Naturzustandes durch die menschliche Handlung bewußt und gewollt begründet wird. Sie ist die erste Art des Lebens in der Gemeinschaft und zugleich der Ursprung allen menschlichen Lebens." John Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, Kap VII, § 77: „Die erste Gesellschaft bildeten der Mann und die Frau. Sie setzte den Anfang für diejenige von Eltern und Kindern, dazu kam mit der Zeit die Gemeinschaft von Herr und Knecht."
VORÜBERLEGUNGEN
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Die fur die neuzeitliche Politiktradition konstitutive kontraktualistische Reformulierung der Sphären von oikos und polis läßt die grundsätzliche formale Kontinuität unberührt, die in der Tatsache einer wechselseitigen Übertragung der Strukturprinzipien, d.h. der Regierungs- bzw. Regimentsformen zwischen Haus und Staat besteht.3 So setzt bekanntlich Aristoteles die unterschiedlichen Verhältnisse zwischen den Hausgenossen in der Politik und in der Nikomachischen Ethik in eine Beziehung zu den Regierungsund Herrschaftsformen in der polis und reflektiert ferner ausdrücklich auf die politischen Implikationen seiner Lehre vom Haus. Nicht zuletzt ist die Erörterung des Hauses als ganze von einem politischen Motiv getragen: Hier wird die gegen Piaton gerichtete Differenzierung vorgenommen, welche die im eigentlichen Sinne bürgerlich-politischen Herrschaft über Freie und Gleiche von der aristokratischen, monarchischen und despotischen Herrschaft des Eheherrn, Vater und Dienstherrn als der Herrschaft über Ungleiche unterscheidet. Eben diese die Sphären des Hauses und des bürgerlichen Gemeinwesen miteinander verklammernde Übertragung der Regierungsformen bleibt auch im Rahmen des neuzeitlichen Paradigmas des Vertrages in formaler Hinsicht ungebrochen. Aus ihrer Strukturgleichheit folgt weiterhin, daß die Frage nach der Rechtmäßigkeit ihrer Herrschaftsstruktur fur die Sphäre des Öffentlichen wie für die des Privaten gleichermaßen aufzuwerfen ist. Worin die beiden Traditionsstränge des politischen Denkens übereinstimmen, ist die Einsicht, daß an jede Form von sozialer Organisation die Frage nach ihrer legitimen Verfassung, nach der Rechtmäßigkeit ihres regierenden Prinzips zu stellen ist. Das Legitimationsprinzip ergibt sich im Fall der aristotelischen Hausgemeinschaft als einer Gemeinschaft von Ungleichen aus der Rangordnung der Autonomiepotentiale der Familienmitglieder, die im oikodespotes als des umfassend Vernünftigen und damit der Selbstregierung sowie der Leitung der restlichen herrschaftsbedürftigen Mitglieder des Hauses fähigen Individuums gipfelt. Bei Hobbes, Locke und Pufendorf wird das Problem der Legitimität der häuslichen Regimentsformen durch die der Applikation des Vertragsprinzips auf die Hausgemeinschaft gelöst. Diese geht mit einiger Konstruiertheit hinsichtlich des unmündigen Kindes und offensichtlichen systematischen Schwächen im Fall des Mann-Frau-Verhältnisses einher. Rousseau stellt im Zweiten Diskurs die Weichen für eine radikale, auf geschichtsphilosophischen Prämissen basierende Entkoppelung der Familienthematik vom rechtsphilosophisch-politischen Diskurs. Abweichend von den Vorgaben der Naturrechtstradition, stellt das zur Familie geschrumpfte Haus im Gesellschaftsvertrag nicht nur die „erste", sondern bezeichnenderweise die „älteste" der menschlichen Gesellschaften dar. Mit Blick auf den Zweiten Diskurs ist im weiteren festzustellen, daß Rousseau die definitorisch mit jeder Form von „société" verknüpfte Frage nach ihrem regierenden Prinzip schlechterdings suspendiert. Damit wird aber der von der Tradition vorgegebene Charakter der Familie als der Kerngestalt der vertraglichen Organisation der Gesellschaft 3
Vgl. hierzu: Günther Bien, Artikel „Haus", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Darmstadt 1974, Bd. 3, Sp. 1007-1017.
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ROUSSEAUS
Oncos ZWISCHEN NEOARISTOTELISMUS UND BÜRGERLICHER FAMILIE
als ganzer, also der Status des Hausstandes als basaler Stufe im Aufbau der societas civilis revidiert: Zwischen Familie und Staat besteht keine Strukturgleichheit mehr. Daß die spezifische geschichtsphilosophische „Verflüssigung" der Konstitutionsprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft, wie Rousseau sie im Zweiten Diskurs vorfuhrt, nicht die Suspendierung ihrer rechtlichen Organisationsprinzipien nach sich zieht, zeigt der letzte Teil der Schrift. Doch die Idee des Rechts, die wechselseitige Anerkennung verbindlicher Rechtsansprüche und die wechselseitige Einschränkung der Freiheitssphären stellt einen gegenüber der Familiengründung zivilisationsgeschichtlich späteren, der Korruption der gesellschaftlichen Verhältnisse abgerungenen rationalen Erwerb dar, dessen Prinzipien den ursprünglichen Vergemeinschaftungsgrundlagen der Familie äußerlich bleiben. Die traditionell systematische Vorordnung der Familie gegenüber dem Staat hat sich damit bei Rousseau zu einer grundsätzlichen Nebenordnung, nachgerade zu einer Gegenstellung der Familie verschoben. Eine Folge dieser Abkoppelung der Familienproblematik von den Formen rechtsförmiger Vergesellschaftung ist, daß weder eine stufenförmig hierarchische, noch eine graduell quantitative Kontinuität der Sphären des Privaten und des Öffentlichen hergestellt werden kann.4 Was bleibt, ist ein Kernbereich der Gesellschaft, eine Enklave, die ihrem Ursprung nach durch die Absenz einer herrschaftlichen Organisation definiert ist, ein sozialer Bereich, der sich mittels politischer Parameter nicht mehr beschreiben läßt und somit nicht mehr in die klassische Politik zu integrieren ist. Paradoxerweise geschieht aber gerade damit eine Wiederbelebung der von Aristoteles vorgenommenen definitorischen Scheidung des Privaten vom Politischen in neuer und radikalisierter Weise. Ist indes bei Aristoteles diese Trennung innerhalb des Rahmens der beide Sphären gleichermaßen strukturierenden Herrschafitsformen auf die wesensmäßige Ungleichheit menschlicher Naturen gegründet, so wird eine vom politischen Bereich qualitativ unterschiedene gegenpolitische Dimension dann fragwürdig, wenn auf ein Konzept substantiell differenter Menschennaturen nicht mehr zurückgegriffen werden kann.
4
Auf diesen Sachverhalt zielt Carole Pateman, wenn sie schreibt: „Die Frauen sind im Grundvertrag nicht Partei, sie werden aber auch nicht im Naturzustand zurückgelassen - [ . . . ] Die Frauen werden in einen Bereich aufgenommen, der zur bürgerlichen Gesellschaft gehört und auch wieder nicht. Der private Teil ist Teil der bürgerlichen Gesellschaft, ist aber vom .gesellschaftlich-öffentlichen' Bereich abgetrennt. Der Gegensatz privat/ öffentlich ist ein anderer Ausdruck für natürlich/ gesellschaftlich und Frauen/ Männer." (Carole Pateman, Der Geschlechtervertrag, in: Erna Appelt/ Gerda Neyer (Hg.), Feministische Politikwissenschaft, Wien 1994, S. 73-95, hier: S. 85) An früherer Stelle hatte Carole Pateman bereits festgestellt: „However, the status of the family as the foundation of civil society means that the contrast between the different forms of social life in ,the state of nature' and ,civil society' is carried over into civil life itself. The distinction between and separation of private and public, or particularistic and universal spheres of association is a fundamental structural principle of the modern, liberal conception of social life." (Carole Pateman, „ The Disorder of Women", a.a.O., S. 23)
VORÜBERLEGUNGEN
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Sofern Rousseau als politischer Denker in der Traditionslinie des neuzeitlichen Kontraktualismus die Aufkündigung des aristotelischen Paradigmas beerbt, in Hinblick auf die Einordnung und Definition der Familie jedoch die naturrechtlichen Prämissen suspendiert, läßt er mit Bezug auf die innere Organisation der Familie ein Vakuum entstehen, von dem der Deuxième Discours Zeugnis ablegt und das sich erst in späteren Schriften konzeptionell wieder anfüllt. Die Parameter der neuen Familienkonzeption erweisen sich erwartungsgemäß als mit dem Naturrechtsdiskurs nicht mehr kompatibel. An dieser Stelle muß eine kurze Andeutung genügen: In dem Maße wie sich Rousseau um eine Rehabilitierung substantiell sittlicher Lebensformen unter neuzeitlichen Bedingungen bemüht, avanciert der gesellschaftliche Binnenraum der Familie zunehmend zum Schutz- und Generierungsraum all derjenigen menschlichen Beziehungsformen, die sich nicht gemäß bürgerlich-privatrechtlicher Interaktionsmuster buchstabieren lassen. Blendet man zurück zum Gesellschaftsvertrag, so wird deutlich, was Rousseau mit der Apostrophierung der Familie als „ältester" und als „natürlicher Gesellschaft" anzuzeigen beabsichtigt: Die Organisation der Familie als eines institutionellen Personenverbandes, als einer „société", ist nicht mittels kontraktualistischer Parameter zu konzipieren, sie besteht zwar innerhalb des Rahmens der bürgerlichen Rechtsordnung, aber gleichsam als ihr Gegenpol, als eine „natürliche", d.h. nicht-konventionelle Enklave und dies kraft einer in menschheitlicher Anciennität wurzelnden Dignität.5 5
Allein Hugo Grotius definiert, soweit ich sehe, die Familie als eine natürliche Gesellschaft, wenn er schreibt: „Naturalis est societas maris et foeminae, parentum ac liberorum; domini et servorum violentia magis; conductoris et mercenariorum voluntaria, ut et eorum qui, cum sint sui iuris, in domum unam, vicum, urbem unam regionem unam coeunt ..." (zitiert nach Manfred Riedel, Zur Topologie des klassisch-politischen und des modern-naturrechtlichen Gesellschaftsbegriffs, in: Archiv fiir Rechts- und Sozialphilosophie 51 (1965), S. 291-318; hier: S. 307), wobei Manfred Riedel der Unterscheidung von „natürlicher" und „willkürlicher Gesellschaft" durch Hugo Grotius als eines Klassifikationsprinzips angesichts der faktisch bestehenden und durch die Tradition überlieferten Gesellschafts- und Herrschaftsformen weniger Gewicht einräumt als der parallel dazu entwikkelten von „societates sine inaequalitate" und „societates inaequales". „So wie es aber eine Gesellschaft giebt, wo Alle gleich sind, wie unter Brüdern, Bürgern, Freunden, Bundesgenossen, und wieder ungleiche Gesellschaften, hat 'yperochén nach Aristoteles, wie die zwischen Vater und Kindern, Herr und Diener, König und Unterthan, Gott und den Menschen, so ist auch das Recht ein anderes bei denen, die als Gleiche miteinander leben und ein anderes für den Regierenden und den Regierten als solchen. Wir werden das erste richtig mit Gleichheitsrecht und das letztere mit Leitungsrecht bezeichnen." (Hugo Grotius, Drei Bücher über das Recht des Krieges und des Friedens. Neuer deutscher Text und Einleitung von Walter Schätzel, Buch I, Kap. I, § III, 2) Welcher Art von Recht die Gemeinschaft von Mann und Frau zuzuschlagen ist, darauf bleibt Hugo Grotius die Antwort schuldig. Deutlicher, obzwar im letzten nicht weniger unbestimmt sind seine Ausfuhrungen zur Ehe: „Durch Einwilligung entstehen persönliche Rechte entweder mittelst Vergesellschaftung oder mittelst der Unterwerfung. Die natürlichste [sie!] Gesellschaft ist die Ehe, doch ist hier die Gewalt wegen des Geschlechtsunterschiedes nicht gleich, sondern der Mann ist das Haupt der Frau in ehelichen und Familienangelegenheiten, denn die Frau tritt in die Familie ihres Mannes."
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ROUSSEAUS OIKOS ZWISCHEN NEOARISTOTELISMUS UND BÜRGERLICHER FAMILIE
Wie sehr sich die kurze Charakterisierung der Familie im I. Buch des Gesellschaftsvertrags in Übereinstimmung mit allgemein vertretenen zeitgenössischen Ansichten befindet, zeigt ein Blick auf die in der Enzyklopädie angeführte Definition, deren terminologische Konfusion offensichtlich schon nicht mehr empfunden wurde: „Une famille est une société civile, établie par la nature: cette société est la plus naturelle et la plus ancienne de toutes: elle sert de fondement à la société nationale."6 3.1.2
Das Verhältnis der Gatten: Discours sur l'origine de l'inégalité und Discours sur l'Œconomie politique
In dem Maße wie die neuzeitlich-naturrechtliche Konzeption des patriarchalen Hausverbandes durch die Akzentverschiebungen Rousseaus - als da sind die Abspaltung des Herr-Knecht-Verhältnisses und die Abbiendung der rechtlich-ökonomischen Grundlagen des Gattenverhältnisses - zunehmend an Kontur verliert, tritt an dessen Stelle die Familie als ein Personenverband, dessen Vergemeinschaftungsgrundlage im Gefühl besteht. Für diese Sentimentalisierung des frühbürgerlichen Hausverbandes müssen gewisse Voraussetzungen erfüllt sein. So ist die Ausgrenzung des Dienstherrenverhältnisses aus dem verbleibenden intimen Familienkern eine erste Bedingung, ferner die Beschränkung des väterlichen Regiments - neu definiert als väterliche Fürsorge - auf die unmündigen Kinder. Demgegenüber bleibt die neue Gestalt der traditionellen societas coniugalis zunächst jedoch eher unscharf. Im Zweiten Diskurs stellt Rousseau das Verhältnis der Gatten weder als eine Verbindung Ungleicher zu einer Produktions- und Konsumtionsgemeinschaft unter männlichväterlichem Regiment, noch als eine Vereinigung grundsätzlich Gleicher, die sich mittels des Unterwerfungsvertrags zum Zwecke der Bildung einer Reproduktionsgemeinschaft selber als hierarchisch gegliederter Verband zusammenschließen, vor; d.h. er greift auf keine der traditionsgemäß vorliegenden Konzeptionen zurück. Dabei ist daran zu erinnern, daß die Phase der Familiengründung in der Epoche des „Goldenen Zeitalters" angesiedelt ist, welches durch seine Herrschaftsfreiheit charakterisiert ist: Hier findet sich keine Herrschaft des Menschen über den Menschen, weder Geschlechtssuprematie noch Klassenherrschaft, noch nicht einmal eine allgemeine Herrschaft der
6
(Buch II, Kap. V, § VIII, 1) Ebenso wie schon die Definition geben auch die sich anschließenden Erläuterungen zur Ehe zu erkennen, daß es sich mit Ehe um einen weder der Vergesellschaftung noch der Unterwerfung zuzuschlagenden Sonderfall von persönlichem Recht handelt. Artikel „Familie", in: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 6, S. 390. Die identische Definition findet sich schon bei Jean-Jacques Burlamaqui, Principes de droit naturel, Genève 1748, 1. Teil. Kap. IV, § 6, Genf 1748, S. 59: „... qui se présente le premier est l'état de FAMILLE. Cette société est la plus naturelle et la plus ancienne de toutes, et elle sert de fondement à la société nationale: car un peuple ou une nation n'est qu'un composé de plusieurs familles." Burlamaqui war einer der bekanntesten Popularisierer des Naturrechts seiner Zeit; im Zweiten Diskurs nimmt Rousseau mehrfach Bezug auf seine Schriften.
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Gesetze.7 Herrschaftsfreiheit ist die Koexistenzform auf dem Mikrolevel der Familie ebenso wie auf dem Makrolevel der Nation. Die Nation stellt eine im Medium ihres unverwechselbaren Charakters, ihrer Sitten und Gebräuche geeinte Völkerschaft dar, einen vorpolitischer Körper, dessen Einheit weder durch Eroberung errungen noch konsensuell durch Vertrag gesichert ist.8 Ähnlich die Familie: Das Fundament des Verhältnisses von Mann und Frau bildet weder eine barbarisch-gewaltsame Versklavung der Frau durch den Mann, noch eine ihre Subordination auf rationale Weise befestigende vertragliche Regelung, ihre Beziehung besteht ausschließlich in der wechselseitigen Verbundenheit im Gefühl und in der Komplementarität der Lebensweisen. Anders als Grotius, Pufendorf und Locke, die zu keinem Zeitpunkt den Naturzustand auch in seinen anfanglichen Formen als ein quasi-mythisches herrschaftsfreies Menschenalter verstanden haben, rückt Rousseau die Verbindung von Mann und Frau weg vom Anfang der als rechtsförmig konzipierten Vergesellschaftungsgeschichte in eine vorrechtliche Ära der menschlichen Vergemeinschaftungsgeschichte. Vor diesem Hintergrund schließlich ist es als eine bedeutsame Weichenstellung zu werten, wenn Rousseau als Grundlage des ehelichen Verhältnisses nurmehr ein „attachement réciproque" anführt. Damit ist angezeigt, daß anstelle der ehemaligen rechtsförmigen Verbindung, der wechselseitigen rechtlichen Verpflichtung zwischen den Gatten, jetzt eine nach Ursprung und Prinzip grundsätzlich andere Art der Bindung tritt. Liegt die Basis der Verbindung der Gatten im beiderseitigen Liebesgefühl und fungiert das Band der wechselseitig frei gewährten Zuneigung als Garant einer Einträchtigkeit9, wie sie keine andere Form von Gesellschaft für sich reklamieren kann, so wird die Konzeption dieser „ersten Gesellschaft" nach dem Muster des Kontrakts, nämlich als ein äußerliches Übereinkommen zwischen Rechtssubjekten, obsolet. Dies muß in Hinblick auf die Ori7
Vgl. auch Reimar Müller, Anthropologie und Geschichte. Rousseaus frühe Schriften und die antike Tradition, Berlin 1997, S. 168f.: „Die frühe Gesellschaft erscheint bei Rousseau als herrschaftsfrei. Nicht einmal die patriarchalische Herrschaft über Sippen oder Großfamilien wie bei Piaton (Gesetze 680 A ff.) oder von Familienoberhäuptern wie bei Aristoteles (Politik I, 2, 1252 a 31 ff.) tritt bei ihm in Erscheinung." Erstaunlicherweise hält sich indes in der Rousseau-Literatur hartnäckig das Vorurteil, das „Goldene Zeitalter" der beginnenden Vergesellschaftung sei patriarchal: So Starobinski und exemplarisch Arthur O. Lovejoy, The supposed Primitivism of Rousseau 's „Discourse on Inequality", a.a.O., S. 29: „It is the patriarchal state of human society; the only government was that of familiy." Doch selbst im Essai sur l'origine des langues weist Rousseau daraufhin, daß das „Zeitalter der Patriarchen" später datiert als das „Erste Zeitalter" und betont, daß man „schon zu Zeiten der Patriarchen Ackerbau in großem Ausmaß betrieb". Essai, S. 189/ OCP V, S. 398. Damit ist auch im Essai an der Verbindung von Eigentumsbildung und patriarchaler Herrschaft festgehalten.
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Victor Goldschmidt weist darauf hin, daß bereits Barbeyrac als Übersetzer und Herausgeber von Grotius und Pufendorf in seinen Anmerkungen auf die „sauvages Nations" „sans Lois, sans Magistrats, sans aucune forme de gouvernement" Bezug nimmt. (Anthropologie et politique, a.a.O., S. 442 und S. 421 Anm. 82)
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OCP III, S. 168/183: „Jede Familie wurde zu einer kleinen Gesellschaft, die um so einträchtiger war, als die gegenseitige Zuneigung und die Freiheit ihre einzigen Bande waren."
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ginalität von Rousseaus Familien- und Ehekonzeption als die entscheidende Weichenstellung des Zweiten Diskurs gewertet werden. Diese substantielle Änderung im Familienverständnis, die im Rahmen des Zweiten Diskurs vorgenommen wird und die paradigmatisch leitend für Rousseaus originäre Neukonzeption der Familie bleibt, steht in markantem Kontrast zu den der Behandlung der Familie gewidmeten Einleitungspassagen des Enzyklopädie-Artikels, der 1755 zeitgleich mit dem Zweiten Diskurs erscheint.10 Dort stellt Rousseau der Erörterung der œconomie générale oder publique, welche das Thema des Artikels bildet, eine kurze Erläuterung der œconomie particulière oder domestique voran. Dies geschieht, um systematischen Konfusionen vorzubeugen und verbreitete Irrtümer auszuräumen - die Stoßrichtung ist anti-absolutistisch: Politische Herrschaft und väterliches Regiment haben nichts gemein. Darüber hinaus gilt es noch eine weitere Differenzierung einzuführen, nämlich die zwischen Souverän und Regierung: Der Artikel Œconomie politique entfaltet die Funktionen einer Regierung. Damit ist klar, daß die eingangs des Artikels verhandelte Problematik der Familie den im Kontext einer explizit politischen Schrift üblichen abweisenden Charakter hat. Der Behandlung der Familie ist somit weder der Zweite Diskurs noch der Enzyklopädie-Artikel gewidmet. Liefert der Zweite Diskurs den Versuch einer Rekonstruktion derjenigen Prozesse, die der Staatsgründung vorangehen, so entfaltet der Enzyklopädie-Artikel die Funktionen der öffentlichen Verwaltung: „L'un sert de prélude au Contrat Social, l'autre en est un extrait".11 Der Enzyklopädie-Artikel stellt sich also in keiner Weise als geeigneter Ort für neuartige Überlegungen bezüglich der Fundamente und der Organisationsform der Familie dar; vielmehr wird der Familienverband in herkömmlicher Manier als grundsätzlich von der öffentlichen Domäne zu trennender häuslicher Herrschaftsverband abgehandelt. Dabei wird das von Locke gegen Filmer in Anschlag gebrachte Argumentationsmuster weitgehend übernommen, wie auch der Artikel insgesamt eine deutliche Nähe zu Lockeschen Positionen aufweist. Im Rahmen der Œconomie politique werden also einleitend die Befugnisse des Hausvaters erläutert und allein in diesem Zusammenhang findet sich die einzige explizite Begründung der männlichen Geschlechtsvormundschaft aus Rousseaus Feder, die einen äußerst konventionellen Charakter trägt: „Aus mehreren in der Natur der Sache liegenden Gründen muß der Vater in der Familie befehlen. Erstens darf die Autorität von Vater und Mutter nicht gleich sein; vielmehr muß die Leitung in einer Hand liegen und bei Meinungsverschiedenheiten eine ausschlaggebende Stimme entscheiden. Zweitens: Für wie unbedeutend man die typischen Beschwernisse der Frau auch halten mag, da sie ihr immer eine Zeitlang Untätigkeit auferlegen, ist das ein hinreichender Grund dafür, sie von jener Vorrangstellung auszuschließen: denn wenn auch eine
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Einige Anhaltspunkte sprechen dafür, daß die Entstehungszeit des Artikels Œconomie politique vor der des Deuxième Discours liegt. (Vgl. hierzu OCP III, S. 1391; für weitere Details vergleiche auch die Introduction von Robert Dérathé: OCP III, S. LXXIIff.) So Robert Dérathé, OCP III, S. LXXIV.
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Waage völlig im Gleichgewicht steht, so genügt doch ein Strohhalm, um den Ausschlag zu geben." 12
An dieser Stelle also stützt sich Rousseau zur Begründung eines patriarchalen Ehemodells in herkömmlicher, wenngleich recht milder Form auf das „Souveränitätsargument": Auch in häuslichen Angelegenheiten ist eine letztinstanzliche Entscheidungsgewalt unverzichtbar. Gerade weil aber die Entscheidungskompetenz beider Gatten „parfaitement égale" ist, kann eine minimale Differenz den Ausschlag geben. Für die Rechtfertigung der männlichen Geschlechtssuprematie greift Rousseau schließlich auf das altväterliche Argument der weiblichen Schwäche zurück. Diese fußt allerdings nicht mehr auf einem grundsätzlichen Unterschied im Seelenvermögen, wurzelt auch nicht in der trieb- und affektdominierten weiblichen Natur, sondern basiert auf den mit den reproduktiven Potenzen der Frau verbundenen temporären Unpäßlichkeiten.13 An dieser Stelle kann man geneigt sein zu vermuten, daß nicht zuletzt diese durch das Eheverhältnis markierte notorische argumentative Schwachstelle grundliberaler Konzeptionen, für die sich der Gedanke einer Herrschaftslegitimation auf der Basis natürlicher Differen12 13
Jean-Jacques Rousseau, Politische Ökonomie, S. 25/ OCP III, S. 242. Auch Locke bedient sich bezüglich des Eheverhältnisses des Souveränitätsarguments. Das Faktum der weiblichen Schwäche wird bei Locke allerdings nicht näher bestimmt. Der Mann ist grundsätzlich „abler and stronger" (John Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, a.a.O., § 82). Noch allgemeiner gehalten ist die Argumentation bei Pufendorf, welcher sich mit einem Hinweis auf die Geschlechtsnatur begnügt: „Es entspricht aber nicht nur der Natur der beiden Geschlechter völlig, daß die Stellung des Mannes in der Ehe stärker sei, sondern der Mann ist auch das Haupt der von ihm gegründeten Familie. Daraus folgt, daß die Frau bei Angelegenheiten, die Ehe und Familie betreffen, der Leitung des Mannes untersteht." (Samuel Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, Zweites Buch, Kapitel 2). Johann Georg Walchs Philosophisches Lexicon von 1775 verzeichnet demgegenüber ausgesprochen liberale Argumentationsfiguren. Der Artikel „Ehestand" liefert eine Kompilation naturrechtlicher Positionen zum Problem „der Herrschaft in dem Ehestande ob selbige der Mann oder die Frau haben soll?" In dieser Frage wird indes „mehr subtil als nützlich disputiret, weil es doch bey dem bleiben wird, so einmal eingefiihret". Dennoch: „So viel ist gewiß, daß Mann und Weib von Natur einander gleich, und keines über den andern von Natur ein Recht zu herrschen habe; so bringet auch das Wesen und der Endzweck des Ehestandes an sich selbst nicht mit sich, daß jemand darinnen regiere, welche Gesellschaft eigentlich ein Stand der Freundschaft ist, und zielet auf die Fortpflanzung und Erhaltung des menschlichen Geschlechts mithin kann man diese Herrschaft aus keinem tüchtigem Grunde, als aus dem besondern Vergleiche, den Mann und Frau desfalls mit einander aufgerichtet, herleiten." Das ausschlaggebende Argument kommt schließlich demjenigen Rousseaus sehr nahe und zeigt deutlich, wie angesichts der als Schwäche gewerteten reproduktiven Potenz der Frau die traditionelle Geschlechtsvormundschaft unter dem Druck aufklärerisch-liberaler Prämissen zur Geschlechtswohltat schöngeredet wird. „Trifft man einen solchen Vergleich, so läßt sich dies das Recht der Natur gefallen, weil dadurch viel Gutes kann gestiftet werden, indem der Mann das Haupt der Familie wird, und das Weib, so ohne dem vielen Beschwerden unterworfen, sich auf solche Art von manchen Sorgen befreien kann, daher man auch durch bürgerliche Gesetze diesen Vorzug dem Manne bestätigt." (Johann Georg Walch, Philosophisches Lexicon, Leipzig 41775, S. 372ff.)
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zen strikt verbietet, Rousseau schließlich zu einer umfassenden Revision der herkömmlichen Konzeptualisierungen des Mann-Frau-Verhältnisses motiviert hat. Zumindest hat Rousseau an keiner weiteren Stelle im Rahmen seines raffiniert angelegten Programms der häuslichen Subordination und der gesellschaftlichen Nicht-Repräsentanz der Frau argumentativ auf die Phänomene von Schwangerschaft und Stillzeit als Unterpfand der weiblichen Herrschaftsbedürftigkeit zurückgegriffen - vielmehr wird die herkömmliche Konzeption der frühbürgerlichen Hausgemeinschaft als ganze aufgegeben und mit ihr der Komplex der herrschaftlichen Verfassung des Hauses suspendiert.
3.2
La Nouvelle Heloise oder Der sentimentale Oikos
3.2.1
Die Konzeption der oeconomie domestique
Wollte man nun an dieser Stelle allzu rasch und unvermittelt überblenden zu den Lösungsstrategien wie sie mit dem sozialpsychologischen Programm einer asymmetrischen Geschlechterkomplementarität im Emile für eine grundlegend neue Fassung und Vermessung des Geschlechterverhältnisses ausformuliert sind, begäbe man sich der Möglichkeit, die Ungleichheit von Mann und Frau als eine der Ehegatten zunächst noch unter rechtsphilosophischer Rücksicht in den allgemeinen Kontext des Problems politischer Gleichheit und Ungleichheit bei Rousseau zu stellen. Gerade mit dieser für seine politische Theorie zentralen Frage ist auch einer der gravierendsten Widersprüche von Rousseaus Denkens verbunden: der Widerspruch nämlich zwischen emanzipatorischpolitischen Ideen einerseits und einem restaurativen Sozialprogramm andererseits, zwischen einem demokratischen Republikanismus auf der einen und einer konservativen, retrospektiven Sozialromantik auf der anderen Seite14. Um diese Gegensätze ins Auge zu fassen, bedarf es eines Blicks auf das Gesamt der Schriften, der über die im engeren Sinne politischen Schriften des Autors wie den Gesellschaftsvertrag oder dem Enzyklopädie*Artikel hinausgeht.15 Die für Rousseaus Denken so charakteristische Spannung zwischen „Demokratie und Konservatismus"16 wird am Problem der rechtlichen Stellung der Frau in besonders prägnanter Weise sichtbar. Der fundamentale Widerspruch, auf welchen hin sich der Mainstream der von feministischer Seite erhobenen Vorwürfe gegen den politischen Aufklärer Rousseau bündeln läßt, lautet denn auch folgenderma14 15
16
Vgl. Bronislaw Baczko, Rousseau. Einsamkeit und Gemeinschaft, Wien u.a. 1970, S. 447 u. S. 449. Hier sind vor allem der Briefroman Julie ou La Nouvelle Heloise wie auch die sogenannten Verfassungsentwürfe: Entwurf einer Verfassung für Korsika und Betrachtungen über die Regierung Polens zu nennen. Analysen des sozialpolitischen Gehalts der Nouvelle Heloise finden sich bei Bronislaw Baczko, Rousseau. Einsamkeit und Gemeinschaft, v.a. im Abschnitt „Demokratie und Konservatismus", a.a.O., S. 442—484, bei Judith Shklar, Men and Citizens, a.a.O., S. 22ff„ S. 127ff., S. 150ff„ ferner auch bei Jean Starobinski, Rousseau - Eine Welt von Widerständen, a.a.O., S. 123-183 und Mira Morgenstern, Rousseau and the Politics of Ambiguity, a.a.O., S. 204ff., u. S. 208-219.
LA NOUVELLE HELOÏSE ODER DER SENTIMENTALE OIKOS
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ßen: Wie können Rousseaus liberal-demokratische Überzeugungen und die unrevidierte bürgerliche Geschlechtsvormundschaft des Mannes gegenüber der Frau nebeneinander bestehen? Ohne Zweifel ist es erklärungsbedürftig, daß Rousseau den Grundsätzen des rationalen Naturrechts, welche Gleichheit und individuelle Selbstbestimmung unangesehen natürlicher Differenzen und ständischer Unterschiede festschreiben, treu bleibt so, wenn er im Enzyklopädie-Artikel konzediert, daß in Bezug auf Selbstbestimmungsrecht von Mann und Frau „la balance est parfaitement égale" - gleichwohl aber mit Shklar zu konstatieren ist, daß Rousseau sich als „firm believer in paternal supremacy"17 zu erkennen gibt. Es sind die feministischen Autorinnen gewesen, die im Zuge ihrer Rekonstruktionsarbeit an den theoretischen Grundlagen der Geschichte der gesellschaftlich-politischen Unterdrückung der Frau den Finger auf diese Wunde bei Rousseau gelegt haben; dabei haben sie allerdings zumeist übersehen, daß theoretische Brüche nicht nur in Bezug auf den gesellschaftlich-rechtlichen Status der Frau zu verzeichnen sind, sondern vielmehr auch in Hinblick auf die von Rousseau entworfene Idealgestalt der Hausgemeinschaft als ganzer zu konstatieren. Zwar geben sich die theoretischen Inkonsistenzen markant an der fragwürdigen Position der Frau zu erkennen, die Bruchlinien verlaufen indes auf einer tieferen Ebene: entlang der Sphärentrennung von Familie und Staat als ganzer. Es stehen sich das Ideal einer egalitär-demokratischen Republik und das der Hausgemeinschaft als einer sentimentalen Gemeinschaft von Ungleichen völlig unvermittelt gegenüber.18
17 18
Judith Shklar, Men and Citizens, a.a.O., S. 25. Die vorliegende Beschränkung auf Rousseau darf indes nicht vergessen machen, daß hiermit grundsätzlich einer der gravierendsten Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft benannt ist. Mit Rousseaus Behandlung der proto-bürgerlichen Familie am Beispiel der Wirtschaftsgroßfamilie Ciarens ist erstmalig skizzenhaft umrissen, was sich im Lauf des 19. Jahrhunderts zum gesellschaftlich am erfolgreichsten verleugneten „offenbaren Widerspruch", so Eric J. Hobsbawm, entfaltet. Bemerkenswert ist, „daß eine Gesellschaft, die sich zur profitorientierten Konkurrenzwirtschaft, zur individuellen Leistung des einzelnen, zur Freiheit und zum Prinzip gleicher Rechte und Chancen für alle bekannte, auf eine Institution gegründet war, die zu all dem in schroffestem Widerspruch stand". Denn: „Die Grundeinheit dieser Gesellschaft, der Einfamilienhaushalt, war zu gleicher Zeit eine patriarchalische Despotie und das verkleinerte Abbild der Gesellschaftsordnung, die die Bougeoisie als Klasse (bzw. ihre theoretischen Wortführer) ablehnte und bekämpfte: ein hierarchisches System persönlicher Abhängigkeiten." Hobsbawm resümiert: „Der entscheidende Punkt ist der, daß die Struktur der Bourgeoisfamilie in glattem Widerspruch zur Struktur der bürgerlichen Gesellschaft stand." Eric J. Hobsbawm, Zum Zusammenhang von Erwerbsleben und bürgerlicher Familienstruktur, a.a.O., S. 407 u. S. 409. Vgl. hierzu auch: Ute Frevert (Hg.), Bürgerinnen und Bürger: Geschlechterverhältnisse im 19. Jh., Göttingen 1988, S. 11-17 und: Ursula Vogel, Patriarchale Herrschaft, bürgerliches Recht, bürgerliche Utopie. Eigentumsrechte der Frauen in Deutschland und England, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 1, München 1988, S. 406-438, bes. S. 406-412 und Ute Gerhard, Gleichheit ohne Angleichung. Frauen im Recht, a.a.O.
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ROUSSEAUS OIKOS ZWISCHEN NEOARISTOTELISMUS UND BÜRGERLICHER FAMILIE
Nur wenige Interpreten haben das antikisierende, neoaristotelische Modell des Hausverbandes, wie es Rousseau entwickelt, so scharf verurteilt wie Eric Weil: „Rousseau n'est pas démocrate; l'ouvrier n'est pas citoyen, la femme irrémédiablement inférieure à l'homme, est exclue de la communauté. Son citoyen idéal est le citoyen d'Athènes, sa famille, la familia romaine." 19
In diesem Zusammenhang empört Eric Weil vor allem der 10. Brief des vierten Teils des Romans Julie ou La Nouvelle Héloïse. Gemeint ist damit die „ceconomie domestique dans le roman"20, die Rousseau neben der „ceconomie politique" des EnzyklopädieArtikels verfaßt hat. Rousseau entwickelt in der zweiten Hälfte seines großangelegten Briefromans Julie ou La Nouvelle Héloïse eine „Ökonomik" im alten Stil, eine Lehre vom oikos, vom „ganzen Haus", wie es Otto Brunner im Anschluß an Wilhelm Heinrich Riehl formuliert hat.21 Als locus classicus der Ökonomik, traditionell einer der drei Teile der praktischen Philosophie, firmiert das I. Buch der Politik und sie umfaßt bei Aristoteles neben der Beschreibung der sozialen Verhältnisse innerhalb des Hauses, also neben den hier bereits mehrfach diskutierten häuslichen Teilgemeinschaften und ihren Regimentsformen, die Verwaltung des Hausbesitzes, die Anleitung der Sklaven und die Abgrenzung der natürlichen Erwerbskunst von der „künstlichen": der Chrematistik als dem Gelderwerb. Rousseau muß für seine „ceconomie domestique"22 indes nicht unbedingt auf die ihm wohlbekannte Politik des Aristoteles zurückgreifen: Noch das 17. Jahrhundert verzeichnet eine rege Produktion innerhalb des populären Genres der sogenannten „Hausväterliteratur".23' Hierbei handelt es sich um Schriften, die ganz allgemein die „geschlossene Hauswirtschaft", d.h. ein die engere Familie, das Eigentum und das Gesinde umfassen19 20 21
22
23
Eric Weil, Rousseau et sa politique, in: Critique 8 (1952), S. 4-28, hier: S. 21. Vgl. Bernard Guyon, OCP II, S. 1390. Otto Brunner, Das „ganze Haus" und die alteuropäische „Ökonomik", in: a.a.O., S. 103-127. Wilhelm Heinrich Riehl, Naturgeschichte des deutschen Volkes. Zusammengefaßt und hg. von Gunther Ipsen, Leipzig 1935, S. 197ff. Das „ganze Haus" ist Wilhelm H. Riehls Eindeutschung der lateinischen societas perfecta. Der gesellschaftspolitische Gehalt der Nouvelle Heloise wird auch an den Stellen greifbar, wo Rousseau über die reine „ceconomie domestique" hinaus auf aktuelle ökonomisch-agrarische Reformen Bezug nimmt und indirekt selbst Stellung bezieht. (Vgl. hierzu: Bronislaw Baczko, Rousseau. Einsamkeit und Gemeinschaft, a.a.O., S. 584 Anm. und die Annotation Bernard Guyons, OCP II, S. 1663f.) Darin liegt nicht nur eine Verbindung zu den Themen des dritten Teils des Discours sur l 'ceconomie politique, sondern es reflektiert sich darin auch ganz allgemein die Tatsache, daß der zentralisierte absolutistische Staat des 17. und 18. Jahrhunderts die „res oeconomica" der Untertanen bereits zunehmend in Belange der „Staatsökonomie" verwandelt hatte, der Begriff der Ökonomie sich aus der Lebenswelt der Familie herauszulösen begonnen hatte. Der Rousseausche Neologismus „ceconomie domestique" (OCP III, S. 241) dokumentiert, daß der einzelfamiliäre Bezug der Ökonomie bereits einer besonderen Kennzeichnung bedurfte. Vgl auch den Artikel „Hausväterliteratur" von Otto Brunner im Handwörterbuch schaften, hg. v. Erwin v. Beckerath., Bd. 5, Göttingen 1956, S. 92f.
der
Sozialwissen-
LA NOUVELLE HELOISE ODER DER SENTIMENTALE OIKOS
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des häusliches Gemeinwesen zum Gegenstand haben. Brunner rekapituliert bei der Behandlung des von ihm als exemplarisch eingeschätzten Werkes von Hohberg, der Georgica curiosa24, die selben thematischen Schwerpunkte, die sich bei Rousseau finden: das Wirken des Hausvaters, sein Verhältnis zu Gott, zur Gattin und zu den Kindern, eine ausführliche Behandlung von Erziehungsfragen und Aspekten des adligen Bildungsganges, ferner die nicht minder ausfuhrliche Erörterung des Verhältnisses zum Gesinde und zu den bäuerlichen Untertanen, schließlich eine Schilderung des Wirkungskreises der Hausmutter und nicht zuletzt die eingehende Behandlung der komplexen Produktionstätigkeit, wie sie im Rahmen einer Wirtschaftsgroßfamilie geleistet wird. Die in die Nouvelle Heloise eingefugte „Ökonomik" gliedert sich trotz des romanhaften Kontextes übersichtlich in drei Teile, wovon der erste - dies der von Weil inkriminierte zehnte Brief des vierten Teils - von den Funktionen und der Stellung der Hausangestellten und der Lohnabhängigen handelt, der zweite von der Lebensweise der Herren und der Verwaltung der Güter25, der letzte schließlich von der Leitung und Erziehung der Kinder26. Wenn im Folgenden das Modell der ländlichen Lebens- und Produktionsgemeinschaft des Anwesens Ciarens als das von Rousseau propagierte Modell der Familie unter dem Etikett des oikos diskutiert wird, so kann mit diesem Titel nur die Tatsache einer Reformulierung des normativen Gehalts des aristotelischen oikos unter den Bedingungen der Moderne angezeigt sein. Denn, wie bereits erläutert, ist es gerade Rousseau, der die traditionelle Kontinuität der Sphären von oikos und polis suspendiert und damit die für die modernen bürgerlichen Verhältnisse spezifische Differenz von Privatheit vom Öffentlichkeit inauguriert. Mit dieser Scheidung ist die bis dato ungebrochene Parallelisierung der Herrschaftsverhältnisse im Haus und im Staat und die wechselseitige Übertragung der Strukturprinzipien zwischen dem Bereich des Häuslichen und des Politischen obsolet geworden. Diesem Hintergrund und den Vorgaben des Zweiten Diskurs gemäß, steht bei der Behandlung der sozialen Verhältnisse innerhalb des Hauses für Rousseau nicht mehr die Erörterung der häuslichen Regimentsformen im Vordergrund, auch nur bedingt die Spezifizierung der unterschiedlichen Funktionen der Hausmitglieder; sein Interesse liegt vorrangig auf der Qualität der menschlichen Beziehungen, welche die Hausmitglieder miteinander verbinden. Gerade dieser Gesichtspunkt läßt die Apostrophierung einer ersten Gestalt der bürgerlichen Familie als „ oikos " als eher unangemessen erscheinen. Eine, wie zu zeigen ist, in der Einträchtigkeit des Gefühls innerlich verbun24
25
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Wolf Helmhard von Hohberg, Georgica curiosa oder Adeliges Land- und Feldleben, Nürnberg 1682; vgl. Otto Brunner, Das „ganze Haus" und die alteuropäische „Ökonomik", a.a.O., S. 104f. Vgl. Julie oder Die neue Helo'ise. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. Vollständige Ausgabe, in der ersten deutschen Übertragung von Johann Gottfried Gellius. Vollständig überarbeitet von Dietrich Leube. Mit Anmerkungen und einem Nachwort von Reinhold Wolff, München 1988. (Im folgenden zitiert als Die neue Heloise) Teil V, Brief 3. Ibid.
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dene Gemeinschaft ist dem Konzept des aristotelischen Haus nur schwerlich kommensurabel; ebenso deutet die Akzentuierung der hausinternen Beziehungsqualitäten bereits darauf hin, daß mit Bezug auf die Frage des gelingenden Lebens die traditionelle Nachrangigkeit der Sphäre des bloßen Lebens aufgehoben ist. Im Gegensatz zu seiner herkömmlichen Bestimmung erweist sich der traditionsgemäß entwertete Bereich der ökonomischen Produktion und generativen Reproduktion in seinem neuen Zuschnitt als ein der politischen Sphäre ebenbürtiger Umkreis personaler Interaktions- und Kommunikationsformen. In Rousseaus Ideal republikanischer Bürgerlichkeit ist die Entfaltung humaner Potentiale nicht mehr allein dem Reden und Handeln in der öffentlichen Dimension vorbehalten; im Zuge der für die Moderne leitenden Idee individueller Selbstverwirklichung avanciert der häusliche Bereich zum Privaten im emphatischen Sinne: Zu einem Ort kultivierter Innerlichkeit und gehegter Intimität. Dessen ungeachtet bleiben zwei nicht unmaßgebliche Gesichtspunkte, die es erlauben, an Rousseaus Familienmodell neoaristotelische Züge festzustellen. Da ist zum einem der für die Konzeption der Rousseauschen Republik als nicht gering zu veranschlagende Aspekt, daß das Hauswesen eine autarke Produktions- und Konsumtionsgemeinschaft traditionellen Stils darstellt und in dieser Form die Organisation der ökonomischen Basis des Staates abgibt. Vor allem aber ist es der fundamental auf das politische Selbstbestimmungsrecht der dem Haus inhärierenden Individuen zielende Umstand, daß mit der Gestalt des Hausverbandes die politische Gesellschaft der Gleichen durch die häusliche Gemeinschaft der Ungleichen konterkariert wird. 3.2.2
Das Problem von Gleichheit und Ungleichheit27
Rousseau hat bekanntlich mit Blick auf sein Werk gesagt, daß die vermeintlichen Widersprüche, derer man ihn zeihen könnte dann verschwänden, wenn man ihm ausreichend Zeit einräume, sich zu erklären.28 Mit Rücksicht auf die vorliegende Problematik kann dies nur bedeuten, den vorderhand schroffen Widerspruch zwischen einer egalitärdemokratischen Gesellschaft und einer privaten hausständischen Gemeinschaft von seinen Voraussetzungen her grundlegend zu bedenken, um ihn im Sinne Rousseaus möglicherweise als einen nur scheinbaren und oberflächlichen entlarven zu können. Somit stellt sich also die Aufgabe, das Problem von Gleichheit und Ungleichheit bei Rousseau näher zu analysieren. Der Gleichheitsgrundsatz als politisch wirksames Prinzip besagt, was sich auch in der späteren Unabhängigkeitserklärung plakativ als der Gleichheitsgedanke der Neuzeit
27
28
Vgl. hierzu v.a. die Beiträge von Robert Dérathé: La place et l'importance de la notion d'égalité dans la doctrine politique de Jean-Jacques Rousseau, in: Ralph A. Leigh, Rousseau after Two Hundres Years, Proceedings of the Cambridge Bicentennial Colloquium, Cambridge u.a. 1982, S. 55-67 und Raymond Polin: Le sens de l'égalité et de l'inégalité chez Jean-Jacques Rousseau, a.a.O. Essai, Ed. Winkler, a.a.O., S. 192/ OCP V, S. 401.
LA NOUVELLE HELOÏSE ODER DER SENTIMENTALE OKOS
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formuliert findet: daß alle Menschen mit den gleichen unveräußerlichen Rechten geboren sind. Materielle Gleichheitsforderungen erweisen sich nur dann als sinnvoll, wenn alle Menschen auch als wesensmäßig gleich veranschlagt werden. Historisch erhält der Gleichheitsgedanke der Stoa zwar durch das Christentum seine ökumenische Entschränkung, dennoch ist auch im Christentum die prinzipielle Gleichheit vor Gott von der Gleichheit unter den Menschen zu unterscheiden; entsprechend rührt auch das Christentum nicht an die Sklaverei, das härteste Rechtsinstitut auf der Basis der Ungleichheit. Prägt gemäß Seneca nach dem unwiederbringlichen Verlust des Goldenen Zeitalters die Sklaverei notwendig die menschlichen Verhältnisse, so wird diese Ungleichheit unter den Menschen, christlich gesehen, zu einer postlapsarischen Unausweichlichkeit. Es ist Rousseau, der sich im Contrat Social als erster politischer Denker explizit gegen die Rechtmäßigkeit der Sklaverei ausspricht - selbst das Modell des Unterwerfungsvertrags, also der Akt des freiwilligen Willensverzichts, ist im Rousseauschen Verständnis unrechtmäßig29; im Weiteren verwirft Rousseau im Discours sur l'inégalité nachhaltig die Theorie der Kirchenväter, gemäß welcher die Sklaverei eine unausweichliche Konsequenz des Sündenfalls und als solche zugleich Züchtigung und Remedur für das verdorbene menschliche Geschlecht darstellt. Nach Rousseau ist es nicht die Erbsünde, sondern es sind die UnVerhältnismäßigkeiten, die der Zivilisationsprozeß freisetzt, welche die natürlich-ursprüngliche Gleichheit zerstört haben. Somit erhält der normative Vorschein des Naturzustandes appellativen Charakter: Nur eine Wiederholung der Natur auf der Ebene der Gesellschaftlichkeit kann die wesensmäßige Gleichheit der Menschen wiederherstellen. Dies leistet nach Rousseau allein das Gesetz als Ausdruck der volonté générale, insofern es nämlich die natürliche Gleichheit der Menschen im Recht wiedereinsetzt.30 In die Allgemeinheit eines Gesetzes, das der volonté générale entspringt, ist die Gleichheit in zweifacher Weise eingegangen: Es sind zum einen die Einzelwillen aller Bürger als Teilhaber des Souveräns in gleichen Teilen in den Prozeß der Gesetzgebung eingeflossen und zum anderen ist das Gesetz wegen der Form der Allgemeinheit auf alle Bürger als ihm Unterworfene in gleicher Weise bezogen. Aber Rousseau hat immer hinsichtlich der durch das allgemeine Gesetz garantierten Gleichheit mit voller Schärfe zwei problematische Sachverhalte gesehen: daß nämlich die formal-rechtliche Gleichheit an einer faktisch bestehenden Ungleichheit „dans les rangs et dans les fortunes"31 nichts zu ändern vermag, also auch eine wohletablierte 29
Vom Gesellschaftsvertrag, Buch I, Kap. 4. Hugo Grotius und Samuel Pufendorf halten das freiwillige Sichverkaufen an einen Herrn zum Zweck der Subsistenzsicherung naturrechtlich für vertretbar. Hugo Grotius, De iure belli ac pacis, Buch V, Kap. V, § 27; Samuel Pufendorf, De iure naturae et gentium, Buch VI, Kap. III, §§ 4, 5 und Buch VII, Kap II, § 1.
30
Politische Ökonomie, S. 41/ OCP III, S. 248: „C'est à la loi seule que les hommes doivent la justice et la liberté. C'est cet organe salutaire de la volonté de tous, qui rétablit dans le droit l'égalité naturelle entre les hommes." Auch: Vom Gesellschaftsvertrag, Buch I, Kap. 9. OCP m , S. 405/ Vom Gesellschaftsvertrag, Buch III, Kap. 4.
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Rechtsgleichheit nicht schon per se soziale Gerechtigkeit zu befördern und zu gewährleisten vermag32, und daß ferner vielmehr extreme Klassen- und Vermögensdifferenzen den Staat als Garant gesetzlicher Freiheit zu unterminieren drohen. Rousseau unterscheidet also zwischen einer „situation de principe", wie es Polin nennt, welche die ideale Gleichheit im Moment des Vertragsschlusses umfaßt und einer „situation de fait", welche die Aufrechterhaltung dieser Freiheit auf Dauer und im konkreten sozialen 33
Kontext bezeichnet. In Rousseaus Schriften findet sich ein waches Bewußtsein für soziale Stratifikationen und für Differenzen in den Vermögensverhältnissen, kurz: für die UnVerhältnismäßigkeiten von Stand und Besitz. Die Analysen des Zweiten Diskurses zeigen darüber hinaus auf, daß die Produktion von Ungleichheiten geradezu ins Herz des Zivilisationsprozesses eingeschrieben ist, insofern als die natürlichen Unterschiede in den individuellen Talenten und Begabungspotentialen erst im Zuge der Vergesellschaftung, nach Maßgabe der Ausdifferenzierung der Arbeitsarten und der Diversifizierung der Erwerbsformen ihren gesellschaftlich wirksamen Niederschlag finden. Allein in der urzuständlichen Vereinzelung ließe sich die ursprüngliche Gleichheit konservieren. Weil aber im gesellschaftlichen Spiel der Kräfte die natürlichen Unterschiede der Menschen dazu tendieren, sich in unterschiedlichen Besitz- und Machtlagen zu sedimentieren, weil also „die Kraft der Dinge stets dazu neigt, die Gleichheit zu zerstören, muß die Kraft der Gesetzgebung stets versuchen, sie aufrechtzuerhalten".34 Da Rousseau nicht den Weg von Plato oder Morus wählt und die soziale Gleichheit im Gemeineigentum befestigt, um damit die Entfaltung der gesellschaftlichen Ungleichheit und den amor sceleratus habendi schon im Keim zu ersticken, sondern vielmehr am Privateigentum als dem ,Jieiligste[n] aller Bürgerrechte"35 festhält, sieht er sich folglich auch gezwungen, die politisch-sozialen Konsequenzen dieser Eigentumsordnung zu bewältigen. Auch hier erweist er sich als gründlicher Leser Montesquieus, welcher in aller Deutlichkeit die Gefahrdungen der Demokratie durch extreme Unterschiede in den Besitzverhältnissen herausgestellt hatte. Nicht anders als bei Montesquieu ist auch bei Rousseau die Liebe zur Demokratie mit der Liebe zur Gleichheit verbunden und diese konstitutiv an die Liebe zur Frugalität und Mittelmäßigkeit gekoppelt.36 Denn da in der 32
Im schlechtesten Fall „ist diese Gleichheit nur scheinbar und vorgespiegelt; sie dient nur dazu, den Armen in seinem Elend und den Reichen in seinem angemaßten Besitz zu erhalten. In Wirklichkeit sind die Gesetze immer den Besitzenden nützlich und den Habenichtsen schädlich." ( Vom Gesellschaftsvertrag, Buch I, Kap. 9)
33
Vgl. Raymond Polin, Le sens de l'égalité et de l'inégalité chez Jean-Jacques Rousseau, a.a.O. Vom Gesellschaftsvertrag, Buch II, Kap. 11/ OCP III, S. 392; vgl. auch Buch III, Kap. 4 und Emil, S.240/OCPIV, S. 524. Politische Ökonomie, S. 75/ Œconomiepolitique, OCP III, S. 263. Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch V, Kap. 3-6. Politische Tugend, vertu politique, als Liebe zum Vaterland, zur Gleichheit und Genügsamkeit ist nach Charles de Montesquieu das Prinzip einer Republik. Dieser esprit d'égalité garantiert den Zusammenhalt und die Stabilität der politischen Gemeinschaft. Montesquieu übernimmt die antike Einteilung der Regierungsformen und ordnet im Weiteren der Aristokratie das Prinzip der Ehre, der Monarchie das des Luxus und
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Demokratie jedem „dasselbe Glück und dieselben Vorteile zustehen sollen, müssen alle auch die gleichen Freuden genießen, die gleichen Hoffhungen hegen dürfen; das aber ist nur bei einer allgemeinen Anspruchslosigkeit denkbar"37. Diese Gleichheit in der Einfachheit muß aber in einer Republik durch die Gesetze vorgeschrieben sein, wenn man sie lieben soll.38 Will man das Privateigentum nicht aufheben, so muß man ihm die engst möglichen Grenzen auferlegen, ihm Regel und Maß geben, seiner wilden 39
Entfaltung Zügel anlegen und es auf das allgemeine Wohl hin dirigieren. Was darunter konkret zu verstehen ist, kann hier nur angedeutet werden.40 Gedacht ist an eine Gesetzgebung, welche sich dem Ziel der sozialen Gleichheit, bzw. der Moderierung der sozialen Ungleichheit über ökonomische Rahmenbedingungen und ein staatliches Erziehungssystem langsam und behutsam annähert, weiterhin an die Justierung der gesellschaftlichen Verteilung der Vermögen auf einer mittleren Ebene, die sukzessive Stärkung des „état médiocre", des Mittelstandes, ganz allgemein die Beförderung eines Juste milieu" von „heureuse médiocrité"41, die zu großen Teilen, indes nicht ausschließlich mit Mitteln der Sozial- und Wirtschaftspolitik, sondern auch flankiert durch die Propagierung einer „großefn] Einfachheit der Sitten"42 betrieben wird. Rousseaus Vorschläge laufen hinaus auf die Herstellung einer gewiß nicht vollständigen, aber doch größtmöglichen sozialen Homogenität durch die Vermeidung gesellschaftlicher Extremlagen von abundantem Reichtum einerseits und sozialer Verelendung andererseits.43 Hier mag die konkrete Anschauung der Verhältnisse der spätabsolutistischen Gesellschaft mit der Lektüre antiker Autoren, allem voran Piaton, zu einer theoretischen Überzeugung verschmelzen. Auch fur Platon muß eine starke, gesunde Republik sich auf das Fundament einer hinreichenden, sozio-ökonomischer Gleichheit stützen können.44 Mehrfach hat Rousseau das Bild beschworen, wie die demokratische Republik
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dem Despotismus schließlich dasjenige der Furcht zu. Vgl. Gerald Stourzh, Die tugendhafte Republik. Montesquieus Begriff der „vertu" und die Anfänge der Vereinigten Staaten von Amerika, in: Ders., Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, Wien, Köln 1989, S. 117-136. Ibid., 3. Kapitel. Zu den klassischen Anleihen bei Epikurs „aurea mediocritas" und stoischchristlichen Bezügen vgl. Robert Mauzi, L'idée du bonheur dans la littérature et la pensée françaises au XVIIIe siècle, Paris 1960, Chapitre IV. 4. Apologie de la Médiocrité. Ibid. Entwurf einer Verfassung für Korsika, in: Sozialphilosophische und politische Schriften, a.a.O., S. 507-561, hier: S. 541/Projet pour la Corse, OCP m , S. 931. Ausführlich dazu Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, a.a.O., S. 211-254. „C'est sur la médiocrité seule que s'exerce toute la force des lois" ((Economie politique, OCP III, S. 258/ Politische Ökonomie, S. 65). Vom Gesellschaftsvertrag, Buch III, Kap. 4/ OCP III, S. 405. Entwurf einer Verfassung für Korsika, S. 555f. Projet pour la Corse OCP III, S. 945; Politische Ökonomie, S. 65/ OCP III, S. 258. Politeia 421 ff.
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ROUSSEAUS ODCOS ZWISCHEN NEOARISTOTELISMUS UND BÜRGERLICHER FAMILIE
zwischen der Fraktion der Reichen und derjenigen der Armen gleichsam verschachert wird: „Du willst also dem Staat Dauerhaftigkeit verleihen? - bringe die Extreme soweit wie möglich einander näher: dulde weder Überreiche noch Bettler. Diese beiden Stände, natürlicherweise gekoppelt, sind dem Gemeinwohl gleicherweise verderblich; aus dem einen kommen die Helfershelfer der Tyrannei, aus dem anderen die Tyrannen; der Handel mit der öffentlichen Freiheit findet immer zwischen diesen statt; der eine kauft und der andere verkauft sie."45
Große Unterschiede in den Vermögenslagen ziehen politischen Indifferentismus sowohl bei den privilegierten wie auch bei den depravierten Schichten nach sich: Der Reiche hält das Gesetz in der Geldbörse und der Arme liebt das Brot mehr als die Freiheit.46 Mit diesen Äußerungen fallt Licht auf einen entscheidenden Punkt: Für Rousseau ist die Gleichheit der materiellen Bedingungen nicht schon ein Zweck an sich, sondern eine moderate soziale Gleichheit stellt eine unverzichtbare Bedingung für den Erhalt der bürgerlichen Freiheit dar, sein Motiv der Gesellschaftskritik ist rein politischer Natur. Und Freiheit, das allen Individuen gleichermaßen zukommende Recht auf selbstbestimmten Selbsterhalt, bezeichnet den Sachverhalt, daß , jeder Mensch frei und als Herr seiner selbst geboren ist"47. Das wahre Humanuni besteht für Rousseau in der individuellen freien Selbstbestimmung; vorgesellschaftlich-naturzuständlich als pure Unabhängigkeit realisiert, kann sie unter den Bedingungen der Gesellschaftlichkeit nur in der politischen Souveränität der Citoyens bewahrt bzw. wiederhergestellt werden. Sozioökonomische Gleichheit, die über die formale Gesetzesallgemeinheit hinausgeht, ist für Rousseau allein Mittel zum Zweck: nämlich Bedingung, welche das Bestehen der Republik auf Dauer garantiert. Wenn also Rousseau an den König von Polen schreibt: „le premiere source du mal est l'inégalité"48, so ist hier gemeint, daß aus der gesellschaftlichen Ungleichheit als der Ungleichheit der Besitzstände der Verlust der freien Selbstbestimmung resultiert, und d.h. Verhältnisse von persönlicher Abhängigkeit und Sklaverei generiert werden - somit die Ungleichheit als der ursprüngliche Quell sozialer Mißstände anzusehen ist, das primäre und verhängnisvollste Übel an sich stellt indes ohne Zweifel der Verlust der Selbstbestimmung dar.
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„Voulez-vous donc donner à l'Etat de la consistance? rapprochez les degrés extrêmes autant qu'il est possible: ne souffrez ni des gens opulens ni des gueux. Ces deux états, naturellement inséparables, sont également funestes au bien commun; de l'un sortent les fauteurs de la tirannie et de l'autre les tirans; c'est toujours entre eux que se fait le trafic de la liberté publique; l'un achette et l'autre la vend." OCP III, S. 392/ Vom Gesellschaftsvertrag, Buch II, Kap. 11 Anm.; vgl. auch Considérations, OCP III, S. 1009, Politische Ökonomie, S. 63f./ OCP III, S. 258.
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Briefe vom Berge, in: Schriften, a.a.O., Bd. 2, S. 7-252, hier: S. 243/ OCP III, S. 890. Vom Gesellschaftsvertrag, Buch IV, Kap. 2./ OCP III, S. 440. OCP III, S. 49.
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LA NOUVELLE HELOISE ODER DER SENTIMENTALE OIKOS
3.2.3
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Die Verhältnisse von Ciarens
So weit zunächst die Vorüberlegungen zum Problem von Gleichheit und Ungleichheit. Sie tragen indes nur begrenzt zur Aufklärung des konstatierten Widerspruchs zwischen der Egalität der Bürger und der Ungleichheit der Hausgenossen bei. Dieser Umstand macht aber deutlich, daß Ungleichheit im Sinne der gesellschaftlichen Stratifikation auf der Grundlage von Besitzstandsunterschieden, die im Extremfall den Verlust der freien Selbstbestimmung bedeuten kann, für Rousseau ein zentrales Problem der politischen Ökonomie darstellt, dessen Behandlung in der Staats- und Demokratietheorie angesiedelt ist, das aber keinen Focus für eine kritische Beurteilung der ständischen Gliederung innerhalb des Hauswesens abgibt. Offensichtlich steht die im Rahmen einer hausständischen Verfassung implizierte soziale Schichtung nicht schon per se in einem Widerspruch zum demokratischen Selbstverständnis Rousseaus. Es zeichnet sich ab, daß diese hausständische Verfassung eine Entität sui generis darstellt und nicht parallellaufend zur Polis, zum Staat konzipiert ist. Die Fragen, die auf dem Level der oeconomie domestique verhandelt werden, sind demnach nicht die kritische Erörterung von Rang und Besitz, ebensowenig wie die klassische Diskussion der traditionellen Herrschaftsfunktionen: Im Vordergrund des Interesses steht vielmehr eine ausfuhrliche Behandlung der gemeinschaftlich-autoritativen Beziehungen zwischen den Mitgliedern des Hauses. Betrachten wir also zunächst denjenigen Teil der „administration domestique"49, der das Verhältnis des Hausvaters zu den Bediensteten und Lohnarbeitern betrifft. Wenn man sich daran erinnert, daß Rousseau im Zweiten Diskurs zum historischen Zeitpunkt der Familiengründung die societas herilis definitiv aus dem sentimentalen Familienverband ausgegliedert hatte, so zeigt sich demgegenüber nun, daß unter der Voraussetzung ausdifferenzierter bürgerlicher Verhältnisse eine nicht unbeträchtliche Anzahl unselbständig Beschäftigter ins Haus reintegriert werden. Die Verhältnisse sind indes nichts weniger als feudal: Zwischen Herrn und Gesinde, Dienstboten und Arbeitern bestehen beiderseits kündbare Arbeitsverträge. Es ist aber gerade diese Tatsache, daß es sich um „Mietlinge"50, und d.h. gewissermaßen um „Fremde"51 handelt und die wechselseitigen Verbindlichkeiten im äußeren Medium des Geldes52 zum Austrag kommen, die dazu führt, eine umfassende Famiiiarisierung der Arbeits- und Dienstverhältnisse anzustrengen. Auf dem Anwesen Ciarens hält man sich zugute, erklärtermaßen gerade nicht „ M i e t linge" sondern „Mitglieder der Familie"53 zu beschäftigen, sich nicht auf äußerliche Verbindlichkeiten zu stützen, sondern an erster Stelle innere Verbundenheit zu befördern.54 49 50 51
OCP II, S. 460/ Die neue Heloise, S. 481. Die neue Heloise, IV, 10, S. 465/ OCP II, S. 445. Ibid., S. 488/ OCP II, S. 467.
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Ibid.
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Ibid., S. 465/ OCP II, S. 445. Vgl. ibid., S. 467/ OCP II, S. 446.
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ROUSSEAUS OlKOS ZWISCHEN NEOARISTOTELISMUS UND BÜRGERLICHER FAMILIE
Doch zunächst wird das zentrale Problem, das mit der häuslichen Organisation seine Lösung finden soll, von Rousseau klar artikuliert: Auch auf dem sozialen Mikrolevel der hausständischen Gesellschaft gilt, daß „Dienstbarkeit [...] ein dem Menschen so wenig natürlicher Zustand [ist], daß sie nicht ohne irgendeine Unzufriedenheit bestehen kann."55 Da die Verhältnisse im Normalfall, wie sie für die Zeitgenossen Rousseaus alltäglich beobachtbar waren, von Ressentiment, von ,,lasterhafte[r], knechtischefr] Denkungsart"56 und von beiderseitigem klassenspezifischem Argwohn geprägt sind, will Rousseau durch die Beförderung eines Gefühls familiärer Verbundenheit das mit Verhältnissen von Untertänigkeit und Dienstbarkeit verbundene „mécontentement" zum Verschwinden bringen. Seine Vorschläge zur Organisation des idealen Hauswesens zielen also nicht auf die Beseitigung der bestehenden Verhältnisse sozialer Abhängigkeit, sondern auf eine Milderung, bzw. Aufhebung des Gefühls sozialer Unterprivilegierung durch eine Kultivierung von Empfindungen der Anhänglichkeit und der Verbundenheit. Dazu bedarf es der Formierung des Hausverbandes zu einer integrierten Gemeinschaft im Focus des Herreninteresses; der Herr seinerseits reklamiert für sich, das Interesse für das Ganze zu verkörpern. Mit Blick auf den Contrat Social ließe sich sagen, daß es um die Errichtung einer kleinen Gesellschaft geht, in der kein Sonderwille sich vom Gemeinwillen isolieren kann, mit dem alles entscheidenden Unterschied jedoch, daß für die häusliche anders als für die politische Gemeinschaft gilt, daß die Verfolgung des gemeinen Wohls identisch ist mit der Realisierung der Interessen des Herrn,57 daß der Wille der Gemeinschaft und das Interesse des Herrn koinzidieren. Diese Integration der individuellen Willen erreicht Rousseau über die nachhaltige Entmündigung von Gesinde und Arbeitern, über eine unverhohlene Infantilisierung der unteren Stände. Sofern es gelingt, die Untergebenen im Dienst für ihren Herrn, der dem höchsten Vater vergleichbar mit liebevoller Strenge regiert, und unter seiner „geheiligten Herrschaft der Wohltaten"58 zu einer wahrhaften Kommunität, zu einer Gemeinde von Brüdern zu verschmelzen, ist das Ziel der rechten Verwaltungskunst des Hauses erreicht.59 Rousseau besitzt auch hier ein klares Bewußtsein dessen, daß die nachhaltige Entmündigung, wie er sie anstrebt, weitreichender Vorkehrungen von „Erziehung" und „Formung"60 bedarf. Entsprechend lassen die Ratschläge für die Herren Konkretheit nicht vermissen: Ein ausgeklügeltes System von pekuniären Anreizen und narzißtischen Belohnungen, ein striktes System von Geschlechtssegregation61, ein eng geknüpftes 55
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Ibid., S. 481/ OCP II, S. 460: „La servitude est si peu naturelle à l'homme qu'elle ne sauroit exister sans quelque mécontentement." Ibid., S. 484/ OCP II, S. 463 Vgl. die Annotation von Bernard Guyon, OCP II, S. 1598. Die neue Héloïse, IV, 10, S. 488/ OCP II, S. 467. Vgl. ibid., S. 482 u. S. 487f./ OCP II, S. 462 u. S. 466f. Vgl. ibid., S. 465/ OCP II, S. 444f. Ibid., S. 469-473/ OCP II, S. 449-453. Auf die gesellschaftliche Relevanz, die Rousseau einer strikten Geschlechtersegregation zuweist, werden wir an späterer Stelle ausfuhrlich eingehen.
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Netz der Kontrolle und wechselseitiger Überwachung bis hin zur Denunziation, nicht zuletzt eine rigide Isolation durch die konsequente Abschneidung von Außenkontakten sind die Bestandteile des empfohlenen Social Engineering. Alle diese Kunstgriffe münden in ein System von mehr oder weniger subtil erzwungenen Loyalitäten, das auf eine vollständige Intemalisierung der bestehenden häuslichen Autoritätsverhältnisse zielt. Diese Verhältnisse sind repressiv: So weckt z.B. auch nur die geringste individuelle Abweichung vom herrschaftlich verfügten und auf „Sittenreinheit" hin abzielenden Freizeitangebot den Argwohn der Herrschaft und zieht über kurz oder lang die Entlassung des Beschäftigten nach sich. Und die Verhältnisse sind ferner, sofern die öffentliche Gerichtsbarkeit nicht beansprucht wird, despotisch: Streitfalle und Konflikte zwischen Herren und Gesinde, qua defmitionem Verstöße gegen „des Herrn geheiligtes Interesse"62, werden auf einem internen „Gerichtstag" verhandelt, bleiben also innerhalb des Rahmens der traditionellen häuslichen Gerichtsbarkeit. Doch auch hier gehen Paternalismus und Infantilisierung Hand in Hand: Die Strenge des Herrn „demütigt und beschämt" den Täter und die Vorwürfe der gefühlvollen Hausherrin nötigen dem Delinquenten „Tränen voll Scham und Kummer" ab.63 Die Details zeigen unverkennbar, und Rousseau läßt keinen Zweifel daran, daß nicht allein der Raum der äußeren Freiheit, sondern auch die Binnensphäre der subjektiven Vorstellungen, Gefühle und Wünsche eingezogen wird, so daß die individuelle Selbstbestimmung vollständig in dem vom Herren repräsentierten Gemeinschaftswillen aufgeht: „Sein Bedienter war für ihn ein Fremder; er macht daraus sein Gut, sein Kind; er macht ihn zu seinem Eigen. Vorher hatte er nur ein Recht auf seine Handlungen; nun verschafft er sich auch ein Recht auf seinen Willen."64
Der durchweg manipulative und repressive Charakter dieser kunstreichen Formierung einer Gemeinschaft, innerhalb derer die sozialen Unterschiede nicht nur bewahrt, sondern, indem sie kaschiert, um so mehr befestigt werden, ist nicht unbemerkt geblieben. Dabei werden Parallelen zu den ausgeklügelten und mitunter manipulativen Erziehungsarrangements im Emile und zu den edlen Lügen des Gesetzgebers im Contrat Social gezogen.65 Diese Parallelisierungen lassen erkennen, inwiefern in den drei groß-
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Ibid. S. 486/ OCP II, S. 465. Ibid. Ibid., S. 488/ OCP II, S. 467. Hier ist vor allem Lester G. Crocker zu nennen: Julie ou la nouvelle duplicité, in: Annales de la société Jean-Jacques Rousseau 36 (1963), S. 105-152 und ders., Docilité et duplicité chez Rousseau, in: Révue d'histoire littéraire de la France 68 (1968), S. 448-469. Crockers gesamte Rousseau-Interpretation zielt darauf ab, Rousseau „une mentalité totalitaire" zu attestieren, den autoritären Charakter von Rousseaus Person und Werken herauszustellen. Der seinerseits totalisierende Gestus dieser Lesart bringt es indes mit sich, daß Crocker auf jeder Ebene des Rousseauschen „art perfectionné" - der „vollkommenen Kunst" - einen in Intention und Resultat unterschiedslos waltenden Zwang zur „dénaturation" am Werke sieht: In Hinblick auf die Gartenlandschaft Julies, das
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ROUSSEAUS OIKOS ZWISCHEN NEOARISTOTELISMUS LIND BÜRGERLICHER FAMILIE
angelegten Vorschlägen Rousseaus zur Sozialreform auf den Ebenen von Individuum, Familie und Staat ein nicht unbeträchtlicher und tendenziell verleugneter Anteil von sozialem Zwang veranschlagt ist. Im vorliegenden Zusammenhang der „ceconomie domestique parfaite"66 geht es indes weniger um die Spuren von Autoritatismus und Totalitarismus bei Rousseau, als um jenes entscheidende theoretische Element, das sich nur aus dem Zusammenhang der einschlägigen Passagen der Nouvelle Héloïse erschließen läßt: nämlich die prinzipielle und systematische Scheidung des Privaten vom Öffentlichen. So trennt Rousseau an einer Stelle mit seltener Deutlichkeit das politische Regiment der Bürger vom häuslichen Regiment der Oikodespoten ab: „In der Republik hält man die Bürger durch gute Sitten, durch Grundsätze, durch Tugend in Schranken; wie soll man aber Bediente, Lohnarbeiter, anders einschränken als durch Zwang und Gewalt?"67
Im Rahmen des Staates vollzieht sich die Integration der Bürger auf der Basis der politischen Prinzipen von Autonomie und Vernunft, auf der Grundlage der Einsicht in den Zusammenhang von Selbstbestimmung und wechselseitiger Freiheitseinschränkung. Ferner geschieht sie im Rahmen von Rousseaus vertragsmäßig gegründeter Republik in einem nicht unbeträchtlichem Ausmaß im Medium staatsbürgerlicher Tugend, wobei es in die Entscheidungsgewalt der Bürger selbst gestellt ist, welches die geeigneten öffentlichen Maßnahmen und Einrichtungen sind, die auf die Befestigung einer nachhaltig verinnerlichten Gemeinwohlorientierung zielen. Ist also die Klasse der Bürger fähig, sich kraft autonomen Vernunftgebrauchs dauerhaft selbst zu regieren, so bleibt die Klasse der Nicht-Bürger der despotischen Regierung des Hausvaters als einer ordnungspolitischen Instanz unterstellt. Diese aristotelische Konzeption bedarf indes im Kontext der Bedingungen aufgeklärten Denkens der oben geschilderten Arrangements, um von der Freiheit des Willens derjenigen, die fur Rousseau grundsätzlich nicht als „esclaves nés" anzusehen sind, zumindest noch den Schein zu bewahren. Entsprechend fährt Rousseau fort: „Der Herren ganze Kunst besteht darin, diesen Zwang unter dem Schleier des Vergnügens oder eigenen Interesses zu verbergen, so daß sie alles, was man sie zu tun nötigt, selbst zu wollen glauben."68
Das aber bedeutet, daß der politische Aufklärer Rousseau die politische Autonomie der Bürger auf der materiellen Basis einer Vielzahl von Gemeinschaften etabliert, innerhalb
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Kind Émile, die „ilotes" von Ciarens und der citoyens des Contrat Social - erstaunlicherweise jedoch nicht bei der Erziehung der Frau. OCPÏ1, S. 1596. Die neue Héloïse, IV, 10, S. 474/ OCP II, S. 453. Ibid./ OCP II, S. 453: „Dans la République on retient les citoyens par des moeurs, des principes, de la vertu: mais comment contenir des domestiques, des mercenaires, autrement que par la contrainte et la gêne? Tout l'art du maître est de cacher cette gêne sous le voile du plaisir ou de l'intérêt, en sorte qu'ils pensent vouloir tout ce qu'on les oblige de faire."
LA NOUVELLE HELOÏSE ODER DER SENTIMENTALE OIKOS
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derer sich der den Verhältnissen von Ungleichheit innewohnende Zwang in einen kunstreich produzierten Schein von Selbstbestimmung sublimiert hat. Zusammenfassend läßt sich sagen: Rousseaus oikos ist nicht mehr das in die alteuropäische Ständeordnung eingebettete „ganze Haus"; grundsätzlich gehen die unselbständig Beschäftigten als Mitglieder des Hauses Beziehungen auf privatrechtlicher Grundlage ein. Dennoch bewahrt Rousseau die ständischen Unterschiede innerhalb der societas domestica, wobei nun aber Untertänigkeit und Abhängigkeit zu sentimentalaffektiven Bindungen umgeformt werden, die traditionellen Herrschaftsverhältnisse in den psychischen Innenraum verlagert und zu Gefuhlsdispositionen transformiert werden.69 Die ständisch-häuslichen Verhältnisse buchstabieren sich nunmehr gemäß einem Ideal der Gemeinschaft in Begriffen von Vertrauen und Loyalität auf der einen Seite, Fürsorge und Obhut auf der anderen aus. So ist dem Patriarchalismus bei Rousseau zwar auf politischer Ebene das Haupt abgeschlagen, er bleibt aber im Bereich des Häuslichen in der gemilderten Variante des Paternalismus bestehen, nämlich als ein durch Ungleichheit charakterisiertes soziales Beziehungsgefüge, in welchem dem dominanten Partner als Preis für die statthabende Bevormundung ein Minimum an Fürsorgepflicht abverlangt wird, wobei im Gegenzug von den schwächeren Partnern Vertrauen und Loyalität erwartet werden. Rousseaus Ausführungen in Bezug auf die vorbildliche Einrichtung und Verwaltung des Hauswesens sind im Detail anschaulich und konkret, doch liefern sie von sich her nur bedingt Anhaltspunkte für eine theoriegeschichtliche Einordnung und systematische Erfassung der angestrebten Neubestimmung der societas domestica. So viel ist indessen deutlich: Auch bei Rousseau ist die Organisationsform des oikos grundsätzlich unterschieden von der polis in der Gestalt der Republik, mehr noch: Das klassische aristotelische Paradigma des oikos als einer geschlossenen Einheit sui generis bleibt ungebrochen. Zwar verwirft Aristoteles bekanntlich Piatons Analogie von Staat und Einzelseele, doch hindert ihn nichts, das Seelenmodell für seine Konzeption des oikos in Anspruch zu nehmen.70 In diesem Modell trägt jeder Stand gemäß seinen Fähigkeiten und Vermö69
„Ciarens erfüllt das Ideal einer Gemeinschaft der Herzen ohne allgemeine Gleichheit unter Beibehaltung der persönlichen Abhängigkeit, also ohne allgemeine Freiheit." (Bronislaw Baczko, Rousseau. Einsamkeit und Gemeinschaft, a.a.O., S. 467) Judith Shklar widmet in ihrem Beitrag Jean-Jacques Rousseau and Equality der Behandlung des „domestic Service" bei Rousseau einige Überlegungen, wobei sie Rousseau zu Unrecht eine unmittelbare Nähe zu seinem „devoted follower" Tocqueville unterstellt. Tocqueville unterscheidet drei Arten des Verhältnisses von Herren und Dienern: ein aristokratisches, ein revolutionäres und ein demokratisches. Abgesehen davon, daß Tocqueville in Wahrheit nicht gegen das aristokratische und für das demokratische Verhältnis votiert, sind Rousseaus deutlich aristokratische Vorstellungen auf jeden Fall von nichts so weit entfernt wie von einem modernen demokratischen Dienstleistungsverhältnis, dessen Heraufkunft Tocqueville in den amerikanischen Nordstaaten beobachten konnte. Vgl. Judith Shklar, Jean-Jacques Rousseau and Equality, in: Daedalus 107 (1978), S. 13-25; und Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika II, in: Ders., Werke und Briefe, hg. von Jacob Peter Mayer, Bd. 2, Stuttgart 1962, Dritter Teil, V. Kapitel.
70
Politik, 1260 a 5 ff.
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ROUSSEAUS OIKOS ZWISCHEN NEOARISTOTELISMUS UND BÜRGERLICHER FAMILIE
gen zur Gesamtleistung bei, und jeder der Hausgenossen bildet in dieser Kooperationsgemeinschaft die seinen Funktionen gemäßen Tugenden aus - die der Leitung, bzw. diejenigen der Zuarbeit. Sind dergestalt alle Mitglieder gleichermaßen unverzichtbar in ihrer Leistung für das Ganze und in der Erfüllung ihrer jeweiligen Anteile auch gleichwertig zu nennen, so können sie indes nichts weniger als gleichberechtigte Partner bezeichnet werden. Die fundamentale Gegenstellung der Organisationsform der Familienbzw. Hausgemeinschaft zu den Organisationsprinzipien der politischen Gesellschaft ist offenkundig. Dieser Rückbezug auf das aristotelische Grundmuster der häuslichen Sphäre greift indes zu kurz, um die Gemengelage von Konservativismus und Modernität, die der Rousseauschen Konzeption der Hausgemeinschaft ihre spezifische Gestalt verleiht, prägnant zu charakterisieren. Für eine weitergehende Bestimmung dieses Modus häuslicher Einheit erweist es sich als hilfreich, das Modell des idealen oikos bei Rousseau einem Hinweis von Baczko folgend - vor der Folie der Tönniesschen Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft näher zu beleuchten.71 Tönnies idealtypische Scheidung verdeutlicht den paradigmatischen Unterschied, wie er zwischen einem liberalen, individual-rechtlichen Sozialmodell auf der einen Seite und dem kompakten Sozialgefüge eines Gemeinschaftslebens auf der anderen besteht. Folgt das eine der naturrechtlichen Matrix eines privatrechtlichen Konflikt- und Kollisionsmodells individueller Freiheitssphären, so kennt das andere keine Sonderinteressen - weder die Trennung, noch die genaue Abgrenzung zwischen den persönlichen Angelegenheiten und dem Leben der Gemeinschaft - sondern fußt auf einem Gemeinschaftsethos, das die Individuen in qualitativ unterschiedlichen Positionen kraft der Einmütigkeit ihrer Gesinnung aneinander bindet. Des weiteren divergieren entsprechend der internen Logik der unterschiedlichen Modelle auch die Bedeutungsgehalte des Grundprinzips der sozialen Einigung, des Konsenses. Das, was auch Rousseau bewußt anzielt, in Tönnies' Worten die „gegenseitig-gemeinsame, verbindende Gesinnung"72 wird von diesem unter dem Begriff des „consensus" als Integrationsprinzip in Anschlag gebracht. Damit ist nicht die freie Willenserklärung grundsätzlich gleicher Vertragspartner zur Einschränkung des äußeren Freiheitsgebrauchs gemeint, sondern eine aus innerer Überzeugung und in gemeinsamer Lebenspraxis habitualisierte, vorreflexive Einstellung, die die Zustimmung zu hierarchisch differenzierten sozialen Positionen als natürlich erscheinen läßt. Diese Positionen sind maßgeblich durch die funktionelle Spaltung von Leitung und Gehorsam spezifiziert und erhalten von dieser her ihre Bestimmung als Obhut und Schutz, denen Leistung und Dienst korrespondieren. 71 72 73
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Bronislaw Baczko, Rousseau. Einsamkeit und Gemeinschaft, a.a.O., S. 468f. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Berlin 61926, S. 19. Ibid., § 9, S. 19: „Gegenseitig-gemeinsame, verbindende Gesinnung, als eigener Wille einer Gemeinschaft, ist das was hier als V e r s t ä n d n i s (consensus) begriffen werden soll. [...] Mithin: insoweit, als es ihrer wirklichen Natur und ihren Kräften entspricht, daß Genuß und Arbeit verschieden sind, und zumal, daß auf die eine Seite die Leitung, auf die andere der Gehorsam fällt, so
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Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Bestimmungen der Gemeinschaft läßt sich nun die Eigentümlichkeit von Rousseaus société domestique schärfer fassen. Deutlich wird, daß die Umbildung der internen Sozialstruktur des „ganzen Hauses" mittels der Kolonisierung der Gefühlswelten der Hausmitglieder auf zwei Effekte abzielt. Zum einen tritt an die Stelle eines Gemeinschaftsethos, das Rousseau nicht voraussetzen kann, die Erzeugung eines Milieus von Familiarität mittels der kunstreichen Züchtung von wechselseitiger Zuneigung, Vertrautheit und Zugehörigkeit. Zum anderen aber ist diese im Gefühl verankerte Familiarität nicht vorrangig auf eine affirmative Akzeptanz der sozialen Schichtung, sondern vielmehr auf eine tendenzielle Nivellierung der sozialen Unterschiede im subjektiven Empfinden der Betroffenen hin ausgerichtet. Während also in der öffentlichen Sphäre die politische Integration im Medium von Bürgertugend als der Liebe zum Vaterland und zur Gleichheit erfolgt, liegt auf der Ebene des Hauswesens das soziale Integrationspotential im Gefühl der Familiarität, für dessen Herstellung ein gewisses Maß an Zwang unverzichtbar ist. Ferner wird parallel zur wechselseitigen Anerkennung der Bürger als gleichberechtigter politischer Subjekte im familiären Milieu die Möglichkeit freigesetzt, daß sich die Beziehungen der Hausgenossen der Form einer vorbürgerlichen, naturzuständlichen Gleichheit annähern, sich die Mitglieder des Hauses zwar nicht als Mitbürger so jedoch im Medium des Gefühls als Menschen begegnen. So läßt Rousseau die Herrin seines Hauses die Hoffnung aussprechen: ,,[D]aß die maßvolle Familiarität zwischen uns ein zartes Band der Zuneigung formt, welches ein wenig die natürliche Verfassung des Menschengeschlechts wiederherstellt, indem sie die Niedrigkeit des Dienens und die Strenge der Autorität mildert."74
Die internen Beziehungen der ständisch-hierarchisierten Hausgemeinschaft sind in einem schwer zu bestimmenden Zwischenraum zwischen der unwiderruflich verlorenen Gleichheit des Naturzustandes und der allein den Hausvorständen vorbehaltenen republikanischen Gleichheit angesiedelt. Die im Rahmen der Organisation auch eines idealen bürgerlichen Hauswesens fortbestehende soziale und politische Unterprivilegierung wird von Rousseau insofern kompensiert, als sie im Zuge der Vereinnahmung der Gefühle ihre Spürbarkeit verliert. Judith Shklar stellt zu Recht heraus, daß für Rousseau der sentimentale bürgerliche oikos, der unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Ungleichheit in einer Enklave ist dies ein n a t ü r l i c h e s Recht, als eine Ordnung des Zusammenlebens, die jedem Willen sein Gebiet oder seine Funktion zuweist, einen Inbegriff von Pflichten und Gerechtsamen." Auch § 8, S. 18: „Alle Würde muß als besondere und v e r m e h r t e Freiheit und Ehre, daher als bestimmte Willenssphäre, aus der allgemeinen und gleichen Willenssphäre der Gemeinschaft abgeleitet werden; und so steht ihr gegenüber der D i e n s t als eine besondere und v e r m i n d e r t e Freiheit und Ehre." 74
Die neue Héloïse, IV, 10, S. 479/ OCP II, S. 458 (Übers, von mir verändert): „Enfin je trouve que cette familiarité modérée forme entre nous un lien de douceur et d'attachement qui ramene un peu l'humanité naturelle, en tempérant la bassesse de la servitude et la rigueur de l'autorité."
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von Familiarität Reminiszenzen an das vorbürgerliche Zeitalter der Familien, das sogenannte Goldenen Zeitalter des Zweiten Diskurses bewahrt, von den Übeln der Ungleichheit gewissermaßen verschont bleibt, insofern als die in die Institution des Hausverbandes eingelassenen Strukturen gesellschaftlicher Abhängigkeit sich nicht in Gefühlen sozialer Ohnmacht niederschlagen.75 Anders gefaßt bedeutet dies aber, daß Rousseaus sozialregenerativer Vorschlag am Vorabend der Revolution in Hinblick auf die Ordnung des Privaten darin besteht, nicht die für das Haus traditionelle konstitutive Ungleichheit zum Verschwinden zu bringen, sondern allein das mit ihr verbundene „mécontentement".76 Die „oeconomie domestique parfaite" findet gerade darin ihre Vollkommenheit, daß es die menschliche Atmosphäre des Hauses erlaubt, die sozialen Unterschiede als indifferent, als gleichgültig zu betrachten. Privilegierte Momente, in denen diese im Alltag nur näherungsweise gelebte Gleichheit zur gleichermaßen spontanen wie inszenierten Darstellung ihrer selbst kommt, sind die häuslichen Feste: Hier realisiert sich Gleichheit als gemeinsamer Seelenzustand. Starobinski zeigt in seiner Analyse des Festes, daß Rousseaus intellektuelle Impulse nicht auf den sozialen Kampf um Gerechtigkeit, der eine Revolution unvermeidbar erscheinen läßt, nicht auf eine wirkliche und umfassende Gesellschaftsveränderung abzielt, sondern sich auf die Imagination sozialer Verhältnisse beschränkt, innerhalb derer einer in passageren Momenten sich einstellenden „gefühlsmäßigefn] Quintessenz der Gleichheit" Raum gewährt wird.77 Es läßt sich abschließend festhalten, daß die nähere Analyse der oeconomie domestique, die dem philosophischen Blick in Hinblick auf ihre politischen Implikationen durch ihre romanhafte Travestie zumeist entzogen bliebt, hinreichend deutlich macht, daß für Rousseau häusliche und öffentliche Sphäre in prinzipieller Weise voneinander geschieden sind. Herauspäpariert aus ihrer narrativen Einfassung bietet aber gerade Rousseaus ausführliche Behandlung der im politischen Denken chronisch vernachlässigten oder übergangenen Sphäre des Häuslichen den Vorteil, die dem politischen Freiheitsversprechen innewohnende Begrenzung klar herauszustellen. Zu konstatieren bleibt, daß das Pathos des Contrat Social, das die freie Selbstbestimmung als wesentli75 76
77
Judith Shklar, Men and Citizens, a.a.O., S. 25. ,,[R]ien, ni personne n'y font sentir aux serviteurs leur infériorité. Ils font partie de la famille." (René Hubert, L'amour, la nature et la société chez J.-J. Rousseau: La Nouvelle Héloïse, roman à thèse, in: Revue d'Histoire de la Philosophie et d'Histoire générale de la civilisation 1 (1939), S. 193-214, hier: 212) Die These Huberts, daß „Rousseau a voulu faire de la Nouvelle Héloïse [...] une vérification expérimentale de la théorie du Contrat" (S. 208), wirft indes Fragen auf. Jean Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen, a.a.O., S. 140ff. u. S. 152ff., hier: S. 151. vgl. dazu Die neue Héloïse, V, 7. Brief, den sogenannten „Lettre des vendanges". Bezeichnenderweise setzt Rousseau die häuslichen Feste in Beziehung zu den römischen Saturnalien, betont aber im Gegenzug ihren moderaten und pädagogischen Charakter: ,,[D]ie wohltuende Gleichheit aber, welche hier herrscht, stellt die Ordnung der Natur wieder her, dient den einen zum Unterrichte, den anderen zum Tröste und wird für alle zu einem Band der Freundschaft." (Die neue Héloïse V, 7, S. 637f./ OCP II, S. 608)
LA NOUVELLE HELOÏSE ODER D E R SENTIMENTALE O K O S
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ches und unverzichtbares Humanum proklamiert, bis an die Grenzen des Hauses reicht - aber nicht in es hinein.78 3.2.4
Aktive und passive Staatsbürgerschaft
Der Gestus, dem Konzept der Rousseauschen Hausgemeinschaft die Prämissen des Diskurses der politischen Aufklärung, wie sie konstitutiv für den Contrat Social sind, in kritischer Absicht entgegenzuhalten, drängt sich mit Blick auf moderne demokratische Verhältnisse auf, zeugt aber dennoch von gewisser theoriegeschichtlicher Blindheit. Zwar stellen die sozialromantischen Anteile bei der Konzeptualisierung der häuslichen Verhältnisse ein Spezifikum Rousseaus dar, doch ist unerachtet der persönlichen Handschrift des Autors auf das grundsätzliche Problem zu verweisen, welches bei allen klassischen Vertreter des Liberalismus insistiert, die Tatsache nämlich, daß trotz des als vermeintlich radikal in Anschlage gebrachten politischen Paradigmenwandels bis dato fraglos gültige Traditionsbestände mehr oder minder ungebrochen in die Theoriebildung eingehen. Untersucht man nämlich die Frage, wer eigentlich Träger der postulierten bürgerlichen Gleichheit ist, so zeigt sich, daß mit den Individuen, denen dieses Attribut zugesprochen wird, nicht die konkreten Einzelsubjekte, sondern die Sozialverbände gemeint sind, denen diese zugehören. Mit Blick auf Rousseau hält Forschner fest, daß dieser „wohl nicht die égalité der Individuen, sondern die der Hauswesen im Auge hat", was bedeutet, daß ,,[d]ie tragende Lebenseinheit [...] nicht der Staat, auch nicht das Individuum, sondern die Familie, der Oikos, die häusliche Lebens- und Produktionsgemeinschaft [ist]."79 Wenn also Rousseau nicht von der politischen Gleichheit der Indi80
viduen, sondern von der traditionellen der Hausväter handelt und den Ausschluß aller
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79
80
Vom Gesellschaftsvertrag, Buch I, Kap. 4: „Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten zu verzichten. Wer auf alles verzichtet, für den ist keine Entschädigung möglich. Ein solcher Verzicht ist unvereinbar mit der Natur des Menschen; seinem Willen jegliche Freiheit nehmen, heißt seinen Handlungen jegliche Sittlichkeit nehmen." (OCP III, S. 356) Maximilian Forschner, Rousseau, a.a.O., S. 142. Daß die liberale Gleichheit als eine Gleichheit der Hausvorstände zu verstehen ist, gilt bekanntlich auch noch für Rawls, der seine Auffassungen in diesem Punkt allerdings später revidiert hat. Mit Bezug auf Rousseau findet das Problem von Bürgern und Hausgenossen, bzw. von Vollbürgem und Einwohnern, neben der knappen Erwähnung bei Forschner, so weit ich sehe, noch bei Fetscher Beachtung (Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, a.a.O., S. 214f.), wenngleich dieser tendenziell den jakobinischen Rousseau über den konservativen Sozialromantiker siegen läßt. Weiterführend in diesem Zusammenhang sind die Ausführungen zu Kant von Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt/M., 1993, Teil C, III, 3. Selbständigkeit und von Manfred Riedel, Herrschaft und Gesellschaft. Zum Legitimationsproblem des Politischen in der Philosophie, in: Zwi Batscha (Hg.), Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, Frankfurt/M., 1976, S. 125-150. Hier nur von „männlichen Einzelpersonen" zu sprechen wie jüngst Christine Chwaszcza ist zu unspezifisch. Christine Chwaszcza, Die Praxis der Freiheit. Vom legitimationstheoretischen Anspruch
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ROUSSEAUS O K O S ZWISCHEN NEOARISTOTELISMUS UND BÜRGERLICHER FAMILIE
Abhängigen vom Bürgerstatus keiner ausdrücklichen Begründung für nötig erachtet, so ist dem Umstand Rechnung zu tragen, daß er hier nur einen Gemeinplatz seiner Zeit bedient. Die Überzeugung, daß zu Vollbürgern im Grunde nur selbständige Gewerbetreibende und ökonomisch Unabhängige geeignet seien, stellt für politische Denker des 18. Jahrhunderts nichts Anstößiges dar. In Bezug auf Kant hält Kersting fest, daß auch dem Denken der politischen Aufklärung noch die den alteuropäischen Bürgerbegriff prägende Vorstellung zugrunde liegt, „daß ökonomische Unabhängigkeit die Voraussetzung politischer Kompetenz ist, daß Allgemeinheitsfahigkeit durch materiale Freiheit vermittelt ist"81. Der Blick auf Kant und die von ihm getroffene Unterscheidung von ökonomisch Selbständigen und Unselbständigen, von „Gliedern des gemeinen Wesens" und „Schutzgenossen"82, von aktiven und passiven Staatsbürgern83, ist hilfreich, um die grundsätzliche
81 82
83
zum politischen Traum, in: Wolfgang Kersting (Hg.), Die Republik der Tugend, Baden-Baden 2003, S. 117-145. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., S. 392. Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht fiir die Praxis, in: Ders., Kant's gesammelte Schriften, Bd. VIII, S. 295. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 46. „Der Begriff des passiven Staatsbürgers ist eine schlichte contradictio in adjecto, logisches Symptom einer gewissen systematischen Verlegenheit." (Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., S. 383) Diese Verlegenheit zeigt auch Kants eigene Einschätzung bezüglich der Unterscheidung des „aktiven vom passiven Staatsbürger" denn „der Begriff des letzteren [scheint] mit Erklärung des Begriffs von einem Staatsbürger überhaupt in Widerspruch zu stehen". (Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 46) „La fameuse distinction, inventée tout exprès, entre citoyens passifs et citoyens actifs" stammt ursprünglich vom „apôtre du tiers état", Emmanuel Sieyès. (Vgl. Roger Rotmann, La femme et le pauvre, in: Irène Théry/ Christian Biet, La famille, la loi, l'état de la Révolution au Code Civil, Paris 1989, S. 82-90, hier: S. 87) passive und aktive Bürger: Alle Einwohner eines Landes müssen in ihm die Rechte passiver Bürger besitzen: alle haben Anspruch auf Schutz ihrer Person, ihres Eigentums, ihrer Freiheit usw.; aber nicht alle haben Anspruch darauf, tätig an der Bildung der öffentlichen Gewalten teilzunehmen: nicht alle sind Aktivbxuger. Die Frauen, zumindest im jetztigen Stadium, die Kinder, die Ausländer und auch diejenigen, die nichts zur öffentlichen Gewalt beitragen, dürfen keinen aktiven Einfluß auf das Gemeinwesen nehmen. Alle können die Vorteile der Gesellschaft genießen, aber allein diejenigen, die zur öffentlichen Gewalt [établissement public, F.K.] etwas beitragen, sind gleichsam die eigentlichen Aktionäre des großen gesellschaftlichen Unternehmens. Sie allein sind die wahren Aktivbürger, die wahren Glieder der Gesellschaftsverbindung." (Emmanuel Sieyès, Einleitung zur Verfassung. Anerkennung und erklärende Darstellung der Menschen- und Bürgerrechte/ PRÉLIMINAIRE DE LA CONSTITUTION. RECONNAISSANCE ET EXPOSITION RAISONÉE des Droits
de l'Homme
& du
Citoyen
(1789), in: Ders., Politische Schriften 1788-1790, übers, und hg. von Eberhard Schmitt und Rolf Reichardt, München, Wien 21981, S. 239-257, hier: S. 251) Auch andere radikale Aufklärer wie Diderot oder Mably haben die politischen Rechte an das Eigentum geknüpft: „[E]n un mot, c 'est la propriété qui fait le citoyen" so Diderot im Enzyklopädie-Artikel „Représentants", und konkretisiert im Sinne eines Zensuswahlrechts heiß es: ,,[C]'est en proportion de ses possessions, que la voix du citoyen doit avoir du poids dans les assemblées nationales." In: Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences des Arts et des Métiers, Bd. 14, S. 143-146, hier S. 145.
LA NOUVELLE HELOISE ODER DER SENTIMENTALE OIKOS
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rechtsphilosophische Problematik, der Rousseau eher anheim fällt als daß er sie zu explizieren wüßte, konzeptionell einzuholen. Kant formuliert drei Vernunftprinzipien des äußeren Menschenrechts, wobei die ersten beiden, Freiheit und Gleichheit den Prinzipien des rationalen Naturrechts und historisch-konkret den Grundsätzen der Déclaration des droits de l'homme et du citoyen entsprechen. Gemäß diesen Prinzipien müßte sich der Begriff des Bürgers auf die Gesamtheit aller Individuen als Freier und vor dem Gesetz Gleicher erstrecken. Doch Kant stellt diesen beiden Prinzipien ein drittes, nämlich das der bürgerlichen „Selbständigkeit" zur Seite. Auch ohne daß Rousseau eine Prinzipientrias von Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit formuliert hätte, läßt sich sagen, daß er hinsichtlich der Qualifikation zum Staatsbürger in gleicher Weise wie Kant mit der ökonomischen Selbständigkeit einen ökonomisch-sozial qualifizierenden Status an die Stelle universeller Prinzipien setzt. Damit wird der vom naturrechtlichen Denken im angeborenen Menschenrecht fundierten Qualität des Menschen, sein eigener Herr, sui iuris zu sein, ein ökonomischer Sinn unterlegt, mithin die analytisch mit dem Menschenrechtsbegriff verbundene rechtliche Selbständigkeit in einen ökonomischen Status verwandelt, welcher über die Zuweisung des politischen Gesetzgebungsrechts entscheidet.84 Somit qualifiziert sich der Mensch nur, sofern er ökonomisch selbständig ist, als stimmberechtigter Staatsbürger. Der Bestimmung, sui iuris zu sein, wird eine Bedeutung unterlegt, die dem Rechtsmerkmal des pater familias entspricht, d.h. der Bürgerbegriff ist unter dieser Rücksicht noch nach dem Muster des aristotelischen Oikodespoten entworfen,85 wobei allerdings aus der altständischen Rechtsfigur des Hausvaters eine ökonomische Zuordnung geworden ist, aus welcher politische Rechte abgeleitet werden.86 Von diesem Hintergrund her läßt sich das entscheidende Merkmal an Rousseaus œconomie domestique erkennen, daß nämlich Frauen, Dienstboten, Gesinde und Arbeiter als ökonomisch Unselbständige weiterhin im traditionellen Sinne als der durch den Hausherrn repräsentierten societas domestica inhärerierend gedacht werden müssen.87 Und noch ein Weiteres läßt der Vergleich mit Kant im Zusammenhang der Frage nach der aktiven und passiven Staatsbürgerschaft deutlich sehen: Kant begibt sich zwar durch seine vernunftrechtliche Absegnung der politischen Privilegierung der Selbständigen in Widerspruch zur erklärten Absicht einer von allen empirischen Be84 85 86
87
Siehe Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., S. 382. Vgl. Manfred Riedel, Herrschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 140. Vgl. Reinhart Koselleck, Die Auflösung des Hauses als ständischer Herrschaftseinheit. Anmerkungen zum Rechtswandel von Haus, Familie und Gesinde in Preußen zwischen der Französischen Revolution und 1848, in: Neithard Bulst/ Joseph Goy/ Jochen Hoock (Hg.), Familie zwischen Tradition und Moderne. Studien zur Geschichte der Familie in Deutschland und Frankreich vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 1981, S. 109-124. Oder, wie Kant es plastisch ausdrückt, jeweils: als „wie eine parasitische Pflanze nur auf anderen Bürgern wurzelnd" (Vorarbeiten und Nachtrag zu Über den Gemeinspruch, in: Kant's Gesammelte Schriften, Bd. XXIII, S. 137).
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ROUSSEAUS OIKOS ZWISCHEN NEOARISTOTELISMUS UND BÜRGERLICHER FAMILIE
Stimmungen befreiten Grundlegung des Rechts, aber er mildert diesen Widerspruch dadurch ab, daß er die Möglichkeit der zukünftigen staatsbürgerlichen Qualifikation durch wirtschaftliche Emanzipation nicht ausschließt. Im Unterschied zu Rousseau hat diese ökonomische Emanzipation ihr Ziel in der Verfügung über „irgend ein Eigenthum", nicht hingegen in der Herrschaft über ein Haus. Hinreichende Bedingung für die aktive Staatsbürgerschaft ist bei Kant die Möglichkeit des frei erwerblichen Eigentums: Jedermann der nur „irgend etwas" zu veräußern hat, kann also an der Sphäre des Marktes und des Warenverkehrs teilnehmen und sich damit zumindest prinzipiell von der passiven zur aktiven Staatsbürgerschaft emporarbeiten. So kommen letztlich auf dem Umweg über die bürgerliche Gesellschaft im Hegeischen Sinne, der Gesellschaft der Warenproduzenten, die Prinzipien der Freiheit und der Gleichheit mit dem Prinzip der Selbständigkeit überein. Kurz gesagt: Die kantische Rechtsphilosophie trägt dem Umstand Rechnung, daß die herrschaftsrechtlich-ökonomische Selbständigkeit des Hausvorstandes schließlich durch die rechtlich-ökonomische Selbständigkeit des Privateigentümers ersetzt wird.88 Erst vor diesem Hintergrund wird die konservative Tendenz der Rousseauschen Sozialphilosophie zureichend deutlich. Die emanzipatorischen Ressourcen, welche die bürgerliche Gesellschaft als marktförmig organisierte Gesellschaft der Produzenten bereithält, können für Rousseau aufgrund des spezifischen, hier anti-modernistischen Zuschnitts seines politischen Denkens nicht in den Blick kommen: Rousseaus Bürger ist zoon politikon, nicht animal laborans, seine Idee der Bürgerlichkeit ist ausgerichtet am antiken und alteuropäischen Ideal des tugendhaften Staatsbürgers. Dies geschieht in bewußter Gegenstellung gegen das liberale Konzept des allein seine Eigeninteressen verfolgenden Besitzbürgers und in kritischer Wendung gegen die sich unaufhaltsam etablierende Gesellschaft Lockescher Prägung: Eine Gesellschaft der Arbeit, des Besitzes, des Fortschritts und des freien Spiels der Kräfte und Partikular89
Interessen.
Dieses leitende klassische Konzept von Bürgerlichkeit spiegelt sich auf dem Mikrolevel der häuslichen Wirtschaft in der Weise, daß sich im Rahmen der Verhältnisse von Ciarens die traditionelle Trennung von Arbeit und Genuß wiederholt. Der Bereich der Arbeit und des Werkzeughaften, die Sphäre des instrumentellen Handelns bleibt von der Existenz des Bürgers abgespalten: „L'homme digne de ce nom ne travaille pas: d'autres hommes qui ne sont pas dignes de ce nom traviallent pour lui."90 Während die ökonomisch Unselbständigen gleichsam auf dem Niveau der beseelten Werkzeuge festgehalten werden, bewegt sich die Klasse der Herren weitestgehend in der zweckfreien Sphäre des reinen Selbstgenusses in den Formen von Selbstdarstellung und Selbstmitteilung. Das antike Ordnungsmuster erweist sich in Rousseaus Konzeption 88 89 90
Siehe Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., S. 387. Hierzu Herfried Münkler, Die Idee der Tugend, a.a.O. Eric Weil, Rousseau et sa Politique, a.a.O., S. 21.
LA NOUVELLE HELOÏSE ODER DER SENTIMENTALE O K O S
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somit als kompatibel mit den neuen individualistisch-emotivistischen Gehalten der bürgerlichen Privatsphäre. Später, so z.B. bei Hegel, wird der sittliche Charakter der bürgerlichen Kleinfamilie an ihrer Bedürfhisenthobenheit festgemacht werden, sofern die Sphäre der Produktion an das System der bürgerlichen Gesellschaft abgegeben ist. In der Neuen Heloise läßt sich die Herausbildung eines bürgerlich-empfindsamen Umgangs der Gatten auf der Basis einer internen Abspaltung des „Systems der Bedürfnisse" im Rahmen der ständischen Hausgemeinschaft feststellen, welche es erlaubt, daß sich die Mitglieder der herrschaftlichen Kernfamilie zu großen Teilen einer zweckfreien Interaktion widmen können. Auf der makrologischen Ebene der Volkswirtschaft zeigt sich Rousseaus Präferenz für das Eigentum an Grund und Boden, für eine breite staatstragende Basis von landwirtschaftlich autark wirtschaftenden Einheiten als die Kehrseite seiner Verachtung der modernen Marktwirtschaft. Der von ihm perhorreszierte Handel, aber auch das Gewerbe setzen notwendigerweise ein weitgespanntes Geflecht von wechselseitigen Verpflichtungen und Abhängigkeiten voraus; in dieser Form von Gesellschaftlichkeit sieht Rousseau jedoch ausschließlich eine prekäre Einbuße von Autarkie und damit von bürgerlicher Autonomie. Der Markt kann per se und grundsätzlich in seinen Wirkungen nicht anders als selbständigkeitsfeindlich sein, weil Rousseau Selbständigkeit gerade nicht an „irgendein Eigentum", sondern ausschließlich an Grund und Boden und damit an Autarkie im Sinne der ökonomischen Subsistenz bindet. Zusammenfassend läßt sich sagen: Anti-modernistische Tendenzen und physiokratische Theorieelemente bilden die Bestandteile der Konzeption einer immobilisierten Gesellschaft, in welcher eine agrarische Selbstversorgungswirtschaft als ökonomische Grundlage der Selbständigkeit fungiert und damit schließlich nur dem Grundeigentümer der Bürgerstatus zugebilligt wird. Rousseau wird nicht dem Bemühen Kants folgen und Selbständigkeit in Übereinstimmung mit Freiheit und Gleichheit, also unter Marktbedingungen reformulieren.91 Das bedeutet aber, daß die von Rousseau propagierte Konzeption des Hauswesens nicht, wie es vergleichsweise für Kant geltend gemacht werden kann, als ein auf sozial-emanzipatorische Mobilität hin geöffnetes Übergangsmodell anzusehen ist.92
91 92
Vgl. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., S. 389. Daß auch unter nachrevolutionären Bedingungen die Auflösung des Hauses als ständische Herrschaftseinheit staatlicherseits nur sehr bedingt angestrebt wurde, zeigt Reinhart Koselleck in Hinblick auf die Gesetzgebung in Preußen. Im Frankreich der Revolutionsjahre war sie gleichfalls nichts weniger als im legislativen Handstreich zu bewerkstelligen. Koselleck zitiert den Artikel 18 der Französischen Verfassung von 1793, in welchem mit Entschiedenheit das Ende der personenrechtlichen Herrschaftsverhältnisse in den Formen der Hausherrschaft und der häuslichen Dienstbarkeit verkündet wird: „La loi ne reconnaît point de domesticité." Dieser Artikel wurde bereits in der Variante von 1795 revidiert. Vgl. Reinhart Koselleck, Die Auflösung des Hauses als ständischer Herrschaftseinheit, a.a.O.
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ROUSSEAUS
Oncos ZWISCHEN NEOARISTOTELISMUS
UND BÜRGERLICHER FAMILIE
Im Gegenteil: Sowohl auf der Ebene der häuslichen wie auch der politischen Ökonomie strebt Rousseau mit sozialpsychologischer und wirtschaftlicher Programmatik die künstliche Befestigung eines möglichst homogenen Milieus von paternalistisch organi93
sierten autarken Hausverbänden an. Den nach heutigem Verständnis undemokratischen Organisationsformen im Rahmen der Rousseauschen Republik Übergangscharakter zu attestieren, oder sie als vorläufige einzuschätzen, erscheint allerdings verzerrend. Wenn, wie Fetscher ausführt, Rousseau die Verleihung politischer Rechte solange für sinnlos und sogar für gefahrlich hält, als eine entsprechende republikanische Gesinnung und die Kompetenz zu vernünftigem, gemeinsinnigem Urteil von traditionell unterprivilegierten Schichten nicht zu erwarten steht, so zeigt doch nichts am social-engineering des aufgeklärten Hausvaters an, daß seine Erziehungsbemühungen in eine Richtung zielen, die eine Behebung dieser sozialen Defizite anstreben.94 Darüber hinaus ist es den zur Unmündigkeit verurteilten Vertretern der unteren Stände grundsätzlich nicht möglich, zu Söhnen der bürgerlichen Gesellschaft im Sinne Hegels zu werden, weil diese als Sphäre der wechselseitigen Abhängigkeiten in Rousseaus System keinen Ort hat. Damit ist bei Rousseau aber auch die „Bildungsfunktion" der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlos-
93
Fetscher betont in diesem Zusammenhang, daß Rousseau „keineswegs der abstrakte Demokrat [war], als den man ihn oft hingestellt hat". (Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, a.a.O., S. 215) Angemessener wäre es festzustellen, daß er überhaupt kein Demokrat nach unserem heutigen Verständnis war und es deshalb fraglich bleibt, ob er tatsächlich eine „allmähliche Aufhebung der politischen Unterprivilegierung" über die sukzessive Auflösung von Verhältnissen von Unselbständigkeit für seine Republik anvisiert hat. Der Beleg, den Fetscher in diesem Zusammenhang anführt, ist nicht überzeugend, weil in Rousseaus Reformvorschlägen für Polen eine allmähliche Aufhebung der Leibeigenschaft, aber gerade nicht die „Lösung aus dem Verhältnis der Unselbständigkeit (Lohnarbeit)" vorgesehen ist. (Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Betrachtungen über die Regierung Polens, in: Sozialphilosophische und politische Schriften, a.a.O., S. 563-655, VI Zur Frage der drei Stände) Während Fetscher in Kants Konzeption der Selbständigkeit mit Recht die kapitalistische Gefahr in der Gestalt des großbürgerlichen Unternehmers heraufziehen sieht, unterschätzt er auf der anderen Seite Rousseaus ständischen Konservativismus, wenn er meint, daß „Rousseau in erster Linie an kleine Handwerker gedacht hatte, die nur mit ihrer Familie zusammen arbeiten und an Landwirte, die im optimalen Fall so gut wie alles Lebensnotwendige für sich und ihre Familie selbst erzeugen." Entweder werden hier Verhältnisse der kleinbürgerlichen Gattenfamilie des 20. Jahrhunderts auf Rousseau projiziert, oder aber es bleibt ungeklärt, welchen bürgerlichen Status die Mitglieder einer solchen Produktionsfamilie haben. Ganz zu schweigen vom inhärierenden Status der Ehefrau. Zum kleinbürgerlichen Klassenstandpunkt Rousseaus vgl. auch Iring Fetscher, Voltaires liberales Großbürgertum und der kleinbürgerliche Egalitarismus Rousseaus, in: Rudolf Vierhaus (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, (Wolfenbüttler Studien zur Aufklärung Bd. VII) Heidelberg 1981, S. 43-65.
94
Trotz seiner Sympathie für „le bon peuple" ist sich Rousseau an diesen Punkt mit den Aufklärern einig. Für Voltaire stand außer Frage, daß das Volk „soit guidé et non instruit". Ähnlich auch die Äußerungen Holbachs und anderer Zeitgenossen. Vgl. Roger Rotmann, La femme et le pauvre, a.a.O., S. 84.
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sen, deren versteckte List und interne Logik aus jedem männlichen Familiensproß einen ausreichend gemeinwohlorientierten Bürger formt. Für wie wenig wünschenswert Rousseau die ein halbes Jahrhundert später bei Kant dokumentierte Trennung zwischen der sozialen, ordnungspolitischen Funktion des Hausvaters und einer vom traditionellen Konzept des pater familias abgekoppelten ökonomischen Selbständigkeit gehalten hat, zeigt beispielhaft der Entwurf einer Verfassungfür Korsika 5. Im Entwurf wird der volle Bürgerstatus von Rousseau explizit gleichermaßen an den Grundbesitz wie auch an die Gründung und Leitung eines Hauswesens geknüpft. Rousseaus Verfassungsentwurf für Korsika stellt sich grundsätzlich als der Versuch dar, angesichts einer historisch-geographisch außergewöhnlichen Situation das Ideal eines zivilisationsabgewandten und naturzustandsnahen Lebens zu restaurieren und im Windschatten der Städte und der Industrie, Lebens- und Sozialformen zu konservieren, die dem Ideal des Goldenen Zeitalters entsprechen, welches er für die großen europäischen Flächenstaaten als unwiederbringlich verloren ansieht. Rousseau plädiert in seinem Entwurf für eine „égalité par naissance" und damit für die Abschaffung aller ständisch-feudalen, erblichen Privilegien96, um aber im Gegenzug Distinktionen auf einer neuen Basis zu errichten, die das Volk in verschiedene Ränge zu unterteilen erlaubt, und dies gemäß ihrer persönlichen Verdienste für das Vaterland. Als verdienstvoll erweist sich aber allem voran die Wahl einer Lebensform, welche die Aufrechterhaltung einer ausschließlich agrarischen Subsistenzwirtschaft auf der Basis von Kleinfamilienverbänden gewährleistet. Mit Blick auf die ihm vertraute Klassifikation der Bürger im Stadtstaat Genf, die Unterteilung in citoyens, bourgeois, natifs und habitants unterscheidet Rousseau für Korsika zwischen citoyens, patriots und aspirants, zwischen (Voll-)Bürgern, Patrioten und sogenannten Anwärtern. Eine Vollbürgerschaft kann von jedermann unter fairen Bedingungen erworben werden; diese sind dahingehend spezifiziert, daß der Betreffende sich erstens an Grund und Boden bindet, und zweitens bereit ist, dieser Bindung an die Scholle durch die Gründung einer Familie Dauer zu verleihen. Rousseaus legislative Auflagen im Entwurf einer Verfassung für Korsika untermauern gewissermaßen die im Contrat Social nicht explizierte Voraussetzung, daß grundsätzlich für eine aktive Staatsbürgerschaft nur Hausvorstände, also die Repräsentanten einer agrarischen Produktionsgemeinschaft vorgesehen sind. Darüber hinaus zeigt sich an diesen Bestimmungen, daß Rousseau in der Rolle des Gesetzgebers den privilegierten Status des citoyen als aktives Glied des Gemeinwesens zu fungieren, als Hebel benutzt, um den eigenen zivilisationskritischen Impulsen fol95
96
Entwurf einer Verfassung für Korsika, S. 507-561/ Projet de Constitution pour la Corse, OCP III, S. 900-950. „Das grundlegende Gesetz eurer Ordnung muß die Gleichheit sein. Alles muß sich aus ihr herleiten bis zur Staatsgewalt selbst, welche nur dazu da ist, um die Gleichheit zu verteidigen, alle müssen gleich sein durch das mit ihrer Geburt erworbene Recht." Jean-Jacques Rousseau, Entwurf einer Verfassung für Korsika, S. 519/ OCP III, S. 909.
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ROUSSEAUS
Oncos ZWISCHEN NEOARISTOTELISMUS UND BÜRGERLICHER FAMILIE
gend, eine an die Frühzeiten der Zivilisation erinnernde Inselidylle fernab der großen allgemeinen industriekapitalistischen Beschleunigung künstlich zu konservieren. Es gilt die Bewohner Korsikas auf dem sozial homogenen Niveau einer in sich abgeschlossenen und frugalen Lebensweise festzuhalten; hierfür schafft Rousseau als législateur das entsprechend wirksame Anreizsystem, indem er qua Verfassung denjenigen zum Bürger erklärt, der sich für eine am traditionellen Konzept der autarkeia orientierte Existenzform entscheidet. Der von Rousseau selbst nicht veröffentlichte Entwurf für die Insel Korsika ist vermutlich eher in die Tradition der utopischen Inselprojekte einzureihen, als daß er als Verfassungsvorschlag tatsächlich ernst zu nehmen wäre.97 An die klassischen Utopien erinnert vor allem der Versuch, gesellschaftliche Entwicklungspotentiale stillzustellen und persönliche Freiheitsspielräume zugunsten einer staatlicherseits immobilisierten Gesellschaftsordnung einzuziehen. Diesem Versuch liegt die Idee einer kollektiv verpflichtenden Vorstellung von Glück zugrunde, der salus publica, die sich für liberales Denken verbietet. Von diesem Fluchtpunkt aus, der Idee eines von entfremdeten instrumenteilen Verhältnissen und marktförmig erzeugten Beziehungs- und Kommunikationsformen unbeschadeten und damit geglückten Lebens, stellen sich alle Überlegungen Rousseaus zur Ökonomie - zur häuslichen wie zur politischen - als Konsequenzen seines zutiefst zivilisationskritischen Impetus dar. In dieser kritischen Haltung gründet sein Bemühen, die für die Moderne charakteristische Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat durch die „Famiiiarisierung" der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. durch die Eliminierung ihrer individualisierenden und partikularisierenden Elemente zu leisten. 3.2.5
Das Ideal der Autarkie
Nach Ernst Bloch „geht die Sozialutopie überwiegend auf menschliches Glück und überlegt sich in mehr oder minder romanhafter Form seine wirtschaftlich-soziale Form".98 Dieser Charakterisierung zufolge läßt einiges mehr noch als der Entwurf für die Insel Korsika Rousseaus Briefroman Julie ou La Nouvelle Héloïse utopische Züge erkennen.99 Als „utopisch" kann das politische Denken Rousseaus in dem Sinne be97
98 99
Vgl. Raymond Polin, Le sens de ¡'égalité et de l'inégalité chez Jean-Jacques Rousseau, a.a.O., S. 162. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Kap. 33-42, Gesamtausgabe Bd. 5 Frankfurt/M. 1959, S. 632. Es herrscht eine gewisse Neigung, Rousseaus Entwurf der œconomie domestique dem Genre der Utopie zuzurechnen. (Vgl. v.a. James F. Jones, La Nouvelle Héloïse, Rousseau and Utopia, Genf 1977) Streng genommen ist dies schon deshalb ausgeschlossen, da sich grundsätzlich keine Utopie in der Schilderung des privaten Haushalts erschöpft. Doch weist die Beschreibung der idealen Hausgemeinschaft Ciarens unverkennbar Ähnlichkeiten mit den klassischen Utopien auf. Neben dem Aspekt der Sozialtechnologie betrifft dies v.a. die Weisen des Wirtschaftens: Abgeschlossenheit, Autarkie, Frugalität, Verachtung von Luxus und Geldverkehr. Rousseau greift hier auf die gleichen antiken Quellen zur vernünftigen Lebensführung wie z.B. Thomas Morus zu-
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zeichnet werden, daß es die Gewährleistung liberaler Freiheitsrechte nur als Bedingung für die Verwirklichung von im umfassenden Sinn unentfremdeten Existenzmöglichkeiten vorsieht. Aus der Einsicht, daß Freiheit im formaljuristischen Sinne unter den Bedingungen sozialer Ungleichheit zum Gruppenprivileg herabgestuft wird und damit zur Korruption der republikanischen Gesinnung auf Seiten der Privilegierten wie der Unterprivilegierten fuhrt, zieht Rousseau Konsequenzen, die sich dem liberalen Denken verbieten: Es gilt nämlich, durch die Gewährleistung entsprechender ökonomischer Voraussetzungen reale Chancengleichheit für die Verwirklichung eines geglückten menschlichen Lebens zu sichern. Damit ist ein materiales Konzept geglückten Lebens anvisiert, das die formalen Freiheitsbedingungen individuellen Glücksstrebens transzendiert. Für Rousseau, den man als einen ökonomischen Materialisten avant la lettre bezeichnen könnte, weil er, wie Starobinski es formuliert, „stets die Probleme des Bewußtseins an die der Ökonomie gebunden" hat, ist es die dirigistische Steuerung der äußeren ökonomischen Verhältnisse, an welche die Ermöglichungsbedingungen für eine unentfremdete Existenz geknüpft sind.100 Die Möglichkeitsbedingung für menschliches Glück ist ökonomische Autarkie. In der autarken Hausgemeinschaft erkennt Rousseau die Möglichkeit, die Verhältnisse der naturzuständlichen Unabhängigkeit auf der Ebene bürgerlicher Vergesellschaftung in modifizierter Form zu restituieren: In der Gestalt des autarken Hausverbandes in der modernen Agrargesellschaft ersteht das autonom-autarke Individuum des Naturzustandes aufs Neue. Erst die Wiedergewinnung der naturzuständlichen „indépendance" schafft im Weiteren die Ausgangsbedingungen für die Wiederherstellung einer authentischen, unentfremdeten Daseinsweise in der für Rousseau charakteristischen Form: Die autarke Hausgemeinschaft erscheint als Ort der unvermittelten Kooperation und unverstellten Kommunikation, als der Entfaltungsraum der „schönen Seelen", als ein Biotop menschlicher Glücksmöglichkeiten.
100
rück. Seine Vorschläge für eine anti-kapitalistische, traditionalistisch agrarisch fundierte Ökonomie hat Rousseau aber keineswegs als utopisches Modell, als eine „Chimäre" verstanden, wie der 3. Teil seines Enzyklopädie-Artikels zeigt. (Zur spezifischen Lagerung von Rousseaus Position im Verhältnis zu den volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen seiner Zeit vgl. Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, a.a.O., S. 244ff.) Auch hat Fichte in seinem Geschlossenen Handelsstaat von 1800 ein der Rousseauschen (economie politique nahestehendes Modell aus Grundsätzen der Vernunft deduziert: „Staatssozialismus aus dem Geiste Rousseaus" in den Worten Blochs (Das Prinzip Hoffnung, a.a.O., S. 639). Bei Rousseau, der die freiheitsgefährdende Wirkung von extremen Vermögensunterschieden klar gesehen hat, mußten die rechtlichen Überlegungen zwangsläufig zu wirtschaftlichen fuhren. Alles was sich später in Fichtes merkwürdiger Mischform der Juristischen Sozialutopie" findet, ist bei Rousseau vorgedacht: Aufhebung der Anarchie des Handels durch die Ausscheidung des Unternehmertums, die Stillegung der freien Konkurrenz und die Abschaffung des offenen Marktes. Siehe auch Jean Fabre, Réalité et utopie dans la pensée politique de Rousseau, in: Annales de la Société Jean-Jacques Rousseau 35 (1959-1962), S. 181-216. Jean Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen, a.a.O., S. 158.
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Dieser Aspekt wird im Zusammenhang mit Rousseaus Konzept der sentimentalen Familie noch ausführlich zu beleuchten sein; zunächst ist noch einmal nach der spezifischen Kontur zu fragen, die Rousseau seinem Konzept von Naturzustand verliehen hatte. Erinnern wir uns daran, daß die Menschen im Naturzustand autark waren, physisch und psychisch unabhängig von anderen Menschen, und daß gerade diese Unabhängigkeit die Voraussetzung und der Garant ihrer naturzuständlichen Freiheit im Sinne der „indépendance" war. Zivilisatorische Schübe, zuletzt die Einfuhrung des privaten Eigentums und die daraus entstehende Arbeitsteilung, haben die Autarkie des Einzelnen unwiederbringlich zerstört. Dennoch hält Rousseau die Wiederholung des naturzuständlichen Ideals der Autarkie auf der Ebene des Gesellschaftszustands für möglich und zwar als Ziel republikanischer Wirtschaftspolitik.101 Diese Leitidee erweist sich auf allen ökonomischen Levels der Gesellschaft als maßgebend: Zuhöchst auf der Ebene der Nation; hier läßt Rousseau wissen: „Ich behaupte also, daß die glücklichste Nation jene Nation ist, die am leichtesten alle anderen entbehren kann"102, weiterhin wird das Konzept der Autarkie, wie es der Verfassungsentwurf für Korsika beispielhaft verdeutlicht, auf alle Ebenen der Verwaltung heruntergebrochen: auf Provinzen, Distrikte und Gemeinden, und zuletzt mit gewissen Einschränkungen auf die Bauernhaushalte selbst.103 Mit Rücksicht auf den ökonomischen Mikrolevel des privaten Haushalts hat Rousseau am Beispiel Ciarens detaillierte Vorschläge zu Produktions- und Kultivationstechniken gemacht, deren Sinn sich nur aus der Ausrichtung am Ideal einer vollkommenen Selbstgenügsamkeit erschließen läßt.104 Nicht weniger kunstreich und listig wie die Empfehlungen zur Gestaltung der familiaren Verhältnisse sind auch die Vorschläge, auf welche Weise einerseits die menschliche Tendenz zu luxurierenden, und d.h. Abhängigkeiten produzierenden Bedürfnissen auf frugale Befriedigungsmöglichkeiten umgebogen, und andererseits, da Luxusverachtung nicht in sinnenfeindliche Askese umschlagen soll, importierte Luxusware mit hoher Perfektion auf der Basis regionaler Kultivationsmöglichkeiten nacherzeugt werden kann.105 Auch die im engeren Sinne ökonomischen Überlegungen im Rahmen der Konzeption des oikos bezeugen so den Aufwand der Mittel, die zur Herstel-
101
Wiederholung des natürlichen Zustands versteht sich nicht als ein geschichtlich naives Zurückfallen auf einen früheren Entwicklungsstand, sondern als die Bemühung um eine Restituierung eines Optimums, die der tiefgreifenden Modifikation seiner Realisationsbedingungen durch die historische Entwicklung Rechnung trägt. Nach Leo Strauss fungiert der Naturzustand im Sinne einer regulativen Idee: „Rousseaus Antwort auf die Frage nach dem guten Leben [nimmt] folgende Form an: das gute Leben besteht in der größten Annäherung an den Naturzustand, die auf der Ebene der Humanität möglich ist." (Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, a.a.O., S. 295)
102
Politische Fragmente, VI ( Vom Gemeinwohl/Du bonheur public), S. 241/ OCP III, S. 512. Vgl. dazu ausfuhrlich Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, a.a.O., S. 237ff. Die neue Héloise, V, 2. Hierzu auch die ausfuhrliche Interpretation von Jean Starobinski zur Ökonomie von Ciarens (Rousseau. Eine Welt von Widerständen, a.a.O., S. 157-167). Die neue Héloise, V, 2, S. 568ff./ OCP II, S. 541 ff.
103 104
105
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lung einer wiedergewonnenen Natürlichkeit zweiter Stufe notwendig sind. Erst von dem Ziel einer angestrebten Versöhnung von Natur und Kultur her erhalten diese mit einem gewissen Zug zur Zwangsbeglückung einhergehenden Anordnungen ihren Sinn. Sofern im Naturzustand ein elementares Gleichgewicht von Bedürfnis und Befriedigung herrschte, war der Mensch der spontanen Augenblicksexistenz durch nichts verführt, das natürliche Maß und den vitalen Zuschnitt seiner Bedürfnisse zu überschreiten: Die Befriedigung seiner Bedürfnisse geschah unmittelbar, Mangel existierte nicht. Rousseaus Kunst ist darauf gerichtet, in einer durch Arbeitsteilung, Privateigentum, Warenverkehr und Geldzirkulation strukturierten Gesellschaftsform eine Annäherung an die ökonomischen Bedingungen dieser ersten Umrißgestalt menschlichen Glücks zu leisten. Die optimale Annäherung an dieses Ziel ist in der ökonomischen Struktur des Hauses als einer auf interner, ständischer Trennung von Produktion und Konsumtion basierenden prästabilierten Harmonie von Bedürfiiis, Arbeit und Genuß verwirklicht. Analog zu den Verhältnissen im Naturzustand regieren hier weder Mangel noch Überfluß, weder ungestilltes Bedürfnis noch maßlose Überfülle106, entsprechend macht die ceconomie domestique weder Verluste noch Gewinne, aus ihrem Gedeihen wird kein Kapital geschlagen: Für das Gut Ciarens gilt, was Rousseau für die Insel Korsika anstrebt: „les fruits de la terre ne seront plus marchandise"107. Angemessene Bedürfhisse werden maßvoll befriedigt und alles was darüber hinausgeht, führt zur Selbstversklavung des Menschen entweder in der Form einer grenzenlos verfeinerten Sinnlichkeit oder der Rastlosigkeit der Pleonexie, welche wiederum Abhängigkeit von anderen, in der Form von Handelsbeziehungen und Geldverkehr, bewirkt. Diesen über das natürliche Niveau hinausgehenden entfremdenden Existenzweisen wird von vorneherein der Boden entzogen. Die Arbeit, unveräußerliche Mitgift des Zivilisationsprozesses, entfaltet keine entfesselte Herrschaft, sondern bleibt domestiziert, eingeschlossen in das Haus und eingeschränkt durch die Grenzen von Bedürfnis und Genuß: „Man arbeitet nur, um zu genießen."108 Was Rousseau mit der Ökonomie von Ciarens vorführt, ist die Übersetzung des Ideals der naturzuständlichen Autarkie in die Idee der kollektiven Selbstgenügsamkeit, d.h. er kompensiert den geschichtlichen Verlust der individuellen Autarkie durch den Entwurf einer gemeinschaftlichen. Ciarens stellt sich als das Projekt einer Gemeinschaft dar, die sich programmatisch auf das 106
Schilderungen dieses Ideals finden sich auch im Emile (Emil, S. 188/ OCPIV, S. 464) und ausfuhrlich am Beispiel der Schweizer Bergbauern im Brief an d'Alembert, Schriften,. a.a.O., Bd. 1, S. 337-474, hier: S. 394ff./ OCP V, S. 55ff.
107
Entwurf einer Verfassung für Korsika, S. 534/ OCP III, S. 924.
108
Die neue Heloise, IV, 11, S. 491/ OCP II, S. 470. Vgl. hierzu auch die Bemerkungen Hegels zum „substantiellen Stand" (Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke Bd. 7, Frankfurt/M. 1986, § 203), welcher „sein Vermögen an dem Naturprodukt eines Bodens, den er bearbeitet [hat]". Hier regiert „die einfache, nicht auf Erwerbung des Reichtums gerichtete Gesinnung, man kann sie auch die altadelige nennen, die, was da ist, verzehrt". (§ 203, Zusatz)
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Ideal der „indépendance" hin entwirft und realisiert: der Freiheit als dem Bewußtsein von nichts außerhalb abzuhängen. Hatten wir bereits weiter oben den Charakter der Hausgemeinschaft als den einer integralen Ganzheit betont, in welche das Individuum durch Stellung und Funktion vollständig eingeschmolzen wird, so zeigt sich jetzt, daß diese organizistische Konzeption in ökonomisch autarker Subsistenz fundiert ist. Das Haus - bei Rousseau noch Produktions-, Reproduktions- und Konsumtionsgemeinschaft - entgeht als ganzes der verhängnisvollen Verstrickung in die bürgerliche Welt der Vermittlungen und der wechselseitigen Abhängigkeiten: Es ist auf anderes weder in Form der materiellen Mittel noch anderer Personen, bzw. Häuser bezogen. Die häusliche Gemeinschaft ist in der Lage, der Außenwelt als vollständig selbstgenügsam entgegenzutreten. Das Vorbild dieser sozioökonomischen Verhältnisse, die Rousseau als Grundlage der Republik anvisiert, hat seinen klar ausgewiesenen Ort im geschichtsphilosophischen Schema Rousseaus. Es ist das Goldene Zeitalter des Zweiten Diskurs, „l'époque la plus heureuse"109, in dessen Rahmen sich die urzuständlich-solitäre Unabhängigkeit in der Form autarker, in sich ruhender Familienverbände noch bewahren läßt. Was die Beziehungen zwischen den einzelnen Hausgemeinschaften angeht, so erfreuen sich die Menschen untereinander eines „commerce indépendant", eines rein interaktiven, von der wechselseitigen Verschränkung der Bedürfiiislagen in der arbeitsteiligen Organisation befreiten menschlichen Umgangs. Auch im Entwurf einer Verfassung för Korsika kommt Rousseau auf das equilibrierte Verhältnis von Mensch und Gesellschaft in der Frühzeit zurück: Aufgrund der Tatsache, daß „der Vorteil und die Bedürfnisse der einzelnen sich nicht in die Quere kamen und niemand von einem anderen abhängig war, unterhielten alle nur die wohlwollendsten und freundschaftlichsten Verbindungen untereinander."110 Hier zeigt sich, daß Rousseaus Modernitätsfeindlichkeit nicht nur zivilisationskritisch, sondern vorrangig politisch motiviert ist. Das Ideal der Autarkie und ihrer gesellschaftlich-ökonomischen Basis dient der Lösung des politischen Fundamentalproblems: wie nämlich eine Integration der Einzelwillen in ein umfassendes Ganzes möglich sein kann, das die Idee der Staatsbürgerschaft fundiert. Rousseaus Antwort auf das Problem liegt in der Herbeiführung einer größtmöglichen Interessenkonvergenz als Voraussetzung für die Ausbildung eines allgemeinen Willens. Eine möglichst homogene Interessenlage, die aus weitestgehender Übereinstimmung der Existenzbedingungen der Einzelnen, bzw. der einzelnen Haushalte, resultiert, fungiert als Grundlage fur eine sich gleichsam naturwüchsig einstellende Verallgemeinerungsfähigkeit der partikularen Willen. Es ist unschwer zu sehen, wie eine relative Gleichheit in wirtschaftlichen, aber auch soziokulturellen Belangen: Gleichheit der Vermögen, Autarkie und Subsistenzwirtschaft die Möglichkeit der Ausbildung antagonistischer Interessenlagen von vorneherein erstickt. Der in diesem Zusammenhang immer wieder bemühte Begriff der 109 110
OCP III, S. 171. Entwurf einer Verfassungßr Korsika, S. 524/ OCP III, S. 914.
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Transsubstantiation, der das übermenschlich anmutende Problem der gelingenden Integration der Partikularismen in die volonté générale anzeigen soll, will die Idee Rousseaus durch die Suggestion kritisieren, die Lösung des Problems verdanke sich einem instantanen metaphysischen Akt, während doch die Voraussetzungen der bürgerlichen Vereinigung vielmehr in der Organisation der materiellen Lebensgrundlagen zu suchen sind, welche die Kongruenz der Privatinteressen leistet. Im Rahmen der Naturgeschichte der Vergesellschaftungsformen besteht eine breite Basis soziokulturell gleichförmiger, nicht konkurrierender Individualinteressen historisch vor der bürgerlichen Gesellschaft. Mit der Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft treten die Privatinteressen antagonistisch auseinander, betreiben ihre gegenseitige Destruktion und entfalten vermittels Gruppierungen und Parteiungen in der Form des Mehrheitswillen gesellschaftliche Dominanz. Rousseau strebt im Modell einer dirigierten Wirtschaft an, die Grundlagen für eine Republik zu legen, die ihr Konzept der Bürgerlichkeit als machtvolle Alternative gegen die Lockesche Marktgesellschaft ins Feld führt und für welche die autarken oikia die unabdingbare Voraussetzung ihrer Verwirklichung darstellen. 3.2.6
Der Status der Hausherrin
Bevor die Erörterung der œconomie domestique mit einigen Überlegungen zum Status der Hausherrin abzuschließen ist, sei noch einmal die häusliche Ordnung vorgestellt, wie Rousseau selbst sie in ihren wesentlichen Zügen resümiert: „Eine Ordnung in den Dingen, bei der nichts dem Vorurteil eingeräumt wird, bei der alles seinen wirklichen Nutzen hat, eine Ordnung die sich auf die wahren Bedürfnisse der Natur beschränkt, bietet einen Anblick dar, der nicht allein von der Vernunft gebilligt wird, sondern auch die Augen und Herzen insofern erfreut, als sich der Mensch nur unter angenehmen Verhältnissen sieht, als ob er sich allein genug wäre. [...] Eine kleine Anzahl sanfter und friedlicher Menschen, welche durch gegenseitige Bedürfnisse und durch ein gegenseitiges Wohlwollen vereint sind, trägt dort durch verschiedene Pflichten zu einem gemeinsamen Zwecke bei: Da jeder in seinem Zustand alles findet, was er braucht um zufrieden zu sein und nicht zu wünschen, daß er aus solchem herauskomme, so hängt man sich an ihn, als wenn man lebenslang dabei bleiben sollte; und der einzige Ehrgeiz, den man behält, ist der, daß man die Pflichten seines Standes wohl erfüllt. Diejenigen, welche befehlen, zeigen sich so gemäßigt und die, welche gehorchen, so eifrig, als nur Leute gleichen Standes eben die Verrichtungen unter sich hätten austeilen können, ohne daß sich einer über seinen Anteil beschwert hätte. Keiner beneidet also den anderen, keiner glaubt, er könne sein Glück anders vermehren als durch die Vermehrung des gemeinsamen Gutes."111
Was Rousseau hier in moralisierendem und idealisierendem Ton beschreibt, ist die traditionelle Wirtschaftsgroßfamilie. Deren Lebensform ist auf der Grundlage einer noch wenig differenzierten Arbeits- und Bedürfnisstruktur ökonomisch-agrarisch bestimmt. Die Hausgemeinschaft ist ferner im Rahmen von Konsumtion und Produktion „durch 111
Die neue Héloïse, V, 2, S. 574f./ OCP II, S. 547f.
130
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gegenseitige Bedürfnisse und gegenseitiges Wohlwollen vereint", bedürfnisgebundene und zweckfreie Interaktion sind innerhalb des Hauses zusammengeschlossen, und noch nicht, wie später im Modell der bürgerlichen Kleinfamilie, voneinander getrennt; zugleich ist diese häusliche Einheit ständisch-hierarchisch differenziert: Die zweckfreie Interaktion ist Privileg der Herrschaft. Schließlich folgt, wie gezeigt, die interne soziale Gliederung der Rousseauschen oeconomie domestique einem paternalistischen Muster. Eine Frage, die im vorliegenden Zusammenhang bislang noch unbeantwortet geblieben ist, ist diejenige nach dem Status der Gattin. Im Kontext der Passagen der Nouvelle Heloise, die sich als ein Stück Hausväterliteratur präsentieren, stehen die Aufgaben- und Funktionsverteilungen innerhalb der agrarischen Produktions- und Konsumtionsgemeinschaft im Zentrum des Interesses. Vor diesem Hintergrund werden Mann und Frau als Hausvater und Hausmutter dem Herrenstand zugeordnet und entsprechend werden ihre Leitungs- und Führungsaufgaben, sowohl in Hinblick auf die Kinder112 wie auf die im Haushalt unselbständig Tätigen113 entfaltet. Für Außenstehende, aber vor allem für Angehörige des Hauses, wie für Gesinde, Gesellen und Dienerschaft, sind Herr und Herrin grundsätzlich von gleichem Stand und Wesen, insofern kommt ihnen auch gleiche Autorität zu. Von gleicher Art ist auch ihre Respektstellung gegenüber den Kindern. Diese grundsätzliche Gleichordnung des Ranges von Hausherr und Hausherrin in Bezug auf die unteren Stände wie auf die Nachkommenschaft, bedeutet indes nicht, daß bezüglich ihrer spezifischen Wirkungsbereiche nicht klare Unterscheidungen getroffen würden. Die Rollenverteilung ist geläufig: Dem Mann als Hausvorstand eignet gewissermaßen die Richtlinienkompetenz. Er fungiert als Planungs- und Zielsetzungsinstanz, die Hausherrin agiert als das exekutive Organ des Herrn. Insbesondere der Idealhaushalt Ciarens stellt sich mit seinen vorbildhaften ökonomischen, pädagogischen und sozialpsychologischen Programmen als ein Produkt der geistigen Exzellenz des aufgeklärten Hausherrn dar. Dieses grundsätzliche Verhältnis von männlicher Planung und weiblicher Durchführung kommt in einer besonders markanten Weise auf dem Feld der Kindererziehung zum Austrag.114 Denn obgleich Betreuung und Aufzucht der Nachkommenschaft im Zuge einer bemerkenswerten Verschiebung gegenüber den traditionellen hausständischen Funktionszuweisungen nunmehr zur eigentlichen Domäne der modernen Hausherrin avanciert sind, gilt jedoch auch für diesen Aufgabenbereich, daß „es der Einsicht eines aufgeklärten Vaters [bedurfte], um jenseits der herkömmlichen Vorurteile die wahre Kunst, die Kinder von der Geburt an zu lenken, erkennen zu lernen"115. Bei der Kultivierung der menschlichen Natur beschränkt sich die Rolle der Gattin darauf, als „Magd des Gärtners" „den Garten zu jäten" während es dem Hausvater zukommt, ,,[d]ie Pflanzen darin zu pflegen".116 Die Erziehungskompetenz der Frau erstreckt sich schließ112
Ibid., V, 3. Ibid., IV, 10. 114 Der 3. Brief des V. Teils der Neuen Heloise liefert einen Abriß des Erziehungsprogramms des Emile. 115 Die neue Heloise, V, 3, S. 613/ OCP II, S. 584. 116 Ibid. 113
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lieh nur auf eine vorläufige und vorbereitende Phase. Julie erklärt: „Ich erziehe Kinder und erhebe nicht den Anspruch, erwachsene Menschen bilden zu wollen. [...] Ich bin Frau und Mutter und weiß mich mit meiner Stelle zu bescheiden. Ich sage es noch einmal, die Aufgabe, die mir obliegt, besteht nicht darin, meine Söhne zu erziehen, sondern sie darauf vorzubereiten, erzogen zu werden."117 Mit der Entwicklung des Verstandesvermögens der Kinder geht die Erziehungsaufgabe auf einen männlichen Tutor über. Grundsätzlich in allen Bereichen „Punkt für Punkt das System des Herrn"118 zu befolgen, oder, sich „die Regeln anzueignen, die er vorgeschrieben hat"119, ist Charakteristikum der „sanftesten Herrschaft der Frauen und Mütter"120. So gilt grundsätzlich für die ideale Gattin und Mutter: „sie studiert nicht mehr, sie liest nicht mehr, sie handelt".121 Diese Beispiele mögen verdeutlichen, inwieweit die auf männlichen und weiblichen Kompetenzen fußende geschlechtliche Aufteilung der häuslichen Leitungsaufgaben im Rahmen der Nouvelle Heloise beiläufig die dichotomischen Geschlechtstypisierungen widerspiegelt, deren umfassende Begründung und Ausformulierung im Kontext der '
122
Geschlechtertheorie des V. Buches des Emile erfolgt. Neben deijenigen von männlicher Planimg und Führung einerseits und weiblicher instrumenteller Vernunft andererseits123, finden sich im Weiteren die Entgegensetzung von Vernunft und Gefühl, inso117
Ibid., S. 606/ OCP II, S. 578. Ibid. 119 Ibid., S. 596/ OCP II, S. 568. 120 Vgl. ibid., S. 614/ OCP II, S. 585. 121 Ibid., V, 2, S. 584/ OCP II, S. 556. 122 Die Tatsache, daß auch innerhalb der ständischen Hausgemeinschaft selbst ein striktes Programm von Geschlechtersegregation exekutiert wird, zeigt, daß Rousseaus Trennung der Geschlechtersphären als Bedingung und Ausdruck einer wohlgeordneten Republik sich nicht in der Separierung der Geschlechter entlang der Sphären von oikos und polis erschöpft. In Ciarens als „einem wohleingerichtetem Hause" in dem „Männer und Frauen wenig Umgang miteinander haben dürfen" spiegeln nicht zuletzt die unterschiedlichen Speisepläne die Geschlechtscharaktere wieder, die weniger fixiert sind, als daß es sie nicht auch über die Nahrungsaufnahme zu konservieren gälte: „Milchkost und Zucker gehören zu den natürlichen Vorlieben des anderen Geschlechts, sie sind gleichsam das Sinnbild der Unschuld und der Sanftmut, die seine anmutigste Zierde bilden. Männer hingegen begehren im allgemeinen stark gewürzte Speisen und geistige Getränke, eine Nahrung, die mehr dem tätigen, arbeitsamen Leben, das die Natur von ihnen fordert, entspricht. Wenn nun diese verschiedenen Geschmäcker sich verändern und vermischen, ist es ein fast unfehlbares Zeichen für eine zügellose Vermischung der Geschlechter." {La Nouvelle Heloise, IV, 10, S. 473/ OCP II, S. 453) „Es ist, sagte ich mir, die Bestimmung der Natur, die den beiden Geschlechtem einen unterschiedlichen Geschmack gibt, damit sie getrennt ein jedes nach seiner Weise leben mögen." So Rousseau im Brief an d'Alembert und er erläutert in einer Fußnote, daß er ,,[d]ieses Prinzip, von welchem alle guten Sitten abhängen" in einem Manuskript entwickelt, das später als die Nouvelle Heloise erscheinen wird. (Brief an d'Alembert, S. 443/ OCP V, S. 98) 123 „Die Vernunft der Frauen ist eine praktische Vernunft; sie verhilft ihnen, auf geschickte Weise die Mittel zu finden, ein gesetztes Ziel zu erreichen, aber nicht das Ziel selbst zu finden." (Emil, S. 409/ OCP IV, S. 720) Auch S. 421/ OCP IV, S. 737: „Es ist Aufgabe der Frauen gewissermaßen die 118
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fern der „Strenge" und „Einsicht des Herren" die „Gefühlswärme" und die „Sprache des Herzens"124 der Herrin korrespondieren, oder auch das Muster der komplementären Ergänzung. Julie hält fest: „er verschafft mir Klarheit und ich beflügle sein Herz"125. Überhaupt bildet das gesamte protoromantische Programm der Seelenkomplementarität auch in der Nouvelle Helo'ise den geschlechtertheoretischen Hintergrund, so daß die Hausherrin in Hinblick auf das eheliche Verhältnis erklären kann: „vereint sind wir daher mehr wert und es scheint, als sei es unsre Bestimmung, zusammen nur eine einzige Seele zu bilden, deren Verstand er ist, während ich der Wille bin".126 Wenn auch die Bezüge zum polarisierenden Geschlechterprogramm des Emile deutlich zu erkennen sind, so liegt mit der ceconomie domestique der Nouvelle Helo'ise definitionsgemäß eine Funktionsbeschreibung der Hausgemeinschaft und der Wirkungsbereiche ihrer Mitglieder vor, während das V. Buch des Emile sich ausführlich dem asymmetrisch-komplementären Verhältnis der Gatten in psychologischer Hinsicht widmet. Allerdings erhält Rousseaus Beharren auf dem „Stand der Frau"127 im Emile seinen vollen Sinn erst vor dem Hintergrund, daß das Gattenverhältnis eine Teilgemeinschaft des Hauses bildet. Mit dem „Stand der Frau" ist nicht eine vage anthropologische Bestimmung von Weiblichkeit angezielt, sondern vielmehr eine konkrete Funktionsstelle innerhalb der häuslichen Gemeinschaft benannt. Sofern also Rousseau betont, daß jedes Hausmitglied zum Zwecke des Gedeihens des Ganzen „die Pflichten seines Standes wohl zu erfüllen" hat, läßt sich unschwer das klassisch aristotelische Muster der Aufgabenbestimmung der Hausmitglieder erkennen, insofern für Aristoteles das harmonische und gedeihliche Zusammenwirken der verschiedenen Teile des Organismus des Hauses von einer mit der entsprechenden funktionsspezifischen Tugend einhergehenden Pflichterfüllung abhängig ist. Zwar rekurriert Rousseau nicht explizit auf die verminderte Exzellenz des rationalen Seelenteils der Frau, plausibel erscheint indes die Funktionsund Aufgabenverteilung zwischen Hausherr und Hausherrin nur auf der Basis dieser unausgesprochenen Prämisse. Bekanntlich ist es nach Aristoteles die vollentwickelte Potenz des deliberativen Vermögens, des bouleutikons, welche dem Mann die legitime Vorrangstellung in Dingen der planenden Vorausschau und der letztinstanzlichen Leitungsbefugnis einräumt.128 Dem Mann kommt die Fähigkeit zu, Prinzipien zu formulieren, die die Frau auf die konkreten Umstände des praktischen Lebens nur anwendet.129 Rousseaus ceconomie domestique spiegelt dieses althergebrachte und wohletablierte Muster geschlechtlicher Aufgabenteilung unverändert wider. praktische Moral zu finden; unsere ist es, sie in ein System zu bringen. [...] Die Frau beobachtet, der Mann zieht Schlüsse." 124 Die neue Helo'ise, V, 10, S. 486 u. S. 490/ OCP II, S. 465 u. S. 470. 125 Ibid., III, 20, S. 390/ OCP II, S. 373f. 126 Ibid., S. 390/ OCP II, S. 374. 127 Emil, S. 415, S. 420, S. 447/ OCP IV, S. 731, S. 736, S. 768. 128 Politik 1260 alOff. 129 Vgl. Emil, S. 409/ OCP IV, S. 720.
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Begreift man also den „Stand der Frau" vor dem Hintergrund einer Neuauflage des aristotelischen oikos, so läßt sich diese Bestimmung mit Bezug auf die beiden Schriften Rousseaus, in welchen die Ordnung des Privaten entfaltet wird, nach zwei Rücksichten hin bestimmen: Im Rahmen der Hausgemeinschaft kommt der Frau eine eigenständige, wenngleich vorrangig exekutive Leitungsfunktion zu, mit Rücksicht auf das Gattenverhältnis als solchem wird ihr eine den männlichen Lebensentwurf supplementierende Position zugewiesen. Doch erhält das Programm des V. Buchs des Emile seine Tiefenschärfe erst angesichts der Tatsache, daß die Entfaltung der Physiognomie des weiblichen Geschlechtscharakters - anders als die persuasive Rhetorik der Natürlichkeit suggeriert - allem voran die Einpassung der Frau in die häusliche Funktionsstelle als dienende Freundin des Herrn zu leisten hat.130 Anders gesagt: Den Analysen Rousseaus im Emile entdeckt sich weniger ein weiblicher Geschlechtscharakter, dessen defizitärer Zuschnitt der politischen Vernunft gebietet, den Frauen die aktive Staatsbürgerschaft zu versagen, vielmehr geht es Rousseau um die aktive Entwicklung eines Programms der „Erziehung der Frau zur Frau". Dieses ist bestimmt durch die Erfordernisse einer politischen Ordnung, die in restaurativer Weise an der klassischen, immer auch schon geschlechtskonnotierten Sphärentrennung von oikos und polis orientiert bleibt. Im weiblichen Erziehungsprogramm des Emile wiederholt sich das anti-emanzipative, psychologisch-manipulative Zurüstungsprogramm auf der Ebene der Herrschaft, wie es mit Rücksicht auf die Dienerschaft in der Nouvelle Helo'ise seinen Platz hat. Die Herstellung von Weiblichkeit bedarf nicht weniger der trickreichen Arrangements als sie für die Erzeugung einer „rechtschaffenen Knechtschaft" nötig sind. Die sozialen Strategien zur Infantilisierung der unteren Stände und die zur Verweiblichung der Frau sind systematisch parallellaufende Programme.131
130
Die Verbindung zwischen der Intention des Émile und derjenigen der Nouvelle Héloïse sieht auch Robert Dérathé: „La voie de YEmile et celle aussi de la Nouvelle Héloïse; c'est l'idée d'une vie domestique ou privée conforme à la nature." Rousseaus Erziehungsprogramm stellt sich so als ein umfassendes Sozialprogramm dar, welches eine Idealgestalt des privaten Lebens propagiert, dessen „prélude" der Émile und dessen „épilogue" die Nouvelle Héloïse darstellt. (Robert Dérathé, L'unité de la pensée de Jean-Jacques Rousseau, a.a.O., S. 214f.)
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Diesen Zusammenhang habe ich bislang nur in dem Beitrag von Giovanni Incorvati, Ni Rome ancienne, ni Rome moderne. Thérèse et Jean-Jacques, ou le Code Civil, in: Irène Théry/ Christian Biet (Hg.), La famille, la loi, l'état de la Révolution au Code Civil, a.a.O., S. 29-44, thematisiert gefunden. „Pour les salariés (dans La Nouvelle Héloïse) et pour les femmes (dans l'Émile) Rousseau invoque les mêmes moyens, désignés par les mêmes mots: sur le travail, comme dans la famille, il faut contenir les uns et les autres par ,1a contrainte' et ,1a gêne', mais au niveau iuridique l'art du maître législateur ,est de cacher cette gêne [...] en sorte qu'ils pensent vouloir tout ce qu'on les oblige de faire'. (OCPIV, S. 453 u. OCP V, S. 709)" (Ibid., S. 34) Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis darauf, daß die Rechts- und Eigentumsansprüche der Unselbständigen und der Frauen im Konvent der Revolutionsjahre in Abhängigkeit voneinander verhandelt wurden.
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Nouvelle Heloise und Emile mit Rücksicht auf den Status der Gattin in einen Zusammenhang gesetzt, lassen aber noch ein Weiteres erkennen: Über der Funktionsbestimmung der Hausherrin und der Charakterisierung der ihrer natürlichen Disposition entsprechenden Domänen einerseits und dem umfangreichen individualpsychologischen, komplementär-narzißtischen Programm des Emile andererseits, kommt die Ebene des r e c h t l i c h e n Verhältnisses der Gatten nicht in den Blick. Mit Bezug auf das Ensemble der sozialphilosophischen und politischen Schriften Rousseaus lassen sich zwar die rechtlichen Eckpfeiler einer konservativen Ehe- und Familienordnung deutlich ausmachen, aber sie werden nicht in einen kohärenten Zusammenhang gestellt, der ihre rechtsphilosophische Behandlung erlaubte. Als Kernelemente einer patriarchalen Geschlechterordnung lassen sich lesen: das Sozialprogramm der Nouvelle Heloise, die Bemerkungen Rousseaus zur patriarchalen Eigentumsordnung im Zweiten Diskurs, ferner die Verteidigung der männlichen Entscheidungsgewalt in häuslichen Angelegenheiten in der (Economie politique und nicht zuletzt die die Geschlechtsvormundschaft des Mannes vorbereitende Erziehung der Frau im Emile. Exkurs zur Rechtsstellung der Frau Die Prämissen der politischen Aufklärung stecken den Rahmen dafür ab, daß mit dem Gleichheitsgedanken auch die Forderung nach rechtlicher Gleichbehandlung der Geschlechter aufgeworfen ist.132 Was die politischen Teilhaberechte angeht, so ist deutlich geworden, daß die Frau als Gattin wie die Vertreter der unteren Stände von der aktiven Staatsbürgerschaft ausgeschlossen bleibt, sie ist kein Teil des Souveräns, ihr Wille geht nicht in den allgemeinen Willen ein, statt des Gesellschaftsvertrags schließt sie den Ehevertrag mit einem andersgeschlechtlichen Individuum und hat so nur indirekt Teil am Gemeinwesen.133 Als passive Staatsbürgerin steht die Frau unter dem Schutz des Staates. Dieser schützt und sanktioniert das Familienrecht, welches ihr Dasein rechtlich
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Hierzu vgl. Dieter Schwab, Artikel „Gleichberechtigung (der Geschlechter)", in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. von Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann, Bd. 1, Berlin 1971, Sp. 1696-1702. Ferner: Ursula Vogel, Gleichheit und Herrschaft in der ehelichen Vertragsgesellschaft - Widersprüche der Auftclärung, in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 265-292, dazu auch: dies., Patriarchale Herrschaft, bürgerliches Recht, bürgerliche Utopie, a.a.O. 133 René Hubert, L'amour, la natur et la société chez Jean-Jacques Rousseau. a.a.O., S. 203ff. konstatiert eine „analogie frappante" zwischen dem „contrat conjugal" und dem „contrat politique" (S. 203). In der Tat spricht einiges dafür, daß Rousseau die „passage", den Übergang vom natürlichen Zustand zum bürgerlichen, d.i. von der Leidenschaft zur Vernunft und von der Unabhängigkeit zur sittlichen Freiheit als eine für die Geschlechter in analoger Weise durch die Bindung im Vertrag bewirkte „conversion" entwirft. Das bedeutet, daß der Mann durch den Gesellschaftsvertrag, an welchem die Frau nicht teilhat, zum citoyen wird, während sie ihrerseits durch den Ehevertrag mit einem Mann auf indirektem Wege zur citoyenne, zur passiven Bürgerin durch ihren Status als Gattin wird.
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regelt. Der Status des Privatrechtssubjekts und damit die Zuerkennung der subjektiven Freiheitsrechte, die zentral für die Eigentumsfähigkeit eines potentiellen Markteilnehmers sind, werden der Frau in der Regel abgesprochen. Rousseau unterläuft den Gleichheitsdiskurs: Er entfaltet ein rückwärtsgewandtes Gegenbild, in dessen Rahmen das Geschlechterverhältnis in eine funktionale Gemeinschaft eingeschmolzen wird. Das Verhältnis von Mann und Frau ist nicht von der Art, daß es unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit bzw. der rechtlichen Gleichstellung zu thematisieren ist, es sind vielmehr funktionale Parameter, die zur Bestimmung der Geschlechtergemeinschaft herangezogen werden. Vor diesem Hintergrund ist die ungleiche Rechtsstellung der Frau bei Rousseau aus den oben angeführten rechtlichen Kernelementen wie folgt zu extrapolieren. Mann und Frau treten als unmittelbare Folge der Eheschließung in ein Rechtsverhältnis, dessen normative Strukturen vorneuzeitlich sind und die Grundzüge des mittelalterlichen Status-Vertrages zwischen Personen ungleichen Ranges bewahrt haben. Man erkennt die Charakteristika des traditionellen Schutz-Gehorsam-Verhältnisses: Dem Mann als Eheherr kommen in Bezug auf die Frau umfassende Leitungs- und Kontrollbefugnisse sowie Vertretungs- und Unterhaltsverbindlichkeiten zu. Dem entsprechen auf Seiten der Frau Folge- und Gehorsamspflichten einerseits, Ansprüche auf Schutz und materielle Versorgung andererseits. Es kennzeichnet den eigenen Status des Ehemannes, daß seine Macht nicht rechtlich reguliert ist und sich nicht wie in privatrechtlichen Dienst- und Lohnverhältnissen, auf einzelne, spezifische Leistungen bezieht, sondern auf die gesamte Person der Frau erstreckt. Damit ist die Stellung der Frau einerseits dem Status feudaler Hörigkeit nicht unähnlich, in mancher Hinsicht gleicht sie andererseits den Rechtsmerkmalen der Unmündigkeit von Minderjährigen, wie sie heute noch in Kraft sind. Da Rousseau nicht die égalité der Individuen, sondern der Hausverbände im Auge hat, hat das Gleichheitsprinzip exklusiven Charakter. Bedeutet Mündigkeit die Fähigkeit zu selbstbestimmtem Handeln und verlangt diese die umfassende und gleichförmige Sicherstellung aller Individuen gegenüber der Willkür privater Hoheitsgewalten, so sind Frauen unmündig in dem Maße, als ihnen das Verfügungsrecht über den eigenen Körper, der uneingeschränkte Gebrauch persönlicher Kräfte in Arbeit und Erwerb, ebenso wie das Recht auf den Ertrag aus eigener Tätigkeit, die freie Nutzung des Vermögens, und die Fähigkeit, in eigener Person Verträge zu schließen, Verpflichtungen einzugehen und im öffentlichen Forum des Gerichts als Bürger sein Recht geltend zu machen, abgesprochen werden.134 134
Ursula Vogel arbeitet auf der Grundlage einer Analyse der drei großen bürgerlichen Gesetzeskodifikationen, der sog. „Naturrechtsbücher", des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, des Code Civil von 1804 und des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1811 die Schlüsselfunktion des Privateigentums heraus, bzw. die im Begriff des Eigentums enthaltenen Bedingungen der persönlichen Selbständigkeit. Entscheidend ist, daß die normativen Strukturen des Güterrechts dem personenrechtlichen Herrschaftsverhältnis der Ehe weitestgehend nachgebildet
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ROUSSEAUS OIKOS ZWISCHEN NEOARISTOTELISMUS UND BÜRGERLICHER FAMILIE
Die gängige Etikettierung der ehelichen Geschlechtsvormundschaft als Schutzverhältnis, näherhin als „Rechtswohltat" zeigt an, daß der universelle Anspruch des Gleichheitspostulats doch zumindest die Forderung nach sich zieht, daß Unterschiede in der Rechtsstellung einer besonderen vernunftrechtlichen Begründung bedürfen.135 Die Erfordernisse der vernunftrechtlichen Legitimation treiben einen blumigen Diskurs über die „Geschlechtsnatur" der Frau hervor, der vom normativen Nimbus der Rechtsnatur des Naturrechts nachhaltig zehrt und es erlaubt, die praktischen Konsequenzen des allgemeinen Gleichheitsgedankens zu relativieren. Gilt die Vorherrschaft von primär biologischgenerativen Anteilen als Wesensmerkmal der Frau, so folgt daraus die Aberkennung der für den allgemeinen Privatrechtsstatus unabdingbaren rationalen Fähigkeit der Selbststeuerung und Selbstregulierung. Das Geschlechterprogramm des Emile erfüllt nicht zuletzt auch diese Legitimationsleistung, weniger durch den Aufweis, als durch die aktive Festschreibung einer natürlichen, wenn auch nicht biologisch fundierten Geschlechtsrolle der Frau.136 3.2.7
Die ceconomie domestique zwischen „ganzem Haus" und bürgerlicher Kleinfamilie
Abschließend sei eine vorläufige Einschätzung der Rousseauschen Ehe- und Familienkonzeption versucht. Diese ist insofern als theoriegeschichtlich relevant einzuordnen, als sich an ihr die Anfänge des gewandelten Verständnisses von Ehe und Familie, wie es sich ab dem 19. Jahrhundert in der Form der bürgerlichen Familie faktisch erfolgreich etabliert, fassen lassen. Allgemein mündet die Kritik am rein vertragsrechtlichen Charakter der Ehe in eins mit der zunehmend polemischen Abgrenzung vom individualistischen und egalitären Erbe der Aufklärung, schließlich in eine Neubestimmung von Ehe und Familie, die zu einem sozialen Immobilismus führt, der im eklatanten Widerspruch zum liberalen Postulat der allgemeinen Rechtsgleichheit steht. Die notwendigen systematischen Verschiebungen in der Konzeptualisierung von Familie und Ehe sind zentral in Rousseaus Reformulierung des aristotelischen oikos in der Form der sentimentalen Hausgemeinschaft angelegt. Es ist das sozialkonservative Ideal der Gemeinschaft, das anders als das Modell der Gesellschaft die Rechtsgleichheit der Individuen nicht voraussieht und damit die Möglichkeit eines fast bruchlosen Anschlusses an das überlieferte, alteuropäische Muster der Organisation des Hauses bietet. So stellt sich Rousseaus Entwurf der Hausgemeinschaft als ein aussagekräftiger Beleg für die Feststellung dar, daß sich paradoxerweise die Bildung des neuen, bürgerwaren. In der Form von Dispositionsgewalt und Nutzungsbefugnissen erstreckten sich die Rechte des Mannes an der Person der Frau auch auf ihr Eigentum. (Ursula Vogel, Gleichheit und Herrschaft in der ehelichen Vertragsgesellschaft - Widersprüche der Aufklärung, a.a.O., S. 265-292) 135 Siehe Dieter Schwab, Artikel „Gleichberechtigung (der Geschlechter)", a.a.O., Sp. 1699. 136 Zur antinaturalistischen Fundierung der weiblichen Geschlechtsidentität in der Dynamik der Sexualität vgl. Friederike Küster, Aufklärung und Restauration: Rousseaus Geschlechtertheorie, in: Dieter Hüning/ Karin Michel/ Andreas Thomas (Hg.), Aufklärung durch Kritik, Berlin 2004, S. 81-93.
LA NOUVELLE HELOÏSE ODER DER SENTIMENTALE O K O S
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liehen Familienbegriffs nicht in Konfrontation mit dem ,alten', sondern „eher in wehmütiger Erinnerung an ihn und unter Rückgriff auf manche der alten Assoziationsgehalte"137 vollzieht. Rousseau reagiert auf die voranschreitende Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben mit einem Familienmodell, das stark retrograde Züge aufweist. Gegen die Erosionstendenzen einer durch Urbanisierung geprägten arbeitsteiligen Marktgesellschaft setzt er die Statik des Lebens der traditionellen Großfamilie, ihren inneren Zusammenhalt auf der Basis einer autarken Subsistenzwirtschaft, er setzt auf die integrierende Wirkung des gemeinsamen Interesses und auf ein kompaktes, generationenübergreifendes durch „Sitten und Gebräuche" verfestigtes Interaktionsgefüge. Rousseaus zivilisationskritische Prämissen bedingen eine Präferenz der Wirtschaftsgroßfamilie als kleinster sozialer Einheit, weil nur in dieser gesellschaftlichen Organisationsform das Ideal größtmöglicher gesellschaftlicher Unabhängigkeit gewährleistet ist. Rousseau konsolidiert aus modernitätsfeindlichen Motiven die alte Form des agrarisch-autarken Hausverbandes, die Familienform, in der das betrieblichgesellschaftliche und das intim-gemeinschaftliche Moment noch nicht auseinandergetreten sind. Obwohl hier also die moderne Trennung von Marktökonomie und privatem Haushalt bewußt unterlaufen und die Aufspaltung von Betrieb und Familie, Instrumentalität und Gefühl künstlich verhindert wird, zeigt sich dennoch unverkennbar eine Sentimentalisierung der familiären Beziehungen an, ohne daß die erwerbswirtschaftliche Komponente aus dem oikos herausverlagert wäre. Zum einen läßt sich auf der horizontalen Ebene, d.h. innerhalb des von den Aufgaben der Produktion freigestellten Herrenstandes, ein auf der Individualisierung der Beziehungen beruhender neuer Code intimer Kommunikation feststellen, während zugleich eine vertikale Beziehung der Stände durch die manipulativen Eingriffe in die psychischen Innenwelten künstlich erhalten wird. Festzustellen ist grundsätzlich das nahezu vollständige Zurücktreten des herrschaftlichen Moments: Klang in der lutherischen Übersetzung des oikodespotes bzw. des pater familias mit „Hausvater" noch im 17. Jahrhundert das väterliche Regiment innerhalb des Hauses unmißverständlich an, wurde also das Wort „Vater" allgemein als ein Begriff der rechtlichen Ordnung verstanden,138 so ist demgegenüber im Lauf des 18. Jahrhunderts eine, wie Bazcko es formuliert, „sentimentale Sublimierung des traditionellen Gemein139
wesens" zu beobachten, die schließlich mit dem 19. Jahrhundert in die biedermeierliche Idylle von kleinfamiliärer Seeleneintracht münden wird. Was Rousseau noch als ein Programm für die Neuformierung der altständischen Hausgemeinschaft als ganzer anstrebt, nämlich die Umkodierung eines herrschaftlich gegliederten Produktions-, Reproduktions- und Konsumtionsverbandes zu einer familiären Gemeinschaft des Bedürfnisses und des Gefühls, führt im Zuge der gesellschafts137 138 139
Dieter Schwab, Artikel „Familie" in: Geschichtliche Grundbegriffe, a.a.O., S. 272. Otto Brunner, Das „ganze Haus " und die alteuropäische „ Ökonomik", a.a.O., S. 112. Bronislaw Baczko, Rousseau. Einsamkeit und Gemeinschaft, a.a.O., S. 459.
13 8
ROUSSEAUS ODCOS ZWISCHEN NEOARISTOTELISMUS UND BÜRGERLICHER FAMILIE
wirksamen bürgerlichen Emanzipation der ökonomisch Unselbständigen zu einer Privatisierung der bis dato gemeinschaftlichen Verhältnisse, was dann im Konzept eines Eheverständnisses, das die Bindung der Ehegatten als einen Zweck an sich versteht, theoretisch relevant wird. Je nachhaltiger also die emanzipativen Potentiale der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft den ehemals inhärierenden Hausgenossen den Weg in die bürgerliche Selbständigkeit ermöglichen, womit zugleich die Dissoziierung von Erwerbs- und Familienleben wirksam vorangetrieben wird, d.h. die Produktion sich in zunehmenden Maße in die bürgerliche Warengesellschaft, in das „System der Bedürfhisse" hinausverlagert, um so mehr wandelt sich das Eheverhältnis innerhalb der bürgerlichen Kleinfamilie zu einem Verhältnis des reinen Wohlwollens, der bedürfnisenthobenen reinen Interaktion, der sich selbst genügenden zweckfreien Praxis, kurz: zu einem rein sittlichen Verhältnis. Was in den späteren, romantisch-bürgerlichen Konzeptionen von Ehe- und Geschlechterordnung schließlich manifest wird, läßt sich bei Rousseau in den Anfangen herauspräparieren: Mit dem Zurücktreten des herrschaftlichen Moments wird zunehmend die Einsicht virulent, daß der Gedanke der Ehe als Vertragsverhältnis ihrem Charakter als Gefühlsgemeinschaft nicht gerecht wird. Rousseau betreibt die restaurative Befestigung der traditionellen hausständischen Ordnung avant la lettre. Grundsätzliche Züge der Familienmodelle der Restaurationszeit, wie sie Bonald oder Savigny entwerfen, sind hier bereits zu finden. Sensibel reagiert er somit noch vor dem historischen Einschnitt der Revolution und der damit verbundenen ebenso kurzlebigen wie radikalen Experimente in der Familienpolitik auf die theoretische Herausforderung und Infragestellung der tradierten Familienstruktur durch die Prämissen des aufgeklärten Individualrechts. In den Schriften Rousseaus sind beide für die historische Entwicklung des Familienkonzeptes maßgeblichen Stränge bereits angelegt: einerseits die konstruktive Abwehr der naturrechtlichen Dekomposition des traditionellen Rechts- und Sozialgebildes der Familie, die mit einem Rückgriff auf das überkommene Muster des oikos einhergeht, und auf der anderen Seite die grundlegende Umcodierung dieses Musters von einem ständischen Herrschafitsverband alter Ordnung zu einer Gefuhlsgemeinschaft bürgerlicher Ordnung andererseits. Eine Umsetzung der individualrechtlich-emanzipatorischen Gehalte in Hinblick auf den traditionellen Hausverband, die grundsätzlich neue Formen ehelich-familiärer Organisation freisetzen könnte, ist mit diesem Programm wirksam abgebogen. Und sofern sich unter revolutionären Bedingungen für einen kurzen historischen Augenblick tatsächlich ein Möglichkeitsraum innovativer freiheitlicher Gestaltung eröffnet hat, hat er sich um so nachhaltiger durch die schon gleichsam antizipatorisch bereitgestellten Konzepte, welche die Ansprüche bürgerlicher Individualisierung in das Modell einer gemeinschaftsförmig organisierten intimen Gefühlskultur zurückzubiegen verstanden, wieder verschlossen. Grundlegend für diese Entwicklung ist die Tatsache, daß im Hinblick auf die rechtliche Binnenorganisation des Hauses naturrechtliche Parameter nicht mehr in Anschlag gebracht werden. Im Gegenzug zu den frühliberalen privatrechtlichen Vertragsmodellen werden nunmehr alternative Parameter für eine Neukonzeption der Haus- bzw. Gatten-
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gemeinschaft geltend gemacht. Stellen wir uns noch einmal klar die entscheidenden Punkte der bürgerlichen Ehe- und Kleinfamilienkonzeptionen vor Augen, die sich bei Rousseau gleichsam in statu nascendi erkennen lassen.140 Es ist zum ersten die Transformation der frühliberalen vertragsrechtlichen Konzeptionen des Hauses im Medium der Sentimentalisierung, die den Rückgriff auf das klassische Modell des oikos erlaubt und die Abkehr von den Begriffen des rationalen Naturrechts mit ihren potentiell herrschaftskritischen Implikationen wie die der natürlichen Rechte, des Konsens und der rechtmäßigen Herrschaft plausibel macht. Damit wird die Familie zu einer Gemeinschaft sui generis, auf welche die Rechtsbestimmungen des Privatrechts als nicht mehr applizierbar erscheinen. Im Weiteren ist festzustellen, daß das Eheverhältnis durch die Familie absorbiert wird, welche als organische Einheit begriffen, den Individuen als Familienmitgliedern vor- und übergeordnet ist. Damit erscheint das Verhältnis von Mann und Frau nicht mehr, wie noch in den Diskussionszusammenhängen des Naturrechts als das „erste", und als solches die häusliche Gesellschaft begründende, Rechtsverhältnis. Verstärkt wird diese Entwicklung dadurch, daß mit der zunehmenden Verlagerung des Akzents bei der Bestimmung der Rolle der Frau von der Gattin zur Mutter - eine Tendenz, die bei Rousseau v.a. im Émile, aber bereits auch in der Nouvelle Héloïse deutlich ausgeprägt ist - die Rechtsbeziehung zwischen den Gatten aus dem Focus der Aufmerksamkeit herausrückt, womit der maßgebliche Bezugspunkt, von dem aus die Entmündigung der Frau erkennbar wird, in den Hintergrund tritt. Der anti-emanzipatorische Zuschnitt der Familien-, und Ehekonzeption entzieht sich dem kritischen Zugriff, weil durch die sentimentale Verinnerlichung der Familienbeziehungen der Traditionsboden des überkommenen häuslichen Zwangsrecht von Herrschaft und Unterordnung unsichtbar bleibt. Die Konzepte der organischen Gemeinschaft und des rein sittlichen Eheverhältnisses fungieren als Legitimationsmuster und dienen so als Immunisierung gegen eine kritische Wahrnehmung des Unrechtscharakters dieser Ordnung und legen sich damit schützend um eine „Enklave ungleichen Rechts" 141 . Exkurs zum Discours
préliminaire
Unmittelbarer noch als in den Ehekonzeptionen der deutschen Idealisten, in denen sich keine expliziten Bezugnahmen auf Rousseau finden, spiegelt sich Rousseaus weichenstellender Bruch mit der kontraktualistischen Tradition und damit die Einleitung der restaurativen Wende in Hinblick auf Ehe und Familie in einem Text, der geradezu als paradigmatisch für die politische Wirkungsmacht des philosophischen Geschlechterdiskurses, als ein beredtes Beispiel fur die Chemie von Geschlechtertheorie und Ge140
141
Vgl. hierzu: Ursula Vogel, Gleichheit und Herrschaft in der ehelichen Vertragsgesellschaft, a.a O., S. 290f. Dieter Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, a.a.O., S. 33.
140
ROUSSEAUS OIKOS ZWISCHEN NEOARISTOTELISMUS UND BÜRGERLICHER FAMILIE
Schlechterpolitik angesehen werden kann. Es handelt sich um den von Jean Etienne Marie Portalis verfaßten Discours préliminaire zum Code Civil von 1804, dem sogenannten Code Napoléon.142 In diesem Kabinettstück an rhetorischer Konfusion finden sich nicht nur wörtliche Bezugnahmen auf den Zweiten Diskurs und den Emile, auch Stil und Intonation sind unverkennbar rousseauistisch. Den zentralen Gegenstand des Argumentationskunststücks, das der Verfassungsrechtler Portalis vorfuhrt, bildet der Vertragscharakter der Ehe, welcher im Revolutionsjahr 1792 mit der Laisierung der Ehe festgeschrieben wurde. Damit war die grundsätzliche Aufkündbarkeit des Ehevertrags nicht anders als in jedem beliebigen Fall eines zivilrechtlichen Vertrages gewährleistet. Portalis' Bestreben richtet sich darauf, nach den „revolutionären Exzessen"143 die Ehe von der rein individualrechtlichen Ebene auf eine institutionenrechtliche zurück zu holen, ohne dabei allerdings hinter die Säkularisierung zurück zu fallen. Dies gelingt ihm durch den rhetorischen Rückgriff auf eine Natur, welche die „wahre Natur" der Ehe enthüllt: „Nous nous sommes convaincus que le mariage, qui existait avant l'établissement de christianisme, qui a précédé toute loi positive, et qui dérive de la constitution même de notre être, n'est ni un acte civil, ni un acte religieux, mais un acte naturel. ,."144
Diese apostrophierte Dimension des Natürlichen ist durch eine Besinnung auf den einzig wahren Ursprung der Ehe, „dont la date est celle même de la création"145, zu gewinnen. Die Natur der Ehe wird durch ihre Verortung in einem Anfang, in einem principium als einer ursprünglichen und immerwährenden Zeit, jedem positiven Recht grundsätzlich vorgeordnet. Portalis entkoppelt Natur und Recht grundsätzlich: Die Natur ist nicht nur als vorgängig zu jedem positiven Gesetz anzusehen, sondern zu jeder Form des Rechts überhaupt und wandelt sich dergestalt gewissermaßen zum „antedroit"146, ohne allerdings an legitimatorischer Dignität zu verlieren, welche vielmehr durch die Evozierung der Schöpfungsordnung erneut bestätigt wird. Damit ist grundlegend revidiert, was die revolutionären Gesetzgeber 1792 als ihr Verdienst betrachtet hatten: die im Akt der Positivierung errungene Identität der Gesetze der Natur und der Zivilgesetze. In dieser so neu gewonnenen vorrechtlichen Dimension der Natur läßt der Verfassungsjurist Portalis eine mythisch-juristische Erzählung von einem auf Unauflösbarkeit 142
143
Jean-Etienne-Marie Portalis, Discours préliminaire sur le projet de Code Civil, in: Ders., Ecrits et Discours Juridiques et Politiques, Aix-en-Provence 1988, S. 21-63. Offiziell zeichnet für den Discours préliminaire ein vierköpfiges Gremium verantwortlich; faktisch war Portalis mit der Redaktion des Textes allein betraut. (Vgl. ibid., S. 21 Anm.) Ausführlicher werden die Vorüberlegungen zur Ehe- und Familiengesetzgebung des Code Civil von Portalis noch im Exposé des motifs du projet de loi sur le mariage erläutert (in: Ecrits et Discours Juridiques et Politiques, a.a.O., S. 79-110).
Discours préliminaire, a.a.O., S. 34. Ibid., S. 35. 145 Ibid. 146 Vgl. Irène Théry/ Christian Biet, Portalis ou l'esprit des siècles, a.a.O. 144
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hin angelegten „contrat perpetuel"147 zwischen Mann und Frau spielen, wobei die plakative Verwendung juridischen Vokabulars in Bezug auf die wechselseitigen Rechte und Pflichten der Ehegatten geschickt darüber hinweg täuscht, daß diese Rede jeglicher präzisen juristischen Bedeutung entbehrt. Die Argumentation von Portalis besteht genau besehen in einer fragwürdigen Klitterung Rousseauscher Topoi, dennoch kommt ein zentraler Gedanke Rousseaus maßgeblich zum Tragen: Einer entwicklungsgeschichtlichen Logik folgend, liegen Ehe und Familie der bürgerlichen Gesellschaft voraus. Strukturell betrachtet bedeutet dies, daß sie ihrer Natur, ihrer ursprünglichen Verfassung nach außerhalb des Bereichs angesiedelt ist, der in legitimer Weise allein gemäß individualrechtlicher Parameter zu organisieren ist. Der nächste Schritt enthüllt den eigentlichen Kern der argumentativen Bemühungen: Da die Verhältnisse in Ehe und Familie trotz ihres naturwüchsigen Fundaments einer zivilrechtlichen Organisation bedürfen, kann diese nunmehr weder von einem theologischen, noch von einem naturrechtlich-,revolutionären", sondern allein noch von einem „politischen" Standpunkt aus erfolgen. Konkret: Der Gesetzgeber behält es sich vor, über Fragen wie die der Auflösbarkeit der Ehe, oder des ehelichen Güterrechtes je nach politischer Opportunität zu entscheiden. Nach einem kurzen historischen Zwischenspiel ist die Ehe somit wieder in ein „pactum supra partes"148 zurückverwandelt; allerdings ist es Sache der positiven Gesetzgebung geworden darüber zu befinden, welches die konkreten Bedingungen der Eheschließung sind, die mit Rücksicht auf das allgemeine gesellschaftliche Wohl zu definieren sind: „Die Öffentlichkeit ist immer Partei in Ehesachen"149. Genau dies läßt sich auch als der Standpunkt Rousseaus im Brief an d'Alembert und im Emile ausmachen. In der theoretischen Verknappung des Discours préliminaire liegt seine ideologische Prägnanz: Im spezifischen Kontext des Rechtfertigungsdiskurses zu einem Gesetzeswerk enthüllt sich der ideologische Zuschnitt der Rousseauschen Ehe- und Familienkonzeption unverstellt. Die doppelte Verankerung der Ehe in einer vorrechtlichen, in zunehmenden Maße naturalistisch, bei Portalis noch traditionell providentiell gedeuteten Natur einerseits, und in der staatlichen Gesetzgebung andererseits, zielt unweigerlich darauf, das eheliche Verhältnis
147 148
149
Jean-Etienne-Marie Portalis, Discours préliminaire, a.a.O., S. 38. Die Deutung der Ehe a 1 s Vertrag ist grundsätzlich zu unterscheiden von der Stiftung der Ehe d u r c h einen Vertrag. Die Tatsache, daß der consensus der Nupturienten die Ehe begründet, ist immer traditionelle kirchliche Ehelehre gewesen. Damit ist indes noch kein vertragsrechtlicher Ehebegriff impliziert, da der Vertrag zwar als Begründungsakt der Ehe firmiert, nicht aber die interne Struktur der Ehe selbst abbildet. Die konsensuelle Eheschließung erzeugt ein sogenanntes pactum supra partes, ein der individuellen Verfügung enthobenes, naturrechtliches, bzw. sakramentalrechtliches Band. Die Ehezwecke und die eherechtliche Struktur stehen dabei nicht in der Dispositionsgewalt der Vertragsschließenden. (Vgl. Dieter Schwab, Art. „Familie", a.a.O., S. 280f. und: Die Familie als Vertragsgesellschaft im Naturrecht der Aufklärung, in: Ders., Geschichtliches Recht und moderne Zeiten. Ausgewählte rechtshistorische Aufsätze, Heidelberg 1995, S. 179-195) Jean-Etienne-Marie Portalis, Exposé des motifs, a.a.O., S. 92.
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ROUSSEAUS
Oncos ZWISCHEN NEOARISTOTELISMUS UND BÜRGERLICHER
FAMILIE
gleichsam von zwei Seiten her dem Willen der Individuen zu entziehen. Was bedeutet, daß die Bedingungen, an welche eine Eheschließung geknüpft ist, von höheren Bestimmungsgründen her als aus dem Willen der Ehepartner selbst ihre Festlegung erfahren. Da die emanzipativen Potentiale des Naturrechts in Bezug auf die Institutionen von Ehe und Familie in erster Linie ein Freiheitsversprechen für die Frau waren, wird deutlich, in welcher Weise die Klammer von Natur und Staat letztlich die rechtliche Unmündigkeit der Frau erneut zementiert. Schließlich zeigt der Discours préliminaire in aller Deutlichkeit vor allem das eine, ohne es indes sagen zu wollen: Der naturrechtliche Diskurs, der seine Schlagkraft und Legitimität aus seinem universellen emanzipatorischen Gehalt gezogen hatte, ist pervertiert zu beliebigen Erzählungen von Natur, die im Dienste eines partikularen „politischen Standpunkts" funktionalisiert werden. Die Natur ist spätestens hier zu einem männlichbourgeoisen Ideologem geworden.
4. Die Familie als intime Gemeinschaft
4.1 Auf dem Weg zur „Kontrastinstitution" Zwar stellt Rousseaus Familienkonzeption keine Reaktion auf eine nachrevolutionäre Situation und die damit verbundenen ordnungspolitischen Anforderungen dar, dennoch ist mit ihr angesichts der vertragsrechtlichen Deutung der familiären Beziehungen im aufgeklärten Naturrecht in entschiedener Wendung gegen die Auflösung des „ganzen Hauses" Stellung bezogen. Die entscheidende Konsequenz des individualrechtlichen Zuschnitts der Familienbeziehungen, durch welchen sich die Familie - allerdings nur in theoretischer Hinsicht - von einer institutionenrechtlichen auf eine vertragsrechtliche Ebene verlagert, liegt darin, daß ihre sozialen Funktionen gegenüber dem Individualrecht der Beteiligten reduziert werden, die Familienmitglieder zumindest der Möglichkeit nach als Subjekte freigesetzt werden1, die eheschließenden Individuen schließlich über Ehezwecke und -bedingungen dem eigenen Willen gemäß entscheiden. Diesem Aufbrechen der Struktur der alteuropäischen Familie durch das Individualrecht setzt Rousseau im Geiste bürgerlicher Erneuerung das Modell des ständischen Hausverbands als einer organischen Gesinnungs- und Gefühlsgemeinschaft entgegen. Obwohl sich diese Form der sentimentalen Wirtschaftsgroßfamilie noch deutlich von der historisch späteren intimen Lebensgemeinschaft von Eltern und Kindern, die auf der Ausdifferenzierung von Marktökonomie und privatem Haushalt beruht, unterscheidet, deutet dieses Modell einer die interne Ungleichheit absorbierenden und rechtliche Bestimmungen abweisenden Gefuhlsgemeinschaft unbestreitbar vor auf die künftigen restaurativen Familienkonzeptionen. Wenn man den von Dieter Schwab gezogenen Rekonstruktionslinien für die konzeptionelle Genese der bürgerlichen Familie folgt, so geschieht die Dekomposition des alteuropäischen Rechts- und Sozialgebildes Familie in zwei Schüben: zunächst durch dessen individualrechtliche Deutung im Rahmen des aufgeklärten Naturrechts und im Weiteren durch die sich anschließende romantische Umdeutung der
1
Vgl. hierzu Reinhart Koselleck, Die Auflösung des Hauses als ständischer Herrschaftseinheit, a.a.O.
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DIE FAMILIE ALS INTIME GEMEINSCHAFT
kleinfamilialen Verhältnisse zu ausschließlichen Gemütsverbindungen. Die im klassischen Sinne bürgerlichen und als solche, soweit zu sehen ist, ausnahmslos restaurativen philosophischen Ehe- und Familienkonzeptionen stellen mithin auch eine Reaktion auf einen zweiten, gegenüber dem naturrechtlichen anders gelagerten, aber nicht minder folgenreichen Individualisierungsschub dar, welcher im sensiblen Individualismus und vor allem im personalisierten Liebeskonzept der Romantik seinen Ausdruck findet.2 Das Bestreben der Romantiker, den familiären Innenraum von rechtlichen Bestimmungen freizuhalten, erweist sich als komplementär zur zunehmenden Verinnerlichung der Organismuskonzeption, in deren Zuge die Familie die Gestalt eines rein psychischen Kommerziums annimmt. Die Idee der organischen Einheit, die sich in Rousseaus Schriften noch im Konzept ökonomischer Autarkie als Grundlage politischer Selbstbestimmung präsentiert, kondensiert schließlich zum romantischen Ideal der seelischen Verschmelzung der Ehegatten als dem Nucleus der Familie. Das Wesen der Ehe ist zu einer die gesamte Person engagierenden psychischen Disposition geworden. So schreibt Friedrich Schlegel: „In der Familie werden die Gemüther organisch Eins, und eben darum ist sie ganz Poesie."3 Eine so verstandene eheliche Liebe ist unweigerlich mehr als die Summe häuslicher Verhaltenspflichten, mehr als die funktionale Freundschaft der Gatten. Die Hervorkehrung des Gemüthaften und die Apostrophierung der Seelenpoesie kann mit der vormaligen sozialen Funktionalität der Familie nur noch schlecht in Einklang gebracht werden: Die Ehe als reine Liebesverbindimg ist schließlich nichts anderes als ihr eigener Zweck. Führt man sich vor diesem Hintergrund Hegels einschlägiges Theoriestück als das prominente Beispiel einer ausgereiften bürgerlichen Familienkonzeption vor Augen, so ist darin nicht nur die vermeintliche Schnödigkeit der individualrechtlichen kantischen Ehedefinition, sondern es sind auch die subjektivistischen Übersteigerungen und antiinstitutionellen Affekte Schlegels und Schleiermachers überwunden. Positiv gewendet: Mit diesem Familienmodell ist es gelungen, den abstrakten Vertragsstandpunkt mit der in der romantischen Liebe sich verabsolutierenden individuellen Besonderheit zu versöhnen. Dies ist sicher noch nicht die Position Rousseaus. An seinen Schriften kann das „making of the sentimental family"4, also der Prozeß, in welchem sich das Konzept der sentimentalen bürgerlichen Kleinfamilie aus den Vorgaben der Tradition gleichsam herausarbeitet, eindrucksvoller gezeigt werden als sein Resultat. Hegel hat in den Grundlinien der Philosophie des Rechts mehr als ein halbes Jahrhundert nach Rousseau die entscheidenden Gehalte und Spezifika der modernen bürgerlichen Familie auf den Begriff gebracht - ein Umstand, der entsprechend Hegels rekonstruktiven Anspruchs seiner Rechtsphilosophie die erfolgreiche Durchsetzung des Modells der bürgerlichen 2 3 4
Dieter Schwab, Artikel „Familie", a.a.O., S. 284ff. Friedrich Schlegel, Ideen, in: Athenaeum 3 (1800), S. 32. Susan Moller Okin, Women and the Making of the Sentimental Family, a.a.O.
AUF DEM WEG ZUR „KONTRASTINSTITUTION"
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Familie auf dem Boden der gesellschaftlichen Realität bezeugt, - am Werk Rousseaus können demgegenüber primär die Entstehungslinien dieses Erfolgsmodells nachgezeichnet werden. Dabei haben im vorliegenden Zusammenhang bislang die Verdrängung des Vertragsparadigmas durch das Organismusmodell und die damit einhergehende Ausweisung des Rechts aus dem häuslichen Binnenbereich im Vordergrund gestanden. Im Weiteren wird es darum gehen, auch den zweiten Aspekt, das Vordringen des Gemüthaften, die Tendenz zur Schaffung einer gesellschaftlichen Enklave von Intimität und unverzerrter Humanität, kurz: das Entstehen der gesellschaftlichen „Kontrastinstitution"5 Familie in ihren Anfangen und Voraussetzungen im Ausgang von Rousseau zu rekonstruieren. Hierfür erweist es sich als hilfreich, das bislang unterstellte Vorverständnis von „bürgerlicher Familie" zu explizieren und deren maßgebliche Charakteristika noch einmal kurz zu benennen. Folgende drei Gesichtspunkte sind für das bürgerliche Familienmodell ausschlaggebend: Die bürgerliche Familie ist ihrer Form nach Kleinfamilie, sie bildet die Sphäre der Konsumtion und sie stellt den vom öffentlichen Leben klar abgegrenzten Bereich des Gefühls und der Intimität dar.6 Mit der Schrumpfung der Familie zur Kleinfamilie und der Reduzierung des Familienhaushalts auf eine konsumwirtschaftliche Größe sind die Vorbedingung für die anwachsende familiale Intimisierung geschaffen, die schließlich die Familie zu einer Sphäre der Innerlichkeit, d.h. zu einem Refugium von Kommunikations- und Interaktionsformen avancieren lassen, das in striktem Gegensatz zur Sphäre der bürgerlichen Öffentlichkeit steht.7 Der Entstehungshintergrund ist bekannt: Die bürgerliche Familie steht ihrer Form nach grundsätzlich im Gegensatz zu jeder Art von Stamm- und Sippenmodell. Konkret bildet sich das bürgerliche Konzept in Abwehr von Vorstellungen der Zusammengehörigkeit heraus, denen die „natürliche" Verbindung von Verwandtschaftsbeziehungen zu Grunde liegt, insbesondere steht das moderne Modell in Konkurrenz zum aristokratischfeudalen Verständnis von Familie, für welches die „Linie", die den Wechsel der Generationenfolgen umspannende und überdauernde Identität des Hauses ausschlaggebend ist und deren Entwicklungsprinzip vorrangig dynastischen Interessen folgt. Im profiliers 6
7
Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, Frankfurt/M. 2000, S. 261. Vgl. hierzu Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, S. 251-263, Siegfried Blasche, Natürliche Sittlichkeit und bürgerliche Gesellschaft. Hegels Konstruktion der Familie als sittliche Intimität im entsittlichten Leben, in: Manfred Riedel (Hg.), Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. 2, Frankfurt/M. 1975, S. 312-337 und Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1990, S. 107116. Allgemein orientierend sind die Beiträge von Ute Frevert in: Ute Frevert (Hg.), Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 11-49. Luhmann spricht von der Herausbildung eines spezifischen „Erfahrungsraums" der Liebe, fiir den es konstitutiv ist, daß es kaum mehr möglich ist „eine Theorie des Staates oder eine Theorie der Wirtschaft anzuschließen". Niklas Luhmann, Liebe als Passion, Frankfurt/M. s 1984, S. 168.
146
DIE FAMILIE ALS INTIME GEMEINSCHAFT
ten Gegensatz hierzu steht die bürgerliche Familie unter dem Primat der bürgerlichen Individualität. Von dieser Vorrangstellung des Individuums gegenüber der Herkunftsfamilie, zeugt vor allem das Phänomen der Liebesheirat: Es ist die freiwillige, durch die wechselseitige Zuneigung motivierte Verbindung zweier Individuen, die die Ehe stiftet. Die individualisierte Liebesheirat erweist sich im Rahmen des bürgerlichen Familienverständnisses als die conditio sine qua non für das als Ideal angestrebte harmonische häusliche Verhältnis der Gatten. Mit Blick auf die „natürlichen", d.h. gesellschaftlich unkorrumpierten Verhältnisse, wie er sie im Rahmen des Deuxième Discours entfaltet, und die zu erkennen geben, daß im Verhältnis der Gatten „l'attachement réciproque et la liberté en étoient les seuls liens", propagiert auch Rousseau die Freiheit der Partnerwahl in Hinblick auf bürgerliche Verhältnisse. Zwar entspricht Julie in der Nouvelle Héloïse dem väterlichen Willen erst nach der existentiellen Konversion, wodurch sich ihr die Vernunft in der elterlichen Wahl enthüllt und sie schließlich in die Eheschließung einwilligen läßt, - als liberaler indes erweisen sich die Verhältnisse in Sophies Elternhaus: „Welche Überraschung" ist es für Emile, „als er erfährt, daß Sophie selbständig entscheidet und daß es von ihrem Willen abhängt, ihn glücklich zu machen."8 Das Motiv fur Rousseaus Opposition gegen die gängige Praxis der Zwangsverheiratung liegt gleichfalls im angestrebten Ideal der Innigkeit des bürgerlichen Gattenverhältnisses, aber, insofern diese Intimität nicht schon Zweck an sich ist, liegt sie nicht zuletzt in der gesellschaftlichen, näherhin sozialisatorischen Funktion, die der Familie als einer stabilen Gefühlsgemeinschaft im Rahmen der tugendhaften Republik zugewiesen wird. Hierfür erweist sich eine Partnerwahl aus Zuneigung als unabdingbar. Mit der von der Herkunftsfamilie unabhängigen Gattenwahl ist zugleich der transitorische Charakter der bürgerlichen Familie gegeben. Dieser Punkt, der z.B. von Hegel in seinem konstitutiven Stellenwert für das Selbstverständnis der bürgerlichen Familie gewürdigt wird9, findet bei Rousseau allerdings nur beiläufig Erwähnung. Zu Beginn des Enzyklopädie-Artikels, wo Rousseau sich um eine Abgrenzung der œconomie politique, der „großen Familie", von der œconomie domestique, der „kleinen Familie", bemüht, schreibt er: „Die kleine Familie ist dazu bestimmt, zu erlöschen und sich eines Tages in mehrere andere ähnliche Familien aufzulösen."10 Die bürgerliche Familie entläßt im Zuge ihrer Auflösung Menschen aus sich, die wiederum eigene Familien gründen.
8
Emil, S. 463/ OCP IV, S. 786. Darüber hinaus stellt sich die Eheanbahnung zwischen Emile und Sophie als dem „Startmechanismus Zufall" verdankt dar. Zur für die Liebesbeziehung konstitutiven gesellschaftlichen Voraussetzungslosigkeit vgl. die Bemerkungen von Niklas Luhmann, Liebe als Passion, a.a.O., S. 181. Zu den soziologischen Bedingungen, die geschichtlich die Freiheit in der Partnerwahl ermöglichten vgl. ibid., S. 184.
9
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 173ff. Politische Ökonomie, S. 25/ OCP III, S. 242.
10
AUF DEM WEG ZUR „KONTRASTINSTITUTION"
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Schließlich hat die Kleinfamilie der Form nach die traditionelle Wirtschaftsgroßfamilie abgelöst. Im Zuge der Behandlung der ceconomie domestique von Ciarens ist die Differenz der Wirtschaftsgroßfamilie gegenüber der bürgerlichen Kleinfamilie bereits deutlich geworden: Es handelt sich um eine patriarchalisch organisierte, mehr oder minder autark wirtschaftende, im gemeinsamen Interesse verbundene Produktions- und Konsumtionsgemeinschaft. Für die bürgerliche Familie hingegen ist die Trennung von privatem Haushalt und Marktökonomie wesentlich. Diese Rückbildung der erwerbswirtschaftlichen Komponente, wodurch der Familienhaushalt auf den gemeinschaftlichen Verbrauch reduziert wird, unterstützt von ökonomischer Seite die Tendenz zur Personalisierung der familiären Beziehungen, nicht zuletzt auch den Zug zur „Polarisierung der Geschlechtscharaktere".11 Die materiellen Bedürfnisse der Familie werden durch die Arbeit des Mannes in der Außensphäre, der Sphäre der bürgerlichen Arbeitswelt, befriedigt. In dem Maße, als das Tätigkeitsfeld des Mannes sich außerhalb des familiären Bereichs entfaltet und die Frau definitionsgemäß „unproduktiv" in der Enklave des Privaten verharrt, gewinnen durch die zunehmende Bedürfnisentlastung die emotionalen Aspekte der familiären Verhältnisse zunehmend an Relevanz. Es treten nun die persönlichen und subjektiven Beziehungen verstärkt in den Vordergrund - die Familie schließt sich als eine Sphäre reinen bedürfnisenthobenen Wohlwollens, der zweckfreien Interaktion, als ein Intimraum gegen die Gesellschaft und die Sphäre der Öffentlichkeit ab. Rousseaus Schriften liefern, was diesen letzten Punkt betrifft, wie schon deutlich geworden sein mag, kein einheitliches Bild. Gegenüber der bürgerlichen Restauration der Wirtschaftgroßfamilie, wie sie im Rahmen der Nouvelle Heloise beispielhaft ausformuliert wird, fuhrt die Rekonstruktion der Familienentstehung im Zweiten Diskurs ein Familienmodell vor Augen, das bereits alle für die bürgerliche Kleinfamilie entscheidenden Charakteristika aufweist. Diese Uneinheitlichkeit klärt sich auf, wenn man den unterschiedlichen Zielsetzungen der Schriften Rechnung trägt. In der Nouvelle Heloise propagiert Rousseau die sentimentalisierte Wirtschaftsgroßfamilie aus sozialreformerischen Motiven als ein zivilisationskritisches Experiment und als den bewußten Gegenentwurf zum Individualisierungsschub der beschleunigten Moderne, wobei die bürgerlich erneuerte Wirtschaftsgroßfamilie nicht zuletzt die für die Errichtung der Republik unverzichtbare Organisationsform der sozio-ökonomischen Basis bereitstellt. Anders der Zweite Diskurs, der nicht einer programmatischen, sondern einer rekonstruktiven Zielsetzung folgt. Insofern sich Rousseaus Nachzeichnung der Vergesellschaftungsgeschichte trotz ihres kulturhistorischen Beiwerks in den entscheidenden Punkten an den Vorgaben der klassischen Naturzustandskonzeptionen als rechtsphilosophischer Theoriestücke orientiert, bleibt auch bei der Behandlung der Familie die rechtsphilosophische Logik dahingehend leitend, daß sie als eine Anknüpfung an die
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Vgl. die Studie von Karin Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere". Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Heidi Rosenbaum (Hg.), Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur, a.a.O., S. 161-191.
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DIE FAMILIE ALS INTIME GEMEINSCHAFT
klassischen naturrechtlichen Erörterungen der häuslichen Gesellschaft zu verstehen ist. Erst vor diesem Hintergrund löst sich der Eindruck auf, daß die Genese eines originären Familienmodells nur eine unstatthafte Spiegelung bürgerlicher Verhältnisse in archaischen Urzeiten darstellt, es werden vielmehr in positiver Weise die für das Konzept der bürgerlichen Familie entscheidenden Verschiebungen gegenüber dem am o/fos-Modell orientierten und in drei Teilgesellschaften untergliederten Gestalt des klassisch neuzeitlichen Hausverbands deutlich. Die entscheidenden Differenzen der Familienkonzeption des Zweiten Diskurs gegenüber den traditionellen Familientheoremen einerseits und gegenüber Rousseaus späterer œconomie domestique andererseits, bestehen in der Abstoßung der societas herilis, dem Abscheiden der Beziehung zwischen Herrschaft und Hausgesinde12 und mit der Beschränkung auf die Gattenfamilie im Zurücktreten des herrschaftlichen Aspekts der Familie insgesamt, schließlich in der Ausdifferenzierung der Rollen von Mann und Frau durch die Erfüllung der gesellschaftlich-ökonomischen Funktion durch den Mann als Haupt der Familie und dem „unproduktiven" Verbleib der Frau in der Immanenz der Familiensphäre. 4.1.1
,pouvoir paternel" und pouvoir civile": Ordnung des Herzens und Ordnung der Vernunft 13
Nach dieser Rekapitulation bleibt nun das dritte und entscheidende Merkmal der bürgerlichen Familie zu erörtern. In Anlehnung an die angelsächsische Begriffsprägung der „sentimental family" sprechen wir hier von der bürgerlichen Familie als einem „sentimentalem" Familienkonzept. Damit ist angezeigt, daß die bürgerliche Familie wegen des in ihr vorherrschenden Vergesellschaftungsprinzips der ,Liebe' als ein Ort der Intimität und menschlichen Nähe im Unterschied zur Öffentlichkeit konzipiert ist.14 Eine erste und nur vorläufige Annäherungsmöglichkeit an den Themenkomplex „Kontrastinstitution Familie" bieten die Eingangspassagen des Enzyklopädie-Artikels Politische Ökonomie. Die Thematisierung der Familie zu Beginn des umfangreichen Artikels folgt den thematischen Anforderungen des Schlagwortes œconomie politique. Die geforderte Konzentration auf die öffentlichen Angelegenheiten - im Zusammenhang des Artikels werden ausfuhrlich Fragen der öffentlichen Verwaltung, der œconomie publique behandelt und nur im letzten Teil im engeren Sinne volkwirtschaftliche Themen - macht zunächst eine defmitorische Abgrenzung von der œconomie particulière, der Verwaltung des privaten Haushalts notwendig. Dementsprechend findet sich auf den ersten Seiten des Artikels eine knappe Rekapitulation der traditionellen häusli-
12 13
14
Zu diesem Punkt vgl. auch Dieter Schwab, Artikel „Familie", a.a.O., S. 275. Die Widerlegung der Parallelität von väterlichem Regiment und politischer Regierung findet sich gleichfalls im 5. Kapitel des ersten Buchs des Manuscript de Genève, der Erstfassung des Contrai Social. Vermutlich hat Rousseau eine bereits redigierte Passage des Genfer Manuskripts in den Enzyklopädie-Artikel übernommen. Vgl. dazu auch OCP III, S. LXXV. Vgl. Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, a.a.O., S. 261.
AUF DEM WEG ZUR „KONTRASTINSTITUTION"
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chen Regimentsformen und in diesem Zusammenhang auch die bereits erwähnte Begründung der häuslichen Suprematie des Mannes nach Lockeschem Vorbild. Nach der unverzichtbaren Unterscheidung der häuslichen Sphäre von der öffentlichen schreitet Rousseau dann rasch weiter zu den eigentlichen Schwerpunkten seines Artikels: dem Gemeinwillen, dem Patriotismus und der staatlichen Planwirtschaft. Es ist nun interessant zu sehen, wie die Unterscheidung des Privaten vom Politischen vorgenommen wird. Rousseau differenziert die beiden Sphären doppelzügig: Auch im Enzyklopädie-Artikel wird zunächst die Untauglichkeit des patriarchalen Paradigmas der Familie für eine legitime Verfassung der öffentlichen Gewalt aufgezeigt - begleitet von der obligatorischen Polemik gegen Filmer - im Gegenzug wird aber zugleich das umgekehrte Vorgehen, die Applikation politischer Herrschaftsmuster auf den gesellschaftlichen Binnenraum der Familie zurückgenommen. Grundsätzlich gibt Rousseau zu bedenken: „Wie könnte die Leitung des Staates derjenigen der Familie ähnlich sein, wenn ihre Grundlage so verschieden ist"15. In diesem Punkt Verwechslungen zu erliegen, zeitigt bedenkliche Konsequenzen in beide Richtungen, denn die Rechte und Pflichten eines Familienvaters und diejenigen einer Regierung „sind so unterschiedlich, daß man sie nicht über einen Leisten schlagen kann, ohne sich falsche Vorstellungen von den Grundlagen der Gesellschaft zu machen, und ohne für das Menschengeschlecht verhängnisvollen Irrtümern zu erliegen"16. Nicht einsehen zu wollen, daß die Sphäre des Herzens und die Sphäre der Herrschaft inkommensurabel sind, fuhrt zu fatalen Mißverständnissen: Dominiert in der einen die Bindungskraft des Gefühls, so ist die andere, zumindest dem Ideal nach, durch die Verbindlichkeiten der praktisch-politischen Vernunft bestimmt. So besteht der erste und wichtigste Grundsatz „einer rechtmäßigen oder volksnahen Regierung, derjenigen die das Wohl des Volkes im Auge hat", darin, „in allem den Gemeinwillen zu befolgen"17, oder, wie Rousseau zunächst noch formuliert: „der öffentlichen Vernunft, d.h. dem Gesetz/ la raison publique, qui est la loi"18. Das aber bedeutet, daß „wenn die Stimme der Natur der beste Ratgeber ist, auf den ein guter Vater hören muß, um seine Pflichten recht zu erfüllen" sie für eine Regierung „nichts als ein falscher Führer" ist. Braucht der eine also um richtig zu handeln „nur sein Herz zu befragen", so wird der andere „zum Verräter, wenn er auf das seine hört".19 Zwischen der auf Gefühle der Güte und des Wohlwollens gegründeten Leitungsfunktion des pater familias und der politischen Herrschaft des Regenten kann und darf es keinerlei Deckungsgleichheit geben. Was dem einen entspricht, gereicht dem anderen zum Verderben und umgekehrt: „Die einzige für den Familienvater notwendige Absicherung besteht darin, sich gegen Sittenverfall zu schützen und zu verhindern, daß die natür15 16 17 18 19
Politische Ökonomie, S. 23/ OCP III, S. 241. Ibid., S. 29/ OCP III, S. 243. Ibid., S. 39/ OCP III, S. 247. Ibid., S. 29 (Übers, verändert)/ OCP III, S. 243. Ibid.
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DIE FAMILIE ALS INTIME GEMEINSCHAFT
liehen Neigungen in ihm verkümmern."20 Der Staatsmann aber hat sich vor seinen Gefühlen und sogar vor seinem partikularen Verstandesstandpunkt zu hüten.21 Herausgestellt werden soll an dieser Stelle weniger das grundliberale, anti-patriarchale Argumentationsmuster, das gegen die politische Indienstnahme der herrschaftlichen Analogie von Gott, Fürst und Hausvater gerichtet ist, als vielmehr, daß hier nun in umgekehrter Stoßrichtung die Zurückweisung des herrschaftlichen Moments für die Familie betont wird. Was ehemals das Regiment des Hausvaters darstellte, basiert nunmehr weniger auf Befehl und Gewalt als auf Fürsorglichkeit und Liebe, ist im Grunde genommen nur noch im übertragenen Sinne als Herrschaftsform zu bezeichnen. Das Schwinden der herrschaftlichen Verfassung der Familie, die Ablehnung des Copierens der politischen Hierarchie innerhalb der Familie führt die angezeigten Konsequenzen herbei, die mit den Worten Luhmanns folgendermaßen resümiert werden können: „Die stärkere strukturelle Differenzierung von Familie und politischer Herrschaft erzeugt mithin eine semantische Differenz, die die Evolution des Codes für Intimbeziehungen vorantreibt."22 Für die im politischen Denken immer neu variierte Scheidung von „privat" und „öffentlich" zeichnet sich hier eine neue Qualität ab, insofern die Unterscheidung, wie Rousseau sie trifft, nicht den Vorgaben seiner Vorgänger entspricht. Er unterscheidet nicht wie Locke in einem graduellen Sinn zwischen häuslicher und politischer Gewalt23 und er scheidet auch nicht wie die klassische Tradition die Gemeinschaft der Ungleichen von der Gemeinschaft der Gleichen, sondern er sieht die Sphären des Privaten und des Öffentlichen von zwei verschiedenen Prinzipien regiert und trennt somit die Sphäre des Gefühls von der Sphäre der öffentlichen Vernunft. Damit zeigt sich aber noch einmal in aller Deutlichkeit, daß die an den Anfang des Enzyklopädie-Artikels gestellte Rekapitulation der häuslichen Herrschaftsverhältnisse tatsächlich nicht viel mehr als eine überflüssige Referenz darstellt, da der weitere Verlauf des Textes erkennen läßt, daß in Hinblick auf die Beziehungen innerhalb der Familie bereits neue Parameter zum Tragen kommen: Es sind dies gefühlsmäßige Bindungen und gemeinschaftsfundierte Verbindlichkeiten, gegenüber welchen dem Katalog der häuslichen Regimentsformen allein noch der Stellenwert einer antiquierten Requisite zuerkannt werden kann.
20 21 22 23
Ibid. Ibid. Ibid. Vgl. John Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, §§ 86, 87.
DAS SENTIMENTALE FAMILIENKONZEPT
4.2
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Das sentimentale Familienkonzept
4.2.1 Die Familie als narzißtischer Schonraum: Absenz von amour-propre Seinem thematischen Schwerpunkt entsprechend gibt der Enzyklopädie-Artikel nur sehr rudimentär darüber Auskunft, aufgrund welcher Voraussetzungen die Familie von der öffentlich-politischen Sphäre strikt geschieden und mehr noch: dieser kontrastierend entgegengesetzt ist. Mit der Apostrophierung des „Herzens" ist nicht mehr als eine Richtung gewiesen. Es wird von daher im Weiteren darum gehen müssen, aufzuklären, warum die häuslichen Verhältnisse von den öffentlichen nicht nur unterschieden sind, sondern in Opposition zu ihnen stehen, oder anders: aufgrund welcher Voraussetzungen mit gutem Recht behauptet werden kann, daß die Familie weniger als „pre-political" denn als „anti-political" zu bezeichnen ist.24 Diese Frage läßt sich nur im Rückgang auf den Zweiten Diskurs beantworten, näherhin unter Berücksichtigung derjenigen Passagen, die sich der „société naissante" widmen. Sehen wir also noch einmal auf die Genese der Familie: Die sich in diesem Zusammenhang ereignenden „premiers développemens du coeur", welche sich dem durch die Seßhaftigkeit begründeten alltäglich intimen Umgang der Familienmitglieder miteinander verdanken, bezeichnet Rousseau bemerkenswerterweise als „les plus doux sentimens qui soient connues des hommes", als da sind: „l'amour conjugal et l'amour 25
Paternel". „L'amour Paternel" ließe sich übrigens an dieser Stelle problemlos zu „l'amour Parental" korrigieren, denn auch die Mutterliebe ist für Rousseau so wenig naturwüchsig, daß nicht auch sie der Gewohnheit und des vertrauten Umgangs bedürfte. 26 Das Bemerkenswerte dieser Stelle liegt jedoch in der Stellung der beiden Liebesarten in Hinblick auf den nachfolgend geschilderten Beginn der Vergesellschaftungsgeschichte: ,,[D]ie süßesten Gefühle: die eheliche und elterliche Liebe" gehen dem Aufkommen der Liebe als Leidenschaft, „la plus douce des passions" 27 voran. Der Autor des Discours läßt deutlich Zeiten verstreichen zwischen dem Ereignis der Familiengründung und der Szenerie der müßig bei Gesang und Tanz vereinten Hirtenjugend, der Geburtsstunde des gesellschaftlichen amour-propre, wo geschätzt und geliebt wird nach Verdienst und Schönheit.28 Im Rahmen seiner Naturgeschichte der Vergesellschaftung siedelt Rousseau die Idylle der häuslichen Intimität offenkundig vor der Szene der sich zwangslos gruppierenden Jugend an, ein Bild, welches eine erste rudimentäre Form der Öffentlichkeit entwirft. Merkwürdigerweise scheint es sich also in Hinblick auf die Chronologie der Vergesellschaftung so zu verhalten, daß Eltern und Kinder bereits da 24 25 26 27 28
Judith Shklar, Men and Citizens, a.a.O., S. 27. OCPIII, S. 168/183. Zweiter Diskurs, Erster Teil und Emile, Erstes Buch. OCPIII, S. 169/189. Ibid., auch OCP III, S. 158/155.
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DIE FAMILIE ALS INTIME GEMEINSCHAFT
sind, bevor die verliebte Jugend die Bühne betritt, die Ehe somit der Verlobung vorangeht, daß „le mariage précède les fiançailles"29. Welche Bedeutung ist dieser sonderbaren Vertauschung der chronologischen Positionen beizumessen? Eine Lesart im bloß temporalen Verständnis fuhrt zu dem Widersinn, daß man sich Familiengründungen vorzustellen hat, die unabhängig von einem allgemeineren gesellschaftlichen Verkehr stattfinden, welcher sich seinerseits erst zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich nach der Familienbildung entwickelt. Diese Interpretation führt unweigerlich zur Annahme von Inzestfamilien zurück und damit an den Punkt, den wir bereits oben im Zusammenhang mit der Kohabitationsfamilie des Essai ausführlich diskutiert und dahingehend zu klären versucht haben, daß die Familiengründung eine Form anfanglicher Vergesellschaftung voraussetzt und nicht ihre Ursache darstellen kann. Die „distinction des familles"30 ist nicht unabhängig von Beziehungen zwischen verschiedenen Familien31 zu denken, die Unterscheidung der Familien und der Verkehr zwischen ihnen sind gleichursprünglich. Der Widerspruch einer ungeselligen, präsozialen Familiengründung läßt sich mithin nur vermeiden, wenn man auch in Hinblick auf die Genese der Familie nicht anders als im Fall des Urzustandes verfährt, und nicht den genetisch-temporalen Sinn, sondern den strukturellen Gehalt des Lehrstücks ins Auge faßt; damit folgt man zudem dem Fingerzeig Rousseaus, der bereits im Exordium zum Deuxième Discours angekündigt hatte, daß seine Untersuchungen - „plus propres à éclairir la Nature des Choses, qu'à en montrer la veritable origine"32 - mehr dazu angetan sein werden, die Natur der Sache zu erhellen, als ihren tatsächlichen Ursprung aufzuklären. Dementsprechend würde die These folgendermaßen lauten: Die Tatsache, daß die Familie „vor" der Gesellschaft rangiert bedeutet, daß allein in der Familie eine Form des sozialen Miteinander möglich ist, die von der Grundstruktur der Gesellschaftlichkeit, dem amour-propre unberührt bleibt. Dies ist allerdings nicht so zu verstehen, daß Rousseau in einer oberflächlich idealisierenden Weise nahe legen wollte, die wahre familiäre Liebe hätte frei von Eifersucht, Neid und Herrschsucht zu sein, vielmehr geht es um den Aufweis einer Form von Sozialität, in der Empathie, emotionale Expressivität und ambivalenzfreies Wohlwollen grundsätzlich und uneingeschränkt möglich sind, weil das für Gesellschaftlichkeit konstitutive Element und für die Dynamik der Vergesellschaftung entscheidende Movens des amour-propre in diesem Zusammenhang nicht zur Entfaltung kommt. Die Familie ist insofern „früher" als die Gesellschaft insofern sie, obgleich ein sozialer Verband, in ihrer internen Beziehungsqualität dem amour de soi des selbstgenügsamen urzuständlichen Einzelgängers nahekommt und damit gleichsam noch auf der Schwelle zur Vergesellschaftung im eigentlichen und problematischen Sinne steht.
29 30 31 32
Victor Goldschmidt, Anthropologie et politique, a.a.O., S. 422 u. S. 444. OCPIII, S. 167/181. OCPIII, S. 169/187. OCP 111, S. 133/71.
DAS SENTIMENTALE FAMILIENKONZEPT
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Um diese These im Weiteren zu entfalten, sollen noch einige grundsätzliche Bemerkungen als Leitfaden vorangestellt werden: Trotz aller Differenzen zwischen dem Essai sur les langues und dem Deuxième Discours, auf die hier nicht noch einmal einzugehen ist, können in einem entscheidenden Punkt Übereinstimmungen festgestellt werden: Die Familie stellt zwar eine erste Form von sozialer Gemeinschaft dar, dennoch bleibt sie von der Dynamik und der Logik der Vergesellschaftung, die schließlich im Vertrag der bürgerlichen Gesellschaft terminiert, abgekoppelt. Was dies bedeutet und welche Relevanz diesem Punkt zukommt, wird angesichts der Vorgaben der Tradition besser erkennbar. Obgleich die Familie bei Rousseau eine erste und anfängliche Organisationsform des Sozialen darstellt, steht sie dennoch nicht wie der aristotelische oikos am Beginn eines Aufbaus von Gemeinschaftsformen, der in einer Stufenfolge zunehmender Komplexität schließlich in der polis terminiert, welche als Endgestalt wiederum die früheren Formen in sich integriert. Ebensowenig aber markiert sie, entsprechend dem Grundriß der Naturrechtslehren, mit dem Eheverhältnis als dem ersten Vertrag den Beginn einer Vergesellschaftungsgeschichte, deren kontraktuelles Grundmuster sich zunehmend generalisiert. Gegenüber diesen klassischen Lösungen erscheint die Kohabitationsfamilie im Essai wie eine Matrix der Ungesellschaftlichkeit, als eine Größe, die von sich her keinerlei Vergesellschaftungskapazitäten bereitstellt. Im Essai ist die Familie „natürlich", d.h. ungesellschaftlich in dem Sinne, daß sie eine Idee menschlicher Sozialität weder impliziert noch voraussetzt.33 Sie bringt nämlich keine Menschen hervor, sondern nur Väter, Mütter, Schwestern und Brüder und liegt daher der Idee humaner Gemeinschaft als generalisierter Form der Anerkennung des Mitmenschen als Menschen voraus. Strukturell analog verhält es sich mit der sentimentalen Gattenfamilie des Zweiten Diskurs: Sie liefert von sich aus keine Potentiale für die Entwicklung, die sich von den ersten Interaktionsformen bis hin zur ausdifferenzierten Gesellschaft der Besitzbürger erstreckt: Die „idée de considération", die, wie noch zu zeigen sein wird, zentrale Dimension der menschlichen Vergesellschaftung und Wurzel des amourpropre stellt erklärtermaßen das konstitutive Merkmal extrafamilialer Sozialbeziehungen dar.34 33 34
Vgl. Victor Goldschmidt, Anthropologie et politique, a.a.O., S. 433. In The Sexual Politics of Rousseau vertritt Joel Schwartz die These, daß „sexuality is the bridge to politics in the sense that the human transformation of sexuality is necessary ... for the emergence of the polity." (Joel Schwartz, The Sexual Politics of Rousseau, a.a.O., S. 28ff.) Auch wenn zugegebenermaßen die Notwendigkeit einer komplexen „human transformation of sexuality" für Rousseau von maßgeblicher Bedeutung fur den Bestand der Republik ist, so jedoch nicht in der Weise, daß der Zweite Diskurs die Rekonstruktion einer „Natural History of Sexuality" erlaubte, in deren Rahmen die These: „love leads to politics" ein Fundament finden könnte. Die Argumentation von Schwartz beruht maßgeblich darauf, daß er die Ausführungen des Essai und die des Zweiten Diskurs ineinander blendet, wobei Schwartz die Inzestfamilie des Essai mit der sentimentalen Gattenfamilie des Diskurs ungerechtfertigterweise identisch setzt. Darüber hinaus nimmt Schwartz als das entscheidende Moment für die die Familie transzendierende Vergesellschaftungsdynamik das Phänomen von „romantic love" an, welches die Basis für den generalisierten Modus der wechselseiti-
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Rousseau scheint mithin bestrebt, familiale Interaktionsformen von gesellschaftlichen abzuheben. Gleichsam als ein sozialer Schonraum steht die Familie mit ihrer douceur dem natürlichen Gutsein, der bonté naturelle des Menschen näher und entgeht der Korruption durch das Sozialklima des amour-propre. Es zeichnet sich ab, daß die Familie nicht allein negativ als rechtsfreier Raum, sondern zugleich positiv als ein unberührtes Areal menschlicher Beziehungsmöglichkeiten festgeschrieben wird, die von der Entfremdungsproblematik verschont bleiben, welche mit der Entwicklung der Gesellschaft zuinnerst verkoppelt ist. Die Familie als rechtsfreie Enklave der Gatten- und Elternliebe ist damit der Sphäre des Öffentlichen in zweifacher Rücksicht entgegengesetzt: Zum einen nimmt sie gemäß der klassischen Scheidung von Haus und Staat den unpolitischen Raum ein, zum anderen bildet sie den Gegenpol zur bürgerlichen Gesellschaft. Sofern der Zweite Diskurs seiner Anlage nach auch als eine Fundamentalkritik an der Hobbesschen Konstruktion der bürgerlichen Gesellschaft als der instituierten Konkurrenz der kompetitiven Besitzbürger zu verstehen ist, steht die Familie in dieser zweiten Hinsicht in Opposition zu der für die bourgeoise Gesellschaft konstitutiven Lebensform der komparativen Existenz.35 Diese doppelte Gegenstellung zeugt davon, daß Rousseau nicht ausschließlich eine im normativen Sinne neutrale Rekonstruktion der Vergesellschaftung im Ausgang vom Prinzip der Selbsterhaltung entwickeln will. Vielmehr weist die bloße Selbsterhaltung über sich hinaus auf ein Worumwillen, einen humanen Zweck, der dann als normatives Kriterium gelingenden oder mißlingenden menschlichen Lebens fungiert, der rein physischen Selbsterhalt wird auf eine gelingende Weise von Selbstbeziehung hin überschritten „Selbsterhaltung ist so von vorneherein nicht als Überleben und als dessen Gefahrdung Thema, sondern als rechte Weise der Selbstbeziehung und als Elend ihrer Verkehrung."36 Kurz: die gesellschaftliche Lebensform wird nicht nur in Rücksicht auf ihre rechtlich-politische Legitimität untersucht, sondern auch, inwieweit sie menschliche Selbstverwirklichung ermöglicht oder beschränkt.37
gen Schätzung, für die „idea of consideration" abgeben soll. „Romantic love" aber, entsprechend der nachgerade strukturalistisch anmutenden Definition, wie sie Schwartz selbst gibt, nämlich als „desire to cohabit with specific women before having done so" (ibid., S. 27), d.h. als das Begehren nach der fremden Frau, nicht nach der Mutter oder Schwester, ist, wie wir oben zu zeigen versucht haben, bereits ein Effekt von Vergesellschaftung, kann somit also nicht ihre Ursache abgeben. Rousseaus „Natural History of Society" folgt gerade nicht mehr dem traditionellen teleologischen Gang von der Familie zur Gesellschaft, stellt sich mithin nicht als lineare Entwicklung zunehmender sozialer Komplexität dar, sondern ist zweigleisig angelegt: Im Rahmen des Prozesses sich zunehmend ausdifferenzierender sozialer Potentiale entwickeln sich zwei grundsätzlich verschiedene Vergesellschaftungsmodi: die Familie und die bürgerliche Gesellschaft. 35
36 37
Hierzu: Günther Buck, Selbsterhaltung und Historizität, in: Hans Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, Frankfurt/M. 1996, S. 208-302; hier: S. 267. Ibid. Vgl. hierzu auch Axel Honneth, Pathologien des Sozialen, a.a.O., S. 12-28.
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Im Zusammenhang mit dem Ziel menschlicher Selbstverwirklichung und ihrer möglichen Gefährdung in Verhältnissen der Selbstentfremdung spielt der Schlüsselbegriff des amour-propre eine zentrale Rolle für die im Rahmen des Zweiten Diskurs entfaltete Entfremdungsproblematik. In sozialkritischer Hinsicht dient das Konzept der Eigenliebe der Geißelung der Motive und Antriebe, wie sie für die Entwicklung der bürgerlichen Konkurrenz- und Klassengesellschaft konstitutiv sind: Die Entfaltung der klassischen Trias der sozialen Laster von Ehrsucht, Habsucht und Herrschsucht mit ihren Derivaten nimmt in diesem Kontext einen breiten Raum ein.38 Unschwer läßt sich das Szenario des Hobbesschen Naturzustandes wiedererkennen. Eine Destruktion der Hobbesschen Prämissen allerdings, die über die bloße sozialkritische Anklage hinausgeht, setzt den Aufweis der eigenen anthropologischen Grundannahmen voraus; auf deren Basis müssen sich die Antriebe erklären lassen, die zu den inkriminierten sozialdestruktiven Verhaltensmustern fuhren. Mit anderen Worten: Rousseau hat die These vom natürlichen menschlichen Gutsein kompatibel zu machen mit der faktisch durch die Gesellschaft korrumpierten Natur des Menschen. D.h. er hat zu erklären, wie aus lauter guten Menschen eine schlechte Gesellschaft entsteht, wie, „wenn der Mensch von Natur aus gut ist", „die Ge39
sellschaft den Menschen verdirbt und widernatürlich macht" , kurz, er ist mit der Aufgabe einer Genealogie der menschlichen Laster40 konfrontiert. Es muß, um Jenes Prinzip [...], nämlich daß der Mensch von Natur aus gut sei", „mit einer anderen nicht minder sicheren Wahrheit, daß die Menschen böse sind, in Einklang zu bringen, [...] in der Geschichte des menschlichen Herzens der Ursprung aller Laster aufgezeigt werden."41 Eben dies versucht Rousseau mittels des Begriffs des amour-propre zu leisten. 38
39 40
41
Amour-propre, die „Autophilie", hat als Begriff seine Tradition bereits bei den französischen Moralisten und Theologen des 17. Jh. Die Unterscheidung von amour de soi und amour-propre geht auf Malebranche zurück und schon bei Vauvenargues wird amour-propre als eine spezifisch bourgeoise Verhaltensdisposition identifiziert und dient der kritischen Beurteilung der bürgerlichen Lebensform im Ausgang feudaler Werte wie gloire und honneur. Vgl. hierzu die umfassende begriffsgeschichtliche Untersuchung von Hans-Jürgen Fuchs, Entfremdung und Narzißmus. Semantische Untersuchungen zur Geschichte der „Selbstbezogenheit" als Vorgeschichte von französisch „amour-propre", Stuttgart 1977. Emil, S. 241/OCPIV, S. 525. „Ich habe gezeigt, daß alle Laster, welche man dem menschlichen Herzen zuschreibt, ihm nicht natürlich sind, ich habe ihre Entstehungsart gezeigt und sozusagen ihre Genealogie geschrieben und endlich habe ich gezeigt, wie durch die allmähliche Veränderung seiner natürlichen Güte der Mensch das geworden ist, was er jetzt ist." Brief an Christophe Beaumont, in: Jean-Jacques Rousseau, Schriften, a.a.O., Bd. 1, S. 497-589, hier: S. 508f./ OCP IV, S. 935f.; auch: OCP I, S. 668f. Die gründlichsten Überlegungen zu diesem Problem habe ich bei Nicholas J. H. Dent gefunden: The Basic Principle of Emile's Education, in: Journal ofThe Philosophy of Education 22 (1998), S. 139-149 und: Rousseau. An Introduction to his Psychological, Social and Politicai Theory, Oxford 1998, S. 52-87. Brief an Philibert Cramer vom 13.10.1764, in: Correspondance complète de Jean-Jacques Rousseau, hg. von Ralph A. Leigh, Genf, Oxford 1965-1989, Dok. 3465; zum Thema der bonté naturelle vgl. die ausführlichen Verweise von Heinrich Meier im Diskurs über die Ungleichheit, S. 300f.
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Zunächst also sind die maßgeblichen Aspekte des amour-propre herauszupräparieren, um im Anschluß daran die Frage aufwerfen zu können, wie eine Sozialbeziehung untangiert vom amour-propre - so wie sie Rousseau für die familiären Beziehungen nahe legt, aussehen könnte. Denn so viel sollte deutlich geworden sein: Die vom amourpropre unberührten Sozialverhältnisse lassen sich nur auf der Negativfolie der von der Eigenliebe imprägnierten sozialen Verhältnisse explizieren. In der Anmerkung XV zum Zweiten Diskurs unterscheidet Rousseau den amour de soi als ein „natürliches" Gefühl vom „künstlichen" und „relativen" Gefühl des amourpropre. Er differenziert die natürliche unmittelbar gelebte Selbstliebe von der gesellschaftlich entstandenen, komparativen, d.h. über den vergleichenden Bezug auf andere vermittelten sogenannten „Eigenliebe".42 Die Selbstliebe, „die einzige Triebfeder [...], welche die Menschen zum Handeln bringt"43 als die natürliche Disposition zur Selbsterhaltung umfaßt gleichermaßen kreatürlich-instinktive wie reflektierte Modi, das eigene Wohlergehen zu verfolgen. Sie stellt die Form der an sich interessierten Selbstbeziehung dar, die als solche moralisch indifferent ist - sie ist „an sich selbst in Rücksicht des Guten und des Bösen gleichgültig"44. Unter den Bedingungen des amour de soi bewegt sich der Wille des Individuums, da sein Begehren noch nicht auf das Begehren des Anderen geht, innerhalb des kontrollierbaren Horizontes der je eigenen Bedürfnisnatur und der möglichst umfassenden Erfüllung ihrer Forderungen. Das Leben des Individuums vollzieht sich eingelassen in das prästabilierte Gleichgewicht von Bedürfnis und Befriedigung als ungehinderter und ungebrochener Selbstbezug, als ein reines „Insich-Leben"45. In dieser Form ist das Leben bereits Daseinsgenuß. In der unentzweiten Fülle eines widerspruchslosen Selbstbezugs gründet ein glückhaft empfundenes und selbstbezügliches Bei-sich-Sein: reines Daseinsgefühl als unmittelbarer Selbstgenuß, das sentiment de l 'existence*6.
42
43
44
45 46
OCP III, S. 219/ 369; weitere Stellen, an denen sich Rousseau um eine Definition bemüht: Emile, OCP IV, S. 491 ff., Brief an Christophe Beaumont, a.a.O., S. 507/ OCP IV, S. 936 und Gespräche {.Rousseau richtet über Jean-Jacques), in: Schriften, a.a.O., Bd. 2, S. 253-636 (im Folgenden: Gespräche), hier: S. 264/ Dialogues, OCP I, S. 669. Brief an den Abbé de Carondelet vom 4. März 1764, Correspondance Générale e J.-J. Rousseau, hg. von Théophile Dufour und Pierre P. Plan, Paris 1924-1934, Bd. 10, S. 340. „Der Hauptgrundsatz aller Moral [...] lautet, daß der Mensch von Natur gut ist und die Gerechtigkeit und die Ordnung liebt, daß das menschliche Herz von Natur nicht verdorben ist und daß die ersten Regungen der Natur immer gut sind. Ich habe gezeigt, daß die einzige Leidenschaft, welche mit dem Menschen geboren wird, die Selbstliebe, an sich selbst in Rücksicht des Guten und des Bösen gleichgültig ist, daß sie bloß durch Zufalle und die Umstände, in welchen sie sich entwickelt, gut oder böse wird." Brief an Christophe Beaumont, S. 508/ OCP IV, S. 935. OCP III, S. 193/269. OCP III, S. 144/ 111, vgl. auch V. Promenade der Rêveries du promeneur solitaire, OCP I, S. 1046f. und: OCP I, S. 1324f. (Fragments divers). Das sentiment de l'existence ist aber nicht notwendig an eine vorsoziale Existenzweise geknüpft. Siehe dazu weiter unten Abschnitt 3.3.6.
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Der amour-propre kann demgegenüber grundsätzlich gefaßt werden als die Verwandlung des amour de soi unter den Bedingungen der Sozialität, d.h. als diejenige Gestalt, die der angeborene Trieb, sich wohl zu befinden und sich wohl zu tun annimmt, wenn wir uns im Rahmen sozialer Beziehungen auf uns selbst beziehen. Sofern das Individuum seine primordiale Welt verläßt und in die Dimension der Intersubjektivität eintritt, geht es seiner Selbstgenügsamkeit unwiederbringlich verlustig, weil es im Angesicht der Anderen unausweichlich von der Sorge um und der unablässigen Forderung nach Anerkennung seines äußeren gesellschaftlichen Status einerseits und seiner Potentiale als moralische Person andererseits beunruhigt wird.47 Rousseaus Ansätze zu einer Sozialphilosophie im Zweiten Diskurs sind vom Problem der Genese der komparativen Existenz dominiert. Die Erfassung der Dimension der Sozialität wird weitestgehend von der Problematik der Entfremdung absorbiert, indem „das durch den steten konkurrierenden Rückbezug auf die Meinung der Umwelt sich selbst entfremdete Selbstwerterleben des vergesellschafteten Menschen"48 ins Zentrum der Betrachtung gerückt wird: Die Explikation einer genuinen Dimension interpersonaler Relationen gerät so allzu schnell in den Sog der Rekonstruktion der Ursprünge der bürgerlichen Wettbewerbsgesellschaft. Vor diesem Hintergrund drängt sich der Eindruck auf, daß im Rahmen des Zweiten Diskurs die Existenz des Anderen per se eine Dimension der Entfremdung und des pervertierten Selbstbezugs eröffnet, Sozialphilosophie sich schließlich in der Sozialkritik erschöpft. Es soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, diese allzu überschlägige Lesart zu korrigieren, indem an Rousseaus gedrängter Darstellung der Entstehungsgeschichte des amour-propre die entscheidenden Aspekte schrittweise herauspräpariert werden. Rousseau nähert sich der Thematik mit der Beschreibung einer ersten anfanglichen Form von Öffentlichkeit an: Nach den Episoden sporadischer Sozialität in der Form von passageren Kontakten und kurzzeitigen Zweckbündnissen49 und im mittelbaren Anschluß an die Phase der Familiengründung eröffnet sich im Verkehr zwischen den Familien eine Dimension reiner Expressivität: „Man gewöhnte sich daran, sich vor den Hütten oder um einen großen Baum zu versammeln: Der Gesang und der Tanz, wahre Kinder der Liebe und der Muße, wurden das Vergnügen, oder vielmehr die Beschäftigung der müßigen zusammengekommenen Männer und Frauen. Jeder begann, die anderen zu beachten und selbst beachtet werden zu wollen, und die öffentliche Wertschätzung hatte einen Wert. Derjenige der am besten sang oder tanzte, der Schönste, der Stärkste, der Gewandteste oder der Eloquenteste wurde zum Geachtetsten; und das war der erste Schritt hin zur Ungleichheit und gleichzeitig zum Laster."50
47 48 49 50
Vgl. Nicholas J. H. Dent, Rousseau, a.a.O., S. 56. Hans-Jürgen Fuchs, Entfremdung und Narzißmus, a.a.O., S. 289. OCP III, S. 166/179. ,,[L]e chant et le danse, vrais enfans de l'amour et du loisir, devinrent l'amusement ou plûtôt l'occupation des hommes et des femmes oisifs et attroupés. Chacun commença à regarder les autres et à vouloir être regardé soi-même ..." (OCP III, S. 169/ 189).
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Rousseau läßt die Vergesellschaftungsgeschichte mit dem Blick beginnen. Die Subjekte geben sich Ausdruck im Spiegel der Anderen; dabei wollen sie nicht nur zufällig Beachtung finden, sondern sie erheben wechselseitig den Anspruch auf Anerkennung ihrer Person.51 In dem Maße wie die Subjekte füreinander in Erscheinung treten, indem sie sich Ausdruck verleihen und sich als mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Eigenschaften ausgestattet zu erkennen geben, treten sie in einen Prozeß ein, in welchem sich das Bewußtwerden der jeweiligen Besonderheit über die Anerkennung durch andere vollzieht. Diese wechselseitige Anerkennung bedeutet für die Individuen, sich als besondere, ja einzigartige wahrnehmen zu können. In diesem Prozeß personaler Besonderung bildet sich zugleich die Idee der Person als eines moralisch verantwortlichen Wesens und die Idee der wechselseitigen Achtung des anderen als Person heraus. Jedermann erhebt nun gerade unangesehen seiner individuellen Besonderheit den Anspruch gleichermaßen allgemein als Person geachtet zu werden: „Sobald die Menschen sich wechselseitig zu schätzen begonnen hatten und die Vorstellung der Achtung in ihrem Geist gebildet war, beanspruchte jeder, ein Recht darauf zu haben, und es war nicht mehr möglich, es irgendjemand gegenüber ungestraft daran fehlen zu lassen."52
Erst unter dieser Bedingung kann, was bislang von den Individuen als bloß äußere Schädigung (damnum) erfahren wurde, dem Gegenüber als ein Unrecht (iniuria) an der eigenen Person, als eine Beleidigung angelastet werden: Jede vorsätzliche Schädigung wurde von da an zur Schmach, da der Beleidigte im Schaden, der aus der Beleidigung entstand, zugleich die Geringschätzung seiner Person sah, die oft unerträglicher war als der Schaden selbst."53
Gegenüber der rein materiellen Schädigung, die auf vorsozialem Niveau in der Weise eines bloßen Naturvorkommnis oder einer Naturkatastrophe erfahren wurden, liegt in der Verletzung von Anerkennungsansprüchen der Entstehungsherd von der Möglichkeit nach endlosen Konflikten, da Beleidigung und Schmach anders als materieller Schaden nicht meßbar sind. Die eigentliche Problematik des Übergangs in die gesellschaftliche Existenzweise liegt für Rousseau jedoch auf einer anderen Ebene. Sobald die Individuen beginnen, sich als je besondere zu beachten, zeigt sich, daß die Wahrnehmung der individuellen 51
52
53
Axel Honneth sieht in der Figur der wechselseitigen Schätzung die Idee der Anerkennung des frühen Hegel von Rousseau intuitiv vorweggenommen. Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung, Frankfurt/M. 2 1998, S. 29. „Sitôt que les hommes eurent commencé à s'apprecier mutuellement et que l'idée de la considération fut formée dans leur esprit, chacun prétendit y avoir droit, et il ne fut plus possible d'en manquer impunément pour personne." (OCP III, S. 170/ 189f.) „... et delà tout tort volontaire devint un outrage, parce qu'avec le mal qui résultait de l'injure, l'offensé y voyoit le mépris de sa personne souvent plus insuportable que le mal même." (OCP III, S. 170/191; Übers, von mir verändert)
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Differenzen sich nur im Licht des gesellschaftlich Präferierten vollziehen kann.54 Rousseau geht es vor allem darum zu zeigen, in welcher Weise die Ansprüche auf Anerkennung, die die Individuen wechselseitig erheben, immer schon über die Dimension der öffentlichen Wertschätzung, die estime publique vermittelt sind. Gesellschaftlich zu existieren bedeutet, in die Dimension der Komparativität eingelassen zu sein; das Subjekt erweist sich als dezentriert in der Weise, daß es sich selbst aus der internalisierten Perspektive der Instanzen der öffentlichen Wertschätzung zu sehen und einzuschätzen vermag und sich so im Medium gesellschaftlicher Standards und Wertsetzungen zum Objekt macht. Das subjektive Begehren nach Schätzung der Unvertretbarkeit der eigenen Person bricht sich im Raster gesellschaftlicher Wertschätzungen, die graduelle Abstufungen und damit Hochschätzung gleichermaßen wie Geringschätzung zulassen. Nicht das Individuum in der Einzigartigkeit, die es auszeichnet, erhält gesellschaftliche Anerkennung, sondern es erfährt Wertschätzung, sofern es sich in einem besonderen Maße auszuzeichnen versteht. An dieser Stelle entsteht das für Rousseau zentrale Problem der Balance zwischen der je eigenen Besonderheit und gesellschaftlicher Anerkennung. Für die Struktur des amour-propre erweist sich als ausschlaggebend, daß die für das vorsoziale Selbst bestimmenden Strukturen der reinen Innengeleitetheit und ausschließlichen Selbstbezüglichkeit aufgebrochen werden und der Orientierungspunkt des Selbstbezugs ins Außen wandert. Die Form der Selbstbeziehung verkehrt sich mit Eintritt in die Gesellschaft in das „Selbstsein-wollen eines jeden im Banne des Anderen"55, das Individuum betritt gleichsam abschüssiges Terrain. Der triviale Umstand, daß das individuelle Verhalten und Handeln grundsätzlich soziale Erwartungen in Rechnung zu stellen hat, fuhrt im Zuge des Verlangens gesellschaftlich vermittelten Prestigebedürfnissen nachzukommen zu einer entfremdenden verobjektivierenden Selbsteinschätzung.56 Das „universelle Verlangen nach Reputation, Ehren und Auszeichnungen"57 stellt für Rousseau Verkehrung und Entfremdung dar: Eine Balance zwischen dem individuellen und dem gesellschaftlichen Selbst ist nicht denkbar. Die von Rousseau anfänglich benannte soziale Sphäre reiner Expressivität ist korrumpiert worden und verlorengegangen; es wird noch zu zeigen sein, in welcher Weise die bürgerliche Familie, wie sie von Rousseau programmatisch entworfen wird, eine Restituierung dieser Dimension leisten kann. Eine Sozialphilosophie, die in dieser Weise die Identität des Selbst durch Sozialität bedroht sieht, setzt Individualität und Gesellschaftlichkeit in ein abstraktes Gegenüber, 54 55 56
57
Ibid., S. 170/189. Günther Buck, Selbsterhaltung und Historizität, a.a.O., S. 245. Zu Rousseaus Klassifikation der Bedürfhisse vgl. Politische Fragmente, X (Der Einfluß des Klimas auf die Zivilisation), S. 256fJ OCP III, S. 530. Zu den „besoins d'opinion" siehe auch den Hinweis Fetschers auf die für die Dynamik industriekapitalistischer Gesellschaften wichtigen „positional goods": Güter, die allein aus dem Grund erstrebt werden, weil sie gesellschaftlich knappe sind. Iring Fetscher, Voltaires liberales Großbürgertum und der kleinbürgerliche Egalitarismus Rousseaus, a.a.O., Anm. 22. OCP III, S. 189/257.
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das jede Vermittlung ausschließt. Ein Konzept, welches beide als Momente eines Zusammenhangs zu sehen und über den Begriff der Sozialisation miteinander zu vermitteln erlaubt, setzt die Einsicht voraus, daß sowohl Individualität wie Sozialität Resultate ein und desselben Prozesses sind. Trotz seiner weit in die Moderne vorausweisenden Intuitionen ist bei Rousseau das Grundparadigma der neuzeitlichen naturrechtlich fundierten Sozialphilosophie, der Begriff des ursprünglich atomistischen Subjekts, noch so fest verankert, daß sich ihm die Vorstellung des Gewordenseins dieses Selbst entzieht. Vor aller Vergesellschaftung liegt das isolierte Individuum als seiendes gleichsam fertig vor. Die Einsicht, daß Individuierung nicht unabhängig von Sozialisierung - wie die moderne Soziologie und Psychologie sagen würden - besteht, bleibt Rousseau noch verschlossen. Solitäre, in sich abgeschlossene Monaden treten aus dem Zusammenhang der Natur heraus und in die Vergesellschaftungsgeschichte ein. Die Identität der Individuen ist nicht Resultat einer Bildungsgeschichte, bildet sich nicht in gemeinschaftlichen Verhältnissen der Kommunikation und Interaktion heraus, sondern kann in ihnen im optimalen Fall nur bestätigt werden. So findet sich bei Rousseau zu Beginn der Vergesellschaftungsgeschichte jene durch unvermittelte Kommunikation gestiftete „Sozialität" zwischen fertigen Individuen, die im weiteren Verlauf der Zivilisationsgeschichte ihrer Transparenz und Unmittelbarkeit verlustig geht. Es liegt nahe, an dieser Stelle moderne Konzeptionen des Prozesses der Individuierung als Kontrast ins Spiel zu bringen, vor deren Hintergrund sich die Eigenart des von Rousseau in Anschlag gebrachten sozialphilosophischen Grundmusters besser fassen läßt. Dabei ist es irrelevant, ob man Individuierungstheorien psychoanalytischer oder soziologischer Provenienz den Vorzug gibt, ob man mit den Mitteln der Objektbeziehungstheorie zeigen kann, wie das erste Selbstbild aus der Übernahme von Fremdbildern signifikanter Bezugspersonen resultiert und im weiteren Verlauf individuiert wird, oder aber für ein intersubjektives Modell eines gesellschaftlich produzierten Ich votiert, das sich responsiv in wechselseitigen Anerkennungsprozessen erst herausbildet. Beiden Erschließungsweisen von Individuation ist die Annahme gemeinsam, daß Individuation und Sozialisation gleichursprüngliche Prozesse sind, daß der Prozeß der Individuierung nicht zu fassen ist, wenn das Selbst primär als monadisch in sich verschlossenes Subjekt konzipiert wird. Die Einsicht, daß das Selbst einen intersubjektiven Kern besitzt, daß es sich in der Weise der Differenzierung von Außen und Innen allererst bildet, gilt unabhängig davon, in welcher Weise das Ich sich in seiner vermittelten Selbstbeziehung gewinnt, sei es über den konstitutiven Anteil der projektiven und introjektiven Spiegelung, sei es im Durchgang durch das Netzwerk sprachlich vermittelter Interaktionen. Vor dem Hintergrund des Rousseauschen Konzepts eines monadisch-solitären Selbst erweist es sich schließlich als unausweichlich, daß jede Form des sozialen Bezugs, in den gesellschaftliche Ansprüche gegenüber dem Individuum eingelassen sind, nicht anders als selbstentfremdend begriffen werden kann: Der Selbstverlust wird zur ubiquitären Bedrohung. Dieser Sachverhalt ist vor allem hinsichtlich seiner Konsequenzen bedenkenswert. Die Überdehnung der Entfremdungsproblematik hat zur Folge, daß das Ideal
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der vollkommen ungestörten, unvermittelten Selbstbeziehung durchgängig den letzten Bezugspunkt der Bewertung des gelungenen Lebens abgeben wird, dergestalt daß sich die verschiedenen menschlichen Beziehungsformen an dieser gleichsam regulativ fungierenden Idee müssen messen lassen können. Damit ist nicht angezeigt, daß Rousseau den einsamen, jede Form von Sozialität auf Abstand haltenden und die reine Innerlichkeit bewahrenden Selbstgenuß zum Existenzideal erklärte, vielmehr sind im Rahmen seines Denkens Möglichkeiten versöhnter sozialer Existenz, gelingende Weisen menschlicher Interaktion und Kommunikation angelegt - besteht doch das gesellschaftsregenerative Programm Rousseaus gerade im Entwurf entsprechender Existenzmöglichkeiten auf den Ebenen der Familie und des Staates - doch wird das mehr oder minder offen zu Tage tretende Leitbild dasjenige einer unvermittelten Transparenz sein. Als sozialphilosophisches Paradigma fungiert für Rousseau das Konzept der Erweiterung des Selbst, seiner selbstentgrenzenden Expansion in der Fusion zu einer homogenen Gemeinschaftlichkeit, nicht dasjenige einer sich kommunikativ vermittelnden Andersheit oder Vielfalt. Kehren wir nach diesen grundsätzlichen Überlegungen zurück zur noch unabgeschlossenen „Genealogie der Laster" im Zweiten Diskurs. Die geschilderten Umrisse einer Konzeption der Intersubjektivität und die sich anschließende Problematisierung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft bilden für Rousseau das rekonstruktiv gewonnene Rüstzeug für eine Analyse der zeitgenössischen bürgerlichen Gesellschaft im Focus des amour-propre. Für deren Zuspitzung auf eine theoretisch gehaltvolle Gesellschaftskritik ist indes noch ein dritter Schritt notwendig. 58
Die entscheidende Verschärfung des amour-propre zum „fureur" tritt erst zu dem Zeitpunkt ein, wo die Komparativität der Subjekte unter den Bedingungen der bürgerlichen Wettbewerbsgesellschaft total wird. Im Gegensatz zu der gleichermaßen beschaulichen wie narzißtisch-ehrgeizigen Geselligkeit, welche die Mitglieder autarker Familienverbände in Mußestunden pflegen, ist nun eine Form von Gesellschaftlichkeit entwickelt, die die Existenz des Individuums vollständig umfaßt und es in eine Dynamik der intersubjektiven Konkurrenz verwickelt. Hier nun werden die unterschiedlichen Begabungen und natürlichen Ausstattungen der Individuen zu Wettbewerbsvor- und nachteilen, erweisen sich nicht allein in Hinblick auf ein ästhetisches Geschmacksranking als relevant, sondern bilden handfeste Dispositionen zur Chancenmehrung oder minderung im Wettbewerb der Existenzsicherung. Was zunächst noch die Form eines eher spielerischen Kräfte- und Talentemessens besaß, hat jetzt den Charakter einer aktiv betriebenen Chancenmaximierung angenommen. In dem Maße, als sich der Bürger im Zuge seiner Existenzsicherung den Imponderabilien des Marktes überantworten muß, hat er sich gleichermaßen der schwankenden Börse der gesellschaftlichen Wertschätzung völlig überschrieben: Er lebt endgültig „toujours hors de lui-même"59. Die in die Gesellschaftlichkeit eingelassene Struktur der Komparativität wird total unter den Be58 59
,,[C]e fureur de se distinguer" (OCP III, S. 189/257). Vgl. ibid.
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dingungen der Kompetitivität: Prestige wird ein Mittel im Kampf um Reichtum und Reichtum ein Mittel im entfesselten Prestigekampf: „Man tut alles, um reich zu werden, aber man will reich sein, um geachtet zu werden"60. Die letzte Stufe des amour-propre zeigt den Ausgriff des „Furor der Distinktion" auf die äußere Welt: Im Rahmen der arbeitsteiligen Gesellschaft erweitern sich die Eigenheitssphären der Personen in die des äußeren Eigentums. Die anfangliche Ausdifferenzierung von Eigenschaften, Eigenarten und Eigentümlichkeiten, der propria/ propriétés der Individuen mündet in die durch Arbeitsteilung, privates Eigentum/ propriété und Klassenbildung materialisierte gesellschaftliche Ungleichheit. Erst diese Möglichkeiten der ökonomisch-gesellschaftlichen Materialisierung des amour-propre ziehen den Verlust der Autonomie und der Autarkie des Einzelnen nach sich und fuhren schließlich zu jenen Strukturen von Herrschaft und Knechtschaft, die alle Beteiligten depravieren.61 An dieser Stelle kann der Faden der Familienthematik wiederaufgenommen werden, denn es zeigt sich, daß der amour-propre letzter Stufe dann zur Entfaltung kommt, wenn die Lebensform des autarken Familienverbands, die systematisch nur eine Verlängerung der ökonomischen Existenzweise des homme solitaire darstellt, endgültig zerbricht. Mit Blick auf die „von Rousseau faktisch immer angewandte Unterschei62
dung" von constitution und condition als dem Zusammenspiel der nie völlig fixierten Konstitution des Menschen und den historisch kontingenten Umständen, läßt sich festhalten, daß die gesellschaftliche Verzerrung der natürlichen Selbstliebe nur unter spezifischen Voraussetzungen ihr Maximum erreicht. Diese Bedingungen sind gegeben, 60
61
62
Politische Fragmente V (Von der Ehre und von der Tugend), S. 232 (Übers, verändert)/ OCP III, S. 502. Für die letzte Verschärfung des amour-propre zu habituell sozialdestruktiven Verhaltensmustern, die nicht aus der Tendenz zur Maximierung von ökonomischem und narzißtischem Kapital zu folgern sind, bleibt Rousseau die Erklärung schuldig: Woher rührt im Letzten der „finstere Hang sich wechselseitig zu schaden" oder die „Lust zu herrschen" (OCP III, S. 175/S. 209f)? Interessant ist in diesem Zusammenhang der Versuch Nicholas J. H. Dents in The Basic Principie of Emile 's Education die Argumentationslücke zu schließen, indem er anhand einer Episode aus dem I. Buch des Émile und mit Bezug auf die Objektbeziehungstheorie von Melanie Klein die Genese sozialdestruktiver Antriebe aus dem Scheitern bzw. dem Mißglücken früher Interaktionsprozesse zu erklären versucht. Die Implikationen der von Rousseau geschilderten Beobachtung des Säuglings weisen über den Horizont der Rousseauschen Theoriebildung hinaus, dennoch unternimmt es Dent zu zeigen, daß Rousseaus psychologische Intuitionen zuende gedacht auf objektbeziehungstheoretische Prämissen hinauslaufen. Der Ursprung des Bösen läge somit weder im Individuum noch in der Gesellschaft, sondern in einem Kontingenzen unterworfenen Zwischenbereich von Interaktion entsprechend der Einsicht Rousseaus, daß „die Selbstliebe, an sich selbst in Rücksicht des Guten und des Bösen gleichgültig ist, daß sie bloß durch Zufälle und die Umstände, in welchen sie sich entwickelt, gut oder böse wird." (Brief an Beaumont, Anm. 44) Günther Buck, Selbsterhaltung und Historizität, a.a.O., S. 271; auch ders., Über die systematische Stellung des „Emile" im Werk Rousseaus, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 5 (1980), S. 1 40.
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sobald die Einzelnen gezwungen sind, sich im Medium des privaten Eigentums als Eigentümer in der arbeitsteiligen Marktgesellschaft aufeinander zu beziehen. Ein juste milieu63, ein austariertes Gleichgewicht von Gesellschaftlichkeit und Individualität, das unverzerrtes Selbstsein auch im Rahmen entfalteter Sozialität möglich sein läßt, kann sich nur unter der Bedingung der autark wirtschaftenden Familienverbände erhalten, die untereinander die „süßen Freuden eines unabhängigen Verkehrs"64 genießen können. Solange die Familien noch nicht im Medium der arbeitsteiligen Produktion vergesellschaftet sind, wo die anwachsenden Bedürfhisse die Abhängigkeiten multiplizieren, leben sie „frei, gesund, gut und glücklich, wie sie es ihrer Natur nach sein konnten"65. Unter der Voraussetzung der Subsistenzwirtschaft begegnen sich die Individuen interfamiliär ausschließlich auf der Basis ihrer humanen Qualitäten: Ihre Kommunikationsund Interaktionsformen tragen rein expressiven Charakter, Selbsterhalt und Selbstverwirklichung sind nicht dem Zwang zum instrumentellen Handeln und zur strategischen Kommunikation unterworfen. Rousseau betont das Müßige ebenso wie das Musische, den nachgerade festlichen Charakter des „unabhängigen Commerzes", welcher, wenngleich nur von passagerem Charakter, ebenso wie der innerfamiliäre, sich allein auf Zwanglosigkeit und Spontaneität gründet. Solange also die Organisationsform der ökonomischen Basis verhindert, daß die Individuen „einander in dem Maße [...] hassen, in dem ihre Interesse sich kreuzen"66, ist ein psychosoziales Milieu garantiert, in welchem sich eine prekäre Balance zwischen Selbstbehauptung und gesellschaftlicher Anerkennung zugunsten des „vivre en soi" justieren läßt. 4.2.2 Das Alter der Empfindsamkeit Die Jugendzeiten der Menschheit sind die Zeit der autarken Familienverbände. Zur Erinnerung: Im Zweiten Diskurs markiert die Familie den Übergang in die moralische Ordnung, die ersten permanenten sozialen Beziehungsformen sind familiäre, der soziale Charakter des Individuums bildet sich unter der Bedingung der „habitude de vivre ensemble", in Verhältnissen von räumlicher Nähe und zeitlicher Dauer. Ein beständiger, auf Zuneigung und Wohlwollen gegründeter Umgang, bringt die Soziabilität des Einzelnen zur Entfaltung und läßt die Bedürfnisse nach Selbstdarstellung, Ausdruck und Spiegelung erwachen. In diesem sympathetischen Klima, in welchem die Gefühle auf Mitteilung drängen, kommt auch die Sprache zur weiteren Entfaltung.67 63 64 65 66
67
OCP III, S. 171/193. Ibid., S. 171/195. OCP III, S. 171/195. ,,[L]a Société humaine ... qu'elle porte nécessairement les hommes à s'entre-hair à proportion que leurs intérêts se croisent" (OCP III, S. 202/303). Mit dem nur wenige Jahre vor dem Zweiten Diskurs veröffentlichten Essai sur l'origine des connaissances humaines von Condillac hatten Rousseau bereits vergleichbare Hypothesen zur Sprachentstehung vorgelegen, wobei auch Condillac die natürliche Genese der geistigen Operationen im Ausgang von kommunikationslosen Solitären rekonstruiert. Erst, sofern die Individuen in einen
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Um das psychologische Klima, das Rousseau mit der Beschreibung der Goldenen Jugend der Menschheit evoziert, besser auszuloten, kann, den Hinweisen von Goldschmidt und Masters folgend, die Schilderung des Discours in Beziehung gesetzt werden zur Darstellung des Jünglingsalters im IV. Buch des Emile.6* Die Parallelisierung des Discours mit dem Emile enthüllt, daß die Bedingungen der autarken Familie bei näherem Hinsehen exakt demjenigen Zeitpunkt im Verlauf der Ontogenese vergleichbar sind, wo der Heranwachsende in der Phase der Adoleszenz mit dem Erwachen der Libido Empathie und Mitleidsfähigkeit ausbildet, noch vor der Schwelle der Entwicklung des amourpropre und dem endgültigen Eintritt in die Gesellschaft. Erst auf der Basis dieser Parallelisierung wird es möglich, der im Begriff der Sentimentalität, bzw. im Konzept der sentimentalen Familie bislang nur antizipierten Fundierung der Familie im Gefühl ausreichend Plausibilität zu verleihen. Das Zeitalter der Jugend - der menschheitlichen, wie der des Individuums - ist die Zeit der Empfindsamkeit: Auf die Phase der existence als dem sinnlichen, erfahrungskumulierenden Umgang mit den Dingen der Natur folgt entsprechend dem schematischen anthropologischen Dualismus, der dem Emile zugrunde liegt - diejenige der affection, der Bildung des Gefühls und des Umgangs mit den Menschen.69 Es ist dieser strukturelle Umschlag in der Entwicklungsgeschichte, welcher auf der Ebene des Zweiten Diskurs exakt den menschheitsgeschichtlichen Moment kennzeichnet, an welchen Rousseau die Entstehung der Familie ansiedelt; der Gehalt dieses Übergangs in die moralische Ordnung70 läßt sich aus den einschlägigen Passagen des Emile erschließen.
„Commerz" miteinander treten, wird die Ausbildung höherer Seelenfähigkeiten und entsprechender Kommunikationsformen möglich und nötig. Diese potenzieren sich mit der Familiengründung (Étienne Bonnot de Condillac, Essai sur l'origine des connoissances humaines, in: Œeuvres philosophiques, hg. von Georges Le Roy, Bd. I, Paris 1947, S. 1-118, II. Teil, Kap. 1, S. 60f.). Vgl. Günther Bien, Zum Thema des Naturstandes im 17. und 18. Jahrhundert, in: Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), S. 275-298. Zum Vergleich mit Lukrez vgl. Reimar Müller, Anthropologie und Geschichte, a.a.O., S. 159ff. 68
69
70
Victor Goldschmidt, Anthropologie et politique, a.a.O., S. 423 und Roger D. Masters, The Political Theory of Rousseau, a.a.O., S. 172 weisen auf diese „exakte Parallelität" hin. Soweit ich sehe, ist die Parallelisierung von Ontogenese und Phylogenese, von Emile und Deuxième Discours, bislang nicht systematisch untersucht worden. Zum anthropologischen Dualismus des Émile vgl. Martin Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, a.a.O., 2. Teil. „Le moral" wird von Rousseau zumeist in einem weiten Sinne in Opposition zu „le physique" verwendet, dies je nach Kontext in unterschiedlicher Akzentuierung. Im Zweiten Diskurs ist die Unterscheidung von natürlich versus konventionell (OCP III, S. 131/67) vorherrschend, im Émile unterscheidet er das „être physique" des Menschen, welches „par rapports avec les choses" vom „être moral", welches „par rapports avec les hommes" (OCP IV, S. 493/ Em il S. 213) besteht. Erst mit dem Eintritt in die Dimension der Intersubjektivität erhebt sich die Frage nach einer Moral im engeren Sinne (vgl. Emil, S. 219/ OCP IV, S. 501).
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In der Adoleszenz durchbricht das Kind, das bislang „seine Schwester wie seine Uhr, seinen Freund wie seinen Hund"71 liebte, die Begrenzung auf sich selbst und beginnt sich in Zuneigung, Freundschaft, Liebe und Mitleid auf die anderen zu beziehen. Bis zu diesem Moment war die kindliche Egozentrik total und der Heranwachsende - nicht anders als der naturzuständliche Solitär - ignorierte in seiner Selbstliebe die Mitmenschen auf eine naive und unschuldige Weise. Nun erst beginnt die Entwicklung des eigentlich menschlichen Gefühlslebens. Was Rousseau als die „zweite Geburt"72 im menschlichen Leben bezeichnet, ist das Erwachen der Empfindsamkeit/ sensibilité. Die menschliche Entwicklung ist bis zu dem entscheidenden Punkt vorangeschritten, wo aus dem Zusammenspiel von Empfindsamkeit und Einbildungskraft menschliches Mitgefühl entsteht. Die Einbildungskraft trägt dabei zum Überschreiten der eigenen egozentrischen Perspektive bei und ermöglicht der erwachten Empfindsamkeit des Individuums über sich „hinauszuwirken"73. Zu diesem Zeitpunkt „fangt [man] sich für die zu interessieren an, mit denen man lebt"74, das Herz öffnet sich „für menschliche Regungen und wird der Hingabe fähig."75 Dieser Prozeß einer empathischen Öffnung hin auf den Mitmenschen terminiert schließlich im - gemäß der Ordnung der Natur - ersten sentiment relatif, einem Gefühl mit Bezug auf die anderen: dem Mitleid. Ein soziales Gefühl, dessen „Relativität" indes von anderer Art ist als diejenige der Eigenliebe - für Rousseau stellt das Mitleid die große natürliche Gegenkraft zum gesellschaftlichen amour-propre dar.76 Das Mitleid als die Empfänglichkeit für das fremde Leiden ist ein Modus des Miterlebens: Diese Fähigkeit, den anderen als seinerseits empfindsamen zu erkennen, ist ohne die Einbildungskraft als die auf den anderen hin überschreitende Grundkraft des Individuums nicht denkbar: ,,[M]an wird nur dann empfindsam, wenn sich die Phantasie regt und beginnt, uns aus uns selbst heraustreten zu lassen/ commence à le transporter hors de lui." Mit dem Begriff der Ausdehnung/ expansion77 expliziert Rousseau diesen 71 72 73
74 75 76
77
Emil, S. 219/ OCPIV, S. 500. Emil, S. 211/ OCP IV, S. 490. Ibid., S. 220/ OCP IV, S. 501. Zur Rolle der Einbildungskraft bei Rousseau vgl. Jean Starobinski, Jean-Jacques Rousseau et les pouvoirs de l'imaginaire, in: Revue internationale de philosophie 51 (1960), S. 43-67; mit Blick auf den Emile auch: Marc Eigeldinger, Les fonctions de l'imagination dans Émile, in: Ralph A. Leigh (Hg.), Rousseau afler Two Hundred Years, a.a.O., S. 251-263. Emil, S. 221/ OCP IV, S. 502; vgl auch: Emil, S. 236f./ OCP IV, S. 519. Ibid. Vor allem: OCP III, S. 155/147. Seine Konzeption der pitié bzw. commisération hat Rousseau an drei Stellen explizit entwickelt: im IX. Kapitel des Essai sur les langues, im ersten Teil des Zweiten Diskurs und im IV. Buch des Emile. Inwiefern zwischen diesen Varianten maßgebliche systematische Unterschiede bestehen, darüber gibt es v.a. mit Bezug auf die Frage des reflexiven bzw. präreflexiven Charakters der pitié kontroverse Meinungen. Vgl. dazu: Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 293-334. Derrida bezieht sich dabei auf Jean Starobinski, Annotation zum Zweiten Diskurs, OCP IE, S. 1330f. und Robert Dérathé, Le rationalisme de Jean-Jacques Rousseau, Paris 1948, S. 99f. Vgl. hierzu: PierreBurgelin, La Philosophie de l'existence de J.-J. Rousseau, Genève 1978, S. 149ff.
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Charakter der Selbstüberschreitung und markiert damit den Unterschied zum perhorreszierten, selbstentfremdeten „être hors de soi-même": Indem das Individuum seine Person auf den anderen hin ausdehnt, findet es sich selbst auch im anderen wieder: „Es beginnt, sich selbst in seinesgleichen zu fühlen."78 Die Empathie ist ihrem Charakter nach als eine gradlinige Seelenbewegung zu verstehen, in der das Ich sich aus-lebt, indem es sich ausdehnt, sich vermittlungslos im Anderen wiederfindet und nicht reflektierend-vergleichend auf sich selbst zurückkommt. Das Mitfühlen ist konzipiert als eine Extension oder Verlängerung, Rousseau spricht bei Gelegenheit auch von einer „Emanation"79 der Selbstliebe80: „Die positive Empfindsamkeit leitet sich unmittelbar aus der Selbstliebe her"81 und ist somit von gleicher Unmittelbarkeit und Spontaneität wie diese. Die extensio animi ist darüber hinaus Affirmation und Vertiefung des Daseinsgefühls, ein Zuwachs an Existenzfülle, ist Erfüllung des „desir d'exister"82 Vom Grundgedanken der Ausdehnung erhellt sich weiter die Tatsache, daß das Mitfühlen den Fühlenden grundsätzlich eher erhebt als niederdrückt, Mitfühlen ein überschießendes Gefühl darstellt.83 Dieses expansive Überschreiten der Seele auf anderes hin ist für Rousseau ein weitreichendes Bild, das nicht nur den Vorgang der Einfühlung illustriert, sondern darüber hinaus fur die Entfaltung aller spezifisch humanen Potentiale steht. Diese Gestalt nimmt die Freude am Dasein, die Freude am Schönen, das Streben nach der Wahrheit an, die dichterische Einbildungskraft und schließlich das eigentliche soziale Gefühlserleben: Mitgefühl, Freundschaft, eheliche Liebe, Liebe zur Tugend, zum Vaterland, zur Menschheit.84 Die Gefühlsbildung beginnt in der Pubertät. Rousseau bindet ohne weitere Begründung das emotionale Erwachen an das Phänomen der sexuellen Reifung, das Erwachen der Libido markiert den Beginn der Sozialität des Menschen: „Sobald der Mann eine Gefahrtin braucht, ist er kein Einzelwesen mehr. Sein Herz ist nicht mehr allein. Alle Beziehungen zu seiner Gattung, alle Regungen seiner Seele entspringen dieser ei78 79
80 81 82
83
84
„... il commence à se sentir dans ses semblables" (OCPIV, S. 504/Emil, S. 223). „La bonté, la commisération, la générosité, ces premières inclinations de la nature [...] qui ne sont que des émanations de l'amour de soi." Gespräche, S. 420/ OCP I, S. 805f. Vgl. Robert Dérathé, Le rationalisme de Jean-Jacques Rousseau, a.a.O., S. 99f. Anm. 4. Gespräche, S. 420 (Übers, verändert)/ OCP I, S. 805. „Quel est donc ce principe ... le desir d'exister. Tout ce qui semble étendre ou affermir nôtre existence nous flatte, tout ce qui semble la détruire ou la resserrer nous afflige." (Fragments divers, OCP II, S. 1324f.) Steht das Bild der Ausdehnung für die Gestalt der sympathetischen Einfühlung, so das gegenteilige für die depravierte Form der „sensibilité négative", die zu derivierten Leidenschaften führt und das Herz „einengt" und „verschließt" statt es auszudehnen. Vgl auch Gespräche, S. 420/ OCP I, S. 805: „Die positive oder anziehende Kraft ist das einfache Werk der Natur, die das Gefühl unseres Daseins auszudehnen oder zu verstärken bemüht ist; die negative oder abstoßende, die das Gefühl für andere unterdrückt oder einschnürt, ist eine Verknüpfung, welche die Überlegung hervorbringt/ est une combinaison que la reflexion produit." Vgl. Martin Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, a.a.O., S. 123f.
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nen."85 Die Ausbildung der Empfindsamkeit macht das Individuum gleichermaßen liebesfahig wie liebesbedürftig: Der Kokon der kindlichen Selbstgenügsamkeit wird gesprengt, der Jüngling fühlt sich in seinem zunächst noch diffusen Begehren an die anderen verwiesen. Die liebende Empfindsamkeit als „eine Lebensfülle/ surabondance de vie", welche sich auszuwirken sucht86, zeigt die Ergänzungsbedürftigkeit des erwachsenen Daseins auf, die der kindlichen Existenz fremd war. Im auf den Anderen 87
gerichteten Begehren liegt die „Schwäche", die „den Menschen gesellig [macht]" . Die gefühlsmäßig gegründete Einsicht, daß die Erfüllung seiner Glücksmöglichkeiten nicht von den je eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten allein abhängt, eröffnet dem jugendlichen Menschen humanité*8 im äquivoken Sinne: Sie macht ihn menschlich und sie enthüllt ihn sich selbst als Teil der menschlichen Gattung. Die Soziabilität, die sich in der menschlichen Bedürftigkeit erschließt, ist von anderer Art als die über die materiellen Bedürfhisse erfolgende Vergesellschaftung, in deren Rahmen stetig wachsende Bedürfnisse unaufhörlich wachsende Abhängigkeiten züchten; sie produziert vielmehr eine Abhängigkeit „dans l'ordre du coeur"89. Die fragilen Glücksmöglichkeiten des menschlichen Daseins liegen nicht in seiner Verfügungsgewalt: ,,[D]er Mensch in diesem Leben ist so eingerichtet, daß man nie zum rechten Genuß seiner selbst ohne Zutun anderer gelangen kann."90 In der Empfindsamkeit enthüllt sich die menschliche Bedürftigkeit als eine anthropologische Grundkonstante, die Gleichheit der Menschen findet ihren Grund in dem, worin sie sich auch erschließt: im Gefühl der wechselseitigen Abhängigkeit. Bloom konstatiert in diesem Zusammenhang eine spezifisch Rousseausche Verschiebimg in Hinblick auf die Naturrechtstradition: „Equality, which was a rational déduction in Hobbes, thus becomes self-evident to the sentiments."91 Wie Rang zurecht anmahnt, ist Rousseaus Konzept der commisération nicht als eine Theorie der Einfühlung mißzuverstehen92, auch, so ließe sich hinzufügen, geht es 85
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92
Emil, S. 213/ OCPIV, S. 493. Hierzu ein Hinweis Burgelins, dem nachzugehen lohnenswert wäre: „La crise de l'adolescence est masculine" (OCP IV, S. 1453). Vgl. Emil, S. 221/ OCP IV, S. 502. Emil, S. 222/ OCP IV, S. 503. Ibid. OCP IV, S. 1465 (Annotation). Gespräche, S. 429/ OCP I, S. 813; vgl. auch: Emil, S. 222/ OCP IV, S. 503. Allan Bloom, The Education ofDemocratic Man: Emile in: Daedalus 107 (1978), S. 135-155, hier: S. 148; vgl. auch Robert Derathe, Jean-Jacques Rousseau et la science politique de son temps, a.a.O., S. 142-151. Martin Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, a.a.O., S. 428f. Jacques Derrida stellt im Kontext von Rousseaus Mitleidsproblematik weitreichende Überlegungen zur imagination an, die auf eine Theorie der Repräsentation hinauslaufen. Die phänomenologische Konzeption des Anderen als einer nicht präsentierbaren Appräsenz scheint m.E. indes für Rousseau nicht von zentraler Relevanz, da ihn das Problem der Alterität theoretisch nicht wirklich beunruhigt hat. (Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S, 309ff„ bes. S. 326f.)
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Rousseau nicht um Empathie im neutralen Sinn eines bloßen Nachverstehens, es geht vielmehr um einen entscheidenden entwicklungsgeschichtlichen Vorgang: Durch das sympathetische Mitfuhlen wird die jugendliche Seele aus der Enge ihrer Ichbefangenheit befreit, wodurch die Möglichkeit einer drohenden narzißtischen Verengung und Verpanzerung, die einhergeht mit emotionaler Oberflächlichkeit und manipulativen Verhaltensformen, rechtzeitig abgebogen wird. Dieser Vorgang ist zugleich konstitutiv für die vollständige Humanisierung des Individuums. Erst im Gefühl der Einheit mit dem anderen wird der Einzelne sich zugleich seiner Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung inne. Es wird deutlich, daß die so begriffene „Sozialisation" nicht Resultat eines mit den Begriffen der heutigen Sozialpsychologie konzipierten Sozialisationsprozesses ist: Weder wird der andere in seiner Andersheit greifbar noch wird deutlich, worin das Medium besteht, das ego und alter vergesellschaftet. Das Mitfühlen geht immer vom Einzelnen aus und bleibt auch im Mitleiden bei ihm. Dennoch leistet das Mitfühlen mit seiner expansiven Potenz die entscheidende Erweiterung des Selbst in die intersubjektive Dimension seiner Existenz: unter psychologischer Rücksicht als die Möglichkeit der Einfühlung und unter sozialer als derjenigen der Vergemeinschaftung im Gefühl. 93 Mit Bezug auf die zugrundegelegte Parallelität der Entwicklungsstufen des Zweiten Diskurs und des Emile erschließt sich die Familie des Zweiten Diskurs nun in einem systematischen Sinne als „Gefühlsgemeinschaft". Mit den „ersten Entwicklungen des Herzens" ist auf der einen Seite eine kritische Entwicklungsphase im Leben des Individuums benannt, und andererseits ein entscheidender Aggregatzustand des Sozialen innerhalb der Entwicklungsgeschichte der Gattung umrissen. Die Familie als eine Gemeinschaft der Unmittelbarkeit und des Gefühls, ist entwicklungsgeschichtlich an jenem Punkt verortet, wo der Übergang in die moralische Ordnung geschieht, u.z. in der Form des Erwachens eines die monadischen Subjekte auf die Dimension des Mit-Seins entschränkenden Mitfühlens. 4.2.3 L 'amour-passion versus l 'amour conjugal Mit Bezug auf den Emile kann also aus der entwicklungsgeschichtlichen Verortung der Familie ihre Gestalt als Gefühlsgemeinschaft systematisch rekonstruiert werden. Wie nun, so läßt sich weitergehend fragen, kann vor diesem Hintergrund der konkrete Vergemeinschaftungsmodus der Gatten näher bestimmt werden? Im V. Buch des Emile und in der Nouvelle Heloise liefert Rousseau Anhaltspunkte für den ehelichen Beziehungsmodus zwischen Mann und Frau, insofern er ein freundschaftliches Verhältnis der Gatten fordert.94 Entgegen dem Anschein, daß es sich hier primär um ein Set von Verhaltensregeln handelt, die aus einer erfahrungsgesättigten Alltagsklugheit resultieren, kann im Anschluß an die genetische Perspektive des Zweiten Diskurs wie des Emile auch 93 94
Vgl. Martin Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, a.a.O., S. 428. Emil, Ende des V. Buches, Die neue Heloise, III, 20.
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dem Modell der ehelichen Liebe als Freundschaft ein systematischer Sinn abgewonnen werden. Dieser läßt sich durch die Unterscheidung der ehelichen Liebe von der Liebe als amour-passion gewinnen.95 Es zeigt sich, daß diese Differenz in der fundamentalen Opposition von Natur und Kunst, bzw. von Natürlichkeit und Gesellschaftlichkeit gründet. Dabei gehört auf die Seite der Natur, was sich als ein natürliches Gefiihlsmilieu darstellt: Das affektive wechselseitige Bezogensein in der Form der empathischen Identifikation mit dem anderen; der Liebesleidenschaft haftet demgegenüber nichts Natürliches mehr an. Die amour-passion erweist sich als ein reines Produkt der Geschichte und der Gesellschaft. Mehr noch: Die Opposition von Natur und Kunst kommt zu ihrer extremsten Darstellung am Phänomen der Liebe: Was als naturwüchsiger Trieb beginnt ist schließlich durch und durch künstlich geworden. In der Künstlichkeit der Liebe „reflektiert sich", wie Derrida in der Grammatologie formuliert, „Geschichte überhaupt als Denaturierung"96. Zwischen das natürliche sexuelle Bedürfnis, für dessen Befriedigung „alle Frauen gleich gut sind"97 und die leidenschaftliche Liebe, die durch ihre Fixierung auf ein exklusives Liebesobjekt gekennzeichnet ist, hat sich die ganze Welt der opinion geschoben: Präferenzen, persönliche Wertschätzungen, Beliebigkeiten des Geschmacks QO
und Idealbildungen. Das „Moralische im Gefühl der Liebe" entbehrt der biologischen Grundlage, es entspringt der Einbildungskraft.99 In der grundsätzlichen Ungebundenheit und Freiheit der imagination liegt indes ihre tiefe Zwiespältigkeit, die die Ambivalenz des Gesellschaftlichen überhaupt ausmacht: nämlich Künstlichkeit als Abstand zur Natürlichkeit zu sein und damit offen für Vollendung natürlicher Potentiale wie auch für deren Verfall. Welche entscheidende Funktion Rousseau dem ambivalenten Vermögen der imagination zuerkennt, läßt sich vollständig ermessen, wenn man bedenkt, daß er die Wurzel aller spezifisch humanen Gefühle ins libidinöse Begehren verlagert. Bereits die erste grundlegende Gefuhlsdisposition, welche die natürliche Dimension des Mitfühlens und der Humanität erschließt, ist Ergebnis eines Prozesses der Hemmung der sexuellen Triebkraft und der bewußten Steuerung der Vorstellungstätigkeit. Die Kunstgriffe der zielgerichteten Hemmung der Libido zielen zunächst auf Verzögerung der Triebbefriedigung. Mit dem Aufschub der sexuellen Aktivität wird ein Entwicklungsraum eröffnet, in dessen Rahmen eine Umlenkung der libidinösen Energie auf alternative Gegenstände geschehen kann. Zu diesem Zeitpunkt ist es eine Aufgabe erzieherischer Klugheit, die 95 96 97
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Allgemein dazu: Martin Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, a.a.O., S. 300-335. Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 305. Emil, S. 214/ OCP IV, S. 494 und OCP III, S. 158/155. Genau besehen ist die Sexualität ein Bedürfnis zweiter Klasse, ein besoin de molesse, ein Bedürfnis das „auf den Luxus der Sinnlichkeit" abzielt. Vgl. Politische Fragmente, X (Der Einfluß des Klimas auf die Zivilisation), S. 256/ OCP III, S. 539. OCP III, S. 158/155, auch Emil, S. 213 u. S. 214/ OCP IV, S. 493 u. S. 494. OCP III, S. 158/155: „... le moral de l'amour est un sentiment factice".
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Vorstellungstätigkeit des Heranwachsenden in entsprechender Weise auf geeignete Gegenstände hin auszurichten. So wird das libidinöse Begehren in einem schrittweisen Sublimationsprozeß von seiner kruden und unbestimmten Gestalt zunächst in die erste allgemeine Form des das ganze Menschengeschlecht umfassenden Mitfuhlens gelenkt, dann in zweiter Instanz in zunehmender affektiver Konzentration in den Modi der Freundschaft und der personalen Liebe vom Allgemeinen zum Konkreten gefuhrt. Mit den Worten Burgelins gesprochen: „Die Gattung rangiert vor dem Geschlecht, die Menschheit vor der Weiblichkeit, kurz, die Freundschaft geht der Liebe voran."100 Diese weiträumige Umlenkung, welche der Libido zugemutet wird, leistet, sofern sie von der erforderlichen erzieherischen Aufmerksamkeit begleitet ist, die Ausbildung der gesamten Vielfalt menschlich-affektiver Beziehungsformen. Das entscheidende Problem in der Entwicklungsgeschichte der Liebe liegt für Rousseau nicht im klassischen Widerstreit zwischen der leiblich-sinnlichen Leidenschaft und den rationalen Willenskräften, sondern in der zwiespältigen Rolle der Einbildungskraft. Allein die einsichtsvolle und zielgerichtete Manipulation der Phantasietätigkeit vermag über die endgültige Gestalt, in welcher das Liebesbegehren schließlich seine Realisation findet, zu entscheiden. Ebenfalls nur durch pädagogische Intervention läßt sich das mit dem Tätigwerden der Einbildungskraft verbundene Risiko der Perversion, das Abgleiten in die devianten Formen der Künstlichkeit verhindern. Die Verirrungen, die hier drohen, stellen sich als Manifestationen einer schlechten Allgemeinheit dar: auf der einen Seite die sexuelle „Raserei", der Don-Juanismus, der auf den Besitz der Gesamtheit der Frauen zielt, wobei ihm „alle Frauen gleich gut sind", und der sich damit als die zivilisatorische, imaginär forcierte Abart der kreatürlichunschuldigen Promiskuität zu erkennen gibt, auf der anderen Seite droht die Sackgasse des asozialen und gänzlich imaginären Lasters der Onanie, mittels derer das Individuum sich vollständig der Illusion überläßt, nach seinem „Belieben über das ganze andere Geschlecht"101 bereits zu verfugen. Um also die Triebbefriedigung erfolgreich auf den Weg ihrer Moralisierung zu lenken, muß von dem Zeitpunkt an, wo das Liebesbegehren unwiderruflich auf seine Realisierung drängt, die Hemmung in der Gestalt aktiv werden, daß sie die Form einer idealisierenden Erhöhung des begehrten Objekts annimmt. Rousseau will hier nahelegen, daß die exklusive Fixierung auf ein Liebesobjekt nur mittels der Dynamik der Idealisierung zu erreichen ist, die die Elevation der geliebten Person über die Entwertung ande100 QQp jy^ g 1464; „L'espèce affecte avant le sexe, l'humanité avant la féminité, donc l'amitié précède l'amour." 101
Bekenntnisse, in: Jean-Jacques Rousseau, Die Bekenntnisse, - Die Träumereien des einsamen Spaziergängers. Übers, von Alfred Semerau und Dietrich Leube, mit einer Einfuhrung von Jean Starobinski sowie einem Nachwort und Anmerkungen von Christoph Kunze, München 1978, S. 110/ OCP I, S. 109. Zum Zusammenhang von Onanie und Imagination vgl. auch Martin Rang, Rousseaus Lehre vom Menschen, a.a.O., S. 31 lf. und Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 259ff.
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rer Möglichkeiten betreibt und die eben dadurch in nicht unbeträchtlichem Maße zur Entrealisierung der Geliebten beiträgt: Das Objekt wird gleichermaßen einzigartig wie fiktional, die Liebe trägt fast gänzlich illusionäre Züge: „Was ist denn die wirkliche Liebe anderes als Sinnestäuschung, Lüge, Einbildung? Man liebt vielmehr das Bild, das man sich macht als den Gegenstand auf den man es bezieht. Wenn man das, was man liebt, genauso sähe, wie es ist, so gäbe es keine Liebe mehr auf Erden. [...] Der Schleier der Verklärung fallt und die Liebe schwindet."102
Trotz des illusionären Status des begehrten Objektes sind nichtsdestoweniger die Gefühle real, die der Liebende in exklusiver Weise auf das Liebesobjekt in seiner Einzigartigkeit richtet. Damit erweist sich in der Form der leidenschaftlich-personalen Liebe der sinnliche Trieb geläutert und zu seiner geistigen Gestalt, zum „allerkeuschesten Band"103 veredelt, und durch die Konzentration auf ein Objekt in seiner völligen Unbestimmtheit aufgehoben, dergestalt „daß, diesen einen Gegenstand ausgenommen, das eine Geschlecht für das andere bedeutungslos wird".104 Das Liebespotential, das in noch unbestimmter Form im Mitfühlen erwachte und auf jeden konkreten Nächsten gerichtet war, konzentriert sich nunmehr in seiner Ausrichtung auf ein einziges, fiktives Objekt. Zugleich ist im Phänomen der Liebesillusion auch der Höhepunkt der Funktion der Einbildungskraft erreicht, nämlich die Kraft des Verlangens zu determinieren, zu fixieren, zu forcieren und, in letzter Instanz, zu sublimieren.105 Wegen dieser ihr innewohnenden Sublimationspotentiale stellt aber die leidenschaftliche Liebe zu einer anderen Person keinen Zweck an sich dar. Sie bildet vielmehr Anlaß und Grundlage für die Generierung enthusiasmierter Gefühlslagen 106 und erweist sich somit als ein unverzichtbares Stadium im Verlauf der psychischen Reifung. 107 Wahre Liebe drückt sich in der Begeisterung für die Idee der Vollkommenheit aus.108 Hier taucht unverkennbar ein ur-platonisches Motiv auf: Die leidenschaftliche Liebe erweckt die Liebe zum moralisch Schönen, zur Gerechtigkeit und zur Tugend - zu Ideen, die wir bereits in uns tragen.109 Für diese Art der Wiedererinnerung erweist sich
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Emil, S. 354/ OCP IV, S. 656: Auch: Emil, S. 249 Anm./ OCP IV, S. 1487 (a).: „Immer ist es das Vorurteil, das in unseren Herzen die Heftigkeit der Leidenschaften schürt. Wer nur sieht, was ist, und nur bewertet, was er kennt, verliert auch nicht den Kopf." 103 Die neue Héloìse, I, 50, S. 138/ OCP II, S. 138. 104 Ibid. 105 OCP III, S. 158/155. 106 Emil, S. 426/ OCP IV, S. 743, auch Die neue Héloìse, 2. Vorrede, S. 12fJ OCP II, S. 15f. 107 Siehe auch: Emile und Sophie oder Die Einsamen, in: Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Von der Erziehung, Emile und Sophie oder Die Einsamen, übers, von Siegfried Schmitz, München 1979, S. 647/ OCP IV, S. 883. 108
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Die neue Héloìse, I, 24, S. 85/ OCP II, S. 86: „Otez l'idée de la perfection, vous ótez l'enthousiasme; otez l'estime, et l'amour n'est plus rien." Auch: Emil, S. 426/ OCP IV, S. 743. Emil, S. 290 u. 302/ OCP IV, S. 583 u. 596, auch Brief an d'Alembert, S. 356/ OCP V, S. 22. Zum Piatonismus Rousseaus vgl. Pierre Burgelin, OCP IV, S. 1653 und v.a. Allan Bloom, Intro-
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der Realitätsstatus des geliebten Objekts schließlich als irrelevant, sofern auch ein Phantasiegebilde sie anzustoßen vermag.110 Die amour-passion löst sich schließlich nicht nur von der Sinnlichkeit ab, sie läßt auch eine Tendenz von zunehmender Apersonalisierung erkennen, indem sie, über die geliebte Person zunächst nur hinauswachsend, in ihrer extremsten Gestalt keiner realen Person mehr bedarf, um sich zu entfalten. Im Vergleich mit dieser höchsten Form der Künstlichkeit der Liebe zeichnet sich der Kontrast zum Konzept der ehelichen Liebe am deutlichsten ab. Gegen die Entrealisierung und Entwertung der Wirklichkeit in der Illusion, gegen ein Begehren, das sich primär aus der faktischen Absenz des geliebten Objekts und aus seiner eigenen Unerfulltheit nährt111, gegen eine Form von Präferenz, die mit der Fiktionalisierung der Person erkauft ist und gegen eine Form der Liebe, die der Introversion entspringt, dem Rückzug aus der Realität zugunsten einer hypertrophierten idealen Innerlichkeit, kurz: Gegenüber der Welt des Scheins erweist sich die eheliche Liebe als ein gewissermaßen auf die Füße gestelltes Liebesideal. Sie entzündet sich nicht anläßlich des projektiven Bildes des Anderen, sondern bildet sich entlang der Koordinaten der räumlichen Nähe und der zeitlichen Dauer, der faktischen Präsenz und des dauerhaften Umgangs als alltäglich gelebte Intimität heraus.112 Mit der Eindämmung des imaginären Moments bleibt diese Liebe zwar hinter den gesteigerten Potentialen einer totalen Künstlichkeit zurück, eröffnet aber den Individuen im Gegenzug die Möglichkeit der expansiv-spiegelnden Erfahrung und Entfaltung ihres authentischen Selbstseins. Damit erweist sich diese Form der Liebe als „natürlicher", näher an der Beziehungsform der Freundschaft angesiedelt, die grundsätzlich unberührt bleibt von den Vermittlungsformen der gesellschaftlichen Beziehungen. Die amour-passion ist aufgrund ihres projektiv-idealisierenden Charakters eingelassen in das Feld der gesellschaftlichen opinion, der kollektiven Wertsetzungen und Idealbildungen, welche die individuelle Vorstellungstätigkeit maßgebend durchherrschen und prägen. Dieser Umstand erhellt die
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duction zu Jean-Jacques Rousseau, Emile or On Education, New York 1979, S. 3-28, hier S. 20ff. Emil, S. 426/ OCPIV, S. 743. Inwiefern sich in der Nouvelle Héloïse auch ein ritterlich-höfisches Liebesideal spiegelt, dazu: John Charvet, The idea oflove in „La nouvelle Héloïse", in: Ralph A. Leigh (Hg.), Rousseau afler Two Hundred Years, a.a.O., S. 133-153. Charvet bezieht sich u.a. auf das für diese Thematik einschlägige Werk von Denis de Rougemont, L'amour et l'occident, Paris 2 1956 (dt.: Die Liebe und das Abendland, Zürich 1986). Rougemont zieht seinerseits Parallelen zwischen der Liebe von Julie und Saint-Preux und dem für die christlich-abendländische amour-passion paradigmatischen Tristanmythos. Vgl. auch: J.-L. Bellenot Les formes de l'amour dans La Nouvelle Héloïse et la symbolique des personnages de Julie et de Saint-Preux, in: Annales de la Société Jean-Jacques Rousseau 33 (1953-1955), S. 149-208. „... zwischen der süßen Gewohnheit, die den Mann an die Frau bindet, und jener wilden Glut, die ihn an den Scheinreizen eines Wesens berauscht, das er gar nicht mehr so sieht, wie es wirklich ist, ist ein großer Unterschied." (Emil, S. 474/ OCP TV, S. 798) Daß affektive Bindung ein Resultat gelebter Nähe ist, wird von Rousseau v.a. im I. Buch des Emile herausgestellt.
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Feststellung Rousseaus im Emile, daß die Freundschaft der Liebe vorangeht113 und verdeutlicht rückblickend, welche Prämissen den Primat der sozialen Beziehungsform der Ehe vor dem gesellschaftlichen Phänomen der Verliebtheit im Zweiten Diskurs begründen. Rousseau läßt seine Romanprotagonistin Julie die entscheidenden Aspekte der ehelichen Liebe mit folgenden Worten zusammenfassen: „Was mich lange Zeit getäuscht hat und Sie vielleicht immer noch täuscht, ist der Gedanke, die Liebe sei notwendig für die glückliche Ehe. Mein Freund, dies ist ein Irrtum; Rechtschaffenheit, Tugend, bestimmte Übereinstimmungen, weniger in Stand und Alter als in Gemütsart und Temperament, sind für zwei Eheleute ausreichend. Dies schließt nicht aus, daß aus dieser Verbindung nicht eine sehr zärtliche Zuneigung entspringt, die, wenn auch nicht gerade Liebe, so deswegen nicht weniger süß und dadurch nur um so dauerhafter ist. Die Liebe ist von einer beständigen Unruhe aus Eifersucht oder Angst vor Verlust begleitet, die der Ehe wenig dienlich ist, welche ein Zustand des friedfertigen Genusses ist. Man heiratet nicht, um einzig und allein aneinander zu denken, sondern um miteinander die Pflichten des bürgerlichen Lebens zu erfüllen, das Haus mit Umsicht zu regieren, seine Kinder richtig zu erziehen. Die Verliebten sehen niemals etwas anderes als sich selbst, sie beschäftigen sich unaufhörlich nur mit sich, und das einzige was sie zu tun wissen, ist, sich zu lieben. Dies ist für Eheleute nicht genug, die so viele andere Aufgaben zu erfüllen haben. Es gibt keine Leidenschaft, die uns in so starkem Maße verblendet als die Liebe. Man hält ihre Heftigkeit für ein Zeichen ihrer Dauer; das von einem so süßen Gefühl überladene Herz dehnt sie sozusagen auf die Zukunft aus, und solange diese Liebe dauert, glaubt man, sie werde nie enden. Allein, es ist im Gegenteil ihre Hitze selbst, die sie verzehrt; sie verbraucht sich mit der Jugend, sie verschwindet mit der Schönheit, sie verlischt unter dem Eise des Alters und seit die Welt steht, hat man niemals zwei Liebende in weißen Haaren füreinander schmachten sehen. Man muß also damit rechnen, daß man früher oder später aufhören wird, einander anzubeten. Wenn dann der Götze, dem man diente zerstört ist, so sieht man sich gegenseitig so, wie man ist. Man sucht mit Erstaunen den Gegenstand den man liebte. Wenn man ihn nicht mehr findet, so ärgert man sich über den, der übriggeblieben ist, und die Einbildungskraft verunstaltet ihn oftmals ebensosehr, als sie ihn zuvor geschmückt hatte." 114
Mit seiner Abgrenzung vom passageren und illusionären Charakter der amour-passion und ihren lebensverneinenden Zügen zeigt das Zitat zugleich an, daß mit Rousseaus Konzept der ehelichen Freundschaft ein Verhältnis anderer Qualität angezielt ist als dasjenige der Freundschaft von Hausmutter und Hausvater im traditionellen Sinne. Nach herkömmlichem christlichen Verständnis stellt sich die eheliche Liebe als ein Verhaltensgebot aufgrund der Eheschließung dar und ist, trotz ihrer z.T. gemüthaften Züge, in ihrem Pflichtcharakter vorrangig auf die sozialen Zwecke der Familie hin ausgerichtet. Für dieses Ehemodell ist die Spaltung von ehelich-keuscher und außerehelichsinnlich-erotischer Liebe konstitutiv: So wenig wie für das Verhältnis von Mann und Frau das Bild der personalen Verschmelzung leitend ist, ebensowenig ist eine Integration des erotischen Elements in die eheliche Liebe gefordert. 113 114
Emil, S. 221/ OCPIV, S. 501. Die neue Heloise, III, 20, S. 388/ OCP II, S. 372.
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Gegenüber dem traditionellen, nüchtern-funktionalen Modell der „wechselseitigen Unterstützung" (mutuum adiutorum) also stellt sich Rousseaus empfindsames Eheideal als der Versuch einer Überwindung des Dualismus von häuslicher Freundschaft und außerehelicher Sinnlichkeit dar, und läßt die Tendenz erkennen, die eheliche Beziehung in eine die „gesamte Person engagierende psychische Disposition"115 zu transformieren.116 Zwei charakteristische Anhaltspunkte fur ein bürgerlich-empfindsames Eheideal lassen sich bei Rousseau ausmachen: zum einen eine Personalisierung des Liebesverhältnisses und zum anderen die moralische Kultivierung der Liebe durch die Erotisierung der ehelichen Liebe. Mit dem Zurücktreten des herrschaftlichen Moments in der Familienstruktur und in dem Maße wie die Ehe nicht länger durch gemeinsame Wirtschaft, sondern durch Liebe konstituiert gedacht wird, wird auch die Komplementarität der Ehegatten weniger in der Ergänzung ihrer Aufgaben und Funktionen als im Zusammenspiel der Kommunikations- und Verhaltensweisen festgemacht.117 Die zärtliche Freundschaft von Mann und Frau besteht primär im Einklang der Gemüter, im „accord des âmes"118. Die dauerhafte seelische Übereinstimmung der Ehepartner stellt sich als die zentrale Anforderung des Eheverhältnisses dar und definiert von daher Bedingungen bezüglich der Partnerwahl und der Gestaltung des Ehealltags. Neben der freien Partnerwahl schafft vor allem das Absehen von ständischen und materiellen Rücksichten die Voraussetzung für eine rein im Gemüthaften verankerte eheliche Verbindung. Diese realisiert sich über den Akt ihrer Stiftung hinaus in der Form einer exklusiven personalen Bezogenheit und als eine sich im beständigen Umgang und gemeinsamer Kommunikation herausbildende Intimität. Damit stellt sich die bürgerliche Familie als Konkurrenzmodell zur adeligen dar, deren einheitsstiftende Momente in der Linie, also im Grundbesitz und im Namen liegen, und die keine durch den gemeinsamen Lebensvollzug gestiftete Identität der Familienmitglieder fordert. Im Zuge dieser Personalisierung und Verinnerlichung des familiären Lebens avanciert der geistige Austausch zur alltäglichen und integrierenden Form des Zusammenlebens der 115 116
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Dieter Schwab, Artikel „Familie", a.a.O., S. 285. Zur Diskussion der Ehezwecke in der Aufklärungsphilosophie und zur Herausbildung des spätaufklärerisch-empfindsamen Konzepts der „ehelichen Freundschaft" in Deutschland und Frankreich vgl. Paul Kluckhohn, Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik, Tübingen 3 1966, S. 140ff. Zum Eheideal der Empfindsamkeit vgl. ibid., S. 192ff.; ferner zum Weiblichkeitsideal der Empfindsamkeit: Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformendes Weiblichen, Frankfurt/M. 1979, S. 150ff.
Dieser Zusammenhang bedingt auch die spezifisch bürgerliche Polarisierung der Geschlechtscharaktere. Vgl. Karin Hausen, Die Polarisierung der „ Geschlechtscharaktere ", a.a.O., S. 182. 118 Die neue Heloise, IE, 18, S. 354/ OCP II, S. 341, auch: ibid., VI, 6, S. 705/ OCP II, S. 670 und Emil, S. 524/ OCP IV, S. 860: „Eine Liebe, die auf Hochachtung gegründet ist, die das ganze Leben überdauert, auf Tugenden, die nicht mit der Schönheit vergehen, auf den Einklang der Charaktere, der den Umgang angenehm macht und den Reiz der ersten Vereinigung bis ins Alter verlängert."
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Familienmitglieder.119 Wegen ihrer Einbettung in die ständische Hausgemeinschaft eignet der Ehe bei Rousseau indes noch nicht die von den sozialen Funktionen der Familie abgelöste völlige Selbstzweckhaftigkeit, wie sie für die späteren romantischen Ehekonzepte charakteristisch ist. 120 4.2.4 Ars amatoria und die Dynamik des Geschlechterverhältnisses Mit der neuen Forderung nach umfänglicher Harmonie der Gatten wird die alte Spaltung zwischen häuslicher Freundschaft und außerehelicher Erotik obsolet. Das Konzept der ehelichen Liebe als einer ganzheitlichen Beziehung fordert geradezu die Integration der moralisch abgewerteten, temporären und außerhäuslichen Intimität. Vor diesem Hintergrund entwickelt Rousseau auf den letzten Seiten des Emile eine ars amatoria für Ehegatten, ein Konzept, die Schwierigkeit zu bemeistern, „das Liebesglück in der Ehe fort[zu]setzen"121. Im Emile haben, anders als in der Nouvelle Helo'ise, die beiden Verliebten gemeinsam den heiklen Übergang vom Imaginären in die Realität, von der amour-passion zur amour de bienveillance, zu leisten. Rousseau schätzt die im Laufe einer Ehe sich entwickelnde partnerschaftliche Bindung, die vor allem durch gemeinsa122 me Kinder verstärkt wird, nicht gering ein. Anders jedoch als z.B. Hegel setzt er das sinnliche Moment der Liebe nicht nur als die Bindung initiierendes Anfangsstadium, bestenfalls als eine Durchgangsphase an, welches, auf ein temporäres Naturmoment herabgestuft123, am substantiellen Sein der Ehe als einem sittlich-geistigem Verhältnis keinen Anteil hat, sondern er unternimmt den Versuch, die Spaltung von Sinnlichkeit und Geistigkeit in einer erotischen Kultur der Gatten zu überwinden - weniger aus offensiver Sinnenbejahung - als vielmehr aus dem Bemühen, Strategien dauerhafter Bindung zu entwickeln, die auf die nachhaltige Befestigung eines Schonraums emotionaler Verläßlichkeit und rückhaltlosen Vertrauens für die Ehepartner zielen. Die von den Zeitgenossen Rousseaus als geschmackliche Entgleisungen unterschätzten Vorschläge für eine erotische Kultivierung der Ehe zielen ins Herz der Angelegenheit: Erste Bedingung für eine gelingende Integration des sinnlichen Begehrens in das eheliche Verhältnis ist die Aufkündigung des Pflichtcharakters der ehelichen Liebe. Rousseau proklamiert: Die Ehe stellt eine „Bindung der Herzen", nicht aber eine „Unterwerfung der Körper"124 dar: „Zwang und Liebe gehen schlecht zusammen und die 119
So Hans Paul Bahrdt, auf den Jürgen Habermas hinweist: Strukturwandel der Öffentlichkeit, a.a.O., S. 110.
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„Aber die Ehe hat keinen Zweck außer ihr selbst; sie ist ihr eigener Zweck." (Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Zweyther Theil oder Angewandtes Naturrecht, in: Ders., Gesamtausgabe, hg. von Reinhart Lauth und Hans Glimitzky, Bd. 1,4, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970,1. Anh.: Familienrecht, § 8, S. 104f.
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Emil, S. 525/ OCPIV, S. 861. Emil, S. 529/ OCP IV, S. 865. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 163. Emil, S. 521/OCP IV, S. 863; vgl. auch Emile und Sophie oder Die Einsamen, S. 653/ OCP IV, S. 889.
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Lust läßt sich nicht befehlen."125 Der Vorstoß zur Moralisierung des Eheverhältnisses schlägt sich in der Form einer gleichsam doppelten Vertragsförmigkeit der Ehe nieder. Die Ehe besteht in erster Instanz als der Vertrag, der wechselseitige Rechte und Pflichten fixiert und im einmaligen Akt des Eheschlusses den zeitlichen Bestand des Eheverhältnisses garantiert. In zweiter Instanz wird eine informelle Übereinkunft der Gatten dahingehend getroffen, erworbene Rechte an der Person des anderen nicht geltend zu machen. Besteht der offizielle Ehevertrag in einer wechselseitigen Überschreibung der Rechte, so beläuft sich das inoffizielle wechselseitige Versprechen darauf, daß beide Gatten auf das im Akt der Eheschließung erworbene Recht am Körper des anderen verzichten, was verhindert, daß der Ehevertrag in ein Verhältnis des Zwangs umschlagen kann. Die Befriedigimg des sexuellen Bedürfnisses, sofern der jeweilige Vollzug nicht zum Gewaltakt degradiert werden soll, erfordert beiderseitige Zustimmung. Setzt schon die Befriedigung des sinnlichen Bedürfnisses wechselseitiges Einvernehmen voraus, so ist um so mehr die Möglichkeit der Entfaltung sexuellen Begehrens, sofern dieses Begehren auf das Begehren des anderen zielt, an die Respektierung seines freiwilligen und spontanen Charakters gebunden. Kraft dieser informellen Übereinkunft der Gatten wird der initiale, freie Entschluß zur Ehe in jedem erneuten Akt des Respekts des anderen und in der Anerkennung seiner affektiven Disposition situativ wiederholt und auf diese Weise im Verlauf der Ehe beständig erneuert. Diese, von Rousseau eher beiläufig eingeführte, durch die Verabredung der Gatten selbst erwirkte Aufhebung des Vertragscharakters der Ehe hat - soweit ich sehe - bislang keine Beachtung gefunden. Hier wird jedoch eine Problematik berührt, die in allgemeiner Form die Grundlage von Hegels Kritik an Kants Ehekonzeption bildet. Für Hegel zeugt es von einem „rohen"126 Verständnis der Ehe, das Verhältnis der Gatten auf ein bloßes Rechtsverhältnis zu reduzieren. Zwar wird auch für Hegel die Ehe durch einen förmlichen Vertragsschluß gestiftet, aber das Moment der Innerlichkeit und Innigkeit, welches für die Ehe als „Vereinigung der Liebe"127 konstitutiv ist, kann mit kontraktualistischen Parametern nicht angemessen erfaßt werden. In einem Vertragsverhältnis beziehen sich die Individuen nur äußerlich aufeinander: Die Gatten stehen 128 sich je als „in ihrer Einzelheit selbständige [...] Persönlichkeit" gegenüber und erheben wechselseitig Ansprüche, so daß „die Ehe zur Form eines gegenseitigen vertragsmäßigen Gebrauchs herabgewürdigt"129 wird; dagegen ist in der Ehe als sittlicher Verbindung die Einzelheit in eine Gemeinschaft von „gegenseitiger Liebe und Beihilfe"130 125
Emil, S. 526/ OCPIV, S. 862. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 161 Zusatz; vgl. auch § 75: Hier spricht Hegel von der „Schändlichkeit" der Subsumtion der Ehe „unter den Begriff vom Vertrag". 127 Ibid., § 162. 128 Ibid., § 163. 129 Ibid., § 161. 130 Ibid., § 164. 126
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aufgehoben. Es kennzeichnet das Wesen der ehelichen Verbindung, daß die miteinander verbundenen Subjekte sich nicht nur als Rechtssubjekte anerkennen, sondern die positive Übereinstimmung der Gefühle zur Basis der ehelichen Gemeinschaft als Liebesgemeinschaft machen, womit auch die wechselseitige Anerkennung der Ehepartner in ihrer individuellen Bedürfnisnatur gewährleistet ist.131 Anders jedoch als die in das jeweilige Rechtssystem integrierten Ehedefinitionen der philosophischen Klassiker gehört Rousseaus Ehekonzeption in das Bildungsprogramm des Emile: Rousseaus Interesse zielt auf Verläßlichkeit und Tragfähigkeit der ehelichen Verbindung, die das Kernelement im gesellschaftlichen Bindungs- und Beziehungsgefüge bildet. Der informelle Rechtsverzicht der Gatten stellt sich als eine Strategie der Bindung dar: Die fragile „Gemeinschaft der Herzen" erweist sich als gefährdet, wenn die Gatten beginnen, sich als Fremde aufeinander zu beziehen, wenn sie z.B. gegeneinander auf Ansprüchen bestehen müssen, um ihr jeweils individuell definiertes (Liebes)Ziel zu erreichen. Zugespitzt ließe sich sagen, daß die geforderte Respektierung der Freiheitssphären und die wechselseitige Anerkennung der individuellen Bedürfnisnatur in Rousseaus Eheideal Mittel zum Zweck darstellen: Ziel ist der Schutz vor den gesellschaftlichen Tendenzen der Atomisierung und der sozialen Erosion; dem dient die dauerhafte Vereinigung der Ehepartner in der Form einer rückhaltlos vertrauensvollen Transparenz und Intimität.132 Der Gedanke des zweiten, informellen Eheversprechens ist allerdings nur unzureichend expliziert, wenn nicht der spezifisch Rousseauschen Färbung dieses Konzeptes, wie sie sich in der asymmetrischen Positionierung der Geschlechter niederschlägt, Rechnung getragen wird. Eingeführt als eine wechselseitige Übereinkunft beider Gatten läuft der informelle Rechtsverzicht letztlich auf eine Unterwerfung des Mannes unter den Willen der Frau in eroticis hinaus, die im Rückgang auf die Tiefenschichten der psychosexuellen Dimension begründet wird. Zur Erinnerung: Emil ist das Haupt der Familie und der Eheherr Sophies; in allen Dingen, die sie gemeinsam betreffen, liegt die Entscheidungsbefugnis bei ihm, darüber hinaus ist das Selbstbestimmungsrecht Sophies in etwa dem eines unmündigen Kindes vergleichbar. Dies stellt indes nur die halbe Wahrheit, die öffentliche Seite des Geschlechterverhältnisses dar; im Gegenzug spricht Rousseau der Frau nicht nur, wie traditionell üblich, die Verwaltung des Hauses als ihre Domäne zu, sondern darüber hinaus auch die Herrschaft im Privaten im Sinne der ehelichen Intimität und Liebe. Die letzte Unterweisung des Erziehers, die er nicht Emil, sondern dessen Gattin zukommen läßt,
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Vgl. auch Axel Honneth, Zwischen Gerechtigkeit und affektiver Bindung. Die Familie im Brennpunkt moralischer Kontroversen, in: Ders., Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2000, S. 193-215. 132 Wie schließlich auch eine ideale Ehe wie die von Emile und Sophie unter dem Druck korrumpierender gesellschaftlicher Verhältnisse zerbricht, beschreibt das Fragment Emile und Sophie oder Die Einsamen.
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lautet: „Um Sie zur Herrin über sein Herz zu machen, wie sein Geschlecht ihn zum Herrn über Ihre Person macht, habe ich Sie zum Schiedsrichter über seine Lüste gemacht."133 Die Ansetzung einer genuin weiblichen Domäne wird in ihrer Relevanz leicht übersehen: Die nicht nur über das V. Buch des Emile verstreuten Vorschläge zum weiblichen Regiment, die kokette und mitunter degradierende Szenerie der weiblichen Listen, Kapricen und Manöver - zumeist als zeitkoloristisches Beiwerk abgetan - verstellen den Blick auf die substantielle Bedeutung, die für Rousseaus mit der Apostrophierung einer eigenständigen weiblichen Machtsphäre verbunden ist. „Die Liebe ist das Reich der Frauen"134: Auf dem Feld der Liebe fixiert die Frau die Regeln, an denen der Mann sein Verhalten und Handeln auszurichten hat. Rousseau stellt die Parallelität und Gleichrangigkeit dieses weiblichen Einflußbereichs mit der männlich dominierten politisch-öffentlichen Sphäre pointiert heraus: Es sind die Frauen, „die dort das Gesetz geben", dessen Mißachtung die Männer „nur um den Preis ihrer Freiheit"135 riskieren können. Analog zur Freiheit unter dem bürgerlichen Gesetz gewährleistet das von den Frauen exekutierte Gesetz in der Sphäre der Intimität und Privatheit wohlgeordnete Freiheit im Sinne eines geregelten Genusses geschlechtlicher Möglichkeiten, in dessen Rahmen die Gefahren von Abhängigkeit und Ruin gebannt sind. Die Voraussetzungen für die Asymmetrie des Geschlechterverhältnisses, die sich bis zu einer umfassenden Geschlechtersegregation entlang der Sphären des Privaten und des Öffentlichen ausdifferenziert, liegen in Rousseaus Vorstellungen zur Dynamik der Sexualität. Im Naturzustand ist auch die menschliche Sexualität nicht mehr als die Manifestation des biologischen Zeugungstriebs; sofern der Mensch jedoch als ein Kulturwesen existiert, kommt der Sexualität die Form eines psychophysischen Erregungspotentials zu: Sexuelles Begehren entsteht erst aus einer Wechselwirkung von Hemmung und Drang. Die sexuelle Rollenverteilung kennzeichnet Rousseau mit den Begriffen von Angriff und Widerstand, bzw. Verteidigung; er bedient sich nicht, wie es später in bürgerlichen Geschlechtertheorien, so z.B. bei Fichte, Freud und noch bei Beauvoir gängig ist, der Kategorien von männlicher Aktivität und weiblicher Passivität. Für Rousseau ist vielmehr die Dynamik des sexuellen Begehrens in der weiblichen Scham begründet, welche gerade nicht als weibliche Passivität, sondern als ein aktiver Widerstand gedacht wird, dem zugleich noch das initiierende Moment im sexuellen Geschehen zukommt, insofern die Scham das männliche Verlangen „entflammt [...], indem sie es hemmt" 136 . Dabei ist allerdings nicht zu übersehen, daß die Frau mit der 133
Emil, S. 529/ OCPIV, S. 865. Brief an d'Alembert, S. 380/ OCP V, S. 43. 135 Ibid. 136 Brief an d'Alembert, S. 419/ OCP V, S. 77. Sigmund Freud hat es später folgendermaßen gefaßt: „Es ist leicht festzustellen, daß der psychische Wert des Liebesbedürfhisses sofort sinkt, sobald ihm die Befriedigung bequem gemacht wird. Es bedarf eines Hindernisses, um die Libido in die Höhe zu treiben, und wo die natürlichen Widerstände gegen die Befriedigung nicht ausreichen, haben die Menschen zu allen Zeiten konventionelle eingeschaltet, um die Liebe genießen zu können." (Sig-
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Scham zunächst ihre eigenen spontanen Triebregungen gehemmt hat, wenn sie in ihrem schamhaften widerstrebenden Verhalten gleichsam projektiv das männliche Begehren vorwegnimmt und es damit allererst erweckt. Der Scham als ausschließlich weiblichem Verhaltensmuster und -gebot gebührt so die zentrale Funktion in der Dynamik des Geschlechtslebens. Im Streit der Aufklärer um die Natürlichkeit der Scham bezieht Rousseau weder die Position, die deren biologische Naturwüchsigkeit behauptet, noch die entgegengesetzte, die in der weiblichen Zurückhaltung nur einen sexuell-repressiven Verhaltenskodex sieht.137 Für Rousseau fungiert die weibliche Scham als der Ersatz dessen, was nie Ausstattung des Menschen war: des Instinkts. Animalisches Paarungsverhalten folgt instinktverankerten Mustern; diese steuern die periodische Aktualisierung des Fortpflanzungstriebes und begrenzen ihn so auf ein am Erhalt der Gattung orientiertes Maß. Die menschliche Sexualität hingegen muß aufgrund ihrer Instinktentbundenheit anderen Formen von Regulierung unterworfen werden. Im Wechselspiel der Kräfte von Hemmung und Drang kommt der Hemmung die Funktion zu, das auf Permanenz gestellte Erregungspotential des Menschen ineins zu aktualisieren und zu begrenzen. Die weibliche Scham verschafft somit der menschlichen Sexualität, die ein Faktum der Zivilisation ist, ihre eigene naturanaloge Regulierung.138 Damit ist aber noch nicht zureichend erklärt, warum „nach der Ordnung der Natur" die Scham als Widerstand und Instinktersatz exklusiv auf der Seite der Frau angesiedelt ist.139 Das Fundament, gleichsam das Urgestein der Geschlechterkonzeption Rousseaus, mund Freud, Über die allgemeine Erniedrigung des Liebeslebens, in: Ders., Studienausgabe Bd. V: Sexualleben, Frankfurt/M. 1972, S. 197-209, hier: S. 207) 137 Vgl. auch Die neue Héloïse, I, 46, S. 127/ OCP II, S. 128; Lettres morales, V, OCPIV, S. 1110; Emil, S. 216f./ OCP IV, S. 497f. Zur Übereinstimmung Rousseaus mit Montesquieu vgl. Vom Geist der Gesetze, Buch XVI, Kap. XII. Ein bekanntes Beispiel für die zeitgenössische Diskussion über repressive Sexualmoral und sexuelle Freizügigkeit, über Konvention versus Natur, angestoßen durch Reiseberichte und die Schilderungen der freizügigen Sitten der Völker Polynesiens stellt Diderots Supplément au Bougainville dar. (Denis Diderot, Nachtrag zu „Bougainvilles Reise" oder Gespräch zwischen A. und B. über die Unsitte, moralische Ideen an gewisse physische Handlungen zu knüpfen, zu denen sie nicht passen. Mit einem Nachwort von Herbert Dieckmann, Frankfurt/M. 1965.) D'Alembert selbst antwortet auf Rousseau mit der Bekräftigung der „philosophischen" Position, welche dieser zu widerlegen getrachtet hatte: „Je me bornerai donc à convenir que la société et les loix ont rendu la pudeur nécessaire aux femmes." (Jean Le Rond d'Alembert, Lettre à M. Rousseau, Amsterdam, 1759, S. 136-137) David Hume hat in seinem Traktat über die menschliche Natur von 1739/40 das weibliche Schamgefühl ohne Zögern unter die künstlichen Tugenden eingereiht, es handelt sich um eine wohlbegründete Konvention zur Sicherung der legitimen Vaterschaft und damit zur Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung. (David Hume, A Treatise on Human Nature, hg. von David Fate Norton und Mary J. Norton, Oxford 2000, Book m, Part 2, Sect. 12: Ofchastity andmodesty) 138 „In Wahrheit kontrollieren im Schamgefühl, diesem gesellschaftlichen Destillat, die natürliche Weisheit und die Ökonomie des Lebens die Kultur durch die Kultur." (Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 306f.) 139 Zur Rolle der Scham in der Bestimmung der Weiblichkeit bei Rousseau vgl. auch: Christine Garbe, Die .weibliche'List im .männlichen' Text, Stuttgart, Weimar 1992, S. 76-114.
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stellt die asymmetrische Verteilung der sexuellen Potenz zwischen Mann und Frau dar.140 Grundsätzlich ist festzuhalten, daß Rousseau den Unterschied der Geschlechter im fundamental neuartigen Zuschnitt einer Geschlechterkomplementarität begründet. Mann und Frau sind einerseits gleich, insofern sie Menschen sind, und andererseits verschieden, insofern sie als Mann und Frau existieren.141 Dieser Geschlechtsunterschied ist nicht lokalisierbar in dem Sinne, daß er auf die Physis zu beschränken wäre, so Piatons Argumentation in der Politeia, oder daß er - dies die aristotelische Variante im Unterschied des rationalen Seelenvermögens bestünde, die geschlechtliche Verschiedenheit erstreckt sich vielmehr auf die Gesamtheit der Person. Der Mensch existiert grundsätzlich in zwei unterschiedlichen Weisen: nämlich als Mann oder als Frau. Die Begründung aus der Natur, die Rousseau anstrengt, ist nichts weniger als ein platter Biologismus, er leitet die Geschlechtsidentitäten nicht aus der Physiologie der geschlechtlich differenzierten Körper her, sondern er entwickelt sie aus der „Natur" des Verhältnisses von Mann und Frau als im wechselseitigen Begehren definierte Geschlechtswesen. Die Matrix des Geschlechterverhältnisses ist für Rousseau in der Dynamik der menschlichen Sexualität grundgelegt: Die sexuelle Potenz des Mannes ist fragil, insofern als Wollen und Können, sein Begehren und seine sexuelle Potenz, nicht immer und nicht notwendig übereinstimmen. Dagegen ist die weibliche Begierde unbegrenzt; weil die Frau den sexuellen Akt immer vollziehen kann, wird in fragwürdiger Weise auf ihre „unbegrenzten Begierden"142 geschlossen. Aus dieser fundamentalen Asymmetrie im Sexuellen folgen gleichsam auf natürliche Weise alle weiteren Ausdifferenzierungen der Geschlechtsnaturen. Denn räumte man beiden Geschlechtern gleichermaßen die Möglichkeit zur unverstellten sexuellen Initiative ein, würden aufgrund der ungleichgewichtigen Voraussetzungen „Können und Wollen nie übereinstimmen und die Begierden nie einander entsprechen"143. In ihrer doppelten Funktion korrespondiert die Scham als natürliche Tugend der Frau den natürlichen Voraussetzungen der Geschlechterdifferenz: Sie reguliert die schrankenlose Begierde der Frau und weckt ineins die Begehrenskraft des Mannes. Eine mißgeleitete Befreiung der Frau von den Fesseln einer vermeintlich unaufgeklärten Konvention führt entsprechend der zweifachen Bestimmung der Scham zum Tod, zum Untergang des Menschengeschlechts. Rousseau imaginiert zwei genau besehen inkommensurable Szenarien gesellschaftlicher Auszehrung: zum einen das einer allmählichen Aphanisis144, eines kollektiven fadings der Libido, da „die in ermüdender Freiheit immer schmachtenden Begierden [...] nie erregt [wür-
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Vgl. Brief an d'Alembert, S. 418f./ OCP V, S. 76f. und Emil, S. 387ff./ OCPIV, S. 694ff. Emil, S. 386/ OCP IV, S. 693. 142 Emil, S. 387/ OCP IV, S. 695. 143 Brief an d'Alembert, S. 419/ OCP V, S. 77. 144 Ein von Ernest Jones eingeführter Begriff: das Verschwinden des sexuellen Bedürfnisses. (Ernest Jones, Die erste Entwicklung der weiblichen Sexualität, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 14(1928), S. 11-25).
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den]"145, zum anderen die durch die Befriedigung der maßlosen sexuellen Begierden der Frauen bewirkte völlige Auszehrung des männlichen Geschlechts146 - ein Gemeinplatz vor allem des 18. Jahrhunderts, der sich auch bei Montesquieu und Kant findet. Die Verantwortung für eine ausbalancierte, d.h. naturgemäße Gestaltung der instinktreduzierten geschlechtlichen Verhältnisse beim menschlichen Geschlecht liegt demnach bei der Frau: Ihr obliegt die sexuelle Initiative in einer passiven Form, d.h. sie ist dazu bestimmt, dem Mann zu gefallen, ihn zu erregen, und es kommt ihr die Aufgabe der Begrenzung der geschlechtlichen Triebpotentiale beider Geschlechter zu: Beides kondensiert in der Kultivierung der weiblichen Tugend der Scham. Entsprechend wird die Erziehung der Mädchen zu Frauen darauf abzielen, den Geschlechtscharakter konform mit diesen Anforderungen an die weibliche Natur auszubilden und zu vervollkommnen. Die Frau herrscht demnach auf dem Feld der Liebe und des Sexus „weil die Natur es so will".147 Doch stecken, wie gesagt, die unhintergehbaren Voraussetzungen der Natur müden Rahmen ab für eine in Sitte und Erziehung zu befestigende Ordnung der Geschlechter, welche die Bedingungen für eine moralische Kultivierung der Verkehrsformen zwischen den Geschlechtern liefert. Darin zeigt sich „wie uns das Physische unmerklich zum Moralischen führt, und wie aus der rohen Vereinigung der Geschlechter langsam die süßesten Gesetze der Liebe erwachsen".148 Die Frau regiert über den Mann in dem Maße wie sie sich selbst von den Erfordernissen der Scham regieren läßt: „Aber Sie werden über ihn herrschen, wenn sie sich selbst beherrschen können"149, prophezeit der Tutor Sophie. Es ist schließlich in das Vermögen der Gattin gestellt, inwieweit sie mit kalkulierter Sinnenbeherrschung und einem nicht unbeträchtlichen Maß an tugendhafter Koketterie150 die eheliche Liebe als ein sinnlich-geistiges Milieu geteilter Innigkeit und Verbundenheit, als eine dauerhafte erotische Freundschaft151 zu gestalten versteht und damit nicht zuletzt im innersten Kern der Gesellschaft, innerhalb der Ehe, die sozialverträgliche Regulierung der Triebökonomie als ihre Aufgabe übernimmt. Die Maximen des weiblichen Verhaltens gehen aus dem Erfordernis nach Regulierung der Sexualfunktion hervor und sie setzen sich in gleicher Weise fort in Hinblick
145
Brief an d'Alembert, S. 419/ OCP V, S. 77. Emil, S. 387/ OCP IV, S. 695. 147 Emil, S. 389/ OCP IV, S. 697. 148 Ibid. 149 Emil, S. 529/ OCP IV, S. 865. 150 Ibid., S. 418f./ OCP IV, S. 734f. 151 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Die Bekenntnisse, S. 106/ OCP I, S. 104: „Ich wage zu behaupten, daß, wer nur die Liebe kennt, das Süßeste im Leben nicht kennengelernt hat. Ich weiß ein anderes, vielleicht weniger heftiges, aber tausendmal köstlicheres Gefühl, das manchmal mit der Liebe verbunden, oft aber auch von ihr getrennt ist. Dies Gefühl ist nicht etwa nur bloße Freundschaft; es ist wollüstiger, zärtlicher. Ich glaube auch nicht, daß man es für eine Person gleichen Geschlechts empfinden kann; wenigstens war ich Freund, wenn je ein Mensch es war, und empfand es nie bei einem meiner Freunde." 146
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auf die „Folgen der geschlechtlichen Beziehungen"152. Auch die mit der Reproduktion verbundenen Pflichten der Elternschaft liegen nahezu vollständig im Verantwortungsbereich der Frau: zum einen die unmittelbaren Pflichten der Mutterschaft, d.h. die Pflichten von Fürsorge und Aufzucht, darüber hinaus aber trägt sie auf eine mittelbare Weise auch die Verantwortung für die Erfüllung der väterlichen Pflichten. Die Frau hat allein Beglaubigungsfunktion für die legitime Vaterschaft. Dies ist ein Umstand von weitreichender Konsequenz: Denn kann die Frau ihre Kinder unmittelbar als die ihren lieben, der Mann muß sie als die seinen allererst anerkennen können, um sie lieben zu können. Somit gerät die Frau in die Position nach innerer Haltung, äußerem Betragen und gesellschaftlichem Ruf als zuverlässige Garantin der väterlichen Verbundenheit mit seinen Kindern zu fungieren und verbürgt in dieser Stellung allein die Tragfähigkeit des auf Gefühl gegründeten Familienverbandes als ganzen. Weibliche Keuschheit in den Formen von schamhaftem Verhalten und ehelicher Treue, die grundlegenden weiblichen Verhaltensgebote also erweisen sich allein dem oberflächlichen, oder dem allzu aufgeklärten Blick als Forderungen einer repressiven gesellschaftlichen Sexualmoral, bei näherem Hinsehen erkennt man in ihnen „natürliche Institutionen/ institutions naturelles": jene paradoxen Einrichtungen, welche, zwar menschengemacht, aber den Vorgaben der Natur folgend, die Regulierung des Geschlechtstriebs und die Ordnung des Geschlechterverbandes betreffen und als normative Vorgaben für die Vernunft fungieren; nichts „Künstliches" also, wie die Philosophen glauben, „sondern Anordnungen der Natur ... woraus sich alle anderen Arten sittlicher Unterscheidung sehr wohl herleiten lassen" 153 .
4.3 Die intime Gemeinschaft als Enklave von Authentizität Für Rousseau ist die Familie grundlegend durch ihren vorgesellschaftlichen Charakter charakterisiert. Dieser konnte unter zwei Rücksichten bestimmt werden: zum einen mit Bezug auf den Zweiten Diskurs, wo die Positionierung der Familie innerhalb der Naturgeschichte der Vergesellschaftung sie als diejenige Sozialgestalt ausweist, die als eine erste Form von Gemeinschaftsbildung den Entstehungsbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft noch vorausliegt. Zum anderen durch die Einordnung des familiären Vergemeinschaftungsprinzips der Freundschaft in das Schema der Genese sozialer Gefühle, wobei diese sich ihrer Form nach als expansive Selbstliebe erweist, die entwicklungsgeschichtlich vor der gesellschaftlich bedingten Deformation des amour de soi zum amourpropre anzusetzen ist. Diese aus dem geschichtsphilosophischen und dem entwicklungspsychologischen Kontext gewonnenen Zuschreibungen stellen die qualitativen Voraussetzungen dafür 152 153
Ibid. Die neue Héloïse, Teil I, Brief XLVI, S. 127/ OCP II, S. 128; vgl. auch Jean-Iacques Rousseau, Lettres morales, V, OCP IV, S. 1110; Emil, S. 216f./ OCP IV, S. 497f.
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dar, daß die Familie von Rousseau im Weiteren als gegengesellschaftliche Größe veranschlagt werden kann. Die Familie liegt historisch vor, bzw. strukturell betrachtet, außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Sofern man, wie von Rousseau vorgesehen, für diese Gemeinschaftsform durch geeignete ordnungspolitische Maßnahmen erneut Verwirklichungschancen bereitstellt, werden sich ursprünglichere Kommunikations- und Interaktionsformen regenerieren. Damit wird eine Daseinsform wiederbelebt, die dem natürlichen Wesen des Menschen näher ist als diejenige, die zu adaptieren er sich durch den realen Verlauf der Geschichte gezwungen sieht. Auf diese Weise kann die Familie in der Form der intimen Gemeinschaft und unentfremdeter Existenz als ein Entfaltungsraum authentischen Selbstseins zum Gegenentwurf der komparativen Existenz innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft avancieren. Angesichts der Bestrebungen Rousseaus, die für die Moderne charakteristische Trennung der Sphären von bürgerlicher Gesellschaft und Staat durch eine „Famiiiarisierung" der bürgerlichen Gesellschaft zu unterlaufen, ist die Familie als eine Gestalt wahrhafter Humanität demzufolge gerade nicht als die intime Binnensphäre der bürgerlichen Gesellschaft anzusetzen, wie die bürgerliche Gesellschaft es ihrem eigenen Selbstverständnis nach vorsieht. Bei Rousseau bilden republikanische Öffentlichkeit und häusliche Privatsphäre die Pole bürgerlicher Authentizität, auf die hin die durch ihre innere Widersprüchlichkeit gekennzeichnete bourgeoise Existenz entzerrt werden muß. Die Familie als Dimension von Wohlwollen und Intimität eröffnet einen Raum für die Entfaltung authentischen Selbstseins und unverzerrter Kommunikation und stellt so die in der Sphäre der Privatheit realisierbare Möglichkeit versöhnter Existenz im Sozialen dar. In der Existenzform des männlichen Bürgers, des citoyen, laufen Intimität und freies Bürgersein zu einer integralen Lebensform zusammen, die Rousseau als Alternative zu den diagnostizierten existentiellen Verzerrungen der bürgerlichen Gesellschaft ins Feld führt. Die von klassischen Rousseau-Interpreten wie z.B. Derathe, Burgelin und Groethuysen vertretene und gängige Ansicht, daß Rousseau alternierend zwei inkompatible Existenzideale propagiert: den Rückzug aus der Stadt in der Form der abgeschiedenen, unpolitischen Privatexistenz einerseits, und das Leitbild des durchpolitisierten Patrioten andererseits, resultiert aus einer unvermittelten Gegenüberstellung von Emile und Contrat Social von homme naturel und citoyen. Bei dieser Betrachtungsart wird jedoch übersehen, daß einerseits Emile zum Familienvater erzogen wird, und daß andererseits die vertragsschließenden Parteien des Gesellschaftsvertrags Hausvorstände sind. Geht man indes davon aus, daß Rousseaus politische Gesellschaft ein freier Verband selbständiger Familien ist, die zu einem Bürgerbund zusammengefaßt sind, dann läßt sich dieses Modell als Versuch verstehen, Moderne und Antike zu versöhnen, also die Spaltung von unpolitischer Privatheit und antiker Polissittlichkeit durch ihre Reintegration in einer neuen Kultur von demokratischer Bürgerlichkeit zu überwinden. Nicht zuletzt Rousseau selbst hat jedoch mit einigen Äußerungen dem Eindruck Vorschub geleistet, daß die Realisationsmöglichkeiten dieses integralen Konzepts als gering ein-
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zuschätzen sind.154 Gegenüber diesem gelegentlichen Defätismus Rousseaus muß aber die ihn maßgeblich leitende sozialreformerische Intention festgehalten werden, die häuslich-intime Kultur als Gegenmodell zur gesellschaftlichen Wirklichkeit so konzipieren, daß diese ä la longue eine bis auf die Ebene der politische Organisation durchschlagende Regeneration der gesellschaftlichen Verhältnisse und d.h. eine Restituierung von rechtverstandener Bürgerlichkeit unter den Bedingungen des neuzeitlichen Individualismus einleitet. Das Grundproblem, durch welches nach Rousseau die Lebensform des Bourgeois, des Defizienzmodus von Bürgerlichkeit, zu einer deformierten Existenzweise herabstuft wird, besteht darin, daß dieser unweigerlich, d.h. durch die Umstände seiner bürgerlichen Existenz, in Widerspruch mit sich selbst gerät. Angesichts dieser Widersprüchlichkeit, wie sie strukturell in die Verhältnisse selbst eingelassen ist, wendet Rousseau sich nicht moralisierend an das Individuum mit der Aufforderung, seine eigentlichen Existenzmöglichkeiten zu ergreifen, sondern er operiert als ein moderner Gesellschaftskritiker, der die gesellschaftlichen Widersprüche analysiert, um so die Möglichkeit ihrer Überwindung aufzuzeigen. In der Vorrede zu „Narcisse" zeigt Rousseau die Kosten auf, die entstehen, wenn Gesellschaftlichkeit allein als Ensemble der individuellen Egoismen verstanden wird. Rousseau macht Verlusterfahrungen geltend angesichts eines Modells, in welchem wechselseitige Kooperation aus der Verfolgung des Selbstinteresses hervorgeht, die Steigerung der Selbstsucht die Steigerung des Kommerzes erwarten läßt, und in welchem schließlich nach der utilitaristischen Selbstauslegung der bürgerlichen Gesellschaft die Verfolgung des privaten Vorteils den Nutzen aller zur Folge hat.155 Für die Motive seiner Kritik lassen sich antike Vorbilder ausmachen. Schon für Piaton ist ein geglücktes Leben in einer Polis, die vom Geist konkurrierenden Erwerbsstrebens durchtränkt ist, nicht mehr möglich. Eine ungehemmte Entfaltung antagonistischer Interessenlagen fuhrt zur Entzweiung der Gemeinschaft und zur Zerstörung der Tugend der Bürger156. Doch die Stoßrichtung der Kritik Rousseaus ist unverkennbar modern: In einer Gesellschaft, in welcher Interaktion und wechselseitige Dependenz ausschließlich aus der selbstzentrierten Interessenverfolgung der Einzelnen hervorgehen, reichen die Verlusterfahrungen in die existentielle Dimension des Individuums hinein. Sie betreffen den Einzelnen selbst und seine sozialen Beziehungen und bedingen und verstärken sich
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Versteht man den Contrat Social als Abgesang auf eine unwiederbringlich vergangene politische Wirklichkeit, dann bleiben nur noch Enklaven privater Existenz- und Glücksmöglichkeiten inmitten depravierter Verhältnisse. Eine äußerst kritische Einschätzung der „modemitätsfeindlichen Unzeitgemäßheit" von Rousseaus politischer Theorie hat jüngst Wolfgang Kersting geliefert: Wolfgang Kersting, Jean-Jacques Rousseaus „ Gesellschaftsvertrag", a.a.O. 155 Jean-Jacques Rousseau, Vorrede zu „Narcisse", in: Schriften, a.a.O., Bd. 1, S. 145-164, hier: S. 156ff./ Preface ä Narcisse, OCP II, S. 968ff. 156 Piaton, Gesetze, 679a ff., 705a, 743e.
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wechselseitig: Die Unmöglichkeit unverstellter Beziehung zu anderen zieht die Einbuße eines authentischen Selbstbezugs nach sich et vice versa. Mit der Diagnose einer für die Sozialbeziehungen der bürgerlichen Gesellschaft konstitutiven Hypokrisie bekommt die Entfremdungskritik Rousseaus prägnantere Kontur und erweist sich als weniger exzentrisch, als oftmals unterstellt. Wenn Rousseau die Gefahrdung authentischen Selbstseins beschwört, dann kritisiert er nicht Gesellschaftlichkeit an sich, sondern die Gesellschaftsform der bürgerlichen Konkurrenz, weil sie soziale Spaltung und psychische Desintegration bewirkt. Dabei ist das in jeder Form von sozialer Beziehung angelegte prekäre Problem des Selbstseins im Banne des Anderen zu unterscheiden von dem, worum es Rousseau in seiner Gesellschaftskritik letztlich geht, nämlich der Spaltung von Sein und Schein, wie sie konstitutiv für die Lebensform des Bourgeois ist.157 Für einen strategisch agierenden egoistischen Nutzenmaximierer, der von anderen abhängig ist, ist es schädlich, das zu sein, was nützlich ist zu scheinen: nämlich moralisch gut. Dem liegt die Einsicht zugrunde, daß, kurz gesagt, rein strategisch operierende Interaktion nur dann erfolgreich ist, wenn sie das ihr zugrundeliegende Motiv wirksam verschleiern kann. Die Gründe dafür, daß Rousseau in der zum Habitus verfestigten Heuchelei die Manifestation der Widersprüchlichkeit der bourgeoisen Existenz erkennen kann, liegen auf zwei Ebenen. Die erste betrifft das Selbstbild des Bürgers als des Vertreters einer Klasse, die ihre gesellschaftlich-moralische Positionierung durch den entlarvenden Kampf gegen die feudale Hypokrisie und die christliche Bigotterie anstrebt und deren Selbstverständnis sich programmatisch auf das unmaskierte Eigeninteresse im allgemeinen Daseinskampf gründet. Im Zuge dieser Selbstzuschreibung avancieren Freimütigkeit und Rechtschaffenheit zu zentralen bürgerlichen Tugenden.158 Zeigt sich aber, daß der Bourgeois nicht anders überleben kann als mit den Mitteln der Verstellung, dann gerät er in einen Selbstwiderspruch. Bürgerliche Heuchelei stellt sich nicht mehr als lasterhafter Defizienzmodus moralischer Ideale dar, der dort als Phänomen auftritt, wo anspruchsvolle Verhaltenscodices das Individuum überfordern, sondern eine Ver157
Zum l'homme double vgl Emil, S. 13f./ OCP IV, S. 249ff. Vgl. Robert Dérathé, L'homme selon Rousseau, a.a.O.; zum Folgenden vgl.: Arthur M. Melzer, Rousseau and the Problem of Bourgeois Society, in: The American Political Science Review 74 (1980), S. 1019-1033 und ders., Rousseau and the Modern Cult of Sincerity, in: Clifford Orwin/ Nathan Tarcov (Hg.), The Legacy of Rousseau, Chicago 1997, S. 274-296. 158 Gewissermaßen kann das Ensemble der spezifisch bürgerlichen Tugenden: Verläßlichkeit, Berechenbarkeit und Ehrlichkeit, aus dem sich die Reputation des Bürgers formt, als Machtmittel angesehen werden: „Success almost always depends upon the favor and good opinion of their neighbors and equals; and without a tolerable regular conduct, these can very seldom be obtained. The good old proverb, therefore, that honesty is the best policy, holds, in such situations, almost always perfectly true." (Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments, Indianapolis 1969, S. 128.) Der Unterschied zwischen der Ehrlichkeit des Bürgers aus Langzeitkalkül und einer authentischen Existenz als Ideal der Selbstverwirklichung liegt auf der Hand.
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fehlung der Existenz als ganzer: Der Bourgeois entwirft sich auf ein Ideal hin, das er nicht nur situativ verfehlt, sondern notwendigerweise gezwungen ist zu hintertreiben. Rousseaus scharfe Verurteilung der habituellen Heuchelei der kompetitiven Besitzindividualisten erweist sich aber erst in zweiter Instanz mit Bezug auf sein Existenzideal als ausreichend begründet. Die Gestalt des gelingenden Lebens, wie sie Rousseau in der Forderung nach Selbstverwirklichung anvisiert, ist in traditionellen Modellen nicht vorgeprägt: weder antik noch christlich, wird ihr weder die Gestalt des Bürgers oder des Weisen, noch die des Frommen oder Heiligen gerecht, es geht allein um die Verwirklichung des emphatisch erlebten und empfundenen individuellen Selbst. Vor diesem Hintergrund scheint Rousseau nahezulegen, daß der Bourgeois in dem Maße, als er zu einer permanenten Aufspaltung von Schein und Sein, Reden und Handeln gezwungen ist, den Verlust seiner Identität erleidet: Ein Schauspieler, dem jenseits seiner Rollen nichts verbleibt. Allan Bloom hat die innere Widersprüchlichkeit des Bourgeois treffend auf den Begriff gebracht: Dieser ist ein Mensch, der in Beziehung mit anderen nur an sich denkt, und zugleich in Beziehung auf sich selbst nur an die anderen denkt.159 Doppelt dezentriert, weder je bei sich noch je bei den anderen, kann der Bourgeois keinen wirklichen Selbststand entwickeln, er ist zerrieben zu einem „Nichts".160 Es liegt in der Tradition der französischen Moralisten, als eine Bewältigungsstrategie für dieses Problem den Rückzug in die Innerlichkeit und die Ausbildung von Methoden penibler Selbsterforschung zu propagieren. Auch bei Rousseau läßt sich die Neigung feststellen, die bürgerlichen Subjekte auf einen Umgang mit sich selbst verpflichten zu wollen, aus dem sie, wie Melzer bemerkt, „more withdrawn, inward, intimate, self-absorbed and introspective" 161 hervorgehen. Den Weg der Introversion einzuschlagen, heißt allerdings, die Lösung eines gesellschaftlich induzierten Problems ausschließlich der individuellen Sorge um das Selbst zu überantworten. Im Unterschied zu diesem Weg bindet Rousseau die Problematik der Selbstverwirklichung verstärkt an das Zusammenspiel von Constitution und condition, an das Bedingungsverhältnis von Individuum und sozialer Mitwelt. Vor diesem Hintergrund ließe sich Blooms Apercu über die existentielle Nichtigkeit der entfremdeten Existenz auf den Begriff des „falschen Selbst" 162 bringen; ein solches Selbst ist ein deriviertes und deshalb entfremdet in seinem Selbsterleben, weil dieses aus der Adaptation an defor159
Allan Bloom, Introduction zu Emile or Ort Education, a.a.O., S. 5. Emil, S. 13/ OCPIV, S. 250. 161 Arthur M. Melzer, Rousseau and the Modem Cult ofSincerity, a.a.O., S. 289. Vgl. z.B. Rousseaus Lettres morales an Sophie d'Houdetot (OCP IV, S. 1081-1118). 162 „Der Mann von Welt verbirgt sich ganz hinter seiner Maske. Da er fast niemals zu sich kommt, ist er sich immer fremd [...] Was er ist, ist nichts; was er scheint, ist ihm alles." (Emil, S. 232/ OCP IV, S. 515) Im exakten Verwendungssinn des psychoanalytischen Theoriekontextes bedeutet der von D. W. Winnicott geprägte Begriff des „falschen Selbst" eine frühkindliche Reaktionsbildung auf massive Störungen in den reifungsfordernden Mitweltbedingungen.
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mierende Bedingungen herauswächst und sich subjektiv als die Empfindung des „Nichts", als ein Gefühl der Leere und des Unwirklichseins spürbar macht. Entsprechend ließe sich die Fülle des authentischen Selbstbezugs, welche Rousseau der bourgeoisen Scheinexistenz entgegensetzt, ebenfalls nur in einem Austauschprozeß zwischen der individuell-psychischen Innensphäre und der sozialen Umwelt, über einen genuines Selbstsein stiftenden Kontakt mit anderen gewinnen. Darin ist der Gedanke impliziert, daß nicht allein schon der monologisch-introspektive Rückzug aus depravierten sozialen Verhältnissen die Restitution eines integralen Selbst leisten kann, sondern daß es hierfür vielmehr fördernder Zusammenhänge der intersubjektiven Kommunikation und Interaktion bedarf. Selbstverwirklichung wäre so innerlich verkoppelt mit dem Kontakt zu einer inter subjektiven Realität, die nicht nur auf den Bezirk der eigenen und der fremden instrumenteilen Zwecksetzung beschränkt bleibt und dadurch das Subjekt agierend und reagierend allein dem Modus kontrollierender und manipulierender Interaktionsformen überantwortet. Dieser Gedanke läßt sich bei Rousseau dahingehend rekonstruieren, daß sein Ideal des authentischen Selbstseinkönnens an zwei Verwirklichungsbedingungen geknüpft ist: an die Identität als Beisichseinkönnen, an das être en soi,163 und an die Expansion, als Beisichsein im ande164 ren. Gemäß Rousseau hat derjenige „am meisten gelebt, der das Leben am meisten verspürt hat"165. Der sentiment de l'existence bezeichnet zum einen die in anti-cartesianischer Weise gefaßte basale Selbstbeziehung des Subjekts, das sich im Gefühl seiner selbst gewiß ist, und zum anderen unter existentieller Rücksicht einen Zustand von affektiver Intensität und Gehobenheit: In diesem Sinne ist das Daseinsgefühl immer auch Daseinsgenuß, gefühlte Fülle der Existenz und eine Erfülltheit des Daseins, die nicht am Ende der Lebenszeit bilanziert wird, sondern in die Augenblicke des Lebens eingelassen ist. Dieses gesteigerte Gefühl des Selbstseins stellt sich für Rousseau unter der Bedingung der Identität mit sich selbst ein. Diese Identität des Selbst ist mit den Mitteln der Reflexionslogik nicht adäquat auszudrücken; sie besteht nicht in der reflexiven Form der reinen Ich-Identität, gemeint ist nicht, daß das Selbst seine Einheit in dem Versuch, das Selbst in der Differenz von reflektierendem Ich und dem Ich als Objekt der Reflexion aufrechtzuerhalten, fixieren könnte, noch ist die Identität präreflexiv zu fassen im Sinne einer punktuellen reinen Empfindung. L'être en soi stellt eine Form des unmittelbaren Bezuges dar, den das Selbst zu sich selbst unterhält, welcher, selbst kein Gefühl, eine bestimmte psychische Grundverfassung bezeichnet, die im Rückgriff auf Beschreibungsmuster der modernen 163
„La suprême jouissance est dans le contentement de soi-même." (Emil, S. 294/ OCP IV, S. 587) Vgl. auch Ronald Grimsley, Rousseau and the Problem of Happiness, in: Maurice Cranston (Hg.), Hobbes and Rousseau: A Collection of Critical Essays, Garden City NY 1972, S. 4 3 7 461.
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Vgl. auch Arthur M. Melzer, Rousseau and the Problem of Bourgeois Society, a.a.O. Emil, S. 15f./ OCP IV, S. 253.
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Psychologie ganz allgemein als ein Zustand bezeichnet werden kann, in dem das Ich in Kontakt mit sich und den eigenen Gefühlen ist. Darin ist impliziert: die Authentizität der Empfindung, das Gewahrsein einer inneren Kohärenz und der Autorschaft von Handlungen im Gegensatz zu Zuständen der affektiven Entleerung, der Depersonalisierung und Gefühlen der Unwirklichkeit. Darüber hinaus erschließt sich aus Rousseaus Verurteilung des être hors de lui-même als eines rast- und besinnungslosen Getriebenseins indirekt noch eine weitere Komponente: Im Modus des Beisichseins ist grundlegend die Fähigkeit des Beisichseinkönnens impliziert im Sinne des Vermögens eines in sich beruhigten Fürsichseinkönnens, welches bewirkt, daß das Subjekt sich den zentrifugalen Kräften der gesellschaftlichen Zerstreuung nicht nur nicht überläßt, sondern nicht überlassen muß. Mit einer so verstandenen Arrondierung des Selbst ist der eine Pol einer intrasubjektiven Spannung bezeichnet, deren entgegengesetzter Pol die Fähigkeit zur entgrenzenden Verschmelzung mit dem anderen ist. Der sentiment de l'existence166 ist in gleichem Maße selbstbezüglich und introvertiert, wie er auf der anderen Seite mitfühlend und expansiv ist: Die Erfülltheit des Daseins wird für Rousseau dann erlebbar, wenn es dem Individuum, mit den Worten Starobinskis, gelingt, „sich zu eigen zu haben und sich zu enteignen"167. Sich verlieren, um sich zu gewinnen et vice versa: In dieser Dynamik manifestiert sich die grundlegende Spannung der menschlichen Existenz, die sich in der Bewegung eines lebendigen weitgespannten Pulsierens Gestalt gibt. Die Seele lebt im Wechsel von Konzentration und Ausdehnung, von Kontraktion und Entspannung, ein Wechsel, der sich intrapsychisch in der Verflechtung der Zeithorizonte im Augenblick manifestiert, extrapsychisch in einer kosmologischen Ein- und Entgrenzung von Welt und Ich168 und schließlich interpsychisch als das Begehren des Selbst, sich auf Andere hin auszudehnen: sei es im Modus der Einfühlung, die die innere Welt des Anderen er166
Hierzu v.a. Emil, IV. Buch und Gespräche, II. Der sentiment de l'existence hat in der literarischen Form der 5. Promenade der Träumereien eines einsamen Spaziergängers seinen sprechendsten Ausdruck gefunden. In diesem letzten Werk Rousseaus dominiert die resignative Grundstimmung des Rückzugs auf das einsame Selbsterleben. Dennoch läßt sich der sentiment de l'existence nicht auf eine durch biographische Umstände bedingte Altershaltung Rousseaus beschränken, auch nicht generell an das bittere Erlebnis der Vereinsamung binden, wie es Martin Rang in Rousseaus Lehre vom Menschen tut. Ebensowenig reduziert sich der sentiment de l'existence auf die im Zweiten Diskurs geschilderte urzuständliche Existenzweise (OCP EU, S. 144), die Rousseau in Anlehnung an Buffon als eine rein kreatürliche Gegenwartsfixiertheit ohne Reflexionsvermögen entworfen hat. Im Solitär der Frühzeit und im Solitär des zivilisationsmüden Europa sind Grenzgestalten des Daseinsgefühls umrissen: die anthropologische Grenzgestalt einer subhuman zu nennenden Existenz vor aller Sozialität und die existenzielle Grenzsituation der radikalen Vereinsamung, des Stehens außerhalb aller sozialen Bezüge. Der sentiment de l'existence ist aber kein Grenzzustand, sondern die grundlegende Weise subjektiven Selbstempfindens im Kontext sozialer Bezüge.
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Jean Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen, a.a.O., S. 125. Vgl. ferner: Marcel Raymond, Introduction zu Les Rêveries, OCP I, S. XC ff. Für den gesamten Beziehungsreichtum des Gedankens der Expansion bei Rousseau vgl. Pierre Burgelin, La philosophie de l'existence de Jean-Jacques Rousseau, a.a.O., S. 148ff.
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schließt, sei es in Formen der die eigene Innerlichkeit verobjektivierenden Mitteilung und der wechselseitigen Responsivität und schließlich und vor allem im sympathetischen Schweigen. Den grundsätzlichen Zusammenhang zwischen einem vertieften Daseinsgefühl und sozialer Mitwelt hat Rousseau mit wünschenswerter Deutlichkeit formuliert; er hält fest: „daß eine gänzliche Einsamkeit ein trauriger Zustand ist, der der Natur widerspricht: leidenschaftliches Gefühl belebt die Seele, Mitteilung der Gedanken erweckt den Geist. Unser süßestes Dasein ist relativ und kollektiv, und unser wahres Ich ist nicht ganz in uns." 169 Als der zentrale Begriff fungiert für Rousseau im Kontext des Zusammenspiels von Ich und Anderen die Transparenz 170 , womit ein durch reine Expressivität charakterisierter Beziehungsmodus bezeichnet ist, der sich in einem von aller Vermitteltheit freien intersubjektiven Raum entfaltet, in einer interaktiven und interkommunikativen Sphäre, in welcher sich die Individuen risikolos in unmittelbarer Weise aufeinander beziehen können. Deutlich ist, daß die Verkehrsformen der bürgerlichen Gesellschaft für diese Art von Innigkeit nicht die Bedingungen zur Verfugung stellen. 171 Das Modell von Intersubjektivität, das seine Anschaulichkeit aus einer Metaphorik des Lichts bezieht, ist
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Gespräche, S. 429/Dialogues, OCPI, S. 813. Die beredste Schilderung seiner Idee von Glück legt Rousseau der Romanprotagonistin Julie in den Mund: „Ich sehe nichts, was nicht mein Wesen ausdehnt, und nichts, was es teilt; es ist in allem, was mich umringt, kein Teil davon ist weit von mir entfernt. Meine Einbildungskraft hat nichts mehr zu tun, mein Herz nichts mehr zu wünschen; empfinden und genießen ist für mich dasselbe. Ich lebe zugleich in allen, die ich liebe; ich bin von Glück und Leben gesättigt." {Die neue Héloïse VI, 8, S. 724/ OCP II, S. 689) 170 OCP I, S. 446: „mon coeur transparent comme le cristal", auch Bekenntnisse, S. 175/ OCP I, S. 175: ,,[I]ch möchte es fertigbringen, meine Seele gewissermaßen durchsichtig für die Leser zu machen"; ebenso: Lettre an Dusaulx vom 16.2.1771 (Correspondance complète, a.a.O., Bd. XXXVIII, S. 181/ Correspondance générale, a.a.O., Bd. XX, S. 46, Nr. 3979): „Je veux que toute le monde lise dans mon coeur, et que ceux avec qui je vis sachent comme moi-même ce que le pense d'eux, quoiqu'une malheureuse honte, que je ne puis vaincre, m'empêche d'oser le leur dire en face." „Transparenz" ist für Jean Starobinski, wie der französische Titel seiner großen Rousseau-Studie anzeigt, das zentrale Konzept, welches die Organisation des gesamten Denkens Rousseaus leistet. Jean Starobinski, JeanJacques Rousseau: La transparence et l'obstacle, Paris 1971, dt.: Rousseau. Eine Welt von Widerständen. Schon Burgelin hatte auf die zentrale Bedeutung der Idee der Transparenz hingewiesen (Pierre Burgelin, La philosophie de l'existence de Jean-Jacques Rousseau, a.a.O., S. 293-295). 171 Die persönlichen Erfahrungen, die in seine Gesellschaftskritik eingeflossen sind, hat Rousseau nicht verborgen: „Ich habe gleich anfangs bemerkt, daß die gewöhnlichen Gesellschaften, in denen scheinbare Vertraulichkeit und wirkliche Zurückhaltung herrschen, ihm (J.-J. Rousseau, F.K.) nicht angemessen sein konnten. Die Unmöglichkeit, seiner Sprache etwas Schmeichelhaftes zu geben und die Bewegungen seines Herzens zu verbergen, benachteiligte ihn ungeheuer gegenüber den anderen Menschen, die das, was sie fühlen und was sie sind, zu verbergen wissen und sich bloß so zeigen wie es ihnen beliebt, daß man sie sehe. Nur eine vollkommene Innigkeit vermochte Gleichheit zwischen ihnen und ihm hervorzubringen. Wenn er aber auch seine Innigkeit beitrug, so trugen sie nur Schein bei." (Gespräche, S. 428f./ OCP I, S. 812f.) Zur Verstellung als der „ersten Kunst aller Bösen" vgl. Gespräche, S. 485/ OCP I, S. 861.
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von gewisser Schlichtheit: Expansion als selbstentgrenzende Sammlung/ recueillement des Selbst im Anderen gelingt nur unter der Bedingung einer Durchlässigkeit, die gewährleistet, daß nichts den Zugang zum Gegenüber verstellt, die ersehnte Spiegelung sich nicht an der undurchdringbaren Maske des Anderen, die ihn zu undurchschaubarem Objekt macht, bricht, oder durch die unvermeidliche Opazität der Zeichen verzerrt wird, daß schließlich in einem Raum reiner Transparenz die wechselseitige Penetration der Seelen gelingt.172 Rousseaus Einsicht, daß „diese köstliche Innigkeit, die den wahren Genuß der Freundschaft ausmacht, sich nicht anders als in der Zurückgezogenheit bilden und nähren kann"173, leitet zurück zur œconomie domestique von Ciarens. Das Konzept der idealen Hausgemeinschaft vervollständigt sich dahingehend, daß nunmehr ihre doppelseitige Funktionalität aufgezeigt werden kann: In politischer Hinsicht stellt sie die grundlegende Organisationsform einer ökonomisch homogenen Basis der Republik dar, in privater Hinsicht gewährleistet sie, daß das Individuum in eine soziale Dimension eintreten kann, ohne Selbstverlust und Entfremdung riskieren zu müssen, sie dient als Garant für einen geschützten Raum, innerhalb dessen sich unverzerrte Gefuhlsbeziehungen als Grundlage sozialer Bindung allererst ausbilden können. Ciarens ist das literarisch entfaltete Beispiel der „société très-intime"174, die sich der Kultivierung eines sozialen Milieus verschrieben hat, dessen Grund und Zweck „in jener Öffnung des Herzens besteht, vermöge deren alle Empfindungen, alle Gedanken gemeinsam werden, so daß jeder, indem er sich so fühlt, wie er sein soll, sich allen so zeigt, wie er ist".175 Die intime Gemeinschaft als Kern der Hausgemeinschaft umfaßt neben dem ehelichen Verhältnis in seiner exklusiven Bindungsqualität und den Eltern-Kind-Verhältnissen auch enge freundschaftliche Beziehungen. Rousseau thematisiert den innersten Bezirk der häuslichen Verhältnisse nicht ausschließlich unter dem generativen Aspekt der Geschlechts- und Generationengemeinschaft, sondern er vermißt die Umrisse einer 172
Gespräche, S. 487/ OCPI, S. 862. Im Ersten Diskurs stellt Rousseau mit Bezug auf frühere Kulturstufen fest: „ Die menschliche Natur war im Grunde nicht besser, aber die Menschen fanden ihre Sicherheit in der Leichtigkeit, mit der sie sich wechselseitig durchschauten, und dieser Vorteil, dessen Wert wir nicht mehr erkennen, überhob sie vieler Laster." {Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, in: Schriften, a.a.O., Bd. 1, S. 27-60, hier: S. 35/ OCP III, S. 8) Vgl. hierzu auch Günther Buck, Selbsterhaltung und Historizität, a.a.O., S. 278.
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Gespräche, S. 429/ OCP I, S. 813. Die neue Heloise, 2. Vorrede, S. 26/ OCP II, S. 28. Die neue Heloise, VI, 8, S. 724f./ OCP II, S. 689. Wie der Wunsch nach Transparenz zur Obsession und damit zur Vorstufe von Tugendterror werden kann, zeigt folgende Stelle: „Der erste Schritt zum Laster ist der, aus unschuldigen Handlungen Geheimnisse zu machen; und wer sich ganz verbirgt, hat früher oder später Ursache, sich zu verbergen. Ein einziges Gebot der Sittenlehre kann aller andern Stelle vertreten, dieses nämlich: Tue und sage niemals etwas, was nicht die ganze Welt sehen und hören könnte. Ich meinerseits habe stets jenen Römer als den hochachtungswürdigsten Mann betrachtet, der wünschte sein Haus werde so gebaut, daß man alles, was darin vorginge, sehen könnte." (Die neue Heloise, IV, 6, S. 443f./ OCP II, S. 424)
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Sphäre der Privatheit, die das gemeinschaftliche Erleben wechselseitiger Entgrenzung und ungebrochener Spiegelung erlaubt. Es ist die Qualität menschlicher Beziehungen, die im Vordergrund steht, familiäre Intimität beschränkt sich nicht auf den Personenkreis der unmittelbaren Familienmitglieder. Die Schilderung dieser Art von Geselligkeit, wo „es im Innersten der Herzen nichts mehr gibt, was man einander verbergen wollte"176, steht im Zentrum der Ausführungen zur œconomie domestique. In der Beschreibung des „Morgens auf englische Art"177 und seines Höhepunktes, der gemeinschaftlichen „Extase des Schweigens"178, kann man ohne Übertreibung den literarischen Glanzpunkt der zweiten Hälfte der Nouvelle Héloïse erblicken. Der ständeübergreifenden Vereinigung der Herzen im Fest der Hausgemeinschaft unter freiem Himmel korrespondiert die in das Interieur des Hauses verlegte und auf den Umkreis von Liebes- und Freundschaftsverhältnissen begrenzte Situation der vollkommen transparenten Kommunion der Seelen. Auch die Kinder sind an der Szenerie beteiligt, insofern auch sie dem familiären Vergemeinschaftungsprinzip einer von Wohlwollen getragenen Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit unterstehen: Auch sie wissen „weder zu lügen noch sich zu verstellen" und „lassen ohne Zwang alles sehen, was auf dem Grund ihres Herzens liegt"179, allerdings mit dem kleinen, aber bedeutsamen Unterschied, daß sie in passiver Weise den Gegenstand der Betrachtung und nicht eigentlich in affektiver Weise an der Szene teilhaben. Der Leser wird zum Zeugen eines vollkommen ungezwungenen Beisammenseins, das sich in zunehmender Weise auch noch der kommunikativen Vermittlung durch die „kalte Handreichimg der Worte"180 entschlagen kann - auch wenn das Herz noch vereinzelt Worte unvermittelt auf die Lippen legt - um schließlich in einem Zustand zu münden, in welchem ein jeder, wie Rousseau nahezu unübersetzbar formuliert: „veut être recuiellis, [...] , l'un dans l'autre": sich im anderen als eingekehrt und gesammelt wissen möchte. Die glückhafte Erfahrung dieser wechselseitigen Aufnahme versetzt das Individuum in einen Zustand der „Träumerei", in einen selbstvergessenen vertrauensgesättigten Schwebezustand, in welchem der Unterschied von Selbst und anderen fließend wird. Es ist das vielfach herausgestellte und suggestive Spezifikum der literarischen Produktion Rousseaus, daß er es mehr als andere Autoren gestattet, nachzuvollziehen, in wie weit reichender Weise persönliche Dispositionen sich in der Weise des Denkens intellektuell Ausdruck verleihen. Die Tatsache, daß die Schilderung glückhaft erfahrener Sozialität in der Apotheose der reinen Unmittelbarkeit kulminiert, hat ihren letzten unhintergehbaren Grund im Selbsterleben des Autors und Theoretikers. Rousseau rückt 176
Die neue Héloïse, V, 3, S. 584f./ OCP II, S. 557. Ibid., S. 585/ OCP II, S. 537f. 178 „Ciarens établit la ,société des coeurs' maintenue par la pudeur, élargie au-delà de l'amour, mais parvenue à ce degré exceptionnel de cohérence qui permet de participer en commun à l'exstase du silence." (Pierre Burgelin, La philosophie de l'existence deJ.-J. Rousseau, a.a.O., S. 405) 179 Die neue Héloïse, V, 3, S. 613/ OCP II, S. 584. 180 Gespräche, S. 487/ OCP I, S. 862; auch: Die neue Héloïse, V, 3, S. 587/ OCP II, S. 560. 177
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nicht die sublimen Extasen des unendlichen Gesprächs oder die rauschhaften der sexuellen Vereinigung als Gipfelpunkte erfahrbarer Entgrenzung ins Zentrum, sondern einen Zustand der Seelenkommunion, der die Materialität des Zeichens und des Fleisches hinter sich läßt.181 In diesem von Rousseau als ausgezeichnet erachteten Modus der interpersonalen Begegnung enthüllt sich das authentische Selbst ohne Vermittlung, die Empfindung geht „von einem Herzen zum anderen über"182: Sie gibt sich gewissermaßen im Schweigen Ausdruck und kommuniziert so unmittelbar mit anderer Empfindung. Von der exzeptionellen Episode der matinée à I 'Angloise her fallt das Licht auf die Bedingungen des alltäglichen Leben der „sehr intimen Gemeinschaft". Die exklusiven Momente, in denen exstatische Formen von sozialer Erfahrung möglich werden, sind eingebettet in das juste milieu eines zwischenmenschlichen Umgangs von alltäglicher Vertrautheit und konstanter Bezogenheit. Die Extase des Schweigens ist eingelassen in einen Strom abundanter Kommunikation, deren vorrangiger Gegenstand neben der Abstimmung der individuellen Perspektiven und Sichtweisen in den Bekundungen des inneren Reichtums individueller Gefühls- und Stimmungslagen besteht.183 Der innerste Kern der oeconomie domestique präsentiert sich als ein Treibhaus der privaten Empfindungskultur, wie sie später in der bürgerlichen Kleinfamilie zur vollen Blüte kommt. Die Mitglieder der idealen Hausgemeinschaft sind nicht zufallig Protagonisten eines Briefromans, deren exemplarisch entfalteter Lebensstil den Lesern zur Nachahmung empfohlen wird.184 Der fulminante Erfolg des Romans erlaubt Rückschlüsse auf den zeitgenössischen Bedarf an Vorgaben für einen genuin bürgerlichen Lebensstil und die damit verbundenen anti-feudalen und anti-höfischen Affekte. Die Nouvelle Heloise präsentiert eine neue Form der Alltagskultur jenseits einer verstädterten dekadenten Adelskultur und ihren überlebten und entleerten Idealbildungen, die eine Wendung zur Innerlichkeit vollzieht und mit einer Neuvermessimg der Seelenlandschaft einhergeht.185 Unerachtet des Argwohns, den Rousseau gegen die mediale Künstlichkeit und die un-
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Zum komplexen Verhältnis von Rousseaus Perhorreszierung der Mittelbarkeit der Sprache und der Selbstentäußerung und -gewinnung im Prozeß des Schreibens vgl. Jean Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen, a.a.O., S. 207-247. Für Rousseau ist der Gedanke der Rückempfindung des Subjekts in der Sprache, wie ihn Herder oder Hegel formuliert haben, die Tatsache, daß das sprechende Bewußtsein durch die Sprache hindurch sich selbst objektiv wird und sich an ihr als Subjekt erfährt, nicht faßbar.
Gespräche, S. 487/ OCPI, S. 862. Vgl. die Schilderung einer idealen sozialen Existenzweise im Emile: „Das einzige Band, das mich mit den anderen verbindet, wäre gegenseitige Zuneigung, Übereinstimmung im Geschmack und Harmonie des Charakters." (Emil, S. 377/ OCP IV, S. 683) 184 Die neue Heloise, Zweite Vorrede. Zum spezifisch bürgerlichen Selbstverständigungsmedium des Briefes vgl. auch Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, a.a.O., S. 112ff. 185 Vgl. William Mead, La Nouvelle Heloise and the Public ofl 761, in: Yale French Studies 28 (1961/ 62), S. 13-19. 183
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kontrollierbare Polysemie der Sprache hegt, stellt sich die „Ergießung der Herzen"186 im Medium des Briefwechsels als eine wortreiche, sprachversessen differenzierte Auslotung der empfindsamen Seele in doppelter Richtung dar: in Beziehung auf sich selbst und in Beziehung auf den anderen. Die Auffaltung des inneren Erfahrungs- und Erlebnisreichtums vor den Augen der anderen und die Erkundung der eigenen Identität im Prozeß einer wechselseitigen introspektiven Erforschung, welche Abgründigkeiten nicht vermeidet, generiert ein Milieu des „caring voyeurism"187, zu welchem eine lustvoll rückhaltlos betriebene Selbstoffenbarung das Pendant bildet. Der bedürfiiisenthobene und weitestgehend funktionsentlastete Umgang des bürgerlichen Herrschaftsstandes der aconomie domestique nimmt die Beziehungsformen der späteren bürgerlichen Kleinfamilie vorweg. Die persönliche Existenz des Einzelnen erweist sich als getragen von der auf Einmütigkeit und Wohlwollen gegründeten Anerkennung der anderen, sie leben einer im Blick des anderen. Das Individuum weiß sich legitimiert durch die Tatsache, daß seine Existenz für diejenigen, die ihm in Liebe und enger Freundschaft zugetan sind, von einzigartigem unvertretbarem Wert ist. Diese Art der Anerkennung ist von grundsätzlich anderer Valenz als diejenige, die in die Verkehrsformen der bürgerlichen Gesellschaft als institutionalisierte eingelassen ist und in deren Medium sich die Individuen in ihrem Status als Rechtsperson und als Eigentümer anerkennen. Sie ist ferner - und das ist der zentrale Punkt für Rousseau - nicht vermittelt über die estime publique, über die Sphäre der an Rollen und Funktionen gebundenen gesellschaftlichen Wertschätzung in ihrem unvermeidbar kontingenten Zuschnitt. Sie ist darüber hinaus noch nicht einmal auf die spezifischen Eigenschaften und Eigenheiten gerichtet, die das Individuen auszeichnen, sondern auf das jenseits dieser Zuschreibungen existierende unvertretbare Selbst. Trotz der subtilen Einblicke in die innersten seelischen Bezirke, die die Mitglieder der „sehr intimen Gemeinschaft" sich wechselseitig gewähren, sind es nicht die zu Vergleichen herausfordernden Eigenschaften und Fähigkeiten, oder die sich präsentierende Eigentümlichkeit des Charakters, welche die Liebe und Freundschaft zu einem Individuum begründen; vielmehr scheint es sich so zu verhalten, daß die liebevolle und wohlwollende Zugewandtheit die Dimension erschließt, innerhalb derer sich den Individuen der Reichtum ihrer persönlichen inneren Möglichkeiten allererst öflnet. In dieser im Medium des Briefes sich herauspräparierenden interessierten Selbstdarstellung bekundet sich ein Anspruch auf Anerkennung durch die Anderen als Leser, eine Anerkennung, die sich unmittelbar auf die unvertretbare Individualität des Einzelnen richtet und gerade darin grundlos ist. Mit intersubjektiven Verhältnissen dieser Art ist die denkbar weiteste Entfernung von der komparativen Existenzweise angezeigt: Sozialbiotope gemeinschaftlichauthentischer Daseinsmöglichkeiten setzen der unentrinnbar erscheinenden Herrschaft des gesellschaftlichen amour-propre Grenzen.
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Gespräche, S. 429/ OCP I, S. 813. Arthur M. Melzer, Rousseau and the Modern Cult of Sincerity, a.a.O., S. 291.
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4.3.1 Das Eltern-Kind-Verhältnis im Rahmen der intimen Gemeinschaft Aufgrund ihres ständischen Zuschnitts einerseits und einer Konzeption von Intimität andererseits, die nicht allein auf den engeren Kreis der Blutsverwandten beschränkt ist, rückt in der ceconomie domestique der generative Eltern-Kind-Verband nicht in gleichem Maße in den Mittelpunkt wie es in der bürgerlichen Kleinfamilie der Fall ist. Rousseau, der im I. Buch des Emile emphatisch die gesellschaftliche Präsenz von Männern und Frauen in ihrer Funktion als Väter und Mütter zur unverzichtbaren Grundlage der sozialen Erneuerung erklärt188, liefert demgegenüber in der Nouvelle Heloise ein eher reduziertes Bild vom gemeinschaftlichen Leben der Generationen im Familienverband. Dennoch steht das Familienkonzept der Nouvelle Heloise nicht im Kontrast zum Emile, im Gegenteil: In die Erörterung der ceconomie domestique ist ein Resümee der Erziehungsmaximen des Emile eingefügt und zeigt so innere Verknüpfung der drei großen Schriften der 60er Jahre an, wie sie auch die Kurzfassung des Contrat Social am Ende des Emile dokumentiert. Das stellt klar: Der Sozialisationsauftrag der Familie ist an den Vorgaben des Emile ausgerichtet und läßt sich in seinen offenkundigen Verkürzungen vor dem Hintergrund der Prämissen des Emile aufklären. Dabei wird deutlich, daß die programmatischen Vorgaben des Emile unmittelbar die Problematik von Individuierung und Sozialisierung berühren, die bereits oben im Kontext der Vergesellschaftungsproblematik des Zweiten Diskurs diskutiert wurden. Obwohl die Rekonstruktion der Vergesellschaftungsgeschichte und eine Entwicklungspsychologie des Individuums auf grundsätzlich verschiedenen Prämissen basieren, kann doch dahingehend Übereinstimmung festgestellt werden, daß Rousseau, wie schon oben (Abschnitt 4.2.2) herausgestellt, auch die Entwicklungsgeschichte des Individuums gemäß einer Stufenfolge konzipiert, die den Reifungsprozeß in zwei fundamental verschiedene Phasen gliedert. Indem er den alten Dualismus von höherem und niederem Seelenleben auf die Entwicklungspsychologie umlegt, grenzt er die präsoziale, sinnliche Existenz der Kindheit von der sozialen, moralischen Existenz der Jugendzeit ab. Rousseau hat Eigenart und Eigenwert der Kindheit aufgezeigt und diese damit vom Zwang zur marionettenhaften Mimesis der Erwachsenenwelt befreit, damit aber zugleich das Kind als Kind diesseits menschlicher Beziehungsformen und außerhalb des generativaffektiven Beziehungsgefüges angesiedelt. Vor der in der Adoleszenz erwachenden emotionalen Erlebnisfahigkeit erstreckt sich die Kindheit als eine Stufe des bloßen Daseins; auf diesem Niveau entwickelt das Kind ausschließlich im dinglichen Umgang mit der Welt seine Ichkompetenzen: nämlich die Fähigkeit, spontan zu denken, zu fühlen und zu handeln, deren Ursprung man eigentlich in der sozialen Interaktion vermutet. Rousseau postuliert eine innere Selbstständigkeit und Selbstgenügsamkeit des Kindes und zielt in seinem Bemühen darauf ab, die mit der Kindheit unleugbar verbundenen Momente der Schwäche, Angewiesenheit und Abhängigkeit als objektive in der Natur des kindlichen Status begründete Begrenzungen der Freiheit wahrzunehmen: Die Er188
Emil, I. Buch, bes. S. 9f. Anm., S. 18f„ S. 22f./ OCPIV, S. 245f. Anm., S. 256f„ S. 261f.
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wachsenen stellen mit ihren Funktionen der Fürsorge und der Freiheitseinschränkung einen Bestandteil der vom Kind anzuerkennenden, notwendigen, natürlich-dinglichen Ordnung dar. In dieser Weise werden die Personen des nächsten Umgangs nicht eigentlich als soziale Mitwelt erfahren. Von Seiten der Erwachsenen bedeutet dies eine bewußte Restriktion ihres Verhaltens auf eine „negative Erziehung": „Übt seinen Körper, seine Organe, seine Sinne, seine Stärke, aber haltet die Seele so lange wie möglich in Muße." 189 Es ergibt sich die paradox erscheinende Situation, daß sich die elterliche Liebe darauf zu beschränken hat, dem Kind einen Schonbezirk zu gewähren, innerhalb dessen es sich ohne jede affektive Bindung in seelischer Autarkie in seinen Weltbezügen schrittweise entfalten kann. So besteht das Sanctuarium der wconomie domestique nicht, wie man erwarten könnte, in der Mutter-Kind-Dyade; auch wenn für die Hausherrin Mutterschaft zur primären Aufgabe geworden ist, so sind die Primärbeziehungen - obwohl zentriert in der verantwortungsvollen Sorge um die Bewahrung der kindlichen Autonomie durch die Eltern doch von emotionalem Abstand geprägt. Zwischen Eltern und Kindern herrschen keine Liebesverhältnisse, sondern von Seiten der Erziehenden programmatisch begründete innerliche Distanz und Nüchternheit. „Das Kind, das seinem Alter entsprechend erzogen worden ist, ist allein."190 Es ist kein Ausdruck von emotionaler Vernachlässigung, sondern im Gegenteil von rechtverstandener liebevoller Fürsorge, wenn diese in ihrem Bemühen darauf abzielt, das Kind ausschließlich auf sich selbst zu konzentrieren und keine Bedürfhisse nach Liebe oder narzißtischer Bestätigung in ihm zu wecken. So wird der Tutor Emiles sein Wirken bis zu dessen Adoleszenz als eine Vorbereitung auf die eigentliche Erziehung, also auf die positive und direkte Einwirkung auf das Gefühlsleben und die Vorstellungs- und Willensbildung verstehen, wie auch die Aufgabe der Mutter darin besteht, ihre Kinder „darauf vorzubereiten, erzogen zu werden".191 Entsprechend dieser Zweiteilung betritt das Individuum, das sich mittels der negativen, vorbereitenden Erziehungsbemühungen der Erwachsenen allein im sinnlichen Kontakt mit der Natur und im erfahrungskumulierenden Umgang mit einer dinglichen Umwelt hat formen lassen, mit der Adoleszenz die Bühne der Sozialität gewissermaßen als ein fertiges. Unter diesen Voraussetzungen kann die Frage der Bildung des Individuums nicht bis zu dem Punkt zurückverfolgt werden, an welchem die Selbstwerdung als ein Resultat sozialer Interaktion rekonstruiert werden kann, wie dies z.B. mit den Mitteln der modernen Psychologie möglich ist, die das Selbst als das Resultat eines prekären 189
Emil, S. 73 (Übers, verändert)/ OCP IV, S. 324. „Positive Erziehung nenne ich diejenige, welche den Geist vor der Zeit bilden und dem Kinde die Kenntnis der Pflichten des Menschen einprägen will. Negative Erziehung nenne ich diejenige, welche erst die Organe, als die Mittel unserer Erkenntnis verfeinern will, ehe man uns Kenntnisse beibringt, und welche zur Vernunft durch die Übung der Sinne erst vorbereitet." {Brief an Beaumont, a.a.O., S. 518f./ OCP IV, S. 945) 190 Emil, S. 219/ OCP IV, S. 500. 191 Die neue Heloise, V, 3, S. 606/ OCP II, S. 578; vgl. Emil, S. 358/ OCP IV, S. 661.
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DIE FAMILIE ALS INTIME GEMEINSCHAFT
Prozesses von konflikthaft errungener Autonomiebildung ausweist. Nicht das Erringen von Autonomie im Sozialisationsprozeß, sondern die Bewahrung von originärer Autonomie angesichts der gleichsam hereinbrechenden zentrifugalen Kräfte, denen das Individuum beim Erwachen der Libido und dem damit verbundenen Übergang in die gesellschaftliche Existenzweise ausgesetzt ist, ist der Hintergrund, vor dem Rousseaus Problematik der Selbstwerdung angesiedelt ist. Die interpersonale Dimension der Bildungsgeschichte des Individuums reicht unter den geschilderten Voraussetzungen nicht in die Sphäre eines ursprünglich interaktiven Aus-handelns der individuellen Identität hinein, sondern beschränkt sich auf Prozesse der wechselseitigen Spiegelung von Personen, die sich als empfindungsreiche Seelen aufeinander beziehen und sich darin Ausdruck verleihen, sie ist dergestalt nicht im eigentlichen Sinne interaktiv, sondern eher ästhetisch-expressiv zu nennen. Selbstverwirklichung ist gemäß diesen Voraussetzungen an Prozesse der Spiegelung der unverwechselbaren personalen Einzigartigkeit und Unvertretbarkeit angewiesen und damit auf eingespielte Lebensformen, welche die Bedingungen für Formen einer rein ästhetisch-expressiven Kommunikation gewährleisten. An dieser Stelle kommt gewissermaßen der Lebensbogen an sein Ziel und aus diesem Grund endet der Erziehungsweg Émiles mit der Eheschließung: Mit der Familiengründung, schafft sich das Individuum einen sozialen Raum, welcher der Entfaltung und Auffaltung seines emotionalen Reichtums gewidmet ist.
Schlußbetrachtung: Zwei Sphären der Einmütigkeit
Rousseaus Republik setzt sich aus zwei Sphären zusammen: aus der intimen Gemeinschaft des Hauses und aus der politischen Gesellschaft des allgemeinen Willens. In beiden Sphären geht es auf je eigene Weise um die Vergesellschaftung des Individuums: Das Individuum soll als autarke und freie Person zugleich in einen umfassenden sozialen Zusammenhang eingebettet und in eine politische Ordnung eingegliedert sein. Die Republik liefert dafür den umfassenden Rahmen: Der Einzelne ist in seiner privaten Existenz als Mensch aufgehoben in der Einmütigkeit des Wohlwollens, wie sie innerhalb der emotional dichten Gemeinschaft der Familie besteht, und in seiner öffentlichen Existenz als Staatsbürger in der Einmütigkeit des gemeinsamen und allgemeinen Willens. Auf der einen Seite bietet der Umkreis des Privaten einen geschützten Raum, wo sich die Seelen einander öffnen und füreinander transparent werden können, auf der anderen Seite werden die zu einem Bund geeinten autonomen Bürger einander durchschaubar, indem sie sich in ihren homogenen Interessenlagen wechselseitig durchsichtig werden. Rousseaus Konzept staatlicher Einheit basiert auf staatsbürgerlicher Einmütigkeit, welche ihrerseits auf der Einheitlichkeit der Interessen, der Gleichförmigkeit der Lebensform und der Übereinstimmung der Überzeugungen fußt: Möglichkeitsbedingungen für ein kompaktes Gemeinschaftsgefüge, innerhalb dessen die Partikularismen in größtmöglichem Maße zum Verschwinden gebracht werden. Diesen Vorstellungen liegt die Kritik am Vertrag als dem Integrationsmittel der Engländer zugrunde. Das aufgeklärte Selbstinteresse als Vergemeinschaftungsbasis trägt Rousseaus Republik nicht.1 Mit dem Gesellschaftsvertrag hebt Rousseau genau besehen den Vertragsgedanken der Tradition auf: Das durch den Vertrag gestiftete Allgemeine soll nicht nur äußerlich zwischen den Vertragspartnern vermitteln, sondern auf ihre innere Disposition durchschlagen. Während der vertraglich generierte Zustand der Rechtssicherheit nicht mehr als eine formale Integration der Partikularinteressen erforderlich macht, versucht Rousseau den Sozialvertrag als Konstitutionsmedium eines 1
Vorrede zu „Narcisse ", a.a.O., S. 153ff./ OCP II, S. 965ff.
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Willens zu denken, der ein material identisches Allgemeines zum Gegenstand hat. Rousseaus Gesellschaftsvertrag ist nicht nach dem Modell des Privatvertrags konzipiert. Mit der Allgemeinheit der Interessen ist mehr intendiert als die Kompatibilität individueller Handlungssphären. Vielmehr soll der empirische partikulare Wille der vereinzelten Bürger sich in den vernünftigen, am Gemeinwohl orientierten Willen sittlicher Staatsbürger verwandeln; diese Verwandlung versteht Rousseau als einen Vorgang kraft dessen sich das Einzelinteresse aufhebt und sich in einen „corps moral et collectif'2 integriert. Rousseaus Republik basiert auf der unanimité der Gesinnung, die über die Errichtung einer rein rechtlich-bürgerlichen Gesellschaft hinausgeht. Die Fundierung der Gemeinwohlorientierung in der Gesinnung der Bürger vollzieht sich in der Form einer Verinnerlichung, welche in die Motivationsbasis der selbstinteressierten Individuen vorstößt und diese einer Wandlung unterzieht, die Rousseau als Versittlichung begreift. Das Gelingen dieses sozialpsychologischen Vorgangs macht Rahmenbedingungen erforderlich, die in diesem Schlußkapitel noch einmal im Zusammenhang vorgestellt werden sollen. Als erstes ist die materielle Grundlage zu nennen, der Rousseaus ökonomische Theorie Rechnung trägt: Es gilt die Tugendzumutung, wie sie in der Idee der volonté générale impliziert ist, durch eine geeignete Organisation der sozioökonomischen Basis zu minimieren und ökonomische Unabhängigkeit und Chancengleichheit zur Voraussetzung für den autonomen Staatsbürgerstatus zu machen. Die Vorstellung, daß der Gemeinwille gleichsam anonym wirkt und naturwüchsig als Resultante aus der Konkurrenz privater Interessen entspringt, ist Rousseau letztlich fremd.3 Neben der Homogenisierung der Eigentumsverhältnisse, welche zwar die materiellen Bedingungen für die im Konzept der volonté générale implizierte Gemeinwohlorientierung schafft, die sie aber nicht generieren kann, sind es vor allem die moeurs et coutumes, die Sitten und Gebräuche eines Volkes, modern gesprochen die eingespielten Lebensformen, geteilten Werthaltungen, gemeinschaftlichen Grundüberzeugungen und weltanschaulichen Orientierungen, mittels derer sich die Integration der Individuen in das republikanische Gemeinwesen vollzieht. Diesen Faktor stellt Rousseau im Gesellschaftsvertrag dem Staatsrecht, dem Privat- und dem Strafrecht zur Seite und bezeichnet ihn als „vierte und wichtigste Art von Gesetzen"4. Da es sich bei den Sitten und Gebräuchen ganz offenkundig nicht um Gesetze im eigentlichen Sinn handelt, zeigt diese übertragene Redeweise nur die Relevanz an, die den ethosstabilisierenden und Gemeinsinn fördernden zwanglos regulierenden sozio-kulturellen Lebensbedingungen
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4
Gesellschaftsvertrag, Buch I, Kap. 61 OCP III, S. 361. Im zweiten Buch des Contrat Social denkt Rousseau zunächst die volonté générale als Durchschnitt aller individuellen Willensakte, wobei die Extreme sich aufheben. Letztlich dominierend bleibt aber das Konzept der volonté générale als faktischer Konsens der gemeinwohlorientierten Bürger. Vgl. Gesellschaftsvertrag, Buch II, Kap. 12.
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der Individuen im Rahmen der Rousseauschen Republik zukommt.5 Eine ausschließlich auf Rechtssicherheit gerichtete Gesetzgebung kann nicht die Voraussetzungen für den Bestand einer Tugendrepublik schaffen. „Die Gesetze" - gemeint sind hier nun die positiven Gesetze - „befassen sich immer mit dem Besitz und wenig mit der Person, denn sie zielen auf den bürgerlichen Frieden und nicht auf die Tugend ab"6, schreibt Rousseau auf der ersten Seite des Émile und markiert damit Stellung und Funktion dieses Werkes: Es ist in erster Linie der Faktor der Erziehimg, der sich für die Heranbildung der bürgerlichen Individuen als unabdingbar erweist. Es sind die in das Milieu der Familiensittlichkeit eingelassenen Lebens- und Beziehungsformen, die, sich im Miteinanderleben der Generationen beständig erneuernd, den Humus für eine Kultur republikanischer Staatsbürgerlichkeit bilden. Der Émile zeigt sich als von einem platonischen Motiv regiert - die Erziehung zum Bürger bildet die unverzichtbare Basis eines wohlgeordneten Gemeinwesen - ohne allerdings für platonische Methoden zu votieren.7 Piaton versucht die von Rousseau als „Denaturierung" bezeichnete Wandlung des Einzelnen zum Gemeinschaftswesen, d.h. die Aufgabe seines partikularen Standpunktes über die vollständige Absorption seines privaten Interesses durch das öffentliche zu bewältigen. Die Auflösung des Familienverbandes zugunsten der Vergemeinschaftung der Einzelnen in einer anonymen, gleichsam fiktiven Allverwandtschaftlichkeit, kurz, das Modell der Geschlechter- und Kindergemeinschaft - im Platonischen Idealstaat ohnehin nur der politischen Elite zugedacht - stellt für Rousseau indes eine verfehlte Einigungsstrategie dar. Für ihn bildet die Familie gerade den primären Ort der Sozialisation jedes Individuums, denn nur innerhalb der Familie finden sich die spezifischen Beziehungs- und Bindungsqualitäten, die den maßgeblichen konstitutiven Sozialisationsfaktor des Individuums abgeben. Die Familie ist also der Ort, an dem sich die Sitten und Gebräuche bilden und auf dem Wege der Erziehung erhalten werden. Wie gezeigt, entwirft Rousseau angesichts der drohenden Gefahr der totalen Hegemonie bürgerlicher Konkurrenzverhältnisse in der Gestalt der Familie ein Muster alternativer Beziehungsformen, welches die Entfaltung authentischen Selbstseins in der Form des Mitseins und als eine Idealgestalt von Intimität und Familiarität die Erfahrung 5
6 7
Zu diesem Punkt vgl. auch Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, a.a.O., S. 165ff. Emil, S. 9/ OCPIV, S. 246. „Um eine Vorstellung von der öffentlichen Erziehung zu bekommen, muß man Piatons Staat lesen. Das ist kein politisches Buch, wie die Leute behaupten, die die Bücher nur nach dem Titel beurteilen: es ist die schönste Abhandlung über die Erziehung, die jemals geschrieben wurde." (Emil, S. 13/ OCP IV, S. 250) Den Bezug des Émile zur Politeia stellen traditionelle Interpreten gleichermaßen wie feministisch orientierte heraus. Vgl. v.a. Allan Bloom, Introduction zu Emile ort Education, a.a.O., ders., Rousseau and the Equality of Sexes, in: Frank S. Lucash (Hg.), Justice and Equality Here andNow, Ithaca and London 1986, S. 68-88 und ders., The Education of Democratic Man: Emile, a.a.O.; Pierre Burgelin, Introduction ä Émile und L Éducation de Sophie, in: Annales de la Société Jean-Jacques Rousseau 35 (1959-1962), S. 113-137; Lynda Lange, Rousseau and Modern Feminism, a.a.O.; und schließlich Penny A. Weiss, Gendered Community, a.a.O.
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gattungsumgreifender Humanität ermöglicht. Bis heute hat sich diese Vorstellung der Funktion der Familie erhalten, freilich ist, was Rousseau als ein Gegenmodell zur bürgerlichen Gesellschaft konzipiert hat, schließlich zu deren eigener Binnensphäre geworden: Die auf Intimität, Affektivität und Expressivität basierende bürgerliche Kleinfamilie mit ihrer prätendierten Selbstzweckhaftigkeit und ihrer faktischen Funktionalität in Hinblick auf sozialisatorische und sozial-regenerative Zwecke bildet die innerhalb der apolitischen Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft eigentliche Region der Privatheit. Deshalb hat gerade der an die bürgerliche Kleinfamilie gestellte regenerative Anspruch der Wiederherstellung der männlichen Arbeitskraft, mehr noch: der Restituierung der vollständigen Humanität des männlichen Erwerbsbürgers bei Rousseau keinen Boden. Er begreift sein Gegenmodell der Familie langfristig zugleich als Machtfaktor, welcher die Sphäre der bürgerlichen Marktgesellschaft unterminiert und schließlich zum Verschwinden bringt. Familie und politische
Willensbildung
Die Familie bildet das Zentrum und den Ausgangspunkt der Reformierung der Gesellschaft, die Rousseau anstrengt. Es geht um die Etablierung einer genuin privaten Sphäre und um die Neudefinition der ehelichen und der elterlichen Beziehungen angesichts der drohenden Gefahr einer Kolonialisierung aller menschlichen Beziehungsformen durch die Verkehrsformen der bürgerlichen Gesellschaft. In Hinblick auf das Ideal der Republik bildet die Familie das geschützte Refugium individueller Authentizität und den Erfahrungsraum verläßlicher Bindungen, vertrauensvoller Gemeinschaftlichkeit und vor allem der Abhängigkeit von seinesgleichen, die als conditio des Menschen als Gesellschaftswesen um so nachdrücklicher eingesehen werden kann als sie von Kindheit an erfahren wird.8 Die Familie bildet das Biotop, das für die Stärkung derjenigen „Bande der Gesellschaft, die durch Achtung und gegenseitiges Wohlwollen" und nicht allein durch dasjenige des „persönlichen Interesses"9 geknüpft werden, unabdingbar ist. Als im Gefühl fundierter, neuvermessener status in stato, als „petite patrie"10, vermag die Familie im Einzelnen innere Dispositionen von der Art zu generieren, wie sie in Hinblick auf die Tugendanforderung der Rousseauschen Republik unverzichtbar sind; diese ermöglichen eine erste Gestalt von Gemeinschaftlichkeit, die auf Bindung und Anerkennung und wechselseitiger Abhängigkeit gründet und im Erleben des Individuums emotional verankert wird.
9 10
„Heutzutage, wo mein Leben, meine Sicherheit, meine Freiheit und mein Glück von der Mitwirkung von meinesgleichen abhängig ist, kann ich mich nicht mehr als ein individuelles und isoliertes Wesen betrachten, sondern als Teil eines größeren Ganzen, als Mitglied eines größeren Körpers, von dessen Erhaltung die meine völlig abhängig ist [...]." Brief über die Tugend, in Ralf Konersmann (Hg.), Kulturkritik. Reflexionen in der veränderten Welt, a.a.O., S. 44-51. Vorrede zu „Narcisse", S. 157/ OCP II, S. 968. Emil, S. 392/ OCP IV, S. 700.
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Die Funktion der Familie liegt also nicht darin, die Versagungen und deformierenden Zumutungen des bürgerlichen Erwerbslebens kontinuierlich kompensatorisch aufzufangen, sondern sie fungiert, mit Pufendorf gesprochen, als „Pflanzgarten des gemeinen Wesens"11. Der im Schöße der Familie sozialisierte homme geht unmittelbar im citoyen auf, ohne daß, wie bei Hegel, das männliche Individuum, der „Sohn der Familie" seinen Bildungsweg zum Staatsbürger im Durchgang durch die Gesellschaft der autonomen Privatleute, der vom Staat emanzipierten bürgerlichen Gesellschaft, zu absolvieren hätte. Die - genau besehen männliche - Freiheitserziehung im Rahmen der Familie ist unmittelbar Erziehung zum Menschen und zum Bürger als citoyen. Die Familie ist für den Anteil von sozialisatorisch zu leistenden Vorbedingungen von Bürgerlichkeit zuständig, den die Gesetze nicht regelnd erfassen können; ihre interne Verfaßtheit muß sich an den Konsequenzen für das öffentliche Leben messen lassen. Diese Zusammenhänge sind in der Zweiten Vorrede zur Neuen Heloise und im ersten Buch des Emile in aller Deutlichkeit formuliert: „Der Zauber des häuslichen Lebens ist das beste Gegengift gegen den Verfall der Sitten"12, mehr noch: „Will man die öffentlichen Sitten reformieren, so muß man bei den häuslichen Sitten anfangen." 13 Die Möglichkeitsbedingungen der demokratischen Tugendrepublik liegen nicht zuletzt in der von Rousseau herausgestellten sozialen Struktur der Familie, die allein die geforderte Erziehungsleistung für den künftigen Bürger garantieren kann. Das bedeutet aber: Ebenso wie der Mensch unmittelbar im Bürger aufgehoben ist, verwirklicht sich bürgerliches Leben im Rahmen der Familie. Der Mann ist nur wahrhaft citoyen, weil er diesseits der Versammlung bereits als Gatte und Vater existiert14, die Frau wird zur Bürgerin, gerade weil und solange sie sich auf ihre Rolle als Gattin und Mutter beschränkt. Bürgerliche Männer sehen sich von Rousseau aufgefordert, auf das Streben nach Besitz und Macht umwillen der familialen Bindungen zu verzichten, die Frauen entsprechend von ihrer Sucht nach Öffentlichkeit zu lassen.15 Der Appell an die bürgerlichen Männer, wahrhaft Väter zu werden, wird im Emile mit gleicher Verve formuliert wie der an die Frauen wieder Mütter zu werden; Man sieht: die bürgerliche Familie ist in ihrem Ursprung nach mit dem Ruf nach einer „neuen Väterlichkeit" verkoppelt. Die Geißelung der von „Ehrsucht, Geiz, Tyrannei" und „harte [r] Unempfindlichkeit"16 beherrschten Väter fällt nicht harscher aus als die der „pflichtvergesse-
11 12 13 14
15
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Samuel von Pufendorf, Acht Bücher vom Natur- und Völkerrecht, VI, 1,10. OCPIV, S. 258/ Emil, S. 19. (Übers, v. mir verändert) Die neue Heloise, 2. Vorrede, S. 22/ OCP II, S. 24. Der Tutor zu Emile: „Sobald du Familienoberhaupt bist, wirst Du Mitglied des Staates." (Emil, S. 493/ OCP IV, S. 823). Dazu weiter unten. Die Forderung nach politischer Mitbestimmung steht also der Neubestimmung der gesellschaftlichen Rolle der Frau als tugendhafter Bürgerin in den Funktionen von Gattin und Mutter diametral entgegen. Diesem tiefgehenden existentiellen Dilemma sahen sich die politisch aktiven Frauen während der Revolutionsjahre ausgesetzt. Emil, S. 10/ OCP IV, S. 246.
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nen Frauen"17: Dabei korrespondiert der Nährfunktion der Mutter die Bildungsfunktion des Vaters. Die Erfüllung dieser Aufgaben ist durch die kommerziellen Verhältnisse der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft zutiefst gefährdet. Familiäre Bindung wird au fand verhindert, wo durch die Delegation elterlicher Pflichten die - modern gesprochen Beziehungsarbeit zur Dienstleistung und damit zur käuflichen Ware wird. Am Ammenund Erzieherwesen seiner Zeit erachtet Rousseau es als verhängnisvoll, daß sie den Menschen schon früh die falschen Lektionen lehren: Empathie, Zuwendung und Fürsorge, die das Kind in seiner Abhängigkeit als ursprünglich an es selbst gerichtet erfährt, entpuppen sich als ein häuslicher Service, die Vermittlung sozialer Beziehungen im Medium des Geldes dringt in alle Bereiche und wird universal, soziales Handeln erweist sich als ausschließlich interessengeleitet. Mit dem ihm zur Verfugung stehenden Pathos verbindet Rousseau die regenerative Initiativkraft zur Revitalisierung des Gesellschaftskörpers mit der nährenden Funktion der Mütter: „Wenn sich die Mütter dazu verstünden, ihre Kinder selber zu nähren, so werden sich die Sitten von selbst erneuern, und die natürlichen Regungen erwachen. Der Staat wird sich wieder bevölkern."18 Der Wert der Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen den Generationen rückt ebenso in Hinsicht auf die Neudefinition der väterlichen Rolle in den Vordergrund: Ihm wird innerhalb der bürgerlichen Familie ausdrücklich eine Erziehungsaufgabe zugewiesen. Dies geschieht in Abhebung von der traditionellen, feudal-patriarchalen Familienorganisation, deren vorrangige Funktion sich in der Gewährleistung der genealogischen Kontinuität von Stand und Besitz erschöpft, und im Unterschied zum Selbstverständnis der besitzbürgerlichen Familie, das nicht zuletzt mangels alternativer Konzepte durch die Kategorie des Eigentums dominiert ist. In einer politischen Ordnung, deren Grundlagen sich von feudalen Strukturen wie von denen der liberalen bürgerlichen Gesellschaft gleichermaßen unterscheiden, fallen entsprechend auch den Vätern andere Aufgaben zu. Die väterliche Investition in die Kinder ist weniger auf Besitzstandswahrung ausgerichtet als vielmehr auf eine Vermittlung von sittlichen Werten, für welche das persönliche pädagogisch-emotionale Engagement des Vaters unverzichtbar ist, insofern sie in Haltung und Handlung vorgelebt werden müssen: „Wie die Mutter die wahre Amme ist, so ist der Vater der wahre Lehrer", denn „wenn ein Vater nur Kinder zeugt und ernährt, so erfüllt er nur ein Drittel seiner Pflicht. Der Gattung schuldet er Menschen, der Gesellschaft Gemeinschaftswesen und dem Staat Bürger."19 17 18
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Emil, S. 18f./ OCPIV, S, 257f. Emil, S. 19/ OCP IV, S. 258. Auf den Widerhall, den Rousseaus Aufruf an die Mütter, ihre Kinder selbst zu stillen, gefunden hat und auf das Emblem der stillenden Mutter in der Revolution - „que la patrie se montre done la mere commune des citoyen" (CEconomie politique, OCP III, S. 258) - kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. dazu: Mary L. Jacobus, Incorruptible Milk: Breast-feeding and the French Revolution, in: Sara E. Melzer and Leslie W. Rabine, Rebel Daughters. Women and the French Revolution, Oxford 1992, S. 54—75 und Valerie Lastinger, To Nurse and to Die: Rousseau and the Test of Fiction, in: The European Journal of Women 's Studies 4 (1997), S. 421^134. Vgl. Emil, S. 22fJ OCP IV, S. 262f. (Übers, von mir verändert)
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Die Reformierung der Institution der Familie angesichts des Legitimationsschwunds patriarchaler Herrschaftsmuster und der damit verbundenen Erosion familialer Bindungsverhältnisse erweist sich somit als Bestandteil eines umfassenden politischen Programms, welches das Ziel verfolgt, die alte Sphärendualität von Familie und Staat wieder in Kraft zu setzen und auf diese Weise die moderne bürgerliche Gesellschaft als die Sphäre der ihren Verkehr durch Produktion und Tausch von Waren vermittelnden Privatleute zum Verschwinden zu bringen. Gemäß der klassischen Gliederung der praktischen Philosophie: Ethik, Ökonomik und Politik als der umfassenden Lehre vom Einzelmenschen, vom Haus und vom Staat zielt Rousseau in den drei großen Werken seiner zentralen Schaffensperiode: Emile, La Nouvelle Hèloïse und Contrat Social als einer Tugendlehre des Einzelnen, des Hausherren und des Bürgers auf eine umfassende Reformulierung des antiken Programms der praktischen Philosophie unter den Bedingungen der Moderne.20 Nicht also der Bereich des Häuslichen allein, sondern beide Sphären der Rousseauschen Republik, die häusliche und die öffentliche, sind konzipiert in Gegenstellung zur Physiognomie der modernen bürgerlichen Wettbewerbsgesellschaft. Aus dieser Perspektive weisen beide Dimensionen - Haus und Staat - im Zentrum ihrer Organisation eine frappierende Ähnlichkeit auf. Diese innere Verwandtschaft von Familie und öffentlicher Sphäre, die man als das Spezifikum der Rousseauschen Republik ansehen muß, besteht nicht in der wechselseitigen Übertragbarkeit der Strukturprinzipien von oikos und polis, wie sie die Antike denkt, folgt auch nicht der neuzeitlichen, vertragsrechtlichen Reformulierung dieser Strukturanalogie, sondern gibt sich als die Ähnlichkeit von zwei Formen von Gemeinschaft zu erkennen: als die der privaten Gemeinschaft des Gefühls und der öffentlichen des allgemeinen Willens. Der Übereinstimmung der Menschenherzen in der Privatsphäre korrespondiert diejenige der Willen der Staatsbürger, die sich in der volonté générale Ausdruck verleiht; wobei die zweite sich als funktionell abhängig von der ersten erweist. Damit wird, woran noch einmal zu erinnern ist, die traditionelle Nachrangigkeit des Privaten durch Rousseau nachhaltig revidiert: Nicht mehr allein die privilegierten Spielräume des in der öffentlichen Sphäre agierenden polites ermöglichen ein gelingendes Leben, sondern das Haus, der Bereich des ehemals bloßen, reproduktiven Lebens hat als Privatsphäre gleichrangige Würde erobert. Die Entfaltung humaner Potentiale hat ihren Boden nicht nur im öffentlichen Miteinanderreden und -handeln, sondern in moderner Weise in den Formen privater Interaktion und 20
Diese Interpretationshypothese widerspricht den Lesarten, die in den drei zentralen Werken zwei grundsätzlich unvereinbare Modelle von Existenzverwirklichung angezeigt sieht, entsprechend der bekannten Stelle zu Beginn des Emile: „[...] il faut opter [...] entre faire un homme ou un citoyen; car on ne peut faire à la fois l'un et l'autre." (OCP IV, S. 248/ Emil, S. 6) Der einflußreichen Deutung Dérathés zufolge formuliert Rousseau zwei gleichrangige, aber inkompatible Optionen: den Weg des privaten, familiären Glücks und den der politischen Tugend. Robert Dérathé, L'unité de la pensée de Jean-Jacques Rousseau, in: Samuel Baud-Bovy (Hg.), Jean-Jacques Rousseau, a.a.O., S. 203-218. Vgl. a. die Erläuterungen Pierre Burgelins, OCP IV, S. 1296.
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Kommunikation ebenbürtig Fuß gefaßt. Vor diesem Hintergrund erschöpft der sentimentale oikos seine Funktion nicht allein in der Gewährleistung der fur den männlichen Vollbürger konstitutiven ökonomischen Autarkie, sondern spannt für alle Mitglieder der Hausgemeinschaft den Raum für die im Medium der empathisch erweiterten Selbstliebe erfahrbaren Übereinstimmung im menschheitlichen Gefühl auf. In der Privatsphäre gewinnt sich das Individuum als Mensch schlechthin. Im Mitgefühl, dessen Restitution und Permanenz nur auf dem natürlichen Level der Familie gelingen kann, wird es dem Einzelnen möglich, sich selbst als Glied der Gattung zu erfahren. Menschsein im oikos ist so nicht mehr allein auf die kreatürlichen Notwendigkeiten der Reproduktion des Individuums und der Gattung herabgestuft, sondern indem es sich im Mitfühlen auf die Gattung Mensch hin ausweitet, begründet und verankert es Menschheitlichkeit im Gefühl der Gleichheit. An dieser Stelle soll kurz auf das Verhältnis von Gefühlsethik und Staatsrechtslehre eingegangen werden, wie es sich aus Kantischer Perspektive darstellt. Kants Pflichtethik schließt den Rückgriff auf ein anthropologisch fundiertes moralisches Gefühl strikt aus. Umgekehrt läßt die Rechtslehre die Triebfeder des Rechtshandelns offen. Nur die Bildung des pactum unionis, d.h. das Verlassen des Naturzustandes ist Rechtspflicht. Das Fortwirken der Vergemeinschaftung in Form einer Wandlung der Einzelinteressen ist aber den Kantischen Intentionen geradezu entgegengesetzt: Kant begreift die Konstitution des allgemeinen Willens gerade nicht als Akt sittlicher Vergesellschaftung. Das apriorische Prinzip der positiven Rechtsordnung ist vielmehr das formale Prinzip der Kompatibilität individueller Willkürsphären, weshalb bekanntlich das Problem der Staatserrichtung für Kant auch „für ein Volk von Teufeln" lösbar sein muß. Von daher ist klar: Nur weil der volonté générale die Idee eines material bestimmten Gemeinwohls zugrunde liegt, sind Maßnahmen erforderlich, die das Fortwirken der Gemeinwohlorientierung in den vergesellschafteten Subjekten sicherstellen. Was Kant aufgrund der Autonomie seines Moralprinzips ausschließen muß, fordert Rousseau: Für ihn ist das Individuum dann als sittlich frei zu begreifen, wenn es die Empathie, d.i. die auf die Gattung ausgeweitete Selbstliebe in den Antrieb verwandelt, die Etablierung gleicher Rechte für alle zu erwirken und zu garantieren. Wenn also Rousseau schreibt, daß „allein dem Gesetz [...] die Menschen Gerechtigkeit und Freiheit [verdanken]", da dieses „heilsame Organ" des allgemeinen Willens „die natürliche Gleichheit der Menschen im Recht wieder herstellt]" 21 dann wird deutlich, daß Gefühlsethik dem Staatsrecht in der Weise zuarbeitet, wie es der Kantianer Reich in der Absicht formuliert, die Differenz zu Kant zu markieren: Rousseau muß die Möglichkeit annehmen, „daß das Gefühl, durch das die Natur die Menschen vereinigt, im Staate selber einen Zweck bekommt, durch den es mit der Freiheit der Menschen einstimmig wird"22. Allgemeine
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Politische Ökonomie, S. 41/ OCP III, S. 248. Vgl. Klaus Reich, Staatsrecht und Ethik bei Rousseau, in: ders., Gesammelte Schriften. Mit Einleitung und Annotationen aus dem Nachlaß herausgegeben von Manfred Baum, Udo Rameil, Klaus
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Menschheitlichkeit erscheint im Staat als eine Zwecksetzung des Willens, der das Zusammenstimmen der Freiheiten gleicher Individuen sich vornimmt. Es bildet das Herzstück von Rousseaus politischem Denken, daß diese Integration der Freiheiten nicht als Kompatibilität der Freiheitssphären, sondern als Kongruenz der subjektiven Willen, als die der Gefuhlsgemeinschaft des Gattungswesens Mensch korrespondierende Willensgemeinschaft der Bürger, als volonté générale, gedacht wird. Rousseaus Gesellschaftsvertrag konstituiert die souveräne Körperschaft der Bürger im ursprünglichen Akt des rechtliche Gleichheit stiftenden allgemeinen Willens. Sofern aber dieser im Vertragsschluß resultierende allgemeine Wille nicht nur Stiftungsakt ist, sondern dynamisiert zur Verlaufsform der Republik das perennierende Paradigma ihrer politisch-ethischen Organisation abgibt, muß er in der Form der volonté générale immer wieder neu erzeugt werden. Die Eigenart und die innewohnende spezifische Schwierigkeit der volonté générale besteht nun darin, daß ihre Allgemeinheit nicht empirischer Natur ist, d.h. nicht als unterschiedslos deckungsgleich mit der faktischen Mehrheitslage im Gesetzgebungsverfahren - der volonté de tous - anzusehen ist, sie aber andererseits auch keine rein vernunftrechtliche Gerechtigkeitsnorm im Kantischen Sinne darstellt. Dem Konzept der volonté générale liegt eine material bestimmte Theorie des bonum commune zugrunde. Der allgemeine Wille ist immer auf das substantiell Gute gerichtet. Für dessen Objektivität ist es unerheblich, wie viele der Bürger es faktisch in ihren Willen aufnehmen, für seine Geltung hingegen nicht. Rousseau unternimmt mit dem Begriffspaar von volonté générale und volonté de tous den Versuch, die Spannung zwischen zwei Paradigmen der Herrschaftsbegründung zu bewältigen und zwischen dem vernünftigen Konsens des antiken Intellektualismus und dem faktischen Konsens des neuzeitlichen Voluntarismus zu vermitteln23: Er konzipiert das vernünftig einsehbare Gute als an sich seiendes, das gleichwohl nur so zur Geltung kommen kann, daß es faktisch von der Mehrheit der Bürger in ihren Willen aufgenommen wird. Nur die Gemeinschaft der Bürger kann die volonté générale repräsentieren, aber sie repräsentiert sie nicht notwendig und nicht immer - in diesen Fällen hat sich volonté générale zurückgezogen und schweigt. Das Allgemeinwohl muß demnach von den Bürgern mehrheitlich gewollt werden, indes garantiert nach Rousseau das demokratische Verfahren allein noch nicht die gemeinwohlorientierte Zwecksetzung der Bürger. Da aber das objektiv Gute mit dem politischen Willen jedes Einzelnen vermittelt sein muß, gilt es Veranstaltungen zu treffen, die eine Verinnerlichung der Gemeinwohlorientierung gewährleisten. Darin liegt, wie gezeigt, die Bedeutung der Familie, die dank einer die ökonomischen
23
Reisinger und Gertrud Scholz, a.a.O., S. 200-215, hier: S. 213. Zum Verhältnis des Staatsrechts bei Rousseau und Kant siehe Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, a.a.O., S. 361f. Vgl. hierzu: Robert Spaemann, Die Utopie der Herrschaftsfreiheit, in: ders., Zur Kritik der politischen Utopie, a.a.O., S. 104-127 und Wolfgang Kersting, Gesellschaftsvertrag, Volkssouveränität und „volonté générale ". Das systematische Zentrum der politischen Philosophie Jean-Jacques Rousseaus, in: ders. (Hg.), Die Republik der Tugend, a.a.O., S. 81-117.
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und sozialpsychologischen Bedingungen als oikos integrierenden Struktur die geforderten sozialisatorischen Leistungen erbringen kann. Eine innere Abhängigkeit von der Familienordnung und näherhin der Geschlechterordnung weist aber auch das neben den Sitten und Gebräuchen von Rousseau angeführte dritte Element der zwanglosen Regulierung eines Volkes auf: die öffentliche Meinung.24 Auch hier fungiert die bürgerliche Familie als der institutionelle Garant republikanischer Öffentlichkeit, wenngleich auf vermittelte Weise. Es ist der Brief an d'Alembert, in welchem dieser indirekte funktionelle Zusammenhang von Geschlechter- und Familienordnung und bürgerlicher Öffentlichkeit appellativ verhandelt wird und der, nach Rousseaus eigener Aussage, das Kapitel „Über das Zensoramt" im Contrat Social komplettiert, welches dem Thema der opinion publique nur geringen Raum einräumt. Opinion publique und
Geschlechterordnung
Als Streitschrift Rousseaus gegen die Einrichtung eines Theaters in seiner Vaterstadt Genf gerichtet, gibt sich der Brief an d'Alembert bei näherem Hinsehen als eine Kampfschrift für die Rückeroberung der öffentlichen Sphäre als einer im genuinen Sinne bürgerlichen zu erkennen. Obgleich sich in der Lettre die Botschaft in den Vordergrund drängt, daß tugendhafte Bürgerinnen auf ihr Verlangen nach Öffentlichkeit zugunsten häuslicher Pflichten verzichten sollten, zielt die Intention der Schrift nicht vorrangig auf die Brechung der Emanzipationsansprüche der Frauen, sondern auf die Etablierung einer Dimension von Öffentlichkeit, welche allein die geeigneten Rahmenbedingungen für die Bildung der Individuen zu Bürgern, d.h. zu Subjekten des allgemeinen Willens bereitstellt. Unangesehen der Eigenart der Rousseauschen opinion publique teilt auch Rousseau die Überzeugung, die dem aufklärerischen Modell bürgerlicher Öffentlichkeit allgemein zugrunde liegt: nämlich zwischen aufgeklärten Bürgern einen Konsens über das soziale und politische Wissen sich einspielen lassen zu können. So kommt der opinion publique als politischem Integrationsfaktor eine entscheidende Kraft im Spiel der allgemeinen Willensbildung, näherhin bei der Konstitution der volonté générale zu. Dabei ist ihre Rolle eine doppelte: Sie liegt zum einen in ihrer mittelbaren Funktion in Hinblick auf die soziale Homogenisierung, zum anderen - dies der in der Lettre an d'Alembert verhandelte Aspekt - in ihrer unmittelbaren legislativen Funktion. Der Beitrag, den die opinion publique zur sozialen Integration leisten kann, knüpft an das oben Entwickelte an. Moeurs et coutumes, substantielle Sittlichkeit und Gebräuche 24
Gesellschaftsvertrag Buch II, Kap. 12/ OCP III, 394: „Zu diesen drei Arten von Gesetzen fugt sich eine vierte, die wichtigste von allen, die weder auf Marmor, noch auf Erz, sondern in die Herzen der Bürger geschrieben wird; in ihr liegt die eigentliche Verfaßtheit des Staates; sie kommt täglich zu neuer Kraft; sie belebt oder ersetzt die anderen Gesetze, wenn sie altern oder verblassen, erhält ein Volk im Geist seiner Einrichtung und setzt unmerklich die Macht der Gewohnheit an die Stelle der Staatsgewalt. [...] Ich rede von den Sitten und Gebräuchen und vor allem von der Meinung."
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als für die Konstitution des Gemeinwesens unabdingbare Größen bilden fur Rousseau der Boden, von dem die volonté générale ausgeht und auf den sie zurückwirkt. Denn „wenn bisweilen die Gesetze einen Einfluß auf die Sitten haben, so deshalb, weil sie aus ihnen ihre Kraft beziehen"25. Es ist die gleichsam in die konkreten Lebensverhältnisse eingelassene volonté générale, die Sittlichkeit der Sitte, die es zu wahren gilt, und es ist die Aufgabe der im Gesellschaftsvertrag eingeführten Zensur, für den Erhalt der öffentlichen Meinung im Sinne der Volksmeinung/1'opinion du peuple als Garant der Homogenität der Sitten einzustehen: „Das Zensoramt erhält die Sitten dadurch, daß es die Zersetzung der Meinungen verhindert, ihre Aufrichtigkeit durch weise Anordnungen bewahrt... ,"26 Mittels der Kontrollinstanz Zensur eingehegt, trägt die opinion publique als l'opinion du peuple insofern zur Bildung der volonté générale bei, als sie die politische Willensbildung gefährdende Dissensrisiken bereits am Orte ihrer Entstehung bekämpft und damit eine den bürgerlichen Konsens destabilisierende Ausdifferenzierung von Lebensformen und Werthaltungen bannt, die einer unkontrollierten Pluralisierung der Meinungen auf dem Fuße folgt. Die Art und Weise, wie die Zensur operiert, weist eine bemerkenswerte Parallelität zum Konzept der negativen Erziehung im Émile auf: Jegliche Beeinflussung und Lenkung der Volksmeinung kann nur negativer Natur sein; es gilt deren Naturwüchsigkeit zu erhalten, indem sie vor Korruptionsgefärdungen Irrtümern und Sophistereien - bewahrt wird. Das bedeutet, daß die Versittlichung der Bürger nicht auf manipulativen Wege direkt erwirkt werden kann, die einzig legitime Form einer Lenkung der opinion publique liegt vielmehr in der Abschirmung vor sittlichkeitserodierenden Einflüssen.27 Dieses Muster einer mittels republikanischer Umsichtigkeit und wohlmeinender Repression zu hegenden Naturwüchsigkeit bleibt auch dort leitend, wo die opinion publique zu einem unmittelbaren Faktor im Rahmen der Gesetzgebungspraxis avanciert. Wie oben schon bemerkt, spricht sich die volonté générale im Prozeß demokratischer Rechtsfindung und -Setzung entweder aus, oder aber sie bleibt stumm. Kann sie sich Ausdruck geben, dann repräsentiert die Stimmenmehrheit der Bürger die volonté générale, bleibt ihre Stimme hingegen ungehört, d.h. wollen alle oder die Mehrheit das Falsche, dann dominiert die volonté de tous und die volonté générale hat sich zurückgezogen. Grundsätzlich kann für Rousseau das Allgemeinwohl als ein objektiv Gutes von allen Beteiligten eingesehen und in der Folge gewollt werden. Entscheidend ist aber: Auch wenn über das objektiv Gute im Medium des Dialogs etwas ausgemacht werden kann, so wird es doch nicht in Kommunikationsprozessen ermittelt, sondern als das wahrheitsfahige Resultat jeder Délibération geht es dieser voraus. D.h. Rousseaus 25
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Brief an d'Alembert; S. 401/ OCP V; S. 61 vgl. auch das Fragment „Des Moeurs": „La loi n'agit qu'en dehors et ne règle que les actions; les moeurs seules pénétrent intérieurement et dirgent les volontés." (OCP III, S. 555) Gesellschaftsvertrag, Buch IV, Kap. 7; OCP III, S. 459: „maintenir les moeurs en empêchant les opinions de se corrompre en conservant leur droiture par de sages applications." Vgl. auch Gesellschaftsvertrag, Buch II, Kap. 6.
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opinion publique ist nicht der im Medium öffentlicher Diskussion ermittelte Konsens, sondern der Ausdruck des allgemeinen Interesses, das unter günstigen Voraussetzungen auch in öffentlicher Rede in Erscheinung tritt. Das bedeutet, daß den öffentlichen Kommunikationsprozessen für die Ermittlung des Gemeinwohls kein konstitutiver Stellenwert zukommt, sie bleiben der Wahrheit äußerlich. Mehr noch: sie bleiben nicht nur äußerlich, sie sind darüber hinaus im besten Fall als überflüssig anzusehen. Da der Gegenstand des allgemeinen Willens nicht diskursiver Natur ist, sondern dem Willen das, worauf er sich richtet, in gewisser Weise schon innewohnt, spricht sich sein Gehalt nach Art eines Gewissensspruchs - gleich einem dictamen - unmittelbar zu; allerdings, wie noch zu sehen sein wird, spricht er sich nur entsprechend qualifizierten Individuen zu. Mittels „weiser Vorkehrungen" gelingt es, daß sich dem Bürger „cette voix céléste qui dicte à chaque citoyen les préceptes de la raison publique"28 vernehmbar macht. In Anbetracht des sich in politischen Subtilitäten verzettelnden Stimmengewirrs der aufgeklärten Öffentlichkeit, dem als einem ensemble spitzfindiger Rationalisierungsversuche divergenter oder agonaler Interessenlagen keine wirkliche politische Dignität eignet, können nur mittels Vorkehrungen prohibitiver Art diejenigen Freiräume geschaffen werden, in welchen durch die Abschirmung von der pluralen Meinungsvielfalt, die Möglichkeit einer unirritierten Besinnung auf die republikanischen Prinzipien statthaben kann. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, wenn für Rousseau die öffentliche Délibération im Idealfalle die Gestalt des Mit-sich-zu-Rate-Gehens, des inneren Monologs des citoyen annimmt, der das objektiv dem Gemeinwohl Zuträgliche sich unverstellt und unverzerrt zu Bewußtsein bringt. Am reinsten zeigt und bezeugt sich für Rousseau die Anwesenheit der volonté générale dort, wo der Dialog in Einmütigkeit erstirbt und im gemeinsamen Schweigen der tugendhaften Bürger, im faktischen Konsens der Bürgerherzen terminiert, wo ein Gesetzesvorschlag nur zum Ausdruck bringt „was alle schon gefühlt haben". 29 Spätestens an dieser Stelle wird die Nachbarschaft zur familiären, die Seelen im Existenzgefühl vereinenden Einmütigkeit offenkundig, die Rousseau mit der Szene der „matinée à l'Angloise" im ekstatischen Schweigen der intimen Gemeinschaft imaginiert hat. In der unanimité der Bürger, der Einstimmigkeit der gemeinwohlorientierten Gesinnung, die jeder die Standpunkte vermittelnden Diskussion überhoben ist, wiederholt sich auf der Ebene der Öffentlichkeit, was für Rousseau bereits in der Sphäre des Privaten das Zentrum ihrer Organisation war: die Unmittelbarkeit des gemeinsam geteilten Gefühls, die sich jeder Vermittlung im Medium des Wortes entschlagen kann. Die Gemeinsamkeit des emphatischen Empfindens der eigenen Existenz in der Kommunion der Seelen schlägt vermittlungslos um in die Epiphanie der Gemeinschaftlichkeit der in der patriotischen Gesinnung bereits integrierten
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OCP III, S. 248 auch:„[...] lassen Sie alle Bücher liegen, gehen Sie in sich und lauschen Sie dieser verborgenen Stimme, die zu allen Herzen spricht, und seien Sie tugendhaft, damit Sie erfahren was es heißt tugendhaft zu sein." (Brief über die Tugend, a.a.O., S. 44) Gesellschaftsvertrag, Buch IV, Kap. 1.
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Staatsbürger.30 Damit wird Rousseau in letzter Instanz eingeholt von dem, was er als antiabsolutistischer Denker ursprünglich - wenngleich unter anderen Vorzeichen ausgezogen war zu bekämpfen: von einer Famiiiarisierung der Sphäre des Politischen. Die innere Verbindung der opinion publique zur volonté générale kommt also im Rahmen der Gesetzgebung unmittelbar zum Tragen. Bürgerliche Teilhabe setzt eine andere Qualität der öffentlichen Meinung voraus als die durch Presse und Salondiskurse vermittelte Meinung des public éclairé. Von der vagierenden Beliebigkeit der Meinungen und von einer Kultur rhetorischer und intellektueller Finessen, der allein unmündige Untertanen anhängen, sind die Formen der politischen Délibération der männlichen Vollbürger, die das allgemeine Wohl unmittelbar verantworten, weit entfernt. Die opinion publique als Volksmeinung wird im Brief an d'Alembert der bereits etablierten aufgeklärten Öffentlichkeit des public éclairé31 in einer geschlechtskonnotiert-kulturkritischen Wendung entgegengesetzt: Sie geht nicht aus dem aristokratischgroßbürgerlichen Milieus der durch Frauen dominierten literarischen Salons hervor, sondern sie kann sich als Ausdruck republikanischer Gesinnung überhaupt nur in Kontrast und in scharfer Entgegensetzung zu dieser Geltung verschaffen. Für eben diese Abgrenzung der in rechtverstandener Weise allgemeinen öffentlichen Meinung von der faktisch herrschenden der Zeit, bedient sich Rousseau im Brief an d'Alembert in rhetorisch äußerst geschickter Weise der Polarisierung von weiblich und männlich. Er versteht es, in der Lettre die gesamte Klaviatur anti-absolutistischer Affekte zu bedienen und wohletablierte Assoziationsmuster wachzurufen, indem er die öffentlich agierende Frau zur okzidentalen Variante des Sultans, des weibischen Despoten stilisiert, der mit der engen Verbindung von Sexualität, abundantem Luxus, Verweichlichung und bornierter Willkürherrschaft das Feindbild bürgerlich-politischen Denkens par excellence abgibt. Hier sind Frauen und politische Korruption, Absolutismus und Partikularismus miteinander verkoppelt.32 In den politisch-literarischen Salons der Zeit präsentiert sich eine orientalisierte, von Frauen beherrschte und durchgängig effeminierte Öffentlichkeit und verleiht sich Ausdruck im unverbindlichen, weil nicht zuletzt der Galanterie und dem Amusement Tribut zollenden Raisonnement, welches im schlechtesten Fall sich zu keinem allgemeineren Gegenstand zu erheben weiß als zu der Person der Gastgeberin. Die Gegensätze können krasser nicht sein: Gegen die literarisch geistvollen aber unverbindlichen Selbstinszenierungen weibisch agierender Protagonisten, sprich Untertanen, macht Rousseau die verantwortungsvolle Besinnimg auf die Grundlagen des allgemeinen Wohls durch die einmütigen Mitglieder des souveränen Bürgerbundes geltend:
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Zur politischen Tugend bei Rousseau als einem vernunftgewirkten Gefühl siehe: Astrid von der Lühe, „Die Liebe zu den Gesetzen ", in Wolfgang Kersting (Hg.), Die Republik der Tugend, a.a.O., S. 55-77. Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, a.a.O., S. 170ff. Vgl. Brief an d'Alembert, S. 43 lf./ OCP V, S. 87f.
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„Die Männer sind unter sich, brauchen ihre Begriffe nicht dem geringeren Fassungsvermögen der Frauen anzupassen, brauchen die Vernunft nicht in Galanterie zu kleiden und können sich gesetzten und ernsthaften Gesprächen ohne Furcht vor Lächerlichkeit hingeben. Man wagt vom Vaterland und von der Tugend zu sprechen, ohne deshalb als Langweiler zu gelten, man wagt man selbst zu sein, ohne sich den Regeln eines Klatschweibs zu unterwerfen. [...] Beim Streit gibt es keine Schonung: Wer sich vom Gegner mit dessen ganzer Kraft angegriffen ftihlt, muß sich mit all seiner Kraft verteidigen, und so gewinnt der Geist Genauigkeit und Schärfe."33 Anders gewendet: erst mit dem Ausschluß des Weiblichen aus der Öffentlichkeit 34 stellen sich die Möglichkeitsbedingungen von vernünftiger und verantwortungsvoller Reflexion auf die Prinzipien des Gemeinwesens gleichsam von selbst her und setzen somit die Männer in den Stand, ihrer Rolle und Funktion als Staatsbürger entsprechen zu können. Die umfassende Humanitas, die der Mann innerhalb der Rousseauschen Republik als zärtlicher Gatte, verantwortungsvoller Familienvater und als gemeinsinnsfahiger Bürger realisieren kann, wird für die Frau auf ein Programm von weiblicher Bürgerlichkeit restringiert, dessen Verwirklichungsmöglichkeiten allein innerhalb der Sphäre des Privaten liegen. Die ursprüngliche Domäne der Frau ist mit ihrer Verantwortung für die Ordnung der Sexualität und der Generativität fixiert, ihre spezifischen Tugendanforderungen entspringen letztlich, wie oben ausgeführt, der Asymmetrie der libidinösen Organisation der Geschlechter und der Asymmetrie hinsichtlich der Sekurität der Elternschaft. In die Geschlechtskonnotierung der politischen Sphärentrennung ragen die geschlechtertheoretischen Annahmen Rousseaus insofern hinein, als er die Tatsache, daß Menschen als Männer und Frauen existieren, neu gewichtet und Geschlechtlichkeit - nun nicht länger Akzidens - bei der Bestimmimg des Menschseins dem allgemein Menschlich-Gattungshaften als ebenbürtigen Faktor zur Seite stellt. 35 Der Möglich-
33 34
35
Ibid., S. 441/ OCP V, S. 96. Dem theoretischen korrespondiert nicht zuletzt ein historisch-faktischer Ausschluß der Frauen aus der Öffentlichkeit: Zur (Wieder)Herstellung der „natürlichen Ordnung" und zur Verhinderung der Emanzipation der Frauen von ihrer natürlichen familialen Bestimmung wurden im Oktober 1793, unmittelbar nach der Exekution der Königin Marie-Antoinette, der eine unvergleichliche Diffamierungskampagne vorangegangen war, alle Frauenklubs auf Betreiben der Jakobiner verboten. Die Landesmutter Marie-Antoinette war in pornographischen Pamphleten zum Inbegriff der „schlechten Mutter" hochstilisiert worden und verkörperte in ihrer Person alle Gefahren, die von der „öffentlichen Frau" drohten: die Unmäßigkeit der sexuellen Begierden, Promiskuität und damit die Unsicherheit der Vaterschaft, Verflüssigung der Geschlechtsidentität durch bisexuelle Praktiken und schließlich neben der Konfundierung der Geschlechterordnung noch den fundamentalen Angriff auf die natürliche Ordnung der Generationen: Inzest. Vgl. Lynn Hunt, The Family Romance of the French Revolution, Berkeley, Los Angeles 1992, S. 119ff.; hier auch weitere Literatur. Vgl. hierzu: Marion Heinz, Kommentar: Identität und Differenz. Der paradigmatische Anfang bürgerlicher Geschlechtertheorien in Rousseaus Emile, in: Störfall Gender, hg. von Tatjana Schönwälder-Kuntze u.a, München 2003, S. 130ff.
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keitshorizont der individuellen Entfaltung humaner Potentiale bekommt damit einen geschlechtsdifferenzierten Zuschnitt: Während die Frau durch die naturwüchsig asymmetrische Struktur der Sexualität und Generativität durchgängig beherrscht wird, ist der Mann, der qua Geschlechtsnatur nur in passagerer Anbindung an seine Sexualität lebt und zu seinen prokreativen Potenzen nur in vermittelter Beziehung steht, für die Möglichkeit einer individuellen Ausdifferenzierung seiner Humanität freigesetzt: Der Mann ist „nur in gewissen Augenblicken Mann, die Frau aber ihr ganzes Leben lang Frau"36. Die Frau vollendet sich in Erfüllung der Vorgaben ihrer Geschlechtsnatur, der Mann verwirklicht seine Bestimmung auf individuelle Weise. Es ist das Ziel der im V. Buch des Emile entfalteten Geschlechtertheorie, Mann und Frau in ihrer natürlichen Konstitution und ihren Wesenszügen in der Weise angemessen zu erfassen, daß eines jeden ,,Platz in der physischen und moralischen Ordnung"37 ungezwungen aus der Auslegung ihrer natürlichen Konstitution resultiert. Erst diese teleologische Perspektive macht sichtbar, wie das Physische „immerklich zum Moralischen führt"38, wie in der Natur Sein und Sollen fließend ineinanderübergehen. Ihre Anthropologie schreibt den Geschlechtern ihren Ort im sittlichen Ganzen vor: „die Anordnungen der Natur/ institutions naturelles, woraus sich alle anderen Arten sittlicher Unterscheidung sehr wohl herleiten lassen"39 müssen nur entziffert werden. Die Erziehung der Geschlechter zielt auf nichts anderes als auf die Vervollkommnung ihrer natürlichen Bestimmung mittels der Einpassung in ihre gesellschaftliche Funktionsstelle. Von diesen Voraussetzungen her erklärt sich die Stoßrichtung der Polemik im Brief an d'Alembert. Frauen, die in der Öffentlichkeit agieren, sind Ausdruck einer zerfallenden Familienordnung und damit von Artifizialität und Décadence. Die mit dem Legitimationsschwund patriarchaler Ordnungsmuster einhergehende Erosion des Hausverbandes setzt die Frauen frei und löst damit die legitime Verbindung zwischen ihrem Geschlechtscharakter und ihrer gesellschaftlichen Positionierung auf. Nur solange sich die Frauen der natürlichen Vernunft der Geschlechterordnung widersetzen, drängen sie in die Öffentlichkeit und korrumpieren diese; als bloße Inkorporation des Partikulären sind sie nicht gemeinsinnsfähig. Vor diesem Hintergrund klagt Rousseau die Pervertierung der „natürlichen Verhältnisse" an: Das, was sich an seinem angewiesenen „Platz in der physischen und moralischen Ordnung der Dinge"40 als funktional und gut erweist, verzerrt das natürliche Ordnungsgefüge insgesamt, sobald es über seinen Umkreis hinausdrängt: Die den Frauen zugeschriebene und stetig neu zu erwerbende Ausrichtung auf die Belange des Privaten verkehrt sich, herausgelöst aus allen Bezügen und freigesetzt von allen Verbindlichkeiten, zu einer intellektuell ausstaffierten, selbstbezüglichen Borniertheit und 36 37 38 39 40
Emil, S. 389/ OCPIV, S. 697. Emil, S. 383/ OCP IV, S. 692. Emil, S. 389/ OCP IV, 697. Die neue Héloise, Teil I, Brief XLVI, S. 127/ OCP II, S. 128. Emil, S. 385/ OCP IV, S. 692; zum Begriff des Ortes im Emile vgl. Pierre Burgelin, L'idée de place dans ,,1'Émile", in: Revue de Littérature Comparée 35, (1961), S. 529-537.
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hypertrophierten Egoität. Die Stellung der Frau in der Gesellschaft avanciert vor diesem Hintergrund schließlich zum Index der Wohlgeordnetheit eines Gemeinwesens: Öffentlich agierende Frauen okkupieren den Raum staatsbürgerlicher Gesinnung und Besinnung, für den sie nicht geschaffen sind und usurpieren damit einen Platz, der nicht ihrer weiblichen Bestimmung entspricht. Aufgrund ihrer Geschlechtsnatur und der mit ihr verkoppelten sozialen Destination erweisen sie sich als unfähig, als Bürgerinnen in männlich-prinzipienorientierter Weise die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung zu reflektieren. „Die Erforschung der abstrakten und spekulativen Wahrheiten, die Prinzipien und Axiome der Wissenschaften, alles, was auf die Verallgemeinerung der Begriffe abzielt, ist nicht ihre Sache/ n'est point du ressort des femmes" 41 . Auch hier sind Frau und „peuple" von gleicher Beschränktheit: „Nun gibt es aber tausenderlei Gedanken, die nicht in die Sprache des Volkes übersetzt werden können. Die allzu allgemeinen Gesichtspunkte und die allzu entfernten Gegenstände liegen gleicherweise außerhalb seiner Reichweite."42 Allerdings bleibt anzumerken: Auch wenn für Rousseau aufgrund seiner retrograden und modernisierungsfeindlichen Restituierung des oikos als sozio-ökonomischer Basisgröße der Republik die Möglichkeit der politischen Emanzipation des vierten Standes nicht in den Horizont seiner Überlegungen rückt, scheint diese doch nicht in gleicher Weise ausgeschlossen, wie es demgegenüber die der politischen Emanzipation der Frau ist. Versteht man die politische Praxis der Revolutionszeit - v.a. der jakobinischen Phase - als den Versuch der gesellschaftswirksamen Umsetzung genuin Rousseauscher Ideen, so wird deutlich, daß mit der Positivierung des ordre naturel zwar jede Form von „künstlichem", d.i. historisch erzeugtem, ständischem Unterschied beseitigt wird, im Gegenzug aber gerade die gleichsam ewigen, natürlichen Differenzen des Geschlechts und des Alters bestehen bleiben, mehr noch: sie als die einzig noch anzuerkennenden und legitimen inszeniert und gefeiert werden.43 Entsprechend ist es auch für Rousseau gerade die Aufhebung der unhintergehbar natürlichen, die sittlichen Verhältnisse strukturierenden Differenz der Geschlechter, welche die republikanische Gesellschaftsordnung nachhaltig untergräbt. Damit wird die Geschlechterordnung zum Schibboleth der Wohleingerichtetheit einer Republik. Von der Bestimmung des Platzes der Geschlechter in der gesellschaftlichen Ordnung entsprechend ihrer natürlichen Differenz läßt sich beurteilen, inwieweit der ordre naturel tatsächlich auf der Ebene der Bürgerlichkeit restituiert ist und die bürgerliche Ordnung Legitimität beanspruchen kann. Ein geschlechterkritischer Blick auf den Brief an d'Alembert gibt trotz der herausgestellten inneren Konvergenz des Privaten und des Öffentlichen als eine entscheidende und konstitutive Differenz beider Bereiche schließlich die Scheidung der Geschlechter
41 42 43
Emil, S. 420/ OCPIV, S. 736. Vom Gesellschaftsvertrag, II. Buch, Kap. 7. Vgl. Fn. 334. Inge Baxmann, Die Feste der Französischen Revolution. Inszenierung von Gesellschaft als Natur, Weinheim und Basel 1989.
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entlang der politischen Sphärentrennung zu erkennen. Dabei zeigt sich, daß der Ausschluß der Frauen aus der Dimension des Politischen als eines in der Öffentlichkeit vernünftig vermittelbaren und gestaltbaren Allgemeinen nicht als Nebenfolge des Umstands zu gelten hat, daß die öffentliche Sphäre männlich ist, weil sie sich aus männlichen Haushaltsvorständen als ökonomisch Selbständiger zusammensetzt, sondern daß dieser Ausschluß konstitutiv und damit strukturbildend ist.44 Für Rousseaus Republik, dem von utopischen Einschüssen durchsetzten Gegenentwurf zu den politischen Verhältnissen des Spätabsolutismus, ist also die Scheidung von weiblich und männlich der Scheidung von privat und öffentlich äquivalent. Die Verkehrtheit der herrschenden politischen Ordnung manifestiert sich an der Verkehrung der Geschlechterordnung. Mit der Usurpation der öffentlichen Sphäre durch die Frauen lösen sich die Konturen der natürlich fundierten und gesellschaftlich funktionalen Geschlechtscharaktere auf und setzen eine Androgynisierung der Gesellschaft in Gang, welche allein die unumschränkte Herrschaft des Besitzindividualismus unter dem Schutzmantel der fortbestehenden absolutistischen Willkürherrschaft befördert. Maskuline Frauen stellen ebensosehr eine Mißgestalt dar wie effeminierte Männer, weil beide die Fähigkeit verloren haben, die ihnen ursprünglich anvertrauten gesellschaftlichen Domänen in angemessener Weise zu verwalten. Rousseau perhorresziert diese „Promiskuität, die überall unterschiedslos die beiden Geschlechter in den Beschäftigungen und Arbeiten austauscht, was notwendigerweise zu den unerträglichsten Mißständen führen muß."45 Mit der Auflösung der Geschlechtscharaktere gehen die Sphären des Öffentlichen und des Häuslichen ihrer für eine wohlgeordnete Republik unverzichtbaren Spezifizität verlustig: Die Sphäre des Häuslichen wird zu einem Sektor innerhalb der bourgeoisen, vom Geld regierten Leistungsgesellschaft. Entsprechend verkommt die Sphäre des Öffentlichen zum unverbindlichen Raisonnement auf der Bühne eines Klasseninteressen zementierenden Gesellschaftstheaters: Hier spiegelt sich das politische Milieu des spätabsolutistischen Despotismus im schrankenlosen Partikularismus einer widernatürlichen Weiblichkeit und hat darin seinen Rückhalt.
44
Hierzu vgl. Karin Hausen, Überlegungen zum geschlechtsspezifischen Strukturwandel der Öffentlichkeit, in: Ute Gerhard et al., Differenz und Gleichheit: Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht, Frankfurt/M. 1990, S. 268-282.
45
Emil, S. 3 9 2 / OCPIV,
S. 7 0 0 .
Verzeichnis der zitierten Literatur
I. Quellen A. Jean Jacques Rousseau 1. Französische
Ausgaben
Œuvres complètes. Édition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, 5 Bde., Paris 1959-1995. (Bibliothèque de la Pléiade) [OCP], Correspondance générale de J.-J. Roussseau. Éd. par Théophile Dufour et Pierre P. Plan, 20 Bde., Paris 1924-1934 [CGR], Correspondance complète de Jean-Jacques Rousseau. Édition critique établie et annotée par Ralph A. Leigh, 53 Bde., Genf, Oxford 1965-1989. [CCP], Les institutions chymiques, in: Annales de la Société Jean-Jacques Rousseau 12 (1918/19), S. 1-164 und 13 (1920/21), S. 1-178. Jean-Jacques Rousseau, Lettre sur la vertu, l'individu et la société, in: Annales de la Société JeanJacques Rousseau XX (1997) éd. par Jean Starobinski et Charles Wirz, S. 313-327.
2. Übersetzungen Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, in: Schriften, a.a.O., Bd. 1, S. 27-60. Die Bekenntnisse. - Die Träumereien des einsamen Spaziergängers. Übers, von Alfred Semerau und Dietrich Leube, mit einer Einführung von Jean Starobinski sowie einem Nachwort und Anmerkungen v. Christoph Kunze, München 1978. Betrachtungen über die Regierung Polens, in: Sozialphilosophische und politische Schriften, a.a.O., S. 563-655. Briefe vom Berge, in: Schriften, a.a.O., Bd. 2, S. 7-252. Brief an d'Alembert, in: Schriften, a.a.O., Bd. 1, S. 333-474. Brief an Beaumont, in: Schriften, a.a.O., Bd. 1, S. 497-589.
216
VERZEICHNIS DER ZITIERTEN LITERATUR
Brief über die Tugend, übersetzt von Henning Ritter, in: Ralf Konersmann (Hg.), Kulturkritik. Reflexionen in der veränderten Welt, Leipzig 2001, S. 44—51. Diskurs über die Ungleichheit. - Discours sur l'inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämtlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien nach den Originalausgaben und den Handschriften neu ediert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier. Paderborn, München, Wien, Zürich31993 [Zweiter Diskurs]. Emil oder Über die Erziehung. In neuer deutscher Fassung besorgt von Ludwig Schmidts, Paderborn, München, Wien, Zürich 111993. Emile oder Von der Erziehung. - Emile und Sophie oder Die Einsamen. Übers, von Siegfried Schmitz, München 1979. Entwurf einer Verfassung für Korsika, in: Sozialphilosophische und Politische Schriften, a.a.O., S. 507-561. Julie oder Die neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. Vollständige Ausgabe, in der ersten deutschen Übertragung von Johann Gottfried Gellius. Vollständig überarbeitet von Dietrich Leube. Mit Anmerkungen und einem Nachwort von Reinhold Wolff, München 1988 [Die neue Héloïse]. Politische Fragmente, in: Politische Schriften, a.a.O., S. 209-282. Politische Ökonomie / Discours sur l'Economie politique. Hg. und übers, von Hans-Peter Schneider und Brigitte Schneider-Pachaly, Frankfurt/M. 1977. Politische Schriften. Übersetzung und Einfuhrung von Ludwig Schmidts, Paderborn, München, Wien, Zürich 21995. Rousseau richtet über Jean-Jacques. Gespräche, in: Schriften, a.a.O., Bd. 2, S. 253-636. Schriften. Hg. von Henning Ritter, 2 Bde., München, Wien 1978. Sozialphilosophische und Politische Schriften. In Erstübertragungen von Eckhart Koch et al., München 1981. Versuch über den Ursprung der Sprachen, in: Sozialphilosophische und Politische Schriften, a.a.O., S. 163-221 [Essai\. Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. In Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker neu übersetzt und hg. von Hans Brockard, Stuttgart 1977. Vorrede zu „Narcisse", in: Schriften, a.a.O., Bd. 1, S. 145-164.
B. Sonstige Quellen D'Alembert, Jean Le Rond, Lettre à M. Rousseau, Amsterdam 1759. Aristoteles, Politik. Nach der Übersetzung von Franz Susemihl mit Einleitung, Bibliographie und zusätzlichen Anmerkungen von Wolfgang Kulimann, Reinbek bei Hamburg 1994. Bossuet, Jacques-Bénigne, Politique tiré des propres paroles de l'Écriture Sainte, Paris 1709. Buffon, Georges Louis Leclerc de, Histoire naturelle, générale et particulière, 44 Bde., Paris 17491804. Burlamaqui, Jean-Jacques, Principes du droit natural, Genf 1748, Nachdruck Hildesheim 1984.
VERZEICHNIS DER ZITIERTEN LITERATUR
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Personenverzeichnis
Appelt, E. 94 Aristoteles 25-28, 93-94,113, 132 Baczko, B. 100, 102, 113,114, 137 Bahrdt, P. 175 Barbeyrac, J. 29, 59, 97 Baud-Bovy, S. 11,39,203 Baum, M. 204 Baxmann, I. 212 Beauvoir, S. de 178 Beckerath, E. v. 102 Bellenot, J.-L. 172 Benhabib, S. 12 Bien, G. 93,164 Biet, C. 118,133,140 Blasche, S. 145 Bloch, E. 124,125 Bloom, A. 167,171,186,199 Bonald, L. G. A. de 138 Bossuet, J.-B. 30,32 Bovenschen, S. 174 Brandt, R. 38,42,83 Brunner, O. 23, 73,101-102,137 Buck, G. 154,159, 162, 190 Buffon, G.-L. Ledere 41, 43, 45, 188 Bulst, N. 119 Burgelin, P. 165, 167, 171, 183, 188, 189, 191, 199, 203,211 Burlamaqui, J.-J. 96
Charvet, J. 172 Chwaszcza, C. 117 Clark, L.M.G. 12,89 Condillac, É. B. de 163-164 Conze, W. 23 Coole, D.H. 12,74 Cranston, M. 77, 187 Crocker, L. G. I l l D'Alembert, J. Le Rond 59,179 D'Holbach, P.-H. Thiry 122 D'Houdetot, S. 186 Delon, M. 43 Dent, N.J. H. 155,157,162 Derathé, R. 28, 29, 35, 37, 38-39, 57, 61, 62, 71, 98, 104, 133, 165, 166, 167,183,185, 203 Derrida, J. 52, 59, 60, 165, 167, 169, 170,179 Diderot, D. 29, 59, 179 Dieckmann, H. 179 Doyé, S. 31,89 Duchet, M. 52,53,57 Dufour, T. 156 Ebeling, H. 154 Eigeldinger, M. 165 Engels, F. 54,88,89 Erler, A. 134 Euchner, W. 26,31
230 Fabre, J. 125 Feaver, G. 44 Ferguson, A. 38 Fetscher, I. 11, 12, 42, 62, 71, 75, 77, 84,107, 117,122,125, 126,159 Fichte, J. G. 125, 175, 178 Filmer, R. 29-30, 98, 149 Forschner, M. 70,71,83,117 Freud, S. 178-179 Frevert, U. 101,145 Fuchs, H.-J. 155,157 Garbe, C. 179 Geismann, G. 39 Gellius, J. G. 103 Gerhard, U. 18,101,134,213 Glimitzky, H. 175 Goldschmidt, V. 54, 55, 56, 73, 83, 84,91,97,152,153, 164 Goy, J. 119 Grimm, D. 14,139 Grimsley, R. 187 Groethuysen, B. 14,183 Grotius, H. 39, 95, 97, 105 Grundmann, S. 38 Guyon, B., 102,110 Habermas, J. 38, 42, 68, 145, 175, 192, 209 Hansen, K.P. 21 Hausen, K. 147,174,213 Hävens, G. R. 49 Hegel, G. W. F. 18, 87, 121-122, 127, 144, 146,175,176,192, 200 Heinz, M. 31,89,210 Herb, K. 38, 39,40 Herder, J. G. 44,192 Hobbes, T. 26, 30-31, 33-35, 38, 40, 42,46,72, 91,93,167 Hobsbawm, E. J. 16,101 Hohberg, W. H. v. 103 Honneth, A. 40,154,158,177 Hoock, J. 119 Hubert, R. 116,134
PERSONENVERZEICHNIS
Hume, D. 179 Hüning, D. 136 Hunt, L. 210 Incorvati, G. 133 Jacobus, M. L. 202 Jaucourt, L., 85-87 Jones, E. 180 Jones, J. F. 124 Jouvenel, B. de 42 Jüttner, S. 45 Kant, I. 39, 45, 118-121, 122, 123, 176,181,204-205 Kaufmann, E. 134 Kersting, W. 20,27,38-39,42,117,118, 119,120,121,184,199,205,209 Kluckhohn, P. 174 Koch, E. 51 Kocka, J. 101 Kofinan, S. 13 Konersmann, R. 200 Koselleck, R. 23, 119,121, 143 Kunst, H. 38 Kunze, C. 170 Küster, F. 31,87,136 La Condamine, C.-M. 41 Lafrance, G. 87 Landes, J.B. 12 Lange, L. 12,87,89,199 Larrère, C. 43 Laslett, P. 29 Lastinger, V. 202 Launay, M. 52, 53, 57 Lauth, R. 45,175 Leigh, R. A. 104, 155, 165, 172 Leube, D. 103,170 Lévi-Strauss, C. 43 Locke, J. 16-17, 26, 29, 32-37, 42, 47-18, 68, 72, 83, 85, 89, 92-93, 97-98, 99, 120, 129,150 Lovejoy, A. O. 82,97
231
PERSONENVERZEICHNIS
Lucash, F. S. 199 Lühe, A. v. d. 209 Luhmann, N. 145,146,150 Luig, K. 92 Lukrez 41, 54, 62,164 MacAdam, J. 87 Maine Summer, H. 20 Malebranche, N. de 155 Marie Antoinette 210 Marx, K. 87-88 Masters, R. D. 1 1 , 6 0 , 6 1 , 6 7 , 8 3 , 8 4 , 164 Maupertuis, P. L. M. de 41 Mauzi, R. 107 Mayer, J. P. 113 Mead, W. 192 Medick, H. 68,69 Meier, H. 28, 41, 71, 76,155 Melzer, A. M. 185, 186,187,193 Melzer, S. E. 202 Mensching, G. 71 Michel, K. 136 Moller-Okin, S. 12, 72, 75, 144 Montesquieu, C. de 86-87, 106, 179, 181 Morel, J. 41 Morgan, L. H. 54 Morgenstern, M. 87, 91,100 Morus, T. 106,124 Mosconi, J. 52, 62 Müller, R. 97, 164 Münkler, H. 12,20,120 Nagl-Docekal, H. 12,80 Neumann, M. 87 Neyer, G. 94 Nicholson, L. 12 Norton, D. F. 179 Norton, M. J. 179 Orwin, C. 185 Pateman, C. 12,87,94
Pikulik, L. 21 Plan, P.P. 156 Piaton 25, 93, 106-107, 113, 180, 184, 199 Polin, R. 76,104, 106,124 Porset, C. 52 Portalis, J. E. M. 140-141 Prévost, A. F. 41 Pufendorf, S. 29, 31, 39, 47, 50, 59, 68, 70, 72, 92-93, 97, 99, 105, 200 Quesnay, F. 38 Rabine, L. W. 202 Rameil, U. 204 Ramsay, A.-M. 30 Rang, M. 14, 164, 166, 167-168, 169, 188 Raymond, M. 188 Reich, K. 204 Reichardt, R. 118 Reisinger, K. 204-205 Rheinberger, H.-J. 52 Ricardo, D. 38 Riedel, M. 34,95,117,119,145 Riehl, W.H. 102 Ritter, J. 93 Rohloff, E. 61 Rosen, F. 44 Rosenbaum, H. 16,147 Rotmann, R. 118,122 Rougemont, D. de 172 Sauder, G. 21 Savigny, F. C. v. 138 Schätzel, W. 95 Schlegel, F. 144 Schleiermacher, F. D. E. 144 Schlobach, J. 45 Schmidts, L. 42, 53 Schmitt, E. 118 Schmitz, S. 171 Schnädelbach, H. 145,148 Schneider, H.-P. 29
232 Schneider-Pachaly, B. 29 Scholz, G. 205 Schônwâlder-Kuntze, T. 210 Schwab, D. 23, 34, 36, 134, 136, 137, 141,143, 144, 148,174 Schwartz, J. 48,87, 153, 154 Semerau,A. 170 Shanley, M. L. 12,87 Shklar, J. N. 50, 100, 101, 113, 115, 116, 151 Sidney, A. 37 Sieyès, E. 118 Smith, A. 38,185 Spaemann, R. 205 Starobinski, J. 41, 45, 52, 59, 61, 63, 71,75, 97, 116, 125, 126, 165, 170, 188, 189,192 Stourzh, G. 107 Strauss, L. 38-39, 50,126 Sturma, D. 71 Tarcov, N. 185 Tertre, J.-B. du 41 Théry,!. 118,133,140
PERSONENVERZEICHNIS
Thomas, A. 136 Tocqueville, A. de 113 Tönnies, F. 114 Tubach, F. C. 45 Turgot, A. R. 38 Vaughan, C. E. 38 Vauvenargues, Luc de Clapiers, Marquis de 155 Vogel, U. 101,134,135, 136, 139 Voltaire 49 Voßkamp, W. 45 Walch, J. G. 99 Wegmann, N. 21 Weil, E. 102, 120 Weischedel, W. 45 Weiss, P. A. 199 Winnicott, D. W. 186 Wokler, 77 Wolff, C. 31 Wolff, R. 103 Zischler, H. 52