Die Anhörung im Asylverfahren: Exemplarische Analysen 9783839455203

Die Anhörung im Asylverfahren ist seit über 60 Jahren die bedeutendste Etappe für Asylbewerber*innen in Deutschland. Nur

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German Pages 424 Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung
Teil I: Erkenntnisinteresse und Untersuchungskonzeption
2. Erkenntnisleitendes Interesse am Untersuchungsfeld
3. Forschungsüberblick
4. Datenerhebungsmethoden
5. Beschreibung der angewandten Forschungsmethoden
Teil II: Kontext des Untersuchungsgegenstands
6. Zum Kontext der Anhörung
7. Historischer Rückblick über die Verwaltungspraxis im deutschen Asylverfahren
8. Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Anhörung
9. Anhörungssetting
10. Die Anhörung
Teil III: Einleitung zur Empirie
11. Einleitung zur Empirie
12. Strukturelle Beschreibung aller Anhörungsphasen
13. Detaillierte Phasenbeschreibung
14. Anhörung als interaktiver Prozess
Teil IV: Rekonstruktion von Fluchtgeschichten
15. Zielsetzung und Fragestellung des Arbeitsabschnitts
16. Fluchtgeschichte im Asylverfahren
17. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten
Teil V: Überprüfung der Glaubwürdigkeit von Asylbewerber*innen
18. Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsbeurteilung im Asylverfahren
19. Zu den sprachlichen Mustern der Glaubhaftigkeitsüberprüfung
20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien
Teil VI: Schlussfolgerungen und Empfehlungen
21. Fazit, Schlussfolgerungen und Empfehlungen
Persönliches Schlusswort
Verzeichnisse
Bibliografie
Online-Publikationen
Internetquellen
Zeitungs- und Blogartikel
Youtube-Video- und Radio-Interviews mit Entscheider
Abkürzungsverzeichnis
Verzeichnis der in der Anonymisierung verwendeten Zeichen
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
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Die Anhörung im Asylverfahren: Exemplarische Analysen
 9783839455203

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Samah Abdelkader Die Anhörung im Asylverfahren

Kultur und soziale Praxis

Samah Abdelkader arbeitet als Sozialpädagogin im Bereich Opferschutz. Die Sprachwissenschaftlerin und Sozialpädagogin kommt aus Ägypten und lebt seit 2002 in Deutschland. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Flucht, Migration und institutionelle Kommunikation.

Samah Abdelkader

Die Anhörung im Asylverfahren Exemplarische Analysen

Dissertation Erstgutachterin: Prof. Dr. Kristin Bührig, Institut für Germanistik, Universität Hamburg Zweitgutachter: Prof. Dr. Simon Güntner, Institut für Raumplanung, Technische Universität Wien Drittgutachterin: Prof. Dr. Angelika Redder, Institut für Germanistik, Universität Hamburg Danke an den Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland für die Übernahme des Druckkostenzuschusses.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5520-9 PDF-ISBN 978-3-8394-5520-3 https://doi.org/10.14361/9783839455203 Buchreihen-ISSN: 2703-0024 Buchreihen-eISSN: 2703-0032 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort ....................................................................................... 9 1.

Einleitung ............................................................................... 11

Teil I: Erkenntnisinteresse und Untersuchungskonzeption 2.

Erkenntnisleitendes Interesse am Untersuchungsfeld ................................... 19

3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Forschungsüberblick .................................................................... 21 Asylverfahren aus kommunikationswissenschaftlicher und diskursanalytischer Perspektive ..................................................... 22 Untersuchungen zum Dolmetschen im Asylverfahren ..................................... 23 Anhörung aus der Perspektive der bürokratischen Verwaltung ............................ 25 Das Asylverfahren aus soziologischer und sozialwissenschaftlicher Sicht ................. 27 Die Anhörung aus juristischer Perspektive ............................................... 29

4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Datenerhebungsmethoden .............................................................. Ethnografisches Vorgehen ............................................................... Erhebungsumfeld und Zielgruppe ........................................................ Teilnehmende Beobachtungen in Anhörungsverhandlungen ............................... Textdatenkorpus ........................................................................ Anonymisierung der Daten ............................................................... Zyklen der Forschung ....................................................................

33 33 35 38 39 40 40

5. 5.1 5.2 5.3 5.4

Beschreibung der angewandten Forschungsmethoden.................................. Ethnographische Gesprächsanalyse ...................................................... Interaktionsanalyse...................................................................... Inhalts- und dokumentarische Analysemethoden für die Auswertung von Dateninterviews . Begründung des Verzichts auf Methodenpurismus zugunsten der Anwendungen unterschiedlicher Methoden und von Methodenkombinationen ............................

43 44 46 49 55

Teil II: Kontext des Untersuchungsgegenstands 6.

Zum Kontext der Anhörung ............................................................. 59

7. 7.1 7.2 7.3

Historischer Rückblick über die Verwaltungspraxis im deutschen Asylverfahren ....... Bundesdienststelle für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ....................... Entwicklung der Anhörungspraxis ........................................................ Fazit ....................................................................................

63 63 67 74

8. Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Anhörung..................................... 77 8.1 Das Recht, das eigene Land zu verlassen ................................................. 77 8.2 Schutzstufen ............................................................................ 80 9. Anhörungssetting ....................................................................... 85 9.1 Unsichtbare Akteure..................................................................... 85 9.2 Unmittelbares Anhörungssetting ......................................................... 98 10. 10.1 10.2 10.3 10.4

Die Anhörung ........................................................................... 137 Status der Anhörung..................................................................... 137 Bestimmung der Anhörungszwecke ..................................................... 138 Kommunikative Charakteristika der Anhörungsverhandlung...............................146 Anhörungsdurchführung und Kontrollkriterien ........................................... 153

Teil III: Einleitung zur Empirie 11.

Einleitung zur Empirie ..................................................................159

12. Strukturelle Beschreibung aller Anhörungsphasen ..................................... 163 12.1 Makrostrukturelle Beschreibung von Anhörungsgesprächen.............................. 163 12.2 Vorgehensweise zur Beschreibung des Anhörungsverlaufs ................................165 13 13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6

Detaillierte Phasenbeschreibung ....................................................... 167 Die Anhörungseinführung ................................................................ 167 Anhörungseinheit: Anhörungsmitte.......................................................196 Überprüfung von Fluchtalternativen ...................................................... 215 Befragung zur Rückkehrprognose ....................................................... 220 Anhörungsabschluss..................................................................... 231 Zusammenfassung und Ergebnisse Kapitel III............................................. 241

14. Anhörung als interaktiver Prozess ..................................................... 245

Teil IV: Rekonstruktion von Fluchtgeschichten 15.

Zielsetzung und Fragestellung des Arbeitsabschnitts .................................. 249

16. 16.1 16.2 16.3

Fluchtgeschichte im Asylverfahren ..................................................... 251 Fluchtgeschichten in der Institution...................................................... 251 Darstellungsformen der Fluchtgeschichte ............................................... 254 Relevanz der Erzählphase in der Anhörung für Antragsteller*innen ....................... 257

17. 17.1 17.2 17.3 17.4 17.5 17.6

Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten ..................................... 259 Zur Entstehung von Rekonstruktionsverfahren .......................................... 260 Monologische Darstellung der Fluchtereignisse ........................................... 261 Ko-Rekonstruktion der Fluchtgeschichte ................................................ 264 Nachtrag zu den Rekonstruktionsverfahren ............................................. 277 Erzählen der Fluchtgeschichte in verschiedenen Verfahrensstadien und die Folge ........ 278 Zusammenfassung und Ergebnisse Kapitel IV............................................ 280

Teil V: Überprüfung der Glaubwürdigkeit von Asylbewerber*innen 18. 18.1 18.2 18.3

Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsbeurteilung im Asylverfahren ................. 293 Grundanforderungen an einen glaubhaften Sachvortrag ................................. 294 Zielsetzung und Konzeption des Kapitels ................................................ 295 Unterschied zwischen den Begriffen Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit ............... 296

19. Zu den sprachlichen Mustern der Glaubhaftigkeitsüberprüfung ........................ 307 19.1 Fragen und Nachfragen ................................................................. 307 19.2 Das Vorhalten .......................................................................... 309 20. 20.1 20.2 20.3 20.4 20.5

Prüfungstechniken und Kontrollkriterien ............................................... 315 Überprüfung der internen Kohärenz ...................................................... 316 Überprüfungen der externen Kohärenz .................................................. 327 Übergreifende, außertextuelle Indikatoren............................................... 344 Weitere Maßnahmen im Zusammenhang mit der Prüfung der Glaubwürdigkeit ............ 346 Zusammenfassung und Ergebnisse Kapitel V ............................................ 348

Teil VI: Schlussfolgerungen und Empfehlungen 21. 21.1 21.2 21.3

Fazit, Schlussfolgerungen und Empfehlungen .......................................... 357 Abschließende Zusammenfassung ...................................................... 357 Zentrale Ergebnisse im Überblick ....................................................... 357 Schlussfolgerungen und Empfehlungen ................................................. 365

Persönliches Schlusswort ................................................................... 373

Verzeichnisse Bibliografie.................................................................................. 377 Online-Publikationen ....................................................................... 403 Internetquellen ............................................................................. 409 Zeitungs- und Blogartikel .................................................................... 413 Youtube-Video- und Radio-Interviews mit Entscheider ...................................... 415 Abkürzungsverzeichnis....................................................................... 417 Verzeichnis der in der Anonymisierung verwendeten Zeichen ............................... 419 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis......................................................... 421

Vorwort

Mein Dank gilt in erster Linie den Asylbewerber*innen, die durch ihr Vertrauen und ihre Mitarbeit diese Forschung erst möglich machten. Nur auf Grundlage der mir anvertrauten, sensiblen Daten konnte diese Dissertation mit den vorliegenden Ergebnissen entstehen. Außerdem danke ich den ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen und Anwält*innen der Beratungsstellen für Asylsuchende für die anregenden und motivierenden Gespräche. Danken möchte ich auch meinen Kollegen*innen und allen Mitgliedern des kooperativen Graduiertenkollegs »Vernachlässigte Themen der Flüchtlingsforschung« in den Erziehungs- und Sozialarbeitswissenschaften der Universität Hamburg und der HAW, die mich moralisch und fachlich unterstützten. Die inhaltlichen Gespräche, Ratschläge und Anmerkungen ließen mich auf dem Weg zur fertigen Arbeit weitere Aspekte und Ansätze entdecken. Einen besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle auch an meine Familie richten, an meinen Ehemann und an meine Kinder Maryam und Ibrahim für ihre Motivation und ihr Verständnis, dass ich gelegentlich ein wenig von unserer Zeit für die Dissertation beanspruchte. Dank gebührt ebenfalls meiner Freundin Dörte und meinem Kollegen Thomas für die Unterstützung in vielerlei Hinsicht. Für all die mir entgegengebrachte wissenschaftliche und methodische Unterstützung, die wertvollen Anregungen, die konstruktive Kritik und die Beratung möchte ich mich herzlich bei meiner Doktormutter, Frau Professorin Dr. Kristin Bührig, und bei meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Simon Güntner, bedanken. Während der gesamten Bearbeitungsphase meiner Dissertation begleiteten sie mich mit ihrer fachlichen Expertise und anhaltender Motivation. Ebenso bedanke ich mich bei Frau Professorin Dr. Angelika Redder, die in der Prüfungskommission mitwirkte.

1. Einleitung

Die Forschung zur vorliegenden Dissertationsschrift entstand in den Jahren 2015-2018, einer Zeit des sprunghaften Anstiegs der Asylanträge in Deutschland. Über eine Million Migranten sind in dieser Zeit in Deutschland angekommen1 . Die Zahl der neu registrierten Flüchtlinge für das Jahr 2015 lag bei ca. 1,1 Millionen Personen (RobertBosch-Stiftung 2016:38). Da es keine andere legale Aufenthaltsmöglichkeit für die Geflüchteten gibt, müssen diese Menschen Asyl beantragen, was bedeutet, ein Asylverfahren durchzuführen. Als wichtigster Bestandteil des Asylverfahrens gilt das Anhörungsgespräch, welches in einer Außenstelle des Bundesamts durchgeführt wird. »Im Jahr 2015 wurden beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) insgesamt 476.649 formelle Asylanträge gestellt (BAMF: 2016) und »im Jahr 2016 haben 745.545 Personen einen Asylantrag gestellt, so viele wie nie zuvor.« (BAMF 2017: 5). Laut des Berichts für das Jahr 2017 »wurden 198.317 Erstanträge vom Bundesamt [im selben Jahr] entgegengenommen« (BAMF: Asylgeschäftsbericht 2017: 2). Das bedeutet, dass innerhalb des Zeitraums, in dem ich mich mit der vorliegenden Arbeit beschäftigt habe, mehr als 1.400.000 Anhörungsgespräche im Bundesamt durchgeführt wurden. Am 23.2.2018 wurde auf der Seite von Bundesamt veröffentlicht: »Das BAMF hat in den vergangenen zwei Jahren fast 1,3 Millionen Asylverfahren entschieden.«2 Diese Zahlen sollen verdeutlichen, wie viele Menschen das Anhörungsgespräch führen mussten, von dem ihre Zukunft unmittelbar abhängt. In der persönlichen Anhörung wird durch das Medium Sprache, meist ohne Originaldokumente, überprüft, ob dem zum ersten und einzigen Mal vor dem Anhörenden sitzenden Antragsteller*in ein Asylrecht gewährt wird. Nur in dieser einmaligen mündlichen Anhörung kann der/die Asylbewerber*in Gründe für sein/ihr Gesuch um Asyl vortragen, auf dessen Grundlage dem/der Antragsteller*in Asylrecht oder eine andere Schutzkategorie gewährt wird oder er/sie zur Ausreise aufgefordert wird. Deshalb ist

1

2

BAMF. (5. September, 2019). Anzahl der Asylanträge (insgesamt) in Deutschland von 1995 bis 2019. In Statista. (16.11.2019): https://de.statista.com/statistik/daten/studie/76095/umfrage/asylantraege -insgesamt-in-deutschland-seit-1995/ BAMF (2018): Jahresgerichtsstatistik 2017: https://www.bamf.de/SharedDocs/Meldungen/DE/2018 /20180223-klagezahlen-gegen-asylentscheidungen.html (18.04.2018).

12

Die Anhörung im Asylverfahren

die persönliche Anhörung im Asylverfahren von großer Bedeutung für den Antragsteller*innen. Anhörungsgespräche werden seit 1953 durchgeführt, aber in dem Setting, wie wir es heute kennen, werden sie erst seit 1978 vollzogen (vgl. K. 7.2; K. 7.2.4). Trotz der Bedeutung der Anhörung für Millionen von Menschen und trotz ihrer tagtäglichen Durchführung seit über 60 Jahren, ist dieser Gesprächstypus kaum erforscht. Es existieren bislang keine Erkenntnisse aus der Perspektive der Sprachwissenschaften darüber, wie in Deutschland angehört wird. Hingegen gibt es zahlreiche Kritiken an als unfair eingestuften Anhörungen.3 Es gibt offenkundig eine absolute Wissenslücke bezüglich der sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema der Anhörung, insbesondere in Deutschland. Deshalb erscheint es geboten, einen Beitrag zu diesem unerforschten Feld zu leisten. In diesem Sinne ist die vorliegende Studie teilweise4 explorativ, weil sie einen bisher unerforschten Untersuchungsbereich zu erkunden versucht (vgl. Lamnek 1995: 10ff.). Es werden neue methodologische Überlegungen dargeboten, die ich für die Untersuchung von Anhörungen als empfehlenswert erachte. Es werden neue Begriffe entwickelt, um erste Hypothesen und Kategorisierungen einzuführen. Um den Forschungsbereich einzugrenzen, konzentriere ich mich auf eine ethnografische diskursanalytische Untersuchung von 21 Anhörungsgesprächen und Auswertung von 64 Anhörungsprotokollen. Um die Gesprächsanalyse zu kontextualisieren, werden die institutionellen Rahmenbedingungen berücksichtigt. Die Untersuchung von Anhörungsgesprächen wurde in erster Linie mit dem Ziel durchgeführt, die Asylanhörung, wie sie in Deutschland durchgeführt wird, zu untersuchen und die Anhörung als Gesprächstyp zu strukturieren. Eines der wesentlichen Untersuchungsinteressen besteht darin, ein holistisches Bild über den Anhörungsverlauf im deutschen Asylverfahren herzustellen. Die vorliegende Studie kann als eine Bestandsaufnahme von Verlaufsprozessen der nicht öffentlichen Verhandlung »Asylanhörung« verstanden werden. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie auf Datendiversifikation und Nutzung verschiedener Informationsquellen beruht, die die gestellte Aufgabe eine ›umfassende Gegenstandsabbildung über den Anhörungsverlauf zu bearbeiten‹ ermöglichen. Außerdem werden ausgewählte Phänomene im Anhörungskern eine intensive analytische Berücksichtigung finden, weil sie die zentralen Grundsteine im Hinblick auf die Entscheidungsfindung bilden. Es handelt sich dabei um zwei Phänomene, die sich im Laufe der Forschung als besonders bedeutend erwiesen haben; die Überprüfung der Glaubwürdigkeit von Asylsuchenden und die Rekonstruktion der Fluchtgeschichte. Diese werden durch eine tiefere Analyseschicht mit entsprechenden Methoden untersucht. Methodologisch verbindet die Studie linguistische und sozialwissenschaftliche Ansätze. Innerhalb der beiden Disziplinen bediene ich mich einer Kombination unter3

4

Die Anhörungspraxis wird oft von Anwälten/Anwältinnen in Beratungsstellen, Asylsuchenden, Begleitern*innen, die den Asylbewerber*innen in der Anhörung begleiten, in Veröffentlichungen von Pro Asyl, in medialen Texten, Broschüren, Abhandlungen, wie der von (Gehrig 2000), kritisiert. Nur in wenigen Arbeiten beruht die Kritik auf wissenschaftlichen Analysen. Diese werden im Kapitel 3 vorgestellt. Teilweise explorativ, weil die vorliegende Arbeit nicht die erste Studie über die Anhörung überhaupt ist, wie im Kapitel »Stand der Forschung« gezeigt wird. Es ist jedoch die erste Studie, die die Anhörung in deutschen Asylverfahren, aus der sprachwissenschaftlichen Perspektive, betrachtet und den Verlauf der Anhörungsgespräche analysiert.

1. Einleitung

schiedlicher qualitativer Methoden, sowohl bei der Datenerhebung wie auch bei der Analyse, um die angestrebten Forschungsziele zu erreichen. In der Sprachwissenschaft gibt es breite Erfahrungen, auf die in der Beschreibung des Ablaufs und der Struktur der Anhörung zurückgegriffen werden kann (vgl. u.a. Brinker et al. 2000 und 2001). Die linguistische Gesprächsforschung ist gut geeignet, um die Anhörung in Phasen zu strukturieren und den Gesprächsverlauf detailliert zu beschreiben. Ein Grundmuster für die Anhörung kann nur mit der Methode der Gesprächsforschung erfasst werden. Auf der Grundlage empirisch linguistischer Analysen der Anhörung, lassen sich kommunikative Verfahren herausarbeiten, wodurch dann ein Einblick in die Institution (BAMF) gewonnen wird und ein Ensemble für die Anhörungen erstellt werden kann. Die kommunikativen Verfahren können beschrieben und für die Nutzung im interdisziplinären Kontext operationalisierbar gemacht werden (vgl. Gülich & Lucius Hoene 2015: 160). Linguistische Analysen erweisen sich zudem als geeignete Verfahren zur Analyse und Beschreibung, wie Fluchtgeschichten im Asylverfahren rekonstruiert werden, sowie um zu erfassen, wie die Glaubwürdigkeit der Antragsteller*innen mittels Sprache geprüft wird. Sprachwissenschaftlichen Analysen allein können jedoch die Komplexität der (Un)Glaubwürdigkeitsherstellung nicht erfassen. Sie erlauben zwar die Merkmale der unterschiedlichen Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten herauszuarbeiten, aber keine Rückschlüsse auf die Hintergründe, wie diese Rekonstruktionsverfahren entstehen. Diese Möglichkeit bietet im Kontext der vorliegenden Analyse die Heranziehung von ethnografischen Methoden und sozialwissenschaftlicher Konzepte, die dann bei der Typenbildung von Rekonstruktionsverfahren der Fluchtgeschichten und bei der Kategorisierung der Asylbewerbertypen eine bedeutende Rolle spielen. Interdisziplinarität zu praktizieren »ist nicht immer leicht und schon gar nicht selbstverständlich, stellt aber immer einen Gewinn dar« (Gülich & Lucius-Hoene 2015: 164). Aufgrund dieses Prinzips ist die Studie interdisziplinär angelegt, weil nur diese Vorgehensweise die Komplexität des Anhörungsgesprächs erfassen kann. Die vorliegende Studie ist in fünf Teile (I-V) gegliedert: Teil I: Untersuchungskonzeption, -materialien, -interesse und Datenerhebung Teil 1 beschreibt zusammenfassend die Forschungsziele, die Untersuchungsmaterialien, sowie das Forschungsdesign des empirischen Vorgehens und den Forschungsstand. Im ersten Kapitel werden allgemeine Forschungsziele zusammengefasst und aufgelistet. Es wird ein allgemeiner Überblick über die vorhandene Literatur zum Thema bzw. zum Forschungsbereich vorgestellt. Da es keine sprachwissenschaftlichen Arbeiten gibt, die sich mit der Asylanhörung in Deutschland auseinandersetzen, wird die Forschungsliteratur zur Asylanhörung aus anderen Disziplinen (Sozialwissenschaften, Jura, Verwaltung) herangezogen und die Forschungen aus anderen Ländern, wie Österreich und Belgien, aus denen relevante Erkenntnisse über die Anhörung gewonnen werden können, berücksichtigt. Im zweiten Kapitel wird das Datenmaterial dargestellt. Es wird detailliert beschrieben, mit welchen qualitativen Methoden die unterschiedlichen Daten erhoben wurden. Darauf folgt die Erläuterung zentraler Begriffe der Untersuchungsmethoden, auf denen diese Arbeit basiert. Hier werden kurz die Grundsätze

13

14

Die Anhörung im Asylverfahren

der Ethnomethodologie, der Inhaltsanalyse, der ethnographischen Gesprächsanalyse, der Dokumentarischen Methode und der prozessualen Interaktionsanalyse skizziert. Teil II: Kontext des Untersuchungsgegenstands Teil II bietet einen umfangreichen Überblick über den Kontext der Anhörung. Die einzelnen Kapitel tragen gemeinsam dazu bei, die Abläufe des »Anhörungsgesprächs« in ihrer gesamten Komplexität zu verstehen. Von deren Beginn über die Rollenzuweisung zwischen Antragsteller*innen und Anhörer*innen und ihrer dementsprechenden Positionierung, bis hin zu den rechtlichen Rahmenbedingungen, den Anhörungszwecken und der -Praxis sollen die Prozesse veranschaulicht werden. Teil II wird in vier Kapitel unterteilt. In Kapitel 1 wird ein historischer Rückblick über die Asylverwaltungspraxis (Entwicklung der Anerkennungspraxis zur Anhörung) dargestellt. Kapitel 2 ist den institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Anhörung gewidmet. Darauf folgt eine Darstellung des Anhörungssettings. Teil II wird mit der Erläuterung der Anhörungszwecke und der Anhörungscharakteristika abgeschlossen. Teile III bis V: Die empirischen Analysen In diesen Arbeitsabschnitten werden 64 Anhörungsprotokolle, Beobachtungsprotokolle zu 21 Anhörungsgesprächen und ergänzenden Datenmaterialien mehreren Analyseschichten unterzogen. Die Analysen in den beiden Arbeitsabschnitten beziehen sich im Wesentlichen auf den Handlungsraum der »Anhörungsinteraktion«, wobei der Fokus auf der Untersuchung auf dem Ablauf der Anhörungspraxis liegt: Wie wird im deutschen Asylverfahren, beginnend vom Eintritt in den Anhörungsraum bis zur Protokollunterschrift, angehört? Zur Untersuchung dieser Frage bedarf es mehrerer Fragestellungen und unterschiedlicher methodischer Analyseschritte. Um eine übersichtliche Darstellung zu liefern, wird die Empirie in die zwei Arbeitsteile III und IV gegliedert. Teil III beschäftigt sich mit der Beschreibung der formellen Strukturen der Anhörung. Es wird danach gefragt, ob sich aufgrund der Zweckorientierung der Anhörung als institutionelles Gespräch typische Phasen ergeben. Die vorhandenen Phasen werden bestimmt und in ihrer zeitlichen und linearen Abfolge in einem Strukturmodell dargestellt. Zudem wird der Frage nachgegangen, wie diese Phasen zweckdienlich organisiert sind. Teile IV und V befassen sich mit der Interaktionsdynamik der Anhörung. Dabei werden zwei relevante Phänomene, durch detaillierte Untersuchungen gewählter Sequenzen aus dem Anhörungskern (Sequenzanalyse) näher betrachtet und intensiver untersucht: die Fluchtgeschichtenrekonstruktion und die Glaubwürdigkeitsprüfung. Teil IV ist der Untersuchung der Rekonstruktion von Fluchtgeschichten gewidmet. Dort wird definiert, was eine Fluchtgeschichte ist und wie sie in der Anhörung rekonstruiert wird. Es wird gezeigt, dass es nicht nur ein Verfahren für die Rekonstruktion gibt, sondern mehrere unterschiedliche Rekonstruktionsverfahren, die ausführlich beschrieben und einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Teil V konzentriert sich auf die Glaubwürdigkeitsprüfung. Es wird untersucht, wie die Angaben der Antragsteller*innen auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden und welche Techniken die Entschei-

1. Einleitung

der*innen dafür einsetzen. Diese Techniken werden systematisch am Material untersucht und typologisch dargestellt. Bei der Untersuchung der unterschiedlichen Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten (IV) und Prüfungstechniken der Glaubwürdigkeit (V) wird ersichtlich, inwieweit das Konstellationsgefüge einer Anhörung das Rekonstruktionsverfahren und den Verlauf der Prüfungsprozesse prägt. Teil VI: Zusammenfassung und Ausblick Der letzte Teil beinhaltet eine Zusammenfassung der wichtigsten theoretischen und empirischen Ergebnisse der Arbeit. Dabei werden die Ergebnisse genutzt, um Generalisierungen vorzunehmen und praktische Handlungsempfehlungen für die Anhörungspraxis zu formulieren. Die Studie gibt einen Überblick auf mögliche weitere Forschungsfragen zum Thema, die noch durchgeführt werden könnten. Die gewählten Untersuchungsmethoden und die Interdisziplinarität bezüglich des Erreichens der Untersuchungsziele werden diskutiert, indem die Möglichkeiten und die Herausforderungen des Vorgehens reflektiert werden. Anschließend werden methodologische Empfehlungen abgeleitet. Das Forschungsdesign und die vorgenommenen Analysedimensionen werden in der Abbildung 1 veranschaulicht. Die Grundlage für die empirische Analyse bildet eine Darstellung der juristischen Rahmenbedingungen und der Vorstellung der Anhörungsakteur*innen in Teil II. Darauffolgend wird die Anhörung als strukturelles Gebilde empirisch (Teil III) untersucht. Anschließend werden die zwei wichtigsten Anhörungsbestandteile (Rekonstruktion von Fluchtgeschichte und Überprüfung der Glaubwürdigkeit von Asylbewerber*innen) einer interaktionsinterpretativen Analyse unterzogen und die Anhörungsprozesse (IV und V) untersucht.

Abbildung 1: Untersuchungsebenen

15

Teil I: Erkenntnisinteresse und Untersuchungskonzeption

2. Erkenntnisleitendes Interesse am Untersuchungsfeld

Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie ist der Gesprächstyp ›Asylanhörung‹ als Kernstück des Asylverfahrens. Der Schwerpunkt liegt auf der systematischen Beschreibung des Ablaufs und der Beschreibung der Interaktionsdynamik. Keine der gesichteten Literatur zu Asylanhörung und keiner der in Kapitel 3 dargestellten Forschungen zu Anhörungen legen den Schwerpunkt auf die Untersuchung des Asylanhörungsgesprächs in seiner kompletten Gestaltung und seinen verschiedenen Stadien, wie es in dieser Arbeit der Fall ist. Diese Arbeit leistet damit einen Beitrag, aufzuzeigen, was in den Anhörungsräumen geschieht und wie das Anhörungsgespräch geführt wird. Sie bildet ab, aus welchen Phasen ein Anhörungsgespräch besteht. Die Phasen werden strukturiert und wird untersucht, welchen Zweck die Gesprächsphasen erfüllen und warum sie in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet sind. Die empirische Analyse fokussiert sich auf die in der Interaktion involvierten Akteur*innen und untersucht, wie die Interaktanten, Entscheider*innen wie Asylbewerber*innen, kommunikativ ihre Anhörungsziele zu erreichen versuchen. Geklärt werden soll zuvor, wie der Begriff ›Abbilden‹ hier definiert ist. Abbilden bedeutet für mich in diesem Kontext nicht, nur deskriptiv darzustellen, was an dem Anhörungsort und der Situation geschieht, ohne die entstehenden Ergebnisse bewertend zu betrachten und jegliche Kritik an den beschriebenen Geschehnissen zu vermeiden. Im Gegenteil, es wird, wenn diese ersichtlich werden, auf Probleme hingewiesen und, wenn möglich, werden Veränderungsvorschläge unterbereitet. Zentrales Interesse einer Analyse von Gesprächen wie die eines Anhörungsgespräches ist, die Gesprächspraktiken, mit denen die Gesprächsteilnehmer*innen die Gesprächsaufgaben, Probleme und Ziele unterschiedlichster Art und Ebenen der Interaktionskonstitution bearbeiten, darzulegen (vgl. Deppermann 2001: 9). Zur Explikation einer Gesprächspraktik gehört daher die genaue Darstellung, wie Gesprächsteilnehmer*innen handeln sowie die Rekonstruktion der Funktion, wozu das Handeln dient (vgl. ebenda: 10). Das Anhörungsgespräch, die Praktiken des Handelns, die Fragestellung, wer, wann und in welchem Zusammenhang handelt sowie wie und mit welchem Zweck die kommunikativen Aktivitäten unternommen werden, ebenso, welche Konsequenzen diese kommunikativen Handlungen auf die Entscheidung, für oder gegen den Asylantrag, haben, sind Gegenstand der Studie. Da die vorliegende Arbeit einem Empirieverständnis folgt,

20

Die Anhörung im Asylverfahren

das die »materialgestützte« Entwicklung von Fragestellungen und Hypothesen fordert (vgl. ebenda: 19), wurden im Vorfeld keine Fragestellungen formuliert. Die Entwicklung der Fragestellungen und die Datenerhebung werden nicht in zwei separaten Prozessen durchgeführt, sondern es gehen »die Entwicklung der Untersuchungsfragestellungen und der Gewinn von Erkenntnissen über Gesprächsstrukturen miteinander Hand in Hand« (ebenda: 13). Damit geht der Arbeitsbeginn mit einem induktiven Vorgehen einher, das sich in erster Linie aus den Daten selbst entwickelt, ohne vorgefertigten Hypothesen nachzugehen. Laut Deppermann 2001 ist die Explikation der Fragestellung bereits ein »wichtiges Forschungsresultat« (ebenda: 20) an sich. Jedes Kapitel widmet sich spezifischen Aspekten, die alle gemeinsam zur Verfolgung nachfolgender Forschungsziele beitragen1 : −



− − − −

1

Bestimmung der Phasen eines Anhörungsgesprächs in grobe Einheiten (wie Anhörungseinführung) und feinkörnige Phasen (Identifizierung der Person, Belehrung, Fragen zum Reiseweg usw.), die Beschreibung der für die einzelnen Phasen vorgesehen Zwecke und Verfolgung dieser in ihrer sprachlichen Realisierung und die Analyse ihrer institutionellen Einbettung, die systematische Rekonstruktion von sprachlich-kommunikativen Anhörungsverfahren, Entwicklung eines Anhörungsmodells, Rekonstruktion der Fluchtgeschichte und Beteiligung vs. Nichtbeteiligung der Anhörenden daran und ihre Auswirkung auf den Rekonstruktionsprozess, die Erfassung der im Korpus vorhandenen Überprüfungstechniken der Glaubwürdigkeit des Asylsuchenden.

Diese Fragestellungen wurden nicht von vornherein festgelegt, sondern haben sich im Lauf der Forschungsprozess entwickelt. Sie werden am Beginn der Arbeit als Orientierung für den Leser gestellt, um über die Hauptforschungsfragen der Arbeit am Beginn zu informieren.

3. Forschungsüberblick

Das Anhörungsgespräch ist ein spezieller Typ der institutionellen Kommunikation, das noch nicht Gegenstandsanalyse wissenschaftlicher Arbeiten ist, obwohl linguistische Analysen der Kommunikation in Institutionen ein Forschungszweig der Linguistik sind, der seit den 1980er Jahren an Bedeutung gewinnt (vgl. u.a. Ehlich 2007; Kiesendahl 2011). Die linguistische Forschung stellt, sowohl im theoretischen als auch im anwendungsorientierten Bereich, zahlreiche Untersuchungen und Erkenntnisse über sprachliches Handeln im institutionellen Kontext bereit, jedoch noch nicht im Bereich des Asylverfahrens. Geforscht wird in verschiedenen Bereichen des auf Kommunikation basierenden gesellschaftlichen Lebens: im Krankenhaus, vor Gericht, in Schulen und Universitäten, Ämtern und Behörden, Beratungsstellen, Unternehmen, in religiösen Organisationen usw. Forschungsüberblicke bieten Redder (1983); Becker-Mrotzek (1992, 93 und 2001); Rost-Roth (1994); Hausendorf (2001) und Rehbein (2007).1 Beispiele für Untersuchungen, die im Kontext der Dissertation relevant sind, beziehen sich auf polizeiliche Vernehmungen (Schröer 1992; 2002; Reichertz & Schröer 2003; Habschick 2010; Hee 2012) und die Kommunikation vor Gericht (Hoffmann 1983, 1989, 1991, 1997, 2002). Hoffmann hat umfassend beschrieben, welche sprachlichen Formen die von ihm beobachteten Strafprozesse bestimmen und welche sprachlichen Handlungsmuster diese Verhandlungen ausmachen. Obwohl ich mich bei der Untersuchung nicht auf die Beschreibung von sprachlichen Formen beschränke, folgt die vorliegende Arbeit in mancher Hinsicht den Vorgehensweisen der diskursanalytischen Untersuchungen für juristische Kommunikationen, wie die bereits durchgeführten Untersuchungen von Hoffmann (1983, 1989, 1991, 1997, 2002) zur Gerichtskommunikation, weil die sich methodologisch am ehesten als geeignet erwiesen haben. Auf die diskurslinguistischen Untersuchungen von Hoffmann (1983) folgte die systematische linguistische Erforschung der Interaktion in Rechtsinstitutionen, wie die Un1

Bei diversen Gesprächstypen wurden Handlungsschemaanalysen durchgeführt, z.B. für Beratungsgespräche (Kallmeyer 1985; Nothdurft 1984; Nothdurft, Reitemeyer & Schröder 1994), Schlichtungsgespräche (Nothdurft 1995; Nothdurft & Spranz-Fogasy 1991), Verkaufsgespräche (Pothmann 1997), familiale Konfliktgespräche, Streitgesräche (Spranz-Fogasy & Fleischmann 1993; Spiegel 1995), Arzt-Patienten-Interaktion (Nothdurft 1986; Spranz-Fogasy 1988), Verhandlungen (Kallmeyer1979) und Gespräche der Anwälte mit Mandanten (Pick 2015).

22

Die Anhörung im Asylverfahren

tersuchungen von Schlichtungsgesprächen (Nothdurft 1995, 1996, Schröder 1997, Deppermann 1997 und Spranz-Fogasy 1997) zeigen. Dennoch ist der institutionelle Kommunikationstyp »Anhörungsgespräch«, welcher im Bundesamt zwischen Bundesamtmitarbeiter*innen, sogenannten Entscheider*innen, und asylsuchenden Menschen stattfindet, in der Sprachwissenschaft bislang gänzlich unerforscht geblieben. Das Nichterforschen der Anhörung dürfte m.E. nicht Ausdruck des mangelnden Interesses von Seiten der Forschung gedeutet werden. Im Gegenteil, der Ursache dafür liegt möglicherweise an der Sensibilität der Daten, die personenbezogene und damit geschützte Informationen enthalten und der daraus resultierenden Schwierigkeit, Zugang zu empirischem Material zu bekommen. In Deutschland, anders als in Österreich und Belgien, gibt es kein Forschungsprojekt zur Anhörung, das auf authentische akustische Aufnahmen von Anhörungsgesprächen basiert. Wie der Datenkorpus sich im Forschungsprozess zusammengestellt hat, wird im darauffolgenden Kapitel 4 beschrieben. Es folgt eine Zusammenfassung verschiedener Publikationen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Asylverfahren und mit Teilbereichen der Anhörung beschäftigen. Analysen, die sich in erster Linie mit dem Kernbereich der vorliegenden Studie »Anhörungsgespräch im deutschen Asylverfahren aus linguistischer und sozialwissenschaftlicher Sicht« befassen, gibt es wenige zu nennen

3.1

Asylverfahren aus kommunikationswissenschaftlicher und diskursanalytischer Perspektive

Neben der einzigen umfangreicheren Analyse über Anhörungen in Belgien von Maryans (2006), die nachfolgend ausführlich dargestellt wird, liegen einige Arbeiten vor, in denen vereinzelt über die Kommunikation im Asylwesen berichtet wird. Plutzar (2009) beschäftigt sich mit der Kommunikation im Asylverfahren. So analysiert sie die Kommunikationssituation und Informationsweitergabe im österreichischen Asylverfahren in den Erstaufnahmestellen. Sie nähert sich dem Thema Kommunikation aus sprachwissenschaftlicher und aus rechtswissenschaftlicher Perspektive, die das österreichische Asylrecht mit sich bringt. Das Ziel ihrer Studie ist »die Kommunikationssituation und Weitergabe rechtlich relevanter Information in der EASt-Ost in wissenschaftlicher Form zu beschreiben und zu analysieren« (90). Eine zentrale Frage ihrer Arbeit ist, unter welchen Bedingungen die Weitergabe rechtlicher Informationen an Asylbewerber*innen im Asylverfahren funktioniert. Die Autorin stellt fest, dass »[d]ie institutionellen Rahmenbedingungen ein kommunikatives Ungleichgewicht zugunsten der Behörden [schaffen], die weitgehend Kontrolle über die Interaktion und damit über die inhaltliche Gestaltung des Verfahrens haben. Die Interkulturalität und Translokalität des Verfahrens bringt Missverständnisse und Verstehenslücken, die selbst durch die eingesetzten DolmetscherInnen kaum überbrückt werden.« (176). Busch (2015) kommt in ihrer kurzen Analyse zum Wiedererzählen von Fluchtgeschichten in Asylverfahren dem Anhörungsgespräch näher. Sie untersuchte anhand eines Fallbeispiels das Wiedererzählen von ein und derselben Fluchtgeschichte in unterschiedlichen Stadien der österreichischen Asylverfahren und wie das Wiedererzählen zu Än-

3. Forschungsüberblick

derungen der Erzählversionen führt. Die Autorin zeigt, wie die Kontrastierung der Erzählversionen funktionalisiert wird, um die Glaubwürdigkeit des Antragstellers festzustellen. Die unterschiedlichen Erzählversionen derselben Fluchtereignisse in verschiedenen Verfahrensstadien werden den Bewertungskategorien identisch oder nicht identisch unterzogen und das erweist sich als nachteilig für den Asylsuchenden. Busch verweist auf grundlegende methodische Probleme eines solchen Vorgehens. Die Fluchtgeschichte wird in Österreich in verscheidenden Verfahrensstadien dargestellt und jedes Stadium wird in ein schriftliches Produkt überführt, wobei es keine Auskunft im Anhörungsprotokoll über die Entstehung der Erzählung der Fluchtereignisse gibt. Dieser Vergleich der Erzählversionen ist relevant, wenn die Erzählweise für die Einschätzung der Glaubwürdigkeit herangezogen wird, obwohl dem Antragsteller in den unterschiedlichen Erzählstadien nicht die gleichen Erzählbedingungen gegeben werden (Busch 2015: 319-321). Die Erkenntnisse von Busch werden besonders im Teil IV für das Forschungsvorhaben relevant, wenn verglichen wird, welche Bedingungen für die Fluchtgeschichterekonstruktion in deutschen Asylverfahren herrschen. Maryns (2006) führte eine diskursanalytische Untersuchung, anhand von erhobenen Daten aus dem Zeitraum (2000-2001), durch. In dieser Zeit nahm Maryns in unterschiedlichen Aufnahmezentren und Ämtern Belgiens an 39 Befragungen und Einvernahmen von Asylbewerber*innen teil und zeichnete sie auf. Die Befragungen wurden in afrikanischen Sprachen und auf Englisch, manchmal ohne Dolmetscher*innen, geführt. Maryns wertete die Akten der Asylbewerber*innen aus und verfolgte damit weiter, wie die Aussagen der/die asylsuchenden Menschen aufgenommen und verwertet wurden. Ihr Hauptinteresse bei der Analyse lag auf der Performance der Asylbewerber*innen und der Entscheider*innen, sowie auf der Dekontextualisierung der Aussagen von zu untersuchenden Asylbewerber*innen (ebenda: 8). Sie leitet aufgrund der Analysen ab, dass die Kommunikation zwischen Behörden und Asylbewerber*innen durch Missverständnisse gekennzeichnet ist (ebenda: 315). Zudem untersuchte Maryans, wie die Asylbewerber*innen ihre Erzählungen durch das Hinzufügen von metapragmatischen Informationen zum Kontext des Erlebten rahmen. Sie stellt dabei fest, dass Antragsteller*innen versuchen ihre Fluchtgeschichte zu kontextualisieren, indem sie auszuholen diese versuchen zu explorieren und die Fluchtgeschichte zusammenhängend mit anderen Konflikten zu erzählen. Die Verhandlungsleiter*innen fordern von den Asylwerbern, dass sie sich bei der Erzählung ihrer Fluchtgründe an Fakten halten und nur jene Elemente erzählen, die sie persönlich betreffen (ebenda: 333). Maryans kommt zu dem Schluss, dass Asylwerber*in im Laufe des Asylverfahrens kaum Gelegenheit zum »freien« Erzählen ihrer Asylgründe erhalten (vgl. ebenda: 137).

3.2

Untersuchungen zum Dolmetschen im Asylverfahren

Das Thema Dolmetschen im Asylverfahren wurde umfangreich erforscht. Folgendes Forschungsarbeite sind diesbezüglich erwähnenswert: Kälin (1986) Wadensjö (1992, 1998); Barksy (1994), Pöllabauer & Schumacher (2004) und Pöllbauer (2005).2 Wadens2

Für einen detaillierten Überblick vergleiche Pöllabauer (2005: 25-44).

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24

Die Anhörung im Asylverfahren

jö (1998) beschäftigt sich vor allem mit der Aufgabe des/der Dolmetschers*in und seinen/ihren Aktivitäten und legt offen, dass ein/eine Dolmetscher*in in einer faceto-face Interaktionen zwangsläufig zwei zusammenhängende Aktivitäten übernimmt: Dolmetschen und Koordinieren (vgl. ebenda: 145). Interessant für Anhörungsgespräche ist das Ergebnis von Wadensjö, das besagt, dass die Dolmetscher*innen bereits durch ihre Anwesenheit und ihre Übersetzungstätigkeit Einfluss auf den Inhalt und das Voranschreiten der Kommunikation haben (vgl. ebenda). Dieser Sachverhalt, neben vielen anderen Aspekten, macht die Anhörungssituation besonders problematisch (vgl. K. 10.2; K. 10.3). Mit der Rolle von Dolmetscher*innen in Anhörungsgesprächen beschäftigten sich mehrere Wissenschaftler*innen, vor allem in Österreich. Zum Beispiel Pöllabauer (2005) analysierte mit der Methode der kritischen Diskusanalyse die Dolmetscherrolle. Die Untersuchung von ihr basierte auf Aufnahmen von zwanzig englischsprachigen Einvernahmen von Asylbewerber*innen, die im Jahre 2000 und 2001 im Bundesasylamt Graz geführt wurden. Das Ziel ihrer Arbeit lag überwiegend darin, das Rollenverhalten von Dolmetscher*innen und die spezifischen Kommunikationsgegebenheiten bei Asylanhörungen zu analysieren und festzustellen, wie die Dolmetscher*innen auf das Machtgefüge in der Asylanhörungen reagieren. Pöllabauer stellt fest, dass Dolmetscher*innen weit aktiver auftreten, als es von ihnen angenommen wird: Sie übernehmen zum Teil die Gesprächsführung, selektieren Informationen, bringen diese in protokolltaugliche Formulierungen und agieren auch manchmal parteilich (vgl. die Fallanalysen 265-293). Die Verständigung läuft nicht immer störungsfrei ab, weil Asylbewerber*innen Probleme mit der Hochsprache von Dolmetscher*innen haben, die ihrerseits mit Dialekten und oft mit der Übertragung von kulturspezifischen Ausdrücken überfordert sind (vgl. Fallbeispiel 417-427). Dies führt u.a. zu Missverständnissen im Dolmetschen und hat zur Folge, dass es zu Verzerrungen des gesamten Sinns des Übergetragenen kommen kann (vgl. ebenda: 446). Die Autorin stellt zudem fest, dass die Rollenausformungen der Dolmetscher*innen in der Anhörung, je nach Interaktionssituation, unterschiedlich ausfallen (vgl. ebenda: 201). Sehen sich die Dolmetscher*innen in der Rolle der »Helfer*innen« der Behörde, müssen sie die imagegefährdenden Aussagen des/der Beamten eindämmen und neutralisieren (vgl. ebenda:200). Positionieren sie sich auf der Seite des/der Antragstellers*in, versuchen sie die imagegefährdenden Aussagen des Asylbewerbers abschwächen. Übernehmen die Dolmetscher*innen in einer Sprechsituation die Rolle der Kulturvermittler*innen und Mediatoren, tendieren sie dazu, eventuell imagebedrohendes Verhalten zu erklären (vgl. ebenda). Aus der Arbeit von Pöllabauer (2005) kann man entnehmen, dass die Dolmetscher*innen im Asylverfahren, neben der Sprachvermittlung weitere Rollen eigenständig, je nach Situation, annehmen, die nicht klar definiert sind. Eine Studie von Pöllabauer und Schumacher (2004) beschäftigt sich mit dem Rollenbild von Dolmetscher*innen im österreichischen Asylverfahren. Sie konnten zwei widersprüchliche Rollenbilder erkennen: Einerseits sollen die Dolmetscher*innen als völlig neutrale und unparteiische Gesprächsteilnehmer*innen fungieren, andererseits sind sie auch Kulturvermittler*innen und müssen als dritte Gesprächspartner*in an dem Gespräch teilnehmen (vgl. ebenda: 20).

3. Forschungsüberblick

Mit Blick auf die oben genannten Arbeiten zum Dolmetschen beschäftigen sich die Untersuchungen zwar überwiegend mit der Dolmetschertätigkeit, der Rolle der Dolmetscher und nicht mit dem Anhörungsgespräch an sich in seiner Struktur und seinem Verlauf, aber man kann durch die Beschreibung der Dolmetscheraktivität und -rolle auf Aspekte der Anhörungsgespräche Rückschlüsse ziehen. Denn der/die Dolmetscher*in gilt als der/die dritte Gesprächspartner*in der Interaktionssituation und je nach seiner/ihrer Rolle, die er/sie übernimmt, kann er/sie den Interaktionsverlauf beeinflussen.

3.3

Anhörung aus der Perspektive der bürokratischen Verwaltung

Diverse Wissenschaftler*innen befassten sich mit dem Handeln der Entscheider*innen in der Verwaltung des Asylverfahrens.3 Es wird davon ausgegangen, dass verwaltungsrechtliche Verfahren häufig durch Intransparenz geprägt sind (vgl. Schneider & Wottrich 2017; Dahlevik 2014 und 2017; Affolter 2017). Diese Intransparenz offen zu zeigen ist ein Teil ihrer Arbeit. In diesem Zusammenhang wird u.a. untersucht, wie »Asyl« verwaltet, ausgeführt und aufrechterhalten wird und wie die Prozesse (durch Einblick in die Arbeitsroutine der Beamten) im Asylwesen ablaufen. Schneider & Wottrich (2017) setzten sich mit Verwalten der Asylverfahren aus europäischer Perspektive auseinander und fragten danach, ob die Arbeitsroutinen und Wissensbestände der Sachbearbeiter*innen in den Behörden von den Bemühungen der EU um eine Harmonisierung der Asylverfahrenspraxis beeinflusst werden. Sie verglichen Deutschland und Schweden, hinsichtlich der Anhörungspraktiken aus der Verwaltungsperspektive, auf der Grundlage gemeinsamer Schulungsprogramme der EASO für Asyl-Sachbearbeiter*innen. Trotz des gleichen Schulungsprogramms der EASO stellen Schneider & Wottrich (2017) fest, dass die Anhörungsdurchführung in den beiden Ländern organisatorisch unterschiedlich durchgeführt wird. Dadurch, dass sich die Anhörenden in Schweden während und nach der Anhörung in einem eigens dafür eingerichteten Zeitfenster mit einem/einer anderen Sachbearbeiter*in (Case officer) darüber verständigen, worauf im weiteren Verlauf geachtet werden solle und welche Nachfragen gestellt werden sollten (vgl. Schneider & Wottrich 2017: 94), unterliegen die Anhörungen in Schweden einer höheren Beobachtbarkeit, weil ein »Mehr-Augen-Prinzip« ermöglicht wird. Anders als in Schweden, stellt die Anhörungssituation in Deutschland »einen Bereich der tendenziellen Nicht-Beobachtbarkeit« dar (ebenda: 98). Einzelentscheider*in ist derjenige/diejenige, der/die die alleinige Kontrolle über Art und Ausmaß der gestellten Fragen in der Anhörung hat. In ihrer Untersuchung wird die Besonderheit der Anhörung in Hinblick auf eine begründbare Entscheidung gezeigt. Entscheidung und Anhörungsdurchführung gehen Hand an Hand: »Wer in einer Asylbehörde über Anträge mitentscheidet, muss lernen, Anhörungen […] durchzuführen« (ebenda: 84). In der vorliegenden Arbeit wird die begründbare Entscheidung als Hauptzweck der Anhörung betrachtet und es wird gezeigt,

3

Einen kurzen Literaturüberblick zur Verwaltung im Bereich des Asylwesens in europäischen Ländern siehe (Dahlvik 2017:119f).

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Die Anhörung im Asylverfahren

wie das Anhörungsgespräch darauf ausgerichtet ist, diesen Zweck zu erfüllen. Darüber hinaus ist die Darstellung der Schulungsprogramme durch Schneider & Wottrich (2017), hinsichtlich der Anhörungsdurchführung, sowie die Berichte der Entscheider*innen zur Umsetzung der Programme in der Anhörungssituation für meine Arbeit bedeutend. Da ich keine Entscheider*inneninterviews führen konnte, kann durch die Untersuchung von Schneider & Wottrich (2017) die Perspektive der Entscheider*innen ergänzend verfolgt werden. Aus Sicht der Verwaltungsperspektive untersuchte Affolter (2017) ebenfalls, wie das Verwaltungsprodukt »Asylbescheid« in einer Schweizer Asylbehörde hergestellt wurde. Da der Asylbescheid nur aufgrund des Wissens, das im Anhörungsgespräch generiert wird, hergestellt werden kann, diskutiert die Autorin, wie die Entscheider*innen versuchen, »das Entscheidungswissen« (167) in der Anhörung zu gewinnen. Das Bestreben einer solchen Erstellung beeinträchtigt die Gesprächsgestaltung maßgeblich, weil das gesamte Gespräch auf das Sammeln von Informationen und auf die Erstellung des Bescheides ausgerichtet ist. Ebenfalls zitiert Affolter mehrere Ausschnitte aus Interviews mit Entscheider*innen, an die ich mich teilweise anlehne. Dahlevik (2014) untersuchte die Verwaltung des Asyls aus soziologischer Perspektive. Sie geht u.a. den Fragen nach: Wie gestaltet der Staat das System »Asylverwaltung«? Wie wird das System ausgeführt und aufrechterhalten? Wie wird das System von den Akteur*innen im direkten Umgang mit Asylsuchenden gelebt? Die Autorin kommt zum Ergebnis, dass es Spannungsfelder und Dilemmata in den sozialen Praktiken der Entscheider*innen bei der Anhörungsdurchführung gibt (z.B. das Spannungsfeld um Normierung und Handlungsspielraum (vgl. K. 9.2.1.1). Eine interessante Erkenntnis aus der vorgestellten Untersuchung ist beispielsweise, dass individuelle Zugänge und Strategien bei der Anhörungsdurchführung in österreichischen Anhörungsverhandlungen eine bedeutende Rolle spielen (vgl. ebenda: 196). Die gleiche Erkenntnis lässt sich in der vorliegenden Arbeit gewinnen und es wird gezeigt, wie unentbehrlich die individuellen Zugänge für die Anhörungsdurchführung sind. Dahlvik (2017) erweitert ihre Untersuchung zum Handeln der Entscheider*innen im österreichischen Asylverfahren und erforscht aus organisationssoziologischen Gesichtspunkten, wie über Asylanträge entschieden wird. Sie beschäftigt sich mit den gegensätzlichen rechtlichen, administrativen und sozialen Praktiken im Arbeitsalltag der Entscheider*innen und betrachtet, wie die sozialen Praktiken in Behörden eine funktionale Koexistenz von Formalität und Informalität darstellen. Rechtliche und administrative Normen verlangen und produzieren Formalitäten in Form von Normierung, Eindeutigkeit in Form einer Entscheidung und Verantwortung. Gleichzeitig ist der Arbeitsalltag in der Behörde durch die Informalität sozialer Praktiken und Prozesse geprägt, und zwar in Form von Handlungsspielräumen, Ungewissheiten, Generalisierungen und Distanzierungen (vgl. ebenda: 124). Laut der Autorin sind die Entscheidungen im Bereich der Verwaltung zu einem gewissen Grad mit individuellen, subjektiven Aspekten der EntscheiderInnen verbunden (2017: 136), was »die Entscheidung intransparent« (ebenda: 124) macht. Die Handlungsspielräume werden an mehreren Stellen in meiner Untersuchung festgestellt und es wird problematisiert, wie ambivalent der Umgang damit ist. Einerseits sind sie unverzichtbar, andererseits bergen sie die Gefahr der Missinterpretation.

3. Forschungsüberblick

3.4

Das Asylverfahren aus soziologischer und sozialwissenschaftlicher Sicht

Soziologisch ausgerichtete Forschungsarbeiten befassen sich mit dem Einfluss der Bürokratie auf die Lebenswirklichkeit von geflüchteten Menschen, wie Täubig (2009) und Fritsche (2012) darstellen. Fritsche (2012) beschäftigt sich mit der intersubjektiven Konzeptualisierung biografischer Zeiten, wie der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Asylbewerber*innen. Sie zeigt, wie Asylbewerber*innen mit der Asylwirklichkeit und ihrem rechtlichen Status umgehen, ebenso wie sich dieser auf ihre Handlungsorientierungen, Subjektpositionierungen, Selbstkonzeptionen und Identität auswirkt (vgl. ebenda: 664). Die Autorin diskutiert, wie die biografischen Zeiten des/der Asylantragstellers*in geformt werden und in welcher Beziehung diese zu rechtlichen Strukturen stehen. In Bezug auf die Konzeptualisierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stellt Fritsche fest, dass die gegenwärtige Lebenszeit als »Asylbewerber*in« (als Asylzeit von der Autorin bezeichnet) von drei üblichen Zeitstrukturen abgelöst wird. Die Gegenwart ist die Asylzeit, die als ungewisse Wartezeit in den Erzählungen der Asylwerber*innen problematisiert wird. Diese verlorene Zeit, wie diese von den Asylbewerber*innen wahrgenommen wird, ist mit strukturellen Zwängen, eingeschränkten Freiheiten sowie Handlungsmöglichkeiten und verhinderter Bewegung verbunden, »als ob die Pause Taste gedrückt worden wäre […] Weder ist ein Weg zurück möglich, noch können Zukunftspläne gemacht werden.« (375). Während die Zukunft unplanbar bleibt und die Gegenwart fremdbestimmt erscheint (376), wird die Vergangenheit in der Form einer Repräsentation vergangener Erlebnisse (Fluchtgeschichte) für die rechtliche Praxis konstant eingefordert (373-376). Darüber hinaus diskutiert Fritsche aus soziologischer Sicht die Frage, wer ein/eine Asylbewerber*in ist, welche Vorstellungen es von Asylwerbern*in in österreichischen Asylverfahren gibt bzw. wie sich ein/eine Antragsteller*in präsentieren sollte, um als Asylbewerber*in wahrgenommen zu werden. Interessant für die vorhandene Studie ist die Darstellung von Fritsche, bezüglich der behördlichen Vorstellungen von Asylsuchenden in österreichischen Asylverfahren und inwieweit die Antragsteller*innen in der Anhörung bereit sind, von sich aus das erwartete Bild des vertriebenen, passiven und ohnmächtigen Flüchtlings zu liefern. In Kapitel (9.2.2.2.1) in der vorliegenden Studie wird gezeigt, dass sich die Asylbewerber*innen angesichts der Bereitschaft, die behördlichen Erwartung zu bedienen, unterscheiden und dass nicht alle Antragsteller*innen die von ihnen erwartete Rolle annehmen.   Täubig (2009) beschäftigte sich in ihrer Arbeit »Totale Institution Asyl« mit der Lebenssituation »Asyl«. Sie betrachtet »Asyl« aus der Rechtslage (ungewisser Aufenthaltsstatus, Arbeitsverbot, Residenzpflicht) der totalen Institution (kasernierte Unterbringung in Flüchtlingsunterkünften) und den Migrationserfahrungen. Die Autorin beschreibt allgemein die Phasen der Migration und ihre biografische Bedeutung und zeigt auf, dass bei einer Zurückweisung durch die Aufnahmegesellschaft Migranten in einer »interkulturellen Zwischenwelt« verbleiben.

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Die Anhörung im Asylverfahren

»Diese Position zwischen zwei Gesellschaften birgt ein (doppeltes) »anomisches Potential« in sich, weil der Kontakt bzw. die Zugehörigkeit zu beiden Gesellschaften uneindeutig ist.« (40). Täubig schildert das Leben in Flüchtlingsunterkünften und Asylbewerberheimen in Deutschland, in Anlehnung an Goffmans Konzept der »totalen Institution« und beschreibt, wie solche Institutionen das Leben ihrer Insassen reglementieren und bis ins Detail kontrollieren. Sie identifiziert die Lebenssituation von Asylbewerber*innen insgesamt als Zustand der »organisierten Desintegration«.4 Scheffer (2001) befasste sich mit der Asylanhörung in Deutschland aus einer soziologischen Perspektive. Der Autor verfolgte einen ethnografischen Zugang, der der empirischen Mikrosoziologie und der Ethnomethodologie verpflichtet war, mit dem Ziel »praktische Fundierung der Rechtsanwendung« (21) im Rahmen der Asylgewährung zu erforschen. Scheffer war besonders am »Funktionieren einer sozialen Praxis« (22) interessiert. Er rekonstruierte in seiner ethnographischen Verfahrensanalyse, wie im Rahmen des Asylverfahrens, aus individuellen Einzelschicksalen, judizierbare »Fälle« werden. Besonders interessant für die vorliegende Untersuchung sind Kapitel 2 und 4. Im Kapitel 2 beschreibt Scheffer die Anhörung im Bundesamt als »eine spezialisierte und vielschichtige Veranstaltung« (ebenda: 69) und hält die mikrosoziologischen Eigenschaften dieser Veranstaltung fest. Beispielsweise ist die Anhörung »nicht einfach eine Art Verhör. Sie verhält sich komplizierter« (ebenda). Der Autor interessierte sich für die Rekapitulation der Anhörungseröffnung (70) und beschreibt sie ausführlich, sogar die Vorbereitung auf die Anhörung, beginnend mit der Unterhaltung des/der Entscheiders*in mit dem/der Dolmetscher*in über den Fall. (72-88). In Kapitel 4 behandelt Scheffer die Glaubwürdigkeitsüberprüfung und merkt an, dass die Feststellung der Unglaubwürdigkeit im Asylverfahren nicht identisch mit einem Verdacht ist, der durch intuitive Unglaubhaftigkeitsindikatoren, wie Schwitzen, Farbwechsel im Gesicht, Vermeidung des Blickkontakts angeregt wird. Vielmehr handelt es sich dabei um eine »diskursive Diagnostik, die nicht-anwesende Verfahrensinstanzen überzeugen soll« (141). Er weist daraufhin, dass in der Glaubwürdigkeitsüberprüfung »die Entscheidbarkeit und Entscheidungsfähigkeit erst erzeugt [wird]« (140). Der Autor versucht die »Prüfdiagnostik« (142) zu rekonstruieren und zeigt, welchen Testmethoden die Entscheider*innen nachgehen, um die Glaubwürdigkeit zu prüfen. Die Arbeit von Scheffer ist die einzige Arbeit, die die Anhörung im deutschen Asylverfahren auf Grundlage von teilnehmender Beobachtung in unterschiedlicher Hinsicht offenlegt. Deshalb ist sie für meine Studie relevant.   Als Beispiel für sozialwissenschaftlich ausgerichtete Untersuchungen zum Asylverfahren ist die Arbeit von Weber (1998) nennenswert. Weber stellte den Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen im deutschen Asylverfahren in den Mittelpunkt seiner Arbeit.

4

Der Begriff der organisierten Desintegration »steht für das asyl- und aufenthaltsrechtliche Strukturgeflecht, das für Asylbewerber und »Geduldete« als Angehörige einer bürokratischen Kategorie hergestellt wird. In diesem Strukturgeflecht ist Desintegration angelegt und es lässt sich in spezifischen Momenten mit dem Konzept der totalen Institution fassen.« (Täubig 2009: 58).

3. Forschungsüberblick

Er äußert heftige Kritik am Asylrecht und der Verfahrenspraxis.5 Laut Weber dienen gesetzgeberische und verwaltungstechnische Maßnahmen nur dem Zweck, »die Lebensbedingungen der nach Deutschland Fliehenden zu erschweren und ihren Aufenthalt so unangenehm wie möglich« (ebenda: 51) zu gestalten. Ziel seiner Studie ist, die »Unsichtbarkeit und die Nichtbeachtung der Bedürfnisse extremtraumatisierter Flüchtlinge zu durchbrechen« (ebenda: 15). Weber ging insbesondere den Forschungsfragen nach: »Ist die notwendige Sorgfalt und Gründlichkeit bei der Sachverhaltsermittlung gewährleistet? Findet im Asylverfahren ein sensibler Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen statt? Auf welcher methodischen Grundlage bewertet das Bundesamt die Glaubwürdigkeit von Folterschilderungen?« (ebenda: 15) Zur Beantwortung seiner Fragen analysierte er 40 Asylanhörungsprotokolle und Asylentscheide. Der Autor hat herausgefunden, dass •





mindestens 20 % der Flüchtlinge in Deutschland traumatisiert seien, deren Schicksal beim Bundesamt kaum Gehör findet, auch dann nicht, wenn sie massiv gefoltert wurden. das Bundesamt bei 75 % der untersuchten Folterschicksale selbst extreme Misshandlungen und Folterungen nicht als Indizien einer »politischen« Verfolgung angesehen haben (S. 178) die Asylanhörung geprägt sei durch »ständige Vorhalte, Unterbrechungen, Zurechtweisungen und Zweifel (S. 179). Retraumatisierungen werden in Kauf genommen (vgl. ebenda)

Weber demonstriert anhand der von ihm untersuchten Anhörungsprotokolle, dass (a) lediglich in 35 % der Fälle nachdem aktuellen Gesundheitszustand gefragt worden sein, obwohl manche Antragsteller*innen von sich aus auf gesundheitliche Probleme hinwiesen, (b) extrem traumatisierende Tatbestände wie Haft, Schläge oder sexueller Missbrauch vorlägen, (c) die durchschnittlich kurze Dauer der Anhörung der Antragsteller*innen sehr auffällig sei, (d) »sichtliches Desinteresse an einigen Verfolgungsschicksalen« (ebenda: 178) erkennbar ist.6

3.5

Die Anhörung aus juristischer Perspektive

Am meisten wird die Asylpraxis hinsichtlich der Anhörungspraxis aus juristischer Sicht kritisiert. Die Kritik wird anhand der Schriftstücke, die auf der Grundlage von Anhörungssprächen produziert wurden (Asylprotokoll und Asylbescheide), ausgeübt. Auf der

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Die Arbeit von Weber zeichnet sich durch eine besonders kritische Haltung aus. Merkenswert finde ich, dass Weber die genannten Erkenntnisse auf Basis von Aktenanalysen herausgefunden hat. Er war in keiner Anhörung dabei. Er interviewte weder Entscheider*innen noch Asylbewerber*innen oder andere Anwesende (Begleiter*innen, Anwälte/Anwältinnen), sondern studierte die Anhörungsprotokolle und die Asylbescheide.

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Die Anhörung im Asylverfahren

Basis der beiden Dokumente können Juristen zurückverfolgen, wie das Anhörungsgespräch abgelaufen ist. Jedenfalls wird die Tatsache von einigen Juristen bestätigt, dass »belastbare Untersuchungen zur Qualität der Anhörungspraxis nicht [vorliegen]« (Marx 2016: 8). Als Beispiel für Forschungsarbeiten, die die Anhörungspraxis aus juristischer Sicht auf der Grundlage von Aktenansicht betrachten, können die Arbeiten von Welge (2006) und Marx (2016) exemplarisch erwähnt werden. Durch eine Untersuchung der Entscheidungspraxis des Bundesamtes in Fällen eritreischer Asylantragsteller*innen hat Welge (2006) ihren Beitrag zur Qualitätsverbesserung von Anhörungen und Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge geleistet. Sie hat Protokolle der Anhörungen beim Bundesamt, sowie Bescheide des Bundesamtes von 77 Verfahren aus den Jahren 2000-2006 aus juristischer Sicht ausgewertet. Welge stellt in einer Vielzahl von Verfahren elementare Mängel fest: »Diese reichen von einer unzureichenden Sachverhaltsaufklärung durch eine ungeeignete Durchführung der Anhörung, über mangelnde Länderkenntnis bei einem Teil der Entscheider bis hin zu Verstößen gegen elementare Verfahrensgrundsätze«. (Ebenda: 5) Hinzu fügt sie, dass in den meisten ausgewerteten Verfahren die tatsächliche aktuelle politische Lage und die Menschenrechtssituation in Eritrea ausgeblendet wurden. Bescheide, die nach dem Bekanntwerden der Informationen über das Schicksal der Malta-Flüchtlinge erstellt wurden, gehen zum Teil mit keinem Wort auf die Ereignisse ein. Aktuelle Auskünfte zur Menschenrechtslage werden komplett ignoriert. Auf die seitens des/der Asylsuchenden dargestellten ausführlichen Asylgründe wird zudem so gut wie gar nicht eingegangen (vgl. ebenda: 71). Welge legt dar, dass einige von ihr untersuchten Asylbescheide vom Verwaltungsgericht zugunsten der Asylbewerber*innen aufgehoben wurden. Interessant für diese Arbeit ist die Begründung der Aufhebung, die besagt, dass »die Art und Weise der Anhörung fragwürdig [sei]« (124). Die Autorin führt die Entstehung der negativen Bescheide auf Defizite hinsichtlich fairer Anhörungsverfahren und Missverständnisse zwischen Anhörer*innen7 und Asylsuchenden zurück (vgl. ebenda 125). Ebenfalls kritisiert Marx (2003, 2009, 2011, 2013 und 2016) die Anhörungspraxis aus juristischer Perspektive auf das Schärfste.8 Neben der allgemeinen Kritik, die er an der Anhörungspraxis in allen Aspekten flächendeckend ausübt,9 thematisiert Marx sehr

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9

Anhörer*in und Entscheider*in werden als Synonyme für den/die Bundesamtmitarbeiter*in, der/die die Anhörung durchführt, verwendet. Marx ist ein Autor, der aus seiner eigenen praktischen Erfahrung spricht, wie er selbst schreibt »Über nahezu drei Jahrzehnte gesammelte eigene berufliche Erfahrungen mit der Anhörungspraxis in fast allen Außenstellen des Bundesamtes, Gespräche mit den Entscheider*innen des Amtes und der Erfahrungsaustausch mit anderen auf Asylverfahren spezialisierten Anwältinnen und Anwälten, Dolmetschern, Sozialarbeitern und Flüchtlingsberatungsstellen sowie die langjährige praktische und wissenschaftliche Befassung mit Verfahrensstandards bilden gleichwohl eine verlässliche Grundlage, um einige generelle strukturelle Tendenzen fragmentarisch zu beleuchten. Gegenstand der Betrachtungen ist die persönliche Anhörung im Asylverfahren.« (Marx 2016: 8). Zum Beispiel kritisiert Marx unter vielen anderen Punkten, die in der Arbeit an passenden Stellen erwähnt werden, die meisten Überprüfungskriterien der Glaubwürdigkeit, vor allem wenn die-

3. Forschungsüberblick

spezifische Problembereiche, wie die Reduzierung der Anhörung darauf, Widersprüche zu finden: »Asylrechtlich spezialisierte Anwälte könnten Tragikomödien über das Nichtverstehen können und/oder wollen protokollieren, wie Verwaltungsrichter in der mündlichen Verhandlung – reduktionistisch auf die Ermittlung von Widersprüchen fixiert – Asylsuchende an ihren Aussagen beim Bundesamt festhalten, die dort mit Gewissheit vorgetragen wurden, aber ohne viel Müheaufwand als nicht erlebnisfundierte Aussagen oder nicht feststehende Angaben erkennbar sind.« (Marx 2003b: 80). Obwohl die Untersuchungen von Marx, mit Ausnahme seiner Kommentare zum Gesetz, eher als kritische Betrachtung der Anhörungspraxis angelegt sind, wird auf sie oft in dieser Studie zurückgegriffen. Denn durch die Arbeiten von Marx kann schlussgefolgert werden, wie die Anhörung aus juristischer Sicht durchgeführt werden sollte. Auch für das Erschließen der Begrifflichkeiten des Asylrechts sind sie hilfreich. Abgesehen von den genannten kritischen Arbeiten zum Asylverfahren, stellt Schenk (1993) die wesentlichen Judikate deutscher Gerichte und die rechtlichen Bedingungen für Asylverfahren systematisch zusammen, ohne Stellungnahme oder Bewertung. Seine Darstellung soll »dem Einsteiger die Grundlinien anhand der […] Rechtsprechung aufzeigen und ihm das Zurechtfinden in der Begrifflichkeit asylrechtlicher Entscheidungen zu erleichtern« (15). Abschließend wurden die Handlungsweisungen, die theoretische und praktische Hinweise geben, wie die Anhörung durchgeführten werden soll (wie Dienstanweisung 2009, EASO-Praxisleitfaden 2014 und 2016) betrachtet. Mit Blick auf die genannten Arbeiten ist es ersichtlich geworden, dass in den Untersuchungen zum Teil oder gar nicht, auf Aspekte von Asylanhörung eingegangen wurde und eine ausgeprägte Untersuchung zur Beschreibung des holistischen Verlaufs von Anhörungsgesprächen bisher nicht unternommen wurde. Es gibt also eine Wissenslücke für die sprachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema der Asylanhörung, insbesondere in Deutschland. Bisherige Forschungen zum Thema wurden primär im Österreich durchgeführt (s. oben). Die vorliegende Studie wurde auf der Grundlage verschiedener empirischer Materialdaten durchgeführt, die im Verlauf des Forschungsprozesses, durch unterschiedliche Datenerhebungsverfahren und zum Teil auf der Basis eigener Beiträge zur Datenproduktion, entstanden sind. Durch welche qualitativen Methoden die Datenerhebung erzielt wurde und wie die Datendiversifikation erreicht wurde, wird im folgenden Kapitel dargestellt.

se zur Überprüfung von Asylsuchenden, die unter posttraumatischen Belastungsstörungen oder anderer psychisch reaktiven Traumafolgen leiden. Asylbewerber*innen, die infolge von Folter, sexueller Gewalt oder anderen Gewalthandlungen traumatisiert sind, sind in ihrem Erinnerungsvermögen gestört und/oder in ihrer Darlegungsfähigkeit beeinträchtigt (vgl. 2011: 85 und 2013a: 11).

31

4. Datenerhebungsmethoden

4.1

Ethnografisches Vorgehen

Die Analysen basieren auf fundiertem Hintergrundwissen, das auf Erkenntnisse beruht, die ich während mehrjähriger Felderfahrung gewinnen konnte.1 Zunächst wurde die Felderfahrung durch teilnehmende Beobachtungen, dem Mittendrin-Sein, sowie unzähliger informeller Gespräche über die Anhörung, bereichert.2 Bei der Untersuchung des Materials wurde die Bedeutung dieser informellen Gespräche für die Ermittlung die Anhörungskontexte sehr deutlich. Denn durch die informellen Gespräche »nebenbei« Informationen generiert wurden, die u.a. Zusammenhänge zwischen politischen Debatten und den Anhörungsdurchführungen vermittelten, die sich bei der Datenanalyse als wichtig erwiesen, ohne diese bewusst eingefordert zu haben. In der Literatur werden die Vorteile, die informelle Gespräche bieten, hervorgehoben. Durch die informellen Gespräche können spontan Informationen erhalten werden, »nach denen nicht systematisch hätte gefragt werden können« (Spranz-Fogasy & Deppermann 2001: 1009). Zudem wurde das Erfahrungswissen über die Anhörung und ihren Kontext, das ich mir durch die informellen Gespräche aneignen konnte, durch Interviews konkretisiert und erweitert (vgl. K. 4.2.1). Während der Erhebungsphase arbeitete ich mit vier Beratungsstellen für Flüchtlinge zusammen und übernahm dort Dolmetscherin- und Beratungstätigkeiten und bereitete die Menschen auf das Anhörungsgespräch vor. Durch diese Feldaufenthalte, Feldnotizen und teilnehmende Beobachtungen an der Seite der Asylbewerber*innen, ihrer Anwälte/Anwältinnen und Helfer*innen, habe ich mir entsprechendes ethnographisches Wissen3 über die Anhörung aneignen können und bin so zu umfangreichen

1

2 3

Schon seit 2006 war ich als ehrenamtliche Mitarbeiterin, je nach Bedarf und Zeitkapazität, bei Einrichtungen tätig, die Menschen ohne Papiere helfen und die Asylbewerber*innen beim Prozessieren des Asylverfahrens unterstützen. Ab dem Moment, als das Forschungsinteresse hinsichtlich der Anhörung erwogen wurde, wurden noch am selben Tag informelle Gespräche in einem Forschungstagebuch dokumentiert. Ethnographisches Wissen ist spezifisches Wissen und »meint solches, das entweder nur durch Feldforschung zu gewinnen ist oder das erfordert, dass der Analytiker selbst Mitglied der unter-

34

Die Anhörung im Asylverfahren

Erkenntnissen bezüglich ihres Kontextes und ihr juristisches und soziales Gefüge gelangt. Die ethnographische Herangehensweise bot sich in diesem sensiblen Bereich als gegenstandsangemessene bzw. erforderliche Methode zur Datenerhebung aus folgenden Gründen an: Sie gilt als Basis für weitere Daten, die für das Erstellen des Untersuchungskorpus notwendig sind. Ohne die Beziehungen, die ich in der Phase der ethnografischen Erhebung zu den Asylbewerber*innen aufbauen konnte, wäre es sehr schwierig geworden, im weiteren Forschungsverlauf Interviewpartner*innen in solchen sensiblen Bereich zu gewinnen. Darüber hinaus bekäme man in dieser, für die Antragsteller*innen schwierige Angelegenheit, ohne entsprechendes Involviert-Sein, wenige oder gar keine Informationen von den Asylbewerber*innen und vermutlich keinerlei Innenansicht. Gehört man durch Beratung und Dolmetschen dazu, ist man nicht mehr fremd und internes Wissen, das für ein umfassendes Verstehen des Anhörungskontextes entscheidend ist, wird zugänglich. Somit sind die Daten dieser Arbeit der ›klassischen‹ ethnografischen Studien, die mit Hilfe von längeren Feldbeobachtungen durchgeführt werden, um »kleine Lebenswelten« (Honer 1993: 32) zu erforschen, zuzuordnen.4 Neben den allgemeinen ethnografischen Daten, die bei jedem Analyseschritt innerhalb der Arbeit Unterstützung leisten, konzentriert sich jedes Kapitel auf sogenannte »Eigendaten«, die hauptsächlich zwecks der Forschungsfrage des jeweiligen Kapitels im Fokus der Analyse stehen. Zum Beispiel, die Untersuchung in Kapitel II stützt sich in erster Linie auf die Auswertung der Interviewdaten, sowie auf die Betrachtung der Dienstanweisungen und der behördlichen Vorgaben zur Anhörungsdurchführung. Die empirischen Kapitel basieren auf Beobachtungsprotokollen und Anhörungsprotokollen. Das Datenmaterial besteht insgesamt aus zwei Teilkorpora: (1) Audiokorpus durch Interviews mit Akteur*innen, die an der Anhörung beteiligt sind (2) Textkorpus, das aus folgenden Daten besteht: (a) verfasste Anhörungsprotokolle vom Bundesamt, (b) teilnehmende Beobachtung der Anhörung, Feldnotizentagebuch im Feldaufenthalt, (c) eigene Beobachtungsprotokolle, die reflexiv nach der Anhörungsverhandlung angefertigt wurden,5

4

5

suchten Ethnie im kommunikationsethnographischen Sinne ist.« (Auer 1995; Saville-Troike 1989 z. in Deppermann 2000: 115). Im Gegensatz zu »fokussierte[n] Ethnografien« (Knoblauch 2001), in denen die Daten in kurzen Feldaufenthalten mit Hilfe von technischen Aufzeichnungsmitteln erhoben und besonders intensiv ausgewertet werden (vgl. ebenda: 127ff.). Aus diesen Beobachtungsprotokollen wird aus Datenschutzgründen in der Arbeit nicht wörtlich zitiert. Die Daten wurden nach deren Erhebung anonymisiert. Da die erhobenen Daten besonders zu schützen sind und die Anonymisierung in jedem Fall gewährleistet sein muss, werden keine Angaben, die geeignet wären, indirekt auf die Personen zu schließen, im ursprünglichen Wortlaut zitiert. Ziel dieses Vorgehen ist es, jede indirekte Zuordnung der anonymisierten Daten zu einer bestimmten Person zu verhindern.

4. Datenerhebungsmethoden

Die eigenerhobenen Daten werden durch drei Aufzeichnungen von im Radio gesendeten Interviews mit Entscheider*innen, vier Interviewausschnitte mit Entscheider*innen auf YouTube und Zeitungsartikel angereichert. Im Folgenden wird die Art und Weise der Erhebung der Interviewdaten geschildert.

4.2 4.2.1

Erhebungsumfeld und Zielgruppe Audiokorpus

Neben den teilnehmenden Beobachtungsverfahren werden Interviews zur Datenerhebung im Forschungsfeld eingesetzt. Interviews bilden in der Sozialforschung mit den Feldteilnehmern den Schwerpunkt der Forschungspraxis (Lüders 2004: 385ff und Hopf 2004: 356). Durch Interviews konnten Auffassungen, Zuschreibungen und Erwartungen der Interviewten zur Anhörung und zu anderen Akteur*innen erforscht werden. Die Interviews sind in drei Interviewtengruppen unterteilt und wurden selbst durchgeführt: (a) Interviews mit Asylbewerber*innen (b) Interviews mit Anhörungsbegleiter*innen (c) Experteninterviews, Interviews mit Anwälten/Anwältinnen.

4.2.1.1

Interviews mit Asylbewerber*innen

Die Gewinnung von Interviewpartnern*innen der Gruppe (a) stellte die größte Hürde bei der Erstellung von Audiointerviews dar, weil (a) ich bewusst vermieden habe, Menschen zu fragen, die ich auf die Anhörung vorbereitet hatte oder für die ich gedolmetscht habe, um sie nicht in der Verlegenheit zu bringen, (b) wenige Antragsteller*innen zu akustischen Aufnahmen bereit waren. Die meisten Asylbewerber*innen, mit denen ich Kontakt aufnahm, wussten von meinen Forschungsinteressen, weil ich sie offen kundgegeben habe. Sie vermittelten mir von sich aus viele Einzelheiten über die Anhörung. Hingegen fiel es ihnen bei direkten Interviews schwer, insbesondere mit akustischen Aufnahme, offen zu reden. Sie fühlten sich verunsichert, weil ihre Aussagen aufgenommen werden sollten. Einige Personen, die dem Interview zustimmten, haben einen Tag oder Tage später darum gebeten, die Interviews doch nicht zu verwenden. Zur Erweiterung der Interviewdaten trug bei, dass einige befragte Asylbewerber*innen, die mit den Aufnahmen kein Problem hatten, mich im Rahmen des Interviews an ihre Bekannten verwiesen, die ihrerseits Interesse an einem Interview hatten, so dass die institutionellen Zugangswege durch informelle ergänzt werden konnten. Als Erhebungsform wurde eine Kombination zwischen vorstrukturierten und narrativen Interviews angestrebt. Bei dieser flexiblen, teilstandardisierten Form qualitativer Interviews orientierte ich mich »an einem Interview-Leitfaden, der jedoch viele Spielräume in den Frageformulierungen, Nachfragestrategien und in der Abfolge der Fragen eröffnet« (Hopf 2005: 351). Folglich beinhalten die durchgeführten Interviews sowohl offene Fragen, die den Befragten ein freies Erzählen ermöglichten, als auch gezielte Fragen, die bestimmte Aspekte thematisierten, weil Bedarf zur Vertiefung und

35

36

Die Anhörung im Asylverfahren

Ergänzung zu bestimmten Wissensinhalten, die aus den vorherigen informellen Gesprächen generiert wurden, bestand. Ein weiterer Vorteil narrativer Interviewpassagen bei einer Erhebung ist darin zu sehen, dass die Perspektive der befragten Personen über die Anhörung unbeeinflusst weitergegeben werden kann. Bei der Auswertung hat sich diese unbeeinflusste Darstellung der Anhörung als besonders vorteilhaft erwiesen. Denn aufgrund der dargestellten Eigenperspektive des/der Antragstellers*in über die Anhörung, konnten die Asylbewerbertypen kategorisiert werden (vgl. K. 9.2.2.2). Vor der Interviewdurchführung wurde den Antragsteller*innen verdeutlicht, dass sie die Hauptakteur*innen der Interviews sind, ohne sie ein Einblick in die Anhörung nicht möglich gewesen wäre. Im Mittelpunkt der Asylbewerber*inneninterviews standen folgende Themenfelder: allgemeine Beschreibung der Anhörungssituation, Gesprächsverlauf, Umgangsformen der Entscheider*innen und Dolmetscher*innen, Gesprächsatmosphäre sowie sprachliches Verständnis vs. Missverständnis mit den Dolmetscher*innen. Weitere Fragen waren, ob sie die Möglichkeit hatten, sich auszusprechen, um ihre Fluchtgeschichte darzustellen oder ob sie beim Erzählen unterbrochen wurden und ob sie sich vor der Anhörung über den Anhörungsverlauf informiert haben. Die Probanden wurden zum Anhörungsprotokoll und der Rückübersetzung befragt: Sie wurden zu ihrer Bewertung, ob die Protokolle alles oder zumindest das Wesentliche enthielten, was sie erzählt hatten, ob sie eine Rückübersetzung des Protokolls wünschten und wie genau rückübersetzt wurde. Wenn auf eine Rückübersetzung verzichtet wurde, wurde nach dem Grund gefragt.

4.2.1.2

Interviews mit Anhörungsbegleiter*innen und Anwälten

Der Zugang zu den (a) Interviewgruppen, (b) Anhörungsbegleiter*innen und (c) Expert*innen kam durch direkte Ansprache zustande. Die gewünschten Interviewpartner*innen wurden angesprochen oder angeschrieben. Bei den Begleiter*inneninterviews lag der Fokus auf ihrer Kompetenz als Beobachter*innen, die sich in der Anhörungssituation nicht auf ihre Aussagen konzentrieren müssen. Ihnen ist untersagt, sich am Anhörungsgespräch zu beteiligen. Aus dieser Position heraus konnten sie Details zum Gesprächsverlauf und detaillierte Beschreibungen zum Dolmetscher*innenund Entscheider*innenhandeln berichten. Auch wenn die Begleiter*innen parteiisch sind, weil sie in der Anhörung als Beistand der Asylbewerber*innen fungieren, konnten manche Anhörungsbegleiter*innen bei der Aufforderung zur Beschreibung der Anhörungssituation »sachlich« über mehrere Anhörungen berichten und das Verhalten der Entscheider*innen in verschiedenen Anhörungen vergleichen, so dass eine breite Sicht über mehrere Anhörungssituationen entstehen konnte. Eine der Befragten z.B. nahm an ca. 30 Anhörungen teil und konnte sich an mehrere Besonderheiten in bestimmten Anhörungen erinnern und darüber berichten. Eine andere nahm an drei Anhörungen teil. Beim Interview ging sie systematisch alle drei Anhörungen durch und beschrieb unaufgefordert das Verhalten der Interagierenden (Antragsteller*innen, Dolmetscher*innen und Anhörer*innen). Sie stellte das Handeln der Anhörungsteilnehmer*innen gegenüber, wodurch ein umfangreiches Bild von den unterschiedlichen Anhörungsstilen konzipiert werden konnte.

4. Datenerhebungsmethoden

Expertenperspektive zur Anhörung Um die ordnungsgemäße Anhörungsstruktur und die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu erfassen, wurden fünf Gespräche mit Anwälten/Anwältinnen als Expert*innen durchgeführt. Anwälte/Anwältinnen haben in ihrem Status als Berater*innen der Asylbewerber*innen eine Vermittlerrolle zwischen dem deutschen Asylgesetz und den Betroffenen als Mandant*innen. Sie sehen die Anhörung aus der Perspektive des Rechtsexperte*innen, haben zudem Zugang zum öffentlichen Diskurs und nehmen darauf in der Beratung ihrer Mandant*innen Bezug. Die Interviews, die ich mit Anwälten/ Anwältinnen führte, eröffneten die Möglichkeit, den Untersuchungsgegenstand durch die Expertenperspektive zu betrachten.6 Neben den fachlichen Fragen zum Asylgesetz und ihrer Antragsteller*innenberatung, wurde sich auf Fragen konzentriert, die die Anhörung als soziales Handlungsfeld aus ihrer Perspektive beschreiben, mit dem Ziel, wie sie als Experten die Anhörungspraxis und die gesamte Anhörungssituation einschätzen. Denn das Expert*inneninterview als spezielle Form des Leitfaden-Interviews dient dazu die Perspektive einer Person als Expertin*e für ein bestimmtes soziales Handlungsfeld zu erfassen. In der Erhebung geht es nicht um Sach- oder Fachwissen, sondern um Handlungs- und Deutungswissen, das sich auf die jeweilige soziale Praxis bezieht (vgl. Flick 2011: 215). Ziel der Expert*innenbefragung war vor allem, die rechtlichen Rahmenbedingungen der Anhörungen und die Bedeutung der Asylbewerber*innenkompetenz bezüglich ihrer Fluchtgeschichtendarstellung im institutionellen Kontext, im Hinblick auf die spätere Bewertung der Glaubwürdigkeit, aus Sicht des Expert*innen, der als rechtliche*r Berater*in fungiert, zu ermitteln. Folgende Bereiche des Untersuchungsgegenstandes wurden angesprochen: rechtliche Rahmenbedingungen der Anhörung, Schilderung des institutionellen Rahmens der Anhörungsgespräche und des Gesprächsverlaufs, Erklärung des Dublin-Verfahrens und Thematisierung der sogenannten sicheren Länder. Zudem wurden die Interviewt*innen zur Schilderung des Aufbaus der Gesamtanhörung gefragt. Fragen wie Folgende wurden auch berücksichtigt: Werden die geschlechtsspezifischen Aspekte in der Anhörung berücksichtigt? An welchen Stellen könnten Kommunikationsstörung auftreten und welche Möglichkeiten es gäbe, Störungen in der Kommunikation aufzuheben? Eine weitere Frage war, ob eine bessere Darstellung der Fluchtgründe zu einem positiven Bescheid geführt hätte und umgekehrt. Ein interessanter Aspekt war, inwieweit politische Ereignisse und öffentliche Diskurse Einfluss auf die Anhörungsgespräche haben und wie die Entscheider*innen die Glaubwürdigkeit der Asylsuchenden beurteilen.

6

Interessant war: Obwohl die Anwälte/Anwältinnen im Vorfeld über Zeitmangel klagten, gaben sie viel mehr Information als erwartet. Sie erzählten sehr ausführlich und gaben fundierte Auskünfte zu ihrem Arbeitsfeld und zur Anhörungsdurchführung.

37

38

Die Anhörung im Asylverfahren

4.3

Teilnehmende Beobachtungen in Anhörungsverhandlungen

Erst nach einer gewissen Zeitspanne (November 2015- 2016 September)7 im Forschungsfeld und nach der Auswertung der ersten Interviewaufzeichnungen unternahm ich den Versuch, an Anhörungen teilzunehmen. Die ersten Erkenntnisse, die aufgrund der Auswertung der Interviewdaten generiert werden konnten, machten die Notwenigkeit einer Teilnahme an den Anhörungen deutlich. Um die teilnehmende Beobachtung anzuwenden, galt es zunächst, die Anfangshürde zu überwinden: nämlich die Frage zu beantworten, wie der Feldzugang möglich wird (vgl. Spranz-Fogasy & Deppermann 2001: 1008). Ich habe die Asylbewerber*innen selbst gefragt, ob ich sie zur Anhörung begleiten dürfe. Als die Teilnahme an Anhörungen möglich war, setzte ich ein drittes Forschungsinstrument, die teilnehmende Beobachtung von Anhörungsgesprächen im Bundesamt, ein, welches als »prädestiniert dafür [gesehen wird], menschliches Handeln in natürlichen Lebenssituationen zu erforschen« (Spranz-Fogasy & Deppermann 2001: 1007). Die Autoren sehen die teilnehmende Beobachtung als eine unverzichtbare Basismethodik, um empirische Forschung hinsichtlich privater wie auch institutioneller Kommunikation zu betreiben (vgl. ebenda: 1008). Im Fall der vorliegenden Untersuchung war die teilnehmende Beobachtung, für die hier repräsentierten Erkenntnisse, unerlässlich. Sie ermöglichte mir, eine Innenansicht der Anhörungsdynamik und einen Überblick über Kommunikationsereignisse aus meiner Perspektive zu erhalten, was als Ergänzung zu den Perspektiven über die Anhörungen, die in den Interviewdaten vorzufinden sind, galt. Obwohl der Zeitpunkt für die Durchführung der teilnehmenden Beobachtung ziemlich am Ende der Datenerhebungsphase war, ging es mir nicht darum bereits bestehende Hypothesen aus den vorherigen Daten zu verifizieren oder zu falsifizieren, sondern den Datenfundus zu erweitern und den Gegenstand meiner Untersuchung aus erster Hand beobachten zu können (vgl. Garz & Kraimer 1991: 2) und damit dem Prinzip der Mehrperspektivität zu folgen (vgl. Dechmann 1978: 28). Durch diesen Erhebungsschritt wurde die Anhörungsuntersuchung, die durch die vielseitigen Perspektiven der verschiedenen Akteur*innen bereits erfasst war, durch die Perspektive einer distanzierten Beobachterin ergänzt. »Teilnehmend« darf hier nicht im Sinne aktiver Teilnahme in bestimmten sozialen Gruppen verstanden werden (vgl. Flick 2011: 282f.). Diese Art der Teilnahme ist dem Forschungsfeld ›Anhörung‹ aus juristischen Gründen unmöglich. Bei der Teilnahme ging es um Beobachtung des Verhaltens der Akteur*innen; die Gesprächsatmosphäre, das aufeinander Reagieren, die Positionierung der Dolmetscher*innen, Tonfall und nonverbale Signale. Da die Teilnahme an den Anhörungen erst zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden konnte, galt diese ein Abgleich durch einen live erlebten kommunikativen Interaktionsprozess mit den narrativen Darstellungen aus den Interviews. Der Abgleich hat folgende Ziele: perspektivischer Vergleich, Überprüfung der Glaubwürdigkeit8 der in den Interviews transportierten Er-

7 8

Der Zeitraum bezieht sich auf dem Beginn des Forschungsinteresses, weil ich im Forschungsfeld als ehrenamtliche Helferin bereits Jahre zuvor aktiv war (s. oben). Die Glaubwürdigkeit der Befragten wird in keiner Weise in Frage gestellt. Nur wenn eine Person in der Interaktion selbst beteiligt ist und von dieser Interaktion ihre Zukunft (Asylbewerber*in)

4. Datenerhebungsmethoden

lebnisberichten und nicht zuletzt, das Vervollständigen des Bildes über die Anhörung. Ein vervollständigtes Bild kam auf diese Weise aus folgenden Gründen zustande: Die Interviews, die ich mit Asylbewerber*innen, Begleitern*innen, Dolmetscher*innen und Anwälten vor meinem eigenen Zugang zu den Anhörung geführt hatte, sind narrative Texte, in denen jegliche außersprachliche Aspekte des sozialen Handelns unberücksichtigt blieben, die ich durch die Eintragung in einen Beobachtungsbogen, in der teilnehmenden Beobachtungen, ergänzen konnte.

4.4

Textdatenkorpus

4.4.1

Beobachtungsprotokolle

Nach der oben beschriebenen Datensammlung und während der Datenauswertung und der Formulierung der Fragestellung, die parallel lief, fehlte mir die Datensättigung. Es erschien für das Forschungsvorhaben sinnvoll für die Datenerweiterung Anhörungsgespräche akustisch festzuhalten, was sich jedoch aufgrund des Datenschutzes als nicht realisierbar erwies. Daher lag nahe, Beobachtungsprotokolle von Anhörungen anzufertigen.9 Die Analysen dieser Daten können dazu beitragen, die empirisch abgesicherte Basis des unerforschten Feldes ›Anhörungsgespräch‹ zu bereichern, um ein illustratives Bild über die Anhörung nachzuzeichnen. Durch die Beobachtungsprotokolle ist der Zugang erst möglich, Anhörungsinteraktionen zu untersuchen. Denn im Gegensatz zu einer reichhaltigen Interviewdatengrundlage und langem ethnographischen Aufenthalt im Vorfeld, vollzieht sich in face-to-face Interaktionen viel mehr, als die Anhörungsbeteiligten im Nachhinein in Interviews rekonstruieren können.

4.4.2

Anhörungsprotokolle

Der zweite Textkorpus besteht aus den offiziellen Anhörungsprotokollen des Bundesamtes. Die überwiegend mithilfe der Anwälte/Anwältinnen gesammelt wurden. Obwohl mir nahezu hundert Anhörungsprotokolle zwecks der Beratung und Besprechung zur Verfügung standen, war es recht schwer, aufgrund der sensiblen Daten Anhörungsprotokolle zu sammeln. Sie enthalten Aussagen gegen bekannte Organisationen, Parteien, extremistische Gruppen in den Herkunftsländern, sowie private Fluchtgründe, so dass mir ersichtlich wurde, dass die Antragsteller*innen die Protokolle ungerne weitergeben würden. Deshalb habe ich bei Anwälten/Anwältinnen nach anonymisierten Protokollen gefragt. Manchmal bot sich die Gelegenheit an, die Asylbewerber*innen selbst zu fragen, ob sie bereit sind, eine Kopie von ihrem Anhörungsprotokoll zur Verfügung zu stellen.

9

oder ihr Arbeitsplatz (Dolmetscher*innen) abhängt, könnte ihre Darstellung dementsprechend beeinflusst sein. Ich möchte an dieser Stelle besonders betonen, dass in den Beobachtungsprotokollen keine Originalgesprache mitgeschrieben oder zitiert wird. Es handelt sich um allgemeine Beobachtungen von der Interaktionsdynamik, die keine persönliche Daten enthalten.

39

40

Die Anhörung im Asylverfahren

Tabelle 1: Zusammenstellung der Materialdaten - Überblick über die erhobenen Daten 1) Audiokorpus (Interviews)

gesamt: 44

       a) Asylbewerber*innen

gesamt: 26

       b) Expert*innen

gesamt: 5

       c) Anhörerbegeleiter*innen

gesamt: 6

       d) Dolmetscher*innen

gesamt: 4

       e) Radiointerviews mit Entscheider*innen

gesamt: 3

2) Textkorpus

gesamt: 98

       a) Anhörungsprotokolle

gesamt: 64

       b) Asylbescheide

gesamt 19

       c) Zeitungsartikel

gesamt: 15

* Ich hatte noch weitere 6 Interviews mit Asylsuchenden, die auf Wunsch der Interviewt*innen nicht akustisch aufgenommen wurden. Die Interviews erfolgten schriftlich. Berücksichtigt man diese Interviews, wurden 32 Asylbewerber*innen interviewt.

4.5

Anonymisierung der Daten

Sämtliche Namen, Adressen, Zahlen und Einreisedaten im Korpus sind entweder gerändert oder nicht genannt. Abgesehen von elf Fällen, sind die Herkunftsländer der Antragsteller*innen nicht authentisch angegeben. Den Entscheider*innen in den Beispielen wurden Nachnamen gegeben, die nicht ihre tatsächlichen Namen sind, ebenso wurden Asylbewerber*innen mit erfundenen Vornamen tituliert und auf das Vergeben von Nachnamen wurde verzichtet. Alle weiteren Sachverhalte, wie zum Beispiel bestimmte Geschichtenanteile, markante Berufe der Asylbewerber*innen, die einen Rückschluss auf die Person des/der Asylbewerbers*in geben könnten, sind nicht angegeben oder geändert worden. Um die Verwaltung der Daten zu erleichtern und einen Überblick zu erhalten, wurden selbst mitgeschriebene Beobachtungsprotokolle von Anhörung als Beobachtungsprotokolle bezeichnet und mit BP abgekürzt und durchnummeriert. Die Anhörungsprotokolle, die vom Bundesamt angefertigt wurden, weisen eine andere Nummerierung auf oder wurden als »Anhörungsprotokoll Nr. xy« bezeichnet oder mit dem Buchstaben P und Zahlen gekennzeichnet, wie (P: 51). Da manche Antragsteller*innen, von denen ich die Daten habe, noch im Asylverfahrensprozess sind, ist die Anonymisierung besonders wichtig. Anhand der Aufführung lässt sich deutlich erkennen, dass die Datenerhebung und die Forschungspläne mehrere Zyklen beanspruchten, die wie folgt zusammengefasst werden können:

4.6

Zyklen der Forschung

Zusammengefasst teilt sich die das Forschungsvorhaben in drei Forschungszyklen auf: Zuerst habe ich mir ein umfangreiches Hintergrundwissen über die Anhörung ange-

4. Datenerhebungsmethoden

eignet, indem ich über viele Monate hinweg mit Antragsteller*innen aus verschiedenen Nationen (überwiegend aus dem arabisch-sprachigen Raum) im Rahmen des Asylverfahrens Kontakt hatte. Da ich zu Beginn der Forschung keinen Zugang zu direkten Anhörungsverhandlungen im Bundesamt hatte, wurden Interviews durchgeführt, Zeitungsartikel, sowie weitere Medienberichte über die Anhörung mit einbezogen. So konnte der erste Eindruck über die Anhörung aus Sicht der Antragsteller*innen, Begleiter*innen und Anwältinnen skizziert werden. Ebenso wurden Anhörungsprotokolle gesammelt und interpretiert. Bei der Interpretation wurden die ersten Fragestellungen herausgearbeitet, die sich vor allem aus der Darstellung der genannten Interviewprobanden bezüglich der Anhörung ergaben. Es wurde schnell ersichtlich, dass kein einheitliches Bild darüber entstehen konnte, wie die Anhörung tatsächlich von statten geht. Denn die ersten Zwischenergebnisse zeigten, dass es heterogene Wahrnehmungen der Antragsteller*innen in Hinblick auf die Anhörung gab. Dadurch entstand die Zielsetzung, die Gründe für diesen Befund zu erforschen und schließlich konnten anhand der Interviewdaten Asylbewerber*innentypen herausgebildet werden, die verdeutlichen, warum es kein einheitliches Bild bei den Asylbewerber*innen über die Bedeutung der Anhörung gibt. Die vorliegenden Ergebnisse und die Vorkategorisierung der Asylbewerber*innen zeigten mir, wie wichtig es für die Forschungsarbeit ist, an Anhörungen teilzunehmen. Daher wurde als nächster Schritt geplant, die Anhörung selbst unmittelbar zu erleben. Der zweite Forschungszyklus konzentrierte sich darauf, die Interaktionsdynamik zu beobachten. Die erhobenen Daten des zweiten Forschungszyklus wurden priorisiert und rückten in den Mittelpunkt der Arbeit. Der dritte Forschungszyklus stellt die reflektive Phase über die Arbeitsergebnisse dar. In ihr wurden die Ergebnisse der Studien mit Anwälten/Anwältinnen, Antragsteller*innen und Anhörungsbegleitern*innen in unterschiedlichen Gruppendiskussionen eruiert. Sie wurden zu ihrer Einschätzung meiner Erkenntnisse befragt. Es ging darum, inwieweit die Beschreibung des Anhörungsverlaufs sowie des Ablaufmodells damit überschneidet, wie sich der Anhörungsverlauf in vivo abbildet. Zudem soll die Frage beantwortet werden, wie realistisch die Systematisierungen und Typologisierungen der Asylbewerber*innen, die Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten, sowie die Prüfungstechniken der Glaubwürdigkeit von den Befragten sind. Im Ergebnis der Diskussionen wurden die Erkenntnisse der Arbeit hinsichtlich der Typologisierungen der Asylbewerber*innen und der Prüfungstechniken der Glaubwürdigkeit als zutreffend bewertet. Aus der Darstellung zu den Daten und ihrer Erhebung ist es bereits ersichtlich geworden, dass die vorliegende Untersuchung auf der Grundlage unterschiedlicher empirischer Materialdaten durchgeführt wurde. Auf dem Weg zu empirischen Auswertungen und Analysen des vielfältigen Datenkorpus, ließen sich passende Methoden finden, die sich für die Realisierung der angestrebten Untersuchungsziele und für die Auswertung der unterschiedlichen Daten als fruchtbar erwiesen und im folgenden Kapitel erörtert werden.

41

5. Beschreibung der angewandten Forschungsmethoden

Für die forschungsmethodischen Überlegungen stellen sich entlang des Forschungsinteresses, mit den Datenerhebungen bis hin zu den Auswertungen und Analysen zur Entwicklung der Forschungsmethoden folgende Fragen: Welche Methode bzw. Methodenkombination ist erkenntnisproduktiv und kann die verschiedenen Fragstellungen beantworten? Welche Methodik lässt ein mehrstufiges Analyseverfahren zu, das verschiedene Dimensionen und Granularitäten der Beschreibung der Anhörungsverhandlung vom Beginn bis zu seiner Beendigung erfasst? Sowohl in der Gesprächsforschung wie auch in der qualitativen Sozialforschung gehört eine solche Überlegung bezüglich der adäquaten Methode zur empirischen Forschungsplanung. Bohnsack (2005), Deppermann (2001), sowie Amann und Hirschauer (1997) weisen darauf hin, dass die qualitative Sozialforschung kein ex ante entworfenes Regelsystem anwendet. Die Forscher*innen sollen ihre Methoden wählen können. Demnach liegt dem qualitativen Analyseverfahren »das Postulat zugrunde, daß der Methodenzwang primär vom Gegenstand und nicht von der Disziplin ausgehen muß« (Amann & Hirschauer 1997: 19). Dieses Prinzip findet in der vorliegenden Studie Anwendung. Die Untersuchung der Asylanhörung und ihre Verlaufsbeschreibung stellen den Gegenstand des Forschungsinteresses dar und dabei werden die erfolgversprechenden Methoden in Hinblick auf die Beantwortung der Fragestellung erprobt. Da in dieser Arbeit nicht nur in einer Disziplin geforscht wird und zusätzlich unterschiedliche Materialdaten ausgewertet werden, kann keine Methode allein für die ganze Arbeit zielführend sein. Die unterschiedlichen Datentypen werden mithilfe unterschiedlicher Methoden analysiert oder auch ein Datentyp mittels mehrerer Methoden. Im Hinblick auf die Gesprächsanalysen, die für die Anhörung anwendbar sind, gibt es in der sprachwissenschaftlichen Forschung unterschiedliche Konzeptionen und Analysezugänge. Auch in der qualitativen Sozialforschung existieren mehrere Methoden für die Interpretation von Gesprächen und die Auswertung von Interviews, wie die qualitative Inhalts- oder Dokumentenanalyse, die Interaktionsanalyse und das Heranziehen fokussierter Ethnografien. Um für die Untersuchung und Beantwortung der Forschungsfragen passende Methoden zu finden, mussten die genannten Methoden be-

44

Die Anhörung im Asylverfahren

sichtigt werden und ansatzweise an dem Material erprobt werden. Erst dann wurden aus der Sicht der Forscherin die für die Forschungsfrage geeigneten Methoden gewählt, die im Folgenden kurz umrissen werden und deren Auswahl begründet wird.

5.1

Ethnographische Gesprächsanalyse

Den ersten methodisch-theoretischen Bezugsrahmen dieser Arbeit bildet die ethnographische Gesprächsanalyse. Die kontextuellen Aspekte und Hintergründe, die mutmaßlich die Handlungen bestimmen, werden in den unterschiedlichen Analyseverfahren durchweg berücksichtigt. Hintergründe zu erfassen ist erst durch ethnographisches Wissen über das Geschehene möglich. Diese gelten als Interpretationsressource, um die in der Anhörung vollzogene Handlung zu verstehen und nachzuvollziehen. Die Ethnografie ist ursprünglich ein Forschungsansatz, den die Sozialwissenschaften aus der Kulturanthropologie adaptiert haben, um Lebensweisen, Lebensformen und Lebensstile von innen heraus zu verstehen (vgl. Hitzler 2003: 48).1 Hingegen zu ethnologischen Ethnografien, die »fremde Welten« zu erkunden versucht (vgl. ebenda), wird die sozialwissenschaftliche Ethnografie (ethnografische Forschung) in den eigenen Gesellschaften durchgeführt, um Verhalten in Alltagskontexten zu untersuchen (vgl. Knoblauch 2001: 124; Hitzler 2003: 48). Ethnografische Forschungen im Rahmen der Sozialwissenschaften betrachten Handlungen und ihre Erzeugung systematisch, um zu untersuchen, wie die Akteur*innen für sich selbst und mit Anderen soziale Fakten schaffen (vgl. Lüders 2003: 390). Ethnografie in der sozialwissenschaftlichen Untersuchung gilt als ein exploratives, interpretatives und deskriptives Forschungskonzept (vgl. Hitzler 2003: 51), das für die vorliegende Studie wegen ihrer Fragestellungen unverzichtbar ist (s. oben). Der ethnografische Forschungsansatz wird auch in der linguistischen Gesprächsforschung eingesetzt. Beispielsweise hat Schwitalla (1986) den Begriff einer ethnographischen Gesprächsanalyse geprägt. Bezüglich der methodologischen Thesen (s. unten, Fußnote), mit denen Schwitalla den Forschungsansatz der ethnographischen Gesprächsanalyse charakterisiert, muss der/die Forscher*in Wissen über den Gesprächsteilnehmer*innen, über ihre Wirklichkeitsannahmen, sowie über ihre normativen Er-

1

Hitzler (2003) unterscheidet zwischen drei Arten von Ethnografie im Hinblick auf divergente Erkenntnisinteressen: exotische, komparative und semantische Ethnografie. »Charakteristisch für das, was man ›exotische‹ Ethnografie nennen könnte, ist die Betonung der Einzelfallspezifik. Dabei geht es wesentlich darum, die Besonderheit (›Exotik‹) der je untersuchten Welt herauszuarbeiten. Bei einer komparativen Ethnografie geht es demgegenüber um die Betonung struktureller Ähnlichkeiten und Gleichartigkeiten von – oberflächlich betrachtet u.U. hochgradig unterschiedlichen – Welten. Eine semantische Ethnografie schließlich zielt auf die Erschließung von Kulturfeldern, wobei das Erkenntnisinteresse […] entweder auf strukturelle Aspekte (z.B. Gattungen des Miteinander-Redens, Formen des Tanzens u.v.a.) oder historisch (d.h. auf die Rekonstruktion expliziter und impliziter bzw. evtl. nicht erkannter Kulturtraditionen) ausgerichtet ist. Allen Varianten der Ethnografie gemeinsam ist, dass der/die Forscher*in mehr oder minder intensiv ›ins Feld‹ hineingeht und zugleich ›im Feld‹ so agiert, dass er/sie es – im Gegensatz etwa zum sogenannten Aktionsforscher – möglichst wenig beeinflusst und verändert.« (ebenda: 49).

5. Beschreibung der angewandten Forschungsmethoden

wartungen und Werthaltungen verfügen, um interaktives Handeln angemessen zu verstehen (vgl. dazu auch Deppermann 2013: 32). Somit erfordert eine ethnographische Gesprächsanalyse von den Forscher*innen »Alltagswissen« (z.B. Wissen über Praktiken des Sprechens), »theoretisches Wissen« (z.B. Wissen über vorhandene Untersuchungsergebnisse) und »ethnografisches Wissen« (z.B. Wissen über das Untersuchungsfeld und dessen Handlungsgepflogenheiten) (vgl. Deppermann 2000: 103). Die eben geforderten Wissenskategorien können jedoch kaum aus den Gesprächsausschnitten, die untersucht werden, selbst erhalten werden. Ethnographisches Wissen über einen Gesprächskontext muss auf »gesprächstranszendente, insbesondere dem Gespräch vorgängige Kontexte zurückgreifen« (ebenda: 34). Die vorliegende Studie gründet auf ausgiebigem ethnographischem Wissen über die Gesprächsereignisse und deren vorgängige Gesprächskontexte und Hintergründe2 (vgl. K. 5.1), die für die Interpretation der Fallanalysen entscheidend sind. Solches Wissen gilt als Bestandteil der Analyse von Anhörungen. Eine ethnographische Gesprächsanalyse wird hier in Anlehnung an Deppermann (2000) nicht als Kombination von Ethnographie und Diskursanalyse, im Sinne »eines bloß additiven Nebeneinanders oder eines sequenziellen Nacheinanders zweier Methoden« (ebenda: 104), verstanden. »Vielmehr wird die Spezifikation »ethnographisch« darauf hinweisen, dass ethnographische Zusatzarbeiten in den Dienst der Gesprächsanalyse gestellt werden« (ebenda). Demnach wird die Anwendung der Ethnographie nicht um ihrer selbst willen betrieben (vgl. ebenda), sondern als methodisches Hilfsmittel für die Analyse von Interaktionen von Anhörungsgesprächen eingesetzt, dessen Untersuchung der Ausgangspunkt der Arbeit ist. Der Einsatz ethnographischer Methoden für die Untersuchung der Anhörung ist wegen der holistischen Erkenntnisziele der Arbeit unentbehrlich (vgl. K. 5.1). Es wird angestrebt, die Anhörungsgespräche nicht als isolierte Sprachdaten zu analysieren, sondern es werden gesprächsübergreifende Aspekte bezüglich der institutionellen Rahmenbedingungen, der Merkmale des Anhörungssettings und dem zwangsläufig damit verbundenen institutionellen Handeln im Bundesamt erfasst, was eine Verknüpfung der Untersuchung von weiteren ethnografischen Daten erforderlich macht (vgl. Deppermann 2010: 15). Mit der ausschließlichen Analyse der Gesprächsdaten können erklärende Fragen, die im Zusammenhang mit dem Analysevorhaben dieser Arbeit verbunden sind (z.B. warum stellt in einer bestimmten Konstellation ein/eine Anhörer*in eine Frage auf eine bestimmte Art und Weise und nicht anders oder warum antwortet der ein/eine Asylbewerber*in auf eine bestimmte Art, im Vergleich zu anderen Angehörten in anderen Fällen), nicht beantwortet werden. Erst unter Berücksichtigung des Gesprächskontexts und durch die Verwendung von ethnografischen Daten wird es möglich, solche Fragen zu beantworten (vgl. Silverman & Gubrium1994: 180).

2

Ethnographisches Wissen wird nicht in jedem Fall als vorteilhaft gesehen, denn es »trägt die Gefahr in sich, den Blick auf die Details des Gesprächs und darauf, wie die Interaktionsteilnehmer durch ihre Aktivitäten das Gespräch organisieren, zu verstellen.« (Deppermann 2000: 117 nach Schegloff 1991: 61ff. Hervorhebung im. O.). In meiner Arbeit ist dieses Wissen jedoch wichtig, um die Interaktionspraktiken zu verstehen.

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Die Anhörung im Asylverfahren

5.2

Interaktionsanalyse

Den zweiten methodisch-theoretischen Bezugsrahmen dieser Arbeit bildet die Interaktionsanalyse. Sie ist ein methodisches Verfahren, um Interaktionen (Gespräche, Verhandlungen, Unterrichtsgespräche) zu analysieren. Theoretische Grundlagen der Methode lassen sich in a) symbolischen Interaktionismus und b) Ethnomethodologie verorten3 (vgl. Gutheil 2013: 83). In der Perspektive des symbolischen Interaktionismus4 ist Handeln immer ein Konstruktionsprozess, in dessen Verlauf soziale Wirklichkeit in situ durch die Sprache hergestellt wird (vgl. Kallmeyer 1985:84). Dabei orientieren sich die Interaktionsbeteiligten aneinander und antizipieren, wie andere Personen auf ihre Handlung reagieren, gegebenenfalls Anpassungsstrategien überlegen und alternative Reaktionen formen. Die Ethnomethodologie ist eine Forschungsrichtung innerhalb der interpretativen Soziologie und versucht »zu rekonstruieren, wie wir die Wirklichkeit […] in unserem tagtäglichen Handeln und sozialem Umgang miteinander als eine faktische, geordnete, vertraute, verlässliche Wirklichkeit hervorbringen« (Bergmann 1988: 3). Sie versucht herauszufinden, mit welchem Verfahren und Methoden sich Mitglieder einer Gruppe ihre Handlungen zeigen und damit die soziale Wirklichkeit vermitteln (vgl. Schützeichel 2004: 170). Auf Grundlage dieses theoretischen Modells versucht die Interaktionsanalyse zu erreichen, grundlegende Prinzipien und Regeln zu erkennen, aufgrund derer die Gesprächsteilnehmer*innen »mit ihren Äußerungen und Handlungen die charakteristischen Merkmale und die ›gelebte Geordnetheit‹ (Garfinkel) desinteraktiven Geschehens, in das sie verwickelt sind, hervorbringen« (Bergmann 1991: 215). Die Interaktionsanalyse nimmt Reaktionen und Gegenreaktionen der Gesprächsteilnehmer*innen sowie ihre Anpassungsstrategien, die sie für die interaktive Gestaltung verwenden, in den Fokus. Nach meinem Verständnis wird den Gesprächsbeteiligten durch diese Betrachtungsweise eine aktive Rolle (unabhängig von ihrer sozialen Rolle) für die Gestaltung des interaktiven Geschehens zugeteilt. Deshalb erachte ich die Methode als angemessen, die Interaktionsdynamik der Anhörung zu untersuchen, weil sie dem/der Antragsteller*in eine aktive Rolle zuschreibt. Der wesentliche Gedanke, den die Interaktionsanalyse vertritt, ist das Prinzip der Interdependenz. Die prozessuale Interdependenz wird als Merkmal der sozialen Interaktion erachtet, weil die Interaktionspartner*innen sich wechselseitig beeinflussen (vgl. Becker-Beck 1997: 152). Die Abhängigkeit wird im Geschehen von einem vorhergehenden Interaktionsereignis darin erkennbar, dass ein Ereignis das Auftreten des 3 4

Überblick über die Ethnomethodologie (Bergmann 1981, 1985; Auer 1999) und zum theoriegeschichtlichen Hintergrund der Ethnomethodologie (Bergmann 1988). Der Begriff des symbolischen Interaktionismus wurde von Blumer eingeführt. Blumer nennt folgende Prämissen des symbolischen Interaktionismus: »The first premise is that human beings act toward things on the basis of the meanings that things have for them (…) The second premise is that the meaning of such things is derived from, or arises out of, the social interaction that one has with one’s fellows. The third premise is that these meanings are handled in, and modified through, an interpretative process used by the person in dealing with the things he encounters« (1969: 2). Kurze Überblick für den symbolischen Interaktionismus siehe (Schützeichel 2004: 105ff.).

5. Beschreibung der angewandten Forschungsmethoden

darauffolgenden Ereignisses beeinflusst (vgl. Penman 1980: 44). Betrachtet man die Anhörung aus dieser Perspektive, wird sie zu einem bestimmten Grad als offener sozialer Interaktionsprozess gesehen, den die Interaktanten im Verlauf herstellen. Aus dieser Perspektive wird die Anhörung in den Arbeitsteilen IV und V analysiert. Die Beschreibung der Anhörungsdynamik und ihres Interaktionsprozesses mittels der Interaktionsanalyse beziehen sich primär auf die Prozesshaftigkeit, im Gegensatz zum linearen Verlauf (Teil III), durch welche die Interdependenz des Handelns der Interaktanten untereinander sichtbar gemacht werden kann und das Aushandeln bzw. das Nichtaushandeln beschreibbar wird. Dadurch kann gezeigt werden, dass die Anhörung in einer Interdependenz von den Beteiligten und der Fallkonstellation hergestellt wird, auch wenn der/die Anhörende das Interaktionsgeschehen leitet. Zur Auswahl der Methode Da die Anhörungsverhandlung in dieser Arbeit multiperspektivisch analysiert wird, wird die Interaktionsanalyse für die Untersuchung von Anhörungsprotokollen zusätzlich zu den oben genannten Methoden verwendet. Zum einen wird die Anhörung als institutionell strukturiertes Gespräch mit festgelegten interaktiven Verfahren, das sich an formelle Strukturen hält, welches aufgrund von geprägten Handlungsmustern mit genau definierten Zwecken realisiert wird, betrachtet. Es wird zur Aufgabe der Arbeit (Teil III) gemacht, die Struktur der Anhörung und die Zwecke, die dem sprachlichen Handeln zugrunde liegen, herauszufinden. Außerdem wird erklärt, warum gerade eine bestimmte Struktur institutionell vorgegeben wird. Zum anderen wird die Anhörungsverhandlung als nicht vorhersehbarer interaktiver Prozess betrachtet, der erst im Vollzug von den Interakten hergestellt wird.5 Die Anhörung wird hierbei als ein formierter und sich formierender Prozess, der eine Eigendynamik aufweist, verstanden. Für die Beschreibung der Anhörungsstruktur und die dafür verwendeten Sprachformen sowie die Aufdeckung der definierten Zwecke hinter den sprachlichen Handlungen, werden die Sequenzanalyse, und die ethnographische Gesprächsanalyse herangezogen. Für die zweite Betrachtungsweise, der die Anhörungsverhandlung mit ihrem spezifischen dynamischen Verlauf als nicht vorhersehbaren interaktiven Prozess betrachtet, wird nach einer Methode gesucht, die über eine Analyse der Anhörung im Hinblick auf ihre institutionell organisierten Struktur hinausgeht und es ermöglicht, die Interaktionsdynamik der Anhörung in ihrem Zustandekommen6 zu analysieren; eine Methode, die Entwicklung des Verhandlungsverlaufs zu verfolgen (ohne Zwecke für das Handeln zu unterstellen) und die Überraschungsmomente sowie die Unberechenbarkeit der Anhörung

5 6

Warum diese Sichtweise vertreten wird, wird ausführlich im Kapitel 14 dargestellt. Der Ausdruck »Zustandekommen« wird u.a. in Anlehnung an Kallmayer (1985), Spraz-Fogazy (1997) verwendet. Er soll ausdrücken, wie die Interaktionsteilnehmer durch ihr interaktives Handeln (z.B. kommunikative Aktivtäten) Interaktionsprozesse ordnungslogisch hervorbringen. Durch die Interaktionsanalyse können diese Aktivitäten in ihrem Herstellungsprozess bzw. ihrem Zustandekommen beschrieben werden. Dabei kann »das gesamte Interaktionshandeln des einzelnen Teilnehmers in seiner systematischen Struktur und in seinem Zustandekommen« SprazFogazy (1997: 15) erfasst werden und damit können Gesamtgestalten sozialer Ereignisse »im Strudel der Detaillierung« (Bergmann 1985: 315) nachgezeichnet werden.

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Die Anhörung im Asylverfahren

zu erfassen. Für diese Aufgabe wird die Interaktionsanalyse gewählt. Sie ist eine Methode, die nach der Herstellung der interaktiven Interaktionsprozesse in ihrer Dynamik fragt und die grundlegenden Prinzipien der vorliegenden Interaktion und die Interaktionsverläufe in ihrer Herstellung zu erfassen versucht (vgl. Bergmann 1991: 215). Die Interaktionsanalyse ist ein Verfahren zur Rekonstruktion von Aushandlungsprozessen und untersucht die thematischen Entwicklungen einer Interaktion (vgl. Krummheuer & Fetzer 2005: 16ff. und Krummheuer 2011: 1). Sie analysiert, wie die Interaktanten ihre Interaktion organisieren, ohne feste Regeln im Vorfeld zu antizipieren. Die Interaktionsanalyse ist zudem eine Methode, die erlaubt, Überraschungsmomente und Unberechenbarkeiten zu erfassen (vgl. Gellert 2003; Jungwirth & Krummheuer 2006; Krummheuer & Fetzer 2005). Wie wird so eine Reorganisation während der Anhörung realisiert: Verlassen die Akteur*innen ihre Rollen? Um den Handlungsund Gestaltungsspielräumen der Interaktanten, die für diese Überraschungsmomente verantwortlich sind, auf die Spur zu kommen, muss die Anhörung in ihrem prozessualen Verlauf untersucht werden. Durch eine Interaktionsanalyse wird beispielsweise gezeigt, dass die fixierten Rollen der Interaktanten und die zugeschriebenen Funktionen zur Herstellung des vorentworfenen behördlichen Aktes während der praktischen Anhörungsvollzuges destabilisiert werden können. Die Akteur*innen, Anhörende wie Asylbewerber*innen, können ihre Rolle verlassen oder eine weitere Rolle dazu übernehmen, so dass interne prozessuale Abläufe des Anhörungsgesprächs nicht in jedem Fall standardisiert geführt werden können, sondern sich in Abhängigkeit von Variablen und Fallkonstellationen prozessieren. Die Interaktionsanalyse eignet sich in dieser Arbeit besonders dafür, die Phänomene Fluchtgeschichtenrekonstruktion (Teil IV) und Überprüfung der Glaubwürdigkeit (Teil V) zu analysieren, weil sie eine offene Herangehensweise an das Material zulässt. Sie greift dem Ausgang des Geschehens nicht voraus und ermöglicht zu untersuchen, was passiert und wie es passiert. Sie interessiert sich nicht nur für den Inhalt einer Äußerung an sich, in welcher Reihenfolge und mit welchem Zweck sie getätigt wurde (vgl. Teil III), sondern die Art und die Weise der Handlung. Die Interaktionsanalyse rekonstruiert, wie Interaktionsprozesse verlaufen. Deshalb eignet sie sich m.E. dafür zu untersuchen, wie die Fluchtgeschichte in der Anhörung rekonstruiert wird (IV) und wie die Glaubhaftigkeit der Antragstelleraussagen überprüft wird (V). Bei der Beschreibung des »Wie«7 wird eine offene und breit angelegte Gegenstandsanalyse angestrebt. Bei solchen »Wie«-Beschreibungen steht die Handlungspraxis im Vordergrund der Analyse und der Fokus liegt auf den Rollen der Interaktionsteilnehmer*innen bei der Herstellung des Handelns. Es wird am Beispiel der Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten gezeigt, wie ein Rekonstruktionsverfahren in Interdependenz in Bezug auf den kommunikativen Handlungsstil der Interaktanten hervorgeht. Wendet man den Blick durch die Interaktionsanalyse auf die Anhörung als offenen Interaktionsprozess, der situativ und kontextuell im gegenwärtigen Moment stattfin-

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Das »Wie« spiegelt die Elemente einer Kommunikationssituation wider, die nach Garfinkel in der sogenannten »Vollzugswirklichkeit« inbegriffen. Damit ist gemeint, dass die Kommunikationsteilnehmer »im Vollzug der sozialen Interaktion« (Bergmann 1981: 18) »lokal« soziale Wirklichkeit hervorbringen.

5. Beschreibung der angewandten Forschungsmethoden

det, verlagert sich das erkenntnisleitende Interesse darauf, die Herstellung des sozialen Handelns im gegebenen Momenten zu erfassen und so wird die Perspektive der Ethnomethodologie in die Analyse miteinbezogen. Nach ihrer Grundannahme verwirklicht sich die Anhörung als soziale Wirklichkeit lokal und endogen über die zwischen den Menschen ablaufenden Interaktionen (vgl. vgl. Bergmann 1981: 13-18; Bergmann 1988: 25). Den Akteur*innen werden Handlungsspielräume und individuelle Möglichkeiten bei der Ausgestaltung ihres sozialen Handelns eingeräumt. Für dieses Vorhaben erachte ich das Integrieren der Interaktionsanalyse unter der beschriebenen Perspektive für die Untersuchung der Anhörung als geeignet.

5.3

Inhalts- und dokumentarische Analysemethoden für die Auswertung von Dateninterviews

5.3.1

Zur Auswahl die Methodenkombination

Die Methodenkombination aus Inhalts- und dokumentarischen Analysemethoden wird in dieser Arbeit für die Auswertung von bestimmten Interviewpassagen eingesetzt. Da das Ziel der vorliegenden Arbeit die Analyse von Verläufen des Interaktionsprozesses in der Anhörung auf der Basis der Untersuchung von Anhörungsprotokollen ist, darf dieser Analyseschritt (Auswertung von Dateninterviews)8 bezüglich seines Aufwandes als zweitrangig verstanden werden.9 Denn im Forschungsverlauf wurden die Interviews als Basisdaten nicht primär betrachtet, aber als wichtige Wissensquelle zum Verstehen der Verläufe der Anhörungspraxis mit einbezogen. Bei der Untersuchung von Anhörungsprotokollen in den empirischen Kapiteln wurde festgestellt, dass die Anhörungen, trotz aller rechtlicher und institutioneller Vorgaben, vielfältige Erscheinungen haben. Um diese Heterogenität nachvollziehen zu können, wurde nach Ursachen gesucht. Durch den Zugriff auf die Interviewdaten konnten schließlich Asylbewerbertypen identifiziert werden. Diese Ergebnisse schienen mir zur Erklärung der Heterogenität beizutragen. Daraufhin habe ich mich entschieden, die Interviewdaten in Bezug auf die Identifizierung von Asylbewerbertypen und zur Feststellung der Merkmale jedes Typus 8 9

Warum ich mehrere Interviews durchgeführt habe, wenn sie während der Analyse als Basisdaten betrachtet wurden, siehe (K. 4.2 und K. 4.6). Die Auswertung von Dateninterviews ist nicht an sich selbst Zweck der Arbeit, wie es in Sozialforschungsarbeiten bei ihren Analysen oft der Fall ist, weshalb zur Bearbeitung der Fragestellungen die Inhaltsanalysen und/oder dokumentarische Analysen zur Auswertung der Interviewdaten verknüpft sind. Das führt dazu, dass eine ausführliche Auswertung der Daten im Mittelpunkt der Arbeiten steht. In meiner Arbeit hingegen erhielten die Interviewdaten im Laufe der Forschungszyklus im Hinblick auf die Fragestellungen, die sich während der Datenauswertung entwickelt haben, unterstützende Bedeutung, um die Anhörungsprozesse besser zu verstehen. Interviewdaten sind daher in dieser Arbeit als Basisdaten zu verstehen, die an mehreren Stellen als Baustein zum Verstehen von Hintergründen, die dem Anhörungsprozess zugrunde liegen, dienen. Somit sind sie zum einen für die Arbeit wichtig. Zum anderen sind sie aufgrund ihres Stellenwertes als Basisdaten und nicht als Hauptdaten, auf die Arbeit aufgebaut ist, zweitrangig. Deshalb spreche ich von angemessenem Auswertungsaufwand, der denen Stellenwert der Daten hinsichtlich der Fragestellungen gerecht wird.

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Die Anhörung im Asylverfahren

zu analysieren. Schon beim ersten Auswertungsdurchgang der Interviewdaten wurde ersichtlich, dass sie viel mehr Informationen und Berichte über die Anhörung aus Sicht der Asylsuchenden enthalten als für die Forschungsziele der vorliegenden Studie gebraucht wurde. Jenseits all der durch die Interviews transportierten Informationen richtete sich das Erkenntnisinteresse bezüglich der Interviewdaten darauf, zu untersuchen, ob die Herkunft der Antragsteller*innen, ihre Ziele und ihre Erwartungen von der Anhörung, sowie ihre Einstellung zu ihr, den institutionellen Gesprächsverlauf prägen könnten. Um fokussiert dieses Forschungsanliegen zu verfolgen, gleichzeitig entsprechend meiner Fragestellung einen angemessenen Aufwand zur Auswertung und Interpretation der Dateninterview zu betreiben, konnte keine Auswertungsmethode in ihrem kompletten Verfahren (z.B. die Interviews vollständig transkribieren) ausgeführt werden. Deshalb bin ich an das Interviewmaterial zielgerichtet und flexibel herangegangen: Zielgerichtet indem (a) das Ziel der Auswertung festgelegt wurde: Asylbewerbertypen aus den Daten zu bilden und die Merkmale jedes Typus zu identifizieren und zu definieren, (b) gefragt wurde, wie das o.g. Ziel mit einem angemessenen Arbeitsaufwand erreicht werden kann.10

Die Flexibilität bestand darin, dass ich offen alle Auswertungsmethoden, die eventuell zum Ziel führen konnten, erprobt habe, um die Materialmenge und die Auswertungsaufwand für diesen Analysezweck zu minimieren. Im Endergebnis der Überlegungsund Methodenerprobung erwies sich die Kombination einer qualitativen Inhalts- und dokumentarischen Analyse für die Auswertung und Interpretation der Interviewdaten als zweckdienlich. Im Folgenden werden die zwei verwendeten Methoden kurz umrissen und ihr Einsatz zur Bildung von Asylbewerbertypen wird erörtert.

5.3.2

Qualitative Inhaltsanalyse und ihre Anwendung

Die qualitative Inhaltsanalyse ist eine Forschungstechnik zur systematischen Deskription von Kommunikationsinhalten mit dem Ziel, »[…] die manifesten und latenten Inhalte des Materials in ihrem sozialen Kontext und Bedeutungsfeld zu interpretieren, wobei vor allem die Perspektive der Akteure herausgearbeitet wird.« (Bortz & Döring 2010: 329). Die aus der qualitativen Inhaltsanalyse gewonnenen Erkenntnisse basieren auf Interpretationen verbaler Äußerungen von Akteur*innen über das zu untersuchende Phänomen. Hierbei streben die qualitativen Inhaltsanalysen »eine Interpretation an, die intersubjektiv nachvollziehbar und möglichst inhaltlich erschöpfend ist« (ebenda). Eine der zentralen Ideen des an die qualitative Inhaltsanalyse angelegten Konzepts ist das systematische, regelgeleitete analytische Vorgehen (vgl. Mayring 1994:159), das einem festgelegten Ablaufmodell, in dem die entscheidenden Schritte beschrieben sind, folgt (vgl. 10

Wie oben erwähnt, erachte ich es als nicht zielführend für die Beantwortung meiner Forschungsfragen 34 Interview komplett zu transkribieren und zu analysieren.

5. Beschreibung der angewandten Forschungsmethoden

ebenda 162). Mayring (1993) nennt drei Grundtechniken der qualitativen Inhaltsanalyse, die auf Grundformen des Interpretierens beruhen.11 Jede Analysetechnik der qualitativen Inhaltsanalyse hat ein eigenes Ablaufmodell. Für die einzelnen Schritte jeder Analysetechnik formuliert Mayring (1993, 1994 und 2003) Verfahrensregeln. Beispielsweise beinhaltet die Verfahrensregel der zusammenfassenden Inhaltsanalyse die Schrittabfolgen: Paraphrasierung, Generalisierung auf das Abstraktionsniveau, erste Reduktion, zweite Reduktion (vgl. Mayring1994: 166).12 Zu diesen Verfahrensregeln gibt es zusätzlich reduktive Prozesse, wie Auslassen, Generalisieren, Konstruktion, Integration, Selektion und Bündelung (Mayring 1994: 164-167). Für die explizierenden und strukturierenden qualitativen Analysetechniken gibt es ebenfalls genau definierte Verfahrensund Interpretationsregeln (vgl. Mayring 1993; Krippendorf 200413 ; Bortz & Döring 2010). Nach dem Verfahrensprogramm der Inhaltsanalyse wird das Material in Teile und Kategorien gegliedert. Die für die Analyse relevanten Sequenzen werden nach mehrmaligem Materialdurchgang kodiert14 und mit übergeordneten Kategorienamen versehen. Danach gilt, die erfassten Kategorien zu strukturieren.15 Das Verfahrensprogramm ist aufwendig und seine komplette Durchführung hätte den Rahmen des Untersuchungsziels bezüglich der Interviewdaten gesprengt. Die qualitative Inhaltsanalyse erlaubt eine Reduktion von Daten. Die große Datenmenge kann dadurch verringert werden, dass nicht das ganze Interview ausgewertet wird, sondern nur Aspekte aus dem Material herausgefiltert werden, um enthaltene Kernkategorien zu finden und diese aufgrund bestimmter Kriterien zu interpretieren (vgl. Mayring 2003:58). Dabei sollen

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14

15

Diese sind zusammenfassende, explizierende und strukturierende qualitative Inhaltsanalysen (vgl. ebenda 52-55). Zur Schrittabfolge in den Einzelschritten siehe Mayring (1994: 165-166). Krippendorf (2004) stellt die Entwicklungsgeschichte des Verfahrens der Inhaltsanalyse dar. Seine Darstellung zeigt, dass »[a]lthough the term content analysis did not appear in English until 1941 (Waples & Berelson, 1941) the systematic analysis of text can be traced back to inquisitorial pursuits by the Church in the 17th Century« (ebenda: 3) Krippendorf führt Beispiele an, die zeigen, dass die quantitativen Inhaltsanalyse schon in »1690, 1692, and 1699 by individuals pursuing academic degrees in theology.« (ebenda) verwendet worden sind. Bei Interesse kann man im Werk nachlesen, wie die quantitative Inhaltsanalyse sich erst von dem Themenfeld Auswertung von Zeitungsartikeln bis zur qualitativen Auswertung von Interviews entwickelt hat. (3-17). Kodieren umschreibt die Segmentierung des Textes und die Zuordnung relevanter Textpassagen zu Kategorien (Kuckartz 2010: 57). Eine Kategorie stellt dabei ein »Label« dar, dem alle thematisch entsprechenden Textstellen des Datenmaterials zugeordnet sind. Die Kodierung und das daraus entstehende Kategoriensystem sind bei der qualitativen Inhaltsanalyse das Ergebnis der Interpretationsleistung des Forschers (vgl. ebenda: 58). Es existiert keine definierte Größe der Analyseeinheit. Analyseeinheiten können sich überlagern und auch mehreren Kategorien zugeordnet sein, wenn eine Textstelle mehrdeutige Sinneinheiten beinhaltet (vgl. Krippendorff 2004: 101). Die Strukturierung des Materials ist eine zentrale Technik der Inhaltsanalyse, durch die jeder Materialteil in einem Raster von definierten Kategorien einzuordnen und damit das Ganze für die Untersuchung zugrunde liegende Material seiner Struktur nach zu erfassen ist. Mayring schlägt für die Analysetechnik der Strukturierung ein Grobraster als Verfahrensweise vor, damit jeder Materialpartikel scharf abgetrennt eingeordnet werden kann (Mayring, 2003: 83). Er unterscheidet bei der Analysetechnik formale, inhaltliche, die typisierende und skalierende Strukturierung (vgl. Mayring 1994: 169-170; Mayring, 2003: 85-90).

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Die Anhörung im Asylverfahren

»die wesentlichen Inhalte erhalten bleiben« (ebenda) und durch Abstraktion ein überschaubares Korpus geschaffen werden, »der immer noch Abbild des Grundmaterials ist.« (Ebenda) Den Vorteil der Reduktion mache ich mir zunutze, indem ausschließlich die Kernkategorien, die für Fragestellungen geeignet sind, ausgewertet werden und von anderen Kategorienzuordnungen abgesehen wird. Von Interesse bleiben die Fragen: Welche Ziele und Erwartungen haben die Asylbewerber*innen von der Anhörung und wie nehmen sie die Anhörungssituation wahr? Es gilt herauszufinden, ob ihre Erwartungen und Ziele bezüglich der Anhörung die Interaktionsverläufe beeinflussen und inwieweit. Das Hauptaugenmerk wird auf die Darstellung der Perspektive der Asylsuchenden gerichtet. Allerdings ist die Perspektivendeskription von Antragsteller*innen und die Darstellung ihrer verschiedenen Ansichten zur Anhörungssituation, sowie die Darstellung, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten die Kategorien haben, nicht die ausschließliche Zielsetzung. Vielmehr sollen die Gründe, die hinter den unterschiedlichen Perspektiven der Antragsteller*innen bezüglich der Anhörung erläutert und die Sinnzusammenhänge erklärt werden. Somit werden nicht nur die Kommunikationsinhalte beschrieben und in Kategorien strukturiert, sondern interpretiert und in ihrem Kontext sichtbar gemacht. Hierbei kommt die im Folgenden dargestellte dokumentarische Methode zur Anwendung.

5.3.3

Dokumentarische Methode

Die Herangehensweise der dokumentarischen Methode basiert auf der Analyse von Gesprächen und Gruppendiskussionen und wird erweitert, um akustisches Material, narrative Interviews, Bildinterpretationen, Videointerpretationen und Interpretationen öffentlicher Diskurse vertieft auszuwerten (vgl. Bohnsack et al. 2013: 18-22).16 Die dokumentarische Methode eignet sich insbesondere, wenn eine Auswertung über die reine Beschreibung hinausgeht und bestimmte vertiefende Erkenntnisse zu den erhobenen Daten erbracht werden sollen (vgl. Bohnsack 2003: 40). Sie interessiert sich nicht nur für die Struktur, Kategorisierungen und Interpretationen von qualitativen Daten, sondern auch dafür, die Hintergründe zu dokumentieren und zu interpretieren, warum der vorzufindende Sinngehalt im Material sich so und nicht anders ausgebildet hat (ebenda). In der dokumentarischen Analyse wird zwischen immanentem und dokumentarischem Sinngehalt unterschieden. Der immanente Sinngehalt ergibt sich aus dem intuitiven Verstehen17 und entspricht den zweckrationalen Motiven und Handlungsentwürfen der Akteur*innen (vgl. ebenda: 42). Der dokumentarische Sinngehalt 16 17

Bohnsack et al. (2013) stellen die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis systematisch dar und diskutieren ihre Methodik in Bezug auf ein breites und fundiertes Erfahrungswissen. Intuitives Verstehen kann in Anlehnung an Mannheim mit a-theoretischem Wissen verglichen werden. Mann- heim bezeichnet das handlungspraktische, handlungsleitende oder inkorporierte Wissen als a-theoretisches Wissen (z. n. Bohnsack et al. 2013: 12). Dieses Wissen bildet »einen Strukturzusammenhang, der als kollektiver Wissenszusammenhang das Handeln unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn orientiert, ohne den Akteur*innen voraus zu sein. Diese Struktur ist somit bei den Akteur*innen selbst wissensmäßig repräsentiert. Es handelt sich also um ein Wissen, über welches auch die Akteur*innen verfügen und nicht um eines, zu dem lediglich der

5. Beschreibung der angewandten Forschungsmethoden

ergibt sich aus der Interpretation mit dem Ziel, die Zusammenhänge, die sich hinter einer zweckrationalen Handlung verbergen, zu verstehen (vgl. ebenda: 42f.). Bei der dokumentarischen Methode handelt es sich um ein verstehendes Verfahren, das die Rekonstruktion und Interpretation immanenter Sinngehalte von Interaktionsverläufen in den Vordergrund stellt. Die Analyseverfahren der dokumentarischen Methode eröffnen »einen Zugang nicht nur zum reflexiven, sondern auch zum handlungsleitenden Wissen der Akteure und damit zur Handlungspraxis. Die Rekonstruktion der Handlungspraxis zielt auf das dieser Praxis zugrunde liegende habitualisierte […] Orientierungswissen, welches dieses Handeln relativ unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn strukturiert« (Bohnsack et al. 2013: 9). Neben den vertieften Erkenntnissen über die Asylbewerber*innenperspektive, die durch die dokumentarische Methode gewonnen werden können, erweist sich diese Methode für die Auswertung von Interviewdaten, im Hinblick auf das oben beschriebene Auswertungsziel der Interviews, als besonders nützlich, weil durch sie schließlich Typen gebildet werden können.

5.3.3.1

Dokumentarische Methode und Typenbildung

Bohnsack (2003) schlägt ein vierstufiges Interpretationsverfahren vor, das in einer Typenbildungen mündet: eine formulierende Interpretation, eine reflektierende Interpretation, eine Fallbeschreibung und einen Fallvergleich, der eine Typenbildung mit theorieorientierten Hinweisen anstrebt. Die formulierende Interpretation kann als Rekonstruktion der thematischen Gliederung der erstellten Transkripte verstanden werden. Hingegen ist die reflektierende Interpretation eine Rekonstruktion und Explikation des Rahmens, innerhalb dessen das Thema bearbeitet wird.18 In der Phase wird vorausgesetzt, aufgrund von empirisch-methodisch kontrollierter Reflexionen, empirisch fundierte und nachvollziehbare Abgrenzungen und Vergleichshorizonte von Personen oder Gruppen bilden zu können (vgl. Bohnsack 2003: 38). Diese Vergleichshorizonte sind die Grundlage für das vierte Verfahren (Typenbildung). Im dritten Verfahren (Fallbeschreibung) wird eine Art zusammenfassende Nacherzählung des Diskursverlaufs vorgenommen (ebenda: 51), woraufhin die Analyse zum Verfahren der Typenbildung eingeleitet wurde. Die dokumentarische Methode hat somit nicht nur eine erkenntnisgenerierende und kontrollierende Funktion, sondern ermöglicht vor allem die Typenbildung, weshalb sie für die Auswertung von Interviewdaten gewählt wird. Bei dem Verfahren Typenbildung wird vom Einzelfall abstrahiert und nach allgemeinen Beschreibungen für den Gegenstand gesucht, wobei die fallübergreifende Abstraktion in den Mittelpunkt rückt (vgl. Bohnsack 2003: 135). Das Formen von Typen soll die Aufgabe erfüllen, die Realität zu reduzieren und zu profilieren: »Die Profilierung der Realität ist ein wichtiger Teil der typologischen Betrachtung« (Wimmer 2004: 52). Typo-

18

Beobachter einen (privilegierten) Zugang hat, wie dies für objektivistische Ansätze charakteristisch ist.« (Ebenda) Forschungsbeispiele für die formulierende und reflektierende Interpretation siehe (Bohnsack & Nohl 2013).

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Die Anhörung im Asylverfahren

logisches Denken19 hat den Zweck, eine gedankliche Aufarbeitung der Realität in charakteristischen Elementen zu bieten (vgl. ebenda). So wird der immanente Sinngehalt der Interviewdaten zum fixierten Ausgangspunkt, aus dem Asylbewerber*innentypen abstrahiert werden können. Im Folgenden wird dargestellt, wie die beiden Methoden bei dem Auswertungsverfahren kombiniert angewendet werden.

5.3.3.2

Anwendung der Methoden an Interviewdaten

Beim ersten Materialdurchgang von transkribieren Interviews gilt es zu bestimmen, wie die Daten der Forschungsfrage dienlich sein können. Nach mehrmaligem Lesen des Materials und dem wiederholten Hören des noch nicht transkribierten Audiomaterials wurden konkrete Themen gebildet, die in Unterkategorien und Hauptkategorien gegliedert werden. Die im Hinblick auf das Hauptziel ›Identifizierung von Asylbewerbertypen‹ als zielführend erachteten Interviewpassgen werden dokumentiert und mittels der qualitativen Inhaltsanalyse kodiert, strukturiert und durch die dokumentarische Methode einer weiteren tieferen Analyse unterzogen. Nach der Transkription von neun kompletten Interviews wurden aufgrund forschungspraktischer Erwägungen nur die Passagen, die mit der Fragestellung zusammenhängen, transkribiert. Danach wird ein Kategoriensystem entwickelt und das transkribierte Textmaterial diesen zugeordnet. Die jeweiligen Zitate, die die Erkenntnisfragen beantworten könnten, werden extrahiert und notiert. Bestimmte Aussagen werden als Ankerbeispiele tabellarisch eingeordnet. Dadurch ist es gelungen abstrakte Hauptkategorien zu bilden, die dann in Bezug auf alle Daten nochmals geprüft werden. Beim Lesen der Interviewtranskriptionen wird eine systematische Suche nach Aussagen, die die erstellten Kategorien zur Perspektive der Betroffenen über die Anhörungssituation wiedergeben, durchgeführt. Bei der Interpretation rückt die Kernfrage in den Focus: Mit welchem Ziel und welchen Erwartungen treten die Antragsteller*innen in den Anhörungsraum? Was erfahre ich über ihr Erleben bzw. ihre Wahrnehmung hinsichtlich der Anhörungssituation? Hängen ihre Wahrnehmungen mit ihren Erwartungen und Zielen zusammen? Die gesamte Interpretation ist primär auf das situative Erleben der Anhörungssituation, Ziele und Erwartung hinsichtlich der Anhörung angelegt.20 Die Interpretationen der einzelnen Interviewpassagen zu derselben Kategorie ›Ziele und Erwartung der Antragsteller*innen von der Anhörung‹21 werden auf einer übergreifenden Ebene miteinander verknüpft, indem diese Kategorie in allen Interviews durchweg näher untersucht und alle Interviews unter dieser Kategorie miteinander verglichen werden. Im Zuge des Vergleichs von Interviewpassagen werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede identifiziert. Darauf folgt der Analyseschritt, welcher untersucht, ob die verschiedenen Erwartungen und Ziele der Antragsteller*innen bezüglich der Anhörung durch Kontrastierung der Fälle

19 20 21

Zum Nutzen des typologischen Denkens und der typologischen Methode siehe Wimmer 2004 (5155). Die starke Konzentration auf die Hauptdaten Anhörungsprotokolle und die Untersuchung von Fallanalysen hätte eine ausführliche Analyse von Interviewdaten nicht erlaubt. In diesem Interpretationsprozess werden die Antragstelle*innen als aktiver Part in der Anhörung wahrgenommen. Ihre Ansichten, Erwartungen, Ziele werden ernst genommen. Ihnen wird dadurch ein Einflussfaktor auf den Verlauf der Anhörung zugeschrieben.

5. Beschreibung der angewandten Forschungsmethoden

in Typen kategorisiert werden können. Im Ergebnis ist das Forschungsziel erreicht und es werden vier Asylbewerbertypen festgestellt, welche im Kapitel 9.2.2.2 ausführlich dargestellt werden. Abschließend möchte ich kurz begründen, warum ich für die Realisierung der angestrebten Untersuchungsziele mehrere Methoden bzw. Kombinationen anwende.

5.4

Begründung des Verzichts auf Methodenpurismus zugunsten der Anwendungen unterschiedlicher Methoden und von Methodenkombinationen

Aus den oben beschriebenen Forschungsstrategien ist zu entnehmen, dass ich mich für einen mehrdimensionalen Zugang zum Datenmaterial entschieden habe. So probiere ich bei der Makroanalyse von Beobachtungsprotokollen verschiedene Ansätze der Diskurs- und Gesprächsforschung aus, wodurch die Gesprächsphasen gut ermittelt werden können (u.a. Nothdurft 1995; Nothdurft & Spranz-Fogasy 1991; Spiegel 1995 und Deppermann 2000, 2008). Um die Asylbewerbertypen aus der Dateninterview bilden zu können, wird die qualitative Inhaltsanalyse und die dokumentarische Methode herangezogen. Zur Untersuchung der Fluchtgeschichtenrekonstruktion und der Glaubwürdigkeitsüberprüfung wird die prozessuale Interaktionsanalyse eingesetzt. Warum werden mehrere Methoden bzw. Kombinationen angewendet? (1) Die Materialdaten der zu analysierenden ›Asylanhörung‹ besteht aus mehreren Teilkorpora, die entsprechend ihrer unterschiedlichen Beschaffenheit mittels verschiedener Analyse- und Auswertungsmethoden besser erfasst werden können (vgl. K. 4). (2) Es ist angestrebt, die Anhörung multiperspektiv zu analysieren und die Fragestellungen interdisziplinär zu erforschen. Das erfordert die unterschiedlichen Methoden in der jeweiligen Disziplin zu prüfen und die Geeigneten davon für die Beantwortung der Fragestellungen anzuwenden. (3) Die Primärdaten, die zur Rekonstruktion des Ablaufmodells der Anhörung vorgesehen sind, sind Protokolle von Anhörungen. Die Datenauswahl hängt nur von der Zugänglichkeit des Untersuchungsfeldes ab. Eine nicht öffentliche Verhandlung, wie eine Anhörung, ist normalerweise nicht zugänglich. In Anbetracht der Materialeigenschaften (keine Audioaufnahmen), können die Daten nicht mit einer klassischen gesprächsanalytischen Methode ausgewertet werden. Es muss neu überdacht werden, welche methodologischen Ansätze übernommen werden können, um daran anzuknüpfen und die Daten für die Analyse so vorbereitet werden, dass sie der Forschungsziele der vorliegenden Arbeit dienlich sein können. Das erfordert das Erproben mehrerer Methodenansätze, um ein angemessenes methodisches Verfahren zusammenstellen zu können, das dem Untersuchungsmaterial gerecht wird.

Ethnomethodologische Konversationsanalytiker*innen, (z.B. Bergmann, Deppermann und Günthner) plädieren zumindest nicht durchgängig für strenge methodische Regeln. Die Ethnomethodologie beispielsweise zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich einer Kanonisierung allgemeiner methodischer Regeln prinzipiell widersetzt (vgl. Berg-

55

56

Die Anhörung im Asylverfahren

mann 1981: 16 (in Anlehnung an Grafinkel)). Für ethnomethodologische Untersuchungen sind »die Entdeckungsschritte und analytischen Verfahren ein untrennbarer Bestandteil des Phänomens, auf dessen Identifizierung und Erkundung sie gerichtet sind. Entsprechend dieser Maxime ist nicht nur das Phänomen selbst sondern auch die Methode seiner Entdeckung und Analyse ein Ziel der ethnomethodologischen Untersuchung« (ebenda). Dem schließe ich mich, sowohl bei der Zusammenstellung passender Untersuchungsmethoden als auch bei dem Sich-Einstellen den analytischen Erfordernissen jedes Phänomens an.

Teil II: Kontext des Untersuchungsgegenstands

6. Zum Kontext der Anhörung

Zielsetzung des Kapitels Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist, die Anhörungsgespräche zu beschreiben. Dieser Arbeit liegt die Überzeugung zugrunde, dass (a) die Anhörung als institutioneller Gesprächstyp (aus ethnografisch-gesprächsanalytischer Sicht) ohne bestimmte Details über den institutionellen Kontext zu berücksichtigen, nicht umfassend untersucht werden kann:

»How can the details of social interaction be addressed without acknowledging the structurally board or the subjectively meaningful contexts in which these details occur?« (Silverman & Gubrium 1994: 179). (b) diese institutionellen Rahmenbedingungen, z.B. Zweck des Gesprächs, Ziele aller Beteiligten und Aufgaben der Anhörer*innen, im direkten Zusammenhang mit der Gestaltung und dem Verlauf der Anhörungsgespräche stehen.

Um ein besseres Verständnis für die Anhörung zu erreichen, ist es erforderlich, sie in ihrem institutionellen Zweckzusammenhang einzuordnen. Die zugrundeliegenden Handlungsbedingungen, -spielräume und -strukturen der Akteur*innen sollen herausgefunden und dargestellt werden, bevor die Anhörungsgespräche empirisch analysiert werden. Die der Anhörung inhärenten Voraussetzungen, juristischen Kategorien und Paradoxe der Handlungsanforderung an die Akteur*innen sollen vorweg aufgeklärt werden, um sie als Folie für die Interpretation der Anhörungsgespräche zu nutzen. Die faktischen Abläufe eines Gespräches insbesondere in Institutionen können nur erklärt werden, wenn (a) der institutionelle Rahmen, inklusive des Verfahrensprogramms, einbezogen wird, (b) die Regeln kollektiver Praxis und der institutionellen Präferenzen berücksichtigt werden (vgl. Hoffmann 2001: 1551) und (c) das sprachliche Handeln in seinem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang systematisch dargestellt wird (vgl. Ehlich & Rehbein 1980: 343).

60

Die Anhörung im Asylverfahren

Eine Analyse institutioneller Kommunikationen, wie die Anhörung, ist in diesem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang nicht möglich, ohne dass eine »theoretische Vorklärung« der gesellschaftlichen Zwecke der zu untersuchenden Diskursart dargelegt wird (vgl. Grießhaber 2001: 80)1 und ohne die wichtigsten Immanenten des Kontexts und der Rahmenbedingungen, in denen ein Diskurs entsteht, zu beleuchten. Darüber hinaus ist eine Beschreibung sowie eine Bewertung des beobachteten kommunikativen Handelns unpräzise, wenn man keinen Zugriff auf den institutionellen Handlungsrahmen der Interagierenden in der Institution, in diesem Fall das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat. In der empirischen Analyse wird außerdem versucht, die Zusammenhänge zwischen den Gesprächsverläufen und den institutionellen Strukturen, in die die Handelnden eingebunden werden und mit der die jeweiligen Fallkonstellationen verflochten sind, herzustellen. Es werden die Situationskonstellationen als entscheidende Ursachen für die Erklärungen die Gesprächsgestaltung mit allen sozialen Prozessverläufen betrachtet. Deshalb ist es angebracht, die Situationskonstellation prägenden Strukturen darzustellen. Bei diesen Strukturen handelt es sich um eine breite Grundlage von Normen, behördlichen Vorgaben und Handlungsspielräumen von Entscheider*innen einerseits; Erwartungen, Motiven, Einstellungen von Asylbewerber*innen andererseits, die zusammen den Anhörungsablauf formen und die Entwicklung der Anhörungsprozesse mitgestalten. Diese im Vorfeld zu klären ist meines Erachtens von großer Bedeutung, denn die Anhörung als soziales Handeln bildet sich in einer Wechselbeziehung zwischen individuellem Handeln der Antragsteller*innen und dem institutionellen Handeln der Institutionsvertreter*innen zweckgerichtet aus. In diesem Arbeitsabschnitt (Teil II) werden die institutionellen Zusammenhänge analysiert, in die die Bundesamtsmitarbeiter*innen mit ihrem kommunikativen Handeln eingebunden sind. Bei einem Anhörungsgespräch ist z.B. einer der institutionellen Zwecke die Gewinnung entscheidungsrelevanter Informationen, um feststellen zu können, ob dem/der Asylsuchenden eine Asylgewährung zusteht und um die jeweilige Entscheidung anhand gesetzlicher Kriterien zu begründen. Wichtig ist die Identifikation der Anhörungscharakteristika, die sich praktisch aus den Anhörungszwecken ergeben. Alle wesentlichen Eigenschaften mündlicher Anhörung lassen sich aus diesen Zwecken und den rechtlichen Rahmenbedingungen herleiten, deren Aufklärung die Nachvollziehbarkeit der empirischen Analyse erleichtert. Durch solche Vorklärungen, die in diesem Arbeitsabschnitt (II) vorgenommen werden, werden die Fragen, die bei der empirischen Analyse zu klären sind, (wie und warum nimmt Gesprächssauschnitt x diesen Prozessverlauf an, anstatt einen anderen, wie zum Beispiel in Fall y; warum verhält sich der/die Entscheider*in oder der/die Asylbewerber*in auf die Weise im Falle x und warum wird diese Frage an einer bestimmten Stelle gestellt und nicht früher oder später, wie im Falle y), nachvollziehbar. Zudem

1

Mit der »theoretischen Vorklärung« meint Grießhaber Vorklärungen darzustellen, die »der Klärung der Zwecke des Diskurses« (2001: 80) dienen sollen. Ich verwende den Begriff in diesem Sinne und gehe darüber hinaus auf weitere kontextuelle Vorklärungen ein, die zur Nachvollziehbarkeit des gesamten Anhörungsverlaufs beitragen können.

6. Zum Kontext der Anhörung

können alle Aktivitäten, die einen institutionellen Rahmenbruch vollziehen, identifiziert und ihre institutionelle Funktionalität kann hinterfragt werden (vgl. Hoffmann 2001: 1551). Es handelt sich also in diesem Analyseteil um einen umfangreichen Überblick bezüglich des Anhörungskontextes, mit dem Ziel, die Abläufe des Anhörungsgesprächs in seiner gesamten Komplexität zu verstehen. Er enthält darüber hinaus eine kurze Ausführung über die historische Entwicklung der Anhörungspraxis und ihre früheren und heutigen rechtlichen Rahmenbedingungen. Er umfasst eine Darstellung des sozialen und lokalen Anhörungssettings mit Vorbedingungen und Strukturen, die die Anhörung u.a. prägen. Durch diesen Analyseschritt werden Kenntnisse über das Anhörungssetting, -vorbedingungen, -strukturen und -zwecke vermittelt, die sich in der Interaktionsstruktur (Teil III) und Interaktionsprozesse (Teil IV und Teil V) der Anhörung niederschlagen. All die von mir skizzierten Vorkategorisierungen, die im Folgenden in mehreren Kapiteln dargestellt werden, sind in erster Linie auf der Basis von empirischer Forschung entstanden. Für die strukturierte Darstellung bezüglich des Überblicks zum Anhörungskontext, gehe ich wie folgt vor: Der Arbeitsabschnitt II wird in vier Kapiteln unterteilt: Das Kapitel 7 beinhaltet den historischen Rückblick hinsichtlich der Asylverwaltungspraxis (Entwicklung der Anerkennungspraxis von geflüchteten Menschen), Kapitel 8 ist den institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Anhörung gewidmet. Darauf folgt das Kapitel »Anhörungssetting« (K. 9), das in zwei Kapitel, mit der Thematik der unsichtbaren (K. 9.1) und der sichtbaren Akteur*innen (K. 9.2) gegliedert ist. Letzteres wird den Abschnitt II mit der Darstellung des Status der Anhörung (K. 10.1) Anhörungszwecke (K. 10.2) und die Anhörungscharakteristika (K. 10.3) abgeschlossen.

61

7. Historischer Rückblick über die Verwaltungspraxis im deutschen Asylverfahren

Ein historischer Überblick soll die im Laufe der letzten 60 Jahre gewachsenen institutionellen Verflechtungen und gesetzlichen Veränderungen der Asylpolitik und folglich auch der Anhörungspraxis reflektieren. Im Folgenden wird eine geschichtliche Skizze über Form und Inhalt der Verwaltungspraxis im Asylverfahren dargestellt, die sich im Zuge der Änderung der Asylpolitik ebenfalls änderte. Anschließend wird versucht eine Retrospektive der Anhörungspraxis unter den damaligen Bedingungen näher darzustellen.

7.1

Bundesdienststelle für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge

Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und mit der Einführung des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG von 1949 wurde »erstmals eine Rechtsstellung für politisch Verfolgte Ausländer in der deutschen Verfassung verankert« (Dickel 2002: 279). Die alliierte Hohe Kommission legte Deutschland zum 30.06.1950 die Verantwortlichkeit für »displaced persons« (DPs) auf. Als displaced persons galten diejenigen, die noch nicht ausoder weitergewandert waren. Ihre Kategorie und ihre Bezeichnung in der Behörde waren die der heimatlosen Ausländer. Ihre Situation wurde 1951 mit dem Gesetz über die Rechtsstellung heimatloser Ausländer« geändert und der Schutz ausländischer Flüchtlinge auf nationaler Ebene mit Verfassungsrang ausgestattet, indem im Grundgesetz 1949 der Satz »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« aufgenommen wurde (Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG) (vgl. Münch 1993: 22). Die praktische Umsetzung des im Grundgesetz verankerten Asylrechts musste durch den Gesetzgeber geregelt werden. Diese wurde von den Besatzungsbehörden im Jahre 1950 den deutschen Behörden zur Aufgabe gemacht. Bis 1953 gab es noch »keine gesetzlichen Bestimmungen für die Durchführung eines Asylverfahrens« (Dickel 2002: 280). Die rechtliche Umsetzung für die Asylverordnung von 1953 fand »ihre Form in der »Verordnung über die Anerkennung und die Verteilung von ausländischen Flüchtlingen« (AsylVO) vom 6.1.1953, die sich auf Art. 119 GG stützte, der an sich

64

Die Anhörung im Asylverfahren

zur Bewältigung der Herausforderungen durch (deutsche) Vertriebene und Flüchtlinge geschaffen worden war.« (Kreienbrink 2013: 398). Zur Erfüllung dieser Aufgabe wurde 1953 die Bundesdienststelle in Nürnberg Zirndorf errichtet (vgl. Münch 1993: 39). Diese war für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, die Durchführung des Verfahrens und für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuständig. Die Aufgabe der Bundesdienststelle beschränkte sich zuerst nur auf die Überprüfung derjenigen Asylanträge, in denen eine geflüchtete Person Schutz nach der GFK beantragte. Für die Asylanträge, deren Antragsteller*innen hingegen nach Art. 16 II 2 GG Schutz suchten, »wurde auf die alte Ausländerpolizeiverordnung (APVO) von 1938 zurückgegriffen. Das bedeutete, dass in diesen Fällen ohne zentrale Zuständigkeit die Kreispolizeibehörden (später Ausländerbehörden) nach ihrem jeweiligen Ermessen entschieden, ob der Ausländer Aufenthalt erhielt.« (Kreienbrink 2013: 389). Zu diesem Zeitpunkt war die Anerkennungspraxis in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich und mit Regelungslücken behaftet, die erst mit dem Erlass des Ausländergesetzes auf Bundesebene vereinheitlicht wurde. Vor dem Ausländergesetz war die Asylrechtsgewährung eine Frage der Generosität1 und dem freien Ermessen des/der Entscheiders*in unterworfen (vgl. Oltmer 2013: 55). Im Ausländergesetz war zwar das Asylrecht eingebettet und war ein Teil der verfahrensrechtlichen Regelungen des allgemeinen Ausländerrechts, aber bot keineswegs klare Verfahrensprozesse für die Überprüfung des Asylrechts (vgl. Kreienbrink 2013: 389f.).

7.1.1

Das Ausländergesetz von 1965

Ein Umbruch in der deutschen Ausländer- und Asylpolitik stellt das am 28.4.1965 verabschiedete Ausländergesetz dar, das die APVO von 1938 ablöste und erstmals eine gesetzliche Basis für ein vereinheitlichtes Asylverfahren schuf (vgl. Stark 1998:42). Im Zuge der neuen Gesetze wurde im Bereich des Asylrechts zwar Kontinuität gewahrt, mit § 28 AuslG trat jedoch eine substanzielle Änderung ein: die Behörde in Zirndorf war nun nicht mehr nur für die Anerkennungsverfahren von Geflüchteten im Sinn der GFK verantwortlich, sondern auch für die Anträge jener Ausländer*innen, die sich auf Art. 16 II 2 GG beriefen (vgl. ebenda).

7.1.2

Veränderungen im Bundesamt und in der Anerkennungspraxis

Die Bundesdienststelle wurde zu einer Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern und hieß ab Inkrafttreten des Ausländergesetzes am 01.09.1965 »Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge« (BAFl) (vgl. 1

Der Artikel 16, Abs. 2, Satz 2 des Grundgesetzes bietet im internationalen Vergleich ein weitreichendes Grundrecht auf dauerhaften Schutz. Der Grund für die Generosität beim Gesetzerlass liegt vermutlich daran, dass »das Asylgrundrecht […] in Reaktion auf die Vertreibungen aus NS-Deutschland [entstand] und bildete damit eine symbolische Distanzierung von der NSVergangenheit.« (Oltmer 2013: 55).

7. Historischer Rückblick über die Verwaltungspraxis im deutschen Asylverfahren

Kreienbrink 2013: 400). Mit dieser Umstrukturierung gingen weitere Änderungen einher. Beispielweise wurde ein/eine Sachverwalter*in des öffentlichen Interesses vom Bundesinnenmister berufen (§ 35 III AuslG) und war dessen Weisungen unterworfen (§35 IV AuslG). Er/Sie konnte sich an den Verfahren vor dem BAFl und vor den Verwaltungsgerichten beteiligen und Rechtsbeihilfe einlegen. Seine/Ihre Aufgabe war es, für eine prozessual einheitliche Verfahrenspraxis zwischen den Antragsteller*innen und dem Staat, als Sachwalter*in des öffentlichen Interesses im BAFl (Bundesamt für Anerkennung ausländischer Flüchtlinge) und vor den Gerichten, zu sorgen (vgl. Wolken 1988: 37). Im Jahr 1969 kamen über elftausend Menschen nach Deutschland. Dieser Zuzug belastete nicht nur das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, sondern führte zudem zu erheblichen Problemen bei der Unterbringung, da Zirndorf das einzige Sammellager für Ausländer*innen im Bundesgebiet war. Es wurde über die Bereitstellung eines weiteren Sammellagers verhandelt, aber der Freistaat Bayern lehnte einen Ausbau des Ausländer*innenlagers ab und die anderen Bundesländer waren zu diesem Zeitpunkt nicht bereit, ausländische Flüchtlinge vor einer Entscheidung über ihren Asylantrag aufzunehmen (vgl. Poutrus 2009: 34). Die in Folge der Überlastung langen Anerkennungsverfahren führten auch zu langen Aufenthaltszeiten im Lager. Dies und die große Anzahl an Lagerbewohner*innen vor Ort führte sowohl zu Spannungen zwischen den Asylbewerber*innen und Bewohnern*innen wie auch zwischen den Asylsuchenden untereinander. Dies wurde dann als eindeutiger Beleg für ausgehende Störung von Ruhe und Ordnung durch Ausländer*innen wahrgenommen (vgl. u.a. Kreienbrink 2013: 398).

7.1.3

Zur Verwaltungspraxis 1965-1973

Zwischen 1965 und 1973 handelte es sich um die Asylantragsteller*innen überwiegend aus europäischen Staaten (z.B. 1968: 90 %) (vgl. Kreienbrink 2013: 400). Im Jahr 1973 änderte sich jedoch die politische Einschätzung der Asylgewährung, weil sowohl die Zahlen der Asylbewerber*innen insgesamt als auch jene aus dem außereuropäischen Raum deutlich zunahmen. Es wird vermutet, dass dieser Anstieg im Zusammenhang mit dem Anwerbestopp von sogenannten Gastarbeitern steht und dass das Asylverfahren als Weg genutzt wurde, die Zuwanderungshürden zu umgehen (vgl. Stark 1998: 43; Oltmer 2013: 54). Diese »rechtsmissbräuchlichen Asylanträge« wurden in Fachkreisen und in den Parteien diskutiert. Beispielhaft für diese Diskussion ist die Aussage des damaligen Bundesinnenministers Genscher (FDP): »Das Problem besteht darin, daß es insgesamt schwierig ist, einen Mißbrauch des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland zu verhindern. Dieser Frage müssen wir uns in gemeinsamer Verantwortung stellen« (BT Sten. Prot. 7. WP. 50. Sitzung. 19.9.1973: 2847 zitiert in Wolken 1988: 39). Folglich versuchte die Regierung, die Ausgestaltung der asylrechtlichen Regelungen an die Verfahrensrealität, also an die steigenden Zugangszahlen, anzupassen (vgl. ebenda: 39) und die »Verhinderung des »Asylmissbrauchs« [wurde zur] zentrale[n] asylpoliti-

65

66

Die Anhörung im Asylverfahren

sche[n]Aufgabe« (ebenda). Somit hat ein Paradigmenwechsel von einer großzügigen Aufnahmepolitik hin zur Bekämpfung des Asylmissbrauchs stattgefunden.2 Zur Entlastung des Bundesamtes hinsichtlich der Bearbeitung der vielen Asylanträge des seit 1974 ständig überbelegten Bundessammellagers in Zirndorf wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen. Dabei lag der Fokus auf einer Änderung des Asylverfahrens, statt den steigenden quantitativen Anforderungen mit einem Ausbau der Kapazitäten beim Bundesamt zu begegnen (vgl. Dickel 2002: 283). Das Bundesministerium machte per Erlass deutlich, dass die Asylanträge ausschließlich von den Ausländerund Grenzbehörden anzunehmen seien. Die Innenministerkonferenz beschloss 1974 die Vorwegverteilung der Asylbewerber*innen auf die Länder, die somit wöchentlich von Zirndorf aus verteilt wurden, was dem BAFl oblag (vgl. Kreienbrink 2013: 391ff). Das Lager in Zirndorf sollte nur noch als Durchgangslager dienen. Zudem hob die Bundesanstalt für Arbeit 1975 das Arbeitsverbot für Asylbewerber*innen mit dem Hintergrund auf, dass sich Asylbewerber*innen an ihrer Versorgung beteiligen sollten (vgl. Dinkel 2002: 284). Mit solchen kurzfristig getroffenen Maßnahmen »zur Entlastung eines Verfahrensbereichs macht man schließlich andere Maßnahmen notwendig, um die negativen Auswirkungen der vorherigen abzuschwächen.« (Münch 1993: 64). Die ergriffenen Maßnahmen führten keineswegs zur Senkung der Asylbewerberzahl, sondern diese stiegen weiter an: Während 1973 nur rund 5500 Personen nach Deutschland kamen, lag die Zahl der Asylanträge 1978 bereits bei 33000.3 . Im Zuge dessen verlängerten sich, wegen der zunehmenden Überlastung der Entscheidungsinstanzen, die Asylverfahren und die Anerkennungsquote sank. Um diesen Problemen zu begegnen wurden in den folgenden Jahren erhebliche Veränderungen im Asylverfahren vorgenommen: (a) 1977 wurden die Grenz- und Ausländerämter zur Missbrauchsprüfung befugt, d.h. sie konnten über die Weiterleitung eines Asylantrages an das Bundesamt oder die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen entscheiden4 (vgl. Wolken 1988: 45). (b) Im Juli 1978 wurden das Gesetz zur Beschleunigung des Asylverfahrens5 und das Gesetz zur Veränderung der Verwaltungsgerichtsordnung im Bundestag verabschiedet (vgl. BGBI 1978 1: 1108). In der Folge wurden die Widerspruchausschüsse beim BAFI abgeschafft, deren Sinn darin lag, »eine nochmalige Überprüfung der Verwaltungsentscheidung zu ermöglichen und dadurch das Verwaltungsgericht zu ent2

3 4 5

Mit diesem Paradigmenwechsel und die häufige Inanspruchnahme des Asylrechts in den späten 70er Jahren, aufgrund der gestiegenen Asylbewerberanzahl, wurde versucht, mithilfe gesetzlicher Maßnahmen und Verordnung, das Asylrecht einzuschränken (vgl. u.a. Wolke 1988:40, Stark 1998 und Oltmer 2013: 56). Statistische Entwicklung der Asylbewerberzahl: »1973: 5595 Personen, 1974: 9424, 1977: 16410, 1978: 33136« Münch 1993: 71f.). Diese Bestimmung wurde 1981 von Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt (ebenda). Zum Beschleunigungsgesetz und dem ausgebliebenen erwarteten Beschleunigungseffekt (vgl. Wolken 1988 45f. und Münch 1993: 72ff.).

7. Historischer Rückblick über die Verwaltungspraxis im deutschen Asylverfahren

lasten« (Münch 1993: 74). Darüber hinaus wurde die Berufung vor dem Oberverwaltungsgericht für all jene Fälle ausgeschlossen, die das Verwaltungsgericht als »offensichtlich unbegründet« abgelehnt hatte (vgl. Dickel 2002: 284).6 (c) Am 26. August 1980 wurde das zweite Gesetz zur Beschleunigung des Asylverfahrens verabschiedet (vgl. BGBI 1 1980: 1437). Demnach sollten anstelle der bislang aus drei Personen bestehende Anerkennungsausschüsse beim Bundesamt nun weisungsunabhängige Einzelentscheider eingesetzt werden. (d) Die letzte Änderung, die für diese Arbeit erwähnenswert ist, ist die Neufassung des Asylverfahrensgesetzes vom 27.7.93, denn dort wird in §24 AsylG die erforderliche Aufklärungspflicht des Bundesamts festgehalten: »Es hat den Ausländer persönlich zu hören. Es trifft die Entscheidungen und leitet diese Entscheidung in schriftlicher Form an die Asylsuchenden sowie an die Ausländerbehörden weiter.« Mit diesem Gesetz wurde die Anhörung zur gesetzlichen Pflicht des Bundesamts und diese steht allen Antragssteller*innen als Recht zu.

7.2

Entwicklung der Anhörungspraxis

An dieser Stelle möchte ich die historische Darstellung des Asyl- und Ausländerrechts in Deutschland abschließen und wende mich nun der Frage zu, wie die Asylbewerber *innen damals angehört wurden.7 Wie gestaltete sich das Anhörungssetting? Gab es eine Anhörung in der Form, wie wir sie heute kennen? Weiter wird geprüft, ob die Gesetzesänderungen einen Einfluss auf die Anhörungspraxis hatten. Wie reflektierten sich die Wahrnehmungen eines Missbrauches des Asylrechts in den Anhörungsgesprächen? Da es in der Literatur kaum Hinweise über die Anhörungspraxis, vor allem nicht aus den vergangenen Jahrzehnten (1949-1990) gibt (hingegen zahlreiche Literatur über Asylpolitik) und gleichzeitig großes Interesse meinerseits besteht, mehr darüber zu erfahren, möchte ich einen kurzen Überblick über die Anhörungspraxis anhand von Darstellungen der Asylpolitik in ihrer historischen Entwicklung und anhand von Berichten von und über die Entscheider*innen selbst rekonstruieren. Aus dem oben erwähnten Überblick über das Asyl- und Ausländerrecht in Deutschland, lassen sich die Anhörungsverfahren grob in fünf grundlegende Phasen unterteilen:

6 7

Zur detaillierten Darstellung weiterer Maßnahmen von 1978-1985, die zur Beschleunigung des Asylverfahrens führen sollten, siehe Dickel 2002 (283-289). Um zeitlich einen Schnitt zu machen, bezieht sich das ›Damals‹ oben auf Literatur, Abhandlungen und Berichte, die etwas zur Anhörungspraxis ab dem Zeitpunkt, an dem Asylsuchende in Deutschland bis 2000 aufgenommen wurden.

67

68

Die Anhörung im Asylverfahren

7.2.1

Vor Asylverordnung vom 6. Januar 1953

Nach dem Abkommen von 1921, 1924 und 1926 wurde für geflüchtete Menschen eine neue Heimat erschaffen. Bei der Registrierung der Geflüchteten befassten sich die Verwalter*innen nach allen bisher erwähnten Abkommen »nur mit dem Personalausweis der Flüchtlinge und mit einer Anzahl von technischen Fragen, die zu dem Personalausweis in Beziehung standen, (Wiedereinreisevisum in das Land, das den Paß ausgestellt hat, Paß- und Visumsgebühren usw.).« (Makarov 1951: 432). Es wurden keine Asylgründe abgefragt, warum die Geflüchteten in Deutschland leben wollen. Ab dem Abkommen vom 28. Oktober 1933, bezüglich der internationalen Rechtsstellung der Flüchtlinge, gab es Regelungen für die Aufnahme von Ausländer*innen, die von der Ausländerpolizeiverordnung (APVO) organisiert wurden. Diese enthielt selbst keine asylrechtlichen Regelungen, sondern gab den zuständigen Behörden einen weit reichenden Entscheidungsspielraum bei der Gewährung einer Aufenthaltserlaubnis: »Der Aufenthalt im Reichsgebiet wird Ausländern erlaubt, die nach ihrer Persönlichkeit und dem Zweck ihres Aufenthalts im Reichsgebiet die Gewähr dafür bieten, daß sie der ihnen gewährten Gastfreundschaft würdig sind.« (§ 1 der APVO) (AusländerPolizeiverordnung vom 22. August 1938 Ausländerpolizeiverordnung, von 22. August 1938 & Reichsgesetzblatt I: 1053). In dieser Phase gab es keine Anhörung, in der die Antragsteller*innen in einem persönlichen Gespräch einem/einer Staatsbeamten plausible Fluchtgründe darlegen mussten, sondern sie hatten einen Antrag für den Aufenthalt zu stellen und dieser wurde nach Ermessen erteilt.

7.2.2

Asylverordnung vom 6. Januar 1953-1965

Ab Inkrafttreten der Asylverordnung vom 6. Januar 1953, wodurch die Verfahrensregeln für das bundesdeutsche Asylrecht wirksam wurden, standen dem/der Antragssteller*in zwei verschiedene Verwaltungswege offen:8 (a) Für die Bearbeitung von Asylanträgen nach der GFK war die Bundesdienststelle für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zuständig. (b) Für die Bearbeitung von Asylanträgen, die sich auf Art 16 II 2 GG bezogen, waren die lokalen Behörden der Ausländerpolizei zuständig.

Bei beiden Wegen war die Asylgewährung eine Ermessensfrage. Die Anerkennungspraxis in den einzelnen Bundesländern war unterschiedlich und mit Regelungslücken behaftet (vgl. Dickel 2002:281). Wie die Anhörung in dieser Zeit gestaltet war, lässt sich 8

Die Entstehungsgeschichte des Grundrechts auf Asyl ist bei Tiedemann (2009) dargestellt. Die Entwicklung des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Asylkompromiss, siehe Wollenschläger (1994: 467ff.). Zum Asylrecht als Menschenrecht siehe Wollenschläger (2001: 243ff.).

7. Historischer Rückblick über die Verwaltungspraxis im deutschen Asylverfahren

aus der Geschichte der Asylpolitik wie folgt rekonstruieren. Wenn man den sozialen Kontext, in dem das Asylrecht als einzigartiges Recht (Münch 1993; Stark 1998; Oltmer 2013) entstanden ist, betrachtet, kann man davon ausgehen, dass die Entstehung des Asylrechts in dieser uneingeschränkten Form eine Reaktion auf die zurückliegenden Jahre des Nationalsozialismus war. Dies bestätigen die Ausführungen von Münch 1993: »In diesen Artikel brachten die 65 Mitglieder des Parlamentarischen Rates ihre persönlichen Erfahrung ein: Das Wissen, daß viele von ihnen also Asyl gewährt hatten, aber auch die Kenntnis, daß zehntausenden von Verfolgten diese Möglichkeit versperrt gewesen war, weil ihnen potentielle Zufluchtsstaaten aus egoistischen, nationalistischen Motiven die Aufnahme verweigert hatten.« (17). Das Asylrecht war zu jener Zeit eher von humanitären Erwägungen geprägt als von der Maxime einer kontrollierten Zuwanderung, denn in der erwähnten Literatur wird die Tatsache bestätigt, dass es bis zu diesem Zeitabschnitt kein einheitliches Asylrecht gab und dass das Asylrecht eine Frage der »Generosität« war, die nicht von Risiken, wie den Asylmissbrauch, frei war. »Die Asylrechtgewährung ist immer eine Frage der Generosität, und wenn man generös sein will, muß man riskieren, sich gegeben falls in der Person geirrt zu haben. Das ist eine Seite davon, und darin liegt vielleicht auch die Würde eines solchen Aktes« (Schmid CDU-Jahrangabe zitiert in Münch 1993: 20). Legt man diese Einstellung zur Asylgewährung zugrunde, ergibt sich daraus, dass die Asylbewerber*innen es leichter in der Anhörung hatten, ihren Fall zu behaupten. Der Grund dieser zugrunde liegenden Haltung liegt darin, dass Deutschland sich von der NS-Zeit zu distanzieren suchte und dies mit einer großzügigen Asylgewährung demonstrieren wollte (s. oben).

7.2.3

Aspekte der Asylpolitik und Anhörungspraxis von 1965 bis 1973

Im Jahr 1965 wurde das Ausländergesetz erlassen und damit eine einheitliche prozessuale Asylverfahrenspraxis eingeführt, wofür das Bundesamt für Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zuständig war. Wie die Anhörung in dieser Phase gestaltet war, ist nicht übermittelt worden. Eckdaten und Berichte über die Verfahren in dieser Zeit erlauben eine eigene Rekonstruktion. In den ersten Jahren (1965-1972) dürfte die Asylgewährung, aufgrund der grundsätzlichen Aufnahmebereitschaft von Flüchtlingen, unkompliziert verlaufen sein: »Die große Aufnahmebereitschaft für die zum größten Teil aus Osteuropa stammenden Flüchtlinge, zeigte sich im Innenministerkonferenz Beschluss von 1966. Dieser Beschluss untersagt die Abschiebung bereits abgelehnter Asylbewerber aus dem Ostblock […] unabhängig von einem Asylverfahren in ihre Heimatstaaten.« (Stark 1998: 42). Durch diesen Beschluss verankerte das Ausländergesetz das Prinzip der Duldung von abgelehnten Asylbewerber*innen, um diese vor einer Abschiebung zu bewahren, die aus humanitären oder politischen Gründen nicht geboten erschien. Die positive, ent-

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70

Die Anhörung im Asylverfahren

spannte politische Haltung gegenüber geflüchteten Menschen bedeutete meistens eine entspannte Verwaltungspraxis, was für mich eine sachliche Überprüfung in der Anhörung, ohne Skepsis oder unterschwellige Unterstellung, ersichtlich macht. Diese Haltung resultierte aus der politischen Landschaft dieser Zeit, die sich durch »das Bemühen um eine rechtsstaatlich und humanitär geprägte Flüchtlingspolitik.« (Wolken 1988: 38) zeigte. Wie oben bereits beschrieben, erfolgte bei der Asylgewährungspraxis ab 1970 ein gravierender Einschnitt, sodass in Folge die großzügige Aufnahmepolitik in den Hintergrund trat und schrittweise eine Abwehrhaltung gegen Asylbewerber*innen entstand. Gründe dafür waren unter anderem die größere Anzahl an Asylbewerber*innen durch den Anwerbestopp. Zudem war Deutschland in dieser Zeit bereits wieder ein anerkanntes Mitglied der westlichen Staatengemeinschaft und die NS-Vergangenheit galt als »bewältigt« (vgl. Oltmer 2013: 56). Deshalb bestand für Deutschland keine Veranlassung mehr, »mit einem offenen Asylrecht symbolische Distanzierung zu demonstrieren.« (Ebenda) Das schlechte Gewissen und die Großzügigkeit Ausländer*innen gegenüber trat in den Hintergrund und ab jetzt ging es um Fakten. Die negative Einstellung entstand nicht abrupt, hat jedoch eine recht schnelle Entwicklung genommen (vgl. Wolke 1988: 40). Mit der großen Anzahl an Asylsuchenden im Jahre 1969 begann die Einstellung, dass die Asylsuchenden belastend sind und diese gipfelte im Ansteigen der Zahl von Asylsuchenden ab dem Jahre 1972. Die politische Negativaufmerksamkeit, die besonders ab 1972 zum Ausdruck gebracht wurde, hing vor allem mit der Struktur der Herkunftsländer der Flüchtlinge (Einreise arabischer Asylbewerber*innen) zusammen und nicht nur mit dem Anstieg der Asylbewerberanzahl an sich, so Wolken (1988: 39f.). Dies verdeutlicht die Autorin anhand einer Darstellung der Gesamtzahl der Asylsuchenden (1969-1975), in der keine signifikante Änderung bezüglich der Asylbewerberanzahl, jedoch eine Zunahme der Flüchtlinge aus dem Orient festzustellen ist (vgl. ebenda: 40). Während sich einerseits eine negative Einstellung gegen eine offene Aufnahmepolitik verbreiterte, brach im gleichen Zeitraum Mitgefühl und eine grundsätzlich positive Einstellung zu politisch Verfolgten aus Chile, nach dem Militärputsch gegen die linksgerichtete Regierung, in der Öffentlichkeit aus. Im Bundestag führte dies zu emotionalen Solidaritätsbekundungen für politisch Verfolgte. Das führte zur Aufnahme von Flüchtlingen aus diesem Land (vgl. ebenda), die trotz der Sympathie das reguläre Asylverfahren prozessieren mussten, wozu auch eine mündliche Anhörung gehörte. Wie war die Anhörung gestaltet? Die Anhörung könnte folgenden Ablauf gehabt haben: Antragsteller*innen aus Chile wurde aufgrund der politischen Haltung und nicht aufgrund der dargestellten plausiblen Fluchtgeschichte Asylrecht gewährt. Dagegen müssten Asylbewerber*innen aus anderen Ländern ihre Schutzbedürftigkeit durch eine logische und widerspruchsfreie Fluchtgeschichte geltend machen. Ähnlich verhält sich im Zeitraum der Datenerhebungsphase (2015-2017): Antragsteller*innen aus Syrien sind vergleichbar mit den damaligen Antragsteller*innen aus Chile 1972/1973. Antragsteller*innen aus Syrien gelten politisch und gesellschaftlich als »legitime Flüchtlinge«

7. Historischer Rückblick über die Verwaltungspraxis im deutschen Asylverfahren

und Antragsteller*innen aus anderen Ländern, wie z.B. Afghanistan, Ägypten, Marokko müssen die Vermutungsrege 19 des ›Asylmissbrauchs‹ erst überwinden.

7.2.4

1973-1977 Etappe der Bekämpfung des sogenannten ›Missbrauchs‹ des Asylsystems durch Asylbewerber*innen

Ab dem Jahr (1973) existierten offene Debatten über den Asylmissbrauch durch »Wirtschaftsflüchtlinge«, so dass Politiker der FDP dazu aufgeforderten, den Asylmissbrauch zu bekämpfen. Eine Bekämpfung sollte durch eine Minderung der Anziehungskräfte einzelner Aufnahmeländer stattfinden, das heißt durch die Verschlechterung der Existenzbedingungen für geflüchtete Menschen, die potenzielle Nachfolger abschrecken sollte. Verschlechterung der Existenzbedingungen sollten durch Maßnahmen erreicht werden, wie zum Beispiel die »Forderung nach dem Einsatz von schnell urteilenden Grenzrichtern, weitere Verfahrensbeschleunigungen, Visumzwang für die Hauptherkunftsländer der Asylbewerber, Sammelunterbringung oder eine Grundgesetzänderung.« (Kreienbrink 2013: 402). Im März 1977 trat eine Veränderung der Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz in Kraft, wodurch ein Übergang von der Phase »der reinen Thematisierung« der Notwendigkeit asylpolitischer Maßnahmen zur praktischen politischen Umsetzung (vgl. Wolke 1988: 42f.) entstand. Allein im Jahre 1978 und Jahre 1980 wurden zwei Gesetze zur Beschleunigung des Asylverfahrens verabschiedet. Die begonnene Änderung zog eine Fülle von Maßnahmen mit sich, die bis 1982 andauerten und nach Wolke mit »Qualitätsverlusten« (ebenda: 45) bezüglich der Ansprüche an das rechtliche Verfahren gezeichnet waren (vgl. Wolke 1988 :45). Die Diskussionen über den Asylmissbrauch wurde in breiten Medienberichterstattungen verfolgbar und medial verarbeitet: Es entstanden Lexika mit neuen Begriffen, wie »Asylant« »Scheinasylanten« (vgl. u.a. Weber 1998: 19), die eine diskreditierte Konnotation haben. Weber (1998) liefert beispielsweise einen Fall des Verwaltungsgerichts Freiburg, der 1995 in der Zeitschrift Morgengrauen dokumentiert war: Die Ablehnung eines pakistanischen Klägers auf Asyl wurde unter anderem mit der Unglaubwürdigkeit des Klägers begründet, da »Täuschungen und Fälschungen in Pakistan – wie auch in anderen orientalischen Ländern – derart häufig verbreitet und üblich sind, daß Unehrlichkeit geradezu als ein sozialtypisches Phänomen zu betrachten ist (…).« (Aktenzeichen A6 K14165/93 zitiert in Morgenrauen zitiert ebenda: 70). Bis 1977 gab es einen latent angenommenen »Missbrauchstatbestand« nur im Wiederaufnahmeverfahren eines bereits abgelehnten Asylantrags. Danach galt der Antrag schon als Rechtsmissbrauch

9

Die Vermutungsregel bedeutet, dass die Asylbewerber*innen Tatsachen vortragen müssen, die ihre Verfolgung nachweisen und die die Annahme begründen, dass sie entgegen der Vermutung ›Nicht-Verfolgt-Sein‹ verfolgt sind. (vgl. Scherr 2015: 163). Ausführliche Beschreibung der Vermutungsregel folgt im Kapitel (9.2.2.2.3.)

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72

Die Anhörung im Asylverfahren

»Wenn auch im Verhalten des Ausländers im Zusammenhang mit seinem Asylbegehren eindeutig feststeht, daß mit dem Begehren ausschließlich asylfremde Zwecke verfolgt werden.« (Verwaltungsvorschrift Nr.6 zu § 36 AuslG zitiert in Weber 1998: 33). Diese sogenannte Missbrauchstheorie diente als Begründung für die Verschlechterungen im Bereich der Asylgewährung (vgl. Münch 1993:179). Wie verlief die Anhörung in diesem Zeitraum? Ein Paradigmenwechsel war bemerkbar: Dem/der Asylbewerber*in wurde zunächst ein Asylmissbrauch unterstellt. Anstatt den Blickwinkel darauf zu richten, den Schutzbedürftigen zu helfen, wurde er vorab beschuldigt »Missbraucher des Asylsystems« zu sein. In der Anhörung wurde dem/der Antragsteller*in somit Skepsis entgegengebracht und vorrangig überprüft, ob ein Asylmissbrauch vorläge. Hatte der/die Antragsteller*in diese Hürde des Asylmissbrauchsvorwurfs überwunden, stand die nächste Hürde bevor, nämlich die Asylgründe als asylrelevant geltend zu machen. Die Anhörung und die Überprüfung des Asylantrags wurden bis zu diesem Zeitpunkt in einer dreiköpfigen Kommission durchgeführt. Die Anhörung hatte also noch nicht das Setting, wie die Anhörung heute.

7.2.5

1977-1982

Eine Steigerung bei der Strategie der Bekämpfung des Asylmissbrauchs10 entstand durch die Veränderung der Verwaltungsgerichtsordnung, durch die die Grenz- und Ausländerämter 1977 zur Missbrauchsprüfung befugt wurden, über die Weiterleitung eines Asylantrages an das Bundesamt oder über die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen zu entscheiden (vgl. Wollenschläger 2004: 47). Mit diesen Maßnahmen wurden manche Asylbewerber*innen ohne Verfahren von der Prüfung ihres Flüchtlingsstatus ausgeschlossen. Das bedeutete, dass es für sie keine Anhörung gab und Ausweisungsmaßnahmen ohne ordentliches Asylverfahren angedroht werden konnten (vgl. ebenda). Ihre Anträge wurden mit der Begründung »offensichtlich unbegründet« oder »unbeachtlich«11 abgelehnt und eine Berufung vor dem Verwaltungsgericht war ebenfalls versperrt (vgl. u.a. ebenda; Dickel 2002: 286). Diese Beschlüsse fanden in Abwesenheit der Betroffenen statt. Das Fehlen einer Anhörung oder der Ausschluss eines/einer Asylbewerbers*in vom kompletten Verfahren mit dem Resultat der »Unbeachtlichkeit« der Asylgründe (AsylGAbs. § 29) oder deren »offensichtliche Unbegründetheit« (AsylG Abs. § 30) wurde 1982 als rechtswidrig aufgehoben (vgl. Weber 1989: 36; Dickel 2002: 286). Zum Zweck der Beschleunigung des Asylverfahrens wurde dann im Jahre 1978 die drei Personen-Kommission zur Anhörung und Überprüfung des Asylantrags aufgehoben und durch die Regelung des/der Einzelentscheider*in ersetzt. Somit konnte eine Einzelperson die Anhörung durchführen und darüber

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11

Die negative Grundstimmung trug unter anderem dazu bei, dass seit den 1980er Jahren mehrere Reformprozesse des Asylverfahrens und Ausländerrechts vollzogen wurden, die zehn Jahre später dazu führten, dass einer Änderung des Ausländer- und Asylrechts mit der Einführung des Asylkompromisses eintrat. Zur Klassifizierung der Asylanträge, die erst im Rahmen der Bekämpfung des Asylmissbrauches entstanden sind, kann bei Münch (1993: 69f. und 92-94) nachlesen werden.

7. Historischer Rückblick über die Verwaltungspraxis im deutschen Asylverfahren

hinaus auch allein entscheiden (§ 5 Abs.2 AsylVfG). Seitdem (1978) besteht das Anhörungssetting aus den drei Akteur*innenn (ein/eine Anhörer*in, Dolmetscher*in und Antragsteller*innen), wie sie heute noch existent ist.

7.2.6

1982-2000

Trotz der erhöhten Zuwanderung, die ihren Gipfel zu Beginn der 1990er Jahre erreichte,12 wurde ab 1982 kein/keine Antragsteller*in ohne Anhörung ausgeschlossen; wie es in den Jahren 1977-1982 möglich war (s. oben). Wie wurde angehört? Von den unabhängigen Einzelentscheider*innen wurde eine »erfolgreiche« Arbeit unter Zeitdruck erwartet. Die Beispiele aus der Praxis des Anhörungsverfahrens in diesem Zeitraum dokumentieren, dass Erfolg an der Anzahl der bearbeiteten Asylanträge gemessen wurde, wie aus dem in Stern zitierten Entscheiderinterview ersichtlich wird: »Ein anderer Entscheider berichtete mir stolz, daß er in einem Jahr über 500 Fälle erledigt hätte. ›Dabei‹ sagte er wörtlich, ›ist mir keine einzige Anerkennung unterlaufen‹.« (Morgengrauen, Sept. 1995, Interview aus »Stern«, zitiert in Gehrig, 2000: 9). Drei Entscheider des Bundesamts berichteten in der ZDF-Sendung »Kennzeichen D« vom 24.11.1999, dass nach den durch die Zentrale in Nürnberg eingeführten Vorgaben pro Entscheider im Monat 42 Bescheide gefällt werden sollten. (vgl. Gehrig, 2000: 9) »Fließbandarbeit, Leistungsdruck und Konkurrenzverhalten sind die Folgen« (ebenda). Auszug aus den dort geführten Interviews: »Es ist so, daß zahlreiche Einzelentscheider in den Genuss von Leistungszulagen und Prämien gekommen sind, weil sie nach Auffassung der Amtsleitung besonders leistungsfähig waren. Leistungsfähig wurde ausschließlich definiert, wie viele Bescheide ein Einzelentscheider pro Monat erbringt.« (zitiert in Gehrig, 2000: 9). Die Anhörung war darauf ausgerichtet, Ablehnungsgründe zu finden: »Die routinemäßige Befragung verfolgt den Zweck, Ablehnungsgründe für die gestellten Asylgründe zu finden. Oftmals werden Durchsuchungen der Kleidung und mitgeführter Taschen etc. während der Anhörung vorgenommen, Telefonbücher kopiert, um Reisewege und Kontakte zu erforschen« (Gehrig 2000: 15). Gehrig (2000) entnahm aus den in Gesprächen berichteten Ereignissen von Antragsteller*innen, dass die Anhörungssituation mit einem Verhör gleichzusetzen war (vgl. ebenda: 19). Nach den Angaben der Antragsteller*innen, so der Autor, wurden sie bei der Schilderung der Fluchtgeschichte oftmals durch unzusammenhängende Fragestellungen unterbrochen. Sie wurden am Beginn der Anhörung darauf hingewiesen, dass sie nur auf Fragen zu antworten hätten, weil die gesamte Lebensgeschichte in der Anhörung nicht von Interesse sei, sondern nur die »fluchtauslösenden« Momente relevant seien (vgl. ebenda). 12

Diese Steigerung hing mit dem Ende des kalten Krieges, den Kriegen und ethnischen Verfolgungen im zerfallenden Jugoslawien, Unruhen in Zentral- und Ostafrika und dem sich verschärfenden Konflikt im kurdischen Gebiet der Türkei zusammen (vgl. Kilgus 2013: 71).

73

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Die Anhörung im Asylverfahren

7.3

Fazit

Aus der Darstellung kann festgehalten werden: Die Anhörungspraxis hat sich im Laufe der Jahre geändert. Es wurde gezeigt, dass die Änderungen dieser Praxis nicht nur den rechtlichen Rahmenbedingungen geschuldet waren, sondern politische Entscheidungen und politische Haltungen gegenüber bestimmten Asylsuchenden einen Einfluss darauf hatten, wie die Anhörung durchgeführt wurde. Aus der Aufführung oben kann entnommen werden, dass Gesetzesänderungen und die Rechtsprechung auch zur Durchsetzung der politischen Interessen dienten. Die Gesetzesänderungen und die angewandten Anhörungsstandards erklären sich historisch vor dem Hintergrund steigender Asylbewerberzahlen und dem Bemühen schließlich die irreguläre Einwanderung »rechtlich« zu bekämpfen. So war die Anhörung von 1965 bis 1978 ein Grundelement des Asylverfahrens und wurde durch eine Kommission mit drei Personen durchgeführt. Die Entscheidung wurde von einem Ausschuss getroffen, wodurch die Beobachtbarkeit und die gegenseitige Kontrolle garantierten wurden. Ab 1978 ist das Anhörungssetting ähnlich, wie wir es heute kennen, jedoch wurden zwischen 1977 bis 1982 nicht alle Antragsteller*innen angehört (s. oben). Mit der Feststellung der Rechtswidrigkeit einer fehlenden Anhörung im Jahr 1982, sollte keiner mehr ohne Verfahren zurückgewiesen werden und die Anhörung wurde zum Herzstück des Asylverfahrens. Im Jahre 1993 wurde im Asylgesetz (AsylG) §24 die erforderliche Aufklärungspflicht des Bundesamts festgehalten: »Es hat den Ausländer persönlich anzuhören«.13 Damit musste jeder, der einen Asylantrag stellte, vom Bundesamt angehört werden. Somit kam der persönlichen Anhörung die zentralste Bedeutung im Asylverfahren zu und diese gilt bis heute. Jedoch hat die politische Lage nach wie vor einen mittelbaren Einfluss darauf, wie die Anhörungspraxis verwaltet wird.14 Ein zeitnahes Beispiel, das diesen Umstand verdeutlicht, dass sich die Anhörungspraxis an den politischen Vorgaben orientiert, ist die Anwendung des beschleunigten Verfahrens durch eine schriftliche Anhörung vom November 2014 bis November Mitte 2015. Dies lässt sich aus der Antwort auf folgende Frage entnehmen: »…wie hoch war zuletzt der Anteil rein schriftlicher Anerkennungsverfahren an allen Verfahren in Bezug auf die Herkunftsländer, bei denen schriftliche Anerkennungsverfahren angewandt werden?«   Antwort: »Asylverfahren von syrischen und von irakischen Antragstellern, jezidischen oder christlichen Glaubens, werden vom BAMF seit dem 18. November 2014 prioritär in einem vereinfachten Verfahren bearbeitet. Für das Herkunftsland Eritrea wird der Einsatz dieses vereinfachten Verfahrens seit Juli 2015 angewandt. Betrachtet man die Verfahrensdauer von Asylsuchenden aus Syrien, Irak und Eritrea ab einer Antragstellung nach dem 1. Januar 2015, so zeigt sich eine deutliche Auswirkung der vereinfachten Verfahren auf die jeweilige Verfahrensdauer. So betrug die Verfahrensdauer für

13 14

https://www.gesetze-im-internet.de/asylvfg_1992/__24.html. Luhmann stellt fest, dass eine Beschreibung von Recht und Politik, als ausdifferenziertes Funktionssystem, erhebliche Probleme aufwirft (vgl. Luhmann 1993: 407).

7. Historischer Rückblick über die Verwaltungspraxis im deutschen Asylverfahren

Syrien in dem Zeitraum 1. Januar 2015 bis 31. August 2015 durchschnittlich 2,3 Monate, für den Irak 2,9 Monate und für Eritrea 2,5 Monate. Beim Herkunftsland Eritrea lag der Anteil des schriftlichen Verfahrens im dritten Quartal bei 31,1 Prozent. Bei Irak waren es 61 Prozent und bei Syrien 83,4 Prozent.« (Deutscher Bundestag, Drucksache 18/6860 2015: 27). Seit jeher unterliegt die Anhörungspraxis, neben den rechtlichen Rahmenbedingungen, der politischen und persönlichen Einstellung der Entscheider*innen gegenüber Menschen aus bestimmten Ländern.15 Diese Problematik wird im Kapitel 9.2.2 aufgegriffen. Nach der historischen Darstellung der relevanten rechtlichen Bedingungen der Verwaltungs- und Anhörungspraxis werden in den folgenden Abschnitten die rechtlichen Rahmenbedingungen, die für die Anhörung während der Datenerhebungsphase relevant sind, beleuchtet.

15

Vorurteile gegenüber Aussagen von Flüchtlingen, wie »alle Orientalen lügen« (Gehrig 2000: 13).

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8. Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Anhörung

Das Anhörungsgespräch, als der wichtigste Bestandteil des Asylverfahrens, ist aufgrund von institutionellen und rechtlichen Bedingungen vorbestimmt. In diesem Kapitel werden die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Anhörung thematisiert. Die Anhörung hat vor allem die Funktion, Fakten zu ermitteln, die es ermöglichen, den Flüchtlingsstatus von Antragsteller*innen und die entsprechenden Schutzstufen rechtlich festzulegen. Um Anhörungsgespräche zu rekonstruieren wie auch ihre Analyse nachvollziehbar zu machen und die Handlungen der beiden Hauptakteur*innen, Antragsteller*innen und Entscheider*innen, in der Anhörungssituation von der faktischen und juristischen Vorgehensweise her zu verstehen, ist eine Darstellung derjenigen Normen, auf die die Anhörung basiert, notwendig. Erforderlich ist ebenfalls die Schutzstufen, die einem/einer Antragsteller*in gewährt werden können und welche Voraussetzungen für die jeweilige Schutzkategorie vorliegen müssen, zu illustrieren. Also auf welcher Grundlage der Flüchtlingsstatus bestimmt, wird, wie viele Schutzkategorien es gibt und was genau das Asylrecht beinhaltet, wird in diesem Kapitel kurz dargelegt.

8.1

Das Recht, das eigene Land zu verlassen

Wie in dem vorherigen Kapitel erwähnt wurde, gab es in den zwanziger Jahren die Möglichkeit in Deutschland Asyl bzw. Aufnahme zu beantragen, wonach entsprechend dem Ermessen Deutschlands und seiner Gastfreundlichkeit dem Fremden gegenüber dieser eine Aufenthaltserlaubnis erhielt oder nicht. Mit der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 sind die Asylsuche und die Asylgewährung in einem fremden Staat zu einem Menschenrecht erhoben worden. In dem Artikel 14 Abs.1 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: »Jedermann hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.« (GA Res. 217(111). Betrachtet man die Formulierung, beinhaltet dieser Artikel in der Menschenrechtserklärung kein Recht auf Asylgewährung, so merken Kritiker*innen (z.B. Wolke 1988, Münch 1993 und Marx 2003a) an. Artikel 14 gestattet dem Verfolgten in einem anderen Staat Schutz zu suchen, beinhaltet aber keinen Rechtsanspruch auf Asylgewährung, sondern stellt es jedem Staat frei, ob er dem/der Antragsteller*in Asyl gewährt.

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Die Anhörung im Asylverfahren

Erst mit der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) vom 28. Juli 1951, verabschiedet am 22.04.1954, haben sich die Beitrittsstaaten, inklusive der Bundesrepublik Deutschland, international verpflichtet, einem Flüchtling, nach der Überprüfung seines Flüchtlingsstatus, Schutz zu gewähren. Sie definiert einen Flüchtling als eine Person, die »[…] aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.«(Artikel 1 A GFK). Die Konvention legt darüber hinaus fest, welchen rechtlichen Schutz und welche sozialen Rechte eine geflüchtete Person von den Unterzeichnerstaaten erhält und beschreibt zusätzlich die Pflichten, die ein Flüchtling dem Aufnahmeland gegenüber schuldet (vgl. Nicolaus 1988: 119).1 Die Genfer Flüchtlingskonvention war zunächst darauf beschränkt, europäische Flüchtlinge nach dem zweiten Weltkrieg zu schützen. Sie wurde mit dem Protokoll von 1967 geographisch erweitert, so dass Flüchtlinge weltweit berücksichtigt werden konnten. Insgesamt sind heute 147 Staaten der Genfer Konvention und dem Protokoll von 1967 beigetreten (UNCHR).2 Zum Asylrecht in Deutschland Über die völkerrechtliche Vorgabe der GFK hinaus, die für Deutschland verbindlich ist, hat die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 den Anspruch auf Asyl für politisch Verfolgte als Grundrecht im Grundgesetz verankert. Das Asylrecht ist dadurch zu einem individuellen und einklagbaren Grundrecht geworden (vgl. Heinhold 2015: 161). So lautet Art. 16a Abs. 1GG: »(1) Politisch Verfolgte Flüchtlinge genießen Asylrecht« Mit dieser Selbstverpflichtung Deutschlands auf eine Asylgewährung, ging das Grundgesetz über das Schutzversprechen im internationalen Flüchtlingsrecht hinaus. Mit diesem Artikel im Grundgesetz und seiner großzügigen Asylgewährung wollte Deutschland seine Distanz zur NS-Zeit demonstrieren (vgl. Münch 1993: 17). Allerdings wird über die genaue juristische Auslegung des Art. 16a I GG diskutiert. Zum Beispiel König (2014) sieht einen Widerspruch zwischen dem im Grundgesetz feststehenden Asylrecht und der Rechtsdefinition: Obwohl politisch Verfolgten laut Art. 16a Abs. 1GG in

1

2

Die Genfer Flüchtlingskonvention enthält drei verschiedene Flüchtlingsdefinitionen. Zwei davon sind staatliche Definitionen und eine ist dynamisch angelegt (vgl. Nicolaus 1988: 119). Der Verfasser beschreibt, wie jede Definition juristisch bestimmt wird und wie diese im Laufe der Zeit zugunsten einer Flüchtlingsgruppe vs. gegen eine andere Flüchtlingsgruppe verwendet wurde (119130). UNHCR: Genfer Flüchtlingskonvention; https://www.unhcr.de/mandat/genfer-fluechtlingskonvention.html (17.10. 2016).

8. Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Anhörung

Deutschland Asyl gewährt werden soll, ist der Rechtsbegriff der politischen Verfolgung im Grundgesetz nicht definiert. Verfolgung wird von der Rechtsprechung nicht aus der Sicht des Betroffenen akzeptiert, sondern als eine vom Staat ausgehende, d.h. mit staatlichen Mitteln ausgeführte Verfolgung definiert (vgl. Titze 2008: 38). Der Verfolgungsbegriff3 nimmt eine zentrale Rolle für die Beurteilung des Schutzstatus des Geflüchteten ein. In der Anhörung muss ein/eine Asylbewerber*in eine begründete Furcht vor einer Verfolgungshandlung geltend machen können. Die Fluchtgründe müssen objektiv beurteilbar sein. Diese Objektivierung geht zurück auf die Auslegung des Verfolgungsbegriffs, sowohl aus Art. 16a I GG als auch aus § 60 I AufenthG. Die Verfolgung »stellt damit einen objektiven Tatbestand in den Mittelpunkt.« (Groh 2009: 5). Dadurch geraten wesentliche subjektive Elemente der Verfolgungsfurcht und der menschlichen Angst in den Hintergrund (vgl. ebenda). Um eine Balance zwischen der subjektiven Furcht des Antragstellenden und den objektiven Fluchtgründen, die für Feststellung der Verfolgung vorausgesetzt werden, zu gewähren, entwickelte das BVerwG auf nationaler Ebene seine sogenannte »Zumutbarkeitslehre«.4 Per Definition stellt die Zumutbarkeit5 einen subjektbezogenen Beurteilungsmaßstab dar, der in seinen Prüfkriterien immer an die Person des Betroffenen gekoppelt bleibt (vgl. Albrecht 1995: 21f.). Nach der »Zumutbarkeitslehre« verlangt die Rechtsordnung mit ihrer Ordnungsfunktion bei der rechtlichen Bewertung der individuellen Gründe nach Objektivierung, die die wesentliche Subjektbezogenheit auf der vorangegangenen Ebene berücksichtigen. Das bedeutet, dass die Behörde und das Gericht nicht davon überzeugt werden müssen, dass der/die Antragsteller*in sich tatsächlich gefürchtet hat, sondern sie müssen überzeugt sein, dass er/sie sich fürchten musste.6 Es wird ein Asylantrag gestellt, bei dessen Überprüfung vier unterschiedliche Schutzstufen berücksichtigt werden können. Im nächsten Kapitel werden die vier Schutzformen aufgeführt.

3

4

5 6

In der juristischen Literatur wird über die Auslegung des Begriffs der Verfolgung im Asylrecht ausführlich diskutiert. Zur Offenheit des Begriffs der Verfolgung, seiner Ausgestaltung und der Bestimmung seiner Intensität, bietet beispielsweise König (2014: 73-102) eine ausführliche Darstellung. Kälin (2003) behandelt die nichtstaatliche Verfolgung. Aufgrund der Definition des Begriffes »Zumutbarkeitslehre« ist es entscheidend für den Flüchtlingsstatus, ob für den Asylsuchenden, aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen und nach Abwägung allerbekannten Umstände, eine Rückkehr in seinen Heimatstaat zumutbar bzw. unzumutbar erscheint (vgl. BVerwGE 79, 143 (150); 89, 162 (169); 99, 324 (330); BVerwG 10 C 33.07 Rn. 37; zitiert in Groh 2009: 5). Ausführlich zu dem Prinzip der »Zumutbarkeit« siehe Albrecht (1995: 21ff. und 42ff.). Das setzt eine wertende Betrachtung voraus, die zum einen den vernünftigen Außenstehenden erfordert, der sich in die Lage des Flüchtenden versetzen kann und gleichzeitig an die Stelle des Richters tritt, der alle bekannten individuellen Umstände in seine Betrachtung mit einbezieht (vgl. Groh 2009: 6). Zum anderen fordert diese wertende Betrachtung verobjektivierbare Prüfungskriterien ein. »Dass sich die Rechtsordnung nämlich nicht in reinen Subjektivismen auflösen darf, ist sowohl in die GFK als auch in die QRL eingeflossen und vermischt auch dort im Flüchtlingsbegriff die (subjektive) Verfolgungsfurcht mit der (objektiven) Verfolgungsprognose« (ebenda).

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Die Anhörung im Asylverfahren

8.2

Schutzstufen

In der Anhörung geht es darum, eine der folgenden Schutzstufen festzustellen und dieser entsprechend den Aufenthaltstitel zu erteilen oder den Asylantrag begründet abzulehnen.

8.2.1

Politische Verfolgung: (Art. 16a Abs. 1 GG)

Asylrecht aufgrund politischer Verfolgung ist die höchste Schutzstufe im Asylrecht und wird gemäß Art. 16a GG gewährt. »Politisch ist eine Verfolgung dann, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Das Asylrecht dient dem Schutz der Menschenwürde in einem umfassenderen Sinne.« Bei einer politischen Verfolgung handelt es sich um eine staatliche Verfolgung. Das entscheidende Kriterium ist daher, dass der Staat mit seinen Institutionen die geflüchtete Person in ihrer Eigenschaft oder ihrer Überzeugung gezielt treffen will. Deshalb steht bei der Entscheidung über die Asylwürdigkeit eines/einer Antragstellers*in die Handlung des Staates im Vordergrund. Wenn es keinen international anerkannten Staat gibt oder eine Handlung nicht eindeutig der staatlichen Autorität zugeordnet werden kann, ist eine politische Verfolgung nach dieser Auffassung ausgeschlossen. Eine Ausnahme wird gemacht, wenn die nichtstaatliche Verfolgung dem Staat zuzurechnen ist oder der nichtstaatliche Verfolger selbst an die Stelle des Staates getreten ist und gilt als »quasistaatliche Verfolgung« (vgl. Möllers & van Ooyen 2006: 388).7 Politische Asylberechtigte gelten als anerkannte politische Flüchtlinge und erhalten nach § 2 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) die Rechtsstellung eines politisch Verfolgten und damit eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis (vgl. Krause 2004: 205). Mit der Änderung des Asylgesetztes im Grundgesetz 1993 wurde die Gewährung dieser Stutzstufe »politisch Verfolgter« durch die Drittstaatenregelung eingeschränkt. Seit 1993 herrscht in Europa das Konzept der sicheren Drittstaaten, wie auch der sicheren Herkunftsstaaten. Die Regelung der sicheren Drittstaaten sieht eine Verantwortungsteilung von Staaten bei der Prüfung der Asylgesuche vor. Das erste sichere Land, das ein Flüchtling nach seiner Flucht aus dem Heimatstaat durchquert, soll den notwendigen Schutz bieten. Das heißt, wenn eine politische Verfolgung in einem Staat vorliegt und

7

»Das Element der ›Staatlichkeit‹ oder ›Quasi-Staatlichkeit‹ von Verfolgung darf nicht losgelöst vom verfassungsrechtlichen Tatbestandsmerkmal des ›politisch‹ Verfolgten betrachtet und nach abstrakten staatstheoretischen Begriffsmerkmalen geprüft werden. Es muss vielmehr in Beziehung gesetzt bleiben zu der Frage, ob eine Maßnahme den Charakter einer politischen Verfolgung im Sinne von Art. 16aAbs. 1 GG aufweist, vor der dem Betroffenen Schutz gewährt werden soll« (BVerfGE 2, BvR 260/98 vom 10.8.2000 Rdnr. 17. Zitiert Möllers & van Ooyen 2006: 388).

8. Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Anhörung

das Bundesamt die Verfolgung anerkennt, erhält der/die Antragsteller*in in einem solchen Falle des Durchquerens eines sicheren Drittstaates trotzdem keinen Schutz nach Art 16a GG. Die nächste Schutzstufe ist dann die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der GFK. Die sichere Herkunftsstaatenregelung geht von der Annahme aus, dass es Staaten gibt, in denen keine Verfolgung vorkommt und deren Staatsangehörige deshalb kein Asyl beanspruchen können (vgl. BAMF 2016-Sichere Herkunftsstaaten). Wenn eine politische Verfolgung nicht vorliegt, wird der Asylantrag bezüglich der nächsten Schutzstufe der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der GFK geprüft.

8.2.2

Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 25 Abs. 2 AufenthG)

Die Flüchtlingseigenschaft ist ein rechtlicher Status, der einem/einer Asylbewerber*in in Deutschland bzw. in den GFK-Mitgliedstaaten zuerkannt wird, wenn die Voraussetzungen des § 3a I AsylG vorliegen. Inhaltlich entspricht diese Norm der Genfer Flüchtlings-Konvention. Die Voraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft liegt vor, »wenn Verfolgungshandlung, die begründete Furcht bzw. das reale Risiko vor dieser Verfolgung, der Wegfall des nationalen Schutzes, ein Verfolgungsgrund und ein Kausalzusammenhang zwischen Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung festgestellt werden kann.« (König 2014: 25). Die Prüfung jedes der genannten Merkmale, die zum Erhalt des Status Flüchtlingseigenschaft vorausgesetzt sind, richtet sich nach definierten juristischen Kriterien.8 Aufgrund dieser Schutzstufe erhalten die Asylbewerber*innen, die den Status eines Flüchtlings nach der Genfer Flüchtlingskonvention, einen Flüchtlingspass und eine Aufenthaltserlaubnis, die auf drei Jahre befristet ist. Regelmäßig nach drei Jahren überprüft das BAMF die Entscheidung und kann sie auch widerrufen.9 Wird nach der Prüfung der juristischen Kriterien zum Erhalt des Status Flüchtlingseigenschaft festgestellt, dass die Voraussetzungen dafür nicht erfüllt werden, wird überprüft, ob die dritte Schutzform, der subsidiäre Schutz, gewährt werden kann.

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9

Einen Überblick über die materielle Voraussetzung des § 60 Abs. 1 AufenthG und die rechtlichen Kriterien zur Prüfung der Flüchtlingseigenschaft bietet Marx (2009: 42f. und 2012: 10f.) und König (2014: 25-29). Darüber hinaus gibt König (2014) eine Zusammenfassung über die bestehenden Schutzkonzeptionen für Asylsuchende und Schutzsysteme. Bei Interesse kann man zusätzlich über Verfahren und Kriterien zu Feststellung der Flüchtlingseigenschaft in UNHCR (2003) nachlesen. Die Schutzstufe der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaften ist nicht mit dem Recht auf Asyl zu verwechseln. Die Genfer Flüchtlingskonvention gewährt kein Recht auf Asyl. Stattdessen enthält sie in Art. 33 GFK ein Verbot des Refoulement, das sich auf die Ausweisung und die Zurückweisung in Gebiete bezieht, in denen das Leben oder die Freiheit der Betroffenen, aufgrund ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung bedroht sein würde (vgl. Kälin 1987: 23ff.).

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Die Anhörung im Asylverfahren

8.2.3

Subsidiärer Schutz (§ 4 AsylVfG)

Für Schutzbedürftige, die die Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllen, ihnen aber Gefahr droht, bei ihrer Rückkehr ernsthaften Schaden im Sinne der Richtlinie zu erleiden, haben sich zwei weitere Schutzformen entwickelt: zum einen der subsidiäre Schutz, der komplementärer Schutzmechanismus genannt wird und zum anderen das Abschiebungsverbot. Beide Formen des Schutzes greifen jedoch nur vorübergehend (vgl. Krause 2004: 72). Subsidiärer Schutz ist eine Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz (§ 4 AsylVfGA), die gewährt wird, wenn die persönlichen Fluchtgründe nicht als Grund für eine Asylgewährung gewertet werden, aber die Lage im Herkunftsland aufgrund willkürlicher Gewalt wegen eines Krieges oder Bürgerkrieges, eine ernsthafte Gefahr darstellt und eine Rückkehr zum gegenwärtigen Zeitpunkt unmöglich macht. Sie gilt als Schutzgewährung aufgrund eines drohenden ernsthaften Schadens durch nicht staatliche Akteur*innen, sofern der Staat oder Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz zu bieten, ohne dass jedoch dafür die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden kann (vgl. Bayerisches Staatsministerium des Innern 2016: 24). Der subsidiäre Schutz ist eine Regelung für Personen, die im Heimatstaat einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung (§ 4 I AsylVfG) ausgesetzt sind, ohne eigene normierte Verfolgungsgründe nennen zu können und deshalb Schutz vor Abschiebung ins Herkunftsland benötigen. Im Unterschied zur Flüchtlingseigenschaft wird subsidiärer Schutz10 nur mit einer Befristung von einem Jahr gewährt und wird im Anschluss, je nach Entwicklung der Lage im Herkunftsland, verlängert. »Die Rechtsstellung subsidiär Schutzberechtigter entspricht weitgehend derjenigen von Flüchtlingen« (Bayerisches Staatsministerium des Innern 2016: 25). Was »weitgehend« bedeutet, sieht man im gleichen Bericht: »Die Rechtsstellung subsidiär Schutzberechtigter wurde derjenigen der anerkannten Flüchtlinge weitgehend angeglichen, allerdings verbleiben wichtige Ausnahmen. Die Mindestgültigkeitsdauer ihres Aufenthaltstitels beträgt weiterhin nur ein Jahr, im Fall der Verlängerung wird der Aufenthaltstitel aber für mindestens zwei weitere Jahre erteilt. Mitgliedstaaten können die Sozialleistungen für subsidiär Schutzberechtigte weiterhin auf Kernleistungen beschränken.« (Ebenda: 26)

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Pro Asyl (2017) weist auf den Unterschied zwischen Flüchtlingsschutz und subsidiären Schutz wie folgt hin: »Flüchtlinge mit Schutz nach der GFK erhalten einen Schutz für drei Jahre und können sich danach frei in Deutschland niederlassen. Sie haben freien Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Sozialleistungen und können zudem ihre Familien zu sich holen. Der subsidiäre Schutz ist entgegen öffentlicher Verlautbarungen kein reiner Abschiebeschutz, sondern ebenfalls ein spezifischer Flüchtlingsschutz. Diesen Schutz bekommen all jene Asylsuchenden, die zwar nicht individuell verfolgt werden, aber denen in ihrem Herkunftsland die Todesstrafe, Folter oder ein ernsthafter Schaden droht […]. Bis zur Verabschiedung des Asylpakets II konnten sie aufgrund einer Rechtsänderung vom 01.08.2015 unter den gleichen Bedingungen wie GFK-Flüchtlinge ihre Familien nach Deutschland holen. Für sie ist der Familiennachzug jetzt für zwei Jahre ausgesetzt.«

8. Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Anhörung

8.2.4

Abschiebungsverbot (§ 60 AufenthG)

Wenn die Fluchtgründe nicht als asylrelevant gewertet werden können, soll der Asylantrag abgelehnt werden. Jedoch muss das BAMF prüfen, ob ein Abschiebungsverbot wegen der Gefahren im jeweiligen Herkunftsland besteht. In diesem Schritt soll geklärt werden, ob Schutz vor den in § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG genannten Gefahren gewährt werden kann. In diesem Fall tritt ein gesetzliches Abschiebungshindernis zur Überprüfung ein. Für die Prüfung ist nicht das Bundesamt, sondern die Ausländerbehörde zuständig (§ 72 Abs. 2 AufenthG). Dieser Schutz wird durch völkerrechtliche Schutznormen unterstützt (vgl. Marx 2014: 51). Für ein Verbot der Abschiebung eines geflüchteten Menschen können mehrere Gründe vorliegen.11 An dieser Stelle werden nur zwei exemplarische Gründe genannt, um einschätzen zu können, auf welcher Grundlage ein Abschiebungsverbot gesetzlich begründet wird: a) schwere Menschenrechtsverletzung und b) ernsthafte gesundheitliche Probleme. Zu (a): Unter dem ersten Grund für die Gewährung der vierten Schutzform Abschiebungsverbot (§ 60 AufenthG 5) werden drohende Folter, menschlich erniedrigende Behandlung und Bestrafung, drohende Verhängung einer Todesstrafe und drohende individuelle Gefahren für Zivilpersonen, aufgrund willkürlicher Gewalt in einem bewaffneten internationalen oder innerstaatlichen Konflikt im Herkunftsstaates, zusammengefasst (vgl. Krause 2004: 206f.). Dem Artikel 3 § 5 Abs.4 der EMRK (Europäische Menschenrechtskommission) zufolge soll absoluter Schutz vor unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung gewährt werden, wie anhand des §53 Abs.6 Satz 1 AuslG ersichtlich wird: »Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat kann abgesehen werden, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.« (zitiert in Krause 2004: 207). Die deutsche Rechtsprechung erkennt Abschiebungshindernisse nur dann an, wenn eine Person im Falle einer Abschiebung den sicheren Tod erleidet, wie durch die Todesstrafe oder schwersten Menschenrechtsverletzung ausgesetzt wäre (vgl. ebenda). »Obwohl das Bundesverfassungsgericht die Verbindlichkeit der Grundsätze aus der EMRK und der Entscheidungen des EGMR bestätigt, liegt auch eine Abweichung von der Rechtsprechung des EGMR vor.« (Krause 2004: 207). Zu (b): Der Abschiebungsschutz aus gesundheitlichen Gründen lässt sich gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG begründen: »Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizini11

Für das Ziel dieses Kapitels müssen nicht alle Abschiebungshindernisse aufgezählt werden. Krause (2004) behandelt die Gründe für Abschiebungsverbote ausführlich und kritisiert sie unter dem Begriff »Schutzlücken« (ebenda: 212ff.).

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Die Anhörung im Asylverfahren

sche Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist«. Den Hauptanwendungsbereich des § 60 Abs. 7 AufenthG bilden seit 1997 krankheitsbedingte Abschiebungsverbote. Allerdings muss die drohende Gesundheitsgefährdung erheblich sein (§60 Abs.7 Satz 1 AufenthG). Dies ist der Fall, wenn im Abschiebezielstaat eine Gesundheitsbeeinträchtigung von wesentlicher Intensität zu erwarten ist, d.h. eine lebensbedrohliche Verschlimmerung der Krankheit wahrscheinlich ist (BVerwG, 25.11.1997 – 9 C 58.96). Der EGMR hatte bestimmt, dass bei einer schwerwiegenden Erkrankung die Abschiebung selbst als unmenschliche Behandlung erscheint, wenn diese den Betroffenen einem konkreten Risiko aussetzt, so dass er unter den denkbar schmerzhaftesten Umständen sterben würde (EGMR, EZAR 933 Nr. 6; NVwZ 1998, 163). »Im Allgemeinen wird den Antragstellern, die die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbotes erfüllen, eine Aufenthaltserlaubnis nach §25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG erteilt. Es handelt sich um einen Sollanspruch.« (Marx 2014: 51). Eine Erkrankung begründet noch kein Daueraufenthaltsrecht, weil durch die ärztliche Behandlung die Krankheitssymptome aufgehoben werden können. Ebenso können sich auch die Umstände im Herkunftsland so verändern, dass eine Rückkehr zu einem späteren Zeitpunkt, ohne die befürchteten gesundheitlichen Gefährdungen, möglich ist. Die vier oben erwähnten Schutzkategorien stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. Obwohl die Entstehung der GFK und des Asylgrundrechts auf denselben Grundlagen beruhen, unterscheidet sich der Rechtsstatus von Asylberechtigten (Art 16a GG) und GFK-Flüchtlingen (§ 25 AufenthG). Der subsidiäre Schutz wird ein Jahr gewährt und derjenige, der diesen Schutz bekommt, darf seine Familie nicht nachholen. Noch weniger Rechte haben diejenigen, die ein Abschiebungsverbot erhalten (s. oben).

9. Anhörungssetting

Der Begriff ›Setting‹ wird einerseits für die Darstellung raumzeitlicher Lokalitäten und andererseits in einem umfassenderen Sinne zur Beschreibung sozialer Situationen verwendet. Die physikalische Bedeutungsdimension raumzeitlicher Lokalität ist eine »der Konstitutionselemente der interaktiven Gesamtkonfiguration, die sich anhand der Parameter Interaktionsteilnehmer, Thema, Gesprächsfunktion, Stil und physikalischer Schauplatz beschreiben lässt.« (Schmitt 2015: 30). Die zweite Dimension wird zur Darlegung der Gesamtkonfiguration interaktiver Ereigniszusammenhänge benutzt. (vgl. ebenda). Mit dieser zweidimensionalen Verwendung des Begriffs ›Setting‹ wird dieser in der sozialen Situation, als übergeordnete Bezugsgröße verwendet, die die Lokalität als Bestandteil des Settings in einer sozialen Situation mit einfasst. (vgl. Schmitt 1992: 45 und 2015: 30). Demnach kann das Anhörungssetting in ein mittelbares soziales Setting und in ein lokales unmittelbares Setting unterteilt werden. Die unsichtbaren »Akteure« spielen bei der lokalen Anhörung im Bundesamt mittelbar eine bedeutende Rolle, weil sie das unmittelbare örtliche Setting, in der die Anhörungsakteur*innen direkt interagieren, beeinflussen. Im Folgenden werden diese beiden Dimensionen des Anhörungssettings dargelegt, wobei die erste Dimension kurz umrissen und die zweite Dimension detailliert betrachtet wird.

9.1

Unsichtbare Akteure

Neben den Hauptakteur*innen, die die soziale Anhörungsinteraktion direkt gestalten, gibt es weitere Aktanten wie Berater, Anwälte, Anhörungskatalog und -anweisung. Unter unsichtbaren Akteur*innen werden die behördlichen Vorgaben und Anhörungsleitfäden zusammengefasst, an denen die/der Anhörende sich halten soll; wie auch die Beratungsstellen, die den/die Antragsteller *in beraten. Sie wirken unsichtbar an der Anhörung mit.

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Die Anhörung im Asylverfahren

9.1.1

Behördliche Vorgaben

Mit den behördlichen Vorgaben sind in der vorliegenden Studie Handlungsanweisungen, die im Rahmen des institutionellen Handelns für alle Entscheider*innen verbindlich sind, gemeint. Wie bereits erwähnt, dienen die Kapitel in Teil II dazu, die Hintergründe der Anhörungspraxis zu verstehen. Welchen Beitrag soll die Darstellung der behördlichen Vorgaben leisten? Bei der ersten Auswertung sind einige Phänomene in der Anhörungspraxis, unter anderem die Art und Weise, wie die Anhörenden die Anhörung durchführen, aufgeführt: (a) es gibt mehrere Anhörungsstile, (b) einerseits gibt es ein einheitliches Ablaufmodell für die Anhörungsstruktur, andererseits unterschiedliche Verläufe der Anhörungsprozesse, (c) Hinweise auf individuelle Zugänge der Entscheider*innen in einem normiert gestalteten Gespräch, das durch bestimmte, festgelegte Phasen und das Abarbeiten eines Fragenkatalogs gekennzeichnet ist.

Um die Ursachen hinter den beobachteten Phänomenen zu verstehen und sie bei den Fallanalysen plausibel zu erklären, muss m.E. mehr über die handelnden Personen selbst und deren Handlungsmotive herausgefunden werden. Denn je mehr man über Handelnde und ihre Motive (z.B. durch Befragung und ethnographisches Wissen) weiß, desto besser lässt sich erklären, wie es trotz der einheitlichen Fragetechnik und trotz des gleichen Fragenkatalogs zu den vielfältigen Anhörungserscheinungen kommt. Erkenntnisse über Handlungsmotive der Antragsteller*innen konnten durch Befragung erfasst werden (vgl. K. 4.2.1.1). Die Ergebnisse der Befragung werden in (K. 9.2.2) dargestellt. Zur Erklärung der Handlungen der Entscheider*innen können die behördlichen Vorgaben, die für alle Entscheider*innen verbindlich sein sollten, aufschlussreich sein. Denn alle Entscheider*innen, unabhängig von den persönlichen Charakteren des einzelnen Entscheiders, sollen als Institutionsvertreter*innen gleiche Handlungszwecke verfolgen. Die bestehenden Vorgaben sind die zentrale Struktur, die das Handeln der Entscheider*innen während der Anhörung steuern sollen. Da Handelnde in der Interaktion immer Bezug auf Strukturen nehmen (vgl. Hedström & Swedberg 1998: 22; Maurer 2017: 82 und 90), die ihr Handeln prägen, müssen die institutionellen Strukturen, auf die die Entscheider*innen bei der Anhörungsgestaltung zurückgreifen, bekannt sein. Dies ermöglicht es, das institutionelle Handeln der Entscheider*innen besser zu verstehen, viele Phänomene aufzuschlüsseln, die in der direkten Interaktion mit dem/der Antragsteller*in auftreten und die Beliebigkeit in der Anhörung (minimal wie maximale) zu verorten. Die folgenden Fragen spielen dabei eine übergeordnete Rolle: Inwieweit decken sich die in der Anhörung ausgeprägten individuellen Praktiken der Entscheider*innen mit Vorgaben und Leitsätzen? Stellen die unterschiedlichen Praktiken von Entscheider*innen in mancher Hinsicht Verstöße gegen institutionelle Regeln dar oder sind die verschiedenen Handlungsweisen und der breit gefächerte Handlungsspielraum (noch) mit dem administrativen Rahmen konform? Inwieweit hinterlassen diese Vorgaben Spuren in der Anhörungspraxis? Abweichungen können nur benannt werden, wenn die geltenden Vorgaben bekannt sind.

9. Anhörungssetting

Im Folgenden wird ein Überblick über die institutionellen Normen, die bei Anhörungen gelten, gegeben und die Vorgaben, nach denen die Entscheider*innen handeln sollen, näher betrachtet.

9.1.1.1

Überblick über die behördlichen Vorgaben

»Eine effiziente und effektive Aufgabenerledigung ist nur dort möglich, wo ein definierter und geordneter organisatorischer Rahmen existiert. Dies gilt umso mehr, je komplexer die Aufgabenstellung ist und je mehr Personen an der Aufgabenerledigung beteiligt sind.« (Bundesministerium des Innern 2017: 33). Die Aufgabenstellung der Entscheider*innen in der Asylanhörung ist komplex und von vielen Unwägbarkeiten und Unsicherheiten geprägt. Um diese Komplexität zu vereinfachen, sind die Anhörenden an behördliche Vorgaben gebunden, die eine zweckgerichtete Aufgabenerledigung ermöglichen sollen und den Rahmen dafür bieten, den Entscheider*innen Klarheit über deren Aufgaben und Verantwortung zu geben. Jedoch sollen die Anhörenden trotz der Vorgaben flexibel genug sein, sich auf neue Herausforderungen, die sich durch die Antragsteller-vielfalt (vgl. K. 9.2.1.1) in der Anhörungssituation ergeben, einstellen zu können. Die institutionellen Vorgaben sind in erster Linie darauf ausgerichtet, bei der Anhörungsdurchführung die juristischen Normen einzuhalten. Die behördlichen Vorgaben, wie sie hier als unsichtbares Anhörungssetting präsentiert werden, sind keine Normierungen, die wie ein administratives Handbuch den Entscheider*innen zur Einsicht zur Verfügung steht, sondern sind Versatzstücke aus verschiedenen Kontexten (administrativ, juristisch, praxisorientiere Empfehlungen). Es handelt sich also nicht um eine Liste von Vorgaben, die die Behörde vorschreibt. Vielmehr findet sich hier ein Gebilde von Handlungsanweisungen, die den Entscheider*innen im theoretischen Kontext und in diversen praktischen Trainings (u.a. Trainingsmodule,1 Schulungsprogramme, aktuelle Informationen in der Fachzeitschrift Einzelentscheider-Brief,2 rechtliche Anweisung und Dienstanweisung) vermittelt werden und deren Umsetzung bei der Anhörung erforderlich sind. Aus den verschiedenen Quellen werden im Folgenden die wichtigsten Vorgaben zusammengestellt,

1

2

Zum Trainingsprogramm innerhalb der Einarbeitungszeit gehören drei Kernmodule, die EU weit verwendet werden. Das ist zunächst die »Schutzgewährung«: Hier werden die Rechtsgrundlagen vermittelt, nach denen jemand Schutz erhält. Im zweiten Modul geht es um die »Beweiswürdigung«. Zum dritten Modul gehören Gesprächsführungs- bzw. Anhörungstechniken. Das Modul der Anhörungstechniken behandelt die theoretischen Aspekte und die einschlägigen Rechtsvorschriften aus sehr praktischer Sicht. Es fördert die Verwendung strukturierter Gesprächsmethoden und leitet den Teilnehmenden durch die einzelnen Phasen, von einer angemessenen Vorbereitung bis hin zu den Tätigkeiten, die möglicherweise nach der Befragung zu erledigen sind. (Zusammenfassung eines Interviews mit einem Trainer für Entscheider*innen: Sendung SWR2 Do, 26.11.2015). Die interaktive Schulungsmethode bietet außerdem die Möglichkeit, anhand konkreter Fallszenarien verschiedene Gesprächskompetenzen zu erproben. (EASO-Schulungsprogramm 2016: 14). Zur schnellen Information der Anhörenden und Entscheidungsträger*innen erscheint monatlich eine Fachzeitschrift mit dem Titel »Einzelentscheider-Brief«, in der knapp und prägnant über aktuelle Gerichtsentscheidungen in Asylangelegenheiten berichtet wird. Außerdem werden Lösungsmöglichkeiten asylrechtlicher Themen diskutiert und über verfahrensrelevante Abläufe im Amt informiert.

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Die Anhörung im Asylverfahren

so dass ersichtlich wird, welchen Anforderungen und Unterweisungen die Entscheider*innen theoretisch bei der Anhörungsgestaltung unterworfen sind. In den empirischen Teilen dieser Arbeit wird die Anhörungspraxis betrachtet und man kann sehen, ob alle Anhörenden diese Unterweisungen befolgen können. Die behördlichen Vorgaben sind, neben den erwähnten Quellen, im Großen und Ganzen durch europäische Richtlinien3 festgelegt. Die Länder und Asylbehörden müssen diese Vorgaben an ihre Entscheider*innen weitergeben. So fasst Artikel 16 die allgemeinen Anforderungen zusammen: »Wird eine persönliche Anhörung zum Inhalt eines Antrags auf internationalen Schutz durchgeführt, so stellt die Asylbehörde sicher, dass dem Antragsteller hinreichend Gelegenheit gegeben wird, die zur Begründung seines Antrags notwendigen Angaben gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU möglichst vollständig vorzubringen Dies schließt die Gelegenheit ein, sich zu fehlenden Angaben und/oder zu Abweichungen oder Widersprüchen in den Aussagen des Antragstellers zu äußern.« Die europäische Rechtlinie gibt auch spezifischere Normen für die Anhörung vor, wie zum Beispiel: »kein Nachweis für im Übrigen glaubhafte Angaben erforderlich, für die Unterlagen/sonstige Beweise fehlen, wenn die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist.« (s.a. Art. 4 Abs. 5 lit. e) RL 2011/95/EU). Die europäische Richtlinie schreibt Anweisungen für das Asylverfahren (Anhörung, Beweisermittlung, Entscheidung) vor, die die jeweiligen Asylbehörden erfüllen müssen, um die Anhörung rechtmäßig zu gestalten. Die detaillierte Ausführung des Verfahrens, insbesondere die Anhörungspraxis, ist auf Länderebene unterschiedlich und werden im Laufe der Arbeit beispielhaft aufgezeigt.

9.1.1.2

Hauptvorgaben und Anforderung an Entscheider*innen

Fasst man die wichtigsten Empfehlungen aus den administrativen Anweisungen, Leitsätzen und juristischen Anforderungen sowie Erwartungen von den Entscheider*innen zusammen, lassen sich folgende Vorgaben bezüglich der Aufgabenerledigung ›Durchführung von Anhörungen‹ erfassen: −

Dem/Der Entscheider*in obliegt die Aufgabe, faire und effiziente Asylverfahren durchzuführen. Maßgeblich für die Gesprächsführung und die Entscheidung über den jeweiligen Asylantrag ist hierbei das individuelle Schicksal der Antragstellenden. Für diese anspruchsvolle Aufgabe müssen Entscheider*innen über umfassende und aktuelle Kenntnisse des Asyl- und Aufenthaltsrechts sowie über umfangreiches Herkunftsländerwissen verfügen (vgl. BAMF 2017: 6).

3

»Richtlinien sind Rechtsnormen der Europäischen Union, die an die EU-Mitgliedstaaten gerichtet sind und von den Mitgliedstaaten in innerstaatliches Recht umgesetzt werden müssen« (Dienstanweisung 2016: 37). Das europäische Recht bestimmt einige der Anforderungen an Bedienstete in Asylbehörden, die sich mit der Prüfung von Asylanträgen befassen. Die gestellten Anforderungen müssen vom Bundesamt erfüllt werden. (BAMF: 2017).

9. Anhörungssetting











Der/Die Entscheider*in muss die Anhörung »loyal sowie verständnisvoll« durchführen (NVwz 1996, 678), das heißt, loyal zum Gesetz und den Leitsätzen, gleichzeitig in einem verständnisvollen Umgang mit dem Antragsteller. Die vom BVerfG geforderte loyale und verständnisvolle Führung der Anhörung setzt voraus, dass dem/der Asylbewerber*in die notwendige Zeit und Ruhe gegeben wird, von sich aus zusammenhängend die einzelnen Ereignisse und persönlichen Erlebnisse darzustellen. Der/Die Entscheider*in soll sich hierbei darauf beschränken, durch verständnisvolle, ergänzende Fragen dem/der Antragstellern*in zu helfen, seine/ihre Geschichte vollständig zu erzählen und diesen gegebenenfalls im Blick auf die Substantiierungspflichten auf mögliche rechtliche Gesichtspunkte hinzuweisen (vgl. Marx 2003a: 320). Die Ermöglichung der einwandfreien Gestaltung der Anhörung im Einzelfall dadurch, dass der/die Antragsteller*in in einer seiner Person gemäßen Art und Weise zu Beginn der Anhörung über das ins Bild gesetzt wird, worauf es für ihn/sie bezüglich der Entscheidung über sein/ihr Ersuchen ankommt (NVwZ 1996, 678). »Ich sage das denn auch, wenn die zur Anhörung kommen, dass es jetzt drauf ankommt.« (Entscheiderin-Interview in Deutschlandfunk 1.10. 2015). Der/Die Entscheider*in hat Widersprüchen im persönlichen Sachvortrag nachzugehen und auf Vollständigkeit des Sachvorbringens hinzuwirken (AsylVfG Nr. 113; Europäische Richtlinien Art. 16). Der/Die Anhörer*in hat die Pflicht, Vorhalte zu machen, nachdem der/die Antragsteller*in den Sachverhalt zusammenhängend dargestellt hat. Derartige Vorbehalte dienen dazu, dem/der Antragsteller*in Gelegenheit zu geben, Fehler und Erinnerungslücken zu überprüfen4 (vgl. Marx 2003a: 318). Vollständigkeit des Vortrags: Der/Die Beamte sollte alle maßgeblichen Fakten ermitteln und berücksichtigen und dem/der Asylsuchenden Gelegenheit geben, die Umstände seines/ihres Falles zu schildern und Beweise dafür vorzulegen (vgl. ebenda). Dies erfordert »eine tiefergreifende Anhörung […], um den tatsächlichen Sachverhalt zu ermitteln« (Dienstanweisung 2016), die über die Bearbeitung des Anhörungsfragenkatalogs hinausgeht. Um eine Vollständigkeit des Vortrags zu erreichen, gehen manche Entscheider*innen folgenderweise vor: »und dann lass ich mir die Asylgründe von dem Antragsteller erst einmal vollständig schildern, die Geschichte, und stelle dann entsprechende Nachfragen. Also zur Glaubwürdigkeit, zur Plausibilität oder was noch erforderlich ist, um die Entscheidung zu treffen.« (Entscheiderin-Interview in Deutschlandfunk 1.10. 2015).



Rückfragenstellen: Das BVerfG hebt ausdrücklich hervor, dass bei gegebenem Anlass klärende und verdeutlichende Rückfragen zu stellen sind (BVerfGE 94, 166 (204)

4

Im schriftlichen Bescheid werden zur Begründung des Antrags dem Asylsuchenden Unstimmigkeiten, Ungenauigkeiten und Widersprüche in seinem Sachvorbringen vorgeworfen, »ohne dass ihm in der persönlichen Anhörung die Gelegenheit eingeräumt wurde, auf eine entsprechende Frage Stellung nehmen zu können.« (Marx 2003a: 318).

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Die Anhörung im Asylverfahren

NVwZ 1996, 678). Der/Die Entscheider*in muss bei der Anhörung neben dem abzuarbeitenden Fragenkatalog Folgefragen ableiten können, deren Antworten zur Sachverhaltsklärung beitragen: »Man muss auch in der Lage sein, aus den Antworten, die man bekommt, dann möglicherweise die nächsten Fragen abzuleiten, die man nicht schon vorher konzipieren konnte.« (Interview mit Trainer für Entscheider in einem Radiointerview). •

Der/Die Entscheider*in soll Durchhaltvermögen, Ruhe und Sensibilität besitzen: »Und ganz wichtig ist, in vieler Hinsicht, Gelassenheit und Ruhe, eine gewisse Sensibilität, um darauf gefasst zu sein, dass man mit außergewöhnlichen Situationen konfrontiert werden könnte, um dann auch dem jeweiligen Antragsteller gerecht zu werden und es gibt natürlich Personen, die von ihrem eigenen Verhalten her mich da vor größere Herausforderungen stellen als andere.«5







Die Anhörung soll in strukturierten Gesprächsphasen durchgeführt werden und der/die Antragsteller *in soll über den Ablauf in Kenntnis gesetzt werden (vgl. EASO 2014: 9). Die Entscheider*innen »sind aufgefordert, ihre Emotionen, Einstellungen und Verhaltensweisen zu reflektieren« (Schneider & Wottrich 2017: 91) und während der gesamten Anhörung unvoreingenommen und neugierig bleiben (vgl. Trainerinterview ebenda). Das Vermögen, aktiv zuzuhören: Wenn der/die Entscheider*in den Sachverhalt objektiv überprüfen möchte, so muss er/sie intensiv zuhören. »Eine ganz wichtige Fähigkeit ist natürlich, zuzuhören und die richtigen Fragen zu stellen.«6 Durch das Zuhören können die Annahmen zumindest in Frage gestellt werden und ein Vergleich zwischen dem Vermuteten und dem Gesagten vollzogen werden: »Man muss sich vor jeder Anhörung immer wieder neu der Situation stellen, dass man sich sozusagen, inhaltlich auf Null setzt, dass man nicht, auch wenn man schon 100 Anhörungen des gleichen Herkunftslandes durchgeführt hat, mit der Einstellung reingeht: Ah ja, jetzt kommt wieder die und die Geschichte, kenne ich alles schon!‹, sondern dass man den Antragsteller wirklich wie ein leeres Blatt Papier betrachtet und so lange bis dann der Sachvortrag vorgebracht wurde, sich noch keine Meinung bildet. Das ist eine ganz wesentliche Voraussetzung.« (Ebenda)



Ein/Eine Entscheider*in soll eine objektive und unparteiische Anhörung durchführen, die einerseits den behördlichen Vorgaben entspricht und andererseits indivi-

5

Interview mit Trainer für Entscheider in einem Radiointerview Sendung SWR2 Tandem vom 26.11.2015, 10:05 Uhr. Radio-Interview mit Trainer für Entscheider: Sendung SWR2 Tandem vom 26.11.2015, 10:05 Uhr.

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9. Anhörungssetting



duell an die Situation des/der Asylbewerbers*in angepasst ist (vgl. Marx 2004: 74 und E-Interviews). Ein/Eine Entscheider*in muss während der Anhörung den Spagat zwischen Empathie und professioneller emotionaler Distanz schaffen: »Natürlich muss man auch in der Lage sein, einerseits Empathie zu haben, andererseits aber eine ausreichende emotionale Distanz wahren zu können, um nicht zusammen mit dem Antragsteller zu weinen, wenn der was Schlimmes erzählt.«7





Voraussetzung für eine optimale Anhörung ist, sich entsprechend Zeit zu nehmen und eine funktionierende Rückkopplung während des Gespräches aufrecht zu erhalten, durch die Missverständnisse festgestellt und aufgehoben werden können (Begleiter- und E-Interviews). Der/Die Entscheider*in muss sich darauf beschränken, »durch verständnisvolle ergänzende Fragen dem Antragsteller zu helfen und ihn zu leiten und gegebenenfalls im Hinblick auf die Substantiierungspflichten auf mögliche rechtliche Gesichtspunkte hinzuweisen.« (Marx 2013a: 9).

In Fällen, in denen er/sie erkennt, dass der Sachvortrag ausufert, darf er auf die »wesentlichen Tatsachenfragen zurückführen, jedoch stets in einer Weise, die nicht zu Irritationen und Verunsicherungen führt« (ebenda). •



Entscheider*innen sollen während der Anhörung kritisch die behördlichen Routinen der Fallbearbeitung hinterfragen und eine gewisse Handlungsalternative bereithalten, falls die Situation es erfordert (vgl. EASO 2014: 25).8 Anwälte/Anwältinnen sehen weitere Anforderungen als erforderlich, wie: »Wenn man eine Anhörung im Asylverfahren wirklich offen gestalten will, ist es erst mal eine Anforderung an den Anhörer sich mit der Problematik (politische Vorgaben),

7 8

Radio-Interview, Sendung SWR2 Tandem vom 26.11.2015, 10:05 Uhr. Mit Unterstützung des EASO wurde ein Leitfaden von Sachverständigen aus den Mitgliedstaaten entwickelt, mit dem Ziel in erster Linie die Sachbearbeiter*innen bei ihrer täglichen Arbeit, zu unterstützen. Der Leitfaden soll »als Instrument für die Selbstevaluierung und die Qualitätsüberwachung betrachtet werden« (EASO 2014: 5) »Mit kleinen Anpassungen kann es als Instrument für die Qualitätsbewertung eingesetzt werden« (ebenda). »Der Leitfaden umfasst drei miteinander verknüpfte Ebenen. Die erste Ebene ist eine Checkliste, die einen ersten Überblick über die wichtigen Elemente in den einzelnen Phasen bietet, von der Vorbereitung auf die persönliche Anhörung bis zum Abschluss der Anhörung und dem Aspekt, sich Zeit zur Selbstreflexion zu nehmen. Die zweite Ebene umfasst kurze Erläuterungen, die nähere Informationen zu den einzelnen Elementen der Checkliste liefern. Die dritte Ebene umfasst Verweise auf internationale und nationale Instrumente sowie Instrumente der Europäischen Union, die in den Erläuterungen genannt werden«. (Ebenda:6) Der Leitfaden hat post und ex Funktion. Post als Checkliste und ex, weil der Sachbearbeiter diesen Praxisleitfaden nutzen kann, um zu evaluieren, wie er die Anhörung durchgeführt hat. (vgl. ebenda: 26).

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Die Anhörung im Asylverfahren

seine eigenen Vorurteile zu hinterfragen und auch zu gucken, wie reagiert ein Flüchtling auf so eine Situation, in eine Behörde zu kommen, und zunächst mal davon auszugehen, dass es erst mal so nicht Wohlwollen sage ich mal, und Misstrauen«. (EInterview: Steer). Trotz der einheitlichen Vorgaben, der einheitlichen Schulungsprogramme und der praxisorientierten Handlungsempfehlungen und Anforderungen, an denen sich alle Entscheider*innen orientieren sollen, zeigen sich Unterschiede in der Anhörungspraxis, wie in der Fallbeispielen zu sehen sein wird. Die Handlungsempfehlungen können als Anhaltspunkte für eine gute und faire Anhörungsführung gelten, aber Anhörungskompetenz ist auch eine Frage der Übung und des guten Willens, die Arbeit gewissenhaft durchzuführen. Die Kompetenz für die Anhörung kann nicht bis ins letzte Detail vermittelt werden, sondern kann mit der Erfahrung wachsen und selbst angeeignet werden. Schulungen und Training können nur das Handwerk dafür liefern, wie es der Trainer in einem Interview zum Ausdruck bringt: »…dass man halt dann den neuen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen das nötige Handwerkszeug an die Hand gibt und im Idealfall ein paar Best Practices vermittelt äh und eben nicht ähm ähm Methoden arbeitet, die vielleicht auch nicht mehr dem Leitbild des Amtes entsprechen« (Entscheider/in und Trainer/in Gabriel, Z. 637-642 und Mayer Z.228-237 in Schneider & Wottrich 2017: 104). In diesem Abschnitt wurden die behördlichen Vorgaben und Anforderungen an die Entscheider*innen aus verschiedenen (juristischen, administrativen, praxisorientierte) Anweisungen und Quellen sichtbar gemacht. Diese werden als mittelbare, d.h. unsichtbare Akteure der Anhörung erfasst, weil die Entscheider*innen die Anhörung danach gestalten sollen. Im Folgenden werden die unsichtbaren Akteure*innen, auf der Seite der Antragsteller*innen, dargestellt.

9.1.2

Beratungsstellen für Asylbewerber*innen

Es gibt mehrere Beratungsstellen, die ehrenamtlich den Asylbewerber*innen bei der Organisation des Asylverfahrens helfen.9 Vor der Anhörung können die Asylsuchende durch die Vorbereitung auf die Anhörung selbst einen Beitrag dazu leisten, eine bessere Darstellungstechnik der Fluchtgründe kennenzulernen.10 Sie können im Vorfeld in den Beratungsstellen Unsicherheiten klären, Fragen stellen und hilfreiche Hinweise für das individuelle Verfahren erhalten. Die Mitarbeiter*innen der Asylberatung bieten Unterstützung im laufenden Asylverfahren und bei Anhörungsvorbereitungen an, des Weiteren begleiten sie auf Wunsch zur Anhörung. Sie wirken indirekt in die Anhörung

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In Hamburg können »Fluchtpunkt«, »Café-Exil«, »Flüchtlingsrat« und »das Flüchtlingszentrum Hamburg« als Beispiele neben anderen genannt werden. Meiner Erfahrung nach befolgen die Antragsteller*innen in der Anhörungssituation nicht immer die Hinweise, die sie in der Beratung erhalten. Entweder vergessen sie diese, weil die Situation für sie zu stressbeladen ist oder weil Erzählweise und Darstellungsvermögen Kompetenzen darstellen, die nicht in einem Beratungsgespräch vermittelt werden können.

9. Anhörungssetting

hinein, indem sie bei der Anhörungsvorbereitung die Antragsteller*innen über die Anhörungssituation in Kenntnis setzen. Die Antragsteller*innen bringen oft eine lange Fluchtgeschichte mit, in die sie nicht allein involviert sind, sondern die auch Schicksale mehrerer Familienmitglieder umfasst, welche aus Sicht der Antragsteller*innen erwähnenswert sind. Sie neigen dazu – was ich aus eigenen Erfahrung bestätigen kann – die ganze Geschichte in die Länge zu ziehen, die allgemeine konfliktbeladene Situation in den Heimatländern zu schildern, um zu verdeutlichen, dass man unter den dort herrschenden politischen und sozialen Bedingungen nicht leben kann. Erzählt der/die Antragsteller*in in der Anhörung von seiner/ihrer Geschichte mit allen Details, kann es zur Ungeduld bei dem/der Anhörenden kommen. Die Geschichte kann allein dadurch als ungenau und zu allgemein bewertet werden. In solchen Fällen ist die Beratung dahingehend wirksam, die Antragsteller*innen darauf vorzubereiten, dass sie in der Anhörung nicht ihre eigene Fluchtgeschichte mit der allgemeinen politischen Lage im Land und mit den Erlebnissen ihrer Familienmitglieder vermischen. Ein/Eine Asylbewerber*in lernt in der Beratung, dass er/sie in der Anhörung in erster Linie »egozentrisch« sein muss: seine/ihre Geschichte bzw. sein/ihr Schicksal ist in den Vordergrund zu stellen und seine/ihre persönliche Verfolgungsgefahr, unabhängig von allen weiteren Personen und von Nebenereignissen zu schildern. U. a empfehlen die Anwälte/Anwältinnen den Antragsteller*innen die »Ich-Form« bei der Erzählung zu verwenden, anstatt die kollektiven Pronomen »Wir« und »Sie«. Ihnen wird empfohlen konkrete Fälle zu benennen, die eindeutig zeigen, dass das eigene Leben in Gefahr ist. Für die Anhörung sind nicht die vielen Ereignisse, auch wenn sie alle so abgelaufen sind und alle auf Lebensgefahr des/der Asylbewerbers*in hindeuten, entscheidend, sondern konkrete nachvollziehbare Fälle: »Ich hatte hier einen Rechtanwalt als Mandanten […] Als Anwalt ist man gewöhnt, viel zu reden, ja und zu erzählen. Das hatte er auch bei mir auch so gemacht. Ich konnte ihm, Gott sei Dank, in der Vorbereitung klarmachen: Pass auf, wir erzählen nur drei Fälle. Das reicht. Aber die erzählen wir so, dass man die nachvollziehen kann und dann funktioniert es auch. Wenn er in der Anhörung gegangen wäre, so wie er bei mir geredet hat, dann hätte man gesagt, ich verstehe gar nichts, was willst Du eigentlich. Natürlich ist so ein Mensch voll mit Sachen und das sprudelt aus ihm raus und dann trifft man auf jemand, der nur eine Stunde Zeit hat und irgendwas daraus machen soll. Das geht dann schief«. (E-Interview: Steer). In einigen Beratungsstellen werden den Asylbewerber*innen die vier Schutzkategorien erklärt. Zusammenfassend kann gesagt werden: die Antragsteller*innen können durch Informationen in den Beratungsstellen den institutionellen Wissensvorsprung minimieren, in Bezug auf das, was sie im Anhörungsgespräch erwartet.

9.1.3

Äußerlicher Einfluss durch mediale Berichterstattung und politische Debatten

Neben den zwei erwähnten unsichtbaren Akteure*innen kann ein dritter unsichtbaren Akteur identifiziert werden, nämlich die politischen Diskussionen über die Asylverfahren und Flüchtlinge. Hinzu kommen negative wie auch positive Darstellungen

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94

Die Anhörung im Asylverfahren

in der öffentlichen und politischen Berichterstattung, bezüglich der einen oder anderen Flüchtlingsgruppe, ebenso über die Anerkennungsquote, die das Bundesamt erreichen soll. Die Anhörungsführung hängt von Fragen ab, wie: Welche verwaltungsinternen Handlungsziele herrschen im Bundesamt vor? Inwieweit greift die politische und administrative Führungsebene in der Gesprächsführung ein? Die Verfolgung der Fragen und genannte äußere Einflüsse, die eigentlich mit den Entscheider*innen und den Antragsteller*innen nichts zu tun haben sollen, beeinflussen der Anhörungsatmosphäre mittelbar. Es ist eine Tatsache, dass je nach der politischen Ausgangslage des Asylmissbrauchs politisch und medial künstlich bearbeitet wird, gerät die Asylbehörde unter Rechtfertigungszwang (vgl. Marx 2004: 75). Dies hat einen Einfluss auf die Anhörungsalltagspraxis insofern, da »das Ergebnis in seiner Gesamtheit, die Anerkennungsquoten, politisch instrumentalisiert wird. […] Es ist nicht auszuschließen, dass eigene negativen Erfahrungen, sowie nicht reflektierten verallgemeinerten Überzeugungsgewissheiten zu folgen, zumal diese scheinbar durch die öffentliche Berichterstattung über den Asylmissbrauch bekräftigt werden. Da die Beweiswürdigung nur begrenzt überprüfbar ist, verfestigt sich so das allgemeine Vorurteil, dass das Asylverfahren nahezu ausschließlich durch Antragsteller ohne legitime Fluchtgründe missbraucht wird.« (E-Interview: Schmitz). Die Entscheider*innen sind bei der Befragung nicht nur an administrative behördliche Vorgaben gebunden, sondern orientieren sich auch an Anerkennungsquoten und Handlungszielen des Bundesamts, das sich wiederum an politischen Berichten orientiert: »Der Bericht vom Außenministerium hat starken Einfluss auf die Anhörung« (ebenda) und auf die Entscheidung: »Syrer-Bescheide gehen schnell, Roma-Bescheide auch, nur in die andere Richtung. Die Außenstellen arbeiten mit Textbausteinen aus der Zentrale, wo Experten für Syrien oder den Westbalkan sitzen. Die werten Lageberichte der deutschen Botschaften aus, des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, auch von Pro Asyl oder Amnesty International. Nürnberg gibt damit die Richtung vor: Ob Syrer die Chance haben, auch im eigenen Land eine sichere Zuflucht zu finden – zurzeit nicht. Oder ob Roma in Serbien grundsätzlich schikaniert, sogar verfolgt werden und der Staat das geschehen lässt, gar fördert – aus Sicht des Bamf ein doppeltes Nein.« (Spiegel-Online- 07.04.2014).11 Ein ostensives Beispiel dafür, dass öffentliche Diskussionen und die darauffolgenden politischen Vorgaben über Flüchtlinge die Anhörung prägen, ist im Vorfall von Silvester 2015 in Köln zu erkennen: »Oder was man feststellen konnte, die öffentlichen Diskussionen, wie nach dem Vorfall Silvester in Köln, wo massiv nach Flüchtlingen aus Nordafrika pauschal gehetzt wurde. Das wurde umgesetzt im Verfahren beim Bundesamt, das gesagt wurde, wir ziehen diese ganzen Verfahren vor. Es gab Anfang des Jahres sehr viele Anhörungen

11

Spiegel-Online- (07.04.2014) von Jürgen Dahlkamp: Flüchtlinge: Im Vorzimmer. Sie heißen Entscheider, und sie entscheiden Schicksale: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-126427241.html (29.05.2017).

9. Anhörungssetting

für Flüchtlinge aus Nordafrika, allein dadurch war es schon die Situation […] es gab die politischen Vorgaben, über diese Anträge möglich schnell zu entscheiden, um die Leute auch schnell abschieben zu können« (E-Interview: Steer). Neben dem politischen Diskurs über Flüchtlinge im Allgemeinen sowie über Flüchtlinge aus bestimmten Regionen und die mediale positive oder negative Berichterstattung prägen auch eigenen Erfahrungen der Entscheider*innen die Anhörung: »Anhörer, die Asylanträge bearbeiten aus Ländern, aus denen eher Flüchtlinge aus wirtschaftlichen Gründen kommen, die also keine politischen Gründe haben. Da prägt sich ein bestimmtes Bild ein, was sich in Vorurteilen […] meinetwegen Antragsteller aus Ägypten machen falsche Angaben. Das prägt natürlich auch dann eine Anhörung.« (EInterview: Steer). Dass sich nicht alle Entscheider*innen gleichermaßen von der politischen Lage beeinflussen lassen, sprechen Anwälte an: »Der Einfluss der politischen Lage auf eine Anhörung hängt natürlich davon ab, wie souverän ein Anhörer ist, wie stark er durch politische Diskussionen oder eigene Erfahrung beeinflusst ist.« (E-Interview: Steer). Die Entscheider*innen, die sich eine Souveränität bewahren und sich über die Länderleitsätze der Zentrale hinwegsetzen und sich durch politische Berichte bei ihrer Entscheidung über den Asylantrag nicht beeinflussen lassen, stehen unter Rechtfertigungszwang und müssen ihre Entscheidung gut begründen: »[die Asylentscheider*innen] können sich über solche Länderleitsätze der Zentrale hinwegsetzen. Sie müssen das gut begründen, das kommt »vielleicht drei-, viermal im Jahr« vor, sagt [die Entscheiderin]. Grundsätzlich aber sollen die Leitplanken verhindern, dass das System ausfranst und die Asylchancen davon abhängen, wo ein Bewerber landet, bei welchem Entscheider.« (Entscheiderin-Interview im Spiegelonline 07.04.2014). Das Handeln der Entscheider*innen gegen Leitsätze ist keineswegs rechtswidrig oder ein Verstoß gegen die behördlichen Vorgaben, sondern liegt in dem den Entscheider*innen erlaubten Ermessensspielraum, die ihr Handeln gegen bestimmte Erwartungen zulassen. Von ihnen wird jedoch eine Begründung für solche Entscheidung abverlangt: »Trotz der Herkunftsländerleitsätze und Dienstanweisungen stehen dem Entscheider über den Asylantrag Ermessensspielräume zu. Deswegen kann auch unabhängig von den Vorgaben eine andere Entscheidung getroffen werden, wenn sie gut und ausführlich begründet ist. Wenn ich die vorlege und sage in diesem Fall musste ich so entscheiden, würde die Zentrale sicherlich dem zustimmen. Es muss nur, äh, es muss halt gut begründet sein.«12

12

Radio-Interview mit Entscheiderin, Sendung SWR2 Tandem vom 26.11.2015, 10:05 Uhr.

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Die Anhörung im Asylverfahren

Nicht alle Entscheider*innen tun sich den Rechtfertigungszwang an, deshalb halten sie sich an die Kriterien und Handlungsziele des Bundesamts, weil sie damit auf der sicheren Seite sind: »Das ganze Anhörungsgespräch und Entscheidung bestehen eigentlich nur aus Textbausteinen, aus Einschätzungen, die im Bundesministerium beschlossen wurden. Der Entscheider muss sich bei der Entscheidung auf der sicheren Seite sein, laut seiner Vorgaben und Kriterien handeln.« (E-Interview: Schmitz). Dass die politische Lage (Krieg vs. kein Krieg) keine Wirkung auf das Leben der Menschen in Herkunftsländern, wie Afghanistan, aber jedoch auf die Berichte vom Außenministerium und somit auch auf die Anhörung hat, betont ein Anwalt in einem E-Interview: »Von der Situation her ist das -ich war selbst in Afghanistan gewesen- natürlich kein akuter Bürgerkrieg, aber für die Lebensmöglichkeit des größten Teils der Leute, die hierherkommen macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob sie politisch verfolgt sind oder nicht. Aber politisch haben sie hier keine Grundlage und werden so in der Anhörung wahrgenommen.« (E-Interview Schmitz). Hingegen werden Menschen aus Kriegsgebieten in politischen Diskussionen und in der Anhörung als Asylberechtigte wahrgenommen: »Experten fordern, Flüchtlinge aus Syrien, Eritrea und Somalia kollektiv in der EU aufzunehmen – ihre Anträge werden zu über 90 Prozent anerkannt. Doch noch entscheiden die Beamten des Bundesamtes über jeden einzelnen Fall.« (die Welt Online 28.2.2015).13 Solche positiven Wahrnehmungen beeinflussen die Anhörung. Die Antragsteller*innen fühlen sich angenommen und die Anhörenden müssen nicht großartig begründen, warum sie dieser Gruppen von Geflüchteten Asylrecht gewähren. Mediale Berichterstattung und ihre Einflüsse auf die Antragsteller*innen Nicht allein die Entscheider*innen werden durch die öffentliche Diskussion über Asylverfahren beeinflusst, sondern auch die Antragsteller*innen: »Wenn so eine bestimmte [politische] Vorgabe ist, dann prägt es auch die Anhörungssituation, wobei es auch natürlich gegenseitig ist. Die Anhörer haben einen bestimmten politischen Hintergrund, was sie von der öffentlichen Diskussion mitbekommen haben. Die Flüchtlinge bekommen es genauso mit oder erleben es sogar stärker, wenn man von vorne rein weiß: »Dir glaube ich sowieso nicht«, was Verunsicherung bedeutet.« (E-Interview Steer). Die Asylbewerber*innen stehen im Austausch mit ihren Berater*innen in den Beratungsstellen, mit Landsleuten und mit anderen Antragsteller*innen. Auch wenn sie die 13

Welt-Politik Online (25.05.2015) von Freia Peters: Diese Frau sagt, wer in Deutschland Asyl erhält https://www.welt.de/politik/deutschland/article141422110/Diese-Frau-sagt-wer-in-Deutschla nd-Asyl-erhaelt.html (27.05.2017).

9. Anhörungssetting

deutsche Sprache nicht verstehen, bekommen sie vieles mit, was über sie berichtet wird. Sie beschäftigen sich damit, wie die Chancen für Antragsteller*innen aus bestimmten Ländern sind; unabhängig von ihren persönlichen Asylgründen, »was nicht immer richtig ist.« (Ebenda) Ein weiteres Beispiel, dass das Dilemma der politischen Lage und ihren Einfluss auf die Anhörung verdeutlicht, ist der Vorschlag des Innenministers Thomas de Maizière, Flüchtlinge in verschiedene Klassen einzuteilen: »1. Flüchtlinge, die eine gute Chance haben. Und zwar auf Asyl. 2. Und Flüchtlinge, die eine schlechte Chance haben. Und zwar auf Asyl. Der Plan ist: Die Menschen aus der 2. Klasse keinen Antrag stellen dürfen. Sie sollen direkt zurückgeschickt werden« (zitiert in Scherschel 2015:129). Diese Außenfacetten beeinflussen nicht nur Anhörungsverläufe, sondern auch die Entscheidung von geflüchteten Menschen überhaupt einen Asylantrag zu stellen: »Ich kam mit meinem Freund A. aus Marokko zusammen. Wir wollten einen Asylantrag stellen. Er hat es gemacht, ich nicht, weil ich weiß, dass ich keine Chance habe. Leute aus Marokko, Ägypten, Algerien, ja diese Länder, Du weißt was ich meine, haben keine Chance […] das steht in Zeitungen und Nachrichten und so« (Interview 23). Dass der Interviewte hier kein Einzelfall ist, der sich aufgrund Vermutungen und Interpretation der politischen Lage hinsichtlich der Flüchtlingsproblematik, gegen das Stellen eines Asylantrags entschlossen hat, kann man aus der kommenden Frage an den deutschen Bundestag 18/6860 (2015:21) entnehmen: »Wie viele der registrierten Asylsuchenden ungefähr melden sich nach den Erfahrungen fachkundiger Bediensteter später nicht als Asylantragsteller, und welche möglichen Gründe gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung hierfür?« Auf der Frage antwortet der Deutsche Bundestag wie folgt: »In etwa jedem zehnten Fall kommt ein Asylbegehrender, der im EASY-System (System zur Erstverteilung von Asylsuchenden) registriert wurde, nicht in der Erstaufnahmeeinrichtung an, die im Rahmen der Verteilung auf die Bundesländer vorgesehen war. In wie vielen Fällen es in der Folge zu weiteren Entscheidungen kommt, keinen Asylantrag zu stellen, ist jedoch nicht zu ermitteln. Denkbare Gründe hierfür könnten z.B. Rückreisen in das Heimatland, Weiterreisen in einen anderen Staat oder das Untertauchen in die Illegalität sein. Bezogen auf die Verteilung im Rahmen des EASYSystems könnten auch Mehrfachanträge eine Rolle spielen. Eine Verifizierung ist hier aber bereits deshalb nicht möglich, da im EASY-System keine personenbezogenen Daten gespeichert werden.« (Ebenda) Ungefähr 10 % der registrierten Asylbegehrenden entscheiden sich dagegen, einen Asylantrag zu stellen. Zu dieser Entscheidung trägt der eben erwähnte Grund mit Sicherheit bei, was anhand der Interviewdaten ersichtlich geworden ist. Nach der Darstellung des unsichtbaren Settings wird im kommenden Abschnitt das unmittelbare, lokale Setting beschrieben, das aus drei Personen (Asylbewerber*in, Dolmetscher*in und Entscheider*in) besteht.

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Die Anhörung im Asylverfahren

9.2

Unmittelbares Anhörungssetting

In einem Raum im Bundesamt sitzen drei Personen, die das lokale Setting der sozialen Situation ›Anhörung‹ ausmachen: Der/die Anhörende, der/die Antragsteller*in gegenüber, dazwischen ist ein Schreibtisch, worauf sich ein Computer, Wassergefäß, Plastikbecher und Taschentücher befinden. Neben dem/der Antragsteller*in befindet sich ein*e Dolmetscher*in, beide sitzen nebeneinander und blicken in Richtung des/der Anhörenden, so dass er/sie zu den beiden direkten Augenkontakt haben kann. Im Vergleich zu den Asylbewerber*innen, deren Anhörungsverfahren darauf gelenkt ist, sie zu persönlichen Angelegenheiten detailliert zu befragen, genießt der/die Entscheider*in »den Schutz legitimer Unpersönlichkeit« (Luhmann 1969: 97). Anhand dieser Differenzierung des Ausgangspunktes der Akteur*innen kann festgehalten werden, dass beide Akteur*innen unterschiedliche Rollen und Spielräume haben: Der/Die Entscheider*in fragt und der/die Asylbewerber*in hat zu antworten. In den Fallanalysen wird gezeigt, dass diverse Antragsteller*innen sich dieser festgelegten Rollenverteilung entziehen.

9.2.1

Entscheider*in

»Meine Entscheidung heißt zwar nicht ›Leben oder Tod?‹ Aber meine Entscheidung heißt ›Schutzgewährung oder nicht‹ und wenn ich zu dem Punkt komme ›keine Schutzgewährung‹, dann komme ich in vielen Fällen zu dem Punkt: ›Ausreiseaufforderung‹ bzw. Abschiebungsandrohung‹. Und [dass] dann, wenn ich die falsche Entscheidung treffe, schicksalhafte Auswirkungen haben kann, dessen muss ich mir bewusst sein.«14 Die Funktionalität einer Verwaltung hängt vom Personal ab, denn alle Organisationsprozesse in Verwaltungen (oben Vorgaben, Leitsätze usw.) werden und müssen von Menschen durchgeführt werden. Ein Mensch, der behördlich funktionale Erfordernisse erfüllt, wird aus Sicht der Verwaltungsrechtswissenschaft als »Organwalter*in« bezeichnet, dessen Handlungen durch die gesetzliche Determinierung (Außensteuerung) und Entmaterialisierung zum juristischen Konstrukt entpersonalisiert sind (vgl. Wimmer 2004: 224). Im Bundesamt, bzw. in der Anhörung ist der/die Entscheider*in der »Organwalter«*in, der/die allein nach den oben erwähnten Vorgaben (K. 9.1.1) die Anhörung durchführt. Er/Sie wird zwar durch maschinelle, vorgeschriebene Leitlinien und durch Informationen unterstützt, aber letztendlich muss er/sie die Anhörung selbst, mit seiner/ihrer interaktiven Beteiligung und entsprechendem Fingerspitzengefühl, durchführen. Der Verlauf der Anhörungsdynamik hängt von ihm/ihre und von Antragsteller*in gemeinsam ab. Die Anhörungssteuerung und Entscheidung hingegen hängen allein von dem/der Anhörer*in ab. Der/Die Entscheider*in hat somit die Schlüsselposition in der Anhörung inne. Er/Sie hat die Aufgabe, die Anhörung »loyal sowie verständnisvoll« (NVwz 1996, 678) zu führen und all die oben aufgeführten (und weitere nicht genannten) Anforderungen bei

14

84Süddeutsche Zeitung Online (05.03.2015) von Anna Fischhaber: Entscheider für Asylverfahren »Im Zweifel entscheide ich wohlwollend« verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/panoram a/entscheider-fuer-asylverfahren-im-zweifel-entscheide-ich-wohlwollend-1.2370326. (01.04.2017)

9. Anhörungssetting

der Anhörungsdurchführung zu berücksichtigen. Die Anhörungsdurchführung unter diesen Anforderungen und unter weiteren Bedingungen, die weiter unten genannt werden, ist jedoch nicht jedem zuträglich: »Es ist schwierig, genügend Personal für diese Tätigkeit zu finden. Es ist eine herausfordernde Arbeit, sie liegt nicht jedem Menschen, man muss dafür auch gewisse Qualitäten sozusagen in sich haben und man muss in der Lage sein, damit umzugehen.«15 Die Entscheider*innen sehen die Antragsteller*innen zum ersten und letzten Mal in der Anhörungssitzung. Sie können vorher nicht antizipieren, mit wem sie es zu tun haben. Eine begrenzte Vorbereitung auf die Anhörung kann erfolgen, indem sie die Asylbewerberakte durchlesen und Notizen machen, wonach sie wahrscheinlich fragen werden. Dieser Akte liegt ein Protokoll mit den Asylbewerberangaben in der ersten Aufnahme bei. In ihr sind die Personalien und kurze Fragen und Antworten zum Reiseweg erfasst. Durch das Einlesen ins Protokoll und die Recherche über die politische Lage im Herkunftsland können sich die Anhörer*innen ein Bild machen, wie das Gespräch geführt werden soll. Im Vorfeld können nur wenige konkrete Fragen vorbereitet werden, weil die Fragen erst nach der Erzählung der Fluchtgeschichte bzw. aus ihr selbst generiert werden können.16 Die Vorbereitungsmaßnahmen lassen sich leichter konzipieren, wenn es beispielsweise darum geht, mehrere Familienmitglieder anzuhören. Die Protokolle der zuerst angehörten Familienmitglieder können studiert werden und als Vergleichsfolie für die Anhörungen aller anderen Asylbewerber*innen aus der gleichen Familie herangezogen. Daraus werden Fragenschwerpunkte für den/die nächste/n Asylbewerber*in abgeleitet. Der/Die Entscheider*in musste bis zum Jahr 2014 Beamter des gehobenen Dienstes oder Angestellter in vergleichbarer Position sein. Es sind Personen mit einer Verwaltungslaufbahn oder sie haben juristische Studiengänge durchlaufen. (vgl. E-Interview: Egor; ebenso Entscheider-Trainer Interview s. unten). Der/Die Entscheider*in war weisungsungebundene Bedienstete, der/die die Anhörung durchführte und über den einzelnen Asylantrag selbst entschieden hat (vgl. Marx. 2003: 46). Mit der Vielzahl von Asylanträgen wurden die Einstellungsvoraussetzungen sowie die Arbeitsweise für Entscheider*innen verändert: »Bis vor wenigen Monaten galt noch als Voraussetzung das erfolgreiche Studium an einer Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und damit die so genannte »Laufbahnbefähigung für den gehobenen Dienst in der Bundesverwaltung«. Das gilt natürlich

15 16

Interview mit Trainer für Entscheider in Deutschland Radiokultur, Sendung SWR2 Tandem vom 26.11.2015, 10:05 Uhr. Affolter (2017) findet in ihrer Untersuchung zur »Herstellung von Entscheidungswissen in einer Schweizer Asylbehörde« heraus, dass verschiedene Entscheider*innen schon im Vorfeld das Ende des Falls zumindest vermuten können und darauf das Gespräch richten: »Der Fall endete damit so, wie es Benard schon beim Lesen des BzP-Protokolls vermutet hatte. Denn Benard waren bereits beim Lesen des Protokolls ein paar Unstimmigkeit aufgefallen. Wie dies üblich ist, hatte er die Anhörung deshalb in eine bestimmte Richtung vorbereitet und im Vorfeld Fragen notiert, von denen er glaubte, dass sie – sollte die Geschichte tatsächlich unglaubhaft sein – aktenkundige Widersprüche erzeugen würden. Letztlich ist genau das geschehen.« (164).

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Die Anhörung im Asylverfahren

auch für die Quereinsteiger aus der Bundesagentur für Arbeit, die gerade zahlreich die Behörde wechseln. Um diese dreimonatige Einarbeitung nach festgelegten Qualitätsstandards zu gestalten, hat das Bundesamt in seiner Zentrale in Nürnberg seit August dieses Jahres ein Jahr« veranschlagt.17 Seit 2015 können sich Quereinsteiger auf Stellenausschreibungen beim Bundesamt für die Entscheider*innentätigkeit bewerben und nach dreimonatigem Einarbeiten18 die Arbeit aufnehmen. Voraussetzung ist, dass sie einen Hochschulabschluss erworben haben. Aufgrund der großen Asylbewerberanzahl Ende 2014-Anfang 2015 hat das Bundesamt ihre innere Struktur verändert: unter anderen das Auseinanderfallen von Anhörer*innen und Entscheider*innen. Also derjenige, der über den Asylantrag entscheidet, ist nicht dieselbe Person, die den/die Antragsteller*in anhört. Diese scheinbare kleine Umstrukturierung führt zu erheblichen Veränderungen bezüglich der Entscheidungsbefugnis und der damit verbundenen Verantwortung. Die Trennung zwischen Anhörenden und Entscheider*innen führt zur Entpersonalisierung des Entscheidungsträgers, so dass die Verantwortung nicht nur bei dem/der eine*n Entscheider*in liegt, sondern beim Bundesamt. Denn nicht der/die Mitarbeiter*in X ist die entscheidende Person, sondern das Bundesamt. Es wird von Kritikern wie Pro Asyl (2014) bezweifelt, ob diese Praktiken (Trennung zwischen Anhörenden und Entscheider*innen) überhaupt noch die im Asylverfahrensgesetz normierte Pflicht des Bundesamtes entspricht »den Ausländer persönlich anzuhören« (§ 25 AsylG). Pro Asyl vertritt die Auffassung, dass die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Asylantragsteller*innen nur im direkten Dialog möglich ist,19 insbesondere wenn die Glaubwürdigkeit der Asylbewerber*innen zum wichtigen Referenzpunkt bei der Fallbearbeitung und bei der Entscheidung wird (vgl. K. V). In einem Experteninterview kritisiert der Anwalt die Trennung von Anhörer*innen und Entscheider*innen als das »radikalste Arbeitsbeschleunigungsprogramm, das in der bundesdeutschen Behörde verordnet wurde. Das offizielle Ziel für das Programm ist, dass die Beamten des Bundesamts den Berg von Asylanträgen, der sich in den vergangenen Jahren aufgetürmt hat, bis Mitte dieses Jahr (2016) abarbeiten sollen. Wichtig ist festzustellen, dass das Programm Unternehmensberater ausgedacht haben. Ob diese alle Unwägbarkeiten, die in der Anhörung auftreten, berücksichtigt haben, muss man sich an dieser Stelle fragen.« (E-Interview Egor).

17 18

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Radio-Interview mit Trainer für Entscheider, Sendung SWR2 Tandem vom 26.11.2015, 10:05 Uhr. Nach drei Monaten sollen die neuen Entscheider*innen eigenständig eine Anhörung durchführen und wissen, wie wirksam ihre Entscheidungen sind, so dass sie nur vom Gericht aufgehoben werden können. Die Einarbeitungsphase und die späteren Fortbildungen sind die einzigen institutionalisierten Formen des organisationalen Lernens im Bundesamt (vgl. Schneider & Wottrich 2017: 99). Pro Asyl führt Fehlentscheidungen beim Bundesamt zum Teil auf strukturelle Probleme, wie die personelle Trennung der »Anhörer*innen« und »Entscheider*innen« zurück. http://hessenschau.d e/gesellschaft/warum-immer-mehr-fluechtlinge-vor-gericht-ziehen-,asylklagen-gericht-100.html. (2.07.2017).

9. Anhörungssetting

In verschiedenen Fällen entscheiden die Anhörer*innen über den Antrag selbst. In anderen Fällen werden die »Niederschriften in Entscheidungszentren geschickt und dort entscheidet eine andere Person, die den/die Asylbewerber*in selbst nicht gesehen hat. Die Entscheider*innen arbeiten sich für die Entscheidung in die Akten und Protokolle des/der Anhörers*in ein und entscheiden dann allein aufgrund der Aktenlage, was mit den Prinzipen des Asylverfahrens nicht übereinstimmt« (E-Interview Egor). Die Gefahr fehlerhafter Beschlüsse könnte sich durch die Trennung von Anhörung und Entscheidung erhöhen,20 weil nur der/die Anhörer*in den erforderlichen Eindruck für die Beweiswürdigung direkt im persönlichen Kontakt gewinnt. Denn der persönliche Eindruck bezieht sich nicht nur auf die verbalen Aussagen des/der Asylsuchenden, sondern auch auf weitere Aspekte wie auf das non-verbales Verhalten während der Anhörung (vgl. Empfehlung für Glaubwürdigkeitsbeurteilung). Es gibt Anhörungsfälle, in denen immer noch Entscheider*innen und Anhörer*innen die gleichen Personen sind. Dabei handelt es sich »um Anträge von Antragstellern, die aus den so genannten priorisierten Ländern kommen« (E-Interview: Hagemann). Welche Länder dazu zählen, variiert je nach politischer Lage in den Herkunftsländern. Zurzeit gehören Syrien und die Westbalkanländer zu den priorisierten Ländern, weshalb die Anhörer*innen über die Asylanträge in der jeweiligen Außenstelle des BMAF selbst entscheiden.

9.2.1.1

Entscheider*in: Kontroverse Anforderungen

Die Anhörung ist einerseits von rechtlich administrativen Normen und bestimmten Fragetechniken geprägt, an denen sich die Anhörenden beim Anhörungsgespräch orientieren. Andererseits stehen die Anhörenden als Menschen ihres Gleichen gegenüber, befragen sie über ihre Schicksale und dennoch entscheiden sie über ihrer Zukunft. Diese Situation erfordert von den Entscheider*innen die Balance zwischen normierten Vorgaben, die für den Antragsteller*innen manchmal konfliktbeladen sein können (wie Fragen zu stellen, die für den/die Antragsteller*in unangenehm sein können oder die die Richtigkeit von Angaben hinterfragen). Entscheider*innen sind damit konfrontiert, das individuelle Vorbringen21 der Antragenden angesichts der diversen Praktiken der Generalisierung und Entpersonalisierung nicht aus den Augen zu verlieren (vgl. Dahlevik 2016: 198). Diese Balance lässt sich realisieren, wenn die Entscheider*innen über einen Ermessens- und Handlungsspielraum verfügen, die Anpassungsmöglichkeiten an die Situation des/der Antragenden ermöglichen. Selbst wenn die Entscheidung letzten Endes mit rechtlichen, administrativen und politischen Vorgaben übereinstimmen 20

21

Mich interessierte zu erfahren, ob die Trennung zwischen Anhörer*innen und Entscheider*innen aus juristischer Sicht legitim ist. Laut Nachfragen bei mehreren Anwälten ist diese Trennung rechtskräftig. Diese Legitimation lässt sich damit begründen, dass im Gesetz nicht vorgeschrieben ist, dass derjenige, der die Anhörung durchführt, auch derjenige sein muss, der über den Antrag entscheidet. Jedoch unstrittig bleibt, dass keine plausiblen Gründe für die Verfahrensweise eines zeitlichen Auseinanderfallens von Anhörung und Entscheidung ersichtlich sind, besonders weil der erforderliche Eindruck für die Beweiswürdigung direkt und persönlich gewonnen werden kann. Der Begriff »Vorbringen« ist im Asylverfahren mit den Begriffen »Fluchtgeschichte, und Fluchtereignisse, Sachvortrag und Verfolgungsereignisse« gleichzusetzen. Alle diese Begriffe beziehen sich auf die Asylgründe, die die Antragsteller*innen in der Anhörung geltend machen wollen.

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Die Anhörung im Asylverfahren

muss, müssen sich die beiden Aktant*innen(Asylsuchende und Anhörende) erst auf der menschlichen Ebene begegnen und in einem argumentativ reichen Interaktionsprozess ihre Ziele verfolgen. In diesem Moment steht der/die Anhörer*in allein vor den Fragen: Wie führe ich die Anhörung durch, so dass die gegensätzlichen Aspekte, wie ›loyal und verständnisvoll‹; ›Distanz und Empathie‹, ›objektive Ermittlungsinstanz und subjektive Situationsanpassung‹ ›nach Vorgaben handeln und Arbeitsroutine an der Situation anzupassen‹, ›vollständige Fluchtgeschichten anhören und nur asylrelevante Gründe abverlangen‹ usw. verbinden lassen. Inwieweit sind die administrativen und rechtlichen Vorgaben in der direkten Interaktion mit dem/der Antragsteller*in einsetzbar und wann sollte man davon bis zu welchem Maß abweichen? Wie stellt man dem/der Asylbewerber*in die Frage X, ohne dass er/sie sich persönlich angegriffen fühlt? Auf welche Art und Weise wird protokolliert, so dass die Entscheidungsbegründung aus dem Anhörungsprotokoll ablesbar wird und der rechtliche Bescheid für einen Dritten (z.B. vor Gericht) nachvollziehbar wird?22 Betrachtet man die individuellen Zugänge der Entscheider*innen einerseits und die theoretisch angelegten juristischen und behördlichen Anforderungen an den Entscheider*innen (s. oben) andererseits, lässt sich beobachten, dass die Entscheider*innen mit mehreren Problemlagen und dem Balancehalten zwischen kontroversen Anforderungen konfrontiert sind, wie die folgenden:23 (1) Die Kompatibilität von administrativen Vorgaben und Nutzung des Ermessens- und Handlungsspielraumes zu gewährleisten. (a) Balance zwischen Distanz und Empathie hinsichtlich menschlicher Schicksale. (b) Einhalten des objektiven Vorgehens als behördliche Ermittlungsinstanz und das Eingehen auf subjektives menschliches Leid. (2) Filterprozess, durch den die emotionsvollen Fluchtgeschichten tatsachenorientiert rekonstruiert, durch den Filtertrichter »asylrelevant« gefiltert und bewertet werden müssen, unter Berücksichtigung der Geschichte in ihrer Gesamtheit.

Zu (1): Die Entscheider*innen sind einerseits die Herrscher*innen über das Verfahren, die über eine gewisse freie Anhörungsgestaltung verfügen. Sie sind die Personen, die über den Antrag entscheiden oder die Grundlagen für die Entscheidung legen. Andererseits sind sie an behördliche und juristische Vorgaben gebunden, die das freie Handeln einschränken. Teilweise müssen die Entscheider*innen bestimmte Fragen in einer bestimmten Reihenfolge stellen, teilweise entscheiden sie über die Art und Weise und 22

23

Bei der Untersuchung des empirischen Materials in Hinblick auf der Bearbeitung der Fragen, lassen sich die Entscheider*innen unterscheiden: Manche halten sich an den Vorgaben fest und bearbeiten den Fragenkatalog (AP:3), wohingegen andere die Leitfäden gerade so als Anhörungsrahmen verwenden (AP: 4). Einige Entscheider*innen zeigen ihre Haltung, ersichtlich durch Aussagen, wie »die Entscheiderin war positiv« (A-Interview 8), während andere wie ein »Holzstock, der von sich Geräusche in Form von Fragen gibt und am PC schreibt« erscheinen (A-Interview 13). Dahlevik hat »vier ineinander verschränkte Spannungsfelder, die den Arbeitsalltag der EntscheiderInnen charakterisieren« (Dahlevik 2017:126) identifiziert. Dies sind »(1). Normierung vs. Handlungsspielraum, (2) Individualisierung vs. Generalisierung (3) Verantwortung vs. Distanzierung, (4) Eindeutigkeit bzw. (Bestimmtheit) vs. Ungewissheit« (ebenda).

9. Anhörungssetting

das Ausmaß der von ihnen gestellten Nachfragen. Sie müssen selbst entscheiden, ob sie »nachhaken« sollen oder ob es ihnen die von den Antragsteller*innen vorgelegten Informationen für eine Entscheidung ausreichen: »Aber man muss halt wissen, ob sie es wirklich erlebt haben […] teilweise merkt man schnell, dass es stimmt. Dann hake ich nicht mehr nach […]. Wenn es mir nicht glaubwürdig erscheint, dann hake ich nach, bis ich entweder genügend Argumente habe für meinen Entscheid, genügend Widersprüche oder bis er mich überzeugt hat, dass es noch stimmt.« (Interview A mit einer Entscheiderin zitiert in Afollter 2017: 156). Aus dem Zitat und weiteren Quellen oben wird ersichtlich, dass es den Entscheider*innen überlassen ist, so viele eigenständige Fragen zu stellen, bis sie die Information generieren, die sie für die Entscheidung benötigen. Es handelt also um eine Ermessensfrage, die sich von Entscheider*in zu Entscheider*in unterscheidet. Ein weiterer Aspekt, der die Ermessensspielräume bei der Anhörungsführung unverzichtbar macht, ist die große Bildung- und Kompetenzspanne zwischen den Antragsteller*innen, die eine einheitliche Anhörungspraxis unmöglich macht. Denn bei einer Anhörung muss trotz des einheitlichen Fragenkatalogs die Erzählkompetenz der einzelnen Antragstellenden berücksichtiget werden: »es sitzen hier auch Menschen, die Analphabeten sind und mit dem deutschen Rechtssystem überhaupt nichts anfangen können. Andere haben Schwierigkeiten, über ihre schrecklichen Erlebnisse zu sprechen […] so eine Verfolgungsgeschichte kann man natürlich nicht mit dem Holzhammer herausprügeln, man muss behutsam vorgehen:« (Entscheider-Interview: Youtube März 2015).24 Demzufolge wäre eine standardisierte Anhörung, die keinen Handlungsspielraum erlaubt, nicht geeignet, um den sehr unterschiedlichen Darlegungskompetenzen der Antragsteller*innen bezüglich ihrer Fluchtgründe gerecht zu werden. Deshalb sind die Entscheider*innen an administrative Vorgaben gebunden und verfügen gleichzeitig über Ermessens- und Handlungsspielraum,25 die die praktische Alltagsroutine erfordert. Eine Gefahr, die die Nutzung von Handlungsspielräumen der Entscheider*innen bergen könnte, findet sich unter anderem darin, dass die Asylbewerber*innen seitens der Institutionsvertreter*innen keine Gleichbehandlung erfahren. Dabei sollen die Vorgaben und die juristische Logik vor Willkür schützen: »[…] Wir erfassen hier einen Sachverhalt, wir prüfen, ob er richtig ist. Und ob er am Ende unter eine Schutzvorschrift fällt oder nicht. Hinter meinem Ja oder Nein steht immer ein »Weil«, das mich vor willkürlichen Entscheidungen schützt.« (Entscheiderin: Spiegel-Online 07.04.2014). 24

25

Süddeutsche Zeitung Online (05.03.2015) von Anna Fischhaber: Entscheider für Asylverfahren »Im Zweifel entscheide ich wohlwollend« verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/panorama/e ntscheider-fuer-asylverfahren-im-zweifel-entscheide-ich-wohlwollend-1.2370326. (01.04.2017) Zu den Handlungsspielräumen, die die Entscheider*innen haben, gehört selbst Entscheidungen zu treffen, wie die Wahl des Dolmetschers, die Entscheidung darüber, ob sie ein medizinisches oder linguistisches Gutachten benötigen. Falls ja, entscheiden sie selbst darüber, welchen Gutachter sie beauftragen wollen (vgl. Dahlevik 2014: 196).

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Die Anhörung im Asylverfahren

Wie die Entscheider*innen die Balance zwischen dem ihnen erlaubten freien Handeln und den ihnen auferlegten Vorgaben halten können, wird in den Fallbeispielen (K IV. 1 und IV. 2) ersichtlich. Zu. (1.a): Gegensätzliche Aufgabenstellungen, die zu Problemen durch Widersprüchlichkeit führen können: Einerseits muss der/die Entscheider*in dem/der Asylbewerber*in und seiner/ihrer persönlichen Problematik gegenüber empathisch sein, andererseits muss er/sie das Persönliche so abstrahieren, dass es ihm/ihr möglich wird, eine Entscheidung über den Asylantrag im Sinne des Asylgesetzes zu treffen. Er/Sie soll in der Lage sein, alle Information zu erfragen, die vielleicht für den/die Antragsteller*in mit schmerzhaften Erlebnissen verbunden sind, sie auf ihre Relevanz für die zu ergehende Entscheidung überprüfen (durch Nachfragen) und dabei den Antragsteller*innen nicht emotional strapazieren. Die Entscheider*innen tragen somit eine zweifache Anforderung als objektive Vermittlungsinstanz und als empathische Zuhörer*innen. Diese Anforderung erfordert ein hohes Maß an sozialer Kompetenz und professioneller Distanz gleichzeitig. Die Auswertung der empirischen Daten zeigt, wie sich die Anhörenden hinsichtlich dieses Dilemmas unterscheiden. Wie die Entscheider*innen damit umgehen, die »Balance zwischen Distanz und Empathie« zu wahren, kann man folgenden Berichten entnehmen. Einige Entscheider*innen werden von den menschlichen Schicksalen emotional betroffen und empfinden Mitleid: »Ich bin auf keinen böse, der mich belügt, die beiden [Ehepaar, das sie gerade angehört hat] haben nur versucht, ihr Leben zu verbessern. Im Grunde tun sie mir leid.« (Entscheiderin- Interview: Spiegel-Online 07.04.2014). Andere fühlen die Problematik nach, aber wahren die emotionale Distanz: »In Einzelfällen kommt es vor, dass mich ein Schicksal besonders mitnimmt. Aber es ist wichtig, dass ich stark bleibe« (Entscheiderin-Interview: Welt-online 28.2- 2015). Weitere folgen den Vorgaben und sehen den juristischen Rahmen als groß genug, um Menschen Asyl zu gewähren und erkennen ihre Aufgaben darin, über Fakten zu richten, aber nicht über Menschen. Gleichzeitig können sie Empathie während der Anhörung zeigen und sich aber bei der Entscheidung davon distanzieren: »Ich weiß schon, was ich mache […] ich schließe durch meine Entscheidung gewisse Menschen von einem Leben hier aus […] es gibt einen Schutzrahmen, sogar einen recht großen. Ich sehe meine Aufgabe darin, dass ich den Rahmen gerecht und fair ausnutze […] Emotionen sind nicht falsch in meinem Beruf, aber sie gehören in die Anhörung, nicht später in die Entscheidung.« (Entscheiderin- Interview in Spiegel-online 07.04.2014). Andere Entscheider*innen empfinden es als »sehr anstrengend« die Balance zwischen dem Aufrechterhalten der Verfahrensvorschriften und dem Nachfühlen in die Problematik des/der Antragenden zu wahren:

9. Anhörungssetting

»Natürlich habe ich solche Emotionen, aber die gehören hier nicht her. Wir sind im Verwaltungsverfahren an bestimmte Formalien gebunden […] Empathie ist fast das Wichtigste bei der Anhörung.« (Entscheider-Interview: YouTube vom 06.06 2015). Zu (1.b): Die Entscheider*in übernehmen in der Anhörung die Rolle der objektiven Ermittlungsinstanz. Sie müssen aus den vorgetragenen Leidensgeschichten objektiv und tatsachenorientiert die Fakten erfassen, deuten und in Schriftform (Akten) festhalten. Das Dilemma, in dem die Anhörer*innen sich in diesem Prozess befinden, lässt sich wie folgt verkürzt umschreiben: Ihrer Aufgabe nach müssen die Anhörenden einerseits objektiv alle institutions- und entscheidungsrelevanten Informationen aus dem Anhörungsgespräch gewinnen. Dabei folgen sie dem für die bürokratischen Institutionen generellen Prinzip der Aktenführung, die »eine Verdichtung von Informationen veranlasst, und zwar gemäß dem Bedürfnis der Institution nach »objektiver« Rekonstruktion in einer Weise, die prima facie deskriptiv, tatsachenorientiert ist.« (Gloy 1981: 108). Dies erfordert eine faktenorientierte Gesprächsführung, die darauf gerichtet ist, Informationen und Fakten zu generieren, die das Amt interessiert, andererseits sollen die Entscheider*innen sich auf die Perspektive der Antragsteller*innen einlassen, ihre Ängste und Hoffnungen verstehen und sich in ihre Lage versetzten (vgl. Dienstanweisung 2016 und EASO 2014). Schaffen die Anhörer*innen diese Balance in der Praxis zwischen den widersprüchlichen Anforderungen zu halten? Hier spielt die persönliche Befähigung der Entscheider*innen eine große Rolle. An dieser Stelle möchte ich einen Ausschnitt aus einem Begleiter-Interview einfügen, in dem der Befragte ein Beispiel erwähnt, welches diese Problematik veranschaulicht. Der Interviewte begleitete eine Antragstellerin zur Anhörung und erlebte folgende Szene: Der Entscheider fragte die Antragstellerin am Anfang der Anhörung nach der Adresse ihrer Eltern im Herkunftsland. Daraufhin erzählt sie: AB: Meine Mutter habe ich nicht richtig kennengelernt und meinen Vater haben die Taliban erschossen? B: Der Typ da fragte einfach so, ohne zu stutzen: A: Haben Sie selbst gesehen? AB: Ja, A: Dann beschreiben Sie den Vorfall genau, wie er wurde erschossen? Dem Begleiter ist bewusst, dass der Entscheider nur seiner Arbeitspflicht nachkommt, den Sachverhalt zu ermitteln. Er muss wissen, ob diese Begebenheit wirklich geschah. Gleichzeitig ist der Begleiter über die Art und Weise, wie der Entscheider fragt, empört und schlägt vor, wie diese Art von Fragen gestellt werden sollten: »[…] und dann denke was, wie kann man das jetzt so fragen. Ich weiß, es gehört natürlich dazu, das ist sein Job auch irgendwie, aber ich umkurve das auch so ein bisschen. Ich gucke dann einfach, dass ich es so verpacke, dass ich ihm kein volles Brett vor dem Gesicht haue und dann sage aha wie ist er denn erschossen worden. Sag mal wurde den

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Die Anhörung im Asylverfahren

Knall direkt am Kopf erhalten oder was. Das würden sie gerne erfahren26 , sie wollen jedes Detail haben und das Gleiche auch mit der Flucht […]« (B-Interview: Norbert). Betrachtet man solche Situationen mit »unsentimentalen Fragen« (ebenda), die im Korpus mehrfach angesprochen wurden, gehören sie seitens des Entscheiders zu den objektiven Ermittlungen, welche die Kernaufgaben der Entscheider*innen ›Sachverhaltsermittlung und die Überprüfung der Glaubwürdigkeit‹ ausmachen. Bei einer detaillierten Schilderung, die der Anhörer im Beispiel anfordert, könnten Unstimmigkeiten und Widersprüche auftauchen. Auf der Seite der Asylbewerberin, die den Tötungsfall des eigenen Vaters detailliert beschreiben muss, ist die Situation eine emotional schwierige Erfahrung, weil sie über eine zurückliegende traumatisierende Situation berichten muss und auf eine detaillierte Beschreibung nicht verzichten soll, um die Chance auf Asylgewährung zu erhöhen. Verzichtet die Antragstellerin auf eine ausführliche Beschreibung, muss der Entscheider nachfragen und demzufolge erscheint er unsensibel. Fragt er nicht nach, könnte der Antragstellerin die Ungenauigkeit der Angaben vorgeworfen werden und folglich könnte ihre Glaubwürdigkeit angezweifelt werden. Der gleiche Interviewte weist auf die Unterschiede bei den Entscheider*innen in solchen Situationen hin: »Bei der Frau, bei der wir es [die Anhörung] gemacht haben, die fand ich wesentlich besser, sie hatte es [sensible Fragen] eher so im Gespräch verpackt, ich hatte auch das Gefühl sie fühlt so ein bisschen mit, wenn die [Antragsteller] meinetwegen erzählen, dass der Vater irgendwie von Taliban erschossen […] guckt sie ins Gesicht und überlegt aha, mache ich jetzt eine Pause oder ich hake jetzt nicht direkt nach, […] die Frau hat es echt nett gemacht, sie hat in [einer Situation] es tut mir leid, so was halt.« (B-Interview: Norbert). Die Leidensgeschichten objektiv und als tatsachenorientierte Fakten zu erfassen, ohne den Antragsteller*innen zu nahe zu treten oder emotional zu belasten, lässt sich praktisch in wenigen Fällen realisieren. Zu (2): Die Entscheider*innen müssen die ihnen gegenüber vorgetragenen Fluchtgeschichten deuten, in tatsachenorientierte Angaben transformieren und diese durch den Filtertrichter »asylrelevant« sortieren, um eine Entscheidung über den Antrag zu treffen. Die Filterprozesse der Fluchtgeschichten vollziehen die Entscheider*innen stillschweigend (BP: 6) oder mit Einbezug des/der Asylbewerbers*in (BP:1; BP: 8). Dabei geht es um tragische Schicksale, emotionale Belastungen bis hin zu Traumatisierungen und persönliche Verluste, die innerhalb eines Gesprächs in den Kategorien »asylrelevant« und »asylirrelevant« klassifiziert werden. Das Problem, das bei diesem Vorgang entsteht, ist, dass wichtige Informationen verloren gehen können oder andere weniger wichtige Teile der Geschichte in den Vordergrund rücken, weil nicht alle Antragsteller*innen ihre Geschichte in asylrelevant und asylirrelevant klassifizieren können:

26

»Im Prinzip kann die Entscheiderin jeder Spur aus der Geschichte nachgehen. Der Sachverhalt muss gut entschlüsselt werden«. (Entscheiderin im Radio-Interview, Sendung SWR2 Tandem vom 26.11.2015)

9. Anhörungssetting

»It is too easily assumed that ›genuine refugees‹ are able to present all relevant details at once, while in fact they lack knowledge about the relevance of details for the decision.« (Doornbos 2005: 105). Für die Geflüchteten ist ihre Fluchtgeschichte ein Teil ihres Lebens. Für sie ist die Geschichte in ihrer Gesamtheit relevant. Ihnen fällt es daher oft schwer zu trennen, was asylrelevant ist und was aus Sicht der Behörden überflüssig ist: »Meine Eltern mussten ihre Stadt, in der sie aufgewachsen sind, gelebt, gearbeitet haben, meinetwegen verlassen. Das wollte ich in der Anhörung erzählen […] Ich habe von meiner Anwältin erfahren, dass das alles in der Anhörung nichts zu suchen hat. Es ist nicht asylrelevant.« (A-Interview 13) Einige Antragsteller*innen verlassen sich auf die Kompetenz der Institutionsvertreter*innen und vertrauen darauf, dass sie von ihnen angeregt werden, über die asylrelevanten Gründe zu sprechen, ohne wichtige Informationen außer Acht zu lassen: »Ich wollte noch über die allgemeine Lage im […] erzählen und über die Situation in meinem Wohnviertel. Die Angestellte da sagte: brauchen Sie nicht. […] Nachher denke ich, es war wichtig doch über die Lage in meinem Wohnviertel zu sprechen, damit sie weiß, nicht alle Viertel in Bagdad sind sicher.« (A-Interview 1) An dieser Stelle haben die Entscheider*innen die Aufgabe als vermittelnde Instanz die Kommunikation zu gestalten und zu lenken, mit den Antragsteller*innen in dieser sehr persönlichen Angelegenheit sachlich »institutionsgemäß«27 und »institutionsrelevant« (Welnz 1984: 32) zu kommunizieren und die Antragsteller*innen dazu zu bringen, die asylrelevanten Gründe in den Vordergrund zu stellen. Das Dilemma ergibt sich daraus, wie die Entscheider*innen diesen Filterprozess überhaupt gestalten kann: Einerseits sollen sie den Vorträgen der Asylbewerber*innen ohne Unterbrechung (s. oben) folgen und ihre Geschichte insgesamt (asylrelevant und -irrelevant) ernst nehmen; andererseits müssen sie die asylrelevanten Gründe herausfiltern. Bei dieser Aufgabenerledigung stoßen die Entscheider*innen in der Anhörungssituation auf zwei Schwierigkeiten: Die Entscheider*innen sind zum einen auf die Darstellungskompetenz der Antragstellers*innen angewiesen, die asylrelevanten Gründe in den Vordergrund stellen zu können ohne wesentliche Informationen zu übergehen; zum anderen müssen die Entscheider*innen sich auf ihre Fachkompetenz hinsichtlich der Einschätzung der Asylrelevanz verlassen können, was nicht immer gegeben ist, wie das Beispiel hier dokumentiert: »Zum Beispiel eine Mafia-Geschichte. Ist das asylrelevant oder nicht? […] der Staat ist nicht unbedingt schutzfähig und es steckt zwar kein Asylmotiv dahinter, aber [der Gesuchsteller] ist doch irgendwie einer Verfolgung ausgesetzt. Aber wenn du jetzt sagst,

27

Mit den Begriffen »institutionsgemäß« und »Institutionsrelevanz« verweist Wenzel (1984) auf die Fragwürdigkeit der »Institutionen unserer Gesellschaft. Nicht das Individuum mit seinen Problemen und Nöten interessiert hier, sondern die Verwaltung seiner Schwierigkeiten steht im Vordergrund.« (32).

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Die Anhörung im Asylverfahren

dass alles ist unglaubhaft, dann sicherst du dich doch irgendwie ab (Interview mit Entscheider R zitiert in Affolter 2017: 153) Das Zitat zeigt, dass der Anhörerin selbst nicht klar ist, ob die von ihr erzählte Geschichte asylrelevant ist oder nicht. Zusammengefasst: Was asylrelevant und -irrelevant ist, ist juristisch klar definiert. Jedoch dies in einem dreistündigen, gedolmetschten Gespräch über emotionsbeladene Fluchtgeschichten mit hundertprozentiger Sicherheit zu generieren, ohne dass relevante Informationen verloren gehen, ist mit Schwierigkeiten verbunden. Die Entscheider*innen sind verpflichtet, als Behördenangestellte mit ihren Handlungen die Zwecke der Behörde zu verfolgen, die wiederum auf gesetzlichen Vorschriften und Verordnungen beruhen. Somit sind sie einer großen Kontrolle durch Dienstanweisung, Leitsätze und Priorisierungsmaßnahmen unterworfen. Gleichzeitig wird von ihnen gefordert, sich in die Lage der Problematik der Antragstellers*innen hineinzuversetzen und die individuelle Verantwortung für die Gesprächsführung und Entscheidung (oder Vorentscheidung) zu übernehmen. Für diesen Zweck verfügen sie über Ermessen- und Handlungsspielräume bei der Anhörungsgestaltung und bei der Auslegung der erzählten Fluchtgeschichte. Die Anforderungen und Aufgabestellungen, die die Entscheider*innen in der Anhörung bewältigen, können wie folgt zusammengefasst werden: Die Entscheider*innen sollen zwischen der bürokratischen Handlungslogik (nach Vorgaben und Normen zu arbeiten) und der Komplexität der sozialen Welt der Antragsteller*innen balancieren. Dass sich dieses Axiom nicht leicht realisieren lässt und dass daraus mehrere Schwierigkeiten bezüglich des Einsatzes der geforderten Vorgehensweise entstehen, wurde anhand von vier Punkten gezeigt. Aus dem Prinzip, » ‫( « بضدها تعرف األشياء‬durch das Antonym von Dingen werden die sie (illustrativ) offenkundig)28 möchte ich an dieser Stelle der Frage nachgehen, ob die Entscheider*innen in allen europäischen Ländern ähnliche Handlungsspielräume bei der Anhörung haben, insbesondere dann, wenn es von den oben dargestellten europäischen Richtlinien ausgegangen wird. Im Folgenden wird, anhand eines Vergleichs zwischen Deutschland und Schweden hinsichtlich der Anhörungsdurchführung gezeigt, dass sich sowohl die individuellen Zugänge der Entscheider*innen als auch die Art und Weise der Anhörungsdurchführung in den europäischen Ländern unterscheiden. Auch während der empirischen Analyse wird an verschiedenen Stellen auf Unterschiede zwischen der Anhörung in Deutschland, Belgien und Österreich hingewiesen.

9.2.1.2

Anhörer*in in Deutschland im Vergleich zu Schweden

Die oben beschriebene individuelle Möglichkeit der Entscheider*innen bei der Gestaltung der Anhörung ist in Deutschland stärker ausgeprägt als in anderen europäischen 28

Das Prinzip » ‫ « بضدها تعرف األشياء‬ist ein arabisches epistemologisches wissensgenerierendes Prinzip und wird für die Herausbildung von Charakteristika von Phänomenen eingesetzt. Das Prinzip sagt aus, dass erst durch Kontrastierung eines Gegenstands mit ihrem Gegenteil die wesentlichen Merkmale des zu untersuchenden Gegenstands klarer werden. Das heißt durch die Kontrastierung steht nicht der Gegenstand, mit dem es kontrastiert wird im Mittelpunkt, sondern dient als Kontrast, um das zu untersuchenden Phänomen hervorzuheben. Die Übersetzung oben ist meine Übersetzung.

9. Anhörungssetting

Staaten, wie zum Beispiel Schweden. In Schweden erweitert sich das Anhörungssetting um eine*n Protokollanten und eine*n Rechtsberater*in, was automatisch eine gewisse Kontrolle herbeiführt. Die Aufgabe des/der Rechtsberaters*in liegt darin, den Asylsuchenden zu vertreten. Er/Sie hat während der Anhörung die Möglichkeit Fragen zu stellen und nach der Anhörung den Inhalt des Protokolls zu prüfen (vgl. Schneider & Wottrich 2017: 93). Abgesehen davon verständigt sich der/die Anhörer*in in Schweden, laut Schneider & Wottrich (2017) während und nach der Anhörung in einem eigens dafür eingerichteten Zeitfenster mit einem*r anderen Sachbearbeiter*in (Case Offices) darüber, worauf im weiteren Verlauf geachtet werden solle und welche Nachfragen gestellt werden sollten (vgl. Schneider & Wottrich 2017: 94).29 Im Vergleich zu Deutschland unterliegen die Anhörungen in Schweden einer höheren Beobachtbarkeit, ein »Mehr-Augen-Prinzip wird dort ermöglicht: »Die Beteiligung der verschiedenen Akteur*innen kann das Frageverhalten der Case-Officers, den konkreten Verlauf einer Anhörung und die Entstehung des Protokolls wesentlich beeinflussen« (Schneider & Wottrich 2017: 94), wodurch gleichzeitig weniger Handlungsspielräume für den einzelnen Anhörenden eingeräumt werden. Wenn der/die Anhörende nicht weiß, wie es weitergeht, welche Fragen bzw. Nachfragen gestellt werden sollten, um relevante Informationen für die Entscheidung zu generieren, unterbricht er/sie die Anhörung und hält Rücksprache mit anderen*r Kollegen*in oder mit dem/der Entscheidungsträger*in: »Then you always have a dialogue with the decision maker. That is important, that (6) that we take a break in the middle of the interview, when I go to the decision maker30 and kind of tell them that: this is what he said, this how I see is, the decision maker might say: you can ask a bit about this and a bit about that, and then you decide what further questions to ask, after the break, so you don`t miss anything out…«(case officer Petersson, Z. 514-524 zitiert in Schneider & Wottrich 2017: 95). Diese Unterbrechung zeigt einerseits die Verantwortung der Anhörenden für die Vollständigkeit des Sachverhaltes (»so you don‘t miss anything out«), die in der Anhörung ermittelt werden muss, da die Anhörung durch die Absprachen und Unterbrechung zu einem »Gegenstand von Reflexion und Aushandlung« (ebenda) wird. Andererseits deutet dies auf die Verantwortungsentlastung der Anhörenden hin: Es verdeutlicht die

29

30

Aus Sicht der befragte Case-Officer ist der kontinuierliche Austausch zwischen den Anhörer*innen und Entscheider*innen während der Anhörung ein geeignetes Instrument, um subjektive Entscheidungen zu vermeiden: »But it is (?) it is of course necessary if you want to have a wellfunctioning unit and you want to see the cases moving briskly, if they aren’t get stuck entirely, then you have to have the discussion, because after that I do a draft nut there is no point in me working on a draft that a decision maker perhaps doesn’t agree with. Instead we usually check it out, I mean we check it out with decision makers before the interview, during the interview, after the interview….« (Case Officers Forsberg Z. 608- zitiert in Schneider & Wottrich 2017: 96). In Schweden wird funktional zwischen Case-Officers und the decision maker differenziert. Während die Case Officers die Anhörung durchführen, das Protokoll erstellen und weitere Recherchen anstellen, tragen die decision maker die Verantwortung für die Entscheidung (vgl. Schneider & Wotrich 2017: 94). Sie befinden sich aber im gleichen Amt und kommunizieren während der Anhörung miteinander (vgl. ebenda).

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Die Anhörung im Asylverfahren

Entbindung von alleiniger Verantwortung und Kontrolle der Spielräume des/der Entscheiders*in. In Deutschland dagegen stellt die Anhörungssituation – anders als in Schweden – »einen Bereich der tendenziellen Nicht-Beobachtbarkeit« dar (Schneider & Wotrich 2017: 98). In Deutschland gilt das Prinzip des sich nicht Einmischens im dem, was Kollegen tun (vgl. Scheffer 2003: 421f.). Im Vergleich zu Schweden gibt es in Deutschland einen Austausch zwischen Entscheider*innen über eine Anhörung erst dann, wenn der/die Entscheider*in selbst darüber mit seinen/ihren Kolleg*innen sprechen möchte. In Deutschland findet also ein Austausch mit Arbeitskollegen über die Fallbearbeitung nur bei Bedarf statt, was auch nur ex post möglich ist. Auf der Basis der Anfertigung des Anhörungsprotokolls wird im Prozess der Entscheidungsfindung Rat eingeholt, diskutiert und das eigene Frageverhalten reflektiert, jedoch während der Anhörung trägt der Anhörende allein die Verantwortung dafür, die richtigen Fragen auf die richtige Art und Weise und die passenden Nachfragen im richtigen Moment zu stellen (vgl. Schneider& Wottrich 2017: 99; Radiointerview mit Entscheider-Trainer: SWR2, Tandem Do, 26.11.2015). Diese Verantwortungsübernahme für die Anhörung in Deutschland ist nicht allein den erfahrenen Entscheider*innen überlassen, sondern auch den neuen unerfahrenen Entscheider*innen. Nach dreimonatigem Training sollen die neuen Entscheider*innen eigenständig eine Anhörung durchführen und anschließend in einigen Fällen -wie Asylanträge aus priorisierten Ländern- allein darüber urteilen können, wem Asyl gewährt werden soll und wem nicht. Aus diesem nur kurzen Vergleich kann bereits festgehalten werden: Die Art und Weise, wie die Anhörung gestaltet wird, ist nicht in allen europäischen Ländern einheitlich. Die Entscheider*innen in Deutschland haben in der Anhörung mehr individuelle Gestaltungsmöglichkeiten und verfügen über mehr Handlungsspielräume, als ihren Kolleg*innen in Schweden zustehen. Dieses Vorgehen ist aber gleichwohl mit größerer Alleinverantwortung verbunden. In diesem Abschnitt wurde die Aufgabe und die damit verbundenen Problemfelder (s. oben) der Entscheider*innen deutlich und insbesondere eine Hauptzwangslage sichtbar: Die Balance zwischen der bürokratischen Handlungslogik (nach Vorgaben und Normen zu arbeiten) und die Komplexität der sozialen Welt der Antragsteller*innen zu wahren. Aus diesen Anforderungen wurde gezeigt, welche Schwierigkeiten die Entscheider*innen bei der Anhörungsdurchführung bewältigen müssen. Bevor der zweite Aktant »Asylbewerber*in« dargestellt wird, möchte ich eine Frage bezüglich der/des Entscheider*in beantworten. Kann jeder/jeder Entscheider*in jeden/jede Asylbewerber*in anhören? In der Regel ist jeder/jede Entscheider*in auf Asylbewerber*innen aus bestimmten Herkunftsländern spezialisiert. Spezialisierung ist »das Sonderwissen, der punktualisierte Sachverstand einzelner Organisationmitglieder; dadurch werden auch diffizile Problemlösungen ermöglicht.« (Wimmer 2004: 140). In der Anhörung bedeutet eine Spezialisierung, dass der/die Entscheider*in sich Detailwissen zur politischen und gesellschaftlichen Lage in bestimmten Ländern aneignen soll, mit denen er/sie Asylanträge bearbeitet. Dieses Sonderwissen wird durch Seminare, die das BAMF mit Fachleuten organisiert, zur Verfügung gestellt; zusätzlich wird es auch durch individuelles

9. Anhörungssetting

Aktenstudium erweitert, wie ein Entscheider*innenleiter in einem Radiointerview verdeutlicht: »Jede Entscheiderin und jeder Entscheider ist für bestimmte Herkunftsländer zuständig. Zu diesen Ländern werden sie regelmäßig geschult, ferner haben sie Zugriff auf interne Datenbanken mit Informationen zur aktuellen politischen Entwicklung. Zweifeln sie an bestimmten Angaben der Antragsteller, können sie diese auch durch die deutsche Botschaft vor Ort überprüfen lassen. Zwei bis drei Anhörungen pro Tag führt ein Entscheider normalerweise durch, in der Woche im Idealfall zwischen acht und zehn. Das Grundrecht auf Asyl garantiert jedem Flüchtling in Deutschland die individuelle und sorgfältige Prüfung seines Verfolgungsschicksals.« (Radiointerview mit Entscheider-Trainer: SWR 2). Als weitere Informationsquelle für die Erweiterung des Sonderwissens der Entscheider*innen gilt die Datenbank des BAMF, die Migrations-Info-Logistik (kurz MILo).31 Dort sind Fakten zu den unterschiedlichen Herkunftsländern dokumentiert. Durch diese Spezialisierung soll die Effizienz der Verwaltungseinheit erhöht werden (vgl. Raschauer & Kazda 1983: 156) und Ungewissheiten bei der Entscheidung minimiert werden. In diesem Kapitel wurde der/die Entscheider*in in seiner/ihrer Schlüsselposition bei der Anhörung dargestellt. Auf die administrativen und juristischen Vorgaben und die handlungspraktischen Empfehlungen für die Gesprächsführung wurde eingegangen. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Entscheider*innen in der Anhörung vor verschiedenen Dilemmata stehen und vier davon wurden ausführlich behandelt. Im kommenden Abschnitt wird nun der zweite Anhörungsaktant dargestellt: der/die Asylbewerber*in.

9.2.2

Asylbewerber*in

In diesem Kapitel wird der Begriff »Asylbewerber*in« genauer erklärt und juristisch definiert. Die Asylbewerber*innen werden in vier Typen klassifiziert. Für jeden Typ werden unterschiedliche Erwartungen und Wahrnehmungen bezüglich der Anhörung festgestellt. Demzufolge werden charakteristische Verhaltensweisen in jedem Typ ersichtlich, welche erörtert werden. Ein/Eine Asylbewerber*in ist ein geflüchteter Mensch, der Schutz wegen einer begründeten Furcht vor Verfolgung, der Gefahr von Misshandlung oder wegen eines anderen ernsthaften Schadens für Leben, beantragt und dessen Flüchtlingsstatus noch nicht geprüft ist. Ein/eine Asylbewerber*in ist juristisch nicht mit dem/der Flüchtling gleichzusetzen. Nach der juristischen Kategorie ist ein/eine Asylbewerber*in noch kein »Flüchtling«. Geflüchtete Menschen ohne Asylverfahren werden zunächst als »De-facto-Flüchtlinge« bezeichnet. Wenn sie einen Asylantrag stellen, sind sie Asylbewerber*innen, bis ihr Flüchtlingsstatus überprüft wird. Werden sie gemäß der

31

MILo: Migrations-InfoLogistik des BAMF; https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe?func=llworkspac e. (19.12.2016).

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Die Anhörung im Asylverfahren

EU-Qualifikationsrichtlinie iVm §§ 3, 4 AsylVfG als Flüchtlinge anerkannt, erhalten sie den Status GFK Flüchtlinge (vgl. Lass 1995: 13). Laut dem EU-Recht Artikel 9 Absatz 1 der Asylverfahrensrichtlinie (2013/32/EU) darf kein/keine Asylbewerber*in ins Heimatland abgeschoben werden, solange keine endgültige Entscheidung über den Asylantrag gefallen ist: »Nach Artikel 9 Absatz 1 der Asylverfahrensrichtlinie (2013/32/EU) ist der Aufenthalt eines Asylbewerbers im Hoheitsgebiet eines EU-Mitgliedstaates rechtmäßig. Der Absatz besagt, dass Asylbewerber zum Zwecke des Verfahrens so lange »im Mitgliedstaat verbleiben«, bis die Asylbehörde über den Asylantrag entschieden hat, wenngleich es Ausnahmen für Folgeanträge gibt« (Handbuch zu den europarechtlichen Grundlagen 2014: 48). Auf dieser Grundlage wird jeder*e Antragsteller*in angehört und über seinen/ihren Fall wird als Einzelfall entschieden.

9.2.2.1

Asylbewerberrolle in der Anhörung

In dem Anhörungssetting ist der/die Asylbewerber*in die Hauptperson, weil das juristisch organisierte Verfahren und das Anhörungssetting seinetwegen/ihretwegen geplant werden. In der Anhörung geht es um ihn/sie und um seinen/ihren Aufenthaltstitel. Der/Die Asylbewerber*in muss die Darlegungslast allein tragen, weil im Asylverfahren das wichtigste Erkenntnismittel der/die Antragsteller*in selbst ist (vgl. Marx 2013a: 6). Zu diesem Zweck ist die persönliche Anhörung obligatorisch (§ 25 Abs. 1 S. 2 AsylG). Durch die Antragsstellung wird eine sehr heterogen Menschengruppe (Geflüchtete) zu einer scheinbar homogenen Gruppe von Asylwerber*innen, die ab diesem Zeitpunkt nur über eine Identität als Asylwerber*innen verfügen (vgl. Fritsche 2012: 365) und »gleichberechtigt« von ihrem Recht auf Asyl Gebrauch machen können. Von jedem/jeder Antragsteller*in wird in der Anhörung erwartet, eine detaillierte, in sich stimmige, im Wesentlichen widerspruchsfreie Fluchtgeschichte glaubhaft vorzugetragen. Das erfordert eine hohe Darstellungskompetenz der Asylsuchenden: »Um einen Schutzstatus zugesprochen zu bekommen, müssen Kräfte und Ressourcen mobilisiert und aufwändige Identitäts- und Darstellungsarbeit geleistet werden« (Fritsche 2012: 385). Der Titel »Asylbewerber*in« kann als ein wirkmächtiges Label gesehen werden, das der Person eine Identität (Opferrolle)32 aufzwingt, die andere – persönliche, kulturelle oder genderbezogene – Aspekte der Identität verleugnen (vgl. Binder & Tošic 2003: 453f.). Von allen Antragsteller*innen gemeinsam wird in der Anhörung ein Bild 32

Die Opferrolle ist die Rolle, die die Antragsteller*innen in der Anhörung einnehmen sollen. In dem sozialen Schauen auf den Asylbewerber*innen hingegen werden den Antragsteller*innen mehrere Figuren zugeschrieben. Inhetveen (2010) benennt in ihrer Analyse zur »Sozialfigur des Flüchtlings« fünf Typen von Zuschreibungen, die den Flüchtling mal »als hilfsbedürftiges Opfer, oder als betrügenden Schmarotzer, mal als illegalen Einwanderer oder als politisch mobilisierbare Ressource, als tüchtige[n] Selfmademan oder als getarnte[n]Bürgerkriegsakteur auf der Suche nach einer sicheren Basis« betrachten (Inhetveen 2010: 148). Sekwa zeigt, wie kontraproduktiv die Zuschreibung der Opferrolle bei der sozialen Arbeit mit Geflüchteten sein kann und weist daraufhin, dass eine »reflexive Distanz zu »Viktimisierungsdiskursen« gewahrt werden sollte, um zu vermeiden, dass die soziale Arbeit für Abwehrdiskurse instrumentalisiert wird (Seukwa 2016: 198f.).

9. Anhörungssetting

geschaffen: das Bild des vertriebenen, passiven und schutzbedürftigen Flüchtlings, der unabhängig von all dem, was er in seinem vorherigen Leben getan erreicht hat und was er als Individuum erstrebt und plant, eine Fluchtgeschichte erzählen muss, die ihn als wehrlos und schutzlos entblößt. Je hilfloser, getriebener und schutzbedürftiger ein/eine Antragsteller*in erscheint, desto besser ist seine/ihre »Chance« das Asylrecht zugesprochen zu bekommen. Zumindest wird so die Anhörung von einigen Antragsteller*innen – wie die Daten von Fritsche (2012) zeigen – wahrgenommen. Die Autorin berichtet, dass manche Antragsteller*innen die Erklärung für ihren negativen Bescheid u.a. darin erkennen, dass sie ihre Opferrolle nicht richtig darstellten konnten, wie das Beispiel hier belegt: »[Sie] haben mir auch gesagt, es war nicht überzeugend, meine Gründe, also ich müsste (…) heulen und in Tränen ausbrechen (…) dass [sie] mir glauben, ich kann das nicht, ja, obwohl es sehr schlimm ist, aber ich kann nicht.« (Zitiert in Fritsche 2012: 373). Meine Materialdaten dokumentieren, dass die Antragsteller*innen, die aus Sicht des Asylstaates eine homogene Gruppe unter dem Begriff »Asylbewerber*in« darstellen, die die persönliche Anhörung durchführen müssen, tatsächlich heterogene Ziele verfolgen und eine heterogene Erwartung von der Anhörung haben. Die unterschiedlichen Erwartungen und Ziele der Antragsteller*innen beeinflussen, neben anderen Faktoren wie soziale Kategorien (Bildungsstandard, Kommunikationsfähigkeiten, Geschlecht usw.) und die Herkunftsländer (z.B. anerkannte Kriegsgebieten vs. andere Gebiete) den interaktiven Anhörungsprozess maßgeblich, allerdings nicht die Anhörungsverlaufsstruktur. Dadurch, dass alle Anhörungen auf dem gleichen, einem Grundmuster folgenden Fragenkatalog aufgebaut sind und die Entscheider*innen ihn bearbeiten sollen, bleibt die Anhörungsstruktur fast identisch. Was sich mit jeder heterogenen Asylbewerber*in-Erwartung ändert, ist der prozessuale Anhörungsablauf. Denn die unterschiedlichen Erwartungen und Ziele beim Anhörungsgespräch steuern das Handeln der Antragsteller*innen und hat Auswirkungen auf den Anhörungsverlauf. Deshalb erscheint es mir wichtig, einen Überblick über unterschiedliche Asylbewerber*innenziele zu geben und die vier Asylbewerbertypen, die infolgedessen aufgestellt worden sind, darzulegen.

9.2.2.2

Asylbewerber*innentypen

Wie am Beginn des Arbeitsabschnitts II erwähnt, ist der Abschnitt II besonders konzipiert, um die Hintergründe der Anhörungspraxis zu klären, um die Verlaufsprozesse des Anhörungsgesprächs nachvollziehbar zu machen. Ein deutlich sichtbares Phänomen, dessen Ursache verständlich gemacht werden sollen, ist folgender: Die Anhörungen haben trotz aller rechtlicher und institutioneller Vorgaben vielfältige Erscheinungen und heterogene Verlaufsprozesse. In diesem Kapitel wird ein entscheidender Baustein zur Erklärung der Heterogenität in den Anhörungsprozessen erörtert. Das Handeln der Antragsteller*innen und ihre Motive hinsichtlich der Anhörung werden näher betrachtet. Ihr Handeln ist zwar institutionell erwartbar. Die Rollen der Asylbewerber*innen werden mit bestimmten Erwartung gelabelt. Ob das institutionelle Label mit der Realität der Asylsuchenden übereinstimmt, ist eine Frage, die nur durch die Befragung der Asylbewerber*innen selbst beantwortet werden kann. Die Asylbewer-

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Die Anhörung im Asylverfahren

ber*innen selbst bezüglich ihrer Anhörung zu befragen, ist sicherlich der Königsweg, wenn es darum geht, mehr über die Motive, Ziele und Erwartungen als wichtigster*e Akteur*in im Anhörungssetting zu erfahren. Durch die Auswertung von Antragsteller*inneninterviews, Experteninterviews und vielen informellen Gesprächen wurde die Erkenntnis erlangt, dass nicht alle Asylantragsteller*innen mit ihrem Asylantrag auf das Gleiche abzielen. Gelangt man zu dieser Erkenntnis, lassen sich die beobachtbaren unterschiedlichen Verhaltensweisen der Antragsteller*innen in der Anhörungssituation besser verstehen. Denn es gibt immer einen Zusammenhang zwischen Handeln, Motiven und Erwartungen eines Menschen (vgl. Meulemann 2013: 70-73). Die Auswertungen der Interviewdaten zeigt, dass nicht alle Antragsteller*innen Asyl begehren und dass nicht alle um einen Aufenthaltstitel kämpfen oder versuchen einen glaubwürdigen Eindruck bei den Entscheider*innen zu hinterlassen. Diese Erkenntnisse sind für die Arbeit relevant, weil je nach Erwartung und Ziel des/der Antragstellers*in der Anhörungsprozess seinen individuell spezifischen Verlauf nimmt. Die Typisierung von Asylbewerber*innen dient in der vorliegenden Arbeit zwei Zwecken: (a) Sie trägt zum Hauptziel der Arbeit, ein »holistisches Bild über die Anhörung zu geben« bei, indem die realen unterschiedlichen Asylbewerber*innen als Person und in ihren Erwartungen illustriert werden. Es soll zudem dargestellt werden, wie sie institutionell in ihrer Rolle als Asylbewerber*innen homogenisiert wurden; (b) Sie ist für die Untersuchung von Anhörungsgesprächen Kapitel (IV und V) insofern bedeutend, als dass sich dadurch die unterschiedlichen Asylbewerberverhaltensweisen, die auf den Anhörungsverlauf maßgeblich einwirken, besser verstehen lassen: Einige Antragsteller*innen treten in der Anhörung selbstbewusst auf (P: 2, P: 7, P: 12 und P: 18), andere kämpfen um das Asylrecht mit allen Mitteln und bemühen sich, eine glaubhafte Fluchtgeschichte zu liefern (P: 3, P: 8 und P: 9). Die dritte Gruppe gibt sich keine Mühe, sich dem/der Entscheider*in als glaubwürdig zu präsentieren (P: 4, P: 11).

Diese unterschiedlichen Verhaltensweisen von Asylbewerber*innen in der Anhörungssituation könnten durch die Herausarbeitungen von Antragsteller*innentypen, besser erklärt werden, wie im kommenden Abschnitt ersichtlich wird. Diesem Kapitel liegt die Auswertung von 41 Interviews und mehreren informellen Gesprächen im Untersuchungsfeld zugrunde.33 Es ist ergebnisorientiert aufgebaut. Das heißt der Arbeitsprozess, wie die Typen generiert wurden, wird nicht im Einzelnen gezeigt,34 sondern die Typen sowie ihre Beschreibungen werden als Ergebnisse der Analy-

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Die in den Interviews festgehaltene Realität ist der fixierte Ausgangspunkt, aus dem diese abstrakten Typen entstanden sind. Das Formen von Typen soll die Aufgabe erfüllen, die Realität zu reduzieren und zu profilieren und setzt immer eine Verdichtung bzw. eine selektierende Abstraktion von Gegebenem voraus, deren Gelingen nur an den Abstraktionsmaßstäben festgemacht werden kann (vgl. Wimmer 2004: 52f). Zur methodischen Vorgehensweise und ausführlich über die angewandten Auswertungsmethoden von Interviewdaten siehe Kapitel 5.4.

9. Anhörungssetting

sen des Korpus im Überblick und anhand von Interviewbelegen vorgestellt. Mit diesen Analysen soll eine Grundklassifizierung der Antragsteller*innen gegeben werden, die im untersuchten Korpus manifest sind, indem Interviewausschnitte mit verschiedenen Antragsteller*innen präsentiert werden. Für das Ziel der Arbeit ist eine allgemeine Typenbildung von Antragsteller*innen nicht erforderlich, deshalb orientiert sich die Typenbildung in diesem Abschnitt nur an der Kategorie »Asylbewerberziele und Erwartung hinsichtlich der Anhörung« und folgt dem Schema der Fallkontrastierung von Asylbewerber*innen untereinander. Im Fallvergleich wird deutlich, wie eng die unterschiedlichen Herangehensweisen der Antragsteller*innen mit ihren Motiven und ihrer Erwartung verbunden sind und wie sich diese auf die gesamte Anhörung auswirken. Diese werden klassifiziert, ihre typischen Züge werden herausgearbeitet und im Folgenden als Typen dargestellt. Asylbewerber Typ I »Der Verweilende« Unter Typ I werden Asylbewerber*innen zusammengefasst, die die Anhörung und ihre Situation nicht ernst nehmen. Sie beanspruchen kein Asylrecht, trotzdem reichen sie einen Asylantrag ein. Sie unterteilen sich in folgende Untertypen: (1) Geflüchteten Personen, die in Deutschland schon illegal leben und bei einer Kontrolle auf der Arbeitsstelle als Schwarzarbeiter*innen festgenommen wurden und einem polizeilichen Verhör zugeführt werden. Nach einem solchen Vorfall haben sie unter zwei Alternativen zu wählen (a) Ihre Identität preisgeben und sich bereit erklären in ihr Herkunftsland zurückzukehren oder (b) zu behaupten »sie seien verfolgt«, woraufhin sie den Asylverfahrensprozess inklusive Anhörung durchlaufen. Sie hatten nicht geplant, einen Asylantrag zu stellen und sie fühlen sich dazu gezwungen, wenn sie nicht zum Herkunftsland zurückgeführt werden wollen.

»Ich musste die Anhörung machen. Am Anfang habe ich keine Geschichte erzählt, weil ich keine Lügengeschichte erzählen wollte. Die Frau [die Entscheiderin] wusste, dass ich hier über ein Jahr lebe und Schwarz arbeite. Das habe ich bei der Polizei erzählt. Dann habe ich gleich gesagt, dass ich sehr große materielle Probleme habe und ich wollte hier drei oder vier Jahre arbeiten, um genügend Geld zu sparen und wieder nach Hause gehen. Ich wollte meine Frau und meine Kinder nicht länger allein lassen.« (AInterview 20). (2) Menschen, die die Asylverfahrensdauer bewusst in ihren Migrationsplan einkalkulieren. Für die erste Zeit in Deutschland brauchen sie eine Unterkunft und die Möglichkeit, sich sicher im Land zu bewegen, ohne Angst vor der Polizei zu haben. In diesem Fall wird ein Asylantrag gestellt mit dem Ziel, Zeit zu überbrücken, bis die Antragsteller*innen sich in Deutschland orientiert haben, Kontakt zu ihrer Community aufgenommen haben, um letztendlich »illegal« in Deutschland zu leben. Dementsprechend schätzen sie die Anhörung wie folgt ein:

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Die Anhörung im Asylverfahren

»Das ganze Verfahren war für mich nur Zeitüberbrückung. Wenn Du Antrag stellst, bekommst du ein Bett im Camp und Essen und Taschengeld. Es war für mich wichtige Zeit. Mein Antrag wurde abgelehnt. Ich wollte auch nicht [kein Asylgewährung]. Ich bin mit dem Asylbescheid zum Anwalt gegangen und habe Widerspruch eingelegt. Das Ganze dauerte so insgesamt zweieinhalb Jahre. Danach habe ich illegal mit falschen Papieren gearbeitet und meinen Lebensunterhalt selbst verdient.« (A-Interview 6). Der Antragsteller hat seinen Entschluss, das Asylverfahren nur als Zeitübergang zu nutzen, auf eigene Erfahrungen zurückgeführt: »Ich bin hundertprozentig sicher, dass keiner aus […] Asylanerkennung bekommt, auch wenn ich Dir jetzt schwöre, dass zwei meiner besten Freunde, dort kurz bevor ich weg war, heftige Probleme im Gefängnis erlitten haben. Aber alles ist Politik. Wir bekommen kein Asylrecht. Ich habe eine falsche Geschichte in der Anhörung erzählt. Ich war sicher, dass ich kein Asyl bekomme. Es war mir auch egal, ob die Frau [Entscheiderin] das glaubt.« (A-Interview 6). Der Antragsteller ist sich sicher, kein Asylrecht gewährt zu bekommen, weshalb er sich andere Ziele setzt. Ab dem Moment des Antragstellens ist der Asylbewerber bis zum erwarteten negativen Bescheid im staatlichen Schutz. Dadurch hat der Antragsteller ein Recht auf Unterkunft und materielle Leistungen,35 d.h. »Dach über den Kopf und etwas Taschengeld« (A-Interview 6; Anhörung 11). Dazu sagt der zitierte Interviewte oben: »Für die Verfahrenszeit sage ich Danke für die Unterkunft.«36 Es geht bei der Zeitüberbrückung um eine Zeitspanne zwischen 1 Jahr bis 3 Jahre. Nach dem Erhalt des negativen Bescheids können die abgelehnten Asylbewerber*innen eine Klage erheben. Bis sie vor Gericht eingeladen werden, um den Fall zu klären, dauert es ca. ein Jahr. Innerhalb dieses Typus lassen sich die Menschen noch in drei Subgruppen unterscheiden: (a) Asylbewerber*innen, die im Asylverfahrensprozess bis zum Schluss bleiben. Das heißt sie sind als Antragsteller*innen registriert und sind als solche erreichbar. Nach dem Erhalt des ersten negativen Bescheides legen sie innerhalb eines Monates37 eine Klage ein. Nach dem Einlegen der Klage erhalten die Antragsteller*innen einen Monat vor dem Gerichtstermin eine Einladung zur Gerichtsverhandlung. Der Gerichtstermin findet ca. ein Jahr nach der Einklage statt. Die Menschen, die diesen Weg beschreiten, nutzen das Asylverfahren als strategische Zeitüberbrückung:

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Siehe oben Artikel 9 Absatz 1 der Asylverfahrensrichtlinie (2013/32/EU), wonach ein/eine Asylbewerber*in zum Zwecke des Verfahrens so lange »im Mitgliedstaat verbleiben« darf, bis die Asylbehörde über den Asylantrag entschieden hat.« Mit der Stellung eines Asylantrags (§ 13 AsylG) bei einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (§ 14 Abs. 1 AsylG) beginnt das Asylverfahren und der/die Asylbewerber*in erhält während dieser Dauer eine Aufenthaltsgestattung (§ 55 AufenthG) und eine Unterkunft. Im Asylbescheid steht das Datum, bis wann die Antragssteller*innen eine Klage einlegen können. Die Frist liegt zwischen einer Woche und einem Monat, ausgehend vom Datum der Erstellung des Bescheids.

9. Anhörungssetting

»Asylverfahren dauern endlos lange. Wenn jemand es ausnutzen möchte, kann ich nicht verdenken. Vielleicht hätte ich an seiner Stelle nicht anders gehandelt. Ein Asylverfahren kann bis zu 10 Jahren dauern.« (E- Interview Hagemann). Bis eine Änderung eintritt wie: »verlieben sie sich und heiraten oder haben endlich ein normales Leben oder haben die Nase voll von Deutschland und fahren selbst zurück.« (Ebenda) (b) Antragsteller*innen, die den langen Zeitraum des Asylverfahrens nicht abwarten. Sie verlassen das Camp kurzer Zeit nach der Anhörung, ohne den Asylbescheid abzuwarten und planen keinen Widerspruch vor Gericht. Sie sind zwar noch als Antragsteller*innen registriert, aber nicht mehr aufzufinden:

»Wenn Du schnell aus dem Blickfeld verschwindest, können sie Dich nicht abschieben. Das kann von heute auf morgen passieren« (A-Interview 8;12) (c) Der Datenkorpus dokumentiert noch einen dritten Subtyp. Dabei handelt es um Antragsteller*innen, die vom Leben im Camp enttäuscht sind und die davon enttäuscht sind, was von ihnen als Asylbewerber*innen erwartet wird:

»only to wait in the camp. you have nothing to do day in, day out. I did not get permission to work. That was not what I expected.« (A-Interview 15). Der Antragsteller wollte nicht mehr unter diesen Bedingungen in Deutschland leben, weil »Time is going and nothing coming out of it. Time is waisted […] I was waiting and waiting. Almost one year and nothing is coming out of it. I decided to go out from the country because thing are not going to happen as I told Germany is it. Only to get a bed, food and pocket money (it was nothing) that is not what brought me to Germany. I am coming to work and make my living. »(ebenda). Der Interviewte hatte Deutschland verlassen. Er plante einen anderen »legalen« Weg und ist daraufhin wieder in Deutschland eingereist. Wahrnehmung der Anhörungssituation durch den Asylbewerbertyp I: Folgt man den Erzählungen der Asylwerber*innen und den darin transportierten Bedeutungen der Anhörung, ist die Anhörung für sie eine formale Sache bzw. ein »Rollenspiel«. Die Anhörungssituation empfinden die Antragsteller*innen als einen behördlichen Termin, den sie wahrnehmen müssen. Manche entziehen sich in der Anhörung der Darstellungslast von Fluchtgeschichten, weil sie keine Vorteile davon für sich erkennen. Diese legen ihre Auswanderungsmotive in der Anhörung offen: »Ich weiß, als […] habe ich keine Chance hier zu bleiben und ich habe keine Asylgründe anzugeben. In der Anhörung habe ich anfangs die Wahrheit über meine finanziellen Probleme erzählt. Ich wollte keinen Asylantrag stellen. Hätte die Polizei mich nicht

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Die Anhörung im Asylverfahren

erwischt, würde ich niemals einen Antrag stellen. Das habe ich auch die Entscheiderin erzählt. Ich habe nach zwei Wochen von der Anhörung eine Ablehnung bekommen und lebe jetzt wieder illegal. Wenn ich wieder erwischt werde […]« (A-Interview 27). Andere Menschen innerhalb dieses Typus spielen die Asylbewerberrolle und erfinden eine Geschichte, nicht um zu täuschen, sondern um für das Rollenspiels »Asylbewerber*in« zu performen. Sie befinden sich im Austausch mit ihrem Bekanntenkreis darüber, was in der Anhörung erzählt werden sollte. Sie stellen ein Szenario zusammen: »my people gave me a device what I am going to say in the hearing. We wrote the story together and I told it, as my friend said me.« (A-Interview 15). Einige unter ihnen sind sehr flexibel, was das Erzählen von Geschichten angeht. Sie konstruieren eine Geschichte mal auf die Schnelle im Warteraum: »Meine Geschichte hat sich im Warteraum so entwickelt. Ich habe im Warteraum andere […] gesehen und einer von denen hatte die Anhörung schon gemacht und erzählte den anderen, wonach er gefragt wurde und so. Ich habe mich ihnen angeschlossen und meine ursprüngliche Geschichte angepasst.« (A-Interview 16). In der Anhörung geht es in erster Linie um die Glaubwürdigkeit der Antragsteller*innen. Gerade die Asylbewerber*innen, die diesem Typ zugeordnet sind, legen keinen Wert darauf, dass die Anhörenden sie als glaubwürdig einschätzen und geben sich keine Mühe als glaubhaft zu erscheinen: »Die Entscheider wissen sofort, dass wir lügen. Sie wissen das ganz genau. Trotzdem wurden Fragen-Antworten ausgetaucht und daraus wird ein Protokoll gemacht« […] (A-Interview 6 und die gleichen Inhalte auch bei 15 und 16, 23).38 Mit dieser Herangehensweise verletzen die Antragsteller*innen dieses Typs die behördliche Erwartung von Asylbewerber*innen, (a) indem sie nicht die Opferrolle und Viktimisierung bei der Fluchtgeschichtendarstellung übernehmen und (b) indem sie darauf verzichten, um jeden Preis glaubwürdig zu erscheinen. Seitens der Behörden gelten die Asylbewerber*innen dieser Gruppe als »Missbraucher*innen des Asylsystems«, die auf jeden Fall abgelehnt werden müssen. Aufgrund des Verdachts bzw. Vorwurfs des »Asylmissbrauchs« wird in einem Rechtsstaat wie Deutschland kein Verfahren aufgehoben. Die Antragsteller*innen müssen das Asylverfahren inklusive Anhörungsverfahren durchlaufen. Erst nach diesem Durchgang können juristisch akzeptierbare Gründe für die Ablehnung genannt werden. Asylbewerber*in Typ II »Der Sichere« Unter diesem Typ werden alle Asylbewerber*innen zusammengefasst, die aus einem politisch anerkannten Kriegsgebiet kommen, wie z.B. Syrien zur Zeit der Datenerhebungsphase für die vorliegende Arbeit (2015-2017). Dabei macht es in der Anhörung keinen Unterscheid, ob die Menschen persönlich direkt bedroht sind oder aufgrund der

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Die meisten Antragsteller*innen in allen Typen vermuten, dass die Entscheider*innen schon eine Idee haben, wie die Ergebnisse der Anhörung sein werden, wie es von dem Zitat oben hervorgeht Weiteren Zitaten weiter unten implizieren ähnliche Vermutungen.

9. Anhörungssetting

allgemeinen politischen Lage geflohen sind. Unterschiede gibt es jedoch hinsichtlich der Schutzstufen (s. oben). Antragsteller*innen dieses Typs gelten in der öffentlichen Wahrnehmung, im politischen Diskurs wie auch im gesellschaftlichen Selbstverständnis als »legitime Flüchtlinge« (vgl. Scherschel 2015: 129), deren Asylbegehren demzufolge gerechtfertigt sei. Diese angenommene Legitimität ihres Asylbegehrens in politischen Diskurs nehmen die Antragsteller*innen auch als solche wahr: »Ich weiß, dass Madam Merkel die Tür für uns geöffnet hat […] die Beamten nehmen meine Aussage für mich, nicht gegen mich. Sie wollen nur wissen, in welcher Schutzkategorie ich reinpasse. Der Staat möchte mich schützen und mir keinen Schaden zufügen.« (A-Interview 4). Wahrnehmung der Anhörungssituation durch den Asylbewerbertyp II: Die gegenseitige Erwartung des Aufnahmestaates und des/der Antragstellers*in (einerseits wird der Geflüchtete aus einem Kriegsgebiet per se als ein »legitimer« Flüchtling in dem Aufnahmeland wahrgenommen, andererseits nimmt der Geflüchtete stark an, dass er im Aufnahmeland Schutz bekommt) spiegelt sich in der Anhörung wider. Die Antragsteller*innen dieses Typs -wie aus den erhobenen Daten an mehreren Stellen dokumentiert werden konnte- sehen die Anhörung als ein routinemäßiges Interview an und definieren den/die Entscheider*in als eine beamtete Person, deren Arbeit es ist, das normativ bürokratisches Anhörungsinterview durchzuführen: »Es ist keine Anhörung. Es ist ein Interview, wie ein Vorstellungsgespräch für einen Job. Man wird interviewt nicht mehr und nicht weniger […]. Sie [Anhörende] ist keine Entscheiderin. Sie ist eine Beamtin, die den Fall untersucht. Das ist ihr Job. Sie entscheidet gar nicht. Wer gab diesen Angestellten da diesen Titel »Entscheider«? Bestimmt die Araber; sie sind Übertreiber« (A-Interview 10). Auf die Frage nach dem Anhörungsziel äußert sich ein Antragsteller wie folgt: »Ich persönlich hatte kein Ziel. Ich wollte diese Bürokratie erledigen, damit ich einen freien Kopf für andere Dinge habe. Die Behörde hat mich eingeladen, um meinen Fall zu untersuchen, ob ich asylberechtigt bin. Lass uns bei der Analogie (Vorstellungsgespräch) bleiben: der Angestellte untersucht, ob ich den Job bekomme oder nicht äh ob ich die richtige Person dafür bin. Genau so macht es der Entscheider auch. Anhand meiner Unterlagen, meiner Erzählung überprüft er, ob ich hier juristisch bleiben kann oder nicht« (ebenda). Die meisten Antragsteller*innen in dieser Kategorie bereiten sich nicht auf die Anhörung vor. Sie definieren das Asylrecht als »internationales Recht«, das ihnen zustehe und dass sie es nach einem standardisierten Behördeninterview bekommen. Nur wenige Menschen (z.B. P: 7) streben eine bestimmte Schutzkategorie an (in diesem Fall politisches Asyl) und bereiten sich auf die Anhörung dementsprechend vor. Die Anhörungen von Antragsteller*innen, die diesem Typ zugeordnet sind, verlaufen in einer unbelasteten Atmosphäre: »Just Interview, mehr ist das nicht« (mehrere Interviews und informelle Gespräche mit Antragsteller im Erhebungsfeld). Diese gelockerte Anhörungsatmosphäre hat seine Ursache nicht darin, dass die Fluchtgeschich-

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Die Anhörung im Asylverfahren

ten dieses Antragstellertyps glaubwürdiger sind als diejenigen aus anderen Ländern, wo kein offensichtlicher Krieg herrscht oder es ihnen schlechter geht als anderen. Vielmehr lässt sich die entspannte Anhörungsatmosphäre damit begründen, dass sich die Erwartungen der Gesellschaft, des Bundesamts und der politisch Verantwortlichen mit den Bedürfnissen der Antragsteller*innen decken. Bei international anerkannten – »legitimen Flüchtlingen«- fragt man in der Einzelfallprüfung bezüglich Details nicht mehr nach. Ein deutliches Beispiel, das den nachsichtigen Umgang mit diesem Antragsteller*innentyp zeigt, ist die eingeführte schriftliche Anhörung für Syrer*innen von Ende 2014 bis Mai 2015. Von Menschen, die ihre syrische Identität nachweisen konnten, wurden keine Fluchtgründe mehr angehört, sondern es wurde nur noch ein Formular ausgefüllt, worauf innerhalb einer Woche die Anerkennung als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention folgte. Asylbewerbertyp III »Der Struggler« Antragsteller*innen, die dem dritten Typus zugeordnet werden, sind diejenigen, die aus keinem anerkannten Kriegsgebiet kommen, aber aus anderen Gründen Schutz in Deutschland suchen. Sie fliehen aus ihren Heimatländern aufgrund von Gefahr für Leib und Leben. Ihr Leben ist nicht aufgrund der allgemeinen Kriegssituation im Herkunftsland in Gefahr, sondern aufgrund der eigenen Aktivitäten im privaten oder politischen Umfeld, die zu einem lebensbedrohlichen Konflikt eskalierten. Sie haben nur ihre Fluchtgeschichte, die eine Beweiskraft haben muss. Aus dieser soll glaubhaft ersichtlich werden, dass ihre Erzähler*innen um ihr Leben fürchten. Antragsteller*innen dieses Typus haben eine besondere ambivalente Situation. Sie gelten nicht als legitime Flüchtlinge, wie Asylbewerber*innen Typ II. Ebenso sind sie nicht mit letzter Sicherheit als »Missbraucher des Asylsystems«, wie Antragsteller*innen im Typ I, etikettiert. Sie gelten auch per Definition nicht als materiell verarmte Menschen, für deren Schutz das Gesetz kein Anlass vorsieht, wie die Antragsteller*innen des Typs IV. Sie sind dem Missbrauchsvorwurf ausgesetzt, den sie in der Anhörung entkräften können. Bei solchen Antragsteller*innen besteht die Vermutung, dass sie nicht verfolgt seien. Die Vermutung steht unter dem Vorbehalt, dass der/die Asylbewerber*in Tatsachen vorträgt, die seine/ihre Verfolgung nachweisen und die die Annahme begründen, dass er/sie entgegen dieser Vermutung verfolgt wird. Um die Vermutungsregel für sich zu entkräften, muss das Vorbringen des/der Asylbewerbers*in konkrete Behauptungen zu einem individuellen Verfolgungsschicksal enthalten (vgl. Scherr 2015: 163f.). Im Vergleich zu allen anderen Typen spielt der Darstellungskampf der Antragsteller*innen (eine asylrelevante glaubhafte Fluchtgeschichte darzustellen und einen glaubwürdigen Eindruck zu hinterlassen) bei der Anhörung für die Entscheidung über den Antrag die größte Rolle. Die Anhörung wird für diese Asylbewerber*innen zu einem existentiellen und entscheidenden Gespräch, weil sie in der Anhörung die einmalige Gelegenheit bekommen, sich die Position des ›legitimen‹ Flüchtlings zu erarbeiten. Gelingt ihnen das nicht, wird ihr Asylantrag abgelehnt. Gerade bei diesem Typ wird zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit auf alles geachtet wie Körpersprache, Darstellungskompetenz der Fluchtgeschichte inklusive des persönlichen Eindrucks:

9. Anhörungssetting

»Von sehr kleinen Details hängt die Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers ab. z.B. wenn der Betroffene sein Alter angibt und dann das Alter von seinem Onkel in einer anderen Frage; und der Altersunterschied zwischen dem Onkel und dem Neffen nicht stimmt, dann ist es schnell vorbei. Um glaubwürdig zu wirken, hängt von vielen Faktoren ab. Die Art, wie die reden, detailliert zu berichten, chronologisch zu erzählen, Körpersprache, wie der Betroffene persönlich auf den Anhörenden wirkt.« (B-Interview Monika). Bei diesem Antragsteller*innentyp muss die Fluchtgeschichte dem/der Antragsteller*in eine Opferrolle zuordnen, in der sie ihm/ihr außer Flucht keine Handlungsoptionen offenließ. Die Darstellung der eigenen Schutzlosigkeit muss in der Anhörung ins Zentrum gestellt werden und im Besonderen sehr prägnant sein, weil er/sie-im Gegensatz zu Asylbewerbertyp II- nur dadurch den Status des »legitimen« Flüchtlings erwerben kann. Wahrnehmung der Anhörungssituation bei Asylbewerbertyp III »Der Struggler«: Ein/Eine Asylantragsteller*in dieses Typus muss sich das Recht auf Asyl erkämpfen und sein Gesuch durch »legitime« Gründe »qualifizieren«, indem er/sie eine plausible und lückenlose Fluchtgeschichte darstellt. Die Bedeutung der Anhörung hat für ihn/sie existentielle Dimensionen. Einige von ihnen bereiten sich auf die Anhörung vor, nehmen rechtliche Beratungen im Anspruch oder beauftragen Anwälte/Anwältinnen: »Ich war in einer Beratungsstelle und auch beim Anwalt zur Vorbereitung […]« (AInterview: 19) »Man soll in der Anhörung ohne juristische Beratung mit Anwalt nicht gehen.«. (Interview 13) »Ein Missverständnis oder Übersetzungsfehler und stehst du als Lügner da, weil die Geschichte unstimmig erscheint. Man muss aufpassen« (das betonen mehrere A- Interviewte) »Die Anhörung ist die schlimmsten Stunden. Davon hängt alles ab.« (A-Interview 19). »Der Anwalt hat von mir bis jetzt ** Euro und ich habe nicht mal die Einladung zur Anhörung. Ich habe gehört, es ist besser, einen Anwalt zu beauftragen. Er kann mir bei der Anhörung helfen.« (Feldnotizen). Folgt man den Erzählungen der Asylwerber*innen und den darin transportierten Bedeutungen der Anhörung, wird deutlich, dass die Anhörung sehr ernst genommen und ihr gegenüber mit Respekt bzw. Angst begegnet wird. Manche Asylbewerber*innen empfinden die Anhörung als die schwierigsten Stunden im Asylverfahren und sehen sie als Belastung an (s. unten). Sie erfordert die Fähigkeit zur kreativen Fluchtgeschichtendarstellung, damit der/die Entscheider*in von ihrer Schutzbedürftigkeit überzeugt wird, ansonsten wäre die ganze Flucht erfolglos, wie aus den folgenden Interviewsauschnitten ablesbar ist: »Anhörung ist eine unangenehme Sache. Ich hatte echt Probleme in meiner Heimat, aber der Entscheider glaubte mir nicht. Er fragte nach so viel Details, mit denen man nicht rechnete. Meine Anhörung war sehr lange, sie war ca. acht Stunden, ohne Unterbrechung. Du musst konzentriert bleiben. Daran hängt dein Leben« (A-Interview 19). Die Asylbewerberin im Interview 25 schildert ihre Anhörung und wie sie sich davor fürchtete, wie folgt:

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Die Anhörung im Asylverfahren

»Meine Anhörung dauerte ca. sechs Stunden. die schwierigsten sechs Stunden nach der Flucht. Ich hatte viel Angst, dass die Frau da meinen Antrag ablehnt […] Ich hatte eine deutsche Frau als Begleiterin mitgenommen auch eine Anwältin. Die eine hält mich fest an einer Hand, die andere an der anderen Hand. Ich hatte gezittert […] Ich empfehle, dass man einen Anwalt mitnimmt. Das gibt einem Sicherheit.« (A-Interview 25). Eine andere Asylbewerberin sagt zu ihrer Anhörung: »Die Anhörung ist etwas, wo man nicht sprechen möchte. Es war unangenehm. Es waren fünf unschöne Stunden. Allerdings hatte ich eine nette, positive Anhörerin, aber der Dolmetscher war böse. Er hatte mir die Anhörung schwer gemacht.« (A-Interview 8) Die Interviewte fügte hinzu, dass nicht alle Antragsteller*innen diese gewaltige Anhörungssituation verkraften können, wie ihr eigener Sohn: »Manche Menschen überleben diese Situation nicht. Mein Sohn ist seit der Anhörung psychisch krank. Er lebt in einer betreuten Wohnung. Das lag nicht allein an der Flucht, sondern an der Art und Weise, wie er die Flucht während der Anhörung rekonstruieren musste und argumentieren sollte. Es war für ihn hart (weinen). Sie haben ihn von uns getrennt, weil er 21 Jahre alt war. Für die deutsche Behörde ist er volljährig. Er musste allein in einer anderen Stadt leben, dort hat er auch die Anhörung gemacht.« (AInterview 8). Angesichts der oben dargestellten ambivalenten Situationen der Asylbewerber*innen richtet sich der Fokus und das Anhörungsziel dieses Asylbewerbertyps nur auf die Überzeugung des/der Entscheiders*in von ihrer Schutzbedürftigkeit, was meistens zu einer angespannten Anhörungsatomsphäre führt: »Ich suchte Schutz. Ich wollte auf keinen Fall wieder zurück, ich habe viel argumentiert, ich war sehr gut vorbereitet. Die Anhörungssituation ist so stressig. Man ist in der Anhörung doch spontan, trotz der Vorbereitung. Ich war gut vorbereitet. Du vergisst alles, es kommt alles spontan.« (A-Interview 9 ähnlich A-Interview 19). Asylbewerber*innen von Typ III nehmen Entscheider*innen oft wie folgt wahr: »Er war sehr streng. Er hatte mir viele Fragen gestellt- Es war eine schlechte Atmosphäre. Der Beamte hat mich viel unterbrochen. Er stellte eine Frage und als ich begann in Details zu beantworten, sagte er, bitte hier reichts, es reicht mir. Ich möchte das alles nicht hören.« (A-Interview 19). Die Antragsteller*innen dieses Typs dürfen bei der Darstellung ihrer Fluchtgeschichte nichts unberücksichtigt lassen, um ihre Glaubwürdigkeit nicht zu gefährden. Sie stehen in der Anhörung ständig unter Beweisdruck und empfinden das Misstrauen, dass ihnen entgegen gebracht wird deutlich. Oft sind sie mit der Unterstellung des Lügens konfrontiert, weshalb sie bemüht sind, zu beweisen, dass sie doch die Wahrheit erzählen: »Der Entscheider hatte mir nicht geglaubt. Er hatte das nicht direkt gesagt: »Ich glaube Dir nicht« aber durch die wiederholten Fragen habe ich es bemerkt. Danach im negati-

9. Anhörungssetting

ven Bescheid. Ich habe nach mehr als zwei Jahren eine Absage erhalten« (A-Interview 19) In einem Experteninterview betont der Anwalt, dass bei der Darstellung der Fluchtgeschichte Menschen scheitern, obwohl sie im Heimatland wirklich bedroht sind und eine Anerkennung des Flüchtlingsstatus verdient hätten. Ihr Scheitern liegt mehr an fehlender Beherrschung einer überzeugenden Darstellungskompetenz und nicht daran, dass ihre Fluchtgründe nicht stimmen. Durch die fehlende Darstellungskompetenz wird ihre Glaubwürdigkeit in Frage gestellt und ihre Anträge werden abgelehnt: »Umgekehrt sind das Menschen, die viele Probleme haben, keine Anerkennung bekommen, weil sie nicht in der Lage sind, ihre Probleme so glaubwürdig zu schildern, dass man sagt ok, das glaube ich. Das Hauptproblem ist die Glaubwürdigkeit. […] die Entscheider bekommen zwar eine Schulung, aber sie ist standardisiert. Es gibt Kriterien, daran misst man die Glaubwürdigkeit und wenn jemand in der Lage ist, sich nach diesen Kriterien zu verhalten, dann ist er glaubwürdig, aber wenn jemand das nicht kann […] Es hängt von den intellektuellen Fähigkeiten ab.« (E-Interview Steer). Diejenigen, die hier angesprochen werden, die »keine Anerkennung bekommen, weil sie nicht in der Lage sind, ihre Probleme so glaubwürdig zu schildern«, sind in den meisten Fällen in diesem Asylbewerbertyp angesiedelt. Denn die Anhörung und die Darstellungskompetenz sind für sie ausschlaggebend. Asylbewerbertyp IV »Der Hoffnungsvolle« In diesem Typ werden alle Antragsteller*innen zusammengefasst, die offensichtlich nach der Charakterisierung der Behörde die genannten Kriterien eines Flüchtlings nicht erfüllen. Sie kommen aus politisch definierten sicheren Herkunftsländern und können laut der behördlichen und politischen Auffassung in den Aufnahmeländern keine persönliche Lebensgefahr in ihrer Heimat erfahren. Dies betrifft meist Geflüchtete, die zur Volksgruppe der Roma gehören und Flüchtlinge aus bestimmten Ländern, wie dem Westbalkan, Mazedonien, Serbien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo. Aufgrund dieser politischen Rahmung wird unterstellt, dass Antragsteller*innen aus diesen Staaten keine Gründe für die Anerkennung als Flüchtling geltend machen können (vgl. Scherr 2015: 163). Deshalb werden Geflüchtete aus diesen Länder per se als nicht legitime Flüchtling eingeordent. Trotzdem muss im Einzelfall entschieden werden nach dem Motto »gesetzliche Gleichberechtigung aller Asylbewerber*innen«. Die Anhörung muss durchgeführt werden, der Fragenkatalog muss abgearbeitet werden und der/die Antragsteller*in muss eine Fluchtgeschichte vortragen. Nach der Anhörung wird der Antrag abgelehnt. Die Argumentationsgrundlage des/der Entscheiders*in baut im Vorfeld auf der vorbereitenden Einschätzung des BAMFs auf, die politisch orientiert ist: »Die Entscheidung, in den hier betrachtenden Fällen, basiert nicht auf den rechtlichen Entscheidungsprämissen, sondern ist explizit eine politische Entscheidung« (EInterview-Schmitz) Entsprechend wird in einem Bescheid des BAMFs wie folgt argumentiert:

123

124

Die Anhörung im Asylverfahren

»Nicht jede Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gilt als Verfolgungshandlung, sondern jene, die so gravierend ist, dass sie eine schwerwiegende Verletzungshandlung darstellt« (zitiert in Tiedemann: 2015: 35). Zum Beispiel der Antragsteller »stammt aus Serbien, einem sicher deklarierten Herkunftsstaat im Sinne des Artikel 16a Abs. 3. 1 GG, § 29 a Abs 2 AsylVfG i.V.m. der Anlage 2 zum AslyVG« Aus den Materialdaten wird ersichtlich, dass die Antragsteller*innen, die dem Typ IV angehören, sich in der Anhörung unterschiedlich verhalten. Sie lassen sich in drei Untertypen einteilen: (a) Diejenigen, die in der Anhörung selbst zugeben, dass sie aus wirtschaftlichen Gründen ihre Länder verlassen haben. Sie verzichten darauf, ein im Gesetz vorgesehenen Schutzkategorie zu beanspruchen und folglich verzichten sie auch darauf, eine entsprechende Fluchtgeschichte zu erfinden. Der Sprach- und Zeitaufwand in der Anhörung bleiben bei diesem Typus gering, weil die Antragsteller*innen mit der Offenbarung, dass sie nicht politisch verfolgt sind, den Grund für die Ablehnung ihres Antrags direkt selbst liefern. Ein eindrückliches Beispiel für diesen Untertyp39 kann einem Anhörungsausschnitt in einem Zeitungsartikel entnommen werden, in dem der Antragteller eindeutig als Fluchtgrund für seinen Asylantrag, wirtschaftliche Gründe nennt:

»Ich bin gekommen, um ein besseres Leben zu führen, einen würdigen Job zu finden und eine Familie zu gründen, mir eine Existenz aufzubauen. Deswegen bin ich ausgereist.« (Hamburger Abendblatt).40 Auf die Standardfrage »was fürchten Sie, wenn Sie zurückkehren?« antwortet der Antragsteller, dass er nichts zu fürchten habe: »Ich habe keine Angst, nach Albanien zurückzukehren« (ebenda). Damit hatte der Antragsteller den Grund für die Ablehnung des Antrags selbst geliefert, denn für den Fluchtgrund der besseren wirtschaftlichen Lebensbedingungen findet man im Gesetz keine Grundlage, um Asyl gewährt zu bekommen. In solchen Fällen ist die Anhörung kurz. (b) Ein zweiter Untertyp von Antragsteller*innen besteht in jenen, die der institutionellen »Asylbewerber*in« Kategorisierung konform handeln. Demgemäß erzählen sie in der Anhörung eine Fluchtgeschichte und versuchen glaubhaft anzukommen. Ein Beispiel dafür ist in einem Anhörungsausschnitt in einem Zeitungsartikel auf Spie-

39

40

In einem weiteren Beispiel erzählt eine 21-Jährige aus dem Kosovo, dass sie aus dem wirtschaftlichen Elend im Kosovo geflüchtet ist. SPIEGEL TV (06.06.2015): Herr Werner entscheidet über Asylanträge: Asylbewerber und ihre Geschichten; verfügbar unter: https://www.youtube.com/wat ch?v=e10kahFDDUM (30.04.2016). Hamburger Abendblatt (12.08.15) von Edgar S. Hasse: Wiltraut Thönnißen ist Hamburgs Entscheiderin; verfügbar unter: https://www.abendblatt.de/vermischtes/journal/thema/article205560 401/Wiltraut-Thoennissen-ist-Hamburgs-Entscheiderin.html (24.9.2016).

9. Anhörungssetting

gel-online zu finden:41 Ein Ehepaar kommt aus Lebane, nahe Kosovo. Der Ehemann hatte mit einer Karre Schrott gesammelt, seine Frau hat ihm geholfen. Während des Vortragens der Geschichte »ahnt jetzt die [Entscheiderin] schon, dass hier zwei vor der Armut geflohen sind. Armut aber zählt nicht als Grund, nicht im Asylverfahren«: Das Ehepaar hätte als einzige Roma in einem Haus voller Serben gewohnt und die Nachbarn hätten sie immer wieder angepöbelt. Dem Ehemann hätten eines Tages drei Jugendliche mit einer Eisenstange das Bein gebrochen, woraufhin er. drei Monate im Krankenhaus verbringen musste. Erst vor einem Monat sei er rausgekommen. Nachdem die beiden getrennt angehört wurden und eine Fluchtgeschichte vorgetragen haben, die als Verfolgung und Lebensgefahr wegen Diskriminierung bewertet werden sollte, »wird der Bescheid später […] als »offensichtlich unbegründet« abgelehnt, so die Entscheiderin (ebenda). Zusätzlich versuchte der Antragsteller die vierte Schutzkategorie »Abschiebungsverbot »zu erwirken, indem er erzählte, dass er an Diabetes leidet. Jedoch wird sein Versuch scheitern, weil Diabetes nicht zu den schweren Krankheiten gehört, die eine Abschiebung verhindern, da Diabetes auch in Serbien behandelbar ist. (c) Diejenigen, die zwar aus diesen sogenannten sicheren Herkunftsstaaten stammen, aber verfolgt werden. Für sie gilt das Gleiche, was für den Asylbewerbertyp III gilt. Es wird nach der abstrakt generellen, politischen Auffassung vermutet, dass sie nicht verfolgt werden. Diese Vermutung steht unter dem Vorbehalt, dass der/die Asylbewerber*in Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, dass er/sie entgegen dieser Vermutung verfolgt wird. Sie müssen -wie der Antragstellertyp III-die Vermutungsregel durch das Vorbringen von konkreten Tatsachen zu ihren individuellen Verfolgungsschicksalen erst einmal entkräften. Zusammengefasst lässt sich folgendes festhalten Asylbewerber*innen verfolgen in der Anhörung unterschiedliche Ziele und gehen an die Anhörung mit bestimmten Erwartungen heran. Die Motive und Ziele der Antragsteller*innen, die ihr Verhalten und die Herangehensweise an die Anhörung prägen, werden zum Teil durch politische und gesellschaftliche Erwartungen und genau definierte Fluchtgrundkriterien mit produziert. Zum Beispiel sprechen für die Antragsteller*innen des Typs II die politischen Fakten und die Offenkundigkeit ihres Bedroht-Seins, auf die es in der Anhörung ankommt. Der Ausgang der Anhörung ist daher erwartbar. In ihren Heimatländern herrscht Krieg und das ist an sich Grund genug, dass die Antragsteller*innen als »legitimer« Flüchtling anerkannt werden. Bei den Antragsteller*innen des Typs III spricht die Verfolgungsgeschichte nicht automatisch für Verfolgung. Sie muss interpretiert, gefiltert und gedeutet werden. Bei der Darstellung der Fluchtgeschichte sollen die Antragsteller*innen gemäß den Erwartungen der Behörden handeln, indem sie die Opferrolle übernehmen. Im Gegensatz zum Typ III entziehen sich die Asylbewerber*innen des Typs I diesem Prozess komplett, indem sie die Rolle der Asylbewerber*innen spielen und eine Fluchtgeschichte präsentieren, jedoch ohne, sich um die Interpretation der Geschichte oder 41

Spiegel-Online- (07.04.2014) von Jürgen Dahlkamp: Flüchtlinge: Im Vorzimmer. Sie heißen Entscheider, und sie entscheiden Schicksale: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-126427241.html (29.05.2017).

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126

Die Anhörung im Asylverfahren

die Bewertung der Entscheider*innen zu kümmern. Die Asylbewerber*innen des Typs IV lassen sich in drei Gruppen einteilen: diejenigen, die wie Asylbewerbertyp III auf eine glaubwürdige Darstellung einer Fluchtgeschichte angewiesen sind, und jene, die sich dem Darstellungszwang entziehen, indem sie ihr Ziel, eine Perspektive in Deutschland aufbauen zu wollen, offenlegen und eine dritte Gruppe, die zwar aus Armut flieht, vorbringt jedoch eine Fluchtgeschichte, die ihre Hilflosigkeit nachzeichnen soll. Die oben dargestellten Typen lassen sich tabellarisch wie folgt zusammenfassen:

Typ IV »Der Hoffnungsvolle«

Typ III »Der Struggler«

Typ II »Der Sichere«

Typ I »Der Verweilende«

a) begehrt kein Asylrecht. Er möchte zukünftige Perspektive in Deutschland aufbauen. b) kommt aus keinem Kriegsgebiet und versucht keine überzeugenden Asylgründe zu nennen. a) begehrt Asylrecht b) kommt aus einem politisch anerkannten Kriegsgebiet und fühlt sich sicher, dass die Flüchtlingseigenschaft anerkannt wird. a) kämpft um eine Schutzkategorie. b) Er ist der Vermutungsregel ausgesetzt. Die Grundlage für sein Asylrecht ist eine überzeugende Fluchtgeschichte. a) hofft auf Bleiberecht. b) kommt aus sogenannten Sicherheitsländern.

b) Voraussetzung

Typen der Asylbewerber*innen in der Anhörung a) Ziel

Tabelle 2: Asylbewerber*innentypen im deutschen Asylverfahren

Sie bitten um Aufnahme, weil sie im Herkunftsland keine Perspektive haben.

a) professionalisiert b) nicht professionalisiert Entspannte Atmosphäre. AB geht davon Entspannte Atmosphäre. AB weiß, aus, dass er nicht abgelehnt wird. Er dass er nicht abgelehnt werden kann. versucht, die höchste Schutzkategorie: Er setzt sich mit den verschiedenen »Politisches Asyl« zu erhalten. Schutzkategorien nicht auseinander. Gespannte Gesprächsatmosphäre: Asylbewerber*in muss die Beweislast tragen und seine Fluchtgründe plausibel und glaubwürdig darstellen. Das Gespräch ist auf beiden Seiten interaktiv.

Es wird eine Anhörung gespielt. Beide Interaktanten übernehmen die Rollenspiele (Asylbewerber*innen und Entscheider*innen) und spielen die behördlichen Vorgaben wie ein »Theaterstück« auf der Bühne des Anhörungsraums, indem der Fragekatalog durchgegangen wird.

Gesprächsverlauf

30 Minuten-1 Stunde

b) 40 Minuten2 Stunden 3-8 Stunden

a) 2-5 Stunden

1-2 Stunden

Gesprächsdauer

9. Anhörungssetting 127

128

Die Anhörung im Asylverfahren

Im Lauf der Untersuchung in den Kapiteln Entscheider*in (K. 9.2.1) und Asylbewerber*in (K. 9.2.2.2) und anhand der genannten Zitate von Entscheider*innen und Asylbewerber*innen, lässt sich herausfolgern, dass die beiden Interaktanten am Beginn oder schon vor der Anhörung eine Vermutung haben, wie die Anhörung ausgeht. Entscheider*innen kategorisieren die Asylbewerber*innen nach Herkunftsländern vor und vermuten daraufhin, wie die Anhörung ausgeht. Die Antragsteller*innen erfahren (z.B. durch die mediale Berichterstattung über die Anhörung), wie sie wahrscheinlich vorkategorisiert werden und in der Folge vermuten sie, was sie in der Anhörung erwartet. Zudem ahnen sie auch, wie nach der Anhörung entscheiden wird. Ich möchte diese Erwartungsverhältnisse zwischen beiden Akteur*innen und die beschriebenen Vermutungen zu den Anhörungsergebnissen bildlich in der Abbildung 2 illustrieren. Abbildung 2: Verhältnis zwischen Entscheider*innen und den Asylbewerber*innen-Typen

»Der Verweilende«

»Der Sichere«

»Der Struggler«

»Der Hoffnungsvolle«

9.2.3

Sicherheitsgefühl vor der Anhörung

Besonderheiten

Ergebnis

Bewerber

begehrt kein Asyl

weiß um Chancenlosigkeit, »gespielte Anhörung«

Ablehnung, Ziel erreicht

Entscheider

ambivalent

während der Anhörung wird klar, dass Bescheid negativ ausfällt

Bewerber

sehr sicher

ist vornherein sicher, dass Asyl gewährt wird

Entscheider

sehr sicher

weiß vornherein aus Aktenlage, dass Asyl gewährt wird

Bewerber

ambivalent

unsicher/hofft auf positiven Bescheid durch externe Faktoren

Entscheider

ambivalent

Ausgangslage offen, externe Faktoren bedingen Ergebnis

Bewerber

gering

keine Bleibeperspektive, aber hofft auf Gewährung

Entscheider

negativ

Ablehnung steht vornherein fest, da keine Rechtsgrundlage gegeben

Gewährung, Ziel erreicht

Ergebnis offen

Ablehnung, Ziel nicht erreicht

Dolmetscher*in

Aus der vorherigen Darstellung konnte erkennbar gemacht werden, dass Erzählkompetenz und kommunikative Fähigkeiten der Antragsteller*innen in der Anhörung von großer Bedeutung sind. Jedoch können diese nur durch Dolmetscher*innen übermittelt werden. Das bedeutet, dass unabhängig davon, wie gut die Kommunikationsfähigkeit des/der Antragstellers*in ist, sie nicht direkt eingesetzt werden kann. An der Station

9. Anhörungssetting

der Sprachübertragung durch »Dolmetscher*in« könnten viele relevante Angaben verloren gehen. Mit dem Verlust von Angaben sind nicht nur inhaltliche Angaben gemeint. Auch Begleitaussagen, die u.a. durch »funktionale Einheiten«42 (Fiehler 2003) wie z.B. »Augmente« (Rehbein 1979),43 die die Antragsteller*innen zu den Ergänzungen ihrer Assertionen anfügen, sind davon betroffen. Verzichtet wird an dieser Stelle jedoch auf die Untersuchung von solchen Phänomenen, weil dies den Rahmen der Arbeit und das Ziel dieses Kapitels sprengen würde. Dieses Kapitel dient der Vervollständigung der Darstellung des Anhörungssettings, in dem die Dolmetscher*innen als dritte interaktive Anhörungsakteuer*innen verortet werden. Daher wird im Folgenden ein kurzer Einblick in die Vorgaben, der die Dolmetscher*innen unterliegen, gegeben. Der/Die Dolmetscher*in ist der /die dritte interaktive Aktant*in im lokalen Anhörungssetting, dessen Beteiligung in der Anhörung per Gesetz (AsylG § 17) verankert ist. Die Asylbehörde hat die Pflicht, die Anhörung mit dem/der Asylsuchenden in einer ihm/ihr verständlichen Sprache durchzuführen: »(1) Ist der Ausländer der deutschen Sprache nicht hinreichend kundig, so ist von Amts wegen bei der Anhörung ein Dolmetscher, Übersetzer oder sonstiger Sprachmittler hinzuzuziehen, der in die Muttersprache des Ausländers oder in eine andere Sprache zu übersetzen hat, deren Kenntnis vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann und in der er sich verständigen kann.« (AsylG § 17). Im Falle, dass der/die Asylbewerber*in selbst einen/eine Dolmetscher*in, dem/der er/sie vertraut, zur Anhörung mitbringen möchte, ist ihm/ihr dies rechtlich erlaubt. Die Kosten trägt der/die Asylbewerber*in in diesem Fall selbst: »Der Ausländer ist berechtigt, auf seine Kosten auch einen geeigneten Sprachmittler seiner Wahl hinzuzuziehen.« (AsylVfG § 17 II). Wenn der/die Entscheider*in die Schlüsselposition in der Anhörung hat und der/die Antragsteller*in der Hauptakteur*in ist, so ist der/die Dolmetscher*in als Sprachvermittler*in das wichtigste Bindeglied, über die das Anhörungsgespräch überhaupt erst möglich wird. Die Rolle des/der Dolmetschers*in im Anhörungssetting, in dem Personen aus ganz unterschiedlichen Kultur- und Sprachräumen auf der kommunikativen

42

43

Funktionale Einheiten sind solche »Einheiten, denen die Beteiligten im Vollzug des Gesprächs eine Handlungsfunktion zuschreiben können, die im jeweiligen Kontext zur Fortentwicklung der Interaktion beiträgt.« (Fiehler 2003: 152) Dabei geht es nicht um die Zuschreibung einer Funktionalität von grammatischen Funktionen, sondern um eine Funktionalität im Kommunikationsprozess, sodass mit diesen Einheiten spezifische Gesprächsaufgaben bearbeitet werden können, wie z.B. das Äußern einer Bewertung oder die Adressierung eines Gesprächspartners. Sie »werden dadurch konstituiert, dass ihnen eine Funktion im und für den Kommunikationsprozess zugeschrieben werden kann"(ebenda: 153). Augmente sind Ausdrücke (wie z.B. ne, nich, nich wahr, ja, wa, gell, woll, verstehste), die auf den Kommunikationsprozess wirken und die mentale Verarbeitung des Hörers beeinflussen können (vgl. Rehbein 1979: 65). Laut meinen Beobachtungen in mehreren Anhörungen, in denen ich die Ursprung- und Zielsprache verstehen konnte, fallen die funktionalen Einheiten, Moralisierungen, Gliederungssignale, Augmente usw. beim Dolmetschen weg.

129

130

Die Anhörung im Asylverfahren

Ebene verhandeln müssen, ist von entscheidender Bedeutung. Ihr Einfluss auf den Gesprächsverlauf ist unverkennbar (vgl. u.a. Wadensjo 1992: 111f.; Pöllabauer 2005: 76). Bedenkt man, dass die Gefahr besteht, dass die dolmetschende Person Informationen filtert und von ihr als irrelevant eingestuften Äußerungen zusammenfasst oder nicht überträgt (vgl. Pöllabauer 2005: 441ff.), wird klar, wie groß der Einfluss der/des Dolmetschers*in auf den Anhörungsverlauf sein kann. Laut Pöllabauer (2005) können solche Vorgehensweisen, wie die Zusammenfassung des Gesagten oder das sinngemäße Übersetzen, zu erheblichen Problemen im Asylverfahren führen (vgl. ebenda). Über die Rollen und die Macht der Dolmetscher*innen sowie über die Anforderungen, die an sie gestellt werden müssen, sind mehrere Arbeiten erschienen (vgl. K. 3). Im Folgenden wird kurz auf die Anforderungen und Aufgaben, welche Dolmetscher*innen laut der gesichteten Literatur in der Anhörung erfüllen sollen, eingegangen.

9.2.3.1

Voraussetzung und Anforderung für das Dolmetschen

Der/Die Dolmetscher*in ist den Weisungen des Bundesamtes unterworfen und seine Aufgabe besteht in erster Linie in der wortwörtlichen Wiedergabe der geäußerten Aussagen (Schubert 1983: 218). In Bezug auf das Anhörungssetting gelten für die Dolmetscher*innen bestimmte Voraussetzungen und Anforderungen, die sie erfüllen müssen und die ihr Handeln in der Anhörung bestimmen sollen. Diese Anforderungen implizieren Handlungsspielräume, die dem/der Dolmetscher*in eigentlich laut Schubart (1983) und Pöllabauer (2005) nicht zustehen sollten. Jedoch sind sie in der Praxis sichtbar. Im Folgenden wird ein Einblick in die genannten Anforderungen gegeben, ohne diese im Einzelnen noch einmal zu analysieren: •







Jeder/Jede Dolmetscher*in, sowohl einer der vom Bundesamt bestellt wird wie auch einer der/die privat von dem/der Antragsteller*in herangezogen wird, muss ein/eine vereidigter*e und zertifizierter*e Dolmetscher*in sein. Für diese Qualifikation muss eine Prüfung abgelegt werden, in der neben den Sprachkenntnissen und Sprachübertragungsfähigkeiten hauptsächlich Grundbegriffe des Rechtssystems geprüft werden (vgl. Pöllabauer 2005 :24). Die Autorin merkt jedoch an, dass sich in den Unterlagen für diese Prüfung kaum für das Asylrecht relevante Grundbegriffe finden. Die Dolmetscher*innen sollen nicht nur Sprachkompetenz in den zu dolmetschenden Sprachen aufweisen, sondern auch über reflektiertes Wissen über die entsprechende Kultur und deren Besonderheiten verfügen (vgl. Pöllabauer 2005: 35). Dolmetscher*innen sollen die Fachterminologie (Rechtsterminologie, Behördenterminologie) gut beherrschen sowie eine gute Ausdrucksweise in der gesprochenen Sprache besitzen (vgl. Hebenstreit et al. 2009: 179). Die Dolmetscher*innen sollen das Gesagte wiedergeben, welches als Information auf der einen Seite in einer Sprache hineingeht und auf der anderen Seite in einer anderen Sprache wieder herauskommt. Die Informationen dürfen nicht von eigenen, persönlichen Gefühlsregungen, Meinungen, Rollenbildern etc. beeinflusst werden (vgl. Pöllabauer & Schumacher 2004: 20).

9. Anhörungssetting





Die Aussagen der Gesprächsteilnehmer*innen müssen inhaltlich vollständig übertragen werden, ohne dass etwas hinzugefügt oder weggelassen werden darf (vgl. Pöllabauer 2006: 41). Die Anhörung erfolgt in der ersten Person unmittelbar zwischen dem/der Anhörenden und dem/der Antragsteller*in. Es werden also keine Befragungsaufträge erteilt, sondern es werden die Fragen und Antworten direkt mit den Antragsteller*innen kommuniziert, wie eine Dolmetscherin in einem Interview wiedergibt: »Der Anhörer soll nicht sagen: Fragen Sie ihn [Antragsteller] bitte nach […]. Die Antwort muss in Ich-Form gegeben werden. Ich darf nicht sagen, ihm ist dies und das passiert, sondern mir ist das und dies passiert« (D-Interview:3).







Der/Die Dolmetscher*in soll ausschließlich als Medium zur Sprachübertragung fungieren und soll ansonsten in dem Gespräch keine Rolle spielen: »As interpreter it is not your role to take sides.« (UNHCR 1993: 37). Dolmetscher*innen sollen ihre Aufgabe darin sehen, sich als unparteiische Vermittlungsinstanz und sich als »non-persons« (Morris 1995: 35) bei der neutralen, rein verbalen Sprachübermittelung wahrnehmen lassen. Die wortgetreue Wiedergabe wird als oberstes Gebot gesehen. Ergänzungen und Erklärungen dürfen nur hinzugefügt werden, wenn diese zum besseren Verständnis bei den Zieltextzuhörern führt (vgl. Feldweg 1996: 240f.).

Betrachtet man den Auszug der Anforderungen liegt die Vermutung nahe, dass an bestimmten Stellen in der Praxis Divergenzen entstehen müssen. Empirische Untersuchungen zeigen anhand der erwähnten Literatur und des eigenen Datenkorpus, dass Dolmetscher*innen keine neutralen Übersetzungsmaschinen und keine »non-person« sind, wie von ihnen erwartet wird, sondern aktiv an dem Gespräch teilnehmen und die Kommunikation beeinflussen. Beispielsweise zeigt Pöllabauer (2005) anhand von empirischer Fallstudie, dass Dolmetscher*innen einen größeren Einfluss auf die Asylanhörungen nehmen können, als es ihnen zusteht. Im Rahmen einer detaillierten Analyse zeigt die Autorin, dass Dolmetscher*innen oft eigeninitiativ in die Gesprächssteuerung eingreifen und zuweilen völlig die Vernehmungsführung übernehmen.44 Die Dolmetscher*innen nehmen in ihren Übersetzungen nicht nur Veränderungen des Registers und der Ausdrucksweise des jeweiligen Sprechers vor, sondern stellen auch eigenständig Rückfragen oder liefern Erklärungen (ebenda: 42). Ein weiteres Phänomen ist, dass in Situationen, in denen der Zusammenhang des Geäußerten nicht wirklich erfasst wird, tendieren Dolmetscher*innen dazu, nicht zu si-

44

Pöllabauer (2005) zeigt, dass Dolmetscher*innen in einigen Anhörungen auf Eigeninitiative die Gesprächssteuerung, und zwar über längere Passagen hinweg übernehmen und die vernehmungsrelevanten Informationen elizitieren. Die Dolmetscher*innen versuchen einen möglichst effizienten, erfolgreichen Verlauf der Einvernahmen zu gewährleisten, indem sie »irrelevante« Inhalte weglassen. Zu diesem Zweck unterbrechen sie die Asylwerber*innen, wenn sie der Meinung sind, dass die Gesprächsinhalte nicht den Erwartungen der Beamten entsprechen (vgl. ebenda, ein Fallbeispiel: 314- 328 und 441).

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132

Die Anhörung im Asylverfahren

gnalisieren, etwas nicht verstanden zu haben, sondern eine »Face-Saving-Strategie« (Pöllabauer 2007: 41) anwenden, um so zu verhindern, dass ihre Kompetenz angezweifelt wird. Ein exemplarisches Beispiel dafür findet sich Anhörung 3 aus den Eigendaten. Was noch in der Macht der Dolmetscher*innen liegt, ist die Übersetzung von internen Metakommentaren, die sowohl die Antragsteller*innen als auch die Anhörenden bezüglich der Anhörung oder zum Verhalten der Interaktanten äußern. Diese Metakommentare sollten m.E. als Dolmetscherin nicht übersetzt werden. Die Dolmetscher*innen können solche Kommentare als »Geheimnis« des Interagierenden wahren und nicht übersetzen, um so ihre Loyalität den Beamt*innen und/oder den Antragsteller*innen gegenüber zu beweisen. Manche Dolmetscher*innen übertragen Metakommentare und Zwiegesprächen, was als »Verrat« gewertet werden kann und zu Unmut führt (vgl. Scheffer 2001: 58). Darüber hinaus betont ein Dolmetscher in einem Interview, dass das Gebot wortgetreu zu übersetzen, nicht immer möglich ist: »Es gibt verschiedene Techniken zu übersetzen: man kann simultan übersetzen, man kann konsekutiv übersetzen, man kann auch Sachen weglassen, wenn sie unerheblich sind, ja jeder macht es anders […] Man muss manchmal sinngemäß übersetzen. Wenn jemand aus dem Dorf kommt, der nicht lesen und schreiben kann und mit paar Vokabel an Wörtern auskommt und der Sachbearbeiter stellt natürlich komplizierte Fragen, dann können Sie nicht genau so übersetzen. Es kann sein, dass er diese Wörter nicht versteht, dann muss der Dolmetscher versuchen, auf der niedrigen Niveau zu sprechen, was soll ich sagen: ja Dinge vereinfachen, sage ich mal. (D-Interview Halil).45 Kurzum: Die empirischen Untersuchungen und die interviewten Dolmetscher*innen und meine eigene Praxis und Beobachtung weisen darauf hin, dass es eine Diskrepanz zwischen den vorgeschriebenen Anforderungen an Dolmetscher*innen und der Aufgabenerledigung in der Anhörungspraxis gibt. Ambivalente Rollen der Dolmetscher*innen Das Dolmetschergesetz regelt zwar die Vereidigung und die Eintragung von Dolmetscher*innen, nicht aber ihre Ausübungsbefugnis genauer. Dolmetscher*innen werden in vielen Fällen wie Sachverständige als Hilfsorgane und fachkundige Berater*innen des Gerichts betrachtet (vgl. Kadric 2001: 230). Manchmal wird ihre Loyalität von den Asylbehörden angezweifelt (vgl. Scheffer 2001: 33f.). Andererseits werden Dolmetscher*innen vom Bundesamt im Asylbereich als Helfer*innen oder ›verlängerter Arm‹ der Be45

Als Dolmetscherin möchte ich Folgendes anmerken: Man hat das Gefühl, eine Übertragung von der Ursprungsprache in die Zielsprache, ohne Begriffserklärung oder kulturellen Hintergrund zu einem spezifischen Thema mitzuliefern, könne zu Missverständnissen führen. Erklärt man, gibt man manchmal mehr Preis als der/die Antragsteller*in selbst Preis geben möchte. Gibt ein/eine Dolmetscher*in von sich aus keine Erklärung, hat er/sie das Gefühl, nicht vollständig übersetzt zu haben. Deshalb habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht wie folgt vorzugehen: Ich kündige an, jetzt übersetzte ich wörtlich und merke an, es bedarf hier m.E. einer Klärung, die ich erst erklären darf, wenn der/die Antragsteller*in dies auch wünscht. Die Erfahrung lehrt, dass die Antragsteller*innen diese Erklärung, die die Dolmetscher*innen meinen, geben zu müssen, manchmal nicht wollen.

9. Anhörungssetting

hörde betrachtet.46 Auch von Seiten abgelehnter Asylwerber*innen wird manchmal die ›Untreue‹ oder eine ›fehlende Fachkompetenz‹ der Dolmetscher*innen unterstellt (vgl. ebenda: 33). Manche Antragsteller*innen behaupten, dass die Dolmetscher*innen daran schuld seien, dass ihren Asylantrag abgelehnt wurde. Sie geben für ihre Behauptungen Gründe wie: dass der/die Dolmetscherin einer feindlichen Ethnie angehörig ist, einen anderen Dialekt spricht oder sich laut ihrer Wahrnehmung keine Mühe gibt, der/die Asylsuchende genau zu verstehen. Pöllabauer (2005) stellt fest, dass die Rollenausformungen der Dolmetscher*innen in der Anhörung, je nach Interaktionssituation, unterschiedlich ausfallen. (vgl. Pöllabauer 2005: 201). Sehen sich die Dolmetscher*innen in der Rolle der »Helfer*innen« der Behörde, müssen sie die imagegefährdenden Aussagen des Sachbearbeiters abschwächen und neutralisieren (Pöllabauer 2005:200). Positionieren sich die Dolmetscher*innen auf der Seite des/der Antragstellers*in, so die Autorin, sollen sie die imagegefährdenden Aussagen des/der Asylbewerbers*in abschwächen und neutralisieren. Übernehmen die Dolmetscher*innen in einer Sprechsituation die Rolle der Kulturvermittler*innen und Mediator*innen, müssen sie eventuell imagebedrohendes Verhalten erklären (vgl. ebenda). Die Dolmetscher*innen haben demnach neben der Sprachvermittlung weitere Rollen, die nicht klar definiert sind, aber von ihnen eigenständig, je nach Situation, selbst übernommen werden.

9.2.3.2

Ambivalenten Rollenwahrnehmung der Dolmetscher*innen in den erhobenen Daten

Es soll ein kurzer Überblick darüber ermöglicht werden, wie die Dolmetscher*innen in den Interviewdaten wahrgenommen werden. Über die unkontrollierbare Macht der Dolmetscher*innen bei Anhörungsgesprächen äußerten sich mehrere Personen, die die Asylsuchenden zur Anhörung begleiten. Sie betonen in Interviews, dass der/die Dolmetscher*in der/die einzige ist, der/die alle Anwesenden versteht. Er/Sie übersetzt in die Zielsprache und ebenfalls das Anhörungsprotokoll noch einmal zurück in die Ausgangssprache. Zwei Begleiter*innen stellten folgende Hypothese auf, um diese Macht und die unkontrollierbare Arbeitsweise zu verdeutlichen: Angenommen, der/die Dolmetscher*in hätte einen Fehler bei der Übersetzung gemacht, wird er/sie diesen wahrscheinlich bei der Rückübersetzung nicht aufdecken wollen. Die genannte Macht des/der Dolmetschers*in könnte seitens der anderen Anhörungsteilnehmer*innen vermindert werden, wenn seine/ihre Qualifikation angezweifelt werden würde. Die Dolmetscher*innen können ausgetauscht werden, wenn die Be-

46

Über die ambivalente Dolmetscher*innenrolle (»Helfer« für Landsleute und »treu« zum Auftraggeber zu sein), in der der Dolmetscher während der Anhörung stecken kann, sagt ein Anwalt: »Der Dolmetscher ist immer dazwischen, gerade wenn man Landsmann, Landsfrau ist. Der Flüchtling sieht den Dolmetscher erst auf seiner Seite und erwartet Unterstützung. Wie oft fragt der Flüchtling: »Wie soll ich diese Frage beantworten«. Ja gut, manche Dolmetscher übersetzen diese Frage und sagen [dem Anhörenden]: »Er fragte mich, was er antworten soll«. Aber das ist natürlich wieder ein gewisser Verrat, das will man nicht. Man ist schon so zwischen den Stühlen. Es gibt Dolmetscher, sie sind sehr souverän und können diese Rolle gut spielen und wissen ihre Position, es gibt aber andere, die sind auch verunsichert und das führt dann auch zur Beeinträchtigung der Übersetzung.« (E-Interview Steer).

133

134

Die Anhörung im Asylverfahren

gleiter*innen oder die Antragsteller*innen an der Qualifikation der Dolmetscher*innen zweifeln, wie dieser Interviewausschnitt zeigt: »Das Problem am Anfang war: der Dolmetscher war sehr schlecht. Er hat sehr gebrochenes Deutsch gesprochen. Dazu auch noch, was er dargestellt hat, hat er verkürzt. Das merkte man allein daran, dass er sehr kurz gesprochen hat. Zum Beispiel die Person, die angehört wurde, hat drei vier Sätzen benutzt und der Dolmetscher hat quasi nur einen Satz übersetzt. Die Person, die ich begleitet habe, hatte auch kein gutes Gefühl bei ihm und ich habe dann eingefordert, dass der Dolmetscher gewechselt werden soll. Er hat nicht eins zu eins übersetzt. Er hat auch teilweise Fragen geklärt, die zwischen der angehörten Person und dem Anhörer hätten geklärt werden müssen, anstatt zu übersetzten.« (B-Interview Rubi). Die Antragsteller*innen können auch selbst einen*e neuen*e Dolmetscher*in einfordern: »[Der Antragsteller] hat gesagt, der Dolmetscher übersetzt nicht richtig: Ich vertraue ihm nicht. Was soll der Entscheider machen. Er musste einen anderen Dolmetscher bringen.« (B-Interview Norbert). Den Dolmetscher*innen werden manchmal offen Misstrauen von den Asylbewerber*innen hinsichtlich ihrer Übersetzungskompetenz entgegengebracht. Viele Befragte47 weisen auf ihre Vermutungen hin, dass vielleicht falsch übersetzt werden könnte, weil sie es nicht kontrollieren können, ob die Dolmetscher*innen die Zielsprache (Deutsch) gut beherrschen: »Ich hatte keine Probleme mit dem Dolmetscher, aber ich hatte Angst, dass es sprachliche Probleme geben konnte, weil er vielleicht nicht so gut Deutsch kann. Aber ich hatte keine Sorge wegen der politischen Haltung des Dolmetschers […] Der Dolmetscher sollte in jedem Fall neutral sein und nur das wiedergeben, was ich sage und ich bin bis nach der Anhörung nicht sicher, ob er es tat.« (A-Interview 7). Dolmetscher*innen können bei verschiedenen Asylsuchenden durch ihren Auftritt im Anhörungsraum zusätzlicher Besorgnis im Hinblick auf die Neutralität bei der Sprachübertagung auslösen: »Ich hatte die ganze Zeit kein gutes Gefühl beim Dolmetscher. Sein Delikat, sein Aussehen, alles so deutete daraufhin, dass er auf der Seite der Regierung ist. Ich bin genau davor [Regierung] geflohen. Am Anfang wollte ich gar nichts erzählen, ich war zurückhaltend, nicht wegen des Beamten, sondern wegen des Dolmetschers. Aber im Laufe des Gesprächs sieht man darüber hinweg und die Fragen werden beantwortet. […] ich glaube er hat gut übersetzt. Ich hatte ihn auch sehr gut verstanden. Nur es war mein Problem, ich konnte ihn bis Ende der Anhörung nicht vertrauen.« (A-Interview 30).

47

Manche Anwälte/Anwältinnen äußern sich negativ zur Dolmetscherkompetenz, wie dieser: »In dieser Anhörung ging es um viele militärische Begriffe, die die Dolmetscherin nicht kennt und hat dann umschrieben, woraus etwas anderes rauskam, als von meinem Mandanten beabsichtigt wurde (E-Interview Steer.).

9. Anhörungssetting

Übersetzungsfehler kann nur jemand aufdecken, der beide Sprachen versteht. Dahingehend verweise ich auf einen detaillierten Bericht eines Anhörungsbegleiters, der die Ziel- und Ursprungssprache als Muttersprache beherrscht (Deutsch- und Arabischmuttersprachler). Er begleitete zwei Antragsteller*innen zur Anhörung und zeigt die Übersetzungsfehler an konkreten Beispielen auf.48 Mit diesem Kapitel sind die drei Hauptakteur*innen der lokalen Interaktion ausführlich abgebildet. Noch zwei bzw. drei Personen können an der Anhörung teilnehmen: Begleitperson, Anwalt/Anwältin und Vormund (wenn der/die Antragsteller*in minderjährig ist). Ich stelle die Hintergründe für die Erlaubnis der Teilnahme der Begleitperson dar und verzichte darauf, diese für den/die Anwalt/Anwältin und Vormund darzustellen.

9.2.4

Begleitperson

Die Anhörung ist keine öffentliche Verhandlung. Die Anwesenheit eines Verfahrensbeistands wird rechtlich (Art.20 bis 23RL 2013/32/EU) nach Gesetz § 14 Absatz 4 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes, VwVfG geregelt. Keiner kann an der Anhörung teilnehmen, sei denn, dass der/die Antragsteller*in es zulässt: »Werden Antragsteller/-innen von einem Beistand (§ 14 VwVfG) zur Anhörung begleitet, so ist diese Person nur dann zuzulassen, wenn die Antragsteller/-innen eine entsprechende Erklärung zu Protokoll geben und der Beistand sich bei Erscheinen ausweisen kann.« (Dienstanweisung Asylverfahren DA-Asyl, 2009: 35). Der Beistand wird nicht als Teil der Öffentlichkeit gesehen, sondern gehört als Begleiter*in zu dem/der Asylsuchenden und er/sie ist somit auch Beteiligter/Beteiligte am Verfahren. Mitarbeiter*innen, die zwecks des Einarbeitens bei der Anhörung anwesend sein wollen, müssen von dem/der Antragsteller*in das Verständnis dafür einholen (bestätigt durch Interviewte Nr.: 18). Nachdem die rechtlichen Rahmenbedingungen für Anhörungen und Schutzkategorien dargestellt wurden, sowie über die direkten Akteur*innen, die die Anhörung durchführen und über die indirekten Akteur*innen, die die Anhörung beeinflussen, ausführlich berichtet wurde, werden im Folgenden und letzten Kapitel im Teil II die juristischen und institutionellen Anhörungszwecke sowie die Charakteristiken der Anhörung illustriert.

48

Blogbeitrag in Blicktausch (19.10.2016) von Karim Hamed: Tag 48: BAMF -DolmetscherChaos; verfügbar unter: https://www.blicktausch.com/2016/10/19/tag-48-bamf-dolmetscher-chaos /(28.08.2018)

135

10. Die Anhörung

Die Anhörung ist ein institutionelles Gespräch, das zwischen einem/einer Asylbewerber*in und einem/einer Institutionsvertreter*in des Bundesamts mit dem Ziel geführt wird, über eine Schutzgewährung des/der Antragsstellers*in zu entscheiden. Für die Realisierung der Anhörungszwecke werden bestimmte kommunikative Handlungen eingesetzt und die Anhörungsgespräche werden dem Zweck dienlich auf eine bestimmte Weise gestaltet. Daraus entstehen anhörungsspezifische, kommunikative Charakteristiken, die aus dem selbst gewonnenen Materialdaten herausgearbeitet werden und in diesem Kapitel zusammenfassend darlegt werden. Danach werden die institutionellen Anhörungszwecke dargestellt. Diese kommende Schilderung über die Anhörungszwecke und Charakteristiken soll, wie alle anderen Kapitel im Arbeitsabschnitt II, als Hintergrundwissen zum Verstehen und zur Nachvollziehbarkeit der Kommunikationsabläufe der Anhörungsinteraktionen dienen.

10.1

Status der Anhörung

Die Anhörung ist der einzige Moment, in dem der/die Asylbewerber*in die Gelegenheit hat, den/die Behördenvertreter*in bzw. dem Aufnahmestaat von seiner/ihrer Schutzbedürftigkeit zu überzeugen. Die verfassungsrechtliche Asylrechtsgewährung garantiert nicht materiell das Asylrecht des politisch Verfolgten, sondern fordert, dass die Rechtsgewährung im Rahmen des Verfahrensrechts entschieden wird (vgl. Kilian 1985: 82). Die Anhörung ist kein Verfahren, welches nur eine Richtung hat, sondern »ein two way process«, in dem alle Aktant*innen, sowohl Anhörenden wie auch Antragsteller*innen, ihre Aufgaben zu erledigen haben. »Die Anhörung ist der wichtigste Teil des gesamten Asylverfahrens. Im Rahmen der Anhörung hat der Asylsuchende die Gelegenheit, aber auch die Pflicht, alle Gründe darzulegen, weshalb er das Herkunftsland verlassen musste und was ihm bei einer Rückkehr droht. Die Anhörung stellt die Grundlage für die spätere Entscheidung über den Asylantrag dar. Eine zweite Anhörung ist nicht vorgesehen.« (Der Paritätische Gesamtverband 2016: 15).

138

Die Anhörung im Asylverfahren

Für den/die Entscheider*in bzw. dem Staat bildet die Anhörung die rechtliche Grundlage für die Erarbeitung einer behördlichen Entscheidung über die Anerkennung oder Ablehnung der Asylsuchenden. Das Anhörungsgespräch erfüllt somit die wichtigste Funktion im Asylverfahren, weil auf dessen Basis dem/der Asylbewerber*in ein rechtlicher Status gegeben wird. Die Anhörung bedient juristische und verwaltungsrechtliche Zwecke, die die Gesprächsausführung bestimmen.

10.2

Bestimmung der Anhörungszwecke

Die Anhörungsführung und Entscheidungsbefugnisse sind durch Regeln personenunabhängig festgelegt, wodurch eine formale, personenunabhängige Struktur entsteht. Folglich werden die Anhörungszwecke nicht von den Interaktionsteilnehmern*innen selbst bestimmt, sondern diese werden durch Verfahrensvorschriften präzisiert. Um die Anhörungsverläufe umfassender verstehen zu können, soll ihr Zweck bestimmt werden, denn institutionelle Gespräche, wie die Anhörung, sind den Zwecken entsprechend organisiert. Die »Zweckbestimmtheit der Institution« (Wunderlich 1976: 313) ist eine zentrale Kategorie, die für die sozialen Rollenbeziehungen konstitutiv ist und für das Verständnis der Prinzipien, nach denen Handlungsabläufe in Institutionen funktionieren, unverzichtbar ist (vgl. ebenda). Die ›Zweckbestimmtheit‹ des institutionellen Handelns bedeutet, dass Institutionen »sinnorientierend« und »handlungsstabilisierend« (Dittmann 1979: 211) wirken: »Sie geben ihren Mitgliedern eine Sinnstruktur vor, die ihre Handlungsmöglichkeit sichert und begrenzt« (Weymann 1978: 219). Institutionsvertreter*innen, wie die Beamten im BAMF, handeln und kommunizieren somit in Bezug zur Zweckbestimmtheit ihrer Institution. Kommunikatives Handeln vollzieht sich in einem »Handlungsraum« (Rehbein 1977:12f), »der ein spezifisches Ensemble von voraussetzenden Bestimmungen des Handelns umfaßt« (Bührig 1996:7), das dem institutionellen Zweck1 dienlich sein muss und sich dabei anders entfalten könnte. Deshalb ist es wichtig, die Zwecke der Institutionen herauszufinden, um die sprachlichen Handlungen, die dort produziert werden, in ihren Gesamtkontext einzuordnen. Im Folgenden werden die Anhörungszwecke detailliert beschrieben.

10.2.1

Juristische Funktion der Anhörung

Nach § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG ist das Bundesamt zur persönlichen Anhörung des/der Asylsuchenden verpflichtet, von der nur unter den im Gesetz genannten Voraussetzun1

Der einmal bestimmte Zweck in einer Institution muss nicht unveränderbar bleiben. Sobald eine Institution ihren Zweck ändert, werden die Institutionsinhalte veränderbar, was zur Folge hat, dass sich die Kommunikationspraxis innerhalb der Institution ebenfalls ändert. Im (K. 7.1.2) wurde gezeigt, wie sich die Verwaltungszwecke und die Verwaltungspraxis (Anhörungspraxis) ändern, wenn sie sich den aktuellen politischen Zielen bezüglich des Asylverfahrens und der gesellschaftlichen Wahrnehmung zur Flüchtlingsaufnahme anpassen. Verwaltungszwecke und -praxis und ihr institutionelles Handeln sind »nicht nur ein Zustand, sondern implizieren immer auch einen Prozess« (Güntner 2007: 29), der sich infolge politischer und gesellschaftlicher Erwartungszusammenhänge selbst produziert.

10. Die Anhörung

gen abgewichen werden darf.2 Diese Verpflichtung gilt für alle Asylanträge, die sowohl nach § 14 Abs. 1 AsylVfG als auch nach § 14 Abs. 2 AsylVfG gestellt worden sind. Die persönliche Anhörung ist das zentrale Herzstück des Asylverfahrens und wird gesetzlich seit 1982 aufgrund der Kritik der Rechtsprechung an der Regelpraxis der Sachentscheidung ohne Anhörung vor 1982 für jeden/jede Antragsteller*in zwingend vorgesehen (vgl. Wolke 1988: 45). Nur in einem Anhörungsgespräch kann der/die Asylbewerber*in eine der oben beschriebenen Schutzkategorie im Kapitel 8.2 geltend machen. Ohne Anhörungsausführung und der darauf basierenden Entscheidung kann der Staat der Antragsteller*innen keinen rechtlichen Status gewähren. In einem Rechtsstaat muss die Entscheidung für oder gegen die Asylgewährung eines/einer Asylsuchenden gesetzlich begründet werden. Das Gesetz übernimmt sozusagen eine »Vermittlerrolle« zwischen dem/der Asylbewerber*in und dem Staat, weil es die Regelungen für die Aufnahme von Asylantragsteller*innen unter bestimmten Voraussetzungen festlegt. Damit das Grundgesetz diese Vermittlerrolle real übernehmen kann, muss es erst in Form von genauen gesetzlichen Paragrafen (Asylrecht) formuliert werden, die wiederum in strukturierten juristischen Verfahren institutionalisiert werden (vgl. Münch 1993: 38). Das Gesetz trifft »keine Bestimmung darüber, wie die tatbestandsmäßigen Vorrausetzungen des Asylanspruchs festzuhalten sind« (ebenda). Das Asylrecht, das den Asylbewerber*innen die Verhandlungsbasis mit dem Staat garantiert, muss erst in einem Verfahren transformiert werden, das für die Verhandlungspartner*innen zugänglich ist. Durch eine Transformation in Verfahrensreglungen wird der rechtlich normierte Zustand zu einem Zustand der sozialen Wirklichkeit (vgl. Münch 1993: 39 nach Hesse 1978: 434). Die Anhörung im Asylverfahren stellt die soziale Wirklichkeit dar, in dem das Gesetz als regulative Instanz im Rahmen einer Verhandlung zwischen Antragsteller*innen und dem Aufnahmestaat durch die Beamten wirken kann. Sie ist die »Bühne«, auf der das rechtliche Verfahren in Form eines Gesprächs für alle Beteiligten zugänglich wird. Im Anhörungsgespräch berufen sich beide Gesprächspartner*innen auf das Gesetz. Asylsuchende berufen sich auf das Gesetz beim Antragstellen. Sie tragen dann ihre Argumente vor, warum sie meinen, dass ihnen das Recht auf Asyl zustehen könne. Die Entscheider*innen berufen sich auf Gesetze bei der Begründung des Verhandlungsergebnisses. Wie und auf welcher Basis eine solche Entscheidung getroffen wird, wird im nächsten Kapitel erörtert.

2

Fälle, in denen auf die persönliche Anhörung zum Inhalt des Antrags verzichtet werden kann und aus der Aktenlage entschieden werden darf, sind laut der Richtlinien der europäischen Union solche, bei denen »a) die Asylbehörde anhand der verfügbaren Beweismittel eine positive Entscheidung in Hinblick auf die Flüchtlingseigenschaft treffen kann oder b) die Asylbehörde der Auffassung ist, dass der Antragsteller aufgrund dauerhafter Umstände, die sich seinem Einfluss entziehen, nicht zu einer Anhörung in der Lage ist. Im Zweifelsfall konsultiert die Asylbehörde medizinisches Fachpersonal, um festzustellen, ob es sich bei dem Umstand, der dazu führt, dass der Antragsteller nicht zu einer Anhörung in der Lage ist, um einen vorübergehenden oder dauerhaften Zustand handelt.« (Amtsblatt der Europäischen Union 29.6.2013: 70f.).

139

140

Die Anhörung im Asylverfahren

10.2.2

Die Anhörung als Grundlage für die Entscheidungsfindung

»Zentrale Aufgabe von Asylbehörden ist es, legitime und rational begründete Entscheidungen über Schutzgewährung zu treffen und zu zertifizieren.« (Schneider & Wottrich 2017: 89). Aufgrund der oben beschriebenen Mängel an Beweismittel im Asylverfahren ist die persönliche Anhörung die zentrale Grundlage für die Ermittlung des Sachverhalts, (vgl. EInterviews, Marx 2003, 2013 und 2015; Scheffer 2003: 425; Dahlvik 2014: 259f). Verfahren wie die Anhörung bzw. Asylverfahren haben grundsätzlich die Funktion, gesetzeskonforme Entscheidungen zu erarbeiten (vgl. Luhmann 1969: 21). In der Regel kommt dem/der Institutionsvertreter*in im Rahmen der Zielrealisierung der Anhörungszwecke ein wesentliches Maß an Macht zu. Er/Sie hört an, führt das Protokoll, bewertet und entscheidet oder bereitet eine Entscheidungsentwurf vor. Diese auf dem ersten Blick uneingeschränkte Macht wird jedoch dadurch eingeschränkt, dass die Entscheidung die Bedingung erfüllen muss, gesetzlich legitimiert zu werden. Auch wenn nicht immer gewährleistet werden kann, dass die richtige Entscheidung getroffen wird, muss sie durch eine Begründung in Anlehnung an die gesetzlichen Kriterien legitimiert werden: »Ein System, das die Entscheidbarkeit aller aufgeworfenen Probleme garantieren muss, kann nicht zugleich die Richtigkeit der Entscheidung garantieren« (ebenda: 21). Die Funktion des Verfahrens besteht daher vor allem darin, »die Reduktion von Komplexität intersubjektiv übertragbar zu machen […] durch Bildung legitimer Macht zur Entscheidung« (ebenda: 26). Eine legitime Macht zur Entscheidung kann erst durch eine logische Begründung der getroffenen Entscheidung gebildet werden. Dadurch erscheint das Verwaltungshandeln plausibel und jegliche willkürlichen Elemente, die Entscheidungen enthalten könnten, können unsichtbar gemacht werden (vgl. Boudieu 1987: 844). Die zentrale Aufgabe der Anhörung besteht darin, dem Bundesamt zu ermöglichen, seine Haupttätigkeit (eine Entscheidung über den Asylantrag zu treffen) zu erledigen: Das Treffen von Entscheidungen ist die Haupttätigkeiten der meisten Verwaltungen (vgl. Ellwin 1966; Luhmann 1969; Wimmer 2004), was bedeutet, »einen unklaren Zustand, verändern die Gegebenheiten, beantworten offene Machtfragen, legen Interessenkonflikte bei, regeln bisher ungeregelte Bereiche, heben frühere Entscheidungen wieder auf, setzen Vereinbarungen in Kraft, wenden gegebene Regeln so oder so an, begünstigen oder benachteiligen.« (Ellwein 1966: 145). Ohne Entscheidungen kann die Verwaltung ihre übergeordneten Funktionen der Ordnung, Lenkung, Aufsicht, Gestaltung, Leistung, Schlichtung und Versorgung nicht nachkommen (vgl. Wimmer 2004: 56). Sie beendet die Handlungsreihen des Asylverfahrens oder eröffnet die Möglichkeit für eine weitere Handlungsreihe in der nächsten Instanz (Gericht). Die Entscheidung, die aus dem Interaktionsprozess der Anhörung abgeleitet werden muss, ist eine juristische Entscheidung und sie ist für beide Verfahrensparteien verbindlich. Sie wird im Wege der Auslegung der gesetzlichen Normen herbeigeführt und muss in ihrem Rahmen legitimiert werden, um so von den Beteiligten akzeptiert werden zu können. Ist dies nicht der Fall, wird ein Widerspruch

10. Die Anhörung

eingelegt und die Entscheidung wird auf ihre Richtigkeit hin nochmals vor Gericht überprüft. Die Statusentscheidung muss schriftlich begründet werden (§ 31 Abs. 1 S. 2 AsylG). Nach Art. 11 Abs. 2 RL 2013/32/EU müssen die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Ablehnung in der Entscheidung dargelegt werden,3 so dass ein Dritter sie nachvollziehen kann. Eine definitive Entscheidung kann nur auf der Basis der Anhörung ohne Bedarf weiterer Informationen getroffen werden, wie es der Fall beim Asylbewerbertyp I und II ist. Der Entscheidungsprozess kann theoretisch sich in einigen Fällen über weitere Stufen vollziehen. Dies kommt zustande, wenn der/die Anhörer*in sich mit den Informationszentren in Verbindung setzen muss und weitere Fakten zur Sachverhaltsklärung erfragen muss. Jedoch führen diese Zusatzinformationen nur selten zu einer Entscheidung4 (vgl. Marx 2003a: 316). Da den Anhörenden die Tatsache bekannt ist, dass es außerhalb der Anhörung nur wenige Möglichkeiten zur Sachverhaltsüberprüfung gibt, versuchen sie im Anhörungsgespräch alle Informationen zu generieren, die sie für die Entscheidung benötigen. Die Anhörenden setzen bestimmte kommunikative Handlungen ein, die ihnen ermöglichen, an diese Informationen zu gelangen. Jede Aussage wird bewertet und dient ihrerseits wieder als Grundlage für Anschlusshandlungen. Dadurch ist im Entscheidungsfindungsprozess die inhärente Anhörungsdynamik zentral. In einigen Fällen können nicht alle Informationen ermittelt werden, die für eine sichere Entscheidung ausreichen. wird versucht, im Anhörungsverfahren, so viele Wissenslücken wie möglich zu schließen, wodurch eine verwendbare, praktische Gewissheit für der Entscheidung geschaffen werden kann, die aber keine absolute Gewissheit darstellt, weil man bei den beschriebenen Geschehnissen, die vermittelt werden, selbst nicht anwesend war (vgl. Scheffer 2003: 425). Die angestrebte praktische Gewissheit für den Verwaltungszweck nennt Affolter (2017) Entscheidungswissen. Ihr zur Folge ist Entscheidungswissen »stets eindeutiges Wissen« (166), das immer ein klares Endprodukt zum Ziel hat« (Affolter 2017: 167). Entscheidungswissen ist also nicht Wissen um des Wissens willen. »Es zielt immer auf ein Verwaltungsprodukt ab: den fertigen Asylbescheid« (ebenda). Aufgrund des wissensgenerierenden Kernstücks der Anhörung, welches der Entscheidungsfindung dient, herrschen in Anhörungsgesprächen spezifische Charakteristika, die sich infolge der Zweckrealisierung herausgebildet haben. Bevor auf diese Charakteristika, die aus dem Material herausgearbeitet werden, eingegangen wird, möchte ich noch zwei Punkte bezüglich der Entscheidungsfindung thematisieren:

3

4

Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen »dass bei der Ablehnung eines Antrags auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und/oder des subsidiären Schutzstatus die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Ablehnung in der Entscheidung dargelegt werden und eine schriftliche Belehrung beigefügt wird, wie eine ablehnende Entscheidung angefochten werden kann.« (29.6. Amtsblatt der Europäischen Union 2013: 69). Verfügbar Online unter: Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU. (20.11.2017). Ein Grund dafür, dass die Zusatzinformationen selten zu einer Entscheidung führen, ist, dass ein großer Teil der betroffenen Antragsteller*innen keinen Identitätsidentifikationsnachweis vorlegen, was die Überprüfbarkeit erschwert (vgl. Marx 2003a: 316).

141

142

Die Anhörung im Asylverfahren (a) Wie schätzen die Entscheider*innen die Realisierung ihres Entscheidungsprozesses selbst ein? (b) Aus welchen Bausteinen besteht die Entscheidungsfindung?

10.2.2.1

Einschätzung der Entscheider*innen bezüglich der Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung

Aufgrund des Mangels an materiellen Beweisen oder Zeugen stellt der Entscheidungsvorgang, der nur auf der Basis der Anhörung vorgenommen werden kann, für die Entscheider*innen einen komplizierten Prozess dar, wie die Entscheider*innen selbst bekunden. So erzählt ein Entscheider in einem Interview: »Sie kriegen das nicht bis in die letzte Ecke und nicht bei allen hundertprozentig, aber wenn Sie da nicht wissen und sitzen, oh Gott was soll ich jetzt mit dem machen, (4)dann müssen Sie irgendwas haben, was falsch gemacht aus meiner Sicht, weil Sie müssen genau sicher, wenn Sie jemanden ablehnen und müssen Gründe dafür haben, warum Sie glauben, dass diese Person kein Schutz kriegt und Gründe können nur irgendwo in der Anhörung liegen (.) sei es der Sachverhalt war nicht äh so, dass Sie Schutz gewähren dürfen (.) oder Sie haben Widersprüche festgestellt, dass Sie sagen, dieser Sachvortrag war unglaubhaft […] da müssen Sie ein Gefühl für haben, also das kriegen Sie auch mit der Zeit.« (Interview Pietsch, 983-998 zitiert in Schnittenhelm 2015: 144). Auch wenn die Anhörenden die Fluchtgeschichte nicht bis ins letzte Detail überprüfen können, müssen sie eine Entscheidung treffen und die Gründe dafür im Asylbescheid angeben. Für diesen Zweck haben sie in der Regel ein durchschnittliches dreistündiges Gespräch: »Gründe können nur irgendwo in der Anhörung liegen.« (Ebenda) Entscheider*innen zufolge ist es in vieler Hinsicht schwer, eine Entscheidung nur aufgrund einer Anhörung zu treffen, im Vergleich zu Entscheidungen in Prozessen vor Gericht, in denen Zeugen und Beweise herangezogen werden: »Im Strafverfahren gibt es Zeugen und jahrelange Prozesse. Und wir müssen in viereinhalb Stunden herausfinden, aufgrund einer Anhörung, ob etwas glaubhaft ist oder nicht.« (Sachbearbeiter Interview T in Affolter 2017: 152f.). Deshalb bleiben trotz der Nachprüfung manchmal noch Zweifel und die Entscheider*innen müssen einen Entschluss treffen, wie sie mit dem Zweifel umgehen. Da es bei der Entscheidung um sehr wichtige Angelegenheit für die Antragsteller*innen geht, ziehen einige Entscheider*innen im Zweifelsfall eine Entscheidung zu Gunsten der Antragsteller*innen vor: »Ich schließe durch meine Entscheidung gewisse Menschen von einem Leben hier aus […]. [Deshalb im Zweifel]«habe [ich]lieber einen mehr, bei dem ich einen Restzweifel

10. Die Anhörung

behalte, ob er mich vielleicht betrogen hat, als einen, den ich zu Unrecht zurückschicke.« (Entscheiderin Sybille T. im spiegel-online 04.7.2014).5   »Ich gehe schon nach den Fakten, die mir vorliegen, auch nach den wesentlichen Tatsachen, die in der Anhörung stecken, wenn jetzt irgendwas nicht geklärt werden kann oder ich mir nicht hundertprozentig sicher bin, dann im Zweifel für den Antragsteller« (Radiointerview mit Entscheider-Trainer: SWR 2). Jedoch entscheiden nicht alle Entscheider*innen im Zweifelsfall für die Antragsteller*innen, weil es bei Unsicherheiten für manche Entscheider*innen sicherer scheint, gegen den Antragsteller zu argumentieren, wie die Entscheiderin in folgendem Zitat sagt: »[…] es steckt zwar kein Asylmotiv dahinter, aber [der Gesuchsteller] ist doch irgendwie einer Verfolgung ausgesetzt. Aber wenn du jetzt sagst, das alles ist unglaubhaft, dann sicherst du dich doch irgendwie ab (Interview R zitiert in Affolter 2017: 153). Jede positive Entscheidung, die sich nicht eindeutig an den Leitsätzen orientiert, muss besonders exakt und stichhaltig begründet werden: »[Es] kann auch unabhängig von den Vorgaben andere Entscheidung getroffen werden, wenn sie gut und ausführlich begründet ist. Wenn ich die vorlege und sage, in diesem Fall musste ich so entscheiden, würde die Zentrale sicherlich dem zustimmen. Es muss nur, äh, es muss halt gut begründet sein« (Entscheiderin in Radiointerview: Sendung SWR2 Tandem vom 26.11.2015). Im Asylbescheid muss von Vermutungen und einem sogenannten »Bauchgefühl« abstrahiert werden, obwohl sie bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielen können: »Da müssen Sie ein Gefühl für haben« (s. oben). Wenn sich während der Anhörung bei dem Anhörenden ein subjektives Empfinden einstellt, wie die Entscheidung ausgehen wird, muss diese subjektive Schwelle bei dem bürokratischen Akt überwunden werden und in ein logisches und objektiv begründetes Endergebnis transformiert werden: »Wir sollen nur objektiv entscheiden. Es sollte nicht nach dem Bauchgefühl gehen. Man muss nur nach Fakten gehen. Jeder Bestand muss begründet sein. Es nimmt viele Seiten im Anspruch.« (Entscheiderin in Radiointerview: Sendung SWR2 Tandem vom 26.11.2015). Deshalb wird später in den Anhörungsprotokollen nach Anhaltspunkten, die das Gefühl bestätigen oder es infrage stellen, laut einer Entscheider*in gesucht: »Es ist mehr wie ein Gefühl. Und nachher suche ich im Text danach« (Interview U zitiert in: Affolter 2017: 164).

5

Spiegel-Online- (07.04.2014) von Jürgen Dahlkamp: Flüchtlinge: Im Vorzimmer. Sie heißen Entscheider, und sie entscheiden Schicksale: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-126427241.html (29.05.2017).

143

144

Die Anhörung im Asylverfahren

Anhörende geben zu, dass sie nicht immer richtig entscheiden können, weil sie mit verschiedenen Asylbewerber*innen zu tun haben, deren Darstellungskompetenzen unterschiedlich sind, was sich auf die Entscheidung auswirken könnte: »Es gibt ohne Zweifel Flüchtlinge, die mit der besonderen Situation einer Anhörung besser klar kommen als andere, weil sie besser darauf vorbereitet sind oder sich einfach besser verkaufen können, obwohl sie vielleicht nicht die triftigeren Asylgründe haben« […] Natürlich gibt es Typen, die sehr gut darstellen können, ganz klar. Ich bin sicher im Laufe meiner vielen Jahre hier auch schon mehrmals erfolgreich belogen worden, da mache ich keinen Hehl daraus. Das stört mich aber auch gar nicht, weil ich denke, ich habe lieber eine Person zu viel geschützt als eine Person zu viel nicht geschützt.« (Entscheiderin in Radiointerview: Sendung SWR2 Tandem vom 26.11.2015). In einem Experteninterview wird bestätigt, dass Fehlentscheidungen im Asylverfahren nicht ausgeschlossen sind: »Es gibt durchaus inhaltliche Fehlentscheidungen im positiven Sinne, das heißt, ich als Anwalt weiß, dass es so nicht passt. Aber es ist so präsentiert worden, dass es zur Anerkennung führt. Das ist kein Problem.« (E-Interview Steer). Den Entscheider*innen ist auch bewusst, dass sie falsch entscheiden könnten: »[…] und das dann, wenn ich die falsche Entscheidung treffe, schicksalhafte Auswirkungen haben kann. Dessen muss ich mir bewusst sein.« (Entscheider-Trainer in Radiointerview: Sendung SWR2 Tandem vom 26.11.2015). Aus den oberen Zitaten lässt sich zeigen, dass (1) die Entscheider*innen permanent mit Unsicherheiten bei der Entscheidungsfindung konfrontiert sind. Um sich einer definitiven Entscheidung anzunähern und die Ungewissheit zu minimieren, wird versucht, durch den kollegialen Austausch und durch das nochmalige Einlesen in das schriftliche Protokoll, Sicherheit zu gewinnen. (2) die individuell geprägten Praktiken (im Gegensatz zur Idealvorstellung institutioneller Einheitlichkeit und bürokratischer Homogenität) bei den Anhörungsakteur*innen, sowohl bei den Entscheider*innen als auch bei den Asylbewerber*innen, eine Rolle bei der Entscheidung spielen. Eine gute Darstellungskompetenz seitens der Antragssteller*innen und Souveränität, Bewertungsfähigkeit und Bauchgefühl seitens der Anhörenden münden in einer Entscheidung.

Die oben aufgeführten Zitate sollen sichtbar machen, dass das Anhörungsgespräch nicht nur für die Antragsteller*innen eine Herausforderung ist, sondern auch für die Anhörenden. Die Anhörung ist m.E. sowohl für die Asylbewerber*innen als auch für die Entscheider*innen eine Kampfsituation. Die Asylbewerber*innen kämpfen um den Aufenthaltstitel; die Entscheider*innen kämpfen dafür, die behördliche Entscheidung zu legitimieren.

10. Die Anhörung

10.2.2.2

Schwerpunkte des Entscheidungsprozesses

Beim Entscheidungsprozess geht es nicht um die Gewährung des Asylrechts oder das Nichtgewähren und die darauffolgende Abschiebung, sondern es werden verschiedene Statusmöglichkeiten überprüft: Die Überprüfung des Asylantrags und die Vorbereitung für die Entscheidungsfindung durchläuft verschiedene Stationen und Entscheidungsknoten, die alle im Zuge der Anhörung stufenweise seitens der Anhörenden abgearbeitet werden. Jede Frage zielt auf eine Antwort ab, deren Interpretation eine Entscheidung begünstigt oder ausschließt. Folgende Schwerpunkte sollen im Laufe des Entscheidungsprozesses geprüft werden: (1) Die Glaubhaftigkeit6 der Angaben wird geprüft. Schätzen die Anhörer*innen sie als unglaubhaft ein, stellen sie weitere Fragen, die ihre Annahme bestätigen sollen. Wird ihre Annahme bestätigt, wird der Asylantrag mit der Begründung der Unglaubhaftigkeit der Aussagen abgelehnt. (2) Betrachtet der/die Entscheider*in die Angaben des/der Asylbewerbers*in als glaubhaft, wird überprüft, welche rechtlichen Voraussetzungen für eine Schutzgewährung vorliegen: (a) Im ersten Schritt werden die Fluchtgründe hinsichtlich der Gewährung der höchsten Schutzstufe (nach Art. 16 a GG.) überprüft. (b) Zweitens kommt der Flüchtlingsschutz gemäß der Genfer Konvention in Betracht.

Schließen die Anhörenden beides aus, müssen sie im nächsten Schritt überprüfen, ob subsidiärer Schutz gemäß § 4 AsylG zu gewähren ist. (3) Sind die Voraussetzungen für die ersten drei Schutzstufen nicht erfüllt, (4) wird überprüft, ob Abschiebungshindernisse § 60 AsylG aus humanitären Gründen vorliegen. Dabei soll der/die Entscheider*in nicht nur über die heutige Situation des/der Antragstellers*in entscheiden, sondern Prognosen über zukünftige Ereignisse treffen7 (vgl. Staffans 2008: 621). (5) Wird dies auch ausgeschlossen, wird den Antrag abgelehnt und das Bundesamt verfasst einen Ablehnungsbescheid.

Abbildung 3 zeigt die Schutzformen, über die eine Entscheidung getroffen werden muss, im Überblick.

6 7

Die Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsprüfung werden anhand bestimmter Kriterien vollzogen. In Teil V gehe ich darauf ausführlich ein. Worum es bei der Überprüfung der Prognose über zukünftigen Ereignissen geht, wird in der empirischen Analyse Kapitel (13.3.4) ausführlich erläutert.

145

146

Die Anhörung im Asylverfahren

Abbildung 3: Überblick über die Schutzformen

Quelle: BAMF 2019

Im permanenten Bestreben, die oben beschriebenen institutionellen Anhörungszwecken zu realisieren, werden bestimmten Charakteristiken der Anhörung inhärent, die im kommenden Kapitel dargestellt werden.

10.3

Kommunikative Charakteristika der Anhörungsverhandlung

Die Anhörung ist eine reine kommunikative Interaktion8 unter heterogenen Akteur*innen basierend auf einer Sachermittlung, deren Kopräsenz im Interaktionsraum9 (ein Büro im Bundesamt) gesetzlich festgelegt ist. Die Handlungsverkettungen von den meisten Sprechhandlungen werden während der Interaktion in einem Anhörungsprotokoll gespeichert, sodass die Reaktualisierung eines großen Teils der Anhörung immer wieder möglich wird. Die Charakterisierungen der Anhörungsgespräche, wie sie im Folgenden vorgenommen werden, sind analytischer Natur, die sich aus der Empirie speisen. Einige Charakteristika sind anhörungsspezifisch (d, e, g) und andere sind anhörungs- und allgemein institutionsgesprächsspezifisch (a, b, c).

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Abgesehen von wenigen sekundären außersprachlichen Belegkomponenten (z.B. Dokumente vorlegen) ist die ganze Anhörung als Sachverhaltensermittlung eine reine »kommunikative« Interaktion. Der Interaktionsraum ist als »interaktive Zone auf dem Handlungsfeld« (Bührig 1996: 7) eine Kategorie des Handlungsraums und referiert hier auf die lokale Größe, im Gegensatz zu der Kategorie des Handlungsraumes, die den konkreten Handlungsprozess determiniert: »ein Handlungsraum ist nicht allein ein sichtbarer Platz, sondern umfasst ein spezifisches ausgrenzbares Ensemble von voraussetzenden Bestimmungen, die durch die gesellschaftliche Gesamtstruktur und deren Reproduktion auskristallisiert sind und die spezifisch in die Handlungen, die in dem betreffenden Handlungsraum stattfinden, eingehen.« (Rehbein 1977: 12).

10. Die Anhörung

Institutionell, asymmetrisch Anhörungsgespräche sind institutionelle, themenfixierte und nach bestimmten Sequenzen organisierte Gespräche. Institutionelle Kommunikationen, wie die Anhörung, zeichnen sich durch ihren »hohen Grad an Präskriptivität« (Heinnekamp 1985: 282) aus. Die Präskriptivität entsteht aus der festgelegten Rollenverteilung der Gesprächsteilnehmer*innen aufgrund bestimmter Funktionen innerhalb des Kommunikationsereignisses. Anhörungen konstituieren sich durch die Rollen und das soziale Verhältnis der Aktanten, das durch eine asymmetrische Beziehung geprägt ist. Henne & Rehbock (2001) unterscheiden vier Formen der Asymmetrie: die anthropologische, soziokulturelle, fachlich-sachliche und gesprächsstrukturelle Asymmetrie (vgl. ebenda: 26ff.). Die asymmetrische Beziehung ist hier zwangsläufig mindestens auf drei Ebenen und manchmal auf allen Ebenen gleichermaßen vorhanden. Zwischen Anhörer*innen und Asylbewerber*innen besteht grundsätzlich ein asymmetrisches Verhältnis auf soziokultureller, gesprächsstruktureller und fachlich-sachlicher Ebene. Soziokulturelle Asymmetrie besteht aufgrund der institutionellen Struktur »Institutionsvertreter*in vs. Antragsteller*in« und der damit verbundenen Rollenverteilung sowie »institutionell und gesellschaftliche bedingte Konstellationen und Machtverhältnisse« (Henne & Rehbock 2001: 29). In der Anhörung kann eine weitere Dimension der soziokulturellen Asymmetrie in Betracht kommen, indem die Institutionsvertreter*innen nicht nur über Verwaltungswissen und Bearbeitungsregeln verfügen, sondern auch dadurch, dass sie ein »Heimspiel« haben, während sich die fremden Antragseller*innen nur über Dolmetscher*innen äußern können. Die gesprächsstrukturelle Asymmetrie liegt darin, dass die Anhörer*innen über ein einseitiges, extensives Fragerecht verfügen. Dadurch verfügen sie auch über das ausschließliche Recht zur Themensteuerung und sind zu keiner reziproken Selbstoffenbarung verpflichtet. Die Anhörer*innen können die Bewertung und Interpretation der Asylbewerberäußerungen stillschweigend tätigen. Die fachliche Asymmetrie wiederum bezieht sich auf Ungleichheiten, »die auf fachlichem und ausbildungsmäßigem Informations- und Wissensvorsprung beruhen« (ebenda). Die verschiedenen Klassen in den Institutionen fasst Wodak (1987) in einer Erklärung zusammen, in der sie die Institution als einen Ort der Wissensasymmetrien und des Machtmissbrauchs definiert: »Im Alltag treten einander mündige und einander quasi gleichgestellte Gesprächspartner gegenüber. Genau dies ist in der Konfrontation mit Institutionen nicht mehr gegeben. Einerseits herrscht der notwendige Wissensvorsprung von Experten (Juristen, Ärzten, Lehrern), diese sind Autoritäten und besitzen Macht. Andererseits wird diese Macht missbraucht, verselbständigt sich, die institutionelle Perspektive wird dem Laien nicht nähergebracht, sie ist nicht nachvollziehbar. So werden alltägliche Ereignisse in der schon genannten Weise transformiert und nicht mehr verstanden.« (Wodak1987: 802).

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Die Anhörung im Asylverfahren

Es gibt zahlreiche Untersuchgen, die das Wissensgefälle10 hinsichtlich der institutionellen Handlungsmöglichkeiten und -zusammenhänge zugunsten der Institutionsvertreter*innen verdeutlichen, was die Kommunikation systematisch belastend für die Institutionsbesucher*innen macht (vgl. Hoffmann 1989: 125). Wissensvorsprünge und Asymmetrie sind typisch für Institutionen und Bestandteil derer. Sie sind allerdings durch den Handlungszweck der Institution selbst begründet und keine aufgesetzten Asymmetrien seitens der Institutionsvertreter*innen, um die Klienten in eine Repression zu zwingen (wobei solche Fälle nicht ausgeschlossen sind). Deshalb müssen Wissensvorsprung und Asymmetrie11 noch nicht zwingend automatisch eine Asymmetrie der Gesprächsbeteiligung bedeuten, wenn man die Anhörung, wie jede andere Kommunikation, als ein gesellschaftliches Möglichkeitsfeld versteht, welches durchstrukturiert ist und in den Symmetrien und Asymmetrien gleichzeitig wirksam werden kann (vgl. Brock & Meer 2004: 186).12 In der empirischen Untersuchung wird gezeigt, dass die Anhörung zwar von normativen Vorgaben formell determiniert ist, jedoch besteht eine Wahlmöglichkeit während der Interaktionsdynamik, aber nicht in einem erheblichen Umfang, wie von Brock & Meer im Zitat gefordert wird. Divergenzen der Perspektiven der Akteur*innen In den meisten Fällen gehören zum Ausgangspunkt von Anhörungsgesprächen Divergenzen der Perspektiven der Beteiligten. Während bei Anhörende neben Informationsgenerierung die Ziele »Widersprüche zu finden, Lügen nachzuweisen, Glaubhaftigkeit der Aussagen zu überprüfen« (Alle E-Interviews im Korpus) vorherrschen, haben die Antragsteller*innen das Ziel, die Anhörenden von ihrer Fluchtgeschichte zu überzeugen und ihre Schutzbedürftigkeit nachzuweisen. Eine Zieldivergenz der Interaktanten liegt weniger vor, wenn die Antragsteller*innen aus international politisch anerkannten Kriegsgebieten kommen oder, wenn die Antragsteller*innen kein Asyl begehren (Typ I).

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Die Interviews haben bestätigt, dass ein Teil der Asylbewerber*innen dieses Wissensgefälle relativieren, indem sie sich über Abläufe und worauf es in der Anhörung ankommt vorab informieren. Sie eigenen sich Wissen darüber an, welche Schutzkategorien existieren und unter welchen Bedingungen sie Anspruch darauf haben. Zudem erfahren sie mehr über ihre Rechte während der Anhörung (wie Pausen anfragen, Dolmetscherwechsel wünschen bzw. anfordern, Fragen nicht beantworten müssen usw.). Eine ausführliche Diskussion der Begriffe ›Macht‹, ›Hierarchie‹, ›Dominanz‹, ›A-Symmetrie‹ im institutionellen Kontext (Brock & Meer 2004). Deppermann (1999) untersuchte die Vernetzung zwischen verschiedenen Kommunikationsereignissen in der Institution und Fragen nach der Herstellung und Ausübung von Macht, Wissen und institutionellen Identitäten (16f.). Brock & Meer (2004) vertreten die These, dass nicht das kommunikative Verhalten an sich eine Hierarchie im Gespräch bildet, sondern die institutionellen Vorgaben, die Teil des institutionellen Settings sind, auf die die Gesprächspartner*innen zurückgreifen können und die individuell vermittelt werden (vgl. ebenda). Ihre Untersuchungen haben ergeben, dass die Verfolgung institutioneller Zwecke das Verhalten der Gesprächsbeteiligten nicht deterministisch auf einen möglichen Kommunikationsschritt einengt, sondern dass durchaus Wahlmöglichkeiten vorhanden sind (vgl. ebenda: 200).

10. Die Anhörung

Ermittlung durch Narration Abgesehen von den unterschiedlichen Zielvorstellungen der Interaktanten, ist die Anhörung noch mit einem weiteren anhörungsspezifischen Ermittlungsproblem behaftet: Die vorgebrachten Asylgründe sind nichts anderes als mündliche Narrationen13 über Geschehnisse in Ländern, die der/die Anhörende wahrscheinlich nicht persönlich besucht hat. In Ermangelung von Beweismittel und der Überprüfungsmöglichkeiten werden der Wahrheitsgehalt der Asylbewerberaussagen, ihr richtiges Verständnis und die Entscheidung für eine Schutzkategorie auf der Basis kommunikativer Aktivitäten (Anhörung) überprüft. Der narrative Tatsachenvortrag des/der Antragstellers*in ist für eine Entscheidung von größter Bedeutung: Er kann allein zur Statusgewährung führen, wenn der/die Antragsteller*in den/die Anhörenden vom Wahrheitsgehalt der Fluchtgründe, ebenso von ihrer Relevanz für die Asylgewährung, überzeugen kann (InfAuslR 1985, 244). Zwangskommunikation Der Begriff »Zwangskommunikation« wurde in den achtziger Jahren im Zusammenhang mit der Untersuchung von institutionellen Gesprächen häufig verwendet. Heinnekamp (1985) bezeichnet die Behördenkommunikation im Allgemeinen als »Zwangskommunikation« und definiert sie wie folgt: »Zwangskommunikation setzt immer einen äußeren institutionell-organisatorischen Rahmen voraus, in dem situativ und aktuell auf den verschiedensten kommunikativen Ebenen in implizierter wie explizierter Weise von Machtmitteln verschiedener Ordnung Gebrauch gemacht werden kann bzw. als Folge verwiesen werden kann.« (Heinnekamp 1985: 283). Steuble (1983) definiert institutionelle Kommunikation allgemein als »Zwangskommunikation« und beschreibt die Differenz zwischen institutionellen Gesprächen und Alltagsgesprächen wie folgt »In institutionell organisatorischen Verfahren (…) herrschen besondere Interaktionsregeln, d.h. einige Regeln der normalen Alltagskommunikation sind in diesen institutionell reglementierten Situationen außer Kraft gesetzt bzw. durch andere ersetzt. Primär betrifft dies die ungleiche Verteilung der Aktivitätsrechte, die durch ein je spezifisches Regelsystem festgelegt ist, (…) und a priori zwischen, Verfahrensbetroffenem‹ und, Verfahrenswalter‹ unterscheidet. Letzterer steuert als Interaktionsüberlegener fortlaufend die Interaktionsverpflichtungen des Interaktionsunterlegenen (Betroffener) und macht Vorgaben bezüglich der Interaktionsform (…).« (179f.).

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Hoffmann (1983) zählt das Prinzip der Mündlichkeit zu den institutionellen Anforderungen für die Strafverhandlung, weil alle Sachverhalte, die in das Urteil eingehen sollen, in der Verhandlung selbst zur Sprache gebracht werden müssen (vgl. Hoffmann 1983: 60; Seibert 1989: 217). Was den mündlichen Kommunikationsmodus vor Gericht, von dem in der Anhörung unterschiedet, ist die Tatsache, dass die Verhandlung in der Anhörung überwiegend nur auf Mündlichkeit basiert, während vor Gericht zusätzlich Zeugen und Beweise zur Urteilfindung hinzu gezogen werden.

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Die Anhörung im Asylverfahren

In der meisten Untersuchungen von Kommunikationen in Institutionen wie bei Schütze (1978), Hoffmann (1983, 1989 und 2002), Steuble (1983) Heinnekamp (1985) und Wodak (1987), wird die Macht fast ausschließlich der Institutionen bzw. ihrer Vertreter*innen zugeschrieben. Die Autoren*innen kommen -wie von den oben erwähnten Zitaten zu entnehmen- zum Ergebnis, dass der/die Klient*in einer Zwangskommunikation ausgesetzt wird. Legt man die oben genannte Definition der Zwangskommunikation zugrunde, ist die Anhörung aufgrund der ungleichen Dominanzpositionen der Interaktanten als ein typischer Fall für eine Zwangskommunikation für die Asylsuchenden anzusehen. Denn Entscheider*innen und zum Teil Dolmetscher*innen haben in der Anhörungssituation eine uneingeschränkte Macht, von der sie Gebrauch machen könnten, aber nicht müssen. Das heißt, der Zwangscharakter ist hier nicht stets manifest, aber das Potential für seinen Einsatz ist im Rahmen der Anhörungskommunikation gegeben. Nach meinem Verständnis von Zwangskommunikation möchte ich die Frage problematisieren, ob nur der/die Asylbewerber*in einem Zwang ausgesetzt ist oder ob dieser Zwang sich auf anderen Interaktanten im Gespräch erstreckt. Die Anhörung findet in einem Rahmen statt, der in den formaljuristischen und technischen Regeln des Ablaufs verankert ist. Diese Rahmenbedingungen determinieren den gesamten Ablauf des Geschehens. Sie können – vor allem aus rechtlichen Gründen – nicht beliebig verändert oder gar aufgehoben werden. Wenn ein/eine Entscheider*in sie aufhebt, handelt er/sie den behördlichen Vorgaben zuwider. Sollte das offensichtlich werden, hat das für ihn/sie Konsequenzen.14 Diese Rahmenbedingungen an sich, unabhängig von den Inhalten des Gesprächs, enthalten m.E. bereits eine Art »Zwang«, die dem gesellschaftlichen bzw. staatlichen Auftrag und den formaljuristischen Strukturen der Anhörung geschuldet sind. In Anlehnung an Banscherus 1977 nenne ich diesen »Zwang« »strukturellen Zwang« (Banscherus 1977: 50), der vorab jeder Anhörung innewohnt. Kommunikationsformen, die in ihrer komplementären Struktur die Rahmenbedingungen der Anhörung widerspiegeln (wie Rollenverteilung, Frage-Antwort-Schema; nur die Anhörende dürfen fragen und die Asylbewerber*innen haben zu antworten; die Asylbewerber*innen müssen eine Fluchtgeschichte erzählen und die Anhörende müssen in den meisten Fällen eine Entscheidung treffen) verleihen der Anhörung einen Zwangskommunikationscharakter. Ein Zwang beginnt für mich ab dem Moment, wo jeder Person in der Anhörung eine Rolle zugeschrieben wird, die sie nach bestimmten Vorgaben einnehmen und spielen muss. Neben dem strukturellen Zwang, der der Anhörung aufgrund der Rahmenbedingungen innewohnt, erweitert sich die Zwangskommunikation um zwei grundlegende inhaltliche Zwangscharakteristika: Wie der/die Antragsteller*in dem institutionellen Zwang ausgesetzt ist, ist der/die Anhörende einem Zwang ausgesetzt. Der/die Antragsteller*in muss trotz eingeschränkter Rechte zur Konversation und in einem starren bürokratischen Genre, eine widerspruchsfreie, plausible und asylrelevante Fluchtgeschichte erzählen. Der Zwang des/der Anhörenden ist es, trotz der Tatsache, dass er/sie die Verhältnisse in dem Herkunftsland des/der Asylsuchenden

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Laut einer Dolmetscherin wurden drei Entscheider im Jahre 2016 ermahnt und in zweiten Schritt wurden Verfahren gegen sie eingeleitet. Sie konnte die Frage nicht beantworten, wie das Verfahren ausging.

10. Die Anhörung

nicht persönlich kennt, den Wahrheitsgehalt der Fluchtgeschichte der Antragsteller*innen zu beurteilen und unbedingt aus dem Anhörungsgespräch Gründe für seine/ihre Entscheidung zu generieren. Der/Die Anhörende hat als Institutionsvertreter*in zwar aus seinem/ihrem Erfahrungswissen heraus die Handhabe, dem/der Antragsteller*in zu glauben oder ihn/sie als unglaubwürdig zu deklarieren; jedoch muss er seinen Standpunkt begründen. Sowohl an den/die Antragsteller*in als auch an den/die Anhörer*in werden von Seiten des Staates konkrete Erwartungen gestellt. Der/Die erste hat eine Fluchtgeschichte zu erzählen und die dazu gestellten Fragen zu beantworten. Somit übernimmt er/sie praktisch die »totale Objektrolle« (Banscherus 1977: 258). Der/Die zweite muss daraus Nutzen ziehen und Gründe für eine juristische Entscheidung finden. Dadurch erstreckt sich aus meiner Sicht der Zwang in der Anhörung auch auf die Institutionsvertreter*in, natürlich nicht mit der gleichen Intensität, dennoch ist er/sie dem Entscheidungs- und Begründungszwang ausgesetzt. Entscheidungs- und Begründungszwang Für das Anhörungsverfahren bzw. für das ganze Asylverfahren besteht die Abschlussbedingung in dem institutionell vorgegebenen Zwang, einen Asylbescheid zu formulieren (s. oben). Im Falle, dass die Entscheidung nicht akzeptiert wird, wird sie in einer höheren Instanz (Verwaltungsgericht) überprüft. Auf diese Überprüfung müssen die Entscheidungsträger*innen vorbereitet sein, indem sie ihre Entscheidung in allen Fällen gut begründen. »Für uns ist halt wichtig, anhand der Tatsachen, die der Antragsteller schildert, eine Entscheidung zu treffen […] ich versuche so ausführlich wie möglich, jeden Tatbestand zu begründen. […] Es gibt genügend Punkte, wo ich selber begründen muss, warum ich ihn jetzt nicht als glaubhaft erachte.« (Entscheiderin im Radiointerview Sendung SWR2 Tandem vom Do, 26.11.2015 | 10.05 Uhr). Wichtig ist zu erkennen, dass die Begründung der Entscheidung nicht nur für die Antragsteller*innen angefertigt wird, um sie zu überzeugen, dass sie der einen oder den anderen bzw. gar keiner Schutzkategorie zugeordnet werden können. Vielmehr ist die Entscheidung ein behördlicher Akt, der für einen/eine Verwaltungsangestellte z.B. den Vorgesetzten oder für einen/eine Richter*in im Falle eines Widerspruchs juristisch korrekt und fachlich überzeugend geschrieben sein muss. Das bedeutet folglich, Entscheidungsfindung und ihr Begründungszwang sind interne Zwänge innerhalb des institutionellen Handelns, die die direkte Anhörungsdurchführung signifikant beeinflussen. Sie gehören für die Anhörenden zu den Zielen, auf die sie ihr kommunikatives Handeln richten: »[…] und dann lasse ich die Person erzählen und prüfe ich die Glaubwürdigkeit. […] das ist nicht um böse zu sein, nicht dass ich jetzt davon ausgehe, dass sie sowieso lügen, das nicht. Aber man möchte halt wissen, ob sie es wirklich erlebt haben […]. Und wenn es mir nicht glaubwürdig erscheint, dann hake ich nach, bis ich entweder genügend Argumente habe für meinen Entscheid genügend Widersprüche oder bis er mich überzeugt hat, dass es doch stimmt« (Interview A zitiert in: Affolter 2017: 156).

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Die Anhörung im Asylverfahren

Die Anhörenden sollen intensiv zuhören und solange Fragen und Nachfragen stellen und die Anhörung aufrechterhalten, bis sie ausreichende Argumente für den Asylbescheid haben. Die jeweiligen Argumente werden im Anhörungsprotokoll festgehalten und bei der Formulierung des Bescheides und die Begründung der getroffenen Entscheidung wiederverwendet: »[D]ann wählt sie [Sachbearbeiterin] zwei Textbausteine aus, einen zu Artikel 3 und einen zu Artikel 7 AsylG, nämlich den der mangelnden Substantiierung. Nun beginnt sie in den Protokollen nach Textstellen zu suchen, welche dieses Argument belegen. Während sie weiter nach Argumenten für Unsubstantiierung sucht, fallen ihr einige Widersprüche auf […]. Sie notierte sich diese und nimmt noch den Textbaustein zu »Widersprüche« hinzu. (Ebenda: 166, Auszug aus dem Forschungstagebuch) Die befragte Sachbearbeiterin sucht nachdrücklich nach handfesten Gründen und Argumenten, um den Asylbescheid zu legitimieren, um damit die Entscheidung gegenüber einer eventuellen Prüfung Dritter abzusichern Kooperationszwang Der Entscheidungszwang, den die Anhörenden bewältigen müssen, veranlasst sie dazu, den Asylbewerber*innen zur Kooperation zu bewegen. Charakteristisch für die Anhörung ist ein starkes Aufeinander-Angewiesen-Sein15 der Interaktanten. Der/Die Asylbewerber*in ist (abgesehen von Asylbewerbertyp I) darauf angewiesen, dass der/die Anhörende ihm/ihr glaubt und der/die Anhörende ist für die Realisierung der institutionellen Anhörungszwecke (Entscheidung zu treffen) auf die Angaben des/der Antragstellers*in angewiesen. Dieser Kooperationszwang hat zur Folge, dass »die steuernde Kraft eines Interaktanten nur von ganz begrenzter Reichweite ist« (Kallmeyer & Schmitt 1996: 28). Beispielsweise könnten andererseits die Anhörenden durch ihre institutionelle Macht die Initiative ergreifen und den Asylbewerber*innen Fragen stellen. Mit dem Fragenstellen haben die Anhörenden zwar konditionelle Relevanzen (eine Antworterwartung) hervorgerufen. Ob die Antragsteller*innen die Frage so erwartungsgemäß oder die Frage anders als erwartet interpretieren und unerwarteten Antworten geben oder gar nicht antworten, geht über die Erwartung der Anhörenden hinaus. Andererseits ist auch denkbar, dass die Antragsteller*innen ihre Fluchtgeschichte nach besten Kräften glaubhaft darstellen und es bei den Entscheider*innen, ob sie ihnen glauben. Es besteht also, trotz der Zieldivergenz eine Notwendigkeit zur Mitarbeit des jeweils Anderen, damit die Aktanten ihre Zielsetzungen erreichen können. Die Anhörung als eine »indirekte« Interaktion Zu den wichtigen Anhörungscharakteristiken gehören noch zwei weitere Aspekte. Die Anhörung ist in ihrem Interaktionsprozess von der Tatsache geprägt, dass die Interaktion durch eine Sprachbarriere gekennzeichnet ist. Es wird nicht direkt kommuniziert, sondern nur über einen/eine Dolmetscher*in. Die Anhörung ist aus diesem Grund keine gewöhnliche direkte Interaktion, sondern eine verdolmetschte Interaktion, in deren Verlauf manche Nuancen und feinere Übertagungen wegfallen könnten, 15

Der Begriff wurde in Anlehnung an (Kallmeyer & Schmitt 1996: 28) verwendet.

10. Die Anhörung

die große Wirkung haben könnten.16 Zum Beispiel wird in Anhörung 8 aufgrund einer ungenauen Übersetzung (nicht einmal falsch, nur ungenau) ein Widerspruch in der Antragstelleraussage gefunden, was erhebliche Folgen mit sich bringen könnte. In Anhörung 3 entstanden mehrere Grammatikfehler. Die Übersetzung war darüber hinaus durch eine einfache Wortwahl gekennzeichnet, wodurch die Anhörung auf ein niedriges Sprachniveau reduziert wurde. Außerdem kam es zu einem inhaltlichen Übersetzungsfehler. Der Antragsteller hat den Fehler durch Nachfragen selbst erkannt und konnte den Fehler beheben (vgl. K. 13.5.1.3). Zusätzlich zu solchen offenkundigen Kommunikationsproblemen durch Übersetzungsfehler gibt es noch kulturelle Aspekte, die Kommunikationshindernisse mit sich bringen können.17 Dadurch, dass in verschiedenen Sprachen kommuniziert wird und die damit zusammenhängenden Kulturen aus der Interaktion nicht ausgeblendet werden können, werden die Anhörungen im Asylverfahren von interkulturellen Differenzen geprägt. Ob die interkulturellen Differenzen in der Anhörung angemessen behandelt werden oder außer Acht gelassen werden, wäre eine interessante Forschungsfrage. Abschließend ist festzuhalten, dass die weiter oben beschriebenen institutionellen Anhörungszwecke das Anhörungsgespräch maßgeblich prägen. Angesichts ihrer Realisierung entstehen die dargestellten Anhörungscharakteristiken und sind in der Anhörung als spezifische Struktur verankert. Von Interesse ist zu ergründen, wie die Anhörung eigentlich durchgeführt wird, was anhand von detaillierten empirischen Analysen gezeigt wird, die in diesem Kapitel folgen. Vorher sollen im Rahmen der Vorabklärung noch folgende Fragen beantwortet werden: Wie gehen die Anhörer*innen bei Verhandlungsführung methodisch vor und wie gestalten sie die Anhörung? Bedienen sich alle Anhörenden eines standardisierten Befragungskatalogs? Unterliegen die Anhörer*innen Kontrollkriterien, wenn ja, in welcher Hinsicht? Im folgenden Abschnitt wird ein allgemeiner Abriss basierend auf Erkenntnissen aus der empirischen Analyse zur Anhörungsdurchführung vorgestellt und dient als komprimierte Vorinformation zu den kommenden Forschungsschritten.

10.4

Anhörungsdurchführung und Kontrollkriterien

In Deutschland sind die Anhörenden die Alleinverantwortlichen für die Gesprächsführung, das Nachfragen, die Protokollführung und die Entscheidung oder die Vorbereitung eines Entscheidungsentwurfes in dem Fall, wenn die Entscheidung im Entscheidungszentrum getroffen werden soll. Die Entscheider*innen sind diejenigen, die

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In einer Verhandlung vor Gericht im Asylverfahren, bei der ich als Dolmetscherin eingeladen war, hat der Dolmetscher in der Anhörung das Wort (‫ )ىحص‬mit Drogerie übersetzt, anstatt mit »Sanitär«. Daraufhin passten seine Aussagen über seine Arbeit im sanitären Bereich nicht mit der Arbeit in einer Drogerie zusammen und es wurden Ungereimtheiten der Angaben aufgrund dieses Fehlers festgestellt. Vor Gericht war das erste, was der Richter klären wollte, was die Ursachen der Ungereimtheiten bezüglich der Arbeit waren. Zur interkulturellen Kommunikation in den Ämtern gibt es zahlreiche diskursanalytische Arbeiten (vgl. dazu Rost-Roth (1994); Ten Thije (2001 und 2002) und Lutz Hoffmann (1982).

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Die Anhörung im Asylverfahren

mit dem Ist-Zustand in der Anhörung konfrontiert sind, die für sie folgende Bewältigungsschwerpunkte beinhalten: Mit welcher Person müssen sie kommunizieren? Welche Strategien und Taktiken werden die Antragsteller*innen einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen und mit welchen Befragungsstrategien können die Anhörenden die oben beschriebenen institutionellen Zwecke erfüllen? Zur Orientierung für die Anhörungsgestaltung dienen Vorgaben, Handlungsanweisungen und -empfehlungen. Durch einen Fragenkatalog werden die Weichen für den Gesprächsverlauf gestellt. Bei praxisnaher Betrachtung, wie anhand der empirischen Untersuchungen gezeigt wird, ist festzustellen, dass die Anhörung aufgrund der Heterogenität ihrer Akteur*innen in vielflächiger Hinsicht eine komplexe Interaktion darstellt, die auch von Unwägbarkeiten geprägt sein kann. Deshalb erweist sich der Fragenkatalog für die Anhörungsführung häufig als nicht ausreichend. Die Anhörenden können die Reaktionen der Befragten (Asylsuchenden) nicht vorprogrammieren. Anhörende wie auch Antragsteller*innen sind einer eventuell nicht erwartbaren Entwicklung des Interaktionsprozesses ausgesetzt, weil Menschen in den Situationen, in denen sie sich gerade befinden, nicht frei. Vielmeht gestalten Menschen ihre Situation in einer Abhängigkeit von Reaktionen des Anderen und die Situation entsteht aufgrund gegenseitiger Erwartungen und Zielen (vgl. Walgenbach 2001: 374). Auch wenn Anhörende oder Antragsteller*innen bei ihren Handlungen alle Konsequenzen ihrer Interaktion berücksichtigen, können sie die Tragweite ihrer Handlungen nicht vollständig überblicken, weil es immer ein Gegenüber gibt, das die Situation miterlebt, selbst interpretiert, deutet und gemäß seiner Interpretation reagiert. Die Interaktionsprozesse hängen auf das Engste mit dem, was der Einzelne in der Interaktion mitbringt (wie Einstellung, Erwartung, Intentionen, Kommunikationsfähigkeit usw.) zusammen. Die Unwägbarkeiten, die in der Anhörung auftreten, beeinflussen die Anhörungsgestaltung, weil sie von den Entscheider*innen eine Anpassung der Fragetechniken erfordern. Die Fragetechniken müssen somit bei Bedarf im Laufe der gerade zu führenden Anhörung neu überdacht werden, damit sie der Situationslage und den kommunikativen Fähigkeiten der Antragsteller*innen gerecht werden, was eine einheitliche standardisierte Anhörung unmöglich macht. Insbesondere wenn es um die Darstellung der Fluchtgeschichte geht, lässt sich zeigen, dass die Anhörungen zeitlich und methodisch variabel sein können, weil die Fluchtschicksale verschieden umfangreich sind und die narrativen Stile und Fähigkeiten der Asylsuchenden sich enorm unterscheiden können (vgl. die Fallanalysen). Aus den Materialdaten ist festzuhalten, dass die innere Gestaltung des Anhörungsgesprächs weitestgehend der Entscheider*innen überlassen ist18 und sie dabei zwischen Vorgaben und ihrem eigenen Ermessen balancieren. Nicht zu unterschätzen sind dabei die Erfahrungen der Entscheider*innen und ihr Wissen aus Parallelverfahren, die sie als wichtige Erkenntnisquelle bei den Anhörungen einsetzen, was sich wiederum

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Die Daten zeigen, dass die Entscheider*innen, trotz des Fragenkatalogs und des geregelten Gesprächsverlaufs, verschiedene Befragungsstrategien und Anhörungsstile verwenden: Wo Herr Borschert als Entscheider genau den Fragenkatalog abarbeitet (Anhörung: 3), verpackt Frau Müller die Anhörung in eine Gesprächsform (Anhörung 15) und Herr Behrens (Anhörung: 6) macht aus dem Anhörungsgespräch ein Verhör.

10. Die Anhörung

auf die Gesprächsführung auswirkt. In der Folge entstehen verschiedene Anhörungsstile, wobei die Grundprämisse gilt, dass eine gut durchgeführte Anhörung dem/der Entscheider*in bessere Chancen auf einen gut begründeten Asylbescheid ermöglicht. Professionell durchgeführte Anhörungen sind die Grundlage für lückenlos begründbare Entscheidungen (vgl. Schneider & Wottrich 2017: 102). Daher wird eine professionelle Anhörung darüber definiert, wie weit es mit ihr im Anhörungsprozess gelingt, »genügend Information für Entscheidungsbegründung zu sammeln.« (Ebenda). Der Anhörenden sind die einzige Verfahrensverwalter*innen, die die Verantwortung für die Gesprächsführung haben. Trotz der Handlungsspielräumen dürfen sie den hauptinstitutionellen Zweck nicht aus den Augen verlieren: Das Wissen aus dem Anhörungsgespräch zu generieren, das für die Entscheidungsfindung und -begründung unerlässlich ist. Denn das letzte Produkt im Asylverfahren, der »Asylbescheid«, wird von den sogenannten Qualitätsfördernden in den Außenstellen überprüft (vgl. Schneider & Wottrich 2017: 101). Die Kontrolle bezieht sich auf formale Aspekte, die Plausibilität der getroffenen Entscheidung und ihre Übereinstimmung mit den behördlichen Vorgaben (vgl. ebenda). Es wird nicht kontrolliert, wie die Anhörung geführt wurde und wie das Wissen, das der Entscheidung zugrunde liegt, generiert wurde: Wurde es neutral generiert oder hat sich der/die Entscheider*in bei der Vorbereitung auf den Fall bereits entschieden und suchte bei der Anhörung nach Begründungen seiner Vorentscheidung (Beispiel Affolder 2017: 163f.).19 Nur das Endergebnis (Entscheidung und Begründung) wird überprüft. Der Asylbescheid muss die juristischen Erwartungen erfüllen: »Asylentscheidungen müssen sowohl rechtmäßig (oder zumindest möglichst gerichtsfest) sein, als auch in der Summe den jeweils politisch angesetzten Vorgaben (bezüglich Effizienz aber auch bestimmter outcomes) mindestens so weit entsprechen, dass sich die Behörde als ausführendes Organ des Staates nicht selbst delegitimiert.« (Schneider & Wottrich 20017: 102). Resümee Die Darstellung der Anhörungszwecke und der damit verbundenen Anhörungscharakteristiken zeigen, dass die Anhörung nicht nur für die Antragsteller*innen unabdingbar und die Grundlage für das Sichern ihres zukünftigen Lebens im Aufnahmeland ist. Vielmehr ist die Anhörung der Grundstein für die Erfüllung der Verwaltungszwecke des »Bundesamts« als ausführendes Organ des Staates im Asylverfahren. Die Anhörung bildet damit die entscheidende Brücke zur Erfüllung der Bedürfnisse der Antragsteller*innen und die gesetzlich verankerte Verpflichtung des Staates, diese zu überprüfen. In diesem Zustand sind beide Akteur*innen aufeinander angewiesen und müssen diese Brücke nutzen. Die Anhörung ist somit als Gespräch definierbar, das institutionell organisiert ist und die Gelegenheit bietet, dass Asylantragsteller*innen und Aufnahmestaat

19

Ich unterstelle den Anhörenden die oben problematisierten möglichen Verhaltensweisen zur Situationsbewältigung nicht. Ich gehe davon aus, dass sie sehr selten auftreten und dass die Entscheider*innen vielleicht aufgrund ihrer Erfahrung bei der Vermutung, wie der Fall ausgehen wird, recht haben könnten. Ich möchte darauf aufmerksam machen, wo der Fokus bei der institutionellen Kontrolle liegt, nämlich auf formalen Aspekten.

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Die Anhörung im Asylverfahren

zu einer rechtlichen Übereinkunft bezüglich des Aufnahmestatus kommen. Die Anhörungssituation, samt der Antragsteller*innen und Institutionsvertreter*innen,20 ist für den Zweck konstituiert, diese Entscheidung zu treffen, die dann verbindlich für beide ist, sofern sie gesetzlich begründet, ist. In den folgenden Kapiteln werden die empirischen Arbeitsabschnitte dahingehend untersucht, wie die Anhörungsgespräche organisiert sind, um die erwähnten Zwecke zu erfüllen. Ob die Entscheider*nnen die Vorgaben und Handlungsanweisungen zur Anhörungsführung in der Praxis anwenden, ebenso ob und wie sie zwischen den Vorgaben und der Fallindividualität die Befragung im Gleichgewicht halten, kann man nur durch die Beobachtung und Untersuchungen von Anhörungspraxis beurteilen. In den kommenden empirischen Arbeitsabschnitten (III, IV und V) wird anhand von Fallanalysen exemplarisch untersucht, wie das Anhörungsgespräch in Deutschland strukturell von Anhörungsbeginn bis zum Schluss organisiert wird. Wie wird die Fluchtgeschichte rekonstruiert? Und wie wird die Glaubwürdigkeit der Antragsteller*innen geprüft?

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Es soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass es in der Anhörung in erster Linie nicht um die Asylsuchenden, sondern um staatliche Zwecke geht: Es geht nicht um Herrn Müller und Frau Mostafi. Vielmehr handelt es um das Aufnahmeland, und darum, wie Frau Mostafi im Aufnahmeland eingeordnet.

Teil III: Einleitung zur Empirie

11. Einleitung zur Empirie »Belastbare Untersuchungen zur Qualität der Anhörungspraxis liegen nicht vor« (Marx 2016: 8).

Da die Anhörung ein nicht öffentliches Behördengespräch ist, wird in ihre institutionellen Prozesse kaum Einblick gewährt. Medial wird über die Anhörung berichtet,1 dabei kann sie satirisch dargestellt werden.2 Ebenso werden dokumentarische Filme darüber produziert.3 Durch die mediale Bearbeitung jeder Art und aufgrund von Berichten von Betroffenen über die Anhörung wird ein öffentliches Bild erzeugt.4 Der Anhörung werden viele Bedeutungen zugeschrieben. Was in den Anhörungsräumen wirklich geschieht und wie die Anhörung durchgeführt wird, bleibt für Außenstehende ein fragmentarisches Bild, das über die Medien erzeugt wird. In der deutschen wissenschaftlichen Literatur abgesehen von den ethnografischen Schilderungen, die Scheffer (2001) durchgeführt hat, sind aufgestellten Thesen wie die Folgende bisher die erste Annährung

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»Viele Flüchtlinge scheitern im Asylverfahren, weil der Asylentscheider meint, sie hätten detailliertere Angaben machen müssen und seien deshalb »unglaubwürdig« (Die Welt- Online 28.2.2015) »Manchmal brechen die Antragsteller während des Gesprächs in Tränen aus« (Welt N24, veröffentlicht am 25.05.2015). »Die Anhörung stellt in Ihrem Asylverfahren den wichtigsten Bestandteil dar«: https://www.deutschlandfunkkultur.de/asylverfahren-die-entscheider.976.de.html?d ram:article_id=338157 (27.03.2018). WDRforyou: Übersetzer beim Bamf – Wird wirklich alles gut übersetzt? https://www.youtube.com /watch?v=DboJzv9HNeE, ZDF heute show: »Die Entscheider – Die wahren Helden der Flüchtlingskrise« (Satire) https://www.youtube.com/watch?v=4co95G8_1Cw, ZDF heute-show: Hans Bamf in allen Gassen https://www.youtube.com/watch?v=RdRTdV-7z08 (26.03.2018). Bundeszentrale für politische Bildung (2017) von Sandra Budesheim, Sabine Zimmer: Auf dünnem Eis – Die Asylentscheider. Ein Dokumentarfilm https://www.bpb.de/mediathek/263459/auf-duenn em-eis-die-asylentscheider (08.02.2018). Ausschnitte aus Anhörungen, wie hier zu sehen: SPIEGEL TV (06.06.2015): Herr Werner entscheidet über Asylanträge: Asylbewerber und ihre Geschichten; verfügbar unter: https://www.youtube .com/watch?v=e10kahFDDUM (30.04.2016).

160

Die Anhörung im Asylverfahren

»Einige Anhörungen scheinen einem bestimmten Schema zu folgen, sachlich, kurz gefaßt, unsensibel und schroff wird ein unsichtbarer Fragekatalog abgehakt.« (Weber 1998: 156f.). Eine empirische Analyse, die die Anhörungsphase und die Interaktionsdynamik der Anhörung im deutschen Asylverfahren anhand von Daten aus erster Hand untersucht, wie sie die vorliegende Arbeit zum Ziel hat, gibt es bisher noch nicht (vgl. K. 3). Zielsetzung der Empirie und Vorgehensweise Die Analysen in den nächsten Arbeitsteilen richten sich auf die Untersuchung der Anhörungspraxis. Es handelt sich um Beschreibungen von Anhörungsprotokolle und Beobachtungsprotokolle von Anhörungen. Die Kapitel von 12.1 bis 13.6 beantworten in verschiedenen Intensitäten und mit unterschiedlichen Forschungsfragestellungen, die Frage: Wie wird in Deutschland angehört? Wie laufen die Gesprächsprozesse in der Anhörung ab und warum auf diese Weise anstatt auf eine andere? Im Arbeitsabschnitt II. (K. 9.2) wurden die an der Anhörung beteiligten Personen – Antragsteller*innen, die Anhörenden und deren Dolmetscher*innen und die Anhörungsbegleiter*innen – in ihrer jeweiligen Rolle dargelegt. Die verschiedenen Herausforderungen, die die beteiligten Personen in der Anhörungssituation erwarten, wurden oben beschrieben (vgl. K. 9.2.1; K. 9.2.1.1). Inzwischen ist bekannt, wie die Anhörung theoretisch gestaltet werden sollte, so dass die institutionellen Zwecke realisiert werden können (vgl. K. 10.3; K. 10.4). In den folgenden Kapitel gilt es zu untersuchen, wie das in der Praxis geschieht. Ergibt sich aus der Zweckorientierung der Anhörer*innen typische Anhörungsphasen? Wenn ja, welche und wie werden sie zweckdienlich organisiert? Die Analyse in den kommenden Forschungsabschnitten fokussiert sich auf die involvierten Akteur*innen, ihre Interaktionen in der Anhörungssituation und darauf, wie die Interaktanten*innen versuchen, ihre Ziele kommunikativ zu erreichen. Hierdurch wird zwangsläufig ein Blick auf das Handeln und auf die kommunikativen Abläufe in der Institution ›Bundesamt‹ gewährt. Denn durch die Rekonstruktion von Diskursen in Institutionen können die Fragen beantwortet werden, wie Institutionen durch Sprache konstituiert und reproduziert werden (vgl. Weik & Lang 2001: 205). Die Darstellung der empirischen Ergebnisse und verschiedener Anhörungspraxen dienen als Grundlage, folgende Forschungsziele zu erreichen: (1) Allgemein ein Einblick in die bürokratische Anhörungspraxis in Deutschland zu ermöglichen und spezifisch den im Kapitel 2 formulierten Forschungsinteresse nachzugehen. (2) Ein Grundmuster für die Anhörung auf empirischer Basis zu erstellen. Hierbei wird das Grundmuster Phase für Phase analysiert, konstitutive Einheiten bestimmt und die institutionelle Zwecke jeder Phase herausgearbeitet. (3) In einer tieferen Analyse werden die Phänomene ›Rekonstruktion von Fluchtgeschichten‹ und die ›Überprüfung von (Un-)Glaubwürdigkeit‹ untersucht und es wird versucht, zu verfolgen, wie diese zwei fundamentalen Anhörungsbestandteile interaktiv bearbeitet werden.

11. Einleitung zur Empirie (4) Als Nebenprodukt könnten die Ergebnisse der empirischen Untersuchung zur Ermittlung einer praxisnahe Anhörungswahrnehmung im öffentlichen Diskurs beitragen, im Gegensatz zu dem bisher bestehenden fragmentarischen Bild, das durch die Medien vermittelt wird. Durch die praxisnahe Beschreibung von Anhörungen soll die Arbeit einen Beitrag zur Aufklärung dessen leisten, was eine Anhörung ist und wie diese durchgeführt wird.

Die empirische Untersuchung ist in eine zweistufige Analysedimission gegliedert und ist in drei Arbeitsabschnitte (III, IV und V) eingeteilt. Die Untersuchungen in Teil III konzentrieren sich in erster Linie auf die Analyse von zwei Datenkorpora, (a) Anhörungsprotokolle und (b) Dokumentationen von teilnehmenden Beobachtungen, ergänzt durch die Ergebnisse von ausgewerteten Interviews. Teil III ist in zwei Hauptkapitel strukturiert: Das Erste ist makroanalytisch angelegt, in dem die Anhörungsphasen summarisch dargestellt werden. Es handelt sich um eine ergebnisorientierte Darstellung des Verlaufs von Anhörungsgesprächen, deren Phasen dann im zweiten Kapitel detailliert analysiert werden. Teil IV betrachtet die Anhörung als interaktive Verhandlung zwischen den Interaktanten, die im Interaktionsmoment erst entsteht. Diese Sichtweise sieht den Anhörungsverlauf nicht mehr als lineare Struktur an. Vielmehr wird die Anhörung als nichtlinearer Prozess betrachtet, der eine interaktive Auseinandersetzung auf beiden Seiten fordert. Arbeitsabschnitt IV gliedert sich in die Teile IV.I. 1 und IV.I. 2. Die Untersuchung widmet sich zwei Phänomenen, deren Relevanz für die Anhörung bei der Analyse von der Anhörungskernphase entdeckt wurde und die deshalb für eine tiefere Ebene der Analyse gewählt wurden: (1) Die Rekonstruktion der Fluchtgeschichte und (2) Die Überprüfung der Glaubwürdigkeit der Asylsuchenden.

161

12. Strukturelle Beschreibung aller Anhörungsphasen

12.1

Makrostrukturelle Beschreibung von Anhörungsgesprächen

In den kommenden Kapiteln veranschauliche ich anhand analysierter Beispiele exemplarisch, wie die Anhörungsgespräche strukturell von Anhörungsbeginn bis zur Beendigung organisiert werden. Die Beschreibung der Anhörungsphasen in ihrer zeitlichen und linearen Abfolge ermöglicht die Erfassung der Anhörung in ihrem gesamten Ablauf. Mit diesem Vorgang wird ein Grundmuster für die Anhörung rekonstruiert, das sich an dem zeitlichen Ablauf orientiert. Der Fokus ist auf eine lineare Abfolge der konstitutiven Phasen und allen Bestandteilen der Anhörung gerichtet sowie auf die funktionale Beschreibung der jeweiligen Phase. Grundsätzlich haben alle Phasen, mit Ausnahme der Phase ›die Überprüfung der Glaubwürdigkeit der Antragsteller*innen‹, die teilweise unabhängig von der konstitutiven Reihenfolge beliebig platziert und mehrfach in der Anhörung wieder aufgegriffen werden kann, eine bestimmte Reihenfolge. Diese Phasen werden für bestimmte Zwecke in der jeweiligen Abfolge platziert, so dass ich die These aufstelle, dass die Anhörung ein allgemeines Ablaufmodell hat, das den Leitfaden für jede Anhörung bildet. Bevor die Anhörungsgespräche Phase für Phase anhand von exemplarischen Beispielen untersucht werden, möchte ich vorweg einen kurzen Überblick über die Forschungsergebnisse der Anhörungsstruktur zusammenfassen: Die Eröffnungs- und die Beendigungsphasen bestimmen das Anhörungsgespräch. Nach der Anhörungseinführung wird die Anhörungsmitte eingeleitet, die u.a. Fragen nach dem Reiseweg und den Reisekosten enthält. Im Anschluss an die genannten Fragen zur Reiseroute schließt sich die Kernphase der Anhörung an, in der die Fluchtgründe geschildert und Nachfragen dazu gestellt werden. Die Überprüfung des Wahrheitsgehalts der erzählten Fluchtgeschichte steht in der Kernphase der Anhörung im Vordergrund und somit ist diese Phase jene, die das höchste Interaktivitätsniveau aufweist. Nach der Kernphase folgen Fragen zur Überprüfung, ob es Fluchtalternativen gab und ob die Flucht in einen anderen Ort in dem Herkunftsland möglich gewesen wäre. Darauf folgt die Anhörungseinheit der sogenannten ›Rückkehrprognose‹. In dieser Einheit wird versucht festzustellen, ob der/die Asylbewerber*in einer zukünftigen Gefahr in seinem/ihrem Herkunftsland ausgesetzt wäre. Die genannten Anhörungsphasen werden makrostrukturell in der folgen-

164

Die Anhörung im Asylverfahren

den Grafik (Abbildung 4) dargestellt. Die präsentierte Grafik liefert eine Übersicht über die einzelnen Phasen und gilt als Phasenmodell1 der Anhörungsgespräche.

Abbildung 4: Ablaufmodell der Asylanhörung

Das Ablaufmodell ist auf empirischer Basis anhand von Eigendaten erstellt worden. Die Basis der Phasenunterteilung folgt einer thematischen Orientierung und bildet eine analytische Rekonstruktion der Form-Zweck-Verhältnisse der Äußerungen, die funktional und handlungstheoretisch zugeordnet werden.

1

Der Begriff »Phasenmodell« verwende ich in der Anlehnung an Brons-Albert (1995) und Marten (1985). Nach Brons-Albert (1995) stellen Phasenmodelle eine handlungsbezogene Gesprächsgliederung dar, der zu entnehmen ist, aus welchen größeren Bestandteilen das Gespräch besteht und in welcher Reihenfolge diese auftreten. Die Phasengliederung soll Aussagen über die Struktur des Gesprächs geben (vgl. ebenda: 87). Marten (1985) bezeichnet die Phasenmodelle als »Skizze« des chronologischen Verlaufs (ebenda: 27).

12. Strukturelle Beschreibung aller Anhörungsphasen

12.2

Vorgehensweise zur Beschreibung des Anhörungsverlaufs

Nachdem auf der Makroebene die Anhörungsstruktur bestimmt wurde, wird die Beschreibung der Anhörungsphasen entlang der Untersuchung von Anhörungen auf der Ebene der mittleren Einheit näher betrachtet.2 Mit der Ebene der mittleren Einheit ist gemeint, dass bei der Beschreibung des Anhörungsgespräches auf eine mikroanalytische Dimensionsbeschreibung der kleinsten Einheiten verzichtet wird. Es wird eine Beschreibung vorgenommen, die die Erfassung der inneren Abläufe jeder Anhörungsphase und ihres Zwecks zulässt und die kommunikative Bewältigung jeder Phasenaufgabe zu erfassen erlaubt, um letztendlich die Gesamtstruktur der Anhörung zu rekonstruieren. Im Sinne der Diskursanalyse, die die Gespräche als Abfolge von Aufgaben betrachtet, die von den Gesprächsteilnehmer*innen nacheinander gemeinsam bearbeitet werden (vgl. u.a. Spranz-Fogasy & Spiegel 2001: 1243; Bendel 2007: 90), werden sowohl die Abfolge in den Daten herausgearbeitet als auch die konstitutiven Bestandteile der Anhörungsgespräche in einer logischen Abfolge-Struktur herausgestellt. Für den operativen Vorgang der Analyse zwecks der Rekonstruktion der Anhörungsgesprächsstruktur werden zuerst alle Anhörungsgespräche nach dem Sequenzierungskonzept gegliedert. Sequenzen mit identischer Thematik werden einer Phase zugeordnet und damit tituliert. Auf diese Weise werden alle Gesprächssequenzen,3 ohne Auslassungen, durchgegangen. Die Sequenzanalyse ist eine auf singuläre Interaktionsereignisse gerichtete Methode und arbeitet heraus, wie das Ereignis insgesamt aufgebaut ist und aus welchen in sich abgrenzbaren Einheiten und Gesprächssequenzen es besteht (vgl. Bergmann 1985: 313 und 2004: 529). Dieses Vorgehen ist für die vorliegende Analyse geeignet, weil dadurch die Anhörungsprotokolle in Anhörungseinheiten-, -phasen und kleine Bestandteile unterteilt werden können. Dadurch wird zum einen eine übergreifende Orientierung geschaffen, zum anderen das Geschehen durch die Strukturierung ganzer Gesprächsverläufe besser erfassbar und nicht zuletzt erleichtert, die Analyseschritte chronologisch nachvollziehen zu können. Jede einzelne Anhörungsphase wird analysiert, jedoch werden nicht alle Sequenzen mit der gleichen Intensität detailliert beschrieben: Während eine Anhörungssequenz ausführlich beschrieben wird, wird eine andere erwähnt und kurz umrissen. In jedem

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3

Nach Becker-Mrotzek & Meier (2002) lässt sich die Ordnung der Kommunikation durch kommunikative Einheiten unterschiedlicher Größe beschreiben. Die Autoren unterscheiden zwischen mindestens drei sprachlich-kommunikativen Einheiten: »[D]en Diskursen als der größten Einheit, den Sprechhandlungssequenzen als der mittleren Einheit und den als kleinere Einheiten zusammengefassten unterschiedlichen Kleinformen.« (Ebenda: 19) Spiegel & Spranz-Fogasy (2001) verwenden den Begriff »Gesprächsphase« als allgemeinen Begriff: »Er soll alle Modelle umfassen, die Makrostrukturen von Gesprächen erfassen, in denen schwerpunktmäßig zusammengehörende Aktivitäten durchgeführt werden, welche auf typischerweise vorangegangenen Aktivitäten aufbauen und die typischerweise nachfolgenden Aktivitäten zu Grunde liegen. Auf der allgemeinsten Ebene enthält der Begriff »Gesprächsphase »die für eine Bezugnahme wesentlichen Komponenten: Einheitlichkeit, Abgrenzbarkeit und Progredienz, die handlungs- oder themenbezogen konstituiert sind.« (1242). In dieser Arbeit wird Gesprächsphase und Gesprächssequenz -ohne inhaltliche oder organisatorische Unterschiede- für die Benennung einer Gesprächsepisode verwendet.

165

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Die Anhörung im Asylverfahren

Fall wird jede Anhörungssequenz in ihrem zeitlich-linearen Ablauf erwähnt und deklariert, so dass das Verlaufsmodell als Abbildung von Anhörung gesichert werden kann. Darüber hinaus werden die ethnografischen Kontexte berücksichtigt,4 damit ein holistisches Bild über den Verlauf der Anhörung in seiner »Gesamtheit« rekonstruiert werden kann.

4

Der ethnografische Kontext zu berücksichtigen bedeutet hier konkret: Während der Analyse einer Gesprächssequenz werde ich mich nicht nur auf die einzelnen Handlungsaspekten der Anhörungssituation beschränken, sondern es werden weitere Daten, die für die vorliegende Sequenzanalyse von Interesse (zur Aufklärung von Abweichungen und Hintergründen bestimmter Handlungen) sein können, herangezogen. (vgl. K. 5.2).

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

Die Anhörung wird, wie oben erwähnt, in fünf grob strukturierte Anhörungseinheiten unterteilt, die jeweils in untergeordnete Phasen gegliedert werden. Forschungspraktisch wird in den nächsten Kapiteln wie folgt vorgegangen: Zunächst wird jede einzelne Phase der Anhörung, die oben im Ablaufmodell identifiziert und bezeichnet wurde, detaillierter analysiert. Die Äußerungen werden einer linguistischen Analyse unterzogen, um ihre linguistischen Merkmale zu beschreiben und zu untersuchen, ob bekannte sprachliche Mittel und Verfahren wiederholt zum Einsatz kommen. Es wird untersucht, ob diese sprachlichen Verfahren konstitutiv für den Vollzug bestimmter Sprachhandlungen sind und inwieweit sie für die Anhörung kodiert sind. Im zweiten Schritt wird versucht, abzuleiten, welche Funktionen und interaktiven Bedeutungen die linguistisch analysierten Äußerungen für die zu untersuchenden Anhörungsphasen und für den Verlauf der Anhörung insgesamt haben. Die sprachlichen Sachverhalte werden einer Form- und Funktionsanalyse unterzogen. Im dritten Schritt sollen durch die Identifizierung der linguistischen Merkmale der Äußerungen und Beschreibung ihrer Funktionen die sprachlichen und sozialen Handlungskomplexe in der Anhörung rekonstruiert und das Grundmuster der Anhörung etabliert werden. In den kommenden Kapiteln werden alle Anhörungsphasen – beginnend mit der Anhörungseinheit ›Anhörungseinführung‹ – chronologisch dargestellt.

13.1

Die Anhörungseinführung

In der Gesprächsforschung wird das kommunikative Ereignis üblicherweise in drei Phasen unterteilt, z.B. in: a) Gesprächseröffnung, Gesprächsmitte und Gesprächsbeendigung (z.B. Henne & Rehbock, 1995: 20); b) Eröffnungsphase, Kernphase und Beendigungsphase (Brinker & Sager 2001: 96ff.) oder c) Anfangsphase, Gesprächsmitte und Beendigungsphase (z.B. Linke et al. 1996: 282). In der vorliegenden Arbeit werden die ersten vier Anhörungsphasen unter dem Begriff ›Anhörungseinführung‹ zusammengefasst. Die Auswahl des Begriffs ›Anhörungseinführung‹ weicht von dem in der Literatur für gewöhnlich verwendeten Begriff für die Grobstrukturierung des Gesprächs ab. Diese Abweichung lässt sich wie folgt begründen:

168

Die Anhörung im Asylverfahren

Es geschehen in der Gesprächseinheit ›Anhörungseinführung‹ mehrere kommunikative Ereignisse, die noch nichts zu dem Inhalt der Anhörung aussagen. Jedoch haben die Einzelsequenzen innerhalb der Einheit ›Anhörungseinführung‹ gemeinsam den Zweck, die Asylbewerber*innen auf den Anhörungskern – die Asylgründe geltend zu machen – vorzubereiten. Durch sie werden die institutionellen Bedingungen für den Kern der Anhörung geschaffen. Die Institutionsfremden (Asylsuchenden) werden in die Institution eingeführt; ihnen wird ein vertrauensvoller Umgang mit ihren Daten und Äußerungen zugesichert und ihnen werden Pflichten auferlegt. Durch die Gesprächseinführung wissen die Institutionsfremden, was auf sie zukommt, wie wichtig ihre Worte für die Entscheidung über den Asylantrag sind und wie einzigartig die Anhörung ist. Aus diesen Gründen werden die ersten Anhörungsphasen nicht als Gesprächsanfang, -eröffnung oder-beginn bezeichnet, sondern als Anhörungseinführung. In den kommenden Kapiteln werden die vier Phasen der Anhörungseinheit ›Anhörungseinführung‹ ausführlich dargestellt.

13.1.1

Anhörungseröffnung

Linke et.al. (1996) haben die Eröffnungsphasen von face-to face Gesprächen erforscht und stellen eine situationsunabhängige Charakteristik von Eröffnungsphasen fest. Sie sehen die Funktion der Eröffnungsphasen eines Gesprächs in erster Linie darin, »sozialen und organisatorischen Belangen, sowie der Einbettung des Gesprächs in den gegebenen Situationszusammenhang«, zu dienen (ebenda: 282). Diese Feststellung der situativen Einbindung greifen Spiegel & Spranz-Fogasy auf. Sie bestätigen die soziale Determiniertheit von Gesprächseröffnungen und halten fest, dass »die Dauer der Eröffnungsphase […] stark variieren [kann]« und von »verschiedenen Faktoren abhängig« ist (Spiegel & Spranz-Fogasy 2001: 1247), wie »dem Bekanntheitsgrad der Teilnehmenden und deren Zeitbudget, der Öffentlichkeit oder Privatheit der Gesprächssituation, dem Zeitpunkt des letzten Kontakts etc.« (ebenda). Den Autoren zufolge wird zwischen unterschiedlichen sozialen Situationen differenziert. Zum Beispiel wird in Gesprächen im beruflichen Kontext ein rasches Zur-Sache-Kommen erwartet, während in einem privaten Kontakt, eine lange Eröffnungsphase erwartbar ist, die schleichend in die Phase der privaten Konversation übergeht (vgl. ebenda). Geht man von der in den erwähnten Arbeiten thematisierten sozialen Determiniertheit der konkreten Eröffnungsphasen aus, ist die Eröffnungsphase in der Anhörung von ambivalenter Natur: Einerseits handelt es sich um ein institutionelles Gespräch, das nur für einen institutionellen Zweck organisiert ist und für das deshalb ein rasches »ZurSache-Kommen« bei der Eröffnungsphase ausreichend wäre. Andererseits geht es um sehr persönliche Angelegenheiten der Antragsteller*innen, was eine vertrauensbildende Eröffnungsphase erforderlich macht.

13.1.1.1

Anhörungseröffnung Exemplarische Analyse

Zur Anhörung wird der/die Asylbewerber*in durch die Verwaltung des Bundesamtes eingeladen. Vor dem Beginn der Anhörungssituation sind die Rollen der Akteure und der Akteurinnen bereits festgelegt. In dem Anhörungsraum, in dem die Akteure und die Akteurinnen erscheinen, werden die Personen in ihrer institutionellen Rolle kontextua-

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

lisiert. Die Anhörung kann nur durch die Initiative der Entscheider*innen eröffnet werden und alle weiteren Handlungsabläufe werden durch sie gesteuert.1 Typischerweise wird die Anhörungseröffnung durch Äußerungen der folgenden Art eingeleitet: Auszug aus dem Anhörungsprotokoll 2: A: Guten Tag, ich bin [Name], eine Mitarbeiterin des Bundesamtes und führe mit Ihnen heute die Anhörung durch. A: Fühlen Sie sich gesundheitlich in der Lage, die Anhörung heute durchzuführen? AB: Ja A: Sie haben heute die Möglichkeit Ihre Asylgründe vorzutragen. A: Gibt es Verständnisschwierigkeiten? AB: Nein Auszug aus Beobachtungsprotokoll 8: »Hallo, ich bin [Name], eine Mitarbeiterin vom Bundesamt und werde mit Ihnen die Anhörung durchführen. Zuerst muss ich wissen, ob sie gesundheitlich in der Lage sind, die Anhörung durchzuführen« (BP: 8). Ausschnitt aus einem Radiointerview: »Schönen Tag, Ich bin [Name], eine Mitarbeiterin des Bundesamtes und führe mit Ihnen heute die Anhörung durch. Sie haben in Deutschland einen Asylantrag gestellt und Sie haben heute die Möglichkeit alle Asylgründe vorzutragen. Die Anhörung stellt in Ihrem Asylverfahren den wichtigsten Bestandteil dar. Sie haben heute die Möglichkeit alles zu berichten, was dafür ausschlaggebend war« (Ausschnitt von Radiointerview mit einer Entscheiderin, Sendung: SWR2 Tandem vom Do, 26.11.2015 | 10.05 Uhr) Auszug aus Beobachtungsprotokoll 3: A: Ich bin [Name], ich werde Ihnen ein paar Fragen zu Ihrem Asylantrag stellen. Sie müssen die Wahrheit sagen. AB: Natürlich A: Sind Sie gesundheitlich in der Lage, die Anhörung heute durchzuführen? AB: Ja A: Herr [Name des Dolmetschers] erklärt Ihnen ein paar Details zur Anhörung. D>AB: [Interaktion zwischen Dolmetscher und Antragsreller] A: Haben Sie alles verstanden? Aus den zitierten Eröffnungssequenzen kann festgestellt werden, dass die Anhörungseröffnung aus bestimmten Bestandteilen besteht, die im Folgenden dargestellt werden.

1

Die Steuerung des Gespräches seitens die Entscheider*innen interpretiere ich nicht als Machtausübung. Sie gehört in diesem Kontext zur Entscheider*innenrolle, durch die die Entscheider*innen ihre Aktivitätsanteile im Interaktionsprozess führen können. Die Gesprächsteuerung durch die Entscheider*innen ist aus praktisch-rationalen Erwägungen getragen, weil sie derjenigen sind, die das Wissen von den Asylbewerber*innen erfragen müssen.

169

170

Die Anhörung im Asylverfahren

13.1.1.2

Bestandteile der Anhörungseröffnung

  Begrüßung und das Sich-Vorstellen Die Anhörung eröffnet der/die Anhörende durch Begrüßung, während die Eröffnung früherer Anhörungen (in den 80er- und 90er-Jahren)2 durch den deklarativen Sprechakt »Anhörung Asylgesetz 16 § 25« (E-Interview Hagemann) realisiert wurde. Darauffolgend stellen sich die Bundesamtsmitarbeiter*innen vor. Für die Realisierung des sprachlichen Handelns ›Sich-Vorstellen‹ setzen die Anhörenden (abgesehen von P: 3) eine Sprechhandlung ein, die aus drei Komponenten besteht: Die deiktische Prozedur »ich«, das Verb »sein« plus der Name des Sprechers/der Sprecherin kombiniert mit einer Sprechhandlung, die die Position des Sprechers/der Sprecherin demonstriert: »Ich bin [Name] eine Mitarbeiterin des Bundesamtes« (Radiointerview mit einer Entscheiderin, Sendung: SWR2 Tandem vom Do, 26.11.2015 | 10.05 Uhr).3 Die Erfüllung der sprachlichen Handlung »Sich-Vorstellen« ist in der Regel durch »ich«, die zugehörige Form des Verbs »sein« und den Eigennamen des Sprechers/der Sprecherin komplett gewährleistet. Jegliche Erweiterung der Sprechhandlung »ich + bin + Eigenname« soll eine weitere Funktion zu dem Gesagten hinzufügen, sonst wäre die Erweiterung zwecklos. Hier wird die Sprechhandlung »ich bin [Name]« direkt durch »bin Mitarbeiterin des Bundesamts« erweitert. Mit der Äußerung »bin Mitarbeiterin des Bundesamts« stellt die Anhörerin ihre Rolle als Institutionsvertreterin klar, denn ihre institutionelle Rolle als Anhörerin ist nicht an ihren Namen gebunden, sondern wird erst sprachlich durch die nominale Erweiterung hergestellt.4 Die Anhörerin konkretisiert in der gleichen Äußerung im zweiten Teil durch die Teiläußerung »und führe mit Ihnen die Anhörung durch« ihre Aufgabe und die Haupthandlung, die mit dieser Rolle verknüpft ist, hier die Durchführung des institutionellen Anhörungsgesprächs. In der gleichen Äußerung wird der Kommunikationstyp als Anhörung charakterisiert. Mit der gesamten Äußerung signalisiert die Anhörerin, dass die Fragen und Handlungen, die folgen, an diese Institution gebunden sind. Gerade die Verknüpfung der beiden Teiläußerungen mit der Konjunktion »und« weist in dieser Konstellation darauf hin, dass der erste Teil »[…] bin Mitarbeiterin des Bundesamtes« (u.a. BP: 8) den zweiten Teil »führe mit Ihnen die Anhörung durch« (ebenda) verursacht bzw. erfordert, denn die Konjunktion »und« hat hier nicht nur eine additive Funktion, sondern auch eine kausale Funktion. Das heißt,

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3

4

Insgesamt zeigt das Untersuchungsmaterial eine Entwicklung bei den Anhörungen im Laufe der Zeit. Das Setting und die juristischen Regeln sind gleichgeblieben, aber die Anhörungsdurchführung und Fragetechniken änderten sich. Soweit ich diese Entwicklung beurteilen kann, ist sie zugunsten aller Anhörungsinteragierenden verlaufen. Scheffer (2001) machte die Beobachtung, dass während die Entscheider*innen sich mit ihrem Nachnamen vorstellen und die Dolmetscher*innen »keinen näheren Kontakt zu den Asylbewerber*innen aufnehmen, »kein Händedruck, kein small talk, kein Tausch von Höflichkeiten« (ebenda: 74). Mit der Übernahme der institutionellen Rolle wird das Handeln der Anhörerin in Anlehnung an Luhmann als »unpersönliches Handeln« (1969: 86) gekennzeichnet. Der/Die Institutionsvertreter*in wird in verschiedenen Fällen als bloßes Sprachrohr einer anderen Handlungsinstanz gesehen (vgl. ebenda: 82-87).

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

die Tätigkeit als Institutionsvertreter*in begründet die Handlung »[ich]führe die Anhörung durch« und begründet ebenso alle weiteren Fragen und Handlungen, die folgen. In diesem Zusammenhang wird die Sprechhandlung somit – wie folgend nochmals verdeutlicht – verstanden: Da ich ›Mitarbeiterin des Bundesamts‹ bin, werde ich mit Ihnen ›die Anhörung durchführen‹. Ohne die soziale Rolle ›Bundesamtsmitarbeiterin‹ im ersten Äußerungsteil, ist die Ausführung der Tätigkeit ›Anhörungsdurchführung‹ nicht möglich. So eine Äußerung »ich führe mit Ihnen die Anhörung durch« soll erst vollzogen werden, wenn die Person, die dies äußert, institutionell ermächtigt wird.5 Interessant ist, dass die oben beschriebenen sprachlichen Handlungen schon in der ersten Eröffnungsäußerung festgehalten wurden. Eine weitere Funktion, die der oben genannten Äußerung zuzuschreiben ist, ist die Situierung des Anhörungsbeginns und dessen institutionelles Handeln, was bedeutet, dass ab diesem Moment alle Fragen und sprachlichen Handlungen an den institutionellen Rahmen gebunden sind. Sie werden dokumentiert und haben Konsequenzen für den weiteren Verlauf des Asylverfahrens. Es entsteht der Eindruck, dass der erste Teil »Ich bin Mitarbeiterin des Bundesamts« eine anhörungsspezifisch vorgeschriebene Eröffnungsformel ist, da sie in allen Anhörungen ausgesprochen wird. Die Begrüßung und das Sich-Vorstellen des Entscheiders in der Anhörung 3 stellt eine Ausnahme dar, denn in ihr wird die Anhörung mit der Äußerung: »Ich bin [Name des Anhörers], ich werde Ihnen ein paar Fragen zu Ihrem Asylantrag stellen.« (Anhörung 3) eröffnet. Da die Interaktionsereignisse der vorliegenden Untersuchung in ihrem natürlichen Kontext erfasst wurden und der externe Kontext ebenfalls bei der Analyse mit einbezogen wird, lässt sich der Verzicht des Anhörers auf die standardisierte Eröffnungsformel in der Anhörung 3 erklären. Folgende Mutmaßung als Ursache wird aufgestellt: Der Asylbewerber befand sich zuerst nicht im Wartezimmer. Der Anhörer suchte zusammen mit dem Dolmetscher den Antragsteller und holte ihn ab. Sie gingen zusammen zum Anhörungsraum. Auf dem wegn dahin stellten sich der Dolmetscher und der Entscheider dem Antragsteller vor, somit fand die erste Kontaktaufnahme, die normalerweise im institutionellen Anhörungsraum geschieht, außerhalb der institutionellen Gesprächsrahmens statt. Voraussetzungen für die Anhörungsdurchführung Die Anhörung kann nur durchgeführt werden, wenn zwei Bedingungen erfüllt werden: (a) wenn die Asylsuchenden gesundheitlich in der Lange dazu sind, die Anhörung durchzuführen und (b) wenn die Interaktionsbedingungen sichergestellt sind, dass die Asylsuchenden die Dolmetscher*innen verstehen.

Zu (a): Erfassung der gesundheitlichen Lage: Mit der zweiten Äußerung in der Sequenz Anhörungseröffnung »Zuerst muss ich wissen, ob Sie gesundheitlich in der Lage sind, die Anhörung durchzuführen« (BP:8) wird die erste Voraussetzung zur Durchführung des 5

Die Anhörer*innen sind zur Anhörungsdurchführung gesetzlich autorisiert: »Persönliche Anhörungen zum Inhalt eines Antrags werden von einem Bediensteten der Asylbehörde durchgeführt.« (Art. 14. Abs1).

171

172

Die Anhörung im Asylverfahren

institutionellen Aktes ›Anhörung‹ abgefragt, die Aufschluss über den gesundheitlichen Zustand des Asylbewerbers geben soll. Diese Überprüfung der gesundheitlichen Situation des Antragstellers ist ein fester Bestandteil der Anhörungseröffnung und diese ist institutionell vorgegeben: »[I]n der einleitenden Phase der Anhörung sollte der Sachbearbeiter stets sicherstellen, dass der Antragsteller der Anhörung gewachsen ist, indem er ihn nach gesundheitlichen oder anderen Problemen fragt, die berücksichtigt werden sollten« (EASOPraxisleitfaden 2014:9). Sie ist im gesamten Korpus festgehalten worden. Zwecks ihrer Realisierung verwenden die Anhörenden unterschiedliche Sprechhandlungen, zum Beispiel: »Wie geht es Ihnen? Sie fühlen sich gesundheitlich in der Lage diese Anhörung heute durchzuführen?« (Video auf YouTube)6 , Oder »Sind Sie gesundheitlich in der Lage, die Anhörung heute durchzuführen?« (BP: 3), »Sind Sie im gesunden Zustand, die Anhörung durchzuführen?« (BP: 1) und »Zuerst muss ich wissen, ob Sie gesundheitlich in der Lage sind, die Anhörung durchzuführen« (BP:8). Die Variation der Beispiele zeigen, wie ein und dieselbe sprachliche Handlung durch verschiedene Äußerungen vollzogen werden kann. Alle Äußerungen bezwecken, sicherzustellen, ob die Asylbewerber*innen direkt (BP: 1 und BP: 3) oder indirekt (BP: 8) in der Lage sind, die Anhörung durchzuführen. Nur durch ihre Zustimmung kann die Anhörung ausgeführt werden. In den Daten wird diese Aufforderung seitens der Asylbewerber*innen durch den Antwortpartikel »ja« oder das Zustimmungssignal »Nicken« bejaht. Durch das Bejahen haben die Asylbewerber*innen einen illokutionären Akt vollzogen, durch den sie soziale Festlegungen und Konsequenzen zu erwarten haben (vgl. Waltereit 2006: 41). Zu (b): Sicherstellung der Interaktionsbedingungen: Nach den oben angegebenen, gestellten Fragen zum gesundheitlichen Zustand der Asylbewerber*innen werden sie gefragt, ob sie die Dolmetscher*innen verstehen. Das »Verstehen des Dolmetschers/der Dolmetscherin« ist die zweite Voraussetzung zur Durchführung der Anhörung. Nach § 24 Abs. 1 S. 2 AsylG und Art. 12 RL 2013/32/EU ist das Bundesamt verpflichtet, die den Antragsteller*innen in einer ihnen verständlichen Sprache, mithilfe eines Dolmetschers/einer Dolmetscherin, anzuhören (§ 17 AsylG; Art. 15 Abs. 3 Buchst. c RL 2013/32/EU). Daher ist ihre Gewährleistung eine Bedingung, die seitens der Institutionsvertreter*innen sichergestellt werden muss. Die Frage, ob der/die Asylbewerber*in den/die Dolmetscher*in versteht, lässt sich durch Entscheidungsfragen wie: »Verstehen Sie Herrn/Frau [Name des Dolmetschers]« (BP: 3; BP: 15), »Gibt es Verständnisschwierigkeiten« (BP: 7, BP: 12 und BP: 17) realisieren.

6

Ausschnitt aus einem Lehrfilm des BAMF zum Ablauf des Asylverfahrens in Deutschland. In den Film wird anhand von Beispielen simuliert, wie die Anhörung abläuft: Asylverfahren in Deutschland https://www.youtube.com/watch?v=riaXrpUW-Dw (29.04.2016).

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

Der Antragsteller Aziz beschreibt in einem Interview den Beginn der Anhörung wie folgt: »Der Beamte fragte Dich, ob Du gesundheitlich in der Lage bist, die Anhörung durchzuführen. Er fragte auch ob Du den Dolmetscher verstehst. Mein Freund wollte in einem sehr seltenen Dialekt seine Anhörung durchführen […] sie haben es gemacht.« (A-Interview 9). Die Realisierung der Voraussetzungssicherung ist ein konstitutiver Bestand der Anhörung. Ihre Realisierung wird im Anhörungsprotokoll dokumentiert: »Auf Nachfrage bestätigt der Antragsteller, dass er sich mit dem Sprachmittler/-in verständigen kann« (Protokoll 1, 2, 3 usw.). Laut dem EASO-Praxisleitfaden für die persönliche Anhörung sollen die Anhörenden in dieser Phase noch nach a) dem persönlichen gegenseitigen Verstehen der beiden Interaktant*innen Asylbewerber*innen und Dolmetscher*innen und b) nach besonderen Bedürfnissen des Asylbewerbers/der Asylbewerberin fragen: »Der Sachbearbeiter sollte außerdem Antragsteller und Dolmetscher fragen, ob sie einander verstehen« (EASO-Praxisleitfaden 2014: 20) und »den Antragsteller nach besonderen Bedürfnissen fragen.« (Ebenda: 8) Zusammenfasst besteht die Anhörungseröffnung meistens aus drei institutionsspezifischen Bestandteilen: • • •

Das sich namentlich Vorstellen der Entscheider*innen in ihrer Funktion als Vertreter*innen des Bundesamtes Die Pflicht der Anhörenden festzustellen, ob die Asylbewerber*innen gesundheitlich in der Lage sind, die Anhörung durchzuführen Sicherstellung, dass die Asylbewerber*innen die Dolmetscher*innen verstehen

Durch diese drei Bestandteile wird die Anhörung institutionell situiert und die darauf folgen den Handlungen (Teilnehmer*innenrollen benennen, Organisation der Redebeträge usw.) werden institutionell gerahmt. Somit kann der Zweck der Phase ›Anhörungseröffnung‹ darin gesehen werden, die Anhörung institutionell zu situieren, indem die Interaktionsbedingungen für die Anhörungsdurchführung sichergestellt werden. Von diesem Ausgangspunkt aus wird der Übergang zur nächsten Phase ›PersonalienAbgleich‹ eingeleitet: »Zunächst vergleichen wir die Personalien. Dann geht es auch los« (BP: 16).

13.1.2

Personalien-Abgleich

Bei dieser Phase handelt es sich um die formelle Überprüfung der Personalien bzw. den Personalien-Abgleich. Dies geschieht mittels des Vergleichs von Personaldaten, die die Anhörer*innen aus den vor ihnen liegenden Akten entnehmen, mit jenen, die in der Aufenthaltsgestattung (der erste Identifikationsausweis für Asylbewerber*innen) aufgeführt sind. Zweck der Phase ist, zu identifizieren, dass die Person, mit der die

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Die Anhörung im Asylverfahren

Anhörung geplant ist und deren Akte vorliegt, auch die Person ist, die sich gerade im Anhörungsraum befindet. A: Haben Sie Ihre Aufenthaltsgestattung dabei? AB: Ja A: Können Sie sie mir bitte geben? (BP: 3) Für die Bearbeitung der Phase ist das Aktenvorblatt entscheidend. Auf dem Aktenvorblatt sind die Personalien mit Geburtsdatum, Nationalität, Sprache usw., die bei der Erstaufnahme oder im Rahmen des Dublin-Verfahrens registriert wurden, eingetragen. Die Angaben auf dem Aktenvorblatt vergleicht der/die Dolmetscher*in mit denen des Asylbewerbers/der Asylbewerberin nach der Aufforderung des/der Anhörenden: »Vergleichen Sie mit ihm bitte die Daten« (BP: 8; BP: 14). Die Phase ›Personalien-Abgleich‹ ist eine reine Routinehandlung, die in der Phase ›Identifizierung der Person‹ erweitert wird. Diese wird ausführlich nach der kommenden Phase analysiert. Die hier beschriebene Phase ›Personalien-Abgleich‹ wird an dieser Stelle lediglich kurz erwähnt, um dem Vorhaben, die Rekonstruierung der Konstitutionsstruktur der Anhörung in seinem zeitlich-linearen Herstellungsvorgang vorzunehmen, treu zu bleiben. Darauf folgen Sequenzen zur Belehrung der Asylsuchenden.

13.1.3

Anhörungsbelehrung

Nach der Gesprächseröffnung, der Erfassung der Personalien der Asylbewerber*innen und der Festlegung der Voraussetzungen, unter denen eine Anhörung stattfinden kann, gehen die Anhörenden zur nächsten institutionellen Handlung über und leiten die Phase der ›Belehrung‹ ein. Die ›Belehrung‹ wird als eigene Phase eingeordnet, weil mit ihr thematisch und inhaltlich eine neue Handlungssequenz beginnt. Würde der/die Antragsteller*in sagen, er/sie wäre gesundheitlich nicht in der Lage, die Anhörung durchzuführen oder er/sie verstehe den/die Dolmetscher*in nicht oder würden die Personalien-Angaben, die in den Asylbewerberakten festgehalten sind, nicht mit denen der vor dem/der Anhörenden sitzenden Person übereinstimmen, käme die Belehrung nicht zustande. Die Phase der Belehrung folgt in den meisten Anhörungen nach der Erfüllung der oben genannten Vorrausetzung. Die Phase der ›Belehrung‹ besteht nicht aus einer einzigen institutionellen Sprechhandlung, sondern es handelt sich um mehrere Belehrungssequenzen, deren typische Bestandteile sich wie folgt subsumieren lassen: • • • • •

Belehrung des Asylbewerbers/der Asylbewerberin über seine/ihre Pflicht, nur die Wahrheit zu sagen Versprechen an den/die Antragsteller*in, dass das, was in dem Anhörungsraum gesagt wird, nicht an sein/ihr Heimatland weitergeleitet wird Dem/Der Asylbewerber*in bewusstmachen, dass die Anhörung der wichtigste Bestandteil im Asylverfahren ist Aufklären, dass die Anhörung die einzige Möglichkeit für den/die Asylbewerber*in ist, seine/ihre Asylgründe geltend zu machen Aufklären, dass ein späteres Vorbringen der Asylgründe nicht berücksichtigt wird

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

• • •

Mitteilen, dass alles, was in der Anhörung Anhörungsraum gesagt wird, protokolliert wird Den/Die Antragsteller*in motivieren, ausführlich zu erzählen Den/Die Asylbewerber*in auf sein/ihr Recht hinweisen, sich bei Verständigungsproblemen mit dem/der Dolmetscher*in zu äußern

Diese Anhörungsbelehrungsbestandteile sind aus dem gesamten Material induktiv herausgearbeitet. Die Phase der ›Anhörungsbelehrung‹ wird in den Anhörungen 3 und 8 und anhand eines Ausschnittes aus einer Anhörung, die als Radiointerview öffentlich gemacht wurde, exemplarisch und detailliert beschrieben. Die soeben genannten Anhörungen wurden für die Analysen gewählt, weil sie sich anhand der verwendeten Analysekriterien zwar in vielerlei Hinsicht unterscheiden, sich in anderen Kriterien jedoch nähern, so dass durch ihr analytisches Gegenüberstellen viel über die Belehrungsphase in den Anhörungen ersichtlich wird. Anhörung 3 wurde von einem männlichen Anhörenden durchgeführt. Er arbeitet wörtlich nach einem Fragenkatalog in der dort angegebenen Reihenfolge, sodass er etliche Fragen direkt aus dem Fragekatalog vorliest. Fragen, die er selbständig stellt, macht er durch den Ausdruck »Nachfrage« kenntlich, indem er vorher ins Diktiergerät sagt: »Nachfrage Doppelpunkt« und erst dann die Frage stellt. Die Anhörerin in Anhörung 8 zeigt größere Spielräume beim Fragenstellen, indem sie sich nicht wörtlich an den Fragenkatalog hält, sondern die Fragen freistellt. An anderen Stellen berücksichtigt sie juristische Formeln, während ihr Kollege, der in der Regel katalogtreu arbeitet, darauf verzichtet. Der Anhörer diktiert die Antwort des Asylbewerbers in ein Diktiergerät, die Anhörerin schreibt diese, während der Übersetzung, direkt in einen PC nieder. In den Beispielen wird die Phase der Belehrung mit den folgenden Fragen analysiert: Wie lässt sich diese Anhörungssequenz sprachlich realisieren? Welchen Zweck hat sie? Werden alle Bestandteile gleichförmig in allen Anhörungen ausgeführt? Geht es um eine formelle Standardbelehrung oder werden die Belehrungsbestandteile von den Anhörenden individuell gestaltet? Insgesamt soll ermittelt werden, wie die Anhörenden tatsächlich belehren. Diese Forschungsfragen werden in zwei Unterkapiteln beantwortet In dem Kapitel 13.1.3.1 werden die Belehrungsbestandteile linguistisch ausführlich beschrieben und der Zweck der Belehrung wird bestimmt. Im Kapitel 13.1.3.2 wird auf die Standardbelehrung vs. individuell gestaltete Belehrung Bezug genommen, indem durch verschiedene Beispiele auf die individuellen Stile der Anhörenden eingegangen wird.

13.1.3.1

Belehrungsbestandteile: Exemplarische Analysen

  Auszug aus einem Ausschnitt einer Anhörung im Radiointerview »Sie haben in Deutschland einen Asylantrag gestellt und Sie haben heute die Möglichkeit, alle Asylgründe vorzutragen. Die Anhörung stellt in Ihrem Asylverfahren den wichtigsten Bestandteil dar. Sie haben heute die Möglichkeit alles zu berichten, was dafür ausschlaggebend war. Ein späteres Vorbringen der Asylgründe kann nämlich unberücksichtigt bleiben. Deshalb ist es heute so wichtig, vollständig zu berichten, was

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Die Anhörung im Asylverfahren

passiert ist.« (Entscheiderinterview im Radio: SWR2 Tandem vom Do, 26.11.2015 | 10.05 Uhr). Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll 8 Jetzt erkläre ich Ihnen den Anhörungsablauf mündlich und Sie bekommen alles auch schriftlich. Ich muss Sie zuerst belehren. Sie sind zur Wahrheit verpflichtet […] Nichts, was hier in Anhörungsraum erzählt wird, wird in Ihr Heimatland weitergeleitet Jetzt muss ich etwas zu der Einzigartigkeit der Anhörung erzählen. Alles, was Sie heute erzählen wird protokoliert und alles, was Sie nach der Anhörung vorbringen, wird nicht berücksichtigt. Müller & Wolff (1997) untersuchten Zeugenbelehrungen in Gerichtsverhandlungen und formulieren folgende drei Teile als konstitutive Elemente der Belehrung: »Einleitung«, »Hinweis auf die Wahrheitspflicht« und »Aussage über die Strafbarkeit von Falschaussagen« (ebenda: 70). Da keine »allgemeingültige Belehrungsformel« (ebenda) existiert, bezeichnen die Autoren die Kombination dieser drei Elemente als »Belehrungskern«, der von den Richter*innen durch Erklärungen erweitert werden kann. Hinsichtlich des Zwecks der Belehrung unterscheidet sich die Anhörungsbelehrung von der Zeugenbelehrung insofern, dass es in der Letztgenannten um Tatsachenwissen geht, das bei der Wahrheitsfindung helfen soll; falsche Zeugenaussagen haben strafrechtliche Konsequenzen: »[Der Zeuge] soll zu wahrheitsgemäßen Aussagen ermahnt werden und auf die strafrechtlichen Folgen des falschen Zeugnisses gemäß Artikel 307 des Strafgesetzbuches hingewiesen werden.« (Bucher 1951: 64). Die Anhörungsbelehrung hingegen hat unter anderem eine für die Belehrten informative Funktion: Die Antragsteller*innen werden über die wichtigen institutionellen Verfahrensweisen der Anhörung und ihre Bedeutung für sie informiert. Der Zweck der Anhörungsbelehrung muss darin liegen, die belehrte Person zu befähigen, ihre Rechte und die Konsequenzen ihrer Worte zu erkennen und zu verstehen, dass die Anhörung die einzige Option ist, ihre Asylgründe geltend zu machen. Die Entscheider*innen müssen die Antragsteller*innen auf die Folgen verspäteten Vorbringens, gemäß § 25 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG, hinweisen (Dienstanweisung 2010: 33), nämlich, dass dieses nicht berücksichtigt wird. Mittels der bevorstehenden Analyse wird der Frage nachgegangen, ob dieser Zweck erfüllt wird. Im Folgenden werden die oben erwähnten Beispiele aus den Anhörungen 3, 8 und der Anhörungsausschnitt aus dem Radiointerview ausführlich analysiert. Beispiel 1: Anhörung 3 Exemplarische Analysen Der Anhörende in der Anhörung 3 hat in der ersten Äußerung die Eröffnungsphase und die Belehrung in sehr verkürzter Form zusammengelegt: »Ich bin [Name], ich werde Ihnen ein paar Fragen zu Ihrem Asylantrag stellen. Sie müssen nur die Wahrheit sagen.« (BP: 3) Er limitiert seine Belehrung mit dem Hinweis zur ›Wahrheitspflicht‹,. Dem Anhörenden ist bewusst, dass der Hinweis auf die ›Wahrheitspflicht‹ die institutionellen Vorgaben der Belehrung nicht realisiert. Deshalb hat er den Dolmetscher

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

beauftragt, die institutionelle Belehrung noch nachzuholen: »Erklären Sie ihm bitte den Anhörungsablauf!”(ebenda). Aus der Äußerung geht nicht hervor, dass es um eine Aufforderung zur Belehrung geht. Erst wenn man die Belehrung automatisch als Bestandteil des Anhörungsablaufs ansieht, umfasst die Aufforderung auch die Belehrung. Unter Berücksichtigung des Kontexts und der außersprachlichen Handlung, ist es sicher, dass es in der Aufforderung um die Belehrung geht, denn der Anhörer gab dem Dolmetscher ein Schriftstück, auf dem die Belehrung niedergeschrieben war. Der Dolmetscher übersetzte dem Antragsteller die Belehrung. Der Anhörer begnügt sich nicht damit, dass er selbst sieht, dass der Dolmetscher die Belehrung dem Antragsteller übersetzt. Er legt darauf Wert sicherzustellen, dass der Antragsteller die Belehrung verstanden hat und realisiert dies durch die Rückfrage »Haben Sie alles verstanden?« Der Antragsteller versichert das Verstehen der Belehrung mit der Antwortpartikel »ja« und damit wird in diesem Fall die Phase der Belehrung abgeschlossen. Warum müssen die Anhörenden sicherstellen, dass die Belehrung verstanden wurde? Warum begnügen sie sich nicht mit der Übersetzung wie in der restlichen Anhörung? Es ist anzunehmen, dass das Verhalten der Anhörenden nicht nur sicherstellen soll, dass die Antragsteller*innen die ›formelle‹ Belehrung verstanden haben, sondern sie möchten absichern, dass die institutionellen Vorgaben erfüllt wurden. Die Belehrung hat nicht nur den Effekt für die belehrten Antragsteller*innen, dass sie erkennen, dass sie sich in einer besonderen Situation befinden, indem sie diejenigen sind, die zu unterweisen sind, welche Pflichten und Rechte sie haben und welche Konsequenzen die Anhörung für sie haben. Vielmehr ist anzunehmen, dass durch die Frage zur Belehrung eine Selbstreflexionsfunktion vollzogen wird: Die Anhörenden erkennen selbst, dass sie wie die Asylbewerber*innen Regeln unterworfen sind, die ihre sprachlichen Handlungen mitbestimmen. Auch wenn die Anhörenden institutionell den sichereren Sozialstatus haben, sind sie auch den Regeln höherer Instanzen unterworfen, nämlich denen der Institution. Sie müssen die zu Belehrenden belehren. Sie müssen diese Aufgabe entweder selbst erfüllen oder durch die Dolmetscher*innen erfüllen lassen. Die Pflicht, die Antragsteller*innen zu belehren, macht die Anhörerin in Anhörung 8 deutlich: »Ich muss sie zuerst belehren« (BP: 8). Ob die Anhörerin intentionell bei ihrem Handeln den institutionellen Zwang spürt, wird hier durch die Verwendung des Modalverbs ›muss‹ belegt. Die Belehrungspflicht ist an den juristischen Zweck, das »Unverwertbarkeitsrisiko« zu minimieren, gekoppelt (vgl. Capus et al. 2016: 44). Somit hat die Belehrung auf der einen Seite für die Antragsteller*innen eine aufklärende Funktion, auf der anderen Seite hat sie für die Institutionsvertreter*innen gegenüber ihrer Institution eine Schutzfunktion. Durch ihre Erfüllung ist die Anhörung rechtsverbindlich und der/die Anhörende hat seine/ihre institutionelle Pflicht erfüllt. Aus der oben beschriebenen Gesprächssequenz zur Belehrungsphase aus der Anhörung 3 weiß man nicht, worum es eigentlich in der Belehrung geht und welche Inhalte die Belehrung hat. Sie wird in einer Nebensequenz zwischen dem Dolmetscher und dem Antragsteller in einer Fremdsprache vollzogen, daher können die Bestandteile aus dieser Anhörung nicht festgestellt werden. Hier lässt sich vielleicht die Frage aufwerfen: Wenn die Forscherin schon weiß, dass aus dieser Anhörung die Belehrungsbestandteile nicht festgestellt werden können, warum wird sie für die exemplarische Analyse gewählt? Durch die Analyse von Belehrungen in dieser Anhörung, die scheinbar we-

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Die Anhörung im Asylverfahren

nig über das Vorgehen der Belehrung im Vergleich zu anderen Anhörungen aussagt, werden (a) die Handlungsspielräume der Anhörenden über die Auswahl ihrer Art und Weise, wie belehrt werden soll, klar, (b) wird ersichtlich, bis zu welchem Grad Dolmetscher*innen bestimmte Aufgaben übernehmen können und (c) sind durch das Bemühen der Anhörenden sicherzustellen, dass die Belehrung erfolgt ist und seitens der Antragsteller*innen verstanden wurde, Erkenntnisse über die Relevanz der Belehrung, als ein institutioneller rechtsverbindlicher Akt, ableitbar. Zuletzt wissen wir durch die nonverbale Interaktion – das Überreichen eines Belehrungsschriftstückes durch den Anhörer an den Dolmetscher –, dass sich die Belehrung an einer schriftlichen Belehrungsformel orientiert.   Im Kontrast zu der oben genannten Belehrungsart werden im Folgenden die ›Belehrungen‹ in der Anhörung 8 und in dem Ausschnitt aus dem Radiointerview dargestellt. Aus den beiden Anhörungen, in denen die Anhörenden die Belehrung selbst vornehmen, können die Belehrungsbestandteile der Anhörung entnommen werden, so dass man verfolgen kann, worum es in der Anhörungsbelehrung geht. Beispiel 2: Anhörung 8 »Jetzt erkläre ich Ihnen den Anhörungsablauf mündlich und Sie bekommen alles auch schriftlich, hier muss ich noch diese Erklärung hinzufügen. Ich muss Sie zuerst belehren. Sie sind zur Wahrheit verpflichtet […]. Nichts, was hier im Anhörungsraum erzählt wird, wird in Ihr Heimatland weitergeleitet […]. Jetzt muss ich etwas zu der Einzigartigkeit der Anhörung erzählen. Alles, was Sie heute erzählen wird protokolliert und alles, was Sie nach der Anhörung vorbringen, wird nicht berücksichtigt.« (BP: 8) Die Phase der Belehrung wird mit einer Äußerung zur Erklärung des Anhörungsablaufs eingeleitet: »Jetzt erkläre ich Ihnen den Anhörungsablauf mündlich« (BP: 8). Durch das temporale Adverb ›jetzt‹ signalisiert die Anhörerin den zeitlichen Beginn einer neuen Phase, die erst ›jetzt‹ einsetzen kann, nachdem die Voraussetzungen dafür in der ersten Phase geschaffen wurden. Mit der Äußerung »Jetzt erkläre ich Ihnen den Anhörungsablauf« (BP: 8) wird ein Handlungsplan für die ›Erklärung des Anhörungsablaufs‹ eingeschoben. Anders verhält sich in folgender Anhörung: »Die Anhörung wird heute wie folgt ablaufen. Zuerst werden wir die persönlichen Daten durchgehen. Dann stelle ich Ihnen ein paar persönliche ergänzende Fragen, wo Sie gearbeitet und gelebt haben und dann kommen wir auf die Asylgründe zu sprechen (Auszug aus einem dokumentierten Anhörungsausschnitt im Radiointerview mit einer Entscheiderin: SWR2 Tandem vom Do, 26.11.2015). Unter der ›Anhörungsablauferklärung‹ versteht die Anhörerin, dem Asylbewerber alle Befragungsstadien fortlaufend aufzuzählen. Zurück zur Belehrung in der Anhörung 8, in der die Anhörerin es als ihre Aufgabe erachtet, den Asylbewerber persönlich zu belehren. Sie bringt die Aufgabe klar zum Ausdruck, durch die Verwendung des Verbes »belehren«: »Ich muss Sie zuerst belehren.« Zusätzlich signalisiert die Sprecherin durch den Einsatz des Modalverbs »muss«, dass die Belehrung des Antragstellers für sie eine Verpflichtung ist. Es gehört zu ihren

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

institutionellen Aufgaben, die sie ernst nimmt und selbst verrichtet. Die Belehrung, die die Anhörerin in Anhörung 8 anwendet, besteht aus mehreren Bestandteilen, die im nächsten Schritt detailliert herausgearbeitet werden, um zu zeigen, worum es in der Anhörungsbelehrung eigentlich geht. Hierbei werden die linguistischen Merkmale herausgearbeitet und die Funktionen der Äußerungen analysiert. (1)  Durch die Äußerung »Sie sind zur Wahrheit verpflichtet« wird der Antragsteller explizit zu wahrheitsgetreuen Aussagen verpflichtet. Der Äußerungsmodus ist zwar indikativ (Indikator dafür: Das Verb steht an zweiter Stelle im Satz, es gibt kein Fragepronomen), aber er enthält eine Aufforderung. Die Wahrheitspflicht ist in institutionellen Interaktionen als Kommunikationsprinzip, wie bei Zeugenaussagen vor Gericht, gesetzlich festgelegt. Was man unter diesem Kommunikationsprinzip – der Verpflichtung zur Wahrheit – versteht, lässt sich durch die jeweilige Institution unterscheiden. Im Asylverfahren geht es in der Anhörung bei der Belehrung um die objektive Wahrheit, im Sinne von wahren Aussagen über wahre Geschehnisse, die die Antragstellenden dazu veranlasst haben, ihr Land zu verlassen, um in Deutschland einen Asylantrag zu stellen. Die Wahrheitspflicht in der Belehrung verlangt von den Asylbewerber*innen eine Wahrheit zu äußern, die mit dem religiösen und philosophischen Wahrheitsbegriff übereinstimmen soll. Damit ist gemeint, dass das Gesagte mit der Wirklichkeit und den realen Geschehnissen übereinstimmen muss. Bei der Entscheidung über die Asylgewährung gilt nicht die objektive Wahrheit (nur Aussagen zu den Geschehnissen produzieren, die mit Tatsachen, wie sie genau geschahen, übereinstimmen), sondern um die materielle Wahrheit (bzw. eine für die Verhandlung brauchbare, produzierte Wirklichkeit).7 Die materielle Wahrheit ist im juristischen Kontext ein Prinzip unter verschiedenen Prinzipien der Wahrheitsfindung.8 (vgl.u.a. Stamp1998: 27). Bei der materiellen Wahrheit werden die vorgetragenen Tatsachen unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt zunächst für die materielle Überprüfung versachlicht und auf ihre Logik, Plausibilität und Überzeugungskraft hin geprüft. Logische Gründe sind die Hauptmerkmale zur Überprüfung der getätigten Äußerung. »Alles muss gut begründet sein« (Entscheider im Radiointerview). (2)  Auf den ersten Bestandteil der Belehrung (Pflicht zur Wahrheit) folgt ein Angebot, das den Asylbewerber*innen erleichtern soll, dieser Pflicht nachzukommen. Die Anhörerin schafft in der gleichen Äußerung eine Vertrauensatmosphäre, indem sie sagt: »Nichts, was hier im Anhörungsraum erzählt wird, wird in Ihr Heimatland weitergeleitet« (P: 8). Sie verdeutlicht damit, dass es Pflichten nicht nur seitens des Antragstellers gibt, sondern auch seitens der Institution. Es geht um gegenseitige Verpflichtungen, denn die Aussage enthält ein Versprechen des Staates, dass durch seine Mitarbeiterin dem Antragsteller verkündet wird: Die Aussagen des Asylbewerbers werden vertraulich behandelt. Es entsteht dadurch eine Art des Aushandelns zwischen der Institution Bundesamt bzw. dem Staat und dem/der Fremden, das wie folgt lautet: Sie sagen die Wahrheit, was Sie zu uns führt und wir geben ihre Informationen nicht an ihr Heimat-

7 8

Zu dem Begriff brauchbare Wirklichkeit und wie diese für die Anhörungsverhandlung produziert wird (vgl. K. 13.2.2.1). Zum Problem der Wahrheit und der Wahrheitsfindung, siehe Armin Koerfer (2013: 272f.).

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Die Anhörung im Asylverfahren

land weiter. Wenn wir zum Ergebnis kommen, dass Sie schutzbedürftig sind, schützen wir Sie. Durch das Indefinitpronomen ›Nichts‹ in »Nichts, was hier im Anhörungsraum erzählt wird, wird in Ihr Heimatland weitergeleitet« (P: 8) signalisiert die Anhörende eine uneingeschränkte Garantie, dass absolut »nichts«, und damit nicht die minimale Information, die der Antragsteller vorträgt, weitergegeben wird. Die Garantie auf Schweigepflicht der Institution wird im Nebensatz »wird in Ihr Heimatland nicht weitergeleitet« (ebenda) relativiert, denn die Nichtweitergabe der Informationen beschränkt sich nur auf das Heimatland des Antragsstellers. Im Gegensatz dazu werden die Informationen innerhalb der deutschen Verwaltung weitergeleitet, damit sie geprüft werden und eine Entscheidung getroffen werden kann.9 (3)  Der dritte und signifikanteste Belehrungsbestandteil, der für die Anhörung besonders charakteristisch ist und anhand aller weiteren Anhörungen im Korpus bestätiget werden kann, ist folgender: Nach der einmaligen Anhörung, während der sich die Asylbewerber*innen gerade im Bundesamt befinden, gibt es keine Möglichkeit mehr zur Korrektur der in der Anhörungssituation gemachten Angaben. Ebenso besteht keine Möglichkeit mehr, vergessene Angaben später hinzuzufügen. Durch die Belehrung sollen die Asylbewerber*innen die einmalige Chance erkennen und sich vergewissern, dass es in der Anhörung um ein »Jetzt oder Niemals« geht. Auf diese Tatsache weist die Anhörerin deutlich hin: »Jetzt muss ich etwas zu der Einzigartigkeit der Anhörung erzählen. Alles, was Sie heute erzählen, wird protokoliert und alles, was Sie nach der Anhörung vorbringen, wird nicht berücksichtigt« Der Vermittlung, dass weitere Informationen außerhalb der jetzigen Anhörung keine Berücksichtigung finden, trägt die Anhörerin dadurch Rechnung, dass sie diesen Belehrungsbestandteil bedeutend einleitet. Dies erreicht sie durch die Äußerung »jetzt muss ich etwas zu der Einzigartigkeit der Anhörung erzählen« (P: 8), welche die gesteigerte Aufmerksamkeit des Asylbewerbers bewirkt. Durch das temporale Adverb ›jetzt‹, das hier als deiktische Prozedur fungiert, fokussiert die Anhörerin die Aufmerksamkeit des Hörers auf die kommenden Informationen, denn deiktische Prozeduren organisieren die Aufmerksamkeit des Adressaten (vgl. Ehlich 1993: 75). Die Aufmerksamkeitsfokussierung wird in der gleichen Äußerung mehrfach durch die Verwendung des IndefinitPronomens ›etwas‹, der Partikel ›noch‹, des Nomens ›Einzigartigkeit‹ und durch das Verb ›erzählen‹ gesteigert. All diese sprachlichen Elemente in der Äußerung »jetzt muss ich etwas zu der Einzigartigkeit der Anhörung erzählen« (P: 8), tragen dazu bei, dass der Hörer aufmerksam zuhört: Allein die Tatsache, dass die Institutionsvertreterin eine

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Manche Anhörungen werden aufgenommen und für die Sprachanalyse zur Verfügung gestellt, um die Herkunftsländer genauer zu identifizieren. Bei Sprachanalysen wird nicht nur aufgrund der sprachlichen Merkmale (z.B. Wortarten, Phonetik und Lexikon) versucht die Herkunftsregion zu erkennen, sondern es wird auch das spezifische Wissen der Asylwerber*innen zum soziokulturellen Umfeld der Region (Aspekte des alltäglichen Lebens, wie Essen, Wohnverhältnisse, übliche Radio- und Fernsehsendungen usw.) zur Rekonstruierung seiner Herkunft herangezogen (vgl. Maryns 2006: 259f.).

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

Äußerung mit »ich muss […] noch […] erzählen« (ebenda) einleitet, ist als ein Hinweis genug, dass noch etwas Fehlendes hinzugefügt werden muss und bietet einen hinreichenden Indikator zum Zuhören. Das Indefinit-Pronomen ›etwas‹, das zuerst wegen seiner semantischen Leere nichts Bestimmtes bezeichnet, hat gemeinsam mit »muss […] noch erzählen« (P: 8) lenkende Funktion. Die Aufmerksamkeit des Asylbewerbers wird durch die genannten sprachlichen Elemente auf das Angekündigte gelenkt. Der Asylsuchende ist auf die Auflösung des Angekündigten konzentriert. Die Äußerung hat insgesamt durch ihre Dichte an den Fokussierungselementen die Funktion einer »PräDetaillierungskomponente« (Selting 2004: 7).10 Der Antragsteller sollte dadurch mental darauf vorbereitet sein, dass mehr Details zu der ›Einzigartigkeit der Anhörung‹ noch ausgeführt werden: Was macht die Anhörung so einzigartig? Anknüpfend an die einleitende Äußerung zählt die Anhörerin zwei Komponenten auf, die die Anhörung einzigartig machen: Komponente 1 »Alles, was Sie heute erzählen wird, protokolliert« (P: 8), Komponente 2 »und alles, was Sie nach der Anhörung vorbringen, wird nicht berücksichtigt.« (P: 8) Die Äußerung ist durch eine komprimierte Struktur verbalisiert und enthält zwei sehr relevante Informationen und Belehrungsbestandteile für den Asylbewerber: (a) Die Worte des Asylbewerbers sind von großer Bedeutung. Sie sind die Grundlage für das Hauptdokument innerhalb des Asylverfahrens, hier das Anhörungsprotokoll: »Alles, was Sie heute erzählen, wird protokoliert« (P: 8). Mit dieser Äußerung wird die Anhörung als ein offizieller behördlicher Kommunikationsakt gekennzeichnet und die Wichtigkeit der Aussagen des Antragstellers wird gewürdigt durch die Tatsache, dass sein Vorgebrachtes in der Anhörung das dokumentarische Anhörungsprotokoll bildet, das der Entscheiderin im Verfahren ihrer Entscheidung zugrunde liegt. Das Protokoll ist also ein Speicher, der die Aussagen des Asylbewerbers festhält, und zwar alle Aussagen, ›alles‹ was der Asylbewerber erzählt. Alles wird gespeichert und es für oder gegen die Asylgewährung sprechen‹, weil die Anhörungsniederschrift das in »Naturstein gemeißelte Fundament« (Marx 2016: 37) des Verfahrens ist. (b) In der gleichen Äußerung wird die angekündigte Einzigartigkeit der Anhörung verbalisiert »und alles, was Sie nach der Anhörung vorbringen, wird nicht berücksichtigt« (P: 8). Die Tatsache, dass die Anhörung die einzige Möglichkeit ist, alle Asylgründe überzeugend und plausibel kund zu tun, macht die Anhörung in der Tat einzigartig: Vergessenes darf nicht hinzugefügt werden.11 Wie vermittelt die Anhörerin im dritten Beispielfall dem Asylsuchenden diese Belehrungsbestandteile?

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Unter »Prä-Detaillierungskomponente« versteht Selting (2004) eine einleitende Projektionskomponente, mit der die Interaktanten »mit kataphorischen Ausdrücken die folgende Darstellung projizieren, und eine allgemeinere Formulierung, mit der eine Elaboration, Explikation, Exemplifikation, Illustration oder Ähnliches angekündigt wird« (ebenda: 7). Dass keine spätere Gelegenheit für Ergänzungen oder Korrektur gibt, wird durch die Entscheiderin verdeutlicht: »Sie können hier heute Ihre Gründe vortragen«, erklärt Wiltraut T »eine spätere Gelegenheit wird es nicht geben, Sie sind verpflichtet, die Wahrheit zu sagen.« (Spiegel-online 07.04.2014. Zugriff am 21. Mai 2016).

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Die Anhörung im Asylverfahren

Beispiel 3: Anhörungsausschnitt im Radiointerview Die Anhörerin im Radiointerview belehrt den Asylbewerber wie folgt: »Sie haben in Deutschland einen Asylantrag gestellt und Sie haben heute die Möglichkeit, alle Asylgründe vorzutragen. Die Anhörung stellt in Ihrem Asylverfahren den wichtigsten Bestandteil dar. Sie haben heute die Möglichkeit alles zu berichten, was dafür ausschlaggebend war. Ein späteres Vorbringen der Asylgründe kann nämlich unberücksichtigt bleiben. Deshalb ist es heute so wichtig, vollständig zu berichten, was passiert ist.« In diesem Abschnitt stellt die Anhörerin, im Vergleich zu der oberen Untersuchung, teilweise andere Belehrungsbestandteile in den Vordergrund: (1) Die Anhörung stellt den »wichtigsten Bestandteil« (ebenda) des Asylverfahrens dar. (2) Der Asylbewerber hat nur in der Anhörung die Möglichkeit, seine Asylgründe geltend zu machen. (3) Die Anhörerin betont das Faktum, dass »ein späteres Vorbringen der Asylgründe […] unberücksichtigt bleiben [kann]« (ebenda). Sie begründet damit ihre Empfehlung, mehr Details zu den Geschehnissen zu erzählen: »vollständig zu berichten, was passiert ist« (ebenda). Da ein »späteres Vorbringen unberücksichtigt« (ebenda) bleibt, soll der Antragsteller die gegebene Gelegenheit nützen und über seine Asylgründe »vollständig« (ebenda) berichten. Die Einzigartigkeit der Anhörung in dieser Hinsicht kann eine Motivation für den Asylbewerber sein, sehr detailliert zu erzählen: »Deshalb ist es heute so wichtig, vollständig zu berichten, was passiert ist.« (ebenda) Diese sogenannte Einzigartigkeit kann aber auch für einige Asylbewerber*innen eine große Herausforderung darstellen. Der belastende Druck der Anhörungssituation wird noch erhöht, wenn den Antragsteller*innen bewusst ist, dass Vergessenes ggf. dazu führen könnte, dass ihre Asylanträge abgelehnt werden.

In allen Anhörungsprotokollen im Datenkorpus wird dokumentiert, dass die Antragsteller*innen über den Ablauf und die Bedeutung der Anhörung belehrt wurden. Es wird auf den eben dargestellten Belehrungsbestandteil mit dem Gesetzartikel wie folgt verwiesen: »Der Antragsteller wird außerdem gemäß § 25 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG über die Folgen verspäteten Vorbringens informiert« (Anhörungsprotokoll, 1, 2, 3).

13.1.3.2

Merkmale der Belehrungsweise

Im vorherigen Abschnitt wurden die Bestandteile der Belehrung ausführlich untersucht und deren Bedeutung für die Interaktant*innen dargestellt. Es wurde ersichtlich, dass (a) die Belehrung aufgrund ihres informativen und rechtsverbindlichen Charakters eine relevante Phase der Anhörung ist (b) dass die Anhörenden den Asylbewerber*innen nicht alle Belehrungsbestandteile gleichförmig mitteilen. In diesem Abschnitt werden von einem retrospektiven Blick, in Bezug auf die vorherigen Beispiele und durch Gegenüberstellung der Belehrungsweisen, sprachlich wie inhaltlich, die Art und Weise der Belehrung komprimiert herausgestellt. Es soll verdeutlicht werden, dass

13. Detaillierte Phasenbeschreibung (a) die Anhörenden die Anhörungsbelehrung nicht als bloß formellen Bestandteil der institutionellen Vorgabe sehen,12 (b) die Anhörenden die Belehrung individuell gestalten können und sie nicht als eine Standardformel »herunterleiern« (Ulbrich 2004: 22).

Anhand der oben analysierten Beispielen enthält die Belehrung zwar eine juristische Standardformel »ich muss Sie zuerst belehren« (AP: 8), »Sie sind zur Wahrheit verpflichtet« (AP: 2, AP: 3, AP: 5 und AP: 8) »Die Anhörung stellt einen wichtigen Bestandteil in Ihrem Asylverfahren dar« (Entscheiderin im RI), aber sie wird gleichzeitig mit individuellen Elementen des/der jeweiligen Anhörers*in kombiniert. Das heißt, nicht alle Anhörenden verwenden bei der mündlichen Belehrungsausführung die schriftliche Belehrung, die aus bestimmten juristischen Formeln konstituiert ist, sondern die Anhörer*innen haben Spielräume, wie sie der Belehrungsvorgang vollziehen. Das lässt sich bei der Kontrastierung anhand zweier Belehrungsformeln oben (Anhörung 8 und Radiointerview) zeigen. Die beiden Anhörer*innen konstituieren die ›Belehrung‹ mit unterschiedlichen Sprachformen. Oben wurde die Belehrung in der Anhörung 8 vorgestellt und so belehrt die Anhörer*in in einem Anhörungsausschnitt vom Radiointerview: »Sie haben heute die Möglichkeit, alle Asylgründe vorzutragen. Die Anhörung stellt in Ihrem Asylverfahren den wichtigsten Bestandteil dar […] Ein späteres Vorbringen der Asylgründe kann nämlich unberücksichtigt bleiben. Deshalb ist es heute so wichtig, vollständig zu berichten, was passiert ist.« Auf der inhaltlichen Ebene betont die Anhörerin, a) die Wichtigkeit der Anhörung für den Asylbewerber, b) hebt sie die Tatsache hervor, dass nur die Anhörung die einzige Gelegenheit für den Antragsteller ist, seine Asylgründe geltend zu machen und c) motiviert ihn deshalb »vollständig zu berichten, was passiert ist«. Vergleicht man diese Belehrungsbestandteile mit denen, die oben in der Anhörung 8 dargestellt wurden, lässt sich erkennen, dass unterschiedliche Belehrungsbestandteile in der jeweiligen Anhörung in den Vordergrund gestellt werden. Während die eine Anhörerin die Wahrheits- sowohl die Schweigepflicht hinsichtlich Weitergabe von Informationen ins Heimatland als auch die Gewichtung der Aussagen des Asylbewerbers betont, akzentuiert die andere Anhörerin das vollständige Berichten der Asylgründe und weist den Antragsteller darauf hin, zu beachten, dass »die Anhörung als der wichtigste Bestandteil des Asylverfahrens« gilt. Beide Anhörerinnen legen großen Wert darauf »die Einzigartigkeit der Anhörung« zu vermitteln, die sich aus dem Kernpunkt ergibt, dass »späteres Vorbringen unberücksichtigt bleibt.« Ausdruckausübung bei der Belehrung in beiden Beispielen Um die individuellen Spielräume der Entscheiderinnen bei der Belehrung klarer zu illustrieren, wird sich jetzt der Kontrastierung des Ausdrucksausübens in den oben

12

Das Ergebnis deckt sich nicht mit dem, das Marx (2011) beschreibt: »Belehrungspflichten über die spezifischen Darlegungslasten werden zu Beginn der Anhörung in standardisierter Form, wenn sie für den Asylsuchenden unverständlich bleiben, gegeben, jedoch zumeist nicht sachbezogen, wo es im Rahmen der Erzählungen des Asylsuchenden geboten wäre.« (Ebenda: 8)

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Die Anhörung im Asylverfahren

erwähnten Belehrungsformeln zugewandt. Die beiden Anhörerinnen greifen auf verschiedene sprachliche Formen zur Realisierung der sprachlichen Handlung ›Belehrung‹ zurück. Während die Anhörerin in Anhörung 8 überwiegend Passivkonstruktion »wird protokolliert«, »wird nicht weitergeleitet« und »wird nicht berücksichtigt« verwendet (vgl. AP: 8), verwendet die Anhörerin in Radiointerview keinen einzigen Passivsatz. Dafür verwendet sie mehrere subjektivlose Nebensätze, in denen die Infinitivkonstruktion mit »zu« benutzt werden, beispielsweise »vorzutragen« (RI) und »zu berichten« (RI). Die Anhörerin in der Anhörung 8 verwendet hyperbolische Bedeutungskomponenten und Emphasenmarkierungen, die durch die Absolut-Formulierungen entstehen. Dies vollzieht sie durch die wiederholte Verwendung von Indefinit-Pronomen, wie ›alles‹, ›nichts‹ und ›was‹, in den Äußerungen, »Alles, was Sie heute erzählen wird protokoliert und alles, was Sie nach der Anhörung vorbringen, wird nicht berücksichtigt« (P: 8) und nichts, was im Anhörungsraum erzählt wird, wird in das Heimatland des Angehörten weitergeleitet (vgl. P: 8). Hingegen unterlässt die Anhörerin im Radiointerview die Verwendung dieser Art von hyperbolischen Bedeutungskomponenten. Trotzdem verzichtet sie nicht ganz darauf, ihre Äußerung nachdrücklich zu markieren. Sie verwendet für die emphatische Markierung adverbiale Ausdrücke, wie ›ausschlaggebend‹, ›vollständig‹, sowie Adjektive wie ›wichtig‹ und den Superlativ ›das Wichtigste‹ (vgl. Entscheiderin im Radiointerview). Die Anhörerin im Radiointerview verwendet Kausalitätsstrukturen durch den kausal-konsekutiven Konnektor ›deshalb‹ oder durch die semantische Konnotation: »Sie haben in Deutschland einen Asylantrag gestellt und Sie haben heute die Möglichkeit alle Asylgründe vorzutragen« (Entscheiderin im Radiointerview). Die Belehrung ihrer Kollegin zeichnet sich durch eine Dichte an deiktischen Ausdrücken ›jetzt‹ und ›hier‹ aufmerksamkeitstragende Konnotationen aus, die auf eine Fokussierungsfunktion hinweisen. Für diesen Analyseschritt lässt sich zusammenfassend herausstellen, dass (a) die Belehrung nicht in einem Stück vorgetragen und übersetzt wird, sondern es wird Bestandteil für Bestandteil schrittweise vermittelt, (b) die Sprache in der Anhörungsbelehrung, wie sie hier beschrieben ist, trotz der Passivkonstruktion und der Nebensätze zu den gut verständlichen Formulierungen zählt. Die Sätze sind tendenziell kurz. Enthält ein Satz einen Nebensatz, ist dieser semantisch einfach aufgebaut. Auf der akustischen Ebene sprechen die Anhörerinnen deutlich und mit Pausen an den passenden Stellen. (c) keine Standardbelehrung verwendet wird. Nach Capus et al. (2016) gilt eine Belehrung als Standardbelehrung,13 »wenn sich deren Formulierung wortwörtlich in mehreren Protokollen derselben Institution findet« (ebenda: 48). Darauf bezogen wäre eine Standardbelehrung in der Anhörung eine festgelegte vorformulierte Belehrungsformel, die jeder/jede Anhörer*in wortwörtlich dem/der Asylbewerber/in vortragen müsste. Legt man die Definition für die Standardbelehrung von Capus et

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Capus et al. (2016) zeigen in ihren Daten, dass »die Belehrungen über das Aussageverweigerungsrecht häufig und in hohem Maß standardisiert sind. Viele Polizeikorps, Staatsanwaltschaften und Gerichte in der Schweiz arbeiten mit Dokumentenvorlagen für Vernehmungsprotokolle, in welchen die Rechtsbelehrung bereits fest integriert ist« (ebenda: 48).

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

al. (2016) zugrunde, ist die schriftliche Belehrung, eine Standardbelehrung, jedoch nicht die in der mündlichen Ausführung, wie eben dargestellt wurde. Die oben gestellte Frage, ob die Belehrung ihren Zweck erreicht in dem Sinne, dass den Asylbewerber*innen ihre Rechte tatsächlich verständlich vermittelt wurden, (nicht, ob sie wirklich verstanden haben),14 wird hier bejaht. Diese Einschätzung beruht auf der untersuchten Art und Weise der Belehrung, die durch klare Äußerungsmodalitäten der Anhörenden gekennzeichnet ist. Ein Grund für diese Annahme ist, dass die Belehrenden sich nicht an die komplexe Sprache einer verfassten Belehrungsformel halten, sondern dass sie eigenständig und in einem für den Laien verständlichen Sprachstil formulieren, soweit ich den verwendeten Stil als einfach bezeichnen darf. Dadurch ist gewährleistet, dass die Antragsteller*innen die Bedeutung der Anhörung verstehen. Ob die angepasste Belehrungsformel bei den Antragsteller*innen verständlich ankommt, ist Sache der Übersetzung. Fazit Die Belehrung in der Anhörung, wie sie oben dargestellt ist, ist mehr als eine formale Angelegenheit, die die Anhörenden in monotoner Weise “herunterleiern“. Die Anhörenden im Korpus gehen mit der Belehrung nicht so um, als sei sie nur Scheinrecht, das die Institution vorgibt und das sie als Institutionsvertreter*innen wortwörtlich ausführen müssen. Die Anhörungsbelehrung ist keine spezifische »Belehrungsformel« oder eine Routineangelegenheit. Sie ist eine Mitteilung mit wichtigem Informationsgehalt. Die Belehrung enthält eine sehr relevante Aufklärung für die Asylbewerber*innen: Alles, was nach der Anhörung vorgebracht wird, wird nicht berücksichtigt. Die Belehrungsanhörung besteht aus einem ›Belehrungskern‹, den die Anhörer*innen ergänzen. Der ›Belehrungskern‹ besteht aus mindestens drei Belehrungsbestandteilen: • • •

Die Anhörung ist die einzige Gelegenheit für die Asylbewerber*innen, ihre Asylgründe geltend zu machen; späteres Vorbringen wird nicht berücksichtigt. Aus der Anhörung wird ein Anhörungsprotokoll angefertigt, das als Grundlage für die Entscheidung und für weitere rechtliche Verhandlungen bereitgestellt wird. Die Asylbewerber*innen sollen auf die Vollständigkeit des Sachvorbringens hingewiesen werden.

Die Belehrungsbestandteile der Anhörung orientieren sich an standardisierten Vorlagen – an der schriftlichen Belehrung –, aber deren mündliche Ausführung ist individuell und hängt vom Stil der Anhörenden und ihrer Prioritätssetzung ab. Die Anhörenden nehmen die Belehrung ernst und konstituieren sie verständlich und vielförmig.

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Ob die Belehrung ihren Zweck wirklich erfüllt, kann nur beantwortet werden, indem die Asylbewerber*innen selbst nach der Verständlichkeit gefragt werden.

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Die Anhörung im Asylverfahren

13.1.4

Identifizierung der Person

Bevor die Phase der ›Identifizierung der Person‹ in der Anhörung analysiert wird, wird die Vorgeschichte dieser Phase skizziert. In der Anhörung wird nur überprüft, ob die Person, die gerade vor dem/der Anhörer/in sitzt, auch derjenige/diejenige ist, dessen/deren Akte vorliegt und der/die zu diesem Termin eingeladen wurde. Eine Personalienüberprüfung im Sinne einer Identitätsfeststellung findet in der Anhörung nicht statt, sondern in einem anderen Interview, das bis zu einem Jahr vor der Einladung zur Anhörung mit dem/der Asylbewerber*in durchgeführt wird.

13.1.4.1

Vorgeschichte der Phase ›Identifizierung der Person‹

Vor dem Anhörungsgespräch gibt es ein Interview, die »erste Anhörung«, in der die ersten Angaben zu Identitätssicherung und Staatsangehörigkeitsfeststellung aufgenommen werden. Diese Angaben werden im Laufe des Asylverfahrens mit weiteren Dokumenten, die die Anhörenden in den Außenstellen des Bundesamtes zur Überprüfung einreichen, einem gesonderten Überprüfungsverfahren unterzogen. Deshalb hat der/die Anhörer*in nicht die Aufgabe, den Sachverhalt der Identität des Asylsuchenden aufzuklären, sondern dies übernimmt die zentrale Stelle physikalisch-technischer Urkundenuntersuchungen PTU.15 Zur Echtheitsprüfung der Dokumente wird in der zentralen Stelle PTU in Nürnberg eine Hauptuntersuchung der Dokumente durch Urkundensachverständige vorgenommen (vgl. BAMF, Entscheiderbericht 4/2011). Bei der Echtheitsüberprüfung kommen unter anderem »hochauflösende Mikroskope, Kaltlichtquellen und ein computerbasiertes Dokumentenprüfsystem« (ebenda: 1) zum Einsatz, durch die »auch ohne authentisches Vergleichsmaterial festgestellt werden [kann], ob Manipulationsspuren vorhanden sind.« (Ebenda: 2) Wenn die Asylbewerber*innen keine Dokumente vorlegen können, die ihre Person identifizieren, werden ihre eigenen Angaben zur Person festgehalten und zunächst so akzeptiert, bis weitere Ermittlungen vollzogen werden. Hier werden zum Beispiel Aufzeichnungen des gesprochenen Wortes, außerhalb einer förmlichen Anhörung, angefertigt und einer Sprachanalyse durch Sprachwissenschaftlern*innen unterzogen, um die Herkunftsregion der Person zu bestimmen. Das Verfahren der Identitätsfeststellung beginnt ab dem Moment, in dem der/die Asylsuchende registriert wird, bevor er/sie zur Anhörung eingeladen wird. Verlauf der Phase ›Identifizierung der Person‹ Nach der Anhörungseröffnung und der Zustimmung des Asylbewerbers/der Asylbewerberin, dass er/sie in der Lage ist, die Anhörung durchzuführen, geht das Rederecht an 15

Abgesehen von solchen Überprüfungsmöglichkeiten werden weitere europäische Politikinstrumente zur Kontrolle implementiert, wie zum Beispiel EURODAC als Instrument der Datenerfassung und zum Abgleich von Fingerabdrücken der Asylsuchenden. EURODAC »ist ein zentrales, europaweites System zur Identifizierung und Speicherung von Fingerabdruckdaten, welches mit der EURODAC-Verordnung eingerichtet und am 15. Januar 2003 in den Mitgliedstaaten der EU in Betrieb genommen wurde« (BAMF 2018: 25). Nach einem Abgleich der von den Mitgliedstaaten erfassten und an das Zentralsystem übermittelten Fingerabdruckdaten von Antragstellenden, kann festgestellt werden, ob dort bereits übereinstimmende Fingerabdruckdaten vorhanden sind.

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

die/den Anhörende/n zurück. Ab dieser Phase beginnen die Fragen, durch die manchmal Wissensantworten und Ratifizierungen verlangt werden oder durch die zu Handlungen aufgefordert wird, wie die Aufenthaltsgestattung und weitere Dokumente einzureichen. Es werden anhand der analysierten Daten zwei Beispiele angeführt. Auszug aus der Beobachtungsprotokoll 3 A: Sie sind Herr […] wohnen Sie in […] A: Nicken D >AB: Sagen Sie mir bitte Ihren Namen: AB sagt und D. schreibt auf und gibt dem Anhörenden den Zettel weiter. [Der Antragsteller fügt eine Korrektur hinzu »Nein, mein Name wird noch mit »h« geschrieben«. Auf diese Art und Weise ging es bei allen Fragen nach Personalien, Adressen und Namen zu] A: Haben Sie noch andere Papiere: Pass, Dokumente, die wir zu Ihrer Akte nehmen können? AB: Ja A: Haben Sie Reisepass? AB: Ich hatte einen und den hat die Behörde nach meiner Einreise in Deutschland genommen. A: Gehören Sie zu einer bestimmen Volksgruppe? AB: Ich […] A: Sind Sie verheiratet? AB: Nein A: Haben Sie Kinder? AB: Nein A: Leben noch Verwandte im Heimatland? AB: Ja, Tanten, Onkels A: Wie lauten die Personalien Ihres Großvaters väterlicherseits? AB>D. AB spricht D. schreibt und gibt den Zettel an den Anhörenden weiter Auszug aus Beobachtungsprotokoll 8 A: Sie wohnen in […] AB: Nein. Wir waren in dieser Adresse nur **Tage nach unserer Ankunft in Deutschland. Jetzt wohne ich woanders A: Wie ist Ihre Adresse jetzt? Für die Post! AB: Ich wohne […]. A: Haben Sie eine Anmeldebestätigung? AB: Nein. A>D: wie erreicht ihn unsere Post. D>A: Die Post geht erstmal auf diese Adresse, die wir hier haben von der Zentrale und wird an ihn weitergeleitet. A: Ab dem Moment, wo Sie eine neue Meldebestätigung haben, müssen Sie uns diese bitte mitteilen. AB: Ok A: …. Zunächst vergleichen wir die Personalien. Dann geht es auch schon los

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Die Anhörung im Asylverfahren

A: Sie sind verheiratet und haben **Kinder. A: Haben Sie noch andere Papiere (Pass, Dokumente, die wir zu Ihrer Akte nehmen können) AB: Nein A: Wieso nicht? Wie sind Sie ausgereist, wenn Sie keinen Pass haben? AB: Ich habe mein Pass in [EU-Stadt] abgeben müssen. Sowohl die Auszüge aus Beobachtungsprotokoll 3 als auch die aus Beobachtungsprotokoll 8 sind exemplarisch für andere Anhörungen, die zeigen, dass die Phase der ›Identifizierung der Person‹ des Asylbewerbers/der Asylbewerberin nicht nur Fragen zur Person enthält, sondern durch weitere Fragen nach Dokumenten, Wohnort, Schulabschlüssen, Arbeit und Verdienst ergänzt wird. Diese Gesprächssequenz wird nicht nur durch institutionsspezifische Frage-Antwort-Sequenzen, wie z.B.: »Haben Sie eine Anmeldebestätigung?« (AP:8) realisiert, sondern auch durch Fragen, die eine aktive Handlung suggerieren: »Darf ich Ihre Aufenthaltsgestattung?« (P: 7; P: 16). Sie wird auch durch Äußerungen, die Bestätigungssignale beabsichtigen, vollzogen, z.B.: »Sie sind Herr […] und wohnen in […]« (BP: 3) oder »Sie sind verheiratet und haben **Kinder […].« (BP: 8). Aussagen, wie »Sie sind verheiratet und haben **Kinder« (BP: 8) oder »Sie sind Herr […] und wohnen in […]« (BP: 3) sind Äußerungen, die aufgrund ihrer syntaktischen Struktur keine Antwort verlangen, aber eine Bestätigung des Asylbewerbers erfordern. In der Phase der ›Identifizierung der Person‹ werden Fragen gestellt, deren syntaktische Struktur auf Wissensdefizite bei den Anhörenden hinweisen, die durch eine Antwort gefüllt werden sollen. Jedoch können ihre Beantwortung kein Wissen hinzufügen, weil der Anhörende schon aus der Akte die Antworten kennt. Es lässt sich deshalb fragen, welchen Zweck solche Sequenzen haben, die keine Informationen zum Verfahren hinzufügen. Zum Beispiel: A: Haben Sie noch andere Papiere, Pass, Dokumente, die wir zu Ihrer Akte nehmen können AB: Nein A: Wieso nicht? (P: 8) Die Absicht der Anhörerin liegt bei der Verwendung der Fragen nicht darin, eine informative Auskunft zu erhalten. Sie kennt die Antwort aus der Akte des Asylbewerbers. Aus ihr geht hervor, dass der Asylbewerber ein Dublin-Verfahren durchlief und festgestellt wurde, dass er in einem EU-Staat seinen Pass abgeben musste. Als rhetorisch ist die Frage der Anhörerin auch nicht zu werten. Ähnlich verhält sich bei anderen Anhörungen. Man findet Fragen wie: »Haben Sie einen Reisepass?« (P: 1, P: 2 und P: 3 usw.). Die Anhörer*innen wissen, dass die Asylbewerber*innen bei ihrer Anmeldung in Deutschland ihren Pass abgeben müssen, weshalb hier die Frage aufgeworfen wird, welche Funktion dieser Typus von Fragen hat. Untersuchungen zur Phase ›Identifizierung der Person‹ von Gesprächen in institutionellen Kommunikationen weisen darauf hin, dass Fragen in dieser Interaktionssequenz dadurch kennzeichnet sind, dass sie keine neuen Informationen von dem Be-

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

fragten anfordern, weil sie in Besitz der Akte des Antragstellers sind, in der alle persönlichen Daten dokumentiert sind (vgl. Wunderlich1976: 322 Hoffmann 1983: 33). Nach Wunderlich haben die Fragen zu Personalien in Gerichtsverhandlung lediglich die Aufgabe, die betreffenden Akteure und Akteurinnen in einer Institution mit den aktenkundigen Personalien zu identifizieren, ihre Personalien zu bestätigen und gegebenenfalls zu korrigieren. Er zeigte in einem Beispiel, in dem ein Richter und ein Angeklagter gleichzeitig die Hausnummer sagen, dass der Richter die Antwort schon vor der Fragestellung kannte; trotzdem muss der Richter diese Fragen stellen. Der Richter ist verpflichtet, dieses Interaktionsschema ›Befragung zur Person‹ durchzuführen, auch wenn dies vom Aspekt der Informationsermittlung keine Funktion hat. In der Anhörung hat ein Teil der Fragen in dieser Sequenz eine ähnliche Funktion, insofern dass die Anhörenden durch die Befragung der Antragsteller*innen zu ihrer Person den Kontext der mündlichen Anhörung institutionell etablieren müssen. Hoffmann (1983) klassifiziert die Vernehmung zur Person vor Gericht als Diskurstyp, dessen Hauptzweck die soziale Kategorisierung von Angeklagten und Zeugen darstellt. Somit hat die ›Befragung zur Person‹ laut Hoffmann weitere Funktionen als die, die von Wunderlich (1976) festgestellt wurden, und zwar: »Keinesfalls geht es [bei der Befragung zur Person] nur darum, die in den Akten vorliegenden Personalien nochmals zu prüfen und ggf. zu korrigieren; über diese Aufgabe hinaus wird ein Bild des Angeklagten über soziale Kategorisierungen gewonnen, das die Konstitution des Tatsachverhalts stützen […] kann […]« (Hoffmann 1983: 35). In der Anhörung könnte auch durch die Fragen zur Person eine soziale Kategorisierung vollzogen werden, weil immer Fragen zum Bildungstand und Beruf gestellt werden: A: Welche Schulen, Universität haben Sie besucht? AB: Ich war in der Schule bis **Klasse. Abitur habe ich nicht gemacht. A: Welche Berufe haben Sie erlernt? AB: Ich habe in einem **Shop gearbeitet (P: 3) Die Art und Weise, wie die erste Frage unspezifisch gestellt wird, enthält die Aufforderung zur Wissensvermittlung über den schulischen und universitären Werdegang des Befragten und die drei Worte »Welche Schulen, Universitäten?« (P: 3) signalisieren zudem, dass der Anhörer diese Frage stellen muss. Es steht kein Interesse dahinter, ein Wissensdefizit bei dem Fragenden selbst zu füllen, sondern eine Vorgabenfrage zu tätigen. Ähnlich verhält es sich bei der Frage nach den Berufen, bei der im Plural und mit dem allgemeinen Fragepronomen ›welche‹ gefragt wird: »Welche Berufe haben Sie erlernt?« (P: 3). Durch diese Frage ist es normalerweise möglich, eine Art soziale Kategorisierung herzustellen, die als Grundlage für die Gesprächskonstituierung und den Verlauf des Gespräches dienen könnte. Denn durch das Wissen über Bildung und Arbeitsumfeld einer Person, könnte man sein Gegenüber näher kennenlernen und dementsprechend einen angepassten Gesprächsstil wählen, der ihm gerecht wird. Der Anhörer hat anscheinend die Fragen nicht für diesen Zweck gestellt, sondern um den Fragenkatalog abzuarbeiten. Im Gegensatz zu dem Anhörenden in dem eben dargestellten Beispiel versucht die Anhörerin in der Anhörung 8, die die gleichen Fragenkategorien stellen muss, mehr

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Die Anhörung im Asylverfahren

über den Asylbewerber zu erfahren und ihn in eine soziale Kategorie einzuordnen. Sie fragt nach Details und lässt den Asylbewerber genau erklären, was und wo er studiert hat. A: Haben Sie eine Schule besucht? AB: Ja, ich habe mein Abitur gemacht und danach habe ich studiert. D>A: So in einer Art Hochschule AB: Nein, es war keine Hochschule. Ich habe an der Universität studiert. A: Was haben Sie studiert? AB: **** A: An welche Universität? AB: Universität […] in […]. Bei der Frage nach dem Beruf, formuliert die Anhörerin durch das bestimmte Interrogativpronomen »was« eine konkrete Frage. Die bestimmte Frage grenzt sie noch einmal ein, indem sie Bezug auf sein Studium nimmt und konkretisiert die Frage, ob er seinem Studium entsprechend arbeiten konnte: A: Was haben Sie gearbeitet? Ich meine, haben Sie in dem Beruf auch gearbeitet? AB: Ja, ich arbeitete als *** Die Anhörerin fragt nicht nur nach Bildung und Beruf, darüber hinaus fragt sie den Asylbewerber danach, wie viel Geld er verdient hat: A: Was haben Sie monatlich durchschnittlich verdient? AB: Ungefähr ** Euro Nach Einschätzung der Anhörerin verdiente der Antragsteller zu wenig. Ihre Einschätzung verbalisiert sie und fragt, ob ihm und seiner Familie so wenig Geld reichte: A: Das ist ja gar nicht so viel! Wie konnten Sie Ihre Familie davon ernähren? Wie kann man mit so wenig Gehalt leben? AB: Ich hatte ein festes Gehalt. Das waren umgerechnet ** Euro und ich habe nebenbei und […]. Da bekam ich auch Geld, aber keine feste Summe. Es variierte. Aber im Endbetrag hatte ich nicht wenig. »Wie konnten Sie Ihre Familie davon ernähren?« (P: 8) ist eine offene Frage, die durch eine emphatisch bewertende Bezugnahme »das ist ja gar nicht so viel« (ebenda) zum Einkommen des Befragten eingeleitet wird. Oberflächlich geht es um eine Erklärungsfrage, die für den gegebenen Sachverhalt »mit wenig Geld leben können« eine Erklärung sucht. In der Tiefenstruktur handelt es sich um eine Explikationsfrage, die als Information im Rahmen des Asylverfahrens interpretiert wird, um den sozialen Status des Asylbewerbers zu klassifizieren und seine Glaubwürdigkeit zu überprüfen: Der Zweck der Frage, in der es um die finanziellen Angelegenheiten des Asylbewerbers geht, ist hier vielmehr auch darin zu sehen, zwei Tatsachenbestände herauszufinden: (1) Die Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers lässt sich dadurch leichter überprüfen, weil man im Herkunftsland fragen kann, ob die Summe, die als Gehalt angegeben wird,

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

für die Arbeit, die der Antragsteller macht, realistisch ist. Hat der Asylbewerber zu viel oder zu wenig angegeben, wird seine Glaubwürdigkeit in Frage gestellt. (2) Man prüft dadurch, ob der Antragsteller sich und seine Familie in seinem Heimatland ernähren konnte oder er sich woanders Perspektiven aufbauen möchte (z.B. durch das Stellen eines Asylantrags in Deutschland). Als weiteres Indiz dafür, dass die Fragen zur Person eine soziale Kategorisierungsfunktion haben könnten oder zumindest so gedacht sein könnten, kann angeführt werden, dass ein Teil der Asylbewerber*innen dies selbst auch vermuten. Zum Beispiel äußerte sich ein Befragter in einem Interview dazu: »Es gibt viele Faktoren, die für den Verlauf der Anhörung eine Rolle spielen, wie Alter, Bildungsniveau, Arbeitsfähigkeit und sozialer Status […] über diese Dinge wird in der Anhörung ganz am Anfang gefragt und das ist bestimmt nicht umsonst.« (A-Interview 19).16

13.1.4.2

Zum Zweck der Phase der ›Identifizierung der Person‹

Zu den oben erwähnten Beispielen kann angemerkt werden, dass die Phase der ›Identifizierung der Person‹ mit mehreren Zielen verbunden ist: Durch die ›Identifizierung der Person‹ wird die Anhörung institutionell situiert und kontextualisiert. Auch wenn die Anhörenden alle abgefragten Angaben schon wissen, müssen sie diese Fragen aufgrund des »institutionellen Zwangs« stellen (Wunderlich 1976: 323). Durch sie kann ebenfalls die »soziale Kategorisierung« (Hoffmann 1983: 35f.) vollzogen werden. Darüber hinaus hat die Gesprächssequenz ›Identifizierung der Person‹ in der Anhörung weitere Funktionen: In den Anhörungen geht es immer um fremdländische Namen, die manchmal mehrere Buchstaben haben, die es in der deutschen Sprache nicht gibt. Die Schreibweise der Namen in lateinischen Buchstaben wird unterschiedlich gehandhabt. So orientiert man sich in Ägypten, Syrien und Ghana an der englischen Schreibweise und in Marokko und Algerien an der französischen Schreibweise. Dies führt dazu, dass die Schreibweise der Namen im Falle fehlender Dokumente meistens angepasst werden muss. In sechs Anhörungen wurden die Reihenfolge von Namen, Nachnamen oder Buchstaben korrigiert. Ein weiterer Grund, warum sich diese Phase über einen großen Zeitrahmen erstreckt, ist die Tatsache, dass in dieser Phase eine vertrauensvolle Beziehung mit den Asylbewerber*innen aufgebaut werden soll Die Anhörung ist eine belastende Situation. Sie ist eine

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In einer Gruppendiskussion vermuteten verschiedene Antragsteller*innen, dass die Behörden durch Fragen zur Person eine soziale Kategorisierung vornehmen, um sich ein Bild darüber machen zu können, ob sie für Deutschland arbeiten könnten und in welchem Gebiet. In den Beratungsstellen für Asylbewerber*innen traf ich auf Antragsteller*innen, die aufgrund ihrer Berufe zuversichtlich waren, Asyl gewährt zu bekommen. Das betraf Ärzte, Programmierer und Ingenieure. Inwieweit die Asylsuchenden mit ihrer Vermutung richtig lagen, ist anhand von den Forschungszielen der vorliegenden Studie nicht zu beantworten.

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Die Anhörung im Asylverfahren

»einmalige Chance und gleichzeitig eine gewaltige Prüfungssituation. [Asylbewerber] müssen die in dem Moment alles in Erinnerung rufen, dafür nehmen wir in der Anhörung Rücksicht« sagt eine Entscheiderin im Radiointerview, Sendung: SWR2 Tandem vom Do, 26.11.2015). Deshalb versuchen die Entscheider*innen in der Anhörungsunterphase ›Identifizierung der Person‹ die Asylbewerber*innen kennenzulernen und dadurch Vertrauen aufzubauen: »Es wird nicht gleich überstürzt und am Anfang gleich gefragt, schildern Sie mir bitte Ihre Asylgründe, sondern es ist für mich wichtig, die Person erstmal kennenzulernen, damit der Antragsteller mit mir vertraut ist. Deshalb stelle ich zuerst ein paar allgemeine Fragen.« (Ebenda.) Es wird durch persönliche und familiäre Fragen versucht, eine soziale Annährung zu vollziehen und damit Vertrauen aufzubauen, wie: »Sie sind Herr […] wohnen in […]«, »Sind Sie verheiratet« (BP: 3), »Sie sind verheiratet und haben **Kinder« (BP: 8), »wie viel Kinder haben Sie und wie alt sind sie?« (BP: 10), denn  »Eine persönliche Anhörung erfolgt unter Bedingungen, die eine angemessene Vertraulichkeit gewährleisten. Die Mitgliedstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen, um sicherzustellen, dass persönliche Anhörungen unter Bedingungen durchgeführt werden, die Antragstellern eine umfassende Darlegung der Gründe ihrer Anträge gestatten. Zu diesem Zweck […] gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die anhörende Person befähigt ist, die persönlichen und allgemeinen Umstände des Antrags einschließlich der kulturellen Herkunft, der Geschlechtszugehörigkeit, der sexuellen Ausrichtung, der Geschlechtsidentität oder der Schutzbedürftigkeit des Antragstellers zu berücksichtigen« (Art. 15 Abs.2 und 3RL 2013/32/EU).17 Durch Fragen zum sozialen Umfeld einer Person kann es gelingen, die ersten Kontakthemmungen zu überwinden, wodurch schließlich beim Erklären der eigentlichen Fluchtgründe freier gesprochen werden könnte. Ein Vertrauen im Sinne des Wortes kann hier nicht erwartet werden, weil die Beziehung zwischen den Interaktant*innen in der Anhörung per se klar definiert ist: Einer ist der/die Entscheider*in, der institutionell bedingt alles erfragen darf und den »Heimspiel -Vorteil« hat; der/die andere ist derjenige/diejenige, über dessen/deren Schicksal entschieden wird und der/die bis ins letzte Details befragt werden kann und die »Gastspiel-Nachteile« hat. Aber was in dieser Phase erwartet werden darf, ist die Konstituierung einer kommunikationsfördernden sozialen Beziehung,18 die dem Zweck der Anhörung gerecht wird; nämlich dem In-

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Amtsblatt der Europäischen Union (29.06.2013): http://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/TXT/?u ri=celex:32013L0032 (10.02.2017). Die Konstituierung einer kommunikationsfördernden sozialen Beziehung ist im Anhörungszweck wichtig, weil »[man] eine Verfolgungsgeschichte natürlich nicht mit dem Holzhammer herausprügeln kann, man muss behutsam vorgehen«. Der Entscheider findet diese Rolle als »oft sehr anstrengend. Ich muss auf den Menschen eingehen, darf aber auch die Verfahrensvorschriften nicht außer Acht lassen.« Süddeutsche Zeitung Online (05.03.2015) von Anna Fischhaber: Entscheider für Asylverfahren »Im Zweifel entscheide ich wohlwollend« verfügbar un-

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

stitutionsfremden die Möglichkeit zu bieten, offen über seine Erlebnisse zu sprechen. Laut den Dienstanweisungen und der Trainingsprogramme ist dieser Aspekt konzipiert (vgl. K. 9.2.1). Was die Anhörenden in der Praxis daraus machen, ist eine Frage, der nur durch empirische Untersuchung der Anhörungspraxis nachgegangen werden kann. Die vorliegende Arbeit kann diesbezüglich kein einheitliches Ergebnis liefern. Auf der einen Seite lässt sich aus den Materialdaten bestätigen, dass dem/der Asylbewerber*in erst allgemeine Fragen zur Person, Arbeit und Verwandten im Heimatland gestellt werden. Auf der anderen Seite lässt sich genauso bestätigen, dass nicht alle Anhörenden diese Fragen mit dem Ziel des Kennenlernens der Person stellen. Verschiedene Anhörende erfüllen damit die institutionellen Aufgaben (vgl. P: 3), andere wollen darüber hinaus den Menschen kennenlernen (vgl. RI) und weitere versuchen neben den beiden erwähnten Zielen, mit den Fragen zur Person in den Kernzweck der Anhörung – hier die Überprüfung der Glaubwürdigkeit von Antragsteller*innen – einzusteigen (vgl. P:8). Die Gesprächsphase ›Identifizierung der Person‹ bietet die Gelegenheit Nebenthemen anzusprechen (z.B. organisatorische Fragen wie in P:7, P: 8 und P: 16), weil sie noch außerhalb des Anhörungskerns liegt und die Erklärung organisatorischer Fragen den Anhörungsprozess an dieser Stelle nicht stört. Diese werden in Nebensequenzen eingebaut. Im Folgenden werden Beispiele für Nebensequenzen und ihre Funktionen erläutert.

13.1.4.3

Nebensequenzen während der Anhörungshase ›Identifizierung der Person‹

Die Phase der ›Identifizierung der Person‹ ist von mehreren Nebensequenzen überlagert, die zwischen Dolmetscher*innen und Anhörer*innen oder zwischen Dolmetscher*innen und Asylbewerber*innen stattfinden. Die Nebensequenzen sind keine Unterbrechung, Zwischenfragen oder Abkopplungen vom eigentlichen Thema, sondern sind organisierte Nebensequenzen, die zur Erfüllung der Hauptsequenz ›Identifizierung der Person‹ bzw.‹ Kennenlernen der Person‹ beitragen. Sie füllen Wissensdefizite, erklären organisatorische Fragen und bieten die Gelegenheit zur Schreibkorrektur von vorherigen Datenangaben, wie die folgenden Beispiele zeigen: Nebensequenz zwischen Asylbewerber *innen und Dolmetscher*innen In der Gesprächsnebensequenz, die nur zwischen den Asylbewerber*innen und den Dolmetscher*innen stattfindet, handelt es sich meistens um Namenskorrekturen, Schreibweisen von fremdsprachigen Wörtern oder Bezeichnungserklärungen. Beispiel 1: Im Auftrag der Anhörerin »bis Sie das [Personalien-Vergleich] mit ihm geklärt haben« (AP: 8) übernimmt der Dolmetscher in Anhörung 8 selbst den PersonalienVergleich, wobei die Namenskorrektur der Städte im Herkunftsland des Antragstellers vorgenommen wird. Der Dolmetscher schreibt die Angaben des Asylbewerbers auf einen Zettel und gibt diesen der Anhörerin.

ter: https://www.sueddeutsche.de/panorama/entscheider-fuer-asylverfahren-im-zweifel-entscheid e-ich-wohlwollend-1.2370326 (01.04.2017).

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194

Die Anhörung im Asylverfahren

A: Nennen Sie bitte Ihre letzte Adresse im Heimatland! AB: Meine Adresse ist […] (P: 8) Der Asylbewerber nennt die Adresse, der Dolmetscher schreibt diese auf und reicht den Zettel der Anhörerin. Beispiel 2: Die Nebensequenz in Anhörung 3 hat die gleiche Funktion und verläuft auf die gleiche Art und Weise. Der Anhörer fordert den Asylbewerber auf, seinen Namen, seine letzte Adresse im Heimatland, die Personalien des Großvaters u.a.m. zu sagen. Der Antragsteller antwortet und der Dolmetscher schreibt die Angaben auf einen Zettel und gibt dem Anhörenden den Zettel, der alle Angaben ins Protokoll diktiert. Treten Schreibfehler bei Namen auf, werden diese gleich korrigiert. Diese Art von Nebensequenzen kommen überwiegend in der Gesprächsphase ›Identifizierung der Person‹ vor. Sie sind stereotypisch und charakteristisch für die gesamte Anhörung an jeder Stelle, in der es um fremde Bezeichnungen geht. Wie im Abschnitt zu lesen ist, schreiben die Dolmetscher*innen die Namen auf und geben sie den Anhörenden, die ihrerseits diese mit den schriftlichen Daten (im Ausweis, in der Aufenthaltsgestattung), die die Asylbewerber*innen vorgelegt haben und mit den Daten vom ersten Interview, vergleichen. Die Asylsuchenden überprüfen die Schreibweise der Dolmetscher*innen selbst und in diversen Fällen wurden die Namen korrigiert. Die beschriebene Handlungsweise müsste aus einem reglementierten Mechanismus hervorgehen. Sie ist so etabliert, dass, sobald nur eine fremde Bezeichnung im Raum fällt, der/die Dolmetscher*in tätig wird, die Bezeichnung aufschreibt und an den/die Anhörer*in weiterreicht, der/die diese dann ins Protokoll aufnimmt. Nebensequenz zwischen Anhörer*innen und Dolmetscher*innen Ein Beispiel für die Sequenz lässt sich in der Anhörung 9. Die Anhörerin fragt den Asylbewerber, ob er die Meldebetätigung für die neue Adresse hat. Er hat keine. Die Anhörerin kann die Antwort organisatorisch nicht nachvollziehen, woraufhin sich eine Nebensequenz ergibt. Der Dolmetscher erklärt dieses Problem wie folgt: D>A: Der Asylbewerber hat die Meldebestätigung von die Kampzentrale und danach werden die Asylbewerber auf die verschiedenen Kamps in Hamburg verteilt, wo es freie Plätze gibt. A>D: Verstehe, aber wie erreicht ihn unsere Post? D>A: Die Post geht erstmal an diese Adresse, die wir hier haben von der Zentrale und wird dann an ihn weitergeleitet. Im Abschnitt informiert der Dolmetscher die Anhörerin über die Regeln im Flüchtlingskamp. Mit dem Ausdruck »verstehe« signalisiert die Anhörerin, dass sie die Wissenselemente, die der Dolmetscher durch die Nebensequenz zu ihrem Wissensstand hinzufügte, aufgenommen hat. Durch die Konjunktion »aber« setzt die Anhörerin eine »adversative Beziehung« (Kwon 2005: 138) zu der Äußerung davor. Die neuen Wissenselemente werden von der Anhörerin zwar aufgenommen und verarbeitet »verstehe«, jedoch lösen sie ihr Problem nicht. Der Anhörerin fehlt die Information zu ihrem zukünftigen institutionellen Handlungsplan, wie die Post des Amtes den Asylbewerber erreicht. Obwohl der Dolmetscher mit der Frage »wie erreicht ihn [den Antragsteller]

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

unsere Post?« nicht direkt angesprochen wurde, füllt er dieses fehlende Wissenselement durch »die Post geht erstmal an diese Adresse, die wir hier haben von der Zentrale und wird dann an ihn weitergeleitet«, womit die Nebensequenz endet. Durch die Analyse von Nebensequenzen in den erwähnten Beispielen wird deutlich, dass sie organisiert sind und Wissenselemente füllen, die der Hauptphase ›Identifizierung der Person‹ zuzuordnen sind. Sie haben entweder wissensadditive Funktionen (vgl. K. 13.1.4.3 [b]) oder korrektive Funktionen (vgl. K. 13.1.4.3 [a]). Ohne weitere Beispiele aufzuzählen und auf mehr Details einzugehen, zeigen die ausgewählten Beispiele, dass der entwickelte Mechanismus, wie mit den fremdländischen Bezeichnungen in den Anhörungen in Deutschenland umgegangen wird, vorteilhaft für alle an der Interaktion Beteiligten ist.19 Fazit Die Sequenz ›Identifizierung der Person‹, wie sie oben beschrieben wurde, kann als institutionsspezifisch gesehen werden und ist an einigen Stellen vergleichbar mit der Vorgehensweise vor Gericht. Wie es aus den entstehenden Nebensequenzen in den verschiedenen Verfahrensausschnitten in den o.g. Anhörungssequenzen deutlich wird, konnte das Vorgehen im Umgang mit fremdländischen Bezeichnungen, im Vergleich zu Belgien und Österreich, als spezifisch für die Anhörung in Deutschland herausgearbeitet werden. Die weiteren Funktionen, die der Phase ›Identifizierung der Person‹ zugeordnet sind, wie das Kennenlernen der Person und Kommunikationsförderung, beruhen noch auf Hypothesen, die weiteren Überprüfungen unterzogen werden müssen.

13.1.5

Zusammenfassung der Anhörungseinheit ›Anhörungseinführung‹

Die Anhörungseinführung besteht aus den vier vorgestellten Anhörungsphasen • • • •

Anhörungseröffnung, Personalien-Abgleich, Belehrung und Identifizierung der Person.

Durch die Anhörungseinführung werden die institutionellen Bedingungen für den Anhörungskern – die Geltendmachung der Asylgründe – geschaffen. Die Asylbewerber*innen werden in die Institution eingeführt; ihnen wird Verschwiegenheit bezüglich 19

Die Sequenz ›Personalien-Vergleich‹ wird erst lang, wenn eine Abweichung von den Daten in der Antragstellerakte ersichtlich wird, deren Daten auf Angaben im Dublin-Verfahren basieren. In selbst vollzogenen Beobachtungen sind solche Fälle nicht vorgekommen, aber vier der Interviewprobanden thematisierten solche Vorgehensweisen. Diese Vorkommnisse ereignen sich typischerweise, wenn der/die Asylbewerber*in während der Anhörung schon über 18 Jahre alt ist, sich aber im Dublin-Verfahren als Jugendlicher unter 18 angemeldet hat und sich nach der Beratung dafür entschied, sein richtiges Alter in der Anhörung anzugeben. Auch ein Fall ist bekannt, in dem ein Araber, der nicht aus einem Kriegsgebiet kam, im Dublin-Verfahren ein Herkunftsland angab, in dem Krieg herrscht und diese Angaben nach der Beratung in der Anhörung korrigierte.

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Die Anhörung im Asylverfahren

der Weitergabe von in der Anhörung gemachten Angaben ins Heimatland versprochen und ihnen werden Pflichten auferlegt. Durch die Anhörungseinführung gewinnen die Asylbewerber*innen einen Überblick darüber, was auf sie zukommt, wie wichtig ihre Worte sind und welchen Stellenwert die Anhörung im Rahmen des Asylverfahrens hat. Im Ergebnis der Untersuchung der Anhörungseinheit ›Anhörungseinführung‹ und ihrer Phasen können allgemein folgende Aktivitätsteile als die wichtigsten Bestandteile der Anhörungseinführung aufgezählt werden: • • •

• • •

Situierung des institutionellen Gespräches; Erörterung der Durchführungsbedingungen für die Antragsteller*innen und Bestätigung ihrer Zustimmung dazu; Belehrung der Antragsteller*innen und Bestätigung der Kenntnisnahme. Dadurch wird die Anhörung rechtsverbindlich und die Minimierung des Risikos der Unverwertbarkeit gewährleistet; Erfassen der Personalien; Der Versuch, die Kontakthemmung durch Fragen über das soziale Umfeld zu überwinden; Der Versuch, eine kommunikationsfördernde soziale Beziehung zu konstituieren.

13.2

Anhörungseinheit: Anhörungsmitte

In der Literatur wird die Gesprächsmitte als die Kernphase (vgl. Brinker & Sager 1989) oder als das eigentliche Gespräch (Spiegel 1995) bezeichnet, in der »die handlungsschematischen Aktivitäten durchgeführt werden« (ebenda 47). Sie besteht meistens aus einer Reihe von Gesprächssequenzen, die dem eigentlichen Thema dienen. Die »Gesprächsmitte« zeichnet sich in der Regel durch eine hohe Komplexität aus, d.h. durch »eine vielfach geschichtete Gesprächshandlungsstruktur« (Henne & Rehbock 1995:186). Das macht eine weitere Strukturierung der »Gesprächsmitte« in Teilphasen (ebenda: 187) für die Analyse notwendig. Rebock & Henne (1979) definieren die Gesprächsmitte formal als die Gesprächsphase, die die »Eröffnung im Rücken und die Beendung vor sich habe« (ebenda:2). Die Gesprächsmitte hat in den meisten Gesprächen, vor allem in Alltagsgesprächen, keine typischen Muster, die zeigen, wie diese Phase realisiert wird. So stellen Brinker & Sager (1989) fest, dass bei den Kernphasen oder der Gesprächsmitte, im Gegensatz zu Eröffnungen und Beendigungen, nicht von »einfachen Folgen von bestimmten Sequenztypen« (ebenda:103) ausgegangen werden soll. Die Aufgaben in der Gesprächsmitte lassen sich zusammenhängend mit der Komplexität des zu bearbeitenden Themas variieren. In einer Anhörung als institutionelles Gespräch, das von einer Kommunikationsstruktur mit institutionell vorgegebenen Zielen geprägt ist, sollte die Bestimmung der Gesprächsmitte nicht problematisch sein. Als Gesamtphase stellt die Anhörungsmitte den zweiten, dritten und vierten Block im Anhörungskatalog dar.20 Jeder Block bearbei20

Organisatorisch gesehen könnte man alle Anhörungsphasen zwischen Anhörungseinführung und Anhörungsbeendung zu der Einheit Anhörungsmitte zusammenfassen. Ich habe mich dafür ent-

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

tet für ihn konzipierte Aufgabenkomplexe, hat eigene konstitutive Einheiten und erfüllt bestimmte Anhörungszwecke. Die Übergänge zu den Phasen werden oft durch metakommunikative Einleitungen21 angekündigt, so dass der Phasenbeginn als solcher für alle Beteiligten markiert wird.22 Die Funktion der Gesprächsmitte ist gesprächszweckabhängig. In der Anhörung erfüllt sie mehrere Zwecke, die hierarchisch in die Phasen eingeordnet sind. Die Anhörungsmitte beinhaltet die wichtigsten Teile der Anhörung (Nennung der Fluchtgründe und Überprüfung der Richtigkeit der gemachten Angaben). Sie markiert die wichtigste Abgrenzung jeder Anhörung von den anderen Anhörungen, denn ab dieser Einheit schlägt jede Anhörung ihren individuellen Weg ein. So befindet sich in der zweiten Phase der Anhörungsmitte der Kern des Anhörungsgespräches, in dem es um die »eigentliche Anhörung« (Asylgründe nennen) geht. Die Anhörungseinheit ›Anhörungsmitte‹ besteht im Wesentlichen aus den Phasen: 1) Fragen zum Reiseweg und 2) Anhörungskern, der jeweils in zwei Phasen gegliedert ist: Rekonstruktion der Fluchtgeschichte und Überprüfung der Glaubwürdigkeit von Antragsteller*innen.

13.2.1

Frage zum Reiseweg

In dieser Phase werden die Antragsteller*innen sowohl nach der Fluchtroute, über die sie nach Deutschland gekommen sind als auch darüber, mit welchen Verkehrsmitteln sie gereist sind, befragt. Aus den erhobenen Daten kann diese Gesprächsphase in drei Fragenkomplexe geteilt werden: Fragen zur Reiseroute, zu Reisekosten und anschließend Fragen zu den anderen Reisebegleitern. Die drei Fragenkomplexe sind in der Regel konstitutiv für diese Anhörungsphase. Einige Anhörer fügen Fragen zu den Schleppern hinzu oder fragen detaillierter nach, indem sie z.B. Fragen zu geografischen Landschaftsmerkmalen der Länder, durch die die Antragsteller*innen gereist sind, stellen. Die Anhörungssequenz wird meistens mittels metakommunikativer Äußerungen, wie »jetzt stelle ich Ihnen Fragen zu Ihrem Reiseweg« (P: 1, P: 3 und P: 21) eingeleitet. Welche institutionellen Zwecke die Phase ›Befragung zum Reiseweg‹ erfüllt und wie die damit verbundenen kommunikativen Aufgaben bearbeitet werden.

21

22

schieden, noch einmal Phasenabgrenzungen innerhalb der Anhörungsmitte zu ziehen. Die Anhörungsmitte endet nach meiner Phasenabgrenzungen mit der Überprüfung der Glaubwürdigkeit des Antragstellers. Darauf folgen noch zwei Anhörungseinheiten, die vor der Anhörungsbeendung platziert sind. Metakommunikative Äußerungen, auch »Metakommunikation« oder »Metadiskurs« (Tiittula 1994) genannt, spielen eine Rolle in der Diskursorganisation. Sie sind solche Äußerungen, die dazu dienen, die Struktur des Diskurses zu verdeutlichen und »bilden um Äußerungen und Diskursteile unterschiedlicher Länge, sowie auch um ganze Diskurse Rahmen, stellen einen Bezug zum vorangehenden oder kommenden Diskursteil her oder verdeutlichen die innere Gliederung des Diskurses« (Tiittula 1994: 43). Sie werden deshalb als Gesprächs- und redeorganisierende Handlungen angesehen. Die meisten Anhörer*innen verwenden die Metkommunikation als kommunikative Strategie, um die Anhörungseinheiten zu strukturieren und voneinander abzugrenzen. Die Übergangssequenzen spielen in der Anhörung -gesprächsorganisatorisch betrachtet- eine entscheidende Rolle, weil die Anhörenden auf diese Weise die Antragsteller*innen von einem Anhörungsteil in den nächsten führen.

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Die Anhörung im Asylverfahren

Die Fragen zum Reiseweg erfüllen zwei institutionelle Zwecke, die mit der Beurteilung der Fluchtgründe und der Bestimmung der Schutzform verknüpft sind. Zum einen wird dadurch versucht herauszufinden, ob die Antragsteller*innen über einen sicheren Drittstaat eingereist sind, weil dies zunächst das Asylrecht des Art. 16a GG ausschließt und die Zurückweisung des Antragstellers in den Drittstaat erforderlich machen könnte (vgl. Lahusen 2016: 121). Zum anderen kann die Schilderung des Fluchtwegs zur Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Antragsteller*innen beitragen. Nach der Rechtsprechung ist die Bewertung der Angaben zum Reiseweg als »glaubhaft« vs. »unglaubhaft« ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Verfolgungserlebnisse (OVG NW, Urteil vom 3.12. 1998). Wenn falsche Aussagen zum Reiseweg festgestellt werden, kann es das dazu führen, dass der/die Antragsteller*in als unglaubwürdig deklariert wird. Daraufhin werden seine/ihre Äußerungen zum Fluchtgeschehen per se als unglaubhaft eingeschätzt, was die Ablehnung seines/ihres Antrags zur Folge hat. Allerdings wurde es festgestellt, dass, wenn Asylsuchende in dieser Gesprächsphase lügen, es meistens auf Anweisung des Fluchthelfers geschieht oder aus Angst vor Abschiebung in einen Drittstaat oder in einen anderen Staat der Europäischen Union (vgl. Marx 2013a: 83). Ab dem Moment, in dem der/die Anhörende es zur Kenntnis nimmt, dass der/die Antragsteller*in falsche Angaben macht, wird die gesamte Anhörung belastet. Anwälte stimmen zu, dass aus dem Sachvorbringen zu den Reisemodalitäten wichtige Erkenntnisse zur Glaubhaftigkeit der Angaben gezogen werden können (vgl. Max 2003 und 2013a; E-Interview Steer und Egor). Sie empfehlen trotzdem, dass die Aufklärung des Reisewegs nicht im Zentrum der Anhörung stehen darf, wegen der »Art der behördlichen Aufklärung des Reiseweges und die Dominanz, die dieser Sachkomplex während der Anhörung einnimmt. [Diese] führen jedoch regelmäßig zu Irritationen und erheblichen Verunsicherungen bei den Asylsuchenden, die deshalb häufig zu unzulänglichen und unvollständigen Angaben beider anschließenden Darlegung der Asylgründe führen.« (Marx 2003b: 78; Marx 2013b: 9). Im Folgenden werden exemplarisch Beispiele aus den Daten untersucht, die verdeutlichen, wie Fragen zum Reiseweg gestellt werden und ob die Art des Fragestellens zur Irritation und Verunsicherung führen. Setzen alle Anhörenden die gleichen Sprechhandlungen für die Realisierung der Gesprächssequenz ein oder gibt es Variationen? Wenn ja, worauf beruhen diese Variationen? Sind diese dem persönlichen Stil der Anhörenden geschuldet oder entstehen sie im Zuge der Erfüllung des institutionellen Zwecks, der sich fallkonstellationsabhängig ändern könnte? Zudem wird eine Gegenüberstellung der Bearbeitung der Phase in meinem Korpus mit fremden Daten angestrebt, die in früheren Zeitraum erhoben wurden, mit dem Ziel, die historische Verschiebung des Zwecks der Anhörungsphase ›Frage zum Reiseweg‹ zu beobachten.

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

13.2.1.1

Exemplarische Beispiele

Es werden Beispiele aus mehreren Anhörungen analysiert und gezeigt, wie die Anhörenden verschiedene Strategien zur Bearbeitung der kommunikativen Aufgabe › Generierung von Informationen zum Reiseweg‹ einsetzen.23 Fallbeispiel 1 (Anhörungsprotokoll: 6) In der Anhörung 6 stellt die Entscheiderin (Frau Röpke) den Asylsuchenden (Rafiq) im Vergleich zu anderen Anhörungen besonders detaillierte Fragen zu seinem Reiseweg. Zuerst formuliert sie ihre Aufforderung mit einer Bitte »Bitte schildern Sie«, durch die der Antragsteller durch die daran gehängten Aufforderungen um mehr Informationen gebeten wird. Rafiq soll frei schildern, wie und wann er nach Deutschland gekommen ist. A: Bitte schildern Sie mir, wie und wann und auf welchem Wege sind Sie nach Deutschland gekommen! AB: am *. **. 2*** bin ich aus Afghanistan ausgereist und bin am *. **. 2*** in Deutschland angekommen. Rafiq verhält sich bei der Beantwortung offensichtlich nicht entsprechend der Erwartung der Anhörerin Frau Röpke. Er beantwortet nur einen Teil der Aufforderungen; nämlich die Frage nach dem Wann. Die Antwort ist für Frau Röpke nicht ausreichend, deshalb stellt sie die Frage noch einmal und expliziert dabei ganz genau, was sie wissen möchte: »auf welche Weise«, »über welche anderen Länder« und »wie die Reise […] erfolgte?« Rafiq soll nicht nur eine Zeitangabe mitteilen, sondern er soll mehr Details über die Art und Weise, wie er ausgereist ist, vermitteln: A: Auf welche Weise haben Sie Ihr Herkunftsland verlassen, über welche anderen Länder sind Sie gereist und wie die Einreise nach Deutschland erfolgte? AB: Vor **Monaten bin ich aus […] ausgereist. Ich reiste zunächst von [Stadt] nach […]. Von […] reiste ich dann nach [Stadt]. Wir reisten hinten in einem Auto […]. Wir reisten dann über die Grenze in [Staat] und zunächst nach […]. Wir sind dann von dort weiter mit dem Auto gefahren bis [Staat]. Wir waren zu [Anzahl] und dort kamen dann noch andere dazu, wir waren dann ** Männer. A: Reisten Sie bis dahin mit Fluchthelfern? AB: Von Anfang an reiste ich mit Fluchthelfern. Rafiq reagiert noch nicht, wie Frau Röpke es von ihm erwartet. Er beschreibt zwar seinen Reiseweg detaillierter als zuvor, aber schematisch von Stadt Y bis Stadt X mit entsprechenden Reisemitteln, ohne die Ereignisse, die auf dem Weg geschehen sind, näher

23

Ich verwende den Begriff Strategien in dieser Arbeit meist nur im Zusammenhang mit kommunikativen Strategien/Zielsetzungen, die die Interagierenden zur Zielrealisierung einsetzen. Schank definiert Strategien wie folgt: »Strategien sind heuristisch und taktisch ausgerichtete SubUnterpläne zur schnellen und zeitsparenden Erreichung von Teilzielen in einem Handlungsplan. Es sind heuristische Verfahren zur Optimierung der Verständigung und der Gesprächsführung auf der Unterplan-Ebene.« (Schank 1981: 236).

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Die Anhörung im Asylverfahren

zu beschreiben. »Ich reiste mit einem Auto zunächst von (Stadt) nach […]. Von […] reiste ich dann nach (Stadt) […]«. Die Anhörerin geht es jedoch nicht um diese Angaben allein, sondern um das Erzählen von weiteren Ereignissen und Begleitumständen auf dem Weg. Für die Realisierung ihres Ziels muss Frau Röpke Rafiq in den kommunikativen Modus des Erzählens bringen. Sie stellt ihm eine kommunikationsfördernde Frage und versucht ihn zum Erzählen zu animieren: A: Wie ging es denn dann weiter, wurden die ** Männer dann auf andere Autos aufgeteilt, oder wie war das? AB: Ja, wir wurden verteilt auf zwei Autos. Dann fuhren wir wieder durch die Berge. In […] dann mussten wir zu Fuß gehen, wir kamen abends an und sind dann die ganze Nacht über zu Fuß gegangen und kamen früh an, da war dann die Grenze zur [Staat]. Wir haben uns dann auch gegenseitig verloren, die anderen habe ich verloren, wir waren dann nur noch zu [Anzahl]. Von unserer Gruppe habe ich dann auch noch gesehen, dass **Männer gestorben sind, sie sind in den Bergen abgerutscht. Wir kamen […] an und da standen zwei Autos. Und es waren wieder viele Männer dort, andere Flüchtlinge. Wir wurden dann wieder aufgeteilt und fuhren los. Wir waren dann in [Staat] und irgendwann kamen wir dann in [Staat] an. Zunächst fragt Frau Röpke offen »Wie ging es denn dann weiter«, aber greift durch eine suggestive Frage »wurden die ** Männer dann auf andere Autos aufgeteilt, oder wie war das?« in die Antwort des Asylsuchenden ein, indem sie ihn einen Antwortvorschlag anbietet und damit die Ereignisentwicklung lenkt, wie es gewesen sein könnte: »wurden die ** Männer dann auf andere Autos aufgeteilt?« Sie bringt Rafiq nicht dazu, Ihre Vermutung über die Ereignisentwicklung anzunehmen, sondern lässt es ihm frei durch die Zufügung »oder wie war das?« sich selbst darüber zu äußern, wie es weiterging. Mittels der Konjunktion »oder« stellt die Anhörende ihre eigene Aussage infrage (es muss nicht so gewesen sein), gleichzeitig drückt sie damit aus, dass es auch eine Variante der Geschehnisse sein könnte (möglicherweise war es so gewesen). Dadurch muss Rafiq sich der Vermutung von Frau Röpke stellen: entweder bestätigt er sie und stellt das Ereignis detailliert dar oder er hat einen anderen Verlauf der Geschichte erlebt, den er vermitteln muss. Mit der Formulierung »Wie ging es denn dann weiter, wurden die ** Männer dann auf andere Autos aufgeteilt, oder wie war das?« bringt die Anhörerin Rafiq zum ausführlichen Erzählen. Mit der Äußerung »Ja, wir wurden verteilt auf zwei Autos« übernimmt er die Perspektive der Anhörenden und bestätigt durch die Partikel »ja« ihre Vermutung zum Ereignis. Dabei bleibt Rafiq nicht, sondern erzählt das Ereignis in chronologischer Reihenfolge, wie das Adverb »dann« in der ganzen Erzählpassage markiert: »Dann fuhren wir wieder durch die Berge. In den Bergen dann mussten wir zu Fuß gehen, wir kamen abends an und sind dann […] dann wieder aufgeteilt […]. Wir waren dann in […]« dann in […].« Aus der erzählten Version geht hervor, dass Fragen zur Präzisierung der Zeit- und Ortsangaben und zur weiteren Klärung gestellt werden: A: Wie lange hielten Sie sich dort auf? AB: Wir waren *** Nächte in […] Dann fuhren wir zu [Anzahl] wir waren sieben Männer, in einem Auto fünf Stunden lang- Ich weiß nicht, wo ich dann ankam. Der Fluchthelfer

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

war auch bei uns und er hat dann zu uns gesagt, ihr braucht keine Angst zu haben. Es wird die Polizei kommen […]. Sie werden euch wieder freilassen. . A: Wissen Sie, ob das noch in [Staat] war oder schon auf der griechischen Seite? AB: Ich weiß es nicht, A: Waren Sie bis dahin, wo Sie dieses Papier von der Polizei erhielten mit Booten, Schiff oder Schlauchboot über Wasser gefahren? AB: Nein. Es war so dann auch, eine Nacht waren wir bei der Polizei und am nächsten Morgen stand wie versprochen das Auto da rum. In diesem Auto waren wir dann mehrere Nächte und Tage. […]. A: Was war das denn für ein Auto? AB: Das war ein großer Lkw. Ich weiß nicht, ob da noch andere waren […]. A: Wo verließen Sie diesen Lkw? AB: Ich weiß nicht, welches Land oder welche Stadt das war. […] nach paar Meter war eine Taxistelle. Ich wollte ein Taxi nehmen […] und plötzlich stand die Polizei vor mir und sagte, wir sind die deutsche Polizei. A: Wann reisten Sie nach Deutschland ein und wann war das? AB: Ich weiß nicht genau, vielleicht war das am *. *.***. (AP: 6). Nachdem die Anhörende es durch den Einsatz von erzählfördernden Strategien geschafft hat, den Antragsteller zum offenen Erzählen über den Reiseweg und zu Situationsbeschreibungen zu bewegen, hat sie aus dem Erzählten ausreichend Stoff zum Nachfragen gesammelt. Sie stellt Fragen, um präzise Auskünfte über die zeitlichen und lokalen Angaben zu jedem Umstand auf dem Weg zu erhalten: »Wie lange hielten Sie sich dort auf?«, »Waren Sie bis dahin, wo Sie dieses Papier von der Polizei erhielten mit Booten, Schiff oder Schlauchboot über Wasser gefahren?«, »Was war das denn für ein Auto?« und »Wo verließen Sie diesen Lkw?« (AP: 6). Die Anhörende schließt die Phase nicht mit der Frage nach den Kosten ab, was in anderen Anhörungen üblich ist, sondern hängt daran weitere Fragen zum Geschehen an der Grenze: A: Wie war das denn da bei der Polizei, wo Sie festgehalten wurden, was sagten Ihnen die Polizisten? AB: Die haben uns gefragt, warum wir aus […] kommen, warum wir ausreisen und dann haben sie unsere Fingerabdrücke genommen. A: Warum ließen die Polizisten Sie wieder frei? (AP: 6). Die Frage »wie war das denn da bei der Polizei?« hat zur Reiseroute keine weiteren Erkenntnisse hinzufügen können und erfordert kein spezifisches Wissen zum Erschließen bestimmten Wissenslücken bezüglich des Reiseweges, sondern verlangt eine vollständige Beschreibung einer Situation im Ganzen. Durch die detaillierte Beschreibung überprüft sie, ob der Asylbewerber die Wahrheit sagt, denn es geht um die deutsche Polizei, deren Beschreibung ihr nicht fremd ist. Zudem liegt ihr die Akte von der Polizeibefragung vor, durch die Frau Röpke vergleichen kann, ob die Erzählungen des Antragstellers den erfassten Daten im Polizeiprotokoll entsprechen. Abschließend soll Rapfiq die Auswahl seines Fluchtziels begründen,

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Die Anhörung im Asylverfahren

A: Warum wählten Sie als Fluchtziel gerade Deutschland? AB: Ich habe mir das überlegt und Deutschland war das Beste für mich. (Ebenda) Zusammengefasst geht es der Anhörerin, bei der Bearbeitung der Anhörungsphase ›Befragung zum Reiseweg«, nicht um prosaische Fakten (mit welchen Reisemittel, zu welchem Zeitpunkt und entstandene Kosten), sondern um alle Begleitumstände zum Reiseweg. Für die Realisierung ihres Ziels setzt sie eine erzählfördernde Strategie ein, die Rafiq dazu veranlassen soll, mehr zu den Begleitumständen auf dem Reiseweg zu vermitteln. Trotz der explizierten Fragen konnte Frau Röpke ihr Ziel nicht bei den ersten Versuchen erreichen, weil Rafiq nicht entsprechend den Erwartungen der Fragenden reagiert. Zielverfolgend verwendet Frau Röpke im dritten Anlauf suggestive Elemente und eine buchstäbliche Aufforderung zum Weiterberichten, die erfolgreich sind. Sie bleibt höflich im Ton, aber entschlossen, die Phase nicht abzuschließen, bevor sie ihre Ziele erreicht. Fallbeispiel 2 (Anhörungsprotokoll: 7) Im Gegensatz zu Frau Röpke interessiert sich ihr Kollege (Herr Lietz) nicht für die Begleitumstände, die sich auf dem Reiseweg des Antragstellers (Samir) ereigneten, sondern nur für exakte Fakten, die die Reiseroute von A nach B beschreiben sollen: A: Nennen Sie mir bitte Ihren Reiseweg! AB: Ich bin über den Landweg von […] in den […], und dort in [Stadt] angekommen. Ich bin von … aus weiter mit dem Flugzeug nach (Stadt) gereist. Von (Stadt) aus bin ich weiter mit dem Bus nach [Stadt]. Von dort aus bin ich dann weiter auf die […], von wo wir aus mit einem Schiff zum […] gekommen sind und dort in […] angekommen sind. Wir sind von […] aus dann weiter über die Balkanroute, also über […], […], […] nach Deutschland gekommen. Ich bin zum Teil zu Fuß, zum Teil mit dem Bus und zum Teil mit dem Zug durch den Balkan gereist. In Deutschland bin ich dann am *.*. **** angekommen. A: Mit wem haben Sie zusammen Syrien verlassen? AB: Ich habe […] allein verlassen und bin allein nach […] und auch allein […] eingereist und ab [Staat] waren wir in Gruppen. A: Sie sind etwa **Monaten unterwegs gewesen, wo haben Sie sich die längste Zeit aufgehalten? AB: Ich war viele Monate in […]. Der Anhörende verwendet die imperative Aufforderung »Nennen Sie mir bitte Ihren Reiseweg!«. Mit der Auswahl des Verbs »nennen« drückt er sein Interesse an einer allgemeinen Nennung des Reiseweges, ohne besondere Detailschilderungen, aus. Samir soll nicht beschreiben, erzählen oder schildern, er soll lediglich »nennen«. Samir kam der Aufforderung präzise nach. Er stellt seinen Reiseweg genau und schematisch, ohne eine Erzählepisode, dar. Samir berücksichtigt in seiner Schilderung der Fluchtroute, welche Länder er auf welche Weise (Luft-, Land- oder Wasserweg) mit welchen Verkehrsmitteln (Auto, Zug, Flugzeug, Bott) durchreist hat. Herr Lietz gibt sich mit der Antwort zufrieden und geht zur nächsten Frage über: »Mit wem haben Sie zusammen […] verlassen?« Ohne Kommentar nimmt Herr Lietz Samirs Angaben zu Protokoll. Vor

13. Detaillierte Phasenbeschreibung 203

dem Phasenabschluss ist dem Anhörenden aufgefallen, dass der Asylsuchende über ein Jahr unterwegs war. Der Anhörende möchte nun wissen, wo der Antragsteller sich so lange aufgehalten hat: »Wo haben Sie sich die längste Zeit aufgehalten?« (AP: 7). Samir gibt eine knappe Antwort: »Ich war viele Monate in […].« (Ebenda) Die Angabe reicht dem Befrager aus. Er muss nicht erklären, warum und bei wem und wovon er dort gelebt hat. Herr Lietz nahm alle Angaben des Antragstellers als wahr zur Kenntnis und zeigte keine Zweifel daran, dass die Angaben stimmen. Indikator dafür ist, dass er keine einzige Sprechhandlung verwendet, die auf Zweifel an den Aussagen hinweisen. Fallbeispiel 3 (Ausschnitt von einer Anhörung in der Zeitung Welt Online) Während Herr Lietz und Frau Röpke oben sich nicht für die Schleuser interessieren, interessiert sich Frau Dölz dafür, mehr über den Schleuser zu erfahren und sie stellt dem Antragsteller Fragen dazu: [A:] Was war das für ein Schleuser, der Sie nach Deutschland gebracht hat? [AB:] Auch ein Kurde, aus der Türkei. Er sprach mehrere Sprachen. [A:] Von wo nach wo hat er Sie begleitet? [AB:] Ich habe ihn in Adana in der südlichen Türkei getroffen. Von dort aus ging es sechs Tage lang im Laderaum eines großen Lkw in den Süden Deutschlands. [A:] Haben Sie irgendwo angehalten? [AB:] Nein, wir haben Tüten bekommen, um unsere Notdurft zu verrichten. Es war so eklig. Als die Tür das nächste Mal wieder aufging, waren wir in der Nähe von Nürnberg. [A:] Hat der Schleuser Ihnen den Pass abgenommen?« (die Welt/Politik: Onlineausgabe 25.05.2015).24 Die Entscheiderin will neben der Reiseroute »von wo nach wo«, Auskünfte über den Fluchthelfer erhalten und seine Arbeitsweise erkunden: Welchen Weg er genommen hat, »wo er angehalten hat«, ob er den Asylbewerber den Pass abnahm und letztlich möchte die Entscheiderin wissen, welche Nationalität der Schleuser habe. Fallbeispiel 4 Eine weitere Variante, wie Anhörende nach der Fluchtroute fragen, sehen wir in der Anhörung 3, in der Herr Borschert die Phase ›Befragung zum Reiseweg‹ durch die Metakommunikative Äußerung »Jetzt kommen wir zum zweiten Teil. Ich werde Ihnen Fragen zum Reiseweg stelle« einleitet. Er fragt nach jedem Reisemittel, ohne diese zu kommentieren oder die Angaben des Asylsuchenden in Frage zu stellen. Es entsteht ein Frage-Antwort-Format, das weitere Einschübe, wie Erzählungen, Beschreibungen, Nachfragen missen lässt. Es werden auch keine anderen Varianten als Fragen zur Aufforderung verwendet (z.B. Imperativ, Bitte). Die ganze Sequenz wirkt wie ein systematisch themenfokussierter Fragenkomplex, wie aus einem Fragebogen abgeleitet. Sie besteht aus kurzen Fragen, die Zeit-, Orts- und Zahlenangaben verlangen oder Entscheidungsfragen, die mit »ja« oder »nein« beantwortet werden können. 24

Welt-Politik Online (25.05.2015) von Freia Peters: Diese Frau sagt, wer in Deutschland Asyl erhält https://www.welt.de/politik/deutschland/article141422110/Diese-Frau-sagt-wer-in-Deutschla nd-Asyl-erhaelt.html (27.05.2017).

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Die Anhörung im Asylverfahren

A: Jetzt kommen wir zum zweiten Teil. Ich werde Ihnen Fragen zum Reiseweg stellen. Wann haben Sie ihr Heimatland verlassen? AB: Mitte […] 20**. A: Wann sind Sie in Deutschland angekommen? AB: Ende […] 20**. A: Durch welche Länder sind Sie gereist? AB durch […]. A: Haben Sie Aufenthaltstitel erhalten in den Ländern, durch sie Sie eingereist sind? AB: Nein. A: Welche Reisemittel haben Sie genommen? Bus, Auto, oder? AB: Auto, Taxi, Boot, Taxi und Zug. A: Mit wem sind Sie ausgereist? AB: Mit […]. A: Ist [die Person] auch in Deutschland? AB: Ja, auch im gleichen Kamp. A: Wurden Sie von Schleusern geholfen? Oder waren Sie auf sich selbst angewiesen? AB: Nein, ich war mit …die ganze Zeit zusammen auch mit weiteren Reisenden, die wir auf der Flucht kennenlernten. A: Wie viel hat die Reise gekostet? AB: Ungefähr ** Euro. (AP: 3). Die zitierte Passage zeigt, wie oben beschrieben ist, dass die Bearbeitung der Anhörungssequenz ›Befragung zum Reiseweg‹ in einer strukturierten Frage-AntwortPaarsequenz erfolgt ist, die keine Erklärungen oder Schilderungen anfordert. Bei diversen Fragen werden entweder Wahlmöglichkeiten angeboten oder Aufzählungen erbeten: A: Welche Reisemittel haben Sie genommen? Bus, Auto, oder? AB: Auto, Taxi, Boot, Taxi und Zug A: Durch welche Länder sind Sie gereist? (AP: 3). Der Antragsteller gibt die Reisemittel namentlich an, ohne weitere Angaben zu machen, wie er diese Mittel z.B. organisiert hat, ob diese Verkehrsmittel in Gruppen oder einzeln gemietet wurden, was für Erlebnisse der Antragsteller auf der Reise hatte usw. Es wird nicht verlangt, dass er erklärt, mit welchen Mitteln er von einer Station zur anderen gereist ist, sondern es wird fragebogenartig eine reine Aufzählung der Verkehrsmittel abgefragt. Herr Borschert unterscheidet sich damit erheblich von den Befragungsmethoden der Frau Röpke in der Anhörung 6. Anhand einer weiteren Anhörung wird gezeigt, wie Herr Allbrecht in der Anhörung 5 die kommunikative Aufgabe dieser Phase bearbeitet. Er fragt nicht detailliert, wie Frau Röpke, aber auch nicht standardisiert und fragebogenartig, wie Herr Borschert. Wie kommt es zu solchen Variationen in den Befragungen? Fallbeispiel 5 A: Wann haben Sie Ihr Heimatland verlassen? AB: Ungefähr am *. **.***.

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

A: Wann sind Sie in Deutschland eingereist? AB: Am […] 20** . A: Haben Sie sich vor Ihrer Einreise nach Deutschland vorübergehend in einem anderen Land aufgehalten, wenn ja, welches? AB: Ich bin wie gesagt von (Stadt) nach [Stadt] in der [Staat] geflogen. Der Flug hat ca. **$ gekostet. Ich bin am selben Tag weiter nach [Stadt] zu […] gereist. Ich habe hier […] gelebt. Ich habe ca. […] Tage illegal bei einer …Firma gearbeitet. Insgesamt war ich dort ca. **Monate. Von [Staat] bin ich mit Hilfe von Schleppern in einem Schlauchboot nach Griechenland gereist. Auf das Boot passten ca. 61 Leute und wir waren 7 Stunden unterwegs. Das hat mich ca. 000€ gekostet. Ich weiß nicht, wie lange ich in […] war. Dann ging es weiter mit dem Bus nach [Staat]. Zu Fuß bin ich über die Grenze nach [Staat]. Dann mit dem Zug, Bus und Taxi nach [EU-Staat], von [Staat] aus habe ich wieder Hilfe von Schleppern gehabt. Diesmal für ***€. In [EU-Staat] wurde ich für **Tage verhaftet. Danach bin ich weiter nach […], wo ich etwas länger als **Wochen war. Von da aus bin ich mit dem Zug nach Deutschland eingereist. A: Wie haben Sie die Reisekosten zusammen? AB: Das Geld für die Bezahlung der Schlepper hat mir […] gegeben. (P: 5).

Der Entscheider (Herr Alberecht) hat die Gesprächssequenz mit zwei Fragen nach einer Zeitangabe »Wann haben Sie Ihr Heimatland verlassen? Wann sind Sie in Deutschland eingereist?« (AP: 5) eingeleitet. Aus den Angaben konzipiert er eine offene Frage, indem er die Zeitdifferenz zwischen dem Aus- und Einreisedatum feststellt und die Schlussfolgerung zieht, dass sich der Antragsteller irgendwo anders aufgehalten haben muss: »Haben Sie sich vor Ihrer Einreise nach Deutschland vorübergehend in einem anderen Land aufgehalten?« (ebenda). Der Antragsteller (Badr) gibt präzise und gleichzeitig detaillierte Antworten. Er liefert unaufgefordert genaue Angaben zu den Ländern, Zeiten, Personen und Kosten, so dass Herr Albrecht keine weiteren Fragen stellen muss, die für ihn neues Wissen zum Reiseweg hinzufügen. Die Art und Weise, wie Badr diese Fragen beantwortet, weist m.E. auf den Einfluss indirekter Akteure (Beratungsstellen) in der Anhörung hin, die in Kapitel II aufgeführt sind. In der Vorbereitung auf die Anhörung in den Beratungsstellen wird den Antragsteller*innen gesagt, dass Fragen zum Reiseweg gestellt werden, die die Beschreibung der Reiseroute, Kosten usw. erfordern. Die Mitarbeiter*innen raten den Asylsuchenden, präzise und gleichzeitig informationsreiche Angaben zu machen. Das Befolgen dieses Ratschlags sieht man an Badr‘s Antworten. Durch die komprimierte Erwiderung des Antragstellers, dem viele Informationen entnommen werden können und die gleichzeitig zeitsparend ausfällt, kann man den Stil des Anhörenden nicht eindeutig erkennen, ob er ausführlich gefragt hätte. Fallbeispiel 6 Die Untersuchung der Phase ›Befragen zum Reiseweg‹ wird mit einem Ausschnitt der Anhörung (8) abgeschlossen, die sich noch ein weiterer Befragungsstil und auffallende Beteiligungsbeiträge vom Antragsteller zeigen: A: Wie sind Sie nach Deutschland gekommen? AB: Die Reise aus Heimatland oder aus […].

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Die Anhörung im Asylverfahren

A: Die Reise aus Staat […]. Mit wem Sind Sie ausgereist? AB: Mit meiner Frau und meinen Kindern bis […] dann sind wir dort getrennt wurden und jeder ist allein weitergereist. Sie mit den Kindern nach [EU-Staat] und ich nach [einem andern EU-Staat]. A: Warum sind Sie getrennt worden? AB: Ich hatte ein Visum für (EU-Staat), meine Familie nicht. A: Das heißt, es war vom Anfang an klar, dass Sie getrennt ausreisen. AB: Natürlich wussten wir von Anfang an, dass wir uns trennen müssen. A: Wie viel kostete die Reise? AB: Für mich allein oder für die ganze Familie? A: Für die ganze Familie. AB: Ca. ** Euro. A: Wie haben Sie die Reise finanziert? AB: Ich habe gearbeitet, mein Fahrzeug verkauft und den Rest habe ich von […] genommen. (P: 8). Frau Storm beginnt die Phase mit einer offenen Frage: »Wie sind sie nach Deutschland gekommen?« Da der Antragsteller (Ebro) nicht direkt von seinem Heimatland nach Deutschland kam, sondern einen Zwischenstopp für ein paar Monate in [Staat] einlegte, stellt er Frau Storm eine Frage, die ihm Orientierung gibt, auf welche Reise er sich jetzt konzentrieren solle: Die Reise aus dem Heimatland oder aus dem ZwischenstoppStaat.25 Die Anhörerin interessiert sich nicht für lange Berichte über die Reise aus dem Herkunftsland und möchte wissen, wie die Reise aus dem Staat XY nach Deutschland war. Voreilig, bevor Ebro die Fluchtroute und die Reisemittel oder überhaupt irgendwelche Angaben macht, fragt Frau Storm: »Mit wem sind Sie ausgereist?« Ebro reiste mit seiner Frau und den Kindern, jedoch nicht bis nach Deutschland, sondern nur bis (EU-Staat), dann nahmen sie unterschiedliche Reisewege und er reiste allein weiter. Auf die Frage »Warum sind sie getrennt worden?« argumentiert Ebro mit dem Visum für einen EU-Staat: »Ich hatte ein Visum für (EU-Staat), meine Familie nicht«. Die Antwort reicht Frau Storm und sie fragt nicht nach weiteren Details (wie und wieso Ebro ein Visum bekommen hat und seine Familie nicht oder warum seine Frau einen anderen Weg wählte). Mit der Äußerung »Das heißt es war von Anfang an klar, dass Sie getrennt ausreisen«, offenbart die Anhörerin ihre eigene Schlussfolgerung, die Ebro mit dem Adverb »natürlich« ratifiziert. Er reagiert sprachlich und prosodisch äquivalent: »Natürlich wussten wir von Anfang an, dass wir uns trennen müssen«. Die Verwendung des Adverbs »natürlich« beinhaltet einen relativierenden Ausdruck: Wenn ich sage, dass ich ein Visum hatte und meine Familie nicht, ist es ja klar, dass wir getrennt ausreisen. Die Äußerung von Frau Storm wird dadurch als »überflüssig« qualifiziert. Frau Storm kam zum Abschluss der Phase mit der Frage nach den Reisekosten: »Wie viel kostete die Reise?« Da Ebro genau antworten will, erwidert er die Frage mit einer Gegenfrage, die eine Präzisierung der Frage der Anhörerin einfordert: »Für mich allein oder für die 25

Von Zwischenstopp-Staat oder »Transitland« sprechen die Antragsteller*innen, wenn sie sich auf dem Fluchtweg in einem anderen Land, für einen gewissen Zeitraum (3 Monate- 1 Jahr), niederlassen, bis sie den Fluchtplan zum Zielland, in dem sie den Asylantrag stellen wollen, wiederaufnehmen.

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

ganze Familie?« Frau Storm möchte die gesamte Summe der Reisekosten erfahren: »Für die ganze Familie.« Ebro antworte nicht sofort, er rechnet zusammen und sagt dann: »Ca. ** Euro«. Die Anhörerin findet, dass die Summe ** Euro für Ebro zu viel Geld sei und bezweifelt, dass Ebro diese Summe allein aufbringen konnte. Indikator dafür ist ihre Frage: »Wie haben Sie die Reise finanziert?« Mit der Antwort »Ich habe gearbeitet, mein Fahrzeug verkauft und den Rest habe ich von […] genommen«, wird die Phase der ›Befragung zum Reiseweg‹ abgeschlossen. Die Anhörerin wird diese Information nochmal in einer späteren Passage in der Anhörung aufgreifen, um die Glaubwürdigkeit des Antragstellers zu überprüfen.

13.2.1.2

Zweck der Phase ›Befragung zum Reiseweg‹

Betrachtet man den Zweck der eben untersuchten Anhörungssequenzen auf der Ebene der Anhörungsorganisation, können folgende Funktionen genannt werden: Neben den oben erwähnten institutionellen Zwecken (s. oben), liegt die Relevanz der Phase in ihrer Funktion als Vorbereitung auf die Rekonstruktion der Fluchtgeschichte, die im Anschluss folgt. Durch sie kommen die Betroffenen schrittweise in den Erzählmodus, der in der nächsten Anhörungsphase eine große Rolle spielt. Zudem werden verschiedene Informationen, die in dieser Phase generiert werden, nochmals in späteren Passagen der Anhörung aufgegriffen und in anderen Zusammenhängen näher abgefragt. Darüber hinaus grenzt diese Phase zwei wichtige Ereignisse für die geflüchteten Menschen voneinander ab: (1) Der Fluchtweg und die Schwierigkeiten, die die Asylsuchenden auf der Flucht erlebt haben, die als Aufgabenkomplexe in dieser Phase abgearbeitet wurden und (2) Die fluchtauslösenden Ereignisse selbst, die im Heimatland stattfanden, die in den darauffolgenden Anhörungssequenzen (nach einer kurzen Pause, gefühlt zwei bis drei Minuten) abgefragt werden. Hier in der Anhörungsphase ›Befragung zum Reiseweg‹ erklären die Asylsuchenden, wie sie nach Deutschland kamen und in der nachfolgenden Phase werden sie nach dem »warum« befragt.

Begleitfunktionen der Phase ›Befragung zum Reiseweg‹ Es gibt noch zwei Fragen, die in allen Anhörungen (abgesehen von der Anhörung 8 und der Anhörung 6) in dieser Gesprächssequenz ›Fragen zum Reiseweg‹ gestellt werden, und zwar: »Sind Ihnen auf dem Weg nach Deutschland Personen bekannt geworden, die sie als Mitglieder oder Unterstützter von terroristischen Organisationen einschätzen« (AP: 1, 2, 3 usw.).   »Haben Sie auf Ihren Weg nach Deutschland Menschen getroffen, von denen Sie annehmen müssen, dass Sie für einen Nachrichtendienst arbeiten« (P: 1, 2, 3 usw.). Die beiden Fragen fordern kein Wissen über dem Fluchtweg der Antragsteller*innen oder weisen auf Erkundigungen zu ihrer Person oder ihren Fluchtgeschichten hin. Dabei sind diese Fragen, nach Angaben von interviewten Anwälten, vernehmungsartig, weil durch sie von den Antragsteller*innen Wissen über sicherheitsbedrohende Orga-

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Die Anhörung im Asylverfahren

nisationen (wie terroristische Gruppen) eingeholt werden sollen. Diese Informationen können für Maßnahmen zum Sicherheitsschutz und durch den Staatschutz weiterverwendet werden: »Geheimdienste haben versucht durch Befragungen von arabischen Flüchtlingen oder kurdischen Flüchtlingen aus den arabischen Ländern rauszukriegen, ob da irgendwie der IS eine Rolle gespielt hat. Das ist der eine und das andere ist, ob sie von Geheimdiensten angesprochen worden sind. D.h. sie sollen enttarnt werden möglichst, weil die Geheimdienstarbeit auf dem deutschen Boden nicht zulässig ist. […] Die Fragen haben mit dem Flüchtling nichts zu tun, es geht um deren weitere Informationen. Ich habe es schon erlebt, dass dann direkt der Verfassungsschutz oder der Staatsschutz an die Flüchtlinge angetreten ist, um rauszukriegen, wenn sie sagen von einer terroristischen Organisation zu kommen oder vorgeben, dass sie dann befragt werden nach Standorten und Befehlshabern und solche Sachpersonen, um mehr über die Organisationen zu erfahren. Das hat dem eigenen Asylanerkennen nichts zu tun.« (E-Interview Egor). Aufgrund der Erklärung des Anwalts zum Zweck der Fragen wird ersichtlich, warum in den Anhörungen 8 und 6 diese Fragen fehlen: In den beiden Anhörungen kommen die Antragsteller nicht aus den Regionen, in der die ISIS präsent ist. Allein an diesen Fragen, die erst ca. 2013 dem Anhörungsfragenkatalog hinzugefügt wurden und aufgrund der Tatsache, dass sie nur Asylbewerber*innen aus bestimmten Ländern gestellt werden, lässt sich zeigen, dass die Befragung in der Anhörung nicht ganz unabhängig von der aktuellen politischen Situation ist. Das ist ein Faktum, welches sich auch anhand der historischen Entwicklung von Anhörungen im Asylverfahren belegen lässt (vgl. K. 7.2).

13.2.1.3

Gegenüberstellung der Anhörenden bei der Bearbeitung der Anhörungsphase ›Befragung zum Reiseweg‹

Aus der Aufführung oben kann entnommen werden, dass nicht in allen Anhörungen die gleiche Art und Weise für die Bearbeitung der Phase angewendet wird. Während verschiedene Entscheider*innen wie Frau Röpke (AP: 6) detailliert nach dem Reiseweg fragen, fragen andere wie Herr Borschert (AP: 3) nicht nach Details. Vergleicht man Herrn Albrecht in der Anhörung 5 mit Herrn Lietz in der Anhörung 7, lässt sich feststellen, dass sie die meisten Gemeinsamkeiten haben. Der Reiseweg wird über drei bis vier Fragen abgearbeitet, es werden weder ratifizierende noch bezweifelnde Äußerungen zu den Angaben gemacht. Die Antragsteller in den beiden Anhörungen haben eine schematische Darstellung des Reisewegs gewählt, in der Fluchtweg, Verkehrsmittel und Zeitangaben aufgelistet werden. In der Anhörung 5 werden die Kosten zu jeder Strecke unaufgefordert angegeben. Während Herr Borschert in (AP: 3) eine fragebogenartige Befragung durchführt, entsteht bei Frau Storm (AP: 8) der Eindruck, dass die Phase in einer Gesprächsform geführt wird. Der Grund dafür ist in den Gegenfragen, die der Antragsteller ihr stellt und den Schlussfolgerungen, die die Anhörende zieht und die Zustimmungen des Asylsuchenden dazu, zu sehen. Frau Röpke in Anhörung 6 steht im Kontrast zu allen anderen Kollegen*innen hinsichtlich der Fragen nach detaillierteren Beschreibungen der Geschehnisse, die sich auf

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

dem Fluchtweg ereigneten. Bereits bei der quantitativen Analyse der Bearbeitung der Phase im Vergleich, zeigen sich erhebliche Unterschiede: Wo Frau Röpke 16 Fragen zum Reiseweg stellt, kommt Herr Lietz mit drei Fragen und Herr Albrecht mit vier Fragen aus; auch Frau Storm verwendet dafür fünf Fragen. Hingegen setzt Herr Borschert in der Anhörung 3 neun Fragen ein und generiert dabei aber die wenigsten Informationen im Vergleich zu seinen Kollegen*innen. Die Ursache ist in der Art der Fragen zu sehen, die hier als fragebogenartige Fragen bezeichnet werden. Durch die Kontrastierung der Anhörenden lässt sich feststellen, dass jeder/jede Entscheider*in auf seine/ihre eigene Art und Weise fragt. Gemäß dem oben erwähnten Fragenkomplex und der Hauptrichtlinien der Fragen (Fluchtroute, Reisemittel und Reisekosten), haben sie die Phase zu bearbeiten und die Relevanz der generierten Informationen für die Realisierung des Zwecks der gesamten Anhörung individuell einzuschätzen. Wie die Anhörer*innen fragen und wie viele Fragen sie stellen, um den Zweck zu erreichen, ist ihnen überlassen. Wenn der/die Anhörende mehr Details erfahren möchte (wie in der Anhörung 6) oder diese Phase kurzhalten will (wie Herr Lietz in Anhörung 7), liegt die Entscheidung darüber bei den Anhörenden. Diese Varianz im Umgang mit dem Thema ist meines Erachtens nicht nur dem persönlichen Stil der Anhörenden geschuldet, sondern hängt auch von der Konstellation des Falles ab. In der Anhörung 6, in der am detailliertesten gefragt wird, kommt der Antragsteller aus keinem anerkannten Kriegsgebiet. Er kommt aus Afghanistan, aufgrund dessen er der Vermutungsregel (vgl. Abschnitt Asylbewerbertyp III »Der Schmuggler«) ausgesetzt ist. Demnach wird die Glaubhaftigkeit der Antragstelleraussagen und seiner Person nur anhand seiner Angaben geprüft. Je mehr er sich über die Begleitumstände äußert, desto mehr Anhaltspunkte werden geliefert, um (Un-)Glaubwürdigkeit herzustellen. In der Anhörung 7 stellt der Antragsteller (Samir) seine Fluchtroute nachvollziehbar schematisch dar und deckt damit die meisten Fragen, die wahrscheinlich hätten gefragt werden können, ab. Zudem kommt Samir aus einem Kriegsgebiet, wodurch er kategorial weniger mit Details bezüglich des Reisewegs belastet wird. Im Gegensatz zu allen andern Anhörenden scheint es, dass die Art und Weise, wie Herr Borschert die Anhörung 3 vollzieht, darauf hinweist, dass er seinen eigenen persönlichen Befragungsstil entwickelt hat. Dieser ist unabhängig von der Konstellation des Falles, denn Herr Borschert arbeitet über die ganze Anhörung hinweg auffällig kataloggetreu.

13.2.1.4

Rückblick auf die Fragen zum Reiseweg

Durch den Vergleich mit anderen Daten, die bis zum Jahr 2003 erhoben wurden, kann festgestellt werden, dass sich der Fragenblock ›Befragen zum Reiseweg‹ historisch verändert hat. Aus der Analyse der exemplarischen Beispiele kann man entnehmen, dass in den Anhörungen von 2015-2017 seltener Erklärungen der Angaben zum Reiseweg verlangt werden. Es werden kaum Fragen zu Schleusern gestellt und wenn, nicht detailliert wie im Vergleich zu früher: »Es war früher tatsächlich so, dass man sehr detailliert gefragt wurde, auf welchem Weg man hierhergekommen ist« (E-Interview Steer). Dieses Ergebnis, dass die Antragsteller*innen nicht mehr als nötig über den Reiseweg befragt werden, kann als Entwicklung der Fragetechniken im Zuge der neuen Zweck-

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Die Anhörung im Asylverfahren

beschreibung dieser Anhörungsphase gesehen werden. Früher wurden mit der Anhörungsphase‹ Befragung zum Reiseweg‹ weitere Ziele verbunden. Es wurde versucht, mehr Informationen über Schlepper zu generieren, um ihre Arbeitsmethoden zu ergründen, um sie, wenn möglich, an ihrer Arbeit zu hindern: »Da gab es Versuche, das auszuwerten und da irgendwie Wege zu finden, das zukünftig zu unterbinden, deshalb wurde da sehr detailliert gefragt und zum Teil gab es Anhörungen, wo da mehr über den Reiseweg gefragt wurde als über die Probleme im Heimatland […]. Inzwischen ist das eigentlich nicht mehr der Fall. Es wird nicht mehr viel gefragt, also es wird abgefragt, durch welche Länder man gereist ist.« (E-Interview Steer). Die vorherige Art und Weise der Befragung zum Reiseweg inklusive der Versuche, Informationen über den Schleusern zu ermitteln, hat sich als Belastung für den Asylsuchenden erwiesen. Solche Fragen galten als unangemessen, da sie für die Situation der Befragten, die mit Fluchtproblemen zu tun haben, unangebracht sind. Denn durch diese Fragen versuchte man, die Informationen, die die Antragsteller*innen zu den Schleppern geben, zu nutzen, um andere Ziele (Schleppen zu unterbinden) zu verfolgen. Die Antragsteller*innen wurden durch diese vielen Fragen zu Themen, für die sie nicht selbst verantwortlich sind, destabilisiert und strapaziert, was zu Irritationen führte (vgl. Marx 2003b: 78; Marx 2013b: 9). In anderen Daten (aus den 90ern) wurden diverse Fragen zum Reiseweg oder Ereignissen auf dem Reiseweg gestellt, die überprüfen sollten, ob die Antragsteller*innen Unwahrheiten angeben. Diese Fragen waren nicht dezent, sondern wiesen auf offenkundige Zweifel an den Aussagen hin und führten zur Diskreditierung der Antragssteller*innen. Ein Beispiel dafür dokumentiert der folgende Auszug eines Anhörungsprotokolls, in dem der Entscheider nicht nur wissen möchte, welche Verkehrsmittel der Flüchtende verwendet hat, sondern ob er überhaupt mit dem jeweiligen Verkehrsmittel (Flugzeug) gereist ist: E: Wie lange hat der Flug gedauert? D: Ca. drei Stunden E: Wo haben sie gesessen? D: Nr. 140. Sagt Dir das was? E: Kommt darauf an, welches Flugzeug D: Hinten sagte er E: Was ist auf dem Flugzeug passiert? D: In dem Flugzeug? Alles ok. E: Na gab es da eine Rettungsübung, Gurte anlegen oder sowas. Das will ich wissen D: Das Anlegen der Gurte auf Englisch. Darum hat mein Freund geholfen. E: Mit welcher Fluglinie? D: Es war nachts. Irgendwas Ausländisches. […] E: Wie waren die Leute gekleidet? D: Die Stewardessen E: ja D: weiße Hemden blauer […] Rock und eine Weste rüber E: Na ja so ist meistes. Sie haben doch Tücher mit der Gesellschaft darauf, dem Emblem

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

D: Ja das stimmt […] das steht auch manchmal drauf, ne? E: […] Welche Fluggesellschaft das ist? D: Aber ein anständiger Türke guckt auf sowas nicht. E: Da brauchen wir noch mehr. Wer hat ihm beim Check-in geholfen? D: Keiner hat geholfen. Pass und Ticket habe ich selbst vorgelegt. […] E: Warum sprechen Sie türkisch? (Zitiert in Scheffer 1997: 173). Der Asylbewerber soll genau beschreiben, »was auf dem Flugzeug passiert?« ist, und »wie waren die Leute gekleidet?« usw. Keine der zehn gestellten Fragen im zitierten Anschnitt ermittelt die faktische Erklärungen der Reiseroute, sondern alle Fragen testen, ob der Antragsteller überhaupt mit dem Flugzeug geflogen ist. Die Zweifel des Entscheiders an den Antragstelleraussagen werden in der Art und Weise der Fragen klar zum Ausdruck gebracht. Augenfällig ist, dass im Auszug in der dritten Person gesprochen wird. Anhörer und Dolmetscher sprechen über den Antragsteller, was in meinen Daten (2015-2017) nicht einmal vorgekommen ist. Noch ein weiteres Beispiel, das verdeutlicht, dass eklatante Fragen zum Reiseweg gestellt worden sind, ist in der Abhandlung von Gehrig (2000) zu finden, in der der Entscheider die Frage stellt: »Wie wird der Kaffee in Paris getrunken?« (zitiert in ebenda: 21) Mit der Frage soll festgestellt werden, ob der Antragsteller wirklich über Paris eingereist ist. Durch diese zwei vergleichenden Beispiele wird deutlich, dass sich die institutionellen Zwecke bezüglich der Fragen zum Reiseweg weitestgehend geändert haben. Die Intensität bei diesen Fragen hat sich zugunsten der Asylbewerber*innen verringert. Vergleicht man die beiden letzten Beispiele mit dem ersten exemplarischen Beispiel aus den erhobenen Daten, so wird deutlich, dass in den 90er Jahren im Zuge der Asylmissbrauchsbekämpfung an der Glaubwürdigkeit der Antragsteller*innen erheblich gezweifelt wurde. Dieser Zweifel ließ sich in den Anhörungen auf der kommunikativen Ebenen anmerken. Heute ist der Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Antragsteller*innen vielleicht nicht anders. Jedoch wird dieser Zweifel interaktiv, im Rahmen eines höflichen respektvollen Umganges, geprüft. Laut meiner Beobachtungen in Anhörungen und die erfragten Fremdbeobachtung von Begleitern*innen, Antragsteller*innen und anhand von Experteninterviews kann in den meisten Fällen von »angenehmen, höflichen, sachlichen Anhörer*innen« gesprochen werden. Fazit Als Ergebnisse der Untersuchung ›Befragung zum Reiseweg‹ können folgende Punkte festgehalten werden: (1) Folgende Aktivitätsteile können als feste Bestandteile der Phase ›Befragung zum Reiseweg‹ aufgezählt werden: Fragen zur Fluchtroute, Verkehrsmittel, mit wem gereist wurde und die Höhe der Reisekosten. Ob Bedarf besteht, mehr Details zu den Ereignissen auf dem Reiseweg zu erfahren, entscheiden die Anhörer*innen selbst. Die Reihenfolge, in welcher die einzelnen Fragen auftreten, ist nicht streng festgelegt. (2) Die Entscheider*innen unterscheiden sich beim Befragungsstil und der Menge der Fragen.

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Die Anhörung im Asylverfahren (3) Durch die Vergleiche mit den Bearbeitungsstrategien der Phase aus früheren Anhörungen und durch die Befragung von Experten konnte eine Verschiebung der institutionellen Befragungszwecke der Phase ›Befragung zum Reiseweg‹ festgestellt werden. Die Zweckverschiebung schlägt sich in der Durchführung der Anhörung nieder. (4) Zur Zweckverschiebung zählt beispielsweise der Verzicht darauf, durch die Antragsteller*innen mehr Informationen über die Schleuser zu erfahren.

13.2.2

Phase des Anhörungskerns

Die Schutzbedürftigkeit darstellen und die Glaubwürdigkeit der Darsteller*innen überprüfen: In der Anhörung lässt sich der Gesprächskern eindeutig identifizieren. Er ist inhaltlich die »eigentliche Anhörung« und organisatorisch ist er im Anhörungsgespräch an einer bestimmten Stelle platziert. Der Anhörungskern folgt direkt auf der Anhörungssequenz ›Befragung zum Reiseweg‹ und stellt die zweite Phase innerhalb der Anhörungseinheit ›Anhörungsmitte‹ dar. Die Charakterisierung bestimmter Anhörungssequenzen, als »Kern« der Anhörung, wird zum einen retrospektiv in Hinblick auf das ganze Anhörungsgespräch aus der Perspektive der Forscherin verstanden ebenso aus der Perspektive der Beteiligten und der Experten (durch Interviews). Alle Personen, die bezüglich einer allgemeinen Beschreibung des Anhörungsverlaufs befragt wurden, nahmen die Rekonstruktion der Fluchtgeschichte und die Überprüfung der Angaben als den wichtigsten Hauptteil innerhalb der Anhörung wahr. Erst in dieser Phase wird der Asylsuchende aufgefordert »vollständig zu berichten, was passiert ist« (AP: 1, AP: 12, AP: 16, AP: 17). Der Sachvortrag, der nur in dieser Anhörungsphase angehört wird, steht im Zentrum der Beweiswürdigung. In einem Experteninterview bezeichnet ein Anwalt diese Anhörungssequenz als die »eigentliche« Anhörung und hält den Rest der Anhörung für ein »Frage-Antwort-Spiel«: »[…] ein Teil der Anhörung, der wesentliche Teil, kommt nach der Frage: Warum haben Sie Ihr Heimatland verlassen? Da geht es erst los. Alles andere ist Frage Antwort Spiel, da kann man mit ja, nein oder mit kurzen Antworten das auch erledigen. Das ist ja gar nicht das Problem, diese Frage nach den persönlichen Umständen, nach Eltern, nach Ausbildung und so weiter, nach Verwandten in Deutschland, in Europa und in der Heimat, aber die Frage »warum haben sie ihr Heimatland verlassen?«, das ist ja die Entscheidende, also die erst Entscheidende und die zweite Entscheidende nachher ist: Was glauben Sie, was passiert, wenn Sie zurückkehren. In diesen beiden Komplexen ist es sinnvoll, dass der Flüchtling möglichst zusammenhängend ausführlich erzählt, möglichst chronologisch ausführlich erzählt. Die wollen natürlich ja, die wollen zeitnah, also fluchtauslösende Ereignisse erfahren. Das geht aber nicht immer.« (E-Interview Egor). Der individuelle Sachvortrag zur Fluchtgeschichte und seine Bewertung, die im Anhörungsphasenmodell für den Anhörungskern reserviert sind, stellen die wichtigsten Phasen der Anhörung dar. Der Anhörungskern ist die interaktivste Anhörungssequenz und ist durch anspruchsvolle Interaktionsaufgaben gekennzeichnet. Die Bearbeitung dieser Aufgaben ist mit dem Einsatz von mehreren kommunikativen Ressourcen, sprachlichen

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

Formen und Handlungsmustern verbunden, deren Untersuchung in dieser Arbeit angestrebt wird. Auf die ausführliche Analyse des Anhörungskerns wird im diesem Arbeitsabschnitt verzichtet, weil er aufgrund seiner Relevanz und den Forschungszielen einer weiteren empirischen Analysedimension, anhand von Fallbeispielen in Kapiteln (VI.1 und V), unterzogen wird. Dennoch möchte ich an dieser Untersuchungsstelle den Zweck des Anhörungskerns, seine Aufgabenkomplexe und Bestandteile kurz darstellen, sodass diese Anhörungsphase ihren Platz im Anhörungsablaufmodell mit den Zwecken, die ihr zugeschrieben werden, zugewiesen werden kann.

13.2.2.1

Zweck der Kernphase

Anhand der Ausführung zu Anhörungscharakteristiken im Arbeitsabschnitt II (K. 10.2.2; K. 10.3). ist ersichtlich geworden, dass die Generierung von Wissen bezüglich der Fluchtereignisse ein zentrales Charakteristikum für die mündliche Anhörungsverhandlung in Hinblick auf die Entscheidungsfindung darstellt. Die Phase des ›Anhörungskerns‹ ist diesem Zweck am meisten dienlich, weil die Antragsteller*innen in dieser Anhörungsstelle das Rederecht für einen langen Zeitraum haben, in der sie ihre Fluchtgründe erläutern müssen. Hierdurch kann der größte Teil des benötigten Wissens für die Entscheidungsfindung ermittelt werden. Das Wissen, das die Antragsteller*innen in dieser Anhörungsphase über Verfolgungsgeschichten präsentieren, wird von den Institutionsvertreter*innen für die weitere rechtliche Verarbeitung verwendet. Damit kommt dem Anhörungskern für die Wissensgenerierung und verarbeitung eine zentrale Rolle zu. Die Angaben, die während des Anhörungskerns gemacht werden, konstituieren die Grundlage der rechtlichen Prüfung. Die Wissensgenerierung bezüglich der Verfolgungsgeschichten ist ein komplexer Prozess mit mehreren Ebenen, der darauf abzielt, die Wirklichkeit über einen hinterlegten Lebensausschnitt herzustellen: Was wirklich »real« geschah, ist die Realität in reiner Form. Die Antragsteller*innen kennen eher ihre subjektive Realität darüber, was passiert ist.26 Die Außenwelt kann nur so viel Zugang zu der subjektiven Realität des/der Antragstellers*in bekommen, wie er/sie entscheidet preiszugeben bzw. wie die Institution es von ihm/ihr verlangt. Die subjektive Realität stellt eine Wirklichkeit erster Ordnung (vgl. Hoffmann 1997: 200) dar. Eine Erzählung kann die Realität nicht wiedergeben, aber einen Zugang zur materiell prüfbaren Wirklichkeit ermöglichen (vgl. Hoffmann 2002: 80).27 Für Anhörungszwecke wird erzählerisch und sprachlich eine Wirklichkeit hergestellt, die je nach Situation und Strategie von Antragsteller*innen realitätsnah oder realitätsfern ist. Das in der Anhörungssituation sprachlich konstituierte Wissen stellt eine subjektive Wirklichkeit dar, die zu einer für die Verhandlung »brauchbaren« Wirklichkeit wird. Die subjektive Wirklichkeit, die der Sprecher in dem Diskurs 26

27

Die realen Erlebnisse sind die Realität und es ist fragwürdig, ob eine Realität in ihren komplexen Facetten überhaupt ganz wiederherstellbar ist. Denn bei den Rekonstruktionsversuchen vergangener Geschehnisse kann sich die Wahrnehmungen und in der Folge die Darstellungen von Erlebnissen ändern. Auch wenn die Änderung minimal ist, wird kein unmittelbares Abbild vergangener Erfahrungen als »Realität« hergestellt, sondern ein von ihren Erzähler*innen geprägtes Abbild der vergangenen Erfahrungen. Im Gegensatz zur Realität lässt sich die Wirklichkeit durch Erzählen und Darstellen von Geschehnissen wiederherstellen (vgl. Hoffmann 2002:80).

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Die Anhörung im Asylverfahren

ausdrückt, kann als Wirklichkeit zweiter Ordnung bezeichnet werden (vgl. ebenda: 82). Auf dieser zweiten Ebene der Wirklichkeit, die durch die Darstellungen der Asylsuchenden vermittelt wird, baut eine dritte Stufe auf, die im Diskurs als Wirklichkeit dritter Ordnung (vgl. ebenda) geschaffen wird. Diese ist diejenige Wirklichkeit, zu der die Anhörenden durch Interpretation der Äußerungen der Antragsteller*innen gelangen. Da die Wahrheitssuche begrenzt ist, weil der Prozess aufgrund einer vertretbaren Zeit zu einem Ende kommen muss und über den Asylantrag irgendwie entschieden werden muss,28 sind die Anhörenden nicht darauf ausgerichtet, die reale Wahrheit zu erkunden, sondern die rekonstruierte Wirklichkeit zu bewerten, sie auf ihre Logik und Stimmigkeit hin zu überprüfen und daraufhin die Entscheidung zu begründen.

13.2.2.2

Aufgabekomplex des Anhörungskerns

Im Anhörungskern werden verschiedene konstitutive Handlungen zur Realisierung folgender Aufgabekomplexe, eingesetzt: • • • •

Herstellung einer für die Verhandlung brauchbaren Wirklichkeit durch die Rekonstruktion der Fluchtereignissen Bewertung der rekonstruierten Geschichte (Wirklichkeit) danach, ob sie asylrelevant vs. asylirrelevant ist Überprüfung der Glaubwürdigkeit von Antragsteller*innen Einen Entscheidungsentwurf konzipieren, der im Laufe der Ermittlung in eine definitive Entscheidung münden soll

Die Reihenfolge, in der die einzelnen Aktivitäten auftreten, abgesehen von Glaubwürdigkeitsprüfung, die überall eingesetzt werden kann, ist festgelegt. Zwecks der Realisierung dieses Aufgabenkomplexes ist der Anhörungskern in zwei Bestandteile gegliedert, a) Rekonstruierung der Fluchtgeschichte und b) die Überprüfung der Glaubhaftigkeit des Erzählten und die Überprüfung der Glaubwürdigkeit des/der Erzählers*in (Antragsteller*in).29 In der geplanten Analyseschicht in Kapiteln (VI.1 und V) werden diese zwei Bestandteile ausführlich untersucht. Dort wird u.a. gezeigt, welche Anforderung die Fluchtgeschichte erfüllen muss, um als glaubhaft bei den Entscheider*innen eingeschätzt zu werden und wie die Fluchtgeschichten rekonstruiert werden. Es wird darüber hinaus gezeigt, welche Techniken die Anhörer*innen für die Glaubwürdigkeitsprüfung einsetzen und wie die Fluchtgeschichte insgesamt oder in Teilen in Frage gestellt werden können, wie zum Beispiel durch Vorbehalte und das Konfrontieren der Antragsteller*innen mit Ungereimtheiten. Die Interpretationsspielräume der Entscheider*innen bei der Bewertung der Fluchtgeschichte werden thematisiert und exemplarisch analysiert.

28

29

»Das Anerkennungsverfahren soll nicht nur zum richtigen Ergebnis führen, sondern auch so schnell wie möglich beendet sein. Ziel ist es, die Kosten für die Aufwendungen während der Verfahrensdauer […], so niedrig wie möglich zu halten.« (Münch 1993: 41). In der vorliegenden Studie wird einen Unterschied zwischen Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit gemacht (vgl. K. 18.3).

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

In diesem Analyseschritt begnüge ich mich mit der kurzen Skizzierung der Anhörungskernphase, deren Darstellung an dieser Stelle als Platzhalter für den Anhörungskern innerhalb der formellen Anhörungsstruktur verstanden werden soll. Denn im vorliegenden Arbeitsteil III, beginnend mit dem Kapitel 12, soll die Untersuchung des Ablaufmodells chronologisch erfolgen. Durch die kurze Ausführung über den Anhörungskern in dieser Reihenfolge werden die Anhörungsreihenfolge und die lineare Phasenbestimmung eingehalten. Die Kernphase gehört in dem Ablaufmodell der Anhörung genau an diese Stelle. (vgl. Abbildung 4) Nachdem der Anhörungskern abgearbeitet wird,30 wird nach meinem Kategorisierungs- und Phasenunterteilungsprinzip, das einer thematischen und handlungstheoretischen Orientierung folgt, die Anhörungseinheit ›Anhörungsmitte‹ abgeschlossen. Mit der Darlegung der Fluchtgründe und der Überprüfung der Richtigkeit der Angaben sind die ersten wichtigsten Anhörungsbestandteile erläutert. An dieser Anhörungsstelle ist die sogenannte Anhörungsmitte abgeschlossen und die kommenden Anhörungssequenzen werden anderen Anhörungseinheiten zugeordnet. Es wird sich zeigen, dass es in einer Anhörungsverhandlung mehr zur Überprüfung als die Schilderung von vermeintlich asylrelevanten Fluchtgründen gibt. Nach meinem Strukturplan der Anhörungsverhandlung folgen noch zwei Anhörungseinheiten, die vor der Anhörungsbeendung platziert werden: die ›Überprüfung von Fluchtalternativen‹ und die ›Überprüfung von Rückkehrprognose‹.

13.3

Überprüfung von Fluchtalternativen

Bei der Anhörungseinheit ›Überprüfung von Fluchtalternativen‹ wird versucht herauszufinden, ob der/die Antragsteller*in im Herkunftsland Alternativen zur Flucht hätte haben können. Zur Bearbeitung dieses Aufgabekomplexes stellen die Anhörenden unterschiedliche Fragen zur Prüfung des Handelns der Antragsteller*innen im Hinblick darauf, Fluchtalternativen im Heimatland organisiert zu haben. Hier werden die entsprechende Eigeninitiative und die Verantwortlichkeit der Antragsteller*innen angesprochen. Es wird nicht mehr rekonstruiert, wie die Antragsteller*innen gehandelt haben (Flucht) und warum (Asylgründe nennen) und wie (Fluchtweg) sie dies vollzogen haben. Vielmehr wird rückblickend geprüft, ob sie in ihrer Heimat versucht haben, (a) Fluchtalternativen inländisch zu organisieren (z.B. in einem anderen Gebiet im Herkunftsland niederlassen) oder (b) inländischen Schutz zu ersuchen (z.B. Schutz bei Polizei gesucht).

Wenn die Antragsteller*innen ihre Eigeninitiative zum Handeln (vor der Flucht im Zielland etwas gegen Verfolgung im Heimatland unternommen zu haben) sichtbar gemacht haben, soll erklärt werden, warum ihre Versuche nicht zum Erfolg führten. Falls die Antragsteller*innen zugestehen, dass sie inländisch keinen Schutz gesucht haben, stehen sie in der Pflicht, Argumente dafür zu liefern, warum sie diese Handlung unterlassen haben. 30

Wie die Anhörungskern bearbeitet wird, wird detailliert in den Arbeitsabschnitten IV; V gezeigt.

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Die Anhörung im Asylverfahren

Aufgrund der obigen Aufführung ist erkennbar, dass die Anhörungseinheit ›Überprüfung von Fluchtalternativen‹ aus zwei Phasen besteht; eine bezieht sich auf die inländische Schutzsuche und die zweite auf die Niederlassung in einem anderen Gebiet im Herkunftsland.

13.3.1

Befragung zu inländischen Schutzsuche

Die Phase der ›Befragung zur inländischen Schutzsuche‹ ist die erste Phase innerhalb der Anhörungseinheit ›Überprüfung von Fluchtalternativen‹. Sie wird anhand von folgenden drei Beispielen analysiert. Dadurch kann verfolgt werden, wie die Phase sprachlich realisiert wird und welcher Zweck hat sie zu erfüllen Nasir & Borschert (Anhörungsprotokoll: 3) A: Haben Sie bei der Polizei Schutz gesucht? AB: Nein. A: Warum haben Sie nicht bei der Polizei Schutz gesucht? AB: Polizei, Regierung, Milizen haben alle das gleiche Ziel, ISIS zu bekämpfen. A: Haben Sie versucht innerhalb [Herkunftsland] umzuziehen, um der Gefahr zu entfliehen? AB: Nein. Wir waren aus […] wegen des Kriegs […] gezogen und wir wollten nicht wieder] in den Krieg ziehen. Wir sind grundsätzlich gegen Krieg, Kampf und Blutvergießen und Kampfaufrufe gegen die ISIS. Es herrscht Krieg im Lande und es ist überall das Gleiche. (AP:3). Rafiq & Röpke (Anhörungsprotokoll 6) A: Waren Sie bei der Polizei? AB: Nein. Das bringt da nichts. Keiner kann etwas gegen […] machen. A: Warum könnten Sie sich nicht in einem anderen Teil oder in einer anderen Stadt […] niederlassen? AB: Man kann sich nicht in […] vor denen verstecken. Ein […] namens […] wurde seitens der […] Regierung festgenommen. Die […] haben dann die […] Regierung gewarnt und gesagt, falls ihm was passiert, dann werdet ihr mit uns zu tun haben- Dieser Mann ist wieder frei. A: Aber nun ist Ihre Person und die Tätigkeit, die Sie in […] ausübten, ja nicht so bedeutend, dass die […] ein derart großes Interesse an Ihnen haben könnten, Sie in ganz […] zu verfolgen? AB: Die Leute, die bei den Ausländern arbeiten, z.B. ich, werden von den […] gesucht, sie sind gesucht von […]. Sie werden von den […] festgenommen und dann zur Selbstexplosion missbraucht. (AP: 6). Husam & Grube (Anhörungsprotokoll: 9) A: Haben Sie sich irgendwo beschwert, als Sie von dem Polizisten geschlagen wurden? AB: Nein, denn sie werden sagen, dass ich der Schuldige bin […] A: Haben Sie Ihren Eltern davon erzählt? AB: Nein. Ich möchte nicht, dass dieses Problem größer wird.

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

A: Haben Sie seine Bedrohungen angezeigt? AB: Nein. Er arbeitet beim Militär. In unserem Land arbeiten Polizei und Militär zusammen und wenn ich ihn anzeige, wird meine Anzeige nicht ernst genommen. A: Haben Sie die Bedrohung an einer anderen Stelle angezeigt? AB: Nein. A: Hätten Sie innerhalb des [Herkunftsland] umziehen können? AB: Nein, ich habe niemanden dort. In Deutschland ist es nicht wie […]. Dort gibt es keine Sicherheit. Jeder kann mich angreifen. (AP: 9). Die Antragsteller*innen sind in den Anhörungsphasen davor auf die Schilderung ihrer Fluchtgründe konzentriert und erklären bis zu diesem Anhörungsbestandteil noch nicht, ob sie inländische Fluchtalternativen organisiert haben, bevor sie ins Aufnahmeland geflohen sind. Nachdem die Asylsuchende ihre Fluchtgründe genannt haben und die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen geprüft wurde, müssen die Anhörer*innen an dieser Stelle der Anhörungsverhandlung klären, ob die Asylsuchenden inländische Fluchtalternativen zu organisieren versuchten. Die Ergebnisse dieser Fragen werden in die Entscheidung über den Asylantrag mit einfließen, wie es ausführlicher in der Anhörungsphase ›Befragung zur Rückkehrprognose‹ erläutert wird. Was sich in allen oben genannten Beispielen auf den ersten Blick eindeutig beobachten lässt, ist, dass (a) alle drei Antragsteller gefragt wurden, ob sie bei der Polizei waren und dort Schutz gesucht haben, und (b) alle befragten Antragsteller dies verneinen.

Mit Fragen, wie »Haben Sie bei der Polizei Schutz gesucht?« (AP: 3), »Haben Sie sich irgendwo beschwert« (AP: 9), »Waren Sie bei der Polizei?« (AP: 6) soll zuerst das aktive Handeln der Antragsteller überprüft werden, ob sie durch den eigenen Einsatz ein zu erwartendes positives Handeln (bei irgendeiner staatlichen Autorität Unterstützung suchen), durch das die Flucht ins Ausland abgewendet worden wäre, unterlassen haben. Da Hierzulande nach normativer Betrachtung und bei Berücksichtigung des sozialen Handlungssinnes die Schutzsuche bei staatlichen Autoritäten (z.B. Polizei) als positives aktives Tun bewertet wird, wird das Unterlassen solchen Handelns als erklärungsbedürftig gedeutet. Da den Antragsteller in den angeführten Beispielen das Unterlassen staatliche Autoritäten zur Unterstützung aufzusuchen, aufgrund ihrer eigenen Angaben nachgewiesen wird, müssen sie für diese unterlassene Handlung Begründungen liefern. Indikator dafür ist die Frage, die das Feststellen des Unterlassens folgt: z.B. »Warum haben Sie nicht bei der Polizei Schutz gesucht?« Durch »Warum« wird eine Begründung an die Antragsteller initiiert, warum sie keinen Schutz bei der Polizei im Herkunftsland gesucht haben. Die Asylsuchenden berufen sich einheitlich bei der Begründung der unterlassenen Handlungen, trotz der verschiedenen Herkunftsländer und der unterschiedlichen Fluchtmotiven, auf ihre eigenen Erfahrungen mit dem staatlichen Sicherheitssystem in ihren Ländern. Dabei begründen sie ihre Handlungsunterlassung durch den Hinweis auf die inländische Ordnung und die Aufgaben der Polizei in ihren Heimatländern, die die Antragsteller aus persönlichen Erfahrungen als »nutzlos«, »Komplize der Regierung und der Milizen« oder »Nicht Stehen auf der Seite der Bürger«

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Die Anhörung im Asylverfahren

einschätzen. Der Antragsteller (Rafiq) in der Anhörung 6 bestätigt, dass die Polizei und andere Behörden selbst gegen die aufständischen Gruppen hilflos sind: »Das bringt da nichts. Keiner kann etwas gegen die Taliban machen« (AP: 6). Der andere Antragsteller (Husam) in der Anhörung 9 unterstellt der Polizei, dass sie den Betroffenen die Schuld geben würden: »Sie [die Polizei] werden sagen, dass ich der Schuldige bin und dann wird eine große Geschichte daraus gemacht« (AP: 9). Ein weiterer Grund, der erklären soll, warum man kein Schutz bei der Polizei sucht, erwähnt der Asylbewerber (Nasir) in der Anhörung 3: Die Polizei und weitere autoritäre Systeme haben ein gemeinsames Ziel, gegen das der Antragsteller sich positioniert: »Polizei, Regierung, Milizen haben alle das gleiche Ziel, ISIS zu bekämpfen« (AP: 3). Interessant ist, dass in diesen und in weiteren Beispielen im Korpus die Begründungen der unterlassenen Handlung durch die Asylbewerber*innen nicht durch Alternativbehauptung, Gegeneinschätzung oder Gegenbehauptung seitens der Anhörenden bestritten werden.

13.3.2

Niederlassung in einem anderen Gebiet im Herkunftsland

Ist die erste Phase mit der oben beschriebenen Begründung abgearbeitet, folgt die zweite Phase ›Befragung zu inländischen Fluchtalternativen‹. In dieser müssen die Asylsuchenden dazu Stellung nehmen, ob sie versucht haben, innerhalb des Herkunftslandes umzuziehen, um der Gefährdung oder Verfolgung zu entfliehen. Haben sie dies auch unterlassen, stehen sie in der Pflicht, die unterlassene Handlung zu begründen: »Haben Sie versucht innerhalb […] umzuziehen, um der Gefahr zu entfliehen?« (AP: 3), »Warum könnten Sie sich nicht in einem anderen Teil oder in einer anderen Stadt […], z.B. […], niederlassen?« und »Hätten Sie innerhalb des […] umziehen können?« (AP: 9). Die Anhörenden zielen inhaltlich auf das Gleiche ab, aber unterscheiden sich bei der Formulierung: Während Herr Borschert in Anhörung 3 eine Entscheidungsfrage formuliert und seine Kollegin Frau Grube in der Anhörung 9 eine Entscheidungsfrage in der Konjunktivform auswählt, fragt Frau Röpke direkt »warum« der Asylsuchende sich nicht in einer anderen Stadt […] niederlassen konnte, ohne vorher zu fragen, ob Rafiq dies versucht hätte. Die Antragsteller haben die gleiche Botschaft vermittelt: Keiner der vorgestellten Asylbewerber*innen und derer im ganzen Korpus (mit der Ausnahme Badr in Anhörung 5), hat den Versuch unternommen, inländisch der Gefahr zu entfliehen. Wie bei der Phase zuvor ›Befragung zur inländischen Schutzsuche‹ begründen die Antragsteller*innen die unterlassene Handlung hier auch mit den eigenen Erfahrungen bezüglich der Umstände in ihrer Heimat. Sie sehen sich als Fachkundige über die Normen in ihren Ländern und meinen in der Lage zu sein, einen Vergleich zu Deutschland zu aufzustellen: »In Deutschland ist es nicht wie in […]. In […] gibt es keine Sicherheit. Jeder kann mich angreifen« (AP: 9), »Bei uns ist es ganz anders. Es ist nicht wie hier; es gibt dort keinen Kodex« (AP: 13). Die Antragsteller spielen die Rolle der Experten. die durch die Vergleiche zwischen »Hier und Dort« neues Wissen über die dortigen Sicherheitsregeln hinzufügen. Rafiq bekräftigt in der Anhörung 6 seine allgemeine Einschätzung, dass die Taliban großen Einfluss haben und man sich in Afghanistan nicht vor den Taliban verstecken könne, mit der Erzählung von einem illustrativen Fallbeispiel:

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

»Ein Taliban namens […] wurde seitens der afghanischen Regierung festgenommen. Die Taliban haben dann die afghanische Regierung gewarnt und gesagt, falls ihm was passiert, dann werdet ihr mit uns zu tun haben- Dieser Mann musste nur für acht Monate in Haft und danach ist er wieder frei, nur weil die Regierung Angst vor die Taliban hat.« (AP: 6). Mit dem Beispiel sagt Rafiq: Wenn die Regierung selbst von der Taliban bedroht werden kann, kann sie eine Privatperson (den Antragsteller) nicht schützen, auch wenn man sich vor ihnen gut versteckt. Somit begründet er seine Annahme »Man kann sich nicht in Afghanistan vor denen verstecken« durch eine implizierte Gegenüberstellung, die sich aus dem angeführten Beispiel herleiten lässt. Rafiq erkennt der Regierung und ihrem Sicherheitssystem die Schutzfunktion vor den Taliban ab und in der Folge auch für seine Person. Sein Erzähleinschub über ein gefangenes Taliban-Mitglied erläutert den Zusammenhang zwischen seiner Annahme und seinem Verhalten und dient gleichzeitig als Begründung für seine Annahme »die Regierung könne keinem helfen«. Frau Röpke lässt einen Einblick in ihre Einschätzung über die gelieferten Begründungen zu, indem sie ihre Gegeneinschätzung offenbart. Dadurch bestreitet sie nicht nur die Annahme, dass die Taliban nach dem Asylbewerber überall suchen würden, sondern den gesamten Sachverhalt: »Aber nun ist Ihre Person und die Tätigkeit, die Sie […] ausübten ja nicht so bedeutend, dass die Taliban ein derart großes Interesse an Ihnen haben könnten, Sie in ganz […] zu verfolgen?« (P: 6). Mit dieser Formulierung greift Frau Röpke die Selbsteinschätzung von Rafiq an, indem sie ihm zu verstehen gibt, dass er sich nicht so wichtig nehmen solle, dass er »in ganz (Land)« verfolgt werden würde. Die hier analysierten Beispiele, bezüglich der Befragung nach Fluchtalternativen im Inland, dienen als Stellvertretung für weitere Beispiele im Korpus, womit dieser Abschnitt abgeschlossen wird. Daran schließt die vierte Anhörungseinheit ›Befragung zur Rückkehrprognose« an, die thematisch mit der eben untersuchten Anhörungseinheit eng zusammenhängt. Beide Anhörungseinheiten dienen gemeinsam der Bearbeitung der Frage, ob die Asylgewährung die einzige Alternative für ein unversehrtes Leben des Antragstellers ist. Bevor die kommende Einheit ›Befragung zur Rückkehrprognose‹ analysiert wird, möchte ich den Hintergrund für meine Überlegung, einen Zusammenhang zwischen den beiden Anhörungseinheiten herzustellen, erläutern. Wie hängen die Anhörungseinheit ›Überprüfung von Fluchtalternativen‹ mit der Anhörungseinheit ›Befragung zur Rückkehrprognose‹ zusammen? Um in Erfahrung zu bringen, ob die Asylgewährung die einzige Alternative für den Antragsteller darstellt, eine Existenz in Sicherheit für Leib und Leben führen zu können, werden bei den Befragungen zwei unterschiedliche Richtungen in Betracht gezogen: Einerseits wird nach der erschöpften Fluchtalternative in der Vergangenheit (vor der Flucht), »wo man Schutz hätte suchen sollen« gefragt. Andererseits wird nach möglichen in der Zukunft bestehenden Gefahren gefragt, d.h. ob die Gefahren, vor den die Antragsteller*innen geflohen sind, noch bestehen und/oder ob andere zukünftige Ge-

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Die Anhörung im Asylverfahren

fährdungen bei der Rückkehr zu erwarten wären. Daher hat jede Person, die ihr Asylgesuch anerkannt sehen will, sich in der Anhörung glaubhaft zu positionieren, dass (a) ihr keine Fluchtalternative innerhalb des Herkunftslandes oder sonstiger Schutz vor Verfolgung möglich war, (b) sie keine Schutzalternative, außer die Aufnahme im Zielland, hatte/hat, (c) ihr Leben im Herkunftsland weiterhin in Gefahr sein wird.

Die Frage nach dem Vergangenen, ob man sich um eine inländische Fluchtalternative gekümmert habe, ist der vorherigen Anhörungseinheit ›Überprüfung der inländischen Fluchtalternative‹ angesiedelt und die Überprüfung der zukünftigen Gefährdung wird in der kommenden Einheit ›Befragung zu Rückkehrprognose‹ bearbeitet.

13.4

Befragung zur Rückkehrprognose

Die Entscheidung, ob ein/eine Asylbewerber/in als schutzbedürftig eingestuft wird oder nicht, wird in den vorherigen Anhörungsphasen (nach der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte und ihre Bewertung) stillschweigend getroffen oder der/die Anhörer/in nähert sich einer Entscheidungsdrift an. Für eine definitive Entscheidung bezüglich einer der Schutzgewährungskategorien muss im Rahmen der Schutzüberprüfung eine Rückkehrprognose anhand der Einschätzung über die bevorstehende Gefahr in der Heimat getroffen werden. Für diesen Zweck ist die Anhörungseinheit der ›Befragung zur Rückkehrprognose ›angelegt. Es handelt sich dabei, wie das Wort ›Prognose‹ schon sagt, um eine Einschätzung über die Möglichkeit des Auftretens eines zukünftigen Ereignisses. Diese Anhörungsphase ist aus juristischer Sicht die zweitwichtigste Anhörungsphase nach dem Anhörungskern, wie dem folgenden Zitat aus einem E-Interview zu entnehmen ist: Die erste entscheidende Frage ist: »Warum haben Sie ihr Heimatland verlassen? Die zweite Entscheidende nachher ist die: Was glauben Sie, was passiert, wenn Sie zurückkehren?« (E-Interview Egor). Die Frage zur Rückkehrprognose ist ausschlaggebend, da aufgrund des Wissens, das in dieser Befragungsphase generiert wird, die ersten Entscheidungsdrift, die im Laufe der Anhörung (vor den Fragen zur Rückkehrprognose) entworfen wurden, nach dieser Phase korrigiert werden könnten: Angenommen der/die Entscheider*in kommt während der Anhörung, aufgrund der geschilderten Fluchtgeschichte zum Ergebnis, dass der angehörten Person Asyl gewährt werden könnte (Entscheidungsdrift). Bei den Fragen zur Rückkehrprognose stellt er/sie fest, dass die Fluchtgründe, die den/die Antragsteller*in veranlasst haben, einen Asylantrag zu stellen, inzwischen in seinem/ihrem Heimatland aufgehoben sind. In so einem Fall müssten Personen, die aufgrund ihrer Fluchtgeschichte potenziell anerkannte Asylbewerber*innen wären, dennoch abgelehnt werden. Hingegen können die vorgetragenen Fluchtgründe von anderen Asylbewerber*innen nicht überzeugend sein oder sich als asylirrelevant erweisen, demzufolge müssten sie theoretisch abgelehnt werden (Entscheidungsdrift). Aufgrund von Abschie-

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

bungshindernissen, die erst in der Phase ›Befragung zur Rückkehrprognose‹ festgestellt werden, können die negativen Entscheidungen, in für die Antragsteller*innen positive Entscheidungen, umgeformt werden, indem sie die vierte Schutzkategorie (vgl. K. 8.2) erhalten. In dieser Phase kann somit eine Neuausrichtung der Entscheidungsgrundlage hergestellt werden, was diese Phase zur zweitwichtigsten Phase in der Anhörung macht. Sie wird bei allen (abzulehnenden oder anzuerkennenden) Asylbewerber*innen durchgeführt, allerdings mit verschiedenen Ausrichtungen: (a) Im Falle, dass aufgrund der Antragsteller*innenschilderung zu den Fluchtgründen die Asylgewährung in Erwägung gezogen werden kann, muss überprüft werden, ob die Gefahr, vor der der/die Antragsteller*in geflohen ist, bei einer eventuellen Rückkehr noch besteht. (b) Andernfalls, wenn der/die Anhörer*in noch nicht entschlossen ist, wie der Fall ausgeht oder vermutet, dass dem/der angehörten Asylbewerber*in kein Asyl gewährt wird, muss geprüft werden, ob ein Abschiebungshindernis vorliegt (vgl. K. 8.2.3 und s. unten). Die Anhörungseinheit ›Befragung zur Rückkehrprognose‹ ist folglich in zwei Phasen strukturiert: (1) Befragung zu potenziellen Gefahren bei einer Rückkehr (2) Überprüfung der Abschiebungshindernisse.

13.4.1

Befragung zu potenziellen Gefahren bei einer Rückkehr

Verfolgt man, wie die Anhörung von der Eröffnung bis zu dieser Phase verläuft, wird evident, nach welcher Chronologie die Anhörungsgespräche aufgebaut sind. Im Anschluss an die vorherigen Phasen, in denen Wissen darüber generiert wird, was zur Verfolgung geführt hat und wie die Asylbewerber*innen es geschafft haben, der Verfolgung oder Bedrohung zu entfliehen, geht es in dieser Anhörungssequenz darum, Prognoseentscheidungen zu treffen: Besteht noch die ursprüngliche Gefahr, vor der die geflüchtete Person geflohen ist? Sind die Fluchtgründe inzwischen aufgehoben worden? Sind vielleicht andere Gefahren dazu gekommen? Eine Schutzgewährung kann erst erfolgen, wenn aus der Anhörung hervorgeht, dass eine Gefahr bei der Rückkehr bevorsteht.31 Deshalb müssen Asylbewerber*innen bei der Darstellung ihrer Fluchtgeschichte vor Augen haben, dass die Fluchtgeschichte so vermittelt wird, dass eine Verbindung zwischen Gefahr in der Vergangenheit und dem Weiterbestehen der individuellen Bedrohung in der Gegenwart und in der nächsten Zukunft entsteht. Die Befürchtungen um das Leben, die die Antragsteller*innen zuvor (beim Anhörungskern) an

31

Da ein Asylverfahren 2-3 Jahren dauern kann, bis eine Entscheidung getroffen wird, ist es nicht ausgeschlossen, dass das Fluchtmotiv einer geflohenen Person von 2015, im Jahre 2017, in dem die Entscheidung getroffen wird, schon aufgehoben ist. Ein Fall, den ich persönlich kenne, mag hier erwähnt werden: Ein irakischer Asylbewerber, der als von Sadams Regime verfolgter Schiit, seine Verfolgung geltend machen konnte. Kurz nach der Entscheidung für die Schutzgewährung wurde Saddams Regime gestürzt. Der anerkannte Flüchtling wurden zur Ausreise aufgefordert, weil die Gefahr, vor der er floh, nicht mehr vorhanden war.

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Die Anhörung im Asylverfahren

einem konkreten Verfolgungsschicksal als Fluchtgrund deutlich gemacht haben, müssen als weiterbestehende Gründe bewertet werden, damit ihnen Schutz gewährt wird. In vorliegender Anhörungsphase ›Befragung zu den potenziellen Gefahren bei einer Rückkehr‹ werden die Antragsteller*innen dazu direkt befragt, (a) welchen Gefahren sie ausgesetzt sein könnten, wenn sie zurückkehren und (b) ob sie sich in einem anderen Gebiet im Herkunftsland sicher niederlassen könnten. Diese Fragen verlangen eine Wahrscheinlichkeitseinschätzung der Asylsuchenden über zukünftige Handlungen in ihren Herkunftsländern, die ebenfalls begründet werden sollen. Auch wenn solche Einschätzungen über zukünftige Handlungen nicht sicher getroffen werden können, soll der/die Antragsteller*in trotzdem in der aktuellen Sprechsituation konkretes Risiko bezüglich einer zukünftigen Gefahr für Leib und Leben darlegen. Diesem Risiko soll der/die Antragsteller*in Relevanz verleihen, indem er/sie • • •

die Wahrscheinlichkeitseinschätzung der Gefahren als ein »ernsthaftes Risiko« darstellt, das Element der »Konkretheit« der Gefahr individualbezogen bezüglich einer erheblichen Gefährdungssituation deutlich macht (vgl. Dienstanweisung 2016: 18f), eine hinreichende zeitliche Nähe zwischen Rückkehr und einem unausweichlichen, lebensbedrohenden Zustand begründet wird. Die zu drohende Gefahr muss mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat eintreten (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.11.1997).

Können die Wahrscheinlichkeitseinschätzungen der Antragstellers*innen über die Gefahren nicht die erwarteten Kriterien erfüllen, werden ihren Asylanträge abgelehnt, mit Begründungen wie: »Dem Antragsteller droht im Falle der Rückkehr […] keine Verfolgung« (Asylbescheid Nr.: 6) Oder »Ebenso fehlen Gründe für die Annahme, dass bei Abschiebung des Antragstellers eine Verletzung des Art.4 der EU-Grundrechtecharta vorliegt, [weil] für den Ausländer [k]eine erhebliche und konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht« (Asylbescheid Nr.:10). Wie die Phase ›Befragung zu potenziellen Gefahren bei einer Rückkehr‹ sprachlich realisiert wird, wird im Folgenden am Material gezeigt.

13.4.1.1

Fallbeispiele: Anhörungen 8, 10 und 17

  Auszug aus der Anhörungsprotokoll (8): A: Was fürchten Sie, wenn Sie zurückkehren? AB: Wenn nicht getötet, dann lange Zeit im Gefängnis. A: Ich muss doch trotzdem nachfragen: Warum glauben Sie, dass Sie getötet werden, wenn Sie zurückkehren? AB: Das ist so, wenn ich zurückkehre, werden sie mir unterstellen, ich wäre […] und half

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

Leuten […], um sie in den Krieg zu ziehen. Unabhängig davon bin ich als […] verdächtig, so dass ich getötet werden sollte. (P: 8). Mit der typischen Frage für diese Phase eröffnet Frau Storm diese Sequenz und fragt Ebro: »Was fürchten Sie, wenn Sie zurückkehren?« (P: 8) Ebro, wie die meisten Antragsteller*innen, schätzt, dass ihn der Tod oder das Gefängnis erwartet. Frau Storm gibt sich mit der üblichen Prognose, die die meisten Asylsuchenden an dieser Stelle anführen, nicht zufrieden und möchte für eine solche Vermutung Gründe wissen. Dabei bezieht sich Frau Storm mit der Formulierung »Ich muss doch trotzdem nachfragen« (A: 8) auf ihre eigene Weisungsgebundenheit. Vor allem durch die Verwendung des Modalverbs ›müssen‹ in der Verbindung mit dem Abtönungspartikel ›doch‹, die der Äußerung Nachdruck verleihen und dem konzessiven Konnektor ›trotzdem‹, bekräftigt Frau Storm ihre Weisungsgebundenheit, als müsse sie solche Fragen aufgrund institutioneller Vorgaben stellen. Die Verwendung des Ausdrucks ›trotzdem‹, der als eine konzessive Relation zwischen dem vorher Gesagten (Antwort des Antragstellers) und ihrer Nachfrage herstellt, ist ein Indiz dafür, dass Frau Storm auf Ebros vorherige Aussage mit Verständnis eingeht und die Institution bzw. Institutionsvorgabe für weitere Fragen verantwortlich macht. Die Verknüpfung in dieser Art liefert dem Antragsteller die Hintergrundannahme von Frau Storm, die lauten könnte: Ich verstehe Sie, aber aufgrund der Anweisungen muss ich nachfragen. An dieser Stelle und an weiteren Stellen in dieser Anhörung (vgl. Beispiel 2: Anhörung 8) markiert Frau Storm ihre Arbeitsstruktur als etwas, das sie nach institutionellen Vorgaben durchführen muss. Im Gegensatz zu ihr beruft sich in Anhörung 3 Herr Borschert, dessen Anhörungsmethode weisungsgebundener und kataloggetreuer ist als die von Frau Storm, an keiner Stelle der Anhörung auf diese Weisungsgebundenheit. Ebro stellt eine konkrete individuelle Gefahrensituation dar, die seiner Prognose eine gewichtige Indizienwirkung verleiht. In einem Konditionalsatz, der auf die Zukunft referiert, offenbart er, was ihm unterstellt werden könnte: »Wenn ich zurückkehre, werden sie mir unterstellen, ich wäre in einer […] und half Leuten […], um sie in den Krieg zu ziehen« (AP: 8). Durch die Antwort von Ebro wird deutlich, dass die vermeintliche Unterstellung nicht erst zur Fragebeantwortung ad hoc hergeleitet ist, sondern dass sie mit seinen Fluchtgründen und mit seiner Arbeit und Verantwortung im Herkunftsland zusammenhängt. Er nimmt Bezug auf die erste Sorge, aufgrund der er sein Land verlassen hat und bekräftigt, dass die fluchtauslösende Befürchtung noch besteht. Mit der Verwendung des Ausdruckes »unabhängig davon« (AP: 8) in der Nachfolgeäußerung »Unabhängig davon bin ich als […] verdächtig, so dass ich getötet werden sollte.« (Ebenda) verweist Ebro auf bereits formuliertes Wissen (Er wird beschuldigt ein [Terrorist]32 zu sein und deshalb verfolgt zu werden), von dem er annimmt, dass dies als Fluchtgrund schon anerkannt ist. Er erwähnt weitere Gefahren, die dazu kommen könnten (Tod, Gefängnis) und bringt die fluchtauslösenden Gründe mit der vermeintlichen Unterstellung, die ihm im Herkunftsland erwartet, als Begründung dafür, dass der Fluchtgrund weiterbesteht, in

32

Terrorist ist nicht die tatsächliche Beschuldigung, die dem Antragsteller vorgeworfen wird, sondern fiktiv, um die Identität der Asylsuchenden zu schützen.

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Die Anhörung im Asylverfahren

einen plausiblen nachvollziehbaren Zusammenhang. So wäre er einem ›ernsthaften Risiko‹ der Gefährdung von Leib und Leben bei einer Rückkehr ausgesetzt. Damit zeigt Ebro seine Erzählkompetenz, in der Sprechsituation eine Verbindung zwischen seinem Fluchtgrund und dem weiterbestehenden Schutzbedarf argumentativ herzustellen. Im Gegensatz zu Ebro gibt Mona in der Anhörung 17 auf die Frage nach Gefahren im Falle der Rückkehr keine spezifische Gefahr an, die an ihre Person gebunden ist, sondern bezieht ihre Einschätzung über noch bestehende Gefahren auf die allgemeine Situation im Herkunftsland: A: Was befürchten Sie bei der Rückkehr nach […]? AB: Ich befürchte weitere wahllose Bombenanschläge und habe Angst vor dem Krieg und dem Tod. (AP: 17). In dieser Anhörung wird die nicht individuelle Angabe Monas als relevant betrachtet, weil sie aus einem Kriegsgebiet kommt. Nicht jeder Anhörende gibt sich mit einer solchen unpersönlichen und allgemein formulierten Aussage zufrieden, auch dann nicht, wenn die Asylbewerber*innen aus einem Kriegsgebiet kommen. Sie fragen trotzdem nach den persönlichen Schwierigkeiten, die bei einer Rückkehr auftreten könnten, wie es in den Anhörungen 2 und 10 der Fall ist: A: Warum befürchten Sie persönliche Schwierigkeiten bei einer Rückkehr nach […]? AB: Befragungen und Anhörungen durch den syrischen Sicherheitsdienst, weil wir nach […] gegangen sind. Ich wäre bestimmt der Gefahr ausgesetzt, als Rebellin oder Oppositionelle eingestuft und verhaftet zu werden. (P: 10) Herr Hamann fragt Anisah nach einer Konkretisierung der bevorstehenden Gefahr, obwohl sie ebenfalls aus Syrien kommt. Anisah beantwortet die Nachfrage präzise und beschreibt mehrere konkrete Gefahrensituationen (wie Befragungen und Anhörungen durch den syrischen Sicherheitsdienst […] als Rebellin oder Oppositionelle verhaftet zu werden), die ernsthafte Gefährdungen mit sich bringen könnten, denen sie bei einer Rückkehr ausgesetzt wäre. Die gleiche Frage »Warum befürchten Sie persönlich Schwierigkeiten bei einer Rückkehr in den […]?« (P:15) wird mit der allgemeinen Situationsbeschreibung des Landes beantwortet: »Es gibt keine richtige Regierung, es gibt kein richtiges System im […]« (P: 15). Solch vage Antworten können bei der Entscheidung nicht zugunsten der Asylbewerber*innen berücksichtigt werden (s. unten). Zusammengefasst sind die Fragen zu den Befürchtungen bei der Rückkehr und deren Gründe Standardfragen in dieser Phase. Die meisten Antragsteller*innen beantworten sie mit dem Hinweis auf zu erwarteten Tod oder Gefängnis und Folter. In einigen Anhörungen wird nur eine Frage gestellt, wie in der Anhörung 17 oder es wird detaillierter danach gefragt, warum Antragsteller*innen mit diesen Gefahren rechnen, wie das kommende Beispiel belegt. Fallbeispiel aus Anhörung 3 A: Was befürchten Sie bei der Rückkehr in die [Heimatland]? AB: Entweder kämpfen oder getötet werden. Ich glaube eher getötet werden, weil ich nicht mitkämpfen wollte. A: Woher wissen Sie, dass, was Sie befürchten, Ihnen ja auch geschehen würde?

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

AB: Weil sie hinter mir her sind. Sie wissen jetzt, dass ich geflohen bin. A: Woher werden diese Leute, die hinter Ihnen her sind, wissen, dass Sie wieder zurück sind? AB: Ich denke sofort, wenn ich im Flughafen lande und bei der Passkontrolle. A: Aber die Mitarbeiter im Flughafen werden nicht die bewaffneten Gruppen informieren, dass Sie zurück sind AB: Doch, sie arbeiten alle zusammen und ich bin jetzt ein Verräter, weil ich nicht mitkämpfen wollte und wenn ich zurück komme bleibt mir nichts übrig als den Tod Auf die Standardfrage am Sequenzbeginn »Was befürchten Sie bei der Rückkehr« (AP: 3) antwortet Nasir, dass er gegen seinen Willen kämpfen müsste oder ihn der Tod erwartet. Mit dem ersten Äußerungsteil, »Entweder kämpfen oder getötet werden« (ebenda), nimmt Nasir Bezug auf sein Fluchtmotiv, da er als Kriegsdienstverweigerer geflohen ist. Die ganze Anhörung ist auf die Klärung und Überprüfung dieses Fluchtmotivs ausgerichtet. Herr Borschert möchte den Wahrscheinlichkeitsgrad von Nasirs Aussage über die zukünftige Prognose beurteilen, indem er erfahren will, worauf die Annahmen von Nasir, dass er kämpfen müsse oder getötet werden würde, basieren; auf sicheren Informationen oder bloß auf einer persönlichen Einschätzung. Daher fragt er Nasir: »Woher wissen Sie, dass, was Sie befürchten, Ihnen ja auch geschehen würde?« (ebenda). Hiermit fragt Herr Borschert einen Beweis für Nasirs Annahme ab und verwendet dafür das Verb ›wissen‹, das gesicherte Quellen abverlangt. Nasir gibt keine konkrete Quellenangabe, worauf seine Prognose beruht, sondern verbalisiert eine neue Information, die wieder auf einer persönlichen Einschätzung (weil sie [Verfolger] hinter mir her sind) basiert, anstatt eine Informationsquelle als Begründung für seine Befürchtungen zu liefern. Mit diesem Grund »[…], weil sie hinter mir her sind« (ebenda) gibt Nasir eine Standardantwort (aus den Daten entnommen), mit der viele Antragsteller*innen oft zur Kenntnis geben, dass die Verfolgung immer noch de facto gegenwärtig ist. Herr Borschert bestreitet nicht – zumindest nicht durch direkte Gegenargumente –, dass diese Prognose stimmt. Er lässt Nasirs Aussage zunächst gelten und hakt trotzdem auf andere Weise nach. Er verlangt erneut eine Evidenz dafür, woher die vermeintlichen Verfolger, die immer noch hinter Nasir her sind, wissen könnten, dass er zurück ist: »Woher werden [sie] wissen, dass Sie [Nasir] wieder zurück sind?« (AP: 3). Das erneute Evidenzverlangen nach gesicherten Quellen »Woher werden [sie] […] wissen« (ebenda) kommt Nasir mit einer Eigenvermutung entgegen: »Ich denke sofort, wenn ich im Flughafen lande« (ebenda). Die Verwendung des Verbs ›denken‹, das in diesem Zusammenhang eine Annahme ausdrückt, zeigt, dass seine Äußerung zum dritten Mal in Folge auf einer Vermutung aufbaut. Zugleich verleiht Nasir der Ungewissheit, die seiner Vermutung immanent ist, etwa Gewissheit, die durch den Verweis auf praktische Handlung eines offiziellen bürokratischen Aktes der ›Passkontrolle‹ am Flughafen im Abschiebeland nachvollziehbar wird: »Ich denke sofort, wenn ich im Flughafen lande und bei der Passkontrolle.« (P: 3). Damit sagt Nasir aus, dass er als geflohener Kriegsdienstverweigerer registriert ist und sobald sein Name bei der Passkontrolle am Flughafen auftaucht, würde dies ersichtlich werden. Herr Borschert bestreitet den Inhalt dieser Aussage nicht gänzlich, sondern zweifelt die vorangegangene Annahme von Nasir an, dass die Mitarbeiter*innen am Flughafen die bewaffneten Gruppen informieren wür-

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Die Anhörung im Asylverfahren

den. Die Gegeneinschätzung leitet Herr Borschert mit der adversativen Konjunktion ›aber‹ ein: »Aber die Mitarbeiter im Flughafen werden nicht die bewaffneten Gruppen informieren, dass Sie zurück sind« (AP: 3) und drückt damit seine konträre Position zu Nasirs Annahme aus. Gleichzeitig ist die Äußerung als eine Aufforderung zur Replik zu verstehen; mit ihr wird eine Frage initiiert: ›Würden die Mitarbeiter im Flughafen die bewaffneten Gruppen informieren, dass Sie zurück sind?‹ Auf die Aufforderung entgegnet Nasir: »Doch sie arbeiten alle zusammen« (ebenda), was als Antwort, ebenso wie als Gegenbehauptung, gesehen werden kann. Nasir eröffnet seine Replik mit der Gliederungspartikel ›doch‹, die hier als Antwortpartikel fungiert.33 ›Doch‹ ist die eine Antwort auf das Negationswort ›nicht‹ in der Äußerung von Herr Borschert (Aber die Mitarbeiter im Flughafen werden nicht die bewaffneten Gruppen informieren, dass Sie zurück sind) und bezeichnet eine Negation einer Negation und damit eine positive Behauptung, die der vorangehenden Äußerung adversativ gegenübersteht. Dabei bezieht sich die Negation auf den vom Anhörer vorher verbalisierten Sachverhalt insgesamt und weist die Gegenbehauptung von Herrn Borschert zurück. Somit soll die positive Behauptung ›ja, die Mitarbeiter*innen im Flughafen werden die bewaffneten Gruppen informieren, dass […]‹ etabliert werden. Zudem bezieht sich das ›Doch‹ auch auf ein neu verbalisiertes Wissen von Nasir, »Doch, sie arbeiten alle zusammen« (AP: 3) und verleiht dem neu geäußerten Inhalt ›arbeiten alle zusammen‹ Nachdruck. Doch leistet damit drei Funktionen: a) Zurückweisung der vorgefallenen Behauptung, b) Etablierung einer positiven Gegenbehauptung und c) Nachdruck des neuen Wissens. Die Nachfragen und die Gegenbehauptung von Herr Borschert fordern Evidenzen ein, die Nasir immer wieder mit Eigeneinschätzungen zu überwinden sucht. Im zweiten Äußerungsteil »ich bin jetzt ein Verräter, weil ich nicht mitkämpfen wollte”(AP: 3), gibt Nasir zwar immer noch keine Quellenangaben an, aber fügt seiner Äußerung keinen Vermutungsmarker mehr hinzu, sondern markiert seine Behauptung durch die prädikative Verwendung »ich bin jetzt ein Verräter«, mit einem hohen Maß an Präzision und Sicherheit, als sei diese Annahme offenkundig. Es handelt sich hier um eine bevorstehende Verdächtigung »ich bin jetzt Verräter« (P: 3), die Nasir bei der Rückkehr erwartet, diese stellt Nasir jedoch als begründeten Fakt dar, der als Folge der gegebenen Voraussetzungen (»weil ich nicht mitkämpfen wollte«) existiert. Daraufhin wird bezüglich dieser Angelegenheit nicht mehr nachgefragt. Bevor dieser Abschnitt abgeschlossen wird, werden zwei Beispiele untersucht, die aufgrund der unerwarteten Antworten der Asylsuchenden als darstellungswürdig empfunden werden. Hierbei handelt es um Anhörung 5 und Anhörung 7. Fallbeispiele: Anhörungen 5 und 7 In der Anhörung 7 antwortet Samir auf die Frage »Was befürchten Sie bei einer eventuellen Rückkehr in Ihre Heimat?« wie folgt:

33

Unter dem Begriff Gliederungspartikel werden diejenigen Partikeln verstanden, »die isoliert auftretend im Sinne einer Reaktion des Sprechers verwendet werden können. Dazu gehören auch die sonst als ›Antwortpartikeln‹ bezeichneten Partikeln ja, nett und doch.« (Thurmair 1989: 18).

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

»Ich möchte nicht zurück, dort herrscht eine andere Religion bzw. ich bin für die ein Ungläubiger, weil ich Atheist bin, und gehöre nicht dazu. Es sind Bedrohungen durch Regierungen, es gehen Bedrohungen von verschiedenen islamistischen Gruppen aus, ich bin dort nicht in Sicherheit, in Deutschland gibt es Sicherheit und Freiheit, hier werden die Menschenrechte eingehalten.« (P:7). Normalerweise reicht für Samir, der dem Asylbewerbertyp »der Sichere« zugehörig ist, auf die allgemeine politische und kriegerische Situation hinzuweisen. Es herrscht Krieg und damit kommt es zu wahllosen Bombardierungen und demzufolge können Tod oder Verletzung jede/n in jedem Moment treffen. Die ernsthafte Gefahr des Schadens an Leib und Leben bei einer Rückkehr liegt auf der Hand. Zudem ist Samir ein politischer Aktivist, der den Rahmen seiner politischen Aktivitäten in seinen Äußerungen detailliert beschrieben hat und schilderte, wie seine oppositionelle Haltung eine persönliche Gefahr für ihn darstellt. Er könnte damit an dieser Anhörungsstelle auch argumentieren. Genau solche Argumente lässt Samir weg, weil ihn persönlich etwas Anderes bewegt, was er bei seiner Erzählung versucht zu vermitteln: Ich gehöre nicht dazu. Das ist das eigentliche, persönliche Fluchtmotiv von Samir,34 aber kein Aufnahmeland akzeptiert asylrechtlich diese Gefühle des ›Nichtdazugehörens‹ als Fluchtmotiv. Ihm kommt der Krieg entgegen. Samir nimmt an, dass er anerkannt wird, weil er aus einem Kriegsgebiet kommt und seine Fluchtgeschichte die erwarteten Kriterien erfüllt. Samir beschränkt sich bei seinen Antworten jedoch nicht auf den Verweis bezüglich der Zustände im Heimatland, weil er das starke Bedürfnis hat, seine Distanz zu diesen Ländern zu äußern: »Dort herrscht eine andere Religion bzw. ich bin für die ein Ungläubiger, weil ich Atheist bin, und gehöre nicht dazu.« (P: 7). Samir hat keine Probleme oder Bedrohungen erlitten, weil er Atheist ist, sondern seine Flucht basiert auf seinem Gefühl ›nicht-dazu-zugehören‹. Herr Lietz fragt nicht weiter nach, obwohl die Antwort – in der Regel bei Menschen mit Fluchterfahrung aus Ländern, die nicht zu den politisch anerkannten Kriegsgebieten zählen – nicht ausreichend ist. Denn sie enthält keine individuellen Faktoren von Kriegsgefahren, die eine positive Entscheidung für die Antragsteller*innen begünstigen. Von Samir als »Sicherer« Flüchtling akzeptiert man diese Antwort jedoch. Das letzte Beispiel wird aus der Anhörung Nr. 5 entnommen, in der Herr Allbrecht Badr die folgende Standardfrage stellt: A: Was befürchten Sie bei der Rückkehr in […]? AB: Ich respektiere Ihre Entscheidung, aber ich gehe nicht in […] zurück. Das ist mein sicherer Tod und niemals gehe ich wieder hin, niemals. Ich bin Deutschland sehr dankbar, dass ich aufgenommen wurde. Deutschland ist sehr menschlich (AP:5). Die Antwort auf die Frage »Was befürchten Sie bei der Rückkehr in […]?« (AP: 5) leitet Badr mit einer ungewöhnlichen Replik ein: »Ich respektiere Ihre Meinung und Ihre Entscheidung, aber ich gehe nicht in […] zurück.« (ebenda). Badr gibt an dieser Stelle der Anhörung keine fundierte Einschätzung über ernsthafte Risiken und Gefahren, denen er bei einer Rückkehr in die Heimat ausgesetzt wäre. Er lehnt die Überlegung

34

Die Erkenntnis beruht auf einem Interview mit dem Antragsteller.

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Die Anhörung im Asylverfahren

›Rückkehr ins Heimatland‹ ab. Seine Antwort wird nicht zurückgewiesen, weil sie sich aus seiner Schilderung der Fluchtgründe nachvollziehen lässt. Nach den erlittenen Folterungen, die er zuvor bei der Frage nach seinen Fluchtgründen schilderte, erscheint ihm eine Rückkehr ausgeschlossen und er hält sich nicht zurück, dies in aller Deutlichkeit zu äußern. Im Anschluss begründet er, warum er nicht zurückkehren will, mit einer, laut seiner Einschätzung, höchstwahrscheinlichen Prognose, »das ist mein sicherer Tod« (AP: 5) und ist deshalb entschlossen, dass er nicht dorthin zurückkehrt. Anders als Samir im Beispiel davor, kommt Badr aus keinem politisch anerkannten Kriegsgebiet. Daher muss ein ernsthaftes Risiko in dieser Anhörungsphase festgestellt werden, um eine positive Entscheidung für den Asylbewerber zu begünstigen. Deshalb bietet Herr Allbrecht dem Antragsteller noch einmal die Gelegenheit an, konkrete, plausible individualbezogene Gründe dafür zu liefern, warum er nicht in seine Heimat zurückkehren möchte: A: Warum befürchten Sie persönlich Schwierigkeiten bei einer Rückkehr in [Heimatland]? AB: Dort gibt es überall Milizen. Es gibt keinen Ort, an den ich gehen kann, wo es sicher ist. Meine Familie bittet mich darum, ihnen zu helfen und sie nach Deutschland zu holen. Diese Frage zu einer konkreten, plausiblen individualbezogenen Begründung kommt in Anhörungen oft vor und ist im Grunde im Sinne der Antragsteller*innen. Denn emotionale Abneigungen und Selbstentscheidung ›ich gehe nicht in meine Heimat zurück‹ oder Verweise auf eine allgemeine Situation ›dort ist es überall gefährlich‹ sind als Begründung für eine Entscheidung zugunsten der Antragsteller*innen, hinsichtlich einer Rückkehrprognose, nicht ausreichend. Vielmehr ist die Schilderung von begründeten und weiterbestehenden Gefahren entscheidend. Auf die oben genannte Frage in der Anhörung 5 gibt Badr die Antwort: »Dort gibt es überall Milizen. Es gibt keinen Ort, an den ich gehen kann, wo es sicher ist.«(P:5). Badr verweist auf allgemeine Gefahren, die jede/n Reisende/n oder dort Lebende/n treffen könnten, die/der keinen individuellen Faktor aufweist, der eine konkrete Bedrohung des Lebens von den Reisenden, den dort Lebenden oder von Badr als Person darstellt. Der Reaktion von Herrn Allbrecht auf die soeben genannte Antwort darf entnommen werden, dass er diese Antwort als nicht ausreichend erachtet. Er fragt Badr zu den Abschiebungshindernissen, was darauf hinweist, dass der Entscheider sich noch nicht sicher ist, ob Badr eine der ersten drei Schutzkategorien gewährt werden kann. Sind die Entscheider*innen sicher, dass sie mit den ihnen vorliegenden Informationen die Entscheidung auch über die Rückkehrprognose treffen können, kann auf die nächste Phase ›Überprüfungen Abschiebungsverbot‹ verzichtet werden, wie aus den Anhörungen 1, 2, 4, 7, 8, 10, 16 und 18 zu entnehmen ist. Steht die Entscheidung noch in der Schwebe, ob die Antragsteller*innen abgeschoben werden könnten, wird als letzter Schritt das Abschiebungsverbot überprüft.

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

13.4.2

Überprüfung des Abschiebungsverbots

Ist in der Anhörung noch nicht beschlossen, ob den Antragsteller*innen ein Schutz gewährt wird, tritt die Überprüfung der letzten Schutzkategorie ›Abschiebungsverbot‹ ein. Sie muss in der Entscheidung über den Asylantrag berücksichtigt werden. Abschiebungshindernisse sind in § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG ebenso in Art. 3 (EMRK) aufgeführt.35 Zum Zweck der Überprüfung der im Gesetz beschriebenen Abschiebungshindernisse (z.B. Verletzung der Menschenrechte, Krankheit, ausbleibender Zugang zu den Grundbedürfnissen des Lebens, was zu einer sofortigen Lebensbedrohung führen würde, wie Gefahr des Verhungerns usw.) werden die Asylbewerber*innen in der vorliegenden Anhörungsphase befragt, um gegebenenfalls die Abschiebung abzuwenden. Möchten die Antragsteller*innen in ihren Fällen die Verletzung der Menschenrechte geltend machen, müssen sie ein »tatsächliches Risiko darlegen, z.B. dass sie im Abschiebezielstaat Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten [haben].« (Marx 2013a: 154). Es wird zwischen einer »bloßen Möglichkeit« sowie dem erheblichen »ernsthaften Risiko« der beschriebenen Behandlung differenziert. Die hierfür maßgebliche Prognose soll mit den individuellen, offenkundigen oder massenhaften Menschenrechtsverletzungen begründet werden (vgl. ebenda). Dabei reicht die allgemeine Feststellung nicht aus, dass im Zielstaat der Abschiebung Folter ein weit verbreitetes Phänomen ist, dass sich das dort herrschende System repressiver Methoden der Machterhaltung bedient und mutmaßliche politische Gegner*innen mit allen erdenklichen Mitteln bekämpft (vgl. ebenda: 155; Dienstanweisung 2016: 20ff.). Trägen die Antragsteller*innen keine für sie persönlich erwartbare, ernsthafte Risiken vor, werden ihre Asylanträge abgelehnt. Die Ablehnungsgründe werden in diesem Zusammenhang wie folgt formuliert: »Der Antragsteller hat auch keine substantiierten Gründe für das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorgetragen« (Asylbescheid Nr.: 6) oder »Dem Antragsteller droht auch keine individuelle und konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens i. S. v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aufgrund der Sicherheitslage in seiner Herkunftsregion«. (Asylbescheid Nr.: 11) Abschiebungshindernisse, die durch Krankheiten begründet sein sollen, die in den Herkunftsländern nicht behandelt werden können, können nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG und gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur bei individuellen Gesundheitsgefahren in Betracht kommen. (vgl. Dienstanweisung 2016: 19). Eine individuelle Gesundheitsgefahr kann z.B. vorliegen, wenn die Antragsteller*innen an einer Krankheit leiden, für die die Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland faktisch so unzureichend sind, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Verschlimmerung der gesundheitlichen Beein-

35

Abschiebungshindernisse, die in § 60 Abs. 5 und 7 des AufenthG aufgeführt sind, werden ausführlicher in Kapitel 8.2.3 behandelt.

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230

Die Anhörung im Asylverfahren

trächtigung im Heimatland befürchtet werden muss (vgl. BVerwG Beschluss vom 24. Mai 2006 1 B 118/05). Ein letztes Abschiebungshindernis, das hier erwähnt wird,36 tritt ein, wenn sich der/die Antragsteller*in um Familienangehörige kümmern muss, die in Deutschland als anerkannte Flüchtlinge oder Geduldete leben dürfen. Das ist der Fall, wenn ein/eine Antragsteller*in minderjährige, behinderte oder kranke Familienmitglieder versorgen muss, weil sie unter gewissen Umständen auf die Hilfe anderer angewiesen sind (vgl. Dienstanweisung/Abschiebeverbot 2016: 19). Im Folgenden werden Beispiele zu der Phase ›Überprüfungen des Abschiebungsverbots‹ untersucht, um zu zeigen, wie die beschriebene Anhörungsphase bearbeitet wird.

13.4.2.1

Fallbeispiele

  Beispiel 1: Auszug von der Anhörung 3 A: Haben Sie irgendwelche Erkrankungen? AB: Ich habe […] A: Haben Sie ein Attest? AB: Ja, A: Hatten Sie dieses Problem im Heimatland auch gehabt? AB: Nein. Alles kam im Zuge der Flucht und der letzten Geschehnisse. A: Sind Sie in Behandlung? AB: Nein A: Haben Sie Familienangehörige in Deut. um die Sie sich kümmern müssen? Sind Sie verpflichtet, jemanden von Ihren Angehörigen zu pflegen? AB: Ja, meine Mutter A: Welche Pflegestufe hat Ihre Mutter? AB: Ich muss meiner Mutter im Haushalt und beim Einkauf helfen. Sie hat **Operationen und hat es deshalb nicht leicht ihren Alltagsarbeiten nachzukommen. Ich helfe ihr dabei. Herr Borschert hat alle Bestandteile, die in dieser Anhörungssequenz abgedeckt werden sollen, abgefragt. Zunächst hat er geklärt, ob Nasir unter Krankheiten leidet, dabei geht es um schwere Krankheiten, die im Herkunftsland nicht behandelbar sind (s. oben). Dies ist bei Nasir nicht der Fall, weil er »[…]« als Krankheit angibt, die keinen Hinderungsgrund für eine Abschiebung darstellt. Trotzdem würdigt Herr Borschert die Angabe, indem er Nasir Fragen dazu stellt. Er fragt Nasir, ob er Atteste habe und ob er unter dieser Krankheit schon im Heimatland gelitten habe und ob er jetzt in Behandlung sei. Dann geht Herr Borschert auf eine weitere Kategorie des Abschiebeverbots, das Betreuen von Familienangehörigen, ein: »Haben Sie Familienangehörige in Deutschland um die Sie sich kümmern müssen? Sind Sie verpflichtet, jemanden von Ihren Angehörigen zu pflegen?« (P: 3). Nasirs Mutter ist krank und er muss sich um sie

36

Bei Interesse weitere Faktoren für Abschiebungsverbote kann in der Dienstanweisung 2016 (16-29) nachgelesen werden.

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

kümmern. Der Anhörende fordert genaue Angaben und fragt, »Welche Pflegestufe hat Ihre Mutter?« (P: 3), um die Verpflichtung, die Nasir hinsichtlich der Pflege seiner Mutter nachkommen muss, einschätzen zu können. Herr Borschert hat mit den Fragenset den Phasenzweck der institutionellen Vorgaben erfüllt. Für Nasir werden, abschließend betrachtet, keine Abschiebungshindernisse festgestellt.   Beispiel 2: Auszug aus dem Anhörungsprotokoll 5 A: Haben Sie noch Familienangehörige in Deutschland, um die Sie sich kümmern müssen? AB: Nein A: Leiden Sie unter bestimmten Krankheiten, die eine Ausreise verhindern können? AB: Meine Gesundheit und Krankenakte sagt Ihnen schon, warum ich hierbleiben möchte. Herr Allbrecht prüft mit der Frage: »Haben Sie noch Familienangehörige in Deutschland, um die Sie sich kümmern müssen?”(P: 5), die familiäre Situation, die ein Abschiebungsverbot begünstigen kann. Familienangehörige, um die sich Badr kümmern muss, hat er nicht, somit stellt seine familiäre Situation kein Abschiebungshindernis dar. Hingegen erhöht Badr’s Antwort auf die letzte Frage »Leiden Sie unter bestimmten Krankheiten, die eine Ausreise verhindern können?« (P: 5) die Wahrscheinlichkeit für Erhalten der Schutzstufe ›Abschiebungsverbot‹. Er leidet unter einem Foltertrauma und ist in psychiatrischer Behandlung. Mit der Anhörungsphase ›Überprüfung des Abschiebungsverbots‹ wird die Anhörung inhaltlich abgeschlossen. Die Fluchtgründe wurden genannt, die Glaubhaftigkeit der Aussagen der Antragsteller*innen wurde geprüft, eine Vorentscheidung über die Rückkehrprognose wurde vermutlich getroffen. Von da aus gehen die Entscheider*innen zum Anhörungsabschluss über, der noch mehrere Phasen in Anspruch nimmt.

13.5

Anhörungsabschluss

Die Anhörungseinheit ›Anhörungsabschluss‹ beginnt, nach der hier gewählten Kategorisierung, wenn keine weiteren inhaltlichen Fragen zu Fluchtursachen oder zur juristischen Überprüfung von Schutzformen gestellt werden. Ab dem Moment geht die Anhörung aus dem rein informativen in einen rituell bürokratischen Austausch über. Die Anhörungssituation wird nach dem Befragungsabschluss nicht gleich beendet, sondern weitere, zu der Anhörung gehörende wichtige Bestandteile, wie Rückübersetzung, Ratifizierung des Protokolls, Abstimmungen und organisatorische Erledigungen werden vollzogen. Durch diese Anhörungsaktivitäten, die in dieser Forschungsarbeit der Abschlussphase zuordnet, wird die Anhörungsbeendigung (Verabschieden) noch verschoben. Grob wird die Phase ›Anhörungsabschluss‹ in zwei Teile gegliedert: Vorabschluss und Abschluss, die sich jeweils in konstitutive Einheiten unterteilen lassen. Zu dem Anhörungsabschluss können nach der Untersuchung des Materials folgende Anhörungsbestandteile gezählt werden:

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Die Anhörung im Asylverfahren

• • • • • • • •

Die Frage danach, ob der/die Antragsteller*in etwas zum Antrag hinzufügen möchte Dem/Der Antragsteller*in wird eine Protokollrückübersetzung angeboten Gegebenenfalls können nach den Rückübersetzungen Protokolländerungen vorgenommen werden Fragen ob und Bestätigung durch die/den Asylsuchende/n, dass er/sie ausreichende Gelegenheit hatte, alle seine/ihre Asylgründe zu nennen Ratifizierung der Vollständigkeit und der Richtigkeit der verfassten Niederschrift durch die Unterschrift des/der Asylbewerbers/in Abstimmung darüber, wie das Protokoll dem/der Antragsteller*in erreicht Verabschiedung und Auflösen des Gesprächs

Die oben genannten Aktivitätsteile sind für die Abschlussphase konstitutiv und die Reihenfolge, in welcher die einzelnen Aktivitäten auftreten, ist wie oben aufgezählt festgelegt, wie jetzt erörtert wird.

13.5.1

Vorabschlussphase

Es gibt drei ritualisierte Fragen, die der Anhörungssequenz ›Vorabschlussphase‹ zugeordnet werden. Jede Frage initiiert eine Vorbeendigungssequenz, durch die sich das Anhörungsende abzeichnen kann oder es bis auf Weiteres zurückgestellt wird. Bei der Verschiebung des Endes wird die Kernphase wiederaufgenommen und die sich neu entwickelnden Interaktionen der Kernphase hinzugefügt (P: 8) oder es wird ein neues Thema eröffnet (vgl. P:12 und A-Interview: 22). Die Phase ›Vorabschlussphase‹ besteht in der Regel aus drei konstitutiven Bestanteilen: (a) Die Antragsteller*innen fragen, ob sie etwas zum Antrag hinzufügen möchten, (b) den Antragsteller*innen eine Protokollrückübersetzung anbieten, (c) die Antragsteller*innen fragen, ob sie ausreichend Gelegenheit bekommen haben, ihre Gründe darzustellen.

13.5.1.1

Zu den Bestandteilen (a) und (c)

Die Frage, ob der/die Antragsteller*in dem Asylantrag noch etwas hinzufügen will, »Möchten Sie dem Antrag Etwas hinzufügen?« (u.a. AP: 1, AP: 2 und AP: 3) ist ein Hauptbestandteil der Anhörungsvorschlussphase. Mit der Frage wird eine weitere Chance initiiert, alle fehlenden, vergessenen Angaben oder andere Details, die dem/der Antragsteller*in wichtig erscheinen und in den gestellten Fragen noch nicht berücksichtigt wurden, hinzuzufügen. Der institutionelle Zweck dahinter ist die behördliche Anweisung an die Anhörenden ›sicherzustellen, dass alle Asylgründe genannt worden sind‹: »Wenn der Antragsteller alle Gründe für seinen Antrag vorgebracht und der Sachbearbeiter alle relevanten und erforderlichen Fragen gestellt hat, ist es Zeit, zur letzten Phase, dem Abschluss der Anhörung, überzugehen. In dieser Phase geht es vor allem darum, sich zu vergewissern, dass alle für den Antrag relevanten Informationen ausführlich besprochen wurden. Außerdem muss in der Schlussphase geprüft werden, ob

13. Detaillierte Phasenbeschreibung 233

der Antragsteller alle notwendigen Informationen erhalten hat, bevor die Anhörung endet.« (EASO 2014: 23). Würde der/die Asylbewerber*in am Ende der Anhörung bestreiten, genügend Gelegenheit in der Anhörung gehabt zu haben, alle seine/ihre Gründe darzustellen, müsste man ihm/ihr die Gelegenheit dazu nochmals anbieten. Würde er/sie nach einer zweiten Chance, in der gleichen Anhörung, immer noch bestreiten, dass er/sie jede Gelegenheit bekam, die Fluchtgründe ungestört zu erzählen, würde er/sie den Aussagen im Protokoll nicht zustimmen und das Protokoll nicht unterschreiben, womit die Anhörung rechtlich ungültig wäre. Bestreitet der/die Antragsteller*in erst im weiteren Verlauf des Asylverfahrens, z.B. vor Gericht, keine ausreichende Gelegenheit gehabt zu haben, die Fluchtgründe zu nennen, wobei in seinem/ihren Protokoll die Sequenz mit der Frage »Möchten Sie zu dem Antrag etwas hinzufügen« und mit der Frage, ob der/die Antragsteller*in ausreichende Gelegenheit hatte, seine/ihre Asylgründe vorzutragen, die jeweiligen Antworten fixiert wurden37 und das von dem/der Antragsteller*in unterschriebene Formular den Akten beigelegt ist, wird sein/ihr Bestreiten nicht mehr berücksichtigt. Aus diesem Grund ist diese Frage ein wichtiger Bestandteil der Vorbeendigungsphase. Zweck der Befragungen in den Bestandteilen (a) und (c) und der damit verbundenen Handlungen ist zweierlei: •



Erstens sie sind ein Nachweis dafür, dass die Anhörer*innen die Anhörung institutionskonform geführt haben. Es liegt in ihrem Aufgabenbereich, auf die Vollständigkeit der Anhörung hinzuwirken und sicherzustellen, dass die Asylgründe möglichst vollständig dargelegt worden sind (vgl. Marx 2003b: 77). Zweitens können die Antragsteller*innen in einem Nachtrag alles artikulieren, was sie möglicherweise noch erwähnen wollen und durch das vorherige Frage-AntwortFormat, von dem die Anhörung geprägt ist, keine Gelegenheit hatten. Diese Anhörungskomponenten sind institutionell und rechtlich vorgegeben (s. oben), weil die Asylsuchenden im späteren Verfahrensverlauf, außerhalb der Anhörung, keine andere Gelegenheit mehr bekommen werden, etwas Neues vorzubringen. Dazu werden sie an dritter Stelle der Anhörungseinführung in aller Deutlichkeit belehrt: »Späteres Vorbringen wird nicht berücksichtigt« (vgl. K. 13.1.3).

Durch die Eröffnung der Vorbeendigungssequenz mit der Frage, wie zum Beispiel »Möchten Sie Ihrem Asylbegehren noch etwas hinzufügen oder ergänzen?« (AP: 6,12), »Möchten Sie zu dem Antrag etwas hinzufügen?« (AP: 1, AP: 2, AP: 5, AP: 7 und AP: 9), »Haben Sie dem Asylantrag noch etwas hinzuzufügen?« (2 und 10) oder »Haben Sie dem Asylantrag noch etwas hinzuzufügen? Fehlt etwas, was Sie für wichtig halten und die Gelegenheit nicht hatten, sich dazu zu äußern?« (BP: 3), werden zwei 37

Zu der Absicherung der juristischen Gültigkeit der Anhörung und um sicherzustellen, dass die Entscheider*innen ihre Aufgabe erfüllt haben, dokumentieren sie: »Auf Nachfrage erklärt der Antragsteller, dass er ausreichend Gelegenheit hatte, die Gründe für seinen Asylantrag zu schildern und auch alle sonstigen Hindernisse darzulegen, die einer Rückkehr in sein Heimatland oder in einen anderen Staat entgegenstehen« (Mehrere Protokolle).

234

Die Anhörung im Asylverfahren

Möglichkeiten projiziert, woraufhin die Antragsteller*innen wählen dürfen. Sind sich die Asylbewerber*innen sicher, alles, was für ihren Asylantrag von Bedeutung ist, geäußert zu haben oder wollen sie aus anderen Gründen nichts ergänzen, verneinen sie die Frage mit Formeln, wie: »Hierzu habe ich keine Gründe vorzutragen« (AP: 4 und AP: 15), »Nein, ich habe nichts dazu hinzuzufügen« (AP: 11) und »Nein, das ist alles. Das war alles, was ich zu sagen habe« (AP: 14). Entscheiden sie sich dafür, etwas hinzuzufügen, wird die Anhörung zumindest um eine Sequenz erweitert. Die Daten zeigen, dass meistens kein neues Wissen hinzugefügt wird. Vielmehr geben die Antragsteller*innen eigene Kommentare über die Zustände in ihren Herkunftsländern ab oder äußern ihre Wünsche, dass sie in Deutschland bleiben möchten oder fragen, ob ihre Familienangehörigen nach Deutschland kommen können: »Ich wäre glücklich, wenn ich hier anerkannt werde« (BP:19 und BP20), »Ich kann nicht wieder zurück, ich weiß nicht, was ich da machen soll. Ich möchte in Deutschland bleiben.« (AP:16), »Ich möchte weiter studieren oder eine Ausbildung machen, ich möchte Arbeit finden und nochmal ein friedliches Leben führen.« (BP: 2), »Meine Familie fragt mich, ob ich ihnen helfen kann, dass sie nach Deutschland kommen.« (BP: 5). Persönliche Kommentare der Antragsteller*innen als Replik auf die Frage werden aus den Anhörungen 6 und 9 zitiert: »Ich habe nichts anderes hinzuzufügen, aber jeder weiß das, die Lage in Afghanistan ist sehr schlecht. Am Tag werden Leute einfach erschossen und verbrannt, weil sie mit […] oder mit ausländischen Gruppen arbeiten.« (BP: 6). Oder »Es ist drüben, wie in einem Wald. Jeder kann dich angreifen, wenn du schwach bist. Die meisten haben Waffen und sie gehören zu verschiedenen Gruppen.« (AP: 9). Inhaltliche Beifügungen auf die Frage »Haben Sie dem Asylantrag noch etwas hinzuzufügen?« dokumentiert nur die Anhörung 3, in der der Antragsteller von der Aufforderung Gebrauch macht und einen für ihn wichtigen Sachverhalt vermittelt, den er mit Dokumenten belegt: A: Haben Sie dem Asylantrag noch etwas hinzuzufügen? Fehlt etwas, was Sie für wichtig halten und die Gelegenheit nicht hatten, sich dazu zu äußern? AB: Ja, ich habe zwar einen […] Pass und deshalb werde ich als […] wahrgenommen, aber ich bin in […] aufgewachsen. Ich verließ […], als Kleinkind. Ich habe meine Kindheit in Syrien verbracht und die Schule in Syrien besucht. Für Nasir ist es wichtig, diese Ergänzung beizufügen, weil er weiß, dass syrische Asylbewerber*innen eine bessere Asylanerkennungschance haben und er hofft, dass der Anhörer ihn als Syrer wahrnimmt. Er zeigt Schuldokumente, Anmeldebestätigung und weitere Dokumente, die beweisen, dass er seit seiner Kindheit bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr in Syrien gelebt hat. Der Entscheider nimmt die Dokumente zur Akte. Für solche spezifischen Nachträge, die der Anhörungskatalog nicht umfasst, ist die-

13. Detaillierte Phasenbeschreibung 235

ser Platz am Anhörungsvorabschluss reserviert. Bei solchen Ergänzungen können die Entscheider*innen die Kernphase neu aushandeln und versuchen, die neue Information mit den erst erwähnten Fluchtmotiven zu koppeln oder die Ergänzungen separat als solche protokollieren. In dem genannten Beispiel handelt Herr Borschert die Kernphase nicht neu aus. Sein Respons auf den neuen Nachtrag beschränkt sich auf die Aufnahme ins Protokoll, ohne weitere Fragen dazu zu stellen; er legt die Kopien der eingereichten Dokumente der Aktenmappe bei. Haben die Antragsteller*innen nichts zum Antrag hinzuzufügen oder wird ihre Ergänzung im Anhörungsprotokoll niedergeschrieben, wird der zweite Teil des Anhörungsvorabschlusses initiiert, den Antragsteller*innen die Rückübersetzung des Protokolls anzubieten.

13.5.1.2

Bestandteil (b): Anbieten der Rückübersetzung des Anhörungsprotokolls

Der zweite Bestandteil der Vorbeendigungssequenz wird mit Fragen eröffnet, wie »Möchten Sie, dass das Protokoll zurückübersetzt wird?« (AP: 1, AP: 10 und AP: 19), »Es steht Ihnen zu, dass das Protokoll rückübersetzt wird. Möchten Sie das?« (AP: 5). Dabei werden, wie in den zuvor o.g. zwei Fragen (siehe oben Vorabschlussphase, K. 13.5.1.1), zwei Möglichkeiten projiziert, deren Auswahl die Antragsteller*innen bestimmen dürfen. Ihrer Auswahl zufolge kann die Anhörung zum Ende kommen oder kann sich zeitlich bis zu mehr als einer Stunde erweitern: Beantworten sie die Frage mit ›nein‹, werden alle weiteren Erweiterungen eingestellt. Antworten die Antragsteller*innen mit ›ja‹, eröffnet die Vorbeendigung weitere Sequenzen und die Anhörungsbeendigung wird dadurch verschoben. Im Folgenden wird der Anhörungsverlauf in beiden Fällen – ›Verzicht‹ oder ›Wahrnehmung der Rückübersetzung‹ – an Beispielen aufgezeigt. Verzicht auf die Rückübersetzung Für den Fall, dass die Asylsuchenden auf die Rückübersetzung verzichten, müssen sich die Anhörer*innen absichern, indem sie das Handeln der Asylsuchenden ›Verzicht auf die Rückübersetzung‹ aktenkundig machen und dokumentieren: »Die Antragsteller/in verzichtete auf die Rückübersetzung der verfassten Niederschrift. Sie hat dies auf dem Kontrollbogen, der Bestandteil der Niederschrift ist, bestätigt. Auf dem Kontrollbogen befindet sich auch die Unterschrift des Dolmetschers.« (AP: 10 und AP: 24, AP: 43 und AP: 55). Die Antragsteller*innen müssen den Verzicht auf eine Rückübersetzung in einem extra dafür angefertigten, behördlichen Formular mit ihrer Unterschrift ratifizieren. Hierbei müssen sie bestätigen, dass dieser Vorgang auf ihrem eigenen Willen basiert. Im Folgenden werden Beispiele genannt, wie die beschriebene Sequenz ihren Verlauf in der Anhörung nimmt. Fallbeispiel 1: Auszug von dem Anhörung 5 A: Wir haben Ihre Aussagen protokolliert. Es steht Ihnen zu, dass das Protokoll rückübersetzt wird? Möchten Sie das?

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Die Anhörung im Asylverfahren

AB: Ich möchte das nicht. A: Sie können auch darauf verzichten. AB: Ich verzichte auf die Rückübersetzung. Am Beginn der Sequenz greift Herr Allbrecht die gleiche Formulierung auf, die er schon bei der Belehrung in der Anhörungseinführung angekündigt hat: »Ihre Aussagen werden protokolliert« und verwendet sie in der vorliegenden Sequenz gegen Ende der Anhörung, als vergangene und abgeschlossene Handlung: »Wir haben Ihre Aussagen protokolliert«. (AP: 5). Er weist dann den Antragsteller auf die Wichtigkeit des Protokolls für das weitere Vorgehen im Asylverfahren hin. Dabei informiert er den Antragsteller, dass die Rückübersetzung zwar ein Recht ist, das ihm zusteht, aber ob Badr das Recht im Anspruch nehmen möchte oder nicht, steht ihm frei. Für die Rückübersetzung hat der Antragsteller keine Geduld mehr und kommentiert seine Abneigung zum bevorstehenden Vorgang: »Alles nochmal […] ich möchte nicht.« (BA:5). Der Entscheider bietet Badr eine der Institution angemessene Formulierung für dieses Handeln an: »Sie können auch darauf verzichten.« (ebenda). Die Dolmetscherin erklärt Badr, dass er den Verzicht in diesem Wortlaut äußern soll und diesen dann schriftlich bestätigen muss. Badr übernimmt die Formulierung mit dem Wortlaut: »Ich verzichte auf die Rückübersetzung.« (AP: 5). Der gleiche inhaltliche Verlauf für die Rückübersetzungssequenz lässt sich in dem kommenden Auszug aus dem Protokoll 12 zeigen und der Verlauf weist gleichzeitig auf eine unterschiedliche Art und Weise der Anhörungsdurchführung bezüglich dieser Sequenz hin: Fallbeispiel 2: Auszug aus der Anhörung 12 A: Ja, jetzt sind wir soweit. Ich habe keine Fragen mehr. Sie haben das Recht darauf, dass das Protokoll für Sie rückübersetzt wird und Sie können darauf verzichten. AB: Ich würde auf die Rückübersetzung verzichten, wenn es ok ist? A: Ja natürlich. Sie müssen hier bitte unterschreiben, dass Sie auf die Rückübersetzung verzichtet haben. Das Beispiel zeigt, dass die Sequenz inhaltlich bei den gleichen Fragen bleibt wie das vorangegangene Beispiel 1, dass sich aber die Anhörer*innen in der Art und Weise, wie gefragt wird, voneinander unterscheiden. Im Vergleich zur Anhörung 5 (siehe oben Beispiel 1), in der Herr Allbrecht auf die Wichtigkeit des Protokolls hinweist und Frau Storm in der Anhörung 8 (vgl. Wahrnehmung der Rückübersetzung und deren Verlauf) noch den Zweck der Rückübersetzung anführt, bietet Herr Kroll Nagib im angeführten Beispiel 2 (vgl. AP: 12) ›die Rückübersetzung‹ begleitet mit der Alternative ›Darauf verzichten‹ mit dem gleichen Stellenwert an, ohne eine der Möglichkeiten zu gewichten. Indiz für die Gleichstellung der beiden Handlungen ›Rückübersetzen lassen‹ und ›darauf verzichten‹ ist die Verbindung der soeben genannten Äußerungselemente mit dem Konnektor ›und‹, der hier zwei gleichgestellte Inhalte aneinanderreiht.

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

Wahrnehmung der Rückübersetzung und deren Verlauf Die oben untersuchten Beispiele sind exemplarisch für Antragsteller*innen, die auf die Rückübersetzung verzichten. Im Gegensatz zu denen gibt es Antragsteller*innen, die das Angebot der Rückübersetzung wahrnehmen; wobei einige unter ihnen sehr genau sind und mehrere Veränderungen im Protokoll vornehmen lassen, wie aus dem Zitat zu entnehmen ist: »Bei dem Vorletzten [Antragsteller] war es so, dass er eine Sache verbessert hat, ich meine er hat Sachen hinzugefügt […] und als es [das Protokoll] zugeschickt wurde, wollte er noch Sachen ändern. Er war mit manchen Sachen nicht zufrieden, obwohl es ihm, wie ich erlebt habe, alles übersetzt wurde. Er war sehr genau. Und der andere hat darauf verzichtet, weil der Anhörer immer sagt, was er schreibt quasi schon« (B-Interview Rubi). Eine Antragstellerin sagt: »Ich habe mit Google Übersetzter alles nochmal zu Hause selbst überprüft. Ich glaube, sie [Dolmetscherin] hat gut übersetzt.« (Auszug aus einem Notizbuch für ein informelles Gespräch mit einer Antragstellerin in einer Beratungsstelle). Lassen die Asylbewerber*innen das Protokoll rückübersetzen, wird eine lange Sequenz nur zwischen Antragsteller*innen und Dolmetscher*innen durchgeführt. Die Rückübersetzungssequenz, die nur zwischen Dolmetscher*innen und Asylbewerber*innen stattfindet, ist je nachdem, was alles im Protokoll erfasst wurde und je nach Länge der Anhörung, unterschiedlich lang. Um ein Beispiel zu nennen, dauerte die Rückübersetzung in den Anhörungen 14 und 16 ca. 10 Min. und in der Anhörung 8 ca. 25 Minuten. Hingegen dauerte die Rückübersetzung in Anhörung 9 fast eine Stunde (55 Minuten) und in der Anhörung 7 dauerte sie 70 Minuten. Währenddessen übernehmen die Anhörer*innen andere bürokratische Aufgaben, wie Dokumente kopieren: »Sie können schon mit der Übersetzung beginnen, ich kopiere die Dokumente inzwischen« (BP: 3) oder arbeiten am Rechner, andere gehen in dieser Phase raus (siehe BP: 8). Nach der Rückübersetzung fragen die Anhörenden, ob alles in Ordnung ist oder ob die Antragsteller etwas ändern möchten. Manchmal werden kleine Änderungen, wie Namens- und Datumsänderungen hinzugefügt (BP: 3, BP: 13) oder es wird eine Änderung erneut interaktiv ausgehandelt. So wie der Verzicht auf die Rückübersetzung im Protokoll dokumentiert wird, wird ebenfalls die Handlung der Rückübersetzung dokumentiert. Dabei wird auf die Art der Rückübersetzung hingewiesen. Wird die Anhörung vom Tonträger zurückgespult und sequenzweise rückübersetzt, wird die Handlung so im Protokoll festgehalten und die Zustimmung zu den Aussagen auf dem Tonträger und auf einem Kontrollbogen festgehalten. »Dem Antragsteller wurde die auf Tonträger diktierte Niederschrift rückübersetzt. Er hat dies auf dem Kontrollbogen (D0180) der Bestandteil der Niederschrift ist, bestätigt. Auf dem Kontrollbogen befindet sich auch die Unterschrift des Dolmetschers/der Dolmetscherin.« (AP: 6, AP: 14 und AP: 16).

237

238

Die Anhörung im Asylverfahren

Erfolgt die Rückübersetzung anhand des verfassten Protokolls, wird es ebenfalls dokumentiert: »Dem Antragsteller wurde die verfasste Niederschrift übersetzt.« (AP: 3 und AP: 8). Im kommenden Abschnitt wird die Bedeutsamkeit der Rückübersetzung für den/die Antragsteller*in ausführlicher erörtert und der Frage der juristischen Wichtigkeit des Anhörungsprotokolls nachgegangen.

13.5.1.3

Rückübersetzung als Qualitätskontrolle und ihre Bedeutung für das Anhörungsprotokolls

Die Rückübersetzung ist die einzige Qualitäts- und Verständigungskontrolle, die die Asylbewerber*innen in der Anhörung vornehmen können. Sie ist eine rückblickende Kontrollmöglichkeit, durch die die Asylbewerber*innen prüfen können, ob (a) alle für sie wesentlichen Angaben im Protokoll dokumentiert wurden, (b) alle Aussagen, die als ihre Aussagen protokolliert wurden, tatsächlich von ihnen so geäußert wurden.

Während der Anhörung haben die Asylbewerber*innen meistens keine Gelegenheit zu kontrollieren, was alles als ihre Angaben niedergeschrieben wird. Nur in wenigen Fällen, z.B. wenn eine Rückfrage gestellt wird, die mit einer vorherigen Aussage zusammenhängt und die Rückfrage darauf hinweist, dass das zuvor vermittelte Wissen nicht dem entspricht, was gemeint war, kann Falsches korrigiert werden. In so einem Fall wird sich um ein sofortiges Verständnis von Seiten der Entscheider*innen bemüht, wie das kommende Beispiel zeigt: Der Entscheider stellt eine Verständnisversicherungsfrage, in der die Inhalte der vorherigen Äußerung expliziert wiederaufgenommen werden und fragt, ob dies richtig sei. Der Antragsteller merkt dadurch, dass die vorherige Sequenz durch die Übersetzung eine Information enthält, die der Antragsteller nicht gegeben hat und er korrigierte den Übersetzungsfehler: A: Für wen sollten Sie kämpfen? AB: Gegen die Isis A: Mit dem […] Militär? D: Ja A: Das heißt, die Männer, die zu Ihnen kamen und Sie zum Kampf gegen die Isis aufgefordert haben, waren aus der […] Armee, richtig? AB: Nein. Sie waren freie Kämpfer. Sie sind nicht aus der Regierung. D>A: Sie arbeiten alle zusammen. Ob freie Kämpfer oder Militär, alle kämpften gemeinsam gegen ISIS. [Der Dolmetscher sagte das ganze nochmal auf Arabisch und fragt den Antragsteller: Ist das richtig]? AB: Nein, das ist nicht richtig. Es gibt große Unterschiede zwischen Kämpfern, die für das […] Militär arbeiten und Leuten, die für die freien Gruppierungen arbeiten. Der eine ist Soldat, der andere ist Kämpfer für Milzen. (BP: 3). Der Dolmetscher hat die Frage des Entscheiders »Mit dem […] Militär?« von sich aus mit »ja« beantwortet. Herr Borschert will ganz genau wissen, für wen und mit wem

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

der Antragsteller gegen die ISIS kämpfen sollte und dies im Protokoll festhalten. Im Falle des Antragstellers macht es einen Unterschied, ob er den Kriegsdienst mit dem staatlichen Militär oder mit Milizen verweigert. In der aktuellen Anhörung ist dem Anhörenden zunächst unklar, ob der Antragsteller den Kriegsdienst mit dem staatlichen Militär oder mit Milizen verweigerte. Der erste Eindruck, der so entstand und dem der Dolmetschereingriff geschuldet war, beinhaltete, dass Nasir vor dem Kampf mit dem Militär geflohen sei. Bei der Rückfrage wird dann deutlich, dass der Dolmetscher eine falsche Information weitergab. Der Indikator dafür, dass dem Dolmetscher sein Übersetzungsfehler bewusst ist, kann aus der Rechtfertigung seiner voreiligen Antwort herausgehört werden: »Sie arbeiten alle zusammen. Ob freie Kämpfer oder Militär, alle kämpften gemeinsam gegen ISIS« (BP: 3). Mit der unaufgeforderten Beteiligung am Gespräch versucht der Dolmetscher seine eigene Antwort mit der Behauptung, es mache keinen Unterschied, mit wem man kämpfen müsse, solange es sich um den gleichen Gegner handle, zu erklären. Auf seine Frage: »Ist das richtig?« (ebenda) erhofft sich der Dolmetscher die Zustimmung des Antragstellers, die jedoch ausbleibt. Nasir lehnt in aller Deutlichkeit die Gleichsetzung zwischen freien Kämpfern und Soldaten der Regierung ab: »Nein, das ist nicht richtig. Es gibt große Unterschiede zwischen Kämpfern, die für das […] Militär arbeiten und Leute, die für die freien Gruppierungen arbeiten.« (BP: 3) Hätte Herr Borschert nicht nachgefragt, könnten solche Verständigungsprobleme bei der Rückübersetzung festgestellt und korrigiert werden. Eine andere Möglichkeit, in der die Antragsteller*innen Verständigungsprobleme oder Übersetzungsfehler während der Anhörung bemerken, ist gegeben, wenn die Antragsteller*innen Deutsch verstehen. Abgesehen von den beschriebenen Momenten, in denen eine situationsbedingte Verständigungskontrolle möglich wird, bietet die Rückübersetzung eine für alle Antragsteller*innen rückblickende »Verwertungskontrolle« (Scheffer 2001: 52). Bei der Rückübersetzung der Niederschrift wird den Asylbewerber*innen die Gelegenheit gegeben, Verständigungsfehler anzukündigen und Änderungen vorzunehmen, bevor die auf Missverständnissen basierenden oder falschen Angaben in der Niederschrift festgehalten werden. Alle Anwälte/Anwältinnen im Korpus, einschließlich der in den Beratungsstellen, in denen die Autorin übersetzt hat, empfehlen ausdrücklich alle, nicht auf die Rückübersetzung zu verzichten, denn »Die Rückübersetzung ist quasi die einzige eigene Qualitätskontrolle, die der Antragsteller an diesem Protokoll durchführen kann« (E-Interview Hagemann). Auf Korrekturen und Ergänzungen des Protokolls besteht ein Rechtsanspruch und gegebenenfalls dürfen die Antragsteller*innen die Bestätigung der schriftlichen Niederlegung verweigern (vgl. Marx 2014: 37). Verweigern die Antragsteller*innen die Unterschrift des Protokolls, wird die Anhörung als ein nicht abgeschlossener behördlicher Akt gesehen. Es müssen alle Änderungsvorschläge der Antragsteller*innen aufgenommen werden, bis sie die Richtigkeit des Protokolls bestätigen. Unterschreiben die Antragsteller*innen das Anhörungsprotokoll nicht, muss die Anhörung zu einem neuen Termin wiederholt werden. Was macht die Anfertigung eines Anhörungsprotokolls so bedeutend?

239

240

Die Anhörung im Asylverfahren

Das Anhörungsprotokoll ist das Fundament des Verfahrens und des gesamten weiteren Lebensweges der Asylsuchenden in Deutschland, einschließlich späterer Aufenthalte (vgl. Marx 2014: 37), weil es die Angaben der Asylsuchenden festhält, aufgrund derer der Asylbescheid erstellt wird. Für eine Überprüfung der Behörde, zum Beispiel vor Gericht, im Falle des Einlegens eines Widerspruchs, stellt das Anhörungsprotokoll, neben dem Asylbescheid, das wichtigste schriftliche Produkt der Verhandlungsgrundlage dar (vgl. Schneider & Wottrich20017: 102; E-Interview Egor). Deshalb ist die Anfertigung der Anhörungsniederschrift und die Aufzeichnung der persönlichen Anhörung gesetzlich laut RL 2013/32/EU Artikel 17:(1) vorgeschrieben. »Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass von jeder persönlichen Anhörung entweder eine ausführliche und objektive Niederschrift mit allen wesentlichen Angaben oder ein Wortprotokoll erstellt wird.« (71). Wie aus dem Artikel zu entnehmen ist, sind die Anhörenden nicht verpflichtet, die Anhörung in aller Vollständigkeit zu protokollieren, sondern die Niederschrift über eine Anhörung soll nach § 25 Abs. 7 AsylVfG die wesentlichen Angaben der Asylbewerbers*innen enthalten.38 Wesentlich ist, was der/die Anhörer*in als wesentlich einschätzt (vgl. E-Interview Egor). Der Entscheidungsprozess im Asylverfahren kann nur legitimiert werden, wenn die Aussagen der Antragsteller*innen während der Anhörung dokumentiert werden. Die mündlichen Äußerungen werden durch ihre schriftliche Fixierung im Protokoll verbindlich, denn auf der Grundlage der ins Protokoll niedergeschriebenen Aussagen wird der Asylbescheid erstellt. Das Protokoll wird dadurch beweisfähig und als juristische Entscheidungsgrundlage herangezogen. Die Transformation der vergangenen Anhörungsinteraktion in ein Protokoll ist für das Asylverfahren deshalb unverzichtbar. Darüber hinaus dient das Anhörungsprotokoll neben seiner oben eben erwähnten juristischen Funktion als Beweis dafür, dass die behördliche Aufgabe ›Anhörung‹ durchgeführt wurde und wird wie folgt dokumentier: ›Die Anhörung Aktenzeichennummer 7198310, hat mit der Person X an dem Tag Y zu der bestimmten Uhrzeit durch den/die Behördenvertreter*in Y1 stattgefunden.‹ Bestätigen die Antragsteller*innen mit ihrer Unterschrift die Richtigkeit des Protokolls, bestätigen sie damit die Arbeit der Anhörenden, womit die Aufgabe des Bundesamts hinsichtlich dieser Etappe im Asylverfahren als beendet gilt. Verweigern die Antragsteller*innen die Unterschrift, ist das Anhörungsprotokoll für all die oben benannten Funktionen nicht verwendbar. Es sollte verdeutlicht werden, wie lange sich der Anhörungsabschluss – mit der Bestätigung des Protokolls – in Abhängigkeit zur Größe des jeweiligen Zeitrahmen der Vorbeendigungssequenz entsprechend zeitlich flexibel verschieben lässt. Dabei besteht während dieses gesamten Prozesses jederzeit die Möglichkeit, dass bei Verweigerung der Antragsteller*innen, das Protokoll zu unterschreiben, die Gültigkeit der Anhörung gefährdet ist. Ist die Vorbeendungsphase erfolgreich abgeschlossen, wird die Anhörung, wie folgt, offiziell beendet. 38

Bei der Beschränkung auf wesentliche Angaben können über »die rasche und weitgehend individuelle Transformation von Gesprochenem ins Schriftliches die Unwägbarkeit der Interaktionssituation zum Verschwinden« (Schneider & Wottrich 20017: 104) gebracht werden.

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

13.5.2

Anhörungsabschluss

Nach der Protokollunterzeichnung ist die Anhörung mit allen ihren informativen und ritualisierten Phasen abgeschlossen. Im Gegensatz zur Anhörungseröffnung, die die Verhandlung mit bestimmten Formeln situiert (vgl. K. 13.1.1), konnte Autorin keine vorgeschriebene Abschlussformel für die Anhörungsbeendigung feststellen. Die Verabschiedung geht von den Anhörenden aus und verläuft zwischen allen drei Anhörungsteilnehmern*innen freundlich. Den Asylbewerber*innen wird alles Gute für die Zukunft gewünscht. In einigen Anhörungen stellen die Antragsteller*innen den Anhörenden Fragen oder äußern Bitten, wie das folgende Beispiel zeigt. In einem Interview berichtet eine Antragstellerin, dass es kurz vor der Verabschiedung zu einer heftigen Diskussion mit der Anhörenden kam, weil sie ganz zum Schluss die Bitte äußerte: »Mein Vater ist noch in […] im Gefängnis Namens […]. Er wird gefoltert. Ich hatte ihn am 0.0.00. gesehen. Er ist in einem schlimmen Zustand. Wie können wir ihm daraus helfen. Am Anfang sagte er [Anhörende] mir, das hat mit Ihrem Antrag nichts zu tun. Als ich sagte, aber ich habe jetzt konkret benannt, in welchem Gefängnis er sich befindet, deshalb muss es eine Möglichkeit geben ihm zu helfen. Der Anhörer sagte, wir können nicht alles machen. Wenn er mal herkommt, kann er einen Antrag stellen, aber wir können ihn nicht vom Gefängnis dort rausholen. Dann argumentierte ich [Interviewte] energisch mit Menschenrechten. Er wurde auch verärgert und es entstand eine Spannung zum Anhörungsschluss« (A-Interview 18). Durch die Bitte der Antragstellerin wurde die Anhörung nach Einschätzung der Befragten um eine halbe Stunde ausgedehnt. Hiermit ist die Untersuchung des ersten Teils der Empirie abgeschlossen. Es wurde in diesem Arbeitsabschnitt (III) der Gesamtverlauf der Anhörung, einschließlich aller Anhörungsphasen, der vielen kleinen kommunikativen Ereignisse und der unverzichtbaren festen Bestandteile der Anhörung, die in ihrer Summe den Verlauf der Anhörungsinteraktion bestimmen, diskursanalytisch dargestellt. Im nächsten Abschnitt werden die gesamten Anhörungsphasen und die Untersuchungsergebnisse des Arbeitsabschnitts III zusammengefasst.

13.6 13.6.1

Zusammenfassung und Ergebnisse Kapitel III Zusammenfassung der Anhörungsphasen

Im vorliegenden Arbeitsabschnitt (erster empirischer Teil) wurde der Kommunikationstyp ›Anhörungsgespräch‹ anhand von 64 Anhörungsprotokollen untersucht. Die Anhörung wurde strukturell in Phasen unterteilt und detailliert analysiert. Dabei richtete sich das Augenmerk auf die Beschreibung der linearen Abfolge aller Anhörungsphasen und ihre strategische Organisation, wobei auf die funktionale Beschreibung der jeweiligen Phase das Ziel darstellte. Den Analysen nach sind die Anhörungsgespräche in fünf

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242

Die Anhörung im Asylverfahren

Anhörungseinheiten gegliedert, die jeweils in Phasen, Unterphasen und konstitutive Einheiten aufgeteilt wurden. Die fünf vorgestellten Anhörungseinheiten sind die (1) (2) (3) (4) (5)

Anhörungseinführung Anhörungsmitte Überprüfung von Fluchtalternativen Prüfung der Rückkehrprognose und Anhörungsabschluss

welche die größeren Anhörungseinheiten bilden. Die Anhörungseinführung wurde in die Phasen ›Anhörungseröffnung‹, ›PersonalienAbgleich‹, ›Belehrung‹ und ›Identifizierung der Person‹, unterteilt. Die Anhörungsmitte besteht aus den Phasen ›Befragung zum Reiseweg‹, ›Anhörungskern‹ (Rekonstruktion der Fluchtgeschichte und Überprüfung der Glaubwürdigkeit von Antragsteller*innen). Die Anhörungseinheit ›Überprüfung der Fluchtalternativen‹ besteht aus den Phasen ›Befragung zur inländischen Schutzsuche‹ und ›Befragung zur Niederlassung in einem anderen Gebiet‹. Die Anhörungseinheit ›Prüfung der Rückkehrprognose‹ gliedert sich in die Phasen ›Überprüfung der Gefahren bei Rückkehr‹ und ›Überprüfung der Abschiebungshindernisse‹. Die letzte Anhörungseinheit bildet der Verhandlungsabschluss, die sich in eine ›Vorbeendungs- und eine Abschlussphase‹ unterteilt. Daraus ergibt sich, dass die Anhörung insgesamt aus 13 Phasen besteht, die jeweils konstitutive Einheiten beinhalten. Alle Anhörungseinheiten, Phasen, Bestanteile bis zum kleinsten Aktivitätsteil sind empirisch aus dem Material gewonnen und mit Beispielen belegt, so dass alle genannten Phasen mit Zuverlässigkeit als Bestandteile der Anhörung erfasst werden konnten. Durch Die Beschreibung der Anhörungsphasen in ihrer zeitlichen und linearen Abfolge wird die Erfassung der Ganzheitlichkeit des Kommunikationstyps »Anhörung« strukturell garantiert. Untersucht wurde, wie jede einzelne Phase und ihre Bestandteile kommunikativ bearbeitet werden und mit welchem Zweck. Jede Phase und jede Einzelphasensequenz hat ihren eigenen Zweck, die in dieser Reihenfolge aufeinander aufbauend unterschiedlichen Zwecken folgen, um letztlich alle gemeinsam in die institutionelle Anhörungszielsetzung – hier »Entscheidung über den Asylantrag treffen«- zu münden. Dadurch lässt sich zeigen, dass die Funktionen der Einzelsequenzen nicht mit der Erfüllung ihres Zwecks beendet sind, sondern in einer Verkettung mit den anderen kommunikativen Phasen einer Abfolgelogik folgen und linear aufeinander aufbauen. Zum Beispiel beinhaltet die Anhörungseinführung, neben der reinen Anhörungssituierung, den Zweck, die Asylbewerber*innen auf den Anhörungskern vorzubereiten. Durch sie werden die institutionellen Bedingungen für den Kern der Anhörung – hier »die Asylgründe geltend machen – geschaffen. Die zweite Einheit ›Anhörungsmitte‹ beginnt mit den Fragen zum Reiseweg, in der der Antragsteller in den Erzählmodus gebracht wird, um anschließend den wichtigsten Anhörungsbestanteil einzuleiten, in der die ›Fluchtgeschichte‹ dargestellt werden muss. Zudem wird die Glaubhaftigkeit der Aussagen durch eingefügte ›Glaubwürdigkeitsüberprüfungen‹ getestet. Wie die Überprüfung durchgeführt wird, wird im Kapitel 20 gezeigt. Nach dem Bericht zur Fluchtgeschichte und der Prüfung

13. Detaillierte Phasenbeschreibung

der Aussagen, schließt die Anhörungseinheit ›Überprüfung von Fluchtalternativen‹ an. In ihr werden retrospektive Fragen mit dem Ziel gestellt, Wissen für die Entscheidung bezüglich des Sachverhaltes zu generieren, ob die Flucht als »alternativlos« zu erachten ist. Dabei wird überprüft, ob die Antragsteller*innen innerhalb ihres Herkunftslandes hätten fliehen können oder dort Schutz gesucht haben könnten. Im Anschluss daran werden die Rückkehrprognosen geprüft: Es wird überprüft, ob die ursprünglichen Gefahren, vor der die Asylbewerber*innen geflohen sind, noch vorhanden sind. Eine Rückkehrprognose dient auch dazu, gegebenenfalls zukünftige Gefahren in den Herkunftsländern abzuwenden, d.h. eine Abschiebung bei negativem Bescheid zu verhindern. Mit der Anhörungseinheit ›Prüfung der Rückkehrprognosen‹ kommt die informativ-inhaltliche Anhörungsbefragung zu ihrem Ende. Die Anhörungsbeendungsrituale werden in einer Abschlussphase abgearbeitet und letztlich durch die Zustimmung der Antragsteller*innen, dass die im Protokoll erfassten Aussagen von ihnen stammen und richtig sind, endgültig abgeschlossen. Mit der Ratifizierung des Anhörungsprotokolls wird die Gültigkeit der Anhörung als rechtliche und juristische Instanz garantiert, so dass das Protokoll für weitere Vorgänge im Rahmen des Asylverfahrens bereitsteht. Im Folgenden werden die Ergebnisse zusammengefasst.

13.6.2

Empirische Ergebnisse

Mit der Ablaufbeschreibung und Bestimmung der Phasen konnte ein erster und detaillierter Zugang zum Material geschaffen werden und somit ein Einblick in die gesamte Anhörungsverhandlung gewonnen werden. Es wurde von Phase zu Phase gezeigt, wie eine Anhörung im deutschen Bundesamt verläuft. Zudem wurde die Interaktionsdynamik umrissen und der innere Verlauf aller Phasen beschrieben. Hier sind die Ergebnisse im Überblick: (1) Auf der Basis der systematischen Phasenbeschreibung wurde ein typischer formeller und struktureller Anhörungsablauf festgestellt. Da alle Anhörungen auf identische Phasenstrukturen hinweisen, die sich mit der empfohlenen Struktur von EASO (2014) decken, kann das Ablaufmodell als ein allgemeingültiges Grundmuster jeder Anhörung (zumindest alle Anhörungen im Korpus) abstrahiert werden. (2) Betrachtet man den gesamten Ablauf der Anhörungsstruktur, so ist festzustellen, dass die Anhörungsgespräche im Bundesamt, von der Eröffnung der Verhandlung über die Befragung, Beweisaufnahme, Beendung und spätere Entscheidungsfindung, geregelt ablaufen und ihre Durchführung im konkreten Einzelfall den Bundesamtsvertreter*innen zur Umsetzung anvertraut sind. (3) Das Anhörungsgespräch ist als lineares Modell zu verstehen, weil die Phasen bis in den kleinsten Bestandteil an vorausgehende oder nachfolgende Aufgaben gebunden sind. Eine Ausnahme bildet die Phase der Glaubwürdigkeitsprüfung, die zwar an einer bestimmten Stelle platziert ist, jedoch auch als Zwischenfrage überall in der Anhörung eingefügt werden kann. (4) Das Anhörungsgrundmuster und die Anordnung seiner Bestandteile folgen einer spezifischen nachvollziehbaren Abfolgelogik, die von der Anhörungseröffnung bis

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244

Die Anhörung im Asylverfahren

zum Anhörungsabschluss in einer systematischen Chronologie zur Realisierung des Anhörungszwecks aufgebaut ist. (5) Das Forschungsziel, ein holistisches Bild über den gesamten Anhörungsverlauf zu geben, wurde erreicht. Gleichzeitig wurde die Grundlage für die weitere Analyse entlang anderer Beischreibungsdimensionen gelegt. Die Phasen machen Gestalt und Struktur der Anhörung aus und sind notwendige Durchgangsstadien, durch die sich die Sprachhandlungen bzw. Handlungen in ihrer Gesamtheit vollziehen. Es konnte einerseits festgestellt werden, dass das Phasenmodell das Programm der Anhörung darstellt und den Anhörungszyklus festlegt. Andererseits wurde auch zu der Erkenntnis gelangt, dass sich der Bearbeitungsstil in jeder Phase- trotz der gleichen inhaltlichen Phasenbestandteilen und des gleichen zugeschriebenen Zwecks für die Phase- von Anhörung zu Anhörung unterscheidet. Mit dieser Erkenntnis als Grundlage kann die nächste These aufgestellt werden: (6) Es wurde gezeigt, dass die Gesprächsführung, trotz der Vorgaben und der organisierten Anhörungsphasen, einen gewissen Ermessensspielraum bei der Phasenbearbeitung beinhaltet. Dieser zeigte sich vor allem in der Art und Weise der Gesprächsführung und der differierenden Anzahl an Fragen, die gestellt wurden. Ausblick auf Teil IV Die Ermessensspielräume der Entscheider*innen, die durch die empirische Analyse im vorliegenden Arbeitsabschnitt in Form einer grundlegenden Übersicht gezeigt wurden, werden in den folgenden Kapiteln noch deutlicher herausgearbeitet. Einerseits wird die Anhörung durch einen standardisierten Fragenkatalog mit abgegrenzten Fragenblöcken durchgeführt; andererseits spielt es eine Rolle, wer in der Anhörung zugegen ist, aus welchem Land die Asylsuchenden kommen und wie die Anhörer*innen ihre Rollen wahrnehmen.

14. Anhörung als interaktiver Prozess

Im letzten Kapitel standen das Gerüst und die Struktur der Anhörung im Mittelpunkt, wobei der innere Phasenverlauf auch beachtet wurde. Die kommunikative Realisierung jedes Anhörungsbestandteils wurde analysiert. Für jede Phase wurden die konstitutiven Bestandteile und die institutionellen Zwecke herausgearbeitet. Die Reihenfolge der interaktivsten Phase der Anhörung ›Anhörungskern‹ wurde innerhalb des Anhörungsablaufmodells bestimmt, die Platzierung wurde begründet und die Zwecke des Anhörungskerns wurden erklärt, ohne die inhaltliche Handlungspraxis zu vertiefen. In den vorliegenden Abschnitten wird den Anhörungskern mit einem interaktionsinterpretativen Ansatz untersucht. Dabei wird die Anhörung nicht mehr in ihrem linearen Verlauf betrachtet, sondern mit Blick auf die Anhörung als interaktive Verhandlung zwischen den Interaktant*innen, wie sie im Interaktionsmoment entsteht. Denn der formal-strukturelle Rahmen der Anhörung und die Routine der Anhörenden zeigen lediglich, dass die Anhörung in gewisser Weise schematisch abläuft. Bleibt die Analyse bei dieser weitestgehend schematischen Ablaufstruktur, lässt sich die Frage aufwerfen, wo die Asylsuchenden, um deren Verfolgung und Zukunft in der Anhörung verhandelt wird, eine Kommunikationschance erhalten, um in der Anhörungsverhandlung ihren Standpunkt zu vertreten. Bei der Analyse der Anhörung auf strukturell formeller Ebene, erscheinen die Antragsteller*innen wie passiv Befragte und nicht als aktive Anhörungsteilnehmer*innen, die auf das Gespräch Einfluss haben können. Daher wird eine weitere Analyseschicht herangezogen, die untersucht, wie sich die Interaktionsdynamik der Anhörung in ihrem Zustandekommen darstellt. Bei diesem Untersuchungsvorgehen rückt die Analyse des Interaktionsprozesses in ihrer Dynamik in den Vordergrund. Es handelt sich dabei um die Beschreibung, »WIE« ein Interaktionsmoment konstituiert wird. Mit dieser Sichtweise unterscheidet sich die Analyseausrichtung von der vorherigen Analyse im Arbeitsabschnitt III. Deshalb wird die Interaktionsanalyse als weitere Analysemethode für die Untersuchung der Interaktionsdynamik der Anhörung gewählt,1

1

Ausführlich zu der Methode der Interaktionsanalyse, zu den Gründen für ihre Auswahl und wie durch sie die Art und Weise des Handelns beschrieben werden kann, siehe Kapitel 5.2.

246

Die Anhörung im Asylverfahren

um zu zeigen, wie die Anhörungsbeteiligten aufeinander reagieren und wie die Anhörung als interaktive Auseinandersetzung verlaufen kann. Mit diesem Ansatz werden die Handlungsspielräume der Asylsuchenden Beachtung finden, die in der Strukturbeschreibung ausbleiben.

Teil IV: Rekonstruktion von Fluchtgeschichten

15. Zielsetzung und Fragestellung des Arbeitsabschnitts

Der erste Bestandteil im Anhörungskern ist ›die Rekonstruktion der Fluchtgeschichte‹, deren Deutung und Bewertung die Grundlage für die Entscheidung des Asylantrags bildet. In diesem Arbeitsabschnitts soll die Interaktionsdynamik des Anhörungsbestandteils ›Rekonstruktion der Fluchtgeschichte‹ aus der Perspektive des interaktionsinterpretativen Ansatzes analysiert werden. Dabei wird untersucht, wie die Fluchtgeschichten der Asylbewerber*innen rekonstruiert werden. Durch diesen Analyseschritt wird der Prozessverlauf bei der Fluchtgeschichtenherstellung untersucht und die in diesem Arbeitsabschnitt getragenen Gedanken der Interdependenz der Interaktant*innen herausgestellt. Eine solche Analyse trägt zu der gesamten Zielsetzung des Arbeitsteils IV. bei, nämlich empirisch zu zeigen, dass die Anhörung in ihrem internen Interaktionsprozess situations- und konstellationsabhängig ist. Durch die Untersuchung, wie eine Fluchtgeschichte interaktiv rekonstruiert wird, lässt sich zeigen, dass die Art und Weise der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte nicht in allen Anhörungen einheitlich ist. Dadurch wird deutlich, dass es verschiedene Spielräume und unterschiedliche Praxen für die gleiche Aufgabenerfüllung gibt. Hierdurch wird ein weiterer Baustein für die Klärung der Frage gelegt, wie die verschiedenen Anhörungserscheinungen innerhalb der institutionell festgelegten Struktur entstehen. Die Analysen richten sich nicht primär auf die Nacherzählung und Inhalte der Fluchtgeschichte, sondern auf die Untersuchung, WIE die Fluchtgeschichte durch die Beteiligung der Interaktant*innen rekonstruiert/hergestellt wird und welche kommunikativen Ressourcen dafür aufgewendet werden. Im vorherigen Kapitel wurde geklärt, wo die Phase ›Rekonstruktion der Fluchtgeschichte‹ im Anhörungsablaufmodell platziert wird und mit welchem Zweck sie an dieser Stelle in der Anhörung zu finden ist, ohne die inhaltliche Handlungspraxis zu der Frage zu vertiefen, wie die Fluchtgeschichte rekonstruiert wird. Eine vertiefte Untersuchung dieser Fragestellung wird in den folgenden Kapiteln vorgenommen. Es wird detailliert untersucht, auf welche Art und Weise die Fluchtgeschichten rekonstruiert werden und warum es gerade auf diese eine Weise geschieht. Es wird auch der Frage nachgegangen, mit welchen Darstellungsformen die Fluchtgeschichte in den Anhörungsdiskurs gebracht wird.

250

Die Anhörung im Asylverfahren

Eine asylrelevante Fluchtgeschichte zu rekonstruieren geht darüber hinaus verbal zu vermitteln, was am Ort des Geschehens passiert ist. Sowohl an die Anhörenden als auch an die Asylsuchenden werden Anforderungen gestellt, wie eine für die Entscheidung brauchbare Fluchtgeschichte rekonstruiert werden muss. Zum Beispiel sind nicht alle Informationen und nicht jedes Detail der Geschichte relevant für die Entscheidungsfindung, sondern nur bestimmte Ereignisse, insofern sie als Ausgangslage, Resultate oder Folge für die Flucht zu betrachten sind. Die Anhörer*innen haben die Aufgabe, die Anhörung so zu führen, dass die relevanten Ereignisse (asylrelevante Gründe) aus der Fluchtgeschichte generiert werden können. Gleichzeitig sollen sie die Asylsuchenden nicht unterbrechen (vgl. 9.2.1.1). Von den Antragsteller*innen werden Fluchtgeschichten verlangt, die inhaltlich, wie formal bestimmte Kriterien erfüllen. Welches diese Kriterien sind, auf welche Weise die Fluchtgeschichten rekonstruiert werden und welche Rolle die Anhörer*innen dabei übernehmen, sollen im vorliegenden Arbeitsabschnitt (IV) untersucht werden. Das Interesse richtet sich auf folgende Untersuchungsfragen: (1) Welche Voraussetzungen muss eine Fluchtgeschichte erfüllen, damit sie den institutionellen Ansprüchen »glaubhaft« und »asylrelevant« gerecht wird? (2) Gelingt es den Antragsteller*innen die Fluchtgeschichte im institutionellen Kontext mit den erwarteten behördlichen Präsentationsformen darzustellen? Welche kreativen Leistungen werden dafür erbracht? (3) Mit welchen Darstellungsformen1 wird die Fluchtgeschichte in den Diskurs gebracht und warum? (4) Wie wird die Fluchtgeschichte rekonstruiert? Gibt es eine bestimmte Art der Fluchtgeschichtenrekonstruktion oder gibt es dafür verschiedene Rekonstruktionsverfahren? Wenn ja, wie stellen sich diese verschiedenen Verfahren dar und wie entstehen sie?

Abschnitt IV ist wie folgt organisiert: Zuerst wird die Fluchtgeschichte definiert (16) Darauffolgend werden die behördlichen formalen sowie die inhaltlichen Erwartungen hinsichtlich des Aufbaus und der Schilderungskriterien der Fluchtgeschichte erläutert. Es wird erörtert, wie die Fluchtgeschichte erzählt werden muss, um die institutionellen Erfordernisse zu erfüllen (16.1). Darauf aufbauend wird der Frage nachgegangen, mit welchen Darstellungsformen die Fluchtgeschichten in den Diskurs gebracht werden, wobei die Darstellungsform »erzählende Darstellung« detailliert beschrieben wird. Anschließend werden die aus dem untersuchten Material herausgearbeiteten Rekonstruktionsverfahren dargestellt.

1

Um die Fluchtgeschichte in den Diskurs zu bringen, greifen die Antragsteller*innen auf zweckdienliche sprachliche Muster zurück. Diese bzw. die wichtigsten darunter werden dargestellt.

16. Fluchtgeschichte im Asylverfahren

Fluchtgeschichten sind Geschichten, durch die die Fluchtursachen der Asylbewerber*innen auf narrative Weise in die Anhörungssituation geäußert werden. Sie stellen den zentralen Bestandteil der Anhörung und des gesamten Asylverfahrens dar, weil (a) auf deren Grundlage ein Asylantrag gestellt wird und (b) auf der Basis ihrer Bewertung die Entscheidung für oder gegen die Asylgewährung getroffen wird. Fluchtgeschichten beinhalten die Fluchtursachen und -ereignisse von geflüchteten Menschen, die in der Anhörung in einer narrativen Konstruktion (Fluchtgeschichte) eine begründete persönliche Furcht um ihr Leben vermitteln sollen. Fluchtgeschichten müssen durch die Zuschreibung »Opfer sein« ihrer Erzähler*innen akzentuiert werden. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, Welche Funktionen erfüllen Fluchtgeschichten im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge?

16.1

Fluchtgeschichten in der Institution

Fluchtgeschichten sind in der Anhörung als fremdinitiierte Erzählungen zu sehen und haben ein spezielles kommunikatives Anliegen, in dessen Sinne sie erzählt werden sollten. Sie sollten konkrete Botschaften beinhalten, die mit der behördlichen und gesellschaftlichen Konstitution im Aufnahmeland, bezüglich dem Bild über »Asylbewerber*in«, zusammenpassen: Vertriebene Opfer sein, (vgl. Binder & Tošic 2003: 454; Horn 2002: 25, Seukwa 2016: 198), denen jede Möglichkeit zur Rückkehr ins Heimatland verschlossen ist, wobei nur die Asylgewährung eine Überlebenschance für die Person darstellt. Beim Erzählen findet somit eine Orientierung an den Folien der Schutzbedürftigkeit als Strategie statt, die von den Asylbehörden genau definiert sind (s. unten). Durch ihre Leidensgeschichte erheben die Asylbewerber*innen zugleich einen Anspruch auf Legitimität ihrer Handlung (Fliehen und Asylantrag stellen). Ihr Erzählen unterliegt somit »bestimmten Prioritäten und Rahmungen« (Busch 2015: 323), die in der Anhörung mit bestimmten Techniken der Befragung verbunden sind. Im institutionellen Rahmen ist das Erzählte mehr als nur ein Bericht über vergangene Erfahrungen; er ist das Material, das gegen oder für seine Darsteller verwendet wird. Hinzu kommt, dass sich der Antragsteller bei der Schilderung nicht nur retro-

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Die Anhörung im Asylverfahren

spektiv auf Vergangenes konzentrieren muss, sondern sich auch auf die Anforderungen des Erzählmoments und die Erwartung des Anhörenden antizipierend ausrichten sollte. Im Blickfeld der Orientierung während der Erzählung stehen spezielle Relevanzen, die die Fluchtgeschichte kennzeichnen: eine bezieht sich auf das Vergangene ›Furcht vor Verfolgung‹ und die andere bezieht sich auf die zukünftige ›Gefahr eines ihm drohenden ernsthaften Schadens‹ (vgl. K. 13.4). Es müssen also bei der Erzählung die institutionellen Erwartungen im Blick behalten werden. Das führt dazu, dass die Fluchtgeschichte nicht immer in ihrer »Originalfassung« erzählt wird, sondern einer Art des funktionalisierten Erzählens1 unterzogen wird, die dem Zweck der Institution unterliegt. Was aus der ereignisreichen Fluchtgeschichte erzählt werden soll, ist institutionell genau definiert. Nach § 25 Asylverfahrensgesetz muss der/die Antragsteller*in in der Anhörung »selbst die Tatsachen vortragen, die seine Furcht vor Verfolgung oder die Gefahr eines ihm drohenden ernsthaften Schadens begründen, und die erforderlichen Angaben machen […] [und] alle sonstigen Tatsachen und Umstände angeben, die einer Abschiebung oder einer Abschiebung in einen bestimmten Staat entgegenstehen.« (§25 AsylG).2 So wie es sich beim Erzählen seitens der Asylsuchenden um kein freiwilliges Erzählen handelt, sondern um eine Pflichterzählung, die sich nach bestimmten Kriterien zu richten hat, gilt das Zuhören seitens der Entscheider*innen als Pflichtzuhören. Beim Erzählen auf Aufforderung (Rehbein 2007) ist der Zweck des Erzählens nicht durch das Interesse des/der Hörers*in motiviert, sondern durch die Institution (vgl. ebenda: 400). So unterliegen beide Akteur*innen, Antragsteller*innen und Anhörer*innen sowie das erwartete Erzähl- und Zuhörverhalten dem institutionellen Anhörungszweck. Die Institutionellen Vorgaben bewirken, dass sich die Antragsteller*innen bei der Darstellung ihrer Fluchtgeschichte auf bestimmte Weise erzählerisch verhalten und dass die Bundesamtsmitarbeiter*innen in Hinblick auf die Generierung bestimmter Informationen zuhören. Besteht eine Kohärenz zwischen Erwartetem und dem Vorbringen des/der Antragstellers*in, indem sich die Erzählinhalte und Erzählweise mit dem, was man institutionell für Flüchtlinge definiert ist, decken, ist zu erwarten, dass die Entscheidung für den/die Antragsteller*in positiv ausfallen wird; der Fall gilt auch umgekehrt. Diese Erwartungen werden wie folgt zusammengefasst: (1) Die Geschichte soll die Schutzbedürftigkeit ihres Erzählers herausstellen, um einen Anspruch auf Legitimität seiner Handlung (Flucht) zu erheben, so ein Anwalt: »Im Asylverfahren trage ich vor, ich bin des Schutzes bedürftig und ich muss es begründen, weil man den Flüchtlingsschutz nicht einfach so bekommt« (E-Interview

1

2

Funktionalisiertes Erzählen nach Ehlich (1983) ist das »Erzählen in Funktionsbereichen«, wie Schule, Gericht, Krankenhaus usw. Der Zweck des Erzählens unterliegt der Funktionalität der jeweiligen Institution und kann von den an der Interaktion beteiligten Personen unterschiedlich gedeutet und verwendet werden. (vgl. ebenda:136f.). Asylgesetz (AsylG): § 25 Anhörung; verfügbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/asylvfg_ 1992/__25.html (11. 03. 2018.).

16. Fluchtgeschichte im Asylverfahren

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Hagemann). Fluchtgeschichten sollen der Viktimisierung, Passivität und Disempowerment3 der Antragsteller*innen widerspiegeln. Die persönlichen Fluchtereignisse, inklusive schwerer traumatisierender Erlebnisse, wie Folterungen, sollen dem Anhörer umfangreich, mit möglichst vielen Datenangaben, chronologisch und nachvollziehbar erzählerisch vermittelt werden. Sie müssen so dargestellt werden, dass aus ihnen ein Tatsachenbestand ermittelt werden kann, dass das Erzählte erlebnisbezogen ist (vgl. Marx 2003b: 81; In allen Experteninterviews). Daher müssen sie dicht und lebensnah vermittelt werden, im Gegensatz zu einem abstrakten und allgemein gehaltenen Vortrag. Die sprachliche Schilderung dieser Konstellation sollte deutlich, greifbar, konkret, anschaulich und so detailreich wie möglich sein (vgl. Marx 2013a: 10). Eine Erzählung im Asylverfahren muss hinsichtlich des Aufbaus den behördlichen Vorstellungen entsprechen, um Glaubwürdigkeit beanspruchen zu können: Das beansprucht die Herstellung einer sprachlichen, zeitlichen und sequenziellen Kohärenz wie auch eine innere und externe Schlüssigkeit der Geschichte (vgl. Busch 2015: 323; Marx 2013a: 9). Die in der Anhörung geforderte Fluchtgeschichte muss so dargelegt werden, dass (a) sie eine Verbindung zwischen Gefahr in der Vergangenheit und dem Weiterbestehen der individuellen Bedrohung des Geflüchteten in der Gegenwart und der nächsten Zukunft herstellt und (b) keine Alternative zur Flucht ableitbar ist oder erkennbar wird (s. oben). Hierbei ergeben sich mehrere Blickrichtungen beim Erzählen: Es handelt sich nicht nur um die Rekonstruktion vergangener Ereignisse, sondern auch um die Konstruktion möglicher, zukünftiger Situationen (vgl. Rückkehrprognose), die alle darauf abzielen, dass die Antragsteller*innen dringlich machen, dass es keine Alternative für ein würdiges Leben gibt, außer im Aufnahmeland zu bleiben. Gelungen ist die Fluchtgeschichte, wenn die Schutzbedürftigkeit ihrer Erzähler*innen aus Sicht der Behörde als solche bewertet werden kann, denn »nicht jede negative staatliche Maßnahme – selbst, wenn sie an eines der genannten persönlichen Merkmale anknüpft – stellt eine asylrelevante Verfolgung dar. Es muss sich vielmehr einerseits um eine gezielte Rechtsgutverletzung handeln, andererseits muss sie in ihrer Intensität darauf gerichtet sein, die Betroffenen aus der Gemeinschaft auszugrenzen. Schließlich muss es sich um eine Maßnahme handeln, die so schwerwiegend ist, dass sie die Menschenwürde verletzt und über das hinausgeht, was die Bewohnerinnen und Bewohner des jeweiligen Staates ansonsten allgemein hinzunehmen haben.« (BAMF 2016 o.S.).

3

Begriffe wie Passivität, Viktimisierung und Disempowerment in eine Opferrolle wurden in Anlehnung an (Uehling 1998; Binder & Tošic 2003: 454; Horn 2002: 25) als Begriffe für die behördlichen Erwartungen an Asylsuchende gewählt. Die Institution des Schutzes beinhaltet bereits, in der rechtlichen Definition der GFK, die Bedeutungen der Viktimisierung und des Disempowerments (vgl. Uehling 1998: 126).

253

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Die Anhörung im Asylverfahren

Eine Fluchtgeschichte hat also mehrere Etappen zu überstehen: institutionsgemäße Entwicklung und überzeugende Darstellung, um bei den Entscheider*innen als glaubhaft zu erscheinen und folglich als asylrelevant bewertet zu werden.4 Im Folgenden wird diskutiert, welche Darstellungsformen sich für die Rekonstruktion der Fluchtgeschichte eignen, so dass die institutionellen Relevanzen und die oben beschriebenen Kriterien eingehalten werden können. Zudem wird erklärt, warum sich die jeweiligen Darstellungsformen für die Erfüllung der o.g. Kriterien eignen.

16.2

Darstellungsformen der Fluchtgeschichte

In dieser Studie wird zwischen Darstellungsformen und Herstellungsverfahren von Fluchtgeschichten unterschieden. Das letzte bezieht sich auf Rekonstruktionstechnik, d.h. darauf, wie und auf welcher Art und Weise die Fluchtgeschichte in einem interaktiven Prozess für die materielle Prüfung hergestellt wird. Mit den Darstellungsformen sind hier die sprachlichen Muster gemeint, die die Antragsteller*innen für die Sachverhaltsdarstellung und die Anhörenden für die Sachverhaltsklärung wählen. Anhand der Materialdaten wird ersichtlich, dass die Antragsteller*innen bei der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte oft verschiedene Darstellungsformen (wie: Erzählen, Berichten, Beschreiben, Vortragen, berichtende Darstellung usw.)5 einsetzen. Sie wählen kein gleichbleibendes Muster von Erzählbeginn bis zum Ende, sondern verwenden mehrere Muster. Die Ursache dafür ist im Anhörungscharakter zu sehen, der davon gekennzeichnet ist, dass Fragen gestellt werden, die eine Beschreibung oder Erzählung anfordern und andere, die Argumente oder Rechtfertigungen abverlangen. Ich beschränke mich auf die Illustration der Darstellungsformen »Erzählen« und »erzählende Darstellung«, weil sie (insbesondere das Letztgenannte) die Grundformen zur Geschichtendarstellung in der Anhörung darstellen. Alle weiteren erwähnten Muster werden episodisch miteinbezogen.

4

5

Um die Akzeptanz der Geschichte zu erreichen, sind mehrere Begebenheiten wichtig, wie ein Anwalt zusammenfasst: »Wie die Geschichte ist, wie sie repräsentiert ist und wie die von den Entscheidern bewertet wird.« (E-Interview Schmitz). Es geht nicht nur darum, ob sich diese oder jene Zustände in der Sphäre der wirklich erlebten Erfahrung der Antragsteller*innen abgespielt haben, sondern dass die Asylsuchenden diese als »wirklich« vermittelt und dass die Anhörenden diese auch als solches interpretieren und akzeptieren. Hoffmann untersucht die Realisierungen der Zeugendarstellung vor Gericht und gelangt zu einer Differenzierung zwischen den Formen »Bericht«, »berichtende Darstellung«, »erzählende Darstellung« und »Konversationelle Erzählung« (Hoffmann 1983:284-286; 1991:88-110). Der Bericht beschränkt sich auf die »Abfolge institutionell relevanter Ereignisse«, zeigt keine »persönliche Involviertheit«, »erzählt nicht szenisch«, enthält keine Kommentare und macht deutlich, wo »Wissensdefizite« bestehen (Hoffmann 2001:1549) und ermöglicht den Institutionsvertretern*innen, einen »konkrete[n] Handlungsablauf als Instanz eines institutionellen Ereignistyps« zu kategorisieren (Hoffmann 1991:106). In der »berichtenden Darstellung »hingegen kommentieren Zeugen offen das Gesagte. (vgl. ebenda). Die konversationelle Erzählung schließlich entspricht der außerinstitutionellen Alltagerzählung. Sie unterscheidet sich von der erzählenden Darstellung insofern, als sich die Sprecher*innen nicht an institutionellen Relevanzvorgaben orientieren (vgl. ebenda:99101).

16. Fluchtgeschichte im Asylverfahren

16.2.1

Unterschiede zwischen Alltagserzählung und institutionsgebundenem Erzählen

Damit die Tatsachen über die Fluchtereignisse den Anhörer*innen zugänglich werden, müssen Sachverhalte in den Diskurs gebracht werden. Eine der wichtigsten kommunikativen Formen, mit denen allgemeine Sachverhalte in einen Diskurs gebracht werden, ist das Erzählen (Hoffmann 1991: 90; Seibert 1991: 85). Das Erzählen ist die einfachste Form der Mitteilung und prägt als basale zentrale Form der menschlichen Kommunikation, die Grundlage aller anderen Mitteilungsformen (vgl. Hausendorf & Quasthoff 2005: 10). Charakteristisch für das alltägliche Erzählen ist es, den Hörer*innen die Sprecher*innenperspektive zu vermitteln. Die Hörer*innen sollen dabei die Ereignisse aus der Perspektive der Sprecher*innen sehen und ihre Bewertung der Ereignisse übernehmen. Denn der Zweck des Erzählens im alltäglichen Kontext ist, »[…]eine erlebte oder erfundene Geschichte so zu präsentieren, daß der Hörer den Anlauf in seiner Vorstellung nachvollziehen und die Bewertung teilen kann« (Hoffmann1997: 123). Eine Erzählung wird so aufgebaut, dass die Erzähler*innen den Relevanzpunkt des zu Erzählenden selbst setzen und dass sie herausstellen, was aus ihrer Perspektive erzählenswert ist. Auf dem Relevanzpunkt »operiert die für den Sprecher entscheidende Bewertung« (Hoffman 1991: 97). Dies geschieht mit Hilfe von erzählerischen Mitteln wie der direkten Rede, Steigerungen, Höhepunkte, Kontrastierungen, Identitätspräsentation usw. (vgl. ebenda). Sie ermöglichen den Hörer*innen eine »szenische Vergegenwärtigung« der Geschehnisse, was heißt, dass die Hörer*innen sich in die Perspektive der Erzähler*innen hineinversetzen können (vgl. ebenda: 98). Anders als das Erzählen in Institutionen werden Geschichten im Alltag oft um ihrer selbst willen erzählt; sie dienen der Unterhaltung und stellen eine Gemeinschaft zwischen Sprecher*innen und Hörer*innen her. Erzählen ist eine sprachliche und zugleich soziale Handlung, um Ereignisse und Erfahrungen auszutauschen (vgl. Ehlich 1980: 20). Darüber hinaus kann das Erzählen für die Sprecher*innen weitere Funktionen erfüllen, beispielsweise ihre Identität aufzuwerten, sich psychisch zu entlasten oder sich zu vergewissern, dass ihre Bewertungsmaßstäbe von der Gemeinschaft geteilt werden (vgl. Hoffmann 1991:98). In einer Erzählsituation teilen sich die Menschen erzählend mit und erfahren darüber soziale Anerkennung (vgl. Lucius–Hoene & Deppermann 2004: 33). Die Anhörung basiert auf einem narrativen Modell. Die Fluchtgründe müssen immer »erzählt« werden. In der Initialposition des Anhörungskerns werden die Antragsteller*innen mit einer Äußerung, wie »jetzt können Sie Ihre Fluchtgründe vortragen« aufgefordert, ihre fluchtauslösenden Gründe zu erzählen. Je nach den Erlebnissen und Geschehnissen im Herkunftsland kann eine so entstehende einaktantige Erzählepisode lang oder kurz sein. Die Anhörungsdauer ist deshalb nicht streng begrenzt.6 Sie hängt vom Verfolgungsschicksal und von den Asylbewerber*innen selbst und ihrer Darstellungskompetenz ab. Die Erwartungen von Fluchtgeschichtenerzähler*innen und Hörer*innen (Entscheider*innen) verhalten sich anders als im Alltagserzählen: Für eine erfolgreiche Erzählung im Asylverfahren sollen die Antragsteller*innen (inhaltlich wie formal) nicht 6

Die Anhörungsdauer liegt zwischen 25 Minuten und 8 Stunden (vgl. K. 9.2.2).

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256

Die Anhörung im Asylverfahren

nur erzählen, was ihnen wichtig ist, sondern was aus Sicht der Behörde wichtig ist. Die Geschichte soll die oben aufgezählten Grundanforderungen (16.1) erfüllen. Von den Anhörer*innen wird nicht erwartet, die Ereignisse aus der Perspektive der Asylsuchenden zu sehen und ihre Bewertung der Ereignisse zu übernehmen, wie es beim Alltagserzählen der Fall ist. Im Gegenteil, sie müssen die ihnen durch das Erzählen dargestellten Tatsachen selbst bewerten. Für die Bewertung des institutionalisierten Erzählens steht der Anspruch auf Kohärenz, Vollständigkeit und Unwiderlegbarkeit der vorgetragenen Tatsachen im Vordergrund. Ein großer augenfälliger Unterschied bezüglich des Erzählens in der Anhörung zum alltäglichen Erzählen besteht darin, dass prinzipiell alles, was in der Anhörung erzählt wird, gegen die Erzähler*innen verwendet werden kann. Das beruht auf der Begebenheit, dass die Asylsuchenden die Vermutungsregel erst überwinden müssen (vgl. Asylbewerbertyp III »Der Schmuggler«), womit jede einzelne Handlungsschritt als vermittelte Information in der Erzählung zunächst den Status einer Behauptung erhält, die überprüft werden muss. In der Anhörung steht jede Angabe für die interpretative Bewertung und dann für die rechtliche Bearbeitung zur Verfügung. Die Erzählung kann zwecks der rechtlichen Bearbeitung anhand des strategischen Plans des/der Entscheiders*in eingeschränkt werden: Die Antragsteller*innen könnten eventuell unterbrochen werden, weil (a) beispielsweise die Entscheider*innen das, was gerade erzählt wird, nicht für relevant halten, (b) die Asylsuchenden eine Frage beantworten müssen, die ihnen während der Erzählung gestellt wird. Die Anhörenden können sich, wie oben dargestellt wird, an der Erzählung in irgendeiner Form beteiligen. Darüber hinaus sind die Antragsteller*innen gefordert, zu überlegen, was sie erzählen, weil ihre Aussagen durch das Protokoll aktenkundig gemacht werden und für oder gegen sie verwendet werden. Deshalb soll die Fluchtgeschichte in eine institutionalisierte Version transformiert werden. Erzählen wird im Asylverfahren verwendet, um für bestimmte Sachverhalte einen Wahrheitsanspruch erheben zu können, um die Flucht zu legitimieren und eine spezifische rechtliche Bewertung zu erreichen. Bei der Geschichtendarstellung fordert die Anhörungssituation den Asylsuchenden auf, ein reduziertes Handeln (erzählen, wie schutzbedürftig er ist) zu übernehmen. Deshalb ist bei der Anhörung von einem »funktionalisierten Erzählen« (Ehlich 1983: 137) zu sprechen. Denn das alltägliche Muster des Erzählens wird für die Zwecke der Institution »überformt« (Hoffmann 2002: 87), indem es funktionalisiert und verschiedenen Modifikationen unterworfen wird. Die Geschichte muss die gesetzlichen Kriterien für die Asylgewährung erfüllen (s. oben) und gleichzeitig erzählerisch die Involviertheit der Asylsuchenden ins Geschehen, ihre Ängste und Gefühle hervorheben. Die Erzählung muss mindestens eine spürbare Furcht vor der Rückkehr in das Heimatland geltend machen. Gerade an diesem Punkt wird das Muster Erzählen in seinem ursprünglichen Gebrauch wieder erkennbar: das Erzählen über innere Zustände (vgl. Hoffmann 1991: 100). Da Furcht ohne die Berücksichtigung der inneren Zustände der Antragsteller*innen nicht feststellbar ist, sind gewisse Merkmale des alltäglichen Erzählens, wie Kommentierungen, Detaillierungen, Identitätspräsentation und szenische Vergegenwärtigung (vgl. ebenda: 102) in Darstellungsaktivitäten vorzufinden. Darüber hinaus treten die Asylsuchenden in der Anhörung als Aktanten hervor, die ihre subjektive Perspektive, trotz der Anpassung an die institutionellen Zwecke, vortragen. Ihre Ängste, Wünsche und Hoffnungen werden in Ich-Form von einer

16. Fluchtgeschichte im Asylverfahren

Person, die die Ereignisse selbst erlebt hat, in den Sachvortrag transportiert. Dabei werden die relevanten Handlungsabläufe so lebensnah geschildert, dass sie ohne typische erzählerische Mittel nicht wiedergegeben werden können. Durch diese Kombination, die Anpassung des Musters »Erzählen« bei der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte an die institutionellen Anforderungen, ohne auf die typisch erzählerische Mittel zu verzichten, wird oft die Erzählform »erzählende Darstellungen«7 für die Wiedergabe der Fluchtgeschichte verwendet. Erzählende Darstellung eignet sich aus meiner Sicht für die Darstellung der Fluchtgeschichte insbesondere deswegen, weil durch sie bei der Geschichtendarstellung einerseits den institutionellen Relevanzen angepasst werden können; andererseits lässt sie parallel einen Raum für die erzählerischen Belange der Erzähler*innen über ihre Involviertheit ins Geschehen und bezüglich der Beschreibung ihrer inneren Zustände (wie Fluchtmotivationen z.B. Angst, Furcht vor Verfolgung) zu.

16.3

Relevanz der Erzählphase in der Anhörung für Antragsteller*innen

Nach dem Vortrag der Fluchtgeschichte wird die Geschichte versachlicht und als Gegenstand der Auseinandersetzung und der Überprüfung für eine rechtliche Entscheidung bereitgestellt. Die Anhörenden müssen aus dem, was die Asylsuchenden erzählt haben, etwas Rechtsgültiges herleiten. Wie wird diese Geschichte, auf die die Anhörungsverhandlung aufgebaut wird, hergestellt? Stellen die Antragsteller*innen den Sachverhalt allein dar? Sind die Antragsteller*innen die einzigen Autoren *innen ihrer Geschichten? Beteiligen sich die Institutionsvertreter*innen an der Rekonstruktion und in welchem Maß? Fakt ist, dass der/die Asylsuchende die einzige Person ist, die die Ereignisse erlebt hat und weiß, was konkret passiert ist. Mit der Aufforderung zum Erzählen am Erzählsequenzbeginn wird dem/der Antragsteller*in das Rederecht gegeben, als einziger/einzige Autor*in an seiner/ihrer Geschichte zu wirken und frei seine/ihre Fluchtgründe zu schildern. Diese Stelle in der Anhörung markiert den einzigen »Aufschlag«, den der/die Asylbewerber*in selbst machen darf: komplett allein und ohne Einschränkung seine/ihre Erlebnisse zu vermitteln. In einem Experteninterview bezeichnet der Anwalt diese Anhörungssequenz wie folgt: »Wenn man es mit Sport vergleicht; im Volleyball gibt es einen Aufschlag. Das ist der einzige Schlag, den Sie unabhängig vom Gegner machen können. Dieser Punkt, nämlich den Vortrag, was sie (Asylbewerber) selbst vortragen ist sehr wesentlich. Hier sind die Narrationen aller wichtigste Anteile in der Anhörung. Wenn Mandanten allein entscheiden, was sie berichten, kommen sie oft in Probleme und spätere Änderungen sind sehr schwer.« (E-Interview Schmitz). 7

Als »erzählende Darstellung« bezeichnet Hoffmann die in den Handlungsraum des Gerichts transponierte Erzählform, die vom alltäglichen Muster des Erzählens modifiziert und für institutionelle Zwecke funktionalisiert wird (vgl. Hoffmann 1991: 100). Die erzählende Darstellung ist dadurch kennzeichnet, dass sie Elemente »Erzählkennzeichen«, wie »szenische Elemente« und »Aktantenperspektive«, die sowohl Kommentare und offene Strategien als auch typische dramaturgische Elemente der Alltagserzählung umfassen, enthält (vgl. Hoffmann 2001: 1549).

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Die Anhörung im Asylverfahren

Die Aufforderung zum Erzählen wird entweder in eine direkte Frageform durch WFragen an den Antragsteller*innen gerichtet »Warum haben sie ihre Heimat verlassen?« (P: 13) oder durch Stellung des Modalverbs als Höflichkeitsform an der ersten Stelle »Können Sie mir bitte Ihre Fluchtgründe vortragen« (P: 43), »Nennen Sie bitte die fluchtauslösende Ereignisse, weswegen Sie ihre Heimatland verlassen haben« (P: 11) oder im Aussagesatz »Jetzt können Sie frei Ihre Fluchtgründe erzählen« (P.8) formuliert. Betrachtet man die Formulierungen aller Aufforderungsvarianten, enthalten sie alle die Bitte zum freien Erzählen, Vortragen, Schildern oder Berichten. Die Asylbewerber*innen können an dieser Stelle frei reagieren, weil ihre Reaktion zunächst durch die Aufforderungsvorgabe nicht klar determiniert sind, d.h. was sie erzählen und die Art und Weise, wie sie erzählen, wird nicht vorbestimmt. Es besteht bloß die Pflicht, innerhalb des Horizonts der Aufforderung (über Asylgründe zu berichten) mitzuwirken, womit sie theoretisch die Struktur der Darstellungsvollzüge frei wählen und ihre Geschichte so systematisch ordnen können, wie sie sie erlebt haben. Die Anhörungsordnung sieht vor, dass die Asylsuchenden ihre Fluchtgeschichte zusammenhängend und vollständig darstellen. Inwieweit die Asylsuchenden die Möglichkeit dazu tatsächlich erhalten, frei und zusammenhängend zu erzählen, hängt von den Anhörenden und ihrer Beteiligung an der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte und ihrem Anhörungsstil ab. In welchen Umfang die gegebene Möglichkeit zum Erzählen genutzt wird, hängt wiederum von der Erzählkompetenz der Asylsuchenden, ihrem Selbstbewusstsein, ihrer Erwartung von der Anhörung und von ihrer Strategie ab.

17. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten1

Anhand der Daten aus der Untersuchung der Rekonstruktionsweise von Fluchtgeschichten lässt sich feststellen, dass in der Anhörung verschiedene Verfahren für die Rekonstruktion der Fluchtgeschichte verwendet werden. In den untersuchten Anhörungen werden sechs unterschiedlichen Rekonstruktionsverfahren bezüglich der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte herausgefunden. Die sechs Rekonstruktionsverfahren werden behandelt. Jedoch wird aus Datenschutzgründen auf die eingehende Fallanalysen verzichtet. Ein tabellarischer Gesamtüberblick über die sechs unterschiedlichen Rekonstruktionsverfahren befindet sich am Ende des Kapitels. Darüber hinaus soll festgestellt werden, welches Rekonstruktionsverfahren den Antragsteller*innen den größten Raum bietet, ihre aktive Rolle wahrzunehmen, ihre Hypothese »verfolgt zu sein« darzustellen und sich interaktiv mit den Anhörenden auseinanderzusetzen. Ein Rekonstruktionsverfahren entsteht nicht willkürlich, sondern aus einem Komplex von Voraussetzungen für die Verwendung eines Rekonstruktionsverfahrens und diese hängen von mehreren Faktoren ab: (a) vom Verhalten der Anhörenden beim Zuhören; sie können entweder zuhören oder immer wieder durch Regiefragen in den Erzählstrom eingreifen und ihn blockieren, (b) von der Erzählkompetenz der Antragsteller*innen: können sie sich bei Unterbrechungen durchsetzen, ihren Redebeitrag zu beenden, können sie ohne Beteiligung der Anhörenden chronologisch und plausibel darstellen? (c) von den Erwartungen, die an die Asylbewerber*innen gestellt sind; wie stark sind sie der Vermutungsregel ausgesetzt (Asylbewerbertyp III »Der Struggler«)? Sind sie keiner Vermutungsregel ausgesetzt (Typ II »Der Sichere«)? und davon hängt ab, (d) ob die Anhörenden bei der Rekonstruktion der Fluchtereignisse Interesse an der Vielfältigkeit des Geschehens zeigen oder ob sie sich bezüglich der Rekonstruktion

1

Es wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass in der Dissertation keine Originalgespräche dargestellt werden. Anders wäre die aus datenschutzrechtlichen Gründen unbedingt zu gewährleistende Anonymisierung der Daten durch eine mit einer bestimmten Zielrichtung durchgeführte indirekte Zuordnung einzelner Fakten zu bestimmten Personen anhand individualisierender Merkmale wieder aufhebbar gewesen

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Die Anhörung im Asylverfahren

an einer rechtlich verhandelbaren Geschichte orientieren, die sich möglicherweise aus Fragmenten des Geschehens durch ihre Mitarbeit entwickeln lässt. Deshalb finde ich es ist an dieser Stelle geboten darzustellen, in welcher Konstellation die verschiedenen Rekonstruktionsverfahren entstehen. Dabei erläutere ich mein Vorgehen, die verschiedenen Verfahren zu benennen und begrifflich voneinander abzugrenzen.

17.1

Zur Entstehung von Rekonstruktionsverfahren

Ein Rekonstruktionsverfahren entsteht in Interdependenz zum kommunikativen Verhalten der Interaktanten. Bei allen untersuchten Rekonstruktionsverfahren der Fluchtgeschichte gibt der/die Anhörende dem/der Antragsteller*in zuerst das Rederecht: »Er soll bitte seine Fluchtgründe frei schildern«. Die Untersuchung von mehreren Anhörungen zeigt, dass die Selbstbestimmung der Antragsteller*innen, hinsichtlich der freien Darstellung, nicht in allen Fällen über einen längeren Zeitraum gehalten wird, weil (a) entweder die Entscheider*innen bei der Rekonstruierung der Geschichte durch Fragen interaktiv beteiligt sind (b) oder, weil die Antragsteller*innen ihre Chance auf freies Erzählen nicht im Anspruch nehmen können.

Dies hat zur Folge, dass Fluchtgeschichten unter diesen Bedingungen oft durch eine Ko-Rekonstruktion im Kontext eines Frage-Antwort-Formats rekonstruiert werden. Je nach dem Ausmaß der Beteiligung von Entscheider*innen bei der Rekonstruktion, kann die Fluchtgeschichte in einem segmentierten oder elizitierten Erzählverfahren rekonstruiert werden, was für eine zusammenhängende Erzählung hinderlich sein könnte. Anhand der Daten kann nicht durchgängig bestätigt werden, dass sich ein segmentiertes Erzählverfahren per se als nachteilig für die Asylbewerber*innen erweist. Denn das segmentierte Rekonstruktionsverfahren stellt in diversen Fällen das einzig mögliche Verfahren zur Rekonstruktion von Fluchtgeschichten dar (Anhörungen 1 und 6). Man muss m.E. die Geschichtenentwicklung in jedem Einzelfall, im gesamten Kontext, Zug für Zug untersuchen, um die verwendeten Rekonstruktionsverfahren für die Fluchtgeschichte benennen zu können und ihre Eignung für die Anhörungszwecke zu bewerten. Die Wirkung jedes Eingriffs in die Kommunikation durch den Anhörenden muss in Bezug auf die gesamte Erzählung analysiert werden, um beurteilen zu können, ob solche ›kommunikativen Eingriffe‹ als Unterbrechungen zu werten sind, die den Erzählstrom aufheben oder eher als eine erzählfördernde »Einmischung« fungieren, die den Erzählstrom aufrechterhält. Die in Kürze vorgestellten Rekonstruktionsverfahren sind im Zuge von detaillierten Analysen entstanden, die jeden einzelnen Zug beider Aktant*innen einbeziehen, die zur Geschichtenentwicklung beitragen. Dabei wird das aufeinander Reagieren der Interaktant*innen und ihr Beitrag zur Fluchtgeschichtenrekonstruktion untersucht und diese

17. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten

Interaktionsphänomene wiederum auf empirisch fundierter Basis kontextuell und auf ihren kommunikativen Zweck hin klassifiziert. Erst dann ist es möglich, die Entscheider*innenbeiträge hinsichtlich der Fragestellung zu bewerten, ob sie Unterbrechungen sind, erzählfördernd wirken oder elizitierende Beteiligungen darstellen und mit welchem sonstigen Hintergrund diese Beiträge vollzogen werden. Ergebnisse der Anhörungs-Untersuchungen Es können sechs Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten unterschieden werden. Die ersten zwei Rekonstruktionsverfahren basieren überwiegend auf einer einaktantigen Beteiligung seitens des/der Antragstellers*in zur Darstellung der Fluchtgeschichte und die weiteren vier entstehen in Kooperation mit dem/der Entscheider*in: (a) Monologische Darstellung der Fluchtereignisse (1) Einaktantige, kontiunierliche Darstellung (2) Einaktantige, diskontinuierliche Darstellung  (b) Ko-Rekonstruktion der Fluchtereignisse (3) Segmentierende Rekonstruktionsverfahren (4) Ko-Rekonstruktion mit gleichberechtigter Interaktionsdynamik (5) Elizitierte Rekonstruktion von Fluchtereignissen (6) Kooperative Sortierung der Fluchtereignisse

Dabei kann eine Anhörung nicht nur einem, sondern mehreren Rekonstruktionsverfahren zugeordnet werden. In einer Anhörung können, neben einer für die Rekonstruktion der Fluchtgeschichte vorherrschenden Rekonstruktionstechnik, zwei oder drei weitere Verfahren sequenzweise verwendet werden. Die verschiedenen Verfahren wurden folgendermaßen auseinandergehalten, um Anhörungen den unterschiedlichen Rekonstruktionsverfahren zuweisen zu können: Das überwiegend verwendete Rekonstruktionsverfahren wird als Hauptrekonstruktionsverfahren wahrgenommen und dementsprechend die Anhörung diesem Verfahren zugeordnet. Die sechs empirisch herausgearbeiteten Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten werden im Folgenden dargestellt.

17.2

Monologische Darstellung der Fluchtereignisse

Mit dem Ausdruck ›Monologische Darstellung der Fluchtereignisse‹ werden Formen der Rekonstruktion der Fluchtereignisse und -erfahrungen in der Anhörung bezeichnet, in denen die Antragsteller*innen ihre Fluchtgeschichte ohne verbale Beteiligung der Entscheider*innen darstellen. Bei der monologischen Darstellung können weiterhin zwei Varianten unterschieden werden. 

17.2.1

Einaktantige, kontinuierliche Darstellung

Die Erzählung basiert auf einem einaktantigen narrativen Rekonstruieren der Fluchtursachen. Beim einaktantigen Darstellungsverfahren sind die Fluchtereignisse in ihrer

261

262

Die Anhörung im Asylverfahren

Reihenfolge bei den Asylbewerber*innen aus der Erinnerung abrufbar, so dass eine lineare Darstellung der Geschehnisse rekonstruiert wird. Die Antragsteller*innen haben einen Plan, wie sie ihre Fluchtgeschichte darlegen wollen und diesem gehen sie bei der Darstellung strukturell nach. Dabei ist die Ordnung der Fluchtereignisse allein auf die Struktur der wiedererinnerten Erlebnisse zurückzuführen.

17.2.2

Einaktantige, diskontinuierliche Darstellung

In verschiedenen Fällen (z.B. BP: 10) werden die Fluchtgeschehnisse zwar monologisch, aber nicht kontinuierlich in ihrer Reihenfolge geschildert, sondern mit vielen kognitiven Bemühungen und Anstrengungen (ausgelöst durch die emotionale Belastung des Erinnerns) rekonstruiert. Für dieses Darstellungsverfahren wird der Begriff ›diskontinuierlich‹ verwendet, um ihn von einer kontinuierlichen Darstellung abzugrenzen. Damit möchte ich auf die Rekonstruktion von Fragmenten der Fluchtereignisse verweisen. Das Rekonstruieren von Fluchtgeschichten auf dieser Rekonstruktionsbasis kostet die Antragsteller*innen deutlich mehr Erinnerungs- und Verbalisierungsanstrengungen. Nach der Erzählaufforderung durch die Entscheider*innen versuchen die Asylbewerber*innen, Einzelheiten von Ereignissen zu erschließen und die Fluchtgeschichte kontextuell mühsam wiederherzustellen. In diesem einaktantigen Rekonstruktionsverfahren stellen die Asylbewerber*innen die Geschichte allein und mit folgenden spezifischen Merkmalen dar: Beim Rekonstruieren wird in den Erinnerungen nach den Zusammenhängen gesucht und die Geschichtenteile werden schrittweise und nicht vollständig rekonstruiert. Die alleinige Ereignisrekonstruktion in diesem Fall verläuft wie folgt: Der/Die Antragsteller*in beginnt Geschehnisse zu erzählen, die er/sie selbst abbricht, um zuerst andere Wissenselemente zu nennen, die schließlich aus seiner/ihrer Sicht als »unnötig« bewertet werden, überlegt und nimmt die Erzählung dann selbstständig wieder auf, ohne Eingriffe seitens des/der Anhörers*in. Dabei kommt es vermehrt zu Einschüben, Metakommentaren und Selbstbewertungen des Geäußerten. Während bei der ›einaktantigen, diskontinuierlichen Darstellung‹ von Fluchtgeschichten mehrere Versuche in Anspruch genommen werden, um eine lineare Darstellung der Geschehnisse aufzubauen, ist die Fluchtgeschichte beim ›einaktantigen, kontinuierlichen Darstellen‹ dagegen kognitiv und kontextuell verfügbar und wird von den Asylsuchenden kontinuierlich erzählt. Die beiden Darstellungsverfahren sind dafür charakteristisch, dass die Antragsteller*innen die Fluchtgeschichte ohne die Beteiligung der Anhörenden selbst wiedergeben.

17.2.3

Merkmale der monologischen Darstellung von Fluchtereignissen

Ein wesentliches und besonders auffälliges Merkmal, das für die einaktantige Darstellungstechnik charakteristisch ist, beruht darauf, dass sich die Interaktionsdynamik während der Rekonstruktion der Fluchtereignisse kaum entwickelt und unbedeutend bleibt, weil sie seitens der Anhörenden in unkooperativer Weise organisiert wird. Unkooperativ heißt, dass die Anhörenden nach der Erzählaufforderung eine sehr zurückhaltende Rolle einnehmen; nämlich die des (a) Zuhörenden und (b) Protokollierenden. Die sechs Fälle, in denen diese Darstellungstechnik (BP: 10, BP: 14, BP: 16, BP: 18, BP: 19 und

17. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten

BP: 20) vorkommt, zeigen, wie sich die Anhörenden während und nach der Darstellung der Fluchtgeschichte verhalten: Sie halten sich aus der verbalen Interaktion vollkommen zurück. Es ist möglicherweise zu vermuten, dass solche Rekonstruktionsverfahren für die Antragsteller*inneninteressen dienlich sein könnten, weil die Asylbewerber*innen die Erzählfäden in ihren Händen haben. Sie können frei die Fluchtgründe aus ihrer Perspektive ohne »Einmischung« Dritter erzählen. Jedoch sind Nachteile dabei zu erfassen: (a) Diverse Antragsteller*innen beachten die institutionelle Anforderungen (s. oben) nicht. Deshalb könnte sich das Einmischen der Entscheider*innen als hilfreich erweisen (wie in BP: 1), (b) Diese Art der Geschichtenherstellung erweist sich in bestimmten Fällen als nicht ausreichend für die Erfassung des vollständigen Sachverhalts (BP: 14, BP: 16). In den zwei Fällen wird zwar zusammenhängend und ohne Unterbrechung erzählt, aber aus der Perspektive der behördlichen Bewertung nicht substantiiert. Die Asylbewerber*innen wurden auch nicht nach fehlenden Angaben gefragt. Ausbleibende Nachfragen haben in der Praxis zur Folge, dass verschiedene Antragsteller*innen (BP: 14, BP: 16 und BP: 19) eine überblicksartige, aus der behördlichen Sicht nicht genügend begründete und undetaillierte Fluchtgeschichte abliefern. Eine gute Anhörung macht nicht nur ein intensives Zuhören aus (vgl. Kapitel 9.1.1.1). Vielmehr soll die Anhörung günstige Kommunikationsbedingungen für eine interaktive Verhandlung schaffen, nicht, indem nur die narrative Rekonstruktion der Fluchtgeschichte gefordert wird, sondern dadurch, dass sich die Interaktant*innen mit den Details auseinandersetzen. Um das zu gewährleisten, reicht es nicht, wenn die Antragsteller*innen die Fluchtgründe ungehindert und frei erzählen können, sondern es besteht zusätzlich Bedarf nach einem adäquaten, wachsamen Nachfragen seitens der Anhörenden, die zur Erfassung des vollständigen Sachverhalts beitragen und eventuelle Zweifel ausräumen können:2

»Ohne jetzt ein konkretes Beispiel nennen zu können, habe ich mehrfach in Anhörungsprotokollen oder aus den Anhörungsprotokollen entnehmen können, dass auf Nachfragen aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, verzichtet wurde und diese Nachfragen unbedingt erforderlich gewesen wären, um den Sachverhalt weiter zu erforschen. Das ist halt deren Aufgabe.« (E-Interview Egor). Aufgrund der Zurückhaltung der Anhörenden und ihrer bloßen Konzentration auf das »Zuhören« und Protokollieren können mehrere Schwierigkeiten, sowohl auf der Sprecher*innen- als auch auf der Hörer*innenseite, auftreten. Probleme, die beim Zuhören ohne Nachfragen auftreten könnten, sind Missverständnisse, die zu Annahmen führen könnten, die auf Fehlinterpretationen basieren könnten. Probleme, die auf der Seite der Sprecher*innen auftreten könnten, beruhen darauf, dass sich die Asylsuchenden in einigen Fällen in irrelevanten Details (z.B. familiäre Einzelheiten) verirren. Bei der

2

Mehr zu den Aufgaben der Anhörer*innen in K. 9.1.1.2.

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264

Die Anhörung im Asylverfahren

Darstellung der Sachverhalte lässt die Konzentration nach und die Antragsteller*innen verlieren wegen des fehlenden »Feedbacks« die Orientierung; die Zusammenhänge der Geschichtenteile lassen sich nicht mehr sicher erschließen. Für diesen Fall können Rückfragen von Nutzen sein. Durch sie können die Anhörenden versuchen, die Antragsteller*innen auf das Relevante zu lenken, damit sie ihre Gründe nicht in vagen Schilderungen erschöpfen und die Substantiierung des Vortrags gefährden. Im ersten Fall (Probleme, die beim Zuhören auftreten könnten) können Zwischenfragen hilfreich sein, wodurch die Entscheider*innen den Verarbeitungsprozess des mitgeteilten Wissens erleichtern und die Brüche in der Kohärenz, die sich während des Zuhörens einstellen, richtigstellen können.

17.3

Ko-Rekonstruktion der Fluchtgeschichte

Unter ›Ko-Rekonstruktionsverfahren”3 werden alle Rekonstruktionsverfahren subsumiert, in denen die Fluchtgeschichte durch die gemeinsame Beteiligung von Anhörenden und Antragsteller*innen rekonstruiert wird. Dabei werden minimale und maximale verbale Eingriffe der Anhörenden während der Rekonstruktion zur Ko-Rekonstruktion gezählt. Es werden nach dem Beteiligungsgrad des/der Anhörers*in und der Art und Weise, wie diese Beteiligung sich darstellt, verschiedene Ko-Rekonstruktionsverfahren unterschieden. Auf diese Art konnten vier unterschiedliche Verfahren differenziert werden, die einzeln in diesem Abschnitt beschrieben werden. In Anhörungen, in denen die Fluchtgeschichte durch ›Ko-Rekonstruktion‹ entwickelt wird, werden die Interaktionsimpulse zum Teil durch den/die Anhörende*n thematisiert. Die Steuerungen des/der Anhörers*in sind spürbar: Er/Sie ist in der Erzählsituation durch das Festlegen bestimmter Relevanzen immer präsent, die sich durch sein/ihr Fragen manifestieren. Die Ordnung der Fluchtereignisse ist nicht allein auf die Struktur der wiedererinnerten Erlebnisse der Antragsteller*innen zurückzuführen, sondern wird durch die interaktive Dynamik und die Gesprächsorganisation der kommunikativen Situation, in der die Anhörung stattfindet, mitbestimmt. Obwohl die Darstellungsaktivität bei der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte nicht eigenständig von den Antragsteller*innen abgewickelt wird, wird die Wirklichkeit, die im Endergebnis der Rekonstruktion entsteht, den Antragsteller*innen allein zugeschrieben; ihre Bewertung hingegen übernehmen die Entscheider*innen. Ich möchte darauf hinweisen, dass der Begriff Ko-Rekonstruktion, wie ich ihn verwende, keine bewusste Beeinflussung der Anhörenden bezüglich der Inhalte des Vorbringens der Asylbewerber*innen vorsieht. Bei dem Ko-Rekonstruktionsverfahren

3

›Ko-Rekonstruktion‹ ist ein Eigenbegriff, mit dem gemeint ist, dass die Fluchtgeschichte nicht allein von dem/der Antragsteller*in produziert wird, sondern auch der/die Entscheider*in an der Endfassung der Geschichte durch seine/ihre Fragen beteiligt ist. Das Hauptkriterium, das ich für jedes Verfahren voraussetze, das unter Ko-Rekonstruktionsverfahren erfasst wird, ist die aktive Beteiligung des/der Entscheiders*in an der Fluchtgeschichtenrekonstruktion, die jedoch in jedem Verfahren eine andere Ausprägung hat.

17. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten

kommt es vor, dass der/die Anhörende dem/der Antragsteller*in hilft, die Fluchtereignisse zu sortieren. Ko-Rekonstruktionsverfahren, in denen die Fluchtursachen durch Beteiligung der Entscheider*innen rekonstruiert werden, werden als Gegenstück zum einaktantigen Handeln gesehen, in welchem die Antragsteller*innen in der Erzählsituation über die Fluchtursachen die alleinigen Autor*innen ihrer Geschichte sind. Typisch für alle Rekonstruktionsverfahren, die unter dem Begriff Ko-Rekonstruktion erfasst werden, ist die interaktive Beteiligung der Anhörenden an der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte. Zu den Ko-Rekonstruktionsverfahren werden folgende Verfahren gezählt: (1) (2) (3) (4)

Segmentierende Ko-Rekonstruktionsverfahren Ko-Rekonstruktion mit gleichberechtigter Interaktionsdynamik Elizitierende Rekonstruktionsverfahren Kooperative Sortierung der Fluchtereignisse

Nach der Art und Weise der Beteiligung der Anhörer*innen werden die Rekonstruktionsverfahren untereinander verglichen und Merkmale zu jedem Verfahren herausgearbeitet. In den kommenden Kapiteln werden die vier Ko-Rekonstruktionstechniken einzeln vorgestellt.

17.3.1

Segmentierende Ko-Rekonstruktionsverfahren

Bei dem segmentierenden Rekonstruktionsverfahren stellen die Antragsteller*innen die Fluchtgeschichten nicht chronologisch in ihrer Gesamtheit dar, sondern lassen die Fluchtereignisse nach den institutionellen Anforderungen schrittweise rekonstruieren. Dies geschieht nicht, weil die Antragsteller*innen auf diese Weise erzählen wollen, sondern weil sich diese Anforderungen durch das Abverlangen mittels Fragen durchsetzen. Die Antragsteller*innen erzählen von sich aus nicht, vielmehr werden die Fluchtereignisse fragend etappenweise rekonstruiert. Es wird das Erzählen einer Situation fragend abverlangt, darauffolgend die nächste Situation, so dass die Darstellung der Geschichte auf ein Frage-Antwort-Format reduziert wird. Durch die Reduktion der Erzählphase auf das Frage-Antwort-Format wird den Anzuhörenden die Kommunikation erleichtert, weil m.E. vielen Asylbewerber*innen das Reagieren in der Kommunikation leichter fällt als einen selbst produzierten Kommunikationsakt herzustellen. Den Asylbewerber*innen wird damit auch die Entscheidung abgenommen, asylrelevante von nicht asylrelevanten Gründen eigenständig zu selektieren, was für viele Antragsteller*innen einen hohen Schwierigkeitsgrad darstellt (vgl. K. 16.1). Allerdings können wichtige Inhalte durch die Reduktion auf die institutionellen Interessen verloren gehen, weil es für ihre Darstellung innerhalb des reduzierten Frage-Antwort-Formats keinen Raum gibt. Erzählverfahren, die auf ein »segmentiertes Erzählen« hindeuten, werden in der Literatur aus linguistischer, sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht kritisiert (vgl. K. 16.3). Diese Kritik ist erst berechtigt, wenn die Antragsteller*innen von sich aus chronologisch erzählen und die Entscheider*innen eingreifen und durch Fragen ein »segmentiertes Erzählen« einfordern würden. Aber in Fällen, in denen die Antragsteller*innen ein zurückhaltendes Erzählverhalten haben, erweist sich dieser Anhörungsstil als

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Die Anhörung im Asylverfahren

vorteilhaft bzw. als das einzig geeignete Verfahren, um die Fluchtgeschichte zu rekonstruieren. Das sind Fälle, in denen die Antragsteller*innen ihren »Aufschlag«, der auf die offene Aufforderung zum freien Erzählen folgen soll, nicht nutzen können. Laut Experten-Interviews geben mehrere Antragsteller*innen als Replik auf die Aufforderung zum freien Erzählen: »Ich hatte Probleme« oder »Ich war verfolgt«, »Sie haben viel gesagt und nichts gesagt« (E-Interview Steer). Die Materialdaten dokumentieren drei Anhörungen (BP: 1, BP: 6 und BP: 21), in denen die Antragsteller*innen zu Beginn Schwierigkeiten hatten, ihre Fluchtgründe »frei« zu erzählen. Die Anhörenden versuchten den Antragsteller*innen zumindest am Beginn der Anhörung zu helfen, damit sie in den Erzählmodus einsteigen konnten. Manche Antragsteller*innen kommen nach ein paar Überbrückungsfragen zum selbstständigen Erzählen (BP: 1), andere erreichen nur sequenzweise freie Erzählepisoden und bleiben dann in der Erzählung stehen, bis die nächste Frage gestellt wird (BP: 6). Charakteristisch für das segmentierte Darstellungsverfahren ist die intensive Beteiligung der Anhörenden an der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte. Wie lange und bis zu welchem Grad die Anhörer*innen sich durch Fragen beteiligen, hängt von dem Erzählverhalten der Asylbewerber*innen ab. Je zurückhaltender sie selbst in längeren Episoden über die Fluchtursachen erzählen, desto mehr fragen die Anhörer*innen die Ereignisse ab. Die Erzählfäden sind bei diesem Verfahren (durch die Fragen, die die nächsten Informationen abverlangen) in der Hand der Anhörenden. Dadurch werden die Fluchtereignisse Zug für Zug in einem Frage-Antwort-Format rekonstruiert. Jedoch sind die Antragsteller*innen in diesem Fall durch ihre zurückhaltendes Erzählverhalten zum großen Teil daran beteiligt, dass ihre Fluchtursachen fremdgesteuert generiert werden. Sie begeben sich somit selbst in diese gesteuerten Erzählzwänge. Die Antragsteller*innen erzählen von sich aus nicht genug, so dass nur durch Nachfragen von Anhörer*innen die Erzählung über die Geschehnisse vorangeht. Fakt bleibt, dass beim segmentierten Rekonstruktionsverfahren die Anhörer*innen nicht unterbrechen, um ihre Interessen durchzusetzen (Busch 2015; Mayans 2006 und 2013; Marx u.a. 2003 und 2013), sondern weil die Antragsteller*innen nicht von sich aus zusammenhängend über die Ereignisse berichten. Daraus lässt sich feststellen, dass (a) nicht immer die Institutionsvertreter*innen diejenigen sind, die entscheiden, wie die Fluchtgeschichten rekonstruiert werden, sondern die Antragsteller*innen diese Art der Geschichtenrekonstruktion begünstigen oder durch ihr Erzählverhalten veranlassen. (b) die Rekonstruktion von Fluchtgeschichten in einigen Anhörungen auf einem gemeinsamen Handeln basiert, welches die Beteiligung des/der Anhörenden unverzichtbar macht.

17.3.2

Ko-Rekonstruktion der Fluchtgeschichte mit gleichberechtigter Interaktionsdynamik

Dieses Verfahren bezeichnet eine Rekonstruktionstechnik, die aus der Kombination zweier Rekonstruktionsverfahren besteht. Sie zählt als selbständiges Rekonstruktionsverfahren, weil sie systematisch in der Kombination entsteht und einen spezifischen

17. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten

methodischen Verlauf zeigt, so dass davon ausgegangen werden kann, dass sie auf einer bewussten Gesprächsorganisation basiert und nicht spontan in der Anhörungssituation entsteht. Dabei geht es um eine Kombination von (a) anfangs einaktantigen Erzählepisoden seitens der Antragsteller*innen, die entweder allein geführt werden oder teilweise durch Fragen der Anhörenden zur Verdichtung der Ereignisse begleitet werden, und (b) ein Frage-Antwort-Format, durch das jedes von den Entscheider*innen als wichtig erachtetes Detail hinterfragt wird. Je nach den kommunikativen Fähigkeiten der Akteur*innen und dem Durchsetzungsvermögen der Antragsteller*innen sind die Erzählepisoden unterschiedlich lang.

Die Antragsteller*innen nehmen bei diesem Rekonstruktionsverfahren ihren ›Aufschlag‹ wahr, der ihnen mit der Aufforderung zum freien Erzählen angeboten wird. Sie halten das monologische Rederecht für einen langen Zeitraum aufrecht und schildern die Fluchtgründe chronologisch und detailliert. Dabei übernehmen die Anhörer*innen die Zuhörer*innenrolle. Sie bauen als Zuhörer*innen eine Basis für die Anhörung mit den Asylsuchenden auf und bereiten Fragen vor. Während des Zuhörens geben die Anhörenden bis zum Ende der Erzählung keine reziproken Selbstoffenbarungen von sich. Sie äußern kaum persönliche Stellungnahmen, bis die Asylbewerber*innen die Fluchtgeschichte vollständig geschildert haben. Signifikante Merkmale‹ des Rekonstruktionsverlaufs in Ko-Rekonstruktion mit gleichberechtigter Interaktionsdynamik‹ Signifikant für das methodische Vorgehen im vorliegenden Rekonstruktionsverfahren ist, dass (a) angesichts des Interaktionshandelns, eine interaktive, kooperative Interaktionsdynamik aufweist, die durch eine balancierte4 Anhörer*innenbeteiligung gekennzeichnet ist. Der Interaktionsprozess wird seitens der Anhörer*innen in einer ausgewogenen, kooperativen Weise organisiert, indem sie zuerst die Antragsteller*innen frei erzählen lassen, dann durch ergänzende Fragen die Fluchtgeschichte mit ihm zusammen verdichtet und erst dann die geschilderte Geschichte als etabliertes Prüfungsmaterial für den Verhandlungsprozess, nutzt. Auf der Basis des Erzählten stellen sie präzise Fragen und lassen die Antragsteller*innen bei den Antworten ihre Sichtweise der Dinge ohne Unterbrechung darstellen. Beispielsweise, wenn die Entscheiderin fragt »Haben Sie seine Bedrohungen angezeigt?«, (P.9) antwortet der Asylsuchende auf die Entscheidungsfrage nicht mit der Zustimmungspartikel »ja« oder der Negationspartikel »nein«, sondern erklärt an dieser Stelle, warum er die Bedrohung nicht angezeigt hat und vermittelt damit mehr

4

Mit der balancierten Anhörer*innenbeteiligung ist gemeint: (a) Die Balance innerhalb der institutionellen Rollenverteilung (Frage-Antwort-Struktur) wird gehalten; (b) Im Vergleich zu anderen Anhörungen, in denen die Anhörer*innenbeteiligung entweder kaum oder übermäßig vorhanden ist, ist die Beteiligung hier im Hinblick auf die Anhörungszwecke ausgewogen.

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Die Anhörung im Asylverfahren

(b)

(c)

(d)

(e)

Hintergrundwissen darüber, warum eine Anzeige bei der Polizei für ihn keine Resonanz haben wird: »Er [derjenige, der den Antragsteller bedroht] arbeitet bei […] [in einer höhen Position]« (P:9) . Der Antragsteller fügte Details hinzu, die darauf hindeuten, dass die Position seiner Verwandten nicht angreifbar ist. Bei der Befragung berücksichtigen die Anhörenden also die institutionellen Interessen, (alles, was für den Asylbescheid wichtig sein kann zu erfragen) ebenso, wie die Interessen der Antragsteller*innen (weit ausholen, um die Zusammenhänge herzustellen) in einer wechselseitigen kooperativen Interaktionsdynamik. beide Akteur*innen ihre interaktiven Rederechte erhalten. Die Fluchtgeschichte in diesem Verfahren wird durch ein ausgewogenes Interaktionshandeln rekonstruiert. Es wird eine gemäß der Anhörungszwecke »gleichberechtigte« kommunikative Plattform geschaffen, die ein dynamisches Voranschreiten der sachlichen Auseinandersetzung mit den Asylgründen gewährt. im Gegensatz zu den ersten zwei Rekonstruktionsverfahren, in denen die Fluchtgeschichten einseitig von den Antragsteller*innen dargestellt werden, bleibt die Beteiligung der Anhörenden in dem vierten Verfahren ›Ko-Rekonstruktion mit gleichberechtigter Interaktionsdynamik‹ nicht aus. Stellt man das zur Untersuchung vorliegende Verfahren dem dritten Verfahren, dem ›segmentierten Rekonstruktionsverfahren‹ gegenüber, lässt sich feststellen, dass die Anhörenden im vierten Rekonstruktionsverfahren nicht durchgehend, vom Beginn bis zum Schluss der Erzählung, beteiligt sind, sondern nur in bestimmten Sequenzen. Ihre Beteiligung lässt sich nach Phasenzwecken variieren. Während der Erzählung lässt sich die Anhörer*innenbeteiligung darauf beschränken, den Antragsteller*innen die Erzählfortsetzungen zu signalisieren (BP: 9 und BP: 13), klärende Fragen zu stellen (BP: 3, BP: 7 und BP: 8) und auf überflüssige, zu lange und asylirrelevante Schilderungen hinzuweisen (BP: 8). Es werden im Anschluss an die Erzählung noch keine Fragen zur Glaubwürdigkeit gestellt, sondern zuvor Fragen zur Verdichtung, Substantiierung und Vervollständigung des Sachverhalts, bis eine vollständige überprüfbare Wirklichkeit hergestellt wurde. die Anhörer*innen, die diese Rekonstruktionstechnik verwenden, sich ihrer Pflicht bewusst sind, zwecks der Sachvermittlung Fragen zu stellen, die die Gelegenheit geben, sich über Vergessenes oder Unklares nochmals zu äußern (vgl. Marx 2013a: 34f.). Ist die vollständige Schilderung des Sachverhaltes vollzogen, wird die Geschichte zur materiellen Überprüfung bereitgestellt und die Phase des freien Nachfragens wird initiiert.

Der schematische Ablauf dieser Rekonstruktionsverfahren kann aufgrund der Auswertung von sechs Fallanalysen wie folgt zusammengefasst werden: (a) Die Anhörenden fordern die Antragsteller*innen zum freien Erzählen auf. (b) Die Antragsteller*innen erzählen ihre Fluchtgründe; währenddessen hören die Anhörer*innen aktiv zu und bereiten die Fragen vor. (c) Die Anhörer*innen stellen offene Fragen zur ersten Darstellung, wobei sie auf die Schilderung von mehr Details abzielen.

17. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten (d) Ist der Sachvortrag vollständig, stellt sich bei den Anhörenden vermutlich eine erste Annahme über den Fall ein. (e) Daraufhin folgt die nächste Phase ›Überprüfung der Richtigkeit der Inhalte durch Nachfragen und Vorbehalte‹.

Dieses Verfahren für die Fluchtgeschichtenrekonstruktion ist bezüglich der Anhörungszwecke aus folgenden Gründen besonders geeignet: (1) Hinsichtlich der Ermittlung garantiert dieses Rekonstruktionsverfahren eine vollständige Sachverhaltserfassung. (2) Nimmt man den Anhörungsausgangspunkt in Betracht, in dem die Asylsuchenden den Anhörenden von ihrer Hypothese des »Verfolgt-Seins« überzeugen müssen, werden die Antragsteller*innen bei dieser Art der Rekonstruktion der Asylgründe ihrer Rolle als »Hypothesen-Darsteller*innen« gerecht, indem sie zunächst ihre Behauptungen frei und ausführlich darstellen können. Darauffolgend erhalten sie die Gelegenheit, sich über die Inhalte des Erzählten mit ihren “Opponent*innen“ (Anhörenden) auseinanderzusetzen. Sie haben dadurch die Chance, alles, was den Anhörenden als inkohärent, unklar oder unlogisch erscheint, noch in der Anhörungssituation klarzustellen. (3) Die Anhörer*innen können bei dieser Befragungstechnik leichter eine gut begründete Entscheidung, die auf den Aussagen des Asylsuchenden basiert, herstellen.

Die Bezeichnung dieses Rekonstruktionsverfahrens als ›Ko-Rekonstruktion der Fluchtgeschichte mit gleichberechtigter Interaktionsdynamik‹ heißt nicht, dass die Anhörer*innen und die Antragsteller*innen als gleichberechtigte Kommunikationspartner*innen das gleiche Recht zum Fragenstellen und Fragenbeantworten besitzen. Vielmehr soll die Bezeichnung zum Ausdruck bringen, dass Anhörer*innen und Antragsteller*innen im Rahmen der institutionellen Rollenverteilung und der behördlichen Kommunikationsaufgabe, die ihnen zugeteilt wird, gleichberechtigt ihre Rolle wahrnehmen können. Das Rekonstruktionsverfahren ›Ko-Rekonstruktion der Fluchtgeschichte mit gleichberechtigter Interaktionsdynamik‹ basiert somit auf dem Erzählen der Antragsteller*innen und zeichnet sich durch zwei bezeichnende komplementäre Handlungsweisen aus, die in konstruktiver Weise dem Anhörungszweck und den Bedürfnissen der beiden Interaktant*innen zweckdienlich sind. Einerseits haben die Antragsteller*innen alle Chancen, frei zusammenhängend ihre Fluchtgründe zu schildern; andererseits fragen die Entscheider*innen die Asylsuchenden nach jeder relevanten Einzelheit. Es wird auf keine Frage verzichtet, die institutionell erforderlich ist. Die Anhörer*innen erweisen sich bei dieser Befragungstechnik als besonders »gerecht«, da sie den Antragsteller*innen die Gelegenheit bieten, ungehindert die Fluchtursachen zu schildern und ebenfalls keine Gelegenheit versäumen, dem Sachverhalt auf den Grund zu gehen, so dass keine Erkenntnislücken entstehen, die Platz für unangemessene Vermutungen lassen.

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Die Anhörung im Asylverfahren

17.3.3

Elizitierendes Rekonstruktionsverfahren

Das vorletzte Verfahren für die Rekonstruktion von Fluchtgeschichten, das dargelegt wird, ist das elizitierende Rekonstruktionsverfahren. Geht man von der allgemeinen Bedeutung des Verbs »elizitieren« aus, nämlich »jemandem etwas entlocken, jemanden zu einer Äußerung bewegen« (Duden Online 2018) oder von Bierbachs Auffassung (1983), die jede Frage als elizitierend betrachtet, die von Gesprächspartner*innen als erzählauffordernder Sprechakt interpretiert wird (vgl. ebenda: 144), sind elizitierende Fragen in der Anhörung unabdingbar. Die Anhörung basiert auf fremdinitiierten Fragen und Erzählaufforderungen, dem die Antragsteller*innen nachgehen müssen oder auf die sie sich in irgendeiner Weise beziehen müssen. Unter Elizitation wird auch verstanden: »jede Form der Situationsgestaltung bzw. des sprachlichen Handelns, die dem Zweck dient, sprachliches Handeln im Umfang und Art zu beeinflussen. Elizitation als kommunikative Handlung ist demnach nicht materiell, sondern intentionell, über den mit der Handlung verfolgten Zweck zu bestimmen« (Schu 2001: 1018). Nimmt man die erwähnten Zitate und die lexikalische Bedeutung des Verbes »elizitieren« als Grundlage zur Charakterisierung der Befragungstechniken in der Anhörung, wäre die Anhörung überwiegend ein elizitierender Gesprächstyp, zumindest aus den Gründen: (a) Die Antragsteller*innen werden meisten zum Handeln aufgefordert, (b) Das Elizitieren wird oft als sprachliches Handeln verwendet, um die Anhörung im Umfang oder/und Art zu beeinflussen, (c) Diverse Informationen werden durch das Elizitieren extra hervorgehoben und vertieft, während andere nicht mehr vertieft oder sogar ignoriert werden und (d) Elizitierende Fragen werden gestellt, um sich auf einen Informationsteil fokussieren zu können, um dadurch den Wahrheitsgehalt zu prüfen.

Meine Einschätzung, die sich aus intensiver Beschäftigung mit dem Material speist, besagt, dass elizitierende Fragen ein Bestandteil der Anhörungsbefragung, aufgrund ihrer kommunikativen Eigenschaften, sind. Jedoch muss zwischen (a) neutraler und (b) negativer Elizitation unterschieden werden. (a) Von neutraler Elizitation spreche ich, wenn die Antragssteller*innen zum Erzählen bestimmter Geschichtenteile, genauerer Erklärungen einer Situation oder näherer Beschreibungen von zuvor Erzähltem aufgefordert werden, mit dem Ziel, zu einer vollständigen Sachverhaltsermittlung zu gelangen. Diese Art der Informationsgenerierung gehört zur Elizitation, weil (a) das sprachliche Handeln des Befragten in Umfang und Art beeinflusst wird (vgl. Schu 2001: 1018) und (b), weil die Reaktion des Antragstellers fremdgesteuert eingefordert wird, die Aufgabe der Wissensermittlung zu erfüllen (vgl. Bierbach 1983: 144). Das kommt beispielsweise vor, wenn die Anhörer*innen annehmen, dass sie von den Antragsteller*innen mehr Wissen zu etwas vorher Geäußertem generieren können. Diesen Vorgang nenne ich neutra-

17. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten

le Elizitation. Denn es wird nicht mit der Absicht vorgegangen, für oder gegen die Antragsteller*innen Informationen zu elizitieren, sondern den Anhörenden geht es dabei um bestimmtes Wissen, das sie an dieser Stelle für die Sachverhaltsklärung als generierenswert einschätzen. (b) Negative Elizitationen entstehen erst dann, wenn die Antragsteller*innen tendenziös zu Antworten verleitet werden, die nur den Interessen der Anhörer*innen dienlich sind. Die Antragsteller*innen werden durch elizitierende Aufforderungen in irgendeine Art zu einer Response gedrängt, die (a) sie von ihrem beabsichtigten Vorhaben (worüber sie erzählen möchten) abbringen sollen, oder (b), die ihnen zugunsten der Bestätigung Vermutungen der Entscheider*innen nahegelegt werden. Zur negativen Elizitation gehört jede kommunikative Verhaltensweise, die dem Zweck dient, auf das sprachliche Handeln der Antragsteller*innen zugunsten der institutionellen Zwecke hinzuwirken, die eine Entscheidungsbegründung beeinflussen. Diese Elizitationsart funktioniert auf verschiedenen Wegen: (1) Die Anhörenden greifen in die Entwicklung der Erzählgeschehnisse ein und setzen die Rekonstruktion der Ereignisse von sich aus fort, wie sie vermutlich gewesen sein könnten. Sie warten dann auf die Ratifizierung durch die Antragsteller*innen oder den Fortgang der Ereignisse in eine Richtung, die damit vorgegeben wurde. Zum Beispiel

»Sicherlich haben Sie der Polizei keine Informationen über Ihren Cousin gegeben? Wurden Sie deshalb ins Gefängnis gebracht, oder? wie lief es so. Erzählen Sie! (P: 11). Einige Antragsteller*innen lassen sich dadurch irritieren und führen die Erzählung so weiter, wie die Entscheider*innen sie durch elizitierte Beiträge angefangen haben. In einem Begleiterinnen-Interview erzählte die Befragte von einer Anhörungssituation, in der der Antragsteller seinem ursprünglichen Darstellungsvorhaben nicht treu geblieben ist, sondern seine Darstellung dem anpasste, was der Entscheider ihm als Geschehnisverlauf nahelegte. Die Interviewte konnte sich nicht erklären, warum der Antragsteller, den sie auf die Anhörung vorbereitete und der deshalb Details über die Fluchtgründe kannte, bei der Erzählung davon abwich, weil der Entscheider ihm eine andere Ereigniskette suggerierte. Sie sieht die Ursache für dieses Verhalten darin, dass der Asylsuchende sich dem Anhörer anpasste mit der Hoffnung, dass ihm geholfen wird: »Er [der Antragsteller]war mehr gewillt so sich anzupassen, wenn der Anhörer was sagt, dann hat er es bestätigt, wo ich dachte, oh ähm, der Entscheider sagt zum Beispiel, war es so und so. Der Antragstelle sagt: ja, ja so war es…, halt ihn bestätigt, weil er irgendwie gehofft hat, dass ihm geholfen wird« (B-Interview Rubi). (2) Eine weitere Art, Angaben vom Asylsuchenden zu elizitieren, geschieht durch die Verwendung von »tendenziösen Fragen« (Franck 1979), deren Verwender*in nicht neutral hinsichtlich der Antwort ist, sondern mit dem Wortlaut der Frage eine präferierte Antwort indiziert (vgl. ebenda: 4). Zu den tendenziösen Fragen können Suggestivfragen zählen, weil sie meist eine präferierte Antwort beinhalten, zum Bei-

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Die Anhörung im Asylverfahren

spiel, »Sie wollten ganz bestimmt in Afghanistan leben, richtig? (P: 28) »Sie mussten sicherlich gewusst haben, dass Sie nach Deutschland reisen werden, alles andere wäre komisch?« (P: 43). Diese Fragen legen eine bejahende Antwort nahe. Sowohl tendenziöse als auch suggestive Fragen haben Beeinflussungsfunktionen auf die dadurch generierte Antwort. (3) Zu der negativen Elizitation zählen aus meiner Sicht Unterbrechungen, durch die bestimmte Informationsteile selektiv festgehalten werden und andere ergänzende und erklärende Teile bewusst ausgeschlossen werden. Dadurch werden Aspekte fokussiert, die die Entscheider*innen im Asylbescheid dokumentieren möchten, und andere Details, die die Antragsteller*innen für die Darlegung eines vollständigen Sachvortrags als relevant erachten, werden vernachlässigt. Hierbei unterbrechen die Anhörer*innen die Antragsteller*innen bei Erklärungsversuchen wiederholt und die Antragsteller*innen können sich bei den erklärenden Argumentationen nicht gegen die Entscheider*innen durchsetzen. Ein iranischer Interviewter beschreibt seine Anhörung als elizitierte Befragung,5 weil er durch Unterbrechungen daran gehindert wurde, tiefgreifende Erklärungen für seine Antworten zu geben: »Er stellte mir eine Frage, ich gab eine Antwort und möchte sie im Zusammenhang noch erklären, er sagte, das reichte mir und gab mir keine Chance etwas zu erläutern oder den Hintergrund zu klären. Er stellte eine Frage, hörte so viel er hören möchte und ließ mich nicht zu Ende erklären, warum es so war. Er sagte: Stopp es reicht, und fragte wieder.« (Interview 19). Der Anhörende hat dem Interviewten laut seiner Angaben gezielt Fragen gestellt, die ihm Unstimmigkeiten in den Einzelheiten der Fluchtgeschichte vorwarfen, ihm aber keine Gelegenheit eingeräumt, zu diesen Fragen Stellung zu nehmen. Bei jedem Erklärungsversuch wurde der Asylbewerber unterbrochen, bedrängt und erneut mit Widersprüchen konfrontiert. Nicht jede Anhörung, die sequenziell eine Art von elizitierenden Befragungstechniken enthält, ordne ich dem elizitierenden Rekonstruktionsverfahren zu. Informationen zu elizitieren, sind wie bereits oben genannt, ein Bestandteil der Befragungstechniken im Anhörungssetting, insbesondere bei Fragen zur Überprüfung der Glaubwürdigkeit. Von elizitierendem Rekonstruktionsverfahren als eigenständiges Verfahren spreche ich, wenn die Fluchtgeschichte bewusst nicht in ihrem Gesamtzusammenhang rekonstruiert wird, sondern überwiegend durch elizitierende Befragungen konstruiert wird. Um das elizitierende Herstellungsverfahren zu identifizieren, reicht nicht nur die formelle Befragungsstrategie, wie tendenziöse, suggestive Fragen oder Unterbrechungen usw. zu erfassen, sondern es muss erkannt werden, was mit dieser Strategie in Hinblick auf die gesamte Anhörung bezweckt wird.

5

Der Interviewte benutzte den Begriff »elizitiert« nicht. Aus seiner langen Beschreibung, wie die Anhörung ablief und auf welche Art und Weise seine Erklärungs- und Schilderungsversuche vom Entscheider abgeblockt wurden, wird die Anhörung in die »elizitierende Befragung« eingeordnet.

17. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten

Merkmale für die elizitierenden Rekonstruktionsverfahren Wesentliche Merkmale, die für die elizitierende Rekonstruktionstechnik kennzeichnend sind: (1) Bei der Herstellung der Fluchtgeschichte mit dem Elizitationsverfahren handelt es sich nicht um Schilderungen der Fluchtereignisse in Form einer narrativen Rekonstruktion, durch die die interne Logik der Geschehnisse in ihrer Gesamtheit erfasst wird. Es werden bestimmte Aspekte der Geschehnisse abgefragt und Teile der Fluchtgeschichte werden aus dem Kontext gerissen und in den Mittelpunkt der Befragung gestellt. (2) Die Anhörenden sind in besonderer Art und Weise an der Geschehensrekonstruktion beteiligt. Sie sind diejenigen, die die Geschehnisse nach ihren Interessen sortieren und nur bestimmte Ereignisse der Gesamtgeschichte näher zu erfahren versuchen. Die Beteiligung der Anhörenden ist erheblich, wie in dem segmentierenden Rekonstruktionsverfahren (17.3.1), mit folgenden Unterschieden: Im elizitierenden Rekonstruktionsverfahren selektieren die Anhörer*innen und versuchen nur so viel Wissen zu ermitteln, wie sie es für die Erfüllung des institutionellen Formalien (z.B. für die Begründung des Asylbescheids) benötigen. (3) Die Interaktionsdynamik ist energisch, aufdringlich und nicht rücksichtsvoll. Die Entscheider*innen treiben den Interaktionsprozess durch herausfordernde und provozierende Fragen voran, die zur Eskalation führen können (abhängig von der Reaktion der Antragsteller*innen). (4) Das Interaktionshandeln ist pseudokooperativ. Eine pseudokooperative Einstellung entsteht, weil (a) die Anhörenden einen dominanten, bestimmenden Befragungsstil verwenden, der die Asylbewerber*innen so provoziert, dass eine konstruktiv kooperative Interaktion behindert wird. (P: 4). (b) die Antragsteller*innen nicht zur ehrlichen Kooperation bereit sind. Das betrifft meistens die Asylsuchende, die dem Typ 1 »Der Verweilende« angehören. Ihre Ablehnung der Kooperation beim Antworten von Fragen liegt daran, dass sie kein Asyl begehren und dass sie von der Ablehnung des Asylantrags ausgehen. (vgl. Asylbewerber Typ I »Der Verweilende«). Es besteht auf Seiten den Antragsteller*innen kein Erzählbedürfnis. In solchen Anhörungen veranlassen die Antragsteller*innen den Anhörenden, die elizitierende Befragungstechnik einzusetzen, weil sie sich pseudokooperativ verhalten. Sie vermitteln gerade so viel an Informationen, wie nötig ist, um die Anhörung aufrecht zu erhalten. D.h. die Antragsteller*innen lehnen einerseits keine Antwort ab, so dass die Anhörung unterbrochen werden müsste; andererseits beantworten sie die Fragen, die ihnen gestellt werden, mit nicht bewertbaren Aussagen. Aufgrund dieser Asylbewerber*innenhaltung versuchen die Anhörer*innen gezielt insistierend, bestimmte Ereignisteile für das Erstellen des Protokolls und für die Begründung des Asylbescheides, zu ermitteln.

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Die Anhörung im Asylverfahren

Im Gegensatz zu dieser konfliktbeladenen, unkooperativen Interaktionsdynamik, wird mit der nächsten Rekonstruktionstechnik verdeutlicht, dass es auch Interaktionsdynamiken gibt, in denen die Antragsteller*innen Unterstützung von den Anhörenden erhalten.

17.3.4

Kooperative Sortierung der Fluchtereignisse

Bei dem Rekonstruktionsverfahren ›kooperative Sortierung der Fluchtereignisse‹ erfolgt die Rekonstruktion überwiegend mit Hilfe der Anhörer*innen. Die Mitarbeit der Anhörer*innen bezüglich der Vervollständigung der Sachverhaltsermittlung ist in diesem Rekonstruktionsverfahren essenziell, weil die Fluchtereignisse von den Antragsteller*innen nicht in einer kausalen zusammenhängenden Ereignisfolge aufbauend erzählt werden können, sondern nur in Bruchstücken rekonstruiert werden. Nur durch konstruktive aktive Beteiligung der Anhörenden wird es möglich, die Fluchtgeschichte zu rekonstruieren. In der Fallanalyse (Anhörung 5) bringt der Antragsteller zwei Fluchtereignisse durcheinander, in deren Folge er die institutionellen Erzählkriterien, in Bezug auf Chronologie und Stimmigkeit, außer Acht lässt. Dies geschieht nicht, weil ihm solche Anforderungen unbekannt sind. Ganz im Gegenteil, der Antragsteller kennt die institutionellen Erwartungen hinsichtlich des Erzählverhaltens genau. Den Indikator dafür entnehme ich den Anhörungssequenzen zum Reiseweg aus der gleichen Anhörung, in der der Asylsuchende den Fluchtweg nach den institutionellen Vorgaben (detailliert, genaue Angaben für Ort und Zeit und Verkehrsmittel) hervorragend geschildert hat (vgl. K. 13.2.1.1). Der Asylsuchende bringt zwei wichtige Ereignisepisoden, deren Auseinanderhalten für die Entscheidung relevant ist, durcheinander. Um diese zwei Ereignisepisoden zu differenzieren, übernimmt der Anhörende eine entscheidende Rolle. Der Asylsuchende verwechselt sein Schicksal, entführt, gefoltert und misshandelt geworden zu sein, mit den Fluchtursachen, die über die Erlebnisse der Folter hinausgehen und nach bestimmten institutionellen Kriterien erzählt werden müssen. Durch die steuernden Fragen und durch Beiträge des Anhörenden wird der Antragsteller Badr die institutionskonforme Kommunikation erleichtert und die Geschichtenvorgänge werden konkret, plausibel und aufeinander aufbauend wiedergegeben. Durch die kooperative Rekonstruktion der Fluchtereignisse, mit dem besonderen Einsatz des Anhörenden ist es den »beiden« Interaktanten gelungen, die Fluchtgeschichte, über die Foltererlebnisse hinaus, in ihrer internen Logik herzustellen und sie in ihrer Gesamtheit zu rekonstruieren. Merkmale des Rekonstruktionsverfahrens ›kooperative Sortierung der Fluchtereignisse‹ Drei wesentliche Merkmale können für die Rekonstruktionstechnik ›kooperative Sortierung der Ereignisse ›kennzeichnend sein: (1) Die Feinabstimmung in der Arbeit der Anhörenden, die die Interessen der Antragstellern vertreten und dabei gleichzeitig die institutionellen Vorgaben zu bewahren versuchen. Gerade in dieser Fallkonstellation (gefolterte und traumatisierte Antragsteller) ist dieser Balanceakt nicht leicht zu bewältigen. Würden die Anhörende sich mehr auf die administrativen Vorgaben konzentrieren, ausschließlich die nötigen

17. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten

Informationen für die Fallbearbeitung zu generieren, würden sich die Betroffene zurückgewiesen fühlen. In dieser Form der Zurückweisung bestünde die Gefahr, dass das Gefühl des Nicht-Gehört-Werdens, unter dem Menschen mit traumatischer Vergangenheit leiden, noch zusätzlich verstärkt würde (vgl. Rosenthal 2002: 219). Deshalb werden in Fällen, in denen Asylbewerber*innen gefoltert wurden sind, bei der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte kommunikative Anstrengungen von beiden Seiten gefordert. Von den Antragsteller*innen wird gefordert, sich von ihrem Leid und ihrem Foltererlebnissen für die Momente der Darstellung von Fluchtgründen emotional zu distanzieren und sich auf den Zweck der Anhörung zu konzentrieren. Von den Anhörenden wird gefordert, verständnis- und rücksichtsvoll den persönlichen Bedürfnissen der Antragsteller*innen entgegenzukommen, ohne die behördlichen Vorgaben bei der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte zu vernachlässigen. (2) Das Interaktionshandeln wird behutsam durchgeführt. Es entsteht kein schnelles und in sich bewegliches Frage-Antwort-Format für die Generierung von Informationen. (vgl. Rekonstruktionsverfahren 3 und 4). Denn der Interaktionsprozess lässt sich nicht einfach durch Fragen der Anhörenden vorantreiben, sondern muss in kooperativer Weise, in einer behutsam aufgebauten Interaktionsdynamik, organisiert werden. Im Fallbeispiel funktioniert der kommunikative Verlauf des Rekonstruktionsverfahrens wie folgt: Der Antragsteller stellt in der Phase ›Rekonstruktion der Fluchtgeschichte‹ seine Foltererlebnisse in den Vordergrund und haftet bei der Schilderung an diesen traumatisierenden Erlebnissen. Diese Foltererlebnisse sind aus seiner Sicht als Flucht auslösender Grund ausreichend. Bei Fragen nach weiteren Gründen für seine Flucht bezieht er sich weiterhin auf die Foltersituation. Der Anhörer versucht, die Fragen in verschiedenen Versionen so zu stellen, dass sie den Asylbewerber dazu zu bringen, seine Foltererfahrungen im Interesse der Anhörungsfortsetzung hinter sich zu lassen und die weiteren erforderlichen Fluchtgründe zu erzählen. Dafür werden kommunikative Verhaltensweisen verwendet, wie: Aktives Zuhören, Zugewandt-Sein, das Stellen von erzählfördernden Fragen in verschiedenen Varianten, bis die Botschaft den Antragsteller erreicht. Diese Rekonstruktionstechnik ist in einer einzigen Anhörung (5) im Korpus vorzufinden. (3) Ein weiteres Problem, warum die zusammenhängende Rekonstruktion der Geschehnisse erschwert ist, ist darin zu sehen, dass Asylbewerber*innen und Entscheider*innen verschiedene Auffassungen darüber haben, was unter relevanten Fluchtgründen zu verstehen ist. Im Fallbeispiel sieht der Asylsuchende seine Folterung als ausreichenden Grund für eine Flucht und sein Asylgesuch. Um die Divergenz zwischen den beiden Auffassungen zu überbrücken, übernimmt der Anhörende bestimmte kommunikative Aktivitäten. Er hilft dem Antragsteller über die Darstellung der Foltererlebnisse hinauszugehen und weitere Fluchtursachen, die aus Sicht der Institution wichtig sind, zu generieren. Durch die steuernden Beiträge des Anhörenden wird dem Asylbewerber die institutionskonforme Kommunikation erleichtert. Hinzugefügt werden soll, dass die Besonderheiten in Bezug auf die Erlebnisse des Antragstellers und die Folterungen, die er in der illustrierenden Erzählung dargelegt hat,

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276

Die Anhörung im Asylverfahren

denkbar als Hintergrund für das kooperative Verhalten des Anhörenden sind. Diese veranlassen den Anhörenden jedoch trotzdem nicht dazu, auf bestimmte Teile des Fragenkatalogs zu verzichten. Der Entscheider arbeitet den Fragenkatalog bis zum Ende durch. Sein Verdienst liegt darin, einige Fragen, die für den Antragsteller schwierig sind, nicht 1:1 kataloggetreu abzuarbeiten, sondern sie zu modifizieren. Er wiederholt bestimmte Fragen, formuliert andere um, so dass es ihm gelingt, den Antragsteller durch kommunikativ steuernde Aktivitäten behutsam von der Fixierung auf die Foltererlebnisse abzubringen und ihn dahin zu lenken, die Fluchtgeschichte zu rekonstruieren. In dieser Fallkonstellation werden die administrativen Zwänge deutlich, denen die Anhörer*innen unterliegen und die sich auf das kommunikative Verhalten des Entscheiders auswirken wie: (1) Begründungszwang, der sich durch das zugewandte kooperative Verhalten des Entscheiders bemerkbar macht. Es war erkennbar, wie schwer es ihm fiel, den Antragsteller mit den Fragen zu belasten. Gleichzeitig konnte er dem Asylsuchenden nicht aufgrund seiner eigenen Bewertung einen positiven Bescheid ausstellen. Er muss den Asylbescheid anhand von protokollierten Aussagen des Antragstellers begründen. Deshalb konnte der Entscheider den Antragsteller trotz der Symptome einer Traumatisierung von den Fragen nicht befreien, weil er unter einem Begründungszwang, den ich im Kapitel 10.3 als Charakteristikum für die Anhörung festhalte, steht. Für das Erstellen des Asylbescheids braucht der Entscheider Aussagen vom Antragsteller, die die Entscheidung legitimieren. (2) Wie verbindlich die formelle Anhörungsstruktur und die Abarbeitung des vorgegebenen Fragenkatalogs sein können. Trotz all der Schwierigkeiten, die der Antragsteller damit hat, seine Erzählung den behördlichen Erwartungen anzupassen, versucht der Entscheider den Fragenkatalog durchzugehen. Das bestätigt die These im Kapitel III, dass das Ablaufmodell und der Fragenkatalog die Weichenstelle der Anhörung darstellen. Dadurch werden verbindliche homologe Muster für das Anhörungsgespräch garantiert.

Eine Frage, die offenbleibt, ist die folgende: Könnte man in einem Fall, wo Folterungen vorliegt, mit den Fragen umsichtiger umgehen? Warum können die Entscheider*innen nicht bei solchen Fällen, in denen es um persönlich erlebte Traumatisierungen (wie Entführung, Folter und Erzählung von anderen traumatisierenden Erlebnissen) geht, auf die institutionellen Anforderungen bei der Rekonstruktion der Fluchtgründe verzichten? Wäre ein solches Vorgehen vielleicht in einem gesonderten Verfahren möglich? Diese Fragen lassen sich wie folgt beantworten: Antragsteller*innen mit Folterungserlebnisse haben nach Art. 24 der Asylverfahrensrichtlinie (2013/32/EU) Anrecht auf eine Verfahrensgarantie,6 wonach er einen Antrag auf eine Sonderanhörung für

6

Nicht nur Menschen, die unter traumatischen Erlebnissen leiden, dürfen in einer Sonderanhörung angehört werden. Vielmehr hat die nationale Asylbehörde (in Deutschland das Bundesamt) nach Art. 24 der Asylverfahrensrichtlinie die Pflicht zu prüfen, ob die Antragsteller*innen besondere Verfahrensgarantien benötigen: »Die Mitgliedstaaten prüfen innerhalb eines angemessenen

17. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten

Menschen mit traumatischen Erlebnissen hätte stellen können. Dem Antragsteller im Fallbeispiel wurde am Beginn der Anhörung eine Sonderanhörung angeboten. Er fragte, ob er am gleichen Tag diese sogenannte Sonderanhörung erledigen könne. Dies ließ sich nicht realisieren. Der Antragsteller wollte auf keinen Fall wieder auf einen neuen Termin warten. Deshalb musste der normale Befragungsablauf vom Entscheider eingehalten werden. Mit diesem Hintergrundwissen, dass der Entscheider nicht für die Sonderanhörung ausgebildet ist, kann man annehmen, dass er unter den Bedingungen einer normalen Anhörung »gut« mit dem Asylsuchenden meint. Er versucht die Fluchtgeschichte im Interesse des Asylsuchenden ohne Vernachlässigung der institutionellen Vorgaben zu rekonstruieren. An dem Festhalten vom Entscheider Herrn Allbrecht an die behördlichen Vorgaben in einer solchen Fallkonstellation werden seine Unsicherheiten bezüglich des Verzichts auf der institutionellen Vorgaben ersichtlich. Das hängt mit den oben erwähnten institutionellen Zwängen zusammen.

17.4

Nachtrag zu den Rekonstruktionsverfahren

Nicht jede Geschichtendarstellung lässt sich eindeutig in eines der dargestellten Rekonstruktionsverfahren einordnen. Im Korpus sind die Anhörungen 1 und 12 den Rekonstruktionsverfahren zugeordnet, die zur Art und Weise der Rekonstruktion dieser Fluchtgeschichten am besten passen. Die Anhörung 12 wurde dem Rekonstruktionsverfahren 4 ›Ko-Rekonstruktion mit gleichberechtigter Interaktionsdynamik‹ zugeordnet und die Anhörung 1 wurde dem Rekonstruktionsverfahren 3 ›Segmentierende Rekonstruktionsverfahren‹ zugeordnet, obwohl sie nicht alle Kriterien bis ins Detail erfüllen, die für diese Rekonstruktionsverfahren charakteristisch sind. Mit einer größeren Datenmenge wäre vorstellbar, neue Rekonstruktionstypen oder Subtypen herauszufinden, die es erlauben könnten, jede Anhörung differenzierter in einen signifikanten Rekonstruktionstyp einzuordnen. Der Anhörungen 1 und 12 wurden jeden jeweiligen genannten Rekonstruktionsverfahren 3 und 4 zugeordnet, weil die Antragsteller*innen und die Anhörer*innen in der Interaktionsdynamik die Grundformen des jeweiligen Rekonstruktionsverfahrens zeigen. Dass während der Darstellung von Fluchtereignissen weitere Aspekte, die nicht in den für jedes Verfahren genannten Merkmalen festgehalten wurden, auftauchten, war nicht prägnant genug, um ein neuen Rekonstruktionsverfahrenstypus zu bilden. Eine besondere Problemstellung bei der Einordung der Anhörungen in ein bestimmtes Rekonstruktionsverfahren ist in Anhörung 15 zu finden. Ihre Kategorisierung in eine der sechs genannten Rekonstruktionsverfahren blieb bis zum Schluss nicht eindeutig. Gehe ich von der Anhörungsdynamik aus, ohne Berücksichtigung

Zeitraums nach Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz, ob ein Antragsteller besondere Verfahrensgarantien benötigt« (der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU Art. 24). Unter Verfahrensgarantie fällt auch, wenn z.B. eine Antragstellerin von einer weiblichen Anhörerin angehört zu werden wünscht. (A-Interviewte 13 hat einen Antrag auf Anhörung mit weiblichem Setting gestellt, was ihr gewährt wurde).

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Die Anhörung im Asylverfahren

des ethnographischen Wissens über den Fall und ohne Berücksichtigung des Kontexts (fünf Person von seiner Familie wurden vor ihm angehört), würde ich sie dem Rekonstruktionsverfahren 1 ›Einaktantige kontinuierliche Darstellung der Fluchtgeschichte‹ zuordnen. Interpretiere ich das Verhalten der Anhörerin im Rahmen des Hintergrundwissens über den Fall, ordne ich sie dem Rekonstruktionsverfahren 4 ›Ko-Rekonstruktion mit gleichberechtigter Interaktionsdynamik‹ zu. Daraus lässt sich folgern, dass (a) nicht jede Anhörung eindeutig in eines der Rekonstruktionsverfahren einzuordnen ist (b) eine weitere Verfeinerung der herausgebildeten Rekonstruktionsverfahren nach engeren Kriterien, welche eine eindeutigere Zuordnung der Anhörungen in den jeweiligen Rekonstruktionsverfahren erlauben, möglich ist.

Bevor der vorliegende Arbeitsabschnitt IV ›Rekonstruktion der Fluchtgeschichte‹ mit der Zusammenfassung und der Präsentierung der Ergebnisse abgeschlossen wird, möchte ich durch das Darstellen eines Fallbeispiels aus einem österreichischen Asylverfahren, einen kurzen Einblick darüber geben, wie dort die Fluchtgeschichtenrekonstruktion organisiert wird.7 Durch den kurzen Abschnitt kann gezeigt werden: (a) wie methodisch ungleich eine Fluchtgeschichte rekonstruiert werden kann, (b) wie die unterschiedlichen Rekonstruktionstechniken von Nach- oder Vorteil für die Antragsteller*innen sein können und damit auch einen Einfluss auf das Ergebnis haben, unabhängig von den Geschichteninhalten, (c) inwieweit das Ausmaß der Beamtenbeteiligung bei der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte flexibel ist. In Österreich und Belgien8 wird die Fluchtgeschichte von mehreren Beamten in verschiedenen Verfahrensstadien angehört und somit wird sie jedes Mal auf das Neue, mit anderer Relevanzsetzung, rekonstruiert.

17.5

Erzählen der Fluchtgeschichte in verschiedenen Verfahrensstadien und die Folge

Im deutschen Asylverfahren gehört die Rekonstruktion der Fluchtgeschichte in eine einzige Hauptanhörung und erstreckt sich nicht auf verschiedene Verfahrensstadien, wie es in Österreich und Belgien der Fall ist. Dieses einmalige Erzählen stellt eine Erleichterung für die Antragsteller*innen in mehreren Hinsichten dar, wie aus diesem 7

8

Im Kapitel Anhörung wurde gezeigt, wie die Anhörung in Schweden im Vergleich zu Deutschland verläuft. Die Fluchtgeschichte wird dort zwar in einer Sitzung rekonstruiert, wie in Deutschland, aber unter dem Vieraugenprinzip (vgl. K. 9.2.1.2). In den verschiedenen Verfahrensstadien im belgischen Asylverfahren, stellt Maryns 2006 fest, dass die Möglichkeiten zum »freien« Erzählen im Laufe des Verfahrens immer weiter reduziert werden. Während in den Befragungen in der ersten Instanz die Asylwerber*innen noch in ein paar Sequenzen »frei« erzählen können, wird dies in den letztinstanzlichen Verhandlungen nicht mehr ermöglicht (vgl. ebenda: 198).

17. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten

kurzen Vergleich hervorgeht. Von den Fallanalysen konnte festgehalten werden, dass sich die Entscheider*innen an der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte auf verschiedene Weisen beteiligen. Dabei bleibt der Einsatz der Entscheider*innen bei der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte -im Vergleich zu den Beamten in Österreich und Belgien- begrenzt, weil die Rekonstruktion sich auf die eine Anhörungssituation beschränkt. Aufgrund dessen gibt es nur eine Version der Fluchtgeschichte, die bewertet wird und als Grundlage des Asylbescheids dient. In den beiden genannten Ländern hingegen werden die Asylsuchenden, im Zuge des Asylverfahrens in verschiedenen Verfahrensstadien, immer wieder zum Fluchtweg und zu den Fluchtgründen befragt und die Fluchtgeschichte lässt sich bei jedem Stadium, nach den variierenden Relevanzen des jeweiligen Befragers, rekonstruieren (vgl. Buch 2015: 318). Dadurch werden unter Umständen mehrere Versionen der Fluchtgeschichte vom selben Fluchtereignis konstruiert. Das wiederholte Erzählen und die daraus konstruierten Geschichten spielen nach Busch eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, die Glaubwürdigkeit der Fluchtgeschichte festzustellen, denn die protokollierten Erzählungen in den jeweiligen verschiedenen Stadien werden gegenübergestellt und bewertet. Eine Wiedererzählung kann gegenüber der vorherigen Erzählung als gesteigertes, abgeschwächtes oder widersprüchliches Vorbringen der Fluchtgeschichte beurteilt werden. Eine weitestgehende Gleichheit der Erzählungen in allen Verfahrensstadien dient hingegen als Indiz für ein einstudiertes Erzählen (vgl. Busch 2015: 319-321). Daher kann die Unglaubaftigkeit einer Fluchtgeschichte durch mehrere Erzählungsstadien leicht produziert werden. Mehrere Erzählungen einer Geschichte, in verschiedenen Situationen mit unterschiedlichen Menschen, die durch ihre Fragen das Erzählverhalten beeinflussen können, kann eine lückenhafte Rekonstruktionen zur Folge haben, die die Geschichte so verzerren können, dass sie als unglaubhaft bewertet werden könnte. In solchen Rekonstruktionen ist der/die Asylbewerber*in nicht der/die einzige Autor*in seiner/ihrer Geschichte, sondern jeder/jede Sachbearbeiter*in, der/die im Laufe der verschiedenen Verfahrensstadien, verschiedene Relevanzen setzt und sie bei der Darstellung der Geschichte einfordert. Busch konnte an einem Fallbeispiel zeigen, wie in mehreren Verfahrensstadien befragt und protokolliert wurde, dann nochmals befragt und protokolliert und letzten Endes durch den Vergleich der institutionellen Protokolle die Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers in Frage gestellt wurde. Die Ablehnung des Antrags wurde damit begründet, dass der Antragsteller »sein Vorbringen im Verlauf des Verfahrens gesteigert« (Busch 2105:326) habe. Der erfolgte kurze vergleichende Abriss verschafft einen flüchtigen Einblick darüber, wie die Fluchtgeschichtenrekonstruktion in Österreich abläuft und wie sie sich vom Verfahren in Deutschland unterscheidet. Er gibt Aufschlüsse darüber, dass die Methode, wie die Fluchtgeschichte rekonstruiert wird (mehrfache Rekonstruktion einer einzigen Geschichte in mehreren Stadien, unabhängig von Inhalten) auf die Qualität der Erzählung auswirkt und damit auf das Ergebnis, das im Fallbeispiel von Busch gegen den Antragsteller ausfiel. Im Folgenden wird das Kapitel IV kurz zusammengefasst und die Ergebnisse werden zusammengestellt.

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Die Anhörung im Asylverfahren

17.6 17.6.1

Zusammenfassung und Ergebnisse Kapitel IV Zur Fluchtgeschichte im Asylverfahren

Ziel dieses Kapitels war, die Bedeutung der Fluchtgeschichte im deutschen Asylverfahren zu erläutern und die institutionellen Ansprüche, die die Fluchtgeschichten erfüllen sollen, damit sie als glaubhaft und asylrelevant gelten, darzustellen. Es galt ebenfalls zu untersuchen, mit welcher sprachlichen Darstellungsform Fluchtgeschichten überwiegend in den Diskurs gebracht werden. Darüber hinaus sollte im zweiten Teil des Kapitels die Frage beantwortet werden, »wie« eine Fluchtgeschichte rekonstruiert wird. Einleitend wurde dargelegt, was eine Fluchtgeschichte ist und die institutionellen und juristischen Kriterien, nach denen die Fluchtgründe als asylrelevant und glaubhaft bewertet werden, erläutert. Ebenso wurde erörtert, welche Inhalte die Fluchtgeschichten transportieren sollten und wie sie erzählt werden müssen, damit sie den Anspruch auf Asyl legitimieren können. Unter anderem müssen die Fluchtgeschichten Botschaften beinhalten, die mit den geltenden behördlichen und gesellschaftlichen Konstitutionen im Aufnahmeland über »Asylbewerber*innen« übereinstimmen. Beispielsweise sollte die Geschichte den Eindruck vermitteln, dass der Asylsuchende vertrieben wurde und ein Opfer ist, dem jede Möglichkeit zur Rückkehr ins Heimatland verschlossen und dem nur die Asylgewährung im Antragsland als Überlebenschance bleibt. Beim Erzählen findet eine Orientierung an den Folien der Schutzbedürftigkeit als Strategie statt, die von den Asylbehörden genau definiert werden. Was eine Fluchtgeschichte in der Anhörung beinhalten muss und wie sie erzählt werden sollte, weist daraufhin, dass die Darstellung in der Anhörung keine ungezwungene Erzählung ist, durch die vergangene Erlebnisse wiedergeben werden. Eine Fluchtgeschichte ist eine Geschichte, an deren Inhalte und Vermittlung behördlich formale wie inhaltliche Erwartungen gestellt werden. Diese Erwartungen müssen die Asylbewerber*innen erfüllen, damit sie als »Schutzbedürftige« anerkannt werden. Um die Fluchtereignisse in einer der Institution konforme Erzählung umzuwandeln, sind kognitive Konkretisierungsleistungen, Selektionen und Umorganisationen des Geschehenen von den Asylbewerber*innen gefordert. Sie sollen die Fluchtgeschichte plausibel, chronologisch, in sich stimmig, detailliert usw. erzählen. Die Fluchtereignisse sollen für das Verfahren in wichtige vs. unwichtige Aspekte selektiert werden und Akzente sollen auf die verfahrensrelevanten Sachverhalte gesetzt werden. Die Asylbewerber*innen müssen die Schwerpunkte für die Anhörung, die den Kriterien »asylrelevant« entsprechen, in den Vordergrund stellen, ohne die damit verbundenen Zusammenhänge zu vernachlässigen. Das Erzählen in der Asylanhörung erfordert also eine kreative Leistung, bei der neben der faktischen Geschichte, auch die Darstellungskompetenzen der Asylsuchenden relevant sind, um (a) die Anhörenden vom Verfolgungserleben in Herkunftsland überzeugen zu können, (b) die Fluchtereignisse als »asylrelevant« darzustellen und (c) ebenso die jetzige Handlung (Fliehen müssen und Asyl suchen) erfolgreich als alternativlos zu konstituieren. Wird die Flucht nach Deutschland nicht als alternativlos bewertet, weil die Antragsteller*innen innerhalb ihrer Herkunftsländern hätten fliehen können oder, weil sie zwischenzeitlich in einem anderen sicheren Land lebten und dort weiterhin hätten sicher leben können, kann den Asylantrag abgelehnt werden.

17. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten

Fehlt die Kohärenz in der Geschichte, da die erwarteten Konkretisierungs- und Selektionsleistungen aufgrund der Stresssituation oder aufgrund der unterschiedlichen Relevanzsetzungen (Antragsteller*innen vs. Institutionen) nicht gelingt und Inkonsistenzen und Abbrüche beim Erzählen entstehen, könnten die Asylbewerber*innen als unglaubwürdig bewertet werden. Demzufolge ist die Fluchtgeschichte mehr als eine Erzählung über vorangegangene Verfolgungsgeschehnisse. Sie ist eine Geschichte, deren Schilderung institutionellen Kriterien unterliegt und deren Bewertung einem Institutionalisierungsprozess9 zugrunde liegt. Die Fluchtgeschichte wird in einem institutionellen Rahmen betrachtet, bestimmten Bewertungskriterien unterzogen, nach juristischen Kategorien umformuliert und in rechtliche Entscheidungskategorien transformiert. Die Fluchtgeschichten sind darüber hinaus Erzählungen, die einen Einblick in den sozialen und politischen Status quo, geltende Normen und Missstände in den Herkunftsländern gewähren. Denn die Antragsteller*innen erzählen ihre Fluchtgründe nicht unabhängig von den sozialen, politischen und juristischen Systemen ihrer Heimatländer. Sie werden damit zu Dokumenten des Zeitgeschehens bezüglich kultureller Gegebenheiten und geltenden Normen in anderen Ländern und geben Zeugnis darüber ab, wie Menschen hinsichtlich des friedlichen Zusammenlebens scheitern können. Die Frage, mit welcher sprachlichen Darstellungsform die Fluchtgeschichten in den Diskurs gebracht werden, lässt sich so weit beantworten, dass die Antragstelle*innen bei der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte oft verschiedene Darstellungsformen (Erzählen, Berichten, Beschreiben, Vortragen, berichtende und argumentative Darstellung usw.) verwenden. Die Muster »erzählende Darstellung« und »funktionalisiertes Erzählen« sind die am häufigsten verwendete Formen.

17.6.2

Zur Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten im Asylverfahren

Im zweiten Teil des Kapitels wird der Frage nachgegangen, wie die Fluchtgeschichte rekonstruiert wird. Im Ergebnis wurde festgestellt, dass ein Rekonstruktionsverfahren einer Fluchtgeschichte durch wechselseitige Abhängigkeiten, vom Erzählverhalten der Antragssteller*innen, ihrem Typus, dem Befragungsstil und die Einstellung der Anhörenden zu ihrer Aufgabe entsteht. Deduziert wurde zudem, dass die unterschiedlichen Rekonstruktionsverfahren nicht planlos entstehen, sondern methodisch systematischen Techniken folgen, die sie voneinander unterscheiden. Die im Material herausgefundenen Verfahren zur Fluchtgeschichtenrekonstruktion wurden unter dem Begriff Rekonstruktionsverfahren zusammengestellt. Im Folgenden werden diese zusammengefasst.

9

Institutionalisierungsprozess oben drückt aus, dass die Fluchtgeschichte in dem institutionellen Rahmen, intern nach der Anhörung, einer Reihe von Prüfungs- und Bewertungsprozesse unterzogen wird. Der Begriff wird an Anlehnung an Hillmann (1994), der Institutionalisierung allgemein wie folgt definiert: »Prozess der »Verfestigung« von bestimmten Mustern regelmäßig wiederkehrenden Verhaltens (in bestimmten Situationen) zu Institutionen« (Hillmann 1994: 376).

281

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Die Anhörung im Asylverfahren

Resümee der Rekonstruktionsverfahren Aufgrund der Untersuchung von 21 Anhörungen hinsichtlich der verwendeten Techniken zur Rekonstruktion von Fluchtgeschichten lässt sich ableiten, dass die Rekonstruktion der Fluchtgeschichte einen interaktiven Akt darstellt, bei dem die Interdependenz der Akteur*innen zueinander eine bedeutende Rolle spielt. Eine Geschichtenrekonstruktion im Asylverfahren erfordert eine stetige Kooperation von Anhörenden und Antragstellenden, damit der Sachverhalt vollständig ermittelt werden kann. Dabei ist die Rolle der Anhörenden entscheidend, denn ihre Beteiligung kann erzählfördernd oder erzählhinderlich sein. Die Anhörer*innen lassen sich in Bezug auf ihre Ermittlungs- und Befragungsstrategien unterscheiden: Entscheider*innen, die den Antragsteller*innen aktiv zuhören und erzählfördernde Strategien verwenden. Sie stellen sich bei ihren Fragen und Rückfragen auf die Erzählart der Antragsteller*innen ein und verfolgen diese Strategie, bis die vollständige Fluchtgeschichte rekonstruiert wird. Daneben gibt es Entscheider*innen, die sich nicht für eine vollständige Sachverhaltsermittlung interessieren. All diese Aspekte, wie die unterschiedlichen Erzählkompetenzen der Antragsteller*innen und ihre Erwartungen an die Anhörung, die individuellen und spezifischen Befragungsstile der Anhörer*innen, fließen in die Rekonstruktionsarbeit hinein und tragen zur Entstehung von unterschiedlichen Fallkonstellationen bei. Aus den untersuchten Daten konnten 6 Rekonstruktionsverfahren für Fluchtgeschichten abstrahiert werden und in Eigenbegriffe formuliert: (1) (2) (3) (4) (5) (6)

Einaktantige kontinuierliche Darstellung der Fluchtereignisse Einaktantige diskontinuierliche Darstellung der Fluchtereignisse Segmentierende Rekonstruktionsverfahren Ko-Rekonstruktion mit gleichberechtigter Interaktionsdynamik Elizitierende Rekonstruktionsverfahren Kooperative Sortierung der Fluchtereignisse

In allen Rekonstruktionsverfahren bildet die Darstellung von Fluchtgeschichten den stabilen Handlungskern. Die Unterscheidungskriterien der Rekonstruktionsverfahren beziehen sich nicht auf die Geschichteninhalte, sondern auf die Art und Weise, wie die Fluchtgeschichte rekonstruiert wird und welche kommunikativen Ressourcen die Interaktanten dafür einsetzen. Die herausgearbeiteten Rekonstruktionsverfahren wurden untereinander bezüglich der folgenden drei Kriterien verglichen: (a) ob durch das jeweilige Verfahren ohne oder mit Beteiligung der Entscheider*innen die Fluchtgeschichte vollständig rekonstruiert wird, (b) ob die Antragsteller*innen der Raum für Rekonstruktion ihrer Fluchtereignisse ohne Unterbrechungen gewährt wird und (c) ob die Beteiligung der Entscheider*innen bei der Rekonstruktion förderlich oder hinderlich ist und welcher Aktant eine derartige Beteiligung veranlasst.

Die Anhörer*innen sind bei ihrer Auswahl einer für die Antragsteller*innen passende Befragungstechnik auf das Erzählverhalten der Antragsteller*innen und ihrer Einschät-

17. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten

zung bezüglich der Fallkonstellation (vgl. Abbildung 2) angewiesen. Dabei wurde angemerkt, dass der Hintergrund für die Anwendung des jeweiligen Rekonstruktionsverfahren nicht eindeutig anhand von sprachlichen Handlungen erkennbar ist. Hintergrundwissen über den Anhörungskontext ist erforderlich, um zu verstehen, warum in einer Anhörung ein bestimmtes Rekonstruktionsverfahren verwendet wird, während ein anders ausgeschlossen wird. Es wird in dieser Arbeit festgestellt, dass es nicht ausreicht, den Anhörungsverlauf zu beobachten oder Aufnahmen von Anhörungsgesprächen auszuwerten, um die Rekonstruktionsverfahren zu differenzieren und den Hintergrund der Differenzierungen zu erläutern. Vielmehr ist erforderlich, Wissen über die Asylbewerberlage (Typ, Interesse, Ziele) zu haben. Nur mittels dieses Hintergrundwissens kann festgestellt werden, dass die Anhörer*innen die Verwendung des Rekonstruktionsverfahrens nicht Unabhängigkeit von der Fallkonstellation (Asylbewerbertyp) favorisieren. Zum Beispiel übernehmen die Anhörenden beim ersten und zweiten Verfahren ›Einaktantige Darstellung der Fluchtereignisse‹ eine Protokollanten-Rolle und verzichten darauf, die Fluchtgründe zu substantiieren, weil die Antragsteller*innen aufgrund ihrer Herkunftsländer vorkategorisiert wurden. Beispielsweise in zwei Anhörungen (14 und 16) kommen die Antragsteller*innen aus (Ost-Europa). Ihr Herkunftsland gehörte zu dem Zeitpunkt zu den sicheren Herkunftsländern, deren Antragsteller*innen meistens abgelehnt werden. In den anderen vier Anhörungen (2,10,19 und 18) kommen die Antragsteller*innen aus Syrien und ihren Asylantrag wird nicht abgelehnt. Angesichts der Vorkategorisierung entscheiden sich die Anhörer*innen der beiden Fällen für ein zurückhaltendes Interaktionshandeln. Beim dritten Rekonstruktionsverfahren ›segmentierende Rekonstruktionsverfahren‹ veranlasst die Zurückhaltung die Antragsteller*innen bei der narrativen Rekonstruktion der Fluchtereignisse die Anhörer*innen dazu, sich mit Fragen vom ersten Moment der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte bis zum Schluss zu beteiligen (Anhörungen 1, 6 und 21). Die vierte Rekonstruktionstechnik ›Ko-Rekonstruktion mit gleichberechtigter Interaktionsdynamik‹ entsteht in der Interdependenz von Asylbewerber*innen, die eine gute Erzählkompetenz besitzen und interessierte Anhörer*innen, die sich um eine vollständige und detaillierte Ermittlung bemühen. Daraus ergibt sich eine kooperative und dynamische Rekonstruktionstechnik, die den Anhörungszwecken hindurch dienlich ist (Anhörungen: 3, 7, 8, 9, 12 und 13). Ein Gegensatz dazu ist das fünfte Rekonstruktionsverfahren ›elizitierte Rekonstruktion von Fluchtereignissen‹, das sich ausfolgender Fallkonstellationen ergeben kann: (a) desinteressierte Asylbewerber*innen (Typ I »der Verweilende«), die die Anhörung lästig finden, eine schnelle Beendigung dieser wünschen und deshalb während des Interaktionshandelns eine pseudokooperative Haltung einnehmen (A:11), (b) dominante Anhörer*innen, die eine verhörartige Anhörung führen und die Antragsteller*innen keine Gelegenheit einräumen, ihre Fluchtgründe zusammenhängend darzulegen (A: 4).

Das sechste und letzte Rekonstruktionsverfahren ›kooperative Sortierung der Fluchtereignisse‹ entsteht in folgender Konstellation: Ein Antragsteller, der aufgrund schwerer Traumatisierung durch Entführung und Folter erhebliche Schwierigkeiten hatte,

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Die Anhörung im Asylverfahren

die Fluchtereignisse in einer institutionskonformen Erzählungsweise darzustellen. Der traumatisierte Antragsteller trifft auf einen Anhörer, der sich für die Interessen des Antragstellers einsetzt, ohne die behördlichen Vorgaben und die institutionellen Kriterien für die Entscheidungsfindung aus den Augen zu verlieren (Anhörung: 5). Aus dieser kurzen Ausführung kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass (a) jedes Rekonstruktionsverfahren in einem Konstellationsgefüge entsteht und (b) dass die Situation und die Konstellation des Falles ein bestimmtes Rekonstruktionsverfahren erforderlich macht oder sogar zwingend (vgl. Rekonstruktionsverfahren 3,5 und 6). Somit kann postuliert werden, dass die Unterschiede der Rekonstruktionsverfahren den institutionellen Zwecken und der Fallkonstellation geschuldet sind. Möchte man die vorgestellten Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten untereinander kategorisieren und bewerten, welche von ihnen für die institutionellen Anhörungszwecke besser geeignet wären, lässt sich feststellen, dass das jeweilige Verfahren auf seine Eignung hin nur im Kontext aller Konstellationsgefüge beurteilt werden kann. Im Allgemeinen können für jedes Verfahren Vor- und Nachteile genannt werden. Bei den ersten zwei einaktantigen Rekonstruktionsverfahren können die Antragsteller*innen zwar frei und ungehindert seine Gründe vortragen. Aber es ist sehr wahrscheinlich bei einem solchen Verfahren, das ohne Verdichtung- oder Erklärungsfragen durchgeführt wird, dass die Asylsuchenden bezüglich der institutionellen Anforderungen, eine mit Lücken behaftete Geschichte erzählen und im Sinne der Institution verfahrensrelevante von -irrelevanten Aspekten nicht unterscheiden. Im Endergebnis könnten die Fluchtgründe als asylirrelevant oder unsubstantiiert bewertet werden. Das dritte Verfahren ›segmentierte Rekonstruktionsverfahren‹ ist bei diversen Antragsteller*innen notwendig, um überhaupt die Fluchtgeschichte herstellen zu können. Das Verfahren eignet sich gut für Antragsteller*innen, die von sich aus nicht erzählen detailliert können und bei denen ersichtlich wird, dass sie Orientierung durch Fragen benötigen, in welche Richtung die Geschichte rekonstruiert werden soll. Bei dem segmentierenden Rekonstruktionsverfahren wird den Antragsteller*innen die Differenzierung zwischen asylrelevanten und irrelevanten Gründen erspart, weil die Anhörenden diese übernehmen. Aber es werden eben vor allem Geschichtenteile generiert, die aus Sicht der Entscheider*innen relevant sind. Dabei ist nicht auszuschließen, dass andere Nebendetails, die relevant sein könnten, unerwähnt bleiben. Rekonstruktionsverfahren 5 ›Elizitierende Rekonstruktionsverfahren‹ hat keine Vorteile hinsichtlich der vollständigen Rekonstruktion der Fluchtereignisse. Aus Perspektive der administrativen Aufgabenerfüllung hingegen ist sie in den Fällen angebracht, in denen Antragsteller*innen (Asylbewerbertyp 1) desinteressiert sind und sich unkooperativ verhalten. Diese Technik bietet den Anhörer*innen die Möglichkeit, Geschichtenteile zu erfassen, auf deren Grundlage der Asylbescheid erstellt wird und bietet ihnen Gelegenheiten, Ablehnungsgründe zu ermitteln. Das sechste Verfahren ›kooperative Sortierung der Fluchtereignisse‹ ist aus dem oben erwähnten Gründen so konstruiert, dass die Befragungstechniken den Antragsteller*innen entgegenkommen sind. Das vierte Rekonstruktionsverfahren ›Ko-Rekonstruktion mit gleichberechtigter Interaktionsdynamik‹ ist unter den sechs Rekonstruktionsverfahren, hinsichtlich des methodischen Vorgehens -objektiv betrachtet und unabhängig von weiteren

17. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten

Konstellationsgefügen- das am besten geeignete Rekonstruktionsverfahren (Gründe s. oben) für die Erfüllung der Anhörungszwecke. Sein Wert besteht darin, dass – neben anderen Vorteilen – die Vollständigkeit der Darstellungen der Antragsstellenden gewährt wird und zur Kohärenzherstellung anregt. Die Interaktionsprozesse werden von den Anhörer*innen in einer ausgewogenen, kooperativen Weise organisiert, indem sie zuerst die Antragsteller*innen frei erzählen lassen, dann durch ergänzende Fragen, die Fluchtereignisse verdichten. Erst dann wird die vollständig geschilderte Geschichte als etabliertes Prüfungsmaterial für den Verhandlungsprozess genutzt. Die Anhörer*innen erweisen sich bei dieser Rekonstruktionstechnik als besonders »gerecht«. Sie geben den Antragsteller*innen alle Möglichkeiten, ungehindert die Fluchtursachen zu schildern und lassen keine Gelegenheit aus, dem Sachverhalt auf den Grund zu gehen. Deshalb finde ich ihre Anwendung für alle Anhörungen theoretisch zweckdienlich. Jedoch kann sie in der oben dargestellten methodischen Herangehensweise nicht verwendet werden, wenn Antragsteller*innen Vortragsschwierigkeiten haben.

285

Anhörungen: 2, 10, 17

Anhörungen: 14, 16, 18, 19, 20 2. Einaktantige, diskontinuierliche Darstellungen

a) Unbedeutend, unkooperativ

1. Einaktantige, kontinuierliche Darstellung der Fluchtgeschichte

c) Kaum vorhanden: Übernimmt Zuhörer- und Protokollanten-Rolle a) Unbedeutend, unkooperativ b) Unterbrochene, keine chronologische Darstellung, Fragmentartige Erzählung. Beim Rekonstruieren wird in den Erinnerungen nach den Zusammenhängen gesucht und die Geschichtenteile werden schrittweise und nicht vollständig rekonstruiert. Metakommunikative Einschübe c) Kaum vorhanden: Übernimmt Zuhörer- und Protokollanten-Rolle

b) Überblickartig und chronologisch

Merkmale a) Interaktionsdynamik b) Erzählweise der Asylbewerber* innen c) Beteiligung der Entscheider*innen

Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten

 Zurückhaltend, neutral  Fehlende Fragen und Nachfragen, aufgrund des Desinteresses an einer vollständigen Ermittlung der Fluchtereignisses

 Überblickartige, unsubstantiierte Ermittlung der Fluchtereignisse  Nicht geeignet für eine vollständige Erfassung  Fragment artige, unvollständige Darstellung

Kommunikatives Verhalten von Entscheider*innen

Eignung der Rekonstruktionsverfahren zur vollständigen Sachverhaltserfassung

Rekonstruktionsverfahren der Fluchtgeschichte

Tabelle 3: Tabellarische Darstellung der Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten (Fortsetzung auf der nächsten Seite)

286 Die Anhörung im Asylverfahren

 

Anhörungen: 3, 7, 8, 9, 12, 13

4. Ko-Rekonstruktion mit gleichberechtigter Interaktionsdynamik

Anhörungen: 1, 6, 21

3. Segmentierendes Rekonstruktionsverfahren

Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten

Merkmale a) Interaktionsdynamik b) Erzählweise der Asylbewerber* innen c) Beteiligung der Entscheider*innen a) Das Interaktions-handeln ist reaktivdynamisch, Interaktionsprozess wird von Entscheider aktiv vorangetrieben b) Zurückhaltend, kurze Antworten, keine narrative Konstruktion c) Der Entscheider ist von Beginn bis zum Schluss der Anhörung durch Fragen an der Rekonstruktion beteiligt a) Das interaktive Handeln basiert auf einer ausgewogenen Rollenverteilung zwecks der Kommunikationsaufgabe. Es ist auf beiden Seiten dynamisch b) Detaillierte, chronologische, ausführliche und narrative Geschehensvorgänge c) Anfangs Zuhörer*innen, später intensive Befragung

 Die Anhörer*innen sind durch berufliche Ambitionen charakterisiert  Sie nehmen ihren Auftrag ernst und sind an der Sachermittlung interessiert

 Neutral, sachlich, aktiv, erzähl-fördernde Fragen  Es wird auf die Sachverhaltserfassung Wert gelegt  Die gewünschten Informationen werden, wenn nötig, durch wiederholtes Nachfragen generiert

 Sachverhaltsermittlung in FrageAntwort-Format  Sie ist für den Anhörungscharakter nicht optimal, ist jedoch das einzig geeignete Verfahren, wenn der Antragsteller von sich aus nicht erzählt

 Eine vollständige Ermittlung durch beidseitige Kooperation, Fragen zur Verdichtung, Substantiierung und Vervollständigung des Sachvorhalts. Für beide Interaktanten zweckdienlich  Das Verfahren ist methodisch dem Anhörungszweck dienlich

Kommunikatives Verhalten von Entscheider*innen

Eignung der Rekonstruktionsverfahren zur vollständigen Sachverhaltserfassung

17. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten 287

Anhörung: 5

Anhörungen: 4, 11 6. Kooperative Sortierung der Fluchtereignisse

5. Elizitierte Rekonstruktion von Fluchtereignissen

Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten

Merkmale a) Interaktionsdynamik b) Erzählweise der Asylbewerber* innen c) Beteiligung der Entscheider*innen a) Das Interaktions-handeln ist energisch/eindringlich, pseudokooperativ b) Der Erzählstrom wird entweder durch den Antragsteller blockiert oder durch den Entscheider verhindert c) Anfangs Zuhörer*innen, später intensive Befragung a) Die Interaktionsdynamik ist langsam und behutsam b) Dem Antragsteller fällt es schwer, sich von seinem Fluchterlebnis zu trennen c) Anhörenden, im Interesse des Antragstellers

Kommunikatives Verhalten von Entscheider*innen

 Die Entscheider*innen unterbrechen den Erzählstrom  Es wird versucht, Informationsteile zu selektieren  Interaktionsprozesse werden durch heraus-fordernde und provozierende Fragen vorangetrieben und Eskalationen werden hervorgerufen  Der Entscheider hilft dem Antragsteller die Fluchtgeschichtsvorgänge institutionsgemäß zu rekonstruieren  Der Entscheider ist zugewandt und rücksichtvoll

Eignung der Rekonstruktionsverfahren zur vollständigen Sachverhaltserfassung

 Fluchtgeschichte wird nicht in ihrem Gesamtzusammenhang rekonstruiert: Es handelt sich, um eine Fragment artige, unvollständige Ermittlung  Das Verfahren “eignet“ sich für Entscheider, die Ablehnungsgründe zu beschaffen versuchen  Vollständige Ermittlung unter schweren Bedingungen  Das Verfahren durch Sonderverfahren zu ersetzen, ist für alle Beteiligten besser

288 Die Anhörung im Asylverfahren

 

17. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten

17.6.3

Ergebnisse der Rekonstruktion der Fluchtgeschichte

Folgende Punkte können als Ergebnisse der Fallanalysen zusammengefasst werden: (1) Die Rekonstruktion der Fluchtgründe zeigt sich nicht nur als eine Herausforderung für die Antragsteller*innen, sondern auch für die Anhörer*innen. Sie stellt für die Anhörer*innen einen Balanceakt dar, bei dem es wichtig ist, dass sie situationsbedingt und flexibel auf das Erzählverhalten der Antragsteller*innen reagieren können. (2) Die Rekonstruktionsverfahren sind nicht zufällig oder beliebig gewählt, sondern entstehen in Interdependenz zum kommunikativen Verhalten der Interaktanten und in Abhängigkeit von den unterschiedlichen Konstellationsgefügen des Falles. (3) Durch die Analyse von Anhörungen werden zwei Spannungsfelder für das institutionelle Handeln der Entscheider*innen, die im Arbeitsabschnitt II (K. 9.2.1.1) behandelt wurden, deutlich: zum einen unterliegen die Entscheider*innen administrativen und institutionellen Zwängen und zum anderen verfügen sie über hohe Ermessensspielräume. Dabei handelt es sich um zwei unterschiedliche Handlungsdimensionen, die in den Punkten 3.1. und 3.2. zusammengefasst werden: (3.1)   Die Ermessensspielräume, über die die Anhörenden verfügen, sind bei der Fluchtgeschichtenrekonstruktion deutlich wahrnehmbar. Durch diese werden Räume für die individuellen Praktiken geschaffen, so dass divergierende Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten auftreten können. Diese individuellen Praktiken entstehen auf zwei Ebnen: (a) Praktiken, die sich durch fallbezogene Anforderungen ergeben und dadurch sozusagen »objektiviert« sind. Das sind die Praktiken, die die Anhörer*innen in Abhängigkeit von dem Erzählverhalten der Antragsteller*innen einsetzen. Ein/Eine Entscheider*in favorisiert beispielsweise Verfahren 1 anstelle von Verfahren 2, weil er/sie dieses als erfolgversprechender bei der Befragung des/der Asylbewerbers*in einschätzt. Der/Die gleiche Anhörer*in in einer anderen Anhörung entscheidet sich für das Rekonstruktionsverfahren 2, gegen beispielsweise 5 oder 1, weil Verfahren 2 besser zu dem/der Asylbewerber*in passt. (b) Praktiken, die dem persönlichen Eigenstil der Anhörer*innen geschuldet sind. Diese sind persönliche Vorgehensweisen, die auf individuelle Charakterzüge jedes/jede Entscheiders*in zurückzuführen sind. Manche Entscheider*innen sind geduldig oder/und höflich, hören die Fluchtgründe an, bis die Antragsteller*innen zu sprechen aufhören (mehrere Anhörer*innen in Verfahren 1, 2 und 4), andere sind etwas voreilig und stellen Verständnisfragen vom ersten Moment an (BP: 8). Einige sind dominant und harsch (BP: 13), andere dominant, ohne harsch zu sein, sondern resolut (BP: 9) und weitere sind neutral (BP: 3), während andere zugewandter sind und zeigen Freundlichkeit (2, 5, 7, 15, 19 und 20) usw. (3.2)   Die administrativen und institutionellen Zwänge, denen die Entscheider*innen ausgesetzt sind, wie z.B. Begründungs- und Entscheidungszwang, werden anhand des kommunikativen Verhaltens der Anhörenden offensichtlich. Am deutlichsten wurden diese Begründungs- und Entscheidungszwänge

289

290

Die Anhörung im Asylverfahren

in den Anhörungen 5 und 11 und in allen Anhörungen, in denen die Fluchtgeschichte mit dem Rekonstruktionsverfahren 4 bearbeitet wurde, spürbar. Ebenfalls bei Anhörungen, in denen diese Zwänge nicht nur auf den Schultern der Anhörer*innen lasten, weil sie die Entscheidungen durch die Vorkategorisierung der Antragsteller*innen (s. oben) begründen können, lässt sich diese Erleichterung an den Befragungstechniken der Anhörer*innen erkennen. Das sind Fälle, in denen die Asylanträge vorweg als abgelehnt oder anerkannt eingeordnet werden konnten. In solchen Fällen haben es die Entscheider*innen leicht, den Asylbescheid zu begründen. Dadurch stehen sie nicht unter dem Druck, Begründungsmaterial im Anhörungsgespräch zu beschaffen. Das wirkt sich auf den Verlauf des Anhörungsprozesses aus. (4) Stellt man alle 21 analysierten Beobachtungsprotokolle gegenüber, lässt sich feststellen, dass (a) die inneren Prozesse des Interaktionshandeln im Hinblick darauf, wie eine Fluchtgeschichte (re)konstruiert wird, sich je nach Antragstellerlage und weiteren fallbezogenen Anforderungen unterscheiden und gleichzeitig, (b) die formelle Anhörungsstruktur in Form eines vorgegebenen Fragenkatalogs einheitlich und verbindlich abgearbeitet wird. Das heißt, dass trotz aller Unterschiede in den Rekonstruktionsverfahren die Rituale einer Anhörung (Abbildung 4) in jeder Anhörung eingehalten werden. Durch (a) und (b) lässt sich die Dualität der Anhörungen verdeutlichen: einerseits ein für alle Anhörungen festgelegtes einheitliches Ablaufmodell und andererseits ein situationsabhängiger Interaktionsprozess, der erst aus Agieren und Reagieren der Interaktanten entsteht. Dadurch lässt sich die These bestätigen, dass das Ablaufmodell (Ergebnis Kapitel III.) die Weichenstellung für die Anhörung darstellt, das verbindliche homologe Muster für das Anhörungsgespräch bietet. Das Rekonstruktionsverfahren hingegen kann nicht im Voraus festgelegt werden, sondern ergibt sich im Anhörungsprozess aus den Reaktionen der Interaktanten aufeinander und kann erst dadurch identifiziert und benannt werden. Jede Anhörung weist eine Eigendynamik auf, die erst im Ergebnis der Analyse von Interaktionsprozessen und des Erfassens von Unberechenbarkeiten und Überraschungsmomenten, die sich in der Folge des Agierens und des Aufeinander-Reagierens der Anhörungsakteure ergeben, feststellbar ist. Die Eigendynamik und die unberechenbaren Aspekte können wiederum durch systematische Untersuchungen zum größten Teil abstrahiert und in Typen und Muster reduziert werden, sodass von ihrer Wiederholbarkeit ausgegangen werden kann. Auf diese Weise konnten 6 Rekonstruktionsverfahren im Abstraktionsprozess unterschieden werden.

Teil V: Überprüfung der Glaubwürdigkeit von Asylbewerber*innen

18. Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsbeurteilung im Asylverfahren »Die Asylanhörung ist das Kernstück eines fairen Verfahrens, denn die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben eines Asylsuchenden kann eine Frage von Leben und Tod sein. Umso wichtiger sei die Frage nach der Glaubhaftigkeit der Antragstellenden, über die allein in einer persönlichen Anhörung entschieden werden könne.« (MIGAZIN:30. August 2011).1

Ausgehend vom Ergebnis des ersten empirischen Kapitels III, das den Anhörungsverlauf formell in aneinandergereihten Phasen strukturiert darstellt und jedem Aufgabenkomplex eine Phase zuordnet, ist der Prüfungsprozess der Aussagen der Antragsteller*innen der Phase ›Glaubwürdigkeitsprüfung‹ zugeordnet. Dieser Prozess kann idealerweise erst in Gang gesetzt werden, nachdem die Asylbewerber*innen ihre Fluchtgeschichte vorgetragen haben. Alle Anhörungsbeiträge, die seitens der Bundesamtsmitarbeiter*innen daraufhin folgen, hängen von dieser Erzählung ab. Im Kapitel IV wurde dargelegt, dass die Darstellung der Fluchtgeschichte inhaltlich wie formell nach bestimmten institutionellen Kriterien entscheidend ist, um die Anerkennung einer der Schutzkategorien zu erreichen. Eine gute institutionalisierte Geschichtendarstellung, die die Schutzlosigkeit der Antragsteller*innen nachzeichnet und die den oben Darstellungskriterien entspricht, ist jedoch noch keine Garantie für die Asylgewährung. Es komm wesentlich darauf an, dass die Asylbewerber*innen die Fluchtgründe glaubhaft darstellen. Da im Asylverfahren in den meisten Fällen nicht aufgrund vorliegender Beweismittel entschieden werden kann, sondern nur aufgrund dessen, was die Asylbewerber*innen als Asylgründe verbalisieren, kommt der glaubhaften und überzeugenden

1

MIGAZIN (30.08.2011): Anhörung im Asylverfahren: Entscheidung über Leben und Tod per Videochat; https://www.migazin.de/2011/08/30/entscheidung-uber-leben-und-tod-per-videochat/ (19.02.2018).

294

Die Anhörung im Asylverfahren

Darstellung der Fluchtgeschichte ein besonderer Stellenwert zu. Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Personen und die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen sind elementare Entscheidungsaspekte im Asylverfahren. Zur Anerkennung der Verfolgung kann bereits der Tatsachenvortrag führen, wenn die Behauptungen der Asylsuchenden unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne »glaubhaft« sind, so dass der Rechtsanwender sich von dem Wahrheitsgehalt überzeugen konnte (BayVBl. 1985, 567; BVerwG, NVwZ 1990, 171).

18.1

Grundanforderungen an einen glaubhaften Sachvortrag

Ein Vorbringen muss bestimmte Grundanforderungen erfüllen, um die Glaubhaftigkeit beanspruchen zu können. Diese orientieren sich an den vom UNHCR (1995) erstellten Richtlinien für die Glaubwürdigkeitsüberprüfung: Der Sachvortrag muss konkrete und detaillierte Angaben über Erlebtes enthalten und »genügend substantiiert« sein. Er muss »in sich schlüssig sein«. Er muss »plausibel sein«, indem er mit den Tatsachen und den allgemeinen Erfahrungen übereinstimmt. Die Kohärenz des Geschilderten wird zum zentralen Merkmal, das in der Lage ist, die Glaubwürdigkeit herzustellen. Neben der Kohärenz der Geschichte müssen die Asylbewerber*innen als Person glaubwürdig erscheinen. Wird den Antragsteller*innen die personenbezogene Glaubwürdigkeit aberkannt, so wird die Fluchtgeschichte insgesamt oder in Einzelteilen zurückgewiesen, was die Ablehnung des Asylantrags zur Folge haben könnte. Die Entscheidung für die Zurückweisung der geschilderten Fluchtgeschichte als unglaubhaft wird nicht als abstraktes Resultat der Entscheiderüberprüfung hingenommen. Vielmehr sollen die Beweggründe, die zu dieser Bewertung führten, aus dem Anhörungsprotokoll hervorgehen. Ebenso sollen solche Bewertungen im Asylbescheid für Im-Anhörungsverfahren-Nichtbeteiligte nachvollziehbar sein. Wird die Glaubwürdigkeit der Antragssteller*innen bezweifelt, muss genau dargelegt werden, aus welchen konkreten Aussagen der Antragsteller*innen dies geschlossen wurde oder aus welchen Gründen die Entscheider*innen zur besagten Schlussfolgerung gelangten. Im Asylbescheid soll die rechtliche Begründung der Entscheidung zugänglich gemacht werden. Sie soll in einer kognitiven, transparenten, kausalen Beweiskette dargestellt werden, die bestenfalls auf den Aussagen der Antragsteller*innen beruht. Im Asylbescheid müssen die meisten Indikatoren, die die Glaubwürdigkeitsaberkennung bestimmt haben, dargelegt werden, sodass der Überprüfungsprozess und die Entscheidungsfindung nachvollzogen werden können.2 Eine detaillierte nachvollziehbare Begründung ist erforderlich (§ 77 Abs. 2 AsylVfG), vor allem wenn der Asylantrag abgelehnt wird. Durch diesen Anspruch wird der Begründungszwang, dem die Entscheider*innen unterliegen, deutlich (10.3). Dieser Zwang wirkt auf den Anhörungsprozess aus.

2

Wenn im Asylbescheid die Spuren der Bearbeitungsstadien, die die Glaubwürdigkeitsaberkennung bestimmt haben, nicht hinterlassen wurden, wird die Entscheidung kritisiert (vgl. Marx: 2003b, 2013a; Wiegel 2006 und Schmitt 2005) und das wird für die Anwälte der erste Anhaltspunkt, aus denen sie den Asylbescheid anzufechten versuchen (vgl. E-Interview Egor).

18. Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsbeurteilung im Asylverfahren

Der vorliegende Arbeitsabschnitt interessiert sich nicht für die vollendete Bewertung, die schon im Asylbescheid festgehalten wurde, um diese auf ihre Transparenz, Richtigkeit und Begründung zu untersuchen (Smith Khan 2017) oder sie in ihrem Vollzug zu kritisieren (Wiegl 2006; Weber 1998). Vielmehr liegt der Fokus in diesem Kapitel auf der Untersuchung des Überprüfungsprozesses in seinem Entstehungsmoment. Die Vorgehensweise der Glaubwürdigkeitsüberprüfung zu analysieren und die Techniken herauszuarbeiten, die die Anhörenden während der Anhörungsinteraktion verwenden, um die Glaubhaftigkeit der Antragstelleraussagen und seine persönliche Glaubwürdigkeit beurteilen zu können, stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Kapitels.

18.2

Zielsetzung und Konzeption des Kapitels

In dem Anhörungsablaufmodell (Abbildung 4) macht die Phase der Glaubwürdigkeitsüberprüfung den zweiten Bestandteil des Anhörungskerns aus. Es wurde erläutert, warum ihr dieser Platz im Ablaufmodell zugewiesen wird und geschildert, dass sie die einzige Phase ist, die auch außerhalb der strukturell linearen Phasenbestimmung auftauchen kann. Im Lichte der Leitfragenstellung im Kapitel IV, »WIE« die internen Interaktionsprozesse der Anhörung prozessiert werden, soll hier die Interaktionsdynamik in der Phase ›Glaubwürdigkeitsüberprüfung‹ aus der Perspektive des interaktionsinterpretativen Ansatzes analysiert werden. Es wird untersucht, wie die Entscheider*innen versuchen, die Glaubhaftigkeit der Antragsteller*innen in der Anhörungssituation ad hoc zu prüfen. Untersucht wird nicht, welche weiteren Faktoren (weder die verhaltensorientierte, inhaltsorientierte3 noch kontextorientierte4 Glaubwürdigkeitsbeurteilung) die Entstehung von Glaubwürdigkeitsurteilen determinieren (Köhnken 1990; Nawratil 1997; Eisend 2003). Genauso wenig geht es darum, festzustellen, welchen Schwierigkeiten Asylbewerber*innen ausgesetzt sind, ihre Asylgründe glaubhaft zu machen (u.a. Forman 2008: 219-227; Rogers et al. 2015: 143-151). Eine Analyse darüber, wie die Unglaubwürdigkeit im Asylbescheid anhand der Äußerung der Antragsteller*innen begründet wird (Wiegel 2006 und Khan 2017) und welche kulturell bedingten kommunikativen Hindernisse den Antragsteller*innen im Wege stehen, eine nach der institutionellen Definition glaubhafte Fluchtgeschichte darzustellen (Kälin 1986; Monnier 1995), wird

3

4

Während sich die verhaltensorientierte Glaubwürdigkeitsbeurteilung mit Merkmalen der nonverbalen Verhaltensweisen (Gestik, Mimik) und dem extralinguistischen Verhalten (Antwortlänge, Sprechrate, Stimmhöhe usw.) beschäftigt, untersucht die inhaltsorientierte Glaubwürdigkeitsbeurteilung Merkmale unmittelbarer Kommunikation als Glaubwürdigkeitsindikatoren (Köhnken 1990: 12-86). Sie ist zweckorientiert und beschränkt sich auf die Aussagebewertung durch Betrachtung von auffälligen Details in den Aussagen eines Kommunikators (vgl. ebenda 1990: 83). Die inhaltsorientierte Glaubwürdigkeitsbeurteilung ist in der Anhörung eine der wichtigsten Anhaltspunkte, die die Anhörer zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung einsetzten. Die kontextorientierte Glaubwürdigkeitsbeurteilung hinterfragt neben Merkmalen des Kommunikators, auch Merkmale der Botschaft, die zu einer Zuschreibung von Glaubwürdigkeit führen. Sie beobachtet, welche Mechanismen dafür verantwortlich sind, dass Rezipienten einem Kommunikator oder dessen Aussagen Vertrauenswürdigkeit zuteilen (Nawratil 1997: 44; Eisend, 2003:102f. und Köhnken 1990: 99-107).

295

296

Die Anhörung im Asylverfahren

hier ebenfalls nicht angestrebt. In vorliegenden Kapitel versuche ich auch nicht herauszufinden, wie die Entscheider*innen die Glaubwürdigkeit und die Glaubhaftigkeit durch weitere Dokumente oder Länderberichte zu beweisen versuchen, um die allgemeine (Un)Glaubwürdigkeit von Antragsteller*innen festzustellen oder abzuerkennen (Baillot et al. 2014). Vielmehr werden die faktischen kommunikativen Aktivitäten zwischen Anhörenden und Asylsuchenden, mit denen die Glaubhaftigkeit verhandelt wird, erforscht. Untersucht wird demnach nicht, ob die Äußerungen der Antragsteller*innen die Glaubhaftigkeitskriterien inhaltlich erfüllen, sondern im Fokus der Untersuchung steht, wie die Anhörer*innen diese Kriterien herauszufinden versuchen. Dabei geht es nicht darum, was wahr und glaubhaft ist, sondern was als glaubhaft definiert und akzeptiert wird. Aus dem Material werden systematisch die Techniken der Glaubwürdigkeitsüberprüfung herausgearbeitet und es wird angestrebt, folgende Fragestellungen zu beantworten: (1) Mit welchen Verfahren und durch welche Fragetechniken gelingt es den Anhörer*innen, die Glaubhaftigkeit der Asylbewerberaussagen zu überprüfen? (2) Lassen sich bestimmte Vorgehensweisen für die Überprüfung systematisch und wiederholend verwenden, so dass bestimmte Techniken als typisch in bestimmten Konstellationen auftreten und von ihrer Wiederholbarkeit unter gleichen Bedingungen auszugehen ist? Wenn ja, (3) Wie stellen sich diese Techniken dar, wann werden sie verwendet und werden bestimmte Techniken für bestimmte Asylbewerbertypen eingesetzt? (4) Welche Technik bringt den entscheidenden Indikator für die Zuschreibung oder Abschreibung von Glaubwürdigkeit hervor? (5) Reichen diese Verfahren, um mit Sicherheit ein Urteil über die Glaubwürdigkeit der Antragsteller*innen zu treffen?

Teil V ist wie folgt strukturiert: In den Kapiteln (18.3; 18.3.1; 18.3.2) wird der im Allgemeinen und im Asylverfahren angewandte Glaubwürdigkeitsbegriff erklärt und mit dem Begriff »Glaubhaftigkeit« verglichen. Die in den Handlungsanweisungen »vorgeschriebenen« Beurteilungskriterien werden zitiert und es wird danach gefragt, ob sie in der Anhörung überhaupt sicher festgestellt werden können. Dann wird in den darauffolgenden Kapiteln (von K. 19 bis K. 20) anhand von 64 Anhörungsprotokollen der Forschungsfrage nachgegangen: Wie wird der Prozess der Glaubwürdigkeitsprüfung durchgeführt? Bei dieser Frage werden zwei Unterpunkte erarbeitet, (a) welche sprachlichen Muster werden für die Überprüfung von Aussagen eingesetzt? und (b) welche Überprüfungstechniken werden dafür verwendet? Diese Techniken werden dargestellt und anhand von Beispielen exemplarisch erläutert.

18.3

Unterschied zwischen den Begriffen Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit

In der juristischen Terminologie wird im Asylverfahren zwischen der Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage und der Glaubwürdigkeit der Antragsteller*innen un-

18. Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsbeurteilung im Asylverfahren

terschieden (vgl. Tiedemann 2015: 130; Marx 2003a: 316f und 2003b: 83). Da, wie oben erwähnt, die meisten Asylsuchenden nicht anhand von Dokumenten (Beweismittel) ihre Verfolgung und Schutzbedürftigkeit nachweisen können, werden gesetzlich zur Erleichterung keine materiellen Beweise verlangt. Es reicht aus, wenn die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist (Marx 2003a, 2003b und 2013; Tiedemann 2015 sowie mehrere Experteninterviews und Entscheider-Interviews s. unten). Die Beurteilung der allgemeinen Glaubwürdigkeit setzt voraus, dass das persönliche Vorbringen als glaubhaft bewertet werden kann (BayVBl. 1985, 567; BVerwG, NVwZ 1990, 171). Dessen Stimmigkeit und Widerspruchsfreiheit5 stehen im Mittelpunkt der Überprüfung von Aussagen der Antragstellenden und gelten als Anhaltspunkte dafür, den Antragsteller*innen Glaubwürdigkeit zuzuschreiben. Im Folgenden werden die beiden Begriffe ›Glaubwürdigkeit‹ und ›Glaubhaftigkeit‹ kurz dargestellt. Zum Schluss wird tabellarisch gezeigt, wie ihre Beurteilung miteinander verrechnet wird und in die Begründung der Entscheidung über den Asylantrag eingeht.

18.3.1

Glaubwürdigkeit

Der Begriff Glaubwürdigkeit ist im Asylverfahren ein zentraler Begriff und ein entscheidendes Beurteilungskriterium der Person der Asylbewerbers*innen. Eine Klärung des Begriffes der Glaubwürdigkeit, in Form einer Definition und Etablierung der Begriffsbestimmung, mache ich mir nicht zur Aufgabe. Dies würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Das Interesse liegt deshalb auf der Beschreibung des Begriffs in Hinblick auf die Fragestellung des Kapitels, also wie sich die persönliche Glaubwürdigkeit von Antragsteller*innen in der Anhörung feststellen lässt und nach welchen Kriterien den Antragsteller*innen die Glaubwürdigkeit zugeschrieben oder abgesprochen wird. Entscheidend dabei ist das Konzept der Zuschreibung von Glaubwürdigkeit. Die Glaubwürdigkeit wird daher betrachtet als »Eine genuin interaktive und also soziale, symbolische Geltung, die nur insofern »existiert«, als sie von Interaktionspartnern als relevante Größe veranschlagt, eingefordert, beansprucht, zugesprochen, in Zweifel gezogen oder geprüft wird. Für die Beteiligten kommt es daher darauf an, von ihren Partnern als glaubwürdig erachtet zu werden.« (Depperman 1997: 7). Die Glaubwürdigkeit in der Anhörung wird somit nicht als inhärente Eigenschaft des Antragstellers bewertet, sondern in Anlehnung an Bentele (1988) als

5

Marx (2003b) merkt an, dass es keinen Erfahrungsgrundsatz gibt, »dass ein widersprüchlicher Sachvortrag als solcher bereits zur Unglaubwürdigkeit eines Asylsuchenden führt. Insbesondere kann berücksichtigt werden, ob im Verfahren aufgetretene Widersprüche überzeugend aufgelöst wurden« (ebenda: 81). Der Autor weist darauf hin, dass Widersprüche nicht besonders wegen unrealer Erlebnisse wahrgenommen werden, sondern auch darauf beruhen können, dass Asylsuchende von verschiedensten Seiten Hinweise erhalten, deren Bedeutung sie nicht verstehen und deren mögliche Auswirkungen sie nicht übersehen, von denen sie sich aber gleichwohl beeinflussen lassen (vgl. ebenda). Daher kann es häufig zu Widersprüchen im Sachvorbringen kommen, die ihnen nicht ohne Weiteres angelastet werden könnten.

297

298

Die Anhörung im Asylverfahren

»eine Eigenschaft, die Menschen, Institutionen oder deren kommunikativen Produkten (mündliche oder schriftliche Texte, audiovisuelle Darstellungen) von jemandem (Rezipienten) in Bezug auf etwas (Ereignisse, Sachverhalte usw.) zugeschrieben wird […]Glaubwürdigkeit einer Person (oder Institution) X ist gegeben, wenn zumindest zwei Bedingungen erfüllt sind: a) der Kommunikationspartner (oder Rezipient) Y muss darauf vertrauen können, daß die Aussagen x1-n wahr sind, daß sie z1-n adäquat beschreiben; b) das kommunikative Verhalten von X muss ein Mindestmaß an Kohärenz aufweisen, es muss »stimmig« sein.« (Ebenda: 408) Hierbei sind weder die tatsächliche Wahrheit der übermittelten Botschaft noch die Absichten der Absender*innen ausschlaggebend, sondern die subjektive Wahrnehmung der Rezipient*innen. Glaubwürdigkeit ist demnach ein Beurteilungskriterium, das einer Person oder einer Institution zugeschrieben wird. Diese Zuschreibung basiert auf der Annahme des/der Rezipient*in, ob er/sie den Gehalt einer Äußerung als wahr einschätzt, unabhängig davon, ob der Gehalt faktisch wahr ist. Nur nachdem der/die Rezipient*in (wie z.B. der/die Anhörer*in) sich für die Zuschreibung der Glaubwürdigkeit entschieden hat, ist diese hergestellt. Andernfalls wird sie aberkannt. Demzufolge spielt die Wahrnehmung der Rezipient*innen eine entscheidende Rolle bei der An- oder Aberkennung von Glaubwürdigkeit. In sozialen Alltagsinteraktionen ist Glaubwürdigkeit ein notwendiger Prozess für das Aufbauen von Beziehungen. Nach Goffman (1969) ist die Glaubwürdigkeit ein zentraler sozialer Anspruch an die Akteure einer Gesellschaft. Ihm zufolge müssen Gesellschaftsmitglieder nicht ehrlich sein und das Wahre mitteilen wollen, um das Image »glaubwürdig-sein« zu erlangen. Sie müssen die Glaubwürdigkeit methodisch inszenieren können: »Ob ein aufrichtiger Darsteller die Wahrheit oder ein unaufrichtiger Darsteller die Unwahrheit mitteilen will, beide müssen dafür sorgen, ihrer Art, sich darzustellen, den richtigen Ausdruck zu verleihen, aus ihrer Darstellung Ausdrucksweisen auszuschließen, durch die der hervorgerufene Eindruck entwertet werden könnte, und sie müssen darauf achtgeben, daß das Publikum ihren Darstellungen unbeabsichtigte Bedeutung unterlegt.« (Goffman 1969: 62). Glaubwürdigkeit kann mithilfe von bestimmten Techniken errungen und gefestigt werden. Wer als glaubwürdig bei anderen erscheinen will, sendet in den eigenen Handlungen gewisse Signale aus, verwendet sie bei seinem/ihrem Auftritt auf verschiedene Art und Weise je nach Situation, Interaktentengruppe und den erwartbaren Normen, um den Zielpersonen bestimmte Eindrücke zu vermitteln. Für die Entstehung der Glaubwürdigkeit ist es entscheidend, wie die Signale bei den Rezipient*innen ankommen. Damit die gesendeten Signale zum Erfolg führen, sollten diese nach Goffman so vollzogen werden, dass sie im Einklang mit der Etikette stehen, die in der jeweiligen Situation für die jeweiligen Akteure gilt. Zugleich sollen die Signalsender*innen – laut Goffman »Darsteller*innen«- ihr individuelles Engagement (auch wenn es manipulativ ist) für die normativen Anforderungen authentisch vermitteln (vgl. Goffman 1969: 229).

18. Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsbeurteilung im Asylverfahren

»[A]ls Darsteller sind die Einzelnen nicht mit der moralischen Aufgabe der Erfüllung dieser Maßstäbe beschäftigt, sondern mit der amoralischen Aufgabe, einen überzeugenden Eindruck zu vermitteln, daß diese Maßstäbe erfüllt werden.« (ebenda: 229f.). Überzeugende Eindrücke zu bewirken und sie aufrechtzuerhalten, geschieht in den sozialen alltäglichen Interaktionen nicht zufällig, sondern wird mit passenden Techniken erzeugt (vgl. Goffman 1969: 17); vorrangig durch Techniken der Inszenierung der Aufrichtigkeit, Konsistenz, Stabilität, Verlässlichkeit von Eigenschaften (vgl. ebenda). Dabei spielt zum Beispiel die Übereinstimmung zwischen Erscheinung (die äußerlichen Merkmale einer Person, die auf ihren sozialen Status hinweisen) und Verhalten (verweist auf die eingenommene Interaktionsrolle) eine entscheidende Rolle (vgl. ebenda 1969: 25). Die Kohärenz zwischen Erscheinung und Verhalten lässt sich herstellen und verfestigen, wenn die Eindrücke, welche das Image der Person herstellen, mit früheren Image-Erfahrungen übereinstimmen (Zenker 2004: 13). Demzufolge ist die Glaubwürdigkeit kein Merkmal, welches durch ein einmaliges strategisches Handeln hergestellt werden kann, sondern muss bei jeder Person, die von der Glaubwürdigkeit überzeugt werden soll, immer wieder provoziert werden. Sie »stellt sich durch oftmalige positive Erfahrungen her oder wird durch Merkmale, wie gesellschaftlichen Status, Sachverständigkeit, Unabhängigkeit von Parteiinteressen usw. konstituiert und unterstützt.« (Bentele 1988: 408). Die beschriebenen Bedingungen, die bei der alltäglichen, sozialen Glaubwürdigkeitsherstellung dienlich sind (wie die Technik der Kohärenz, die sich auf wiederholende positive Erfahrung aufbaut), können auf die Herstellung von Glaubwürdigkeit in der Anhörung im Asylverfahren nicht oder nur bedingt angewendet werden. Dafür können mindestens vier Aspekte genannt werden: (1) Anhörende und Asylsuchende begegnen sich nur einmal persönlich, sodass Kohärenz nur anhand von verbalen Äußerungen der Asylbewerber*innen in einer einzigen Sitzung festgestellt werden kann. Dabei kann weder auf ein wiederkehrendes Verhalten noch auf einen sich wiederholenden und beständigen Eindruck zurückgegriffen werden. (2) Da in der Anhörung nur über Dolmetscher*innen kommuniziert wird, kann der persönliche Eindruck aufgrund der Verständigungsqualität wesentlich beeinflusst werden. Glaubwürdigkeit zielt auf das Beeinflussen und Modifizieren der Einstellungen des Gegenübers durch verschiedene Mittel ab. Dies wird vor allem durch die Sprache vollzogen, wobei es zu Wechselwirkungen kommt, die sowohl Sender*innen (Antragsteller*innen) als auch Empfänger*innen (Anhörer*innen) betrifft. Sprache ist eine Frage der Performance derjenigen, die glaubwürdig wirken wollen, ebenso wie eine Frage der erfolgreichen Rezeption im Sinne des intendierten, hervorzurufenden Eindrucks (Goffman 1969: 6-17). In einer gedolmetschten Interaktion ist es sehr wahrscheinlich, dass die Sender*innen (Asylbewerber*innen) die Glaubwürdigkeit verbal gut senden. Der beabsichtigte Eindruck, auf den bei der Performance besonders geachtet wird, könnte hingegen bei der Übertragung durch die Dolmetscher*innen, nicht vermittelt werden.

299

300

Die Anhörung im Asylverfahren (3) Anhand der Expert*innen- und Begleiter*innen-Interviews im Korpus lässt sich feststellen, dass die Anhörung in einem institutionalisierten Klima des Misstrauens stattfindet (vgl. auch Marx: 2003 und 2013; Wolke 1988; Münch 1993; Stark 1998). Zudem laut mehreren Untersuchungen ist eine latente Missbrauchsannahme durch die Entscheider*innen offenbar (vgl. Gehrig 2000; Scheffer 2001 und 2003; Spijkerboer 2005; Doornbos 2005; Kelly 2011; Weber 1998 und Affolter 2017). Unter Bedingungen des Misstrauens, die das Image der Person »Asylbewerber*in« von vornherein beschädigt, ist die Überprüfung der Glaubwürdigkeit eindeutig schwerer als in einer neutralen Überprüfungssituation. (4) Einige Entscheider*innen nehmen diese Aufgabe ›Glaubwürdigkeitsbeurteilung‹ als Belastung wahr:

»Die Glaubwürdigkeitsprüfung ist für die Entscheider eine große Belastung. […] Das Bewusstsein, nicht Menschen, die wirklich unter politischer Verfolgung leiden, zu helfen, sondern betrügerisch ausgenutzt zu werden, um einen Aufenthaltsstatus mit den damit verbundenen – auch finanziellen – Vorteilen in Deutschland zu erlangen, ist für viele Einzelentscheider Teil der täglichen Arbeit« (Leitung des deutschen Bundesamtes, zit. Scheffer 2003: 457). Dem Zitat ist zu entnehmen, dass diese Belastung nicht nur dadurch entsteht, dass die Überprüfungsmöglichkeiten mit besonderen Schwierigkeiten verbunden sind, sondern auch, weil die Konsequenzen einer Fehleinschätzung der Glaubwürdigkeit erheblich sind. Denn man könnte »Betrüger*innen« Asyl gewähren. Demzufolge überprüfen die Entscheider*innen den Sachverhalt nicht unbelastet. Sie tragen die Verantwortung bezüglich der Selektion, wer ein*e Betrüger*in ist und wer hilfebedürftig ist. Zum einen müssen die Entscheider*innen die Glaubwürdigkeit der »berechtigten« Asylbewerbers*innen überprüfen. Zum anderen müssen sie die Unglaubwürdigkeit der betrügerischen Asylbewerber*innen, die das Gesetz ausnutzen, um einen Aufenthaltsstatus mit den damit verbundenen – auch finanziellen – Vorteilen in Deutschland zu erlangen (s. oben), aufzudecken. Auch vor dem Hintergrund der Belastung, eventuell Betrüger*innen Asyl zu gewähren und die Schutzbedürftige auszuschließen, ist die Beurteilung von Glaubwürdigkeit besonders schwer. Empfehlung für Glaubwürdigkeitsbeurteilung Da die Glaubwürdigkeitsbeurteilung einer Person (a) von mehreren subjektiven Eindrücken geprägt ist, (b) da die Anhörung ein Ort des Misstrauens ist und (c) da die Aufgabe ›Glaubwürdigkeitsbeurteilung ›als Belastung gesehen wird, was sich auf die Beurteilung auswirken könnte, wird versucht, die Glaubwürdigkeitsprüfung nicht der subjektiven Einschätzungen von Entscheider*innen zu überlassen. Es werden Empfehlungen zur »objektiven« Beurteilung formuliert. In den UNHCR-Anweisungen zur Glaubwürdigkeitsprüfung wird das »Prinzip der Objektivität« besonders geschätzt: »Assessing credibility, therefore, requires decision-makers not just to assess the statements and other evidence applicants present, but also to be aware of the extent to which their own emotional and physical state, values, views, prejudices, and life expe-

18. Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsbeurteilung im Asylverfahren

riences may influence the objectivity and partiality of their decision-making. This will enable them to minimize subjectivity and partiality.« (UNHCR 2013:39). Demzufolge sollen Faktoren, die die Entscheidungsträger*innen beeinflussen können, wie Voreingenommenheit und Parteilichkeit aus der Anhörung fernbleiben. Um die Willkür der Glaubwürdigkeitsbewertung zu minimieren, sollte sie sich laut UNHCR an klaren Indikatoren orientieren und die Herangehensweise an die Bewertung der Glaubwürdigkeit neutral gehalten werden. Zum Beispiel sollte aus Sicht des UNHCR das Auftreten der Asylwerber*innen keine Grundlage für die Beurteilung ihrer Glaubwürdigkeit bilden: »The credibility assessment should be based on the available relevant evidence and not on the decisionmaker’s intuition or gut feeling. Speculative argument that fail storely on objective and reliable sources of information and that reflects the decision-maker’s own theory about how the applicant or other should or should have acted, or about how certain event should or should have unfolded, violates the principle of objectivity.«(UNHCR 2013: 39). Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit solle zudem nicht anhand von Inkonsistenz in einem Teil des Berichteten bewertet werden, die vielleicht aufgrund von Erinnerungsverlusten auftreten könnte, sondern anhand der Gesamtheit des Berichteten. Im Zweifelsfall soll für die Antragsteller*innen entschieden werden (vgl. UNHCR 2013: 35-49). Das sind Beispiele für Handlungsempfehlungen, die dazu beitragen sollen, die Glaubwürdigkeitsbeurteilung objektiv zu gestalten. Die Bemühungen um Objektivität sind an sich schon ein Zeichen dafür, dass die objektive Bewertung als schwer realisierbar anerkannt ist. Es bleibt ein Faktum, dass »Neither the Asylum Procedures Directive nor the Qualification Directive explicitly or comprehensively prescribe how the credibility assessment should be carried out.« (UNHCR 2013: 34). Den Entscheider*innen wird somit großes Vertrauen zugesprochen aufgrund von Fachwissen, Fingerspitzengefühl und mit Hilfe der oben beschriebenen Handlungsanweisungen, die Glaubwürdigkeit sachlich und neutral zu bewerten. Als sachliches Kontrollkriterium kommt dem Konzept der Glaubhaftigkeit der Äußerungen, als weitere Beurteilungsdimension, eine entscheidende Rolle zu. Denn während die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der subjektiven Einschätzung geschuldet ist, lässt sich die Beurteilung der Glaubhaftigkeit dagegen an der Folgerichtigkeit und Plausibilität des Sachvortrags überprüfen.6

18.3.2

Glaubhaftigkeit

Die Glaubhaftigkeit unterliegt einer sachbezogenen Überprüfung mit Bezugspunkt auf den einzelnen Tatsachenkomplex des Vorgebrachten (vgl. Marx 2003b: 83). Anders als 6

Dadurch kann im Sinne der Institution mit einer objektiven Beweisführung argumentiert werden, so dass sie einen objektiven Charakter gewinnt und für die bürokratische Entscheidung ausreicht (vgl. Noll 2006: 500).

301

302

Die Anhörung im Asylverfahren

die Glaubwürdigkeitsbewertung geht es bei der Glaubhaftigkeitsbeurteilung nicht darum festzustellen, ob der/die Antragsteller*in aufgrund des hinterlassenen Eindruckes, der sich aus Charakterzügen, Verhaltensweisen oder Beruf speisen, wahrscheinlich zu falschen oder wahren Angaben neigt, sondern es geht darum festzustellen, ob die in einer Aussage geschilderten Ereignisse mit großer Wahrscheinlichkeit (nicht mit der letzten Sicherheit) auf eigenem Erleben beruhen. Die dargestellten Sachverhalte werden auf Logik, Normalität, Vollständigkeit, Kohärenz und Konsistenz überprüft,7 so dass sich daraus eine Plausibilitätsbewertung ergibt (vgl. Hoffman 2014: 5; Tiedemann 2015: 128). Kriterien zur Feststellung der Glaubhaftigkeit Für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft der Antragsteller*innen ist es nicht hinreichend, eine plausibel begründete Verfolgungsgeschichte darzustellen. Sie muss zudem glaubhaft vermittelt werden: »Es könnte eine begründete Verfolgungsfurcht vorliegen, aber dennoch geht es ja um die Glaubhaftigkeit jedes Einzelnen. Das ist immer ein Einzelfall und der Einzelfall ist zu betrachten.« (Entscheider Radiointerview). Welche Kriterien liegen vor, um Glaubhaftigkeit der Asylbewerberaussagen festzustellen? Da keine Beweise vorliegen und keine Augenzeugen zur Verfügung stehen, werden Anhaltspunkte gesucht, um die Glaubhaftigkeit festzustellen (vgl. Empfehlung für Glaubwürdigkeitsbeurteilung insbesondere die zitierten Passagen aus UNHCR 1995: 3134 und UNHCR 1992 Paragraphs 195-205: 32f.). Beispielsweise gilt als Merkmal für die Glaubhaftigkeit, die interne Konsistenz der Erzählung des/der Antragstellers*in: »Es ist schwierig, die Glaubhaftigkeit festzustellen, aber es kommt auch immer drauf an, dass der Antragsteller halt in sich stimmig und widerspruchsfrei mir sein Anliegen erklärt und ich habe dann durch Nachfragen die Möglichkeit, den Sachverhalt aufzuschlüsseln.« (Entscheiderin im Radiointerview); »Die Prüfung der Glaubhaftigkeit erfolgt in zwei Schritten. Zunächst geht es um die Konsistenz des Vorbringens des Asylsuchenden.« (Tiedemann 2015: 128). Des Weiteren gilt als Merkmal, ob das Vorgetragene mit den Erkenntnissen der Anhörenden über das Herkunftsland der Asylsuchenden übereinstimmt: »Im zweiten Schritt geht es um den Abgleich dieses Vorbringens mit den erreichbaren Informationen über die Lage in seinem Herkunftsland.« (Ebenda) Die Darstellung des Sachvortrags muss plausibel sein, weil die Beurteilung im Wesentlichen auf den Sachvortrag gründet:

7

Anwälte empfehlen, dass die Anhörer*innen beachten sollen, dass nicht jede Inkonsistenz ein Hinweis auf Unglaubhaftigkeit der Angaben insgesamt darstellt (vgl. Marx 2011: 18; Marx 2013: 93). Marx (2013) verweist dabei auf Gedächtnisunsicherheiten: »Sie könnten eine ausreichende Erklärung für festgestellte Abweichungen ergeben« (ebenda: 93).

18. Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsbeurteilung im Asylverfahren

»Bei der Bewertung des Wahrheitsgehalts der vorgetragenen persönlichen Erlebnisse kommt es zuallererst auf die Prüfung der Glaubhaftigkeit der Sachangaben […] an.« (Marx 2003a: 316). Allerdings ist es damit nicht getan. Mit einer glaubhaften widerspruchfreien Schilderung haben die Antragsteller*innen die größte Hürde überwunden, aber nicht die letzte. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass es keine Anhaltspunkte gibt, die gegen die Glaubhaftigkeit der Aussagen des/der Antragsteller*in sprechen, z.B. weil die oben beschriebenen Glaubhaftigkeitskriterien erfüllt werden, und dennoch hat der/die Entscheider*in das Gefühl, dass die Angaben unwahr seien. In solchen Fällen setzen die Entscheider*innen Fragetechniken ein, um ihr Gefühl zu prüfen und zwischen ihrem Gefühl und der Glaubhaftigkeit des Vortrags zu gewichten. Kann die Verwendung dieser Fragetechniken nicht erfolgreich beweisen, dass der Sachvortrag unwahr ist und es gibt keine Anhaltspunkte in der Geschichtendarstellung, die gegen die Glaubhaftigkeit der Aussagen sprechen, aber es besteht immer noch Zweifel bei den Entscheider*innen, stecken die Entscheider*innen in einer heiklen Situation. Sie müssen überlegen, ob sie den Antragsteller*innen die Glaubwürdigkeit aberkennen, ohne dass sie ihre Beurteilung mit den Aussagen der Asylbewerbers*innen begründen können. In einer solchen Situation kehren die Entscheider*innen zur Beurteilungsdimension der personenbezogenen Glaubwürdigkeitsbewertung zurück. Es kommt bei der Beurteilung dabei »auf beruhende persönliche Glaubwürdigkeit des Antragstellers im Rahmen der freien Beweiswürdigung an« (Marx 2003a: 316). Die Glaubwürdigkeitsfrage rückt somit erst in den Vordergrund, wenn Zweifel denkbar sind und wird erst relevant, wenn eine Entscheidung nur auf der Grundlage von Angaben getroffen werden muss, auf die die Entscheider*innen selbst keinen unmittelbaren Zugriff haben. Zweifel und Entscheidungsfindung ohne Beweismittel sind im Asylverfahren Grundmuster. Sind die Entscheider*innen der Ansicht, den Antragsteller*innen die Glaubwürdigkeit, trotz eines einwandfreien Sachvortrags, abzusprechen, müssen sie versuchen, die reine subjektive Beurteilung zu umgehen, indem sie Gründe für die Unglaubwürdigkeitszuschreibung nennen. Die Glaubwürdigkeit kann u.a. aberkannt werden, wenn (a) die Antragsteller*innen nicht sofort nach dem Eintritt in das Aufnahmelandes einen Asylantrag gestellt haben (vgl. Noll 2006: 497) unabhängig vom Sachvortrag, (b) es bekannt ist, dass die Antragsteller*innen in anderen Zusammenhängen, z.B. früheren Verfahren, unwahre Angaben gemacht haben (Tiedemann 2015: 130), und (c) ähnliche Schicksale von anderen Landesleuten berichtet werden. Diese ähnlich geschilderten Fluchtgeschichten werden vom Bundesamt als für die Region typische erfundenen Geschichten gewertet (vgl. Weber 1998: 144).

Umgekehrt kommt es auch vor, dass die Darstellung in einer bestimmten Stelle lückenhaft ist und die Entscheider*innen diese dennoch in ihrer Gesamtheit als glaubhaft einschätzen. Die Antragsteller*innen müssen dann nicht jedes Detail begründen, wenn die dargelegte Verfolgungshandlung den Entscheider*innen glaubhaft erscheinen. »Es kann z.B. sein, dass ein Antragsteller bestimmte Details der Geschichte nicht tatsachengemäß schildert, um Familienangehörige zu schützen, die noch im Heimatland

303

304

Die Anhörung im Asylverfahren

sind oder weil er z.B. von seinem Fluchthelfer, dem Schleuser, dem Schlepper unter Druck gesetzt worden ist […] Das sind alles Möglichkeiten, die eine Rechtfertigung dafür liefern können, in Teilaspekten der Geschichte nicht die Wahrheit zu sagen, aber trotzdem hinsichtlich der dargelegten Verfolgungshandlung glaubhaft zu sein und da müssen wir halt differenzieren bei der Betrachtung der Schilderung des Antragstellers.« (Entscheider Radiointerview). Zusammengefasst unterscheidet sich die Glaubwürdigkeitsbeurteilung von der Glaubhaftigkeitsüberprüfung durch folgende Punkte: Die Beurteilung der Glaubhaftmachung ist sachbezogen und der Glaubwürdigkeit ist personenbezogen. Die Überprüfung des Ersteren basiert auf sprachlichen Indikatoren, die in einem hypothesengeleiteten Verfahren die Richtigkeit der Aussage prüfen können (vgl. Deckers & Köhnken 2014: 20). Beim Letztgenannten hingegen wird geprüft, ob die erzählte Fluchtgeschichte bezogen auf die vorgetragene Weise, die Umstände und den Gesamtkontext mit dem Eindruck, den der/die Entscheider*in von dem/der Asylbewerber*in gewinnt, zusammenpasst. Passt aus Sicht des/der Entscheiders*in alles zusammen, ist der/die Antragsteller*in glaubwürdig. Beide Prüfungen richten sich auf unterschiedliche Beurteilungsdimensionen. Stimmen die beiden Dimensionen überein, wird die Fluchtgeschichte als Einheit gemäß der rechtlichen Kriterien einer endgültigen rechtlichen Bewertung unterzogen. Eine Entscheidung über einen Asylantrag zu treffen basiert somit auf drei Dimensionen, wie im Folgenden dargestellt wird.

18.3.3

Zusammenfassung der Beurteilungsdimensionen

In der Anhörung können zwei grundlegende Bewertungsmomente unterschieden werden: (a) juristische Bewertung, ob die vorliegende Asylgründe asylrelevant sind; (b) die soziale Bewertung, ob das Vorgetragene als wahr oder als unwahr aufgenommen und akzeptiert wird. Im vorherigen Arbeitsteil (IV) wurde die Bewertungsdimension (a) behandelt und es wurden die Voraussetzungen für asylrelevante Gründe genannt (vgl. K. 16.1). Das Bewertungsmoment (a), ob bestimmte Asylgründe asylrelevant oder asylirrelevant sind, wird durch Normprogramme juristischer Mittel für jeden Fall entschieden. Das juristische Normprogramm konstituiert die Entscheidungsnorm,8 die maßgebend für den Akt der Rechtsanwendung ist. Die soziale Bewertung (Bewertungsmoment [b]) betrifft die Bewertung der Person. Es ist die Frage, ob sie glaubwürdig ist und ihre Aussagen, die in der Situation vermittelt werden, der Wahrheit entsprechen, also glaubhaft sind.   Die Einschätzungen von Glaubwürdigkeit der Person, die Plausibilität der Aussagen und die Relevanz der Asylgründe werden miteinander in Korrelation gebracht und fließen gemeinsam in die Entscheidung ein:9

8 9

Zu diesem Begriff siehe Müller & Christensen (2013: Rn. 233). Ähnliche Feststellung zur Entscheidung vor Gericht macht Hoffman (2014; Abschnitt 2: 6).

18. Glaubwürdigkeits- und Glaubhaftigkeitsbeurteilung im Asylverfahren (a) Wird der/die Asylbewerber*in als glaubwürdig eingeschätzt (persönlich) und sein/ihr Sachvortrag als plausibel, überzeugend und damit auf sachlicher Ebene glaubhaft (sachlich) und asylrelevant (rechtlich) bewertet, ist die Asylgewährung garantiert. (b) Wenn der/die Asylbewerber*in als glaubwürdig eingeschätzt und seine/ihre Darstellung als glaubhaft eingestuft wird, seine/ihre Asylgründe aber als irrelevant bewertet werden, wird kein Asyl gewährt. (c) Wird der Sachvortrag des/der Asylbewerbers*in aufgrund von Widersprüchen und Inkohärenzen in den Aussagen als unglaubhaft eingestuft, wird ihm/ihr seine/ihre Glaubwürdigkeit automatisch abgesprochen. Dies gilt auch umgekehrt. Egal wie asylrelevant die Gründe sein mögen, werden sie dann nicht in Betracht gezogen. (d) Stellt die asylsuchende Person einen in sich schlüssigen und widerspruchsfreien Sachvortrag dar, der sich umfassend in die allgemeinen Berichte über die Lage im Herkunftsland einfügt, der dazu noch Asylrelevanz besitzt, aber die Person scheint dem/der Anhörenden als unglaubwürdig, muss der/die Anhörer*in den Antrag mit außerjuristischen Fakten begründend ablehnen (s. oben). (e) Gibt es keinerlei Anhaltspunkte, die die Unglaubhaftigkeit der Aussagen der Antragsteller*innen nachweisen und die Unglaubwürdigkeit konnte nicht durch außerjuristischen Fakten begründet werden, aber der/die Entscheider*in ist dennoch von der Unglaubwürdigkeit des/der Antragstellers*in überzeugt, bleibt die Option, die Unglaubwürdigkeit des/der Antragstellers*in mit der Erfahrung des/der Entscheiders*in zu begründen: »Entscheider können auf ihre Erfahrung verweisen, um die (Un)Glaubwürdigkeit abzuerkennen« (E-Interview Egor). Der/Die Antragsteller*in darf demnach als unglaubwürdig beurteilt werden, wenn der/die Entscheider*in, nachdem er/sie sich mit dem individuellen Vorbringen des/der Antragstellers*in auseinandergesetzt hat, nach seinem/ihrem eigenen Ermessen zu diesem Ergebnis gekommen ist.

Jedoch gilt die Begründung nicht, wenn die Entscheider*innen schreiben würden, sie hätten diese Einschätzung der Unglaubwürdigkeit der Person anhand ihres eigenen Ermessens und aufgrund ihrer Erfahrung getroffen. Vielmehr muss im Asylbescheid dargelegt werden, aus welchem Grund die berufliche Erfahrung der Entscheider*innen dazu führt, dass sie die Glaubwürdigkeit bezweifeln (K. 18).

305

306

Die Anhörung im Asylverfahren

Tabelle 4: Darstellung der Verrechnung der Beurteilungsdimension Beurteilungsdimension

Merkmale der Beurteilung

Persönlich

Glaubwürdigkeitsmerkmale einer Person, die meistens durch den vermittelten Eindruck gewonnen werden. Sie sind auf Verhaltens- und Erscheinungsindikatoren zurückzuführen.

sachlich

Glaubhaftigkeitsmerkmale der Inhalte des Vorbringens sind z.B. Plausibilität und interne und externe Logik. Ein Sachvortag ist plausibel, wenn er beim Anhörer sowohl inhaltlich als auch logisch nachvollziehbar ankommt.

rechtlich

Untersucht wird, ob die vorgetragenen Gründe im Gesetz definierte Kriterien asylrelevant sind, die Verfolgung anerkannt wird, Flucht als alternativlos gilt.

Ergebnis der Verrechnung: Wird eine der Dimensionen negativ bewertet, wird der Asylantrag abgelehnt. Werden alle drei Dimensionen als erfüllt bewertet, wird den Asylsuchenden eine der Schutzkategorien gewährt. Ist die rechtliche und sachliche Beurteilung nach überprüfbaren Kriterien positiv und es bestehen weiterhin Zweifel bei den Entscheider*innen, könnte der Asylantrag durch (Un-)Glaubwürdigkeitszuschreibung anerkannt oder abgelehnt werden.

Nachdem in diesem Kapitel die Begriffe Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit erklärt wurden sowie dargelegt wurde, welche Beurteilungsdimensionen sie für die Entscheidung über den Asylantrag besitzen, wird in den kommenden Abschnitten den Fragestellungen, die im Kapitel 18.2 aufgelistet sind, nachgegangen und am Material untersucht. Zunächst werden die sprachlichen Muster, die am häufigsten für die Glaubhaftigkeitsüberprüfung verwendet werden, dargestellt. Anschließend werden die im Material verwendeten Techniken für die Glaubwürdigkeitsüberprüfung der Antragsteller*innen systematisch strukturiert und ihre Anwendung anhand von Beispielen gezeigt.

19. Zu den sprachlichen Mustern der Glaubhaftigkeitsüberprüfung

Die Glaubhaftigkeitsbeurteilung ist ein nach bestimmten methodischen Abläufen hypothesengeleitetes Verfahren (vgl. u.a. Deckers & Köhnken 2014: 20, Marx 2011: 17), das in der Anhörung durch einen Generierungsprozess in einem Frage-Antwort-Format überprüft und bewertet werden kann. Die Anhörer*innen formulieren angesichts des Vorliegens einer Aussage oder eines Aussagenkomplexes eine Hypothese darüber, ob die dargestellte Ereignisse von den Antragssteller*innen tatsächlich erlebt worden ist. Sie erheben durch verschiedene Befragungstechniken von den Antragsteller*innen weitere Informationen, die sie für geeignet halten, diese Hypothese zu prüfen. Erfüllen die Aussagen bestimmte Kriterien, nach denen sie als erlebnisgestützt bewertet werden können, werden sie als glaubhaft eingestuft. Erfüllen sie diese nicht, werden sie als erfunden bewertet (ausführlich dazu im Kapitel 20). Um diesen Überprüfungsprozess durchzuführen, stehen den Anhörenden zur Verfügung: (a) eine Reihe von sprachlichen Mitteln: Fragen, Nachfragen, Vorhalten und elizitierende Befragungstechniken usw., von denen im folgenden Kapitel die wichtigsten dargelegt werden, (b) unterschiedliche Überprüfungstechniken und Kontrollkriterien, die darauffolgend erläutert werden.

19.1

Fragen und Nachfragen

Aufgrund der spezifischen institutionellen Konstitution und der Funktionsweise der Anhörung, dominiert in den Anhörungsgesprächen ein Muster, das auf Fragen und Antworten basiert. Äußerungen werden in Frage gestellt, es wird nachgefragt, bewertet, wieder nachgefragt, überprüft und erneut bewertet. Das Frage-Antwort-Muster ist grundlegend für Verhandlungen, wie Anhörungen, da es »eine gezielte Exploration und diskursive Repräsentation des Wissens der Beteiligten« ermöglicht (Hoffmann 2001:1548), welches der/die Entscheider*in unbedingt für die Fallbearbeitung benötigt.

308

Die Anhörung im Asylverfahren

Das Frage-Antwort-Muster wird mit anderen längeren Diskurseinheiten hauptsächlich durch Erzählungen seitens der Antragsteller*innen (vgl. K. 16.2) durchbrochen. Während durch Fragen »ein Wissensdefizit mit Hilfe von jemand anderem [behoben wird], der dazu bereit und in der Lage ist« (Hoffmann 1997: 203), eignen sich die Nachfragen dazu, die Angaben der Antragsteller*innen auf ihre Richtigkeit und Kohärenz zu prüfen, ohne dabei die Antragsteller*innen mit Inkohärenzen ihrer Aussagen direkt zu konfrontieren. Durch Fragen wird die Fluchtgeschichte für die materielle Prüfung rekonstruiert und durch Nachfragen wird der Wahrheitsgehalt der Äußerungen überprüft. Die Rückfragen werden als trichterförmige Befragungsstrategie für die geschilderten Handlungssequenzen eingesetzt, indem Detailinformationen fortschreitend gefiltert erhoben werden und damit der Aufgabe dienen, den Sachvortrag zu präzisieren. Die Nachfragen orientieren sich an dem zuvor Erzählten. Nach der Präsentation der Fluchtgeschichte haben die Anhörer*innen durch präzise Fragen und gezielte Nachfragen die Möglichkeiten, die Informationen, die sie während der Darstellung vermittelt bekamen, zu verdichten und gleichzeitig die Glaubhaftigkeit der Inhalte einzuschätzen. Nachfragen sind solche Gesprächsbeiträge, die sich auf vorausgegangene Äußerungen des/der Gesprächspartners*in beziehen (vgl. Rost-Roth 2003: 349) und dienen der Ergänzung und der Verständnissicherung (vgl. Spiegel 2006: 57). Bei Ergänzungsnachfragen wird die Bedeutung ermittelt. Bei Verständnissicherungsfragen wird hingegen eine Hypothese über die Bedeutung expliziert und geprüft (vgl. Rost-Roth 2003: 355) oder unsicheres Wissen von den Gesprächspartner*innen zu bestätigen gesucht (vgl. Hoffmann 1983: 93). Beide Nachfrageformen werden in der Anhörung verwendet. Das Muster Nachfragen ist in der Anhörung anders konzipiert als das Muster Vorhalten, das in Kürze erörtert wird. Durch Nachfragen wird das vermittelte Wissen über die Fluchtereignisse noch nicht in Frage gestellt, sondern vertieft hinterfragt, bis der/die Anhörer*in sich aus den dargestellten Geschichtenteilen ein möglichst stimmiges Bild schaffen kann. Mittels der Nachfragen kann das konstruierte Bild über die Geschehnisse bei der/dem Anhörer*in abgesichert werden. Im Gegensatz zum Vorhalt, signalisieren die Nachfragen dem Asylsuchenden keine direkte Überprüfung seiner Aussagen, sondern deuten auf einen Bedarf nach Füllung von Informationsdefiziten, Klärung von Missverständnissen und Verständigungsproblemen hin.1 Dadurch haben Nachfragen keinen Konfrontationscharakter und attackieren die Glaubwürdigkeit der Asylsuchenden nicht. Nachfragen erfüllen in der Anhörung, neben der Vergewisserung-, Informationssicherungsfunktionen2 eine Funktion, die ich als »Anweisungserfüllungsfunktion« bezüglich der Arbeitsqualität der Bundesamtsbeamten, bezeichne. Denn die Dokumentation von Nachfragen im Anhörungsprotokoll dient 1

2

Zur Funktion von Nachfragen bezüglich der Verständigungsprobleme untersucht (Selting 1987, 2004). Sie hat anhand von Gesprächen auf dem Sozialamt, die Funktionen der Nachfragen bei der Signalisierung von Verständigungsproblemen und befasst sich vor allem mit ihrer interaktiven Bearbeitung. Rost-Roth (2003) stellt in ihrer Untersuchung fest, dass Vergewisserungsfunktionen und Informationssicherung sich sowohl auf die Inhaltsseite als auch auf die Ausdrucksseite der Bezugsäußerung beziehen können. »Der Bezug auf die Ausdrucksseite erfolgt mit Wiederholungen, der Bezug auf die Inhaltsseite mit Paraphrasierungen oder anderen Reformulierungen als Explikation von Interpretationen.« (Ebenda: 363)

19. Zu den sprachlichen Mustern der Glaubhaftigkeitsüberprüfung

als Absicherungsbeleg für die institutionskonform geleistete Arbeit der Entscheider*innen. Wenn die Entscheider*innen Rückfragen stellen und sich sachlich mit dem Sachverhalt auseinandersetzen, fördern sie damit die Qualität ihrer Arbeit. Nachdem alle Wissenslücken hinsichtlich der Erfassung der Asylgründe durch Nachfragen geschlossen worden sind und die Darstellungsleistungen der Antragsteller*innen erschöpft sind, greifen die Anhörer*innen zu anderen Befragungsmustern, wie z.B. dem Vorhalten eigener Aussagen.

19.2

Das Vorhalten

In Bezug auf die lexikalische Bedeutung des Ausdrucks »Vorhalten«, fordert dieser eine Interaktion zwischen mindestens zwei Personen, in der eine Person, die den Vorhalt heranträgt, rezeptiv »etwas Altes [zurückruft] oder etwas Neues in die Vorstellung bringt« (Kuckuck 1977: 108). In der Anhörung sind immer die Anhörer*innen diejenigen, die den Asylsuchenden etwas vorzuhalten haben. Zum Vorhalt in der Anhörung zählen, nach meinem Verständnis und der Auswertung mehrerer Anhörungsprotokolle, alle Arten des Bezugnehmens auf Angaben, deren Glaubhaftigkeit durch offenes Infragestellen bezweifelt wird und jede Befragungsform, die das Misstrauen gegenüber den Aussagen der Asylwerber*innen offen zum Ausdruck bringt. Während durch Nachfragen, neben den oben erwähnten Funktionen, stillschweigend die Glaubhaftigkeit der Asylbewerberaussage überprüft werden kann, hat der Vorhalt den Zweck, über eine erkennbare Konfrontation mit einer vorliegenden Aussage den Wahrheitsgehalt durch den Abgleich der Aussagen zu überprüfen (vgl. Hoffmann 2014: 27). Das Vorhalten kann auch als eindringlicher Vorhalt mit Gegenargumenten (vgl. Bürkle 1984: 42) bezüglich der Asylbewerberaussagen realisiert werden. Vorhalte werden in juristischen Verhandlungen, wie vor Gericht und in der Vernehmung, laut der Literatur (u.a. Kuckuck 1977; Bürkle 1984; Hoffmann 2014 und Hoffmann-Riem 2016), häufig anhand von Schriftstücken getätigt. Zum Beispiel anhand der Akten des Vorverfahrens, indem der Vorsitzende sie inhaltlich wiedergibt, zum Durchlesen vorlegt oder wörtlich vorliest (vgl. Kuckuck 1977: 63f.). Somit dient das Muster des Vorhaltens »dem Transfer von institutioneller Schriftlichkeit in die Mündlichkeit, um daraus wiederum – etwa durch Reformulieren – schriftlich zu fixierendes, weiter zu verarbeitendes institutionelles Wissen zu gewinnen […]. Der Vorhalt ist eine Form, für intertextuellen Anschluss zu sorgen, fremde Stimmen, andere Texte zu importieren, um so die Aussage in bestimmte Richtung zu formen.« (Hoffmann 2014: 27). Andere Arten der Vorhaltungen, die nicht durch das Vorlesen aus Schriftstücken erfolgt, werden als »formfreie« Vorhalte (vgl. Kuckuck 1977: 64; Gollwitzer et al. 2001: 76) bezeichnet. Die sogenannte »formfreie« Vorhalte ist die meistverwendete Vorhalteform in der Anhörung. Grundlage eines Vorhalts in der Anhörung kann (a) ein Dokument, (b) eine Aussage beim Anmelden bei der Polizei, (c) eine Information, die im Länderbericht festgehalten ist oder (d) eine protokollierte Aussage eines Familienmitgliedes, in einer vorangegangenen Anhörung, sein. In Deutschland, im Vergleich zu Belgien

309

310

Die Anhörung im Asylverfahren

und Österreich, ist es selten, Vorhalte anhand von Schriftstücken aus Vorverfahren zu machen.3 Formfreie Vorhalte, die am häufigsten in der Anhörung gemacht werden, werden oft nicht durch das Vorlesen aus gesicherten richterlichen Protokollen getätigt, sondern auf der Grundlage von verschriftlichten Aussagen, die in der Anhörungsphase davor, aus der gleichen Anhörung festgehalten wurden, gewonnen. Zum Teil stammen sie aber auch aus Anhörungsprotokollen eines zuvor befragten Familienmitgliedes. Formfreie Vorhalte eignen sich insbesondere für die »Aufklärung von Widersprüchen und Aussagemängeln« (Gollwitzer et al. 2001: 76) und gelten als »unentbehrliches Mittel der Wahrheitserforschung« (ebenda). Bezüglich Vorhaltungen in der Anhörung schreibt Weber (1998): »Vorhaltungen [sind…] geäußerte Zweifel an den geschilderten Erlebnissen des Befragten und [entstehen durch] sich wiederholende und die Suche nach Widersprüchen, die sich über die gesamte Anhörung hinzieht. Dies sind unverkennbare Verhörtechniken.« (156). Weber (1988) nennt solche Vorhaltungen als bewusst eingesetzte Verunsicherungsstrategien, die oft in Erfolg münden: Der Befragte reagiert im weiteren Verlauf mit Verwirrung und verwickelt sich aus Sicht der/der Anhörer*in in Widersprüche (ebenda: 156).4 Angesichts der meist begrenzten Zugänglichkeit zu abgesichertem Wissen (Fehlen von materillen Beweisen), gelten Vorhalte als unentbehrliche Grundlage der Befragungstechnik, um einen Sachverhalt zu erschließen und Ungewissheiten zu minimieren.5 Nachfragen, wie auch Vorhalte, haben neben der Überprüfungsfunktion auch eine Filterfunktion: Nach Einsicht der Akte und der Darstellung der Fluchtgeschichte haben die Anhörer*innen eine »Entscheidungsdrift«6 (Hoffmann 2014) stillschweigend entworfen, die dann unter anderem durch Nachfragen bearbeitet wird und zur »Entscheidungsreife«7 (ebenda) kondensiert wird. Vorhalte-Machen ist im Asylverfahren kein freiwilliges Handeln, das die Entscheider*innen anwenden, wenn es ihnen 3

4

5 6

7

Anwälte/Anwältinnen bestätigen auf Nachfrage, dass Vorhalte in der Anhörung auf Basis von Schriftstücken sehr selten gemacht werden, während Vorhalte vor Gericht im Falle eines Widerspruchs oft aus dem schriftlichen Anhörungsprotokoll vorgenommen werden. Die Beschreibung von Weber bezieht sich nicht auf Eigenbeobachtung, sondern auf Vergleiche von Anhörungsprotokollen. Ich habe an verschiedenen Stellen gezeigt, dass eine Aussage über die Anhörung zu machen, ohne Fallkonstellationen zu berücksichtigen, ohne Wissen über die Fälle und die Erwartung der Antragsteller*innen zu kennen, die Aussagen m.E. lückenhaft werden lässt. Zur Rolle der Vorhalte vor Gericht im Falle der begrenzten Zugänglichkeit zu abgesichertem Wissen (vgl. Kuckuck 1977: 58-62). Unter dem Begriff »Entscheidungsdrift« verstehe ich in Anlehnung an Hoffmann (2014), dass durch Vermittlung, Verarbeitung von transparentem und kommunizierbarem Wissen, rechtliche Fälle so weit durchdrungen werden, dass bei fortlaufender Konkretisierung des Wissens eine Entscheidungsdrift des zu bearbeitenden Falls entsteht (vgl. Hoffman 2014: 3). »Mit ihr wird der Fall zunehmend entscheidbar, indem Optionen des Wissens und Handelns ausgeschlossen werden.« (Ebenda). Um über einen Fall eine rechtliche begründete Entscheidung treffen zu können, muss der/die Entscheider*in sich von einem Entscheidungsdrift zu einer Entscheidung bewegen: »Die Entscheidungsdrift hat verschiedenartige Filterprozesse zur Grundlage, der Fall wird zur Entscheidungs-

19. Zu den sprachlichen Mustern der Glaubhaftigkeitsüberprüfung

passt, sondern eine rechtliche Pflicht (BverfG (Kammer), InfAuslR 1991, 85 (88); BverfG (Kammer), InfAuslR 1991, 94; BverfG (Kammer), InfAuslR 2000, 254 und 258 zitiert in Marx 2003a: 318). Klären von Widersprüchen Die Auswertung der Daten zeigt, dass das Vorhalten von Widersprüchen, die am häufigsten verwendete Form der Vorhalte in der Anhörung darstellt (vgl. auch Marx 2003b; Weber 1998; Scheffer 2003). Das bestätigen auch mehrere Anwälte. Widersprüche gelten als Unglaubhaftigkeitskriterium (Affolter 2017: 160). Widersprüche ungeklärt zu belassen ist für die Antragsteller*innen von Nachteil, weil sie als Ablehnungsgrund ausreichend sind. Bei der Klärung von Widersprüchen handelt es sich um inhaltliche Widersprüche, die sich auf Vorgängeräußerung der Antragsteller*innen beziehen. Sie beanspruchen immer die Reaktion der Asylbewerber*innen. Dabei werden sie zwangsläufig in die Verteidigungsposition gebracht und dazu veranlasst, Stellung zu widersprüchlichen Äußerungen zu beziehen. Ich habe festgestellt, dass in der Anhörung ein Widerspruch nicht immer automatisch für jeden als solcher erkennbar ist. Vielmehr wird ein Widerspruch erst als Solcher gesehen, wenn der/die Entscheider*in ihn als Widerspruch interpretiert. Der Widerspruch ist eine Frage der Interpretation des/der Entscheiders*in. Den Daten zufolge ist von einem Widerspruch in Anhörungen zu sprechen, wenn ein Ereignis sich im Gesamtbild, das sich bei den Anhörenden über die Geschehnisse gebildet hat, nicht zusammenfügt oder wenn explizit ein sachlicher Widerspruch vorliegt. D.h. die Bewertung zweier Aussagen als widersprüchlich kommt (a) implizit oder (b) explizit vor. (a) Impliziter Widerspruch liegt vor, wenn durch die Einschätzung des/der Anhörers*in die auf der Basis der Interpretation eines Ereignisverlaufs ein Widerspruch impliziert wird. Als Beispiel für einen Widerspruch der Kategorie (a), dessen Feststellung auf dem Interpretationsspielraum der Anhörer*innen basiert, findet sich in folgendem Fall: Ein Antragsteller aus dem Anhörungsprotokoll 19 wurde nach dem Namen des Parteianführers gefragt. Er sagte, dass er diesen nicht wüsste, woraufhin der Entscheider sagte: »Es scheint überraschend, dass Sie den Namen der Anführer der Partei, für die sie gearbeitet haben, nicht kennen« (P: 19). Für den Entscheider müsse jemand, der für eine Partei arbeite, den Namen des Anführers kennen und deshalb impliziert er, dass ein Widerspruch zwischen Für-eine-Partei-gearbeitet-zu-haben und dem Nicht-Wissen des Namens der Partei-Führers besteht. (b) Expliziter Widerspruch ist dann vorhanden, wenn er offensichtlich vom nahezu jedem Beobachter sachlich als Widerspruch einschätzt wird. Das ist der Fall, wenn sich zwei Aussagen inhaltlich so offenkundig widersprechen, dass im Grunde jeder Außenstehende die Widersprüchlichkeit erkennt und der Widerspruch explizit auf die Inhalte der Aussagen zurückgeführt werden kann. Ein expliziter Widerspruch

reife kondensiert. ›Nicht erheblichen‹ Sachverhalten wird der Zugang versperrt, andere werden isoliert und in das Aggregat des Falls nicht eingebunden« (Hoffman 2014: 5).

311

312

Die Anhörung im Asylverfahren

ist festzustellen, wenn zum Beispiel ein/eine Antragsteller*in bei der Tatsachenschilderung sagt: »Meine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben und dann halbe Stunde später sagt er, meine Mutter lebt im Ort so und so« (E-Interview Egor). Zwischen den beiden Aussagen ist der Widerspruch nicht zu verkennen. Es bedarf keiner Interpretation des/der Anhörenden ihn festzustellen. Notwendigkeit der Klärung von Widersprüchen in der Anhörungspraxis Die gesetzlich vorgesehene Funktion der Konfrontation der Asylbewerber*innen mit Widersprüchen ist darin zu sehen »tragfähige Entscheidungsgrundlagen zu schaffen« (Marx 2013a: 10). Diese dienen nicht der Schuldzuweisung bezüglich vermutlich getätigter Falschaussagen, sondern solche Vorhalte sollen den Antragsteller*innen die Gelegenheit geben, Fehler zu korrigieren, Erinnerungslücken zu überprüfen, zu Unklarheiten Stellung zu nehmen, sich zu fehlenden Angaben und/oder zu Abweichungen oder Widersprüchen in ihren Aussagen zu äußern (BVerfG, InfAuslR 1991, 85; BVerfG InfAuslR 1999, 273) und die vermutlichen Ungereimtheiten zu klären. Juristen (mehrere Experteninterviews) empfehlen im Allgemeinen, dass keine gravierenden Widersprüche offenbleiben sollten und betonen gleichzeitig, dass es nicht dazu kommen darf, dass sich die Anhörung reduktionistisch auf Widersprüche fixiert wird (vgl. auch Marx 2003b: 80). Von Anwälten wird empfohlen, Widersprüche erst zu klären, nachdem die Antragsteller*innen den Sachverhalt zusammenhängend dargestellt haben. In der Praxis liegt es in der Hand der Entscheider*innen, wie sie diese Aufgabe erfüllen. Sie unterscheiden sich erheblich dahingehend, wie und ob sie Widersprüche klären.8 Der Vorgang ist schwer kontrollierbar. Einige klären die Widersprüche nicht auf, wie das Beispiel zum explizieren Widerspruch oben zeigt, andere reduzieren die Anhörung darauf, Widersprüche zu finden (vgl. Weber 1998; Marx 2003b; Wiegel 2006). Weber zufolge habe die Anhörung einen Verhörcharakter, es würden permanent Vorhaltungen gemacht, es würden oft Zweifel an den geschilderten Geschehnissen gezeigt und wiederholt identische Fragen zum gleichen Inhalt gestellt, um Widersprüche zu finden (vgl. Weber 1998: 156). Die Antragsteller*innen reagieren im weiteren Verlauf mit Verwirrung und verwickeln sich in Widersprüche: »Das sind die Symptome […] einer Überforderung« (ebenda).9 Andere Entscheider*innen sind sich der Pflicht der Widerspruchklärung bewusst, wie die Entscheiderin berichtet:

8

9

Marx (2003b und 2013a) betont, dass nach den gemachten Erfahrungen der vergangenen Jahre derartige Vorhalte jedoch sehr häufig unterbleiben, sowohl im Verwaltungs- wie auch im Verwaltungsstreitverfahren. Im schriftlichen Bescheid werden den Asylsuchenden sodann angebliche Unstimmigkeiten, Ungenauigkeiten und Widersprüche in seinem Sachvorbringen entgegengehalten, ohne dass ihnen in der Anhörung die Gelegenheit eingeräumt wurde, auf eine entsprechend gezielte Frage konkret Stellung nehmen zu können (vgl. Marx 2003b: 81f und 2013a: 10). Liefe die Anhörung sowie (Weber 1998) beschreibt, wäre unter solchen Bedingungen eine Darstellung eines substantiierten und widerspruchfreien Sachvortrags kaum möglich. Das können meine Daten nicht bestätigen.

19. Zu den sprachlichen Mustern der Glaubhaftigkeitsüberprüfung

»Wichtig ist es halt auch, die Widersprüche aufzuklären, nichtdass ich nachher Widersprüche vorhalte, aber gar nicht versucht habe mit dem Antragsteller aufzuklären, warum dieser Widerspruch vielleicht zu Stande gekommen ist.«10 In diesem Kapitel wurde dargestellt, mit welchen sprachlichen Muster Anhörer*innen die Glaubhaftigkeit der Aussage prüfen (Fragen, Nachfragen, Vorhalten und Klären von Widersprüchen). Im nächsten Schritt wird untersucht, wie durch Einsatz dieser Muster die Glaubhaftigkeit überprüft wird. Dabei liegt das Augenmerk nicht darauf, die sprachlichen Muster zu analysieren und ihre Verwendung oder Funktion am Material zu zeigen, sondern die Überprüfungsstrategien werden untersucht. Da die Beurteilung von Glaubwürdigkeit besonders schwer ist (s. oben), behelfen sich die Anhörer*innen mit Prüfungsstrategien, wie Kontrastierung von Aussagen, Rückgriff auf Eigenerfahrungen aus früheren Verfahren und auf normatives Alltagswissen, das sie beim Vorliegen bestimmter Fakten in Bezug auf das festzustellende Ereignis reaktivieren und diesbezüglich Rückschlüsse ziehen. Diese Strategien fasse ich unter Techniken und Kontrollkriterien zusammen. Die in dem der Arbeit zugrundeliegenden Korpus festgestellten Techniken werden in den folgenden Abschnitten vorgestellt.

10

Entscheiderin in Radiointerview: SWR2 Tandem vom 26.11.2015, 10:05 Uhr.

313

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

Die entscheidende Frage, mit der ich mich in den nächsten Kapiteln beschäftige, lautet: Wie kann die Glaubwürdigkeit der Antragsteller*innen praktisch festgestellt werden? In den folgenden Kapiteln werden die in den Daten verwendeten Techniken zur Überprüfung der Glaubwürdigkeit von Antragsteller*innen rekonstruiert. Anhand von Beispielen wird beschrieben, wie die Entscheider*innen den Prozess der Glaubhaftigkeitsüberprüfung schrittweise vollziehen und mit welchen Befragungstechniken sie versuchen, trotz des Mangels an Beweisen, die (Un)Glaubwürdigkeit der asylsuchenden Menschen festzustellen. Da es mein Anliegen ist, all die in den Daten vorzufindenden Prüfungstechniken zu strukturieren, werden die Ergebnisse einer ausführlichen Analyse von 64 Anhörungsprotokollen komprimiert dargestellt. Das Ziel dabei ist, eine fallübergreifende Systematik für die mehrheitlich verwendeten Überprüfungstechniken der Glaubhaftigkeit zu präsentieren.1 Die im Datenmaterial vorzufindenden Überprüfungstechniken lassen sich grob in drei Typen unterteilen, die die Aussagen der Antragsteller*innen auf drei unterschiedliche Dimensionen überprüfen: (1) Techniken, die die interne Kohärenz und die Erzählstruktur überprüfen. Durch solche Techniken wird die interne Logik und Nachvollziehbarkeit der Asylbewerberaussagen an sich, die Stimmigkeit vs. Widersprüchlichkeit geprüft. Wie sich die Aussagen zueinander verhalten und wie fest das Gewebe der Erzählung ist, stehen im Vordergrund der internen Kohärenzprüfung. Durch diese Merkmale wird versucht die Aussagenqualität der Asylbewerber*innen aufzuspüren. Hauptaufgabe dieser Techniken ist, die präsentierten Sachverhalte auf Verträglichkeit untereinander (innere Kohärenz) zu überprüfen (vgl. Hoffmann 1991: 89; Frenzel et al. 2004: 36; Blufarb 2017: 382; Marx 2011: 17f.). Bei den angewandten Instrumenten dieser Überprüfungskategorie werden die Inhalte der Aussagen und die Erzählweise getestet. (2) Parallel wird die Glaubhaftmachung des Sachvortrags durch allgemeine Plausibilität kontrolliert. Um zu einer Einschätzung der Plausibilität von dargestellten Ereig-

1

Ich möchte darauf hinweisen, dass es in 64 Anhörungsprotokollen mehr als 400 Prüfungsfragen gibt, die nicht dargestellt werden können. Jedoch wird für jede erkennbare Prüfungstechnik, die systematisch auftritt, mindestens ein Beispiel eingeführt.

316

Die Anhörung im Asylverfahren

nissen zu gelangen, müssen Anhörer*innen, neben der Überprüfung der internen Logik, die dargestellten Fluchtereignisse auf ihre externe Kohärenz prüfen. (3) Übergreifende bzw. außertextuelle Indikatoren: Das sind Befragungstechniken, durch die die äußerlichen Umstände und übersituative Erkenntnisse abgefragt werden. Der mit diesen Techniken generierte Wahrheitsgehalt kann nicht direkt in der Anhörung geprüft werden. Die Angaben werden erst protokolliert und später einer weiteren Prüfung außerhalb der Anhörungsverhandlung unterzogen. In dieser Überprüfungskategorie werden Fragen gestellt, deren Antworten anhand von Informationen in der Datenbank über die Herkunftsländer geprüft werden können.

20.1

Überprüfung der internen Kohärenz

Im Folgenden werden die wichtigsten Techniken, durch die die Plausibilität der internen Kohärenz geprüft wird, angeführt.

20.1.1

Überdehnung der narrativen Detaillierung

Der Teufel steckt im Detail: Dieses Sprichwort machen sich die Anhörer*innen bei dem Prüfungsprozess zu Nutze. Da Detailreichtum als Überprüfungskriterium für die Glaubhaftigkeit gilt (vgl. Marx 2011:21; Ludewig et.al. 2011: 1426; Steller & Köhnken 1989: 225; Scheffer 2001: 146) werden zuerst detaillierte Beschreibungen der Fluchtereignisse verlangt. Die Antragsteller*innen werden aufgefordert, Vergangenes zu rekonstruieren, ohne dass ein bestimmtes Geschehen nachgezeichnet werden muss. Bei dieser Technik wird allgemein nach dem, was vorgefallen ist, gefragt, wie aus folgenden Beispielen hervorgeht. »Erzählen Sie bitte ausführlich, warum haben Sie ihr Land verlassen« (P:1, P: 14) »Nun schildern Sie mir bitte die Gründe Ihres Asylantrags. Tragen Sie bitte die Tatsachen vor, die Ihre Furcht vor politischer Verfolgung begründen.« (P: 6) »Bitte erzählen Sie mir die Geschichte, weshalb sie Gambia verlassen haben, insbesondere was Ihnen persönlich vor Ihrer Ausreise geschehen ist.« (P:41) »Schildern Sie ihre Asylgründe in allen Details« (p:13) »Können Sie bitte ausführlich alle Tatsachen vortragen, die Ihre Furcht vor Verfolgung oder die Gefahr eines drohenden ernsthaften Schadens begründen.« (P: 5, P: 9, P: 18 usw.). In allen Aufforderungsvarianten werden die Asylbewerber*innen zur detaillierten Darstellung ihrer fluchtauslösenden Gründe aufgefordert. Durch die Fragen wird ein »Detaillierungszwang« (Kallmeyer & Schütze 1977: 187) aktiviert und die asylsuchenden Menschen werden dazu veranlasst, Einzelheiten über ihre Fluchtgründe offen zu legen, die im späteren Anhörungsverlauf für die Überprüfung der Glaubhaftigkeit von Aussagen relevant sein können. Durch Detailerzählungen lässt sich die Konsistenz der narrativen Kohärenz gut prüfen. Denn es wird bei der detaillierten Darstellung untersucht, ob die Ereignis- und Zeitabfolge in einen inhaltlich plausiblen und nachvollziehbaren Zusammenhang vorgetragen werden. Zudem liefern Details gleichzeitig genug

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

Stoff für Rückfragen. Je mehr Einzelheiten die Anhörer*innen über Begebenheiten kennen, desto mehr gezielte Fragen können sie später stellen und damit die Aussagen auf ihre interne Kohärenz testen. Hinter der Technik ›Überdehnung der narrativen Detaillierung‹ steckt die Hypothese, dass quantitativer Detailreichtum ein Zeichen dafür ist, dass die Antragsteller*innen erlebnisfundierte Angaben machen und die Aussagen erlebnisgestützt sind (vgl. Ludewig et.al. 2011: 1426; Marx 2011: 21). Denn das Erfinden von in sich stimmigen Detailangaben ohne eigene Erlebnisgrundlage erfahrungsgemäß kann hingegen sehr schwierig realisiert werden (vgl. Ludewig et.al. 2011: 1426). Deshalb gelten Detaillierungen, wenn das Erzählgewebe in sich stimmig ist, als Glaubhaftigkeitsmerkmal und tragen maßgeblich dazu bei, die Lückenlosigkeit, Anschaulichkeit, Tatsächlichkeit von Aussagen zu verbürgen (vgl. Depperman 1997: 92). Darüber hinaus spiegelt ein hoher Detailgrad die willige Zusammenarbeit der Antragsteller*innen wider. Wiederum bietet jede Detaillierung von Ereignissen einen möglichen Ansatzpunkt für das Auftauchen von Widersprüchen, weil die erste Geschichtenfassung, die durch diese Technik etabliert wird, über die ganze Anhörung hinweg durchgehalten werden muss. Die Informationen, die durch narrative Detaillierung gewonnen werden, sind die Richtschnur, an der sich die Entscheider*innen inhaltlich bei weiteren Befragungen orientieren und bildet das Gerüst, auf dem die Überprüfung von der Richtigkeit der Aussagen aufgebaut wird. Alles, was auf die erste Darstellung von Fluchtereignissen folgt, soll die Konsistenz und die Kohärenz der gemachten Geschichtenfassung stützen. Ansonsten werden die Aussagen der Antragsteller*innen als unglaubhaft bewertet, weil sie das Kriterium »Konstanz der Aussagen« (Marx 2011: 20) nicht erfüllen. Wollen die Antragsteller*innen sich dem Detailierungszwang entziehen und erzählen kompakt und detailarm, um das Verwickeln in Widersprüche zu umgehen, gefährden sie ihre Glaubwürdigkeit, weil die Annahme hinter der Detailierung lautet: Wer etwas nicht genau weiß, hat die Ereignisse nicht erlebt. Detailarme Erzählungen können als Verletzung des Prüfungsmerkmals »erlebnisfundierter Aussagen zu leisten« gelten und erhalten einen Indikator für die Unglaubwürdigkeit die Antragsteller*innen. Die Antragsteller*innen, die glaubwürdig erscheinen wollen, müssen sich in den Detaillierungszwang begeben und dabei auf die interne Kohärenz ihrer Aussagen achten. In den Fallanalysen im vorherigen Kapitel wurde dargestellt, wie detailliert vs. nicht detailliert die Antragsteller*innen ihre Fluchtgeschichte erzählen. Aus Anonymitätsgründen wird darauf verzichtet, ein Beispiel für eine komplette Erzählung mit allen Details, die die Wirkung der Technik ›Überdehnung der narrativen Detaillierung‹ illustriert, auszuführen. Im Gegensatz zur Technik ›Überdehnung der narrativen Detaillierung‹, in der die detailreiche »quantitative« Schilderung der gesamten Fluchtgeschichte im Mittelpunkt steht, steht das nächste Überprüfungskriterium. Das nächste Überprüfungskriterium beruht auf einer Technik, in der eine einzige Situation oder ein singuläres Ereignis »qualitativ« beschrieben werden soll, um die Angaben einer anderen Überprüfungsstufe zuzuführen.

317

318

Die Anhörung im Asylverfahren

20.1.2

Detaillierte Beschreibung eines singulären Ereignisses

Im Zuge detaillierter Narrationen (Technik 1) fallen Entscheider*innen besondere singuläre Ereignisse auf, von denen sie annehmen, dass sie für die interne Kohärenzprüfung entscheidend sein können. Ein bestimmtes Geschehen, das schon erzählt wurde, muss genauer nachgezeichnet werden. In der oben beschriebenen Technik handelt es sich um überdehnte Details über die Geschehnisse insgesamt. In der zu beschreibenden Technik geht es um Details eines einzelnen Ereignisses. Dabei wird nicht gefragt, ob etwas vorgefallen ist oder warum (s. oben), sondern nach dem genauen WIE. Hinter der Technik ›Detaillierte Beschreibung eines singulären Ereignisses‹ steht die Annahme, dass eine vollständige Erzählung von Details über ein Ereignis ein Zeichen dafür sei, dass die Person das geschilderte Ereignis erlebt habe. Die detaillierten Angaben gelten im juristischen Verfahren als Merkmal der sogenannten »Realkennzeichen«2 (vgl. Ludewig et.al. 2011: 1424; Volbert & Dahle 2010: 37). Dabei werden die Schilderung nebensächlicher Einzelheiten und die Schilderung ausgefallener Einzelheiten als Indizien eines realen Hintergrundes für das dargestellte Erlebnis gewertet (vgl. Steller & Köhnken 1989: 225). Die Technik wird wie folgt angewendet: Nachdem der/die Antragsteller*in die Erzählepisode abgeschlossen hat und zu unterschiedlichen Begebenheiten Fragen gestellt wurden, kehrt der/die Anhörer*in zu einem bestimmten singulären Ereignis zurück und verlangt eine Präzision dieses Ereignisses. Für diese Prüfungsmethode werden Schlüsselerlebnisse3 aus der vorherigen Darstellung ausgewählt, denn die »besondere Situation soll sich ‘im Gedächtnis´ eingeschrieben haben« (Scheffer 2001: 145). Erlebnisse wie Bedrohungen oder Überfälle sind beispielsweise solche Ereignisse, an die sich die Betroffenen erinnern sollten und die sie in Einzelheiten beschreiben können müssten; auf dieser Grundannahme beruht der vorliegende Technik ›Detaillierte Beschreibung eines singulären Ereignisses‹. Außerdem wird bei einer Schilderung von Schlüsselerlebnissen über die Veranschaulichung von Sachverhalten hinaus die persönliche Betroffenheit der Antragsteller*innen getestet. Bei Schlüsselerlebnissen handelt sich meistens um belastende oder/und unvergessliche Situationen. Die Antragsteller*innen sollen ihre Erfahrungen in Bezug auf das darzustellende singuläre Ereignis schildern. Dabei können die Anhörer*innen die Emotionalität der Antragsteller*innen erkunden,

2

3

In einer Realkennzeichenanalyse geht es kurzgefasst um eine Einschätzung des Realitätsgehalts der Schilderungen. In den Schilderungen wird die Ausprägung verschiedener Aussagemerkmale (Detailliertheit, logische Konsistenz, Konstanz in Bezug auf frühere Angaben, Plausibilität der Schilderung) geprüft, anhand derer eine Differenzierung zwischen erlebnisbasierten und erfundenen Aussagen möglich sei. Die Realkennzeichen dienen zur Klärung der Frage, »wie wahrscheinlich es ist, dass eine bestimmte Person mit ihren individuellen Voraussetzungen unter den entsprechenden Rahmenbedingungen eine Aussage mit der vorliegenden Qualität ohne Erlebnisgrundlage konstruiert haben könnte« (Ludewig et.al. 2011: 1424 H. i. O.). Die Kriterien der Prüfungsstrategie »Realkennzeichen« kennen die Entscheider*innen im Asylverfahren unter dem Begriff »erlebnisfundierter Aussagen« Marx (2011: 17). Ich verstehe Schlüsselerlebnisse als Erlebnisse, in denen sich eine interaktive Entwicklung oder besondere Geschehnisse für eine Person ereignet haben, so dass das Erwähnen des Erlebnisses vor einer Person, die es durchlebte, Reaktionen über das Geschehnis hervorruft.

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

indem sie beobachten, ob die Anhörer*innen betroffen sind oder die Betroffenheit ›vorspielen‹. Für die Anwendung der Prüfungstechnik ›Detaillierte Beschreibung eines singulären Ereignisses werden die Antragsteller*innen aufgefordert, Einzelerlebnisse wie die Folgende zu beschreiben: »Bitte nennen Sie noch einmal alle Bedrohungen, die an diesem Tag gefallen sind« (P: 9) »Bitte beschreiben Sie mir die Situation *. **.20**, als Sie sich im Gebäude der […] befunden haben genauer?« (P: 30); »Schildern Sie mir den Vorfall mit der Polizei, die zu Ihnen gekommen sind, noch einmal ausführlich und konkret!« (BP: 11); »Sie haben erzählt, dass Sie eine Woche in der Haft waren, bitte schildern Sie mir die Umstände genau!« (P: 29). Aus den zierten Aufforderungen geht es hervor, dass die Asylbewerber*innen nur bestimmte ausgeprägte Situationen detailliert beschreiben sollen. Die Vermutungen hinter solchen Aufforderungen lauten: Hätten die Antragsteller*innen diese Bedrohung oder diese Extremsituationen wirklich erlebt, müssten sie wissen, womit sie bedroht wurden, wie sie überfallen wurden und wie die Umstände im Gefängnis waren. Bei der Art der Aufforderungen liegt der Fokus auf der Prüfung der Aussagenqualität, ob sie Hinweise darauf geben, dass der/die Antragsteller*in die beschriebene Begebenheit tatsächlich erlebt hat. Der Grundgedanke dabei ist, dass die Antragsteller*innen selbsterlebte Ereignisse anders darstellen müssten als Begebenheiten, die als fiktiv Erlebtes abgebildet werden.

20.1.2.1

Beispiele für Aufforderungen zur detaillierten Beschreibung eines singulären Vorfalles

Die Entscheider*innen formulieren oft zunächst offene Fragen zur Schilderung eines singulären Ereignisses wie: »Können Sie bitte mir den Vorfall mit der Polizei detaillierter erzählen?« (BP:11; gleiche Inhalte in mehreren Beobachtungsprotokollen und Anhörungsprotokellen), »Können Sie den Überfall im Einzelnen beschreiben?« (P: 34), »Können Sie mir den Tag noch etwas genauer schildern? Wie lief das ab?« (BP: 1,7, 3, 8,) »Können Sie mir das Geschehen etwas detaillierter schildern, bis die Polizei dann kam?« (u.a. Entscheiderin im RadioInterview), »Können Sie die Geschichte mit den Dorfbewohnern nochmal detaillierter beschreiben?« (P: 51) »Wie war das mit Ihrem Mann nochmal, wie lief es ab?« (BP: 1). Betrachtet man die Anforderungen zur Schilderung in allen Beispielen, wird in allen verlangt, dass ein singuläres Ereignis, das schon während der Darstellung der Fluchtgeschichte erzählt wurde, nochmal geschildert werden soll. Detaillierte Beispiele: 1. Auszug aus der Anhörung 8 A: Wie lief es so ab? Haben sie Sie verhört, dann geschlagen, dann wieder verhört? Oder war es eine einzige Situation? Wie war es genau? Erzählen Sie bitte! AB: Es war kein Verhör. Ich wurde terrorisiert und gequält. Es gab mindestens drei Situationen, wo ich zur Rede gestellt wurde, dann zusammengeschlagen.

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Die Anhörung im Asylverfahren

Die Anhörerin erachtet das Verhör des Antragstellers, das schon geschildert wurde als ein Schlüsselerlebnis, über das sie mehr Details erfahren will. Sie fordert den Asylbewerber auf, genau und ausführlich zu beschreiben, wie das Geschehen ablief. Ihr Anliegen drückt sie in der Frage eindeutig aus, »Wie lief es so ab? Haben sie Sie verhört […] wie war es genau?«. Die Antwort des Asylsuchenden fällt, im Verhältnis zu den Fragen und insbesondere zum Zweck der Frage, sehr knapp aus. Die von ihm erwarteten Ereignisdetails bezüglich der Verhörsituation, die das Merkmal erlebnisfundierter Aussagen bestätigen soll, bleiben aus. Der Antragsteller erzählt die Situation nicht erneuert, er kommentiert die ihm gestellten Frage mit »Es war kein Verhör« und fasst die Situation zusammen: »Ich wurde terrorisiert und gequält. Es gab mindestens drei Situationen, wo ich zur Rede gestellt wurde, dann zusammengeschlagen.« Mit diesen Äußerungen erfüllt der Asylbewerber das Überprüfungsziel der Technik ›Detaillierte Beschreibung eines singulären Ereignisses‹ nicht. Um dem Überprüfungsziel nachzukommen und den Test zu bestehen, müsste der Antragsteller das Verhörereignis so detailreich schildern, wodurch die Angaben, die er zu der Verhörsituation macht, so plastisch werden, dass sie dahingehend bewertet werden können, ob sie einem tatsächlichen Erleben des Asylsuchenden entsprechen oder nicht. Die Entscheiderin fragt nicht weiter nach. Sie stellt Fragen, von denen nicht sicher auszugehen ist, dass der Antragsteller eine Antwort dafür haben kann. Sie fordert eine Erklärung für das Verhalten der Polizei ein, warum sie ihn nach **Tagen freigelassen hatten: »Können Sie sich erklären, warum wurden Sie nach **Tagen freigelassen?« Der Antragsteller kann nur eine Vermutung dazu äußern »Ich kann nicht genau sagen, ich kann nur vermuten.« Interessant ist, dass die Anhörerin ihn fragt, warum er es nur vermutet: A: Können Sie sich erklären, warum wurden Sie nach **Tagen freigelassen? AB. Ich kann nicht genau sagen, ich kann nur vermuten: Entweder haben sie nichts gefunden und deshalb wollten sie mir eine Chance lassen oder, dass jemand in einer höheren Position sich für mich eingesetzt hat. A: Wie kommen Sie darauf, dass es so sein könnte? AB: Erfahrungsgemäß, wenn [der Job des Antragstellers] einmal von der Regierung genommen wurden, ist es nicht leicht zurückzukommen. Mindestens bleiben sie lange Zeit im Gefängnis oder es passiert ihnen etwas Schlimmes. Mit dieser Annahme des Antragstellers, warum er freigelassen wurde, beendet die Anhörerin die Kohärenzprüfung des singulären Ereignisses der Verhörsituation, obwohl der Antragsteller nichts davon erzählt hat, worauf diese Technik eigentlich abgezielt: nämlich auf die Schilderung ›qualitativer Ereignisdetails‹. Ich stelle noch ein anderes Beispiel dar, das eine Frage zur internen Kohärenzprüfung mit der Technik ›Detaillierte Beschreibung eines singulären Ereignisses‹ illustriert. Diesmal fordert der Anhörer den Antragsteller auf, eine Gesprächssituation zu beschreiben. Der Antragsteller wird gebeten, Dialoge, die er mit anderen Personen geführt hat, wiederzugeben: A: Worüber hatten Sie gesprochen und was haben Sie so erzählt? AB: Sie haben mir geholfen bei der Überlegung, wie können wir diese Aufgabe lösen. (BP: 12)

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

Auch an dieser Stelle wird keine ausführliche Beschreibung zum Erlebniskontext der Gespräche mit den [Personen] gegeben, sondern lediglich sehr verallgemeinernd erklärt, worum es in den Gesprächen ging: Die Personen »haben mir geholfen bei der Überlegung, wie können wir diese Aufgabe lösen«. Anhörer*innen suchen diese Interaktionssituation zur detaillierten Beschreibung nicht willkürlich aus, sondern aus einem bestimmten Grund. Im Korpus kommt es wiederholt vor, dass die Antragsteller *innen aufgefordert werden, Interaktionen zu beschreiben. Das hat mich dazu veranlasst, zu untersuchen, warum die Interaktionsbeschreibung für die Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Angaben relevant sein könnte. Interaktionsbeschreibungen eignen sich meines Erachten zur Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Angaben aus folgenden Gründen: Sie fordern die Wiedergabe konkreter Dialoge ein. Aufgrund der Qualität der Redewiedergaben (konkret versus unkonkret), und der szenischen Rekonstruktion der Worte von anderen Personen, ebenso durch die Schilderung der individuellen Auseinandersetzung des/die Erzählers*in mit den handelnden Personen, können Rückschlüsse darüber gezogen werden, ob der Dialog selbst erlebt oder erfunden wurde. Im erwähnten Beispiel werden keine Redewiedergaben oder szenische Rekonstruktionen des Dialoges mit den Personen geschildert, die eigentlich sehr wichtig gewesen wären, um die Realkennzeichen zu bewerten. Nennenswert ist, dass die Antragsteller*innen nicht wissen können und nicht in Erkenntnis gesetzt werden, dass mit den Fragen bestimmte Aussagenqualitäten geprüft werden. Die Technik der ›detaillierten Beschreibung eines singulären Ereignisses‹ korreliert sehr gut mit der folgenden Technik. Sie ist die Grundlage für den nächsten Überprüfungsschritt. In dem Fall, dass die erste Fassung der Situationsbeschreibung von der zweiten detaillierten Beschreibung abweicht, werden beide Erzählvariationen gegenübergestellt, wofür die nächste Technik charakteristisch ist.

20.1.3

Kontrastierung von Aussagen

Die verfügbaren »Fakten« aus dem vorher Berichteten werden gegenübergestellt. Um die Kohärenzprüfung zu bestehen, sollten die Aussagen der Antragsteller*innen über die ganze Anhörung konstant bleiben. Liegen von den Antragsteller*innen zwei Schilderungsversionen über denselben Sachverhalt vor, können diese Versionen mittels einer Konstanzanalyse4 bezüglich Auslassungen, Ergänzungen und Widersprüchen überprüft und bewertet werden (vgl. Volbert & Dahle 2010: 34; Volbert & Steller 1997: 25; Arntzen 1993: 53). Grundannahme hinter der Prüfungstechnik ›Kontrastierung von Aussagen‹ ist, dass erlebnisbasierte Schilderungen bei wiederholter Befragung mehr Übereinstimmungen bezüglich des Kerngeschehens enthalten als erfundene Aussagen (vgl. 4

Die Konstanzanalyse als Methode basiert auf den folgenden Annahmen (a) Erinnerungen an selbst erlebte Ereignisse werden länger im Gedächtnis behalten, als nur mental Vorgestelltes;(b) erlebnisbasierte Schilderungen enthalten bei wiederholter Befragung mehr Übereinstimmungen in Bezug auf das Kerngeschehen als erfundene Aussagen; (c) Erinnerungsverluste bei erlebnisbasierten Aussagen kommen vor, aber die Vergessens-Prozesse verlaufen inhaltlich anders, als bei erfundenen Aussagen. Sie sind ungleichmäßig (Arntzen 1993: 53f.). Ausführliche Ausführungen zur Konstanz von Aussagen als Glaubwürdigkeitskriterium sind in (Arntzen 1993: 55ff.) nachzulesen.

321

322

Die Anhörung im Asylverfahren

Volbert & Dahle 2010: 31). Kohärenz in der Anhörung wird mit gleichbleibenden Aussagen gleichgesetzt. Wird die Aussagenkonstanz nicht gehalten, werden sie als unglaubhaft eingestuft (vgl. Scheffer 2001: 165; Marx: 2011: 18). Die Glaubhaftigkeitskriterien werden besonders verletzt, wenn es den Anhörer*innen so erscheint, dass die Antragsteller*innen zwei unterschiedliche Versionen zum gleichen Ereignis erzählen. Differenzen zwischen Versionen entstehen im Zuge der Erzählung nicht nur dadurch, dass (a) die Antragsteller*innen tatsächlich völlig unterschiedliche Versionen zum gleichen Ereignis erzählen oder (b) zwei Familienmitglieder unabhängig voneinander unterschiedliche Ereignisdarstellung präsentieren und die Entscheider*innen die Versionen auf Unterschiede hin vergleichen.

Differenzen in den Aussagen zu finden betrifft nicht nur solche Aussagenversionen, die für den Beobachter gleich erkennbar sind, sondern zum Teil werden sie durch die Interpretation der Anhörenden konstituiert (vgl. die Beispiele zu impliziten und expliziten Widersprüche). Die Gegenüberstellung als Bewertungskriterium wird in der Anhörung herangezogen, um (a) die gleiche Situation in unterschiedlichen Erzählvariationen innerhalb derselben Anhörung zu vergleichen. Der/Die Antragsteller*in etabliert eine Version über ein Ereignis, die er/sie nach der Aufforderung zum Wiedererzählen des gleichen Ereignisses in späteren Zeitpunkt der Anhörung (Technik 2) durch Darstellung einer abweichenden Version selbst disqualifiziert, (b) die Angaben des/der anzuhörenden Antragstellers*in mit denen von Familienangehörigen zu vergleichen. Gibt es Widersprüche zwischen den Aussagen, werden diese als Indikator für die Unglaubhaftigkeit festgehalten, solange sie nicht aufgeklärt werden können.5 Die Kontrastierung von Aussagen zählt zu den zentralen Testmethoden in der Anhörung (vgl. dazu auch Scheffer 2003: 438f.), weil die Entscheider*innen nur die Worte der Antragsteller*innen als Prüfungsmaterial haben.

Das Demonstrieren eines Widerspruchs, egal auf welchem Wege (in der Eigenaussagen oder Aussagen des Ehepartners), impliziert zugleich das Attackieren der Glaubhaftigkeit der Betroffenen. Bei der Kontrastierung wird der/die Antragsteller*in aufgefordert, eine Erklärung für den Widerspruch zu geben. Er/Sie steht damit vor der Wahl, (a) auf der zuerst etablierten Version zu insistieren oder (b) die zweite als die richtige Version zu bestätigen. In beiden Fällen ist die Glaubhaftigkeit des/der Asylbewerbers*in zumindest in dem Punkt erschüttert. Bestenfalls kann die asylsuchende Person die zwei

5

Es geht nicht nur darum zu prüfen, ob das Vorbringen frei von Widersprüchen ist, sondern es geht auch darum, ob es für etwaige Widersprüche plausible Erklärungen gibt (vgl. Tiedemann 2015: 128). Wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Antragsteller z.B. an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und ihm deshalb bestimmte Ereignisse nicht mehr bewusst sind, können sich daraus scheinbare Widersprüche ergeben, die aber auflösbar sind (vgl. ebenda).

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

unterschiedlichen Variationen vereinen, so dass kein Widerspruch mehr besteht. Mit dem Verneinen vorher Gesagten verbessern die Antragsteller*innen ihre Lage hinsichtlich der Frage der Glaubwürdigkeit nicht. Bleiben die zwei Versionen für ein Geschehen nicht aufgeklärt, wird der/die Entscheider*in ebenfalls nicht von der Glaubwürdigkeit des/der Antragstellers*in überzeugt. So wäre es möglich, den Asylablehnungsbescheid mit der Feststellung von Widersprüchen in den Antragstelleraussagen zu begründen.

20.1.3.1

Exemplarische Beispiele für die Kontrastierung von Aussagen

  Beispiele zu (a): Die Konfrontierung der Asylbewerber*innen mit Divergenzen in den eigenen Aussagen: A: Vorhin hatten Sie erklärt, das letzte Mal vor Ihrer Ausreise wären sie festgenommen worden und sie waren [15] Tage im Gefängnis und jetzt sagen Sie, dass Sie nach dem zweiten Tag wieder nach Hause gehen konnten. Wie erklären sich diesen Widerspruch? (P: 31) oder A: Sie hatten eingangs gesagt, dass Sie mit der Hilfe der Freunde ihres Bruders in […] ausreisen konnten. Später haben Sie dann gesagt, dass […] habe alle Ihre Ausreisekosten finanziert. Können Sie mir das bitte erklären? (P: 43) Im Protokoll 43 gab der Antragsteller bei der ersten Darstellung an, dass sein Bruder, der im Ausland lebe, für ihn die Reise nach Deutschland organisiert habe. Der Bruder übernahm auch die Reisekosten, weil der Asylbewerber selbst kein Geld hatte. Im Laufe der Anhörung geriet der Antragsteller durch die Aussage »er war für die […] tätig und sie haben für ihn die Reisekosten übernommen« in Widersprüche. Der Anhörer versucht mit der Prüfungstechnik ›Kontrastierung von Aussagen‹ zu ermitteln, wer hat nun die Reisekosten für den Antragsteller bezahlt. Wie erwähnt, können Widersprüche eine Frage der Interpretationen der Anhörenden sein, wie das folgende Beispiel zeigt. Die Antragstellerin (P: 29) stellt dar, dass sie aufgrund der ihr drohenden Lebensgefahr bereit war, falsche Aussagen zu tätigen: AB: Ich habe ihnen vorgeschlagen falsche Informationen zu geben, um in den [Staat] zurück zu kommen. Sie haben mir gesagt, dass man in [Staat] bestimmt erfahren würde, dass es sich um falsche Informationen handeln würde. Zu einem späteren Zeitpunkt stellt der Anhörende Fragen zur Glaubenspraxis der Antragstellerin und in der Folge sieht er einen Widerspruch zwischen ihren Aussagen (die Bereitschaft falsche Informationen zu geben) und den religiösen Prinzipien der Asylbewerberin. A: Wie leben Sie Ihren Glauben im Alltag? AB: Ich lüge nicht, ich respektiere alle Religionen und Ansichten […]. A: Nach Ihren eigenen Angaben haben Sie Herrn [Name] angeboten, falsche Informationen weiterzugeben. Wäre das nicht auch lügen? Und wie erklären Sie das? AB: […] damit ich mein Leben nicht in Gefahr bringe, hätte ich diese Lüge akzeptiert.

323

324

Die Anhörung im Asylverfahren

A: Sind solche Lügen im Christentum erlaubt? AB: Ich habe nicht gehört, dass man in solchen Fällen nicht lügen darf. Grundsätzlich bestößt das Lügen gegen religiöse Prinzipien und trotzdem werden sie manchmal praktiziert. Besteht ein Widerspruch zwischen religiös zu sein und Lügen zu erzählen? Gerade diese Frage versucht der Entscheider herauszufinden. In der vorliegen Fall handelt es sich um eine Angabe von falschen Informationen, die das Leben der Antragstellerin, laut ihrer Angabe, retten sollte. Inwieweit die Angaben (religiös sein) und (flache Angaben machen) als widersprüchlich gelten, ist eine Frage der Interpretation. Während der Entscheider diese Lügen als Widerspruch zur Angabe der Antragstellerin im Hinblick auf ihren Glaubensprinzipen »Ich lüge nicht« sieht, könnte ein anderer Entscheider diese Lüge als lebensrettende Notlüge interpretieren, die mit den Glaubensprinzip »Ich lüge nicht« der Antragstellerin in dieser besonderen Situation nicht divergiert. Beispiele Zu (b): Kontrastierung der Angaben des anzuhörenden Antragstellers, mit denen von Familienangehörigen. Wenn mehrere Antragsteller*innen aus einer Familie angehört werden, werden die Aussagen gegenübergestellt. Die zuerst angehörte Person vertritt eine Geschehensversion und beantwortet die Fragen aus ihrer Sicht. Die zweite angehörte Person vertritt ebenfalls ihre eigene Geschehensversion. Der/Die Entscheider*in, der/die aufgrund fehlender Beweismittel immer auf der Suche danach ist, was wirklich passierte, orientiert sich mit dieser Technik am Prinzip der Vergleichsregelungen. Die Anhörung 8 dokumentiert die Anhörung eines Ehemannes, dessen Frau am Tag zuvor von der gleichen Anhörerin angehört wurde. Beispiel: A: Wie eng war der Kontakt zu ihm [ein Verwandter des Asylbewerbers]? AB: Gut. Wir hatten näheres Verhältnis. A: Weiß Ihre Frau, dass Sie ein enges Verhältnis zu [Name] hatten? AB: Meine Frau weiß nur von den Leuten, die zu uns nach Hause kommen und [Name] zählte nicht dazu. Ich vermute, dass die Frau des Antragstellers gefragt wurde, ob ihr Mann ein enges Verhältnis zu [Name] hatte. Die Frau gab ihre Sichtweise, wie sie eng diese Kontakt bewertet gut oder oberflächlich. Der Antragsteller sagt aus seiner Sicht, wie er sein Verhältnis zu der genannten Person einschätzt. Die Anhörerin stellt beide Antworten gegenüber und sieht, ob sie sich divergieren und entscheidet sich denn welche Schlussfolgerungen kann sie aus der Kontrastierung ziehen. Ein eindeutiges Beispiel, das demonstriert, wie die Aussagen der Ehepaare gegenübergestellt werden, ist im folgenden Bericht zu finden, der aus einem Zeitungsartikel zitiert ist.6 Zuerst wird der Mann zu seinen Fluchtgründen gefragt:

6

Spiegel-Online- (07.04.2014) von Jürgen Dahlkamp: Flüchtlinge: Im Vorzimmer. Sie heißen Entscheider, und sie entscheiden Schicksale: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-126427241.html (29.05.2017)

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

»Er erzählt, dass sie [er und seine Familie] als einzige Roma in einem Haus voller Serben gewohnt hätten. Und immer hätten die Nachbarn sie angepöbelt. Eines Tages hätten ihm drei Jugendliche mit einer Eisenstange das Bein gebrochen: Danach drei Monate Krankenhaus, das Bein in Gips. Erst vor einem Monat sei er rausgekommen. Und dann: nur noch weg.« (Ausschnitt einer Anhörung zitiert aus Spiegel-Online vom 07.04.2014). Danach hört die gleiche Anhörerin die Frau des Antragstellers an. Die Entscheiderin fragt die Ehefrau nach dem Überfall, von dem ihr Mann erzählt hatte: »Die Frau sagt, dass es ein Albaner war. Einer? Ja, einer. Wann? Sie kann sich angeblich nicht erinnern. Sie entschuldigt sich, erzählt, dass sie Pillen schlucke, gegen Vergesslichkeit. War ihr Mann im Krankenhaus? »Ja.« Wann? Weiß sie nicht mehr. Ungefähr? Keine Erinnerung. Und die Verletzungen? »Er hatte Flecken am Rücken, von den Schlägen.« Kein Wort von einer Eisenstange, einem Gipsbein. Kein Wort, dass er angeblich gerade erst entlassen wurde, nach drei Monaten Klinik« (ebenda). In diesem Beispiel wird deutlich, dass sich die Versionen widersprechen, so dass sich die Annahme der Unglaubwürdigkeit des Ehepaars erhärtet. Laut der Angaben der Zeitung wurden die Asylanträge abgelehnt. Zusammenfassung Die Kontrastierung von Aussagen kann als gute Anhaltspunkte gesehen werden, die interne Kohärenz zu prüfen. Die Beschäftigung der Antragsteller*innen damit, die Widersprüche zu lösen, macht es erforderlich, dass sie einen besonderen Aufwand darauf verwenden müssen, mehr Details zu den Hintergründen zu schildern, damit die Aussagen nicht inkonsistent erscheinen. Das ermöglicht den Entscheider*innen Einblicke in präzisere Details, die für die Kohärenzprüfung essenziell sein können. Andernfalls können den Antragsteller*innen die Inkonsistenz in den Aussagen nicht überzeugend klären und schaffen es nicht, den Angriff auf ihre Glaubwürdigkeit abzuwenden. Ist die ausführliche Darstellung durch die Technik ›Überdehnung der narrativen Detaillierung‹ geleistet, die Geschehnisse in Schlüsselerlebnisse und andere selektiert und wurden Detaillierungen von singulären Ereignissen durch die Technik ›Detaillierte Beschreibung eines singulären Ereignisses‹ abverlangt und/oder Aussagen durch die Technik ›Kontrastierung von Aussagen‹ mit einander verglichen und der Entscheider ist trotzdem von der Glaubhaftigkeit des Erzählenden noch nicht überzeugt oder sieht weiteren Bedarf zu Prüfungsmaßnahmen, können weitere Prüfungstechniken eingesetzt wird. Zum Beispiel wird es geprüft, wie die Antragteller*innen auf spontane Fragen, die zusammenhangslos gestellt werden, reagieren. Für solche Überprüfungsstrategien ist folgende Technik zweckdienlich.

20.1.4

Spontanität der Darstellung

Bei der stetigen Suche danach, »was wirklich passiert ist« (Entscheiderin im Radiointerview SWR2 Tandem vom Do, 26.11.2015), zählt jeder Hinweis, die das tatsächliche Ereignen eines Geschehens bestätigt oder in Frage stellt. In diesem Zusammenhang werden »Fragen gestellt, die den Antragsteller aus dem Konzept bringen können« (E-

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326

Die Anhörung im Asylverfahren

Interview: Egor), durch die getestet wird, wie seine spontanen Reaktionen ausfallen. Je häufiger eine Aussage sich auf plötzliche Eingebungen gründet, je assoziativer sie ausgestaltet wird, desto mehr spricht dafür, dass der Befragte die Wahrheit erzählt (vgl. (Bürkle 1984: 34). Wenn ein Antragsteller darstellt, dass er fünf Tage mit einem LKW gefahren wurde und erzählt »es war dunkel als wir an LKW ankamen […] Man kann nichts sehen), sollte er spontan in der Lage sein, auf die Frage »Beschreiben Sie bitte mir den LKW, in den Sie gereist sind!« (P: 30; P: 46) eine Antwort zu geben, die in die Gesamterzählung passt. Wenn der Asylbewerber sagt: »Der hintere Teil des LKW war rot, vorne war weiß« (P: 46), ist es dem Anhörer überlassen, zu entscheiden, ob die Angabe als spontanen passende Antwort bewertet oder ob er sie als Widerspruch zur Aussage, »es war bereits dunkel…man kann nichts sehen« interpretiert. Ein Asylbewerber, der sagt, dass er überfallen wurde, sollte spontan spätere Fragen diesbezüglich beantworten können: »Wie sahen die Leute, die Sie überfallen haben aus und wie viele waren sie?« (P: 39). An dieser Stelle schließe ich die Ausführungen zu den Überprüfungstechniken für die interne Kohärenzprüfung ab. Es handelt sich um die vier Überprüfungstechniken: (1) (2) (3) (4)

Überdehnung der narrativen Detaillierung Detaillierte Beschreibung eines singulären Ereignisses Kontrastierung von Aussagen Spontanität der Darstellung

Es gibt noch eine Technik, die für die interne Kohärenzprüfung verwendet wird, die in meinen Daten nicht vorkam. Trotzdem möchte ich sie ausführen und sie als Anhaltspunkt zur Vergleich ziehen, wie in andren EU-Länder die Glaubwürdigkeit der Antragsteller*innen geprüft wird.

20.1.5

Vergleich von Angaben über den gleichen Sachverhalt in unterschiedlichen Verfahren

Hierbei handelt es um die Gegenüberstellung von Aussagen des/der Asylbewerbers*in in unterschiedlichen Verfahrensstadien im Laufe des Asylverfahrens. Diese Kontrastierungstechnik wird in Deutschland seltener verwendet,7 weil es nur eine Verhandlungssetzung für die Anhörung gibt. Die Anwendung dieser Technik entnehme ich aus den Daten der besichtigten Literatur, wie in anderen Ländern Asylverfahren durchgeführt werden. Zum Beispiel dient der Abgleich verschiedener Erzählversionen über dasselbe Ereignis als Indikator für (Un)Glaubwürdigkeit in Österreich (vgl. das angeführte Fallbeispiel von Busch 2015 im Kapitel 17.5). Die Fluchtgeschichte wird in Österreich in verscheidenden Verfahrensstadien dargestellt und bei jedem Durchgang protokolliert.

7

Kontrastierung von Angaben über denselben Sachverhalt zu unterschiedlichen Zeitpunkten wird in Deutschland erst bei Folgeanträgen wirksam, da diese nur zugelassen werden, wenn neue Fluchtgründe eingebracht werden. Zum Folgeantrag: gibt es unterschiedliche Verfahren und gesetzliche Bedingungen. Mehr dazu in Dienstanweisung 2010 unter »DA-Asyl »Folgeanträge während noch laufenden Gerichtsverfahren« (169f.).

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

Die unterschiedlichen Protokolle von allen Verfahren werden zwecks der Glaubhaftigkeitsüberprüfung verglichen. Werden Veränderungen in den Aussagen festgestellt, wird die Unglaubwürdigkeit leicht unterstellbar (vgl. Busch 2015: 319-321). Abschließend kann es festgehalten werden, dass die dargestellten Prüfungstechniken, die für die Überprüfungskategorie ›interne Kohärenzprüfung‹ eingesetzt werden, ihren Fokus im Wesentlichen drauf legen, die Aussagenqualität (wie detailreich, detailarm) und wie die Aussagen intern zueinander passen, zu prüfen. Für die Glaubwürdigkeitszuschreibung ist ebenfalls das Kriterium entscheidend, die externe Kohärenz des Sachvortrags festzustellen. Dafür greifen die Entscheider zu anderen Prüfungsinstrumenten, deren Schwerpunkt im Folgenden analysiert wird.

20.2

Überprüfungen der externen Kohärenz

Während in der internen Kohärenzüberprüfung die interne Logik der Asylbewerberaussagen und deren Konsistenz beurteilt werden, lässt sich die externe Kohärenz am Maßstab der Alltagslogik einschätzen (vgl. Hoffmann 1991: 89). Aufgabe der externen Kohärenzprüfung ist die Logik der Ereignisse und Zusammenhänge aller Umstände, die in der Fluchtgeschichte vermittelt werden, in ihrer Gesamtheit zu hinterfragen und dabei die Eintrittswahrscheinlichkeit der Geschehnisse zu überprüfen. Für die Überprüfung der externen Kohärenz werden sogenannten »Alltagstheorien« (Leodolter 1975), auch Alltagswissen genannt (Hoffmann-Riem 2016), eingesetzt. Sie sind wissenschaftlich nicht fundierte, generelle Annahmen über die soziale Wirklichkeit (vgl. HoffmannRiem 2016: 12). Alltagstheorien sind »Schlüsselinformationen, die genügen, einen ganzen Faktenkomplex zu erschließen« (Leodolter 1975:180). Sie entsprechen Stereotypen, auf die die Laien zugreifen können, um Vorgänge in ihrer Umwelt zu erklären (vgl. ebenda: 235). Zu solchen Erkenntnisquellen zählt auch alltagsweltliches Erfahrungswissen. Im nächsten Schritt sollen Techniken gezeigt werden, durch die die externe Kohärenz überprüft wird und es wird beleuchtet, wie die Entscheider*innen dafür auf das alltagsweltliche Erfahrungswissen zurückgreifen. Erörtert wird zudem, wie die eigenen Erfahrungen der Entscheider*innen die Wahrnehmung des Geschilderten beeinflussen können und wie ihre Interpretationen Inkohärenzen herstellen können.

20.2.1

Imagination der Situationsverläufe

Bei der internen Kohärenzprüfung steht der/die Entscheider*in außerhalb der Erzählsituation und die Antragstelleraussagen werden als Material betrachtet und geprüft, wie die Aussagen XY über das Ereignis N zu den Aussagen YY über dasselbe Geschehen N passen. Geprüft wird auch, wie das Geschehen C zum Fluchtgeschehnis in seiner Komplexität steht. Der/Die Entscheider*in beschäftigt sich in der internen Prüfungsphase mit der Frage, ob die Angaben folgerichtig, widersprüchlich oder schlüssig sind. Bei der Beantwortung der Frage bleibt die individuelle Interpretation nicht ganz aus, aber sie ist im Vergleich zu der vorliegenden Prüfungskategorie (externe Kohärenzprüfung) begrenzt, weil die Asylbewerberaussagen immerhin das Inventar sind, auf dem der/die Entscheider*in sich bei der Bewertung stützt. In der externen Kohärenzprüfung

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328

Die Anhörung im Asylverfahren

hingegen werden die Entscheider*innen selbst zu einem Teil des Überprüfungsprozesses. Das heißt, ihre Einschätzung, ihr Empfinden und ihre Vorstellung, wie die Ereignisse abgelaufen sein könnten, werden relevant, um die Plausibilität der Ereignisse aboder anzuerkennen. Bei der Technik ›Imagination der Situationsverläufe ›stellt der/die Anhörer*in sich nicht neben dem Dargestellten und betrachtet die Angaben, sondern versucht sich in die Erzählung hinein zu begeben. Er/sie versucht, sich die dargestellten Ereignisse und die darin abgespielte Handlungskette wie einen Film vorzustellen mit dem Ziel, die Plausibilität des gesamten Verlaufs beurteilen zu können. Kann sich der/die Entscheider*in die Fluchtgeschichte in seinem Gesamtablauf vorstellen, wird die Nachvollziehbarkeit der Fluchtereignisse bekräftigt, wie aus einem Interview mit einer Entscheiderin hervorgeht: »Sie sehe eine Flucht wie einen Film vor sich. Wenn die Geschichte vor ihrem geistigen Auge abläuft, dann ist das ein Indiz, dass der Flüchtling keine Lügen erzählt. Ob jemand viele Worte mache oder sich an Details erinnere, sei dabei unerheblich. »Jemand ist nicht gleich unglaubwürdig, weil er nur wenig erzählt«, sagt Dölz (Die Welt Online 25.5.2015).8 Erwähnenswert ist, dass die Fluchtereignisse und die darin transportierten Situationen, deren Kohärenz mit der Technik der ›Imagination der Situationsverläufe‹ überprüft werden sollte, keine normale Situationsbedingung darstellen, die man sich leicht vorstellen kann.9 Es handelt sich meist um Situationen, deren Vorstellung es erfordert, über die alltäglichen eigenen Handlungsvorstellungen hinauszugehen. Um zu einer angemessenen Situationsvorstellung zu gelangen, müsste der/die Entscheider*in die möglichen Situationsdeutungen in fremden Kulturen reflektieren können. Die Interpretation und die Bewertung dessen, ob das Erzählte als erlebnisfundiert oder auswendiggelernt gelten muss, kann nur über das Bereitstellen von wertbezogenen Situationsvorstellungen realisiert werden. Wertbezogene Situationsvorstellungen werden in der Regel durch gedankliche Aktualisierung von verankerten, kollektiv geteilten und kulturellen Mustern typischer Situationen vollzogen (vgl. Esser 2003: 159). In der Anhörung kann eine Situationsvorstellung auf dieser Ebene nur selten erfolgen, weil die Interaktionspartner*innen die kollektiven Muster typischer Situationen nicht teilen. Zudem darf der Verweis gemacht werden, dass Ereignisse sich nicht immer in die Alltagsplausibilität einfügen. »Wir haben keinen unabhängigen Maßstab, der besagt, was möglich ist und was nicht […] Was als kohärent betrachtet wird, ist eine Frage des Hintergrundwissens« (Hoffman 1991: 89).

8

9

Welt-Politik Online (25.05.2015) von Freia Peters: Diese Frau sagt, wer in Deutschland Asyl erhält https://www.welt.de/politik/deutschland/article141422110/Diese-Frau-sagt-wer-in-Deutschla nd-Asyl-erhaelt.html (27.05.2017) Ich habe über 200 Fluchtgeschichten angehört. Über den Wahrheitsgehalt zu urteilen, würde mir schwer fallen, obwohl ich aufgrund des kulturellen Hintergrunds, der Religions- oder Regionszugehörigkeit, die Situationsverläufe durchaus nachvollziehen kann.

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

Bei der Technik ›Imagination der Situationsverläufe‹ ist die Anforderung an die Entscheider*innen gestellt sich den Ereignisverlauf, der beschriebenen Situation in einer fremden Kultur unter nicht kollektiv geteilten Werten, vorzustellen und zu beurteilen, wie sich die Asylsuchenden und andere Personen, die an der Situation beteiligt waren, verhalten haben könnten. Bei diesem Vorgang stellen die Entscheider*innen sich nicht nur die Situation vor, sondern konstruieren sie zudem einen Maßstab für die Bewertung des Antragstellerverhaltens als plausibel vs. nicht plausibel. Lassen sich die Schilderungen im Gesamtbild, welches durch die Imagination des/der Anhörenden über die Ereignisse entstanden ist, nicht einfügen, könnte der/die Anhörer*in das Urteil fallen lassen, dass die Ereignisfolge unwahrscheinlich sei. Kann der/die Entscheider*in sich die geschilderte Sachlage vorstellen und hält ihr Auftreten für wahrscheinlich, wird die Erzählung als glaubhaft bewertet. Somit wird die Wahrnehmung des/der Entscheiders*in zu einem maßgeblichen Teil der Bewertung. Die Technik der ›Imagination der Situationsverläufe‹ bezieht sich nicht, wie andere Techniken, auf bestimmte Fragen zu bestimmten Ereignistypen. Vielmehr ist sie in der ganzen Prüfungsphase der Glaubwürdigkeit von Antragsteller*innen anwendbar. In jeder dargestellten Ereignisschilderung wird diese Technik bereits verwendet und dient sozusagen als »Vorfilter«, ob es so, wie geschildert, gewesen sein könnte. Des Weiteren werden auch Situationen erfragt, in denen die Zuhörer*innen sich in Szenarien führen lassen, in denen die Technik der ›Imagination der Situationsverläufe‹ gefordert ist. Im Folgenden werden Beispiele gezeigt, wie diese Technik angewandt wird.

20.2.1.1

Fallbeispiele für die Anwendung der Technik ›Imagination der Situationsverläufe‹

  Beispiel 1 aus dem Anhörungsprotokoll 29 Anscheinend ist es im christlich geprägten Kulturkreis bei einer Konvertierung einer Person zum Christentum üblich, eine Konvertierungszeremonie in einer Kirche in einer bestimmten Reihenfolge zu vollziehen. Solche Situationen sind für diese Technik besonders geeignet, weil die Entscheider*innen aufgrund ihres christlichen Kulturkreises mit den typischen Mustern solcher Situationen vertraut sein können. Sie haben also eine Grundlage, aufgrund derer sie die Handlungskette der Situation nachvollziehen können. Der Entscheider im Anhörungsprotokoll 29 fordert die Antragstellerin auf, die Taufzeremonie zu beschreiben. Daraufhin entstehen folgende Anhörungssequenzen: A: Sie haben berichtet, Sie seien in […] getauft worden. Zu welchem Glauben sind Sie konvertiert. Beschreiben Sie bitte Ihre Taufe in der Kirche. AB: Ich bin […]. Es war so, nach […] hatte ich schwere Depressionen und […] hatte mir empfohlen nach […] zu reisen und dort taufen zu lassen, weil das in […] nicht geht. In […] ist es strafbar, wenn ein Moslem sich taufen lässt […]. A: Können Sie einen Taufurkunde vorlegen? AB: Nein. Die Urkunde ist nur in der Kirche in […]. A: In welcher Gemeinde sind Sie getauft worden? AB: An den Namen der Kirche kann ich mich nicht erinnern. Es war eine Kirche außer-

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Die Anhörung im Asylverfahren

halb der Stadt […]. A: Welches ist Ihr Taufname? AB: Ich habe keinen Taufnamen bekommen. Einige Sätze wurden auf […] gesprochen und in […] übersetzt und ich habe nachgesagt. A: Wie lautet Ihr Taufspruch? AB: Nach der Taufe hat man gebetet und Gott um etwas gebeten. A: Normalerweise, gibt es bei einer Taufe einen bestimmten Taufspruch. Haben Sie auch einen Taufspruch? A: Es gab nur drei Fragen, die ich mit ja beantwortet habe. A: Was sind das für Fragen? AB: Ich kann mich nur sinngemäß daran erinnern […] (AP: 29). Die Antragstellerin geht der Aufforderung nicht nach und schildert nicht, wie die Taufe vollzogen wurde. Anstatt dessen schildert sie, was sie zur Taufe bewegt habe und wer ihr zu diesem Schritt geraten hatte: »Es war so nach […] hatte ich schwere Depression und die [Person] hatte mir empfohlen nach […] zu reisen und dort taufen zu lassen.« Daraufhin stellt der Entscheider Fragen zu Einzelheiten, die sich im Laufe einer Taufzeremonie typischerweise ereignen sollten, wie das Erhalten eines Taufnamens und eines Taufspruches. Die Antworten, die die Asylsuchende gibt, entsprechen vermutlich nicht dem, was sich der Entscheider über diese Begebenheit vorstellt. Auf solcher Einschätzung komme ich, weil der Entscheider Fragen stellt, durch die er erkennen lässt, dass die Schilderung im Gesamtbild einer Taufzeremonie in einer Kirche nicht zu seinen Erfahrungen bezüglich Taufen passt. Ein Indikator dafür sind solche Äußerungen, wie: »Normalerweise gibt es bei einer Taufe einen bestimmten Taufspruch. Haben Sie auch einen Taufspruch?« Durch das Adverb »Normalerweise« drückt der Entscheider aus, wie er einen Vergleich zwischen der von Antragstellerin geschilderten Taufzeremonie zu dem, was er kennt, vollzieht. Auf diese Weise kann sich der Entscheider auf sein Wissen über solche Situationen berufen und nimmt dieses als Grundlage für die Plausibilitätsprüfung. Im vorliegenden Beispiel wird eine Situation geschildert, von der der Entscheider aufgrund seiner Erfahrung ein Bild machen kann. Wie ist es, wenn die Antragsteller*innen Situationsverläufe beschreiben müssen, zu denen die Entscheider*innen keine typischen Muster kennen, wie es im Asylverfahren häufiger vorkommt? In solchen Fällen fragen einige Entscheider*innen direkt, wie sie sich die geschilderten Zusammenhänge vorstellen können. Beispiel 2 aus der Anhörung 7 Im folgenden Beispiel schildert der Antragsteller in Anhörung 7 die Situation, wie er festgenommen wurde, an einen anderen Ort gebracht und verhört wurde. Während der Erzählung und nach mehreren geschilderten Details, erzählt der Asylbewerber, dass einige Leute der Gruppe, in der der Antragsteller politisch aktiv ist, von seiner Festnahme erfahren haben und seine Familie benachrichtigt hätten. »Am *.*. *** hat eine Demonstration in […] stattgefunden, die Demonstration war etwa gegen *: ** Uhr. Ich wurde an diesem Tag festgenommen. Ein Beamter kam auf mich zu und beschuldigte mich, dass ich Aufnahmen von der Demonstration gemacht ha-

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

be. Ich hatte den Beamten gesagt, dass ich nichts filme […], dass ich nichts mit der Demonstration zu tun habe […]. Ich wurde mitgenommen, an einen Ort, ich wurde mit Handschellen abgeführt […]. Meine Leute haben von meiner Festnahme erfahren und haben dann meiner Familie Bescheid gesagt.« Verfolgt man den geschilderten Situationsverlauf, entstehen bei der Situationsvorstellung Lücken in der Handlungskette. In dem geschilderten Szenario fehlen alle Hinweise bezüglich der Umstände, wer und wie man von der Festnahme des Antragstellers erfahren hat und wer und wie für ihn Hilfe organisiert wurde. Zu den fehlenden Angaben, die einer lückenlosen Situationsverfolgung im Wege stehen, fragt der Entscheider: A: Wie hat ihre Gruppe von außerhalb von Ihrer Festnahme erfahren? Sie sind […] einige Zeit direkt nach der Demonstration, sofort festgenommen worden. AB: Die Demonstration warum ** Uhr, ich wurde etwa gegen** Uhr, also etwa **Minuten später festgenommen bzw. durch den Sicherheitsmann auf dem …Gelände angesprochen. Es ist so, meine Leute hatten versucht mich anzurufen, aber mich nicht erreicht, sie hatten dann Kontakt mit einer Freundin, mit der ich vorher zusammen noch auf dem Gelände war […]. Es ist so, dass dass meine Gruppe dann einen Sicherheitsmann befragt hatte, ob ich auf der Liste stand, und gegen Geld hat der dann gesagt, dass ich auf dieser Liste stand. Der Antragsteller konnte die Lücken im Szenario durch das Differenzieren von zwei Zeitenangaben füllen und damit die Unterstellung abwenden, dass das Ereignis vielleicht nicht stattgefunden habe. Die Demonstration war um ** Uhr und er wurde etwa gegen ** Uhr festgenommen. In dieser halben Stunde wurde er auf dem Gelände gesehen und hatte Kontakt zu einer Freundin, die den anderen Freunden bestätigen konnte, dass er in der Masse anwesend war. Seine Freunde haben vergeblich versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Seine Unerreichbarkeit veranlasste einige der Gruppe nach ihm zu suchen. Die Art und Weise, wie die Freunde den Antragteller suchten, ist für den Entscheider fremd. »meine Gruppe [hatte] dann einen Sicherheitsmann befragt, ob ich auf der Liste stand, und gegen Geld hat der dann gesagt, dass ich auf dieser Liste stand.« Diesen Sachverhalt kann sich der Entscheider im Gesamtbild bezüglich des Situationsverlaufs nicht einordnen, deshalb fragt er: A: Wie muss man sich so eine Liste vorstellen, wird jeder auf einer Liste erfasst, der festgenommen wird, die dann öffentlich aushängt, bzw. den Sicherheitsleuten vorliegt? Wie konnten die Leute durch diese Liste erfahren, dass Sie nur mitgenommen sind? AB: Die Gruppe hat dann nur erfahren, dass ich verhaftet worden bin, allerdings wussten meine Leute nicht, wohin ich gebracht worden bin. Dem Entscheider fehlen verständlicherweise mehrere Komponenten, um ein kohärentes Gesamtbild der Situation erzeugen zu können, die ihm aufgrund eines anderen kulturellen Hintergrundes fehlen. Er stellt sich die Fragen: Angenommen steht der Antragsteller auf der Liste, ist es evident, dass er festgenommen wurde? und wenn es so

331

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Die Anhörung im Asylverfahren

ist, wie funktioniert das:10 »Wie konnten die Leute durch diese Liste erfahren, dass Sie nur mitgenommen sind?«. Informationen darüber, was mit der “Liste“ gemeint ist und warum die Registrierung der Name des Antragstellers auf die Liste ein Hinweis dafür ist, dass er mitgenommen wurde, fehlen dem Entscheider. Auf die Beantwortung dieser Fragen ist der Entscheider angewiesen, um sich ein in sich geschlossenes Bild über die Situation zu machen. Der Entscheider stellte weitere Fragen, um die bei ihm entstehende Wissensdefizite durch den Antragsteller erfüllen zu lassen und um ein Bild über die Situation zu machen. Mache fehlende Informationen, die der Entscheider für das Vorstellen der geschilderten Situation braucht, konnte der Antragsteller dem Entscheider geben. Andere Informationen konnten nur vermittelt werden, wenn man auf die kulturelle Ebene argumentiert und erklärt, was mit der Liste gemeint ist und was hat das in dem genannten Ereignis zu bedeuten. Diverse Entscheider offenbaren den Antragsteller*innen den Selektionsprozess, den sie bei der Vorstellung des »Films« durchlaufen. Der Entscheider in der Anhörung 11 sagt dem Antragsteller, was für ihn aus der Schilderung nachvollziehbar ist und was nicht. »Das mag sein, dass die Polizei nach dem Verschwinden Ihres Cousins zu Ihnen gekommen ist und das Haus durchsuchten und Sie danach zu fragen, ob Sie wissen, wo er sich befindet. Das ist alles völlig normal. Nicht normal ist, dass Sie deshalb die Arbeit verlieren und dass Sie selbst verfolgt werden. Wie kommt das?« (BP: 11). Der Entscheider selektiert die Ereignisse in eine vorstellbare Situation »die Polizei [ist] nach dem Verschwinden Ihres Cousins zu Ihnen gekommen und das Haus […]« und eine unvorstellbare Situation »Nicht normal ist, dass Sie deshalb die Arbeit verlieren und dass Sie selbst verfolgt werden«. Mit einer solchen sichtbaren Selektion ist dem Antragsteller die Gelegenheit gegeben, die Wissenslücke, die beim Entscheider entstanden ist, um die Schilderung als plausibel zu beurteilen, zu füllen. Manche Entscheider*innen fragen direkt den Antragsteller*innen danach, wie man die erzählte Situation sich vorstellen kann: »Wie kann man sich eine solche Situation genau vorstellen, wenn Sie ablehnten, was er sagte, oder nicht befolgen, was er wollte? (P: 26). Die Antwort der Antragsteller*in auf solchen Fragen, wird mit dem verglichen, was der Entscheider als üblich in solchen Situationen sieht. Das Ergebnis der Kontrastierung mündet in der Bewertung dessen, ob der/die Antragsteller*in glaubwürdig ist.

20.2.2

Normalitätsfolie als kontrastiver Bewertungsmaßstab

Maßgeblich für die Entscheidung über Sachverhalte (Schilderungen von zurückliegenden Geschehnissen) ist der Abgleich mit einer Normalitätsfolie,11 die als kontrastiver 10

11

In den arabischen Ländern kann »Auf der Liste stehen« heißen: Entweder sind die gerade mitgenommenen Personen auf dieser Liste erfasst, was bedeutet, dass der Asylsuchende festgenommen wurde oder er wurde von der Polizei auf einer Liste erfasst, damit er bei nächster Gelegenheit festgenommen werden kann. Sein Verschwinden nach der Demonstration bedeutete daher mit großer Wahrscheinlichkeit, dass er festgenommen wurde. In diesem Zusammenhang spricht Hoffmann von der Normalitätsfolie (2002 und 2014), Seibert (1981) spricht allgemein von Plausibilität, und Leodolter (1975) bezeichnet das Vorgehen als Stütze von Alltagstheorien; Wolff & Müller (1997) sprechen von Normalität als Bewertungsmaßstab und

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

Bewertungsmechanismus gilt (vgl. Hoffmann 2002: 82). Normalitätsfolien sind laut Hoffmann »Wissensfolie[n] normaler Abläufe der fraglichen Ereignisse […] und Typen von Aktanten« (ebenda: 82).12 Sie dienen nicht nur als Maßstab zur Bewertung eigener Handlungen, sondern auch zur Kategorisierung der Handlungen anderer. Sprecher sind deshalb generell bemüht, die Orientierung auf das, was als »normal« gilt, in ihrer Sprache und ihrem Handeln auszudrücken (vgl. Hoffmann 2002: 245). Normalitätsfolien als Bewertungsmaßstab setzen die Menschen im Alltag bewusst oder unbewusst ein, um die Inputs, die sie tagtäglich rezipieren, auszusortieren. Im Asylverfahren wird diese Technik zur Glaubhaftigkeitsprüfung eingesetzt. Sie baut auf der vorherigen Technik auf: Zuerst muss sich der/die Entscheider*in die erzählte Situation vorstellen können, um sie mit seiner/ihrer Normalitätsfolie kontrastieren und dann beurteilen zu können, ob das geschilderte Ereignis sich in ein kohärentes Gebilde einfügt. Dabei handelt es sich um die Bewertung der Kohärenz von Ereignissen in fremden Ländern unter anderen Lebensumständen. Man sollte sich dessen bewusst sein, dass es ungeschriebenen Normen gibt, die nur für bestimmte Kulturgruppen, die diese Normen teilen, gelten. Solche Orientierungen an Normalitätsannahmen können deshalb m.E., wenn überhaupt sinnvoll sein, wenn die Interaktionspartner*innen aus dem gleichen Kulturkreis kommen, weil es einen Bezugspunkt gibt, auf den eine Beurteilung einer Verhaltensweise zurückgeführt werden könnte. Die kulturellen Unterschiede können einer Beurteilung einer Verhaltensweise eines Menschen in einer Situation als »normal« oder »anormal« im Wege stehen. Jedoch aufgrund der fehlenden Beweismittel kommt in der Anhörung der Bewertung der erzählten Fluchtereignisse durch Alltagsnormen besondere Bedeutung zu. Für diese Bewertung des Verhaltens von den Antragsteller*innen als »normal« und »nachvollziehbar« vs. »anormal« wird die Technik ›Normalitätsfolie als kontrastiver Bewertungsmaßstab‹ mit dem Zweck eingesetzt, die Wahrscheinlichkeitseintritt von Ereignissen zu bewerten. Es besteht eine sehr enge Beziehung zwischen der vorausgesetzten Normalitätsannahme des/der Anhörer*innen darüber, wie Geschehen gelaufen sein müssten und der Glaubwürdigkeitszuschreibung. Je nachvollziehbarer und normaler die geschilderte Situation dem/der Entscheider*in erscheint, desto glaubwürdiger wirkt die asylsuchende Person auf den/die Entscheider*in. Welcher Hintergrund steckt hinter der Überprüfungstechnik ›Normalitätsfolie als Bewertungsmaßstab‹? Bei der Bewertung der Nachvollziehbarkeit wird die Überlegung geprüft: Würde man selbst in dieser Situation so handeln? Wolff & Müller (1997) beschreiben im Rahmen der Glaubwürdigkeitsprüfung durch das Gericht, wie die Äußerungen der Angeklagte permanent mit Vorstellungen darüber verglichen, wie eine normale, vernünftige Person in einer derartigen Situation handeln würde (vgl. ebenda:

12

Hoffmann-Reime (2016) zählt alltagsweltliches Erfahrungswissen zu den Erkenntnisquellen. Kolb (2010) verwendet für diesen Vorgang der Begriff »common sense« und Scheffer (2001) spricht von Normalitätsannahmen. Die Wissensfolie hat laut Hoffmann »die Form eines fundierten Glaubens, der sich zu einem Bild verfestigt hat« (Hoffmann 2002: 82 Hervorhebung im Original). Hoffmann stellt eine für mich interessante Ausführung über das Kennzeichen dieses Wissens dar. (Bei Interesse kann man ebenda lesen).

333

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Die Anhörung im Asylverfahren

189f.). Die Annahme, dass »eine normale, vernünftige Person« sich so verhalten würde, ist ein Hinweis darauf, dass die in einer Gemeinschaft angenommene Normalität in den Rechtsnormen auch in der Anhörung als Bewertungsmaßstab eingesetzt wird.13 Da geltende Normalität und kulturell geprägte kollektive Dispositionen nicht voneinander zu trennen sind, ist es denkbar, dass die Normalität, die für einen Kulturkreis gültig ist, für einen anderen Kulturkreis ungültig ist. Im Anhörungsverfahren ist der/die Asylbewerber*in häufig jemand, der/die nicht dem europäischen Kulturkreis angehört. Das bedeutet, dass seine Normalitätsbewertung anders ist als die hiesige. Es lässt sich fragen, wie die Normalitätsfolie in einem interkulturellen Diskurs, wie die Anhörung eine ist, zur Bewertung herangezogen wird. Wird eine interkulturelle Normalität konstruiert? Werden zwei unterschiedliche Normalitätsfolien für die Bewertung einer Situation gebildet? Wenn das der Fall ist, welche von ihnen gilt als Bewertungsmaßstab? Aus der Auswertung des Datenmaterials konnte festgestellt werden, dass zwei unterschiedliche Normalitätsfolien konstruiert werden, die für die Verhaltensbewertung des/der Asylbewerbers*in einzeln oder zusammen herangezogen werden: (a) Zum einen machen die Anhörer*innen sich ein Bild durch Spezialisierung bezüglich der Zuständigkeit für bestimmte Länder aus Berichten über diese Länder,14 was dort üblich sei. Dieses Wissen, das durch die Spezialisierung erlangt wird, wird als Bewertungsmaßstab für die Aussagen der Antragsteller*innen heranzogen. Dabei geht es aber nicht um das Alltagswissen der Anhörer*innen, sondern um ein institutionsspezifisches Wissen, welches sich die Anhörer durch das Studieren von Länderberichten selbst angeeignet haben, um sich so ein Bild über die soziokulturellen und politischen Begebenheiten zu verschaffen, welches nicht mit Sicherheit dem entspricht, was dort Norm ist.15 (b) Zum anderen berücksichtigen der Anhörer*innen die hierzulande geltende Normalität bei der Befragung und später bei der Bewertung als Maßstab. Können die Anhörenden die Schilderung der Asylsuchenden nicht in das, was in Deutschland als normal gilt oder, was sie annehmen, dass es in dem Herkunftsland üblich ist, einordnen, gilt die »Schilderung als realitätsfremd« (u.a. Asylbescheid Nr.: 7). 13

14

15

Eine solche Bewertung des Asylbewerberhandelns als »normal«, »realitätsnah« oder realitätsfern« wird in dem Asylbescheid festgehalten und beim Einlegen eines Widerspruchs nochmals vor Gericht thematisiert. »Jede Entscheiderin und jeder Entscheider ist für bestimmte Herkunftsländer zuständig. Zu diesen Ländern werden sie regelmäßig geschult, ferner haben sie Zugriff auf interne Datenbanken mit Informationen zur aktuellen politischen Entwicklung. Zweifeln sie an bestimmten Angaben der Antragsteller, können sie diese auch durch die deutsche Botschaft vor Ort überprüfen lassen. Zwei bis drei Anhörungen pro Tag führt ein Entscheider normalerweise durch, in der Woche im Idealfall zwischen acht und zehn. Das Grundrecht auf Asyl garantiert jedem Flüchtling in Deutschland die individuelle und sorgfältige Prüfung seines Verfolgungsschicksals«. (Radiointerview mit Trainer, Sendung SWR2 Tandem vom 26.11.2015: 10:05 Uhr). Ich spreche hier von einem Bild, das sich nur durch Hören, Lesen und Anhörungserfahrung im Kopf der Anhörer*innen, hinsichtlich dessen, was als Normalität in den Herkunftsländern gilt, einstellt. Das Normalitätswissen in diesem Fall basiert auf Selbstaneignung im Gegensatz zum Normalitätswissen, welches ein »kollektives, in den relevanten Zusammenhängen gesellschaftlich erarbeitetes Bild« darstellt (Hoffmann 2002: 82).

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

Zur Veranschaulichung der ausgeführten Beobachtung sollen Beispiele erwähnt werden.

20.2.2.1

Beispiele für die Verwendung der Technik ›Normalitätsfolie als kontrastiver Bewertungsmaßstab‹

Ein Beispiel für eine Normalitätsfolie (a), die dem Bild, das sich der/die Anhörer*in durch Spezialisierung über bestimmte Herkunftsländer angefertigt hat, entspricht, wäre das Folgende: Ein Asylbewerber sagt in der Anhörung, dass diejenigen, die ihn gefoltert haben, ihm ein Zeh abgeschnitten haben. Diese Angabe glaubt der Anhörer nicht, weil sie laut seinem Wissensstand gemessen an der Normalitätsfolie, die er für Bewertung zugrunde legt, »realitätsfremd« ist. Nach seinem Informationsstand »weiß« der Entscheider, wie in dem Herkunftsland des Antragstellers Folterungen durchgeführt werden, so geht es aus dem Asylbescheid hervor: »Der Antragsteller gab an, dass ihm ein Zeh abgeschnitten wurde, jedoch kann die Angabe nicht stimmen, denn in seinem Herkunftsland ist es üblich, wenn die Zehen beim Foltern abgeschnitten werden sollten, werden die Folterer nicht einen Zeh abscheiden, sondern alle Zehen« (die Passage von Asylbescheid liest E-Interview Egor vor). Der Entscheider verweist in der Begründung der Unglaubwürdigkeitsbeurteilung auf das eigene Erfahrungswissen durch seine bisherige Tätigkeit als Entscheider. Er begründet seine Entscheidung mit dem Normalitätswissen, das er laut seiner Einschätzung als »normal« in Bezug auf das Vorgehen im Herkunftsland des Antragstellers ansieht: ›Entweder alle Zehen abschneiden oder gar keinen‹. Dem Anwalt zufolge ist diese Wissensbehauptung des Entscheiders über geltende Folternormalität im Herkunftsland gültig. Beispiele für (b): Einsetzung der geltenden Normalität in Deutschland als Bewertungsmaßstab einer Verhaltensweise, dokumentieren die Anhörungen (3, 6, 8 11, und 13). In der Anhörung 8 zeigt die Anhörerin, wie »entsetzt« und fassungslos sie aufgrund ihrer einheimischen Normalitätsfolie ist, dass der Antragsteller nicht mit seinen Verwandten über das Verhör bei der Polizei gesprochen habe: »Wie kann man sich über solche wichtige Angelegenheit sich nicht austauschen« (BP: 8). Die Anhörerin geht von dem aus, was für sie als normales Verhalten in einer solcher Situation gilt: »Über solche Ereignisse, wie Verhör spricht man mit seinen Verwandten« und verallgemeinert ihre Ansicht, als würde jeder unter den gegebenen Umständen in der Situation so handeln. Zur Verallgemeinerung tragen das Verwenden des unpersönlichen Pronomens »man« und die Frage, die das Erstaunen hervorhebt, wie man anders handeln könne, bei. Sie legt das ihrerseits erwartete Verhalten als Normalitätsmaßstab vor und bewertet jedes Verhalten, das davon abweicht, als »anormal«. Die Entscheiderin stützt ihr Normalitätsempfinden auf Alltagsübliches und somit stärkt sie ihr Argument, denn »Üblichkeit und Sachlichkeit sind die beiden Handlungsgrundsätze, auf die hin einzelne der supponierten Regeln verallgemeinert werden können« (Seibert 1981: 91). Im Gegensatz zur Auffassung der Entscheiderin, ist es für den Antragssteller völlig normal, dass man sich über solche schmerzhaften und heiklen Angelegenheiten mit anderen nicht austauscht. Er macht sein Verhalten ›Nicht über das Verhör mit den Verwandten zu sprechen‹ plausibel, indem er sich seinerseits auf Normalitätswissen stützt: ›Über schmerzhafte Sachen

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Die Anhörung im Asylverfahren

spricht man nicht‹ und die Schlussfolgerung zieht: »ich habe mit ihm darüber nicht gesprochen« (BP: 8). So stehen beide Normalitätsfolien im Gegensatz zueinander: Für die Entscheiderin ist es »normal«, sich über ein Verhör bei der Polizei mit dem Verwandte auszutauschen und für ihn ist es »normal«, über solche Ereignisse nicht zusprechen. Letztendlich entscheidet sie als Entscheiderin darüber, was als normal gilt. In den beiden Fällen wird eine allgemeingültige Normalitätsfolie nach Ermessen der Entscheider*innen konstruiert und sie prüfen die Plausibilität der Asylbewerberschilderung durch Differenzierung zwischen dem, was für sie vorstellbar ist (normal) und dem Unvorstellbaren (anormal). Ein positives Bewertungskriterium für den Antragsteller*innen wird gegeben, wenn sie »ihr Erlebnis als normales, d.h. konventioneller Weise erwartbares, und ihr Handeln als für ein kompetentes Gesellschaftsmitglied vernünftiges und angemessenes darstellen zu können« (Hoffmann 2002: 244). Zwischenresümee Abschließend kann festgestellt werden, dass a) es sich bei der Technik ›Imagination der Situationsverlauf‹ um einen kognitiven Prozess handelt, in dem der/die Entscheider*in mit seinen/ihren Empfindungen und seinen/ihren Mutmaßungen darüber, wie die Situation gelaufen sei, involviert ist. b) bei der Technik ›Normalitätsfolie als kontrastiver Bewertungsmaßstab‹ die Bewertung der Plausibilität der Asylbewerberschilderung nach Ermessen des/der Entscheider*in festgelegt wird.

Der Prüfungsprozess in den beiden Techniken besteht aus den Schritten: (1) Bildhafte Vorstellung der geschilderten Situationsverläufe, (2) Konstruieren eines Maßstabes für denkbares Verhalten in besagten Situationen, das zum größten Teil auf Erfahrung des Entscheiders basiert, (3) Kontrastieren des Verhaltens des/der Antragstellers*in und anderer Personen, die an der Situation beteiligt sind, mit dem, was der/die Entscheider *in als Maßstab konstruiert, (4) Bewerten, ob die Situationen mit den Handlungsprozessen, die geschildert wurden, nach der Normalitätsfolie, die der/die Entscheider*in als Bewertungsmaßstab gibt, stattgefunden haben könnte.

20.2.3

Stimmigkeit der Einzeldetails

Die Asylbewerber*innen können ihre Darstellung durch die Nennung von vollständigen Auskünften, sowie von genauen Personennamen, Orts- und Zeitangaben höher qualifizieren, denn im Allgemeinen gilt: »Detaillierte Konkretisierungen der ›loci‹ verleihen Darstellungen den Anstrich des Faktischen, da sie scheinbar nur geleistet werden können, wenn der Sprecher über entsprechendes erfahrungsgegründetes Wissen verfügt.« (Depperman 1997: 91).

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

Präzise Angaben in jeder Hinsicht, auch zu Ort und Zeit, zu machen, stützt die Glaubwürdigkeit der Antragsteller*innen, weil die Antragsteller*innen dadurch den Verdacht minimieren, dass ihre Schilderungen nicht auf wahrem Erleben beruhen. Jedoch gilt ein zu hoher Konkretisierungsgrad manchmal als verdächtig, dass die Angaben ausgedacht sind, wie gleich an einem Beispiel gezeigt wird. Das Anfordern von präzisen Angaben erfüllt in der Anhörung unterschiedliche Überprüfungsziele, die stufenweise abverlangt werden. Einfache Angaben Mit diesem Vorgehen werden einfache Angaben zu Ort, Zeit und Personennennamen abverlangt, ohne eine Beschreibung der Umstände zu fordern. Die Präzisierungsanforderung hinsichtlich der genauen Zeitangaben ist oft problematisch, weil einige Antragteller*innen aus einem Kulturkreis stammen, »in dem es nicht üblich ist, die Zeit nach Kalenderdaten zu strukturieren und zu erinnern.« (Tiedman 2015: 128). Daher sollten solche Angaben nach Auffassung mehrerer Juristen, wie Tiedman (2015) Marx (2013) sowie UNHCR (2013) nicht als das ausschlaggebende Kriterium für die Unglaubwürdigkeit angesehen werden (vgl. UNHCR 2013:39). Jedoch werden sie aus den genannten Gründen in Kapitel 18.1 als Überprüfungskriterium angewandt, wobei sie nicht unabhängig von anderen Kriterien zum Ausschluss der Glaubwürdigkeit ausreichen. Beispiele für das Anfordern von Zeit- und Ortsangaben: »Wann fand dieser Überfall auf Sie konkret statt (insbesondere Jahr/Uhrzeit)? (P: 60); »Wann genau waren die Drohungen«, »wann hat ihr Bruder den Artikel veröffentlicht?« (P: 9); »Können Sie das präzisieren. Können Sie das Datum nennen, von wann bis wann haben sie sich in Libyen aufgehalten?« (P: 10); »Wie entfernt ist die Wohnung von Ihrem Cousin? (BP: 11); »Wo ist der Supermarkt, vor dem Sie mit den anderen Jugendlichen gestritten haben, genau?« (BP: 9); »In welchem Krankenhaus waren Sie nach dem Schlag mit dem Gewehrkolben?« (P: 39); »Können Sie bitte das Datum für […] genau nennen? (mehrere Anhörungsprotokolle). Personennamen werden ebenfalls abgefragt: »Nennen Sie mir bitte die Namen und Positionen der vier Personen, mit denen Sie zusammengearbeitet haben.« (P: 29), »Bitte nennen Sie mir den Namen Ihres Onkels.« (P: 7). »Wie heißt dieser Mann? »Kennen Sie auch seinen Nachnamen?« (P: 26). Angaben zur Teilnahme am Geschehen Können die Antragsteller*innen die genauen Zeitangaben nicht geben, sollten sie zumindest von ihrer Teilnahme am Geschehen überzeugen können, indem sie ganz bestimmtes Wissen über das Ereignis preisgeben, das den Eindruck vermittelt, dass sie dabei gewesen waren: Nimmt ein/eine Antragsteller*in an einer Demonstration teil, ist nach von ihm/ihr zu erwarten, das Datum zu kennen. Wenn er/sie das genaue Datum nicht kennt, muss er/sie wissen »Um was für eine Demonstration handelte es sich an diesem Tag?« (P: 7). Kann der/die Antragsteller*in das Datum nicht nennen, wann er/sie festgenommen wurde, sollte er/sie mindestens den Zeitraum kennen: »In welchem Zeitraum waren Sie in Haft?« (P: 29; P:51; BP: 19). Zudem müsste der/die Antragsteller*in

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Die Anhörung im Asylverfahren

die Gründe für seine/ihre Verurteilung nennen können: »Für was wurden Sie verurteilt? (P: 51). Von einer Antragstellerin, die zum Christentum konvertiert ist, wird erwartet, dass sie ihren Taufspruch kennt: »Wie lautet Ihr Taufspruch?« (P: 29). Ein Antragsteller, der die Angabe macht, dass es seine Aufgabe auf dem Arbeitsplatz war, Kassetten und Bücher zu besorgen, sollte demnach die Frage beantworten können: »Was für Kassetten und was für Bücher sollten Sie von draußen für die Leute dort besorgen?« (P: 6). Teilnehmerkompetenz am Geschehen als Belegfunktion Die Anforderung von genauen Angaben muss nicht nur durch Nennung von Angaben bezüglich von Zeit und Ort erfolgen, sondern kann auch durch die Beschreibung von Einzelheiten, die das Geschehnis rahmen, erfolgen. Wenn Befrager wie auch Anhörer*innen, gegenüber den gemachten Angaben skeptisch sind, ist es logisch, Nachweise anzufordern. Die Nachweisanforderung ist an sich ein Hinweis dafür, dass die Unglaubwürdigkeit vermutet wird, wogegen die Antragsteller*innen etwas durch Belege bewirken können. Da in Asylanhörungen oft keine Belege erbracht werden, verwenden die Entscheider*innen die Technik der ›Präzisierung eines Detailbestandteils‹ zum Indiziennachweis als Methode, um zu prüfen, ob die Antragsteller*innen an den genannten Orten mit den genannten Personen gewesen sind. Die Grundannahme dabei ist ähnlich wie bei der Technik ›Detaillierung eines singulären Ereignisses‹: Wer an einem Geschehen teilgenommen hat, sollte die Ereignisse in ihren präzisen Details wieder abrufen können (vgl. Technik 2). Die vorliegende Technik unterscheidet sich von der ›Detaillierung eines singulären Ereignisses‹ insofern: es geht hier um sachliche Belege einer einzigen Angabe, wodurch raumzeitliche oder personelle Leerstellen16 ausgefüllt werden sollen. Es geht nicht darum, einen Erlebniskontext eines Geschehnisses darzustellen, sondern ihn durch genaue Angaben zu untermauern. In der Methode hingegen, die sich mit einem singulären Ereignis beschäftigt, werden detaillierte Situationsbeschreibungen angefordert, die die Involviertheit der Antragsteller*innen am Geschehen testet. Die angeforderte Erzählweise in den beiden Techniken ist also anders: Die vorliegende Technik fordert Angaben an, die die äußeren Fakten über das Ereignis abverlangen, während es in der Technik ›Detaillierung eines singulären Ereignisses‹ vermehrt um Beschreibung von Emotionen und Empfindungen, die sich in der Situation einstellten, geht. Wenn der/die Antragsteller*in sagt, er/sie sei mit dem Flugzeug am Tag Y nach XX geflogen oder er/sie sei ein Mitglied der Partei V und der/die Anhörer*in die Angaben prüfen will, ist die logische Konsequenz daraus, nach einem Beweismittel zu fragen, wie beispielsweise einem Flugticket, einer Reservierungsnummer, eine Parteimitgliedskarte o.ä. Folgende Beispiele illustrieren, nach welchen Beweismittel gefragt wird: »Haben Sie das Ticket mit?« (P: 37), »Können Sie Belege für Ihre Flugreise nach Deutschland vorlegen, z.B. Ihre Flugtickets?« (P: 41), »Haben Sie eine Mitgliedkarte oder irgendwelche Hinweise, dass Sie für diese Partei tätig sind?« (P: 30). 16

Hoffmann (1997) ist der Auffassung, dass die »rechtliche Wirklichkeitskonstitution […] raumzeitliche oder personelle Leerstellen nicht [vorsieht] (214), weil offene Stelle keinen Fall ausmachen (vgl. ebenda). »Entsteht die Leerstelle aus lokaler Taktik, kann sie ggf. mit Beweismitteln, durch Rekonstruktion oder Inferenz aufgefüllt werden.« (Ebenda: 214)

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

Wird kein Beleg erbracht, wie in den Beispielen der Fall ist, wird eine räumliche und zeitliche Präzisierung über den Sachverhalt (Flughafen, Flugzeug und Parteitätigkeit) gefordert. Die genaue Beschreibung kann die Belegfunktion erfüllen. Werden die Präzisierungen nicht konkret und nachvollziehbar erbracht, kann davon ausgegangen werden, dass das Geschehen als nicht tatsächlich Erlebtes disqualifiziert wird. Beispiel aus dem Anhörungsprotokoll 41: A: Können Sie Belege für Ihre Flugreise nach Deutschland vorlegen, z.B. Ihre Flugtickets? AB: Diese Unterlagen hätte ich Ihnen gerne gegeben, aber [Name] hat mir diese Unterlagen bei meiner Ankunft in [Flughafen in Deutschland] abgenommen. A: Von welchem Flughafen haben Sie ihre Reise gestartet? Wie war der Name des Flughafens? AB: Wie genau weiß ich nicht, wie er heißt, aber er ist in [Land/Stadt]. A: Können Sie mir sagen von welchem Gate Sie geflogen sind? AB. Das kann ich nicht sagen A: Mit welchen Fluggesellschaften sind Sie geflohen? AB: Da habe ich nicht darauf geachtet A: Können Sie beschreiben, wie die Flugbegleiter ausgesehen haben, welche Uniformen sie trugen? AB: Die Frau hatte eine Jacke […]. Der Mann trug […]. A: Gab es an der Uniform irgendwelche Besonderheit? AB: Das einzige, was ich weiß, ist, dass sie uns einfach Essen und Getränke serviert haben. A: Wie lange sind Sie geflogen? AB: Ich bin um […] Uhr losgeflogen. Es war ein Transflug bis […] Als ich in […] angekommen bin, war es […] Uhr morgens. Wir sind dann um […] Uhr nach […] losgeflogen und um […] Uhr dort angekommen. A: An welchem Gate sind Sie in [Zielstaat] angekommen? AB: Daran kann ich mich nicht erinnern. Es war mir alles zu groß und neu. Ich kann mich nicht erinnern. A: Können Sie beschreiben, welche Uniform diese Frau trug? AB: Sie hat nur ein Hemd getragen. Da der Asylbewerber keine Belege für seine Flüge von [Staat] bis Deutschland vorweisen kann, entstehen mehrere räumliche und zeitliche Leerstellen, die der Entscheider durch Rekonstruktion oder Inferenz ausfüllen zu lassen versucht. Es werden unterschiedliche Fragen, sowohl zu Zeitangaben als auch zur Beschreibung der räumlichen Umgebung oder zu Personen, denen er begegnet ist (s. oben z.B. welche Uniform die Flugbegleiter trugen), gestellt. Werden die eingeforderten Präzisierungen nicht erbracht, bleiben die Leerstellen offen und dies kann als Beweis fungieren, dass der Antragsteller nicht am Geschehen beteiligt gewesen war.

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Die Anhörung im Asylverfahren

Schlüsselangaben Es werden präzise Angaben zu voneinander unabhängigen Ereignissen oder Daten abverlangt, deren Verschlüsslung auf das Wahrscheinlichkeitsauftreten von Ereignissen hindeuten kann. Zum Beispiel: A: Wann haben Sie Ihre Frau geheiratet? AB: Von jetzt an gerechnet sind wir fast zwei Jahre verheiratet. A: Wie alt waren Sie denn zum Zeitpunkt Ihrer Heirat? AB: Ich war […] Jahre alt. (P: 33). Der Anhörer fragt den Antragsteller, wann er geheiratet hat und wie alt war er zum Heiratszeitpunkt. Der Anhörer hat die Geburts- und Ausreisedaten des Antragstellers und er kann ausrechnen, wie alt der Antragsteller zum Zeitpunkt seiner Heirat war und zurückverfolgen, ob der Antragsteller die Wahrheit spricht. An dieser Stelle lässt sich nachdrücklich zeigen, wie während des Prüfungsprozesses jeder Hinweis als Indikator für die Glaubwürdigkeit, bzw. Unglaubwürdigkeit herangezogen wird. Weiters Beispiel: Wenn ein Ägypter erzählt, dass er aus Sinai kommt und im Laufe der Schilderung von Fluchtereignissen sagt er, dass er seinem Vater hilft, Reis anzubauen. Das ist ein Schlüsselangabe für den Entscheider zu fragen »Wo konnten Sie auf dem Sinai Reis anbauen?« (P: 61). Der Entscheider weiß durch seine Spezialisierung, Antragsteller*innen aus Ägypten anzuhören, dass in Sinai aufgrund des Wassermangels Reis gar kein oder nur in der Nähe von bestimmten Oasen angebaut werden kann. Die Antwort auf solche Frage gibt dem/der Entscheider*in, ein Indiz, wie er/sie die Glaubhaftigkeit der Aussage des/der Antragstellers*in bewerten kann. Religions- und Gruppenzugehörigkeiten In diesem Fragenkomplex wird spezifisches Wissen erfragt, vom dem die Entscheider*innen ausgehen, dass jede Person, die einer Glaubensrichtung oder einer bestimmten Volksgruppe angehört, dieses Wissen besitzen müsse. Zum Beispiel: Wenn eine Antragstellerin beispielswiese die Angabe macht, sie sei zum Christentum konvertiert, erwartet der Entscheider von ihr, dass sie Wissen über zentrale Glaubensinhalte, christliche Feiertage und deren Bedeutung besitzt. Sie sollte zudem Bibelstellen kennen. Aufgrund dieser Annahme stellt der Entscheider Fragen, die das spezifische erwartete Wissen prüfen: »Welche zentralen Glaubensinhalte der Konversionsreligion sind Ihnen besonders wichtig?«, »Welche Bibelstelle ist Ihnen besonders wichtig?«, »Ist Ihnen bekannt, dass auch in der Bibel heißt: »Auge um Auge, Zahn um Zahn? Wie stehen Sie zu der Aussage?«, »Gibt es weibliche Pastoren im Christentum?«, »Was wird genau am Pfingsten gefeiert?«, »Was feiert man als Christ in Ostern?« (P: 29). Fragen zu der Religionszugehörigkeit testen, ob überhaupt ein Religionswechsel stattgefunden haben. Wenn der Umstand bejaht werden kann, wird geprüft, wie ernsthaft dieser vollzogen wurde. Eine Person, die sich bewusst für eine Religion entscheidet, müsste sich laut der Grundannahme dieser Technik, entsprechend intensives Wissen über die neue Religion angeeignet haben und die Einzelheiten über besondere Ereignisse, wie die der Konvertierungszeremonie, erzählen können. Dass die Antragstellerin

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

bei der Schilderung des besonderen Ereignisses der »Konvertierungszeremonie« nicht überzeugen konnte, wurde bereits in der Technik ›Imagination der Situationsverläufe‹ erwähnt. Die Antragsteller*in hat jetzt die Gelegenheit durch die vorliegende Technik, die Beschädigung der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen durch die vorherige Prüfungsmethode zu reparieren. Gibt die Antragstellerin das von ihr erwartete Wissen wieder, wird wahrscheinlich das Ereignis »zum Christentum konvertiert sein« als glaubhaft bewertet. Verfügt sie über das erwartete Wissen nicht, wird dann vermutet, dass sie den angegebenen Glauben nicht ernsthaft angenommen hat, sondern eine »Scheinübertretung zum Christentum« vollzogen, um Asyl zu bekommen. Ohne weitere Details und die Antworten der Antragstellerin wiederzugeben, zitiere ich aus dem Asylbescheid, wie der Entscheider die Angaben der Asylbewerberin hinsichtlich der Übertretung zum Christentum bewertet. Laut des Asylbescheids hat sie auf die Fragen »substanzlose, oberflächliche« Antworten gegeben: »[Es bestehen] bezüglich der Ernsthaftigkeit der beschriebenen Konversion der Antragstellerin erhebliche Zweifel an der Glaubhaftigkeit des Vortrags. […] Die Antragstellerin trägt hier stereotyp Dinge über den christlichen Glauben vor, die man gut auswendig lernen kann. Sie weiß alles über christliche Feiertage und Auferstehung. An den Stellen jedoch, wo man mit auswendig gelernten Stereotypen nicht weiterkommt, sondern inhaltliche Fragen gestellt werden, verliert sich die Antragstellerin in substanzlosen, oberflächlichen Ausführungen« (Asylbescheid Nr.: 29). Präzise Angaben zu extern überprüfbaren Details Bei dem Indikator der extern prüfbaren Angaben handelt es sich um Generierung von präzisen Angaben zu Detailbestandteilen, deren Richtigkeit außerhalb der Verhandlung geprüft werden kann. Dabei geht es meistens um brisante Ereignisse, an denen der/die Antragsteller*in, laut seiner/ihrer Angaben, teilgenommen hat und bei denen leicht herauszufinden ist, ob sie sich ereignet haben. Es handelt sich um Fragen nach einem Putsch, Kriegsgeschehnissen, größere Demonstrationen oder Wahlen. Zum Beispiel A: Wann fand die Demonstration statt? AB: Ich weiß den genauen Monat nicht, es war an einem [Wochentag], möglicherweise im […]. A: Wo hat die Demonstration stattgefunden? AB: In […] in unserem Viertel! A: Wie genau haben Sie bis dorthin gemacht? Wie haben Sie sich verhalten? (P: 63). Oder A: Wann sollten die Wahlen stattfinden? AB: Im * 20**. A: Können Sie das genaue Datum nennen? AB: *. ** ****. (BP: 12). In den Herkunftsländerberichten sind die Daten über solche Ereignisse registriert und es kann beispielsweise geprüft werden, ob die Wahl in dem Land X am von dem/der

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Die Anhörung im Asylverfahren

Antragsteller*in Datum stattgefunden hat. Zu dieser Kategorie gehören auch Fragen zu Parteien, für die die Antragsteller*innen gearbeitet haben oder zu Inhalten von Veröffentlichungen, die die Antragsteller*innen als Anlass für ihre Flucht angeben. Beispiele: »Welches Ziel verfolgt die von Ihnen benannte Partei? (P: 29), »Wo hat diese Partei ihren Sitz? (ebenda), »Welche Ziele hat denn Ihre Partei, der Sie angehört haben, der […] Partei?« (P: 30); Welche Aktivitäten haben Sie für diese Partei […] verrichtet (ebenda); »Wer ist denn Präsidentschaftskandidat gewesen? (P: 42); »Worum geht es in dem Text, den […] geschrieben hat?« (BP: 9). Fragen wie diese, die auf die Parteiziele, ihren Sitz abzielen, sind meistens Fragen, deren Antwort Fakten liefern, die durch Zugriff auf interne Datenbanken, die Informationen zur aktuellen politischen Entwicklungen, Lageberichte vom UNFlüchtlingshilfswerk und Amnesty International enthalten, übergeprüft werden können. Zudem können Entscheider selbst Anfragen ans Auswärtige Amt oder an sogenannte Verbindungsbeamte in den deutschen Botschaften zur Überprüfung der durch diesen Fragentyp gelieferten Fakten17 stellen.

20.2.3.1

Verdächtige Genauigkeit

Während unpräzise Antworten als Indiz dafür gelten, dass die Aussagen des/der Asylbewerbers*in nicht erlebnisfundiert sind, fungiert die Genauigkeit als Merkmal dafür, dass die Angaben wahr sind. Allerdings gibt es Einschränkungen, denn ein zu genaues Schildern kann als Merkmal der Unglaubhaftigkeit erachtet werden. In einem Begleiterin-Interview erwähnt die Begleiterin, dass der Antragsteller, den sie zur Anhörung begleitet hatte, sehr genaue räumliche und zeitliche Schilderungen lieferte. Er beschrieb den Reiseweg und den Raum, in dem er für eine Woche eingesperrt war, sehr präzise. Nach der Schilderung kommentierte der Entscheider: »Sie können sich aber sehr gut an alles erinnern, obwohl Sie entführt waren und Angst hatten. Bestimmt war es mal dunkel, dass man nicht alles sehen kann« (BegleiterInterview Rubi). Die Interviewte erläuterte, dass der Entscheider aufgrund des hohen Präzisierungsgrades des Antragstellers bei seiner Schilderungen skeptisch reagierte und die Datenangaben in Frage stellte: »Wie können Sie sich an das Straßenschild so genau erinnern?« (ebenda). Demnach können präzise Angaben, die als Glaubhaftigkeitsindiz verstanden werden, ab einem bestimmten Grad des Detailreichtums, als Indiz für das Gegenteil

17

Inwieweit die Angaben, die über der Technik ›Präzise Angaben zu extern überprüfbaren Details‹ hervorgehoben werden, für die Glaubwürdigkeitsprüfung dienlich werden können, kann man aus den Aussagen des Entscheiders entnehmen: »Man kann das natürlich zu einem sehr hohen Grad betreiben, das ist richtig, aber es ist ja so, wir müssen keine Beweise haben, wenn wir das Vorbringen für glaubhaft halten. Aber in manchen Fällen ist das auch hilfreich, wenn ich z.B. die Möglichkeit habe, ein Gerichtsurteil, in dem jemand wegen des Verteilens von Flugblättern zu 10 Jahren Haft verurteilt wird, dahingehend überprüfen zu lassen: »Gibt es dieses Gericht? Gibt es an diesem Gericht diesen Richter? Gab es das Verfahren unter diesem Aktenzeichen?« (Entscheider im Radio-Interview).

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

herangezogen werden. Das folgende Beispiel soll veranschaulichen, wie Genauigkeit als »zu genau« und eher verdächtigt interpretiert wird: A: Was taten Sie nach Erhalt dieses Briefes? AB: In dem Brief stand: »Du hast zwei Tage Zeit, Dir das alles zu überlegen und Du kannst uns anrufen«. Es stand eine Telefonnummer dabei […] diese Nummer lautet: *** A: Es ist erstaunlich, dass Sie diese Nummer so merken können! Wie kommt das? (P: 6). Die Anhörerin zeigt ihre Verwunderung, indem sie es als »erstaunlich« bezeichnet, dass der Antragsteller sich eine Telefonnummer in einem Drohbrief, den er zerrissen hatte, merken konnte. So eine Begebenheit kann ein Indikator dafür sein, dass der Antragsteller die Nummer auswendig gelernt hat. Insbesondere weil er bei der Rückfrage, in der er sich rechtfertigen sollte, warum er sich die Nummer bis jetzt gemerkt habe, keine überzeugende Erklärung geben konnte. Er antwortete: »Ja das ist verwunderlich, aber die Nummer werde ich nie vergessen«. (BP: 6). Daraus kann schlussgefolgert werden, dass das Abverlangen von genauen Einzeldetails keine Technik ist, die nur darauf abzielt, Leerstellen durch präzise Angaben zu füllen, sondern sie dient auch als Qualitätsmerkmal, um den Wahrscheinlichkeitseintritt der geschilderten Indizien zu bewerten. Zwischenresümee Der gerade demonstrierte Interpretationsspielraum der Entscheider*innen, wie präzise Angaben für oder gegen die Glaubhaftigkeit sprechen können, ist in der Überprüfungsphase bzw. im ganzen Asylverfahren durchgängig anzutreffen. Aus den Interpretationsspielräumen leiten die Entscheider*innen ihre Einschätzung ab, ob die dargestellten Ereignisse erlebnisfundiert oder erfunden sind. Zum einen sind die Entscheider*innen in der Anhörung - aufgrund des Hauptproblems der fehlenden Beweismittel – auf die Interpretation von Indizien angewiesen; zum anderen ist der Interpretationsspielraum wegen der Subjektivität problematisch. Die Problematik dieser Interpretationsspielräume kann man wie folgt formulieren: Unter welchen Voraussetzungen a) haben die Fluchtereignisse die Chance, als asylrelevant und das beschriebene Verhalten der Asylsuchenden als nachvollziehbar akzeptiert zu werden? b) werden die detaillierten Darstellungen der Antragsteller*innen als Indikator für Selbsterlebtes oder als einstudiert gesehen? c) werden zwei inkonsistente Aussagen als ein akzeptabler »Fehler«, der in einer solchen Stresssituation auftreten kann oder als Aussageninkonsistenz gedeutet? d) wird bestimmtes Wissen (z.B. über Religions- oder Gruppenzugehörigkeit) als tief und substantiiert oder als oberflächlich und substanzlos interpretiert? e) werden präzise Angaben als Unglaubhaftigkeits- oder Glaubhaftigkeitsmerkmal beurteilt? f) wird die Demonstration von Betroffenheit während der Erzählung von traumatisierenden Erlebnissen als Schauspielerei oder authentische Reaktion auf solchen Erinnerungen interpretiert?

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Die Anhörung im Asylverfahren

Bei jeder Überlegung, für welche Interpretationsmöglichkeit sich die Anhörer*innen entscheiden, steht die Glaubwürdigkeit der Antragsteller*innen auf dem Spiel. Der dargestellte Handlungsspielraum der Entscheider*innen, in Hinsicht auf die Beurteilung der Glaubhaftigkeit, ist im Asylverfahren ein grundlegendes Problem, das sich über alle Ebenen des Anhörungsprozesses dehnt. Handlungsspielräume sind einerseits aufgrund der heterogenen Anhörungssettings in den Anhörungen unverzichtbar; andererseits bieten sie Raum für Fehlinterpretation und Missbrauch. Aus der obigen Ausführung geht hervor, dass die Feststellung der Glaubhaftigkeit einen hohen Schwierigkeitsgrad beinhaltet. Deshalb gehen die Entscheider*innen jeder Spur nach, die die Glaubwürdigkeitsbeurteilung begünstigen kann, auch wenn dieses nur kleine Anhaltspunkte außerhalb der Fluchtereignisse sind, wie folgender Überprüfungstyp zeigt. Im nächsten Schritt sollen zusätzliche Techniken gezeigt werden, wie außerhalb der Kohärenzprüfung nach Glaubwürdigkeitsindikatoren gesucht wird.

20.3

Übergreifende, außertextuelle Indikatoren

Neben der internen und externen Kohärenzprüfung sehen einige Entscheider*innen noch Bedarf, mehr Sicherheiten hinsichtlich der (Un)Glaubwürdigkeitsbeurteilung zu gewinnen. Deshalb werden andere Erkenntnisformen herangezogen, die nicht mehr die Kohärenz der Angaben und Plausibilität der Fluchtereignisse oder die Aussagequalität prüfen. Vielmehr werden nebensächliche Informationen, die die Verfolgungsereignisse nicht direkt betreffen, aber zur Rahmung der allgemeinen Beurteilungskriterien der Glaubwürdigkeit hinzugezogen. Hierbei wird über die beschriebenen Kohärenzprüfungen hinausgegangen und es werden lokale umweltsituative Fakten zur Umgebung und Lebensumständen abgefragt, die u.a. die Herkunfts- und Gruppenzugehörigkeit des/der Asylbewerbers*in feststellen sollen. Grundannahme dieser Technik ist, dass jede asylsuchende Person, die aus einem Land kommt, bestimmtes Wissen bezüglich des geographischen Ortes, der kulturellen und religiösen Normen in ihrem Herkunftsland besitzen sollte. Durch die Technik ›außertextuelle Indikatoren und Umweltbezogene Fakten‹ wird dieses vorausgesetzte Wissen als Glaubwürdigkeitsindikator herangezogen.18 Die Entscheider*innen gehen davon aus, dass jedes Mitglied eines Staates, einer Partei, einer Ethnie usw. diese Fragen beantworten können sollte (vgl. dazu auch Scheffer 2001: 147). Dabei handelt es um Prüfungsfragen, die die folgenden Themen (geographisches, allgemeines und spezifisches Wissen) abdecken. (a) Geographische Prüfung: Mit den geographischen Fragen, wird geprüft, ob die Antragsteller*innen tatsächlich aus dem angegebenen Land stammen.

18

Die Richtigkeit der Informationen, die durch die Prüfungskategorie ›außertextuelle Indikatoren und Umweltbezogene Fakten‹ generiert werden, können die Anhörenden in Datenbanken oder durch Nachforschen anhand anderer Quellen prüfen.

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

»Nennen Sie einen Fluss in [Herkunftsland]?« oder »Fließt durch […] ein Fluss und wenn ja, wie heißt er?« (mehrere Anhörungen und Anhörungsprotokolle), »Wie lange waren Sie unterwegs, von Ihrem Wohnort zu Universität?« (P: 10). (b) Allgemeines Wissen über die Lebensumstände, die einheimische Person aus dem jeweiligen Land kennen sollten. Dazu gehören Fragen zu Fernsehprogrammen, Radiosendern, Farben von Taxis, Währung, Angaben zu Ortsbewohnern, Anzahl und Volksgruppen. Beispiele für Fragen zu diesem Themengebiet:

»Wie viele Einwohner hat Ihr Dorf?« (P: 6); »Sind das meistens Angehörige der Volksgruppe der Pashtu oder gemischt?« (ebenda); »Wie heißt die Zahlungsmittel in […]? (P: 34, P: 55, und P: 56); »Wie heißt die Universität von Damaskus?«, »Ist das ein modernes Gebäude oder ein altes, historisches Gebäude? (BP: 10), »Nennen Sie eritreische Tageszeitung?« (P: 55); »Gibt es berufsbildende Schulen in […]?«, »Wie heißt der Staatsoberhaupt Eritreas?«, »Wann wurde Eritrea unabhängig?« (P: 55); »Wie heißt die Straße, die durch […] führt?«, »Was für Schulen gibt es in Hagaz?«, »Sagen Sie die eritreische Nationalhymne« (P: 56), »Welche Farbe haben die Busse in Asmara?« und »Welche Sehenswürdigkeiten gibt es in Adinefas?«, »Gibt es auch da Wald?« (P: 56), »Welche eritreische/ägyptische/syrische Feiertage gibt es?« oder »Können Sie staatliche Feiertage, die man in […] feiert, nennen?« (mehrere Anhörungen und Anhörungsprotokolle), »Wie heißt der König von […]?«, »Können Sie mir ein nationales Gericht nennen?« (mehrere Protokolle). (c) Spezifisches Faktenwissen, das der Entscheider für eine Einwohnergruppe voraussetzt. Das sind solche Fragen, wie z.B. einen Raucher nach Zigarettenmarken oder einen Kamelbesitzer zum Zweck der Tierhaltung zu fragen:

A: Da Sie ein Raucher sind. Wissen Sie bestimmt, welche Tabak- Zigarettenmarke in Syrien zum Verkaufen gibt? A: Ja, wir nationale Marken wie Al-Haska und Al-Hmara, wir haben auch russische Marken wie Vigk und Mikadu und internationale LM-AzraqundGulaz. (BP: 4). Als Raucher müsse der Asylbewerber aufgrund der Grundannahme dieser Technik wissen, welche Zigarettenmarken es in seinem Heimatland gibt. Genauso wird von einem Asylsuchenden, der Tiere hält, erwartet, einen plausiblen Zweck für die Haltung dieser Tiere zu nennen, der mit dem bekannten Zweck der Tierhaltung im Herkunftsland übereinstimmt ist. A: Wozu hielten Sie die Kamele? Hatten Sie auch vor, die Mal zu verkaufen? AB: Wir haben sie für die Kamelmilch gehalten und auch als Transporttiere (AP: 33). Da der Antragsteller aus Somalia kommt, kann die Antwort als glaubhaft bewertet werden, weil es dort üblich ist, die Kamele für diesen Zweck zu halten. Beachtet man die Fragen, die in dieser Prüfungstechnik gestellt werden, bemerkt man, dass es sich um Fragen handelt, auf die sich Asylbewerber*innen vorbereiten könnten. Man kann die Landkarte, Wissen über Währung und Lebensumstände stu-

345

346

Die Anhörung im Asylverfahren

dieren und wer gut lernt, wird »richtig« antworten können. Scheffer (2003) postuliert, dass das Asylverfahren an sich als eine Art Wissensprüfung verstanden werden kann, auf die man sich vorbereiten könne, wenn man sie bestehen will (vgl. ebenda: 456). All die beschriebenen Techniken zur Überprüfung der Glaubhaftigkeit sind im Wesentlichen aus dem Material induktiv herausgefunden worden und können aus der Darstellung oben chronologisch in einer Abfolge zusammengefasst werden: Etablierung einer Erzählversion; Präzisierungen von Ereignisdetails; Kontrastierung von Aussagen; Überprüfung der Fähigkeit auf spontane Fragen zu antworten; Feststellung der internen Kohärenz/Inkohärenz der Angaben; Versuch Leerstellen durch Fragen zu kleinen Detailbestandteilen zu füllen; Diagnostik durch den Entscheider, bezüglich der (nicht)Nachvollziehbarkeit des Gesamtbildes über die Ereignisse; (h) Untermauerung der ganzen Befragung durch Fragen zu außertextuellen Indikatoren umweltsituativer Fakten; (i) Abschluss durch Feststellung der (Un)Glaubwürdigkeit. (a) (b) (c) (d) (e) (f) (g)

Aus der obigen Ausführung wird ersichtlich, dass die Feststellung der Glaubhaftigkeit der Aussagen aufgrund der Komplexität und der unsicheren Bewertungskriterien mit einem hohen Schwierigkeitsgrad verbunden ist. Zu beachten ist, dass diese Techniken gemeinsam lediglich als Indikatoren für die Entscheider*innen dienen, die keine Beweismittel haben, um sich ein »Urteil« über die Glaubhaftigkeit der Aussagen der vor ihnen sitzenden Person zu bilden, weshalb die Beurteilung in einigen Fällen unsicher bleibt. Bevor die Ergebnisse des Kapitels zusammengefasst dargestellt werden, möchte ich zwei Punkte aufführen, die beleuchten sollen, welche Ermessensfreiheit bzw. welche besonderen Schwierigkeiten die Entscheider*innen bei der Aufgabeerledigung ›Überprüfen der Glaubwürdigkeit von Antragsteller*innen‹ haben können. Sie können unter bestimmten Bedingungen härtere Prüfungsmaßnahmen einsetzen oder auf die Prüfungstechniken zum Teil oder ganz verzichten.

20.4 20.4.1

Weitere Maßnahmen im Zusammenhang mit der Prüfung der Glaubwürdigkeit Gezielter Glaubwürdigkeitsentzug

Die Anhörer*innen müssen die Äußerungen zu den Erlebnissen der Antragsteller*innen hinsichtlich ihrer Relevanz für die Asylgewährung und ihrer Glaubhaftigkeit deuten und bewerten. Ist der Sachvortrag detailliert, in sich stimmig präsentiert und ohne gravierende Widersprüche, die eindeutig gegen die Glaubhaftigkeit sprechen, aber der/die Entscheider*in ist trotzdem von der Glaubwürdigkeit der Person nicht überzeugt und möchte einen letzten Versuch angehen, die Glaubwürdigkeit anzufechten, eignet sich

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

die Technik ›Glaubwürdigkeitsentzug‹. Diese Technik geht über die oben dargestellten Überprüfungstechniken, die sachlich und/oder interpretativ für die interne und externe Kohärenzprüfung der Fluchtereignisse verwendet werden, hinaus. Der Glaubwürdigkeitsentzug ist eine Strategie, die in der polizeilichen Vernehmung verwendet wird (Brusten & Malinowski 1983: 151). Sie ist eine eindringliche Technik, durch die die Glaubwürdigkeit des Asylsuchenden direkt angegriffen wird. Der Glaubwürdigkeitsentzug ist eine Praktik, die darauf abzielt, »den Vernommenen zu impulsiven Reaktionen und Rechtfertigungen herauszufordern und dadurch seine »Selbstkontrolle« zu erschüttern.« (ebenda). Dazu gehören sowohl Fragen als auch »mimische Gesten, die offensichtliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit des bis dahin Vorgetragenen signalisieren und den Vernommenen dadurch psychisch unter Druck setzen.« (ebenda). Diese Technik basiert auf provokativen Fragen, offensichtlichem Bezweifeln der Aussagen bis zur Unterstellung Falschaussagen zu tätigen. Die Strategie des Glaubwürdigkeitsentzugs wird manchmal in der Anhörung dem Ziel eingesetzt, die Antragsteller*innen zu verunsichern, ihr mutmaßliches Lügengerüst zu stürzen und Ablehnungsgründe für den Asylbescheid zu generieren. Die Entscheider*innen verwenden dafür Maßnahmen wie: •







Kommentieren der Angaben der Antragsteller*innen als unwahrscheinlich: »Sie sind der einzige, der so etwas erzählt«. (BP: 4) »Es scheint überraschend, dass Sie den Namen der Anführer der Partei, für die sie gearbeitet haben, nicht kennen« (P: 30). Bewerten des Vorbringens als oberflächlich, nicht konkret und unsubstantiiert: »Ihr Vorbringen ist völlig oberflächlich«, »Ich gebe Ihnen jetzt nochmals die Gelegenheit, mir substantiiert, detailliert und damit glaubwürdig zu erläutern« BP: 11 und P: 34). eindeutige Positionierung der Entscheider*innen, die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Aussage deutlich machen: »Das soll ich Ihnen glauben?« (P: 34), »Warum antworten Sie so wenig überzeugend?« (BP: 11). Imageverletzendes Konfrontieren der Antragsteller*innen, indem man den Antragsteller*innen u.a. deutlich macht, sie sollen sich nicht so wichtig nehmen: »Aber nun ist Ihre Person und die Tätigkeit, die Sie in diesem Camp ausübten ja nicht so bedeutend, dass die Taliban ein derart großes Interesse an Ihnen haben könnten, Sie in ganz Afghanistan zu verfolgen.« (BP: 6).

Im ersten oben beschriebenen Anwendungsweck der Technik ›Glaubwürdigkeitsentzugs‹ (der/die Entscheider*in ist nicht von der Glaubwürdigkeit überzeugt und bedient sich bei der Suche nach anderen Evidenzen der Technik der ›Glaubwürdigkeitsentzugs‹) lässt sich sein Verhalten nachvollziehen. Der/die Entscheider*in handelt noch im Rahmen seines/ihres Arbeitsauftrages: Er/sie ist nicht von der Glaubwürdigkeit des/der Antragstellers*in überzeugt und hat in der Sachverhaltsdarstellung keine Anhaltspunkte für seine/ihre Einschätzung. Da eine Halbglaubwürdigkeit nicht akzeptiert wird, greifen die Entscheider*innen auf alle möglichen Maßnahmen zurück (auch Glaubwürdigkeitsentzug), die ihnen eine Entscheidbarkeit verschaffen. Im Gegensatz zur Technik des ›Glaubwürdigkeitsentzuges‹ können die Entscheider*innen fallbedingt auf die Überprüfung der Glaubwürdigkeit verzichten.

347

348

Die Anhörung im Asylverfahren

20.4.2

Verzicht auf die Prüfung

In einigen Anhörungen wurde auf den Überprüfungsprozess der Glaubhaftigkeit komplett verzichtet. Genauso, wie die Rekonstruktionsverfahren der Fluchtgeschichte konstellationsabhängig sind, hängt auch die Entscheidung bezüglich der Wahl, Art und Weise oder gar für den Verzicht auf die Glaubhaftigkeitsprüfung von der Asylbewerberfallkonstellation (Typ, Erwartung und Ziele) ab. Zum Beispiel wurde in den Anhörungen 14 und 16 auf die Überprüfung (interne, wie externe Kohärenz) verzichtet. Der Entscheider kategorisierte die Asylsuchenden aufgrund ihrer Herkunftsländer als nicht asylberechtigt vor und stufte die Fluchtgeschichte als asylirrelevant ein. In der Folge verzichtet er auf die Überprüfung der Glaubhaftigkeit des Vortrags. Tabelle 5: Darstellung der Überprüfungstechniken der Glaubwürdigkeit von Antragsteller*innen im Asylverfahren Techniken der Glaubwürdigkeitsüberprüfung im Asylverfahren Prüfungskategorie

Aufgabe

Techniken

1.  Interne Kohärenzprüfung

Überprüft werden die Aussagenverhältnisse und -qualität ebenso das Erzählgewebe. Der Entscheider beschäftigt sich mit dem Sachverhalt auf der sprachlichen Ebene. Er bewertet die Kohärenz der Darstellung durch Untersuchung, wie die Aussagenverhältnisse zueinander stehen in Bezug auf Widersprüchlichkeit und Stimmigkeit.

Überdehnung der narrativen Detailierung

Überprüft wird die Plausibiltät der Gesamtzählung.Die Kohärenz der Erzählung wird durch Einschäzung des Wahrscheinlichkeitseintritts der Ereignisse im Gesamtkontext bewertet.

Imagination der Situationsverläufe

2.  Externe Kohärenzprüfung

3.  Übergreifende, außertextuelle Indikatoren

20.5

Durch Fragen zu nebensächlichen Auskünften, die nicht Verfolgungsereignissen direkt prüfen, werden Anhaltspunkte gewonnen. Diese sollen zur Feststellung der allgemeinen Glaubwürdigkeitsbeurteilung beitragen.

Detailierte Beschreibung eines singulären Ereignisses Kontrastierung von Aussagen Spontanität der Darstellung Vergleich von Angaben über denselben Sachverhalt zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Asylverfahren

Normalitätsfolie als Bewertungsmaßstab Stimmigkeit der Einzeldetails Fragen zur geographischen Umwelt Allgemeines Wissen Spezifisches Faktenwissen über die Lebensumstände im Herkunftsland

Zusammenfassung und Ergebnisse Kapitel V

Ziel des Kapitels war, zu untersuchen, wie der Glaubwürdigkeitsprüfungsprozess durchgeführt wird. Mit welchen Verfahren und durch welche Prüfungstechniken gelingt es den Anhörer*innen, die Glaubhaftigkeit der Asylbewerberaussagen zu

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

überprüfen. Um die Forschungsfrage zu beantworten, wurden im diesem Arbeitsabschnitt Fragestellungen formuliert und im Forschungskontext schrittweise bearbeitet. Zunächst wurden die grundlegenden Begriffe (Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit) für das Kapitel definiert. Es wurde festgehalten, dass sie unterschiedliche Beurteilungsdimensionen abdecken. Glaubwürdigkeit ist die personenbezogene Beurteilung der Antragsteller*innen und Glaubhaftigkeit ist die sachbezogene Beurteilung der Fluchtgeschichte in Bezug darauf, ob sie als solche stattgefunden hat. Nur nach der Feststellung beider Dimensionen wird der Asylantrag auf sachlicher Ebene geprüft (vgl. Tabelle 4). Offensichtlich wurde zudem, dass die Feststellung der Glaubwürdigkeit im Asylverfahren überaus wichtig ist und dass sie mit einem hohen Schwierigkeitsgrad verbunden ist. Im nächsten Schritt wurde der Frage nachgegangen, mit welchen sprachlichen Mustern der Überprüfungsprozess (die Glaubhaftigkeit der Asylbewerberaussagen) vollzogen wird. Es wurde gezeigt, dass die dominanten Formen für den Überprüfungsprozess die Nachfrage, Vorhalte, vor allem das Vorhalten von Widersprüchen hinsichtlich der getätigten Asylbewerberangaben, beinhalten. Während durch Nachfragen das generierte Wissen über die Fluchtereignisse gesichert und vertieft wird, wird durch den Vorhalt die Antragsteller*innen mit Widersprüchen in ihren Aussagen konfrontiert und zur Stellungnahme aufgefordert. Im zweiten Teil des Kapitels wird der Hauptfragestellung, wie der Prüfungsprozess durchgeführt wird, bzw. welche Prüfungstechniken der/die Anhörer*in einsetzt, um die Glaubhaftigkeit der Asylbewerberaussagen zu überprüfen, nachgegangen. Dabei lag das Augenmerk nicht darauf, verwendete Techniken in jeder Anhörung separat aufzulisten und zu zeigen, wie in jedem Fall die Glaubhaftigkeit überprüft wird. Vielmehr wurde die Feststellung einer übergreifenden Systematik für die Glaubwürdigkeitsprüfung im Asylverfahren angestrebt. Somit wurde untersucht, ob bestimmte Vorgehensweisen für die Prüfungsprozesse systematisch und wiederholend verwendet werden, so dass in der vorliegenden Studie Prüfungstechniken typologisch strukturiert werden konnten und als signifikante Verfahren für die Glaubwürdigkeitsüberprüfung in der Anhörung festgehalten werden können. Um dies festzustellen, wurden die im Material (64 Anhörungsprotokolle) vorzufindenden Prüfungstechniken induktiv herausgearbeitet. Zunächst wurden sie aufgezählt und auf ihr Wiederauftreten hin analysiert und dabei untersucht, in welchem Kontext dieselben Techniken verwendet werden und warum. Die Untersuchung zeigt, dass die im Material angewandten Prüfungstechniken nicht auf Zufälligkeit beruhen. Vielmehr sind sie wiederkehrende Maßnahmen in einer bestimmten Vorgehensweise und folgen einem Prüfungssystem, das sich je nach Asylbewerberkonstellation und dem zu bearbeitenden »Fall« variieren und flexibel anpassen lässt. Mit dieser Erkenntnis kann die Frage, ob die Techniken in jeder Anhörung homogen eingesetzten werden oder ob sie in bestimmten Konstellationen für bestimmte Asylbewerbergruppen verwendet werden, beantwortet werden: Die Techniken werden weder in allen Anhörungen identisch verwendet, noch folgen sie einem Zufallsprinzip. Sie werden methodisch und konstellationsbedingt angewandt. In jeder Anhörung, die unter den gleichen Bedingungen (Asylbewerbertyp und Entscheiderinteresse) geführt wird, treten die gleichen Prüfungstechniken auf. Der Prüfungsgrad, wie viel und wie intensiv gefragt wird, hängt ebenfalls von Asylbewerbertyp, Fluchtgeschichte, und dem

349

350

Die Anhörung im Asylverfahren

Interesse des Anhörenden, den Sachverhalt zu ermitteln, ab. Es wurde gezeigt, dass die Entscheider*innen auf bestimmte Prüfungstechniken teilweise (u.a. BP: 2, BP: 10, BP: 8 und BP: 7) oder ganz verzichten (BP: 14 und BP: 16), wenn der Verzicht ins Konstellationsgefüge hineinpasst. Somit kann festgehalten werden, dass die Prüfungstechniken systematisch angewandte Operationen sind, die wiederholend in den gleichen Anhörungskonstellationen auftreten. Diese Techniken wurden typologisch strukturiert und anhand illustrativer Beispiele dargestellt. Eine kurze Zusammenfassung darüber folgt.

20.5.1

Zusammenfassung des Prüfungsprozesses von Glaubwürdigkeit

Der Prozess der Glaubhaftigkeitsüberprüfung wird durch mehrere Prüfungsvorgänge, mittels unterschiedlicher Befragungstechniken, vollzogen: interne und externe Kohärenzprüfung der Fluchtgeschichte, ebenso die Prüfung von außertextuellen Indikatoren, durch die andere Erkenntnisquellen herangezogen werden. Beim Prozess der internen Kohärenzprüfung werden die erzählten Fluchtereignisse, hinsichtlich ihrer sachlichen Aspekte, geprüft. Hierbei liegt der Fokus auf dem Erzählgewebe und auf den Aussagenverhältnissen und der Aussagequalität. Der/die Entscheider*in beschäftigt sich mit der sprachlichen Darstellung des ausgeführten Sachverhalts und bewertet ihre Kohärenz durch Untersuchung der Aussagenverhältnisse; es geht darum, wie die Aussagen in Bezug auf Widersprüchlichkeit und Stimmigkeit zueinanderstehen. Zudem eruiert der/die Entscheider*in die Aussagequalität (detailarm, detailreich, folgerichtig, dünn, substantiiert). Dabei werden folgende fünf Techniken eingesetzt, die dem/der Entscheider*in dieses Prüfungsverfahren ermöglichen: (1) (2) (3) (4) (5)

Überdehnung der narrativen Detaillierung Detaillierte Beschreibung eines singulären Ereignisses Kontrastierung von Aussagen Spontanität der Darstellung Vergleich von Angaben über denselben Sachverhalt zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Asylverfahren

Es wurde detailliert dargestellt, wie diese Techniken ausgeführt werden, ebenso wurden die Grundannahmen, die hinter den Prüfungstechniken stehen, erörtert. Zum Beispiel steht hinter der Technik ›Detaillierte Beschreibung eines singulären Ereignisses‹, die Annahme, dass vollständige Darstellungen von Details über ein Ereignis ein Indikator dafür seien, dass das Geschilderte erlebnisfundiert ist. Ebenfalls finden wir die Grundannahme, auf der die Prüfungstechnik ›Kontrastierung von Aussagen‹ basiert, dass erlebnisfundierte Schilderungen bei wiederholter Befragung mehr Übereinstimmungen bezüglich des Kerngeschehens haben als erfundene Aussagen usw. Bei der externen Kohärenzprüfung beschäftigt sich der/die Entscheider*in mit der Plausibilität der Gesamterzählung und bewertet ihre Kohärenz durch Einschätzung des Wahrscheinlichkeitseintrittes der Ereignisse im Gesamtkontext. Dieser Vorgang basiert vor allem auf Interpretationen der Entscheider*innen, bezüglich der Kohärenz von Ereignissen und ihrer Einschätzung, ob das Ereignis in der Realität stattgefunden haben könnte. Das Verfahren der externen Prüfung vollzieht sich vor allem durch das Vorstel-

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

lungsvermögen der Entscheider*innen, hinsichtlich der geschilderten Situationen und der Kontrastierung der Schilderungen an einer Normalitätsfolie, die sich daran orientiert, was die Entscheider*innen als »normales« Verhalten in der jeweilig geschilderten Situation ansehen. Durch diese Kontrastierung und Erschließung von Einzelheiten werden dann logische Schlussfolgerungen seitens der Entscheider*innen gezogen, ob das dargestellte Szenario in sich kohärent ist und auf realen Erlebnissen basiert. Dafür werden folgende Techniken verwendet: (1) Imagination der Situationsverläufe (2) Normalitätsfolie als Bewertungsmaßstab (3) Stimmigkeit von Einzeldetails

Diese Überprüfungsphase weist einen signifikanten Interpretationsspielraum der Entscheider*innen für jede von den Antragsteller*innen beschriebene Situation auf. Die Problematik, die aufgrund der Interpretationsspielräume entstehen kann, wurde ausführlich dargestellt. Die letzten verwendeten Prüfungstechniken sind solche, die nicht die Plausibilitäten von Fluchtereignissen oder die Aussagequalität prüfen, sondern nebensächliche Auskünfte abfragen, die zwar nicht direkt mit den Verfolgungsereignissen zu tun haben, aber zur Feststellung der allgemeinen Glaubwürdigkeitsbeurteilung beitragen können. Dabei handelt es sich u.a. um Fragen zur geographischen Umwelt, durch die geprüft wird, ob die Antragsteller*innen aus dem angegebenen Land stammen. Des Weiteren wird allgemeines wie auch spezifisches Faktenwissen über die Lebensumstände abgefragt, die eine dort lebende Person kennen sollte (vgl. K. 20.3). Die letzte Forschungsfrage, die zu beantworten ist, bezieht sich darauf, welche Technik zum entscheidendsten Indikator für das Zuschreiben oder Absprechen von Glaubwürdigkeit führt. Diese Frage kann nach dem Erforschen des Materials wie folgt beantwortet werden: Da die Glaubwürdigkeit nicht greifbar ist, versuchen die Entscheider*innen durch die oben beschrieben Techniken an Fakten zu gelangen, auf deren Basis die Glaubhaftigkeit der Aussagen geprüft werden kann. Entscheider*innen müssen permanent selektieren, was sie für glaubhaft halten und was nicht. Der Prozess geht schrittweise vonstatten, bis jeder*e Entscheider*in an einem Punkt kommt, an dem er/sie sich fragt, wie er/sie den gesamten Sachvortrag bewerten soll. Dabei trägt jede Bewertung aller gemachten Einzelaussagen und jede Technik zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung bei. Deshalb sind alle Techniken gemeinsam entscheidend dafür, die Bewertungsunsicherheiten über das Geschilderte zu minimieren, womit eine Gewichtung der einzelnen Indikatoren kaum möglich ist. Im Großen und Ganzen spiegelt die Ordnung der Prüfungstechniken, wie oben dargelegt, die Abstufung der Bewertung wider. Das heißt, sobald das Innengewebe der Erzählung stimmt, ist die erste Hürde überwunden, es folgt die externe Kohärenzprüfung und schließlich die letzte Überprüfungskategorie, die mit dem geringsten Schwierigkeitsgrad verbunden ist, weil sie Anhaltspunkte zur Überprüfung von Fakten durch Nachforschen (u.a. Datenbank) bietet. Zu beachten ist: Obwohl es keine Schwierigkeit bereitet, die genannten Prüfungstechniken analytisch klar voneinander zu trennen und sie genau zu nennen, sind sie in der Anhörungssituation selbst meist eng miteinander verwoben und somit im Ein-

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352

Die Anhörung im Asylverfahren

zelnen erst nach intensiver Beschäftigung mit dem Material erkennbar. Anzumerken ist, dass der Überprüfungsprozess nicht in der präsentierten Reihenfolge abläuft. Die Prüfungstechniken fließen in der Anhörung ineinander über und sind nicht in der Reihenfolge anzutreffen, wie sie in der Arbeit präsentiert sind. Sie sind aus den Daten extrahiert und in der dargestellten Abfolge und Dimensionen strukturiert.

20.5.2

Ergebnisse

(1) Es gibt kein Standardprogramm für die Glaubhaftigkeitsprüfung, das in jedem Fall durchgeführt wird, sondern es gibt Teststrategien und Prüfungstechniken. Das macht die Glaubhaftigkeitsprüfung besonders schwierig. Da die Feststellung der Glaubhaftigkeit ohne Beweismittel schwer zugänglich ist, sind (a) die Entscheider*innen permanent auf jeder Spur, die eine Glaubhaftigkeitsbeurteilung begünstigen könnte, auch wenn es sich um einen minimalen Hinweis außerhalb der Fluchtereignisse handelt (vgl. Techniken in der dritten Überprüfungskategorie), (b) die Prüfungstechniken lediglich Hilfsmittel für die Entscheider*innen, denen jegliche Nachweise fehlen, die Glaubwürdigkeitsbeurteilung einer ihnen unbekannten Person zu vollziehen. (c) sie keine sicheren Testmethoden und können deshalb Risiken der Fehlinterpretation beinhalten, (d) die Anwendungen von Überprüfungsstrategien nicht unproblematisch, weil die Asylbewerber*innen die Grundannahmen der Fragen nicht kennen und deshalb meist nicht entsprechend darauf reagieren können. (2) Die Kohärenzprüfung ist kein willkürlich subjektiver Prozess, den jeder/jede Entscheider*in nach seinen/ihren eigenen Regeln vollzieht, sondern verläuft weitestgehend nach bestimmten Prinzipien, die mit genauem Studieren des Materials zum großen Teil determiniert werden können. Wenn man betrachtet, auf welche Art und Weise das Vorbringen angehört wird, wie Darlegungsdefizite angefordert werden und an welchen Stellen Rückfragen zu bestimmten Angaben gestellt werden, können die Kohärenzprüfungstechniken erfasst werden. (3) Betrachtet man all die oben im Material vorzufindenden Techniken und bedenkt den Zweck des Anhörungsgesprächs, nämlich ,die Schutzkategorien festzustellen, fällt auf, dass die Techniken, die hier beschrieben wurden, sich kaum mit der Frage der Feststellung der politischen Verfolgung der Antragsteller*innen zu klären, beschäftigen. Im Vordergrund steht die Frage, ob die Aussagen der Antragsteller*innen glaubhaft sind. (4) Die Handlungsspielräume der Entscheider*innen bezüglich der Interpretation der Antragsteller*innenangaben »glaubhaft« vs. »unglaubhaft« sind in der Überprüfungsphase durchgängig etabliert. Diese Interpretationsfreiheit stellt jenes Element dar, aus dem die Entscheider*innen ihre Legitimationsressourcen für die Bewertung ableiten, ob sie die dargestellten Ereignisse als erlebnisfundiert oder für erfunden halten. Der Dualismus, der durch die Interpretationsspielräume entsteht, bringt die Problematik mit sich, die damit verbunden ist und die Notwendigkeit sie einzusetzen, wurde ausführlich dargelegt. Dabei wurde gezeigt, wie bei jeder

20. Prüfungstechniken und Kontrollkriterien

Entscheidung durch eine Interpretationsmöglichkeit die Glaubhaftigkeit auf dem Spiel stehen könnte. (5) Durch die Interpretation hat jede Technik Potentiale für zwei Paradoxe in sich. Zum Beispiel kann eine detaillierte Situationsbeschreibung als »einstudiert« ausgelegt werden, hingegen kann eine Zurückhaltung als Indikator dafür gedeutet werden, dass die geschilderte Situation nicht auf wahren Erlebnissen beruht. Die Demonstration von Betroffenheit bei der Technik ›Detaillierte Beschreibung eines singulären Ereignisses‹ kann als Schauspielerei interpretiert werden, entsprechend kann ein Zeigen von wenig Emotionalität als Indiz für nicht Selbsterlebtes gedeutet werden. (6) Die Gewichtung der »falschen« Antworten wird abhängig von Asylbewerbertyp und der Kohärenz der Fluchtgeschichte vollzogen. Das heißt, ist die Fluchtgeschichte insgesamt kohärent oder/und der/die Antragsteller*in als »legitimer« Flüchtlinge vorkategorisiert, stellt es kein Problem dar, wenn z.B. ein Datum, eine Tageszeitung oder der Name eines Flusses nicht genannt werden kann. Wird die Glaubwürdigkeit des/der Antragstellers*in per se angezweifelt, ist jedes Nichtwissen eines Details relevant und spricht für die Unglaubwürdigkeit der Person. (7) Das Prüfungsausmaß ist dem/der Entscheider*in überlassen. Die Überprüfungstechniken werden nicht in jede Anhörung gleichermaßen verwendet. In einigen Fällen werden alle möglichen Überprüfungstechniken herangezogen und in anderen Fällen wird auf den Überprüfungsprozess verzichtet. Das Verzichten auf bestimmte oder sämtliche Prüfungstechniken vs. Verwendung aller hängt von der Einschätzung des/der Entscheiders*in bezüglich der Fallkonstellation ab.

353

Teil VI: Schlussfolgerungen und Empfehlungen

21. Fazit, Schlussfolgerungen und Empfehlungen

In diesem Abschnitt werden die zentralen Erkenntnisse der Studie zusammengefasst und daraus Handlungsempfehlungen abgeleitet, die bei einer zukünftigen Durchführung ähnlicher Forschungsvorhaben berücksichtigt werden könnten bzw. sollten. Zudem folgen praktische Handlungsempfehlungen für die Durchführung der Anhörung. Dann werden einige Untersuchungsbereiche, die im Rahmen dieser Arbeit nicht erschöpfend oder gar nicht bearbeitet werden konnten und das Potenzial für Folgestudien bieten, genannt. Das Kapitel schließt mit einer Einschätzung zur Anhörungspraxis.

21.1

Abschließende Zusammenfassung

Gegenstand dieser Studie ist die Untersuchung von persönlichen Anhörungen im deutschen Asylverfahren. Der Schwerpunkt dieser Arbeit besteht darin, die strukturellen formellen Anhörungsverläufe und die Prozesse der Interaktionsdynamik als bisher unerforschte Interaktion zu erkunden. Anhand von Fallbeispielen konnte gezeigt werden, wie sich die Interaktionsdynamik bei einer Anhörung im Bundesamt entwickelt. Durch die vorliegende Studie erfährt man u.a., wie in Deutschland angehört wird, wie eine Fluchtgeschichte rekonstruiert wird und auf welche Art und Weise die Glaubhaftigkeit der Asylbewerberaussagen und die Glaubwürdigkeit der Antragsteller*innen überprüft wird. Da am Ende jedes Analyseabschnitts eine umfassende Zusammenfassung erfolgt, werden hier nur die zentralen Ergebnisse präsentiert.

21.2

Zentrale Ergebnisse im Überblick

Für die Zielsetzung des Forschungsinteresses wurde die Arbeit in vier Hauptarbeitsabschnitte unterteilt. Jeder Arbeitsabschnitt verfolgte unterschiedliche Forschungsfragen, um gemeinsam das angestrebte Forschungsziel zu erreichen, ein holistisches Bild der Anhörung samt Strukturablauf, Regularität und detaillierten Prozessverlauf anzufertigen. In Teil II wird der Anhörungskontext dargestellt, während im Teil III der Anhö-

358

Die Anhörung im Asylverfahren

rungsverlauf Phase für Phase erfasst und untersucht wurde Im Teil IV und V wurde gezeigt, wie die Fluchtgeschichten rekonstruiert sowie Techniken eruiert werden, die die Glaubhaftigkeit des Geschilderten und die Glaubwürdigkeit der Person fixieren. Analog zu den vier zentralen Arbeitsabschnitten gliedert sich auch die Präsentation der zentralen Befunde in vier Abschnitte.

21.2.1

Ergebnisse zum Anhörungskontext (Teil II)

Die Analyse des Anhörungskontexts zeigte folgende Ergebnisse: •



• •





Schon seit 1929 gab es eine Art Anhörungsgespräch im Rahmen der Ausländeraufnahmepraxis, die von der deutschen Polizei zwischen Asylsuchenden und Beamten der Weimarer Republik vollzogen wurde, um darüber zu entscheiden, ob und mit welchem Status der Ausländer im Land verbleiben darf. Bis 1965 gab es jedoch keine einheitliche prozessuale Asylverfahrenspraxis. Erst seit dem Erlass des Ausländergesetzes am 28.4.1965, das eine einheitliche prozessuale Asylverfahrenspraxis einführte, ist die Anhörung ein Hauptbestandteil des deutschen Asylverfahrens. Allerdings hatte die Anhörung bis 1978 ein anderes Setting als das, welches in dieser Studie präsentiert wird. Es konnte festgestellt werden, dass sich diese Praxis im Laufe der Jahre immer wieder geändert hat. Es wird gezeigt, dass diese Änderungen nicht nur den rechtlichen Rahmenbedingungen geschuldet waren, sondern politische Entscheidungen und politische Haltungen gegenüber bestimmten Asylsuchenden einen Einfluss darauf hatten, wie die Anhörung gestaltet wurde. Zum Beispiel wurden im Zeitraum zwischen 1965 und 1993 mehrere Gesetzesänderungen im Hinblick auf Asylverfahren vorgenommen. Durch die historische Darstellung der Anhörungspraxis konnte gezeigt werden, wie Gesetzesänderungen und die Rechtsprechung der Durchsetzung politischer Interessen dienten. Bis 1978 wurde die Anhörung von einem dreiköpfigen Ausschuss durchgeführt und entschieden, was Beobachtbarkeit und eine gegenseitige Kontrolle garantierten. Die Relevanz der Anhörung wird dadurch verdeutlicht, dass auf der Grundlage der Anhörung über eine der vier Schutzstufen (Politische Verfolgung: (Art. 16a Abs. 1GG), Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 25 (2) AufenthG), subsidiärer Schutz (§ 4 AsylVfG) oder Abschiebungsverbot (§ 60 AufenthG)) entschieden werden soll. Ebenso kann nur auf ihrer Basis der Asylantrag abgelehnt werden. Nicht nur die anwesenden Hauptakteure, wie Anhörer*innen, Asylbewerber*innen und Dolmetscher*innen, die Anhörungsinteraktion gestalten. Vielmehr sind weitere – abwesende bzw. »unsichtbare« – Akteur*innen beteiligt, wie Berater*innen, Anwälte/Anwältinnen, behördliche Vorgaben (Anhörungskatalog und -anweisungen), sowie politische Entscheidungen und mediale Berichterstattungen, die den Anhörungsprozess mittelbar beeinflussen. Aufgrund der Auswertung von unterschiedlichen Interviewdaten (überwiegend Antragsteller*innen-Interviews) ließ sich feststellen, dass es vier verschiedene Asylbewerbertypen gibt. Die vier Asylbewerber sind: Typ I der »Verweilende«, Typ II »der Sichere«, Typ III der »Struggler« und Typ IV der »Hoffnungsvolle«. Diese An-

21. Fazit, Schlussfolgerungen und Empfehlungen



tragstellertypen und ihre Merkmale wurden in den Kapiteln 9.2.2.2.1, 9.2.2.2.2, 9.2.2.2.3 und 9.2.2.2.4 ausführlich beschrieben. Der Analyseschritt zur Herausbildung von Asylbewerbertypen erwies sich als sehr bedeutend, um die Ursachen der Heterogenität in der Anhörungspraxis, trotz der einheitlichen Vorgaben, der einheitlichen Schulungsprogramme, der homogenen Anforderung und der praxisorientierten Handlungsempfehlungen, an denen sich alle Entscheider*innen orientieren sollen, zu erklären. Bei der Darstellung der Anhörungssettings wurden die Entscheider*innen in ihrer Schlüsselposition vorgestellt. Die meisten theoretischen Hauptempfehlungen wie administrative Anweisungen, Leitsätze, praxisorientierte Anweisungen, welche die Entscheider*innen während der Anhörungsdurchführung befolgen sollen, wurden unter ›behördliche Vorgaben‹ zusammengefasst. An solchen Vorgaben wird gezeigt, dass Mitarbeiter*innen im Bundesamt spezielle und anspruchsvolle Anforderungen, bezüglich der Aufgabenerledigung, erfüllen müssen. Zusammengefasst sollen die Entscheider*innen als Behördenangestellte und ›Organverwalter*innen‹ zwischen der bürokratischen Handlungslogik und der Komplexität der Anhörungssituation balancieren können. Dass sich dieses Axiom nicht leicht realisieren lässt und dass daraus mehrere Schwierigkeiten bezüglich der Ausführung der geforderten Vorgehensweise entstehen, wurde anhand von vier Problemlagen gezeigt:

(1) Der Kompatibilität von administrativen Vorgaben und der Nutzung des Ermessensund Handlungsspielraumes und deren Gewährleistungen (a) der Balance zwischen Distanz und Empathie hinsichtlich menschlicher Schicksale (b) dem Einhalten des objektiven Vorgehens als behördliche Ermittlungsinstanz und dem Eingehen auf subjektives menschliches Leid (2) Dem Filterprozess, durch den die emotionsvollen Fluchtgeschichten tatsachenorientiert rekonstruiert, durch den Filtertrichter »asylrelevant« und unter Berücksichtigung der Geschichte in ihrer Gesamtheit gefiltert und bewertet werden müssen.



Im Kapitel »Anhörungscharakteristiken« konnte ich die Festlegung machen, dass nicht nur Asylbewerber*innen, sondern auch die Entscheider*innen institutionellen Zwängen ausgesetzt sind. Die zentralen institutionellen Zwänge, denen die Entscheider*innen ausgesetzt sind, sind Begründungs- und Entscheidungszwänge. Im Laufe der Arbeit, insbesondere in den empirischen Abschnitt (IV) wurde demonstriert, wie diese Zwänge die Handlungen der Entscheider*innen prägen und die Anhörungsprozesse und Interaktionsdynamik beeinflussen. Somit zeigt die Arbeit, dass die Anhörungssituation eine Belastung für alle Interaktionsbeteiligten darstellt. Ohne die bekannten Stressoren, Anforderungen und Erwartungen, denen die Asylsuchenden ausgesetzt sind, zu nennen, sind die Mitarbeiter*innen im Bundesamt auch institutionellen Zwängen sowie speziellen Anforderungen ausgesetzt. Ihre Tätigkeit ist anspruchsvoll und verlangt ein hohes Maß an sprachlicher und kommunikativer Kompetenz, Professionalität und Reflexion.

359

360

Die Anhörung im Asylverfahren

21.2.2

Der Anhörungsverlauf (Teil III)

Im ersten empirischen Arbeitsabschnitt zur Anhörung ist der strukturelle Anhörungsverlauf untersucht worden. Das Augenmerk richtete sich auf die Beschreibung der linearen Abfolge aller Anhörungsphasen. Es wurde auf die funktionale Beschreibung der jeweiligen Anhörungsphase abgezielt. Alle konstitutiven Anhörungsphasen und ihre strategische Organisation sind linear untersucht worden. Dabei wurde der Fragestellung nachgegangen, wie jede einzelne Phase kommunikativ bearbeitet wird und welche institutionellen Zwecke dahinterstehen. Folgende Erkenntnisse aus diesem Arbeitsteil können in aller Kürze zusammengefasst werden: •









Die Vorgehensweise der linearen Untersuchung hat es ermöglicht, eine Struktur der Anhörung als Ablaufmodell zu erfassen und ein Grundmuster für das Anhörungsgespräch zu entwickeln. Das Anhörungsgespräch ist generell als lineares Modell zu verstehen, weil die Phasen bis ins kleinste Detail, mit Ausnahme der Phase der allgemeinen Glaubwürdigkeitsprüfung, stark an vorausgehende oder nachfolgende Aufgaben gebunden sind. Jede Phase und jede Einzelsequenz hat ihren eigenen Zweck, die in dieser Reihenfolge aufeinander aufbauend, dazu dienen sollen, die institutionelle Anhörungszielsetzung, nämlich eine »Entscheidung über den Asylantrag« treffen zu können, zu gewährleisten. Dadurch lässt sich zeigen, dass die Funktionen der Einzelsequenzen nicht mit der Erfüllung ihres Zwecks beendet sind, sondern in einer Verkettung mit den anderen kommunikativen Phasen einer Abfolgelogik folgen und linear aufeinander aufbauen. Durch den Vergleich meiner Daten mit den Berichten in der Literatur über ältere Anhörungen oder Angaben von Anwälten zu den Anhörungen im zeitlichen Vergleich, konnte eine Entwicklung in der Anhörungsdurchführung festgestellt werden, die tendenziell zugunsten des Asylsuchenden verstanden werden kann (vgl. Anhörungsmitte, insbesondere die Phase »Fragen zum Reiseweg«). Der Abhörungsverlauf ist institutionsspezifisch und die Interaktionsbedingungen konstituieren die Interaktionssituation. Alle Beteiligten, Anhörer*innen wie auch Antragsteller*innen und Dolmetscher*innen müssen bestimmte handlungsnotwendige Aktivitäten durchführen, wie Fragen zu stellen, zu übersetzen, Frage-Antwort-Übersetzung durchzuführen, Protokoll zu führen, dem Asylsuchenden die Protokollrückübersetzung anzubieten und das Protokoll von dem/der Antragsteller*in unterschreiben zu lassen. Abschließend wird im Kapitel III festgehalten, dass aufgrund der vorliegenden Studienergebnisse für die Anhörung ein generalisierbares, institutionsspezifisches Ablaufmodell postuliert werden kann.

21.2.3

Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten (Teil IV)

An die Analyse des Anhörungsverlaufs schließt sich im zweiten empirischen Teil die Untersuchung von Fluchtgeschichten, ihre Definition und ihre Rekonstruktionsprozesse an. Zentrale Erkenntnisse im Überblick:

21. Fazit, Schlussfolgerungen und Empfehlungen







• •







Es wurde festgestellt, dass die Fluchtgeschichte mehr als eine Erzählung über vorangegangene Verfolgungsgeschehnisse ist. Sie ist eine Geschichte, an deren Inhalte und Rekonstruktionsart behördlich formale wie auch inhaltliche Erwartungen gestellt werden. Die Fluchtereignisse müssen in eine mit der Institution konform gehende Erzählung umgewandelt werden, um die Chance auf Asylgewährung zu erhöhen. Sie ist eine Geschichte, deren Schilderung institutionellen Kriterien unterliegt und deren Bewertung ein Institutionalisierungsprozess zugrunde liegt. Eine Fluchtgeschichte nach institutionellen Kriterien zu erzählen fordert von dem/der Asylbewerber*in eine hohe Darstellungskompetenz, wie kreative und kognitive Konkretisierungsleistungen, Selektionen und Umorganisationen des Geschehens. Er/Sie sollte die Fluchtgeschichte plausibel, chronologisch, in sich stimmig und detailreich erzählen, sie für das Verfahren in wichtige und unwichtige Aspekte kategorisieren und Akzente auf die verfahrensrelevanten Sachverhalte setzen können. Durch weitere Analyseschritte wurde festgehalten, dass die Fluchtgeschichten im Diskurs oft durch verschiedene Darstellungsformen (Erzählen, Berichten, Beschreiben, Vortragen, berichtende und argumentative Darstellung usw.), insbesondere durch die Muster »erzählende Darstellung« und »funktionalisiertes Erzählen«, vermittelt werden. Darauf folgt die Untersuchung der Forschungsfrage: die Rekonstruktion der Fluchtgeschichte. Im Ergebnis wurde festgehalten, dass die Rekonstruktion von Fluchtgeschichten keineswegs nur Sache des/der Asylbewerbers*in ist, die von ihm/ihr mittels der narrativen Konstruktion vergangener Geschehnisse rekonstruiert wird. An ihrer Rekonstruktion sind sowohl Asylbewerber*innen als Hauptakteur*innen als auch die Anhörenden in einem bestimmten Ausmaß beteiligt. Es wurde durch mehrere Beispiele gezeigt, dass die Beteiligung des Anhörenden einen starken Einfluss auf die (Re)Konstruktion der Fluchtgeschichte hat. Seine Beteiligung kann erzählfördernd oder erzählhemmend sein. eine Geschichtenrekonstruktion im Asylverfahren einen interaktiven Akt darstellt und eine stetige Kooperation erfordert, damit der Sachverhalt vollständig ermittelt werden kann. Fehlt die Kooperation bei einem Anhörungsbeteiligten, wird der Sachverhalt nur partiell oder verzerrt rekonstruiert. durch wechselseitige Abhängigkeiten vom Erzählverhalten der Antragssteller*innen, ihrem Typus, den Befragungsstilen de Entscheider*innen und ihre Einstellungen zu ihren Aufgaben, unterschiedliche Fallkonstellationen entstehen, die wiederum die Art und Weise der Rekonstruktion von Fluchtgeschichten beeinflussen. Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten fallkonstellationsabhängig sind. Da die Fallkonstellationen aufgrund der vielfältigen soziokulturellen und politischen Aspekte heterogene Anhörungssettings sind, können die Fluchtgeschichten nicht mit den gleichen Methoden rekonstruiert werden. Es wurden sechs Rekonstruktionsverfahren abstrahiert und in Eigenbegriffen formuliert:

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Die Anhörung im Asylverfahren (1) (2) (3) (4) (5) (6)

Einaktantige, kontinuierliche Darstellung Einaktantige, diskontinuierliche Darstellung  Segmentierende Rekonstruktionsverfahren Ko-Rekonstruktion mit gleichberechtigter Interaktionsdynamik Elizitierende Rekonstruktionsverfahren Kooperative Sortierung der Fluchtereignisse

Angemerkt wird, dass sich die Unterscheidungskriterien der Rekonstruktionsverfahren nicht auf die Geschichteninhalte beziehen, sondern auf die Art und Weise, in der die Fluchtgeschichte rekonstruiert wird und welche kommunikativen Ressourcen die Interaktanten dafür einsetzen. •





Es wurde aufgezeigt, dass die Rekonstruktionsverfahren nicht planlos entstehen, sondern methodisch systematischen Techniken folgen, die sich voneinander unterscheiden. Jedes Verfahren entsteht in einer bestimmten Konstellation (Asylbewerbertyp, Interesse, Erzählkompetenz, Befragungsstrategie usw.). Gemäß der Situationslage entwickelt sich ein Rekonstruktionsverfahren, das sich durch bestimmte Merkmale von anderen Verfahren abhebt. Im Hinblick auf drei Bewertungskategorien, die nicht wiederholend genannt werden sollen, wurden diese Rekonstruktionsverfahren untereinander verglichen und bezüglich der Fragstellung bearbeitet, welches Verfahren für die institutionellen Anhörungszwecke am besten geeignet wäre. Dabei kam ich zum Ergebnis, dass das jeweilige Verfahren auf seine Eignung hin nur im Kontext aller Konstellationsgefüge beurteilt werden kann und dass für jedes Rekonstruktionsverfahren Vor- und Nachteile genannt werden können. Möchte man jedoch die sechs Rekonstruktionsverfahren, objektiv betrachtet und unabhängig von weiteren Konstellationsgefügen hinsichtlich des methodischen Vorgehens bewerten, so lässt sich feststellen, dass das vierte Rekonstruktionsverfahren ›Ko-Rekonstruktion mit gleichberechtigter Interaktionsdynamik‹ methodologisch betrachtet am besten für die Erfüllung des Anhörungszwecks und für die Rekonstruktion von Fluchtgeschichten geeignet ist. Sein Wert besteht vor allem darin, dass es zu vollständiger Darstellung und Herstellung von Kohärenz anregt, da die Interaktion zwischen Anhörer*innen und Antragsteller*innen kooperativ ist. Die frei erzählten Fluchtgeschichten werden durch ergänzende Fragen verdichtet und das entsprechend produzierte Prüfungsmaterial für den Verhandlungsprozess genutzt.

21.2.4

Glaubwürdigkeitsüberprüfung (Teil VI)

Nach der Untersuchung von Fluchtgeschichten und der Auseinandersetzung mit ihren unterschiedlichen Rekonstruktionsverfahren folgt die Untersuchung der Forschungsfrage, wie der Glaubwürdigkeitsprüfungsprozess durchgeführt wird und welche Prüfungstechniken die Anhörer*innen einsetzen, um die Glaubhaftigkeit der Asylbewerberaussagen zu überprüfen. Zentrale Erkenntnisse sind im Überblick:

21. Fazit, Schlussfolgerungen und Empfehlungen





Die Glaubwürdigkeitsbeurteilung der Asylbewerber*innen im Asylverfahren ist aufgrund der eingeschränkten materiellen Überprüfungsmöglichkeiten sehr schwierig. Deshalb verfolgen die Entscheider*innen jede Spur, die eine Glaubhaftigkeitsbeurteilung begünstigen könnte. Es gibt kein Standardprogramm für die Glaubhaftigkeitsprüfung, das in jedem Fall durchgeführt wird. Trotzdem konnten aufgrund des genauen Studierens der Materialdaten systematische Prüfungsvorgänge und Überprüfungskategorien herausgearbeitet werden, die mittels unterschiedlicher Befragungstechniken die Glaubwürdigkeit der Antragsteller*innen zu überprüfen versuchen: (a) interne Kohärenzprüfung der Fluchtgeschichte (b) externe Kohärenzprüfung der Fluchtgeschichte (c) übergreifende, außertextuelle Indikatoren zur Prüfung von äußeren Fakten.

Bei der Überprüfungskategorie (a), der internen Kohärenzprüfung, wird die interne Logik und Nachvollziehbarkeit der Asylbewerberaussagen, ihre Konsistenz vs. Widersprüchlichkeit geprüft. Die Inhalte der Aussagen und die Erzählweise über die Fluchtereignisse werden hinsichtlich ihrer sachlichen Aspekte durch fünf Techniken geprüft: (1) (2) (3) (4) (5)

Überdehnung der narrativen Detaillierung Detaillierte Beschreibung eines singulären Ereignisses Kontrastierung von Aussagen Spontanität der Darstellung Vergleich von Angaben über denselben Sachverhalt zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Asylverfahren



Bei der externen Kohärenzprüfung beschäftigen sich die Entscheider*innen mit der Plausibilität der Gesamterzählung und bewerten ihre Kohärenz durch Einschätzung des Wahrscheinlichkeitseintrittes der Ereignisse im Gesamtkontext. Für die externe Kohärenzprüfung werden die Erkenntnisquellen sogenannter Alltagslogik und Alltagstheorie verwendet. Für diese Überprüfungskategorie werden folgende Techniken verwendet:

(1) Imagination der Situationsverläufe (2) Normalitätsfolie als Bewertungsmaßstab (3) Stimmigkeit der Einzeldetails



Die dritte Überprüfungskategorie beinhaltet jene Prüfungstechniken, die nicht die Plausibilität von Fluchtereignissen oder die Aussagequalität prüfen, sondern nebensächliche Auskünfte abfragen, die zwar nicht direkt mit den Verfolgungsereignissen zu tun haben, aber zur Feststellung der allgemeinen Glaubwürdigkeitsbeurteilung beitragen können. Dabei wird versucht u.a. lokale umweltsituative Fakten und Kenntnisse über die Lebensumstände zu erfassen, durch die geprüft wird, ob

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Die Anhörung im Asylverfahren

der Antragsteller*innen aus dem angegebenen Land kommt. Für diesen Prüfungsvorgang werden Fragetechniken zu folgenden Themenbereichen eingesetzt: (1) Geographisches Wissen (2) Allgemeines Wissen über die Lebensumstände im Herkunftsland (3) Spezifisches Faktenwissen, das eine dort lebende Person haben sollte



In der Arbeit wurde zum einen detailliert dargestellt, wie die oben genannten Techniken ausgeführt werden, zum anderen wird beschrieben, wie abgefragt wird, um das Befragungsziel zu erreichen. Ebenso wurden die Prüfungszwecke und die Grundannahmen, die hinter den Prüfungstechniken stehen, erörtert.

Folgende Erkenntnisse können über die Überprüfungstechniken festgehalten werden: • Die Überprüfungsvorgänge sind keine willkürlich subjektiven Prozesse, die jeder/jede Entscheider*in nach seinen/ihren eigenen Regeln vollzieht. Sie verlaufen weitestgehend nach bestimmten Prinzipien, die mit genauem Studieren des Materials zum großen Teil determiniert werden konnten. • Die oben genannten Überprüfungstechniken werden nicht homogen in allen Anhörungen eingesetzt. Dennoch folgt ihre Anwendung keinem Zufallsprinzip. Denn es wurde ersichtlich, dass bestimmte Techniken in bestimmten Konstellationen für bestimmte Asylbewerbergruppen verwendet werden. In jeder Anhörung, die unter den gleichen Bedingungen geführt wird, treten meistens dieselben Prüfungstechniken auf. • Der Prüfungsgrad, wie viel und wie intensiv gefragt wird, hängt von Asylbewerbertypen, ihrer Fluchtgeschichte und dem Interesse der Anhörenden, den Sachverhalt zu ermitteln, ab. • Es wurde untersucht, ob bestimmte Vorgehensweisen für die Prüfungsprozesse systematisch und wiederholend vorkommen, so dass in der vorliegenden Studie Prüfungstechniken typologisch strukturiert werden konnten und als signifikante Verfahren für die Glaubwürdigkeitsüberprüfung in der deutschen Asylanhörung festgehalten und verallgemeinert werden konnten. Folgende Erkenntnisse wurden gewonnen: (a) Die Prüfungstechniken sind wiederkehrende Maßnahmen in einer bestimmten Vorgehensweise und folgen einem Prüfungssystem, das je nach Asylbewerberkonstellation und dem zu bearbeitenden »Fall« variiert und flexibel anpassen lässt. (b) Die Prüfungsprozesse und die dafür angewandten Techniken werden so systematisch und wiederholend bei ähnlichen Fallkonstellationen verwendet, dass von einer Verallgemeinerung der Prüfungstechniken, die in dieser Arbeit präsentiert werden, ausgegangen werden kann. • Abschließend wurde geprüft, welche Technik zum entscheidendsten Indikator für das Zuschreiben oder Absprechen der Glaubwürdigkeit der Person führt. Dabei wurde folgendes Ergebnis erzielt: Da die Glaubwürdigkeit der Person objektiv schwer zu bestimmen ist, sind alle Techniken gemeinsam entscheidend, die Be-

21. Fazit, Schlussfolgerungen und Empfehlungen

wertungsunsicherheiten zu minimieren. Jedoch spiegelt sich die Abstufung der Bewertung in der Ordnung der Prüfungskategorie wider. Das heißt, sobald das Innengewebe der Erzählung stimmt, ist der erste Prüfungsabschnitt beendet. Es folgt die externe Kohärenzprüfung und schließlich die letzte Überprüfungsphase, die mit dem geringsten Schwierigkeitsgrad verbunden ist, weil sie Anhaltspunkte zur Überprüfung von Fakten durch Nachforschen (u.a. Datenbank) bietet.

21.2.5

Weitere Erkenntnisse

Neben den schon genannten Ergebnissen werden folgende Erkenntnisse folgende Erkenntnisse hervorgebracht: Die Rekonstruktions- und Überprüfungsverlaufsprozesse unterscheiden sich in jeder Anhörung, je nach Antragstellerlage und weiteren fallbezogenen Anforderungen. Gleichzeitig weist die Anhörung eine homogene Verlaufsstruktur auf. Die formelle Anhörungsstruktur wird in Form eines vorgegebenen Fragenkatalogs einheitlich und verbindlich abgearbeitet. Das heißt, trotz aller Unterschiede in den Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten und der Verwendung von unterschiedlichen Techniken für die Glaubhaftigkeitsprüfung der Antragstelleraussagen werden die ritualisierten Phasenabschnitte einer Anhörung (Abbildung 4) in jeder Fallanalyse eingehalten. Dadurch lassen sich die Thesen ableiten, dass (a) das strukturelle Ablaufmodell (Ergebnis Teil III.) und der Anhörungsfragenkatalog die Weichenstellungen für die Anhörung bilden, (b) sie verbindliche homologe Muster für das Anhörungsgespräch darstellen, die in jeder Anhörung erwartbar sind und (c) die Art und Weise der prozessualen Anhörungsinteraktion hingegen situationsabhängig ist und nicht im Voraus festgelegt werden kann, sondern sich im Anhörungsprozess ergibt. Somit weist jede Anhörung eine Eigendynamik auf, die erst im Ergebnis der Analyse von Interaktionsprozessen und des Erfassens von Unberechenbarkeiten und Überraschungsmomenten, die in der Folge des Agierens und des aufeinander Reagierens der Anhörungsakteur*innen entsteht, feststellbar ist.

21.3

Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Da die Arbeit nicht problemzentriert gestaltet ist, sondern sich als Bestandsaufnahme und Abbildung von Anhörungsinteraktionen, so wie sie im Bundesamt vollzogen werden, versteht, ist ihre Aufgabe nicht darin zu sehen, auffällige Problembehaftungen zu diskutieren und Lösungsvorschläge oder Reformkonzepte anzubieten. Jedoch kann auf der Grundlage der Befunde ein lösungsorientierter Beitrag zum zentralsten Thema des Asylverfahrens »Anhörung« geleistet werden. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Studie können folgende Empfehlungen formuliert werden, um möglicherweise Prozesse im Asylverfahren für alle Verhandlungsbeteiligten angenehmer und stressfreier durchzuführen. Jede Feststellung wird benannt und auf der Grundlage des Befundes eine Empfehlung dazu gegeben.

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Die Anhörung im Asylverfahren

21.3.1 •













Handlungsempfehlungen

Aufgrund der Erkenntnis, dass nicht jeder/jeder Asylbewerber*in Asyl begehrt, sollte überlegt werden, ob für Menschen, die kein Asyl begehren, andere Wege oder andere Anhörungsprozesse ermöglicht werden könnten. Dies würde vermeiden, dass menschliche und materielle Ressourcen unnötig beansprucht würden, die eingesetzt werden müssen, um bei jedem Fall eine Pro-Forma-Anhörung mit all ihren bürokratischen Prozessen und Vorgängen (Antragstellen, Anhören, Entscheidung treffen, eventuell Widerspruch einlegen) zu vollziehen. Der Druck des Begründungszwanges und die alleinige Verantwortung für die Anhörungsdurchführung, die auf einem*r einzigen Anhörer*in lastet, erscheinen mir in dieser komplexen Angelegenheit als äußerst belastend, auch wenn dieses nicht für jede Anhörung gesagt werden kann. Einige Entscheider*innen gaben in Interviews an, dass die Anhörungsdurchführung eines »Spagats« zwischen Sachlichkeit und Empathie, Einhalten des objektiven Vorgehens als behördliche Ermittlungsinstanz und dem Eingehen auf subjektives menschliches Leid bedarf, welcher oftmals schwer durchzuführen ist. Eine Entscheidung über den Antrag zu treffen und eine überzeugende Begründung dafür zu liefern, stellt in diversen Fällen einen schwierigen Prozess dar. Hier sollten Ansätze entwickelt werden, wie diese Verantwortung bzw. Belastung im Interesse der Antragsteller*innen und Entscheider*innen, geteilt werden könnte. Vieraugenprinzip hat sich im schwedischen Verfahren etabliert. Eine Übernahme in Deutschland könnte die Entscheider/innen entlasten und die Entscheidungen stärken. Das müsste nicht zwingend für alle Anhörungen gelten, sondern beispielsweise ausschließlich in den Fällen, in denen die Asylwerber*innen die Vermutungsregel überwinden müssen (Asylbewerbertyp III). Bezüglich der Rekonstruktion von Fluchtgeschichten, als Hauptbestandteil der Phase des Anhörungskerns wird aus methodologischer Sicht das Rekonstruktionsverfahren 4 als die effektivste Rekonstruktionstechnik empfohlen; die Gründe dafür wurden bereits erörtert. Unterbrechungen während der Erzählung der Fluchtgründe sollten vermieden werden. Sie sind in der Regel dem Anhörungszweck nicht dienlich. Sie unterbrechen den Erzählstrom und können dazu führen, dass der/die Asylsuchende den chronologischen Erzählfaden verliert. So gelangt man schnell bei der Frage der Glaubwürdigkeit. In welchen Situationen Unterbrechungen unvermeidlich und sogar nützlich sind, wurde in der Arbeit diskutiert. Den Antragsteller*innen sollten nicht überlassen werden, selbst asylrelevante Gründe von asylirrelevanten Gründen unterscheiden zu müssen. Sie kennen die Kriterien, auf deren Grundlage diese entscheidenden Aspekte bewertet werden, oftmals nicht. Die Anhörer*innen sollten die Generierung von asylrelevanten Gründen gewissenhaft als ihre Aufgabe ansehen. Aufgrund des Befundes, dass die Prüfungstechniken keine sicheren Testmethoden darstellen, sondern lediglich Hilfsmittel für die Entscheider*innen sind, denen jegliche Nachweise fehlen, die Glaubwürdigkeitsbeurteilung einer ihnen unbekannten Person zu vollziehen, sollte sich das Bundesamt der Risiken der Fehlinterpretatio-

21. Fazit, Schlussfolgerungen und Empfehlungen



nen durch Entscheider*innen und des Schwierigkeitsgrades der Glaubhaftigkeitsprüfung bewusst sein. Folglich sollten die Entscheider*innen über die Vermittlung eines theoretischen Moduls zur Glaubwürdigkeitsbeurteilung hinaus umfangreich praxisbezogen geschult werden. Dass es außer den genannten Prüfungstechniken kaum andere Methoden für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung gibt, ist zwar dem Asylverfahrenscharakter geschuldet, jedoch kann die praktische Ausführung der Techniken hinterfragt werden. Die Anwendung der Überprüfungsstrategien ist dahingehend zu kritisieren, dass die Asylbewerber*innen die Grundannahmen, die hinter den ihnen gestellten Fragen stehen, nicht kennen und deshalb meist nicht entsprechend der Erwartung der Anhörer*innen reagieren und antworten. Dabei sind in diesem Prozess die von den Anhörenden erwarteten Auskünfte entscheidend, um eine Beurteilung über die Glaubhaftigkeit der Asylbewerberaussagen zu treffen. Meine Empfehlung bezieht sich deshalb auf die praktische Durchführung der Prüfungstechniken. Dadurch, dass jede Überprüfungstechnik ganz bestimmte Aspekte testen soll, konzentrieren sich die Anhörer*innen auf bestimmte Angaben, die sie von dem/der Asylbewerber*in erwarten, bei deren Ausbleiben die Glaubwürdigkeit des/der Antragstellers*in negativ bewertet werden könnte. Aus diesem Grund sollten die Anhörer*innen klarstellen, worauf sie mit einer Frage in dem Prüfungsmodus abzielen und was genau sie wissen wollen. So könnten die Befragten beispielsweise dahingehend mitgeteilt, ob eine Detaillierung, Präzisierung oder eher eine Bestätigung einer Angabe erwartet wird und bis zu welchem Grad eine Detaillierung erforderlich ist.

21.3.2







Allgemeine Empfehlungen auf Basis der Beobachtung und Auswertung von Interviews

Da die Anhörung ein gedolmetschtes Gespräch ist, ist es oft schwierig, den Blickkontakt zwischen Mitarbeiter*in und Asylbewerber*in aufrechtzuerhalten. Es ist jedoch von Bedeutung, dem/der Asylbewerber*in beim Sprechen zuzusehen. Um einen Beitrag zu Verminderung von Missverständnissen bei der Übersetzung zu leisten, sollte den Dolmetscher*innen, wenn keine gezielte Ausbildung möglich ist, zumindest eine Einführung in die Fachlexik erteilt werden. Von Vorteil wäre, wenn das Bundesamt ein Glossar für militärische, juristische, medizinische Begriffe und Grundbegriffe zum Rechtssystem in unterschiedlichen Sprachen herausgeben würde oder die Dolmetscher*innen dazu angehalten wären, sich diese Begriffe anzueignen. Grund hierfür ist, dass mehrere Anwälte/Anwältinnen die Ungenauigkeit von Begriffen bei der Übersetzung bemängelten, da diese erhebliche Folgen auf die Einschätzung der gesamten Fluchtgeschichte haben kann. Ein/Eine Asylbewerber*in kann schnell aufgrund von Ungenauigkeiten bei der Übersetzung in Inkohärenzen bezüglich seiner/ihrer Angaben geraten. Viele Antragsteller*innen klagten über Spannungen zwischen ihnen und den Dolmetscher*innen und äußerten ihre Sorge und Zweifel daran, dass die Dolmetscher*innen ihre Botschaft vermitteln könnten oder überhaupt wollten. Aufgrund

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Die Anhörung im Asylverfahren

der beobachteten Spannungen und der Sorge darüber, ob die Dolmetscher*innen die Angaben der Antragsteller*innen korrekt vermittelt (BP: 7 und BP: 12), wird folgendes vorgeschlagen: Obwohl nach § 23, 1 des VwVfG die Amtssprache Deutsch ist, könnte der Austausch am Beginn der Anhörung, wenn von dem/der Antragsteller*in erwünscht und seitens des/der Entscheiders*in möglich ist, in einer Sprache geführt werden, die sowohl der/die Asylbewerber*in als auch der/die Entscheider*in verstehen. Damit würde gewährleistet werden, dass der/die Antragsteller*in sich, wenn er/sie dem/der Dolmetscher*in misstraut, direkt an den/die Anhörer*in wenden könnte. Das gäbe dem/der Antragsteller*in die Zuversicht, bei heiklen Fragen, bei denen Unsicherheiten bezüglich der Übersetzung auftreten oder Misstrauen gegenüber dem/der Dolmetscher*in besteht, direkt mit dem/der Entscheider*in kommunizieren zu können. In den Anhörungen 2,7 und 12 griffen die Asylbewerber*innen bei bestimmten Fragen auf Englisch zurück, um sicherzustellen, dass sie verstanden werden. Im Folgenden werden Empfehlungen für das methodologische Vorgehen vorgeschlagen.

21.3.3

Empfehlungen für Folgestudien

Der vorliegende Studie hat mehrere Erkenntnisse gebracht, die m.E. Potenziale für Folgestudien bieten. In Folgestudien können beispielsweise folgende Befunde dieser Studie einer intensiveren Untersuchung unterzogen werden: •



Im Hinblick auf die Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten könnte mit den Anhörer*innen der Frage reflektiv nachgegangen werden, ob die in der Arbeit dargestellten Rekonstruktionsverfahren die Arbeitsweise der Entscheider*innen realistisch widerspiegeln und was bei der Beschreibung eventuell noch nicht berücksichtigt wurde. Die Mitarbeiter*innen des Bundesamts sollten danach befragt werden, welche/n Rekonstruktionstypen sie überwiegend selbst verwenden sowie nach den Gründen für diese Wahl. Aufgrund dieses Verfahrens würden die Anhörer*innen eventuell selbst die Mängel, die einigen Rekonstruktionsverfahren innewohnen, kritisch reflektieren oder für entsprechende Problematiken sensibilisiert werden. Das vierte Rekonstruktionsverfahren könnte als Modell für eine optimale Anhörung weiterentwickelt und in Schulungsprogramme für Entscheider*innen aufgenommen werden. Die aufgezeigten Techniken zur Prüfung der Glaubwürdigkeit bieten Anknüpfungspunkte für Folgestudien. Mithilfe einer Befragung der Entscheider*innen könnte bspw. ermittelt werden, ob sie mit diesen Prüfungstechniken ausreichende Informationen zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit generieren können. Es kann durch Reflektion der Überprüfungstechniken in Erfahrung gebracht werden, ob sie wirklich zweckdienlich sind oder ob vielleicht die eine oder andere Technik als überzogen und/oder als nicht zweckdienlich angesehen werden sollte und zu welchem Grad sie der Verbesserungen bedürfen. Dadurch kann der Zweck jeder Überprüfungstechnik nochmals reflektiert werden. Dabei sollten eventuell einige Entschei-

21. Fazit, Schlussfolgerungen und Empfehlungen



der*innen ihre eigenen Testmethoden darstellen. Durch diese Reflektion wären Verbesserungsvorschläge zur Glaubwürdigkeitsprüfung möglich, die mithilfe der Entscheider*innen erarbeitet werden könnten. Darüber hinaus könnten die Anhörer*innen danach gefragt werden, inwieweit die in der Studie dargestellten Asylbewerber*innentypen mit der Realität übereinstimmen. Umfasst die Kategorisierung alle Antragsteller*innen? Gestalten die Anhörer*innen die Anhörung gemäß dem Typ des/der Asylbewerbers*in, wie in der Arbeit postuliert wird? Wie hoch schätzen die Anhörer*innen den Anteil des Asylbewerbertyps 1 »der Verweilende« ein? Hier wäre sinnvoll, eine Statistik über die Anzahl des Asylbewerbertyps 1 zu erstellen. Bei vertieften Untersuchungen bezüglich der Asylbewerbertypen, insbesondere des Asylbewerbertyps 1 »der Verweilende«, könnte die Absurdität des mutmaßlichen Anhörungsspiels in bestimmten Anhörungskonstellationen aufgedeckt werden. Daraufhin könnten Wege gezeigt werden, wie das »Anhörungsspiel« umgangen werden kann und ob es andere Möglichkeiten für die Aufnahme dieser Menschengruppe gäbe.

Auf diese Weise (Befragung und anschließende Reflektion der Entscheider*innen über die Arbeitsergebnisse) würden die bisher durchgeführten Bestandsaufnahmen, bei denen die Innenwahrnehmung der Bundesamtsmitarbeiter nicht erfasst werden konnte, sinnvoll ergänzt werden. Aufgrund dieser Ausgangslage wären schließlich Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Anhörungsdurchführung möglich und ggf. eine Weiterentwicklung der Befragungsmethoden umsetzbar.

21.3.4

Reflexion über die methodologische Vorgehensweise

Die Dissertation ist methodologisch u.a. kennzeichnet durch: (a) Interdisziplinarität, durch die jedes für die Studie wichtige Phänomen aus verschiedenen Blickwinkeln untersucht wird, wodurch ermöglicht wird, die Anhörung aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, (b) material- und datengestützten Analysen sowie ein hypothesenfreies Vorgehen, (c) das Anstreben einer durch dichte Beschreibung realistischen Bestandsaufnahme der Anhörung als Forschungskonzept, (d) die Zielsetzung, Strukturen und Regelmäßigkeiten in Anhörungsgesprächen zu identifizieren und die Handlungsprozesse zu systematisieren und (e) die Anwendung mehrerer Methoden zur Datenerhebung und zur Analyse. Die Arbeitsergebnisse lassen die disziplinübergreifende Untersuchungsvorgehensweise als das methodologisch geeignete Verfahren zum Erreichen der Forschungsziele identifizieren. Trotz des Vorbehalts, dass die Abbildungen der Anhörungsverhandlung lediglich aus meinen Materialdaten herausgebildet wurden und somit meiner Interpretation und meinem Abstraktionsprozess unterlagen, liefern sie in Bezug auf den Anhörungsverlauf, die Rekonstruktionsverfahren sowie die Prüfungstechniken der Glaubwürdigkeit der Antragsteller*innen, aussagekräftige Erkenntniskategorien über die Anhörung im deutschen Asylverfahren. Darüber hinaus werden alle im Material vorzufindende Prüfungstechniken in unterschiedliche Prüfungskategorien gegliedert, typologisch strukturiert und als allgemeingültig präsentiert. Außerdem berücksichtigt die Studie die Perspektive der Asylbewerber*innen hinsichtlich der Anhörung, wodurch zu der Feststellung gelangt werden konnte, dass es verschiedene Asyl-

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Die Anhörung im Asylverfahren

bewerber*innentypen gibt. Darauf folgen Erkenntnisse darüber, wie der Anhörungsverlauf vom jeweiligen Asylbewerber*innentyp bestimmt wird. Um zu solchen Ergebnissen zu gelangen und um fundierte Aussagen wie die oben beschriebenen Befunde zu formulieren, erweist sich die Datendiversifikation (Aktenanalyse, Interviews mit den verschiedenen Akteur*innen, teilnehmende Beobachtung und Konservierung von Anhörungen durch Beobachtungskontrolle, ständiger Austausch mit befragten Personen usw.) und die entsprechende Methodendiversifikation (qualitative Inhalts- und Dokumentenanalyse, dokumentarische Methode, ethnographische Gesprächsanalyse und prozessuale Interaktionsanalyse) als empfehlenswerte Methode. •





In einer Anhörungsverhandlung findet mehr statt als nur das, was in den Akten (Anhörungsprotokolle und Asylbescheide) zu finden ist. Selbst akustische Aufnahmen von Anhörungen geben die Interaktionsprozesse nur bedingt wieder. Es fehlt der Kontext, also jegliche Hintergründe oder auch die Vorgeschichte der Anhörungssituation. Dabei hat jede Anhörung hinter den Kulissen ihre Vorgeschichte, die die durchzuführende Anhörung prägen. Deshalb reicht es aus meiner Sicht nicht aus, eine bloße Aktenanalyse zu betreiben, akustische Aufnahmen zu analysieren oder Interviews auszuwerten, wenn es zu umfassenden Erkenntnissen über die Beschreibung der Interaktionsverläufe und der Interaktionsdynamik von Anhörungen kommen soll. Deshalb wird a) die Berücksichtigung der Anhörungsethnographie, die nur über b) Datendiversifikation erreicht werden kann, dringend empfohlen. Ich habe postuliert, dass die Priorisierung der einen oder anderen Befragungstechnik seitens der Bundesamtsmitarbeiter*innen nicht willkürlich, sondern fallbezogen ist. Es wurde gezeigt, dass die Anhörer*innen bei ihrer Auswahl eine für die anzuhörende Person passende Befragungstechnik wählen, die sich auf das Erzählverhalten der Antragsteller*innen auswirken kann oder aufgrund des Erzählverhaltens der Antragsteller*innen gewählt wurde. Dabei wurde angemerkt, dass die Hintergründe, die für die Anwendung einer priorisierten Befragungstechnik sprechen, nicht eindeutig anhand aus sprachlichen Handlungen zu schließen sind. Um dieses feststellen zu können, reicht es nicht, den Anhörungsverlauf zu beobachten oder authentische Aufnahmen von Anhörungsgesprächen auszuwerten. Vielmehr ist erforderlich, ethnographisches Vorfeldwissen über jeden Einzelfall und über die Asylbewerberlage (Typ, Interesse, Ziele) zu haben. Denn nur auf Basis dieses Hintergrundwissens kann festgestellt werden, dass die Anhörer*innen die Verwendung eines Rekonstruktionsverfahrens von Fluchtgeschichten und Überprüfungsprozesse der Glaubwürdigkeit nicht unabhängig von der Fallkonstellation (Asylbewerbertyp) favorisieren. Abschließend kann festgehalten werden, dass der Analyseweg, der auf Datendiversifikation, Methodenkombination und Interdisziplinarität beruht, nicht leicht umsetzbar ist. Er kann aber mit Sicherheit für weitere Arbeiten mit ähnlichem Forschungsvorhaben und unter gleichen Untersuchungsbedingung (ohne die Zusammenarbeit der zu untersuchenden Institution) als lohnenswert für die Generierung von fundierten Erkenntnissen weiterempfohlen werden. Bestünde die Gelegenheit, zu den verschiedenen Daten zusätzlich akustische Aufnahmen von den zu untersu-

21. Fazit, Schlussfolgerungen und Empfehlungen

chenden Anhörungen zu generieren, würde ich dringend dazu raten, diese Datenquelle einzubeziehen. Ihr Fehlen soll jedoch das Forschungsvorhaben nicht verhindern, wie diese Arbeit demonstriert.

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Persönliches Schlusswort

Insgesamt eröffnet das vorliegende Forschungsprojekt neue Einblicke in die Praxis der Anhörungen im deutschen Asylverfahren. Die empirischen Befunde bieten die Möglichkeit auf wissenschaftlicher Basis prozessuale und strukturelle Einblicke in die institutionell geprägten und nicht-öffentlichen Anhörungsgespräche zu gewinnen, theoretische Grundlagen für das Grundmuster der Anhörung zu erhalten und schließlich Aufschlüsse über die Interaktionsdynamik zu bekommen. Die Studienergebnisse leisten eine explorative, dichte Dokumentation der Anhörungspraxis, welche durch eine interdisziplinäre Vorgehensweise in der Untersuchung erzielt wurden. Zudem lassen sich daraus bereits vorhandene Probleme identifizieren, es wurden Kritikpunkte aufgezeigt und Handlungsempfehlungen erarbeitet. Ich verstehe die Studienergebnisse als Bestandsaufnahme und Zwischenschritt zur Illustration der Anhörungspraxis.

Verzeichnisse

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Die Anhörung im Asylverfahren

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Die erste Publikation 2013a ist in der Online-Publikation

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UNHCR (Hg.) (2003): Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge. verfügbar unter: https://www.refworld.or g/docid/4023d8df4.html (12.10.2017). UNHCR(1995): Interviewing Applicants for Refugee Status (RLD 4) – UNHCR 1995; verfügbar unter: https://www.unhcr.org/4d9485a69.pdf (19.04.2017).

Zeitungs- und Blogartikel

Blogbeitrag in Blicktausch (19.10.2016) von Karim Hamed: Tag 48: BAMF -DolmetscherChaos; verfügbar unter: https://www.blicktausch.com/2016/10/19/tag-48-bamf-dol metscher-chaos/ (28.08.2018). Deutschlandfunk-Kultur (19.09.2016) von Azadê Peşmen: Asylbewerber. Die Macht der Übersetzer; verfügbar unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/asylbewerber -die-macht-der-uebersetzer.976.de.html?dram:article_id=366318 (11.01.2018). Deutschlandfunk-Kultur (30.11.2015) von Klaus Schirmer. Asylverfahren. Die Entscheider; verfügbar unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/asylverfahren-die-en tscheider.976.de.html?dram:article_id=338157 (11.09.2016). Die Zeit-Online (16.5.2018) von Caterina Lobenstein: Asylpolitik. Müssen diese Menschen ins Ankerzentrum? verfügbar unter: https://www.zeit.de/2018/21/asylpolitik -horst-seehofer-ankerzentren-abschiebungen (25.6.2018). Focus (09.08-2015): Asyl oder Abschiebung. Dieser 23-Jährige entscheidet, welcher Flüchtling bleiben darf – und wer gehen muss; verfügbar unter: https://www.focus .de/politik/deutschland/asyl-oder-abschiebung-dieser-23-jaehrige-entscheidet-we lcher-fluechtling-bleiben-darf-und-wer-gehen-muss_id_4866198.html (24.5.2016). Frankfurter Allgemein (24.10.2014) von Katrin Hummel: Du darfst bleiben, du musst gehen. Jochen K. ist Entscheider über Asylverfahren von Flüchtlingen – FAZ; verfügbar unter: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/jochen-k-ist-entscheider-ueber -asylverfahren-von-fluechtlingen-13216936.html (27.05.2018). Frankfurter Rundschau (23.05.2018) von Kordula Doerfler: Asyl-Skandal. Bremer Außenstelle entmachtet; verfügbar unter: https://www.fr.de/politik/bremer-aussenst elle-entmachtet-10974427.html (28.05.2018). Frankfurter Rundschau: (25.05.2018) von Kordula Doerfler: Bamf-Asylanhörung. Dreimal täglich Trauma und Verzweiflung; verfügbar unter: https://www.fr.de/politik/ dreimal-taeglich-trauma-verzweiflung-11005723.html (28.05.2018). Hamburger Abendblatt (12.08.15) von Edgar S. Hasse: Wiltraut Thönnißen ist Hamburgs Entscheiderin. verfügbar unter: https://www.abendblatt.de/vermischtes/jou rnal/thema/article205560401/Wiltraut-Thoennissen-ist-Hamburgs-Entscheiderin. html (24.5.2016).

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Die Anhörung im Asylverfahren

M i G A Z I N (30.8.2011) von Ulla Jelpke: Anhörung im Asylverfahren Entscheidung über Leben und Tod per Videochat; verfügbar unter: https://www.migazin.de/2011/08/3 0/entscheidung-uber-leben-und-tod-per-videochat/ (25.05.2016). Planet-Wissen Online (23.08.2017) von Beate Krolhttp. Asyl – Wer darf bleiben? Verfügbar unter: https://www.planet-wissen.de/geschichte/menschenrechte/fluechtlinge /asyl-wer-darf-bleiben-100.html (28.09.2017). Spiegel-Online- (07.04.2014) von Jürgen Dahlkamp: Flüchtlinge: Im Vorzimmer. Sie heißen Entscheider, und sie entscheiden Schicksale: Beim Bund bestimmen 300 Frauen und Männer, wer Asyl bekommen soll, wer nicht. Aus dem Arbeitsalltag von Menschen, die mehr Hoffnungen zerstören müssen, als sie erfüllen können; verfügbar unter: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-126427241.html (19.06.2017). Stern-Politik Online (14. Juni 2015) von Frauke Hunfeld: Die Entscheiderin Frau Dölz hat in 24 Dienstjahren über 4500 Asylanträge entschieden – die meisten davon hat sie abgelehnt. Nun sitzt wieder ein junger Mann vor ihr und erzählt seine schreckliche Geschichte. Alltag einer Beamtin, die im Namen Deutschlands das Elend der Welt sortieren muss. Verfügbar unter: https://www.stern.de/politik/deutschland/die-en tscheiderin--reportage-aus-dem-fluechtlingsamt-6862890.html (09.04.2017). Süddeutsche Zeitung Online (05.03.2015) von Anna Fischhaber: Entscheider für Asylverfahren »Im Zweifel entscheide ich wohlwollend« »SZ.de: Herr Werner, wieso erkennen Sie nur so wenige Asylanträge an?«; verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/panorama/entscheider-fuer-asylverfahren-im-z weifel-entscheide-ich-wohlwollend-1.2370326 (01.04.2017). Süddeutsche Zeitung Online (31.8.2016) von Timo: Nicolas Asylverfahren – Wenn das Schicksal von Flüchtlingen in der Hand des Dolmetschers liegt; verfügbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/asylverfahren-in-der-hand-des-dolmets chers-1.3143237 (16.06.2017). Welt- Wirtschaft Online (27.11.2015) von Virginia Kirst: Die gefährlich große Macht der Asyl-Dolmetscher; verfügbar unter: https://www.welt.de/wirtschaft/article14935438 2/Die-gefaehrlich-grosse-Macht-der-Asyl-Dolmetscher.html (20.05.2017). Welt-Politik »Wer mit Schlepper kommt, hat keine Chance auf Asyl«„, verfügbar unter: https://www.welt.de/politik/deutschland/article168398765/Wer-mit-Schlepper -kommt-hat-keine-Chance-auf-Asyl.html (25.11.2017). Welt-Politik Online (19.05.2016) von Marcel Leubecher: Nur zwei Nordafrikaner erhielten im Jahr 2015 Asyl; verfügbar unter: https://www.welt.de/politik/deutsch land/article155470155/Nur-zwei-Nordafrikaner-erhielten-im-Jahr-2015-Asyl.html (12.05.2017). Welt-Politik Online (25.05.2015) von Freia Peters: Diese Frau sagt, wer in Deutschland Asyl erhält; verfügbar unter: https://www.welt.de/politik/deutschland/article141422 110/Diese-Frau-sagt-wer-in-Deutschland-Asyl-erhaelt.html (27.05.2017). Zeit-Online (1.10.2015): Mehrheit der Länder nimmt zu wenige Flüchtlinge auf; verfügbar https://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-10/koenigsteiner-schluessel-flue chtlinge-verteilung-bundeslaender (10.05.2016).

Youtube-Video- und Radio-Interviews mit Entscheider

ARD (21.09.2016): Entscheider unter Druck – Das Bundesamt für Migration | Reportage; verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=R6oD7mtrOWo (16.05.2016). Bundeszentrale für politische Bildung (2017) von Sandra Budesheim, Sabine Zimmer Auf dünnem Eis – Die Asylentscheider. Ein Dokumentarfilm, verfügbar unter: https://www.bpb.de/mediathek/263459/auf-duennem-eis-die asylentscheider (08.02.2018). Lehrfilm des BAMF zum Ablauf des Asylverfahrens in Deutschland: Asylverfahren in Deutschland (21.09.2015); verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=ria XrpUW-Dw (29.04.2016). Radio-Interview mit EntscheiderInnen gesendet auf SWR2 Tandem (Do, 26.11.2015) von Klaus Schirmer: Die Entscheider oder Wer bestimmt über das Schicksal von Flüchtlingen?; verfügbar unter: https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/t andem/swr2-tandem-die-entscheider/-/id=8986864/did=16329140/nid=8986864/1or v9e0/index.html (zuletzt geprüft: 23.03.2019). Regierung Hessen (22.09.2015): Ablauf des deutschen Asylverfahrens; verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=EzACT_Ktesg (29.04.2016). SPIEGEL TV (06.06.2015): Herr Werner entscheidet über Asylanträge: Asylbewerber und ihre Geschichten; verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=e10kahFDD UM (30.04.2016). Spiegel-Online (31.05.2015): Asylbewerber und ihre Geschichten. Herr Werner entscheidet über Asyl; verfügbar unter https://www.spiegel.de/video/asyl-entscheider-vide o-99011059.html (30.04.2016). WDR for you (14.05.2018): Übersetzer beim Bamf – Wird wirklich alles gut übersetzt? Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=DboJzv9HNeE (18.09.2018).

Abkürzungsverzeichnis

A       Anhörende Anhörung A       A>D       Anhörer/Anhörer*in spricht direkt zu dem/der Dolmetscher*in AB       Asylbewerber Amtsblatt Abl.       Abs.       Absatz Antragsteller Interview A-Interview       ARD       Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland Art.       Artikel Asylgesetz AsylG       AsylVfG       Asylverfahrensgesetz AufenthG      Aufenthaltsgesetz AuslR       Ausländerrecht AZRG       Gesetz über das Ausländerzentralregister B       Anhörungsbegleiter B-Interview     Begleiterinterview BAFI      Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge BAföG      Bundesausbildungsförderungsgesetz BAMF       Bundesamt für Migration und Flüchtlinge B-Interview     Begleiter-Interview BGB       Bürgerliches Gesetzbuch BGBl.       Bundesgesetzblatt BMI       Bundesministerium des Innern BP       Beobachtungsprotokoll BVerfG       Bundesverfassungsgericht BVerfG       Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerwG       Bundesverwaltungsgericht D>A       Dolmetscher*in spricht direkt zu dem/der Anhörer*in E-Interview       Experteninterview EGMR       Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

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Die Anhörung im Asylverfahren

EMRK      Europäische Menschenrechtskommission EU       Europäische Union GFK       Genfer Flüchtlingskonvention GEAS       Gemeinsames Europäisches Asylsystem GG       Grundgesetz Nr.       Nummer NVwZ      Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht OVG       Oberverwaltungsgerichtmx P       Anhörungsprotokoll RI       Radiointerview UNHCR       United Nations High Commissioner for Refugee VfGH       Verfassungsgerichtshof VwGH      Verwaltungsgerichtshof BP       Beobachtungsprotokoll ZAR       Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik

Verzeichnis der in der Anonymisierung verwendeten Zeichen

**      

verweist auf Angaben von,Tagen Monaten und Sum , men die anonym bleiben sollen; *.*. ****      verweist auf ein Datum, das aus Anonymitätsgründen nicht benannt wird; verweist auf Jahresangaben, die ab 2000 beginnen und aus Anonymitäts20**      gründen nicht benannt werden; ***       verweist auf anonym bleibende Berufe; […]       wird im Gegensatz zu den hier angeführten Platzhaltern für die Markierung von Auslassungen, Eigenkommentaren sowie Hinzufügungen verwendet.

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abbildungen Abbildung 1: Untersuchungsebenen Abbildung 2: Verhältnis zwischen Entscheider *innen und den Asylbewerber *innenTypen Abbildung 3: Überblick über die Schutzformen Abbildung 4: Ablaufmodell der Asylanhörung

Tabellen Tabelle 1: Zusammenstellung der Materialdaten - Überblick über die erhobenen Daten Tabelle 2: Asylbewerber*innentypen im deutschen Asylverfahren Tabelle 3: Tabellarische Darstellung der Rekonstruktionsverfahren von Fluchtgeschichten Tabelle 4: Darstellung der Verrechnung der Beurteilungsdimension Tabelle 5: Darstellung der Überprüfungstechniken der Glaubwürdigkeit von Antragsteller*innen im Asylverfahren

Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)

Die Corona-Gesellschaft Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft Juli 2020, 432 S., kart., 2 SW-Abbildungen 24,50 € (DE), 978-3-8376-5432-5 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5432-9 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5432-5

Naika Foroutan

Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6

Bernd Kortmann, Günther G. Schulze (Hg.)

Jenseits von Corona Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft September 2020, 320 S., 1 SW-Abbildung 22,50 € (DE), 978-3-8376-5517-9 E-Book: PDF: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5517-3 EPUB: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5517-9

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Soziologie Detlef Pollack

Das unzufriedene Volk Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute September 2020, 232 S., 6 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5238-3 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5238-7 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5238-3

Ingolfur Blühdorn, Felix Butzlaff, Michael Deflorian, Daniel Hausknost, Mirijam Mock

Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet Juni 2020, 350 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5442-4 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5442-8

Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6

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