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German Pages 399 [403] Year 2010
Gert Sautermeister Die Lyrik Gottfried Kellers
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
67 ( 301 )
De Gruyter
Die Lyrik Gottfried Kellers Exemplarische Interpretationen
von
Gert Sautermeister
De Gruyter
ISBN 978-3-11-022831-1 e-ISBN 978-3-11-022832-8 ISSN 0946-9419 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Sautermeister, Gert, 1940−. Die Lyrik Gottfried Kellers : exemplarische Interpretationen / by Gert Sautermeister. p. cm. − (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; 67 (301)) Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-022831-1 (alk. paper) 1. Keller, Gottfried, 1819−1890 − Criticism and interpretation. I. Title. PT2374.Z5S32 2010 8331.8−dc22 2010049768
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Einführung .............................................................................................................1 1. Zur Anordnung der Kapitel................................................................5 2. Zur Auswahl der Gedichte..................................................................6 I. Naturgedicht und lyrisches Ich ................................................................9 Stille der Nacht...................................................................................... 10 Winternacht ........................................................................................... 15 Abendlied .............................................................................................. 27 Zeitlandschaft......................................................................................... 32 II. Politische Naturlyrik ............................................................................... 36 Waldlieder (I und II) ........................................................................... 42 III. Weiblichkeit und Politik ......................................................................... 52 Ave Marie auf dem Vierwaldstätter-See................................................. 62 IV. Feuerbachiaden........................................................................................ 68 Die Zeit geht nicht ................................................................................. 79 Exkurs: Frühere Zeiterfahrungen Kellers............................................ 83 Frühlingsbotschaft .................................................................................. 87 V. Gelegenheitslyrik. Festlieder.................................................................. 92 An Frau Ida Freiligrath........................................................................ 95 VI. Gleichnislyrik. Allegorien ..................................................................... 103 Untergehende Liebe .............................................................................. 105 Verliebtes Rätsel.................................................................................. 109 Jung gewohnt, alt getan ......................................................................... 112 VII. Genrebilder. Idyllen und Anti-Idyllen................................................ 121 1. Mensch und Natur .......................................................................... 123 Sommernacht........................................................................................ 126 2. Zeitbezüge. Religionsfragen........................................................... 135 Abend auf Golgatha ............................................................................ 140 3. Abgesang........................................................................................... 143 VIII. Selbstporträts und Ich-Analysen......................................................... 146 1. Kindheits- und Jugenderfahrungen .............................................. 147 Jugendgedenken .................................................................................... 158 2. Selbsterkenntnis und Selbstbehauptung. Lebensentwürfe........ 165 Erkenntnis .......................................................................................... 168 3. Tiefpunkte und Tapferkeit der Melancholie ............................... 170 Melancholie .......................................................................................... 173
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Inhalt
IX.
Liebeslyrik............................................................................................... 178 1. Siebenundzwanzig Liebeslieder ............................................................ 179 2. Liebesarten in einzelnen Gedichten (Unerfüllte Sehnsucht, Verzicht, Entsagung).............................. 190 Schifferlied............................................................................................ 190 Schöne Brücke...................................................................................... 194 3. Utopische Entwürfe. Dissonanzen............................................... 201 X. (Fremd-)Porträts.................................................................................... 207 Der Taugenichts................................................................................... 208 XI. Miniaturen. Das Eigengewicht der Dinge und der Kreatur ........... 220 Die kleine Passion ............................................................................... 222 Stutzenbart .......................................................................................... 226 XII. Bilder städtischen Lebens..................................................................... 233 1. Kleinstädtisches ............................................................................... 233 In der Stadt (1 und 2) ........................................................................ 234 2. Aus Berlin. Wanderbilder............................................................... 239 Berliner Pfingsten ................................................................................. 242 XIII. Der Kunst zu Ehren. Kraft und Grenze der Phantasie .................. 248 Winterspiel........................................................................................... 251 XIV. Volkstümliches und Volksliedhaftes .................................................. 261 Von Weibern. Alte Lieder. 1846.............................................................. 261 Alle meine Weisheit ............................................................................. 268 XV. Humoresken........................................................................................... 271 Panard und Galet ................................................................................ 273 Der Narr des Grafen von Zimmern ..................................................... 278 Exkurs: Kellers Gaselen ....................................................................... 281 X......................................................................................................... 285 XVI. Artistenspiele .......................................................................................... 287 Winterabend ........................................................................................ 289 Geistergruß........................................................................................... 290 Aurelie................................................................................................. 295 Stilles Abenteuer.................................................................................. 297 Folgerungen: Schwerpunkte der Lyrik Kellers ............................................ 307 1. Skizze einer Poetik .......................................................................... 307 2. Literarhistorische Bezugsfelder ..................................................... 319 Anhang............................................................................................................... 323 Anmerkungen ................................................................................................... 331 Danksagung....................................................................................................... 393 Register .............................................................................................................. 395
Einführung Als Gottfried Keller Ende 1842 von seinen autodidaktischen Studienjahren in München nach dem heimatlichen Zürich zurückkehrt, scheint ihm der Zukunftshorizont verhängt. In München hatte er sich zum Maler ausbilden wollen, aber eine tragfähige, lebenserhaltende Grundlage für dieses Berufsziel nicht schaffen können. Was tun? Von seiner halb ziellos-verzweifelten, halb müßiggängerischen Suche nach der wahren Selbstbestimmung erlösen den Dreiundzwanzigjährigen die Literatur und die Politik. In seinem autobiographischen Rückblick von 1876/77 erinnert er sich: Wie früher die Erzeugnisse der letztvergangenen Literatur, las ich jetzt diejenigen der zeitgenössischen. Eines Morgens, als ich im Bette lag, schlug ich den ersten Band der Gedichte Herweghs auf und las. Der neue Klang ergriff mich wie ein Trompetenstoß, der plötzlich ein weites Lager von Heervölkern aufweckt. In den gleichen Tagen fiel mir das Buch „Schutt“ von Anastasius Grün in die Hände, und nun begann es in allen Fibern rhythmisch zu leben, so daß ich genug zu tun hatte, die Masse ungebildeter Verse, welche sich täglich und stündlich hervorwälzte, mit rascher Aneignung einiger Poetik zu bewältigen und in Ordnung zu bringen. Es war gerade die Zeit der ersten Sonderbundskämpfe in der Schweiz; das Pathos der Parteileidenschaft war eine Hauptader meiner Dichterei, und das Herz klopfte mir wirklich, wenn ich die zornigen Verse skandierte.1
Die Retrospektive erfolgt nicht ohne die für Keller charakteristische Selbstironie, doch mischt sie auch ein Quentchen Verklärung in die historische Wahrheit. Denn die Sonderbundskämpfe, die Keller mit seiner Lyrik – „ein weites Lager von Heervölkern“ – begleitet haben will, fanden im Jahre 1847 statt, und da waren Kellers Gedichte schon erschienen: eine erste Auswahl, 41 an der Zahl, im Deutschen Taschenbuch für das Jahr 1845, eine zweite in dem gleichen Taschenbuch, diesmal für das Jahr 1846, mit Kellers 21 Liebesliedern und der Feuer-Idylle, ehe im Jahre 1846 eine Gesamtausgabe bei C.F. Winter in Heidelberg erschien, schlicht Gedichte betitelt.2 Doch Kellers rückblickende Verklärung ist der historischen Wahrheit gleichwohl nahe: zwar hat er nicht die Kämpfe des Schweizer Sonderbunds, wohl aber seine Gründung in den Jahren 1845/46 und vor allem die eidgenössischen Konflikte davor mit seinen Gedichten begleitet und kommentiert. Der junge Mann hatte das „Pathos der Leidenschaft“ für die liberalen Zentralisten und gegen die konservativen Föderalisten aufgeboten, jenen ‚Sonderbund‘ von Katholiken, feudalistisch geprägten Grundherrn und Privilegienwahrern, der sich einer Demokratisierung der Schweiz und
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ihrer nationalen Einheit entgegenstemmte. An den sogenannten Freischarenzügen seiner Partei nahm dann auch Keller selbst teil – der Sänger der Demokratie ließ es bei Worten nicht bewenden. Der Sieg der Liberalen, der 1848 durch die neue Schweizer Bundesverfassung bekräftigt wurde, fand in Europa einen kräftigen Widerhall. Mit dieser Jugenderfahrung Kellers mag ein Leitmotiv seines Lebens angeregt worden sein: die Mitgestaltung des Gemeinwesens durch das eingreifende Handeln des Citoyens. Die Schweiz hatte mit ihren inneren Kämpfen zwischen Liberalen und Konservativen beispielhaft einen Grundzug des europäischen Lebens in jener Zeit vor Augen geführt. Auch das damalige Deutschland war in einer tiefgreifenden Auseinandersetzung zwischen den Kräften des Fortschritts und der Bewahrung, zwischen liberalen und konservativen Interessen begriffen. Die relative Schwäche des deutschen Liberalismus zwang seine Anhänger jedoch von Fall zu Fall zur Flucht ins Ausland, unter anderem in die Schweiz, wo die Sache des Fortschritts in einzelnen Kantonen tatkräftiger vertreten wurde als in deutschen Landen. Besonders Zürich hatte sich als Zufluchtsort unter den deutschen Exilanten einen Namen gemacht. Und dies schlug dem Autor Keller, schlug seiner Lyrik zum Glück aus. In seiner Heimatstadt hatten sich flüchtige Literaten aus Deutschland zusammengefunden und ein reges Kulturleben entfaltet, wozu auch der von Julius Fröbel gegründete Verlag Literarisches Comptoir Zürich und Winterthur gehörte, den Fröbel selbst mit August Adolf Ludwig Follen und Arnold Ruge leitete. Von diesem Verlag war jener „Trompetenstoß“ ausgegangen, der die lyrisch-politische Ader Kellers weckte: Die Gedichte eines Lebendigen (1841) von Georg Herwegh, dem damals wohl prominentesten deutschen Emigranten. Keller hat dafür Herwegh in einem bewegenden Sonett gedankt.3 Aber es war doch ‚nur‘ die politische Ader, nicht der lyrische Blutkreislauf insgesamt, den Herwegh – und neben ihm Anastasius Grün – bei dem jungen Schweizer in Schwung gebracht hatte. Nichts ist einseitiger, als den jugendlichen Lyriker Keller mit der Politik, den Angelegenheiten der res publica zu identifizieren.4 Seine poetischen ‚Hauptadern‘ hat Keller an anderer Stelle benannt, nicht vollzählig und erschöpfend, doch immerhin andeutungsweise, und zwar in dem schon zitierten autobiographischen Abriß von 1876/77: „Ein Band Gedichte, zu früh gesammelt, erschien im Jahr 1846; er enthielt nichts als etwas Naturstimmung, etwas Freiheitsund etwas Liebeslyrik, entsprechend dem beschränkten Bildungsfelde, auf dem er gewachsen.“5 Statt eines lyrischen Unikats doch wenigstens eine Gattungstrias! Keller hat sie freilich in seiner selbstironischen Nonchalance mit so flüchtigem Ungefähr gekennzeichnet, daß sie nichts von dem ihr innewohnenden Reichtum verrät. „Naturstimmung“ – der vage
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Begriff bleibt alles schuldig, was Keller auf dem Feld der Naturlyrik zu leisten vermocht hat. Gewiß findet sich darunter konventionell Stimmungshaltiges in der überlieferten romantischen Manier, aber doch auch Überliefernswertes dank Kellers vielfältigen Brechungen der „Naturstimmung“, dank seiner Umbildungen, Verwandlungen und Erweiterungen der gewohnten Naturoptik. Die Naturanschauung des jungen Keller ist von erstaunlicher Vielseitigkeit. Sie wurde in der Forschung häufig einseitig ausgelegt, sei es, daß man sie ins Metaphysische entgrenzte6, sei es, dass man sie in reine Immanenz einschloß7; eine Überwindung solcher Einseitigkeiten kam nur zögernd in Gang8. Kellers frühe Naturanschauung birgt in nuce eine Reihe von Gedichtarten, die wir für unsere Auswahl als Gliederungskriterien mitverwendet haben. So kleidet und verkleidet der junge Keller seine politischen Gedanken mit Vorliebe in Metaphern aus dem Bereich von Naturphänomenen9 (vgl. Kap. II); später macht er die Natur zum Organ einer Philosophie des Diesseits im Geiste Ludwig Feuerbachs (vgl. Kap. IV). Da ist ferner Kellers frühe Gleichnislyrik, welche die äußere Natur mit der Erfindungskraft der Phantasie zum Reflexionsmedium der Menschennatur umbildet (vgl. Kap. VI). Natur kann hier ein allegorisches, aber auch mehrsinniges Zeichen für die Selbsterfahrung und Identitätssuche des lyrischen Ichs sein. Und nicht zuletzt fällt Kellers frühe Selbstdarstellungslyrik ins Gewicht, die eine problematische, leidvolle Kindheit und Jugend mit hellwacher Psychologie erhellt, und dies im Medium eindringlicher Naturbilder (vgl. Kap. VIII.1). Wiederholt stellt Keller dabei überlieferte Naturmetaphern auf die Probe, experimentiert mit ihnen und verfremdet sie teilweise, wie schon seine lyrischen Genre- und Idyllenbilder verraten (Kap. VII). Natur – so viel ist offenkundig – besitzt beim jungen Keller keine Autonomie. Sie wird vielmehr in psychologisch komplexe, politische und soziale Vorgänge eingebunden. Aber gerade ihre vielseitige und mehrsinnige Verwendung ist eines der wesentlichen Charakteristika der frühen Gedichte Kellers. Im Verlauf seines lyrischen Schaffens werden sich die Naturphänomene mehr und mehr aus seinem Blickfeld zurückziehen und anderen Bildbereichen und Ausdrucksmedien den Vortritt lassen. Von ihnen wird ausführlich die Rede sein. Der späte Keller hat im übrigen seiner frühen Lyrik allerhand Zufälliges und Willkürliches angelastet… Mit einem seiner Selbstvorwürfe setzen wir das vorhergehende Zitat fort: Ein freundlicher Kreis, in welchem ich aufgetaucht war, schlug, wie es zu gehen pflegt, weitere Wellen und Wellchen und fütterte mich mit den schönsten Hoffnungen. Kurz, ich lebte in gedrängtester Zeitfrist alle Phasen eines erhitzten und gehätschelten jungen Lyrikers durch und blieb wohl nur wenige von den Torheiten und Ungezogenheiten schuldig, die einem solchen anhaften.
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Da kam das Jahr 1848, und mit ihm zerstoben Freunde, Hoffnungen und Teilnahme nach allen Winden, und meine junge Lyrik saß frierend auf der Heide. (SW 21, ebd.)
Man wird diese selbstkritische Rechenschaft nicht nur als die des reifen Mannesalters verstehen dürfen, das über eine genialische Jugendphase seinen gelassenen Spott ausgießt.10 Zwar enthält Kellers Jugendlyrik Überflüssiges und Traditionsverhaftetes, das der Nachwelt allenfalls aus philologischem Interesse überliefert werden muß – insoweit ist seine Selbstverspottung nicht grundlos.11 Aber sie spiegelt doch auch eine historische Wahrheit wider: die zentrale Bedeutung der Freundschaft für werdende Lyriker in jener Epoche. Man wäre schlecht beraten, würde man die sogenannte schwäbische Romantik um Uhland und Schwab, aber auch Lyriker wie Annette von Droste-Hülshoff, Rückert oder Platen ohne die ratgebenden, kommentierenden und auch markterschließenden Freundeskreise von damals betrachten. Was verdankt nicht ein Lenau, eben erst aus dem fernen Wien in Stuttgart angekommen, den wegweisenden Impulsen des um Uhland und Schwab gescharten Dichterkreises! Eine über Cotta, den Stuttgarter Verleger, führende Schriftsteller-Karriere, nicht mehr und nicht weniger! Was an Lenau, einem der wesentlichen Vorbilder des jungen Keller, zutage tritt, bewährt sich auch an dem jungen Schweizer selbst. Der „freundliche Kreis“, der um ihn „Wellen und Wellchen“ schlägt und mit den „schönsten Hoffnungen“ belebt, ist der um Julius Fröbel und Adolf August Ludwig Follen gescharte Emigrantenzirkel. Keller hat sein damals empfundenes Bedürfnis nach freundschaftlichem Umgang wachgehalten und es zur Treue im dialogischen Erfahrungsaustausch entwickelt, wie seine Briefwechsel zeigen; seine vielberufene Eigenbrödelei macht nur eine Seite seiner Existenz aus. Der anderen, mitfühlenden und sozialen Seite verdanken wir einen Teil jener Widmungs- und Freundschaftsgedichte, die Keller, einer lyrischen Tradition folgend, in verschiedenen Lebensaltern verfaßt hat. Sie zählen zu den liebenswürdigsten, noch wenig gewürdigten lyrischen Hervorbringungen Kellers (vgl. unser Kap. V). Im Verlage Fröbels und Follens, dem Literarischen Comptoir Zürich und Winterthur, erscheinen die beiden Taschenbücher (für das Jahr 1845 und 1846), in denen eine Auswahl der Lyrik Kellers enthalten ist. Und diese Auswahl wird vom Freundesauge kritisch gesichtet und von Freundeshand redigiert. Es ist namentlich Follen, der sich dieser Aufgabe mit Hingabe unterzieht. Mit Hingabe und – mit wechselndem Geschick.12 Keller hat jedenfalls gegen seine Korrekturen keine prinzipiellen Einwände vorgetragen und die Follensche Redaktion seines Werks auch für die bei Winter in Heidelberg erscheinenden Gedichte akzeptiert. Wir können die ‚Urschrift‘ Kellers vor den Eingriffen Follens nur in wenigen Fällen mit
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Sicherheit rekonstruieren, allen Bemühungen Jonas Fränkels, des verdienstvollen Editors, zum Trotz. Daher erscheint es als sinnvoll, den ‚Freundschaftsdienst‘, den Follen dieser Urschrift da und dort erwiesen hat, nach Kellers eigenem Beispiel gelten zu lassen.13 Wie Kellers Lyrik insgesamt, so ist besonders ihre Vielfalt, ihre Variationskraft und Eigenständigkeit unterschätzt,14 ihre Traditionalität überschätzt worden.15 Wir werden diese Lyrik nach Genres, Themen und Stilzügen in einzelne Kapitel, insgesamt sechzehn, auffächern und kommentieren. Jeweils ein oder mehr Gedichte, die für ein Kapitel als repräsentativ gelten können, werden durch eine Exemplarische Interpretation besonders gewürdigt. Darüber hinaus zitieren wir in den Anmerkungen eine Reihe von Gedichten, die dem Leser aufgrund interpretatorischer Hinweise und prononcierter Thesen vielleicht eine unmittelbare Überprüfung wünschenswert machen. – Wir hoffen demnach, daß Kellers Lyrik in ihrer Vielfalt und ihren thematischen wie ästhetischen Grundzügen erschlossen wird und sich zugleich der Lektüre empfiehlt.16
1. Zur Anordnung der Kapitel Die einzelnen Kapitel sind teils nach thematischen, teils nach formästhetischen Gesichtspunkten eingerichtet und auf wechselseitige Erhellungen hin angelegt. Die ersten fünf (I–V) rücken die Themen Natur, Politik und Öffentlichkeit in den Vordergrund, wobei eingangs Kellers neuartige ästhetische Verfahrensweisen zur Sprache kommen. An sie knüpfen die Kap. VI und VII an, die auffällige lyrische Formkräfte wie Gleichnis, Allegorie und Genrebild exponieren und damit das Verständnis weiterer Gedichte vorbereiten. Die folgenden fünf Kapitel (VIII–XII) widmen sich den thematisch weitgefächerten Porträts Kellers, seinen (Selbst-) und (Fremd-)Porträts, seinen Ansichten der Liebe und Skizzen von Liebesbegegnungen, seinen städtischen, kreatürlichen und dinglichen Physiognomien, seiner damit verknüpften Kunst der analytischen Auffächerung einerseits, des lyrischszenischen Erzählens andererseits. Die abschließenden Kapitel (XIII– XVI) gelten der Selbstreflexion der Kunst in Kellers Lyrik und wenden sich erneut zentralen Formkräften wie dem Humor und seiner modernen Artistik zu. Alle Kapitel erhalten eine zusammenfassende, eingehende Charakteristik am Ende dieser Monographie: Folgerungen: Schwerpunkte der Lyrik Kellers. Skizze einer Poetik.
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2. Zur Auswahl der Gedichte Keller hat seine drei Gedichtbände von 1846 (Gedichte), 1851 bzw. 1854 (Neuere Gedichte) und 1888 (Gesammelte Gedichte) jeweils in kleinere oder größere Werkgruppen bzw. Abteilungen gegliedert. Dort, wo zyklische Einheiten vorliegen, haben wir deren Struktur erläutert und die Reihenfolge der Gedichte beibehalten (vgl. z.B. Siebenundzwanzig Liebeslieder, Von Weibern, Aus Berlin bzw. Wanderbilder, Gaselen, Aus der Brieftasche). Nur ausnahmsweise haben wir ein Gedicht aus solchen Zyklen entfernt und in einen anderen aussagekräftigen Kontext gerückt. Wo hingegen einer Werkgruppe oder Abteilung eine zyklische Einheit fehlt und die Selbständigkeit der lyrischen Gebilde offenkundig ist, dürfen diese frei verwendet und neben gleichartige gesellt werden, die ihnen thematisch oder ästhetisch korrespondieren. An ihrem neuen Ort verweisen sie adäquater auf eine Eigentümlichkeit der Lyrik Kellers und bezeugen sie eindringlicher ihre Überlebenskraft als in ihrer ursprünglichen Anordnung, wo sie unter Umständen nur zur Füllung einer Werkgruppe dienen oder wo die Nachbarschaft mittelmäßiger Gebilde ihre Ausstrahlungskraft überschattet. Man darf Kellers übergreifende Kompositionsabsichten nicht überschätzen. So souverän sie die genannten Zyklen durchdringen, so wenig konsequent und allgegenwärtig sind sie. Auch wenn Kauffmann durchgehend ein „künstlerisch komponiertes Werkganzes“ wahrnimmt und allerorten „untergründige Verbindungen“ vermutet, die „in sich vielfältige Werkeinheiten“ schaffen (S. 845f.): er muß gleichwohl hinsichtlich der Neueren Gedichte die „größere Selbständigkeit“ einzelner Gebilde und ihre „in sich geschlossenen Bilder“ konzedieren (S. 991); die Abteilung der Romanzen nennt er gar ein „Sammelbecken für diverse neuentstandene Gedichte“: „Da sie weder in thematischer noch in formaler Hinsicht eine Einheit bildet, ähnelt sie der Abteilung der Vermischten Gedichte.“ (S. 994). In der Tat – keine noch so wendige Verbindungskunst könnte in diesen Abteilungen „untergründige“ Zusammenhänge aufspüren, von vordergründigen ganz zu schweigen. Schon die Ouvertüre der Neueren Gedichte – Jahreszeiten – kann eine zyklische Kohärenz nur an der Oberfläche vorweisen: fünf Gedichten mit dem Frühling als Thema folgen zwei Sommer-Gedichte, ehe je ein Herbst- und ein Wintergedicht die Werkgruppe notdürftig abschließen, als würde das Jahr zusehends abmagern. Und die in den Jahreszeiten abgehandelten Themen bilden eher ein buntes Kaleidoskop denn eine aufschlußreiche Konfiguration von Ideen und Situationen. Gemessen an der kompositorischen Durchbildung der wirklichen Zyklen fällt die relative Beliebigkeit der genannten „Abteilungen“ auf; Kellers Verlegenheit verrät sich überdies in der Streichung der Sonette für die 2. Auflage – immerhin verschwanden damit so bemerkenswerte Gedichte wie Von
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Kindern (I.) und Erkenntnis. Pekuniäre Nöte, Zeitknappheit, verlegerische Zwänge hinderten Keller an einer zyklischen Durchformung aller Werkgruppen. Umso legitimer, umso verlockender auch erscheint der Versuch neuer Gruppenbildungen, der Lyrik Kellers zu Ehren… Unberücksichtigt in unserer Auswahl blieb Kellers Der Apotheker von Chamouny oder der kleine Romanzero. Es handelt sich um eine Parodie des Romanzero Heinrich Heines in Form einer Verserzählung, angelehnt an Heines Versepos Atta Troll, also nicht um Lyrik im engeren Sinn. Es ist hier nicht der Ort, die widersprüchliche und zwiespältige Wirkungsgeschichte der Lyrik Kellers nachzuzeichnen. Das hat Kai Kauffmann in seiner ausgiebig kommentierenden Ausgabe bereits geleistet, indem er repräsentative Querschnitte der mannigfachen Geschmacksurteile und Rezeptionshaltungen zusammenstellte. Während Kellers Prosa in der Literaturgeschichte bis heute ein hoher Rang zuerkannt wird, ist die Zwiespältigkeit der Urteilsbildungen hinsichtlich seiner Lyrik nicht minder lebenskräftig. Adolf Muschg, einer der kenntnisreichsten Anwälte des Werks Gottfried Kellers, vor allem des epischen, hat über seine Gedichte wie folgt geurteilt: Keller ist nicht Mörike; es gibt bei ihm so gut wie keine makellosen Gedichte, die uns von der ersten bis zur letzten Zeile keine Freiheit ließen als die Liebe. Es gibt kaum eins, bei der unsere Leser-Bereitschaft zur Einstimmung nicht aufläuft, an eine Grenze stößt, ja zum Ärger werden kann. Ich habe keine politischen, kein sogenanntes Zeit-Gedicht gewählt, das es dem Betrachter leicht machen würde, Lyrisch-Anstößiges, schiefe Bilder, pathetische Mißgriffe, Ton- und Stilbrüche, ja Stilblüten zu erklären und zu entschuldigen.17
Nicht nur entzieht sich, so scheint uns, manches „Zeit-Gedicht“ Kellers diesem systematischen Urteil (das einige Kenner seiner Lyrik teilen18), auch andere Gedichte ersparen dem Leser durchaus den befürchteten „Ärger“. Wie produktiv im übrigen ‚Brüchiges‘ und ‚Anstößiges‘ für die Interpretation sein kann, hat Muschg selbst einleuchtend demonstriert; eine Betrachtungsweise, für die das nicht ganz Geglückte bzw. Störende aufschlußreich ist, hat unsere eigenen Analysen da und dort angeregt. Daß es gleichwohl „makellose Gedichte“ aus Kellers Feder gibt, solche jedenfalls, die des Lesers „Liebe“ zu wecken vermögen – Winternacht, das erste Waldlied, Schöne Brücke, Der Taugenichts, Die kleine Passion, Venus von Milo, Abendlied, Der Narr des Grafen von Zimmern, Stilles Abenteuer, Jung gewohnt, alt getan, Abend auf Golgatha, Am Ufer des Stromes und andere19 –, mögen unsere Interpretationen in Erinnerung rufen. Wir haben unseren Text-Kommentaren und Interpretationen die verdienstvolle, von Kai Kauffmann herausgegebene Frankfurter Studienausgabe zugrunde gelegt (vgl. Anm. 2), auch wenn dies nicht immer unprob-
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lematisch sein mag.20 Doch die relativ gut zugängliche Ausgabe erlaubt es dem Leser, unsere Urteile ohne kostspielige Umstände am Text zu überprüfen. Kauffmanns hilfreiche Kommentare – die er teilweise Fränkel/Helbling verdankt (siehe Anm. 1) – haben wir berücksichtigt und dies auch jeweils vermerkt. Über Kauffmanns kursorische interpretatorische Hinweise sind wir – unserem thematischen Vorhaben entsprechend – meist wesentlich hinausgegangen. Einige wichtige Gedichte, die in der ,Studienausgabe‘ nicht enthalten sind, verzeichnen wir in einem Anhang nach den von Fränkel/Helbling herausgegebenen Sämtlichen Werken (1926 ff., vgl. Anm. 1). „Jedes gute Lied“, schrieb Keller im Hinblick auf die Neueren Gedichte, „erfordert ein ganzes und ungeteiltes Leben“, aber auch einen „schrecklichen Aufwand an konsumierten Viktualien, Nervenverbrauch und manchmal Tränen, vom Lachen oder vom Weinen“ (zitiert nach Kauffmann, Anm. 2, S. 984). Weil Keller sich das alles eigentlich nicht leisten durfte, litt er bei seiner lyrischen Produktion gehörig. Die nachgeborenen Leser dagegen können leidensfrei die Lektüre der Gedichte mit der Konsumtion von Viktualien verbinden, in Augenblicken ihres „ganzen und ungeteilten Lebens“.
I. Naturgedicht und lyrisches Ich Kellers Naturlyrik ist vielerorts ein Experimentierfeld, auf dem er die literarische Tradition in vielfältigen Abstufungen wiederbelebt, aber auch umgestaltet und ihr eine eigene Sprache abgewinnt. Romantische Motive werden noch einmal heraufgerufen und doch mit neuen Stilgesten präsentiert. Keller führt die Natur nicht mehr vordringlich als organische Ganzheit vor, sondern entnimmt ihr einen Bildervorrat, den er zum Gleichnis oder zur Allegorie, zur mehrsinnigen Rätselschrift oder zum skeptischironischen Medium seiner Selbst- und Weltdeutung macht. Im Gebrauch der Natursprache entfaltet das lyrische Ich seine Identitätssuche, reflektiert aber auch überindividuelle Zusammenhänge und erprobt eine ganze Skala neuer Bilder und Töne. Einige Grundzüge der Naturlyrik Kellers seien an seinem Zyklus Nacht aufgewiesen.21 Die darin versammelten Gedichte sind von unterschiedlicher Qualität22, sie lassen jedoch zweierlei erkennen: den Dialog, den Keller mit der literarischen Tradition führt, und den experimentellen Charakter seiner frühen Lyrik. Keller setzt sich mit der Tradition auseinander, und er stellt sie auf die Probe, um zu einer eigenen Sprache zu finden. Das erste Gedicht (I.)23 verknüpft Heterogenes: galante Töne aus dem literarischen Rokoko24, Reminiszenzen an die Nacht- und Todesmystik des Novalis25, an Versgebärden Eichendorffs26, namentlich aber Anklänge an den vom jungen Keller bewunderten Lenau, dessen melancholischen Gestus er nachahmt27 und dessen Heidebilder er beschwört.28 Aus dem heterogenen Nacheinander kann sich eine wechselseitige Durchdringung und Brechung der Töne ergeben, hinausweisend über den bloßen Zitatcharakter.29 Bedeutsam jedoch ist vor allem die reflektierende Distanz, die das lyrische Ich zur Nacht bezieht. Es redet sie nicht etwa mit dem der Romantik vertrauten Du an, das innige Nähe und Intimität suggestiv evoziert. Es spricht vielmehr in der 3. Person von der Nacht und es zeigt mit dem Personalpronomen ‚sie‘ eine Ferne zu ihr an, die seine drängenden Fragen und Vermutungen nicht zu überwinden vermögen. Die Stummheit und das Rätselgesicht der Nacht erzeugen jene nachdenkliche und reflektierende Gebärde, die für Kellers Lyrik prägend wird. Eine rein empfindende, nur dem Gefühl sich anvertrauende Annäherung an die Natur, wie sie noch in der Spätromantik sich findet, erscheint von diesem Gedicht her als problematisch.
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I. Naturgedicht und lyrisches Ich
Anders verfährt hingegen das VI. Gedicht Wende dich, du kleiner Stern.30 Es fingiert noch einmal ungebrochen eine frühromantische Identität zwischen Ich und Natur: „Hier fühl’ ich Zusammenhang / Mit dem All’ und Einen!“ Zur Bekräftigung variiert es die frühromantische Bildersprache31, einige Nuancen zu emphatisch freilich, als müßte es die unzeitgemäße Gebärde durch gehäufte Beteuerungen übertönen32, ehe die harmlose und sprachlich unsichere Schlußpointe für einen unfreiwillig ernüchternden Abgesang sorgt. Wohl deshalb hat Keller später für die Gesammelten Gedichte die letzte Strophe gestrichen (vgl. Unter Sternen, Kauffmann, S. 389). Die pointierte Anfangsstrophe jedoch durfte er stehenlassen, unverändert. Sie erprobt mit der doppelsinnigen Verwendung der Sternen-Metaphorik eines jener Wort- und Pointenspiele, die seine spätere Lyrik auszeichnen. Zueinander gesellt, deuten die beiden Gedichte – das erste aus dem Zyklus Nacht und Wende dich (…) – die Schwierigkeiten von Kellers lyrischen Anfängen an: seine Versuche, das Gewicht der Tradition mit ihrer Erneuerung zu verbinden.33 Wenn das Sternengedicht noch im Bann der Tradition steht, das Eröffnungsgedicht (I.) sie schon distanziert, so gelingt Keller ihre Erneuerung mit dem V. Nachtgedicht Willkommen, klare Sommernacht 34 bzw. Stille der Nacht, wie der Titel der Zweitfassung lautet.35 Stille der Nacht Willkommen, klare Sommernacht, Die auf betauten Fluren liegt! Gegrüßt mir, goldne Sternenpracht, Die spielend sich im Weltraum wiegt! Das Urgebirge um mich her Ist schweigend, wie mein Nachtgebet; Weit hinter ihm hör‘ ich das Meer Im Geist und wie die Brandung geht. Ich höre einen Flötenton, Den mir die Luft von Westen bringt, Indes herauf im Osten schon Des Tages leise Ahnung dringt. Ich sinne, wo in weiter Welt Jetzt sterben mag ein Menschenkind – Und ob vielleicht den Einzug hält Das viel ersehnte Heldenkind. Doch wie im dunklen Erdental Ein unergründlich Schweigen ruht, Ich fühle mich so leicht zumal Und wie die Welt so still und gut. Der letzte leise Schmerz und Spott Verschwindet aus des Herzens Grund; Es ist, als tät‘ der alte Gott Mir endlich seinen Namen kund.
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Das Gedicht lebt aus Kellers Kunst der polaren Verfugung, die hier erstmals zur Entfaltung gelangt. Die „Sommernacht“ und die „goldne Sternenpracht“ mögen an Eichendorffs Sehnsucht36 gemahnen – sie erhalten indes ein eigenes Gepräge dank der räumlichen Polarität, in die sie eingebettet sind: im Bilde der „betauten Fluren“ einerseits, des „Weltraum[s]“ andererseits, begegnen sich Nächstes und Fernstes, Gegenständliches und Unendliches. Das ‚wiegende Spiel‘ der Sternenpracht nimmt dieser jegliches Pathos und verleiht ihr Anmut – ein Akzent, der dem romantischen Kosmos eher fremd war. Im schweigenden „Urgebirge“ und im Rauschen des Meeres setzt Keller sein Polaritäten-Spiel fort und bindet das lyrische Ich darin ein: das ‚Schweigen‘ korrespondiert seinem „Nachtgebet“, das seine Naturfrömmigkeit anzeigt37; das Tönen des Meers und der Brandung verrät seine wache Einbildungskraft – seinen „Geist“, der das ferne Rauschen erst hörbar macht. Von nun an bleibt es unentschieden, ob die Wahrnehmungen des lyrischen Ichs real oder imaginiert sind, seine Spannkraft schwingt zwischen Realität und Imagination hin und her. Aus dem „Westen“ wird ein „Flötenton“ vernehmbar, der Osten verrät die ersten Anzeichen des heraufdämmernden Morgens. In dem Ineinanderspiel gerade dieser beiden entgegengesetzten Pole, des Westens, der den Beginn der Nacht, und des Ostens38, der den Beginn des Tages markiert, erzeugt Keller ein Zwischenreich, wie es bis dahin in der deutschen Lyrik nur selten erprobt worden ist.39 Von der subtilen Wahrnehmungs- und Einbildungskraft geht das lyrische Ich zur Kontemplation über: es konfrontiert den Tod als natürliche Mitgift des Lebens mit der erhofften Geburt des „Heldenkind[s]“, womit eine utopische Geschichtsperspektive ins Spiel kommt.40 Der reflexive Grundzug der Lyrik Kellers wird hörbar, der jedoch die Gefühlskraft keineswegs verdrängt. Diese schwingt vielmehr von der lebhaft empfundenen Ruhe der Natur zum lyrischen Ich zurück. Das ringsum herrschende „Schweigen“ kehrt in das Subjekt ein und verschafft ihm das Selbstgefühl eines schwebenden, ja geläuterten In-Sich-Ruhens („still und gut“). Während das romantische Ich sein Selbstgefühl in der Emphase und der Ekstase findet, in einer Exzentrik, die das Subjekt in die Natur hinausrückt41, dämpft das lyrische Ich Kellers diese Stimmungslage und rückt an ihre Stelle die kontemplative Anschauung der Natur und ihrer Wirkung auf sich selbst. Die Natur öffnet sich ihm, ohne ihr Geheimnis preiszugeben – ihr Schweigen ist „unergründlich“.42 Aber es ist nicht leer, ist erfüllt von den zuvor erfahrenen Polaritäten, die in einer schwebenden Balance zusammenfinden.43 Auch der „alte Gott“ gibt das Geheimnis nicht preis. Er umschreibt es vielmehr hieroglyphisch. Die romantische Lyrik hatte das Geheimnis in einer endlosen Schrift von Hieroglyphen zu ergründen versucht und war zuletzt bei der Unwägbarkeit des Vermutens, des ‚Als ob‘ angelangt, des Eichendorff’schen Konjunktivs. An ihn knüpft Kellers Ich in der Schlußstrophe an, aber es entäußert sich nicht mehr auf
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romantische Weise an die Natur, sondern umkreist seine nächtliche Naturerfahrung kontemplativ.44 Die Selbstoffenbarung des „alten Gotts“ bleibt vieldeutig-unbestimmt; sie ist weder auf einen christlichen noch heidnischen ‚Gott‘ festzulegen, weder als ausschließlich metaphysisch noch rein irdisch zu verstehen. Sie läßt sich allenfalls aus dem Fortgang des Gedichts begreifen als die Natursprache, in der alle Polaritäten – das Nächste und das Fernste, das Schweigen und die Töne, die gegensätzlichen Himmelsrichtungen, Höhe und Tiefe, Anschauung und Vision, Geist und Gefühlskraft – in einer schwebenden Balance zusammenfinden, die Andacht und Kontemplation, ja schwerelose Selbstvergewisserung verbürgt. Die Schwerelosigkeit des lyrischen Ichs („Ich fühle mich so leicht zumal“) und sein Einverständnis mit der Welt und sich selbst („Und wie die Welt so still und gut“) sind das Resultat eines Prozesses, der die Versenkung in die Natur auf mehreren Stufen vergegenwärtigt. So stellt sich für Augenblicke die Erfahrung des Glücks ein. Es zeigt sich unter anderem darin, daß die „spielend“ sich ‚wiegende‘ Sternenpracht ihre Entsprechung im „leichten“, von aller Erdenschwere entbundenen Lebensgefühl des Ichs findet. Das Gedicht versinnlicht den dialogischen Vorgang zwischen Natur und Ich durch eine Reihe musikalischer Spielelemente. So erzeugt es in der ersten Verszeile (der 1. Strophe) Assonanzen mit dem o- und a-Vokal, in der zweiten mit dem Diphthong au, in der vierten mit dem ie-Vokal und gesellt dazu eine Alliteration mit dem stimmhaften w-Konsonant. Auf diese musikalische Anmutung der Natur antwortet das Ich in der 2. Strophe seinerseits durch Assonanzen, hörbar in den Vokalen u, i (e), ei, und durch eine h-Alliteration. Die dritte Strophe knüpft das musikalische Gewebe fort, es verbindet das hörende und sehende Ich mit der Natur in einer Reihe von Assonanzen („Ich höre einen Flötenton […] Indes herauf im Osten schon / Des Tages leise Ahnung dringt.“). Die vierte Strophe bringt dem Ich die weite Welt abermals durch w-Alliterationen nahe, worauf es seinerseits durch e-Assonanzen („das viel ersehnte Heldenkind“) antwortet. Die 5. Strophe kontrapunktiert die Helle der hohen Vokale und Diphthonge durch das dunkle u, das die Verszeilen harmonisch aneinander bindet; parallel dazu geraten Natur („Erdental“, „Schweigen“ und „Welt“) und Ich in eine harmonische Korrespondenz, die mit der Schlußstrophe eine auch musikalische Krönung erhält, namentlich durch Alliterationen (l und sch) und durch Enjambements, die das Widerspiel von „Schmerz“ und „Spott“ fließend, über die Zeilengrenzen hinweg, auflösen und den „alten Gott“ dem Ich naherücken, wobei die prädikative Aussage des „alten Gotts“, das Kund-tun, über die vorletzte zur letzten Zeile, schwingt.
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Es verhält sich nicht so, daß Keller das hier erreichte poetische Niveau für immer besitzt und es unfehlbar fortentwickelt. Dergleichen kann nur erwarten, wer mit dem Schema linearer Progression an ein Gesamtwerk herantritt. Die poetische Realität ist anders, widersprüchlicher. Der noch junge Keller hat, an der Schwelle zu seiner mittleren Schaffensperiode, Gedichte verfaßt, die einer romantisierenden „ungebührlichen Selbstbespiegelung“ nachgeben, um eine kritische Wendung aus dem Grünen Heinrich aufzugreifen. Abendregen aus dem Jahre 1848 darf man füglich dazu zählen.45 Um so einnehmender sind jene Gebilde, in denen der lyrische Debütant mit heiterer oder spöttischer Nonchalance sein Ich in Szene setzt. Am fließenden Wasser ist eines von ihnen, zusammengesetzt aus vier Teilen (Text siehe Anmerkung).46 Eine virtuos komponierte Idylle, mit biedermeierlicher Detail-Liebe verfaßt, bildet den Anfang. Impressionistische Lichteffekte, wie die Droste sie gesetzt hat, ein „Goldengrün“, wie Mörike es zu mischen liebte47, erglänzen auf flüchtigen unscheinbaren Dingen: auf „des Baches Welle“, auf einer „Libelle“ und einer „Blüte“, während eine Esche, Zeugin ihres „holde[n] Treiben[s]“ und Forttreibens, sich zum Bleiben entschließt. Das lyrische Ich, das mit souveräner Gebärde der Esche diesen Entschluß unterschiebt, sieht sich angesichts des Gegensatzes von Bewegung und Bleiben zur Frage veranlaßt: „Soll ich bleiben? Soll ich gehen?“ Das Wechselspiel von Verharren und Dahinziehen ist der Auftakt zu einer weiteren Polarität, die Keller mit kontrapunktischer Meisterschaft variiert: Wasser und Himmel, Tiefe und Höhe, kreatürliche Geschöpfe im Fluß und im Äther (Teil II. und III.) üben eine kosmische Anziehungskraft aufeinander aus, deren Geheimnis das lyrische Ich im uralten „Weltangesicht“ zu fassen glaubt (Teil II), ehe ein Stillstand der Elemente es ihm wieder verhüllt (Teil IV). Nicht nur wegen der kontrapunktischen Durchführung des für Keller charakteristischen Themas der Polarität ist das vierteilige Gebilde bemerkenswert; es ist dies auch dank seiner wechselnden Rhythmen, mit denen das Ich die Naturphänomene und sich selbst vor Verfestigung und vor statuarischer Pose bewahrt. Das bewegliche Ineinanderspiel von Daktylen und Trochäen im zweiten Gedichtteil etwa verleiht dem „Weltangesicht“ ein federleichtes Gewicht, das Kellers wachsende Scheu vor dem Pathos frühzeitig ankündigt. Und bemerkenswert schließlich ist der Aufenthalt Am fließenden Wasser dank jener schon erwähnten Hingabe an das Detail der Natur und Kreatur, wie es mit pointierter Anmut im Bilde des Fischleins und des Falken Profil gewinnt (Teil III). Keller, der hier einen von Mörike und der Droste eingeschlagenen Weg fortsetzt, hat aus dieser Detailhingabe im Laufe seiner lyrischen Produktion die Kunst der zarten und überraschenden Arabeske entwickelt.
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Läßt das vierteilige Gedicht, in dem alles fließt und verfließt – Kreatur, Weltangesicht, Welle -, überhaupt eine fixierbare Bedeutung zu? Offenbar liegt der Reiz dieses Gebildes darin, daß seine wechselnde Bewegung durch seine kunstvollen Strophen ‚festgeschrieben‘ wird. Das Fließende Wasser wird aus dem übersichtlichen Standort des lyrischen Ichs, eines ruhenden und kontemplativen Ichs, gleichsam gegliedert und überschaubar gemacht, die impressionistischen Lichtspiele – vom „Silberlicht“ zum „Goldengrün“ und „schimmernd[en]“ Blau – prägen sich durch Variation dem Bildergedächtnis ein. So ereignet sich denn mehr als nur eine „akkumulative Reihung und Zergliederung von Bildfolgen“, das „nichts anderes“ ermöglichen soll als ein „Schönheitserlebnis“ (M. Feldt, Anm. 14, S. 320). Ausdrücklich beschwört das lyrische Ich am Ende ein der Schönheit konträres Bild der Welle herauf: „Doch versalzen und verbittert, / Still und mutlos lag sie da. -“ Bis dahin arrangiert der Erzähler des Gedichts die Naturphänomene kraft eigener Souveränität, ähnlich wie in anderen Naturgedichten Kellers. Selbst die beträchtliche Entfernung zwischen Fisch und Falke, die er geschaffen hat, überbrückt er zuversichtlich. Die Sprache und Zwiesprache der Natur ist ihm nicht verborgen – er ist ihr kundiger Interpret: „Ich glaube gar, das Sehnen zieht / Eins an des andern Stelle!“ (III. Teil). Und die „junge Welle“, die er vor Zeiten „in’s Tal“ sich ergießen sah, macht er im tiefen Meer wieder ausfindig (IV. Teil). Das ist in der Tat nicht mehr Widerspiegelung der Natur, nicht mehr „Naturmimis“ (M. Feldt, Anm. 14, ebd.), sondern poetische Organisation der Natur und eigenwillige Verfügung über sie, freilich keine unbeschränkte Verfügung. Denn am Ende zieht die Natur in Gestalt der unbewegten Welle der schweiflustigen und eingreifenden Phantasie des Erzählers eine unüberschreitbare Grenze und zwingt sie zum Innehalten. Auch über das „Weltangesicht“, das der lyrische Erzähler ohne Pathos zitiert, gebietet er ja nicht unbeschränkt. Es bedarf seiner kontemplativen Versenkung, wenn es nicht im Unsichtbaren verharren soll. Diese Nachdenklichkeit bildet den Gegenpol zu dem fast spielerischen Arrangement der Naturphänomene, die das lyrische Ich mit leichter Hand zum „reizend leichten Traum“ fügt. Dergestalt schafft es sich ein Glück, das sich erst am Ende in der Meeresstille verflüchtigt. Die für Kellers Lyrik so bezeichnende Scheu vor dem Pathos ist gleich in ihren Anfängen verschwistert mit der Kritik am Stimmungsvollen und an Stimmungsmalerei. Während sich in den vierziger Jahren die Nachfahren der Romantik, Emanuel Geibel etwa, an die Reproduktion malerischeffektvoller Naturbilder machen, finden sich diese schon in Kellers früher Lyrik entzaubert. Ein Gedicht wie das I. von Herbst48 setzt nur dem Anschein nach die Melancholie des Herbstes in Analogie zu der des Poeten. Worauf es Keller ankommt, sind die Brüche und die Brechungen der Ana-
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logie. Der vermeintlich in Schuld- und Sündenbewußtsein umherwandelnde Dichter spielt der entlaubten Natur und ihrer nächtlichen Lichtquelle, dem Mond, einen respektlosen Streich: Ich richte mir den Beichtstuhl ein Auf ödem Heideplatze; Der Mond, der muß mein Pfaffe sein Mit seiner Silberglatze.
Die Heide, vom geschätzten Vorbild Lenau erst vor wenigen Jahren zum Schauplatz der Dichter-Schwermut erkoren49, muß ein kirchliches Zeremoniell über sich ergehen lassen, über dem Kellers Ironie funkelt. Sie schreckt selbst vor einem Herzstück der Naturlyrik seit Klopstock und Goethe nicht zurück: dem tröstenden und lösenden Glanz des Monds50, der zur „Silberglatze“ erbleicht. Die Verfremdung des Vertrauten könnte kaum sarkastischer ausfallen. Keller organisiert um, was als organische Natur überliefert worden ist. Er führt an der Heide und am Mond eine poetische Operation durch, die den nächtlichen Schauplatz zur Metapher einer religiösen Posse macht, entsprechend dem antikirchlichen Affekt Kellers. Diese operative, organisierende Umwandlung des Naturbilds anstelle einer Fiktion, die organische Ganzheit vorspiegelt, wird zu einem Wahrzeichen von Kellers Lyrik.51 Bei seinem entzaubernden Verfahren büßt das Ich keineswegs seine Würde, die Würde des Leidens ein. Sie wird gerade in den Brechungen des Understatements glaubwürdig: „Ich habe heimlich mit dem Tod / Ein Wörtlein schon gesprochen!“ Der kirchlichen Betreuung und Beaufsichtigung entzieht sich das lyrische Subjekt durch Selbstbefragung und Selbstbehauptung. Als einer der Höhepunkte jener Naturlyrik Kellers, die der Selbstdarstellung des lyrischen Ichs dient, darf Winternacht gelten. Winternacht Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt, Still und blendend lag der weiße Schnee, Nicht ein Wölklein hing am Sternenzelt, Keine Welle schlug im starren See. Aus der Tiefe stieg der Seebaum auf, Bis sein Wipfel in dem Eis gefror; An den Ästen klomm die Nix‘ herauf, Schaute durch das grüne Eis empor. Auf dem dünnen Glase stand ich da, Das die schwarze Tiefe von mir schied; Dicht ich unter meinen Füßen sah Ihre weiße Schönheit Glied für Glied. Mit ersticktem Jammer tastet‘ sie An der harten Decke her und hin. Ich vergess‘ das dunkle Antlitz nie, Immer, immer liegt es mir im Sinn!52
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Das Gedicht hat schon die Faszination der Zeitgenossen Kellers hervorgerufen, wie etwa Paul Heyses Erzählung Das Seeweib erkennen läßt.53 Und es hat sich seither in Anthologien tapfer gehalten, angefangen von Ferdinand Avenarius‘ Hausbuch deutscher Lyrik (1902) und Will Vespers Ernte (1906)54 bis zu den Deutschen Gedichten Hans Joachim Hoofs (2001 bei Piper). Winternacht demonstriert beispielhaft, wie die Aneignung der literarischen Tradition mit ihrer Erneuerung einhergehen kann.55 Das lyrische Ich bemerkt, auf der Eisdecke eines zugefrorenen Sees stehend, ein unter seinen Füßen auftauchendes Wasserwesen, eine Nixe. Es entspinnt sich ein stummer Dialog, in dem die lockende Kreatur ihre Leibhaftigkeit und zugleich ihre Erlösungsbedürftigkeit bis zum Ende deutlich beibehält. Doch dieser Dialog zwischen Mensch und Kreatur scheint im Grunde ein Selbstgespräch des Ichs mit seiner eigenen Kreatürlichkeit und seinem eigenen Innern zu sein: ein Dialog sich widerstreitender Seelen- und Triebkräfte. Die figürliche Begegnung, greifbar in einem Natur-Bild, hat eine übertragbare psycho-dynamische Bedeutung. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Bild und Bedeutung konstituiert das Gedicht und verleiht ihm einen unausschöpfbaren Reiz. Versuchen wir ihn zu beschreiben. Stumm, in kaltem Glanz, breitet sich Kellers nächtliche Landschaft aus. Es ist, als habe die Natur den Atem angehalten und sie erstarren lassen. Inmitten der weißen Starre gewahrt das Ich mit schmerzhafter Schärfe die einzige Regung, die in der Landschaft wahrnehmbar wird – eine aus der Tiefe des Sees emporsteigende Nixe, die unter der Eisdecke hin und her tastet. Unter den Füßen des Betrachters ihre nackte Schönheit vorzeigend, bleibt sie zu ihrer Qual doch von ihm getrennt. Eine Nixe, emporgestiegen aus „schwarze[r] Tiefe“! Der Ernst des lyrischen Ichs läßt daran keinen Zweifel. Lehnen wir uns an seine Perspektive an, so erblicken wir die einmalige empirische Gestalt der in einer Winternacht herauftauchenden Seefrau. Aber wir können doch keineswegs vergessen, daß die Nixe auch aus der Tiefe der literarischen Tradition emporsteigt. Der Wasserwesen in deutscher Dichtung sind Legion, lange vor Kellers Winternacht, und seit Goethes Fischer, Fouqués schöner Undine und Eichendorffs lockenden Nixen bevölkern sie die Erinnerung der Leser.56 Aus der Perspektive der literarischen Tradition nehmen wir Kellers Nixe daher als ein erstarrtes Zitat, eine unwirkliche Kunstfigur wahr. Das besondere Ereignis in Kellers Gedicht besteht nun darin, daß weder die Perspektive des lyrischen Ichs noch die der literarischen Tradition uneingeschränkt gilt. Beide verschmelzen vielmehr in einem neuen Wahrnehmungsakt.
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Dieser Akt läßt sich als eine Vision des lyrischen Ichs bezeichnen oder auch als ein Traumbild. In der Gestalt der Nixe entwirft das lyrische Ich, ohne sich dessen klar bewußt zu sein, die eigene Innenwelt. Durch diesen Traum der Einbildungskraft verliert die Nixe ihren rein empirischen Charakter, die zitierte Kunstgestalt ihre Künstlichkeit. Sie wirkt authentisch. Ein Indiz dafür ist der Ort, an dem sie ihr Wesen treibt. Kellers Ich verlegt diesen Handlungsort vom bewegten offenen Wasser – dem traditionellen Aktionsraum der Nixen – unter eine winterliche Eisdecke. Wie kommt sie dorthin? Die literarische Tradition erzählt uns, daß die weiblichen Wasserwesen ihrem Dialog mit dem menschlichen Subjekt mit Vorliebe erotischen Charakter verleihen. Das ist ihre sozusagen natürliche Mitgift. Sie lassen Sehnsüchte laut werden und sie locken ihre Hörer und Betrachter mit dem Ziel der Verführung. Eichendorff hat dafür eindringliche Beispiele geschaffen, in Gedichten wie Lockung oder Nachtzauber und vielen anderen. Ihre Lektüre erweist aber auch, daß die Erotik der Wasserwesen ihnen vom männlich-lyrischen Ich verliehen ist. Sie ist Ausdruck seiner unbewußten oder halbbewußten Lust nach einer Lockung und Verführung. Der Leser von Kellers Winternacht kann sich von diesem literarhistorischen Wissen wohl kaum dispensieren. Aber er wird früher oder später bemerken, daß Keller ihm eine neue Komponente zuführt: er paart die erotische Sehnsucht des Ichs mit der Angst davor. Die Einbildungskraft des Subjekts phantasiert in die emporsteigende Seefrau sein sexuelles Begehren und wehrt es im selben Atemzug ab. Das Begehren erfindet das phallische Bild des emporragenden Seebaums, an dessen Gipfel die Nixe ihre „weiße Schönheit Glied für Glied“ entblößt. Was für ein verführerischer, in die Tiefe hinunterlockender Augenblick! Aber vor dem Zerbrechen des Glases und der Vereinigung mit dem Wasserwesen bewahrt den Betrachter die dichtende Angst: das eben noch „dünne[ ] Glas[ ]“ wird unversehens zur „harten Decke“. So rettet sich das Ich vor seinem Begehren. Es erkauft sich die Rettung jedoch mit Reue, erkauft sie mit Verzweiflung, wie der „erstickte[ ] Jammer“ der Nixe verrät: Unter der Eisdecke hin und her tastend, sucht sie vergebens den Durchbruch ins Freie. So tut das Ich seine qualvolle Erlösungsbedürftigkeit kund, nachdem es sich die Erfüllung seines Begehrens selber versagt hat. Es wird sich dessen nicht klar bewußt, es empfindet diese Versagung dunkel wie einen Selbstverrat, wie eine Schuld gegenüber seiner begehrenden ‚weiblichen‘ Hälfte, eine unverdrängbare, unenträtselbare Schuld: Ich vergess’ das dunkle Antlitz nie, Immer, immer liegt es mir im Sinn!
Wie in einem halbblinden Spiegel schaut das lyrische Ich das Bild seines eigenen Begehrens an; es sperrt dieses Bild im Spiegel ein, bannt und ver-
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bannt es darin und verharrt in diesem Bann mit quälendem Schuldgefühl. Sich selbst aufspaltend in ein schauendes, fragendes Subjekt und ein lockendes, erlösungsbedürftiges Objekt, wird es sich zum unentwirrbaren Rätsel. Keller hatte die vorläufige Erstfassung des Gedichts mit der (später gestrichenen) Schlußstrophe versehen (vgl. Wysling, Anm. 9, S. 193): Als ein halber Stern vom Himmel fiel, Fuhr sie schreiend in die Tiefe hin. Mich durchschauerte ein bang Gefühl, Wie wenn ich die eigne Seele sah.
Die dunkle Ahnung einer Seelenverwandtschaft des lyrischen Ichs mit der Nixe war Keller von Anfang an gegenwärtig; worin aber diese Verwandtschaft beruhte, wollte er keineswegs expressiv verbis klären. Er zog es vor, die beziehungsreiche Rätselschrift zwischen Ich und Kreatur auch nicht namentlich anzudeuten und überließ mit seiner Streichung die Deutung der Rätselschrift dem Leser allein. Lassen wir jedoch die Frage nach der Originalität des Gedichts noch nicht zur Ruhe kommen. Ruft Keller nicht allzu spät, um 1850, ein uraltes Wasserwesen wieder herauf? Ist ihm entgangen, was die historische Stunde geschlagen hat? Ich neige eher zu der These, daß er sich die Historie aneignet, um sie zu erneuern. Das in Goethes Fischer aus den Tiefen des Wassers heraufrauschende Weib, die bei Brentano und Heine über dem Wasser geisternde Loreley – sie sind erotische Zauberwesen, die den männlichen Betrachter zu Selbstpreisgabe, Schiffbruch und Tod unwiderstehlich verführen. Lockung, wie es der Titel eines Eichendorff’schen Gedichtes programmatisch verheißt, ist ihres Wesens Kern. In dieser Lockung besingt das männliche Ich unbewußt seine eigene Verführbarkeit, seine tödliche Lust an der Sprengung seiner Geschlechtsrolle. Verweigerung hingegen heißt das Gesetz, unter dem Kellers Nixe lebt und leidet. Sie lockt nur bis zur vorletzten Strophe: Auf dem dünnen Glase stand ich da, Das die schwarze Tiefe von mir schied; Dicht ich unter meinen Füßen sah Ihre weiße Schönheit Glied für Glied.
Dann der jähe Bruch mit der Tradition: zur „harten Decke“ gefriert das Eis, zum Ort der Verbannung des Eros. Die Grenzen der Geschlechter, eben noch zum Verschwimmen nahe, verhärten sich zur Scheidewand. Das lyrische Ich schützt sich vor Selbstpreisgabe, indem es die weibliche Lockung aus dem eigenen Innern aussperrt. Aber die Selbstbehauptung mißlingt: wie ein unerlöster Lockruf und Schuldvorwurf geistert das Ausgesperrte durch den Sinn des Melancholikers. Er prägt das mythische Bild der Überlieferung um und entwirft sich selbst in diesem Bild, ohne es freilich zu wissen: dergestalt verschattet sich die Spiegelschrift des eigenen
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Innern zur unausdeutbaren Hieroglyphe. Das überlieferte Bild verjüngt sich zum Selbstbildnis, in das der melancholische Narziß wie in ein Rätsel blickt. Im „Schwarz“ der „Tiefe“ verdichtet sich seine Melancholie, in der jähen Verwandlung der „weißen Schönheit“ zum „dunklen Antlitz“ vertieft sich sein Rätselbild. Die Reflexion kann sich nicht zur Selbstreflexion, die Selbstspiegelung nicht zum Selbstbewußtsein befreien. Darunter mag das Ich menschlich leiden, ästhetisch schlägt es zu seinen Gunsten aus. Das Bild der Tradition friert nicht im Bescheidwissen ein, sondern wird in eine Geheimschrift umgebildet: Ich vergess’ das dunkle Antlitz nie, Immer, immer liegt es mir im Sinn!
Der bedrängendste Ausdruck des Wasserwesens ist sein „erstickte[r] Jammer“: ein Leiden, dem der Atem und die Sprache versagt sind und das an sich selbst zugrunde geht. Kellers topographische Erneuerung des Nixenbilds – seine Verbannung unter eine Eisdecke – findet hier eine mimisch-gestische, von Sprachlosigkeit begleitete Korrespondenz. Es ist Kellers weitestgehende und eigenwilligste Entfernung von der Tradition der sangeskundigen und lockenden Wasserwesen. So war noch nie eine Nixe gezeichnet worden. Es macht den Reiz des Gedichtes aus, daß sein schwebender Rätselcharakter wie unruhiges Wasser an seinen stauenden Rhythmus schlägt. Stauender Rhythmus – was läßt sich darunter verstehen? Zunächst das eigentümliche metrisch-rhythmische Gefüge der Verszeilen: Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt, Still und blendend lag der weiße Schnee, Nicht ein Wölklein hing am Sternenzelt, Keine Welle schlug im starren See.
Nur schwer kommt der Trochäus in Gang. Er verleugnet sich zu Beginn der ersten Zeile, da die semantische Betonung auf „ein“ liegt, und läßt einem Jambus („nicht ein“) den Vortritt, ehe der erste trochäische Versfuß unverkennbar hervortritt („Flügel“); doch kaum ist er verklungen, da bricht sich die metrisch-rhythmische Bewegung am nächsten Versfuß, der kein rechter Trochäus ist. Denn die gewichtige Hebung von „schlag“ markiert auch semantisch das Ende der ersten Vershälfte (des ersten Kolons) und zieht eine Zäsur nach sich, die ein gewisses Innehalten (beim lauten Lesen eine Atempause) verlangt. So wird der Versfuß gleichsam aufgespalten: in „schlag“ und „ging“. Das Prädikat „ging“ jedoch, das die zweite Vershälfte eröffnet, ist zu bedeutsam, als daß es in die trochäische Senkung gleiten dürfte; es darf wenigstens eine schwache Betonung („ging“) beanspruchen. Damit wird auch dem Rhythmus eine gleitende Bewegung vorenthalten, zumal eine weitere Hebung sich unmittelbar anschließt
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(„durch“). Die Betonung dreier Silben kurz hintereinander verlangsamt das Verstempo, und die Häufung einsilbiger Wörter in der zweiten Vershälfte („ging durch die Welt“) akzentuiert diesen Prozeß obendrein. Mit der markanten Hebung auf „Welt“, die zugleich das zweite Kolon abschließt, stockt die metrisch-rhythmische Bewegung endgültig – und dieses Übergewicht schwerwiegender Hebungen (auf Kosten leichtfüßiger Senkungen), das den trochäischen Versfluß hemmt, ist wie ein metrisch-rhythmischer Reflex des gefrorenen Atems der Winternacht.57 In der zweiten Zeile behauptet der Trochäus von Beginn an sein Maß, indem er taktfest an eine schwere betonte Silbe jeweils eine unbetonte heftet: / / / / / Still und blendend lag der weiße Schnee
Drei Hebungen erhalten erneut ein besonderes Gewicht, weil sie auf ein einsilbiges sinntragendes Wort („still“, „lag“, „Schnee“) fallen, so daß der Rhythmus kaum gleiten kann, vielmehr mit gemessener Schwere die gefrorene Winterstille nachbildet. Er gerät mit der dritten Zeile abermals aus dem trochäischen Gleichmaß, denn der Auftakt liest sich erneut jambisch, weil die semantische Betonung auf „ein“ liegt („Nicht ein“). Das hemmt erneut den Lesefluß und nötigt den Leser zum Innehalten, ehe die Schlußzeile das Gleichmaß wiederherstellt, freilich mit dem verhaltenen Tempo der vorhergehenden Verse: / / / / / Nicht ein Wölklein hing am Sternenzelt, / / / / / Keine Welle schlug im starren See.
Da Zeilen- und Satzende stets zusammenfallen, wird das ohnehin gemessene Verstempo Zeile nach Zeile gleichsam aufgehalten: es bildet jedes Mal eine auffällige Zäsur. Es ist diese zögernde und stauende, durch schwere Hebungen gebrochene Bewegung, die zum rhythmischen Gesetz des Gedichtes wird. Es schichtet Zeile um Zeile, jede ein hart gefügter Block, aufeinander. Es ist, als müßte das lyrische Ich mit Mühe Bild für Bild bedenken und mit angehaltenem Atem ergründen, ehe es den Schlußstein setzt, der nicht ein Ende markiert, semantisch gesehen, sondern die Eröffnung eines immerwährenden Rätsels: / / / / / Ich vergess’ das dunkle Antlitz nie, / / / / / Immer, immer liegt es mir im Sinn!
Noch einmal fallen die Hebungen schwer ins rhythmische Gewicht, wie das „Immer“ zweimal zeigt. Und noch einmal brechen die auffälligen Pausen (nach „nie“, nach „immer“) stückweise das Sprachtempo, dessen
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verhaltener Charakter vom Eingedenken eines unerhellbaren Schuldbewußtseins zeugt. Vollkommene Gedichte wie Kellers Winternacht sind unausschöpfbar; jede Wiederlektüre ermöglicht dem Leser die Entdeckung unbemerkter Seiten. Wie andere Gedichte (vgl. Stille der Nacht in diesem Kapitel und Stilles Abenteuer in Kap. XVI) lebt auch Winternacht aus dem räumlichen Kontrast, gliedert eine kontrastive Architektonik seine Topographie. So gleich am Anfang: die von der zweiten Zeile entworfene Horizontale – eine Winterlandschaft, soweit das Auge reicht – wandelt sich in Zeile 3 mit dem Aufblick sternenwärts zur Vertikalen. Von ihr fällt der Blick sogleich wieder in die Horizontale des „starren See[s]“. Gleichzeitig wird ein neuer Kontrast anschaulich: Dem durch das „Sternenzelt“ eröffneten kosmischen Raum wird mit dem „starren See“ ein lokaler Binnenraum zugeordnet. Solche kontrastiven Raumgliederungen sind mehr als ein ornamentales Spiel. Das wird mit dem Übergang zur zweiten Strophe unmittelbar sinnfällig. Der kosmische Raum, vollständig unbewegt („nicht ein Flügelschlag“), erhält einen Widerpart durch die Bewegung der Nixe im See, die bis zum Ende des Gedichts anhält. Die absolute Stille der Welt zwingt das lyrische Ich zu vollkommener Konzentration auf das Geschehen zu seinen Füßen, das ein Geschehen in seinem Innern ist. Es handelt sich um einen in lyrischer Poesie wiederholt erstrebten Höhepunkt: den Augenblick einer existentiellen Selbsterfahrung angesichts einer Stille, die keine Selbstzerstreuung duldet. Das fragliche Geschehen bahnt sich „aus der Tiefe“ an, aus welcher der Seebaum mit der Wasserfrau emporsteigt. Die Umkehrung dieser von unten nach oben verlaufenden Vertikalen erfolgt in Strophe 3, wenn das Ich in die Tiefe hinabblickt und auf den Gliederbau der Nixe starrt: Auf dem dünnen Glase stand ich da, Das die schwarze Tiefe von mir schied; Dicht ich unter meinen Füßen sah Ihre weiße Schönheit Glied für Glied.
Der beschränkte Ort des Sees erfährt unversehens eine mythische und in ihrer Schwärze unheimliche Vertiefung, kontrapunktisch zum hohen Sternenhimmel. In diese neue Unendlichkeit, ja Unergründlichkeit des vertikalen Raums zieht Keller eine fragile Horizontale ein, angedeutet durch das „dünne[] Glas“ des Sees, auf dem das betrachtende Ich steht, ein Glas, das die Nixe offenbar durchbrechen könnte, würde der von Triebangst erfaßte Betrachter es nicht zur „harten Decke“ gefrieren lassen, unter welcher die Nixe „mit ersticktem Jammer“ „her und hin“ tastet: eine verzweifelt verfestigte Horizontale. Nun ist das lebendige Triebwesen in die Tiefe verbannt. Aber in Geist und Psyche des Ichs zittert eine Bewegung nach –
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die des Selbstvorwurfs und des Schuldbewußtseins ob der unerlösten, eingesperrten Triebnatur. Ich sprach von der existentiellen Situation, die Kellers Gedicht heraufruft, jener Selbstbegegnung des lyrischen Ichs in vollkommener Einsamkeit. Ihre eigentümliche Schärfe erhält diese Einsamkeit durch die topographische Stellung des Ichs: es ist ein winziger, verlorener Punkt im Weltall, und es ist einer Natur ausgesetzt, die zur Kälte und Bewegungslosigkeit erstarrt ist. Nicht die geringste Fühlungnahme der Natur mit dem Subjekt ereignet sich. Exponiert auf der Eisdecke des Sees, hat das Ich nur den unerreichbaren Sternenhimmel über sich und die Schwärze unergründlicher Tiefe unter sich. Dieses Ich korrespondiert einer naturwissenschaftlichen Entwicklung, die mit den Entdeckungen von Kopernikus und Galilei einsetzte und zur Folge hatte, daß die Erde als unverrückbarer Mittelpunkt des Weltalls annulliert wurde und damit das souveräne Individuum seiner zentralen Stellung im Universum verlustig ging. Solchem Verlust entspricht Kellers weltverlorenes, im Weltall zum einsamen Punkt reduziertes Ich. Die ahumane Erhabenheit dieses Weltalls kommt schlagend zur Geltung durch die der Eingangsstrophe eigentümlichen vorangestellten Negationen. Nicht die Spur eines lebendigen Wesens („Nicht ein Flügelschlag“) oder eines meteorologischen Vorgangs („Nicht ein Wölkchen“) oder einer ‚natürlichen‘ Regung („Keine Welle“) ist zu bemerken. Die kosmische Unberührbarkeit ist vollkommen und wirft das Ich nachdrücklich auf sich selbst zurück. Verweist Kellers winterliche Szene auf eine moderne Realitätserfahrung, so vertieft sein ‚poetischer Realismus‘ diese Erfahrung: die Erscheinung der Kreatur gibt sich als ein Traumbild zu erkennen, das die Innenwelt des Ichs, seinen Eros, freilegt, ohne daß dieser abgespaltene Eros ganz in die Helle seines Bewußtseins treten würde. Solche Traumbilder und halb bewußten Geschehnisse begleiten wiederholt das erzählende Ich im „Grünen Heinrich“.58 Dem Bildgedächtnis des Lesers kann sich Kellers Gedicht dank seiner perspektivisch-klaren Raumgliederung einprägen; der poetische Ort erhält Struktur durch die horizontalen und vertikalen Koordinaten, und er bleibt zugleich in Schwingung durch die darin eingezeichneten Verschiebungen, die von der Starre des winterlichen Raums zur Bewegung der Nixe und zur Unruhe ihres Rätselgesichts reichen. Ermöglicht die Struktur des Raums unserem räumlichen Sehen Orientierung, so bleibt es zugleich lebendig dank der Veränderungen im Raum. Kellers Farbgebung macht das Sehen noch sinnenhafter, macht es sinnlich. Die erste Strophe entwirft ein überwältigendes Weiß („Still und blendend lag der weiße Schnee“), fast unmerklich kontrapunktiert durch die nächtli-
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che Bläue des Sternenhimmels. Von Strophe 2 zu 3 erfolgt über das Grün des Eises, Sinnbild des noch nicht ganz erstarrten, noch pulsierenden Lebens, ein vollständiger Farbenwechsel zur „schwarzen Tiefe“ des Sees, Metapher des unheimlichen und unergründeten Seelenlebens: eine Schwärze, mit der jedoch der weiße Gliederbau der Nixe kontrastiert. Der dynamische Wandel der Farbgebung erfaßt zunächst auch das NixenWeiß; es ist Ausdruck des lebendigen Begehrens, in stimmiger Korrespondenz zum Grün des Eises, und bildet dergestalt einen Gegensatz zum Weiß der winterlich starren Welt. Am Ende, nachdem der Betrachter das begehrende Leben abgewehrt hat, dominiert das „dunkle Antlitz“ der Nixe: die unerhellte Rätselschrift ihres Seins, die der unauslotbaren „schwarzen Tiefe“ benachbart ist, der dunkle wunde Punkt im Leben des lyrischen Ichs und im unbewegten Weiß der Winterlandschaft. Keller trägt die Farben so auf, daß sie nicht nur ein Landschafts- und Nixenkolorit hervorbringen. Sie versinnlichen die Bedeutung des inneren Vorgangs, ja verleihen dieser stellenweise eine entscheidende Nuance, wie am Grün des Eises deutlich wird. Es verweist dieses Grün auf die noch vorhandene Chance des Ichs, seinen Triebwunsch vor dem Erfrieren zu retten, und mit dieser Verweiskraft wird auch der tragende Vokal der Farbe – der Umlaut ü – bedeutsam. Auch wenn kein „Flügelschlag“ durch die Welt geht: in dem Substantiv als solchem, dem ersten des Gedichts, bezeichnet dieser Umlaut den lebendigen Impuls, der im Grün des Eises und dann im „dünnen Glas“, also der zerbrechlichen Trennwand zwischen Ich und Nixe, und schließlich in den „Füßen“ nachschwingt, die ja die Wand durchstoßen könnten: erst die Angst davor läßt das „dünne Glas“ zur „harten Decke“ gefrieren, die den begehrenden Eros gleichsam stillstellt. So bildet sich eine musikalische Linie aus einem leitmotivisch wiederkehrenden Vokal, die zugleich sinntragende Funktion erfüllt. Die eigentliche Dominanz im Vokalgefüge des Gedichts hat jedoch das helle (kurze oder lange) i. Eingefaßt in eine Negation zu Beginn der ersten Strophe, die jegliche Bewegung leugnet („nicht“), sodann in der unbewegten „Stille“ des Schnees und im eingefrorenen „Wipfel“ wiederkehrend, präludiert es dem „erstickten Jammer“ der Nixe: ein Lautzeichen des erstorbenen bzw. ungelebten Lebens. Andererseits versinnlicht derselbe Vokal die Lockung der „Nixe“: sie „stieg“ empor „aus der Tiefe“ und zeigt „Glied für Glied“ ihre Schönheit, die das Ich ganz „dicht“ bedrängt. Negation und Faszination des bewegten Lebens bzw. des begehrten Eros sind dergestalt in einund demselben Lautzeichen symbolisch eingefangen. In solcher Verdichtung wird der ursprüngliche Sinn des Begriffs ‚Dichten‘ beredt. Am Ende, in der Schlußzeile („Immer, immer liegt es mir im Sinn“), nimmt das Lautzeichen wahrhaft überhand. Es verschränkt den Gegensatz, aus dem das Gedicht lebt, zum paradoxen Ineinander: die verleugnete und doch wei-
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terpochende Triebnatur, eingelassen in die dunkle, schuldbewußte Erinnerung an ihre Lockung. Der Winternacht ist Kellers Nixe im Grundquell durch die Figur der Wasserfrau verwandt (Text in der Anmerkung)59. Ist jedoch im ersten Gedicht das Naturbild primär, in dem sich das Ich wie in einem halbblinden Spiegel anschaut, so geht das zweite von einem Ich aus, das sich des Naturbilds zu seiner Selbstdarstellung bedient. Schon für den frühen Keller sind Naturbilder und -motive nicht mehr Teile eines organischen Ganzen (vgl. unseren Kommentar zu Herbst I), sie bilden auch ein frei verfügbares Arsenal für die Darstellung nicht-natürlicher, psychologischer und gesellschaftlicher Komplexe. Nixe im Grundquell macht über zwei Strophen hinweg Klarheit und Harmonie des Herzens und der Seele am Bild des ruhenden Sees transparent. Doch wird damit nur die Oberfläche der Psyche berührt. Strophe III und IV verleihen der See-Metaphorik ‚Tiefgang‘: „auf dem Grunde“ des Gewässers sprudelt „ein Quell“, in dem „eine Nix’ mit goldnem Haar“ badet. Die erotische Dimension des Bildes ist uns aus der Geschichte der Wasserfrauen und Kellers Winternacht hinreichend vertraut. Keller bildet das Vertraute um, indem er der Quelle eine ‚hervorsprühende‘ Energie zuschreibt und in ihr eine „heiß[e] und perlend[e]“, ja ‚glühende‘ Kraft entdeckt: dergestalt gibt er die sexuellen Impulse des lyrischen Ichs preis, wie unbewußt oder unwillkürlich auch immer. Das Naturbild verwandelt sich unter seiner operativen Feder zur Allegorie der Seele und der Sexualität. Unter der Oberfläche der Psyche, die so klar, so spiegelglatt, so ruhevoll anmutet, verbirgt sich ein Triebgefüge von verlockendem „Zauber“. Die plastische Anschaulichkeit des Sees hat ihre eigene Unergründlichkeit. Nicht etwa bringt die anschauliche Gestalt das ‚Wesen‘ zur ‚Erscheinung‘, wie die klassische Poetik und Philosophie es wollte, vielmehr verhüllt sie ein Wesen, das im „Grunde“, im Abgrund zu Hause ist. Indem Keller zwischen Oberfläche und Grund, zwischen Psyche und Trieb eine Kluft aufzeigt, zer-klüftet er das Naturbild. Pflegt in der literarischen Tradition die Nixe an der See-Oberfläche zu erscheinen, so täuscht Kellers Oberfläche über ihre Anwesenheit hinweg; sie „deckt den Zauber zu“ und versenkt ihn auf den „Grund[ ]“ des Gewässers, wo er seine Um-Triebe entfaltet. Das zweigeteilte Naturbild wird zur Allegorie einer unversöhnten menschlichen Zweiteilung. Wie eine Fortsetzung der Nixe im Grundquell läßt sich Kellers Seemärchen lesen (Text siehe Anmerkung)60. Die Triebe und Um-Triebe, die verborgen im „Grundquell“ walten, gelangen auf die See-Oberfläche. Sie drängen hinaus „in die nächtlichen Weiten“ und offenbaren sich abwechselnd „bald oben, bald tief am Grunde“. Das Geheimnis ist ans Licht, das geschlechtliche Wesen in die Erscheinung getreten. Wie eine Fortsetzung
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der literarischen Tradition liest sich dieses Seemärchen zugleich. Es spinnt den Faden von Goethes Der Fischer fort. „Halb zog sie ihn, / Halb sank er hin“, lautet dort der berühmte Vers vom Widerspiel zwischen Nixe und Fischer, ehe die Schlußzeile „Und ward nicht mehr gesehn“ der Begegnung ein provisorisches, unbestimmtes Ende bereitet. Keller macht aus diesem Ende seinen Anfang: „Und als die Nixe den Fischer gefaßt, / Da machte sie sich abseiten“. Die Wortwahl – sich abseiten machen – ist im Bunde mit der „lüsterne[n] Hast“ der Nixe verräterisch: wie ein Tier, das seine Beute mit keinem anderen teilen will, macht sich das Seeweib davon. Nichts könnte schlagender ihren sexuellen Hunger und ihre verzehrende Triebhaftigkeit kennzeichnen. Auch ihre Haupttätigkeit im Wasser läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Sie wälzt’ mit dem Armen sich um und um / Und küßt‘ ihm das Rot vom Munde.“ Belassen es die Nixen-Besinger vor Keller bei der erotischen Lockung seitens der Seefrauen und Loreleien (von Goethe über Brentano bis zu Eichendorff und Heine), so dichtet Keller den Vollzug der Sexualität: um die Mitte des 19. Jahrhunderts kann der Mythos der Geschlechterbegegnung nicht mehr in romantischer Verkleidung, etwa im unwiderstehlichen Sirenengesang, inszeniert werden, muß er vielmehr zur Klarheit und Konkretheit entstellt auftreten. Dergestalt zitiert Keller die literarische Überlieferung, um sie umzubiegen. Es scheint zunächst so, als sei die Tätigkeit der Nixe eine Tätlichkeit, wenn vom Fischer als einem „Armen“ und zuletzt gar als einem Toten die Rede ist. In Wahrheit spiegelt der lyrische Erzähler, wie schon in der Winternacht, in der Begegnung der Geschlechter die sexuelle Wunsch-Angst des Mannes, mit dem Unterschied, daß in der Winternacht die Angst jegliche Annäherung verhindert, während im Seemärchen der Wunsch sich in die Vision einer Vergewaltigung verkleidet. Geradezu obsessiv drängt der lyrische Erzähler in der Gestalt des Fischers auf eine sexuelle Vereinigung hin, die er im gleichen Atemzug als Übermacht der dämonischen Frau – und als eigene Ohnmacht – vorweg empfindet. Offenbar verschafft sich hier eine Grunderfahrung Kellers Ausdruck, die ihm biographisch in der Begegnung mit der imponierend-herrischen Betty Tendering, literarisch in der Gestaltung Lydias, des unwiderstehlich lockenden Rätselweibs in Pankraz, der Schmoller, greifbar wurde. Der Tod des Mannes ist dabei die märchenhaft übertriebene Pointe der weiblichen Sexualherrschaft, die – auch dies ein Märchenelement – genau „drei Tage“ währte. Dergestalt antizipiert Keller um Jahrzehnte jene figürlichen Darstellungen der Malerei, wo die Frau als schockierendes Sexualwesen und als tödliche Sphinx gezeigt wird.61 Ironisch und respektvoll zugleich zeichnet seine letzte Strophe die Nixe: ihre Purpurschminke verrät ihre Künstlichkeit und verleiht ihrer Naturkraft einen toilettenhaften Akzent, womit der Mythos ausgedient zu haben scheint, während ihr Emportauchen am hellichten Tag und ihre sirenische Annäherung an den Strand die Suche
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nach neuen Opfern ankündigt – und damit das Fortleben des Mythos in Gestalt der dämonischen Männerverführerin, einer Art „femme fatale“, der das stärkere Geschlecht wider Willen – zu willen ist. Operativ im Sinne einer Umbildung der Tradition verfährt der frühe Keller nicht immer in seiner Naturlyrik. Wir haben dies eingangs erwähnt und erinnern daran in gebotener Kürze. Ein Gedicht wie Abendlied. An die Natur, womit Keller sein erstes Lyrikbuch (Gedichte) eröffnete, lebt noch ganz von dem vertrauten Bild der Natur als Mutter des empfindsamen Ichs. Ein späteres, auf „November 1850“ datiertes Gedicht, Liebliches Jahr – Keller hat es als XIII. seines Zyklus Aus der Brieftasche in den Neueren Gedichten (1854) publiziert – setzt in der Manier der Empfindsamkeit mit „Harfen und Flöten […] und Abendröten“ ein, gesellt dazu nach der Art Hölderlins einen „stille[n] Schwan“, der nun – eine Lenau-Reminiszenz – in einem „kühlen Waldsee“ an „herbstlichen Uferhöhen“ vorbeizieht und dem „klagenden Schilfe“ lauscht, ehe er dem lyrischen Ich zum Bildnis seiner „Seele“ wird und damit eine traditionelle Gleichsetzung zwischen Natur / Kreatur und menschlichem Individuum gleichsam krönt. Der mittlere Keller der Neueren Gedichte sollte sich freilich von solchen Reprisen lyrischer Tradition weitgehend lösen und mit den überlieferten Naturbildern auf eine Weise verfahren, die er schon als junger Lyriker da und dort erprobt hatte: operativ und experimentell. So entsteht die vom Geiste Feuerbachs und seiner Lebensphilosophie inspirierte Naturlyrik (vgl. Kapitel Feuerbachiaden), entsteht auch jene Gleichnis- und allegorische Lyrik, die das Naturbild zum mehrsinnigen Zeichen für menschliche Zusammenhänge umdeutet oder es reflektiert-spielerisch als Sinnbild einer Selbstanalyse einsetzt (vgl. Kapitel Gleichnislyrik. Allegorien). Auch der späte Keller wird sich von solchen lyrischen Verfahrensweisen leiten lassen. So kreist sein Gedicht Land im Herbste62 um die vieldeutige „Aschensaat“, die der Ackermann aussät. Sie verweist auf die kräftigende Erneuerung der „müde[n] Scholle“ und zugleich im allgemeineren utopischen Sinne auf „froher Lenze Licht“, sie deutet aber auch, in der wiederholten Reprise der Farbe grau, auf die Endlichkeit allen Lebens, auf die „Mühsal“ der Arbeit und schließlich auf das relativ unfreie und im „Streit“ sich abnutzende öffentliche Wesen der „Staatsgesellschaften“. Zumindest hat Keller die letztere Sinnebene nachdrücklich betont.63 Mag man auch die poetische Integration der verschiedenen Bedeutungen skeptisch beurteilen: unbestreitbar ist, daß Keller seine Naturbilder nicht um ihrer selbst willen sprechen läßt oder nur zum Medium seiner Subjektivität macht, vielmehr auch zu reflexiven Zeichen von Lebenszusammenhängen umwandelt. Überhaupt fällt auf, daß Keller im Laufe seiner lyrischen Entwicklung vom Naturgedicht Abschied nimmt. Ganze vier neue Texte hat er für den immerhin fünfzig Seiten starken Zyklus Buch der Natur in seinem letzten
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Lyrikband geschaffen. Die übrigen Gedichte entstammen seinen beiden ersten Lyrikbüchern. Und keiner dieser vier Texte ist ein Naturgedicht im engeren Sinn. Das mag man an seinem Abendlied ermessen, das Theodor Storm seinerzeit als das „reinste Gold der Lyrik“ gerühmt hatte.64 Abendlied Augen, meine lieben Fensterlein, Gebt mir schon so lange holden Schein, Lasset freundlich Bild um Bild herein: Einmal werdet ihr verdunkelt sein! Fallen einst die müden Lider zu, Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh‘; Tastend streift sie ab die Wanderschuh‘, Legt sich auch in ihre finst’re Truh‘. Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend steh’n Wie zwei Sternlein, innerlich zu seh’n, Bis sie schwanken und dann auch vergeh’n, Wie von eines Falters Flügelweh’n. Doch noch wandl‘ ich auf dem Abendfeld, Nur dem sinkenden Gestirn gesellt; Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, Von dem goldnen Überfluß der Welt! (Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 407)
Das Gedicht beginnt so unverfänglich, als sei es für Kinder bestimmt: mit einem naiv und gemütvoll klingenden Diminutiv. Und es beginnt zugleich so traditionell, als wollte es die verflossene Biedermeierepoche heraufbeschwören, an welche die „lieben Fensterlein“ mit ihrem „holden Schein“ erinnern. Die vertrauliche Anrede an die Augen und die harmonische Beziehung zur Welt, einer Welt von „holden“ Bildern, finden ihr Pendant im mehrfachen Widerhall der Strophenreime: sie binden jeweils vier Zeilen innig aneinander. Jede Strophe bildet ein reimendes Vierergespann, jede erzeugt eine klangliche Identität, die Vertrauen erweckt. Hält man sich die Überschrift gegenwärtig, so kann beim ersten Lesen der Eindruck entstehen, die freundliche Bilderwelt des Tages werde bei Anbruch der Nacht wie gewohnt verabschiedet – und die strophenumgreifende Wiederkehr der Reime diene dazu, in der Manier eines Wiegenlieds in die Nachtruhe einzustimmen. Das „Einmal werdet ihr verdunkelt sein!“ am Ende der Anfangsstrophe könnte dann das allabendliche Sich-Schließen der Augen bedeuten – und nicht die ewige Nacht des Todes. An diese Nacht gemahnt jedoch unabweisbar die zweite Strophe. Sie beschwört Zeile für Zeile den Tod herauf in seiner Unentrinnbarkeit. Gegenüber dem „holden Schein“ der Eingangsverse wirkt dies unerwartet, fast verstörend. Die wiegenliedartige Wiederholung eines einzigen Reims wird von Unruhe durchgeistert. Die barocke Metapher von den „Wanderschuh’(n)“ der Seele, die nun abgelegt werden, mag noch einmal vertraut
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anmuten und an einen religiösen Abgesang auf das irdische Leben erinnern: daß sich die Seele jedoch in „ihre finst’re Truh’“ legt, ohne Aussicht auf eine Auferstehung im Jenseits, entbehrt allen herkömmlichen christlichen Trosts. Die Strophe spiegelt jene radikale Endlichkeit wider, die sich Keller mit der Diesseitsphilosophie Ludwig Feuerbachs zu eigen machte (vgl. Kap. IV). Diesseitig ist auch die fast unmerkliche Verschiebung der hergebrachten Anschauung des Sterbens. Hält man sonst die Seele für die maßgebliche Instanz beim Abschied vom Leben, eine alle körperlichen Funktionen überdauernde Instanz, so verleiht Keller diesen Rang nun den Augen. Ihr Verlöschen ist das Signal zum Dahinscheiden der Seele. Diese Wertschätzung des sinnlichen Organs macht sich noch in der Todesstunde geltend. Die Seele wird gleichsam mit inneren Augen begabt, die es ihr gestatten, das Erlöschen der äußeren Augen zu beobachten. Keller spielt das Leitmotiv des Sehens konsequent weiter: Es scheint zunächst, als sollte die metaphorische Umschreibung des Sehorgans mit ihren Diminutiven – „Fünklein“, „Sternlein“ – die Realität des Todes dämpfen. Aber der anheimelnd wirkende Ton wird ebenso behutsam wie entschieden zum Verklingen gebracht. Während die Augen zunächst von außen als ‚Fenster‘ wahrgenommen werden, erblickt die dritte Strophe sie aus dem Innenraum der Seele: erblickt sie als Gestirne, deren ‚Schwanken‘ und ‚Vergehn‘ voraussehbar ist.65 Als brauche es nur das „Flügelweh’n“ eines „Falters“ – so leicht wird die Lebenskraft der Augen zerstäuben, wenn die Zeit des Todes heranbricht. Der Wechsel der Perspektive von draußen nach drinnen bewirkt eine Verinnerung des unabwendbaren Todes beim lyrischen Ich. Des Lebensendes wird nicht als eines unbestimmten Ereignisses gedacht, es wird als eine bevorstehende Realität gegenwärtig gehalten. Diese doch ernste Realität entbehrt aller Schwere. Sie besitzt ein Gewicht, das nicht bedrückt. Sie hat vielmehr die Selbstverständlichkeit eines natürlichen Vorgangs, wie der Vergleich mit „eines Falters Flügelweh’n“ verrät, ein durch die musikalische Konsonantenfolge eindringlich wirkender Vergleich: die Trias des stabreimenden f („von“, „Falter“, „Flügel“) und das ihm benachbarte stabreimende w („wie“ und „wehn’n“) schaffen in Verbindung mit dem dreifachen, leicht dahingleitenden Liquid l ein schwerelos anmutendes Lautgewebe, das die „Finsternis“ der Todestruhe kontrapunktisch aufhellt. Das Eingedenken des irdischen Todes erfolgt, wie schon erwähnt, ohne Ausblick auf das Jenseits wie noch im barocken Gedicht. Keller – und das gehört zu den Subtilitäten seines Abendlieds – zitiert die barocke Metaphorik, um sich von ihr abzuwenden und sich dem Diesseits anzuvertrauen. Wenn das lyrische Ich „auf dem Abendfeld“ wandelt, so ist auch dieser
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barocke Anklang an das Altern nur ein Anlaß für die intensive, lebenspralle Ausschöpfung des Diesseits: Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, Von dem goldnen Überfluß der Welt!
Die Emphase dieser schönen und bekannten Aufforderung atmet den Geist Feuerbachs. Sie wird rhythmisch durch zwei Zäsuren hörbar, welche die Anrufung der Augen einfassen und damit hervorheben. Es ist die einzige Zeile im Gedicht, die in ihrem Innern zwei Zäsuren aufweist (graphisch durch Kommata markiert). Sie bereiten die Quintessenz des Abendlieds vor, die sich über ein Enjambement – dem ersten und einzigen im Gedicht – zur Schlußzeile zieht. So bringt sich das Finale des Abendlieds durch zwei rhythmische Besonderheiten eindringlich zu Gehör. Es ist ein Diesseits-Finale ohne Vorbehalt. Gerade angesichts der Unvermeidlichkeit des Todes, und erst recht angesichts des rasch fortschreitenden Alters, ist der unverzügliche und uneingeschränkte Genuß des Lebens ein dringliches Gebot. Den Eingang zum Leben halten die Augen offen. Wie schon im Grünen Heinrich ist es die Schaulust, auf die sich Keller beruft. Wurde in diesem Roman dem kleinen Heinrich die verglühende Sonne zum Medium eines seligen Staunens über die im Abendglanz aufleuchtende Welt, so macht das lyrische Ich, den Tod vor Augen, diese Kindheitserfahrung erneut für sich fruchtbar: in der Bildersprache einer Synästhesie, die in dieser Verschränkung von Schauen und Trinken bis dahin unbekannt war. Augen und Wimpern werden zum schauenden Gefäß, in das sich die Fülle der Welt ergießt. „Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt“ – so beginnt das Lied des Türmers bei Goethe. Keller, geborener Seher, verknüpft die Sinnenkraft der Augen mit der Sinnlichkeit des Trinkens. Das Schauen wird um den Geschmackssinn bereichert, es darf die angeschaute Welt gleichsam kosten, mit Geschmacksnerven leibhaftig aufnehmen. So erneuert Keller die lyrische Überlieferung. Das Bekenntnis zum „Überfluß der Welt“ gewinnt Überzeugungskraft durch die Originalität der Metaphorik. Das Augenglück, von dem Goethes Türmer am Ende spricht, wird bei Keller neu beglaubigt. Das so arglos einsetzende Abendlied, das anscheinend nur den Abschied vom Tag besingt, enthüllt sich unversehens als Todeselegie, aus der ein Preislied des Lebens erwächst: ein Preislied, das seine Intensität aus dem Bewußtsein des Todes zieht. Das Glück der Weltfülle ist der Erfahrung der Lebensgrenze abgewonnen. Erneut fesselt Kellers virtuose Raum-Zeit-Gestaltung die Aufmerksamkeit des Lesers. Die erste Strophe schlingt unaufdringlich gleich drei Zeiten ineinander: die Vergangenheit („schon so lange“), die Gegenwart („Lasset
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freundlich Bild um Bild herein“) und die Zukunft („Einmal werdet ihr verdunkelt sein!“). Parallel dazu wird der Raum fast unmerklich, mit dem Filigranstift, skizziert. Die Augen, als ,Fenster‘ betrachtet, reflektieren das Licht der Welt: sie geben es als „holden Schein“ wider, der die Bilder der Welt beglänzt. Die zweite Strophe erweitert die Gegenwart um die Dimension der Zukunft und des Todes, während kontrapunktisch dazu der Raum verinnerlicht wird und eine Verengung erfährt: er wird zum Seelenraum, der sich zu einer „finst’re[n] Truh‘ “ verdunkelt; nur die Metaphorik der „Wanderschuh‘ “ erinnert noch an das Weltgetriebe. Die dritte Strophe erhellt den Seelenraum für Augenblicke und macht die Zukunft durch drei Bilder anschaulich, macht sie vorübergehend zur bildlichen Gegenwart. Die Seele erblickt die Augen noch als „Fünklein“ (1), die ihrerseits „wie zwei Sternlein“ (2) anmuten. Im Seelenraum schimmern ein letztes Mal Lichtreflexe auf, die an Gestirne des Weltraums gemahnen. Auch der folgende Bildvergleich – „Wie von eines Falter’s Flügelweh’n“ (3) – gemahnt ein letztes Mal an das Diesseits. Der Abschied von der Welt vollzieht sich unwiderruflich in „finst’re[r] Truh‘ “, aber er wird begleitet von Streiflichtern dieser Welt. So subtil ist Kellers Raum-Zeit-Gestaltung! Vor diesem Hintergrund gewinnt die letzte Strophe eine ungeahnte Intensität. Sie bricht aus dem imaginären todgeweihten Seelenraum mit kräftigem Flügelschlag aus. Die visionär geschaute Zukunft des Todes verweist das lyrische Ich mit dringlichem Appell auf seine Gegenwart hier und heute: „Doch noch wandl‘ ich auf dem Abendfeld“. Dieses Abendfeld ist zeitlich – als Tempus des Alterns – und zugleich räumlich zu verstehen: als ein von der „sinkenden“ Sonne beleuchtetes Weltbild. Keller erzeugt einen frappierenden Kontrast. Er sprengt das Seelengehäuse und öffnet den Zugang zur Welt insgesamt. Das Licht, das anfangs, in der ersten Strophe, als „holder Schein“ gespiegelt wurde und behutsam „Bild um Bild“ beglänzte, umfaßt und durchdringt jetzt den „goldnen Überfluß der Welt“ und lädt zu seinem sinnlichen Genuß ein: zur Erfahrung der Fülle des Diesseits noch vor dem Tod. Obgleich der „Überfluß der Welt“ zweifellos die Natur mit einschließt, verwendet Keller im Abendlied nur sparsam Naturbilder und nur im distanzierenden Rahmen des Vergleichs („Wie zwei Sternlein“, „Wie von eines Falters Flügelweh’n“). Selbst das „sinkende[ ] Gestirn“ wird durch die unmittelbare Nachbarschaft des allegorisch gemeinten „Abendfeld[s]“ zum allgemeinen Zeichen der Vergänglichkeit entstofflicht. Die Natur ist für Keller kein poetisches Universum mehr, das er unbefangen wie zeitweilig noch Storm oder unbedenklich wie die neuromantischen Stimmungslyriker von Geibel bis Liliencron abspiegeln könnte. Natur ist für Keller nurmehr ein Bildervorrat, dessen er sich souverän bedient, um seiner Selbst- und Weltdeutung gleichnishafte oder allegorische, rätselhafte oder mehrsinnige, humoristische oder artistische Züge zu verleihen.
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War die Natur für den jungen Keller ein Experimentierfeld politischer Kritik und sozialer Utopien, wie das nächste Kapitel zeigen wird, so hält auch der mittlere und späte Keller an einem experimentellen Naturgebrauch fest, sei er religionskritisch im Geiste Feuerbachs eingesetzt, analytisch zum Entwurf von Selbstporträts, episch-anschaulich zur Vergegenwärtigung von Genrebildern oder humorvoll arabeskenhaft zur Porträtierung von Personen und Dingen. Eine poetologische Tendenz wie die hier skizzierte kennt von Fall zu Fall auch Ausnahmen. Aus der Werkstatt des späten Keller sei beispielhaft eine zitiert, die noch einmal ein bedeutendes Naturbild entwirft – und mit ihm eine utopische Hoffnung Kellers. Eine Hoffnung, die das Abendlied ergänzt, ja es metaphysisch entgrenzt. Denn dieses späte Beispiel knüpft an das „Abendfeld“ die Sehnsucht nach einer Lebensreise über den Tod hinaus. Nach dem „goldnen Überfluß der Welt“, so besagt diese Sehnsucht, möge eine Reise ins Überweltliche erfolgen, auf jener „herrliche[n] Bahn“, die der Große Wagen beschreibt, das von Keller besonders geliebte „Sternbild“, dem schon im Grünen Heinrich seine Aufmerksamkeit gilt. Nun, da seine „Seele“, wie im Abendlied angekündigt, „müde“ wird, wünscht er sich nicht etwa eine „finstre Truh’“ als Ruhestätte, sondern die „Strahlendeichsel“ des „Großen Wagens“, welche er keineswegs beschweren möchte, denn – so setzt er seinen Wunsch fort – er könnte doch, von Fehlern und Gebrechen freigesprochen, „schuldlos wie ein Kind“ und also leichten Gewichts dahinreisen. In Kellers Sehnsucht kristallisiert sich auch die Hoffnung, die Bürde des späten, durch Krankheit beschwerten Alters hinter sich zu lassen. Und so ist sein Gedichtfragment, das die kosmischen Räume der Natur anruft, eine Ergänzung, wenn man will, ein Korrektiv zum Abendlied. Das dort gerühmte Auge ist hier auf andere, überweltliche Weise „treu[ ]“. Heerwagen, mächtig Sternbild der Germanen, das du fährst Mit stetig stillem Zuge über den Himmel Vor meinen Augen deine herrliche Bahn Vom Osten aufgestiegen alle Nacht! O fahre hin und kehre täglich wieder, Sieh meinen Gleichmut und mein treues Auge, das dir folgt so lange Jahre, Und bin ich müde, o so nimm die Seele, Die so leicht an Wert doch auch an Üblem Willen, nimm sie auf und laß sie Mit dir reisen, schuldlos wie ein Kind, Das deine Strahlendeichsel nicht beschwert, Hinüber – Ich spähe weit, wohin wir fahren. (SW XV, 2, S. 194)
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Eine besondere, ja einzigartige Variante der Naturlyrik Kellers gelingt ihm mit der Einbindung der modernen Technik in die Landschaft. Das seltene lyrische Ereignis erfordert in diesem Kapitel eine weitere exemplarische Interpretation: Zeitlandschaft Schimmernd liegt die Bahn im tiefen Tale, Über Tal und Schienen geht die Brücke Hoch hinweg, ein Turm ist jeder Pfeiler, Kunstgekrönet in die Lüfte ragend, Zu den Wolken weite Bogen tragend. Wie ein Römerwerk, doch neu und glänzend, Bindet wald’ge Berge sie zusammen; Auf der Brücke fahren keine Wagen, Denn krystall’nes Wasser geht dort oben, Dessen fromme Flut die Schiffer loben. Unten auf des Tales Eisensohle Schnurrt hindurch der Wagen lange Reihe, Hundert unruhvolle Herzen tragend, Straff von Nord nach Süd mit Vogels Schnelle. Drüber streicht das Fischlein durch die Welle. Langsam, wie ein Schwan, mit weißem Segel, Herrlich auf des Himmels blauem Grunde Oben fährt ein Schiff von Ost nach Westen; – Ruhvoll lehnt der Schiffer an dem Steuer: Ist das nicht ein schönes Abenteuer?66
Wie in anderen Naturgedichten bildet der lyrische Sprecher eine Reihe von Gegensätzen. Wir begegnen der Polarität von „tiefe[m] Tale“ und „weiten Wolken“ (1. Strophe), von „wald’ge[n] Berge[n]“ und „krystall’ne[m] Wasser“ (2. Strophe), von „Vogels Schnelle“ und „langsam[er]“ Schifffahrt (3. und 4. Strophe) – allesamt Komponenten einer Landschaftsdarstellung, die dem zeitgenössischen Leser vertraut sind. Weniger vertraut sind ihm die damit verknüpften technischen Phänomene. Zwar haben schon im Vormärz Eisenbahn und Dampfschiff ihren Einzug ins Gedicht gehalten, aber in der Lyrik des Bürgerlichen Realismus hat man technische Neuerungen nur vereinzelt Revue passieren lassen.67 Man pflegte, worauf wir eingangs hingewiesen haben, die Natur als ein organisch in sich ruhendes Ganzes zu sehen, dem Einflußbereich der modernen Technik entzogen. Wie in anderen Gedichten gestaltet Keller auch in Zeitlandschaft ein vertrautes Naturbild um, diesmal durch die Montage technisch hergestellter modernster Phänomene: einer Eisenbahn, einer Hochbrücke, einer Wasserstraße. Keineswegs ist die Perspektive des lyrischen Sprechers prinzipiell technikfeindlich; er unterscheidet zwischen den einzelnen Phänomenen, die er überlegt anordnet: „Unten auf des Tales Eisensohle“ die
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Eisenbahn, die einen negativen Wertakzent erhält, denn „der Wagen lange Reihe“ beherbergt „unruhvolle“ Reisende und „schnurrt“ mechanisch durch die Landschaft, die zum bloßen Fortbewegungsfeld entäußert ist; „oben“ die weitgespannte, imposante Brücke, die durch die Parallele zum antiken Brückenbau – „wie ein Römerwerk“ – und durch das Attribut „kunstgekrönet“ die Qualität geglückter Architektur repräsentiert, einer zugleich naturgemäßen Architektur, schlägt sie doch einen Bogen zu den „Wolken“ aufwärts und bindet „wald’ge Berge“ zusammen. Über die Brücke führt eine künstlich geschaffene Wasserstraße, die durch Attribute wie „krystall’ne[]„ und „fromme Flut“ (im Sinne von gemäßigte Flut) eine wohltuende Wirkung ausübt und zur Kontemplation einlädt dank der inneren Ruhe des Schiffers und der langsamen Fortbewegungsart des Segelschiffes. Dergestalt hat die moderne Künstlichkeit der Wasserstraße – es handelt sich offensichtlich um eine Art Kanal – zugleich etwas Natürliches und dem Menschen Gemäßes. Ja, das Künstliche enthält die Poesie einer vormodernen Zeit, wenn sich im Wasser „des Himmels blaue[r] Grund[]„ spiegelt und das „weiße[] Segel“ die Aura einer schönen, seit Hölderlin vielbedichteten Kreatur erhält: „wie ein Schwan“ fährt das Segelschiff dahin. Kellers Bild vermittelt zwischen älterer und neuerer Zeit, zwischen Natur, Kreatur und technischem Fortschritt. Zweifellos ermöglicht Kellers lyrischer Sprecher diese Vermittlung dank eines ungewöhnlichen Verfahrens. Führt die Eisenbahnlinie im allgemeinen über das tieferliegende Wasser, so wird hier – in einer Art technischer Vision – das Umgekehrte wahrgemacht. Die Verbannung der Eisenbahn in die Tiefe dürfte mit einschneidenden Gegenwartserfahrungen Kellers zusammenhängen. Als er nach seinem siebenjährigen Aufenthalt in Deutschland 1855 in seine Heimatstadt Zürich zurückkehrte, hatte sich die gemütliche Provinz von einst in ein Industriezentrum verwandelt, dessen Dynamik sich für Keller vor allem in der Eröffnung neuer Eisenbahnlinien und im schwungvollen Handel mit Eisenbahnaktien offenbarte: einer „prosaisch[en]“ Jagd auf „Gewerb und Gewinn und Trödel“, wie Keller im Brief vom 21. April 1856 an Ludmilla Assing mißlaunig notierte. Die im selben Brief gerühmte „herrlichste Aussicht auf die Alpen und den See“, nur „fünf Minuten“ von seinem Haus entfernt, von einem „mit Wald bekränzten“ Platz aus – diese Idylle zitiert er gleichsam von der Wasserstraße an aufwärts bis zu den „wald’ge[n] Berge[n]“ und „des Himmels blauem Grunde“, in deutlichem Gegensatz zu „des Tales Eisensohle“ und „der Wagen lange Reihe“. Er komponiert in eine Landschaft mit vertrauten Naturrequisiten moderne technische Errungenschaften und arrangiert sie so überlegt, daß die erfreuliche Dimension der Technik – Brückenbau und Wasserstraße – sich in die Höhe des Naturraums entfaltet („zu den Wolken“) und dort Verbindungen stiftet (sie „bindet Berge zusammen“), während die negative Seite – die Eisenbahn mit ihrer Unru-
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he – in die Tiefe verlagert wird, wo ihr Lärm und ihre Rauchschwaden sich der akustisch-visuellen Wahrnehmung offenbar entziehen. Eine „Zeitlandschaft“ mit zukunftsweisenden Zügen, die den Naturraum bewahrt und technische Elemente darin wertend integriert, mit qualitativen Abstufungen. Für Kellers Vermittlung von Natur und Technik sind Standort und Perspektive seines Sprechers besonders aufschlußreich. Der von ihm eingenommene Aussichtspunkt erlaubt eine panoramatische Sehweise, das heißt einen umfassenden, von einer gewissen Höhe aus gewonnenen Rundblick. Diese Sehweise ist nicht nur durch Tradition populär geworden und gehört seit dem 18. Jahrhundert gleichsam zum Inventar jeder Landschaftsreise. Sie wurde im 19. Jahrhundert auch durch die Technik des ‚Panoramas‘ gefördert, einer öffentlich zugänglichen Einrichtung, die den souveränen Rundblick auf künstlich hervorgebrachte Natur- und Städtebilder ermöglichte. So vermittelt Keller auch perspektivisch, durch die Optik seines Sprechers, zwischen Tradition und Moderne. Seine Zeitlandschaft ist ihres Namens wahrhaft würdig. Ist es nötig, darauf hinzuweisen, daß Keller seinen ‚poetischen‘ Landschaftsraum so kalkuliert gliedert wie etwa in Winternacht oder in Stilles Abenteuer? Also nicht nur im Hinblick auf die Vertikale, sondern ebenso sehr in puncto Horizontale? Von Ost nach West zieht ruhig das Schiff, eingebunden in die Technik und doch im Einklang mit der Natur; von Norden nach Süden „schnurrt“ die Eisenbahn mit den „unruhvolle[n]“, in Geschäften tätigen Reisenden. Auf dem Schnittpunkt der beiden Himmelsrichtungen ruht ausdauernd die Perspektive des Betrachters. Er läßt demnach eine topographisch ausgeklügelte Landschafts-Szenerie mit vertikal und horizontal präziser Gliederung entstehen. Ein Zeugnis für die Souveränität seines Blicks und seiner ästhetischen Landschaftsgestaltung! Der unübersichtlichen Dynamik des modernen Lebens, das sich kraft technischen Fortschritts und industrieller Transformationen ständig umbildet, begegnet die Kunst durch Kontemplation und souveräne Perspektivierung: utopischer Vorschein des Wünschenswerten, das freilich mit dem Unerreichbaren identisch ist. Die Bevorzugung der „ruhvoll[en]“ Kontemplation gegenüber der „unruhvolle[n]“ Dynamik äußert sich auch in der metrisch-rhythmischen und syntaktischen Bauart des Gedichts. Der fünfhebige Trochäus fällt durch seine Gemessenheit und Regelmäßigkeit auf. Jede Zeile setzt mit einer betonten Silbe ein und endet mit einer unbetonten, einer „weiblichen“ Kadenz, was den Versen eine sanft fallende Bewegung verleiht. Der betonte Versanfang wird syntaktisch hervorgekehrt durch die ungewöhnlich häufige Voranstellung von Adverbialen, die den Zeilenfluß verlangsamen – in Korrespondenz zur Bewegungsart des Schiffes; fast jede Zeile
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bildet für sich einen Satz oder verselbständigt sich in einer oder mehreren Adverbialen, so daß festgefügte Zeilenblöcke entstehen – analog zur architektonischen Gliederung der Brücke. Auffällig ist auch die Reimordnung jeder Strophe: auf die ersten drei reimlosen Verse jeder Strophe folgt jeweils ein Reimpaar. Angesichts der Prosa des technischen Zeitalters wäre, so scheint es, eine durchgehende musikalische Reimfülle unangebracht; der magische Klang würde über die aufmerksame Betrachtung der „Zeitlandschaft“ hinwegführen. Die verbleibenden Reimpaare jedoch und eine Reihe von Alliterationen und Assonanzen machen die (optische) Ästhetik dieser Landschaft auch akustisch evident (vgl. Verszeilen wie „Zu den Wolken weite Bogen tragend“ und „Langsam, wie ein Schwan, mit weißem Segel“, wo jeweils die w-Alliteration hervortritt, begleitet von der assonierenden o- bzw. a-Vokalik). Ein lyrisches Kunstwerk, das der Kunst der Landschaftsgestaltung korrespondiert!
II. Politische Naturlyrik Die leitmotivische Bedeutung des Naturbildes in Kellers früher Lyrik äußert sich unter anderem darin, daß es auch mit politischer Semantik aufgeladen wird. Keller knüpft damit an eine Dichtungsart an, die ihn, eigenem Bekunden zufolge, zum Schriftsteller erweckt hat.68 Herweghs Gedichte eines Lebendigen und Anastasius Grüns Schutt standen Pate bei diesem Erweckungserlebnis. Es handelt sich um eine Dichtungsart, die vom literarischen Vormärz bis zur Epoche der Aufklärung zurückreicht.69 Naturbildlichkeit im Dienste politischer Aussage, politische Aussage in Naturbildern versteckt, angedeutet, eingelassen – das ist eine seit Klopstock mit Vorliebe angewandte lyrische Methode, eine Mode fast im Vormärz. Die Popularität der politischen Naturlyrik hängt, negativ gesprochen, mit der Rückständigkeit Deutschlands zusammen, freundlicher ausgedrückt: mit dem überwiegend agrarischen Charakter des Landes, in dem die Industrialisierung, anders als in Frankreich und England, nur zögernd heimisch wurde. So waren Landwirtschaft und dörfliches Leben, waren kultivierte und relativ unberührte Natur Erfahrungstatsachen für weite Kreise der Bevölkerung, und zwar bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Der vom Kreislauf der Natur, vom täglichen wie vom jahreszeitlichen Kreislauf, vorgegebene Rhythmus sättigte die Anschauung und Vorstellungskraft der Menschen, gliederte ihr Lebensgefühl und ihren Lebensgang. War ihnen die Bibel der vertrauteste aller Lesestoffe und Bildungsgüter, so die Natur der vertrauteste ihrer Anschauungsbereiche. Kein Wunder also, wenn die politische Lyrik sich des Naturbildes bediente, um sich der ‚natürlichen‘ Vorstellungswelt der Leser anzuschmiegen.70 So konnte sie ihren provozierenden Gehalt faßlicher, einprägsamer vermitteln. Denn diese Lyrik war ihrer Haupttendenz nach Protest, war gegen die geltende soziale Ordnung gerichtet, zumal gegen den herrschenden Spätabsolutismus: sie forderte das Junkertum auf dem Lande heraus und machte die Unterdrückung bäuerlicher Schichten publik, sie saß zu Gericht über Deutschlands zahllose Dynastien und seine kleinstaatliche Zersplitterung, sie führte Klage über seinen Mangel an öffentlich-politischem Leben, über die Verfolgung liberaler und republikanischer Geister, und sie ließ neben den spätabsolutistischen Instanzen auch ihre kirchlichen Dienstleister nicht ungeschoren. Kurz, diese politische Lyrik war herausfordernd oppositionell, war explosiv – ein Grund mehr für ihre Verfasser, die Sozialkritik ins vertraute Naturbild zu
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kleiden, die Hoffnung auf menschenwürdigere Verhältnisse in organische Rhythmen zu übersetzen, in den Formen des natürlichen Werdens und Wachsens zu vergegenwärtigen. Und damit – mit dem natürlich scheinenden und organisch wirkenden Bild – ließ sich von Fall zu Fall auch die politische Zensur unterlaufen, konnte man ihren Argwohn einschläfern und ihre Argusaugen blenden. So führte Keller eine jahrzehntealte, fast ‚eingebürgerte‘ Tradition fort, als er seine politische Naturlyrik verfaßte. ‚Eingebürgert‘ aber war die Tradition nur bei den ausgebürgerten Lyrikern – und daß Keller die bedeutendsten von ihnen persönlich kannte und schätzte, Herwegh namentlich und Ferdinand Freiligrath, hat die Glaubwürdigkeit und Mustergültigkeit ihrer Gedichte in seinen Augen nur bekräftigt. Dennoch wäre es verfehlt, würde man Keller nur als späten Fort- und Wortführer einer Tradition verstehen, sozusagen als den Erben eines lange aufgehäuften poetischen Vermögens. Gewiß, es findet sich Entbehrliches in seiner politischen Lyrik, Anklänge an allzu bekannte Klänge, Verdopplungen eines ‚déjà vu‘ und ‚déjà entendu‘. Aber Keller hat die Tradition auch als Erneuerer fort- und zu Ende geführt. Er hat das Politische nicht einfach als eine sachliche Angelegenheit aufgefaßt, nicht allein als Konfliktstoff und als Herausforderung für den Staatsbürger im Menschen. Er hat es als ein ‚tua res agitur‘ für den ganzen Menschen verstanden: sein Lebensglück und sein Lebensgenuß, seine Sinnlichkeit und sein Ethos waren für Keller im Geiste des Politischen miteingeschlossen.71 Noch ehe er sein sogenanntes Feuerbach-Erlebnis hatte, als Dreißigjähriger auf der Schwelle zum Mannesalter, hat er seine Disposition dazu als junger Lyriker entdeckt – ein Feuerbachianer avant la lettre und darin dem politischen Lyriker Heinrich Heine verwandt. Diese These gilt es gegen eine Forschung ins Feld zu führen, die Kellers Feuerbach-Wende zu punktuell, in den zeitlichen Grenzen seines Heidelberger Aufenthalts, zu sehen pflegt. Aber auch ästhetisch ist eine Verschiebung gewohnter Perspektiven an der Zeit. (Sie sei durch die ausführliche Interpretation von Kellers Waldliedern angeregt.) Das Gedicht Sonnenaufgang72, womit wir den Auftakt zu Kellers politischer Naturlyrik setzen, ist eine nur leicht veränderte Version des II. Teils von Morgen73, der die Überarbeitung der Frühfassung von 1844 darstellt (vgl. Text Anm. 78). Das Gedicht ist wegen seines experimentellen Charakters aufschlußreich: Es versammelt in synkretistischer Manier mythologische Elemente, verwendet allegorische Zeichen der Naturfrömmigkeit gegen Metaphern der Lebensfeindlichkeit und setzt klassische Sinnbilder politischer Freiheit ein. So gesehen, ist es ein aus literarischen Zitaten gefügtes, fast artifizielles Gedicht, traditionsbewußt, doch formbewußt nicht minder. Die erste Strophe, die den altgriechischen Mythos vom Sonnenwagen des Helios zitiert, wird kontrapunktiert von der letzten, die an eine
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alttestamentarische Legende über Josua anschließt: ihm war es mit Gottes Beistand gelungen, die Sonne, sprich: den mit Rossen bespannten Sonnenwagen des Helios, zum Stehen zu bringen.74 Keineswegs ist das ein prinzipieller Vorbehalt gegen die Bahn, die das majestätische Gestirn beschreibt. Vielmehr äußert sich darin der utopische Wunsch des Gedichts, die Sonne möge mit ihrem Stillstand endlich eine neue, schönere Zeit fixieren! Der literarischen Tradition entsprechend, verwendet Keller die Naturphänomene des Sonnenaufgangs, des Ostens, des Morgens, des Frühtaus und des morgendlichen Lerchengesangs als die Sinnbilder eines Epochenumbruchs, der eine bessere Gesellschaft heraufführt. Das ‚natürliche‘ Zeitmaß wird zur Metapher der politisch neuen Zeit. Das wogende und brandende Meer, seinerseits den Umbruch und das Neue metaphorisch vorwegnehmend, ergänzt die utopische Bilderkette (2. Str.); und der aus dem Morgentau komponierte „Weihbrunn zum heiligen Sonnengebet“ evoziert die quasigöttliche Legitimität der politischen Utopie. Der christlichen Religion wird das „Heilige“ entwendet und der neuen Zeit zugewendet: Tausendfach wollen die Blumen entriegeln Aus ihrer Brust den gefangenen Gott […] (3. Str.)
Solche Naturfrömmigkeit ist uns aus der Sturm-und-Drang-Lyrik Goethes vertraut, aus dem Prometheus so gut wie aus dem Ganymed, der mit den Versen beginnt: „Wie im Morgenrot / Du rings mich anglühst, / Frühling, Geliebter!“; das Finale des Gedichts gibt die Natur dem „alliebende[n] Vater“ zur Umarmung anheim.75 Heine hat diese Vergöttlichung im Geiste des Pantheismus zum Lobpreis einer neuen Erde fortgeführt: einer menschenwürdigen Gesellschaft, die ihre Ehre in die Emanzipation der Individuen setzt. Diese aktuelle Variante des ‚Göttlichen‘ erneuert Keller, jedoch mit einer reservatio mentalis: dem Eingedenken der Widerstände, denen allerorten der Aufgang einer neuen Zeit begegnet. Die Herrlichkeit der Blumen sieht sich verhöhnt von der Moral der „Kreuze“ und ihrer Heiligung des Leidens, der Qual, des Selbstopfers. Dem morgendlichen Lerchengesang – klassische Metapher des Anbruchs eines Zeitenwandels – und dem „zur Sonne, zur Freiheit“76 strebenden „Fischlein“ machen die Statthalter der alten Gesellschaft das Leben streitig. Noch übertönen und verschatten kreischende Raben – Sinnbilder der Unfreiheit – das Lied und den „freie[n]“ Flug der Lerchen (4. Str.); noch eignet sich der „bewehrte“ und ‚Raubzüge‘ machende Hecht – Metapher für ökonomische Ausbeutung – fremdes Leben und fremdes Eigentum an (5. Str.). So drängt sich das vorläufige Fazit auf: „Schimmernder Morgen, noch ist es nicht Zeit […].“ Der Zuversicht, ja Siegesgewißheit, die für damalige Strömungen der politischen Naturlyrik kennzeichnend sind (Heine hat einmal seinen Spott über Herwegh, die ‚eiserne Lerche‘, ergossen77), begegnet Kellers Gedicht
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mit skeptischem Augenmaß. Nicht etwa mit Resignation, wie das heroische Schlußbild mit Josua im Zentrum deutlich macht. Aber doch mit einem Realitätsbewußtsein, dessen Entfaltung und Differenzierung die Poetik Kellers bestimmen wird. Das Gedicht ist zwar aus literarischen Zitaten und Bildungswissen zusammengesetzt, doch die ästhetische Montage wird belebt von einer realitätsnahen Sehweise, wie sie im Vormärz nicht die Regel ist.78 Enthält die Gedichtüberschrift Sonnenaufgang programmatisch den Anbruch einer neuen Zeit, so steht ihr darin ein anderer Titel, Frühlingsglaube, wohl kaum nach.79 Wie der Aufgang des solaren Gestirns und die ihm zugehörigen Naturphänomene (der Morgen, der Osten, Lerchengesang) zählt der Frühling zu den klassischen Metaphern politischer Utopie. Wenn Keller diese Utopie durch den Begriff der „goldne[n] Zeit“ charakterisiert, so knüpft er an Vorstellungen an, die bis zu Ovid und Vergils Aeneis zurückreichen.80 Und wenn er das „Lied vom Völkerfrieden“ und ‚Menschheitsglück‘ ins Spiel bringt, stimmt er sich ein auf die hochfliegenden Erwartungen seiner Zeit – und vorhergehender, revolutionär bewegter Epochen. Denn nach der Französischen Revolution waren solche Erwartungen auch in der Julirevolution von 1830 geweckt und im Vormärz erneut belebt worden. Sie sollten sich im Nachmärz als Illusionen enthüllen, und die ästhetische Konventionalität von Kellers Frühlingsglaube, namentlich die pauschale Vision seiner dritten Strophe und der moralisierende Tenor der beiden Schlußstrophen, nimmt das Illusionäre des utopischen Gedankens unfreiwillig vorweg. So ist das Gedicht nurmehr als Zeugnis einer populären Zeitströmung aufschlußreich. Indes lädt Frühlingsglaube zu einem allgemeineren Hinweis auf die menschliche Bedeutung lyrischer Naturbilder ein.81 Wie mit dem Sonnenaufgang ein neuer Tag anhebt, so mit dem Frühling ein neues Jahr. Und wie die Sonne das Versprechen eines schönen Tages ausstrahlt, so der Frühling das eines segensreichen Jahres. Sein wachsendes Licht, seine blühenden Landschaften, seine vielfältigen Düfte erneuern den biologischen und auch seelischen Lebensrhythmus, wie ein Gedicht Uhlands es verheißt (Frühlingsglaube): „O frischer Duft, o neuer Klang, / Nun armes Herze, sei nicht bang, / Nun muß sich alles, alles wenden.“ – Die Bindung der Politik an die Natur, an das im Sonnenaufgang und im Frühling symbolisierte Erwachen, hat diesen biologisch-psychologischen Doppelsinn: die Naturphänomene kündigen eine Wende des politischen Lebens an und lassen dieses neue Leben als natürlich und menschengemäß erscheinen. Das Abstraktum Politik erhält im Medium der Naturbilder eine konkrete, der menschlichen ‚Natur‘ entsprechende Anschaulichkeit. Mögen die Naturbilder durch den nimmermüden Gebrauch für politische Belange auch an Überzeugungskraft eingebüßt haben: das Verlangen, dem anonymen
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und unsinnlichen Komplex der Politik Leben einzuhauchen, natürlichanschauliches Leben, erklärt sich aus dem menschlichen Grundbedürfnis nach lebendiger Teilnahme am öffentlichen Wesen, der res publica. Nach dem Sonnenaufgang und dem Frühling kann ein drittes Naturphänomen diese Annahme bekräftigen: das Gewitter. Eine alte Volksweisheit spricht ihm eine reinigende Kraft zu. Im Vormärz wird das Gewitter so häufig mit politischer Bedeutung aufgeladen, daß es seine natürliche Unschuld verliert. Zuweilen läßt sich eine trennscharfe Linie zwischen Natur und Politik nicht mehr ziehen. Das verleiht einem Gedicht wie Gewitter im Mai seine Ambivalenz82. Obgleich es das Politische nicht beim Namen nennt, kann bereits seine ursprüngliche Datierung ein Politikum sein: „21. Mai 1848“83. Immerhin sind 1847 und 1848 die Jahre der europäischen Revolutionen, immerhin gilt der Frühlingsmonat Mai damals an und für sich als revolutionsgestimmt. Das Erwachen des lyrischen Ichs kann demnach auch auf ein metaphorisch gemeintes, politisches Gewitter zurückgehen. Und in der Reinigung von „träge[r], tatenlose[r] Reu’“ mag folgerichtig die Assoziation eines neu erwachten Interesses für öffentlichgesellschaftliche Belange mitschwingen: für die res publica, in die das Subjekt gleichsam von Grund auf verjüngt eintreten würde: Durch Tal und Herz ein Schauer strich, Das Leben blühte frisch und neu.
Keller selbst wäre an einem politischen Neben- und Hintersinn dieser Zeilen nicht unschuldig, seine „Gewitternacht“ in Teil I von Sommer bezeugt es.84 Angesichts der glühenden und üppigen Herrlichkeit des Sommers sehnt sich das lyrische Ich nach dem Gewitter, das in der Ferne sich ankündigt. Ein Übermaß an Wärme und Reife ruft in ihm das Empfinden einer „üppige[n] Pein“ hervor; parallel dazu scheint die Arbeit der Schnitter „auf brennender Au“ zu erlahmen. Aus dieser Doppelperspektive erwächst die Sehnsucht nach einer erlösenden „Gewitternacht, / Nach Sturm und Regen und Donnerschlag“. Im selben Atemzug lädt das dichtende Ich diese Naturphänomene politisch auf – es macht sie zu Vorboten einer dringend erwünschten „Freiheitsschlacht“ und eines entscheidenden „Völkertag[s]“85 – entsprechend dem verbreiteten Brauch der Gattung ‚politische Naturlyrik‘.86 Diese operative Verwandlung natürlicher Phänomene korrespondiert einer früh entwickelten Neigung Kellers, von der bereits im vorangehenden Kapitel (Naturgedicht und lyrisches Ich) die Rede war: seiner Umgestaltung von Naturbildern zu allegorischen Zeichen für das Selbstverständnis des Ichs. Solche operativen Verwandlungen färben gleichsam auf andere Gedichte im zyklischen Umfeld ab. Läßt sich Gewitterabend noch als reine Dar-
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stellung eines Naturphänomens lesen? Keller hat hier den II. Teil des frühen Gedichts Abend mit kleinen Veränderungen in die Gesammelten Gedichte übernommen (Text siehe Anmerkung)87. Virtuos führt er das dem Gewitter vorauseilende Licht über verschiedene Stufen: vom „Blitzstrahl“ und „Gefunkel“ über grelle Erleuchtungen und „feurige Ketten“ zum ‚Wetterleuchten‘. So erhellt er die Landschaft des Gedichts dank seiner Lichtregie mit faszinierenden Schauereffekten. Eine kühne Metaphorik unterstreicht die Wirkung. „Zu Lande“ zieht sich der Schiffer zurück, „wo gaffend der Feierabend steht / Am grell erleuchteten Strande.“ Das Wagnis des ‚gaffenden Feierabends‘ ist keineswegs eine willkürliche Setzung. Es korrespondiert der Respektlosigkeit, womit Keller die des Gewitters harrenden „Leute“ zeichnet. Einzig ihr „Krautgarten“ ist es, den sie von einem „Hagelgericht“ verschont wissen möchten. Nicht auszuschließen ist, daß das Gedicht damit ihre kleinbürgerliche Enge auf-blitzen läßt, ihre engstirnigen, auf das Nächste und Eigenste starrenden Interessen. Ist ein Gewitter damals nicht eines allgemeineren Aufmerkens wert? Kann es nicht Vor-Schein einer öffentlich-politischen Erneuerung sein? Hält man sich, der Vormärz-Epoche eingedenk, diesen ‚gewittrigen‘ Hintersinn vor Augen, so könnte es dem Gedicht zufolge noch ein böses, ein politisches Erwachen für den verschlafenen „Haufen“ geben: Wenn Gott einen guten Gedanken hat, Dann raunt man: es wetterleuchtet! Pass’ auf Gesindel, daß nicht einmal Er in die Wirtschaft dir leuchtet!
Die schon erwähnte Neigung Kellers für die Pointe – hier ‚leuchtet‘ sie ‚blitzartig‘ auf und schlägt in die abgeschirmte „Wirtschaft“ der Pfahlbürger ein, der Pfahlbürger aller Klassen. Daß diese sich gegenüber einem politischen Wetterleuchten blind und taub stellen, ist eine mögliche Lesart des Gewitterabends. Daß Keller diese Lesart ermöglicht, daß er, bei allem revolutionären Feuereifer, das politische Desinteresse des großen „Haufen[s]“ in Rechnung stellt, würde erneut für seinen Realitätssinn sprechen. Die unauflösliche Schwebe zwischen reiner Naturbildlichkeit und politischer Allegorie in Gewitterabend zeichnet auch Kellers Herbstnacht in den Gesammelten Gedichten aus (Text siehe Anmerkung)88: eine Zweitfassung des gleichnamigen Gedichts von 185489. Man könnte versucht sein, das Gedicht einzig als Abschied vom Sommer und als Zurückschrecken vorm Winter zu lesen – als einen im Herbst ausgetragenen „Streit“ in der Natur –, wäre da nicht in der vierten und fünften Strophe das auf den „Wassern“ daherschwimmende „Sommergrün“: „Wie ein ertrunknes Völkerheer / Schwimmt Leich’ an Leiche, Blatt an Blatt, / Was schon der Streit verschlungen hat.“ Eine Aufforderung zu politischer Lesart? Ist der HerbstStreit, dem die blühende Natur zum Opfer fällt, auf politisch-militante
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Konflikte hin transparent? Woher sonst der äußerst gewagte Vergleich zwischen dahintreibender Blätter-,Schar‘ und „ertrunkne[m] Völkerheer“? (Gegenüber dem „Gnomenheer“ in der ersten Fassung wirkt gerade „Völkerheer“ ausgesprochen politisch.) Die Vision des lyrischen Ichs erfolgt nicht unvermittelt. Der „Winter“, der mit der „erschauernd[en]“ „Nacht“ „tödlich […] ringen will“, tritt in der politischen Naturlyrik als Statthalter der Reaktion auf; der durch Wälder brausende und „des Flusses wildem Lauf“ zugesellte „Sturm[ ]“ zeigt dagegen politisch-soziale Erschütterungen an.90 Zwischen den Mächten der frostigen Beharrung und der vorwärtsdrängenden Bewegung würde demnach der visionär geschaute „Streit“ ausgetragen. Kellers Herbstnacht insistiert nicht auf dieser Lesart – sie ermöglicht auch eine rein naturbildliche Lektüre. Zum besonderen Reiz nicht weniger Naturgedichte des jungen Keller gehört ihre schwebende, einer eindeutigen Festlegung sich entziehende Bedeutung. Ursprünglich hatte Keller für sein erstes Lyrikbuch unter dem Titel Im Wald zwei Gedichte einander zugesellt, die er in seinem letzten Lyrikband unter dem Titel Waldlieder zusammenstellte. Wenn das erste der beiden Gedichte das bekanntere ist, verdankt es dies dem Umstand, daß man in Anthologien gern das zweite aussparte, so etwa in Ferdinand Avenarius’ berühmtem Hausbuch deutscher Lyrik. Dadurch fand eine ‚Naturalisierung‘ des ersten Waldlieds statt: man konnte seine politische Dimension zum Schweigen bringen und es rein als Naturbild genießen. Wenn es diesen Genuß gestattet, so zeugt das für seine Bildkraft und Bildfülle. Wenn darüber hinaus seine politische Dimension zur Sprache kommen soll, so nicht nur aufgrund der ‚Einrede‘ des nachfolgenden Gedichts, sondern auch auf der Grundlage der vorab interpretierten Naturlyrik Kellers. Waldlieder I. Arm in Arm und Kron‘ an Krone steht der Eichenwald verschlungen, Heut hat er bei guter Laune mir sein altes Lied gesungen. Fern am Rande fing ein junges Bäumchen an sich sacht zu wiegen, Und dann ging es immer weiter an ein Sausen, an ein Biegen; Kam es her in mächt’gem Zuge, schwoll es an zu breiten Wogen, Hoch sich durch die Wipfel wälzend kam die Sturmesflut gezogen. Und nun sang und pfiff es graulich in den Kronen, in den Lüften, Und dazwischen knarrt‘ und dröhnt‘ es unten in den Wurzelgrüften. Manchmal schwang die höchste Eiche gellend ihren Schaft alleine, Donnernder erscholl nur immer drauf der Chor vom ganzen Haine! Einer wilden Meeresbrandung hat das schöne Spiel geglichen; Alles Laub war weißlich schimmernd nach Nordosten hingestrichen. Also streicht die alte Geige Pan der Alte laut und leise, Unterrichtend seine Wälder in der alten Weltenweise.
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In den sieben Tönen schweift er unerschöpflich auf und nieder, In den sieben alten Tönen, die umfassen alle Lieder. Und es lauschen still die jungen Dichter und die jungen Finken, Kauernd in den dunklen Büschen sie die Melodien trinken. II. Aber auch den Föhrenwald Lass‘ ich mir nicht schelten, Wenn mein Jauchzen widerhallt In dem sonnerhellten! Heiter ist’s und aufgeräumt Und das Weh’n der Föhren, Wenn die Luft in ihnen träumt, Angenehm zu hören! Schlanken Riesenkindern gleich Steh’n sie da im Bunde, Jedes erbt ein kleines Reich Auf dem grünen Grunde. Aber oben eng verwebt, Eine Bürgerkrone Die Genossenschaft erhebt Stolz zum Sonnenthrone. Schmach und Gram umfängt sie nie, Nimmer Lebensreue; Schnell und mutig wachsen sie In des Himmels Bläue. Wenn ein Stamm im Sturme bricht, Halten ihn die Brüder; Und er sinkt zur Erde nicht, Schwebend hängt er nieder. Lieg‘ ich so im Farrenkraut1, Schwindet jede Grille, Und es wird das Herz mir laut In der Föhrenstille. Weihrauchwolken ein und aus Durch die Räume wallen – Bin ich in ein Gotteshaus Etwan eingefallen? Doch der Unsichtbare läßt Lächelnd es geschehen, Wenn mein wildes Kirchenfest Hier ich will begehen!91
Alle Formen dynamischer Naturbewegung, die sich uns bisher als politische Sinnbilder enthüllt haben, begegnen uns im ersten Waldlied erneut: 1
Farnkraut.
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namentlich die „Sturmesflut“, als die der Wind in seinem „mächt’ge[n] Zuge“ erscheint, weckt die alte Assoziation der stürmischen revolutionären Bewegung. Diese „Sturmesflut“ bemächtigt sich hier des Walds, ein das revolutionäre Element gleichsam verdoppelndes Signal. Seit Klopstock ist der bewegte, vom Sturm erfaßte Wald ein republikanisches Wahrzeichen.92 Daß sein „Rauschen“ in der Romantik, bei Eichendorff insbesondere, einen ganz persönlichen und hieroglyphischen, vom Geheimnis umwobenen Tonfall gewinnt, kann die Erinnerung an seinen öffentlich-progressiven Zeichencharakter nicht tilgen. In Konkurrenz dazu hat Eichendorff sein ursprüngliches ‚Waldesrauschen‘ mit einem politischen Beiklang versehen und den Wald zum Sinnbild einer organischen, auf das Mittelalter zurückweisenden Gesellschaftsform erhoben: sein natürliches Wachstum sollte das Muster für eine neue organische Verbundenheit der Individuen und sozialen Korporationen abgeben.93 So bildet die Epoche des frühen Keller zugleich den Rahmen für einen poetischen Wettstreit um die politische Bedeutung des Walds – und der Umstand, daß um diese Bedeutung heute erneut ein Wettstreit entbrannt ist, zwischen umweltbewußten Schützern des Waldes und seinen industriellen Exploiteuren und Zerstörern, verleiht dem Waldstreit von ehedem einen modernen Zug.94 Unbeschadet des Bedeutungswandels, den ein Naturphänomen durchmacht, ist seine Konstanz als Streitobjekt aufschlußreich. Keller hat seine Waldlandschaft aus Eichen komponiert und mit dem Eichenbaum – einem alten Sinnbild des Heroischen, der Selbstbehauptung und des Bürgerstolzes – gleich anfangs einen politischen Akzent gesetzt und diesen im selben Atemzug nuanciert: „Arm in Arm“ spielt unübersehbar ins Menschliche und Solidarische hinüber, so daß auch „Kron’ an Krone“ doppelsinnig lesbar wird – im buchstäblichen Sinn der Baumkrone und im übertragenen Sinne als das sich selbst verantwortliche, durch Freiheit gekrönte Individuum, das inmitten aller Solidarität seine jeweilige Persönlichkeit zur Geltung bringt. Die aufklärerisch-klassische Idee der gesellschaftsverbundenen Individualität! Vor diesem Hintergrund entfaltet sich nun die politische Gemeinschaft, tritt sie in Aktion im Bilde des Sturms, genauer: Im Doppelbild des Sturms und des bewegten Meers. Es konstituiert die eigentümliche Ästhetik des Gedichts, wie der lyrische Sprecher den aufkommenden Wind zunächst zu ‚sausender‘ Dynamik steigert und dann erstmals – mit den „breiten Wogen“ – das flüssige Element ins Spiel bringt, wie er die Wogen sodann ins Luftreich der Wipfel hinaufwälzt und dort zur „Sturmesflut“ ballt, ohne doch das Singen und Pfeifen „in den Kronen, in den Lüften“ zu vergessen, bis er, nach dieser Ouvertüre zu Lande und zu Wasser, den einleuchtenden Vergleich wagen darf:
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Einer wilden Meeresbrandung hat das schöne Spiel geglichen; Alles Laub war weißlich schimmernd nach Nordosten hingestrichen.
Im ‚weißlichen Schimmern‘ pointiert das Gedicht die entfesselte Dynamik beider Bild-Bereiche: der vom Sturm umgedrehten, ihre helle Unterseite zeigenden Blätter des Eichenwalds und der sturmgepeitschten, hell aufschäumenden Brandung. Des Meeres und der Lüfte Wellen – wann wären sie je kühner und schlüssiger ineinander gedrängt worden! Schlüssiger und sinnreicher auch deshalb, weil Sturm und Flut, Sturm und Strom, Sturm und Meer klassische Metaphern der revolutionären Bewegung sind. Das Natur-Bild wird zum vorauseilenden Sinn-Bild eines politischen Wunschtraums. Und der soll beileibe kein ätherisches „Luftreich des Traums“ sein, wie Heine ironisch formuliert hatte95. Er soll vielmehr einen herausfordernden Charakter gewinnen, soll zum Alb-Traum für die Wahrer des Alten und zum Ansporn für die Anwälte des Neuen werden. Daher dramatisiert die lyrische Sprache auffällig das Wahrnehmungsfeld des Ohrs und des Auges. Dem schauenden Hörer kann Hören und Sehen vergehen: Und nun sang und pfiff es graulich in den Kronen, in den Lüften, Und dazwischen knarrt’ und dröhnt’ es unten in den Wurzelgrüften. Manchmal schwang die höchste Eiche gellend ihren Schaft alleine, Donnernder erscholl nur immer drauf der Chor vom ganzen Haine!
Es scheint, als würde Keller im Knarren und Dröhnen der „Wurzelgrüfte[ ]“ akustisch die Explosion, das Lautwerden der Revolution nachbilden, als würde er sie im Naturhall widertönen lassen. Und es scheint, als kündigten sich im gellenden Schwung der „höchste>n@ Eiche“ die revolutionären Tonangeber, im donnernden Chor des Eichenhains die mitziehende Masse an. Wäre dem so, dann könnte die Berufung auf Pan überraschen. Ist sein ‚Geigenspiel‘ nicht eine Ästhetisierung der dröhnenden und donnernden Naturlaute? Aber dieses Spiel auf der Geige ist seinerseits nur eine Metapher für die akustische Gewalt, die der Gott des Waldes nach griechischer Überlieferung auszuüben versteht. Er, der in Wald und Flur, ja in der ganzen Natur gegenwärtig ist, kann seiner Allgegenwart einen entsprechenden Widerhall verschaffen. Keller knüpft an die Bedeutung des mythischen Gottes für die europäische Geistesgeschichte an. Im Pan(-)theismus war, zumal im deutschen Sprachraum, der Protest gegen die christliche Herabsetzung der Natur laut geworden; die pantheistische Vergöttlichung der Natur zielte auf die „Rehabilitation der Materie“ insgesamt, um Heines Wortprägung aufzugreifen – auf eine neue Würdigung der irdischen Belange des Menschen, seine körperlichen Bedürfnisse und seine politisch-sozialen Interessen eingeschlossen. So gesehen, setzt die lyrische Evokation des mythischen Gottes den sinnlichen und lebenszugewandten Republikanismus Kellers fort. Aber das
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tönende Spiel Pans erhält auch einen ausgesprochen ästhetischen Charakter, so, als wäre der Naturlaut gleichzeitig Kunst schlechthin. Denn Pans Musik umfaßt die Tonwelt „alle[r] Lieder“, und seinen „Melodien“ „lauschen still die jungen Dichter“. Vernehmen sie im Naturlaut den revolutionären Klang und in beiden den göttlichen Geist, der auch in der Musik anwesend ist: so wie Hölderlin im revolutionären Klang den Naturlaut und im Naturlaut den göttlichen Geist wahrnahm? In der Ode Wie wenn am Feiertage heißt es, in Anspielung auf die Französische Revolution, die „Natur“ sei „mit Waffenklang erwacht“, und dem Dichter zieme es, das „Heilige“, das darin zum Ausdruck komme, das „himmlische Feuer“, ins poetische Wort zu fassen. Es spricht einiges dafür, daß Keller den „jungen Dichter[n]“ eine ähnliche Transposition zur Aufgabe macht. Und es scheint uns, als würde das zweite Waldlied diese Annahme einlösen. Vom ersten Waldlied hebt sich das II. auffällig durch seine metrischrhythmische Gestalt ab. Vertraut das erste seine Zeilen dem in deutscher Sprache ungewöhnlichen sechzehnsilbigen Vers an, so überläßt sich das zweite knapp der Hälfte der Silbenmenge, sechs bzw. sieben an der Zahl. Prunken die Verszeilen des ersten aufgrund ihrer epischen Länge mit einem Faltenwurf von majestätischen Ausmaßen, so treiben die des zweiten dank ihrer Kürze zügig und schlagfertig dahin. Sie kommen fast ohne Zäsur aus, während im ersten Waldlied die Verse ihre Faltenwürfe durch Zäsuren gliedern. So sind sie ihrer antiken Ahnen würdig – dem sechzehnsilbigen Vers der Epik Homers und Vergils. Wie im alten Versepos erzählen sie ein Heldenlied – mit dem Unterschied, daß ihr Held die solidarisch verbundenen Individuen sind, während im antiken Epos der Held das einzelne, auf sich selbst gestellte Individuum war. Jedenfalls mag diese Verwandtschaft erklären, teilweise zumindest, warum Kellers erstes Waldlied sich so angelegentlich als „altes Lied“ versteht, mit der „alte[n] Geige“ Pans und den „sieben alten Tönen“ verschwistert. Die revolutionäre Gemeinschaft schreibt sich mit der Berufung auf Pan, „de[n] Alte[n]“, eine ehrwürdige Tradition zu und beglaubigt diese durch ihre metrischrhythmische Form. Der angezeigte Formenwandel vom ersten zum zweiten Waldlied ist für den jungen Keller charakteristisch. Nicht durchgehend, aber um so demonstrativer hier, bezeugt Kellers Formexperiment eine Veränderung des poetischen Gehalts. Das Erschauern und die lauschende Stille der „jungen Dichter“ im ersten Waldlied wandeln sich im zweiten zum „Jauchzen“ des lyrischen Ichs. Aus der heranrollenden „Sturmesflut“ wird aufgeräumte Heiterkeit, aus der gewaltigen Musik des donnernden „Chor[s]“ ein „angenehm[es]“ „Weh’n“. Was den „Föhrenwald“ vom „Eichenwald“
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zunächst unterscheidet, ist die Ruhe nach dem Sturm, die heitere Helligkeit nach der „graulich[en]“ Windsbraut. Das Föhrenreich erntet gleichsam die Früchte des im Eichenhain ausgetragenen Kampfes. Wie die Erben der gewaltigen Eichbäume hat das lyrische Ich die zweite Baumgruppe gezeichnet: „Schlanken Riesenkindern gleich / Steh’n sie da im Bunde“. Das gemeinschaftliche Sein macht die Föhren mit den Eichen verwandt, eine Verwandtschaft, die sich auch nach einer anderen Seite hin bewährt – der des individuellen Seins: „Jedes erbt ein kleines Reich / Auf dem grünen Grunde.“ Die Individualität hat festen Grund und Boden, verfügt von Föhre zu Föhre über ein eigenes Reich. Die im ersten Waldlied durchscheinende Idee der selbständigen und zugleich solidarisch verbundenen Citoyens, eine der zentralen Ideen der aufklärerisch-klassischen Geistesgeschichte, erlebt im zweiten Lied ihre Fortsetzung: Aber oben eng verwebt, Eine Bürgerkrone Die Genossenschaft erhebt Stolz zum Sonnenthrone.
Im Bild der „Bürgerkrone“ erneuert Keller seinen anti-aristokratischen Republikanismus. Im selben Bild macht er den Doppelsinn, den ‚natürlichen‘ und den politischen, wahr, den wir in der ersten Zeile des Eichenwald-Gedichtes vermutet haben. Durch den Reim ist „Sonnenthrone“ mit „Bürgerkrone“ verbunden, aus gutem Grund: die Sonne, Inbild und Schirmherrin der Revolution, ist zum Wahrzeichen des republikanischen Bürgerstolzes geworden; ihre Inthronisierung verweist metaphorisch auf das nachrevolutionäre Reich des Friedens, in dem Lebenszuversicht und Lebensgenuß gedeihen können: Schmach und Gram umfängt sie nie, Nimmer Lebensreue; Schnell und mutig wachsen sie In des Himmels Bläue. Wenn ein Stamm im Sturme bricht, Halten ihn die Brüder; Und er sinkt zur Erde nicht, Schwebend hängt er nieder.
Schmach und Gram“ – das waren essentielle Erfahrungen Kellers in München gewesen, wie sein Grüner Heinrich nachdrücklich zeigt. Das Scheitern des zum Malerberuf hindrängenden Künstlers, das ein Scheitern der mütterlichen finanziellen Opfer bedeutete, wachsende Schulden und wachsendes Schuldbewußtsein der Mutter gegenüber: all dies hatte den jungen Keller periodisch in „Lebensreue“ versinken lassen. So betrachtet, ist die von ihm entworfene Utopie im „Föhrenwald“ eng mit eigener Lebenserfahrung und neuer Lebenshoffnung verschränkt. Die Ohnmacht
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der bürgerlichen Kleinfamilie, die der grüne Heinrich so nachhaltig am eigenen Leibe erlebt – sie würde in einer solidarisch verbundenen Gesellschaft durch Brüderlichkeit überwölbt; in diesem metaphorischen Sinne läßt sich die stützende Kraft der Föhren angesichts des versehrten Bruderstamms verstehen. So ist denn der Geist des Liedes aus dem vorhergehenden Gedicht, des Liedes von Pan, greifbar geworden. Die „jungen Dichter“, die es hörten, setzen es fort und deuten seinen Sinn. Sie machen den Geist der Utopie durchsichtig, der die Revolution befeuert – und sie erkunden für diese Utopie, das Nirgendwo, einen Ort: das Reich des nachrevolutionären Friedens. In ihm sind individuelles und solidarisches Sein im Lebensgenuß verbunden. Die Korrespondenzen zwischen erstem und zweitem Waldlied treten am Ende nach einer weiteren Seite hin hervor. In die Rühmung Pans, des Gottes des Waldes und der freien Natur, mündet das erste Lied. Die pantheistische Vergöttlichung der Natur war, so hatten wir angemerkt, eine Antwort gewesen auf ihre jahrhundertelange Erniedrigung durch die christlichen Kirchen, eine die individuellen und sozialen Bedürfnisse der Menschen reklamierende Antwort. Auf die Fehlhaltung des offiziellen Christentums bezieht sich polemisch Kellers lyrisches Ich, wenn es in seiner letzten Strophe einem „wilde[n] Kirchenfest“ huldigt: einem, das im Freiraum der Natur und damit im Raum der erlösenden Utopie stattfindet. Der „Unsichtbare“, der das Fest „geschehen“ läßt, ist der wahre Gott, dem Pan verwandt und der neuen Weltlichkeit „lächelnd“ zugeneigt. So gemahnt Kellers letzte Strophe an die erste von Heines berühmtem Neuen Testament: Auf diesen Felsen bauen wir Die Kirche von dem dritten, Dem dritten Neuen Testament, Das Leid ist ausgelitten.
Einen skeptischen Kontrapunkt zur emphatischen Utopie der Waldlieder bilden die Stein- und Holz-Reden. Wenn wir hier die zweite, geschliffenere Fassung aus den Gesammelten Gedichten von 1888 zitieren96, so darf das nicht vergessen machen, daß schon die Erstfassung der Gedichte von 184697 diese Skepsis entfaltet. Zur Eigenart der politischen Naturlyrik Kellers gehört die Gleichzeitigkeit grundverschiedener Aussagen: Aussagen, die ihrerseits einer grundverschiedenen Ästhetik verpflichtet sind. Gegenüber dem epischen Atem der in langen Verszeilen ausgebreiteten Sätze des ersten Teils der Waldlieder warten die Stein- und Holz-Reden mit knappen, lapidaren Satzbildungen auf. Ihr trockener, ironischer Lakonismus erinnert an den syntaktischen Stil Heinescher Versepen – auch ihre Gliederung in kurze Erzählstationen ist manchem Caput des etwa gleichzeitig entstandenen Wintermärchens Heines verwandt. In der ironisch-
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lakonischen Erzählhaltung kündigen die Stein- und Holzreden einen lyrischen Grundzug des mittleren und späten Keller an. Seine Skepsis in diesem Gedicht gilt dem engen, dem vertrauten Zusammenhang zwischen Naturbild und politischem Geschehen. Wenn da auf der Lüneburger Heide junge Gesellen an Stein und Eiche vorüberziehen, „im Lenz mit frischem Sang“, und „von deutscher Freiheit“ singen: so hat die tausendjährige Eiche allen Grund, angeregt vom Lied und frischen „Windesbraus“, „in tausend jungen Augen“ auszuschlagen und neu zu grünen. So entspricht das Erwachen des Baums im Frühjahr aufs schönste dem erwachten Freiheitsverlangen der Deutschen: bis sich enthüllt, daß die Eiche nicht den geringsten Grund hatte, sich ins Frühjahrskostüm zu werfen und sich zu erneuern. Denn sowohl das Lied „von deutscher Freiheit“ wie das „‚Lied der Einheit‘“ verhallt ungehört: es war nur „‚des Windes Traum‘“. Die Eiche hat umsonst ausgeschlagen, ihr Dialogpartner, der uralte Stein, hat sie umsonst geweckt. In Deutschland wird jede schöne Hoffnung zuschanden. So hat denn die Eiche abgedankt, hat sich von der stumpfen Realität entzaubern lassen und „rauschend die Äste / Vom welken Laub im Zorn geleert“. Im benachbarten Stein, der sie mit leeren Träumen genarrt hat, hofft sie einen Schlafgenossen zu finden, aller Illusionen müde wie sie selbst. Das Gedicht enthüllt das politische Frühjahrslied als ebenso trügerisch wie das Aufblühen des Baums. Auf das poetische Wort ist so wenig Verlaß wie auf die Natur. Keller durchschneidet den vertrauten Zusammenhang zwischen beidem. Das Naturbild taugt nicht mehr als Sinnbild einer neuen Politik – allzu oft hat es seinen Zauber vergeblich entfaltet. Der Zauber begrünt nur Träume, die niemals wahr werden, jedenfalls in deutschen Landen. Erneut fällt die Verwandtschaft mit Heine und seiner ironischen Entblößung deutscher Träume auf. Über das „Luftreich des Traums“ (Deutschland. Ein Wintermärchen) gelangen die Deutschen nicht hinaus – da hilft kein Frühjahr, kein neues Grün, kein Blitz, kein Sturm, kein über seine Ufer tretender Fluß, kein wie immer geartetes Naturphänomen. Indem Keller dieser Skepsis die Zunge leiht, fährt er nicht nur der politischen Naturlyrik in die Parade. Er hebt eine stille Suggestion dieser Lyrik auf: die nämlich, daß politischer Wandel und revolutionäre Erneuerung sich ebenso gesetzmäßig und organisch einstellen würden wie die Naturphänomene selber. Mit der Bindung an die Natur und ihr gesetzmäßiges Wirken schien sich auch die erhoffte Politik gleichsam naturgesetzlich durchzusetzen, so wie der Frühling sich zuletzt immer gegen den Winter durchsetzt. Diese schlichte Gleichung suspendiert Keller in den Stein- und Holz-Reden. Indem sich die Naturphänomene aus der Politik zurückziehen, überantworten sie die Politik dem Traum. Nur menschliche
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Initiativkraft könnte den Traum wahrmachen – doch darauf deutet zur Stunde nichts hin. Offenbar stellt Keller hier den Dreh- und Angelpunkt politischer Naturlyrik still. Und offenbar liegt der Grund dafür in den deutschen Verhältnissen selbst. Wenn Keller über die Schweizer Grenze nach Deutschland blickt, wandelt ihn Skepsis an. Davon zeugt auch sein Gedicht Rheinwein. 1847. Sowohl das Entstehungs- wie das (erste) Veröffentlichungsjahr des Gedichts ist aufschlußreich: beide Daten, 1847 und 1848, bezeichnen den revolutionären Durchbruch der Schweiz zur Demokratie, aber auch entsprechende Erwartungen in Deutschland, die Keller mit Zweifeln begleitet: Zweifel, die sich bewahrheiten sollten. So verweist der in die Neueren Gedichte von 1854 aufgenommene Text (siehe Anmerkung)98 auf eine schweizerisch-deutsche Grundspannung im politischen Denken Kellers. Er zeigt zunächst die Kluft zwischen Lebensgenuß und politischem Leben in deutschen Gefilden auf. Was die Weinberge am „schönen Rhein“ unter der Wirkung des „Sonnenschein[s]“ hervorgezaubert haben, erfreut den „Zecher“, der dem Glanz und der „Glorie“ des Weins selbstvergessen hingegeben ist. Das flüssig-leuchtende Element in seinem Glase bringt ihm die Rheingegend nahe, und er „lauscht“, „wie der Strom in seinen Ohren rauscht“. Dieser Strom aber, ein ehrwürdiges Sinnbild der Deutschen, ein nationales Symbol ihres Freiheits- und Einheitsverlangens seit der Romantik, erweckt inmitten des Weingenusses den politischen Schmerz über die stets noch zerrissene, unfreie Nation. Einer ihm vertrauten Technik folgend, läßt Keller nun aus dem Flußbild nicht etwa organisch ein natürliches Zeichen der Hoffnung erwachsen, wie das in klassisch-romantischer Lyrik zu sein pflegt. Er setzt vielmehr willkürlich ein solches Zeichen; statt des organischen Hervorbringens von Bildern organisiert und montiert Keller sie. Auf den ‚natürlich‘ dahinziehenden Strom versetzt er, als Vision verkleidet, den Mythos: die biblische Legende von Moses, der nach seiner Geburt in einem „Binsenkörblein“ auf dem Nil ausgesetzt und von der Tochter des Pharao, des ägyptischen Königs, aufgefunden worden war, derselbe Moses, der später dem König die Ehrfurcht gegenüber Gott beigebracht und ihm den freien Auszug der Israeliten aus Ägypten abgerungen hatte (vgl. Altes Testament, 2. Mose 2 u. 7–14). Die mythische Vision auf den Rhein überblendend, errichtet Keller ein Hoffnungszeichen von alttestamentarischer Würde, aber auch von großer ‚Gebrechlichkeit‘. Denn keine Königstochter eilt mehr dem „Binsenkörblein“ zu Hilfe, ungeschützt ist es jedem „Felsenriff“ ausgesetzt. Wie das alte ist das neue „Heldenkind“ Sinnbild einer noch unentwickelten Freiheit, ob es jedoch zu einem „starke[n], kluge[n]
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Moses“ heranreifen wird, vor dem selbst ein „Pharao“ erbebt, vor dem also die dynastischen Machthaber Deutschlands sich in den Staub werfen – das weiß zur Stunde niemand. In diese verzehrende Ungewißheit mündet Kellers Gedicht. Auf den Lebensgenuß des Individuums, mit dem er es eröffnet, fallen die Schatten des öffentlich-politischen Lebens. Das Besondere wird vom Allgemeinen ereilt und verstört: von der Spannung zwischen zager Hoffnung und massivem Zweifel.
III. Weiblichkeit und Politik Einen Sonderfall in der politischen Lyrik des Vormärz repräsentiert das die Frau politisierende Gedicht. Die Politisierung des Weiblichen und die Verweiblichung des Politischen bilden einen engen Zusammenhang, der ein eigenes lyrisches Genre ergibt. Das mag eine auch die Forschung überraschende These sein99, doch läßt sie sich gerade an der Lyrik des jungen Keller beispielhaft entwickeln. Aufschlußreich sind seine Gedichte auch deshalb, weil sie den Zusammenhang zwischen Frau und Politik nicht in griffiger und pauschaler Form skizzieren, sondern in Gegensätzen und Widersprüchen, die Kellers komplexe Subjektivität hervortreten lassen – und mit ihr die sozialpsychologische Physiognomie der jungen VormärzGeneration. Keller konnte sich bei seinen lyrischen Expeditionen in das Feld einer politisierten Weiblichkeit auf Vorgänger stützen oder mit gleichzeitigen Unternehmen rechnen. Heine hatte in das erste Caput seines 1844 erschienenen Wintermärchens eine berückend-utopische Vision eingetragen: Die Jungfer Europa ist verlobt Mit dem schönen Geniusse Der Freiheit, sie liegen einander im Arm, Und schwelgen im ersten Kusse.100
Es ist die Zeit, da Europa in Staaten aufgesplittert ist, denen die Unfreiheit und Ungleichheit auf der Stirn geschrieben steht, selbstverständlich mit unterschiedlichen Schriftzügen: mit spätabsolutistisch-starren auf der Stirn Deutschlands, mit monarchisch-konstitutionellen und großbourgeoisen auf der Stirn Englands und Frankreichs. Die revolutionäre Befreiung Europas von den tonangebenden Mächten als Gewähr eines neuen sinnlichen und sinnstiftenden Glücks – das ist die utopische Hoffnung der zitierten Heine-Strophe. Ihre sinnstiftende Sinnlichkeit gewinnt sie aus der Umarmung des kosmopolitisch-europäischen und des demokratischen Freiheitsprinzips, das eine als weiblich, das andere als männlich dargestellt: das wahre politische Gemeinwesen enthält im Keime die Geschlechterversöhnung – dies die eigentliche Pointe der Strophe. Heine steht mit dieser Utopie nicht allein in der poetischen Landschaft der vormärzlichen deutschen Vierzigerjahre – er steht nur sehr bewußt und reflektiert darin. Ein Herwegh und ein Freiligrath bannen die Geschlechterversöhnung eher unbewußt ins revolutionäre Bild, aber daß sie es überhaupt tun, verleiht
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ihren vollmundigen Aufrufen zur politischen Umwälzung eine bis heute unbeachtete Tiefendimension. Heines Spott über Herwegh – „die eiserne Lerche“ – zielt an dieser Dimension, die ihm selber so eigentümlich ist, vorbei. Sie schwingt auch in einem längeren Gedicht Freiligraths mit, wie einige charakteristische Versgruppen verraten: Wie manche Knospe sahn auch wir sich spalten, wie manche platzen, laut und voll und stolz! Der Knospe Deutschland auch, Gott sei gepriesen! regt sich’s im Schoß! Dem Bersten scheint sie nah – […] Der du die Blumen auseinanderfaltest, oh, Hauch des Lenzes, weh auch uns heran! Der du der Völker heil’ge Knospen spaltest, oh, Hauch der Freiheit, weh auch diese an! In ihrem tiefsten, stillsten Heiligtume oh, küß sie auf zu Duft und Glanz und Schein – Herrgott im Himmel, welche Wunderblume wird einst vor allen dieses Deutschland sein!101
Wie verblümt-pathetisch diese Lyrik auch anmutet, wie realitätsfern ihre Naturmetaphorik sich über die politische Tagesordnung auch wölben mag – eins ist darin doch der Überlieferung wert: die bildliche Vereinigung der Geschlechterpolarität. Die befreite Nation ist der politische Vordergrund, hinter dem ein geschlechterversöhnender Eros seine Phantasien spinnt, das Volk als schwellende Knospe dem weiblichen, die Freiheit als Frühlingshauch dem männlichen Prinzip gesellend. Weniger der argumentativen Rhetorik als den Zauberbildern der Umarmung und Begattung ist Freiligrath ergeben, wie Knospenschoß und Knospenspaltung, sehnsüchtiger Trieb und befreiender Kuß verraten – und wer sich gegenwärtig hält, welche rigorosen Tabus und Askesevorschriften die öffentliche Moral in der Restaurationsepoche erließ, wie autoritär sie staatliches und sittliches Wohlverhalten aufeinander einschwor, politische Ordnung und diszipliniertes Triebleben miteinander verhäkelte, wird die sinnlich-politische Sprengkraft solcher Lyrik unschwer ermessen können. Dennoch ist ihr eine Bürgerlichkeit beigemengt, die ihr das Beiwort ‚emanzipatorisch‘ streitig macht. Heines politisiertes Weib, und mehr noch das Freiligrathsche, ist nicht Frau schlechthin, sondern Jungfer und Braut – und dieses Doppelantlitz tragen die weiblichen Vormärzpersonen mit Vorliebe. Wer Jungfrau ist, ist noch so unbefleckt wie die politische Idee der Freiheit, und wer jungfräuliche Braut ist, hält sich in der Schwebe zwischen körperlicher Unberührtheit und sexuellem Erwachen in der bevorstehenden Ehe: die Freiheit ist keusch und zugleich begehrenswert, und das Begehren ist keineswegs anarchisch, sondern gibt sich einen legitimen Rahmen. So sittsam-bürgerlich ist die revolutionäre Idee der Deutschen
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und so revolutionär ist ihre Bürgerlichkeit! Man mag das mit einem ironischen Lächeln quittieren – und würde vielleicht verfrüht lächeln. Ist denn nicht das Freiheitsbegehren noch in seinem bürgerlichen Gewande insgeheim rebellisch? Die jungfräuliche, zur legitimen Ehe bestimmte Braut ist ja auch ein Gegenbild zur altadligen Mätresse; die Unbescholtenheit der einen kontrastiert mit der Käuflichkeit der anderen – und daß die Mätresse käuflich nicht durch des Fürsten Gnade, sondern durch die dem Volk abgepreßten Steuern ist, macht ihre ‚Unreinheit‘ erst zum Politikum. Sie vertritt symbolisch jene Unfreiheit, gegen die ebenso symbolisch die reine Braut als Adressatin der Freiheit beschworen wird. Daß der junge Gottfried Keller in den politisch aufgeregten vierziger Jahren im Stile deutscher Freiheitsdichter zu reimen anfing, hat er selber bezeugt – wir haben darauf aufmerksam gemacht. Es versteht sich allerdings nicht von selbst, daß er in der Manier Herweghs und Freiligraths auch die Frau in die Politik mischte. Die ‚Verweiblichung‘ der freiheitlichen Politik ist eine Eigenart seiner frühen Lyrik, die noch keineswegs hinreichend gewürdigt worden ist. Schon sein Jesuitenlied von 1844, in den Gedichten 1846 unter dem Titel Loyola’s wilde verwegene Jagd veröffentlicht (Kauffmann, S. 128), spielt mit der entsprechenden Metaphorik: „O Schweizerland, du schöne Braut, / Du wirst dem Teufel angetraut!“, wobei mit dem Teufel die Jesuiten als Repräsentanten der Unfreiheit gemeint sind. Ein Gedicht mit dem Titel Revolution102 feiert das zum politischen Umsturz bereite Volk als die schon zitierte jungfräuliche Braut, wie sie ihrer Schönheit und ihres Eros inne wird. Zuvor hat jedoch der Aufruf zum revolutionären Handeln das Land durchdrungen. Er ist von der „Lerche“ ausgegangen, ist als „unterirdisch[es]“ Grollen und als ‚Rauschen‘ „in allen Bäumen“ laut geworden und wurde schließlich von der „Morgensonne“ gleichsam aufgefangen und zur eloquenten Rede an das Volk, vor allem an seine berufensten Repräsentanten, entwickelt. Nach dem Beispiel der politischen Naturlyrik macht Keller dergestalt Lerche und Morgensonne zu den allegorischen Initiatoren revolutionären Handelns. Der junge Mann, den er im Fortgang des Gedichts in den Mittelpunkt rückt, darf wohl als Kellers eigenes Sehnsuchtsbild verstanden werden. Ihn weckt die Morgensonne aus dem Schlaf, als wäre sie vom heiligen Geist oder wenigstens von allen guten Geistern inspiriert. Sie legt „Gold“ auf seine „Zunge“ und „Feuer“ in sein Wort, so daß der junge Mann seinerseits zum Erwecker werden kann: des Volkes nämlich und seiner „Freiheitsminne“. Der erwartungsvolle Empfang, den das Volk seinem „liebe[n] Jungen“ bereitet, wird von diesem mit Hingabe erwidert. Seine Rednerkraft durchdringt und durchfährt, bewegt, begattet gleichsam die „Menge“:
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Nun geht ein Leuchten und Gewittern Aus seinem Mund durch jedes Herz; Durch gold’ne Säle weht ein Zittern –
Ähnlich wie das „Kind“ des Volks vom höchsten Geist – symbolisiert durch die „Morgensonne“ – begnadet wurde, begnadet der Jüngling das Volk – die Metaphorik Kellers ist unübersehbar vom biblischen Pfingstereignis gespeist.103 Sie läßt aber auch eine Symbiose erotischen Charakters anklingen, wie das allgegenwärtige, Redner und Volk erfassende „Leuchten“, „Gewittern“ und „Zittern“ verraten – und wie Keller selbst in suggestivem Vergleich nahelegt: Wie eine Braut am Hochzeitstage, So ist ein Volk, das sich erkennt; Wie rosenrot vom heißen Schlage, Vom Liebespuls ihr Antlitz brennt! Zum ersten Mal wird sie es inne, Wie schön sie sei und fühlt es ganz: So stehet in der Freiheitsminne Ein Volk mit seinem Siegeskranz.
Der rhetorische Eros des jungen Mannes hat das Volk verzaubert; es gleicht der „Braut am Hochzeitstage“, mehr noch: ‚es erkennt sich selbst‘, wie es in unüberhörbarer Anspielung an die Bibelsprache heißt, die damit das wechselseitige ‚Erkennen‘ des ersten Menschenpaars, die geschlechtliche Vereinigung Adams und Evas, bezeichnet. Der „heiße[ ]Schlag[ ]“, der in Kellers Gedicht das Volk durchfährt, der „Liebespuls“, der es bewegt, spiegelt eine Hochzeit vor, bei der sich der Redner mit dem Volk und das Volk mit sich selbst im Zeichen der „Freiheitsminne“ vermischt. Weil aber der junge Mann gleichzeitig „Kind“ des Volks, das Volk gleichzeitig dessen Mutter und Braut ist, findet ein quasi-pantheistisches Ereignis statt, wo Eros die Trennung von Individuum und Allgemeinheit ebenso aufhebt wie die Trennung der Geschlechter. Der mit Liebeszungen redende Mann und das wie eine Braut entflammte Volk führen eine Erotisierung der Politik vor, in der Kellers eigene Erlösungssehnsucht erkennbar wird. Die Utopie der Revolution mündet in Liebesmystik. Der Verweiblichung des Politischen, wie Keller sie hier demonstriert, durften seine Zeitgenossen zum Teil auch als ‚Augenzeugen‘ beiwohnen – im übertragenen Sinne des Worts. Wer etwa damals die berühmte „Freiheitsgöttin“ des französischen Malers Eugène Delacroix zu sehen bekam, konnte die allegorische Darstellung der Freiheit als Frau mit eigenen Augen erleben. Oder er konnte sie wenigstens mit den Augen Heines nacherleben. Der nach Paris emigrierte Schriftsteller hatte die ‚Gemäldeausstellung 1831‘ besucht und Delacroix’ Gemälde in eindringlicher Schilderung wiederaufleben lassen, die fahnenschwingende Frau als Revolutionärin, als
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Verkörperin erotischer Faszination und als Angehörige des Volks porträtierend. Insofern setzt Kellers Entwurf des Volks als „Braut am Hochzeitstage“ eine zeittypische Form der Allegorisierung politischer Freiheit fort. Er intimisiert diese Verfahrensweise jedoch auffällig, wenn er den Mann, der das Volk erweckt, gleichsam zu dessen Bräutigam macht, der das „Leuchten“ und „Zittern“ seiner im Liebesimpuls entbrennenden Braut erzeugt. In der Vereinigung der sonst so schroff getrennten Geschlechter transzendiert die Freiheit ihre politische Dimension; sie erhält eine utopische geschlechterversöhnende Qualität. Die wohl eindringlichste Darstellung dieser doppelten Utopie, der politischen und der geschlechterversöhnenden, findet sich im XIII. der vierzehn Gedichte umfassenden Verserzählung Lebendig Begraben (Text siehe Anmerkung).104 Es dürfte daher angebracht sein, dieses Gedicht, das von romantisch verklärenden Stilzügen nicht frei ist, aus der Erzählung herauszulösen und zu kommentieren. Das lyrische Ich erinnert sich hier des „schönste[n] Tannenbaum[s], den ich gesehn“, in früher Jugend, als begeisterter Teilnehmer an einem sommerlichen Volksfest. Jonas Fränkel zufolge105, auf den sich auch Kauffmann beruft106, handelt es sich um eine Erinnerung Kellers an das eidgenössische Schützenfest in Zürich 1834. Dem entspricht das im Gedicht angegebene Alter seines lyrischen Ichs. Wenn Keller seine Jugenderinnerung mehr als zehn Jahre später wiederbelebt und sie für seine Gedichte von 1846 in lyrische Form gießt, so will er damit für die demokratische Bewegung seiner Zeit streiten. So wird denn der Tannenbaum gleich in der ersten Strophe als „Freiheitsbaum“ apostrophiert. Seine Schönheit zeigt sich in seiner mächtigen Gestalt („sechzig Ellen“ hoch) wie auch im Abglanz der Sonne auf dem Baum: „im Wipfel Purpurwehn“ lautet die originelle Wendung, die den rötlichen Glanz in Schwingung versetzt. Zur Schönheit und politischen Symbolik des Baums tritt seine sinnbildliche Verkörperung der Lebenskraft: zur leiblichen Erquickung der Teilnehmer des Festes fließen „aus seinem Stamme […] klare Wellen“ in eine „runde Schale“ und von dort in die „silbernen Pokale“ der Sänger und Schützen. Der „lebend’ge[] Quell“ erscheint als das ‚Wasser des Lebens‘ im Dienste der politischen Freiheit und Einheit. Das lyrische Ich beschwört die am Festtag antizipierte, im Alltag erst noch herzustellende Einheit des Volks in den Metaphern der schwellenden Flut, des überquellenden Gesangs und des Sonnenflusses. In unübersehbarer Anlehnung an die politisch-demokratische Metaphorik des Strömens und Fließens und der Sonnenkraft107 heißt es: Unübersehbar schwoll die Menschenflut, Von allen Enden schallten Männerchöre; Vom Himmelszelt floß Julisonnenglut, Erglüh‘nd ob meines Vaterlandes Ehre.
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Die Lyrik der Zeit erfindet für die strömende, grenzenauflösende, kollektive Sehnsucht immer wieder Wasser- und Flußsymbole, und kaum eine Wortprägung dürfte dieses Sehnsuchtsverlangen glücklicher treffen als diejenige Freuds: ‚ozeanische Alleinheit‘ nannte er es, in Erinnerung an die vorgeburtliche ‚fließende‘ Geborgenheit im Mutterleib. Keller schließt in die Geborgenheit die Fülle der Welt ein. Selbst das einander Fernste, Himmel und Erde, scheint sich zu finden, wenn die Sonne um des politischen Festes willen ‚erglüht‘ und ihm ihr abwärts fließendes Feuer spendet: „Julisonnenglut“. Die stumme Liebessprache der Natur ist das sinnliche Unterpfand der politischen Kultur: des freiheitsliebenden, geeinten Volks. Zwanglos schließt das Gedicht daran die Begegnung der Geschlechter. Eros, der sonst ins Haus, ins Private, in kodifizierte Geschlechterbeziehungen eingeschlossen ist, erweist seine frei schweifende Kraft. Der Blick des fünfzehnjährigen Jungen fällt auf ein anziehendes weibliches Geschöpf: Dicht im Gedräng, dort an des Beckens Rand Sang laut ich mit, ein fünfzehnjähr’ger Junge; Mir gegenüber an dem Brunnen stand Ein zierlich Mädchen von roman’scher Zunge. Sie kam aus der Grisonen letztem Tal, Trug Alpenrosen in den schwarzen Flechten Und füllte ihres Vaters Siegpokal, Drin schien ihr Aug‘ gleich Sommersternennächten. Sie ließ in kindlich unbefang’ner Ruh Vom hellen Quell den Becher überfließen, Sah drin dem Widerspiel der Sonne zu, Bis ihr gefiel, den Vollen auszugießen.
Das Mädchen bekräftigt den Liebesbund zwischen Himmel und Erde, Natur und Kultur: sein Auge schaut dem Widerspiel der Sonne im Wasser zu und erglänzt darin „gleich Sommersternennächten“, wie es mit romantischem Pathos heißt. Das Wasser, in dem die Schöne sich spiegelt, fließt in ein Gefäß der Volkskultur, den väterlichen Festpokal – und von dort zum künftigen Träger dieser Kultur: dem jungen Burschen am Brunnenrand. Denn kaum hat das Mädchen ihn bemerkt, da erneuert es das erotisch durchwirkte Spiel mit dem flüssigen Element: Dann mich gewahrend, warf sie wohlgemut Aus ihrem Haar ein Röslein in den Bronnen, Erregt’ im Wasser eine Wellenflut, Bis ich erfreut den Blumengruß gewonnen.
Die von weiblicher Hand erregte „Wellenflut“, worin der Junge das Spiel des Eros bemerkt, macht sein Glück vollkommen. Der von dem Mädchen
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ausgehenden Initiative verdankt er ein Finale, in dem alle einzelnen Erlebnismotive emphatisch zusammenschießen. Freiheit, Geschlechterliebe und kollektiver Eros, Einheit der Natur und Kultur werden in der revolutionären Metapher des Frühlingssturms vereinigt108: Ich fühlte da die junge Freiheitslust, Des Vaterlandes Lieb’ im Herzen keimen; Es wogt’ und rauscht’ in meiner Knabenbrust Wie Frühlingssturm in hohen Tannenbäumen.
Bei aller idealistischen Emphase steckt in der Begegnung der beiden jungen Menschen doch ein realpolitischer Gehalt. Das „Mädchen von roman’scher Zunge“ kommt „aus der Grisonen letztem Tal“ oder, wie die erste Fassung des Gedichts bekundet109, „zu hinterst vom Misokkertal“, womit das Tal von Mesocco, ein Teil von Graubünden gemeint ist, in dem Rätoromanisch gesprochen wird110. Einer kleinen fremdsprachigen Ethnie angehörend, teilt sie mit dem jungen deutschsprachigen Eidgenossen eine beide übergreifende Gemeinsamkeit: die Bindung an die Idee der Freiheit. Damit gibt Keller der Freiheitsidee den Vorrang vor „Volkstum und Sprache“ und nimmt so erneut Stellung zu einer brisanten politischen Auseinandersetzung in seiner Zeit. Von deutscher Seite aus hatte man seit 1841 für eine Vereinigung mit der deutschsprachigen Schweiz wiederholt mit dem Argument plädiert, die ethnische Vielfalt der Eidgenossen verhindere eine echte schweizerische Nationalität. Keller hatte dies mit dem Gegenargument pariert, daß die wesentlichste Bedingung für die Einheit des Volks nicht „Volkstum und Sprache“, sondern die Freiheit sei. In seinem Sonett Die schweizerische Nationalität hatte er für diesen Gedanken offen geworben (vgl. unser Kap. V) und ihn ‚durch die Blume‘ im XIII. Gedicht (2. Fassung) der Gedanken eines Lebendig-Begrabenen erneut ausgesprochen. Das „braune Mädchen“ (Erstfassung), das auch durch seine Exotik die Erotik des Burschen anspricht, ist ihm durch eine „Freiheitslust“ verbunden, die man die gemeinsame Nationalsprache der beiden nennen könnte. Die in verschiedenen Spielarten bisher skizzierte Freiheit in Gestalt der Frau, die der Frau zugeschriebene Initiativkraft im kollektiven Prozeß nationaler Selbstfindung, die Darstellung des revolutionär bewegten Volks im Bild der Braut – all dies läßt darauf schließen, daß Keller für das ‚schwache Geschlecht‘ eine in seiner Zeit ungewöhnliche Wertschätzung entwickelt. Und daß er die Utopie einer Gleichberechtigung und Versöhnung der Geschlechter im poetischen Visier hat. Das ist indes nur die eine Seite seines Geschlechterverständnisses. Eine andere, gegensätzliche Seite läßt sich nicht übersehen. Namentlich der junge Keller der Gedichte ist von Widersprüchen gekennzeichnet. Sie gehören zur Komplexität seines poeti-
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schen Bildes und bezeugen eine bewegte, mit sich selbst streitende Subjektivität. Diese läßt sich keineswegs frank und frei mit dem Etikett der Fortschrittlichkeit versehen, die man der Bewegung des Vormärz anzuheften pflegt. Individuelle Bildungsprozesse entziehen sich epochal-summarischen Zuschreibungen. Aber auch überindividuelle Widersprüche, die Widersprüche in seiner eigenen Epoche, hat Keller nicht ignoriert. Wir stellen daher einige Texte zusammen, die auf konträre Bewegungen in seiner lyrischen Subjektivität wie in seiner Epoche schließen lassen. Die Spinnerin lautet ein zweiteiliges Gedicht Kellers111, dem er zunächst das weibliche Rollenverständnis seiner Zeit eingeschrieben hat. Im Spinnen des Flachses zur Leinwand ist „alle Lust und Klage“ einer Mädchenzeit „eingewoben“, aber auch das traditionelle Selbstbewußtsein einer werdenden Frau, die ihr Lebensglück im Bräutigam und Gatten zu finden hofft. Von dieser absoluten Hingabe an das männliche Wesen im ersten Gedichtteil hebt sich der zweite ab, in dem die Braut ihrem künftigen Ehemann eine heroisch-republikanische Moral zur Pflicht macht: couragierte Selbstbindung an „die Arbeit seiner Zeit“, Bereitschaft zum „letzten Kampf“ für „unsre Freiheit“, „unsre Ehre“. Die überraschende Wendung der Braut von ihrer privaten Existenz zum politisch-öffentlichen Wesen, der res publica, offenbart einen neuen Zug im zeitgenössischen Rollenverständnis. Die von Keller entworfene Frauenrolle ist von Unbedingtheit gezeichnet: das „bräutlich Linnen“, so droht die Spinnerin, würde ihr „Grabgewand“ werden, falls der Erwählte seine politische Aufgabe nicht wahrnehmen sollte! Mag dies auch nur das Wunschbild einer zeitgerechten Frauenrolle sein, geboren aus der Hoffnung eines politisch erregten Lyrikers, – es verrät doch auch ein das Allgemeinbewußtsein provozierendes Gedankenexperiment.
Keller hat dieses Experiment an anderer Stelle rückgängig gemacht, radikal: „Du willst dich freventlich emanzipieren“ beginnt das XIII. seiner Siebenundzwanzig Liebeslieder112. Die traditionellen GeschlechterRollen, die der junge Lyriker im Zeichen der Revolution aufheben wollte, festigt er aufs neue – die zum Volk hin offene Geschlechter-Liebe wird ins private Gehege zurückbeordert. Und das universale Ideal der Emanzipation und Gleichheit aller Menschen soll nurmehr für die Herren der Schöpfung gelten: Berufest dich auf meine eignen Lehren Von Freiheit, Gleichheit und von Menschenrecht? O lass’, mein Kind, mit Küssen dich belehren, Dies Eine Mal errietest du mich schlecht.
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Der lyrische Regent – „Dein Liebster und dein Herr“ – steckt seine alte Domäne neu ab, indem er der Geliebten „ein fest Gefängnis“ in Aussicht stellt, worin er als „Kerkermeister“ schalten und walten kann. So hält er sie von der Welt fern und bindet sie an Haus, Herd und Seine Hoheit. Mag darin auch ein Anflug von Selbstironie mitschwingen – das Gedicht verdeckt nicht ganz eine elementare Angst vor dem Verlust patriarchalischer Regentschaft. Es ist die Angst vor dem „kecke[n] Sinn“ der Unterdrückten, die plötzlich „auf’s eigne Fäustchen“ ihre „Wirtschaft“ führen könnten und dann vielleicht rebellische Impulse freisetzen und Eigensinn entwickeln würden. Das hieße doch, ein männliches Privileg brechen, hieße Freiheit und Gleichheit mit weiblichem Leben erfüllen! Es hieße konkret: Zur Politik nun auch dein Wörtlein sagen, Aus trauter Kammer in den Ratsaal fliehn? Wohl gar mit weicher Hand die Trommel schlagen, Wann einst wir gegen die Tyrannen ziehn?
Nein, angesichts solch befreiter Weiblichkeit ziehen es die freiheitsliebenden Tyrannenstürmer vor, ihrerseits Tyrannen zu bleiben. Indem das Gedicht den Blick auf diese irritierende Paradoxie lenkt, verrät es, wieviel seelischer Bodensatz in der schönen Parole von der Emanzipation und der Revolution überwintert. Die wahre politische Freiheit, so gibt Kellers Gedicht wider eigenen Willen zu verstehen, müßte mit der Selbstbefreiung ihrer Befürworter einsetzen: Der Selbstbefreiung von Privilegien und Statusrollen und von der Angst vor ihrem Verlust. Anders, wesentlich anders, liest sich das Gedicht Frau Michel 113. Der lyrische Sprecher stellt die durchschnittliche Frau – die Bezeichnung ‚deutscher Michel‘ war auf den Durchschnittsmann der Epoche gemünzt – in der für sie charakteristischen politischen Mentalität dar: dem angestammten Herrscherhaus hingegeben in freier Selbstaufopferung. Mit sarkastischer Feder häuft der Sprecher realistische Details, die den Alltag und Haushalt der Frauensperson bebildern. Der spätere Erzähler Gottfried Keller gibt sein Debüt in diesem episch ausladenden Gedicht! Seine Erzählphantasie hatte einen empirischen Grund und Boden, und was er hier an spöttischer Fabulierlust über die Pietät und blinde Loyalität einer Durchschnittsbürgerin ergießt, war auf eigenem Beobachtungsfelde gewachsen.114 Daß Keller sich eine radikale Veränderung der „Frau Michel“ wünscht und damit die „kleine Jakobinerin“ des vorhergehenden Gedichts ein Stück weit rehabilitiert, mag widersprüchlich anmuten. Es ist indes ein erklärbarer Widerspruch. Solange der junge Lyriker aus politischer Allgemeinperspektive das weite Feld der Frau besichtigt, kann er revolutionäres
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Empfinden großzügig äußern. Betritt die Frau sein eigenes Feld und Haus, stellt sie seinen Revolutionsgeist praktisch auf die Probe, so macht sie den Herrn der Schöpfung an sich selbst irre. Sie stellt seine Verfügungsrechte über sein Geschöpf in Frage und weckt die Angst vor dem Verlust seines privilegierten Selbst. Mit diesen Widersprüchen, die in Kellers Gedichten eingelagert sind, gibt der junge Lyriker den Blick auf eine epochale Mentalität frei. Keller verdeutlicht beispielhaft die Selbstfindungsproblematik eines Jugendalters, das sich dem Fortschrittsdenken leidenschaftlich verschrieben hat, aber vom Gewicht der Tradition beschwert bleibt. Der vormärzliche objektive Gegensatz zwischen den Kräften der progressiven ‚Bewegung‘ und der Bewahrung, zwischen Revolution und Restauration, geht mitten durch die Individuen selbst. Keller hat, bei aller emphatischen Parteinahme für die Sache des Fortschritts, die Schwerkraft des Rückschritts in seiner Zeit doch keineswegs verdrängt. Und er hat Wert darauf gelegt, das Fortschrittspathos von Fall zu Fall zumindest ästhetisch zu brechen. In einem seiner Herbstgedichte – In Duft und Reif (Text siehe Anmerkung)115 – entwickelt er eine regelrechte Liebeserklärung an die „Freiheit“, die da „mit wallend aufgelöstem Haar“ „durch die Nacht“ wandelt, die „bleiche, hohe Königin“, deren „Purpurschleppe“ über „dunkle Gräber“ hinrauscht, während sie „ein Schwert an ihre Brust“ drückt. So „forscht“ sie, ob die „reiche Saat“ der „Freiheits-Märt’rer“ schon aufgeht, ob ihr Tod die Lebenden demnächst zum Freiheitskampf ermutigen wird. Poetisch bemerkenswert ist nicht allein die ambiguose Vision einer zwischen Gräbern und Frühjahrssaat, zwischen Tod und Auferstehung hin und her wandelnden Nachtgestalt, bemerkenswert ist auch, daß die Ambiguität sich der Jahreszeit bemächtigt. Der Herbst, der den Schauplatz des Gedichtes bildet, gerät in den „Frühlingstraum“ der Freiheit, so daß der nächtliche „Reif“ zu „Blütenstaub“, der „Tannenwald“ zum „Lorbeerhain“ wird und das „halb erstorbne Laub“ in „bunten Blumenwogen“ zu ‚wallen‘ anfängt. In solcher Durchmischung verlieren die überlieferten Naturbilder ihren vertrauten Rahmen und ihre vertraute Festigkeit; ihre Montage dient einer neuen Expressivität, nachdem die traditionellen Ausdrucksvaleurs des Herbstes und des Frühlings durch vielfältigen Gebrauch ausgezehrt sind. Keller führt damit in seinem Herbstzyklus jene ästhetisch operative Linie fort, die wir am Eingangsgedicht116 schon ausgemacht haben. Anstelle des organischen Hervorbringens von Naturbildern tritt die organisierende Hand, die sie bewußt ineinander und gegeneinander montiert, allegorische Zeichen setzt und damit der Natursprache einen Akzent von Intellektualität verleiht.
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Kellers zeitbezogene Ästhetik wird auch in einem Gegenstück zu seinem „Traumbild“ von der „Freiheit“ greifbar. Ihm widmen wir eine exemplarische Interpretation: Ave Marie auf dem Vierwaldstätter-See 1847 Zur Zeit des Sonderbundes Fuhr ein Schifflein gegen Flüelen2, Drin ich saß, zur Abendzeit, Wo die finsteren Wasser spülen Und den Bergen die Füße kühlen Schon seit einer Ewigkeit. Aus den finstern Felsengängen Bang ein Hauch des Föhnes strich, Ein Gewebe von Abendklängen Zitterte an den Alpenhängen Und der Ferg3 bekreuzte sich. Dunkel lauschten die Kapellen Alter Freiheit aus dem See; Wo einst fuhren die frommen Tellen4, Tauchte jetzo aus den Wellen Dieses Wassers schlimme Fee. Ja, ich sah sie steigen, winken Aus der schwärzlichgrünen Flut! Ließ der Krone goldene Zinken Tückisch in der Sonne blinken, In der sterbenden Sonne Glut. Fabelhaft und heidnisch blühte Ihrer Schönheit arger Flor; Wilde Schadenfreude glühte Und ein buhlerisch Feuer sprühte Aus den seidenen Wimpern vor. Haar und Schleier, ungebunden Wehten in dem heißen Wind; Und sie hielt im weißen, runden Arm ein Kind mit sieben Wunden, Ein ersterbendes, welkes Kind. An den staffellosen Wänden Glitt die grauliche Nix‘ hinan; Von den Purpurzinnen und Ränden Hielt sie das Kind in erhobenen Händen Über der Länder tiefen Plan. 2 3 4
Gemeinde im Schweizer Kanton Uri. Fährmann. Nach Tell, dem Sagenheld der Schweizer Freiheitskämpfer gegen das Haus Habsburg im 14. Jahrhundert.
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Sieben Tropfen aus sieben Wunden Preßte sie dem armen Wurm; Wo die rot hinabgeschwunden, Hat sich die Flut emporgewunden, Schreiend in Wut und Weh und Sturm! Wut und Wahn die Herzen faßte An den Borden rings am See, Daß der Priester im Blute praßte Und der Bruder den Bruder haßte, Ihm zum eigenen Gift und Weh! Als das Ave Marie verklungen, War der arge Spuk entfloh’n. – Noch ein Alphorn hat gesungen Aus der Höh‘ und leis bezwungen Hat mein Herz sein süßer Ton.117
Der Untertitel des Gedichts erhebt Anspruch auf eine politische Lektüre. Diese kann sich allerdings erst mit der siebten Strophe auf ein zweifellos politisch gemeintes Detail stützen. Es ist das „Kind mit sieben Wunden“, das eine aus dem See emportauchende Nixe über den Wasserspiegel hält. Die sieben Wunden stellen, daran ist kein Zweifel, allegorisch die sieben, zum ‚Sonderbund‘ vereinigten Kantone dar; das „Kind“, das unter diesen Wunden dahinsiecht, kann nichts anderes bedeuten als die in den Kantonen verletzte politische Freiheit und die von ihnen unterminierte Einheit der Schweiz. Man könnte in bündiger Kürze sagen, daß dies „ersterbende, welke Kind“ die einschneidende Gefährdung des Schweizer Nationalliberalismus durch den Sonderbund repräsentiert.118 Warum aber wird das Kind von einer „schlimme[n] Fee“ gehalten und gezeigt? Kellers Vorliebe für diese Wasserfrau ist uns aus drei Gedichten schon bekannt119, doch sind es erotisch durchwirkte Gedichte mit unverkennbar sexuellem Akzent. Ist diese Dimension nicht der politischen Bedeutung äußerlich? Und wie kann sich das „heidnisch“ blühende ‚Fabelwesen‘ mit seinem „buhlerisch[en] Feuer“ ausgerechnet einem ‚Ave Maria‘, einem frommen Marienlied zugesellen? Schreitet Keller nicht zum Äußersten, zum schlechthin Unverträglichen, wenn er das Wasserwesen aus heidnischer Zeit ins Christliche hinüberspielt? Und zwar konkret ins Marianische, denn die „grauliche Nix’“ mit dem verwundeten Kind im Arm gleitet unversehens in die Gestalt Mariens hinüber, wie sie aus den Mutter-Gottes- und den Pietà-Darstellungen überliefert ist: das eine Mal mütterlich das Jesuskind umhegend, das andere Mal mit dem sterbenden Christus im Arm.120 Und deuten die „Wunden“ des Kinds, aus denen Blutstropfen quellen, nicht unverkennbar auf die Gestalt des Gekreuzigten selbst, der mit dem blutenden Wundmal so häufig ins Bild gerückt worden ist? Hier scheint Kellers provokative Figurenverschränkung einer extre-
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men Willkür zu gehorchen, scheint er die Pietät abendländischer Bildüberlieferung schroff zu verletzen. Und doch handelt es sich um eine Montage von eindringlicher Kühnheit, sobald man die literarische Tradition ins Spiel bringt. Sie steht ja mit der Nixen- wie der Marienfigur auf vertrautem Fuße, sei es, daß die erotisch bezaubernde Nixe von der Jungfrau Maria im letzten Augenblick in Schach gehalten wird, sei es, daß der Zauber der Nixe im Bilde Mariens weiterlebt, wenn auch dem lyrischen Ich nicht bewußt. Den ersten, den keuschen Fall, den Fall diesseits des Sündenfalls, hat Eichendorff besungen121, den zweiten, unbewußten hat er gleichfalls anklingen lassen122, ähnlich wie der späte Brentano, der hierin Eichendorff an Direktheit übertraf.123 Bei Eichendorff wie bei Brentano soll das heidnische Wasserwesen der Religion dienstbar werden, die Religion wiederum soll ins Politische eingreifen und ein organisch-restauratives Staatswesen festigen helfen, insbesondere gegen revolutionäre Umtriebe. Dieser religiösen und staatspolitischen Indienstnahme der Erotik und Sexualität nimmt Keller die fromme, schein-heilige Maske ab. Er läßt die Legierung von Eros und Religiosität seitens der katholischen Spätromantiker kritisch hervortreten. Mit „ihrer Schönheit arge[m] Flor“ und mit ihrem „buhlerisch[en] Feuer“ entwickelt die Nixe extrem todessüchtige Neigungen. Eros steht nicht im Dienste der dem Leben zugewandten, freiheitlichen Politik, er steht der rückwärtsgewandten, „ersterbende[n]“ Politik zur Verfügung: der Politik der nationalen Zersplitterung, der religiösen Zensur, der obrigkeitlich-christlichen Bevormundung. Die Erotik der von Keller inszenierten Nixe hat längst alles Natürliche eingebüßt, wie ihre „seidenen Wimpern“ verraten; sie ist politischer Restauration erbötig, wie ihrer „Krone goldene Zinken“ anzeigen; ihr magischer Glanz, der einst Erfüllung versprach, ist mit dem Kalkül und der Täuschung im Bunde, wie ihr „tückisch[es]“ Blinken offenbart; ihre lebenserneuernde sinnliche Kraft ist dahin und leuchtet nur noch als moribunder Schein „in der sterbenden Sonne Glut“ auf. In der „grauliche[n] Nix’“ konzentriert Keller den Schaden, den leiblichen und seelischen, den das Christentum in Jahrhunderten der Askese, der Sinnenfeindlichkeit und Fleischespeinigung dem Eros zugefügt hat. Auf diesem todverfallenen, verstümmelten, künstlich aufgeputzten und trügerisch leuchtenden Eros erbauen die Sonderbündler ihren restaurativen, rückwärtsgewendeten, scheinlebendigen Staatenbund. Kellers operativ-allegorische Ästhetik hat Geist, sinnlichen Geist. Sie verknüpft im Bild der Nixe todessüchtige Sexualität und Religiosität, Religiosität und staatliche Restauration. Sie zitiert die Nixengestalt, der etwas Antiquiertes eignet, und macht sie zu einem Gleichnis für den antiquierten Charakter des Sonderbunds. Aber sie zeigt auch die explosive Gefahr des
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Alten, Abgelebten, wenn der lautlose Fall der Blutstropfen in den See sich verwandelt zur schreienden Flut – eine expressive Stelle, die den Schweizer Bruderzwist und Bürgerkrieg optisch im blutigen Rot, akustisch im empörten Naturlaut ankündigt. Die allegorisch-politische Sinngebung der Naturphänomene zehrt diese nicht auf, sie läßt vielmehr Raum für die sinnlich-bildliche Belebung der Phänomene, so daß sie eigenes Profil gewinnen, wie das Bild der Nixe demonstriert, wo jeder einzelne Zug sinnlich-anschaulich ist und jeder über sich hinausweist auf eine übertragene Bedeutung. Ihr täuschender Schein hallt gleichsam wider in verschiedenen grellen Lichteffekten (vgl. 4. und 5. Strophe). Sie werden umrahmt von der „schwärzlichgrünen Flut“ und den „Purpurzinnen“ des Gebirges – die Farben wetteifern auffällig miteinander. Keller ist ein Virtuose des poetischen Lichtspieltheaters. Seine gewagte Durchmischung des Erotischen, Christlichen und Politischen in kritisch-polemischer Absicht zeigt, daß er in einer Literaturfehde mit den religiös apologetischen Spätromantikern begriffen ist. Sie zeigt zugleich, daß er diese Fehde mit den Mitteln der Moderne führt – mit Montage, perspektivischer Engführung getrennter Bereiche, schockierender Ineinsbildung morbider Lust- und tabuierter Heiligengestalten (der Nixe mit Maria und Jesus). Das Traditionsbewußte im guten Sinne – „die Kapellen / Alter Freiheit“ und die „frommen Tellen“ – muß sich in der Konfrontation mit den Freiheitsfeinden erneuern und im Experimentierfeld moderner Ästhetik einen angemessenen Ausdruck finden. Gesellschaftsbewußte Kritik, die sich in einem weiblichen Feindbild – der Nixe – kristallisiert, kann sich bei Keller auch umgekehrt an einem Idealbild des Weiblichen orientieren, wie wir gezeigt haben. Ein weibliches Ideal schafft sich Keller unter anderem in der Imago des Mütterlichen. In den Gedichten von 1846 findet sich als III. Teil des Zyklus Nacht ein sozialkritisch ausgerichteter, ästhetisch teilweise fragwürdiger Text mit der poetischen Anfangszeile „Es wiegt die Nacht mit sternbesäten Schwingen“124. Es handelt sich um eines der frühesten deutschen Gedichte, das von der Kritik am europäischen Kolonialismus inspiriert ist, ein Vorläufer der scharfen Verdikte, die Heine im Romanzero (Sklavenschiff und Bimini) niedergelegt hat. Kellers kritischer Feldzug hat einen für ihn charakteristischen Ausgangspunkt. Die ferne Südsee-Insel erscheint ihm „wie ein entschlummert Kind an Mutterbrüsten“, ein von Träumen eingewiegtes Paradies der Seligen. Dieser Verweiblichung und Verklärung der exotischen Ferne setzt er in schroffem Wechsel die europäischen Kolonisatoren entgegen, aggressiv und destruktiv auf Unterwerfung und Ausbeutung des mütterlichen Paradieses eingeschworen, „das blut’ge Kreuz mit dem gequälten Gotte“ vor sich hertragend als Sinnbild eines Lebens im Banne
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des Leidens und des Selbstopfers. Nicht von ungefähr haben die dem herandrängenden Kolonialismus beigesellten Metaphern und Attribute maskulines Gepräge: vom „Meeresdrache[n], der den Raub gewittert“, über die „viel hundert Bleigesichter“ der Schiffsbesatzung bis zum „Christenpfaffe[n]“ zieht sich der patriarchalische Reigen. Er kontrastiert auffällig mit der Mutter-Kind-Metaphorik des Anfangs. Keller läßt das männliche Geschlecht Europas in seiner ganzen Entstellung, seiner Verwicklung in eine barbarische Konquistadoren- und Imperialismus-Rolle, hervortreten. Freilich, das mütterliche Paradies wirkt wie eine Projektion kindlicher Sehnsüchte Kellers, die er in konventionelle Bilder kleidet und in idyllischen Stereotypen spiegelt. Das „Licht der Wahrheit“, das er dem Paradies zuschreibt, hat wenig poetische Überzeugungskraft, während seine melodramatische Inszenierung der christlichen Eroberer immerhin einen authentischen historischen Kern besitzt.125 Eine andere Männer-Gesellschaft – und ein anderes, emanzipatorisches Frauenbild – zeichnet das große zweiteilige Gedicht Die Schifferin auf dem Neckar (Text siehe Anmerkung)126. Der erste Teil, untertitelt 1848, skizziert eine siebenköpfige Gruppe, „vom Weine entzündet, voll Leben und Lust“; der zweite Teil mit dem Untertitel 1849 führt „ein Häuflein Rebellen“, Freiheitsrebellen, vor. Die progressive Minorität des patriarchalischen Europa wird da jeweils in einem Boot über den Neckar gefahren. Das eigentliche Interesse des erzählenden Ichs gilt jedoch der Schiffsführerin, eine ihre Tätigkeit mustergültig ausübende junge Frau, die im ersten Teil standhaft die „Scherze[ ]“ der männlichen Gesellschaft pariert, im zweiten Teil „sicher“ und mutig im Kugelhagel die „rettende Bahn“ zum anderen Ufer sucht. Hält die Schifferin bei ihrer ersten Fahrt die Lebenslust und den Mutwillen ihrer Gäste in Schach, so rettet sie bei ihrer zweiten die Freiheitskämpfer, die toten wie die noch lebenden, vor dem nachsetzenden Feind, indem sie ihr eigenes Leben aufs Spiel setzt.127 In ihr hat Keller seinem Idealbild einer Frau ein Denkmal errichtet, wie keinem Helden sonst, nicht einmal dem badischen Volkshelden Friedrich Hecker.128 Ist der Strom in der progressiven Naturlyrik sonst eine Domäne des männlichen Geschlechts, so regiert ihn hier die Frau, sachkundigselbstbewußt. Ob die „rauschende[ ], schwellende[ ] Flut“ am Anfang ein Vorspiel der nahen Revolution von 1848 bedeutet, läßt sich mit Sicherheit nicht ausmachen, trotz des anspielungsreichen Untertitels. Daß jedoch der kräftig bewegte Fluß im zweiten Gedicht eine politisch-allegorische Bedeutung mit sich führt, ist unübersehbar: „Es ringen die Ströme gewaltig zu Tal, / Die Deutschen nach Einheit mit Feder und Stahl, / Der Neckar erreichet den fliehenden Rhein, / Doch ewig muß Deutschlands Zerrissenheit sein.“
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Pflegten die politischen Naturlyriker des Vormärz, und mit ihnen Keller, im bewegten Element die vorwärtstreibende Sehnsucht nach der Freiheit und Einheit Deutschlands darzustellen, so dient ihnen der Strom jetzt zur Flucht, womit das definitive Scheitern ihres Kampfes zum Ausdruck kommt. War bislang der Zusammenfluß von Neckar und Rhein die ermutigende Allegorie für einen politischen Zusammenschluß der zersplitterten Nation, so spottet der Bürgerkrieg jetzt des Naturphänomens. Mit der mißlingenden Revolution wird auch der politischen Naturmetaphorik die Grundlage entzogen. In Kellers Gedicht nimmt die Natur Abschied von ihrer politischen Bedeutung (ähnlich wie in den Stein- und Holz-Reden). So markiert es den Übergang vom Vormärz zum Nachmärz. Gleichwohl überlebt ein revolutionärer Impuls: in der Gestalt der Schifferin. Nicht nur ist sie der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht, sie nimmt sich auch der Opfer des Kampfes, des „schwimmenden Sarg[s]“, an und hält die Totenwacht, aber mit ‚erbebendem‘ Herzen, das „klare Gemüt“ von „Flammen“ durchglüht. Im trauernden Eingedenken dieser Frau lodert das Feuer der Empörung auf, des ungebeugten, flammenden Protests. Keller erzwingt die Anteilnahme des Lesers an ihrer Gestalt durch – Gestaltung, Darstellungskunst. Scharfsichtig Detail auf Detail häufend, beschreibt er die Fahrt des schwankenden Boots, die ihm nachpfeifenden Kugeln, das Gegenfeuer der Rebellen, die „purpurne Flut“ ihres Bluts im „gebrechliche[n] Nachen“: eine abenteuerliche, Spannung erzeugende Inszenierung voll sinnlichem Realismus, vorwegnehmend die filmische Technik des Wechsels von Nahaufnahme und Fernblick, zentriert um die eigentliche Heldin des Geschehens, die Keller mit melodramatischen Pointen profiliert. Sie streifen da und dort die Grenzen des guten Geschmacks: Scharf streicht ihr der Tod an den Brüsten vorbei, Sie schauet zum Ziele hin sicher und frei.
In den lyrischen Entwürfen des jungen Keller wurde auch der Erzähler geboren, anders gesagt: tritt uns auch der geborene Erzähler entgegen, einer, der Handlungen erfinden, in Szene setzen, dramatisch steigern kann und ihnen eine stofflich-plastische, realitätsgespeiste Gegenwärtigkeit verleiht.129 Die Durchmischung des Lyrischen mit Epischem macht manches spätere Gedicht Kellers zu einem ästhetischen Ereignis (vgl. u.a. Kap. VI, XI, XV, XVI).
IV. Feuerbachiaden Mit Gedichten wie Stein- und Holzreden, Rheinwein und Die Schifferin auf dem Neckar verlieh Keller seiner Revolutions-Skepsis Ausdruck, soweit er Deutschland im Visier hatte. Das Scheitern der revolutionären deutschen Bewegung erwies die Wahrnehmungsschärfe dieser Skepsis. Aber es machte aus dem Skeptiker keinen Renegaten: Im Gegensatz zu manchem Revolutionsjünger wechselte Keller nicht enttäuscht die Fronten, er hielt revolutionärem Geist in gewisser Weise die Treue. Er tat dies im Bannkreis Ludwig Feuerbachs, des Dozenten der Philosophie in Heidelberg, wohin er im Jahre 1848 gezogen war, gefördert durch ein Stipendium seiner Vaterstadt Zürich. Feuerbach hatte schon Anfang der vierziger Jahre die intellektuelle Jugend Deutschlands mit seiner Schrift Das Wesen des Christentums (1841) erregt und in glühenden Enthusiasmus versetzt. „Wir waren alle momentan Feuerbachianer“130, hatte Friedrich Engels im Rückblick notiert. Der abendländische Mensch, so Feuerbach, habe bisher seine besten Eigenschaften auf ein Wesen namens Gott projiziert; er habe sich aus seinen eigenen Vorzügen diesen Gott zusammengesetzt, anstatt sich selbst zu verwirklichen und seine irdischen Beziehungen im Geist der Liebe, Güte und der schöpferischen Potenz zu gestalten. Nun sei es an der Zeit, die ins Jenseits projizierten menschlichen Tugenden sich tatkräftig wieder anzueignen und im Diesseits zu entfalten.131 Dergestalt könnte aus dem irdischen ‚Jammertal‘, von dem die christlichen Kirchen sprechen, eine Stätte der Erfüllung und des Glücks werden. Es lag in der Logik dieser Lehre, die politisch unmündige Menschheit als eine verantwortungsbewußte – ihrer eigenen Kräfte sich bewußte – Gesellschaft zu entwerfen, die fähig wäre, ihr schöpferisches Vermögen im Namen der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Selbstentfaltung aller einzelnen zu gebrauchen. Die Feuerbach‘sche Lehre war, so gesehen, der gute Geist der Revolution, ihre humane Ethik und ihr philosophisches Gewissen. Keller selbst hat den politischen Hintergrund Feuerbachs, „dieser gegenwärtig wichtigsten historischen Person in der Philosophie“, sogleich nachgezeichnet: Ich werde tabula rasa machen (oder es ist vielmehr schon geschehen) mit allen meinen bisherigen religiösen Vorstellungen, bis ich auf dem Feuerbachischen Niveau bin. Die Welt ist eine Republik, sagt er, und erträgt weder einen absoluten, noch einen konstitutionellen Gott (Rationalisten). Ich kann einstweilen diesem
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Aufruf nicht widerstehen. Mein Gott war längst nur eine Art von Präsident oder erstem Konsul, welcher nicht viel Ansehen genoß, ich mußte ihn absetzen. […] Die Unsterblichkeit geht in den Kauf. […] Ich habe aber auch noch keinen Menschen gesehen, der so frei von allem Schulstaub, von allem Schriftdünkel wäre wie dieser Feuerbach. Er hat nichts als die Natur und wieder die Natur, er ergreift sie mit allen seinen Fibern in ihrer ganzen Tiefe und läßt sich weder von Gott noch Teufel aus ihr herausreißen. Für mich ist die Hauptfrage die: Wird die Welt, wird das Leben prosaischer und gemeiner nach Feuerbach? Bis jetzt muß ich des bestimmtesten antworten: Nein! im Gegenteil, es wird alles klarer, strenger, aber auch glühender und sinnlicher.132
Man versteht nach dieser mentalen ‚tabula rasa‘ Kellers nur zu gut, wenn er „mit diesem gleichen Feuerbach fast alle Abende zusammen“133 ist, zumal der auch „ein Glas Roten nicht verachten tut“134. Hier hat ein Erkenntnisdrang seine vorläufige Erfüllung, hat ein Genießer die ihm gemäße Geselligkeit gefunden. Daß Feuerbachs Lehre damals nicht nur die Studenten politisch erregte, sondern auch die Fakultätskollegen provozierte, demonstrierte unter anderem der von Keller sonst geschätzte Hofrat Henle, der „in seiner Anthropologie den lieben Gott wiederhergestellt“ habe, „weil er vermutlich nicht in den Verdacht kommen will, mit dem Demokraten Feuerbach irgend etwas Gemeinsames zu haben.“135 Noch ist ja auch die revolutionäre Bewegung in Deutschland nicht versandet: „Es gärt wieder ziemlich unter dem Volke hierzulande“ 136, wie Keller an Baumgartner wenig später schreibt. Aber Kellers neues Weltbild ist von aktuellen politischen Situationen nicht abhängig; es folgt einer demokratischen Maxime, die er zum kritischen Maßstab des staatlichen wie des Geisteslebens macht: „Die rationelle Monarchie ist mir in der Religion so widerlich geworden wie in der Politik“, heißt es in einem Brief an Freiligrath vom 4. April 1850137, nachdem das monarchische System in Deutschland über die revolutionären Demokraten erneut gesiegt hat. Umso entschiedener bekennt sich Keller nun zur mentalen Essenz der Lehre Feuerbachs: der Absage an die Monarchie Gottes, samt ihren Konsequenzen. Die Welt, so Keller, werde ohne den Glauben an Gott und die Unsterblichkeit keinesfalls „prosaischer“, im Gegenteil, sie werde, wie es im Brief vom 28. Januar 1849 heißt, „klarer, strenger, aber auch glühender und sinnlicher“. Diese Attribute bilden gleichsam das Konzentrat des neuen Weltbilds. Ihre ganze Bedeutung erschließt ein späterer Brief Kellers an Freund Baumgartner. Dort wird auch dem „Gedanken des wahrhaften Todes“, den Keller im ersten Brief nur berührt hatte, mehr Raum gewährt. Tod und Leben treten zu einer zwingenden Konstellation zusammen, wie Keller sie erst seit Feuerbach entwickeln lernt: Wie trivial erscheint mir gegenwärtig die Meinung, daß mit dem Aufgeben der sogenannten religiösen Ideen alle Poesie und erhöhte Stimmung aus der Welt verschwinde! Im Gegenteil! Die Welt ist mir unendlich schöner und tiefer gewor-
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den, das Leben ist wertvoller und intensiver, der Tod ernster, bedenklicher und fordert mich nun erst mit aller Macht auf, meine Aufgabe zu erfüllen und mein Bewußtsein zu reinigen und zu befriedigen, da ich keine Aussicht habe, das Versäumte in irgendeinem Winkel der Welt nachzuholen. […] für die Kunst und Poesie ist von nun an kein Heil mehr ohne vollkommene geistige Freiheit und ganzes glühendes Erfassen der Natur ohne alle Neben- und Hintergedanken, und ich bin fest überzeugt, daß kein Künstler mehr eine Zukunft hat, der nicht ganz und ausschließlich sterblicher Mensch sein will. Daher ist mir auch meine neuere Entwicklung und Feuerbach für meine dramatischen Pläne und Hoffnungen weit wichtiger geworden als für alle übrigen Beziehungen, weil ich deutlich fühle, daß ich die Menschennatur nun tiefer zu durchdringen und zu erfassen befähigt bin.138
Weil das „Leben“, die „Welt“ und die „Natur“ ohne ein ‚Jenseits‘ auskommen müssen, weil sie zusammengedrängt sind auf die Zeitspanne zwischen Geburt und Tod, weil das Individuum nichts besitzt als eben das ‚Diesseits‘, kann und muß es diesen Besitz mit seinen ganzen Kräften ausloten und ausschöpfen, kann und muß es auf das Diesseits die Intensität seines Bewußtseins und den Reichtum seiner Seele richten. Der Tod ist nicht länger Durchgangsstation zum eigentlichen, jenseitigen Leben – mors porta vitae –, er ist die unüberschreitbare Grenze, die den Menschen auf das irdische Leben verweist. Das macht seinen neuen ‚Ernst‘ aus. Der junge Keller hatte ja einmal experimentell die Nachbarschaft des Todes gesucht; seine Gedanken eines Lebendig-Begrabenen (Gedichte, Kauffmann, S. 100–115) zeugen von den Mühen seiner Phantasie, sich in das Zwischenreich von Leben und Tod hineinzuversetzen. Daraus resultiert ein unlösbarer Konflikt (vgl. unsere Hinweise im VIII. Kap. 1, S. 157). Der versehentlich in einem Sarg in das Grab beförderte junge Mann reibt sich zwischen unstillbarem Lebenshunger und spekulativer Jenseitserwartung auf; das Diesseits entzieht sich ihm ebenso uneinholbar wie das Jenseits. Nun jedoch, im Zuge der Feuerbach-Erfahrung, sieht sich das Individuum dazu aufgefordert, dieses eine Leben absolut zu setzen, es mit Sinn und Sinnlichkeit, mit Geist und Gefühlskraft zu erfüllen. Die Absage an das Jenseits führt zu einer neuen Weltfrömmigkeit.139 Dies ‚Neue‘ stellt zum Teil freilich eine Renaissance älterer Ideen dar. Sie waren im Denken und Dichten des späten Goethe präludierend angeklungen140, hatten eine klangreiche Orchestrierung im Werk Heines erlebt und sollten – nach Kellers vielfältigen Intonierungen um die Jahrhundertmitte – in Nietzsches Zarathustra in einer ekstatischen Diesseitsfeier gipfeln. Nietzsches Atheismus, seine berühmte Maxime „Gott ist tot“ ist nur die einprägsame Pointe eines längst erprobten Gedankenexperiments. Keller selbst hat mit seiner Feuerbach‘schen Weltfrömmigkeit zumindest teilweise eine neue Position gegenüber seiner Züricher Zeit Mitte der vierziger Jahre bezogen. Damals hatte er sich auf die Seite August Adolf Ludwig Follens geschlagen, um gegen Arnold Ruge und Karl Heinzen für
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Gott und die Unsterblichkeit die Feder zu führen. Es war „eine literarischpublizistische Fehde um Religion und Unsterblichkeit“ gewesen.141 Es scheint, daß ihn damals eine überlieferte Frömmigkeit ebenso zur Stellungnahme überredet hat wie die Sorge, mancher unterdrückte und geschundene Zeitgenosse könnte mit dem Zerfall des Jenseitsglaubens eines starken Trostes entbehren.142 Keineswegs jedoch war Keller zu dieser Zeit ein Verächter diesseitiger Angelegenheiten im Namen des Jenseits: „Auch ich glaub‘ wandellos: Hier ist gut wohnen; / Auf! laßt uns sehn, wie wir zurecht uns finden: / Die Menschenseele ist zum Glück bestimmt.“143 Lebensmaximen dieser Art sind Keller von früh an vertraut. Ein unveröffentlichtes Gedicht aus dem Jahre 1844, Tod144 überschrieben, bestätigt das. Seine vierte Strophe ist beredt genug: Knicke keine Rose, die da blüht! Lösche keinen Stern, der schimmernd glüht! Dämpfe keinen Blick, der Leben sprüht! Laß mir alle Blumen liebend sprießen! Laß mir alle Quellen freudig fließen, Daß du magst dein Dasein rein genießen! Kurze Ruhzeit nur der Tod dir sei: Lebe frei!
Die Hingabe an den sinnlich-sinnhaften Augenblick und an den Lebensgenuß wird hier durch den Blick auf das Jenseits weder gedämpft noch negiert. Die Perspektive des Todes kommt nicht der Unsterblichkeit wegen, sondern um der Sterblichkeit willen zur Geltung. Hier werden Vorklänge zur späteren Feuerbach-Erfahrung hörbar. Sie durchziehen auch die Reformation, ein frühes Gebilde aus den Gedichten von 1846.145 Der Tod ist nicht allein die unwiderrufliche Grenze des Lebens, er kann auch dessen Erwecker sein und neues Leben aus sich erzeugen („Das Sterben ist ein endlos Auferstehen“). – Die Kritik an der „Kirche Mumienhand“, die Keller hier übt im Namen des Lebens, variiert er im Gedicht Der Kirchenbesuch146, ursprünglich dem XV. in dem Zyklus Siebenundzwanzig Liebeslieder der Gedichte, 1846. In die Kirche bricht die schöne, blühende Natur ein. Das lyrische Ich, das unter den Kirchenbesucherinnen auch sein „Liebchen“ bemerkt, verwandelt kraft seiner Phantasie die „gotischen Pfeiler“ in „Eichenbäume, hoch und schlank“, ausgestattet mit „krausen Äste[n]“ und einem „gewölbte[n] Blätterdach“. Und der „Taufstein“ wandelt sich unter der hereindringenden Sonne zur „Blumenschale“, worauf denn das lyrische Ich mit seiner Geliebten eine Reise auf den Schwingen der Phantasie unternimmt, die das Paar „ins Morgenland“, auf „sel’ge[ ] Inseln“ entführt. Das Gedicht vermittelt eine Vorstellung davon, was Keller unter dem Einfluß Feuerbachs „glühendes Erfassen der Natur“ nennen wird. Gemeint ist damit die äußere wie die innere Natur – die „Menschennatur“.147 Das Sonnenlicht setzt das liebende Begehren des
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Ichs frei, und analog dazu verwandelt das Begehren die Kirchenobjekte zu Naturphänomenen. Dergestalt wachsen der Phantasie Flügel zu. Sie wird zur ästhetischen Schöpferin einer exotischen Reise in das Reich des Eros. Indem das lyrische Ich den Kirchenraum transfiguriert und seiner „religiösen Ideen“ beraubt, erzeugt es eine neue „Poesie und erhöhte Stimmung“148. Ähnlich hatte Keller in den Waldliedern diesseits der Kirche ein „wildes Kirchenfest“ in freier Natur begangen: das Fest der republikanischen Poesie, der freiheitlichen Brüderlichkeit.149 Auch hier war die Phantasie zum Organ einer schöpferischen Durchdringung und Umdichtung der Natur geworden, fern aller religiösen Normen und Gebote. Es war eine Umdichtung im Geiste des Pantheismus – und so nahm schon der frühe Keller der Gedichte von 1846 die spätere Feuerbach-These vorweg, „für die Kunst und Poesie“ sei „von nun an kein Heil mehr ohne vollkommene geistige Freiheit“150. In gewisser Hinsicht hatte der Keller der Züricher Jahre auf den Feuerbachianer Keller in Heidelberg vorausgewiesen. Der Heidelberger Feuerbachianer ist freilich konsequenter als sein Züricher Vorläufer, der das Prinzip Gott ja nicht negiert hatte. Und er erfaßt auch die Natur „ohne alle Neben- und Hintergedanken“151, während er früher die Naturphänomene mit einer ganzen Reihe solcher Gedanken, vor allem politischer Provenienz, dargestellt hatte. Kellers frühe Naturgedichte sind, wie wir zu zeigen versuchten, immer wieder politische Gedichte im Namen einer neuen demokratischen Gesellschaft – die Naturphänomene wandeln sich häufig zu allegorischen Zeichen einer ersehnten besseren Sozialordnung. Der von Feuerbach angeregte Schriftsteller möchte dagegen „nichts als die Natur […] mit allen seinen Fibern in ihrer ganzen Tiefe“152 ergreifen. Der politische Lyriker hatte die Natur zum Zeichensystem einer besseren Zukunft umgeschaffen, der Feuerbachianer will die Naturphänomene selbst, die „Menschennatur“ eingeschlossen, „glühend“ erfassen und „tiefer durchdringen“. Was bisher nur im Namen der Zukunft zur Sprache kam, soll jetzt in seiner ganzen Gegenwärtigkeit zur Darstellung gelangen – und in den Dingen will sich zugleich das darstellende Subjekt eindringlich, „mit allen seinen Fibern“, erfahren. Das ursprünglich an die Politik geheftete Glücksversprechen wird nun der unmittelbaren Präsenz der Natur und der individuellen Selbsterfahrung überantwortet. So macht sich Keller teilweise vom wechselvollen Schicksal der Politik unabhängig, das in der Schweiz in die fortschrittliche Bundesverfassung von 1848, in Deutschland in das Scheitern der Märzrevolution (1848/49) mündete. Vom Wandel in Kellers innerer Biographie zeugen namentlich seine Neueren Gedichte (erschienen 1851 und 1854153). Die frühe Disposition zum Feuerbachianer, erkennbar in Gedichten wie Tod, Reformation und Der Kir-
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chenbesuch, wird nun manifest und zielt auf erhöhten Lebensgenuß. Doch der vitale und philosophisch fundierte Wille zum diesseitigen Glück bricht sich zuweilen am ungefügen Diesseits selbst, dem Leben mit seinen Unverfügbarkeiten, die – mit Schillers Wallenstein zu sprechen – „keines Menschen Kunst vertraulich macht“. Hier bezeugt sich eine Ambivalenz, die in Kellers umfassendster Feuerbachiade greifbar wird, dem Zyklus Aus der Brieftasche154. Ihm sei ein kursorischer Überblick gewidmet, der auch Kellers ästhetische Eigenarten freilegt, etwa seine Lust an der Variation. Kellers Feuerbach-Erfahrung entfaltet sich an den verschiedensten Gegenständen und in einer Fülle von Darstellungsformen. Da ist das programmatische Anfangsgedicht (I. Ich hab’ in kalten Wintertagen), das gegen das „Trugbild der Unsterblichkeit“ das intensive, wiewohl „flücht’ge Glück“ der Sterblichkeit beschwört, eingefaßt ins Bild der „holden Rosen“: Zu glüh’n, zu blüh’n und ganz zu leben, Das lehret euer Duft und Schein, Und willig dann sich hinzugeben Dem ewigen Nimmerwiedersein!
Da ist ferner das II. Gedicht Die Zeit geht nicht; es ersetzt die alteuropäische Idee der Zeitenflucht, die das menschliche Tun und Trachten im Zeichen der „Vanitas“ deutet, durch die Antithese der stillstehenden Zeit, die der Gestaltung durch die menschlichen Subjekte anheim gegeben ist (vgl. unsere Exemplarische Interpretation am Ende des Kapitels). – Ferner ist da im III. Gedicht (Daß ich nicht ein jedes Atom) der Lobgesang auf das „perlende Gold“ des Weins und die Augen der Geliebten, ein Lobgesang, der auf die pointierte rhetorische Frage zusteuert: „Und wir sollten die köstliche Neige Zeit / Mit dem Gedanken der Ewigkeit verdünnen?“ Und da ist die Liebeshuldigung IV. Siehst du den Stern (Text in der Anmerkung)155, die das immer noch existente Licht eines erloschenen Sterns in Analogie zur Geliebten setzt, deren liebenswerter „Schein“ noch nach ihrem Tod fortleuchten wird. Indem Keller den „milden Schein“ des erloschenen Sterns mit der fortwirkenden Leuchtkraft der Geliebten nach ihrem Tod vergleicht, gelingt ihm eine anmutige Wendung, die dem „anmutvolle[n] Sein“ der Frau vollkommen korrespondiert. Der Gleichnischarakter tritt nicht lehrhaft hervor, wie das zuweilen im allegorischen Sprechen der Fall ist, er besitzt vielmehr pointierten Liebreiz. Und er verbirgt obendrein spielerisch einen philosophischen Tiefsinn: „Dem Wesen solchen Scheines gleicht, / Der ist und doch nicht ist, / O Lieb’, dein anmutvolles Sein, / Wenn du gestorben bist!“ Pflegte die klassische Ästhetik und Philosophie ‚Schein‘ und ‚Wesen‘, ‚Schein‘ und ‚Sein‘ voneinander zu unterscheiden, so läßt Kellers Gedicht die Begriffe virtuos ineinander übergehen. Wenn das ‚Sein‘ der Geliebten längst erloschen ist, dauert es noch fort im ‚Wesen‘ ihres leuchtenden ‚Scheins‘. Ihr Schein
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bleibt wesenhaft, insofern er ihr vergangenes Sein in seiner Leuchtkraft am Leben erhält. Das Gedicht vermittelt beispielhaft Kellers Kunst der Verschränkung von Bild und Reflexion. Die optische Wahrnehmung der Gegenstände wird vom Gedanken durchdrungen, bis das Sinnliche und der Sinn sich in einer Quintessenz gatten und in einer Pointe vereinigen. Keller versteht sich auf die pointierte Engführung des Bilds und des Gedankens nicht allein. Er vermag auch in epischer Breite zu erzählen (V. Wochenpredigt 156) oder eine Erzählung mit bündiger Prägnanz vor Augen zu führen, so im VI. Gedicht (Ich sah zwei Gräber). Dieses setzt idealtypisch zwei am Leben Verzweifelnde in Szene, Mann und Frau, um sie für das Leben wiederzugewinnen. Beide sind ihrer Lebensgefährten beraubt worden und würden sich am liebsten ins Grab hinein- und ins Jenseits hinauftrauern, eingedenk ihrer verstorbenen Liebsten; sie geben sich ihrer Verzweiflung hin, bis sie unversehens am Ort ihrer Trauer einander erblicken: „Bis plötzlich ihre Augen hingen, / Eins an des Andern schönem Bild.“ Und mit diesem Augenblick beginnt, inmitten des Todes, der Triumphzug des Lebens, der Schönheit, des Eros. Wenn die Enkel des Liebespaars, das sich am Grab – an der Schwelle zum Tod – gefunden hat, eines Tages beim Pflügen auf das „längst verschollene[s] Gebein“ ihrer Großeltern stoßen und sich bewußt werden, daß ihr Leben aus den Verstorbenen „erblüht“ ist, wenn sie ferner deren Gebein „mit jungen Saaten“ bedecken: so wird die zyklische Wiederkehr des Lebens aus dem Tod doppelt fühlbar. Das Leben selbst will aus dem Bewußtsein des Tods intensiv empfunden werden. Zu leben wissen, ist das Losungswort, das Keller mit diesem und den folgenden Gedichten ausgibt. Und wie das VIII. zelebriert auch das IX. Gedicht solche Lebenskunst: „Doch verstehen wir die Kunst, / Frei und rasch und stark zu leben! / Scheiden leicht von jedem Traum, / Der sich nicht mit Wahrheit paarte; / Doch hegt unser Busen Raum / Für das Starke, wie das Zarte!“ Immer wieder ist es der rechte Augenblick, den zu ergreifen der Lebenskunst obliegt; seine Vergänglichkeit fordert die ganze Hingabe an ihn heraus, so daß er sich mit Unendlichkeit zu füllen scheint. Damit konstituiert der Augenblick eine moderne Metaphysik, die an die Stelle der alten jenseitigen Ewigkeit tritt. Keller legt sich dabei keineswegs auf die Sonnenseite des Lebens fest, auf ein ‚eitles Glück‘. Wer darauf eingeschworen ist, verfehlt des Lebens andere Seite, seine Nachtseite, die ihm so elementar zugehört wie sein beglückender Zauber (vgl. XI.). Ein Richtmaß für die Lebenskunst kann offenbar die äußere Natur sein (XIII. Liebliches Jahr). Aus der Bewegung eines Schwans gewinnt das lyrische Ich ein Gleichnis für sein eigenes Leben. Es erfaßt die „Natur“, um seine ‚Menschennatur‘
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verstehend zu ‚durchdringen‘, wie die Feuerbach-Gedanken Kellers es intendierten. Erfüllung ist damit freilich nicht verbürgt. Wenn das Ich anstelle der Natur auf ein menschliches Gegenüber trifft, kann ihm ein grundverschiedenes Lebensgesetz begegnen: eins, das seine liebende Hingabe zum Verzicht auffordert (XIV. Und wieder grünt). Dann wird der „Traum“ der Liebe als Illusion enthüllt. In tapferer Selbstbescheidung, ohne eine Spur von Verbitterung, ringt sich das Ich hier zum Verzicht auf die Geliebte durch. Einen Bruch kann es freilich nicht verhindern – den zwischen privater Existenz und öffentlichem Leben. Während das Ich auf sein Liebesglück aus war, verblutete die März-Revolution (vgl. 3. Strophe). Über diese Diskordanz tröstet auch nicht die Selbstbescheidung am Ende hinweg, die im Rahmen der Privatheit verbleibt. Selbstbescheidung, Tapferkeit, Entsagung – solche Ingredienzien der Lebenskunst können gelegentlich des Sinns und des Trosts entbehren (XV. Weil ich den schwarzen untreu ward). Keller geht der Desillusionierung bis zur bitteren Neige nach. Nach einer leichtfertigen Liebe hatte sein lyrisches Ich den „heiligen Ernst“ der „wahren Liebe“ kennengelernt und mit ihr Buße tun wollen für seine Leichtfertigkeit. Vergeblich: „Und als ich büßend dich geliebt, / Bist du wie ein Phantom entschwunden; / Da hab’ ich mich mit meiner Reu’ / Verlassen und allein gefunden!“ – Als wollte Keller es bei dieser untröstlichen Erfahrung nicht bewenden lassen, zieht er im folgenden Gedicht aus einer ähnlichen Erfahrung Trost, mehr noch: höheren Lebenssinn (XVI. Ich fühlte wohl). Sein lyrisches Ich hat im Herzen des geliebten Weibs das Paradies erschaut, das zu erobern ihm verwehrt ist. Es scheint indes, als würden die selige Schau und das heroische Bewußtsein des Verlustes sich zu einer Erfahrung kristallisieren, die mehr wiegt als jede Inbesitznahme der Geliebten: „Und besser ging ich, als ich kam, / Von reinem Feuer neu getauft, / Und hätte meinen reich’ren Gram / Nicht um ein reiches Glück verkauft!“ Dreimal scheitert demnach das Liebeswerben des Ichs – und jedes Mal antwortet es anders darauf. Man gewinnt den Eindruck, daß Keller mit dem abschlägigen Bescheid der Geliebten experimentiert und seine Enttäuschung verschiedenen Proben aussetzt. Zur neuen Lebenskunst gehört wohl auch solche Selbsterprobung durch eine experimentelle Poesie. Demgegenüber wird die Frage sekundär, wie das Liebesverhältnis wirklich ausgesehen hat. Der biographische Sachverhalt ist lediglich als Anstoß für die lyrischen Variationen und Expeditionen interessant, die ins Leben zurückwirken und die Lebenskunst fördern sollen. Ähnlich hatte Heinrich Heine Liebeswerben und Liebeserfahrung in lyrischen Variationen durchgespielt und in eine experimentelle Liebespoesie überführt, etwa in der Abteilung Verschiedene der Neuen Gedichte (entstanden 1831–36).
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Das Experiment schließt den Lebensernst und die Frage nach der Lebenskunst nicht aus. Das erweist das letzte Gedicht des Zyklus (XVII. Flack’re, fernes Licht). In Gestalt eines Dialogs mit sich selbst reflektiert das lyrische Ich seinen Drang zur Unsterblichkeit. Hat es den Tod als Grenze des Lebens vergessen?: „Und nur du, mein armes Herz, / Du allein willst ewig schlagen, / Deine Lust und deinen Schmerz / Ewig durch die Himmel tragen?“ Solchem Verlangen setzt das Ich nun die Dinge der Natur und ihr vergängliches, jedoch ‚intensives‘ und gleichsam ‚glühendes‘ Leben entgegen und „reinigt“ dadurch, um in Kellers Feuerbach-Sprache zu reden, sein „Bewußtsein“. Es wird der „Poesie und erhöhten Stimmung“ der vergänglichen Natur inne und bekennt sich so zu seiner eigenen Vergänglichkeit, deren Bestimmung es ist, nach dem Beispiel der natürlichen Dinge die Essenz des Lebens zu erfassen und auszukosten. Wie in den vorhergehenden Gedichten verschränkt Keller sinnliche Gegenständlichkeit mit Reflexionskraft und abschließender, pointiert formulierter Quintessenz. Die Naturphänomene sprechen für sich selbst und treten gleichzeitig zu einem Gleichnis für die ‚Menschennatur‘ zusammen. Mit dieser kontemplativen Sinnlichkeit oder sinnlichen Gedanklichkeit führt Keller einen Grundzug seiner frühen Lyrik fort. (Im Sternengleichnis des IV. Gedichts beispielsweise tritt dieser Grundzug mit betörender Prägnanz hervor.) Freilich, nicht immer sind die Naturphänomene und ihr Gleichnischarakter sogleich transparent, in einigen Fällen bereiten sie dem LektüreVerständnis manche Schwierigkeit: so das II. und das X. Gedicht, ein vielzitiertes und ein relativ unbekanntes. Werfen wir auf beide abschließend einen längeren Blick, zunächst auf das weniger bekannte X. (Dich zieret dein Glaube). Kellers X. Gedicht im Zyklus Aus der Brieftasche (Text siehe Anmerkung)157 greift eine Sentenz des französischen Schriftstellers Bernard le Bovier de Fontenelle (1657–1757) auf und stellt sie als Motto voran: „So lange eine Rose zu denken vermag, ist noch nie ein Gärtner gestorben.“ Dieses Motto wird im Gedicht dreimal als Refrain wiederholt. Nun ist, realistisch betrachtet, eine Rose außerstande zu denken. Würde sie jedoch ihre Umwelt bewußt wahrnehmen, würden ferner die nach ihr blühenden Rosen diesen bewußten Wahrnehmungsakt ebenfalls vollziehen, so kämen sie – laut Fontenelle – stets zur selben Ansicht: daß der sie betreuende Gärtner existiert! Seit Rosengedenken hegt und pflegt sie der Gärtner, ein toter Gärtner befindet sich jenseits des Wahrnehmungsfeldes der Blumen. Sie würden also aus ihrer begrenzten Beobachtung auf das ewige Leben des Gärtners schließen, auf seine Unsterblichkeit. Fontenelle zieht seiner-
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seits daraus den Schluß, daß ein Wahrnehmungs- und Bewußtseinsakt subjektiv plausibel, objektiv doch trügerisch sein kann. Die Lebensdauer einer Rose ist zu kurz, als daß sie den Tod ihres Gärtners je erleben könnte. Desgleichen, so folgert Fontenelle, ist die Lebensdauer eines einzelnen Menschen zu kurz, als daß er in dieser Spanne Zeit eine Veränderung der Fixsterne wahrnehmen könnte. Er würde ihnen deshalb ein ewiges Leben zuschreiben. Erst ein langwährender, über viele Menschenalter erfolgender Vergleich der menschlichen Beobachtungen würde Veränderungen der Gestirne registrieren und zu dem Schluß gelangen, daß die Kategorie der Unveränderlichkeit und Unsterblichkeit bezweifelt werden muß. Eben diese Infragestellung interessiert den Feuerbachianer Keller, der ja Gott und die Unsterblichkeit aus seinem Bewußtsein verabschiedet, um sich ganz auf das Diesseits zu konzentrieren und es mit wachen Sinnen auszuschöpfen: „Und wir sollten die köstliche Neige Zeit / Mit dem Gedanken der Ewigkeit verdünnen?“ So heißt es schon im III. Gedicht! Zurecht bemerkt daher Jonas Fränkel im Hinblick auf das X.: „Das Gedicht paraphrasiert einen in die populäre philosophische Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts übergegangenen Spruch aus Fontenelles Entretiens sur la pluralité des mondes über die Relativität des Ewigkeitsbegriffes.“158 Der ungewöhnliche Reiz des Gedichts159 liegt in der Art und Weise, wie Keller die philosophische Gedankenverbindung in Szene setzt: nicht durch eine schlichte Illustration, sondern durch Transposition in eine Reihe von menschlichen Gestalten und gärtnerischen Phänomenen, die jeweils ein eigenes Gewicht besitzen. Keller wägt diese Gewichte mit subtilem Humor ab und spiegelt sie mit heiterer Skepsis aneinander. Die erste Strophe erzählt von dem „rosige[n] Kind“, einem RosenKind, wenn das Wortspiel erlaubt ist, das da mit glänzendem Gesicht seinem Gottesglauben hingegeben ist und „den Schöpfer im ewigen Lichte“ preist. Mit diesem Glauben hat es freilich eine merkwürdige Bewandtnis. Er deckt sich mit dem Rosenglauben, der dem Gärtner Unsterblichkeit zudichtet und damit auch die Idee Gottes und des ewigen Lebens ins Spiel bringt. Kellers freundliche Ironie entzaubert im Spiegel des naiven Rosenglaubens den Kindesglauben. Die zweite Strophe intoniert der Sprecher des Gedichts mit einer Emphase, die dem Wohlwollen gegenüber der Rose erneut ein Gran Ironie beimischt: „Die Rose, die Rose, sie duftet so hold! / Sie dünkt so unendlich der Morgen!“ Der Rose leuchtet die eigene Unendlichkeit vollkommen ein, während der sie hegende Gärtner – er bekommt einen Lohn („Sold“) für seine Wartung – ihr Verblühen „mit ahnenden Sorgen“ vorwegempfindet. Der seinem „eigenen Lenz ( )“ entwachsene und schon „ergrauende ( )“ Mann „sieht heut schon die Blüte verdorben“, wogegen
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die Rose ihren Ewigkeitsglauben tapfer beibehält, dem Lebensgesetz zum Trotz. Die erneute Wiederholung des Mottos als Refrain unterstreicht die Illusion dieses Glaubens.160 Die dritte Strophe scheint sich ganz auf die Seite der arglosen Blumen, der hoffnungsvoll am Morgen erwachenden Natur und Kreatur zu schlagen. Beide, Natur und Kreatur, entbieten dem werdenden Tag ihren leuchtkräftigen Gruß und bekunden ihre Liebeserwartung; ihr Jubellied stimmt in die Musik des Gartens ein, so daß ein „festliche[r] Tag“ anhebt. Der beschwingte Ton der Verse, der Elan der Verben, Adverben und Adjektive verraten die Emphase der im Garten versammelten Pflanzen und Vögel. Ist ihre entflammte Selbstdarstellung nicht ein Lebensmodell für den Menschen? Zum Teil ja, sofern wir die ekstatische Erlebnisfülle im morgendlichen Garten vor Augen haben. Aber doch nur zum Teil, denn die im Refrain noch einmal gespiegelte Naivität des Rosenglaubens kann keine verbindliche finale Perspektive sein; sie verweist jedoch indirekt auf das überlegene Bewußtsein des lyrischen Sprechers, der höhere Ansprüche verfolgt. Welche? Er hat sie in seinem Zyklus schon einige Male dargelegt. Gleich im I. Gedicht lesen wir, welche Erkenntnis sich das lyrische Ich vom Anblick der Rosen erwartet: Seid mir gegrüßt, ihr holden Rosen, In eures Daseins flücht’gem Glück! Ich wende mich vom Schrankenlosen Zu eurer Anmut froh zurück!
Aus der einstigen Schrankenlosigkeit des Jenseits und der Unsterblichkeit kehrt das Ich in das Diesseits heim: zum „flücht’ge[n] Glück“ und zur irdischen Schönheit, sinnbildlich dargestellt durch die „Anmut“ der Rosen. Verknüpft ist damit unausweichlich die Einsicht in die eigene Vergänglichkeit. Die „Lilienfrau“, die im X. Gedicht mit ihrer Glückserwartung vorgeführt wird, kommt ebenfalls schon im I. Gedicht vor; dort vermittelt sie dem lyrischen Ich die Einsicht in die Vergänglichkeit, die mit einem intensiv erlebten Diesseits durchaus vereinbar ist: Nun erst versteh‘ ich, die da blühet, O Lilie, deinen stillen Gruß: Ich weiß, wie sehr das Herz auch glühet, Daß ich wie du vergehen muß!
Intensität und Fülle des Diesseits, die Natur und Kreatur im X. Gedicht erleben, erstrebt auch das menschliche Ich. Dies jedoch nicht mit der Fliehkraft der Unsterblichkeit und des Jenseits, sondern mit der Schwerkraft der Vergänglichkeit und des Todesbewußtseins. Darauf spielt der Sprecher des X. Gedichts im Geiste des Kontrasts an: indem er die Naivität des Rosenglaubens dreimal als Refrain ertönen läßt, plädiert er für ihre ‚sentimentalische‘ Überwindung. Die Überwindung der Naivität – der
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Illusion einer schrankenlosen Unsterblichkeit und eines ewigen Gottes – hat das VIII. Gedicht vorgezeichnet. Aus dem Bewußtsein dieses Gedichts schöpft der lyrische Sprecher seine freundliche Ironie gegenüber dem naiven Rosenglauben: Wir wähnten lange recht zu leben; Doch fingen wir es töricht an! Die Tage ließen wir entschweben Und dachten nicht an’s End‘ der Bahn! Nun haben wir das Blatt gewendet Und frisch dem Tod in’s Aug‘ geschaut; Kein ungewisses Ziel mehr blendet, Doch grüner scheint uns Busch und Kraut! Und grüner ward’s in unsern Herzen, Es zeugt’s der froh geword’ne Mund; Doch unsern Liedern, unsern Scherzen Liegt fest ein edler Ernst zu Grund.
Keller gibt seinem Rosengedicht eine Wendung, die es charakteristisch von einem Mörike-Sonett unterscheidet, das zunächst verwandtschaftliche Anklänge aufweist.161 Das Zeitbewußtsein, das im X. Gedicht eine so bedeutende Rolle spielt, prägt namentlich auch das II. (Kauffmann, S. 255). Trotz dieser unübersehbaren Prägekraft gibt es eine Reihe von Rätseln auf. Keller liebt gelegentlich das Spiel mit Rätselbildern (vgl. unser Kap. VI). Die Zeit geht nicht, sie stehet still, Wir ziehen durch sie hin; Sie ist ein Karavanserai5, Wir sind die Pilger drin. Ein Etwas, form- und farbenlos, Das nur Gestalt gewinnt, Wo ihr drin auf und nieder taucht, Bis wieder ihr zerrinnt. Es blitzt ein Tropfen Morgentau Im Strahl des Sonnenlichts – Ein Tag kann eine Perle sein Und hundert Jahre – Nichts! Es ist ein weißes Pergament Die Zeit und Jeder schreibt Mit seinem besten Blut darauf Bis ihn der Strom vertreibt.
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Unterkunft für Karawanen (von frz. caravansérail).
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An dich, du wunderbare Welt, Du Schönheit ohne End‘! Schreib‘ ich ’nen kurzen Liebesbrief Auf dieses Pergament. Froh bin ich, daß ich aufgetaucht In deinem runden Kranz; Zum Dank trüb‘ ich die Quelle nicht Und lobe deinen Glanz!
Kellers Gedicht wendet sich gegen eine alteuropäische und noch immer aktuelle Zeitauffassung. Die Flucht der Zeit, die Zeit, die sich uns entzieht, der Zeitenwandel, der uns überrascht und dem wir unterworfen sind, der unaufhaltsame Fluß der Zeit: in solche Metaphern pflegt der Europäer seine Erfahrung der Zeit zu kleiden. Das Individuum, das sich als Spielball der unfaßbaren dahineilenden Zeit erfährt, macht diese zum Subjekt seines Lebens, sich selbst zu ihrem Objekt. In religiös grundierten Epochen wie dem Barock-Zeitalter wurde das Schwinden und Dahinfließen der irdischen Zeit gern mit dem Trost der haltgebenden Ewigkeit versehen. Das flüchtige Diesseits – „Es ist alles eitel“162 – wurde überwölbt vom stabilen Gebälk des Jenseits, das den leidenden und darbenden Menschen ein erfülltes ewiges Leben verhieß. Eichendorff hat die uns geläufige Metaphorik der Zeitenflucht und die uns nicht mehr selbstverständliche religiöse Gegenkraft in eine einprägsame Strophe gefaßt: Morgengebet Die Welt mit ihrem Gram und Glücke Will ich, ein Pilger frohbereit‘, Betreten nur wie eine Brücke, Zu dir, Herr, übern Strom der Zeit.
Demgegenüber beschwört Keller den ‚Stillstand‘ der Zeit. Mehr noch: die still stehende Zeit ist ein Anonymus, ein „form- und farbenlos(es)“ „Etwas“. Einzig die Menschen setzen Akzente in diesem temporalen Stillstand, einzig sie verleihen dem zeitlichen „Etwas“ Form und Farbe, Gestalt und Gehalt. Kellers rhetorisch-poetische Strategie ist evident: Indem er die Zeit zu einem wesenlosen, stillstehenden Abstraktum entwertet, verleiht er den in ihr existierenden Menschen Substanz und Dynamik. Präziser formuliert: er macht die Menschen darauf aufmerksam, daß sie allein das Abstraktum mit Substanz und Dynamik füllen, es mit Leben erfüllen können. Die vormaligen Objekte der Zeit sollen ihre Subjekte werden. An die religiöse Haltung von einst scheint Kellers Rede von den „Pilgern“ zu erinnern. Die Pilger Kellers sind jedoch nicht mehr, wie in der Epoche des Barock und noch bei Eichendorff, unterwegs zu Gott, sie achten die „Welt mit ihrem Gram und Glücke“ keineswegs gering; sie ziehen vielmehr in einer Karawane einher, dem irdischen Treiben hingegeben. (In einer frühen Niederschrift hatte Keller anstelle des „Kara-
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vanserai“ den religiös konnotierten Ausdruck „offnes Tempelhaus“ gebraucht163, wovon er nun abrückt, um das Profil der Diesseitigkeit zu schärfen). Der rhetorisch-poetischen Strategie, die den Menschen fürs Diesseits gewinnen will, dient auch die dritte Strophe: Es blitzt ein Tropfen Morgentau Im Strahl des Sonnenlichts – Ein Tag kann eine Perle sein Und hundert Jahre – Nichts!
Wie in anderen Gedichten Kellers besitzt das Sonnenlicht erweckende und verklärende Kraft. Analog zum Licht, dem Stifter des Lebens, das einen schlichten Tropfen Morgentau wie eine „Perle“ erglänzen läßt, kann ein recht gelebter Tag ein Juwel im anonymen „Etwas“ der Zeit sein, während „hundert Jahre“ ohne die gestaltende Kraft der Menschen zum „Nichts“ schrumpfen können. Kellers zugespitzte, hyperbolische Antithese will sagen, daß ein einziger Tag, vom Gestaltungswillen des Subjekts durchpulst, ungleich mehr bedeute als ein passiv hingenommenes Jahrhundert, das die Menschen nicht zu formen und zu prägen wissen. Auf die Präsenz der tätig in die Welt eingreifenden Individuen zielt das Gedicht hin. Freilich, der nachdenkliche Leser fragt sich, ob die Jahrhundert-Rede glücklich gewählt ist. Kann man sich einen derart umfassenden Zeitraum vorstellen, der die gestaltende Kraft der Individuen, bildlich gesprochen: die „Perlen“ menschlicher Tätigkeit, gänzlich vermissen läßt? Auf diese Tätigkeit kommt es dem lyrischen Sprecher auch in der vierten Strophe an. Indem er die Zeit zu einem „weiße[n] Pergament“ umbildet und damit die Unbestimmtheit des „form- und farbenlosen“ Etwas genauer umreißt, kann er sie zur Spiegelfläche des Menschen machen, der „mit seinem besten Blut“ darauf „schreibt“. Ein archaisches Bild! Es suggeriert, daß „Jeder“ sich mit Leib und Seele der Zeit verschreiben möge, mit seinem Herzblut sozusagen, „bis ihn der Strom vertreibt“. Hier fließt die alte Metaphorik der Vergänglichkeit – der Strom der Zeit – in die Feder Kellers, doch ohne die gewohnten Klagetöne. Vielmehr erfahren Zeit und Vergänglichkeit eine emphatische Aufwertung, weil Keller für ihre unausgeschöpften Möglichkeiten wirbt und zur Entdeckung der diesseitigen „wunderbare[n] Welt“, dieser „Schönheit ohne End’“, aufruft. Diese Huldigung an das Diesseits im Geiste Feuerbachs hat Keller mit der Metapher des „weiße(n) Pergament(s)“ verknüpft. Die Kostbarkeit dieses Papiers verweist auf den besonderen Wert der dem Menschen zugemessenen Lebensfrist. Freilich, haftet der Pergament-Metapher nicht etwas Anachronistisches an, die Aura längst vergangener Zeiten? Andere metaphorische Umschreibungen der Zeit treten hinzu und scheinen ihrerseits eine nicht ganz schlüssige Originalität zu besitzen. Wenn die Zeit ein „Karavanserai“, ein Unterkunftsgebäude für die pilgernden Menschen ist,
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wie die 1. Strophe nahelegt, so kann sie nicht gleichzeitig ein „form- und farbenlos[es]“ „Etwas“ sein, wie Strophe 2 verkündet. Zumindest eine „Form“ besitzt sie ja dann. Und streng genommen kann ein anonymes „Etwas“ nicht zugleich ein „weißes Pergament“ sein – das Abstraktum dort und das Konkretum hier lassen sich schwerlich miteinander vermitteln. So einleuchtend das Gedicht mit seinen Metaphern für die lebhafte Entfaltung der Individuen wirbt – Pilgerschaft, hindurchziehen, auf- und niedertauchen, mit dem Blut schreiben – so auffällig scheint es seinen Zeitbildern an Kohärenz zu fehlen.164 Aber ist Kohärenz ein ästhetisch allgemeinverbindliches Kriterium? Bietet das Gedicht den Lesern nicht bewußt plurale, ja disparate Sehweisen an, damit sie sich von der Zeit unterschiedliche Vorstellungen machen – „Karavanserai“, form- und farbenloses Etwas, „weißes Pergament“ – und so ihre Tätigkeit in der Zeit von verschiedenen Seiten aus betrachten können? Die Zeit bleibt nur so lange ein anonymes „Etwas“, als sie nicht „Gestalt gewinnt“ durch die tätigen Menschen. Handeln diese nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten, so ist sie ein kostbares „weißes Pergament“, ein vom menschlichen Subjekt geformtes und geadeltes Objekt. Wird damit die anscheinend anachronistische Metapher nicht zeitgemäß, besser: zeitlos aktuell? Fragen werfen neben den Zeitbildern des Gedichts auch seine Weltbilder auf. Ist die weite wunderbare Welt als „runde[r] Kranz“ vorstellbar? Und wie kommt das Bild von der „Quelle“ der Welt ins Gedicht? Kraft welcher Assoziation läßt es sich mit dem des Kranzes einleuchtend verbinden? Walter Höllerer hat angesichts der Aufeinanderfolge heterogener Bilder in diesem Gedicht von einem „Bildersturz“ gesprochen165, ja von einem „zerstückten Strom“ von Bildern166. Diese negativen Merkmale würden jedoch, so Höllerer, dem Gedicht letzten Endes zu seinem Vorteil gereichen, weil dadurch Kellers Zeitkonzept – die „intendierte Idee von der still stehenden Zeit“167 – aufgelöst und jede „systematische Geschlossenheit“ vermieden werde.168 Höllerers komplizierte (und für einen Schriftsteller, namentlich einen Lyriker schwerfällige) Darlegungen münden in eine nicht recht befriedigende Quintessenz. Kellers „Gedichtgestalt“ spreche weder von einer „ruhenden noch sich bewegenden Zeit“: „Sie rückt die andere Zeit ans Bewußtsein heran, die nicht zu beschreiben ist“169. Mit der These von der Unbeschreibbarkeit der „anderen Zeit“ gesellt Höllerer den an sich schon heterogenen Zeitbildern des Gedichts eine neue, unbestimmte Kategorie hinzu, ohne das Spannungsfeld zwischen dieser „anderen Zeit“ und ihrer vom Menschen zu prägenden „Gestalt“ zu ermessen. Die Zeit geht nicht führt auf eine Wende in Kellers Zeiterfahrung hin. Veröffentlicht in den Neueren Gedichten von 1854, setzt dieses Gedicht die Ver-
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trautheit mit der Philosophie Feuerbachs voraus – mit der Auffassung des Diesseits als einer erfüllten oder subjektiv gestaltbaren Gegenwart. Dafür gab es ein historisches Unterpfand: die revolutionäre Umgestaltung der zerstrittenen, zwischen liberalen und restaurativen Kräften entzweiten Eidgenossenschaft zum Bundesstaat durch den Sonderbundskrieg 1847.170 Vor diesen beiden Ereignissen, die im Leben Kellers Schule machten, zeigte seine Zeiterfahrung auch ganz andere Züge. Sobald man sie sich vergegenwärtigt, erscheint die besondere Qualität von Die Zeit geht nicht in einem klaren Licht. Das rechtfertigt den folgenden
Exkurs: Frühere Zeiterfahrungen Kellers Der zuweilen ausgesprochen negative Charakter der Zeiterfahrung des jungen Keller sei an einem Sonettpaar dargelegt: Was ist es an der Zeit (verfaßt 1844, Texte siehe Anhang).171 Das erste Sonett führt ein Ich vor, das in mittäglicher Sommerglut eingeschlafen und erst wieder beim „Abendschein“ erwacht ist. Die Träume, die es heimgesucht haben, waren von „leerem Hoffen und verlorner Tat“ gezeichnet. Eine unerfüllte Gegenwart und eine unerfüllbar scheinende Zukunft sind die charakteristischen Modi der Identitätskrise dieses Ichs. „Müd[e]“, „schlaftrunken“ und „verwirrt“ – so erlebt es sich; es ist, als würde die „leere[ ]“ Zeit es seiner Wachheit berauben und als müßte es sie melancholisch verschlafen. Seine Verwirrung beim Erwachen geht so weit, daß es den Abend mit dem Morgen verwechselt. Es hält die vom Sonnenuntergang herrührende Röte des Gebirges und des Himmels für „lichtes Morgenrot“ und harrt auf „der Sonne Auferstehn“. In dieser Verwechslung aber bezeugt sich zugleich ein heimlicher gesellschaftlicher Wunsch. Denn Morgenröte und Sonnenaufgang sind im politischen Gedicht von der Aufklärung bis zum Vormärz metaphorische Zeichen einer Umgestaltung des öffentlichen Lebens, einer Erneuerung der spätfeudalen bzw. Restaurationsepoche.172 Die Hoffnung des lyrischen Subjekts auf eine neue Zeit währt nur kurz; dann wird ihm der Abendschein zur sinnlichen Gewißheit und mit ihm die Trostlosigkeit der alten, bestehenden Zeit: Doch Berg um Berg versank in Schlaf und Tod, Die Nacht stieg auf mit graulich stillem Wehn, Und mir im Herzen war es kalt und tot.
Die Todeskälte des Ichs korrespondiert der „Nacht“, die metaphorisch die überkommenen, erstarrten Verhältnisse meint173. Diese Korrespondenz zwischen subjektivem Befinden und objektivem Zustand kann mitunter zur Diskordanz geraten, wenn eine allgemeine Unruhe, eine Veränderungskraft spürbar werden, das Ich jedoch seine altersstarre Subjektivität –
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seine Todeskälte – noch nicht abzustreifen vermag. Das ist die Erfahrung, die das erste Quartett des zweiten Sonetts mitteilt: So werd ich manchmal irre an der Stunde, An Tag und Jahr, ach, an der ganzen Zeit! Sie gährt, sie tost, doch mitten auf dem Grunde Ist es so still, so kalt und zugeschneit!
Eine „Zukunft“ als Alternative zur Gegenwart scheint dem Ich noch in weiter Ferne zu liegen; sie wird nur „mit beredtem Munde“ versprochen, in Wirklichkeit „versinkt“ das Heute dann umso nachhaltiger im Gewohnten, „im alten Schlunde“ (zweites Quartett). Und doch ist auf dem „kalt[en] und zugeschneit[en] Grunde“ des verzweifelnden Ichs eine Gegenkraft rege, ein auf Veränderung dringender Impuls, der zunächst auf Destruktion des Alten pocht. Die metaphorische Anleihe bei der germanischen Sagenwelt – das lyrische Subjekt zitiert als Destruktionsmittel den „Hammer“ des obersten Gottes Thor – verrät, daß der verzweifelte Empörer sich noch nicht adäquat auf das Neue und Allgemeine zu beziehen vermag. Er sucht nicht den Anschluß an das ‚Gären‘ und ‚Tosen‘ der Zeit, er ruft vielmehr den persönlichen Wunsch nach einer Empörung mit ohnmächtiger Gebärde auf den Plan (erstes Terzett): O hätt den Hammer ich des starken Thor, Auf das Jahrhundert einen Schlag zu führen, Ich schlüg sein morsches Zeigerblatt zu Trümmern!
Mag hier die Omnipotenzphantasie federführend sein – die Feder, die den Hammer beschwört, wird nicht von der reinen Theorie geführt. Sie kann sich auf eine praktische Erfahrung berufen. Walter Benjamin hat an sie mit folgenden Worten erinnert: „Das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich. […] Noch in der Juli-Revolution hatte sich ein Zwischenfall zugetragen, in dem dieses Bewußtsein zu seinem Recht gelangte. Als der Abend des ersten Kampftages gekommen war, ergab es sich, daß an mehreren Stellen von Paris unabhängig voneinander und gleichzeitig nach den Turmuhren geschossen wurde.“174 Noch ist es nicht so weit. Noch ist diese Situation erst keimhaft in der Unbestimmtheit einer Zeit vorgebildet, die da „gährt“ und „tost“, wie es im ersten Quartett heißt. Und an der Stelle einer gesellschaftlich relevanten Kraft, die der alten Zeit Einhalt gebieten könnte, agiert ein Wunschbild des Ichs: ein Nachfahre „des starken Thor“ bzw. ein „mit Macht“ ausgestatteter „Uhrenmacher“ (zweites Terzett). Doch bereits dieses letzte Bild könnte man als Sinn-Bild für ein überpersönliches revolutionäres Subjekt auffassen: Tritt denn kein Uhrenmacher kühn hervor, Die irre Zeit mit Macht zu regulieren? Soll sie denn ganz in Rost und Staub verkümmern?
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Wenn das lyrische Ich die alte Zeit als „irre Zeit“ bezeichnet, die da „ganz in Staub und Rost verkümmer[t]“, dann knüpft es damit an den Beginn des Sonetts an: So werd ich manchmal irre an der Stunde, An Tag und Jahr, ach, an der ganzen Zeit!
Es schlägt damit aber auch einen Bogen zum repräsentativen Lyriker der „irren Zeit“ – zu Eichendorff. Mit dieser Kennzeichnung hat Eichendorff paradoxerweise die „alte schöne Zeit“ versehen. Es war ein sinnvolles Paradox, sofern die „alte schöne Zeit“ geschichtslos in die Gegenwart des Subjekts hineinragt und dieses irreführt, wenn es die Veränderbarkeit der Gegenwart verkennt.175 Keller führt eine Variante der „irren Zeit“ ins poetische und politische Feld: die seit langem währende und noch immer die Gegenwart regierende Vergangenheit, deren Erstarrung offenkundig und deren Veränderung überfällig ist. Sein lyrisches Ich hat selber an dieser Erstarrung teil, gegen die es zugleich rebelliert. Es ist diese Zwiespältigkeit, die das Individuum in Kellers Epoche vielerorts bestimmt und die seine historische Signatur mitprägt.176 Die rebellierenden Schriftsteller des Vormärz, die vor der politischen Verfolgung in deutscher Kleinstaaterei flohen, um in der Schweiz und in Frankreich oder in England Exil zu suchen und zu überwintern, die Follen, Büchner, Heine, Börne, Herwegh, Freiligrath – sie erlebten den Zwiespalt von Ohnmacht und Protest auf andere, nicht weniger einschneidende Weise. Weil sie zum Umsturz des alten (Un-) Geistes entschlossen waren, mußten sie diesem Tribut zollen durch die Emigration und die damit verknüpften Zweifel: ihre Zweifel an einer durchgreifenden politischen Veränderung der Verhältnisse, an der sie sich selbst, als Flüchtlinge, nicht aktiv beteiligen konnten. Vor dem Hintergrund des 1. Sonetts zeichnet sich der Fortschritt des späteren Gedichts Die Zeit geht nicht umso markanter ab. Im Sonett die stillstehende, stockige Restaurationszeit, die das Ich lähmt; im späteren Gedicht die stillstehende produktive Zeit, die dem Ich Selbstentfaltung und Mitgestaltung der Welt ermöglicht. Und ihm anstelle einer bis zur Todeskälte reichenden Existenzerfahrung das Erlebnis des Glücks inmitten der Vergänglichkeit des Diesseits verbürgt. Letzteres ist freilich nicht Kellers einzige Selbsterfahrung nach dem politischen Zusammenschluß der Eidgenossen zum Bundesstaat und nach seiner Aneignung der Diesseits-Philosophie Feuerbachs – so wenig wie die Erfahrung der stockigen und paralysierenden Zeit davor Kellers Jugendlyrik allein bestimmt hat. Will man eine plastische Vorstellung von Kellers diesseitiger Glückserfahrung gewinnen und nachvollziehen, wie er der Zeit „Gestalt“ verleiht „mit seinem besten Blut“, so vergegenwärtige man sich sein Gedicht Cyprier (Text siehe Anmerkung)177. Der Titel bezeichnet einen Wein namens ‚Commandaria‘, der unter der Sonne Cypriens seinem hohen Süßigkeits-
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gehalt entgegenreift. Man könnte Kellers Feuerbachiade auch unter seinen Liebesgedichten einreihen, so liebesdurstig ist gleich ihr Auftakt: „Du Wein der süßen Wonnen, / Du heißer Trank der Lust“. Gehört diese Liebeserklärung noch zum erprobten Vokabular poetischer Weinliebhaber seit der Anakreontik, so durchdringt Kellers lyrisches Ich das Getränk sogleich dynamisch; er führt die konventionelle Liebesmetaphorik auf ihren archaischen Ursprung zurück: auf den Mythos von der Verführungskraft der Frau und davor noch auf den dionysischen Mythos. So kunstvoll geschieht diese Zurückführung, daß kein Bild erzwungen wirkt. Der „heiße Trank der Lust“ ruft „erlosch‘ne Sonnen“ und „versunk‘ne Bronnen“ in des Trinkers Brust wach, also sonnendurchglühte Weingelage aus seinem früheren Leben. Wenn der feurige Cyprier im Trinker die Sonne neu erglühen läßt, so erweist er dem Gestirn, unter dem die Weintraube gedieh, die rechte Ehre. Mit der Sonne aber läßt der Wein seinen Ursprungsort auferstehen in der Phantasie des Genießers, bringt er den griechisch-cyprischen „Morgen“ nahe, mithin die Wiege der europäischen Kultur: die Antike mit ihren „Myrtenhainen“, ihren kostbaren Altaren, ihren Marmorsäulen. Selbstverständlich ist hier die literarische Phantasie rege, bestückt mit Lesefrüchten, mit Reminiszenzen an das sonnenverwöhnte und tempelgeschmückte, marmorne Altertum, aber das Literarische wird von der „Seele“ des Trinkenden und allen „Sinnen“ so glühend erfaßt, daß ihm ein „unermess’ne[s] Glück“ zuteil wird. Phantasie und Literatur, vom Wein befeuert, entfachen ein Eigenleben von höchster Intensität. „Meeresfluten“, welche die Insel umbranden, tauchen im Bildergedächtnis auf und „ziehen rings einen Zauberbann“ um den Trinkenden, der zum Inselbewohner geworden ist, weil ihm Wein und Meer zusammenfließen. Das liquide Element wird universal, dank leidenschaftlichen Genusses. Und wie der Wein sich die dynamische Kraft des Meeres anverwandelt, so auch die Glut der Sonne. Das ist das Einfallstor für die Wiedergeburt des dionysischen Mythos, des Gottes des Weines und der Lustentzügelung. Die „Güsse[]“ des roten Inselweins steigern sich zu „Feuerflüssen“ und die trunkenen Sinne ertasten, erleben darin die Ankunft des Eros. Durch die Meeresenge der Lippen hindurchfließend, entströmt dem Wein, diesem Erreger der Phantasie und der Sinnenlust, ein „fabelhaftes Küssen“. Fabelhaft im Doppelsinn des Worts: wunderbar und wie in alten Fabeln. Nun ist kein Halten mehr, die Phantasie streift alle Fesseln der Moral ab, entblößt sich bis auf den Grund und holt aus der Tiefe ihres Bilderschatzes das Zauberwesen Weib hervor, das noch unlängst bei den Romantikern, zum Beispiel als Frau Venus in Eichendorffs Marmorbild, Furore gemacht hat: „Die Heidengöttin neiget / Sich geisterhaft mir zu […] In weißen Gliedern steiget / Sie aus der Todesruh’.“ Der antike Mythos – wenige Jahre nach diesem Gedicht von 1848 schuf Keller im Grünen Heinrich mit der Gestalt der Judith eine zweite Hei-
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dengöttin – ist wiederbelebt durch die Kraft und Gnade des Weins. Er ist es, der „des Meeres und der Liebe Wellen“ (Grillparzer) entfesselt hat, zu einer zügellos-schönen Sinnenbrandung, wo das eine und das andere, der Eros und das flüssige Element, ununterscheidbar ineinanderströmen. Kellers ‚Cyprier‘ ist auch insofern ein begnadetes Getränk, als er wie selbstverständlich alle vier Elemente auf den Plan ruft: Wasser, Erde, Feuer – und die Luft als allgegenwärtige Sphäre für das heraufbeschworene „ewige[ ] Glüh’n und Blühen“. Dieser Wein erzählt ein Lied vom doppelten Glück des Dichters – dem Glück dessen, der den Genuß der Sinne kraft seiner literarischen Phantasie befeuert und ihn dann in Verse und Reime zu gießen weiß. Das liquide Element vertrocknet nicht wie bei normalen Sterblichen, es nimmt die Gestalt schwarzer Lettern an, die seine Essenz, seinen Geist aufbewahren. Aber wir wissen auch, daß dieses Doppelglück bei Keller einem Unglück entstammt, dem Mangel an leibhaftig erfahrener Liebe. Gerade dieser Mangel ruft die Fülle des Glücks herbei: Mit Hilfe des Weins, der Phantasie und des Schreibens entschädigt sich Keller für das, was das Leben ihm schuldig bleibt. Die Glücksgestalt der Poesie versiegelt bisweilen das Unglück der realen Existenz. Soll ein Getränk wie der „Cyprier“ seine Leucht- und Glückskraft entfalten, bedarf es einiger Voraussetzungen, namentlich einer bewußten Lebensumkehr. Ihr gilt ein zwischen Humor und Ironie funkelnder freirhythmischer Aufruf Kellers. Frühlingsbotschaft Zum Gerichte rief der Frühling. Und mit Strenge zu verfahren Gegen ketzerisch verstockte Übelsinnige Verzweiflung, Haben seine Heiligkeit Bei der Sonne Glanz geschworen! Und in grünem Feuer flammen Alle Bäume nun auf Erden; Jeder Baum ist eine Flamme! Und geschürt sind alle Gluten, Angefacht glüh’n alle Rosen, Während die schismatisch6 grauen Aufgelösten Nebelflocken Klagend durch die Lüfte flattern Gleich verbrannter Ketzer Asche! Doch der heilig ernste Himmel Läßt sie ohne Spur verschwinden, Und er schau’t in’s grüne Feuer Mit erbarmungsloser Bläue. 6
In religiösen Fragen getrennt, gespalten.
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Habt ihr jetzo unter euch Einen schlimmen und verschrob’nen, Heuchlerischen und verstockten Und verbohrten Hypochonder, Der da zwischen Gut und Böse Eigensinnig schwankt und zweifelt, Weder warm noch kalt kann werden, Oder zu gerechtem Argwohn Grund gibt, daß sein schwarzes Inn’res Wohl ein ungeheures hohles, Aufgeblas’nes Schisma7 berge: Diesen legt nun auf die Folter, Diesen lasset nun bekennen! Bindet ihn mit jungem Efeu, Werft ihn nieder auf die Rosen! Gießt ihm Wein auf seine Zunge, Flüssig heißes Gold des Weines, Das den Mann zum Beichten zwingt, Glas auf Glas, bis er bekennt! Zeiget sich ein Hoffnungsfunken, Nur ein Funken heit’ren Glaubens, Nur ein Strahl des guten Geistes: O so stellt ihn auf zur Linken, Zur Belehrung und zur Bess’rung! O so stellt ihn, wo das Herz schlägt, Auf der Menschheit frohe Linke, Auf des Frühlings große Seite! Sollt‘ es sich jedoch ereignen, Daß das peinliche Verfahren Nichts enthüllte, Nichts verriete, Was da nur der Rede wert – Das Delirium des Rausches Selbst nur eine dunkle Leere Vor den Richtern offenbarte: Schleunig laßt den Sünder laufen! Jagt ihn stracks zur schnöden Rechten, Wo Geheul und Zähneklappen, Dummheit und Verdammnis wohnen!178
Veröffentlicht erstmals 1853179, ist das Gedicht seither unter den Romanzen der Neueren Gedichte von 1854 zu finden. Es entwickelt mit ironischem Humor ein Programm zur Entkrampfung hartgesottener Lebensverächter – und zur Förderung des Lebensgenusses. Köstlich sein Einfall, die abendländische Kirchen- und Kulturgeschichte kurzerhand auf den Kopf zu stellen. Die Inquisitoren von einst und ihre noch lebenden Nachfahren sind es nun, denen der Prozeß gemacht wird. Nun sind sie die Ketzer und 7
Kirchenspaltung.
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die Schismatiker, die auf der Anklagebank sitzen, nun nistet das Schisma in ihren Eingeweiden, nun sind sie es, die der Glaubenszweifel – der Zweifel am schönen Frühling – zu „verbohrten Hypochonder[n]“ macht! Und der „heilig ernste Himmel“ hält es jetzt mit den Frühlingskindern, den Brüdern Leichtfuß, den Schwestern Sorglos, den Freunden Wohlgemut, den Frauen Tausendschön, mit all denen, die guten Willens und guten Geschmacks und guter Hoffnung sind. Kellers federleichter Scherz hat gleichwohl sein spezifisches Gewicht. Er zitiert die abendländische Geschichte mit ihrer Verneinung des Leibes und der Sinne, mit ihrer Verherrlichung der Askese und des Leidens, indem er sie spiegelbildlich verkehrt. Zum Teufel schickt er den Abstraktionsgeist und den Trübsinn, den unsinnlichen; dem Himmel dagegen und dem Frühling vertraut er die heitere Sinnlichkeit an, die Lebenszuversicht und Lebensschönheit. Es sieht fast so aus, als würde Keller dem schönen Essay Heines Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland die Ehre geben und im Geiste Heines abrechnen mit dem jüdisch-christlichen Dogma und seinen starrköpfigen Anwälten. Der Himmel und der Frühling bilden jetzt das hohe Gericht, das die Rechte des Leibes und des Sinnengenusses wiedereinsetzt. Solches hat dieses Gericht „bei der Sonne Glanz geschworen“ – und Keller brennt sogleich ein Feuerwerk ab, um diesen Glanz einzufangen: Und in grünem Feuer flammen Alle Bäume nun auf Erden; Jeder Baum ist eine Flamme! Und geschürt sind alle Gluten, Angefacht glüh‘n alle Rosen […].
Wie immer man die Herkunft dieses Feuers deuten möchte, ob man darin die Umwandlung des Fegefeuers oder die Erinnerung an den „heidnischen Brauch des Osterfeuers“180 oder eine Reminiszenz an die tausend und abertausend Feuerzungen des Heiligen Geistes zu Pfingsten erblicken will: apart an ihm ist, daß es ein grünes Feuer ist, eins, das vor Frühlingsgrün gleichsam explodiert. Welche Strafe aber mißt das hohe Gericht, „seine Heiligkeit“, wie Keller es auch nennt, dem Lebensverächter, dem hartgesottenen zu? Natürlich die Folter! Also die Rache, haarklein, wie sich’s gehört? Diesen legt nun auf die Folter, Diesen lasset nun bekennen! Bindet ihn mit jungem Efeu, Werft ihn nieder auf die Rosen! Gießt ihm Wein auf seine Zunge, Flüssig heißes Gold des Weines, Das den Mann zum Beichten zwingt, Glas auf Glas, bis er bekennt!
Von allen nur denkbaren Foltern mag dies die angenehmste sein. Wer würde nicht mit Freuden auf sie zu liegen kommen… Das Gedicht kehrt
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die ganze bisherige Kulturgeschichte, die eine Geschichte der Prozesse, Verurteilungen und der Menschenverachtung war, um: es spricht statt zähneknirschender Anklagen die Einladung zum gemeinsamen Genuß aus und lockt die sinnliche Natur des Angeklagten zum Geständnis – dem Geständnis ihres Eigenrechts. Statt Rache zu üben und so den alten Kreislauf von Unrecht und Vergeltung zu erneuern, umwirbt das Gedicht den Gegner und schließt seine verschütteten Bedürfnisse auf. Das macht die soziale Bedeutung der zartsinnigen Humanität Kellers aus. Freilich, wer sich auch dann noch als renitent bis zur Unheilbarkeit erweist, bestraft sich selbst: nieder fährt er in die Eigenhölle, „wo Geheul und Zähneklappen, / Dummheit und Verdammnis wohnen!“ Es zeichnet dieses Gedicht aus, daß es die Dogmatiker und Asketen des Geistes auch ästhetisch widerlegt, verzichtet es doch auf jeglichen Zwang, auf den metrisch-rhythmischen wie auf den Reimzwang. So lockert es seinen Ernst von vornherein auf; es spielt mit ihm, es gibt vor, „mit Strenge zu verfahren“, und ergibt sich dann selbstironisch seiner eigentlichen Pointe: Strenge heißt ja nur, jemanden in die Fesseln „junge[n] Efeu[s]“ zu schlagen und auf die Folter von „Rosen“ zu spannen. So wenig „erbarmungslos[ ]“ wie die „Bläue“ des Himmels ist das ‚peinliche Verfahren‘, dem der Hypochonder-Delinquent unterworfen wird: es ist weiter nichts als listige, hinterlistige Liebenswürdigkeit. Und so kann sich, wer will, im Hypochonder selber erkennen, sein eigenes „hohles / Aufgeblas‘nes Schisma“ wie in einem Spiegel erblicken – auf daß ihm die Rosen- und Efeu- und Wein-Therapie auch recht anschlage. Solch selbstironisches Spiel mit eigenen Vorgaben, solche dialogische Lebensnähe, humoristisch und mit geistvoller Pointe entwickelt, gehören zu den Eigenarten, die den Lyriker Keller von jetzt an auszeichnen. Bemerkenswert ist die Frühlingsbotschaft auch als ein Gedicht des Übergangs. Das relative Eigengewicht, das die Natur bisher zuweilen besaß, wenn etwa das lyrische Ich mit ihr Zwiesprache hielt (vgl. unser Kapitel I), ist geringer geworden. Die Naturbilder sind nurmehr Momentaufnahmen, die allegorischen Zeichencharakter annehmen; selbst das grün flammende Feuer will nicht plastisch-konkret, sondern als Hinweis auf die Inbrunst der neuen Lebenserfahrung wahrgenommen werden. Insofern deutet das Gedicht auf die allegorische und Gleichnissprache181 hin, die in Kellers Lyrik immer schon zur Geltung gelangt war. Nicht nur seine politischen Naturgedichte hatten darauf aufmerksam gemacht. Allegorische und Gleichnissprache werden vom mittleren und späten Keller mehr und mehr zu lyrischen Medien seiner Welt- und Selbsterfahrung entwickelt. Das mag in einem gewissen Widerspruch stehen zu Kellers Feuerbach-Erlebnis, das ihn dazu ermutigt hatte, die Natur „in ihrer ganzen Tiefe“ zu „ergreifen“
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und sich ihrem „glühenden Erfassen“ zu widmen. Werden die Naturphänomene zu Allegorien und Gleichnissen entfaltet, so schränkt das ihre Besonderheit und ihr dingliches Eigengewicht ein. Doch dürfte es Keller wohl mehr darum gehen, sich die Essenz der Naturdinge zu vergegenwärtigen: ihre intensive Lebenskraft inmitten aller Vergänglichkeit – und darin eine Allegorie oder ein Gleichnis des menschlichen Lebens zu erblicken. Gerade von seiner Feuerbach-Erfahrung her mag Keller auch seine Sinne für das Scheitern am Leben geschärft haben. War ihm dank Feuerbach die Welt „unendlich schöner und tiefer geworden“, das Leben „wertvoller und intensiver“, so mußte ihn ein Verfehlen der Welt um so nachhaltiger, ein Vorbeileben am Leben umso schmerzhafter treffen. Davon zeugen Gedichte wie Am Ufer des Stromes. Sie bilden den bedrängenden Gegenpol zur Feuerbach’schen Lebensphilosophie: zum Ergreifen des rechten Augenblicks mit offenen Sinnen und freier Selbstentäußerung (vgl. unser Kapitel Liebeslyrik).
V. Gelegenheitslyrik. Festlieder Einem alten Mißverständnis zufolge entsteht anspruchsvolle Lyrik unabhängig von konkreten Anlässen: vom Alltag oder Festtag, von häuslichhausbackenen oder nationalen Anlässen. Sie verdankt sich, so glaubt man, dem zeitentrückten Innern ihres Verfassers. Wer so die Geburt des wahren Gedichts als einen Akt des autonomen Geistes erachtet, vergißt eine seit dem Barock bis ins 19. Jahrhundert lebendige Tradition182: die der Entstehung des Gedichts im Hinblick auf eine Gelegenheit, die eine Person oder die Allgemeinheit, einen privaten Haushalt oder ein ganzes Land betreffen kann. Es ist evident, daß ein Gelegenheitsgedicht, das sich an die Allgemeinheit wendet, nicht esoterischen, sondern geselligen Charakter hat. Nationale Feiern und Gedenktage, Jubiläen großer Dichter und Staatsmänner erfordern den geselligen Ausdruck, doch auch Gelegenheiten kleineren Ausmaßes erfordern ihn – Taufen, Geburtstagsfeiern, Hochzeiten im Rahmen der Familie, besondere oder alltägliche Begebenheiten im Freundeskreis. Geselligkeit, die auf einem konkreten Anlaß beruht bzw. sich bei konkreten Anlässen bewährt, ist eine Produktivkraft der Lyrik bis an die Schwelle der Moderne. Eine signifikante Anzahl von Gedichten wird nicht nur aus öffentlichen oder halböffentlichen bzw. familialen Anlässen verfaßt, sie ist auch zum Vortrag im größeren oder kleineren Kreis bestimmt. Und dort erfüllen diese Gedichte nicht nur eine ornamentale Funktion. Sie stehen zwar der Geselligkeit als Schmuck und Zierrat gut zu Gesicht, regen aber auch zum Nachdenken über die jeweilige Gelegenheit an, erläutern sie als eine denkwürdige An-Gelegenheit aller Beteiligten, verleihen ihr ein besonderes Gepräge. Im Gelegenheitsgedicht konzentriert sich der gesellige Anlaß, es schafft den Raum für Reflexion und Kontemplation und vertieft zugleich das dialogische Verhältnis aller. Gelegenheit macht nicht nur Diebe, sie macht auch ein lyrisches Genre von stattlicher Variationsbreite. Und sie macht vor nichts halt – nichts ist ihr ‚heilig‘. Als Annette von Droste-Hülshoff das Wewer-Album schuf, ihrer Großmutter zu Ehren als Weihnachtsgeschenk, goß sie die höchsten christlichen Feiertage in Metren und Strophen, auf daß man sich im Familienkreis daran erbaue und vergnüge. Überhaupt gelangte im Biedermeier und Vormärz die Gelegenheitsdichtung zu farbiger, weitverbreiteter Blüte. Dennoch muß nicht jedes von einer Gelegenheit angeregte Gedicht geselligen Charakter haben, wie Friedrich Rückerts Kindertotenlieder zeigen. In
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ihnen hält das lyrische Ich Zwiesprache mit sich selbst und seinen kurz zuvor verstorbenen Kindern, eine intime Zwiesprache, die einem Erschütterten Trost gewähren soll. Sie ist fern aller geselligen Mitteilung. Aber ebenso unbestreitbar ist der (lange verkannte) Kunstcharakter, den Gelegenheitsgedichte gewinnen können. Die lokal gebundene und zeitlich fixierte Gelegenheit ist keineswegs eo ipso unkünstlerisch, wie das erwähnte Mißverständnis wahrhaben will. Sie ist allerdings ebensowenig ein Garant künstlerischen Gelingens. Keller, der die Tradition der Gelegenheitsdichtung wie kein zweiter Lyriker von Rang in seiner Epoche fortführte, hat dieser Gattung ein eigenes Kapitel eingeräumt: Festlieder und Gelegentliches (so der Titel in den Gesammelten Gedichten). Er hat darin ganz unterschiedliche Grade künstlerischen Gelingens erreicht und zweifellos auch eine Reihe zeitgebundener Gedichte hervorgebracht, die allein für den Kulturhistoriker noch von Belang sind. Wir zitieren hier die für Leben und Werk Kellers aufschlußreichen sowie die künstlerisch bemerkenswerten Gebilde. Unter ersteren finden sich einige, deren Thematik unverjährt ist, ja in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts überraschende Aktualität gewonnen hat. Eins davon bilde den Auftakt zu unserer Auswahl: Die Schweizerische Nationalität. In einem siebenteiligen Zyklus mit dem Titel Vaterländische Sonette183 stellt Die schweizerische Nationalität das Eingangsgedicht dar. Zur Gelegenheitslyrik zählt es im weitesten Sinn des Wortes. Keller hatte in einem kleinen politischen Aufsatz Vermischte Gedanken über die Schweiz (1841) sich zum Problem einer schweizerischen Nationalität geäußert, einem von deutscher Seite aus seit 1841 mit egozentrischen Motiven breitgetretenen Problem.184 So hatte man für die Vereinigung des Reichs mit der deutschsprachigen Schweiz das Argument vorgebracht, die ethnische Vielfalt der Eidgenossen verhindere eine echte Schweizer Nationalität.185 Keller hatte dies mit dem Einwand pariert, daß die englische Nation, deren Einheit und Unverwechselbarkeit niemand bestreite, aus den verschiedenartigsten Völkern – „Britanniern, Römern, Angelsachsen, Normannen, Kelten usw.“ – entstanden sei. So heißt es in seinem Aufsatz Vermischte Gedanken über die Schweiz186. Im September 1844 goß er einen Teil seiner Überlegungen in die Form des Sonetts, worin er die hohe Bedeutung der Muttersprache für die Bildung einer Nation durchaus würdigte; gleichberechtigt gesellte er dieser nationalen Komponente das „Volkstum“ als Inbegriff der Sitten und Gebräuche einer Nation zu (erstes Quartett). Dann jedoch nennt er die für ihn wesentlichste Bedingung für das nationale Selbstverständnis eines Volks: die Freiheit. Fehlt sie, mißbrauchen „Tyrannen“ Sprache und Volkstum zur Errichtung autoritärer Herrschaft, so ist eine Entscheidung im Volk selbst unumgänglich: nimmt es, um seine muttersprachliche Einheit und sein homogenes „Volkstum“ zu bewahren, die
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Tyrannei in Kauf? Oder weist es letztere um jeden Preis zurück, entschlossen, seine Freiheit zu bewahren, sei dies auch, wie Kellers Aufsatz es nahelegt, in Verbindung mit ethnischen Bevölkerungsgruppen von anderer Herkunft und anderer Sprache? Für den zweiten Weg plädiert Keller – es ist der Weg, den die Schweiz mehrheitlich beschritten hat und beschreiten wird. Damit erteilt er dem von deutscher Seite aus vorgetragenen Plädoyer für den Vorrang der Muttersprache und des Volkstums gegenüber dem freiheitlichen Gemeinwesen einen kritischen Bescheid. Man weiß, welche Verheerungen das muttersprachlich-ethnische Argument, mißbraucht von „Tyrannen“, im vergangenen Jahrzehnt in Südosteuropa angerichtet hat. Humanität kann nur das aufgeklärte Gegenargument, das der freiheitlichen res publica, gewährleisten. Keller hat ihm eine herausfordernde Pointe beigegeben. Er läßt den Fürsprecher der Freiheit als „Pred’ger“ im „Dom“ auftreten und erklärt den „polit’sche[n] Glaube[n]“ zum ‚allein seligmachenden‘! So entwendet er der römischen Kirche, deren Herrschaftsbegehren er im übernächsten Sonett Warnung anprangert, Raum und Sprache. Seine Metaphorik durchkreuzt damit auch den Alleinvertretungsanspruch, den die konservative Allianz zwischen Katholizismus und Sonderbund für die damalige Schweiz erhoben hatte. Das vom jungen Keller angeschlagene Thema der Freiheit sollte seine Lyrik, namentlich seine Gelegenheitsgedichte, immer wieder in den Bann schlagen. Er demonstriert hier eine Kontinuität, von der wir bereits Proben gegeben haben.187 ‚Gelegenheit‘ dazu lieferte ihm schon die Zeit des Sonderbundkriegs. Solange die Allianz zwischen konservativen Kantonen und römischer Kirche ihr Wesen trieb, war auch der Freiheitsspielraum der Eidgenossen beschnitten – und damit zugleich die Bewegungsfreiheit politischer Flüchtlinge. Die Wahrnehmung liberaler Rechte war bis zur Gründung des Bundesstaats 1848 keine Selbstverständlichkeit, und obgleich die Schweiz für politisch Verfolgte aus Deutschland einen begehrten Zufluchtsort darstellte, durften sich hier doch nur wenige auf Dauer einrichten, weil sich die Rechtsprechung von Kanton zu Kanton und von Regierung zu Regierung ändern konnte. So vertauschten unter anderem auch Ferdinand Freiligrath und seine Frau 1846 das Exil in der Schweiz mit dem in England. Aus Sicherheitsgründen mußte der von der preußischen Regierung verfolgte Schriftsteller für seinen Fluchtweg von Zürich nach London eine umständlichere Route wählen als seine Frau mit ihrem zehn Monate alten Töchterchen. Keller hat der Emigrantin Ida Freiligrath ein Widmungsgedicht mit auf die Flucht gegeben, dessen Einfühlungskraft und stilistische Gestaltung bemerkenswert sind. Es gehört zu den lyrischen Dedikationen Kellers, die über den konkreten Anlaß hinauswirken dank eines Zartgefühls, das die angesprochene Person intensiv vergegenwärtigt, und dank einer Verdichtungskunst, die einer konkreten Situation
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einen überindividuellen Charakter abgewinnt. Das mag die folgende exemplarische Interpretation zeigen. An Frau Ida Freiligrath Albumblatt von 1846 So ist es doch betrübt zu klagen, Wenn deutsche Mütter den Rhein hinab, Hinab und über des Meeres Grab Die zarten Wickelkindlein tragen Nach freier Länder Gestaden8 hin, Indes die Männer auf weiten Wegen, Getrennt, bekümmert zum Ziele fliehn! Ich streue meinen leichten Segen, Fast trauernd, in dein Frauenherz: Fahr‘ glücklich denn rheinniederwärts Und finde Leut‘ in allen Reichen, Die gute Milch dem Kindlein reichen, Und auf den Schiffen, wenn es schreit, Ein Publikum, das ihm verzeiht! Des Reimes wegen, als ein Schweizer, Wünsch‘ ich dir einen nüchternen Heizer, Der da vorsichtig, sanft und lind Das Schiff dich tragen läßt mit dem Kind. Ich wünsche, daß alles, was sehenswert, Die schönste Seite zu dir kehrt, Vor deinen Fuß frisch Rasengrün, Dem Auge freundlicher Sterne Glühn, In deine Hände weißes Brot Und alle Tag Morgen- und Abendrot! Derweil sei deinem Mann der Wein Allüberall süß, stark und rein! Und weil die Guten dieser Erden Noch lange Tage wandern werden, So mache die Ferne das Herz euch satt Mit allem Besten, was sie hat! Sie fülle freundlich euch die Truh Und geb‘ euch leichte Sorgen am Tag, Des Abends Nachtigallenschlag, Zur Nachtzeit aber die goldene Ruh; Des Sommers Frucht, des Frühlings Zier In England immer vom besten Bier, Den Fisch im Wasser, den Vogel der Luft, Nur keinen Boden zu einer Gruft; Denn in der Heimat sollt ihr sterben Und euern Kindern die Freiheit vererben!188
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Ufer.
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Keller resümiert eingangs die Ausgangslage der Freiligraths in einem lang geschwungenen Satzbogen, der die mütterliche Sorge und die zeitweilige Trennung des Gatten von Frau und Kind umspannt. So ist die Exilsituation, präziser: der Fluchtweg zwischen zwei Exilorten knapp umrissen. Diesem Fluchtweg gilt der zweite Abschnitt des Gedichts, in dem Keller sein Augenmerk ganz auf Frau und Kind richtet. Es ist ein zärtliches Augenmerk, begleitet von Segenswünschen, die frei sind von aller Konventionalität und ganz dem Bedürfnis und der Sorge der Reisenden anverwandelt scheinen: „Fahr’ glücklich denn rheinniederwärts / Und finde Leut’ in allen Reichen, / Die gute Milch dem Kindlein reichen, / Und auf den Schiffen, wenn es schreit, / Ein Publikum, das ihm verzeiht!“ Wieviel zartfühlende Sorge spricht aus solchen Zeilen und welche genaue Vergegenwärtigung der Situation von Mutter und Kind! Konkrete Phantasie, als ein Kompositum ästhetischer Praxis, ist hier am Werk, verbunden mit einem Gran spielerischen Humors, der die Sorge auflichtet: „Des Reimes wegen, als ein Schweizer, / Wünsch’ ich dir einen nüchternen Heizer, / Der da vorsichtig, sanft und lind / Das Schiff dich tragen läßt mit dem Kind.“ Mit dem Attribut „nüchternen“ kommt eine überzählige Silbe und erstmals ein Daktylus ins Gedicht, was den Rhythmus vor einem allzu selbstverständlichen Dahingleiten bewahrt und die Unerläßlichkeit der Nüchternheit hervorkehrt. Im übernächsten Vers durchbricht die Wortfolge „dich tragen läßt mit dem Kind“ das jambische Schema und macht damit auf die wünschenswerte Behutsamkeit der Beförderung eigens aufmerksam. Mitten in der konkreten Vergegenwärtigung der Schiffsreise mit der Sorge um die Nahrung und den Fahrtrhythmus öffnet Keller unversehens den Horizont. Sein dritter Abschnitt, der zum neuen Kontinent überleitet, vereinigt spielend Wünsche, die das Nächste und Fernste, den Rasen vorm Haus und den Glanz der Gestirne, das tägliche Brot und die Verheißungen des Himmels, zum Inhalt haben: „Vor deinen Fuß frisch Rasengrün, / Dem Auge freundlicher Sterne Glühn, / In deine Hände weißes Brot / Und alle Tag Morgen- und Abendrot! / Derweil sei deinem Mann der Wein / Allüberall süß, stark und rein!“ Ein lebensfreundlicher Humor verschränkt weit voneinander entfernte Dinge zum künftigen Glück der Emigranten. Die Poesie des „Morgen- und Abendrot[s]“ gesellt sich harmonisch zum täglichen Genuß von Brot und Wein. So wie Keller hier mit leichter Hand die uralte christliche Brot-Wein-Symbolik durchschimmern läßt, so verbindet er in einem Atemzug die „Truh[en]“ im Haushalt und die „Sorgen am Tag“ mit der Poesie des „Nachtigallenschlag[s]“ und der „goldene[n] Ruh“. Und nicht ohne Anflug von Schalkheit verknüpft er ähnlich überraschend des „Sommers Frucht, des Frühlings Zier“ mit Englands „beste[m] Bier“, auch dies freilich vor dem
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Hintergrund der politischen Praxis, dem Exil, in das „die Guten dieser Erden / Noch lange Tage wandern werden“. Kellers zartsinnige Humanität schließt unaufdringlich-beiläufig ein Lob der Exilanten ein, sie vergißt aber auch einen letzten, einen Herzenswunsch aller politischen Flüchtlinge nicht – den, daß der Boden der Fremde nicht auch die Stätte ihres Grabes sein möge: Denn in der Heimat sollt ihr sterben Und euern Kindern die Freiheit vererben!
Fast das ganze Gedicht hindurch mischt Keller die Töne und Stilarten, läßt er den Ernst des Exils übergehen in die Utopie eines lebenswerten Lebens im fremden Land und lichtet dergestalt die bedrückende Ungewißheit der Zukunft auf, ehe er am Ende das freundliche Bild umwendet und die Heimat wieder zum Vorschein bringt: als Stätte der endlich errungenen Freiheit und eines Todes, der eine Wiedergutmachung für die Vertreibung aus der Heimat bedeutet. Der Mischung der Töne und Stilarten korrespondiert Kellers offene, unangestrengte Handhabung des Reims und der Metrik. Umarmender Reim, Kreuzreim und Paarreim, Jambus, Trochäus und Daktylus, Verse mit unregelmäßig wiederkehrender Silbenzahl (zwischen 8 und 11 Silben) – all das verhindert melodische Glätte und rhythmische Strenge und vermittelt den Eindruck einer ungezwungenen Sprechart, die der besonderen Gelegenheit angemessen ist: der ermutigenden Hinwendung des lyrischen Ichs an eine Exilantin in den Wechselfällen des Alltags. Die frei reimende und metrisch lockere Intonation des Sprechers fördert eine Stillage, die zwischen poetisch gehobenem Duktus und alltäglicher Sprachhaltung eine schwebende Balance erreicht. Das ist nicht etwa mit lyrischer Sorglosigkeit zu verwechseln, wie man sie beim Gelegenheitsgedicht gern vermutet. Die letzte Verszeile zum Beispiel, die längste des Gedichts, fällt wohlkalkuliert aus dem Rahmen mit ihren elf Silben. Sie enthält pointiert die Quintessenz und die eigentliche Utopie des Textes: „Und euern Kindern die Freiheit vererben!“ Kraft der beiden Hebungen auf dem Wort „Freiheit“ gewinnt dieses Substantiv besonderes Gewicht. So zeigt es markant den Zielpunkt des Gedichts an, der durch die „Überlänge“ der Schlußzeile auffällig unterstützt wird. Dieser Kommentar bedarf freilich eines relativierenden Postskriptums. Den Freiligraths ist der Wunsch nach einem Tod in der Heimat erfüllt worden, freilich nicht in seiner ursprünglichen Gestalt, wie sie Keller und seinem freiheitsliebenden Dichterfreund vorgeschwebt war. Nach seiner Rückkehr fand Freiligrath ein Deutschland vor, in dem von den politischen Idealen einer republikanischen Opposition, den Idealen der Freiheit und nationalen Einheit, nur das letztere noch lebendig war. Dem
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Nahziel dieser nationalen Einheit hatte man die Freiheit geopfert, die Grundlage für die Mündigkeit der Bürger. Insofern hatte sich die Opposition weitgehend der tonangebenden politischen Klasse angeglichen. Freiligrath machte sich diese Angleichung zu eigen, und als der deutschfranzösische Krieg von 1870 ausbrach, stärkte er mit lyrisch-militanten Trompetenstößen der nationalen Partei den Rücken189, in vollkommener Verleugnung des internationalen Freiheitslieds, das er zweiundzwanzig Jahre zuvor angestimmt hatte.190 Dem Freiligrath-Gedicht ist Kellers Abschiedslied verwandt, gerichtet An einen auswandernden Freund, Dr. Christian Heußer, 1856, wie es im Untertitel heißt191. Den Auswanderer begleiten die Segenswünsche des Freundes, der ihn zur Fahrt in die unbekannte Ferne ermutigt, hier ins ferne „Atlantis“ und sein „Palmengrün“ (womit Brasilien, der Bestimmungsort Heußers, gemeint ist). Freilich, anders als die Freiligraths besitzt der Scheidende in der Schweiz eine wirkliche Heimat, die als der Ursprung seines Lebens, als Ort seiner Rückkehr und als ein Fixstern in der Ferne heraufbeschworen werden darf. So entsteht ein bewegtes Wechselspiel zwischen der angestammten Heimat und der exotischen Ferne – der „Welt an Wundern reich!“ Man darf sagen, daß Keller damit an einen zentralen Nerv vieler Auswanderungen rührt: an die Verschränkung von Heimat und Fernliebe, von tiefreichender Bindung und gespannter Erwartung, von Treue zum Hergebrachten und Sehnsucht nach dem Unbekannten, Neuen. Im Unterschied zum Freiligrath-Widmungsgedicht hat das Abschiedslied für Christian Heußer auch einen ausgesprochen öffentlichen Charakter. Während eine Reise ins Exil wie die Freiligrath’sche mehr oder minder unbemerkt von der Öffentlichkeit vonstatten gehen mußte, konnte eine im Auftrag der Regierung unternommene als städtisches Ereignis vollzogen werden. Und so wurde die Verabschiedung Heußers durch eine festlich gestimmte „Freundesschaar“ eines Berichts in der Neuen Zürcher Zeitung für würdig befunden, wo eigens des Keller-Gedichts gedacht wird.192 Dessen „sinnige[r] Abschiedsgruß“ habe, so heißt es, die „Gefühle[ ] der Versammlung“ in „Worte des Herzens“ gefaßt.193 Das ist fein bemerkt, trifft es doch die Intention des Abschiedsgedichts: es will das vielfältige Widerspiel der Empfindungen auf seiten des Reisenden wie der Daheimbleibenden konzentriert vergegenwärtigen, wie in einem Spiegel das komplexe Ineinander von Trennungsschmerz, brüderlichem Eingedenken und hoffender Zukunftsschau auffangen und zurückwerfen. Solche Verdichtung ist eine spezifische Leistung des Gedichts. Sie verleiht der Geselligkeit eine Art seelischen Kristallisationspunkt. Keller tat ein übriges und ließ diesen Kristallisationspunkt musikalisch widertönen, indem er seine Verse auf die Melodie des Schubert-Lieds Am Brunnen vor dem Tore abstimmte. Dergestalt verband er die Individualität des Abschiednehmenden, repräsentiert durch
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das Gedicht, mit einem überindividuellen volkstümlichen Eingedenken, repräsentiert durch eine wohlbekannte Melodie. Man darf die Widmungsgedichte für Ida Freiligrath und Christian Heußer mit dem Gedächtnis an Wilhelm Baumgartner, Gesangführer und Tondichter, gest. 1867194 zu einer Trias verbinden, die das Thema des Abschieds nach drei signifikanten Richtungen hin darstellt: den erzwungenen Abschied einer Freundin, die aus ihrem ersten Exil in ein zweites auswandert; den freiwilligen Abschied eines Freundes, der seiner Heimat in Treue verbunden bleibt, und den schicksalhaften Abschied eines Menschen vom Leben. Daß aber selbst dieser Abschied, obgleich er ins Totenreich führt, keine immerwährende Trennung von den Lebenden bedeuten muß, vermag Kellers Gedächtniskunst zu erweisen. Des mit ihm eng befreundeten Wilhelm Baumgartner – er war Leiter des Stadtsängervereins Zürich sowie Musikdirektor an der Universität Zürich gewesen und hatte mehrere Gedichte Kellers vertont – gedenkt er in einem achtstrophigen Rückblick, gesprochen am schweiz. Musikfest 1867, wie der Untertitel besagt. Nirgendwo angemessener als an einem derartigen Fest konnte man Baumgartner würdigen, ihn, der selbst einen Sängerverein geleitet und für Musikfeste komponiert hatte. Und nirgendwo konnte er würdiger zum Leben erweckt werden als an einem derartigen Fest, das seiner Tradition gemäß, einer deutschen wie schweizerischen Tradition, nicht etwa der Zerstreuung der Teilnehmer diente, sondern ihrer musischen Sammlung und politischen Erneuerung. So konnte es der Vorschein einer schöneren Zeit sein: „Freiheit, Licht und Wohlklang, diesen dreien / Galt der Takt von seines Herzens Schlägen.“ Das Ineinanderspiel von Kunst und Politik hatte bei Baumgartner, wie bei Keller, vor allem einen Adressaten: das ganze Volk, wie es sich bei nationalen Festen einzufinden pflegte. Als des Volkes „gute[r] Spielmann“ wird daher der verstorbene Tondichter bezeichnet, der allgemeine Belange vertreten und die Nation in ihrem Alltagshandeln wie in ihren Freiheitskämpfen unterstützt hat: darauf deutet die Metaphorik von „Sichel“ (Agrikultur), „Hammer“ (Handwerk, Industrie) und „Schwert“. Baumgartners Kunst selbst erscheint als volkstümlich, wenn Keller ihre handwerkliche Meisterschaft hervorhebt („Was er tat, das tat er recht mit Fleiß, / Und bei’m Schmieden war sein Eisen heiß.“). Mit der Kennzeichnung der Kunst als handwerklich gelungene, volksverbundene und politisch bildende rühmt Keller den Freund im Geiste des Bürgerlichen Realismus. Der auf diese Weise wiederbelebte und „mit dem Klange seiner Lieder“ wiederauferstehende Komponist kehrt aus dem Totenreich ins Leben zurück, zwar nicht leibhaftig, aber im Sinne des antiken Mythos als „stille[r] und freundliche[r]“ „Schatten“, der mit dem Geist seiner Musik Überlebenskraft gewinnt. Vorzeitig dahingerafft, im Sommer seines Lebens sozusagen – Kellers Bild vom vorzeitigen „Schnee
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auf grünen Linden“ evoziert diese Metaphorik – kann ihm die Kraft des Eingedenkens doch jederzeit zu reiner Gegenwart verhelfen. Kellers Gedächtnisstrophen zu Ehren Baumgartners sind auch ein später Dank für dessen festliche Vertonung eines Keller-Gedichts: Ufenau. 1858. Von den Züricher Studenten anläßlich einer festlichen Fahrt nach Ulrichs von Hutten Grabinsel gesungen195. Titel und Untertitel zeigen die doppelte Gelegenheit an, die hier vom Schriftsteller und vom Komponisten wahrgenommen wurde. Keller hatte sein Gedicht im Rahmen der 25-jährigen Stiftungsfeier der Universität Zürich verfaßt und die Insel Ufenau im Titel genannt, weil die Züricher Studenten dorthin seit 1854 eine alljährliche Maifahrt unternahmen196, zum Gedenken an den auf der Insel begrabenen Ulrich von Hutten, jenen tapferen Humanisten und Reformator (1488–1523), der heftige Kämpfe mit der römischen Kirche ausgefochten und sich sowohl als freier Geist wie als tapferer Soldat bewährt hatte. Wilhelm Baumgartner hatte Kellers Hutten-Gedächtnisgedicht nicht nur vertont, er hatte es auch vom Gesangverein der Züricher Studenten einüben lassen und es auf der Ufenau zu Gehör gebracht, in Gegenwart Kellers, der davon zutiefst bewegt war.197 Der auf Huttens ungebrochenen Kampfgeist gestimmte Ton des Gedichts – „Doch glühte noch sein starker Sinn / Im Tod wie junger Wein“ – hat ein reales historisches Unterpfand: die noch junge, vor einem Jahrzehnt aus inneren Kämpfen hervorgegangene Schweizer Demokratie. Was heute als forciertes lyrisches Pathos anmuten mag, war damals erlebte und erlittene Realität. Die junge Demokratie bedurfte, so empfanden es Keller und andere Mitstreiter, einer Legitimation durch Tradition; sie brauchte ehrwürdige Vorkämpfer, auf die sie sich berufen konnte, sobald sich die Gelegenheit dafür bot. Eine derartige Gelegenheit schufen die Maifahrt auf die Insel Ufenau und der dort stattfindende poetisch-musikalische Festakt. Das Gedenken an Ulrich von Hutten sollte die zarte Pflanze der Demokratie kräftigen helfen und ihr einen verläßlichen Wurzelgrund verschaffen. Daher läßt Keller den streitbaren Hutten selber zu Wort kommen, als hielte der eine authentische Rede an die versammelte Zuhörerschaft, auf daß diese seinen streitbaren Geist und Kampfesmut als Vermächtnis sich zu eigen mache. Aus der fiktiven Rede soll eine Art Mythos entstehen, der traditionsbildende Kraft entfalten kann. Keller hat dieses Vertrauen in die überlieferte Rede in einem anderen Gedicht (Lied vom Wort) programmatisch zusammengefaßt: „Das Wort, das muß wandern / Ohn’ Rast und ohn’ Ruh’, / Und ein Geschlecht dem andern / Ruft laut die Losung zu.“198 Die Losung, die Hutten in der Deutung Kellers ausgibt, lautet unter anderem: der freie, widerstandskräftige Geist ist unverjährbar und hat sich,
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allen Anfechtungen zum Trotz, seine Jugend und Lebenskraft bis heute erhalten. Eben damit wendet sich Kellers Gedicht an die auf dem „Rasengrün“ versammelte „Jugend“ als die Erbin der Errungenschaften Huttens. Dessen „Aug’ voll Sonnenglanz“, dessen Geist, glühend „wie junger Wein“, dessen unverbrüchliche Solidarität mit den „besten Freunde[n]“, dessen von heller „Silberflut“ umflossenes Grab, wo die Welle den „Blumenstrand“ „küßt“: all dies sind lyrisch-allegorische Zeichen für eine nicht nur entschlossene, sondern zugleich lebensoffene, sinnenstarke Republik. In keinem Gelegenheitsgedicht Kellers verschaffen sich Lebensoffenheit und Lebensgenuß, Sinnenstärke und Sinnlichkeit einer republikanischen Brüderlichkeit helleren Ausdruck als in Das neue glückhafte Schiff (Text siehe Anmerkung)199. Der ihm beigesellte Untertitel ist ein vielversprechender Prolog, der in eine grenzenüberschreitende, länderverbindende Festlichkeit einführt: in eine „Lustfahrt“, die beim „eidgenössischen Gesangfest[ ] 1858 zu Ehren der elsässischen Sänger auf dem Zürichsee stattfand“. Wie bei fast allen großen Sängerfesten zwischen 1820 und 1870 (in der Schweiz wie in Deutschland) verstanden sich auch hier die teilnehmenden Gesangsvereine als Kristallisationspunkte eines aufgeklärten Ideals – der solidarisch im Namen der Freiheit verbundenen Menschen.200 Keller wählt dafür die allegorische Figur der Freundschaft. Er greift damit eine seit der Aufklärung und dem klassisch-romantischen Zeitalter populäre Form der Kommunikation auf, die sich stets auch als antihierarchisch und adelskritisch begriffen hatte. Der in Ständen streng gegliederten Gesellschaft opponierte die Jugend durch das Miniatur-Modell einer Sozialordnung von Freien und Gleichen. Keller gedenkt dieser Tradition in der letzten Strophe mit einer literarisch beziehungsvollen Anspielung: Klopstocks Der Zürchersee. An die dort besungene „Göttin der Freude“ als Schirmherrin der „Freundschaft“ erinnern unverkennbar Kellers hymnische Anklänge, die am Ende die Freundschaft im Geiste Klopstocks zum weiblichen Geschlecht hin öffnen. Dynamisch wie die Lustfahrt in Klopstocks ersten Strophen vollzieht sich auch die Kellers, mit dem Unterschied freilich, daß die zürich-elsässischen Sänger ihr beschwingtes Dahintreiben mit geschichtsträchtiger Erinnerung aufgeladen haben. Denn knapp dreihundert Jahre zuvor, anläßlich des Straßburger Freischießens von 1576, hatte eine Züricher Abordnung durch eine „gewagte Ruderfahrt“ den Elsässern imponiert201, worauf das reichverzierte Gastgeschenk, das Trinkhorn aus Gold und Elfenbein, anspielt. Der Straßburger Johann Fischart hatte davon schon in seiner Verserzählung Das Glückhafft Schiff von Zürich berichtet (1577).202 Mehr noch: Fischart gedenkt dabei einer ähnlichen Fahrt wagemutiger Züricher, die mehr als hundert Jahre zuvor stattgefunden hatte (1456), so daß Kellers vierhundertjähriger
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Rückblick keineswegs willkürlich anmutet. Kunstvoll setzt er diesen Rückblick in Szene: als „Sage“ zunächst, die aus der Tiefe des Sees emporrauscht und dann sich zur „viermal hundertjähr’ge[n] Fee“ verwandelt, welche nun zur selbständigen Mitspielerin der feiernden Lustfahrer wird, wobei sie die Gestalt einer „schöne[n] Norne“ annimmt, einer Schicksalsgöttin, die aus dem Trinkhorn vom „goldnen Schaum“ des Weins kostet und dergestalt in Ekstase gerät und sich verjüngt. Wir hoben singend aus den Wellen Die viermal hundertjähr’ge Fee; […] Sie neigte trinkend sich zum Horne Und wurde jung vom goldnen Schaum;
Die „Fee“ bzw. die „Norne“ wird zum allegorischen Sinnbild, zur Trägerin der Erinnerung und Stifterin der „mut- und freudereichen“ Freundschaft: Als zauber- und schicksalskundiges Weib, das Geschichte, Sage und Mythos gleichermaßen umspannt, prägt sie die Ästhetik des Gedichts. Der Akt des Eingedenkens im gemeinsamen Gesang erhält ein bildhaftes Äquivalent in Form einer visionär geschauten Frau. Diese Vision – das trinkende, sich verjüngende und sprechende Zauberwesen – veranschaulicht gleichsam die Ideen, verleiht ihnen Gestalt, Gesicht, Gebärde und Stimme. So inszeniert das Gedicht – wie manches andere Gedicht Kellers – eine schwebende Balance zwischen Gedanke und Bild, Idee und Anschauung. Eine Balance auch der Geschlechter: Der „Männer Chor“ und die Fahrt der „Helden“ entfalten sich unter weiblicher Schirmherrschaft. Ein auffallend schöner Sommertag krönt das harmonische Fest. Es wird im Licht des „Glanzgestad[es]“, des „blauen See[s]“, des „leuchtend[en]“ „Kleinod[s]“, des „goldnen“ Getränks und des „Julisonnenschein[s]“ mehrfach gespiegelt. Keller schafft eine blitzende Sequenz von Lichteffekten, akustisch sekundiert durch das Rauschen, Trinken, Lachen und Rufen des schönen Weibs, so daß die ganze Gegend im Lichterglanz zu tönen scheint. Die aus der Tiefe der Erinnerung gespeiste Freundschaft gewinnt eine ekstatische Gestalt, die eine utopisch schöne Verheißung enthält: „So mögen noch der Enkel Scharen / Die Flut des Lebens froh befahren / Und unsre Städte fortbesteh’n!“ Die „viermal hundertjähr’ge Fee“, allegorisches Sinnbild für gemeinschaftliches Eingedenken, läßt sich auch als Gleichnis für eine städteverbindende und nationale Grenzen überschreitende Freundschaft bezeichnen. Solche allegorischen und gleichnishaften Züge sind für Kellers Lyrik charakteristisch und fordern eine eigene Betrachtung heraus.
VI. Gleichnislyrik. Allegorien Von früh an macht Keller von den Stilfiguren des Gleichnisses und der Allegorie einen wie selbstverständlich anmutenden Gebrauch, so, als handle es sich hier um eine ihm angeborene poetische Produktivkraft. Ein Gedicht wie Ave Maria auf dem Vierwaldstätter See von 1847 zeigt dies beispielhaft (vgl. Kap. III). Auf das Jahr 1845 ist das Sonett Reformation des sechsundzwanzigjährigen Lyrikers datiert, das eine ehrwürdige Überlieferung wiederbelebt (Text siehe Anmerkung)203. Ihr zufolge waren im „Bauch“ einer Pyramide jahrtausendealte Weizenkörner gefunden worden, die, geworfen „in lebendig Ackerland“, als „gold’ne Saat“ aufgegangen sein sollen. So erzählen es die beiden Quartette. Gleich diesen Weizenkörnern, so fährt das erste Terzett fort, könne jederzeit die „mit dem Ahnen“ schlummernde „Frucht“ einem späten Enkelkinde aufblühen, kraft eines zyklisch waltenden, den Tod integrierenden Lebensgesetzes: „Das Sterben ist ein endlos Auferstehen.“ So lautet des Gleichnisses erster Teil. Sein zweiter Teil ist – mit berechnender Symmetrie – im zweiten Terzett niedergelegt. Wie die Mumienkörner der „schwarze[n] Totenhand“ entwunden wurden, so gelte es, „das Wort des Lebens“ der „Mumienhand“ der Kirche zu entwinden und neu zu „säen“. In Anlehnung an die protestantische Erneuerungsbewegung des 16. Jahrhunderts nennt Keller dieses Vorhaben ‚Reformation‘. Gemeint ist damit aber nicht nur eine religiöse Bewegung, wie sie im biblischen Gleichnis vom Sämann (Matthäus, 13) aufgezeichnet ist. Gemeint ist vielmehr eine umfassende politisch-soziale Erneuerung, die mit dem Kampf gegen die Jesuiten beginnt und sich im Sonderbundskrieg fortsetzt. Die religiöse Bewegung der Reformation wird ihrerseits zum Gleichnis für eine ganzheitlich nationale, die wenige Seiten davor schon in den Vaterländischen Sonetten eingefordert wird (vgl. Kap. V). Es handelt sich in der Reformation mithin um ein potenziertes Gleichnis. Wird zunächst ein Naturphänomen auf seine Erneuerungs- und Wachstumskraft transparent, so entsteht damit ein Gleichnis für die Überlebenskraft eines menschlichen, über Generationen hinweg schlummernden Erbes – und letzteres wird wiederum Gleichnis für eine freireligiöse „Reformation“, die ihrerseits als Gleichnis für eine politisch-soziale Erneuerung figuriert. Dergestalt verknüpft das gleichnishafte Sprechen grundverschiedene Lebensbereiche – natürliche, menschliche, religiöse und gesellschaftliche – in einer lyrischen Bewegung, und diese Verknüp-
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fungsart ist dem prüfenden Mitvollzug des Lesers zugewendet. Seine mitschwingende Reflexion muß darüber befinden, wie einleuchtend ein Vorgang oder ein Bild als Gleichnis für einen Gedanken entwickelt wird und wie einleuchtend das erste Gleichnis das zweite vorbereitet bzw. das zweite im ersten fußt. Einleuchtend heißt: es kommt auf die Leuchtkraft an, womit ein erzählter Vorgang oder ein Bild auf den beigeordneten Gedanken ausstrahlt, so daß sich eins im andern spiegelt und erkennt. In solcher Spiegelungs- und Erkenntnisleistung ist der reflexive Grundzug des Gleichnisses aufbewahrt. Ihn hat Kellers Zeitgenosse Conrad Ferdinand Meyer vielfach erprobt, vielleicht am einprägsamsten in seinem Gedicht Möwenflug.204 Das lyrische Ich sieht Möwen um einen Felsen kreisen, höchst lebendige, auf gespannter Schwinge schwebende Möwen, die jedoch gleichzeitig im Meeresspiegel abgebildet werden, mit täuschender Perfektion, so daß Realität und Spiegelbild, Wesen und Schein identisch wirken. Angesichts der täuschend echten Nachahmung erfaßt ein „Grauen“ das lyrische Ich, und es sieht sich zur Frage nach seiner eigenen Echtheit herausgefordert: Und du selber? Bist du echt beflügelt? Oder nur gemalt und abgespiegelt? Gaukelst du im Kreis mit Fabeldingen? Oder hast du Blut in deinen Schwingen?
Der Vorgang einer vollkommenen Ähnlichkeit zwischen lebendigem und abgespiegeltem Möwenflug wird zum Gleichnis für die Identitätsfrage des lyrischen Ichs. Die Frage ist in eine Selbstanrede gekleidet, die das Personalpronomen ‚du‘ verwendet – ein zugleich den Leser anredendes Du, das die Identitätsfrage auch ihm stellt: Bist du selber ein lebendiges ‚Wesen‘ oder nur täuschend echt wirkender ‚Schein’? Der doppelte Möwenflug ist das Gleichnis für ein das lyrische Ich und den Leser betreffendes Existenzproblem. Im kreatürlichen Bild und seiner Nachbildung spiegelt sich eine Lebensfrage der Menschen, die sie zur Selbsterkenntnis bewegen soll. Die Frage geht gewissermaßen organisch-einleuchtend aus dem Gleichnis hervor, das die ihm eigentümliche Schwerkraft entfaltet – eine reflexive, zur Nachdenklichkeit führende Schwerkraft. Im wiederholten Gebrauch des Gleichnisses ist unter anderem die Zeitgenossenschaft Meyers und Kellers begründet. Beide entfernen sich damit von spätromantischer Naturlyrik. Die Genese dieser Entfernung zeigt Meyers Möwenflug beispielhaft. Spätromantischen Geistes ist zunächst noch die Einfühlungskraft in Natur und Kreatur – der Flug der Möwen im Äther und im Meeresspiegel. Indes hat diese Einfühlungskraft schon Züge der genauen Detailerfassung, die im Biedermeier mit der Lyrik Mörikes und der Droste Geltung gewinnt. So können sich Bild und Abbild zu einer selbständigen poetischen Szene runden, die nun, in einem weiteren
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Schritt, zum Medium einer eigenen Ich-Reflexion wird. Aus der Einfühlungskraft in Natur und Kreatur erwächst eine Reflexionskraft, die eine verallgemeinerbare, über die besondere Situation hinausweisende Fragestellung erreicht: ein überindividuelles Lebensproblem entwirft. Die Eignung der Natur als Reflexionsmedium im poetischen Gleichnis demonstriert Keller erneut im Gedicht Untergehende Liebe, wobei er zugleich die dem Natur-Gleichnis gesetzten Schranken aufweist. Untergehende Liebe Abend war’s, ich stand am Ufer, Wo die Wellen freudig rauschten Und, vom Süden her gewaltig Hergeeilt, am Strand erschäumten. Violet war ihr Gewand, Doch sie trugen rote Kronen, Die von Haupt zu Haupt sie warfen, Klangvoll in einander fließend. Durch der Wolken wildes Jagen, Einsam, sah der Abendstern, Glänzend, wie der Schönheit Auge, Groß erglühend, wie die Sehnsucht. Und ich sagte zu den Wellen: Noch so laut und fleißig seid ihr? Doch ich seh‘ nicht, was ihr schaffet, Denn kein Segel ist zu finden, Weil es Nacht wird und die müde Sorgenvolle Woche hingeht! Und sie riefen laut erbrausend: „Feierabend ist’s, wir tanzen Eben noch für uns ein Tänzchen Wie der Hirt den Schnitterinnen9 Abendlich den Reigen bläset, Also spielt der wilde Bruder Uns, der heiße Föhn, zum Tanze, Und er darf uns alle küssen! In der Freiheit, in der Freude Schlagen wir für uns ein Stündchen. Wollt‘ ein Schiff uns jetzt befahren, Müßt‘ es untergeh’n und brechen! Und wir raten dir nicht minder: Freiheit gib auch du den Wellen Deines Blutes einmal wieder! Laß das Schifflein untergehen Mit dem schweren goldnen Bilde, 9
Schnitterin: eine Getreide schneidende Frau.
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Mit der ungeschlachten Schiff’rin, Die dein wogend Herz befährt Schon so lang und es bedrückt! Laß die Furcht und laß die Hoffnung In empörter Flut versinken Und erfreue dich der Freiheit!“ Ach! die allzutreuen Wellen Meines unterjochten Blutes Wollen es nicht sinken lassen; Immer taucht empor es wieder, Triumphierend fährt’s empor, Schiff und Bild, ach, Schiff und Götzin! Einzig hilft, es rasch entheben Und es in der Luft erwürgen! Also tat ich in der Nacht, Still in einer Frühlingsnacht. Einen schwachen Seufzer hört‘ ich, Deutlich, wie aus weiter Ferne; Denn von den Betörten endlich Auch einmal vergessen werden, Tut den Vielgeliebten weh, Und sie fühlen’s in der Ferne.205
Was tut jemand, um den sklavischen Bann der Leidenschaft zu durchbrechen? Kellers lyrisches Ich ruft sich die Natur zu Hilfe und läßt sich von ihr in Freiheit setzen, in eine allerdings nur vorläufige Freiheit. Die Natur ist dabei nicht das Echo der Liebesnot des lyrischen Ichs wie im romantischen Gedicht, wo Subjekt und Natur in unmittelbare Korrespondenz zueinander geraten, so daß eins als Spiegelschrift des anderen erscheint. Eher verhält es sich so, daß Kellers Ich vorführt, wie man die Natur zu seiner Ratgeberin macht und sie mit Gedanken und Sprache begabt. Gleichwohl verflüchtigt er sie nicht zum abstrakten Gebilde, sondern nimmt sie und ihr Farbenspiel mit aller Sinnenkraft wahr. Dies ist gleichsam die Bedingung für ihre Vermenschlichung, wie sich an den personifizierten abendlichen Wellen im Gedicht zeigen läßt. Im Schein des Abendlichts – Violet war ihr Gewand, Doch sie trugen rote Kronen, Die von Haupt zu Haupt sie warfen, Klangvoll in einander fließend.
– gestatten sie sich „ein Tänzchen“, dem „Feierabend“ zu Ehren. Entlastet von der Tages- und Wochenarbeit, die darin bestand, Schiffe zu transportieren, geben sich die Wellen der „Freiheit“ und „Freude“ hin, unter der Regie des „wilde[n] Bruder[s]“ Föhn, der sie zu „küssen“ beliebt. Keller enthüllt die Natur zunächst im Stadium der Unterwerfung durch die
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allgegenwärtige Tätigkeit des Menschen. Nur abends und sonntags kann sie ruhen und sich selbst zur Lust leben – nach dem Beispiel der menschlichen Gattung. Es zeugt vom Realismus Kellers, daß er die Natur nicht länger – wie romantische Lyriker – als das Ursprüngliche schlechthin entwirft, sondern ihre Abhängigkeit von menschlichen Verkehrsformen skizziert. Vielleicht wird die Natur erst angesichts des sie ergreifenden Arbeitsprozesses ihrer Fähigkeit inne, sich der freien Lust zu widmen – Kellers Gedicht schließt diese Möglichkeit nicht aus. Zumindest kann die Natur mit dieser Fähigkeit auf den Menschen befreiend einwirken. Dessen ‚innere Natur‘ ist ihrerseits nicht mehr ursprünglich, ist vielmehr in menschliche Verhältnisse eingebunden und vielleicht, so im vorliegenden Fall, durch diese unterjocht. Unterjocht durch die Leidenschaft, die das lyrische Ich für eine ferne Frau empfindet, deren Bild auf den „Wellen“ seines „Blutes“ hin und her gleitet, unablässig-unverscheuchbar. Wäre es da nicht an der Zeit, sich die Meereswellen zum Beispiel zu nehmen, die am Feierabend kein Schiff mehr dulden und nur ihrer lustvollen Freiheit hingegeben sind? Keller führt dieses allegorische Gleichnis mit Witz und Humor durch: »Wollt’ ein Schiff uns jetzt befahren, Müßt’ es untergeh’n und brechen! Und wir raten dir nicht minder: Freiheit gib auch du den Wellen Deines Blutes einmal wieder! Laß das Schifflein untergehen Mit dem schweren goldnen Bilde, Mit der ungeschlachten Schiff’rin, Die dein wogend Herz befährt Schon so lang und es bedrückt!«
Das lyrische Ich experimentiert mit der Natur, erhebt sie zur redebegabten Dialogpartnerin. Sie ist nicht mehr voller Geheimnisse, wie noch die romantische Natur. Deren Hieroglyphenschrift ist zu gedanklicher Klarheit aufgehellt. Liebesnot lehrt das Ich, auf die Natur die Idee der Befreiung zu übertragen, die dann von der Natur selbständig vorgetragen wird, als sei sie eine wohlwollende Ratgeberin, objektiv vorhanden, aus eigenen Gnaden existierend. Dergestalt erhebt die poetische Einbildungskraft die äußere Natur zur gleichnishaften Lehrmeisterin der inneren Natur. Anders formuliert: Die äußere Natur wird zum didaktischen Gleichnis für die Natur des Menschen umgeformt. Keller macht eine wesentliche Funktion der (poetischen) Phantasie sichtbar: mit ihrer Hilfe gewinnt der Mensch Distanz zur eigenen Not und überlistet seine Unfreiheit. Das geschieht hier mit dem Charme tanzverliebter und sprachkundiger Wellen. Der charmante ‚Witz‘ hat nur einen Haken: er zündet nicht sogleich in der Seele des heillos Verliebten. Das Gleichnis von „des Meeres und der Liebe
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Wellen“ bleibt unvollendet. Denn das Bild der Geliebten bleibt auf den ‚Wellen‘ des Bluts haften, bis dem Verliebten ein zweiter Einfall kommt: er muß das Bild aus dem flutenden Inneren „entheben“ und „in der Luft erwürgen“! Wie das vonstatten geht, mag die Phantasie des Lesers selbst herausfinden. Jedenfalls erweist sich dieses Experiment als unverzüglich erfolgreich. Denn die „Vielgeliebte[ ]“ fühlt „in der Ferne“ diesen Befreiungsakt und quittiert ihn mit einem weithin vernehmbaren „Seufzer“, der ihr „Weh“ ausdrückt: das Weh über den Verlust ihrer Liebesherrschaft. Im „Erwürgen“ und im seufzenden „Weh“ rächt sich das Ich einigermaßen unverblümt für diese Herrschaft – wer viel leidet, entwickelt auch sein spezifisches Rachebedürfnis. Kellers Version von „Des Meeres und der Liebe Wellen“ wirft ganz beiläufig auch Blicke in die vertrackte Psychologie der Leidenschaft: in den Zauberbann, dem sie verfallen kann und den sie sklavisch aufrechterhält, und in die rachebedürftige Aggressivität versklavter Liebe. Wie die Natur überprüft Keller auch die Kreatur auf ihre Eignung für die gleichnishafte Sprache. Von Kindern ist ein Sonett-Tryptichon betitelt206, das mit einem Gleichnis aus dem kreatürlichen Leben einsetzt (Text siehe Anmerkung). Ein „Schwarm von schönen Knaben“ hat sich aus freien Stücken „wie ein Zug Pferde“ versammelt, „gekoppelt und gespannt“, wiehernd und auf dem Boden scharrend, auf den „Peitschenknall“ eines Knirpses „lustig […] durch die Gasse trabend“ und, „seine[n] Hiebe[n]“ unterworfen, zu jeder Wendung und Kehre bereit. Der lyrische Betrachter bemerkt, daß der Knabenzug in einem Punkte sogar die Pferde übertrifft – in der Lust, sich dem Peitschenknall zu unterwerfen, während die Kreatur dies als „Beschwerde“ zu empfinden scheint. Hier ist das Gleichnis von kreatürlichem und kindlichem Verhalten durchbrochen, zum Nachteil des letzteren, das den Betrachter zur kritischen Reflexion über die menschliche Unterwerfungsbereitschaft veranlaßt. Dem „Herrschertriebe“ im Menschen scheint ein „Knechtsinn[ ]“ entgegenzukommen, der zur Entstehungszeit des Sonetts im Jahre 1847 nichts Gutes für die Entwicklung eines freien Schweizer Gemeinsinns verheißt. Kellers Sonett führt ein Experiment mit der Stilfigur des Gleichnisses vor. Es weist auf die Stelle, wo das kreatürliche Vor-Bild sich nicht mehr mit dem menschlichen Nach-Bild deckt, so daß die Unterwerfungsbereitschaft der Menschen als ein bedenkliches Politikum hervortritt. Dieses Hervortreten eines intendierten Sinns ist der gleichnishaften Rede von alters her eigen. Der Erfinder des Gleichnisses ist dann auch sein souveräner Deuter, wie beispielsweise Jesus, der die vier Geschichten vom Sämann in den Rang von Gleichnissen erhebt, indem er sie im Nachhinein deutet und ihnen einen präzisen Sinn verleiht (vgl. Matthäus I, 13). Solche
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Sinngebung seitens des Erzählers kann jedoch auch ausbleiben – das Gleichnis weist zwar über sich hinaus, verschweigt jedoch seinen Sinn, so daß es vielsinnig wird und jedem Leser von neuem zur Enträtselung seiner Bedeutung offensteht. Hier gewinnt das Gleichnis die Nähe zur Parabel, wenn nicht zum Rätsel; es geht in eine offene Form über, mit der Keller gern experimentiert hat, auch darin C. F. Meyer verwandt, dessen berühmter Römischer Brunnen ein Gleichnis für die menschliche Existenz bildet, doch dies in vielsinnig-knapper, immer wieder zur Deutung reizender Form. Eine Probe seiner Experimentierlust hat der junge Keller im Sonett Der Schein trügt (Text siehe Anmerkung)207 gegeben. Von der prachtvollen Erscheinung eines Hauses im ersten Quartett gleitet der Erzähler im zweiten zu seinem „tiefsten Keller“, wo „üppig feuchtes Unkraut“ häßlich „dicke[ ] Schlangen“ überwuchert. Die verborgene Wahrheit des Gebäudes ist damit jedoch keinesfalls getroffen, verbirgt es doch im „allertiefsten Schweigen“ noch einen „ungemessne[n] Schatz“, wie das letzte Terzett verrät. Unenträtselbar bleibt, ob die Dreidimensionalität des Hauses ein Gleichnis für das politische Gemeinwesen der Schweiz208, für die glanzvolle Erscheinung einer im Grunde zwiespältigen menschlichen Existenz oder für widersprüchliche Lebenslagen des Ich-Erzählers darstellt, unenträtselbar auch, ob damit jede Erscheinung auf ihre verborgenen und verkannten Hintergründe hin zu deuten wäre, wie der Titel der zweiten Gedichtfassung nahezulegen scheint: Jeder Schein trügt.209 Es könnte auch sein, daß dieses Gleichnis sich als Parabel versteht für die Endlosigkeit jeder interpretatorischen Anstrengung, ja für die Unausdeutbarkeit poetischer Texte, in denen sich der Betrachter verrätseln und verlieren kann wie in einem Vexierspiegel. Nicht ganz so unbestimmbar vieldeutig mutet Kellers Verliebtes Rätsel 210 an: Verliebtes Rätsel Gefächelt von der Lüfte Schwingen, Zeigt’s deiner Lippen hohe Rosenglut Und knistert leis, wie deine Lippen singen, Wenn ein geheimer Traum bewegt dein Blut. Nun schweigt das Knistern, stirbt die Röte, In tiefe Nacht versinkt der Fünklein Tanz; Nun ist es tot und schwarz, was überböte Die Schwärze, als dein Haar im Morgenglanz? Noch warm, nehm‘ ich die zarte Leiche Und schreib‘ auf deines Flur’s besonnten Stein Ihr art’ges Leben, dem das deine gleiche, So hoch erglühend und so schlicht und rein:
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„Ich war ein Bäumlein auf den Rainen10, Mein Mark war weich und weiß, die Blättlein grün, Ich sah die Sonne feurig niederscheinen, Dann brannt‘ ich selber, selig im Verglüh’n! Was von mir blieb, zeigt noch die Triebe Der Adern und der Jahresringe Lauf; Schreib‘ froh mit mir, Poet! den Preis der Liebe Und brauch‘ mich ganz zu deinem Liede auf!“
Strophe 1 kreist um ein unbekanntes ‚es‘, das erst in der zweiten Gedichthälfte seine Identität enthüllen wird – es handelt sich um ein „Bäumlein“. Erst von rückwärts her erschließen sich dem Leser auch des Bäumchens mysteriöse „Rosenglut“, sein „Knistern“, „der Fünklein Tanz“ und endlich seine „Schwärze“: es sind metaphorische bzw. akustische Beschreibungen eines Feuers, das den kleinen Baum erfaßt und niedergebrannt hat bis auf einen Rest Holzkohle. Kühn vergleicht der Erzähler seine Wahrnehmungen mit einigen Attributen einer fernen Geliebten: die Flammenfarbe mit ihrer „Lippen hohe[n] Rosenglut“, das Knistern mit ihrem traumbewegten Singen, die Schwärze der Kohle und Asche mit der Farbe ihres Haars im Morgenglanz. Solche überraschenden Ineinsbildungen von Naturerscheinungen und menschlichen Eigenschaften verraten die bewegte Phantasie des Liebenden, dem der brennende Baum zur Flammenschrift seines Innern wird. Fasziniert von dieser Schrift, schreibt er das Leben des Bäumchens nach, und zwar mit eben der Holzkohle, die von ihm übrig geblieben ist. Er schreibt es auf dem Stein nach, der den Flur vor dem Haus der Geliebten bildet, in der Hoffnung, die Niederschrift werde ein Gleichnis sein für das Leben der Geliebten. Was für ein Gleichnis? Gehören Baum und Geliebte nicht ganz verschiedenen, unvergleichbaren Sphären an? Der flammenden Phantasie des „Poet[en]“ ist indes nichts unvergleichbar. Er läßt das Bäumchen ein Liebesbekenntnis aussprechen: „Ich sah die Sonne feurig niederscheinen, Dann brannt’ ich selber, selig im Verglüh’n!“
Ein verzehrendes Feuer, Seligkeit, die in ihren eigenen Flammen vergeht – das soll die Geliebte, gleich dem Bäumchen, als „Preis der Liebe“ entrichten. So wünscht es sich der liebende Erzähler – zweifellos ein starker, brennender Wunsch, dem der Einsatz des anderen Lebens willkommen ist zur Vollendung des eigenen Liebesfeuers. Wer das existenziell ernst nähme, würde freilich das virtuose Spiel mit der Tradition übersehen, das Keller hier treibt. Im petrarkistischen Liebesgedicht des 14. Jahrhunderts und seinen späteren Nachbildungen verzehrt sich gleichsam der Liebende in seiner eigenen Glut, und noch seine Asche dient dem Lobpreis der 10
den Acker begrenzende kleine Bodenerhöhungen
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unerreichbaren Geliebten. Kellers lyrischer Erzähler kehrt das passionierte Verhältnis um. Nun möge einmal die Geliebte brennen und in Seligkeit verglühen! Der Dichter rät es ihr auf wahrhaft authentische Weise: mit einer ‚Reisskohle‘, die aus der Hinterlassenschaft einer anderen Geliebten stammt – des Bäumchens, das den Flammentod der Leidenschaft auf ureigenen Wunsch gestorben ist. Kann ein Rat, kann ein Gleichnis glaubwürdiger sein? Der die poetische Tradition spielerisch umkehrende Keller war vielleicht in sein Spiel ebenso verliebt wie in die angesungene Geliebte. Vielleicht sublimierte er auch das verzehrende Feuer seiner Verliebtheit in die Hingabe an sein poetisches Gleichnis. Oder übertrug er es auf die Geliebte, auf daß sie, wenigstens im Gedicht, dem Flammentod ins Auge blicke? Kellers ‚Verliebtes Rätsel‘ läßt sich offenbar nur umkreisen, nicht auflösen. Kellers gleichnishaftes Sprechen korrespondiert seiner Vorliebe für die Allegorie, die in seiner politischen Jugendlyrik zur Geltung kommt. Wenn dort der Frühling oder die Morgensonne oder das Gewitter allegorisch für das revolutionäre Erwachen stehen, so wird eine politisch-soziale Idee durch Naturbilder und -vorgänge veranschaulicht. Solcher Veranschaulichung von Idee oder Gedanke bzw. Sache steht das Gleichnis nicht fern: es stellt seinerseits eine Relation zwischen einer bildlichen oder anschaulich-konkreten Sphäre und einem Abstraktum oder einer Sache her, mit dem Unterschied allerdings, daß ersteres – Bild, Ding, Vorgang – in seiner sinnlichen Erscheinung schon etwas vom Sinn des darauf bezogenen Gedankens oder der beigesellten Sache einfängt. Das allegorische Bild kann dagegen willkürlich gewählt werden; es muß in seiner konkreten Erscheinung nicht den Gedanken oder die Sache anschaulich machen, auf die es verweist. So kann die Morgensonne in Kellers Revolution allegorisch für die Freiheit und Emanzipation des Volkes stehen, in Des Friedens Ende211 dagegen für die „Zwietracht“ im Volk und „dumpfe[ ] Todeslust“. Das allegorische Zeichen muß in seiner äußeren Gestalt keineswegs dem Bezeichneten entsprechen. Es kann dessen Bedeutung unabhängig-willkürlich festlegen. Anders das gleichnishafte Zeichen. Je sinnlicher es entfaltet wird, desto komplexer kann sich der Sinn des Bezeichneten aussprechen, je differenzierter es erscheint, desto nuancierter und sinnreicher kann auch das Bezeichnete erscheinen. Während der allegorische Verweischarakter zur Eindeutigkeit tendiert, kann der des Gleichnisses mehrere Bedeutungsebenen umfassen, ja Mehrdeutigkeit einschließen. Beiden gemeinsam aber ist ihre Reflexivität, die von der organisierten Verfahrensweise des Dichters abhängt. Wie das allegorische Zeichen Bedeutung erlangt kraft des sinnstiftenden Bewußtseins des Zeichensetzers, so setzt dieser im Gleichnis das Zeichen in einer Weise, die beziehungsvollen Verweischa-
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rakter hat, weshalb das Bezeichnete von Fall zu Fall als vielgesichtig und vieldeutig erscheinen kann. Einem der eindringlichsten Beispiele für die Nähe des allegorischen zum gleichnishaften Sprechen gilt folgende exemplarische Interpretation. Ihr liegt die 2. Fassung der Gesammelten Gedichte zugrunde (Kauffmann, S. 723f.). Jung gewohnt, alt getan Die Schenke dröhnt, und an dem langen Tisch Ragt Kopf an Kopf verkommener Gesellen; Man pfeift, man lacht; Geschrei, Fluch und Gezisch Ertönte an des Trankes trüben Wellen. In dieser Wüste glänzt‘ ein weißes Brot, Sah man es an, so ward dem Herzen besser; Sie drehten eifrig draus ein schwarzes Schrot Und wischten dran die blinden Schenkemesser. Doch Einem, der da mit den andern schrie, Fiel untern Tisch des Brots ein kleiner Bissen; Schnell fuhr er nieder, wo sich Knie an Knie Gebogen drängte in den Finsternissen. Dort sucht‘ er selbstvergessen nach dem Brot, Doch da begann’s rings um ihn zu rumoren, Sie brachten mit den Füßen ihn in Not Und schrie’n erbos’t: Was, Kerl! hast du verloren? Errötend taucht‘ er aus dem dunklen Graus Und barg es in des Tuches grauen Falten. Er sann und sah sein ehrlich Vaterhaus Und einer treuen Mutter häuslich Walten. Nach Jahren aber saß derselbe Mann Bei Herrn und Damen an der Tafelrunde, Wo Sonnenlicht das Silber überspann Und in gewählten Reden floh die Stunde. Auch hier lag Brot, weiß wie der Wirtin Hand, Wohlschmeckend in dem Dufte guter Sitten; Er selber hielt’s nun fest und mit Verstand, Doch einem Fräulein war ein Stück entglitten. O lassen Sie es liegen! sagt sie schnell; Zu spät, schon ist er unter’n Tisch gefahren Und späht und sucht, der närrische Gesell, Wo kleine seid’ne Füßchen steh’n zu Paaren. Die Herren lächeln und die Damen zieh’n Die Sessel scheu zurück vor dem Beginnen; Er taucht empor und legt das Brötchen hin, Errötend hin auf das damast’ne11 Linnen.
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Damasten = aus Damast; Stoff mit glattem Atlasgrund, auf den Blumen oder andere Figuren gewebt sind.
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Zu artig, Herr! dankt ihm das schöne Kind, Indem sie spöttisch lächelnd sich verneigte; Er aber sagte höflich und gelind, Indem er sich gar sittsam tief verbeugte: Wohl einer Frau galt meine Artigkeit, Doch Ihnen diesmal nicht, verehrte Dame! Es galt der Mutter, die vor langer Zeit Entschlafen ist in Leid und bitt’rem Grame.
Die in Kellers Lyrik immer wieder hervortretende Neigung zum epischen Erzählen ermöglicht ihm die ausgreifende Gestaltung zweier ähnlicher Begebenheiten. Die erste spielt in einer Schenke, wo „verkommene[ ] Gesellen“ ein dröhnendes Gelage abhalten, in dessen Verlauf ein Stück „weißes Brot“ unter den Tisch fällt, dorthin, „wo sich Knie an Knie / Gebogen drängte in den Finsternissen“. Was für ein plastisches, sinnlich einleuchtendes Bild! Und dorthin, in die Finsternisse unterm Wirtshaustisch, taucht plötzlich einer der Gesellen: „Dort sucht’ er selbstvergessen nach dem Brot“, bis er es gefunden hat, ungeachtet des Protestgeschreis und der Fußtritte seiner Zechkumpane. Erst als er wieder am Tisch sitzt, erwacht er aus seiner Selbstvergessenheit und wird sich der Bedeutung des geretteten Stückchens Brot bewußt: Er sann und sah sein ehrlich Vaterhaus Und einer treuen Mutter häuslich Walten.
Die beiden Verse bilden die allegorische Bedeutung des so kostbar scheinenden Brots. In Opposition zur verkommenen Runde, welcher der Mann angehört, verweist dieses Brot auf seine bessere Herkunft und ein ihm nicht ganz abhanden gekommenes Ethos. Vielleicht ist es die Erinnerung an diese Herkunft und das Wiedererwachen dieses Ethos, was dem Mann später einen sozialen Aufstieg erlaubt: Nach Jahren aber saß derselbe Mann Bei Herrn und Damen an der Tafelrunde, Wo Sonnenlicht das Silber überspann Und in gewählten Reden floh die Stunde.
Abermals fällt ein Stück weißes Brot, das einem schönen Fräulein entglitten ist, auf den Boden; abermals taucht derselbe Mann selbstvergessen unter den Tisch, um es wiederzufinden und auf das „damast’ne Linnen“ zurückzulegen, nicht jedoch dem schönen Fräulein zu Gefallen, sondern einer anderen zur Ehre: Die „Artigkeit“ […] galt der Mutter, die vor langer Zeit Entschlafen ist in Leid und bitt’rem Grame.
Wiederum ist die allegorische Bedeutung unmittelbar einleuchtend. Das Brot, das zu verderben droht, ist Sinnbild für das sorgsame „Walten“ einer Mutter, deren Fürsorge der Sohn offenbar enttäuscht hat. Das Bewußtsein
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dieser Enttäuschung hat sich ihm tief eingegraben, so tief, daß es beim Anblick eines gefährdeten Stückchens Brot sogleich lebendig wird; indem er das Brot rettet, sucht er sein Unrecht an der Mutter wiedergutzumachen. Ihres „Leid[s]“ und „Gram[s]“ eingedenk, ehrt er ihr Andenken. Diese allegorische Bedeutung nun des Weißbrots geht in einen umfassenderen gleichnishaften Sinn über kraft der episch erzählten Vorgänge. Die Erinnerung an das Vaterhaus und an das der Mutter zugefügte Unrecht überwältigt den Sohn jedesmal so brüsk, daß er selbstvergessen Anstand und gute Manieren außer acht läßt. ‚Man‘ pflegt nicht einen Bissen Brot, der in Gesellschaft unter den Tisch gefallen ist, auf den Knien rutschend zu suchen. Unwürdig eines wohlerzogenen Menschen ist es, auf diese Weise eine derbe Männer-Runde oder gar eine erlesene Tischgesellschaft zu stören. Und ‚man‘ brüskiert nicht die guten Sitten, indem ‚man‘ eine Dame durch die unterirdische Suchaktion an ihre Unachtsamkeit gemahnt und sie dergestalt in der Öffentlichkeit bloßstellt. Diese Unhöflichkeit aber wird gleichsam legitimiert durch das unwillkürliche Eingedenken des Mannes, dem die Mutter und das ihr zugefügte Unrecht plötzlich vor Augen getreten sind. Die Regeln des Anstands werden durch eine Selbstvergessenheit suspendiert, die dem eigentümlichen Selbst des Suchenden zum Ausdruck verhilft. Er setzt den gesellschaftlichen Takt durch eine Ungeschicklichkeit außer Kraft, die von seiner Reue und Erinnerungstiefe zeugt. Indem er die Etikette verleugnet, bringt er eine innere Wahrheit zur Geltung. Gesellschaftlich normiertes und individuell gefordertes Handeln treten in Widerspruch zueinander. Das Gleichnis für diesen Widerspruch entsteht durch den zweimaligen Vorgang des Hinabtauchens unter einen gastlichen Tisch. Was indes so einzigartig und eigenartig individuell anmutet, erinnert an ein uraltes, fast mythisches Gesetz. In der Rettung des Brots bezeugt sich die Aufmerksamkeit für seine ehrwürdige sinnbildliche Bedeutung: es ist die elementare Nahrung des Menschen, beglaubigt durch all die biblischen Szenen, die dem Brot und seiner Mehrung oder Teilung gelten. So wird das Gleichnis anspielungsreich vertieft. Die Individualität des Mannes tritt zum Gesellschaftlichen zwar in Widerspruch, läßt dabei jedoch eine überindividuelle Verweiskraft durchschimmern. Solche Verweiskraft besitzt auch die dialogische Komponente des Gleichnisses. Der unter den Tisch tauchende „närrische Gesell“, der das einer Dame entglittene Brot zurückbringt, erinnert an den tapferen Ritter Schillers, der den Handschuh einer Dame aus einem mit wilden Tieren bestückten Zwinger rettet (Der Handschuh). Hier wie dort schlagen die Erwartungen eines edlen Fräuleins fehl: bei Schiller, weil der Ritter den Liebesdank der Umworbenen ausschlägt, bei Keller, weil der seltsame Held den spöttischen Dank der Da-
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me mit dem Hinweis auf die Mutter abwehrt. In beiden Fällen werden gesellschaftliche Verkehrsformen außer Kraft gesetzt. Schillers Ritter realisiert zunächst das ihm zugemutete Rollenspiel, um es desto nachhaltiger aufzuheben und seiner Herzensdame zu zeigen, daß er nicht Spielball ihrer narzißtischen Liebeslaune zu sein gedenkt. Kellers seltsamer Held hebt zunächst das gesellschaftliche Rollenspiel auf, um dahinter eine tiefere Wahrheit aufscheinen zu lassen – die des ehrenden Andenkens an die Mutter und der ehrwürdigen Wertschätzung des Brots. Was als Selbstvergessenheit des Mannes erscheint, erweist sich als ein Selbstbewußtsein, das der gesellschaftlichen Konvention standhält. Ein Selbstbewußtsein, das sich zugleich – mit dem Verweis auf die literarische Tradition – spielerisch auf ein Vorbild stützen kann. Indem Keller die höfische Szenerie Schillers in ein zeitgemäßes Gewand kleidet, entwickelt er ein modernes Gleichnis für das delikate Widerspiel von gesellschaftlicher Sitte und nonkonformer Individualität, die gleichwohl auf eine literarische Tradition zurückweist und an eine uralte Wertschätzung – die des Brots – gemahnt. Der lyrische Erzähler läßt den Schluß ins Offene münden. Er sagt nicht, welche Verwirrung oder welches Befremden in der Tafelrunde durch das unerwartete private Bekenntnis des Brotfahnders und Brotfinders entstanden ist; auch die mögliche Beschämung oder peinliche Kränkung des schönen Fräuleins wird verschwiegen. So entsteht Raum für die Phantasie des Lesers – und für die nachdenkliche Erwägung der bekennenden Schlußsätze des Mannes. Es ist denkbar, daß hier Keller persönlich sich zu Wort meldet. In Berlin, wo die erste Fassung des Gedichts entstand (1854), bedrängten ihn wiederholt Schuldgefühle gegenüber der Mutter, die aufopfernd um seine materielle Lebensfristung besorgt war, ohne daß er ihr durch eine berufliche Stellung oder soziale Wertschätzung dafür hätte danken können. Schuldgefühle dieser Art verfolgten Keller seit langem. Er hat sie im Grünen Heinrich gleichsam ausgearbeitet und dort seinem erfolglosen Helden den Tod der Mutter als Tiefpunkt seines Schuldbewußtseins vor Augen geführt. Eine Spiegelung dieser seelischen Not darf man im Gedicht vermuten. Sie verschafft sich Ausdruck in der Reue, die das ehrende Eingedenken an die Mutter durchdringt. Das Gedicht bezeugt die szenisch-räumliche Gestaltungskraft Kellers. Sie lebt aus einer Antithese von prägnanter Anschaulichkeit. Da ist zunächst die „Schenke“ mit den „verkommenen Gesellen“, ihrem Lachen und dröhnenden Stimmengewirr: ihrem „Geschrei, Fluch und Gezisch“. Der Bodensatz der Gesellschaft vergnügt und streitet sich und labt sich „an des Trankes trüben Wellen“. Mitten in dieser entfesselten Tischrunde ruht ein kostbarer, wohltuender Gegenstand: „In dieser Wüste glänzt‘ ein wei-
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ßes Brot, / Sah man es an, so ward dem Herzen besser“. Der Erzähler setzt den Auftakt zu einem Dingsymbol von leitmotivischer Beharrungskraft. Zuvor aber gerät der Wüsten-Raum in Bewegung und Erregung. Der Held der Geschichte fährt auf der Suche nach dem Stück Brot zu Boden und kämpft sich in den „Finsternissen“ unterm Tisch quer durch ein Gedränge gebogener Knie. Der Raum öffnet plötzlich eine unerwartete schwarze Tiefe, die ihre Tücken hat und mit Fußtritten aufwartet, während über dem Taucher und Fahnder erbostes Geschrei laut wird: „Was, Kerl! hast du verloren?“ Die Szene verknüpft die räumliche Bewegung mit Gesten, Gebärden und Stimmen. So gewinnt sie Leben und Dynamik. In den Kontrast zwischen Schwärze und kostbarem Weiß des Brots mischt sich nun eine dritte Farbe: das Erröten des glücklichen Finders, der, „aus dem dunklen Graus“ emportauchend, sich ob seiner selbstvergessenen und anstößigen Suche schämt, aber auch Scham empfindet ob der unwillkürlichen Bloßlegung seiner Seele, die ein Familiengeheimnis birgt. Mit der Unterschichten-Szene kontrastiert im zweiten Teil der lyrischen Erzählung die von einer höheren Schicht besetzte „Tafelrunde“. „Sonnenlicht“ fällt auf das Tafelsilber, und die Dominanz der hellen vornehmen Farbe feiert ihren Triumph im Brot, das diesmal nicht in einer „Wüste“, sondern in einer Oase erglänzt: „Auch hier lag Brot, weiß wie der Wirtin Hand, Wohlschmeckend in dem Dufte guter Sitten“.
Die räumlich-farbliche und sittenfeine Szenerie wird gleichsam nobilitiert durch eine alliterierende Reihung („weiß wie der Wirtin Hand“) und eine Assonanz („Dufte guter Sitten“). Erneut durchzieht den Raum eine unerwartete Bewegung, als der Mann, „der närrische Gesell“, suchend und spähend einem Stück Brot nachstellt, das der Hand einer Dame entfallen ist. Der lyrische Erzähler feilt sorgfältig an dem Kontrast zum Geschehen in der Schenke, wenn er – anstelle der „in den Finsternissen“ gebogenen derben Männerknie – jetzt die „kleine[n] seid’ne[n] Füßchen“ der anwesenden „Damen“ als Ort der Brotsuche bestimmt. Die „Damen zieh’n die Sessel scheu zurück“, wie es sich ziemt, und die Herren „lächeln“ beherrscht, ohne Zeter und Mordio zu schreien. Bis in Gebärde, Mimik und Redeweise (es werden nur „gewählte Reden“ gesprochen) ziseliert der Erzähler den Kontrast zur ersten Szene. Und der Taucher und glückliche Finder? Tut er wieder ein Gleiches oder schafft auch er einen Kontrast zum vergangenen Geschehen? Er taucht empor und legt das Brötchen hin, Errötend hin auf das damast’ne Linnen.
Die Wiederholung der adverbialen Ortsbestimmung „hin“ verleiht dem „Erröten“ Profil; der assonierende Umlaut „ö“ hebt die enge Nachbar-
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schaft, ja geistige Verwandtschaft von „Brötchen“ und „Erröten“ hervor. Diesmal ist es ein selbstbewußtes Erröten. Es kündet gewiß von der Scham, die der Sucher wegen seines Verstoßes gegen die guten Sitten empfindet, und es rührt gewiß auch von seinem Bewußtseinsblitz her, daß er eine verborgene Saite seines Innern bloßgelegt hat. Doch er bekennt sich offen, ja offensiv sowohl zu seinem Regelverstoß wie zum Geheimnis seines Herzens. Präziser gesagt: Er begründet den Verstoß durch das offengelegte Geheimnis. Zunächst quittiert er das „spöttische“ Lächeln des schönen Fräuleins – der Spott ist Privileg der feinen Leute angesichts eines faux pas – mit sanfter („gelinder“) Höflichkeit und einer makellosen Verbeugung, wodurch er seine vollkommene Beherrschung der guten Manieren zeigt. Der Erzähler legt erneut Wert auf Gestik und Gebärdensprache als belebende Mittel der Szene. Dann – vor dem Hintergrund seiner guten Manieren – wagt der Mann die Offenbarung seines Familiengeheimnisses, das tiefer reicht als jede gesellschaftliche Norm. Und eine innere Wahrheit hervorbringt, die individuelles Handeln gegenüber dem ‚guten Ton‘ legitimiert. Das Stück Brot wird durch unwillkürliche Handlung und bekennende Sprache zu einem Dingsymbol, einem Gegenstand mit mehreren Bedeutungsschichten. Es stellt eine Provokation sowohl der ‚schlechten‘ wie der ‚feinen‘ Gesellschaft dar. Es deutet auf die verborgene Tiefe eines Charakters und auf sein Schuldbewußtsein. Es zeugt vom Widerspiel zwischen Individualität und gesellschaftlicher Norm. Es rückt die Individualität von einer geltenden Sitte ab und rückt sie in eine literarische Tradition, ja in die Nähe einer ehrwürdigen, mythischen Sitte. Und all das geschieht plastisch räumlich und mit sinnlich wahrnehmbaren Farben in zwei kontrastiven Szenen, die durch Bewegung, Gebärde, Mimik und Rede belebt werden und Intensität gewinnen. So wird ein Grundzug der Lyrik Kellers anschaulich: ihre episch darstellende und szenisch pointierte Ästhetik.212 Eine aufschlußreiche Variante des Ineinanderspiels von Allegorik und Gleichnis stellt auch die Nacht im Zeughaus213 dar. Kellers lyrischer Erzähler hält sich zu nächtlicher Stunde in einer Waffenkammer auf, wo allerhand Kriegsgerät, Panzerhemden und Helme ihm die Frage nach dem Verbleib der Helden aufdrängen. Die Antwort ist ebenso schlicht wie erhebend: Tatenfroh sind sie geschieden, Ließen stolz und reich im Sterben Land und Freiheit ihren Erben.
Die Erben jedoch, das zeigt der Fortgang des Gedichts, sind der Ahnen nicht im mindesten würdig. Sie haben deren Hinterlassenschaft veruntreut, so schrecklich und abschreckend veruntreut, daß der Erzähler sie in der Waffenkammer als „grause Larven“ zu sehen vermeint, die ihn an-
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grinsen aus den „Eisenhauben“. „Wie von tausend Fratzgebilden“ sieht sich der Erzähler umstellt, doch entschlossen meistert er seine bedrängende Vision und gliedert sie in verschiedene Gesichte, die allegorischen Charakter haben. Da ist ein altes Weib, das als „des Gerüchtes Blechtrompete“ ihr unsauberes Wesen treibt, „Mißtrau’n“ und „Furcht“ säend. Da ist ein „verwesungsgraue[s]“ Gespenst, das die Verleumdung und ihre heillosen Folgen verkörpert, ferner eine Affengestalt, die den „Bruderneid im Vaterlande“ darstellt und nichts als Eigennutz im Sinn hat; dann sind da einige blindäugige Puppenwesen, die ihrer Egozentrik und ihrem „Eigenruhme“ hörig sind, schließlich „vier geharnischte Gerippe“, die, als „Spielersippe“ auftretend, im Falschspiel „Meister“ sind, in konkreter wie in übertragener Bedeutung. Die blitzartige Kombination von visionärgespenstischen Phantasien und ihrer allegorischen Charakteristik ist es, die Kellers Darstellung des ‚Zeughauses‘ auszeichnet. Die Übertreibung der Figuren ins Groteske im Bunde mit einer unverblümten Moralkritik rückt die nächtliche Szenerie in die Nähe der Gespensterallegorien eines Hieronymus Bosch. Konkrete Details werden ins Überindividuell-Typische überführt, letzteres erhält durch sinnliche Konkreta Anschaulichkeit: Bruderneid auf freier Erde, Der mit knechtischer Gebärde Mürrisch auf der Hofstatt lungert, Nach des Nachbars Äpfeln hungert.
Der Erzähler erweitert die Moralkritik zur Sozialkritik. Die einzelnen allegorischen Gestalten – des Unfriedens, des Eigennutzes, des Sozialneids, der narzißtischen Egozentrik, des Falschspiels und Betrugs – treten zusammen und summieren sich zu einem Gleichnis: dem Gleichnis für die Veruntreuung des von den Vorfahren hinterlassenen nationalen Erbes. Für Einheit und Freiheit haben diese Vorfahren ihr Leben hingegeben – ins Gegenteil haben ihre Nachkommen diese Hinterlassenschaft verkehrt. Noch haben sie sich allerdings nicht zu endgültigen Herren des Landes aufgeschwungen, noch droht ihnen ein politischer Umsturz. Die nächtliche Vision soll das Schreckgespenst im Lande in den düstersten Farben schildern, gleichsam den Teufel an die Wand malen, auf daß die Leser der Katastrophe rechtzeitig entgegentreten. Noch ist die Chance zur Befreiung vom gegenwärtigen Unwesen vorhanden. Als Allegorie eines Befreiungsaktes figuriert der „Zeugwart“. Der für das Zeughaus Beauftragte wandelt sich in der Schlußvision des Gedichts zum „Herr[n] der Stürme, / Der die Felsen bricht und Türme“, zum Urheber von „Ungewittern“, die das Gespenster-Haus „im Grund“ erzittern lassen. Dergestalt schöpft Keller aufs neue aus der politischen Allegorik des Vormärz. Der Morgen, dem sein Erzähler entgegenblickt, wird dementsprechend zum Vorschein
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einer neuen Zeit, die das überlieferte politische und moralische Erbe endlich ‚zu treuen Händen‘ übergibt. Publiziert im Jahre 1873, löste Kellers Gedicht bedrückende Reaktionen aus. Man begegne ihm, schrieb er, mit „tiefem Stillschweigen nebst grimmigen und mißtrauischen Blicken“214 – ein Hinweis darauf, daß Keller die Atmosphäre Zürichs und der Schweiz empfindlich getroffen hatte. Mit seiner öffentlich-politischen Indignation schuf er in Versen ein lyrisches Pendant zu der zeitgleich entstandenen Erzählung Das verlorene Lachen. Man müßte wohl genauer sagen: ein lyrisches Pendant aus epischem Geist und mit dramatischen Stilgesten. Denn Kellers lyrisches Ich ist ein Erzähler, dessen Horizont eine heroische Vergangenheit, eine würdelose Gegenwart und eine bessere Zukunft umgreift, ein Erzähler, der mit ausladend epischer Gebärde Details häuft und Bilder entrollt. Dramatiker aber ist er insofern, als er das Zeughaus wie eine Theaterbühne entwirft, bestückt mit phantastischen Figuren und Figurenkonstellationen. Und dramatisch verfährt er auch, wenn er seiner Haupthandlung eine Exposition vorausschickt, die in die Vergangenheit zurückleuchtet, und ihr einen Epilog nachschickt, der in die Zukunft vorausleuchtet. Schließlich die Haupthandlung selbst: Fünf Akte bzw. Szenen besitzt sie, wie ein klassisches Drama, von dem sie ein substantielles Element borgt – die Katastrophe. Dem Epilog wird dann, erneut wie im klassischen Drama, die Reinigung vom katastrophischen Wesen zugedacht: die Katharsis. Nicht nur alle Register der poetischen Gattungen zieht Keller, er greift ebenso mutwillig in die Rüstkammer des Bilderschatzes. Von dem „alte[n] Weib“, der Allegorie des Unfriedens, war schon die Rede. Dieses Weib stellt aber noch anderes dar, in Kellers Metaphorik gemahnt es an die antiken, den Lebensfaden spinnenden Schicksalsgöttinnen und an die uralte Pandora mit ihrer unheilvollen Büchse: In der Schürze einen Knäuel Birgt es von verworrnem Gräuel, Brandraketen, Schwefelschnüre: Mißtrau’n, Furcht und Zeugenschwüre.
Der antike Fadenknäuel und Pandoras Büchse werden umgebildet zu konkreten Kriegsinstrumenten, die wiederum metaphorisch auf moralisches Unheil verweisen. Solche Umschläge von einer überlieferten Metaphorik in konkret Dingliches und vom konkreten Bild in zeitbezogene Metaphern, alles eingefaßt in den Rahmen einer Allegorie, zeugen von Kellers Lust am vielfältigen Bildergebrauch, wozu auch seine Vergleiche gehören. Die Bilderwelt ihrerseits wird auf den unterschiedlichsten Stilebenen entfaltet; neben der schon zitierten des politischen Vormärz fällt etwa die Bildlichkeit des volkstümlichen Bänkelsangs auf –
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Eine Brille auf der Nase, Eulenhaft, von blindem Glase, Lauert es und spioniert es, Keift und schreit und peroriert es.
Dazu gesellt sich eine barocke Todesvision, die eindringlich demonstriert, daß gewisse Zeitgenossen zweifach im Bann des Todes stehen: als solche, die ihn überall verbreiten, und als solche, die ihr Lebensrecht längst verwirkt haben: Seht die dürre Spielersippe: Vier geharnischte Gerippe, Mit der Klapperfaust, der harten, Hau’n sie auf den Tisch die Karten! Ihre Sanduhr ist zerbrochen, Fort doch spielen diese Knochen, […].
Indem Kellers Gedicht Anleihen bei verschiedenen Gattungen macht, indem es unterschiedliche Bilder und Stile mischt, wird es zuletzt zu einem ästhetischen Gleichnis: dem Gleichnis für das Experiment mit heterogenen Formen, für die kalkulierte Organisation eines Textes aus disparaten Materialien.
VII. Genrebilder. Idyllen und Anti-Idyllen Malerei und Belletristik kennen einen bestimmten Vorrat an Bildern, die ihren Betrachtern vertraut anmuten, als wären sie ihnen im wirklichen Leben schon begegnet. Einen Wirklichkeitsausschnitt so darzustellen, daß er uns wie eine typische Situation oder ein typischer Vorgang der uns bekannten Welt erscheint – darin erblicken wir beispielsweise einen Grundzug der klassischen holländischen Genremalerei. Im künstlerischen und literarischen Biedermeier sind Genrebilder besonders populär, nicht zuletzt deshalb, weil sie mit ihrem Detailrealismus einem Charakteristikum der Epoche entsprechen. Die dargestellten Situationen oder Vorgänge haben szenischen Charakter. So trifft man etwa bei Ferdinand Waldmüller und Moritz Schwind wiederholt auf Familienszenen, und das geschlossene Gruppenbild oder auch die überschaubare Gruppierung mehrerer Objekte macht einen Grundzug der Gattung anschaulich. Das abgeschlossene und abgerundete Bild ist nun keineswegs objektiv im Sinne einer nüchternen Widerspiegelung der Realität, vielmehr spiegelt es Stimmung und Standort des malenden oder dichtenden Subjekts wider. Die Familienszenen lassen stets auch die verklärende und harmonisierende Familien-Perspektive der Maler und Schriftsteller erkennen: der Liebreiz der dargestellten Kinder ist ebenso auffällig wie Fürsorglichkeit und Zärtlichkeit der Mutter und die vertrauenswürdige Stattlichkeit des pater familias. Die Realität wird atmosphärisch verdichtet und stilvoll arrangiert im Gruppenbild dargeboten und dieses Arrangement der zeichnenden oder schreibenden Hand ist für das Genrebild kennzeichnend. Es handelt sich um eine subjektive Inszenierung von Wirklichkeitsbildern, die auf den Betrachter und sein mitempfindendes ‚Gemüt‘ ebenso zielt wie auf sein Wirklichkeitsgedächtnis. Doch ist der Zielpunkt keineswegs nur eine idyllische Atmosphäre und ein harmonisches Stimmungsbild, wie man sie auf biedermeierlichen Familienszenen vorfinden kann. Eine derartige Monokultur im Genrebild wird lediglich von literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerken behauptet. Das Genrebild reicht vom Idyllischen zur Humoreske und zum sentimentalen Melodram, es kann ebenso Medium der Komik wie der Satire und des Tragischen sein und aristokratischen Müßiggang ebenso umfassen wie bürgerliche Häuslichkeit und die Arbeitswelt der Unterschichten. Der italienische Maler Pietro Longhi (1701–1785) hat diese Spannweite der Gattung einprägsam demonstriert. Bestimmte Genrebilder – wie etwa das
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familiale Gruppenarrangement – bezeugen ihre Popularität durch Reproduktionen und endlose Variationen. Sie drängen sich nolens volens den Angehörigen einer Kulturepoche auf und dringen in ihre Vorstellungskraft ein, wie dies Dolf Sternberger an einem konkreten Beispiel gezeigt hat: Die Welt der menschlichen Beziehungen im späten bürgerlichen 19. Jahrhundert ist wie ein Getümmel von Genreszenen. Güte und Bosheit, Schönheit und inneres Leiden, Unschuld und Grausamkeit werden im Unmaß auf allen Gassen angetroffen, beweint, beseufzt und verflucht. Niemand vermochte etwa ‚Mutterliebe‘ zu denken, ohne im Geist die Mutter vor sich zu sehen, die soeben im Begriffe steht, ihr Kind vor irgendeinem rohen Zugriff zu schützen, oder die soeben durch harte Fäuste von der Wiege ihres Kindes hinweggerissen wird, indem sie noch einen letzten schmerzerfüllten Blick dorthin zurücksendet. […] Die ausgestreckten Ärmchen jenes Kindes und der schmerzerfüllte Blick jener Mutter aber streben nicht so sehr zueinander als zu dem stets gegenwärtigen Beschauer hin: sein Mitleid, das doch die vorgestellte Grausamkeit braucht, um in Gang zu kommen, sein Interesse ist es, was diese Wunden heilen soll.215
Indem gewisse Genrebilder dergestalt unsere Vorstellungen und Begriffe von bestimmten Phänomenen mitprägen, enthüllen sie ihr Doppelgesicht. Sie senken sich einerseits in unser Innenleben ein und gehören zu dessen Grundausstattung, andererseits durchgeistern sie unsere Vorstellung von Realität und Welt. Sie bilden das Inventar unseres ‚Gemüts‘ und wirken von dorther auf unsere Wirklichkeitsauffassung ein. Am populären Genrebild wird darüber hinaus etwas vom Schicksal des Kunstwerks „im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ (W. Benjamin) anschaulich. Populär und tausendfach reproduzierbar wird das Genrebild in dem Maße, wie es auch tragisches Geschehen in abgemilderter und abgedämpfter Form darbietet. Zeigte es die Tragik menschlicher Verhältnisse schroff und provozierend, so würde es nur wenigen zugänglich sein. Massenhaft konsumierbar wird es, wenn es den seinem Inhalt immanenten Schrecken glättet oder wenn dieser durch die unaufhörliche Vervielfachung, Besprechung und Ausstellung gefiltert, wenn er durch das In-Aller-Munde-Sein zur touristischen Attraktion aufbereitet wird. Auch dafür hat Sternberger ein illustratives Beispiel zitiert: Wie viele Sklavenmärkte zu Kairo und anderswo, gemalte, beschriebene und bloß gedachte, riefen – Genreszenen, die sie waren – mit den angstvollen Glutaugen bräunlicher Sklavinnen nach begierigem Mitleid, mit den rohen und zynischen Mienen der Händler und Käufer nach dem sprungbereiten Abscheu der Betrachter. Denn hier sind süße Leiden und kalte Grausamkeit, sind sinnliches Mitleid und humane Empörung unzertrennlich.216
In der Rührung des Betrachters finden diese Genrebilder ihre Erfüllung: in seinem genußreichen Mitgefühl und seinem mitfühlenden Genuß. Es geht nicht so sehr um den Grund und Hintergrund der dargestellten Schicksale – um die Inhumanität der sozialen Verhältnisse, die Sklaverei ermöglichen : es geht vielmehr um den Selbstgenuß des Betrachters, der
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in der Anschauung des Melodrams eine lebhafte Resonanz in seinem Innern verspürt, lebhaft bis zur Erschütterung und doch folgenlos. Die üppigen Wellenschläge im Innenleben des Betrachters, erzeugt durch das Genrebild, und das Verebben sozialer Empathie außerhalb des Bildes, sind einander einträchtig zugesellt. Keller hat von der Epoche des Biedermeier, in die seine kulturelle Sozialisation fällt, die Neigung für das Genrebild ererbt. An seiner betriebsamen Inflation in der Epoche des Bürgerlichen Realismus hat er sich freilich nicht beteiligt. Charakteristisch für seine Lyrik ist vielmehr ein Doppelaspekt: das variable Spiel mit dem Genrebild und seine pointierte Verfremdung. Wir zeigen Kellers Variationsreichtum in drei Abschnitten auf: 1. er spiegelt im Genrebild das Verhältnis zwischen Mensch und Natur nach verschiedenen Seiten hin; 2. er nutzt es ferner für politische und religionskritische Zeitbezüge, die sich in einem 3. Abschnitt verknüpfen lassen. Im Bunde mit den thematischen Gesichtspunkten bringen wir Kellers Formenreichtum zur Sprache, in diesem Fall seine verschiedenen Verfremdungsarten des Genrebilds. Um sie einprägsam zu erfassen, gehen wir von einem Idealtypus der Gattung aus: Kellers Gedicht Am Brunnen, dieser Verdichtung und Verklärung genrebildlicher Grundzüge. Danach gelangen die ästhetischen Verfremdungen und Brechungen des Genrebilds zur Sprache: seine Verwandlung zum vieldeutigen religionskritischen Rätsel (Abend auf Golgatha) und zum aktuellen Politikum (Frühgesicht).
1. Mensch und Natur Den Auftakt zu unserer Interpretationsreihe bildet ein Gedicht, das einige genrebildliche Gattungszüge besonders auffällig exponiert. Es ist erstmals 1848 in einem Jahrbuch unter dem Titel Wasser erschienen. Keller hat es in seinen Neueren Gedichten von 1854 wiederabgedruckt217 und es 1888 mit leichten Veränderungen in die Gesammelten Gedichte übernommen, nun unter der Überschrift Am Brunnen (Text siehe Anmerkung).218 Der Titel-Wechsel von Wasser zu Am Brunnen akzentuiert den genrebildlichen Grundzug. Anstelle des unbestimmten und unbegrenzten Elements der begrenzte, umrahmte Wasserort! Das Genrebild fokussiert mit Vorliebe den Blick auf eine zentrale Stelle, gleichsam eine archimedische Mitte. Um diese ist hier, auch das ein Charakteristikum des Genrebilds, eine kleine Welt gruppiert: der Brunnen mit seiner Quelle, ein Apfelbaum und ein aufblühendes Mädchen, halb Kind noch, halb Frau schon. Dieses Gruppenbild mit Kindfrau entwickelt sich zur reinsten Idylle – auch zu dieser Gattung unterhält das Genrebild bekanntlich gute Nachbarschaft. Der Wanderer, als welcher das lyrische Ich hier auftritt, hat die kleine Gruppe
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wie im Vorübergehen erblickt, unwillkürlich, in einem besonderen Augenblick seiner „stille[n] Morgenfahrt“. Das schützt die Idylle vor jener Statik, die bereits Schiller als die ihr eigentümliche Gefahr beschrieben hatte (in seiner Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung). Vermehrte Bewegung verschafft der Wanderer seinem Gruppenbild, indem er es seinerseits auf Wanderschaft schickt, lautlich und bildlich. Im Mund des Mädchens hört er das „Lied“ der Quelle weiterklingen, wie umgekehrt in diesem Lied der Seelenklang des Mädchens fortzutönen scheint. Keller hat diesem Wechselgesang in seiner dritten Strophe die einprägsame Gestalt eines Chiasmus gegeben. Die Verbindung von „Lied“ und „Quelle“ kehrt spiegelbildlich verkehrt als „Brunnen“ und Seelenmelodie wieder: Es ist, als käm‘ aus deinem Mund Das Lied, das dort die Quelle singt, Es ist, als tät der Brunnen kund, Was tief in deiner Seele klingt!
Der das Mädchen und den Brunnen umwehende Apfelbaum setzt die lautliche Bewegung bildlich fort. Keller hat, im Unterschied zur Erstfassung, dieses Ereignis expressis verbis Bild, Genrebild werden lassen: Und wie der weiße Apfelbaum Mit seinen Zweigen euch umweht, Dies Bild, zart wie ein Morgentraum, Ist ein geschautes Frühgebet!
Das ist reinste Naturfrömmigkeit. Im bildlich-lautlichen Dreiklang von Brunnen, Baum und Frau sieht das lyrische Ich, wie „Natur […] sich lächelnd offenbart“ und sich ihm einen Augenblick lang mitteilt: in Gestalt eines Trunks, den ihm die junge Frau aus dem Quell schöpft, in dem ihr eigenes Wesen ertönt. Es ist ein Augenblick des Glücks. Metaphorisch ist es zugegen im schönen „Kleeblatt“, das die geschaute Gruppe bildet. Auch die Zeit der lyrischen Betrachtung ist dem Glück günstig – es ist der reine, vom Tagesverlauf noch unberührte Morgen, dreimal gegenwärtig im strahlenden „Morgenschein“, in „stille[r] Morgenfahrt“ und im zarten „Morgentraum“. Keller hat sein Genrebild nicht in einer Schwebe belassen, in der die Verheißung des Glücks fortschwingen könnte. Er hat es vielmehr ins Konkrete und Häusliche gewendet, in die „Arbeit“ und die eheliche Zukunft des Mädchens. So erhält das pastellfarbene Glücksversprechen am Ende einen bürgerlichen Akzent. Hat Keller seinem idyllischen Entwurf mißtraut und ihn als zu ätherisch, zu wenig erdnah empfunden? Als allzu flüchtig? Sein Realitätssinn, der luftige Höhen scheut, phantasiert zur Idylle des blühenden Mädchens den „bravsten Burschen hie zu Land“, als Ehemann. Das Wunschbild verlangt nach einer festen Prägung. Die für das Genrebild typische Situation wird in einer Vision des Dauerglücks
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verstetigt. Die Poesie macht sich den bürgerlichen Realismus dienstbar und erweitert das idyllische Terzett zum visionär geschauten Quartett. Und das schöne Quartett zu einem Quintett dank des menschenfreundlichen Beistands des Wanderers, des lyrischen Ichs. Der Wanderer ist es, der einem Ehemann in spe das Liebesprivileg einräumt. Großzügig dankt er der Stunde, die ihm die momentane Anschauung des Glücks gewährt, indem er anderen ein Glück für das ganze Leben wünscht. Mit seinem „Segen“ überhöht er spielerisch, wie durch einen Gnadenakt, das übliche Genrebild. Er verschränkt zwei extreme Möglichkeiten der Gattung: ätherisches Idyllen- und bodenständiges Eheglück. Und er nobilitiert die Szene obendrein durch seine Großmut. Keller überbietet das gewohnte Genrebild, indem er alle Möglichkeiten der Verklärung ausschöpft und einen Idealtypus schafft. Ins extreme, negative Gegenteil verkehrt Keller die Gattung im Gedicht Aroleid.219 Kein schrofferer Gegensatz läßt sich denken als der zwischen dem harmonischen Natur-Verhältnis, in das die junge Frau, der Brunnen und der Baum zueinander treten, und der Natur als tödlicher Feindin des Menschen in Aroleid. Ausgerechnet die Schweizer Alpen, seit fast anderthalb Jahrhunderten durch ihre heroische Idyllik bekannt, von Schriftstellern wie Albrecht Ludwig Haller als die Stätte einer noch unschuldigen, integren Menschheit dargestellt, in Reisebeschreibungen hochgeschätzt als der erhabene Lebensraum eines freien Bergvolks – ausgerechnet diese Landschaft wird zum Schauplatz bedrückender Naturwillkür. Den Stoff für dieses Gedicht entnahm Keller den Walliser-Sagen220, die vom Raub eines kleinen Kinds durch einen Ari (Geier oder Adler) erzählen. Er ergänzte die Sage durch eine eigene Erfindung – den vom Raubvogel verursachten Absturz eines Hirten, des Vaters des Kindes, vom „steilen Firnenrand“ in den tödlichen Abgrund, am selben Tag zur selben Stunde. Kellers kompositorische Kunst zeigt sich in der Verklammerung der beiden Vorgänge. Während die Frau des Hirten, Zeugin seines Sturzes, in „irrem Lauf“ sich zur Stelle des Todes begeben will, ergreift der Aar das im Freien gelegene Kind und braust mit ihm davon in entlegene Höhen. Zweimal hat die Natur in Windeseile tödlich in das Leben der Menschen eingegriffen. Keller macht mit dem ‚Doppelmord‘ eine der Natur eingeborene Unheimlichkeit sichtbar. Während das traditionelle Genrebild Natur und Kreatur als dem Menschen vertraute und wohlgesinnte Mächte darstellt, läßt Keller sie als seine zerstörerischen Gegenspieler hervortreten. Keller zitiert nurmehr die überlieferte genrebildliche Topographie – „auf grüner Matte“, „im Dämmerblau“, „des Gipfels Silberau“, „in der krystall’nen Luft“, „im ferneblauen Duft“ -, um sie in eine Stätte des Grauens zu verwandeln.
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Kellers genrebildliche Verfremdungstechnik umspannt die extremen Pole der Naturidylle und der Natur als Zerstörerin. Das bezeugt seinen thematischen und ästhetischen Variationsreichtum. Eine Art Ausgleich der Extreme stellt Sommernacht dar. Das Gedicht führt in eine nachromantische Idylle das Phänomen der Arbeit und der sozialen Selbstbindung ein. So entsteht ein Genrebild des Poetischen Realismus, in dem jedoch eine verstörende Dissonanz mitschwingt. Sommernacht Es wallt das Korn weit in die Runde Und wie ein Meer dehnt es sich aus; Doch liegt auf seinem stillen Grunde Nicht Seegewürm, noch andrer Graus: Da träumen Blumen nur von Kränzen Und trinken der Gestirne Schein. O goldnes Meer, dein friedlich Glänzen Saugt meine Seele gierig ein! In meiner Heimat grünen Talen, Da herrscht ein alter schöner Brauch; Wann hell die Sommersterne strahlen, Der Glühwurm schimmert durch den Strauch: Dann geht ein Flüstern und ein Winken, Das sich dem Ährenfelde naht, Da geht ein nächtlich Silberblinken Von Sicheln durch die goldne Saat. Das sind die Bursche, jung und wacker, Die sammeln sich im Feld zu Hauf Und suchen den gereiften Acker Der Witwe oder Waise auf, Die keines Vaters, keiner Brüder Und keines Knechtes Hülfe weiß – Ihr schneiden sie den Segen nieder, Die reinste Lust ziert ihren Fleiß. Schon sind die Garben fest gebunden Und schön in einen Kranz gebracht; Wie lieblich floh’n die stillen Stunden, Es war ein Spiel in kühler Nacht! Nun wird geschwärmt und hell gesungen Im Garbenkreis, bis Morgenduft Die nimmermüden, braunen Jungen Zur eignen schweren Arbeit ruft.221
Das Gedicht entfaltet in den ersten beiden Strophen die Idylle einer Sommernacht, in der ein „alter schöner Brauch“ zum Tragen kommt. Mit feinem Gespür für die Erweckung der Aufmerksamkeit des Lesers nennt das lyrische Ich den Brauch nicht sogleich beim Namen, es läßt ihn vielmehr geheimnisvoll anklingen durch „ein Flüstern und ein Winken“ und
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durch das Farbenspiel des „nächtlich[en] Silberblinken[s] von Sicheln“, wobei der optische Glanz Musikalität gewinnt dank des stabreimenden s, der i-Assonanz und des wiederholten l-Lauts. Was mag das für ein Brauch sein, der ein so vielversprechendes Vorspiel aufweist? Die dritte Strophe löst das Rätsel. Armen Witwen oder Waisen pflegt man im Sommer zu helfen, indem kräftige Burschen aus der Nachbarschaft zu nächtlicher Stunde ihre Felder mähen222, eine soziale Selbstverpflichtung, von der Pestalozzis Lienhard und Gertrud am Ende des ersten Bands erzählt.223 Das lyrische Ich Kellers verbindet diese Selbstverpflichtung mit den Begriffen der „Lust“ und des „Spiels“. Erhält sie damit den schönen Schein der Poesie, den schon die nächtliche Naturidylle ausstrahlt? Wird die Realität der sozialen Solidarität in der verklärenden Erinnerung des Dichters romantisiert? Sehen wir näher zu. Einen aufschlußreichen Zugang zu Kellers Sommernacht eröffnet die literarhistorische Perspektive. Der Titel des Gedichts ist so prononciert romantisch, daß er an Eichendorffs Sehnsucht mit dem wohlbekannten Refrain „In der prächtigen Sommernacht“ unwillkürlich gemahnt. „Es schienen so golden die Sterne, / Am Fenster ich einsam stand“ – so beginnt Eichendorffs Gedicht, und an diesen Anfang erinnert Kellers Bild von den hell strahlenden „Sommersterne[n]“, erinnert aber auch der Standort des lyrischen Ichs, das aus beobachtender Anteilnahme, nicht als Teilnehmer, den nächtlichen Vorgang bespricht. Eichendorff hat solche Anteilnahme in die Worte gefaßt: „Das Herz mir im Leibe entbrennte“ – und damit das psychische Präludium zu Keller geschaffen: „dein friedlich Glänzen / Saugt meine Seele gierig ein!“ Dieser Glanz stammt bei Keller von der „Gestirne Schein“, in auffälliger Analogie zu Eichendorff, der den „golden[en]“ Schein der „Sterne“ und den „Mondenschein“ beschworen hatte. Und wer möchte nicht ein weiteres Eichendorff-Gedicht assoziieren, sein vielleicht berühmtestes, Mondnacht überschrieben? Dort träumt die Erde im „Blütenschimmer“ vom Himmel, und „sacht“ wogen die „Ähren“; analog dazu läßt Keller die Blumen „träumen“ und der „Gestirne Schein“ „trinken“, läßt er das „Ährenfeld[]„ ‚wallen‘. Es scheint nachgerade, als würde Keller die Sommer- und die Mondnacht Eichendorffs nachbilden, indem er ihren unendlichen Raum an die heimatliche Nähe anschmiegt, ihn heimholt und vertraut macht. Keller, so scheint es, erschafft aus tradiertem romantischen Bildgut ein nachromantisches Stimmungsbild: eine genrebildliche, mit den vertrauten Zeichen einer Sommernacht ausgestattete Szenerie. Doch dies ist nur teilweise so. Das „nächtlich[e] Silberblinken […] durch die goldne Saat“ rührt von „Sicheln“ her, Arbeitsgeräten, die das romantische Licht der „Sommersterne“ auffangen und seinen Glanz
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verbreiten, weil junge Männer sie nach einem alten Brauch durchaus prosaisch zum Kornschneiden für Witwen und Waisen verwenden. Gewiß, „junge Gesellen“ treten auch in Eichendorffs Sehnsucht auf, aber als singende Wanderer, die in die Ferne ziehen, und als Lautenspieler, die vor „Palästen im Mondenschein“ jungen Damen verzaubernde Lieder zu Gehör bringen. Welchen Unterschied markiert dazu Keller, der seine „Gesellen“ anstelle der romantischen Freiheit des Wanderns und der erotischen Muse ein nächtliches Handwerk ausüben läßt! Und anstelle lauschender Schloßfräulein hilfsbedürftige Witwen und Waisen heraufbeschwört. Kellers dritte Strophe verfremdet das nachromantische Stimmungsbild, indem sie es in Arbeit und karitative Bürgerlichkeit überführt.224 Es handelt sich freilich nur um den Ansatz einer Verfremdung. Zwar stehen Arbeitsgerät, Arbeits-“Fleiß“ und Arbeitszweck zweifellos im Dienst einer sozialen Realität, aber das Gedicht verleiht auch der Arbeit romantischen Zauber, wenn die letzte Strophe sie als „ein Spiel in kühler Nacht“ deutet und sie durch Gesang und Schwärmerei im „Garbenkreis“ krönt, also ein Nach-Spiel zur romantischen Epoche verfaßt. Mit dieser Verbindung von sozialer Realität und nachromantischer Poesie enthüllt sich die nächtliche Szenerie als eine Bildersequenz des Poetischen Realismus (wie Kellers Epoche ja lange Zeit genannt wurde). Dabei wird das in Strophe 1 entworfene Genrebild fortgeführt; einer vertrauten Situation, der im nächtlichen Glanz sich ausbreitenden Sommerlandschaft, wird eine idyllische Personengruppe zugesellt: eine Gruppe, die von spielerischer Arbeit zu gemeinschaftlicher musischer Entspannung im „Garbenkreis“ übergeht. Das musisch-genrebildliche Intermezzo freilich ist streng befristet und währt nur solange, „bis Morgenduft / Die nimmermüden, braunen Jungen / Zur eignen schweren Arbeit ruft.“ Mit dieser Pointe – sie ist mit ihrer Prägnanz und ihrem überraschenden Ausblick eine typisch Keller’sche Schlußpointe – kommt das Gedicht im Bürgerlichen Realismus an, wo Spiel und Muse in bürgerlich „schwere Arbeit“ münden. Die beiden alternativen Epochenbegriffe werden von Kellers Sommernacht fast in einem Atemzug anschaulich exponiert. Das thematisch bedeutende und literaturgeschichtlich aufschlußreiche Gedicht enthält gleichwohl eine verstörende, die Stimmung störende Spur.225 Der junge Keller bezweifelt offenbar seinen eigenen poetischen Schwung, wenn er gleich anfangs den Vergleich des wallenden Ährenfelds mit dem Meer entzaubert und unnötigerweise an „Seegewürm“ und andren „Graus“ denkt. Unnötigerweise? Es scheint, als würde Keller dem schönen, allzu schönen Bild eines „goldnen Meer[s]“ unabsichtlich mißtrauen, ebenso den im Gestirnenlicht so idyllisch träumenden „Blumen“, und als würde er im „Graus“ ein reales Grauen mitschwingen las-
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sen: das Schicksal der Armen und Verarmten und die Notwendigkeit der „schweren Arbeit“. Im „Seegewürm“ und andrem „Graus“, diesen unpoetischen Stimmungsstörern, deutet die Sommernacht ein beunruhigendes Doppelantlitz an, eine soziale Physiognomie hinter ihrem „friedlich Glänzen“ und ihrer „goldne[n] Saat“. Das lyrische Ich sucht diesen Eingriff der Realität in die sommernächtliche Spätromantik offenbar zu überspielen, wie das „gierig[e]“ ‚Saugen‘ der Seele verrät; doch diese ‚Gier‘ bildet wiederum einen Mißklang zum „friedlich[en] Glänzen“ des Meers und zu den träumenden Blumen im Licht der „Gestirne“. Auch wenn vom „Seegewürm“ und „andere[m] Graus“ grammatikalisch in der Verneinungsform die Rede ist, so bleibt die häßliche Metapher doch hintergründig präsent und schwingt in diesem Mißklang nach. Der Entwurf des Genrebilds erhält gleich anfangs einen realitätsnahen Dämpfer. Gerade die unabsichtlichen ‚Kunstfehler‘ Kellers können ein Wahrzeichen seiner Lyrik sein: ein die ganze Wahrheit preisgebendes Zeichen. Entfaltet Keller Am Brunnen eine innige Korrespondenz zwischen einem einzelnen Menschen und der Landschaft, so in Aroleid die Zerstörung dieser Korrespondenz. Sommernacht skizziert, über das Individuum hinausgreifend, inmitten einer schönen, fruchtbaren Landschaft eine Sozialidylle, ohne eine leise Dissonanz zu verschweigen. Eine vierte Variante des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur entwirft Kellers Feuer-Idylle226. In die sommerliche Landschaft bricht eine zerstörerische Gewalt ein (wie in Aroleid), die jedoch reinigende Energie besitzt und die Menschen – analog zur Erneuerungskraft der Natur – zu kreativem Schaffen aufruft. An verschiedenen Genrebildern in dem großen, zehnteiligen Gedicht erprobt Keller dabei seine vielfältige Verfremdungskunst. Das Gedicht ist auf den „Mai 1845“ datiert und wurde – laut Kellers erstem Biographen Jakob Baechtold – veranlaßt durch eine veritable Feuersbrunst.227 Dem entspricht der Auftakt: Laut stürmt der Schall der Glocken durch die Nacht, Und Schüsse dröhnen von des Berges Wacht; In allen Gassen tönt’s: es brennt! es brennt! Und Jeder angstvoll an sein Fenster rennt.
Die folgenden Strophen entschärfen jedoch den allgemeinen Schrecken. An seine Stelle tritt, befremdlich für den Leser, eine „Neugier“, die sich jetzt, mitten in der Nacht, „ungehemmt“ einem „willkomm’nen Schauspiel“ zuwendet und ein ganzes Dorf in Bewegung versetzt: Eng zwischen Gärten ganz im Frühlingsflor Zu Feuers Hofstatt führt der Weg empor.
Das Befremden des Lesers mildert sich, sobald er sich bewußt wird, daß der Erzähler hier die typische Haltung des Publikums angesichts einer
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Katastrophe aufgreift. Eine Feuersbrunst ist zu Kellers Zeit ein nicht gerade seltenes Ereignis und die damals beschränkten Vorkehrungen zu seiner Verhütung wie auch der technisch unterentwickelte Einsatz bei seinem Ausbruch führten dazu, daß niemand sein Haus gegen einen verheerenden Brand mit Sicherheit geschützt sah. Die Erzählungen von einer Feuersbrunst im Nachbardorf oder der selbsterlebte Ausbruch eines Hausbrands in der Nachbarschaft fügten sich in der Erinnerung zu einem ‚schrecklich schönen‘ Bilderinventar, Angst und Faszination zugleich auslösend. Wer vor der Katastrophe verschont blieb, konnte sein Erschrecken in den Impuls zur Hilfsbereitschaft umwandeln, falls er es nicht erleichtert in das Erlebnis des farbenprächtigen Schauspiels überführte, das ihm vom genußreichen Mitgefühl bis zum schadenfrohen Erschaudern eine ganze Palette an Stimmungen anbot. Diese Beziehung zwischen spektakulärer Katastrophe und miterlebendem Publikum bildete eine Art Genreszene im Bildgedächtnis der Zeitgenossen228. Um die ironische Nachzeichnung einer solchen massenhaft verbreiteten Szene geht es dem Erzähler gleich anfangs. Die typischen Reaktionen hält er wie folgt fest: Der erste Blick: ist es in unserm Haus? Der zweite mindert schon den Schreck und Graus, Wenn weit, o weit die „furchtbar schöne“ Glut Behaglich dort am fernen Himmel ruht. […] Und manchem ehrlichen Philister bangt, Es könnte enden, eh‘ er angelangt; Auch der Poet, er watschelt mit hinaus Und sendet seinen Kennerblick voraus.
Damit der Erzähler nicht seinerseits in den Verdacht kommt, der Zerstörung eines Anwesens mit genußvoller Mitleidlosigkeit beizuwohnen, trifft er eine doppelte Vorsorge. „Kein Nachbarhaus“ sei „gefährdet weit und breit“, und außerdem gehöre das brennende Anwesen einem „reichen Bauersmann“, der sein Lebtag schaffend und raffend, „liebeleer“ und „gierig“ Vermögen angehäuft und sein Besitztum jeglicher baulichen Sicherung und Erneuerung entzogen habe. In genrebildlichen Bruchstücken wird an „manche arme Witwe“ und manchen hungernden Bettler erinnert, die der Bauer mit Bibelsprüchen zynisch abgewiesen habe, wofür er jetzt bestraft werde (Teil II und IV). Mit lehrbuchhafter Didaxe leuchtet der Erzähler dem Bauern moralisch heim. Das erneuert das Befremden des Lesers – und die kreuzbrave Wiederkehr der fünfhebigen Jamben Strophe für Strophe verstärkt es nur. Doch die schulbuchmäßige Moral ist – wie eine Wiederlektüre zeigt – in eine tiefere geistige Schicht eingebettet. Der Brand richtet erstens Zerstörenswertes zugrunde: den Reichtum eines Bauern, dessen Ungeist lange genug sein Wesen getrieben hat. Er wendet sich zweitens in einem übertragenen Sinn gegen eine politisch veraltete
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Herrschaft. Und er ist drittens Sinnbild für die Erneuerung des Lebens insgesamt. Das Niederreißen des Überlebten mündet in den Entwurf einer neuen Zeit und konvergiert zugleich mit der naturhaft zyklischen Wiederkehr neuen Lebens. Dennoch kann der Leser einen bestimmten Verdacht nicht von vornherein abstreifen. Wer eine „Feuer-Idylle“ programmatisch zum Thema eines Gedichts erhebt – muß der nicht wenigstens zeitweilig ein Phänomen ästhetisieren, das mit verheerenden Folgen für die betroffenen Menschen verbunden ist? Wo bliebe sonst die „Idylle“? Treten wir der Frage näher und vergegenwärtigen wir uns die Anfänge des Gedichts (I. Teil): Es ist die allerschönste Maiennacht, Von Gold durchwirkt, tiefblau der Himmel lacht […].
Aus ihrem Kontext gelöst, ließen sich die Verse in die spätromantische Darstellung einer Frühlingsnacht einschreiben. In Kellers Gedicht haftet dem Gold jedoch etwas erschreckend Schönes an. Es ist der Widerschein eines gewaltigen Brandes, der vom Erzähler mit faszinierter Hingabe widergespiegelt wird: Da wallt vom Berg mit ungebrochnem Lauf Die rote Lohe hell zum Himmel auf; Von Feuerlilien ein gewalt’ger Strauß, So blüht und glüht das große Bauernhaus.
Ein farbenprächtiges Gemälde, voller Leuchtkraft und Dynamik, das die Erde und den Himmel durch die kosmischen Ausmaße des Feuers umspannt und gleichzeitig in die Ästhetik eines „gewalt’gen Strauß[es]“ von „Feuerlilien“ bannt. Ist in der Lyrik und Erzählkunst zwischen 1830 und 1880 die Droste eine hochempfindliche und artistische Darstellerin impressionistischer Lichteffekte229, entwickelt Mörike eine unübertroffene Meisterschaft im Mischen von Farben und in der Wiedergabe ihres Ineinanderspiels, so ist Keller ein Virtuose in der Gestaltung des von Sonne oder Feuer ausgestrahlten Lichts und seiner Reflexe.230 Eine quasi filmische, präziser: filmische Effekte vorwegnehmende Perspektivik befähigt ihn als Erzähler des Don Correa im Sinngedicht zur unheimlich leuchtenden Komposition eines verzehrenden Feuers über einem einsam gelegenen Haus.231 Diesem expressionistischen Kabinettstück präludiert seine FeuerIdylle. Sie bildet vordergründig eine Genre-Szene ab, wenn man sich das Publikum vergegenwärtigt, das die „‚furchtbar schöne‘“ Glut als eine „behaglich […] am fernen Himmel“ ruhende wahrnimmt und dem „willkomm’nen Schauspiel“ zueilt. Hintergründig jedoch sprengt sie dank der vom Erzähler poetisch stilisierten Grandiosität des Feuers alles Idyllische und gemütvoll Genreartige. Das mag unter anderem am VI. Teil ermessen werden. Der dort „in voller Blüte“ gezeichnete Apfelbaum ist zunächst
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„verklärt vom blendend roten Schein“ und scheint erfreut ob des eigenen „helle[n] Glanz[es]“. Doch das erweist sich in der Tat als genrehafter idyllischer Schein. „Des Feuers heißen Hauch“ einatmend, muß der Baum seine Krone dem „schwarze[n] Rauch“ aussetzen, ehe er seine Zerstörung erlebt: Da plötzlich langt herüber aus dem Brand In seine Äste tief die Flammenhand, Zu Kohlen brennt der schöne Blütenbaum – Hin ist ein dichterlicher Lebenstraum!
Die destruktive Kraft des Feuers entfaltet sich allerdings im (Vor-)Zeichen eines neuen Lebens. Seine utopische Verheißung umspannt jedes einzelne Zerstörungswerk und übergreift auch die moralische Didaxe dieser und jener Strophe. Die Unmoral des reichen Bauern wird im Namen des versäumten Lebens gerichtet. Er hat seinen Reichtum mit eiserner und eisiger Hartnäckigkeit zusammengehalten, auch angesichts der auffälligen Not von Nachbarn und Armen (Teile II. und IV.). An seinem Geiz, der die manischen Züge eines Père Goriot232 hat, rächt sich das Leben mit einer anarchischen Verschwendung, wie sie nur das Feuer bewirken kann: Nun flammt es auf in wildem Funkenflug Mit Scheun’ und Stall, Pferd, Wagen, Vieh und Pflug […]
Die rasende Zerstörung des Besitzes ist die Kehrseite seiner verstockten egozentrischen Aufrechterhaltung. Der Bauer hat sie zynisch genug betrieben, hat sein Geld und Gut mit „schönen Bibelsprüchen“ eingepfercht und Hungernde auf die Bibel, „das wahre Brot des Lebens“, verwiesen. Dafür büßt er, büßt seine Bibel mit derselben dialektischen Umkehrung wie seine gesamte Habe: Zerriss’nen Angesichtes liegt im Kot Das einst so hochgepries’ne Lebensbrot.
Die Rache des Lebens für die ihm jahrelang widerfahrene Unterdrückung äußert sich am sinnfälligsten im „edle[n] Wein“, der ungenossen in einem „dunklen Eichenschrein“ liegen blieb (V.). Keller stilisiert ihn allegorisch zu einem „goldfarbne[n] Löwe[n]“ und einem „Sonnensohn“ mit lebensfroher Botschaft: O laßt mich an des Tages heitern Blick, Ich bring’ euch Freiheit, Freude, Lieb’ und Glück! Laßt schäumend mich entgegensprühn dem Lied, Das aus der frohen Menschenkehle zieht!
Die Strophe nimmt den Geist Feuerbachs vorweg und zeigt Kellers frühe Disposition für die spätere Begegnung mit dem deutschen Philosophen. Nicht zufällig ordnet der junge Lyriker hier den Wein dem Licht und der Sonne zu, verschränkt er Lebensgenuß mit der Helle der Aufklärung („Freiheit“) und gesellig-dialogischem Glück („Freude“, „Lieb’“). So
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schlägt er zwanglos die Brücke zur Politik; der Wein-Verächter wird zum Freiheits- und Glücksverächter und zum allegorischen Sinnbild staatlicher Unterdrückung: Nicht wahr, ihr Alle, die ihr Herrscher heißt, Es ruht sich wohl auf unterdrücktem Geist?
Indem Keller das Feuer zum Vernichter des „morsche[n] Sündenhaus[es]“ und einer überkommenen politischen Unfreiheit macht, spielt er auf die revolutionäre Feuer-Symbolik im Vormärz an. Das Bauernhaus erscheint als das Inbild des Alten und Überlebten, und wenn von seinen „Ungeziefer[n]“ die Rede ist, von seinen „Kreuzspinnen“, „Gespenstern“ und seiner „Koboldsbrut“, seinem „Spuk“ und seinen „Sagen“ (III.): so wird damit auch allegorisch eine altersstarre, unaufgeklärte Lebensform assoziiert. Allerdings bleibt der politische Bezug an dieser Stelle fragil und erlischt wieder in der erzählerischen Konzeption dieses ländlichen Feuers. Offenbar ist es einzig und allein aufgrund ‚höherer Gewalt‘ zustande gekommen. Darin ist das Gedicht dem Feuerreiter Mörikes verwandt und entfernt sich zugleich von ihm. Der eine Mühle in Asche legende Dämon des Feuers, „der Feind im Höllenschein“, ist auch bei Mörike Ausfluß ‚höherer Gewalt‘, stellt jedoch assoziativ eine Warnung vor dem politischen Feuer her. Keller dagegen legt auf das politische Feuer einen bejahenden Akzent, allerdings erst in seinen Schlußzeilen, und auch hier nicht im Sinne einer prometheischen Selbsthilfe der zuvor angesprochenen Armen und Unterdrückten, sondern der „Menschheit“ überhaupt.233 Das Zerstörungswerk des Feuers ergreift freilich auch die schuldlosen Bezirke des Alten, Hergebrachten, etwa das „traulich“ abgeschiedene „Gemach“ der Töchter des Hauses mit seinen „runden Scheiben“, seinem „uralte[n] Schrein“, dem „buntbemalte[n] Schachtelwerk“ und seinem nächtlichen Liebesgeflüster (VII.). Keller entwirft hier über fünf Strophen hinweg ein biedermeierliches Genrebild comme il faut, in der Manier der idyllischen Stillleben eines Spitzweg, ehe er den „Freiersmann mit flammendem Panier“ ins Gefecht schickt und das pittoreske „Fenstergärtlein“ der „Höllenglut“ preisgibt. Und mit ihm das anheimelnde Genrebild. Damit ist wohl ein „Paradies“ zusammengestürzt, aber ein biedermeierlich „abgeschieden[es]“, das dem väterlichen Gespensterwesen unmittelbar benachbart war und das „morsche Sündenhaus“ mit in Kauf genommen hatte. Dennoch wird damit kein Untergang für immer angekündigt. Das ehrwürdige „Brunnenhaus“, ein „lieblich Wunder“ darstellend und wahrhaft unschuldig am herrschenden Ungeist, zeigt eine rettende, lebenserhaltende Richtung an (VIII.). Der „Bergquell“, den es bislang aufgenommen und weitergeleitet hat, wird aus einem neuen Brunnen sprudeln, das idyllische Genrebild von einst kann in einem anderen zeitgemäßen wieder-
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auferstehen – analog dazu schafft die „Flammenhand“ Raum für eine neue Pflanzung, indem sie den „in voller Blüte“ stehenden Apfelbaum zu „Kohlen brennt“ (VI.). Auf diese Wiederkehr der ursprünglichen Lebenskraft richtet sich Kellers Interesse von Anfang an. So wie das „zierlich[e] Schwalbennest“, auch es ein Raub der Flammen, an einem „neue[n] Giebel“ wieder „aufgebaut“ werden wird (III.), so wie der ungenossene „edle Wein“ in der „süße[n] Frucht“ „junge[r] Reben“ wiederkehren wird (V.): so wird selbst der „alte[ ] Totenkranz“, mit knapper Not der „Feuerglut“ entrissen, nicht nur Sinnbild der zerstörten Vergangenheit sein, sondern zugleich Zeuge des erwachenden „junge[n] Leben[s]“ (IX.). Grundbedingung jedoch für die zyklische Wiederkehr des erneuerten Lebens ist die eingreifende Kraft der bewußten Zerstörung. Wenn die paradiesische Perspektive der Schlußstrophen sich bewahrheiten soll: O Überfülle, die zum Lichte schwillt, O Blütenwirbel, der da überquillt […]
– dann reicht das Warten auf die Selbsterneuerung der Natur nicht aus. Deren heilsame Kraft kann sich nur entfalten im Bunde mit der aktiven, in der Zerstörung schöpferischen Hand des Menschen (X.): Drum auf zum Werke, Menschheit, unerschreckt! Bau’ auf, reiß’ nieder und bau’ wieder auf: Das Jahr geht immer seinen Segenslauf!
Die anfangs von Keller inszenierte Idylle sei, so haben wir gesagt, von tiefgreifender Ambivalenz. Das den tiefblauen Nachthimmel durchwirkende „Gold“ ist zwar ein prächtiger „Strauß“ von „Feuerlilien“, eine ästhetische Augenweide also, doch von destruktiver Dynamik. Keller läßt nun diese Dynamik in einem Farbenspiel erglänzen, das er durch das gesamte Erzählgedicht hindurch leitmotivisch erneuert. Der „rote[n] Lohe“ am Anfang, die da „hell zum Himmel“ aufwallt (I.), korrespondiert schon wenig später die feuerfangende Erde: „Nun flammt es auf in wildem Funkenflug“ (II.), korrespondiert des weiteren das „lichterloh“ brennende und in der Luft „wie leichtes Stroh“ flackernde Unkraut, dem sich der blühende Apfelbaum zugesellt, jetzt „verklärt vom blendend roten Schein“ (VI.), während in das Dachgeschoß der Bauerntöchter das rote Feuer „mit flammendem Panier“ eindringt (VII.) und der alte Brunnengott „in vollen Flammen steht“ (VIII.). Komplementär aber zu dieser zerstörerischen Symphonie in Gold und Rot regt sich die Farbe des Todes, das Schwarz: zuerst nur als der dunkle Fleck einer „geschwärzt[en]“ „Bibel“ (IV.), dann sich ausweitend zum „Rauch“, der aus dem Haus aufsteigt und über den Baum zieht, schließlich zur Kohle sich verfestigend (VI. und VIII.), ehe
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der Totentanz im „alte[n] Totenkranz“ endigt, der das einprägsame Bild trostloser Verlassenheit bietet (IX.): Mit welken Blättern liegt er in der Au, Und auf ihn fällt der kühle Maientau; Die blassen Bänder wehn im Morgenwind, Daneben fröstelnd wacht ein schwaches Kind.
Die Feuer-Idylle in Gold und Rot mündet schließlich in die Schwärze von Rauch, Kohle und Asche, die sich ihr immer markanter beigesellt hat. Keller schafft damit ein Vorspiel zu jenen Farbenfesten und Farbenkontrasten, die in späteren Gedichten eine auffällige Autonomie gewinnen.234 In der Handhabung optischer Effekte kann Kellers Ästhetik sich auch dem l’art pour l’art annähern. So weit treibt er allerdings weder die Inszenierung noch die Desillusionierung seiner Feuer-Idylle. Diese läßt er am Ende, als sie für immer entzaubert scheint, wiederauferstehen, in einer unbestimmten Zukunft, durch das Feuer geläutert und daher in reinem Glanz erstrahlend: „O Überfülle, die zum Lichte schwillt, / O Blütenwirbel, der da überquillt“. Es ist der Glanz einer neuen Idylle, die aus einer untergangsreifen Ordnung erwachsen soll. Mit ihren zeitpolitischen Implikationen leitet Kellers Feuer-Idylle zu einem weiteren Kapitel seiner genrebildlichen Darstellung und ihrer Verfremdung über.
2. Zeitbezüge. Religionsfragen Genrebilder, die mit Vorliebe typische Situationen, ein déjà vu, festhalten und vertraute Gemütslagen wiederbeleben, erhalten durch Kellers Feder bisweilen eine spezifisch zeitkritische Wendung. Die Richtungsänderung, die er ihnen einschreibt, kann politischen Charakter haben oder auch religionskritisch motiviert sein. Dazu einige ausgewählte Beispiele. Heimweh ist der Titel eines Gedichts, das Keller zum größten Teil 1849 während seines Deutschland-Aufenthalts verfaßt hat.235 Strophe für Strophe reiht er wie an einer Perlenschnur Genrebilder seiner Heimat aneinander: das des Frühlings in der Eingangsstrophe; in der zweiten Strophe das vom Fluß, der im „Firnenglanze“ von der inneren Einheit der Schweiz erzählt; die dritte Strophe gesellt dazu sonnenbeglänzte Fischernetze, das im Kahn träumende Kind und sein ruhig schaffender Vater – allesamt Szenen des idyllischen Friedens; in der vierten Strophe folgt die Skizze der wehrhaften, in „Recht und Freiheit“ lebenden Schweizer; in der fünften das Bild des zufriedenen Weinbauern und das Lob des „entschloss’ne[n] Handeln[s]“, das den „Gram“ und die „Sorge“ bezwingt. Landschaft, Familie, Politik, Arbeit und praktische Tätigkeit fügen sich
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dergestalt zum idyllischen Kosmos der freien Schweiz. Den Kontrast dazu erzeugt die letzte Strophe, die Deutschland gewidmet ist. Wohl bietet das Land einen paradiesischen Anblick, aber seine Bewohner sind der „Finsternis“ und ihren „verworrene[n] Geschicke[n]“ preisgegeben: diese Metaphern findet Keller für die damals in deutschen Landen wiedererstarkende Reaktion, die den Verfechtern der Freiheit und nationalen Einheit den Atem benimmt. Im Spiegel der Fremde erhöht sich der Glanz der Schweizer Heimat, wie umgekehrt im Spiegel der Schweiz das Elend Deutschlands schärfer hervortritt. In solcher Spiegelung und Gegenspiegelung verliert das idyllische Genrebild seine ‚naive‘ Selbstverständlichkeit und gewinnt ‚sentimentalischen‘ Charakter, um Schillers Begriffe zu zitieren.236 In der Gleichzeitigkeit eines liberalen und eines unfreien Gemeinwesens entsteht eine Spannung, die dem heimatlichen Schweizer Genrebild vom Ende her neue Aktualität verleiht: es wird zum Modell einer modernen, zur Nachahmung empfohlenen res publica.237 Heimat und Fremde bilden auch die Koordinaten des Gedichts Der Waadtländer Schild (Text siehe Anmerkung)238, diesmal jedoch mit umgekehrter Wertung. Der Untertitel lautet: Erinnerung an Ferdinand Flocon 1859. Was es damit auf sich hat, erläuterte eine Anmerkung Kellers bei der Erstveröffentlichung des Gedichts (1859): „Hr. Ferd. Flocon, der mir sie mittheilte, hat obige Szene wirklich erlebt.“239 Ferdinand Flocon (1800– 1866), Mitglied der provisorischen Regierung Frankreichs nach der Februarrevolution von 1848, war 1852 von Napoleon III. nach dessen Staatsstreich aus Frankreich verbannt worden, hatte Zuflucht in Lausanne, der Hauptstadt des Kantons Waadt, gesucht, wurde aber selbst dort von der französischen Polizei verfolgt und lebte von 1856–64 in Zürich, wo Keller ihm begegnete. Mit seinem Gedicht hat Keller nicht nur Flocon, hat er allen politisch Verfolgten ein Denkmal gesetzt, damit aber auch jedes freiheitliche Land zur Gewährung des politischen Asyls aufgefordert. Keller setzt die ihm von Flocon geschilderte Szene poetisch sorgfältig ins Bild, in „ein schönes Bild“, wie er selbst sagt, in ein Genrebild, wie wir hinzufügen dürfen. Dessen größerer Rahmen ist die „Brücke zu Lausanne“, während der „Waadtländer Schild“ den kleineren Rahmen bildet, vor dem sich die nun folgende Szene abspielt. Mittels seines doppelten Rahmens zentriert Keller den Blick des Betrachters auf diese Szene – eine geradezu idealtypische genrebildliche Darstellungsform. Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein Geschwisterpaar, das Keller mit plastischem Detailrealismus vergegenwärtigt (ein für die Genremalerei, namentlich die holländische, von Anbeginn charakteristischer Realismus, der auch der Erzählkunst des Novellisten und Romanciers Keller entspricht). Die sinnlich-präzise Beschreibung des Geschwisterpaars vereinigt zwei typische,
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uns wohlvertraute Bilder zu einer neuen, überraschenden Miniatur. Vertraut ist uns einmal der Vorgang, wie ein älteres Kind das jüngere Geschwister emporhebt, um ihm etwas zu zeigen; vertraut ist uns ferner, wie das ältere Kind das jüngere schreiben lehrt, indem es ihm die Hand führt. Keller macht aus diesen typischen und rührenden Kindheitsbildern ein altersloses Memorial. „Freiheit“ und „Vaterland“, zwei demokratische Ideale der Epoche, stehen auf dem Wappenschild geschrieben, und diese beiden Begriffe sind es, die das ältere Mädchen den kleinen Knaben schreiben lehrt. Sie werden hier gleich zweifach ins Gedächtnis gerufen: als jüngste Errungenschaften, die es – wie in der Schweiz – zu bewahren gilt, und als ethisch-politische Postulate, deren Einlösung andernorts noch aussteht, wie im Frankreich Napoleons III., wo die unterdrückte Freiheit auch das Vaterland zu einer zweifelhaften Größe macht. Im Bilde Flocons, des „einsam fremde[n] Mann[es]“ mit „ergrautem Haar“, verleiht Keller der Kinderszene eine bedrängende Aktualität: er macht sie zu einer universalen Angelegenheit aller Erwachsenen. Zu einer universalen? Wäre das nicht allzu pathetisch formuliert? Man vergegenwärtige sich indes, daß Keller die Inschrift in einem großen Bogen bis auf ihren abendländischen Ursprung zurückführt: bis auf „das große Rom“, also jene antike res publica, die der europäischen Zivilisation „libertas“ und „patria“ als politisches Vermächtnis und ethische Verpflichtung hinterlassen hat. Die französische Entsprechung dazu lautet „liberté et patrie“. Sie steht natürlich auch – gemäß dem französisch sprechenden Kanton Waadt (Pays de Vaud) – auf dem Wappenschild. Keller hat die Inschrift zwar ins Deutsche übersetzt, doch stillschweigend beim Leser die Kenntnis der französischen Begriffe und ihres lateinischen Ursprungs vorausgesetzt. So verweist er zugleich auf den Zusammenhang zwischen dem republikanischen Rom und dem neuzeitlichen Mutterland der Ideale liberté et patrie: auf das Frankreich der Aufklärung und der „Grande Révolution“. Es ist mehr als ein pittoresker Einfall, wenn Keller das ganze Geschehen in Sonnenglanz und -glut taucht. „Erzgegossen glänzt das Wappen, / In der Sonne strahlt die Schrift“ heißt es programmatisch zum Auftakt, und über die Schrift lesen wir wenig später: „An den sonndurchglühten Zeichen“ führt die kleine Schwester den Finger des noch kleineren Bruders „hinauf, hinab“. Im Jahrhundert der Aufklärung, dem „siècle des lumières“, versinnlicht die Sonne den Anbruch einer neuen Zeit, und seither ist sie Sinnbild einer befreiten, mündigen Menschheit. „Der Kinder Locken“, im Glanz der Sonne leuchtend, fließen zusammen wie „Gold in Gold“, und „der Wangen Freudenröte“ sprießt wie „Ros‘ an Rose“: so sinnlich körperlich und so gefühlsstark äußert sich der aufgeklärte Geist. In seinem Spiegel tritt die ganze Schmach des verbannten Mannes mit dem „ergrau-
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te[n] Haar“ hervor (Strophe IV), wie umgekehrt im Spiegel seiner Verbannung der Geist der Freiheit und das Sonnenreich des Glücks an Leuchtkraft gewinnen (Strophe V und VI). In geistiger Nachbarschaft zu seiner politischen Zeitkritik hat Keller sich kritisch mit der christlichen Religion auseinandergesetzt. Davon ist im Kap. IV Feuerbachiade ausführlich die Rede. Es ist jedoch aufschlußreich, seine Religionskritik bis in die Form des Genrebilds zu verfolgen und an wenigen Beispielen zu erhellen. Es zeigt sich, daß Keller aus humoristischer und ironischer Perspektive genrebildliche Gestaltungsmerkmale sprengt, inspiriert von seiner Lust am Widerspruch (Wochenpredigt). Und daß er Grundzüge des religiösen Genrebilds durch unerwartete, wenn nicht provozierende Betrachtungsweisen zu verrätseln und ins Offene zu führen versteht (Abend auf Golgatha). Keller hat in seinem Erzählgedicht Wochenpredigt 240 dem Porträt eines Landpfarrers mehrere Genrebilder beigesellt und dabei ländlich-idyllische Züge entzaubert. Das kleine Werk entstammt dem Zyklus Aus der Brieftasche in den Neueren Gedichten (1854), also jenem von Feuerbach inspirierten Zyklus, dem wir ein eigenes Kapitel gewidmet haben (vgl. Feuerbachiaden). Wochenpredigt gehört in die Reihe jener biedermeierlichen bzw. detailrealistischen Pfarrerporträts, wie sie durch die Droste (Des alten Pfarrers Woche) und durch Mörike (Der alte Turmhahn) vertraut geworden sind. Dem Respekt und dem Humor bei der Droste und bei Mörike rückt Keller die Ironie als prägende Sprachform zur Seite. Er entwirft das Genrebild einer spätsommerlichen Erntezeit und rückt in Kontrast dazu spöttisch einen Gottesdienst, in dem der Pfarrer seinerseits Ernte hält, freilich eine recht farblose: Mit „ziemlich saurer Müh’“ bündelt er die dürren Garben seiner Wochenpredigt; pflichtschuldigst erzählt er von der Ewigkeit, wo das Streben und Ringen des Lebens bis zur Vollkommenheit der Seele fortgesetzt würde. Die greisen „Hörer auf den Bänken“ sind längst in Schlummer gesunken. Sie haben ihre Lebenskraft in redlicher Arbeit verausgabt und haben kein Ohr für die mühselige Vollkommenheit eines ewigen Lebens. War da nicht ihr irdisches Leben besser, das immerhin mit einigen „Freuden“ und „Schwänke[n]“ beglänzt war? So halten sie sich denn für das pfäffische „Lied von der Unsterblichkeit“ durch ein Schläfchen schadlos, aus dem sie rechtzeitig, mit dem Verstummen des Pfarrers, erwachen, um sich alsdann auf dem Kirchhof an der Sonne zu wärmen. Das Genrebild, das Keller von ihrer ungemütlichen Altersrast zeichnet: ihr schleppender Gang „zwischen den Gräbern“, ihr Dahindösen, ihre „bewußtlos kindische[n] Reden“, widerspricht einer konventionellen Vorstellung von idyllischer Lebensruhe und ist gleichwohl nicht trostlos. Denn Keller öff-
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net dieses Kirchhofsbild zum blühenden Leben der „Enkel und Sohnesfrauen“ hin, die „im fernen Sonnenglanze […] / Die reifen Früchte rüstig mähen“. So wird die zyklische Zeit des Lebens anschaulich, in der das Blühen und das Sterben einander die Waage halten, in der die Kraft und Herrlichkeit des Wachsens an der Vergänglichkeit, die Vergänglichkeit am Wachsen und Reifen gespiegelt werden. Kellers poetisches Ineinanderspiel von kindischem Greisenalter und aufblühender Lebenskraft bedrängt den Leser von heute unwillkürlich; was einst – in Kellers Epoche – zusammengehörte, das reife und das verfallende Lebensalter, ist inzwischen schroff getrennt, und während das Alter in einen geschlossenen Lebenskreis gebannt wird, fernab vom Wirkungsfeld der jüngeren Erwachsenen, wird diesen mit dem Anblick der Alten auch das Bewußtsein ihrer eigenen Sterblichkeit entzogen: Entmündigung hier wie dort. Was aber geschieht mit dem „Pfäfflein“? Es widerlegt sich selbst aufs schönste und führt das „ewige[ ] Leben“ gleichsam hinters Licht. Nicht die Spur eines zukünftigen Strebens und Ringens zeigt sein frommer Geist. Nein, seine Vorstellungskraft richtet sich nach der Predigt sogleich aufs Irdische und malt ihm das prächtige Mahl aus, das ihn noch am Abend bei einem Amtsbruder erwartet. Mit pittoreskem Detailrealismus, wie nur ein wahrhaft sinnenbegabter Poet ihn erfinden kann, läßt Keller die Leser teilhaben an des Pfarrers kulinarischen Visionen, den schwellenden Bachforellen, dem feinen Klingen der Gläser, dem köstlichen Champagner. Ein Genrebild erlesener Tafelfreuden! Eine Idylle lebensfroher Geselligkeit… Kellers Gottesdiener ist ein verkappter Feuerbachianer, der sich auf die Genüsse des Lebens wohl versteht. Das verleiht der sehnlichst erwarteten Idylle ihre Doppelbödigkeit. Keller unterscheidet subtil zwischen dem Amt und seinem Träger: zwischen dem Dienst an einer asketischen Theologie, die abstrakt vom ewigen Leben kündet, und dem sinnlichen Menschen, der vom irdischen Glück nicht lassen will. Dem Genrebild des Lebensgenusses fügt Keller ein gärtnerisches hinzu. Der den Abend herbeisehnende Gottesmann vertreibt sich die Zeit in biedermeierlicher Manier im Pfarrgarten, allwo er den unscheinbarsten Dingen zuleibe rückt – den Ranken und Räupchen, einem Schmetterling hier und einem verirrten Socken dort –: freilich nicht, um daraus in Biedermeiers Geist einen Lobpreis Gottes und des Kosmos zu destillieren, sondern um seiner „langen Weil’“ Herr zu werden. Ach, vergeblich: Er wird der langen Weil‘ zum Raube Und sinkt in eine kühle Laube, Macht dort ein Ende seiner Pein, Schläft zwischen Rosen und Nelken ein.
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Keller entzaubert das überlieferte Genrebild der Gartenidylle. Zwar inszeniert er mit epischem Behagen eine Welt der kleinen und kleinsten Dinge, wie Mörike und die Droste sie entworfen haben, und macht damit seiner erzählerischen Fabulierlust alle Ehre. Aber die Inszenierung bringt nicht etwa die fromme Naturverbundenheit des Gärtners ins Spiel, sie gilt vielmehr dem irdischen Leben, das zu kostbar und zu köstlich ist, als daß es im Schatten eines ewigen Lebens stehen dürfte. Wenn Keller in der Wochenpredigt ländlicher Religiosität heimleuchtet und eine Idylle mit Genrebildern ironisch verfremdet, so erprobt er andererseits die Kunst der Verfremdung auch an religiösen Szenen, die im Christentum mit besonderer Pietät verehrt werden. Sie sind geheiligter Bestand des Glaubens. Ihre zahllosen Darstellungen durch die abendländische Malerei haben ihnen nach und nach auch den Charakter von Genrebildern verliehen: vertraute figürliche Gruppierungen in ausdrucksstarken Situationen, die für den Betrachter einen hohen Gemütswert besitzen. Der Verfremdungstechnik Kellers widmet sich die folgende Interpretation: Abend auf Golgatha Eben die dornige Krone geneiget, verschied der Erlöser, Weißlich in dämmernder Luft glänzte die Schulter des Herrn; Siehe, da schwebte, vom tauigen Schimmer gelockt, die Phaläne12 Flatternd hernieder, zu ruh’n dort, wo gelastet das Kreuz. Langsam schlug sie ein Weilchen die samtenen Flügel zusammen, Breitet‘ sie aus und entschwand fern in die sinkende Nacht. Nicht ganz blieb verlassen ihr Schöpfer, den Pfeiler des Kreuzes Hielt umfangen das Weib, das er zur Mutter sich schuf.241
Der Tod Christi, beweint von Maria – tausendfach ist die vom Neuen Testament überlieferte Szene in der bildenden Kunst variiert und ergänzt, in Kirchen und Museen ausgestellt, zur pietätvollen Ausschmückung des trauten Heims verwendet worden. Der Auftakt und das Finale des Gedichts beziehen sich folglich auf den Ausschnitt eines wohlvertrauten Genrebilds, das eine religiöse ‚Wirklichkeit‘ zur Grundlage hat: „Eben die dornige Krone geneiget, verschied der Erlöser“, so lautet der Auftakt, und am Ende gerät die Mutter Gottes ins Bild, „den Pfeiler des Kreuzes“ umfangend. Keller verfremdet nun die zum Inventar unserer religiösen Vorstellungswelt zählende Szene mehrfach, wobei er namentlich von seiner Kunst der polaren Verfugung Gebrauch macht (vgl. u.a. Kapitel I, Naturgedicht und lyrisches Ich). Das weltgeschichtliche Ereignis des Todes Christi, wie Joh. 19,25ff. es überliefert242, kontrastiert er mit dem Flug und der kurzen Rast eines Nachtfalters. Der durchweht Kellers Lyrik ja nicht nur 12
Nachtfalter.
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hier243 und zeugt – im Bunde mit anderen Insekten – von seiner hingebungsvollen Würdigung der unscheinbaren Kreatur.244 Der Polarität zwischen universaler Heilsgeschichte und kreatürlicher Miniaturepisode wohnt eine zweite inne: die zwischen der unverrückbaren Statik des Kreuzpfeilers und der flügelleichten Beweglichkeit des nächtlichen Falters. Mit der Kreuzesstatik entsteht zugleich eine festumrissene Nähe, mit dem Heranschweben der Phaläne und ihrem Entschweben „fern in die sinkende Nacht“ eine ungreifbare Ferne – ein weiterer Kontrast. Auch atmosphärisch, durch Farbgebung, sorgt Keller für Kontrastreichtum: auf die „dämmernde Luft“ antworten der „weißliche“ Glanz und der „tauige Schimmer“ der Schultern Christi, ehe mit der „sinkenden Nacht“ die dunkle Farbe obsiegt. Diese Kunst der Verschränkung des Polaren verleiht dem Gedicht eine innere, federnde Spannung. Sie veranlaßt den Leser zu Fragen, deren mögliche Antworten sich in der Ungewißheit verlierten. Deutet das Heran- und Entschweben der Kreatur darauf, daß, unbeschadet des Erlösertodes Christi, die Natur ihren gewohnten Gang geht? Daß jenes welterschütternde Ereignis sie unberührt ließ, folglich universale Heils- und Naturgeschichte unabhängig voneinander existieren? Oder deutet nicht vielmehr die Lockung des „tauige[n] Schimmer[s]“ auf der „Schulter des Herrn“, deutet die Rast der Phaläne und ihr samtener Flügelschlag „dort, wo gelastet das Kreuz“, nicht auf einen „Trost der Kreatur“, den das Geschöpf seinem „Schöpfer“ spendet? Konvergieren mithin für „ein Weilchen“ nicht das Leiden Christi für die Menschheit und die unbewußte, absichtslos handelnde Natur? Zeigt die Integrität dieser Natur nicht symbolisch an, daß die Kreuzeslast ihren schönen Sinn und ihre heilsame Wirkung zu entfalten beginnt? Die Mehrdeutigkeit und die Unausdeutbarkeit des Abends auf Golgatha erzeugen den rätselhaften Reiz des Gedichts. Ihn verdichten die beiden letzten Zeilen, die auf den Abflug der Phaläne folgen: „Nicht ganz blieb verlassen ihr Schöpfer, den Pfeiler des Kreuzes / Hielt umfangen das Weib, das er zur Mutter sich schuf.“ Kellers Kunst der Pointe – sie ist in unseren Kapiteln mehrmals erhellt worden – erreicht hier einen unerwarteten Höhepunkt. Und dies nicht nur, weil er in seiner Alterslyrik selten genug sich mit religiösen Phänomenen auseinandersetzt. Unerwartet ist vor allem die Wendung, die Keller dem Verhältnis zwischen Christus und der Mutter Maria verleiht: sie erscheint als die von ihm, dem Sohn, geschaffene Mutter. Der MutterSohn wäre demnach gleichzeitig der Vater der Mutter! Eine unglaubliche, den Glauben übersteigende Idee, im Neuen Testament nirgendwo in diesem Doppelsinn belegt. Gewiß, das Neue Testament geht von einem vollkom-
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menen Einverständnis zwischen Gottvater und Gottsohn aus, ja, es bringt die ethisch-geistige Identität zwischen beiden wiederholt zur Sprache.245 Aber es markiert auch die Differenz zwischen beiden, etwa angesichts des Sterbens Christi246, und namentlich die Sohnschaft Jesu wird nirgends als gleichzeitige Vaterschaft ausgelegt, sondern als Werk des von Gott gesandten heiligen Geistes.247 Warum also Kellers brisante Wendung? Zu vermuten steht, daß Keller einem primären Wunsch zum Ausdruck verhilft, daß er, dessen heikle Auseinandersetzung mit dem Vaterbild sich in seinem Werk verfolgen läßt248, ein bruchloses Einverständnis mit der väterlichen Instanz herbeisehnte. Die Legitimation dieser Sehnsucht entfaltet das Neue Testament, wenn von der handelnden Identifikation des Sohnes mit dem Vater und dessen unverbrüchlicher Liebe zum Sohn die Rede ist.249 Man könnte sagen, daß damit – im Gewand der Heiligen Schrift – die Humanisierung einer anthropologischen Grundstruktur zum Ausdruck gelangt, jener Vater-Sohn-Rivalität nämlich, auf die Freud so angelegentlich aufmerksam gemacht hat.250 Keller hätte dann die ethisch-geistige Identität zwischen Gottvater und Gottsohn in den geschlechtlichen Bereich hineinverlängert und einen vollkommenen Einstand zwischen beiden erdichtet, eine Versöhnung, welche die ödipale Dreieckssituation zwischen Vater, Sohn und Mutter auflösen würde in die harmonische Relation zwischen Mutter und Vatersohn bzw. Sohnvater. Eine eigenwillige, wenn nicht provozierende Umdeutung der biblischen Auffassung! Aber wäre die neue Familienrelation wirklich harmonisch? Hält Keller im Bilde des Gekreuzigten und der das Kreuz umfangenden Mutter Maria nicht vor allem das Leiden als Lebensprinzip fest? Das Leiden im Familienverband? Das Leiden im Zusammenhang mit dem inzestuösen Begehren, das sich verrät in der das Kreuz umfangenden Maria und im Sohn selbst?251 Will das Gedicht die heilige Familie als Sinnbild für die weltliche Familie aufgefaßt sehen? Die Fragen, die sich dem Leser stellen, führen in eine Offenheit des Nachdenkens und Zweifelns, die unbegrenzbar zu sein scheint. Das uns vertraute Genrebild mit seinen eingeübten Glaubensund Wahrnehmungskonventionen löst seine Konturen auf und verwandelt sich in die Provokation einer unabschließbaren Reflexion.252 Keller hat den reflexiven Charakter seines Gedichts durch die antike Versform des Distichons betont. Die gemessen einherschreitenden Verspaare erfordern die kontemplative Haltung des Lesers; langsam, wie der Flügelschlag des nächtlichen Falters, ist der rhythmische Fluß der Langzeilen, und wenn das Tier seine Flügel ausbreitet und in die Ferne der Nacht entschwebt, schafft es zugleich einen weiten Raum für den Reflexionsprozeß des Lesers. Und was die Bewegung in die nächtliche Ferne leistet, vollbringt auch die Statik im Raum, der Pfeiler des Kreuzes: indem
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die ihn umfangende Mutter Gottes plötzlich als Geschöpf ihres eigenen Sohnes erscheint, wird das Kreuz zum Anstoß einer womöglich anstößigen Reflexion, die kein gewisses, kein zweifelsfreies Ende finden kann. Schließt sonst die Schlußpointe ein Gedicht ab, so öffnet sie es hier ins Unendliche. Sein Rätselcharakter ist der Stachel im Gedankenprozeß des Lesers.
3. Abgesang Keller hat an einer Stelle seine zeitpolitischen und religionskritischen Perspektiven in einem Genrebild vereinigt, betitelt Frühgesicht. So darf dieses Gedicht mit gutem Grund den Abschluß des Kapitels bilden. Allerdings ist Frühgesicht zugleich das dritte Gedicht der Rheinbilder Kellers (Text siehe Anmerkung)253, einer Trias lyrischer Texte, die er dem königlichen Fluß gewidmet hat. Es empfiehlt sich, alle drei Texte zu berücksichtigen, war doch der Rhein in Dichtung und Malerei schon zu Kellers Zeit längst zum vielumschwärmten Genrebild geworden. Keller hat davon im ersten seiner lyrischen Trias (Das Tal) eine Probe gegeben: „Kommt der Strom mit seinem Ruhm / Und den stolzen Wogen / […] / Prächtig hergezogen.“ Eben deshalb dürfte es den Leser interessieren, welche neuen Nuancen, Brechungen und Verfremdungen er dem populären Flußbild abgewonnen hat. Den ersten beiden Gedichten, Das Tal und Stillleben, liegen Fassungen zugrunde, die auf Kellers poetische Anfänge, auf das Jahr 1845, zurückgehen, das dritte, Frühgesicht, ist auf 1878 datiert, das Jahr, in dem er seinem rheinischen Triptychon die überlieferte Gestalt gegeben hat (Text siehe Anmerkung )253. Beginnt Das Tal mit einer unspezifischen Rheinansicht ohne individuelles Profil (1. Strophe), um dann die genrebildliche Majestät des Stroms zu würdigen (2. Strophe), so setzt die letzte Strophe den überraschenden Schlußpunkt durch eine kapriziöse Pointe: Und auf einmal lacht es jetzt Hell im klarsten Scheine, Und dies Liederschwälbchen netzt Seine Brust im Rheine!
Verglichen mit der konventionellen Urfassung254 ist dieser Abgesang von geradezu witziger Anmut. Das Liederschwälbchen neckt Seine Majestät, den „stolzen“ und „prächtig[en]“ Rhein, mit hellem Lachen, es setzt ihm eine überraschend kecke und flügelleichte Pointe auf, dieselbe, mit der das Gedicht endet. Die Krönung des Rheins korrespondiert mit der des Gedichts. Das Genrebild des königlichen Rheins empfängt seine Vollendung durch die anmutige Spitze eines Witzes.
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Das zweite Rheingedicht kündigt seine Genrebildlichkeit gleich durch den Titel an: Stillleben. Und wird der Text seiner Ankündigung nicht aufs pünktlichste gerecht? Ein „altes Städtlein“ ragt ins Gedicht: „Mit Türmen, Linden, Burg und Tor, / Mit Rathaus, Markt und Kirchenchor“. So oder ähnlich ist das Stilleben eines alten deutschen Städtchens hundertmal gezeichnet worden. Keller wartet jedoch mit einer Überraschung auf. Das Städtchen steht nicht fest auf der Erden, es zieht mit dem Rhein einher, es „hängt“ an ihm, und da es gerade „Nachmittag“ ist, zieht auch der mit dem Rhein einher, während doch ein „Stilleben“ in sich ruht – So schwimmt denn auf dem grünen Rhein Der goldne Nachmittag herein.
Wie kann eine Stadt, und sei sie noch so klein, auf dem Rhein einher- oder am Rhein entlangziehen? Ist es der Betrachter, der, stromaufwärts fahrend, diesen sinnestäuschenden Eindruck gewinnt? Oder träumt ihm von einer plötzlichen Bewegung des Städtchens im Banne des unaufhaltsam fließenden Stroms? Wie dem auch sei – Keller läßt das trauliche, in sich ruhende Genrebild des Städtchens in Fahrt kommen, reißt es aus seinem malerischen status quo, bringt Fluß in eine allzu vertraute Erscheinung. Erst mit den beiden folgenden Strophen scheint die Stadt wieder stillzustehen, freilich nicht ohne die Ironie des Erzählers, der einen kirchlichen Würdenträger dem Wein zusprechen, eine alte Frau keifen und auf einer Kegelbahn es donnern läßt: die vielberufene ‚Stille‘ ad absurdum führend. Anderen Geistes als das Stillleben und von grundverschiedener Ästhetik ist Kellers dritte Rheinansicht: Frühgesicht. Sie ist aus einem politischen Kontext hervorgegangen, zur Zeit des sogenannten ‚Kulturkampfes‘, der nicht allein eine deutsche Angelegenheit in der Ära Bismarcks war, sondern auch in der Schweiz seine Kreise zog, unter ähnlichen Vorzeichen wie im Deutschen Reich: als Kampf der staatlichen Politik gegen die katholische Kirche, die ihren Einfluß im öffentlichen Leben zu erweitern versuchte, während umgekehrt der Staat seine Einflußnahme auf den Klerus, die Institution der Ehe, die Einrichtung konfessioneller Schulen etc. auszudehnen trachtete, umso mehr, als das 1. Vatikanische Konzil (1870) mit Entscheidungen wie dem Unfehlbarkeitsdogma des Papstes die Position der Kirche im Staat nachhaltig kräftigen wollte. Der Kulturkampf zog in der Schweiz eine Revision der Bundesverfassung im Jahre 1874 nach sich; im Rückblick darauf schrieb der politisch engagierte Keller vier Jahre später sein antiklerikales Frühgesicht, dessen unmittelbarer Anlaß die Nachwehen des deutschen Kulturkampfes waren. Diesen kommentierte Keller vorsichtig, wie ein Brief an seinen Verleger Julius Rodenberg vom 18.2.1878 zeigt, – und vorsichtig hieß: mittels einer Metaphorik, die Kellers politische Anspielungen vieldeutig machte. Doch diese vieldeutige,
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das Politische entschärfende Metaphorik verleiht dem Gedicht eine Atmosphäre des Mysteriösen und Visionären, die in Kellers Lyrik eher eine Ausnahme bildet. Das Genrebild des Rheins, als „Pfaffengass’“ bezeichnet ob der zahllosen Bistümer, Stifte und Klöster an seinen Ufern, nimmt kriegerische Züge an; eine über den Strom am frühen Morgen wogende „Nebelmasse“ evoziert die Vision eines „Heervolk[s]“, „das auf den Wassern endlos wallt“. Zugleich wird das „Zwielicht“ der nahegelegenen Städte heraufbeschworen, deren Bewohner offenbar den kriegerischen Klang über dem Rhein, dem geheimnisträchtigen „Schattenstrom“, vernommen haben; ihre katholische Frömmigkeit – Dome bilden ihre Nachbarschaft – scheint bedroht durch einen unsichtbaren Gegner, der sich gleichwohl Gehör verschafft. Es handelt sich, wie die letzte Strophe andeutet, um die vereinten antiklerikalen Kräfte, die zum „letzten Streit“ ausgezogen sind und so eine „verjährte“ Geschichte – die des Kirchenkampfes – erneut beleben und besiegeln wollen. „Erschauernd wie ein Geistergruß“ klingt ihr Waffenlärm, so, als würden auch die antiklerikalen Kämpfer von einst in ihrem Gefolge mitziehen, „verjährte Fahnen“ zu „neue[m] Hoffen“ schwingend. Kellers Frühgesicht ist eine zwischen Traum und Wachen schwebende Vision: ein Rätselgesicht, das die politischen Anspielungen in metaphorischer Unbestimmtheit zeigt. Eben das schafft die atmosphärische Dichte einer zwischen Fluß und Stadt, Nebel und Zwielicht hin und her gleitenden Rheinansicht, bei der die klaren Konturen des Genrebildes im Geheimnis verschwimmen.
VIII. Selbstporträts und Ich-Analysen Selbstdarstellung und Selbstanalyse des lyrischen Ichs bilden ein Leitmotiv Kellers von seinen Anfängen bis zu seiner Spätzeit. Unsere folgende Auswahl will nicht vergessen machen, daß auch in anderen Lyrik-Kapiteln das poetische Ich entschieden hervortritt und sich zum Gegenstand der Reflexion macht: z.B. in der Naturlyrik (vgl. Feldbeichte), in den Feuerbachiaden (vgl. Ich hab’ in kalten Wintertagen), im Gleichnisgedicht (vgl. Jung gewohnt, alt getan). Der Konvention mancher poetischen Biographie entspräche es, wenn man in Kellers lebenslanger Selbstdarstellungslyrik einen Entwicklungsprozeß mit markanten Etappen verfolgen würde, etwa vom Subjektivismus der Anfänge zur objektivierenden und distanzierenden Formensprache der Spätzeit.255 Solchen Schemata beugt sich Kellers Lyrik keineswegs. Sie bekundet frühzeitig eine Neigung zu reflektierter Selbstbetrachtung und experimenteller Selbstdarstellung. Ähnlich wie seine Naturlyrik die Gegenstände aus ihrer organischen Gebundenheit herauslöst, um sie zu allegorischen Zeichen bzw. zu Metaphern eines politischen und psychischen Zustands anzuordnen, versetzt Keller das lyrische Ich auf den Prüfstand distanzierender Reflexion. Insofern vereinigt das folgende Kapitel einige wesentliche Stilzüge der bisher vorgestellten lyrischen Genres. Reflexionskraft schließt Emotionalität bei Keller nicht aus, sie ist vielmehr ihr notwendiges Gegengewicht. Eine intensiv bewegte Emotionalität verraten Kellers Traumgebilde (vgl. Eine Nacht), die, ähnlich wie einige im Grünen Heinrich stehende Gedichte, einem existentiellen Leid Raum geben. Kontrapunktisch zu ihnen lassen sich jene lyrischen Zeugnisse verstehen, die der Glückssuche, der Lebensorientierung und der Selbstbehauptung gewidmet sind. Die hier hervortretende Spannungsvielfalt der Selbstporträts Kellers verdeutlichen wir, indem wir seine lyrischen Zeugnisse in verschiedenen Textgruppen anordnen. Im Mittelpunkt der ersten Textgruppe stehen Leid und Trauer der Kindheits- und Jugenderfahrungen (1); eine zweite Gruppe (2) präsentiert Gedichte, welche Selbsterkenntnis mit Selbstbehauptung und konstruktiven Lebensentwürfen verknüpfen, wobei verschiedene Grade der Dringlichkeit und der Selbstermutigung sichtbar werden; die dritte Gruppe kontrastiert – durch vier Gedichte aus dem Grünen Heinrich – das Elend der Melancholie mit ihrer lebensfördernden Tapferkeit (3).
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1. Kindheits- und Jugenderfahrungen Ein frühes Zeugnis für Kellers tiefschürfende Ich-Analyse ist seine Trilogie Eine Nacht (Text siehe Anhang)256. Sie zeigt, daß seine Jugendlyrik, mag sie auch durch die Politik erweckt worden sein, der Selbstdarstellung breiten Raum gewährt, wie schon Luzius Gessler betont hat.257 Die NachtTrilogie spiegelt Kindheits- und Jugenderfahrungen Kellers wider; ein Anlaß für ihre Entstehung (vom September bis Dezember 1843) mag das Scheitern seines ersten Berufsplans – das eines Kunstmalers – gewesen sein. Die drei Gedichte sind, wie Fränkel gezeigt hat258, in mehreren Anläufen und Reprisen niedergeschrieben worden; ihre einzelnen Teile hat Keller in sein „Schreibbuch“ nach und nach und voneinander getrennt eingetragen – ein Zeugnis für sein intensives, aber auch von inneren Widerständen gezeichnetes Ringen um diese Selbstdarstellung. Welchen hohen Wert er ihr beimaß, zeigt ihre ungewöhnliche Form. Sie ist in Terzinen gegliedert, als wollte Keller durch die kunstbewußte Strophengestalt die Assoziationsflut seiner Träume gliedern und zugleich widerspiegeln. Die dreizeiligen Strophen sorgen für markante Unterteilungen des lyrischen Gebildes, während jede einzelne Strophe mit der folgenden durch Reimbindung assoziativ korrespondiert (aba, bcb, cdc, ded usw.) und diesen Zusammenhang wiederholt durch das Hinübergleiten des Satzes (Enjambement) betont. Im ersten Gedicht Aus wilder Liebesträume macht sich das lyrische Ich die „unfruchtbaren […] Kinderjahre“ zum Vorwurf; es klagt sich an, als „ein wurzellos, zerknicktes Reis“ aufgewachsen zu sein: „Dem Wintersturm zum leichten Spiel erkoren!“, außerstande, den „Grundstein“ seines „Lebens“ zu legen. Dieser Selbstvorwurf erscheint als ebenso grundlos wie gründlich: wie kann ein Kind sein Lebensfundament selber legen? Bedarf es dazu nicht elterlicher und schulischer Leitung? Offenbar macht Keller sich für die Folgen des frühen Vater-Verlusts und der Relegation von der Schule selber verantwortlich. Eine objektiv unhaltbare, subjektiv jedoch unabweisbare und mit „Todesangst“ verkettete Selbstbezichtigung, die Kellers hochempfindliche Moral anzeigt, seine Neigung, das Ich durch ein skrupulöses Über-Ich zu knechten, ein Vorgang, dem wir im Grünen Heinrich wiederbegegnen. Am Ende dieses ersten Gedichtes zeichnet sich eine Untergangsvision mit kosmischen Zügen ab: „Ein matter Stern vom Himmel schoß herab, / Ein leis Gelächter überstrich die Haide, / Ein Irrlicht tanzt‘ auf meiner Jugend Grab – / Bewußtlos sank ich hin mit meinem Leide.“ Die Bildlichkeit dieser Schlußverse erinnert an Gedichte der Droste und Lenaus. Nicht nur der „Haide“ wegen, die Kellers lyrisches Ich hier
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zur Landschaft seines Traums wählt. Es ist auch die damit verknüpfte Atmosphäre, die akustische und die optische, die manchem Gedicht Lenaus und der Droste eigentümlich ist. Das „leis Gelächter“, das ihm vorausgehende „Gewimmer, fern und dumpf“, das geisterhafte „Irrlicht“ – dies sind Phänomene, die der Droste vertraut sind; man erinnere sich an den Knaben im Moor oder an den Heidemann, wo es heißt: Ein leises Brodeln quillt im Moor, Ein schwaches Schrillen, ein Gezische Dringt aus der Niederung hervor. […] Das Irrlicht zündet seinen Schein, […] Ein irres Leuchten zuckt im Rohre […].
Kellers Evokation der „erbleichend[en]“ „Sonne“ und des „Dämmergrau“, „trüb und trüber“, präludiert der unheilvollen Atmosphäre, ähnlich wie in Lenaus Himmelstrauer Schwermut und „düstre Wolke“, in seinen Schilfliedern geheimnisvolles Klagen und Sonnenverfinsterung miteinander korrespondieren. Kellers Verschränkung einer bedrückenden Seelenlage – sein lyrisches Ich macht die „Verzweiflung“ und das „Leid“ namhaft – mit dem Tod und dem „Grab“ findet ihr Vorspiel in Gedichten wie Lenaus Herbstentschluß und dem einzigartigen Selbstgespräch, das die Droste Im Moose überschrieben hat. Dort entfaltet ihr lyrisches Ich bei Einbruch der „Dämmerung“ ein „Traumgesicht“, das mit der Beschwörung der Kindheit beginnt, um schließlich in die Vision des Alters, des Friedhofs und des eigenen Todes zu münden. Ähnlich sieht Kellers Ich „entschlafne Kinderjahre“ „aufgeweckt“ und „in des Traumes Sturm getrieben“, sieht sie „in scheuer Flucht vorüberfliehn“, um seinerseits in eine Todesvision zu gleiten: „meiner Jugend Grab“. Entscheidend ist hier weniger die Frage, ob Keller im Hinblick auf Landschaft, Atmosphäre und Seelenlage von Lenau oder der Droste Anregungen empfangen hat. Maßgeblich ist vielmehr eine auffällige Verwandtschaft der Selbsterkundung, die auf eine charakteristische Zeitgenossenschaft hindeutet. Mitten im politisch bewegten Vormärz, dem Keller seine tatkräftige Sympathie bezeugen wird, mitten in dieser Epoche, die ihren Willen zur Erneuerung der Gesellschaft in hoffnungsvollen, zukunftsgerichteten Bildern bekundet, macht eine unbewältigte Vergangenheit ihre fortwirkende Kraft geltend. Es ist eine Kraft, die sich bei einzelnen Personen – Schriftstellern und Philosophen – als „Krankheit zum Tode“ äußert, um die bekannte Wortprägung Kierkegaards, eines Zeitgenossen, aufzugreifen. Keller hat – wie übrigens auch der aufgeklärte, demokratisch gesinnte Lenau – an beiden Epochentendenzen teil: der politisch vorwärtsgewandten und der in die persönliche Vergangenheit zurückgewandten, die der Erneuerung des politischsozialen Lebens abgekehrt ist. So bezeugt er beispielhaft ein Doppel-
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gesicht seiner Zeit.259 Die ‚Krankheit zum Tode’, die sein lyrisches Ich im Traum erlebt, führt ihn jedoch nicht zu blinder Flucht in die Verdrängung; vielmehr hält er ihr trotz aller Erschöpfung und Bedrängnis stand, unter Aufbietung seiner seelischen und intellektuellen Kräfte: Aus wilder Liebesträume wirrem Treiben War ich erschöpft, beklommen aufgewacht; Ausruhend mußt ich auf dem Lager bleiben, Mich zu erholen von so banger Nacht. Und wie mir leichter ward, sandt ich mein Denken Zurücke in des Schlafes dunklen Schacht Und suchte sinnend an das Licht zu lenken, Was die entbundne Seele so erschreckt, In Todesangst vermochte zu versenken.
Es sind die „entschlafne[n] Kinderjahre“, die den Träumenden unversehens heimgesucht haben. Um diesen Jahren Gestalt zu verleihen, läßt das lyrische Ich sie selber sprechen. Es verleiht ihnen die Stimme eines anklagenden und Beschwerde führenden Dialogpartners: „Dir wäre besser, wenn du nie geboren!“
Die Vergangenheit wird weder als eine abstrakte Zeitkategorie entrückt noch treibt sie im seelischen Binnenraum stumm und blind ihr Wesen. Sie wird als Gegenüber des Ichs und als seine Kontrahentin anschaulich. Selbst an sich plausible Fragen, die jedoch rhetorisch und konventionell wirken könnten, werden unverzüglich zu Anklagepunkten gegen das Ich umgewandelt. Heißt es zunächst in rhetorischer Verallgemeinerung: „Wie kann dem Baum, der keine Blüten trägt, Dereinst die segensvolle Frucht entsprießen?“
so wendet der Dialogpartner das konventionelle Bild sogleich ins Konkrete und schreibt es dem lyrischen Ich in sein Schuldbewußtsein ein: „Die einst dein rauher Lenz zum Opfer fand, W i r sind die Blüten, deine Kinderjahre!“
Das Ich wird zur Rechenschaft für die grobe Vernachlässigung gezogen, die es angeblich den eigenen Kinderjahren, seinen heutigen Anklägern, zugemutet hat. Angeblich – denn das kindliche Ich von einst kann eigentlich nicht haftbar gemacht werden für die Versäumnisse seiner Kindheit. So wenig der Baum rechenschaftspflichtig gemacht werden kann, wenn er keine „Blüten trägt“, denn dafür sind der Boden, auf dem er wächst, oder das Klima oder die gärtnerische Pflege verantwortlich: so wenig kann ein Kind für seine mißlungene Kindheit persönlich haften. Dafür sind Eltern, Erzieher oder unglückliche Umstände zuständig.260 Offenbar ist der Choc, unter dem Keller nach dem vorzeitigen Schulabbruch, der mißglückten Selbstausbildung zum bildenden Künstler und der Aufzehrung des mütterlichen Vermögens steht, so nachhaltig, daß er seine ‚fruchtlosen‘ Ju-
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gendjahre im Traum bis in die Kindheit zurückverfolgt. Der junge Mann, der erfolglos vom Selbststudium in München nach Hause zurückgekehrt ist, treibt sein Schuldbewußtsein auf die Spitze, wenn er das Scheitern in sein schuldloses kindliches Ich hineinverlegt. Das kann nicht ohne Selbstspaltung geschehen: in ein schuldbeladenes Ich einerseits, das einen „rauhe[n] Lenz“ heraufgeführt hat, und die „Kinderjahre“ andererseits, die ihre „Blüten“ diesem Lenz opfern mußten, anscheinend einem Ausbund an Verantwortungslosigkeit: Sie schienen in des Traumes Zauberstrahle Wie eine führerlose, wilde Kinderschar, Die, kaum entronnen aus des Lehrers Saale, Ins Feld sich warf, der Zucht und Ordnung bar. Auf weiter Haide nun sie sich zerstreuten Und ich sah ihnen nach und ward gewahr, Wie diese unfruchtbaren, heißbereuten, Die Kinderjahre mein, im wilden Sumpf – Der mochte meinen Lebenslauf bedeuten – Versanken.
Die Führerlosigkeit, unter welcher der vaterlose und von der Schule verstoßene Autodidakt Keller während seiner Kindheit und Jugend zu leiden hatte, macht er sich an dieser Stelle selbst zum Vorwurf. Sein kindliches Ich führt sich gegenüber den „Kinderjahren“ wie ein Erwachsener auf, der seine elementaren Erziehungsaufgaben versäumt hat. Nichts könnte das Leiden Kellers unter seiner „führerlosen“ Sozialisation schlagender erhellen als diese Selbsterhebung eines kindlichen Ichs zur väterlichen Führergestalt. Wie schmerzhaft muß der Mangel an ‚Führung und Geleit’ empfunden worden sein, wenn er zur Sehnsucht wird, die sich hinaufträumt an die Stelle der Erzieher, doch dort sich ein vernichtendes Urteil spricht. Ein Todesurteil, das aus schmachvoller Selbsterniedrigung erwächst und von Schuldgefühlen und Reue durchtränkt ist: „Stürzt schon von deines Herzens Hochaltare Der Hoffnung Bild? In Staub und Kot zerbrichts! Drum reiß den welken Kranz aus deinen Locken Und folg uns nach ins leere graue Nichts!“
Selbstgericht und Selbstverurteilung als Folge eines mißlungenen Lebens sind in der Zeit Kellers nicht ungewöhnlich. In ihnen treibt das Erbe einer religiösen Erziehung sein Wesen, die dem Menschen von Kindheit an ein tiefreichendes Sündenbewußtsein verschaffte. Im Bild des „Hochaltar[s]“ erinnert das lyrische Ich an die ursprünglich religiöse Prägung, die im Grünen Heinrich noch einmal vergegenwärtigt wird, mag Keller sie auch inzwischen säkularisiert haben. Bei der Droste, die das Sündenbewußtsein noch als unmittelbar christliches empfand, heißt es einmal:
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Das Dunkel stieg, die Schatten drangen ein – Wo weilst du, weilst du denn, mein milder Schein? – Sie drangen ein wie sündige Gedanken, […]. Und Zweige zischelten an meinem Fuß Wie Warnungsflüstern oder Todesgruß; Ein Summen stieg im weiten Wassertale Wie Volksgemurmel vor dem Tribunale; Mir war, als müßte etwas Rechnung geben, Als stehe zagend ein verlornes Leben, Als stehe ein verkümmert Herz allein, Einsam mit seiner Schuld und seiner Pein. (Mondesaufgang)
Am Ende des Gedichts lindert jedoch die Natur in Gestalt des aufgehenden Monds das Sünden- und Schuldbewußtsein durch eine Art Gnadenakt. Der wird dem lyrischen Ich Kellers nicht zuteil. Es muß sich seine Erlösung selbst suchen, obgleich sein Leiden komplizierter und vertrackter ist als das des Ichs der Droste. Letzteres klagt sich als ein erwachsenes Subjekt an und zieht sich seinem Alter gemäß zur Rechenschaft. Kellers Ich hingegen versetzt sich in das früheste Lebensalter zurück und spricht dort einem schuldlosen Kind das Urteil, wobei es dieses kindliche Wesen aufspaltet in ein angeklagtes Subjekt und seine veruntreuten „Kinderjahre“, die sich zur anklagenden „Kinderschar“ verdichten und als Gerichtsinstanz das Subjekt richten. Heilloser kann die Selbstentfremdung eines Ichs wohl kaum gedacht werden als durch diesen Doppelakt der ‚Haftbarmachung‘ eines Kindes und seiner Aufspaltung in zwei unversöhnbare Wesen mit dem Resultat ihrer Vernichtung. Das zweite Gedicht (Und wieder däuchte mir) ist der Versuch, die unbewußte Traumsprache der Seele ins Bewußtsein zu heben; es handelt sich um eine „Traumdeutung“ avant la lettre, im Geiste Freuds. Typischen Traumcharakter hat gleich anfangs das Selbstporträt des Ichs, das nicht etwa mit seiner empirischen Erscheinung identisch ist, sondern eine verborgene Selbstwahrnehmung zutage fördert. Der Träumende sieht sich als „abgelebte[n] Greis“ auf einer Schulbank, der „allerletzten“, sitzen, „inmitten einer frischen Knabenschar“, „ein scheuer Fremdling“, der versäumte Schullektionen nachzuholen, mehr noch: ein „verfehltes Leben“ wiedergutzumachen sucht. Keller spürt in diesem Traum seinem JugendTrauma nach: der Relegation von der Schule, durch die er als Vierzehnjähriger in seinem Bildungsprozeß unterbrochen und aus der Gemeinschaft der Mitschüler und Lehrer verstoßen worden war. Das Traumbild eines vorzeitig Gealterten, dessen „angstvoll[es] Mühn“ vergeblich bleibt, deutet an, daß hier eine Jugend ungelebt verstreichen, zur Unzeit vergreisen mußte, und daß der Zweifel, Versäumtes je wieder aufholen zu können, in
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den Winkeln der Seele hartnäckig nistet: „Was willst du Alter in der Jugend Haus, / Verpestend meinen schönen Maienflor? / Du grauer Junge, mache dich hinaus!“261 Selbstzweifel und Selbstentwertung des lyrischen Sprechers erhalten ihr bedrückendes, zu Boden drückendes Gewicht durch einen typischen Traumeinfall; er gehorcht nicht etwa einer sachlichen Logik, wohl aber der Psycho-Logik des Schuldbewußtseins. „Ein altes Kirchenlied“, von Lehrer und Schülern plötzlich gesungen, verbannt mit seinen „frommen Töne[n]“ den jungen Greis aus dem Unterricht. Religion und herrschende Moral, so darf man deuten, sprechen den zu Unrecht Relegierten auch noch im Nachhinein schuldig. Mit „schwankenden Schritten“ sucht er dem Gesang „feldauswärts“ zu „entrinnen“, bleibt aber wie gefesselt in seinem Bannkreis; es ist dies eines jener typischen Traumerlebnisse, in denen die angestrebte Flucht zu lähmender Bodenhaftung wird. Selbst in der Abwendung von der Gesellschaft bleibt der Sprecher ihr zugekehrt und ihrem Urteil unterworfen. Er übt zwar Kritik an ihr, wenn er das „friedenvolle, heil’ge Lied“, das Lehrer und Schüler anstimmen, einen „lächelnden Verbannungsfluch“ nennt, doch ist es eine unbewußte, von ihm selbst nicht begriffene Kritik. Sie wird überwölbt von seinem Schuldbewußtsein, das sogar das Todesurteil der Gesellschaft als kindlich-fromm und „hold“ gutheißt, ja, es zum „blumig[en] Leichentuch“ poetisiert. In diesem kühnen Oxymoron gewinnt das Ineinander von unbewußter Kritik und schuldbewußter Hinnahme einen pointierten Ausdruck: „Es deckten, wie ein blumig Leichentuch, / Die holden Kinderstimmen fest mich zu.“ Das dritte Gedicht (Es ist ein schöner Trost) ist eine Reprise der beiden ersten und gleichzeitig eine Art Entgegnung auf sie, mehr noch: eine Gegensteuerung. Das lyrische Ich träumt sich in eine neue „Hoffnung, einen neuen Mut“ im Gegenzug zu den „bleichen Schrecken“ der voraufgegangenen Traumbilder: Der blaue Morgenhimmel, goldbesäumt, Goß in mein Herz erneute Lebensglut; Von reinem Silber klingend überschäumt Glänzt‘ von den Bergen klarer Quellen Flut. Es war ein Herbsttag, heiter, frisch und rein!
Der frohgemute Lauf durch die sonnenbeglänzte Landschaft führt das träumende Ich zuletzt an einen „tiefe[n] See“, der „in Waldesnacht“ vor ihm ruht und dessen hell-dunkler „Wasserspiegel“ eine Umwandlung seiner hoffnungsvollen Seelenlage einleitet: Da schaute, wie ein zweifelhafter Fund, Aus feuchtem Grab mein eigen Bild empor; Mir bebt’ der Mund, dem Bilde bebt’ der Mund,
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Aus unsern Augen stürzten Tränen vor, Und durch die Tränen sahen wir uns tief, O tief ins Eine arme Herz, und ich beschwor Mein eigen Bild, laut, laut, und rief: „Hast du nun wirklich keine Hoffnung mehr?“ –
Das lyrische Ich, das so zuversichtlich seinen Traum in Szene gesetzt hat, ist erneut auf dem Grund des Elends angelangt, den die ersten beiden Gedichte ausgebreitet hatten. Der Schmerz darüber entlädt sich in einem Seufzer, der im Wasser „Zitterwellen“ erzeugt und das gespiegelte Ebenbild zum Verschwinden bringt. Der Schmerz sucht in einer Verdrängung Zuflucht, der das Ich jedoch standhält. Es ruft die Wiederkehr seines „bleiche[n] Doppelbild[s]“ herbei, weil es offenbar danach drängt, seinem heillosen Selbst ins Auge zu sehen und es zu erfassen. Doch da geschieht eine merkwürdige, eine ‚unerhörte Begebenheit‘: mit dem „Doppelbild“ im See erscheint zugleich dessen Verursacher, das alter ego des Träumenden, das da plötzlich neben ihm „ruhend ausgestreckt“ am Ufer liegt – und nun seinerseits im See gespiegelt wird. Dergestalt kreuzen sich vier Ich-Gestalten: das Ich, sein alter ego und die Spiegelbilder der beiden auf der Wasseroberfläche. Nur der Traum ist zu solchen Vervielfachungen des einen Ichs imstande. Sie sind gleichwohl nicht die Ausgeburten einer wild wuchernden, verrückten Phantasie, sondern besitzen ihre eigene Logik: eine einleuchtende Psycho-Logik. Das alter ego ist einerseits eine Prachtausgabe des Ichs („reiche Kleider schmückten die Gestalt“), andererseits stellt es sein potenziertes Elend dar: Es war ein Jüngling und doch schon so alt, Weit bleicher noch von innerlichem Gram Als ich bislang in meinen Augen galt;
In dieser Jünglingsgestalt kehrt der „abgelebte Greis“ des zweiten Gedichts wieder, aber mit den deutlich verschärften Zügen eines „innerlichen Gram[s]“, ja mit dem Bewußtsein, „das größre Leid“ erlebt zu haben, obgleich die Voraussetzungen zu einem glücklichen Leben in weitaus höherem Maße gegeben waren als beim träumenden lyrischen Ich: „Ich bin geboren in des Glückes Schoß; Mir wurden der Talente mancherlei Und tiefe Sorgfalt zog sie mit mir groß. Ich habe jede Blume früh gepflückt Am Lebensstrom, der heiter vor mir floß; Das Schwerste ist mir leicht und schnell geglückt, Ich grub mit Eifer in des Wissens Schacht. Kein Tag ward mir je ungenützt entrückt, Zu eigen hab ich alles mir gemacht, Was nur der Mensch begierig lernen kann: Das hat mir frühe Früchte eingebracht,
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Und so ward ich, ein Knabe noch, zum Mann! Zum Mann? – O ein verlorner Sohn bin ich, Der all sein Sein verpraßt, eh es begann!“
Was ist hier geschehen? Kellers lyrisches Ich projiziert in sein alter ego, den reich geschmückten Jüngling, einen alternativen Lebensentwurf. Diesem jungen Herrn ward all das zuteil, was dem lyrischen Ich – und seinem Urheber Gottfried Keller – versagt geblieben ist: „tiefe Sorgfalt“ der Erziehung und Bildung, zielbewußte Ausnutzung jedes Tags und jeder Stunde, die Ernte „frühe[r] Früchte“ aus „des Wissens Schacht“. Dennoch, vielmehr gerade deshalb, gerade aufgrund dieser nimmersatten Wißbegier und eines unablässigen Strebens nach frühreifer Erkenntnis hat dieser Jüngling und vorzeitige Mann das Lebensglück verspielt: „In meinem übersatten Aug verblich Des Lebens wechselvolles Farbenspiel! Und kaltes, totes Grau umhüllet mich. […] Und ich lag da mit tief gebeugtem Haupt, Verschmachtend in des Wissens üpp’gem Land, An das ich Tor mit eitlem Sinn geglaubt.“
Die Strategie des träumenden lyrischen Ichs ist durchsichtig genug, mag sie auch unbewußt sein. Es tröstet sich über sein „verfehltes Leben“, das im zweiten Gedicht zur Darstellung gelangte, eines Lebens der Entbehrungen und Versagungen, indem es ein noch ‚verfehlteres‘ Leben entwirft, das aus einer Fülle von Chancen und Gaben erwachsen ist. „Ich hab in vollem Lauf verfehlt mein Ziel,“ bekennt das alter ego. Unverkennbar sind die Anklänge an Goethes Faust, die das lyrische Ich verlauten läßt, um dem Mißgeschick dieses alter ego Gewicht, kanonisch-literarisches Gewicht, zu verleihen. An jenen Faust, der durch viele Fakultäten und Wissensgebiete gezogen ist, um sich am Ende als „arme[r] Tor“ zu begreifen, der mit „welke[r] Brust“ vergeblich zur Natur hin drängt, die sich ihm lediglich in Büchern offenbart: „Welch Schauspiel! Aber ach! ein Schauspiel nur!“ An jenen Faust, der kurz vor der Versuchung zur tödlichen Selbstbetäubung die verzweifelte Einsicht ausspricht: Den Göttern gleich’ ich nicht! Zu tief ist es gefühlt; Dem Wurme gleich’ ich, der den Staub durchwühlt262
Das lyrische Ich Kellers spendet sich Trost, indem es einen verheißungsvollen alternativen Lebensentwurf ersinnt, der fataler scheiterte als sein eigener Lebensgang. Um diesem Lebensentwurf repräsentative Züge zu verleihen, reichert es ihn nicht nur mit dem Mißlingen Faustens an, es läßt sein alter ego auch im Geiste Hamlets, der Tragödienfigur Shakespeares, reden, wenn es verzweifelt klagt:
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„Enttäuscht und schaudernd schaue ich zurück In meiner Jugend aufgewühlten Staub. Es martert mich der Langeweile Pein; Ich bin im Frühling schon des Winters Raub. […] So fluch ich nun des Tages mildem Strahl! So lock ich fluchend mir den Tod ans Herz Und bau von Flüchen mir ein Leichenmal!“
Die Verse sind jener Lebensmüdigkeit und Melancholie eng benachbart, die Hamlet gleich bei seinem ersten Auftritt (I, 2) äußert („Wie ekel, schal und flach und unersprießlich / scheint mir das ganze Treiben dieser Welt“) und die er in seinem Bildungsüberdruß variiert, wenn er „von der Tafel der Erinnerung“ weglöschen möchte „alle törichten Geschichten“ und „aus Büchern alle Sprüche, alle Bilder“ (I, 5), um nichts als „Schmach und Gram“ zu empfinden (ebd.) und am Ende den Freitod zu wählen.263 Die Anklänge an bekannte literarische Leidensgestalten bergen allerdings ein Risiko in sich. Der Schmerz kann durch sie gelegentlich wie ein Zitat klingen, als sei er stellenweise erborgt aus der Rüstkammer der überlieferten Leidenstopoi. Der zeitgenössische Weltschmerz besitzt partiell genau diesen erborgten Charakter und mutet dann wie ein Zitat tradierter Leidensfiguren an. Eben dieser heikle Umstand – der Mangel an ursprünglicher Leidenskraft – trifft auf das alter ego des lyrischen Ichs zu: „Doch fühl ich, daß ich schon verdorben sei Zu reiner Leiden jungfräulicher Qual. So fluch ich nun dem ew’gen Einerlei!“
Das lyrische Ich hingegen, das da träumt, kann von sich sagen, daß es sich gerade durch seine ursprüngliche Leidenskraft von seinem alter ego rühmlich unterscheidet. Während letzteres „nach des Unglücks Feuerweih“ geradezu „dürstet“, aber durch eine „verwöhnt[e]“ Erziehung und den Überfluß an Bildung „übersatt“ geworden ist und folglich „zu feige für das Ungemach“, also wie Hamlet „von des Gedankens Blässe angekränkelt“, ja unheilbar krank geworden ist, besitzt das lyrische Ich noch die Fähigkeit zum authentischen Leiden. So kann es sich denn von seinem alter ego lösen. Es kann dieses im Waldteich verschwinden lassen und mit ihm alle die Komponenten seines Schmerzes, die abgelebt und überaltert sind oder auch nur à la mode dem verbreiteten Weltschmerz korrespondieren. Entsprechend liest sich der Kommentar des träumenden lyrischen Ichs zum Untergang seines alter ego mitsamt dessen „bleiche[m]“ Spiegelbild: So sprach der Trug und schwang sich niederwärts, Und über ihm schloß sich die kalte Flut! Mir aber war, als ob mein alter Schmerz Nun bei dem Toten auf dem Grunde ruht’.
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Indem das lyrische Ich im Medium des Traums seinen „alten“, das heißt abgelebten und verbrauchten „Schmerz“ seinem alter ego und dessen „Doppelbild“ überantwortet und beide zum Verschwinden bringt, legt es selbst seinen Charakter als „abgelebter Greis“ ab. Es verjüngt sich und rettet die ursprüngliche, originäre Kraft seines Schmerzes, seine vitale Leidensfähigkeit, aus der allein das rechte Leben erwachsen kann. Denn diese Einsicht hat es seinem alter ego abgelauscht: „Nicht aus der Schule strömt der Taten Kraft, […] Und aus dem Unglück nur entspringt das Glück, […]“
Mit der willentlichen Evokation seines alter ego, dem es erst einen alternativen Lebensentwurf andichtet und dem es dann die lähmende Negativität seines „alte[n] Schmerz[es]“ überantwortet, gelingt dem lyrischen Ich die Selbstbefreiung vom „abgelebte[n] Greis“ zum jungen Mann. Eine neue Lebensoffenheit kündigt sich in glückverheißenden, das Unglück emphatisch transzendierenden Naturbildern an: Metaphern einer hoffnungsvollen Seelenlage: Doch i n m i r war ein heller Tag erwacht; Ich sprang empor in frischer Fröhlichkeit: Wie Morgenrot, vom Ostwind angefacht, Wie einen taubesprengten Blütenkranz Trug ich mein Unglück singend durch die Nacht Und reiht‘ mich in des Lebens wilden Tanz!
Adolf Muschg hat diesem Gedicht eine höchst lesenswerte, seinem Schluß eine skeptisch-eindringliche Deutung gewidmet. Er hat seine „so ergreifende wie umständliche Strategie“264 – die Erfindung eines Doppelgängers des lyrischen Ichs und seines „bleiche[n]“ Spiegelbilds – so charakterisiert: „[…] dem kunstvoll abgespaltenen vierten Ich können nun die Versäumnisse aller Ich-Personen aufgeladen und die Biographie eines fruchtlosen Lebens auf den geträumten Leib geschrieben werden. […] Aus der haarfeinen Differenz dieses zurückgespiegelten zum spiegelnden Ich wird ein schmaler Grund zur Zuversicht konstruiert. […] Das heißt: Die Beschwörung des Doppelgängers, der mit der Schuldigkeit ungelebten Lebens beladen wurde, endet mit seiner Austreibung, von der man nur hoffen kann, daß sie gelungen sei: Mir aber war, als ob mein alter Schmerz Nun bei dem Toten auf dem Grunde ruht‘.
So hat das geträumte Ich sein geträumtes Gegenstück wenigstens im Traum gebannt.“265 Es sei dies, so Muschg, „ein paradoxer, ein tragischer Erfolg“266, namentlich im Hinblick auf den Autor selbst. Denn für ihn bleibe der ge-
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träumte „Entlastungsprozeß, die Befreiungsfiktion ein Stück Literatur. Das Un-Leben [des Autors Keller] führt zum Leben nur im Gedicht. Nur als solches gelingt es – der junge Keller hat nichts Stärkeres geschrieben; als Poesie wenigstens befestigt sich die geträumte Existenz, entgeht sie der Verzweiflung.“267 Kellers ‚Traumdeutung‘ mit ihrem erhellenden Eindringen „in des Schlafes dunklen Schacht“ hat durchaus modernen Charakter kraft ihrer radikalen Negativität. Modern ist auch der Ausgangspunkt des Zyklus Gedanken eines Lebendig-Begrabenen268, von Keller einige Zeit nach den drei Nacht-Gedichten verfaßt, als wollte er die dort entfalteten Fragen einer Prüfung unterwerfen, gedanklich und psychologisch. Dieser experimentelle Charakter des Zyklus zeigt sich darin, daß Tod und Todesangst, zentrale Themen in der Nacht-Trilogie, in einen wiederholten Konflikt mit dem Leben und seinen Wunschbildern versetzt werden. Das lyrische Ich sucht das Gewicht beider Phänomene leitmotivisch zu ermessen und ihren Widerstreit transparent zu machen. Dem Tod benachbart ist die Ewigkeit, die gleich in den ersten Gedichten (I. und II.) umkreist und die im vorletzten (XVIII.) durch den Dialog mit Gott repräsentiert wird. Den damit verbundenen hoffnungsvollen Ton desillusioniert freilich das Schlußgedicht (XIX.), das die „Todesqual“ und die unwillige ‚Unterwerfung‘ unter das „Sterben“ in den Vordergrund rückt. Der Zyklus mündet dergestalt in ein offenes Ende, das – psychologisch betrachtet – den Gedanken der Ewigkeit unterläuft, zumindest jedoch das „begrabene“ Subjekt in ungelöstem Kampf damit zeigt. Das ist schon ein Vorbote der wenige Jahre später stattfindenden Auseinandersetzung Kellers, des werdenden Feuerbachianers, mit dem Ideengestirn ‚Gott‘ und ‚Ewigkeit‘ (s. unser Kapitel IV). Wenn das lyrische Ich den Widerstreit zwischen Tod und Leben leitmotivisch überprüft, so kennzeichnet es damit psychologisch die Macht des Todestriebs und des Lebenswillens als fundamentales Spannungsverhältnis der menschlichen Existenz. Zum Lebenswillen gehören wesentlich die Wunschbilder, die von der Anrufung des Frühjahrs (III., VIII., IX.) zur Umwandlung des Tannensargs in einen Schiffsmast (XIV.) und zur Evokation eines Tannenwaldes in Kindheit und Jugend reichen (XV.). Nicht zufällig ist gerade das XV. Gedicht das umfangreichste des Zyklus. Es entwirft eine Reihe von Utopien, die den Heranwachsenden (den kleinwüchsigen Autor) als „keck[en]“ „kleine[n] Riese[n]“ vorstellen, eine Landschaft im „Silberduft“ heraufbeschwören, einen „Weih“ als Verkörperung der Lebenskraft daherrauschen lassen und eine Eidechse ins Spiel bringen, „lebendig-ruhig, fein und glühend“, die ihre „Glieder“ wie „ein bunt Geschmeide“ um den Hals des Jungen legte, ein Sinnbild des beschützenden und zarten Eros, aber auch des Kunstsinns des Ichs: „Das
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war der schönste und der reichste Schmuck, / Den ich in meinem Leben je getragen.“ – Dieses beglückende Wunschbild der Liebe (und der Kunst) ist gleichsam Balsam auf die Wunde, die das Ich sich selber zufügte, als es der „Einen“ das Geständnis seiner Neigung verweigerte (XI.), ein von Keller wiederholt variiertes Motiv (vgl. Am Ufer des Stromes, Kap. IX). Die glückverheißenden Wunschbilder als eine elementare Kraft des Lebenswillens sind es, die das ‚Herz‘ des Zyklus bilden. Sie finden ihre Krönung im XVI. Gedicht, das die Utopie der „Freiheitslust“ entwirft und das Individuum im Zauber des persönlich empfundenen und zugleich volksverbundenen Eros darstellt (s. unsere Interpretation in Kap. IV).269 Dieser utopische Entwurf ist auch als Gegenbild zur zeitgeschichtlichen Situation um die Mitte der vierziger Jahre bedeutsam. Denn die bisweilen lähmenden Tendenzen dieser Zeit, die dem Individuum jede politische Selbstentfaltung erschweren und eine republikanische Entwicklung der Gesellschaft behindern, sind ihrerseits im Sinnbild des lebendig Begrabenen mitgemeint.270 Wenn der „Lebendig-Begrabene“ in einem poetischen Experiment der Nachbarschaft des Todes utopische Lebensbilder abgewinnt, so stellt sich die Frage, ob seine Kindheit und Jugend dafür den Boden bereitet haben. Hat die erlebte Vergangenheit gegenläufige Erfahrungen zu den Albträumen der Nacht-Trilogie ermöglicht? Es scheint, daß Kellers berühmtes Gedicht Jugendgedenken Hinweise auf die Antwort enthält. Jugendgedenken Ich will spiegeln mich in jenen Tagen, Die wie Lindenwipfelwehn entflohn, Wo die Silbersaite, angeschlagen, Klar, doch bebend gab den ersten Ton, Der mein Leben lang, Erst heut noch, widerklang, Ob die Saite längst zerrissen schon; Wo ich ohne Tugend, ohne Sünde, Blank wie Schnee vor dieser Sonne lag, Wo dem Kindesauge noch die Binde Lind verbarg den blendend hellen Tag: Du entschwundne Welt Klingst über Wald und Feld Hinter mir wie ferner Wachtelschlag. Wie so fabelhaft ist hingegangen Jener Zeit bescheidne Frühlingspracht, Wo von Mutterliebe noch umfangen Schon die Jugendliebe leis erwacht, Wie, vom Sonnenschein Durchspielt, ein Edelstein, Den ein Glücklicher an’s Licht gebracht.
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Wenn ich scheidend einst muß überspringen Jene Kluft, die keine Brücke trägt, Wird mir nicht ein Lied entgegenklingen, Das bekannt und ahnend mich erregt? O die Welt ist weit! Ob nicht die Jugendzeit Irgendwo noch an das Herz mir schlägt? Träumerei! Was sollten Jene hoffen, Die nie sahn der Jugend Lieblichkeit, Die ein unnatürlich Los getroffen, Frucht zu bringen ohne Blütenzeit? Ach, was man nicht kennt, Danach das Herz nicht brennt Und bleibt kalt dafür in Ewigkeit! In den Waldeskronen meines Lebens Atme fort, du kühles Morgenwehn! Heiter leuchte, Frühstern guten Strebens, Laß mich treu in deinem Scheine gehn! Rankend Immergrün Soll meinen Stab umblühn, Nur noch Ein Mal will ich rückwärts sehn!271
Kellers Gedicht fesselt seine Leser und Hörer seit je durch Rhythmus und Melodie. Strophe für Strophe bietet es vier längere (10- bzw. 9silbige) Zeilen auf, denen zwei kürzere (5- bzw. 6silbige) Zeilen folgen, ehe erneut eine längere Zeile den Abschluß bildet. Die vier längeren Zeilen bringen jeweils die Kindheit und Jugend ins Spiel oder durchmischen die Erinnerung mit einem Zukunftsblick; sie haben reflektierende Züge, während die beiden kürzeren Zeilen einen Ausruf, ein Erstaunen, eine Emotion im Hier und Jetzt komprimieren, ehe in der längeren Abschlußzeile die Strophe entspannt ausatmet. So entsteht eine rhythmisch differenzierte, mit variablen Schwingungen ausgestattete strophische Bewegung, kunstbewußt nach der Manier von Goethes An die Geliebte und Friedrich Rückerts Aus der Jugendzeit, zu Lebzeiten Kellers eines der bekanntesten Gedichte deutscher Sprache. Rückerts Strophenbau (auf drei Langzeilen folgt eine Kurzzeile) mag Keller angeregt haben. Es sei übrigens nicht verschwiegen, daß Keller es dem Leser nicht immer leicht macht, sich in seine rhythmische Variationsfülle einzuschwingen. Die zweite 6silbige Kurzzeile jeder Strophe läßt sich, anders als die erste 5silbige, nicht einfach als Trochäus lesen, wie der Leser es vielleicht tun möchte, nachdem ihn auch alle übrigen Zeilen in das trochäische Schema eingewiegt haben. Nein, das Gedicht schlägt hier, im sechssilbigen Vers, zu Beginn nicht durchweg die gewohnte trochäische Hebung vor, vielmehr eine Senkung, die man als einen Auftakt lesen kann, auf welchen dann der trochäische Versfuß folgt, es sei denn, der Leser
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bevorzugt anfangs eine schwebende Betonung auf den ersten beiden Silben der Zeile. Mit dieser subjektiven Freiheit der versrhythmischen Gestaltung überrascht das Gedicht den Leser, bewahrt ihn aber auch vor einer schematischen, gewohnheitsmäßigen Versfüllung. Auch die melodischen Komponenten des Gedichts lassen aufhorchen. Von bezwingender Anmut ist der Aufgesang des Gedichts mit dem wundersamen Kompositum „Lindenwipfelwehn“, bis dahin in deutscher Sprache unbekannt: Die wie Lindenwipfelwehn entflohn
Eine melodische Konsonantenfolge, gebildet aus zwei Leitmotiven, dem alliterierenden stimmhaften Reibelaut w und dem dreifachen (leicht dahingleitenden) Liquid l, wird von einer Vokalsequenz begleitet, die mit den hellsten Lauten der Sprache, dem i und dem e, assonierend spielt (drittes Leitmotiv), ehe das dunkle volle o den Schlußstein setzt. Die vokalische Lautsequenz schwingt mehrfach (viermal) im stimmhaften Nasal n aus (viertes Leitmotiv), der eine leichte Pedalwirkung besitzt und die Helle der Vokale abtönt. So findet das poetische Bild vom Lindenwipfelwehn einen nuancierten melodischen, von Gleitlauten und Vokalhelle bestimmten Ausdruck. 272 Die dominante Vokalhelle in „Lindenwipfelwehn“ findet ein Echo sogleich in der Folgezeile. Mit der „Silbersaite“, die verheißungsvoll im vergangenen Leben des zurückblickenden Ichs „angeschlagen“ wurde, werden nun auch die Leitmotive des Gedichts ‚angeschlagen‘: (optische) Helle und (akustischer) Klang. Denn der „klare“ und „bebend[e]“ Ton, den die Saite einst anschlug, klingt seither von Zeit zu Zeit wider, auch wenn die Saite selber „längst zerrissen“ ist: Unschuld, Naivität und Selbstverständlichkeit des kindlichen Spiels sind verklungen (1. Strophe), aber ihr Widerklang tönt fort. Er wird in der zweiten Strophe aufgerufen und in Strophe vier erneut beschworen: erst als fernes ‚Lied vom Tode‘ beim Übergang des Ichs ins Jenseits, dann als Anruf an das Herz im diesseitigen Leben. Was dem lyrischen Ich in gedämpften Echos aus einer glücklichen Vergangenheit herübertönt, darf der Leser als die Anfänge einer Musik der Poesie verstehen, mithin als Hinweise auf seine Berufung zum Dichter. Von dieser Berufung legt er hier Zeugnis ab. Das lyrische Ich spricht ja nicht bloß von vergangenen Klängen und Widerklängen, es richtet auch sein Gedicht auffällig musikalisch ein, versieht es mit abwechselungsreichen Rhythmen und intensiven melodischen Elementen. Letztere werden nicht nur in poetischen Vergleichen wie dem schon zitierten hörbar („Die wie Lindenwipfelwehn entflohn“), sie durchziehen in Form von Assonanzen und Alliterationen einprägsam andere Verszeilen („Hinter mir wie
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ferner Wachtelschlag“), sie binden durch Anaphorik (das wiederholte „Wo“) die ersten drei Strophen aneinander, und sie bekunden sich Strophe für Strophe in der Vielfalt der Reime: Kreuzreim, Paarreim, umarmender Reim! Die musikalische Mitgift des vergangenen Lebens wird dem lyrischen Ich zur poetischen Verpflichtung: es bezeugt durch rhythmischmelodischen Reichtum seine Bestimmung zum Dichter. Zum akustischen Leitmotiv des Gedichts gesellt sich ein optisches. Auch es wird in der „Silbersaite“ angeschlagen: die Helle der Vokale weist auf das Licht voraus, das die Landschaft des Gedichts belebt. Es herrscht vor in der Existenz des Kinds, das „blank wie Schnee vor dieser Sonne“ lebte, also eine glückverheißende Idylle gekannt hat, die sich, so sagt es Strophe drei, wie eine „bescheidne Frühlingspracht“ ausnahm; es war eine Zeit im Zeichen des Eros, „wo von Mutterliebe noch umfangen / Schon die Jugendliebe leis erwacht“. Der Vergleich jener lichtdurchwirkten Zeit mit einem „Edelstein“ mag den Leser überraschen; aber lichtdurchwirkt – „vom Sonnenschein durchspielt“ – ist auch der seltene Stein, der überdies die Kostbarkeit des vergangenen Erlebens verdeutlicht. Die sechste Strophe fängt den Abglanz beglückenden Sonnenlichts ein – in jenem „Schein“, Widerschein, den sich das lyrische Ich als Verheißung des künftigen Lebens erhofft. Es kleidet dieses Glücksversprechen metaphorisch ins unverwelkliche Leben der Pflanze: „Rankend Immergrün / Soll meinen Stab umblühn“. So evoziert der junge Keller die Variationen des Lichts parallel zu jenen der Töne und Klänge. Eine vom Licht angeregte Schaulust macht sich bemerkbar – und Schaulust ist es ja auch, die Kellers Beschreibungen im Reich der Dichtung wesentlich mitbestimmt und seine Welterfahrung mitprägt: Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, Von dem goldnen Überfluß der Welt!
Klang und Licht sind im Jugendgedenken Lebenselemente, die als Widerklang und Widerschein wiederkehren und zugleich als Elemente der Kunst bedeutsam werden. Das Gedicht zeugt von ihnen, wenn es seine Strophen mit rhythmischem und melodischem Reichtum ausstattet und wenn es die Landschaft seiner Erinnerungen mit Glanz und Licht erfüllt. So scheint denn Kellers Jugendgedenken in eine sinnreiche Harmonie zu münden. Doch der Schein trügt. Das Gedicht imaginiert ein Kindheitsund Jugendglück, ohne die Spuren des Unglücks gänzlich zu tilgen, die in der Nacht-Trilogie so deutlich hervortreten. Diese Spuren bewahrt die fünfte Strophe auf. Nachdem das lyrische Ich vier Strophen lang die „Frühlingspracht“ der Kindheit und „Jugendzeit“ heraufgerufen hat, ge-
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denkt es all derer, die ausgeschlossen blieben von „der Jugend Lieblichkeit“ und die nun, jeglicher „Blütenzeit“ beraubt, gleichwohl ihre „Frucht zu bringen“ haben. Diese Bringschuld aber, so argumentiert das lyrische Ich erneut zu unserer Überraschung, schmerze nicht, denn wer kein Glück und keine Liebe erfahren habe, vermisse dergleichen auch nicht, sein Herz bleibe diesbezüglich „kalt“, „in Ewigkeit“ kalt.273 Wenn aber solche Herzenskälte vorwaltet bei den um ihre Jugend Betrogenen, wenn diese schlechterdings nichts vermissen: warum nimmt sich dann diese fünfte Strophe ihrer an? Wozu der Hinweis auf Menschen, die den Anfängen ihres Lebens weder mit Sehnsucht noch mit Trauer gedenken, in einem Gedicht, das dieser Anfänge so nachhaltig gedenkt?274 Adolf Muschg vermutet in dieser störenden Strophe ein heimliches Bekenntnis des Autors.275 Keller habe, so Muschgs Überlegung, mitten in der lyrischen Glücksbeschwörung sich seines realen Unglücks in Kindheit und Jugend erinnert. Dem wird man nur beipflichten können. Die verstörende Erinnerung dürfte der Impuls gewesen sein, der die Strophe hervorgebracht hat: ein Impuls der Wahrhaftigkeit. Aber ist damit diese Strophe hinreichend erklärt? Warum macht Keller so viel Aufhebens von „Jenen“, die um ihre Jugend betrogen wurden und die – nach seinem eigenen Beispiel im Gedicht Eine Nacht – „ohne Blütenzeit“ heranwachsen mußten, wenn sie ihr „unnatürlich Los“ nicht als Mangel empfinden und folglich keine Sehnsucht nach der entschwundenen Jugend kennen? Ach, was man nicht kennt, Danach das Herz nicht brennt Und bleibt kalt dafür in Ewigkeit!
Redet hier Keller noch von sich? Blieb ihm – entgegen der anderslautenden Behauptung in Strophe 3 – Mutter- und Jugendliebe versagt und wäre sein „Herz“ für immer erkaltet? Und daher bar jeder rückwärts gewandten Sehnsucht? Dann hätte er schwerlich dieses Sehnsuchts-Gedicht schreiben können… Die Sehnsucht nach ‚lieblicher‘ Kindheit und Jugend verträgt sich mit Herzenskälte nicht. Und Herzenskälte kann keine sehnsüchtigen Verse und keine Beschwörung vergangenen Glücks hervorbringen! Diese Unvereinbarkeit muß Keller empfunden haben. Er muß, wie unbewußt auch immer, gemerkt haben, daß sein Jugendglück zwar mit Unglück reichlich durchmischt war, daß er jedoch keineswegs zu „Jenen“ gehörte, die von „der Jugend Lieblichkeit“ gänzlich ausgesperrt gewesen sind und daher ‚ewige‘ Herzenskälte entwickelt haben. Kellers Gebrauch der Pronomina in dieser 5. Strophe ist erhellend. Im Gegensatz zu allen anderen Strophen verwendet er hier das unpersönliche „man“ und das vom Ich ablenkende „Jene“; während er sonst eindeutig von sich redet und die IchForm bevorzugt, lenkt er hier den Blick auch stilistisch auf andere. Er
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bringt sich zwar, einem Impuls der Wahrhaftigkeit folgend, ins Spiel und erinnert sich des Unglücks der Kindheit, aber er mag sie nicht ganz und gar als ein Unglück abtun. Ein derartiges „unnatürlich Los“ hat vielmehr andere „getroffen“, eben „Jene“, von denen er sich nun doch unterscheiden möchte. Denn die Folge dieses Loses ist Herzenskälte – während Kellers lyrisches Ich vor Sehnsucht „brennt“. Nachdem sich ihm jene anderen aufgedrängt haben, die ihm teilweise nahestehen, entfernt er sich wieder von ihnen und beruhigt sich damit selbst. Wenngleich ihm das Glück der Kindheit und Jugend nur unzureichend zuteil geworden war, ist es ihm doch auch nicht gänzlich vorenthalten worden. Im Akt des Dichtens ergänzt und verschönt er es, verleiht er seinen Glücksbeschwörungen einen emphatischen Akzent. Muschg – und mit ihm auch andere Keller-Forscher276 – bestreiten allerdings tragende Glücks- und Liebeserfahrungen in Kellers Jugend prinzipiell und erblicken in „dem verschwiegenen Totenreich seines UnLebens“ den einzigen „Grund“ seines Dichtens.277 Dafür scheint die Trilogie Eine Nacht durchaus zu sprechen. Sie gibt den Blick auf prägende Kräfte seines bisherigen Lebens frei, aber doch nicht auf alle. Keller hat Sätze wie die folgenden geschrieben: Die Erinnerung an empfangene Liebe, als ein Zeugnis, daß man ein Mal im Leben liebenswürdig und wert war, ist es vorzüglich, welche die Sehnsucht nach der frühen Jugend nie ersterben läßt. Wer nicht das Glück hatte, eine aufknospende zarte und heilige Jugendliebe zu genießen, der hat dagegen gewiß eine treue und liebevolle Mutter gehabt, und in den spätern Tagen bringen beide Erinnerungen ungefähr den gleichen Eindruck auf das Gemüt hervor, eine Art reuiger Sehnsucht. Wer aber in jeder Weise verwaist und einsam aufgewachsen ist, der kann wohl sagen, daß er um einen Teil des Lebens zu kurz gekommen sei. (Der grüne Heinrich. 1. Fassung, Erstes Kapitel)278
Kann jemand so reden, ohne erlebt zu haben, wovon er redet? Kann er es mit diesen prägnanten Formulierungen, die zugleich Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen? „Die Biographie muß sagen: kein Wort ist wahr“ an der poetischen Rede von der Mutter- und Jugendliebe. So formuliert es Adolf Muschg.279 Das erinnerte Glück sei nur „vorgegeben“ und „vorgeschützt“, nur eine „gelungene Mystifikation des Unglücks“280. Nein, dafür redet Keller zu genau von seiner „reuigen Sehnsucht“! Und das „Unglück“ selbst als lebendige Erfahrung setzt ja die des „Glücks“ voraus, mag dies noch so bescheiden gewesen sein. Sonst müßte nach der Logik des Gedichts Herzenskälte die vorherrschende innere Verfassung sein, die wohl kaum ein Gedicht dieser Art hervorbringen könnte. Im übrigen durchziehen auch den Grünen Heinrich (auf den sich Muschg zu Recht als eine seiner ‚Quellen‘ beruft) zahlreiche Spuren einer Glückserfahrung – sei es das Erlebnis der auf den Dächern der Stadt sich spiegelnden Abendröte
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oder der den häuslichen Hinterhof bescheinenden Spätnachmittagssonne oder die auf dem Lande bei den Verwandten verbrachten Sommertage. Es sind Glücksspuren, die wohl nicht von der träumenden Phantasie allein, vielmehr auch vom Leben hinterlassen wurden. Dennoch ist Muschgs Einsicht in den Fremdkörper des Gedichts (Strophe 5) bedeutungsvoll. Als ästhetisch verstimmende „Einrede“ aus der „Tiefe“ des Bewußtseins, als Kellers „mitschwingende Erinnerung an das Mißlingen“ seines Lebens281 besitzt dieser Fremdkörper eine eigene Wahrheit. Das ist die interessante Kehrseite der ästhetischen Verstimmung, die er dem Leser bereitet. Daß es die einzige im gesamten Gedicht sei, das im übrigen durch seine „ästhetische Stimmigkeit“ fasziniere282, also das reale mißlungene Leben in gelingende Kunst verwandle, ist der schöne, doch nicht ganz überzeugende Gedanke Muschgs. Noch ehe die Fremdkörperstrophe des Gedichts ihre Aufwartung macht, hat sie ein verstörend kleines Vorspiel in Strophe 4. Dort fragt sich das lyrische Ich voller Zweifel, ob denn „die Jugendzeit / Irgendwo noch an das Herz mir schlägt?“ – nachdem es bis dahin erzählt hatte, daß die Jugendzeit ihren zarten „ersten Ton […] mein Leben lang“, ja gerade „heut noch“, habe ‚widerklingen‘ lassen (Strophe1). Keller traut demnach nicht ganz der eigenen Glücksbeschwörung. Auch wenn die Erfahrung des Glücks auf diese Weise relativiert wird, bleibt sie dennoch – so erhofft es die letzte Strophe – ein „Frühstern guten Strebens“, der das künftige Leben des Ichs fördern kann. Sein irdisches Leben, wohlgemerkt, nicht etwa sein späteres, jenseitiges. Nachdem es in Strophe 4 einen Augenblick lang den Tod und mit ihm die Möglichkeit anklingen ließ, aus dem Jenseits könnte ihm „ein Lied“ wie aus der Jugendzeit „entgegenklingen“, verwirft es diese Vision in der letzten Strophe. Sie schöpft aus dem Gedenken an die Jugend eine wegweisende Kraft für das Diesseits, aus dem „Frühstern guten Strebens“ einen Leitstern, der dem eigenen Leben „heiter leuchte[n]“ möge, aus dem „Sonnenschein“ von damals einen Hoffnungsschimmer für das Heute und das Morgen. Diese letzte Strophe ist vom Bewußtsein erfüllt, daß ein gelingendes Leben eines Rückhalts bedarf, eines Unterpfands, das aus vergangenem Glück erwachsen könnte. Mit eloquenter Schönheit spricht sich diese Hoffnung aus. Sie überträgt die Kindheit und das spätere Leben poetisch in Naturmetaphern: in das „Morgenwehn“ von einst und in die „Waldeskronen“ des erwachsenen Lebens. In den „Waldeskronen“, so hofft das Ich, wird das „Morgenwehn“ der Jugend ‚fortatmen‘. So findet die Erwartung eines natürlichen Wachstums, wie der Wald es andeutet, und eines Gelingens, worauf die „Kronen“ anspielen, einen beredten, in der deutschen Lyrik bis dahin unbekannten Ausdruck.
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2. Selbsterkenntnis und Selbstbehauptung. Lebensentwürfe Selbsterkenntnis kann in grundverschiedenen Medien erfolgen, in Traumbildern, wie wir zeigten, in menschlichen Verhältnissen, zum Beispiel einer Schulfreundschaft, wie wir zeigen werden, im Naturverhältnis des lyrischen Ichs, im Selbstgespräch oder im Dialog mit einer allegorischen Figur. Kellers Wahl der poetischen Medien ist, seiner Experimentierlust entsprechend, weitgespannt. Eines seiner interessantesten Experimente liegt mit dem frühen Gedicht Grillen vor. Publiziert in Kellers erstem Lyrikband von 1846283, ist es gleichsam durchtränkt vom Zeitgeist und transzendiert diesen doch mit kritischer Ironie. Das lyrische Ich demonstriert an sich selbst die Macht jenes ‚Weltschmerzes‘, der die JugendGeneration vor Keller und zum Teil auch seine eigene heimgesucht hatte – und von dem sie sich nicht ohne Selbstmitleid heimsuchen ließen. Im Geiste dieses Weltschmerzes verfaßt Kellers lyrisches Ich sein ‚Testament‘, in Gestalt eines langen Abschiedsbriefes an die Freunde, aber auch mittels der bekannten Symbole des Aufräumens und Papierverbrennens. Es handelt sich um eine Selbstinszenierung, an der nichts selbständig, nichts persönlich ist, eine ebenso tiefgründige wie von Klischees besetzte Selbstinszenierung. Rückblickend spricht sich das Ich ein desillusionierendes Urteil: „So war ich endlich konterfeit / Nach tiefgeheimster – Eitelkeit.“ Die einzelnen Phasen dieser Desillusionierung werden in der Retrospektive mit nüchternem Klarblick nachgezeichnet. Da war die hehre „Todesphantasie“, die schon während des Schlafs „zum trivialsten Traum“ zerfloß, da war das „angemaßte[] Leichenhemd“, das am nächsten Morgen beim Sonnenschein so „wunderlich und fremd“ wirkte wie das gesamte Selbstbegräbnis: „Der Frühlingsschimmer überflog / Den Totenkram, den ich erlog.“ Vor dem Glanz des wirklichen Lebens zerstäubt der eingebildete Tod. Nur eine in der Todesstunde verfaßte ‚Nachschrift‘ vermag sich gegenüber der blühenden, pulsierenden Realität zu behaupten. Die nämlich besagt, daß des Todes nur würdig ist, wer sein Herz zu Reichtum und Reife entwickelt und sein Leben ausgearbeitet, ausgeschöpft hat: „Es muß dem Tod gewachsen sein! “ Unschwer läßt sich erkennen, wie dieses Gedicht, das als WeltschmerzPoesie einsetzt, Kellers spätere Hinwendung zu Feuerbach vorwegnimmt: zur Philosophie eines sinnenreichen, voll entfalteten Lebens im Zeichen eines bewußt bejahten Todes. Kellers Grillen verabschieden den weltschmerzlichen Zeitgeist und schlagen den Auftakt zu einer neuen, besseren Zeit. Das besagt keinesfalls, daß weltschmerzliche Anklänge nicht in späteren naturlyrischen Gebilden Kellers anzutreffen sind, so in den Neueren Gedichten, wo vereinzelt Reminiszenzen an Lenau284 hörbar werden
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(vgl. Herbstnächtliche Wolken, sie wanken und zieh’n; Erster Schnee; Den Wäldern ist zu Füßen tief 285). Solche aus Kellers früher lyrischer Sozialisation nachklingenden Töne finden sich auch andernorts, etwa im Gedicht Liebliches Jahr, wie Harfen und Flöten286, wo Lenau-Anklänge („kühle[r] Waldsee“ und „klagende[s] Schilf[ ]“), ein Schwanenbild Hölderlins (vgl. Hälfte des Lebens), Nachklänge der Empfindsamkeit (die ersten beiden Verszeilen) und die romantische Gleichsetzung von Naturgeschehen und Seelenleben aufeinandertreffen. Die Entwicklung eines Lyrikers muß nicht in geradliniger Kontinuität verlaufen, sie kann Vergangenem und Überwundenem sich zeitweilig öffnen. Gleichwohl wird man sagen dürfen, daß der Nachhall der Empfindsamkeit und der Spätromantik, namentlich der weltschmerzliche Nachhall, bei Keller sich allmählich verliert. Selbst dort, wo er Naturgeschehen und Seelenleben aufeinander bezieht, bricht er die Beziehung durch einen Akt der Reflexion. Trübes Wetter lautet der Titel eines seiner Herbstgedichte (Text siehe Anmerkung)287. Auffällig an Kellers „Regentag“ ist seine Verwandtschaft mit Mörikes gemischten Bildern und Stimmungen, seiner Vereinigung von Gegensätzen in ambivalenten Zwischenlagen (vgl. Mörikes Gedicht Verborgenheit). Das poetische Ineinanderspiel entfernter Pole zeigt eine Betrachtungsweise an, die nicht etwa die unmittelbare Identifikation des Ichs mit der Natur, sondern einen kontemplativen Abstand intendiert. Das „wunderliche[ ] Zwielicht“ des halb ‚lächelnden‘ und halb ‚weinenden‘, zwischen Sonne und Regen schwankenden Tags wird zum Ausgangspunkt einer überlegten Analogiebildung – vom „Zwielicht“ der Natur schreitet das lyrische Ich zur Deutung seines eigenen Zustands fort: Die Hoffnung, das Verlorensein, Sind gleicher Stärke in mir wach; Die Lebenslust, die Todespein Sie ziehn auf meinem Herzen Schach.
Auch das ‚Schachspiel‘ der seelischen Kräfte – eine ungewöhnliche Metapher für einen inneren Widerstreit – läßt auf eine distanzierte Selbstwahrnehmung schließen; die im Schachspiel vorherrschende Reflexivität bricht die Unmittelbarkeit der Affektensprache. Darüber hinaus zeigt die Analogie zur Natur eine fein kalkulierte Differenz. Während die Natur ein „beschaulich“ spielendes „Zwielicht“ darbietet, ereignet sich im „Herzen“ des lyrischen Ichs ein Zwiespalt, der das „Lächeln“ der Sonne zur „Lebenslust“, das „Weinen“ des Regens zur „Todespein“ steigert. Zwischen Natur- und Herzenssprache ergibt sich eine leise Brechung, die sich nun im Betrachter selber fortsetzt. Er unterscheidet nämlich zwischen dem Herzen mit seinem Zwiespalt und seinem „bewußte[n] Ich“: Ich aber, mein bewußtes Ich, Beschau‘ das Spiel in stiller Ruh
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Das „Spiel“ lenkt auf die Schach-Metaphorik zurück und akzentuiert den Status des bewußten Betrachters gegenüber den eigenen Herzensangelegenheiten. Zugleich gemahnt die „stille Ruh“ des Ichs an die Stille des regnerischen Tags, gemahnt seine „beschauliche“ Wahrnehmung des Herzens-Zwiespalts als eines „Spiel[s]“ an das „beschaulich[e]“ „Spiel“ des „Zwielichts“ in der Natur. Wir sehen, daß die Natursprache, die eine etwas gebrochene Analogie zur Sprache des Herzens aufwies, das bewußte Ich am Ende mitprägt und es zu seinem kontemplativen Standort gegenüber dem Herzen anregt.288 Die Schlußzeilen übertragen dieses höhere Bewußtsein auf den „Kampf[ ]“, den das Ich mit dem „Schicksal“ auszufechten gedenkt. Allerdings muß es sich für diesen Kampf zu einer einheitlichen Identität zusammenfassen. Der bisherige Zwiespalt des Herzens und dessen distanzierte Betrachtung durch das Bewußtsein waren ein provisorisches Experiment, dem eine neue Integration der Kräfte folgen soll. Die Energie der Selbstreflexion durchpulst auch Kellers frühes Gedicht An einen Schulgenossen289 „Wohin hat dich dein guter Stern gezogen, O Schulgenoß aus ersten Knabenjahren? Wie weit sind auseinander wir gefahren In unsern Schifflein auf des Lebens Wogen! Wenn wir die Untersten der Klasse waren, Wie haben wir treuherzig uns betrogen, Erfinderisch und schwärm’risch uns belogen Von Aventüren13, Liebschaft und Gefahren!“ Da seh‘ ich just, beim Schimmer der Laterne, Wie mir gebückt, zerlumpt, ein Vagabund Mit einem Häscher scheu vorübergeht –: „So also wendeten sich unsre Sterne? Und so hat es gewuchert, unser Pfund? Du bist ein Spitzbub worden, ich – Poet!“
Das Geschehen weist auf eine zentrale Begebenheit im Grünen Heinrich voraus. Der im Bildungsroman wieder auftauchende Schulfreund läßt sich mit dem grünen Heinrich zu allen erdenklichen Phantasiespielen hinreißen, ehe er von ihm die Beglaubigung der phantastischen Gebilde durch die Realität fordert: ein vollkommener Widersinn, den der grüne Heinrich als ein „moralisches Zwangsnetz“290 empfindet. Er wirft es gewaltsam von sich ab, indem er dem Freund ins Gesicht schlägt, worauf ihre Kameradschaft in die Brüche geht. Es scheint, als würde der junge Held mit dem Knäuel dieser Erlebnisse – des vom Freund ausgeübten Zwangs, seiner eigenen handgreiflichen Aggressivität, der Scham darüber, des Bruchs 13
Hier: Abenteuer.
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ihrer Freundschaft – nie wirklich fertig werden und daher später, als erwachsener Erzähler, den Jugendfreund im Gefängnis umkommen lassen: dergestalt abrechnend mit einer unbewältigten Vergangenheit. Die komplizierte Psychologie dieser Jugendfreundschaft spart Kellers Sonett naturgemäß, aus Raumgründen, aus. Dafür wartet es mit einer überraschenden Pointe auf, die des Lesers Erwartungen hinters Licht führt. Zeigt das erste Quartett, wie weit sich die Lebensschiffe der ehemaligen Freunde voneinander entfernt haben, so erinnert das zweite an ihre ursprüngliche Gemeinsamkeit. Das erste Terzett, das den früheren Freund als Vagabund in den Händen der Polizei vorführt, bestätigt anscheinend vollkommen die im ersten Quartett skizzierte Fremdheit der Schicksale: wie weit sind die beiden auseinandergerückt! Das zweite Terzett aber beglaubigt unversehens das zweite Quartett, indem es eine untergründige Gemeinsamkeit aufdeckt: „Du bist ein Spitzbub worden, ich – Poet!“ Aus bürgerlicher Perspektive betrachtet, hat der Poet – wie der Künstler überhaupt – einen Einschlag von Unbürgerlichkeit und Unsolidität, einem Spitzbuben nicht unähnlich. Gemeinsam ist beiden, daß sie ihre Kindheitsspiele aus dem zweiten Quartett fortsetzen und „erfinderisch“ und „schwärm‘risch“ Phantasien aushecken, in „Aventüren“ und „Gefahren“ schwelgen, manchen Trug „treuherzig“ hervorzaubern: der Poet nur auf dem Papier, weshalb er mit dem bürgerlichen Gesetzbuch selten in Konflikt kommt, der Vagabund auf Schleichwegen als Schwerenöter, weshalb dieses Gesetzbuch nach ihm schlägt. Die selbstironische Pointe, die Kellers lyrisches Ich am Ende setzt, ist ein Charakteristikum seiner Lyrik. Sie läßt in einem einzigen Satz einen von Thomas Mann bis Hermann Hesse weitläufig beredeten Zusammenhang aufblitzen – den von der unbürgerlichen Nähe zwischen Künstler und Vagabund, Künstlertum und Gesetzlosigkeit. Keller, der hier die Individualpsychologie einer Jugendfreundschaft ausspart, erfaßt dafür prägnant ein Phänomen der modernen Kultur. Auf den Wegen der Selbstdurchleuchtung und der bewußten Lebensgestaltung schreitet Keller mit dem Sonett Erkenntnis291 fort. Erkenntnis Willst du, o Herz! ein gutes Ziel erreichen, Mußt du in eigner Angel schwebend ruhn; Ein Tor versucht zu geh’n in fremden Schuh’n, Nur mit sich selbst kann sich der Mann vergleichen! Ein Tor, der aus des Nachbars Kinderstreichen Sich Trost nimmt für das eigne schwache Tun, Der immer um sich späht und lauscht und nun Sich seinen Wert bestimmt nach falschen Zeichen! Tu‘ frei und offen, was du nicht willst lassen, Doch wandle streng auf selbstbeschränkten Wegen Und lerne früh nur deine Fehler hassen!
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Und ruhig geh‘ den Anderen entgegen; Kannst du dein Ich nun fest zusammenfassen, Wird deine Kraft die fremde Kraft erregen.
Im Jahre 1848 publiziert, dem Jahr von Kellers Ausreise nach Deutschland, liest sich Erkenntnis wie ein Aufruf zur Identitätsfindung: als wollte das Ich seine Jugend endgültig verabschieden und ins reife Mannesalter eintreten. Jugend – das war für Keller eine Folge einschneidender Krisen gewesen, beginnend mit dem Tod des Vaters und der unglückseligen Zweitehe der Mutter, fortgeführt durch die Relegation aus der Schule in seinem vierzehnten Lebensjahr, ‚gekrönt‘ durch das abgebrochene Kunststudium in München, mit dem Keller sein Berufsziel als Maler verfehlte. Daß er danach zu dichten anfing und erste Lorbeeren als Lyriker errang, prädestinierte ihn noch nicht zum Schriftsteller, der sein Leben aus eigenen Einkünften hätte bestreiten können. So stand hinter seinem künftigen Beruf, als er 1848 das heimatliche Zürich mit der deutschen Fremde in Heidelberg vertauschte, ein Fragezeichen; die ökonomische Ungewißheit seiner Lebensbahn war dem fast Dreißigjährigen und seiner Familie nur zu bewußt, sie sollte tiefe Schatten über seine Heidelberger und Berliner Jahre werfen. In dieser Situation beruflichen Suchens entwirft das ‚Sorgenkind der Familie‘ einen prägnanten Lebensumriß: eine charakterliche und moralische Identität. Die klare Bauform des Sonetts bildet dafür das künstlerische ‚Rückgrat‘. Der junge Mann, der zum Selbststudium, finanziert von seiner Vaterstadt Zürich, ausrückt, verfolgt das Projekt eines autonomen Charakters, der „in eigner Angel schwebend ruhn“ kann, wie es bildschön heißt: eine freie, unverkrampfte, keine angezimmerte Autonomie ist das Erwünschte. Eine Autonomie jedenfalls, die von fremdem Urteil unabhängig ist und sich ihren Wert selbst beimißt, Maß nehmend am eigenen Vermögen: „Nur mit sich selbst kann sich der Mann vergleichen!“ Das lyrische Subjekt hält sich kein allgemeines Selbstbildungs-Ideal vor Augen, wie es Klassik und deutscher Idealismus entwickelt hatten. Vielmehr ist seine Richtschnur die Eigentümlichkeit und Eigenart des eigenen Charakters. Es pocht auf einen Eigen-Sinn, der seiner Lebensbahn eine prägnante Kontur geben soll, die der klugen Selbstverantwortung: Tu’ frei und offen, was du nicht willst lassen, Doch wandle streng auf selbstbeschränkten Wegen […].
Bedenkt man, wie unfrei, wie zögerlich, wie diplomatisch klügelnd Keller manchmal den Dialog mit der Mutter von der Fremde aus führte, bedenkt man ferner die Umwege, die sein Romanprojekt Der grüne Heinrich ihm auferlegte, entgegen seinen ursprünglichen Plänen, bedenkt man das Ausmaß an Schulden, die er gegen seinen Willen damals machte, schließlich die Liebschaften, die ihm entgegen seinen Wünschen mißrieten: so ermißt man die objektiven Schwierigkeiten, die einer programmatischen Selbstbe-
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stimmung entgegenwirken können. Dennoch ist die Quintessenz des Sonetts, im zweiten Terzett mit bündiger Prägnanz formuliert, bestechend: Und ruhig geh’ den Anderen entgegen; Kannst du dein Ich nun fest zusammenfassen, Wird deine Kraft die fremde Kraft erregen.
Das Gedicht, das so selbstbezogen beginnt, mündet in den Dialog. Die Selbstbegegnung vollendet sich in der Begegnung mit den „Anderen“. Ziel ist das produktive Aufeinandertreffen selbstbewußter Monaden. Je klarer umrissen eine Ich-Identität ist, desto gewisser wird sie die eigentümliche Kraft des Gegenübers entbinden. Die Selbstvergewisserung und Selbstverantwortung bergen einen ethischen Impuls, der zur Freisetzung der Identität anderer drängt. Hier zeichnen sich die Konturen jenes Bürgerlichen Realismus ab, der im folgenden Jahrzehnt sich langsam zu entwickeln beginnt. Es handelt sich um einen ‚Realidealismus‘, wie man eine Grundströmung der neuen Literaturbewegung genannt hat.292 Keller leistete ihr manchen Vorschub, wie seine Erkenntnis zeigt. Das Gedicht entwickelt das Ethos der Selbstbestimmung gegen eine ungefüge, widerständige Realität, ein Ethos, das noch Jahrzehnte später von Theodor Storms An meine Söhne, einem programmatischen Familienvermächtnis in Versen, erneuert wurde.
3. Tiefpunkte und Tapferkeit der Melancholie Die der Erkenntnis entgegenwirkende Realität hat Keller nicht nur am eigenen Leibe erfahren während seines Deutschland-Aufenthalts, er hat sie an seinem alter ego, dem grünen Heinrich, in tragischer Zuspitzung dargestellt. Schon aufgrund dieser Zuspitzung ist Kellers Biographie nicht schlankweg mit der seines Helden zu identifizieren. Andererseits läßt sich nicht bestreiten, daß biographische Erfahrungen Kellers in seinen Bildungsroman hineinwirken. Insofern stellen auch die Gedichte im Grünen Heinrich keine unmittelbare, wohl aber mittelbare Selbstporträts des Autor-Erzählers dar. Sie sind lyrische Komponenten einer fiktionalen Autobiographie; Keller hat seine Lebenserfahrung umgestaltet in den Lebensweg seines anderen Ichs, einen Weg mit tragischem Ausgang. Keller verleugnet jene Lebenstrauer nicht, die sich von einer weltschmerzlichen Stimmung entfernt, aber seine Erfahrung menschlicher Verhältnisse und sein Naturerleben in unterschiedlichen Graden begleitet. Dieser Lebenstrauer hat er in den vier Gedichten aus dem Grünen Heinrich und in Melancholie Ausdruck verliehen. Die ersten drei der vier aus dem Grünen Heinrich übernommenen Gedichte – wir zitieren sie in ihrer ursprünglichen Anordnung im Roman293 – bilden
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eine kleine Trilogie, überschrieben In der Trauer (Text siehe Anmerkung)294. Den Auftakt dazu bildet Klagt mich nicht an (1.). Die gegen das lyrische Ich erhobene Anklage lautet, es sei einzig und allein auf sein persönliches Geschick bezogen und lasse es an kommunikativer Fühlungnahme fehlen. Die Entkräftung des Vorwurfs erfolgt Strophe für Strophe, und zwar so, daß jeweils der syntaktische Bogen beim angeklagten Ich beginnt, um sich zu den Mitmenschen zu spannen. Mehr als der Wortlaut der Beteuerung ist es diese ästhetische Fügung, die das soziale Interesse des Ichs beglaubigt. Eindrucksvoll namentlich in der zweiten Strophe, wo der starke Wellenschlag der See, dem das Ich preisgegeben ist, in ein überfließendes Enjambement übersetzt wird, aber dennoch den Gesang der „anderen“ nur dämpfen, nicht übertönen kann. Die Metaphorik der See bzw. der Welle und des Wassers, die sich hier hervordrängt, wird auch das Bild der Danaide295 in der dritten Strophe prägen und eine ästhetische Grundstruktur aller vier Trauergedichte bilden. Das folgende Gedicht, Ich kenne dich, o Unglück (2.), wandelt das Bild des flüssigen Elements in eine Trinkschale um, aus der das Ich einen „quellenklare[n] Perltrank“ begierig schöpft. Damit ist – was sonderbar anmuten mag – das „Unglück“ gemeint, das ihm „zugemessen“ ist. Der davon Betroffene hält dieses Unglück jedoch, entgegen einer allgemeinen Gepflogenheit, auch für ‚angemessen‘: es „gebührt“ ihm vollkommen. Das ist mehr als eine großmütige Leidensrhetorik. Denn das Ich durchschaut das Unglück ganz und gar, sieht „jedes Glied“ an seiner „Kette“, erkennt es als so „vernünftig“, daß es in philosophischer Argumentation begründbar wäre. Vom Roman her gesehen, hat jedoch der strenge Klarblick, mit dem das Ich sein Schicksal erfaßt und für verdient hält, etwas Bedenkliches, ja Fragwürdiges, so, als würde es diejenigen Anteile seines Unglücks darin verrechnen, die unverschuldet sind und die es aufgrund seiner familialen wie sozialen Lage eigentlich nicht zu verantworten hat. Die Anerkennung des Unglücks atmet einen Rigorismus, der sich deutlich genug in der eigentümlichen Wendung des „dürstende[n] Gewissen[s]“ ausspricht. Das lyrische Ich lechzt geradezu nach dem „Perltrank“ des Unglücks, um damit eine vom Gewissen in aller Schärfe empfundene Schuld zu büßen. Eine Neigung zur Selbstverklagung, die im Roman Konturen gewinnt, wird im Gedichtverlauf als unterschwellig wirkendes Motiv hörbar (vgl. Eine Nacht am Anfang dieses Kapitels). Das dritte Gedicht, Ein Meister bin ich worden (3.), fördert dieses Motiv zutage. Das lyrische Ich versteht sich meisterhaft auf das Weben von „Gram und Leid“ zu einem „schweren Trauerkleid“. Dieser Webkunst
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gesellt es, als Krönung, einen Dornenkranz hinzu, in Anspielung auf die Dornenkrone des gekreuzigten Christus. Solche Selbststilisierung ins Sakrale rückt auch die Webkunst des Trauernden ins rechte Licht: sie geht nicht ohne Stolz vonstatten, und seinen Trauermantel trägt er, wiewohl „mühselig und bestaubt“, nicht ohne narzißtische Verliebtheit in die Schwere seines Leids. Ohne diesen Narzißmus, so hatte es der Erzähler im Roman kritisch vermerkt, hätte der Trauernde das Leid nicht ertragen können. Indem er eins mit ihm wurde, konnte er es „mit Lust“ besetzen und es zu einem „köstliche[n] Gut und Schoßkind“ machen.296 So sind stoischer Heroismus, selbstkritischer Klarblick, schuldbeflissene Selbstkritik und Lust am Leiden beim Romanhelden eigentümlich gemischt – und einen Reflex dieser komplexen Mischung spiegelt die kleine lyrische Trilogie wider. Spiegelt sie wider und entzaubert sie fast im selben Atemzug. Die über dem Trauernden stehende Sonne verlacht ihn als ein „Zwerglein / In einer Königstracht“, als ein dieser Tracht nicht würdiges Geschöpf. Dergestalt desillusioniert, muß das Ich seine Trauer gleichsam ablegen, mitsamt der ihretwegen genossenen „Freuden“! Der Titel der Trilogie In der Trauer steht damit in Frage. Worin die Trauer des lyrischen Ichs ihrer Substanz nach besteht, ist vom Ende her neu zu bedenken.297 Einen Schritt in diese Richtung unternimmt das lyrische Ich mit dem letzten der vier Roman-Gedichte, das den I. Teil des lyrischen Zyklus Aus einem Romane bildet: Verlornes Recht, verlornes Glück (Text siehe Anmerkung)298. Das Ich verbirgt sich zwei Strophen lang hinter einer allgemein formulierten Lebenswahrheit, und erteilt dann das Wort einem anderen, der es bis zum Ende behalten wird. Mag dieser andere, ein Seemann, auch mit dem lyrischen Ich verwandt sein – maßgeblich ist zunächst der Akt einer Selbstdistanzierung, kraft welcher das Ich sich in einer anderen Gestalt wie in einem Spiegel anschaut: sich darin reflektiert, um durch die Reflexion ein anderes Verhältnis zu Schuld, Leid und Unglück zu gewinnen. Der Seemann hat sich der ethischen Prämisse beraubt, die eine conditio sine qua non des glücklichen bzw. achtenswerten Lebens darstellt: des Rechts. Es allein verleiht dem Glück Glaubwürdigkeit, so wie es umgekehrt das Unglück ertragen hilft, mehr noch: das Unglück zu einer ertragreichen Bewährungsprobe macht: „Perlen wirft es auf den Sand!“ Im Kontext der anderen Roman-Gedichte kann dieses Recht auch als Freiheit von Schuld bezeichnet werden: es ist identisch mit der Reinheit des Gewissens, mit der Integrität der Person. Alle Fährnisse und Hindernisse des Lebens wiegen gering, solange diese Integrität existiert. Der Seemann hat im Bewußtsein des rechten Handelns jede „Wogenhöh’“ und jedes „Wellental“ zu meistern vermocht: „Und die Woge war mein Knecht, / Denn mein Kleinod war das Recht“. Er konnte seiner Kraft vertrauen und im archi-
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medischen Zentrum seines Lebens ruhen. Jetzt, da er sich des Rechts begeben hat, verändert sich seine Existenz radikal. Vom Gewissen gepeinigt, ist er nurmehr das Bild der „erstarrten Unruh’“: das fleischgewordene Schuldbewußtsein. Die Evokation der mythischen Meduse, die jeden ihrer Betrachter mit vollkommener Erstarrung schlug, läßt den namenlosen Schrecken wiederaufleben, der die Betroffenen dabei ergriff. Mit dem Verlust des Rechts ist dem Seemann das seine Existenz erhellende Gestirn entwichen – es schimmert in dunkler Tiefe als „gefall’ner Stern“. Selbst das Glück, falls es ihm beschieden wäre, könnte ihn nicht mehr freuen. Ob Glück oder Unglück – die Zentnerlast des Schuldbewußtseins wird sein Leben in die „dunkle[ ] Tiefe“ der Selbstzerstörung hinunterziehen. Das Gedicht findet sich im Grünen Heinrich am Tiefpunkt der Biographie des Helden.299 Niedergeschlagen vom Begräbnis seiner Mutter, streift er ziellos durch die Umgebung seiner Heimatstadt, vom Bewußtsein der Schuld am Tod der Mutter heillos zerstört. Er kann mit dieser Schuld keinen Pakt mehr schließen, um sich zu retten, kann sie nicht länger als ein „kostbares Gut“ in sein Leben und seine Person integrieren – dafür ist sie zu gewaltig. Kein Trauerkleid, und sei es noch so meisterhaft gewoben, kann ihm noch Schutz und Wärme bieten. Kahl und nackt, in seiner ganzen Blöße, steht der Schuldbewußte sich selbst gegenüber, ohne die „Leidensseligkeit“, die ihn bisher getröstet hat. Nicht einmal der Anflug eines Selbstmitleids ist ihm mehr verstattet. So sagt er im Gedicht denn auch nicht mehr ‚Ich‘; um jede tröstliche Selbstbezüglichkeit zu vermeiden, objektiviert er seine Situation im Bild eines anderen. Die Trostlosigkeit, in die das Gedicht des grünen Heinrich endgültig mündet und die seinen Tod ankündigt, ist nicht Kellers eigene; eher könnte man sagen, er habe sein Leiden in diesem alter ego bis zur tragischen Konsequenz verschärft und so sich davon entlastet, also im Medium ästhetischer Dramatisierung sein eigenes Schuldbewußtsein dargestellt und dergestalt seine Zentnerlast gemildert. Auf diese Weise vermochte er, im Gegensatz zu seinem Helden, dichtend dem Leben standzuhalten. Von solcher Lebensbewältigung zeugt ein noch wenig bekanntes Gedicht: Melancholie. Melancholie Sei mir gegrüßt, Melancholie, Die mit dem leisen Feenschritt Im Garten meiner Phantasie Zu rechter Zeit an’s Herz mir tritt! Die mir den Mut wie eine junge Weide Tief an den Rand des Lebens biegt, Doch dann in meinem bittern Leide Voll Treue mir zur Seite liegt!
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Die mir der Wahrheit Spiegelschild Den unbezwungnen, hält empor, Daß der Erkenntnis Träne schwillt Und bricht aus dunklem Aug‘ hervor; Wie hebst das Haupt du streng und strenger immer Wenn ich dich mehr und mehr vergaß Ob lärmendem Geräusch und Flimmer, Die doch an meiner Wiege saß! Wie hängt mein Herz an eitler Lust Und an der Torheit dieser Welt! Oft mehr als eines Weibes Brust Ist es von Außenwerk umstellt, Und selbst den Trost, daß ich aus eignem Streben, Was leer und nichtig ist, erkannt, Nimmst du und hast mein stolz‘ Erheben Zu Boden alsobald gewandt, Wenn du mir lächelnd zeigst das Buch Des Königs, den ich oft verhöhnt, Aus dem es, wie von Erz ein Fluch, Daß alles eitel sei! ertönt. Und nah und ferne hör‘ ich dann erklingen Gleich Narrenschellen ein Getön; O Göttin, laß mich dich umschlingen, Nur du, nur du bist wahr und schön! – Noch fühl‘ ich dich so edel nicht, Wie Albrecht Dürer dich geschaut: Ein sinnend Weib, von innerm Licht Erhellt, des Fleißes schönste Braut, Umgeben reich von aller Werke Zeichen, Mit milder Trauer angetan; Sie sinnt – der Dämon muß entweichen Vor des Vollbringens reifem Plan!300
Melancholie erschien erstmals 1854 in den Neueren Gedichten und dann, um eine Strophe erweitert, 1888 in den Gesammelten Gedichten.301 Einer traditionsreichen Stilfigur gemäß tritt die Melancholie in der Lyrik vorzugsweise als erhabene Gestalt auf, als Göttin, Königin oder Muse.302 Keller kann an diese Tradition um so unbefangener anknüpfen, als die Epoche des Biedermeier und des Vormärz, in der seine literarische Sozialisation erfolgte, die Personifikation als Gestaltungsprinzip schätzt.303 Zentrale Lebensphänomene, Seelenzustände, politische Kategorien, philosophische Abstrakta – das alles kann Gestalt gewinnen in Personen und mythischen Wesen. Keller greift dieses ästhetische Verfahren auf, um Distanz zu sich selbst zu gewinnen und eine seelische Disposition zu objektivieren. Es ist ein Unterschied, ob ein Melancholiker sich seiner Seelenlage als eines integralen Teils seines Ichs bewußt ist oder ob er sie aus sich herausrückt und
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sie zur Dialogpartnerin macht. Kann er im ersten Fall in die Melancholie verflochten bleiben, so winkt ihm im zweiten die Möglichkeit einer Entflechtung. Er schaut das Phänomen seines Innern als Gegenüber an und sagt nicht länger nur ‚Ich‘, sondern führt ein Gespräch. Mit der Distanzierung und Objektivierung seines Innern eröffnet er sich die Möglichkeit der Anrede, der Frage, des Dialogs. Was die Psychologie als pathologische Abspaltung zu kritisieren pflegt, ist hier eine heilsame Chance. Denn das Abgespaltene, wird es in erhabenen Gestalten vorgestellt, erhält eine eigene Legitimität und Dignität. Es ist davor geschützt, verleugnet und verdrängt zu werden, vielmehr wird es in seiner Existenz beglaubigt und hochgeschätzt. Kellers lyrisches Ich, das die Melancholie als „Göttin“ apostrophiert, zeigt damit sein Grundverhältnis zu ihr an: das der Verehrung. Es ist eine Verehrung ‚malgré tout‘, trotz allem. Denn die Melancholie waltet zuweilen ohne Erbarmen, wenn sie den Lebensmut des Ichs „wie eine junge Weide / Tief an den Rand des Lebens biegt“. Schon diese Beugung des Ichs enthält indes einen Trost. In seinem „bittern Leide“ ist es nicht sich selbst überlassen, es weiß sich begleitet und umfangen von der Göttin Melancholie. Wohl ist sie Ursache seines Leids, aber auch dessen „treue“ Hüterin und Schutzherrin: ein tiefsinniges Paradoxon und ein erstaunliches Seelenphänomen, möglich nur dank der Konzeption der Melancholie als einer objektiven Kraft, die im Ich wirkt und zugleich von außen auf es einwirkt. An die Stelle eines sich selbst preisgegebenen und vielleicht an sich selbst verzweifelnden Ichs tritt eins, das seine Melancholie als bestimmende Macht, aber auch als verläßliche Lebensbegleiterin erfährt. Der so eröffnete Dialog führt sogleich, mit der zweiten Strophe, an den Kernpunkt des Verhältnisses, seinen nervus rerum. Es ist die „Wahrheit“, deren „Spiegelschild“ die Melancholie dem Ich untrüglich vorhält, es ist die „Erkenntnis“, die schmerzhafte, die das Ich ihrer Strenge verdankt. Während das Ich zur Selbsttäuschung neigt und mit „eitler Lust“ von der „Torheit dieser Welt“ sich blenden läßt, interveniert die Melancholie mit ernüchterndem Klarblick und hält es zum Memento veritatis an: zum Eingedenken der „leer[en] und nichtig[en]“ Weltläufe, der „Narrenschellen“ des gesellschaftlichen Treibens. Kellers lyrisches Subjekt gebraucht hier unverhohlen barocke Wendungen formelhaften Gepräges. Mit seinen Variationen der ‚Eitelkeit‘ des Irdischen rückt es seinen Melancholie-Lobpreis in die Tradition nicht nur der Barock-Dichtung, sondern der Bibel ein, namentlich des Buchs der Prediger, wo König Salomons Erkenntnis „Daß alles eitel sei!“ variationsreich „ertönt“.304 So ist denn Kellers Melancholie-Gedicht auch ein hochartifizielles Gebilde, zusammengefügt aus den Bausteinen der Überlieferung. Der panegyri-
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sche Stil, der klassizistisches Gepräge hat, korrespondiert damit. Die hymnische Anrede, die Interjektion, die pretiöse Metaphorik, das genitivische Ineinanderschlingen der Substantive („der Wahrheit Spiegelschild“ etc.), die barocken Fügungen – all das bezeugt das Gewicht der Tradition. Ihr wird in der Schlußstrophe durch Dürers Kupferstich Melancholie noch einmal Reverenz erwiesen. Keller nennt sie „ein sinnend Weib“, „des Fleißes schönste Braut“, „umgeben reich von aller Werke Zeichen“. Diese Charakterisierung der Dürerschen Melancholie ist durch eine zeitgenössische Interpretation angeregt worden: diejenige Gustav Partheys, der sie „als die Mutter einer unaufhörlichen Tätigkeit, umgeben von allen Attributen der Kunst und Wissenschaft“ 305 aufgefaßt hatte. – Indem Keller sich diese Interpretation zu eigen macht, widerspricht er dem verbreiteten Verständnis der Melancholie als einer Hemmung der produktiven Kräfte des Menschen, einer Lähmung seiner Energien und seines gestaltenden Willens. Keller schreibt der Melancholie das Gegenteil zu: Initiativkraft, Tätigkeit, bürgerlicher Fleiß bannen den „Dämon“ der Hemmung, des Zögerns, des gelähmten Gestaltungsdrangs. So überantwortet Keller die Melancholie zugleich dem Reich des Bürgerlichen Realismus. Nun steht sie Pate zu „des Vollbringens reifem Plan“. Das künstliche, aus Traditionssplittern zusammengesetzte Gebilde verliert seinen Schrecken. Der melancholisch gebeugte „Mut“ kann sich am Gegenbild des bürgerlichen Ethos wiederaufrichten. Eine andere aufschlußreiche Variante der wahrheitsliebenden Melancholie Kellers findet sich in seinem Nachlaßgedicht Friede der Kreatur.306 Gerhard Kaiser hat es als „sein für mich schönstes“ bezeichnet.307 Entsprechend eindringlich hat er es kommentiert – man kann es wohl nicht eindringlicher tun. Die folgenden Auszüge aus seinem Kommentar mögen auch den Keller-Forscher profilieren: „Das Gedicht ‚Friede der Kreatur‘ […] spricht von Verbrüderung mit Spinnen, den Sinnbildtieren der äußersten Verstörung, der tiefsten verhängnisvollen Triebverstrickung an die Mutter. […] Der Alte des Gedichts hat gelernt, mit den Spinnen ‚brüderlich zu wohnen‘: ‚Friede der Kreatur‘ wenigstens im Gedicht, wiederhergestelltes Paradies, wo der Löwe mit den Lämmern weidet, im Kleinformat. […] Nur im Irrealis des unerfüllbaren Wunsches ist die ganze Versöhnung, ihm eingeschrieben der Grund für die Unmöglichkeit der Erfüllung. ‚Hätt ich nun ein Kind, ein kleines …‘ Nicht nur früher lernte es Frieden halten als der Alte, auch, weil ermutigt, mutiger, bis zur Freundlichkeit, bis zur Hautnähe, bis zum Anfassen, das doch freiläßt. Es wäre lieblich, dieses Kind, deshalb könnte es lieben. Und weil es lieben könnte, wäre es lieblich. Noch ins Bild unerreichbaren Glücks geht die Spur eines kindlichen
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Bewußtseins, das sich nicht lieblich wußte, das an sich nur Hände, keine ‚Händchen‘ wahrnahm, dem Spinnen ‚auch‘ zuwider waren. Dieses aus tiefster Tiefe heraufkommende ‚auch‘ ist der Inbegriff dessen, was gelitten wurde. Der Alte steht nicht ‚in väterlichen Ehren‘, weil er nicht in kindlichen Ehren gestanden hat; er wird kein Vater, weil er keinen Vater hatte. Er kann keine Liebe lehren, weil er sie so spät und unvollkommen gelernt hat. Der Traum vom Kind, das da sein sollte, ist der Traum vom Kind, das nicht war. Das Paradies […] ist nur im einsamen Sprechen von Liebe, Väterlichkeit, Brüderlichkeit und Kindlichkeit vorhanden, das seines Adressaten völlig ungewiß ist. Das Gedicht ist der Schatten des hellen Glücks, der auf den Melancholiker fällt. […] Mit Worten kann er, was er im Leben nicht kann: ‚bilden‘, freundlich anfassen und loslassen, den ganzen Frieden halten und geben. […] Sein für mich schönstes Gedicht hat Keller in mühseliger, aus der Handschrift ablesbarer Formulierungsarbeit zu äußerster Leichtigkeit gebracht und durch Streichung der letzten Strophe fast wieder zurückgenommen – fast, denn sie wurde im unaufgelösten Gegeneinander der Impulse, wie es Kellers gesamtes Werk und fast zerstörerisch die Lyrik durchzieht, zwar gestrichen, doch als gestrichene aufbewahrt.“308
IX. Liebeslyrik Von den Selbstporträts und Ich-Analysen Kellers führt ein direkter Weg zu seiner Liebeslyrik. Was dem lyrischen Ich in seiner Selbstreflexion unbekannt oder unbewußt bleibt, kann ihm in der Hinwendung zum anderen Geschlecht vor Augen treten.309 Insofern ergänzen Kellers Liebesgedichte die in seinen Selbstporträts aufgewiesenen Charakteristika, ohne daß man dabei stets Rückschlüsse auf seine Biographie ziehen müßte. Der Lyriker Keller kann seine Liebesphantasien auch ohne Ich-Aussage zur Sprache bringen, im Medium erfundener Liebespaare: ein Zeugnis für seine Neigung zur ästhetischen Distanzierung und Objektivierung des eigenen Ichs. Wer also von der Vielzahl der Liebesgedichte Kellers auf die Vielfältigkeit seiner Liebeserlebnisse schließen würde, sähe sich bald getäuscht: ein Hinweis darauf, wie fragwürdig die beliebte Gleichung zwischen Leben und Werk und wie anfechtbar die Rede von der ‚Erlebnislyrik‘ ist. Keller selbst hat diese Anfechtbarkeit in einem Brief an Johann Salomon Hegi vom 10.5.1846 begründet, wenn er darin das Selbsterlebte seiner Siebenundzwanzig Liebeslieder gegenüber dem ‚Erdichteten‘ herabstuft und sich vor allen Dingen auf seine „Phantasie“ beruft.310 Mag das Bild seiner früh verstorbenen Jugendliebe Henriette Keller (1838) ihn gelegentlich auch poetisch angeregt haben311 – das Biographische ordnet sich in seiner frühen Liebeslyrik dem Spiel der poetischen Phantasie unter. Deren erfinderisches Wirken wird schon darin erkennbar, daß Keller eine Vielzahl ästhetischer Formen und lyrischer Sageweisen erprobt: petrarkistische wie im VI. und X. der Siebenundzwanzig Liebeslieder, altpersische wie im VIII., anakreontische wie im V., romantisch-mythologische wie im II. und im IV., empfindsam-romantische und spätromantische wie im VII., volkstümlich-biedermeierliche wie im XII. Liebeslied.312 Es ist das poetische Experiment, das Keller anzieht, und für das er die persönliche Erfahrung als stoffliche Hilfsquelle benutzt, beispielsweise den Tod Henriette Kellers für die Liebeslieder XVI-XXIII und XXVI. Auch Liebesverzicht und Liebesentsagung, die etwa in den Gedichten XIV.–XVI. des Zyklus Aus der Brieftasche hervortreten (vgl. unser Kap. IV) und darüber hinaus im epischen Werk wiederkehren313, spielen gewiß vor einem biographischen Hintergrund, Kellers vergeblicher Heidelberger Liebe zu Johanna Kapp; doch ging es ihm nicht vordringlich um den empirisch überprüfbaren
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Erlebnisgehalt: wo dieser seinem späteren Urteil nach deutlich erkennbar wurde, hat er die entsprechenden Gedichte, etwa das XV. und XVI. aus der Brieftasche, von seiner letzten Lyriksammlung, den Gesammelten Gedichten, ferngehalten. Aus der reichhaltigen Liebeslyrik Kellers präsentiert dieses Kapitel nur eine Auswahl. Eine Reihe seiner Liebes-Gedichte wurde schon in anderen Zusammenhängen vorgestellt, etwa seine Nixengedichte im I. Kapitel, andere im Kapitel Feuerbachiade (siehe Anm. 309), die Untergehende Liebe im VI. Kapitel, einige Alte Weisen im XIV.; hinzu treten etliche Gaselen im XV. und artistisch angelegte Gedichte im XVI. Kapitel. Den noch unbesichtigten Reichtum der Liebeslyrik Kellers gliedern wir im Folgenden in den Liederzyklus einerseits (1.), in repräsentative Einzelgedichte andererseits (2.). In beiden Abteilungen werden wir spezifische Themen bzw. Liebesarten namhaft machen, doch stets im Zusammenhang mit ihrer ästhetischen Form: ihrer Komposition, ihren Bauelementen und intertextuellen Bezügen.
1. Siebenundzwanzig Liebeslieder 314 Komposition, Bauelemente, intertextuelle Hinweise
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal das oben skizzierte Spannungsverhältnis zwischen Erlebnis und lyrischer Gestaltung. Kellers Liebe zu der früh verstorbenen Cousine Henriette mag durchaus die Grundstruktur des Zyklus mitbestimmt haben – hier die Gedichte für die im Lebensglanz leuchtende, dort die Klagen um die vom Tod umschattete Geliebte. Zweifellos ist jedoch die Ausgestaltung und Nuancierung dieser Struktur die Leistung der poetischen Phantasie315. Welchen Einfallsreichtum und wieviel Variationskraft bietet diese auf, um das Leben und Sterben der Geliebten, aber auch die Leidenschaft und das Leiden des Liebenden zu präsentieren! Und welch sorgfältig abwägender Kompositionswille macht sich hier gleichzeitig geltend! Es ist kein Zufall, daß Keller die Erstfassung seines Zyklus – es handelte sich um die Einundzwanzig Liebeslieder – vom renommierten Cotta’schen Morgenblatt in Stuttgart zurückforderte, als dort „einzelne, aus ihrem Zusammenhang gerissene Nummern“ erschienen waren (im Juni 1845 unter der Überschrift Liebeslieder), da doch „diese Sachen durchaus für einander berechnet“ seien, wie Keller betonte316, also in ihrem zyklischen Kontext verstanden sein wollten.317 Umso erstaunlicher ist, daß Hinweise zu Aufbau und Struktur des Zyklus bisher nur sporadisch, etwa von Jonas Fränkel (siehe Anmerkung 315), gegeben wurden. Wir wollen versuchen, das Netz der Analyse feinmaschiger als Fränkel zu
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knüpfen. Nicht auf einzelne Lieder kommt es hier zunächst an, sondern auf ihre durchgebildete zyklische Komposition. Keinen Zweifel leidet es, daß Keller die erwähnte Zweiteilung der Siebenundzwanzig Liebeslieder durch mehrere Liedergruppen aufgefächert hat. Unter diesen dominiert die Dreizahl als Ordnungsstifterin (nur einmal wird eine Vierergruppe erkennbar). Das erste Trio, ein Präludium bildend, besteht aus dem Eröffnungsgedicht An meine Dame (womit sowohl die politische Dame Freiheit als auch Kellers Herzensdame gemeint ist), ferner einem Rückblick (I.) auf jene Vergangenheit, „wo, von Mutterliebe noch umfangen, / schon die Jugendliebe leis erwacht“, und schließlich einer Variation dieser Retrospektive (II.): „Halb Kind, halb Jüngling, träumend noch, / fand ich die Lieb‘ im Morgentau“. – Auf dieses dreigliedrige Präludium läßt Keller eine Trias folgen, die zunächst die Liebe als ein Herzens-„Geheimnis“ seiner selbst und seiner Erwählten offenlegt (III.), dann aber auch ein verborgenes sexuelles Begehren kundgibt (IV.)318, ehe eine Klage über die seit Wochen währende Unsichtbarkeit der Geliebten einsetzt (V.). So wird die hochfliegende Erwartung durch die Erfahrung des Mangels gleichsam kontrapunktiert. – Als Überbietung dieser Trias ist die folgende Sequenz, bestehend aus vier Gedichten, angelegt (VI.-IX.). Kontrastiv zur physischen Ferne der Geliebten malt sich das lyrische Ich die „Schönheit“ und „Vollkommenheit“ ihrer Erscheinung aus, in der es „der Gottheit Sonnenspur“ zu erkennen glaubt (VI.), Dieser mystischen Anbetung folgt der Versuch einer Annäherung, einer Überwindung der geographischen Distanz zu ihr, was freilich nur im Medium des Gesangs – einer „Liederbrücke“ „aus meiner Brust in ihre Brust“ – denkbar ist (VII.). Dieselbe Abfolge von Anbetung und musikalischer Annäherung bestimmt die Gedichte VIII. und IX., womit sich die kleine ‚Tetralogie‘ schließt. – Die daran anknüpfende ‚Trilogie‘ variiert den Vorgang der Annäherung. Zunächst im Sinne einer Steigerung, insofern die geographische Distanz als überwunden erträumt wird und der Liebende „um den ersten Kuß“ wirbt, was ihm von der Geliebten spöttisch durch eine Flucht entgolten wird (X.).319 Auf diese Enttäuschung hin unternimmt er einen neuen kühneren Anlauf, diesmal Gott persönlich um seinen Beistand und Segen bittend (XI.). Schon phantasiert er sich als „Freier“ der jungen Dame und wagt sich dann auch in ihre Nähe, um wenigstens das Echo seiner Lieder aus ihrem Munde zu vernehmen (XII.). – Solcher Hinwendung ist allerdings in Gestalt zweier Gedichte eine befremdliche Verstörung beschieden, die erst im dritten Gedicht überwunden wird (XIII.–XV.). Die fragliche Trias beginnt damit, daß der Liebende seiner Angebeteten eine politische Emanzipiertenrolle rigoros untersagt, als wollte er wie ein rich-
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tiges Mannsbild einmal andere Saiten aufziehen, vielleicht um sich und seiner Werbung den gehörigen Respekt zu verschaffen (XIII.).320 „Von Freiheit, Gleichheit und von Menschenrecht“ will er das Interesse seiner Herzensdame unbedingt fernhalten, in auffälligem Widerspruch zum Eingangsgedicht, wo Freiheit und Weiblichkeit als Geschwister auftreten. Die Frau soll dafür zu Hause walten und im „Abendrot“ und Mondenschein an den Preisliedern ihres Liebsten sich erbauen, als eine „Königin“ der Nacht. Doch der Liedsänger stürzt sie auch von diesem Thron herab (XIV.). Hatte er sie zu hoch, in schwindelerregende Höhen, erhoben? Trägt er ihr nach, daß sie ihn noch nicht erhört hat? Jedenfalls stellt er die unverwechselbare, quasi-göttliche Identität in Frage, die er ihr zugeschrieben hatte (vgl. VI.), und läßt einen Burschen auftreten, der ihr zum Verwechseln ähnlich sieht und so ihr Bild befleckt.321 Es ist, als wollte der lyrische Sprecher Zweifel anmelden an seinen hehren Verklärungen der Geliebten – Zweifel, die einmal im politischen Gewand, ein andermal im Gewand des Doppelgängers auftreten, jedesmal aber von verborgener Aggressivität gespeist werden. So gesehen, sind diese beiden Gedichte (XIII. und XIV.) keine ungehörigen Störfälle322, sondern stellen Selbstüberprüfungen dar. Sie haben im übrigen nicht das letzte Wort. Kontrastiv zu ihnen ist das XV. Lied konzipiert, in dem das lyrische Ich die Liebessehnsucht neu entfacht und auf den Flügeln der Phantasie die Angesungene ins Paradies trägt.323 – In scharfem Kontrast dazu sind die beiden folgenden Gedichte (XVI. und XVII.) entworfen. Sie bereiten den Umschlag vom blühenden Leben der Geliebten in den Tod vor und markieren die kompositorische Zäsur in der Zweiteilung des Zyklus. – Die daran anknüpfende Liedertrias wohnt dem Sterben der Geliebten bei (XVIII.–XX.) und fängt variationskundig den „Geisterabglanz“ der „todeskranken Liebe“ ein. – Die nächste Sequenz, eine Dreiergruppe auch sie, besteht aus Grabgesängen, sei es, daß sie das Bild der Geliebten im Sarg heraufbeschwören (XXI. und XXIII.), sei es, daß in der Seele des Trauernden ein „Grabmal“ aufgedeckt wird (XXII.). Damit mochte er die Tote zur Genüge beklagt haben, wie sein Abgesang vermuten läßt (XXIV.), der ihn auf das „reiche Leben“ und die „hohen Wogen“ der Zeit einstimmen soll, womit er zweifellos auf den Kampf um die ‚Freiheit‘, seine zweite Herzensfavoritin, anspielt. Insofern weist dieser Abgesang zum Aufgesang des Zyklus zurück. – Offenbar erschien dieser Schluß dem Verfasser dennoch als abrupt. Er ließ einen Nachhall folgen, wiederum aus drei Gedichten zusammengesetzt, der die „alten Wunden“ als noch unverheilte enthüllt (XXV.), aber auch – im Kontrast dazu – sein „Lieben“ als unverjährt und sein „Liebchen“ als unveraltet rühmt (XXVI.), während die Zeitgenossen den Anblick von
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holzgeschnitzten „Puppen“ und halbtoten Lebewesen darbieten. Das letzte, das XXVII. Gedicht, zeigt dann jedoch – ein neuer Kontrast – die Grenzen der Todesbeschwörung auf und läßt jede Wiederbelebung der alten Liebe und der alten Zeit als eitel „Schwärmerei“ erscheinen. So tritt aus der Negation des Vergangenen die Gegenwart erneut ans Licht. Als Bauelement des Zyklus erwies unser Überblick neben der triadischen Gedichtgruppe auch den Kontrast, der zum Teil in der einzelnen Gruppe, zum Teil in der Abfolge der Triaden bemerkbar wird und dem zyklischen Ganzen eine innere Spannung verleiht. Dem Kontrastprinzip gehorcht etwa die Aufeinanderfolge der Gedichte XV. und XVI., wenn dem Aufschwung des Liebeselans der Abschwung in die Todesahnung folgt. Gleichsam naturgemäß stellt sich der Vorbote des Todes im Herbst, die Todeskrankheit der Geliebten im Winter ein (XVIII.), aber ihr eigentliches Sterben und ihr Leichenbegängnis (XIX. und XX.) läßt Keller im Frühjahr stattfinden – ein besonders augenfälliger Kontrast! Keller baut ihn nicht en passant auf, er verleibt ihn seinen Bildern ein: „Ja, die todeskranke Liebe / einen Geisterabglanz gießet / Über all‘ die Lenzensfülle, / die da drängt und blüht und sprießet.“ (XX.) Bis in einzelne Wortprägungen hinein läßt Keller den Kontrast wandern, in „Todesrosen“ (XIX), in „Blumentrauer“ und „Blumenleiche“ (XX.), womit er die konventionelle Blumenrhetorik ersetzt durch ungewöhnliche Oxymora und Paradoxa, ein für seine junge Lyrik aufschlußreiches Experiment, das wir auch bei anderen Naturbildern notiert haben (vgl. Kapitel I.). Als weitere tragende Kompositionselemente des Zyklus verwendet Keller Jahres- bzw. Tageszeiten und Blumenbilder. Das I. Lied setzt mit „Frühlingspracht“, „Sonnenschein“, „Blumenflor“ und „Morgenwehn“ ein, Symbole eines zur ersten Liebe erwachenden Jugendalters, ehe das II. Lied das Symbolische mit dem Buchstäblichen und Konkreten gattet: Das lyrische Ich erlebt an „einem hellen Frühlingstag“, als das „ganze Erdreich […] in tausendfacher Blütenlust“ emporschwillt, unter der Einwirkung einer „flammend[en]“ Sonne die lebhafte Regung seiner sexuellen und erotischen Wünsche. Von nun an konstituieren Frühling und Sommer, durchdrungen von der Lebenskraft der Sonne und des Morgens, den Rahmen einer Vielzahl von Liedern324 – den Rahmen und auch ihren Bildervorrat, so daß diese Gedichte vielfältig aufeinander verweisen und durch bildliche Korrespondenzen sich ineinander spiegeln. Zieht man ferner in Betracht, daß Keller dem Tagesanbruch und dem sonnenbeschienenen Morgen kontrapunktisch in mehreren Reprisen das Tagesende, die Nacht mit ihrem gestirnten Himmel, zugesellt, so wird man auf ein weiteres Bilder-
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Netz aufmerksam, diesmal geknüpft aus den Motiven des „Mondschein[s] in heitrer Sternennacht“ (VI.), des „Sternenscheins“ (VII.), der „Nachtgesänge“ mit ihren „zauberischen“ „Blumenschlingen“ (IX.), der durchschwärmten „Nacht“ (XII.), des „Schattens“ im „Abendstrahl“ (XVI.), der „Abendröte“ und der „Sternengeister“ (XX.), der „Silberwellen“ der Nacht (XXV.). Auch diese Bilderwelt ist für symbolische und metaphorische Bedeutungen offen; so erweitert sich das „tiefe, blaue Morgenland“ des II. Lieds, das die morgendliche Landschaft meint, im XV. Lied zum „Morgenland“ des Orients; so können Abend- und Nachtbilder einen negativen Sinn annehmen und auf eine Art Gefängnis (XIII.) oder eine Todeskrankheit hindeuten (XVIII.), wodurch ein neues Spiegelkabinett der Quer- und Gegenverweise entsteht. Dieser Kunst der jahres- und tageszeitlichen Spiegelung gesellt Keller seine Blumen-Korrespondenzen und Farben-Echos hinzu. Die „hundert Farben“ der Blumen und ihre „Wechseltöne“ – dieser „prächt’ge[] Reigen“ der Liebessehnsucht im III. Lied bricht sich mehrfach Bahn in den folgenden Gedichten325, wobei auch die Blumenbilder ins Metaphorische hinüberspielen und eine sinnlich-übersinnliche Bedeutung erlangen können: „Die Rosen sind eitel Hektik / Auf ihrem schmalen Gesicht“ (XVII.). „Da liegt die edle Rose, / Die einst so purpurn gelacht“ (XXI.). Es entsteht, kraft leitmotivischer Wiederholung, ein Blumen- und Farbennetz, das sich über den gesamten Zyklus ausbreitet.326 In Kellers lyrischer Welt der Kontrastbildungen, der Spiegelungen, Korrespondenzen, Echos und Gegenspiegelungen klingt zuletzt ein genuin artistisches Motiv an: das des liederdichtenden Sängers. Vom „Lied“, das er sowohl der „Freiheit“ wie auch „der Frau’n Geschlecht“ weihen möchte, redet das Eingangsgedicht (An meine Dame), von einer kindlichjugendlichen „Silbersaite“ das darauf folgende (I.), das nächste (II.) von der „Lieb im Morgentau“, die er „singend in der Brust“ bewegt hat; eine „Liederbrücke“ („Aus meiner Brust in ihre Brust“) will er im VII. Gedicht schlagen, „Nachtgesänge“ werben im IX. um die Geliebte, im XII. erweist sie sich als die empfindsame Hörerin und Sängerin dieser „Weisen“, im XX. erklingen „alle Silberbronnen“ und „alle Nachtigallen“ zu Ehren der sterbenden Geliebten, im XXII. ermutigt er sein „Herz voll Sang und Klang“ zu einem neuen Lebensbild; erst im XXV. tritt an die Stelle des Liedes als Liebesbote das Lied als Brotverdienst. Bis dahin agiert der Liebende als ein später Nachfahre der mittelhochdeutschen und altfranzösischen Minnesänger, agiert er insbesondere als der Erbe jenes altitalienischen Liebesdienstes, der mit dem Namen Dantes und Petrarcas verknüpft ist. Wie Dante seine poetische Geliebte Beatrice, wie Petrarca sein
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Liebesideal namens Laura – so singt Kellers lyrisches Ich seine Geliebte an, die ebenso unerreichbar bleibt wie ihre hehren Vorgängerinnen. An Petrarcas Canzoniere gemahnt sogleich die zweiteilige Struktur des Zyklus, die das Leben und den Tod (bzw. das Nachleben) der Geliebten vergegenwärtigt. An Petrarca gemahnen ferner die Blumenbilder und das Selbstbewußtsein des liederschaffenden Sängers, gemahnt die Bipolarität ersehnter Nähe zur Geliebten und leidvoller Ferne. Vor allem aber erbt Kellers Liebender von Petrarca die Erhebungen der Geliebten zu einer Himmelsmacht. Die dem „Äther blau“ verschwisterte Jungfrau (II.), aus deren Augen, wie aus „zwei Sternen“, „Strahlen“ zur Erde niedergehen und eine „Himmelsleiter“ bilden (III.), die Herzensdame, die „dem Mondenscheine in heitrer Sternennacht“ gleicht und deren „lieblichste Vollkommenheit“ einzigartig ist im „Weltall“, ja, deren strahlend „blaue Augen“ der „Gottheit Sonnenspur“ bezeugen (VI.): sie hat Keller mit den Attributen und Qualitäten der Laura Petrarcas beliehen.327 Von ihr, selbstverständlich auch von Dantes Beatrice, könnten Verse wie die folgenden stammen, die Kellers Liebender auf seine junge Dame gemünzt hat: Von dir allein nun strömte alle Helle, Ich lag vor dir, als vor des Lichtes Quelle! (X.)
Der parodistische Scherz, den Keller hier treibt (vgl. unsere nachfolgende Interpretation des X. Lieds), bleibt in den Liebesliedern die Ausnahme. Wenn seinem lyrischen Ich aus den „blauen Augen“ der Angebeteten „der Gottheit Sonnenspur“ entgegenstrahlt (VI.), so hat es damit eine ernsthaft mystische Bewandtnis. Und ernst gemeint ist auch die Sehnsucht nach einer unio mystica mit der Geliebten, die sich im VIII. Lied bezeugt. „Mit Liebe umschließen dich innig und fest“ – das ist des Liebenden sehnsüchtigster Wunsch. Ob es nur ein platonischer, auf die Seele des Weibes zielender Wunsch ist, wie er vorgibt, bleibe dahingestellt. Wenn er die „Seele“ wie „perlenden Wein“ aus dem „köstlichen Leib“ der Geliebten trinkt und wenn er diesen Leib als zierlichen „Becher“ darstellt, so wird er wohl den Becher nolens volens mit der Hand anfassen und mit den Lippen berühren. Der Vergleich verrät hier mehr als das platonische Loblied aussagen will. Die Form dieses Lobliedes, ein Ghasel, weist auf persische Einflüsse hin, und altpersischen Geist atmen auch die Vergleiche, welche die Seele zur „träumende[n] Perle“ und zum „zartesten Liljengeist“ verklären. Der petrarkistische Bilder- und Sehnsuchtsreigen erhält dergestalt eine exotischen Beiklang, der auch Wortprägungen wie das „Morgenland“ durchzieht (XV.). Wie weit die petrarkistische Überlieferung reicht, zeigt Kellers XIV. Gedicht, das man als den illegitimen Störenfried des Zyklus zu schel-
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ten pflegt. Es spricht sich in diesem Liebe-Haß-Lied eine Aggressivität aus, die Petrarcas lyrischem Ich selbst nicht fremd ist. Haß beispielsweise als eine Folge mühseliger vergeblicher Werbung um die Frau stellt Petrarca durchaus nicht in Abrede. Sein 96. Sonett („Ich bin so mürb vom Warten“) oder auch sein 178. Sonett („Amor spornt mich“) kündet davon. Vielleicht war ein ähnliches Motiv in Kellers „Aventür“ die treibende Kraft. Das Selbstbewußtsein des Sängers wandelt sich schließlich im XX. Lied zur Selbstkritik. Nachdem seine vorauseilende Phantasie die gesamte Frühlingsnatur zum Leichengeleit für die Geliebte aufgeboten hat, zieht er sich den „Schleier“ der „Täuschung“ endlich von den Augen und klagt seine unernste Träumerei an: „Selbst der nahe Tod wird spielend / noch mit Schein und Tand umschlungen –.“ In solcher Selbstkritik dürfte auch ein skeptischer Fingerzeig auf den Schönheitskult des Petrarkismus, ein gelegentlich phantastischer Kult um jeden Preis, enthalten sein. Bedürfte es noch eines Beweises für Kellers planvollen Kompositionswillen, so ließe er sich aus der Anlage des Buchs der Gedichte gewinnen. Der darin integrierte Zyklus der Siebenundzwanzig Liebeslieder greift mit einigen seiner Strukturelemente auf den Aufbau dieses Buches zurück: Es hebt mit den Tageszeitzyklen Morgen, Abend, Nacht an und geht dann zu den Jahreszeitzyklen Frühling, Sommer, Herbst, Winter über. Diese Zeitebenen kehren, wie wir sehen konnten, in den Liebesliedern wieder, teils als Gliederungsprinzipien, teils als Leitmotive – ein Zeugnis für Kellers kompositorische Umsicht. Komposition und Bauelemente der Siebenundzwanzig Liebeslieder lassen den ästhetischen Formwillen schon des jungen Keller erkennen, die intertextuellen Bezüge verraten seine verzweigte Kenntnis der literarischen Tradition. Freilich, die Formkraft durchdringt nicht jedes einzelne der gelegentlich weitschweifigen Gedichte, und der literarisch bewanderte Liebessänger ergeht sich von Zeit zu Zeit in redseligen Variationen des Werbens um die Geliebte. Ein Gedicht wie das I. Lied „Ich will spiegeln mich in jenen Tagen“ (das kein Liebesgedicht im engeren Sinne ist) zählt zu den wenigen geglückten Gebilden (vgl. unsere Interpretation im VIII. Kapitel zu Jugendgedenken). Aber es finden sich eine Reihe aufschlußreicher Lieder wie das politisch ambivalente XIII. Du willst dich freventlich emanzipieren (vgl. unsere Interpretation zu Tageslied im II. Kapitel) oder das doppelbödige Nixengedicht (IV.) Nun in dieser Frühlingszeit (vgl. unsere Interpretation zu Nixe im Grundquell im I. Kapitel), ferner das antiklerikale XV. Wie ein Fischlein in dem Netze (vgl. unsere interpretatorischen Hinweise zu Kirchenbesuch im I. Kap.) und das XVI., das im Erscheinungsbild der Geliebten ihren vorzeitigen Tod antizipiert.
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Liebesmotive und -Themen
Fragt man nach den im Liederzyklus vorherrschenden Liebesmotiven, so gewahrt man wiederholt eine Sehnsucht, die von Selbstzweifeln, ja von Selbstzensur nicht frei ist. Man könnte von einem Begehren sprechen, das den Wunsch nach Erfüllung mit der Angst davor verknüpft. In unserer Betrachtung der Winternacht war dieses doppelgesichtige Phänomen bereits hervorgetreten. Dieser Wunsch-Angst geben die Liebeslieder einen variantenreichen Ausdruck. Kellers lyrische Phantasie gebietet über einen bemerkenswerten Reichtum an Ideen und Einfällen, um Liebeswunsch und Liebessehnsucht wie auch Liebesangst und Liebesabwehr in vielfältigen Bildern und Szenen einzufangen. Daraus kann eine mit Humor erzählte Geschichte erwachsen, die den späteren epischen Erzähler ankündigt (X. Liebeslied)328, freilich auch eine „Aventür“ (XIV. Lied), die den Liebeswunsch in aggressive Abwehr überführt, oder eine stürmische Werbung (VII. Lied), bei der sich die Liebe zur Gesangeskunst mäßigt und sich eine „Liederbrücke“ zur Geliebten erbaut. Der literaturkundige Sänger schöpft bei diesen Unternehmungen spielerisch aus vorgefundenen Liebesmodellen wie etwa dem petrarkistischen. Vergegenwärtigen wir uns das Gesagte konkret: Im X. Liebeslied erzählt das lyrische Ich in epischer Ausführlichkeit seiner imaginären Geliebten von einem Traum „an einem stillen Feiertage, / Als ich mit dir bei Gott im Himmel war.“ Der hohe Herr habe sich dazumal „auf ein Stündchen sanft und selig“ einem Mittagsschläfchen hingegeben. „Mäuschenstill“, so erzählt der Träumer schalkhaft weiter, habe er nun die Geliebte in seliger Umarmung um „den ersten Kuß“ gebeten, worauf sie ihm diesen versprochen habe, sofern er ihr drei Sterne vom Himmelszelt pflücken werde: ein hinreichender Ansporn für den Liebenden, der Holden gleich sechs Sterne zu verehren, was dieselbe entzückt, aber ohne jeglichen Kuß quittiert habe. Stattdessen habe sie „zwölf andre“ Sterne eingefordert, habe immer wieder den „Liebespreis“ verdoppelt und den Kuß hinausgeschoben, bis zuletzt sämtliche Sterne ihre „schönen Glieder“ geschmückt hätten; sogar mit der Sonne und dem Mond habe er ihren Leib krönen müssen, worauf sie sich denn all ihrer „Schönheit siegreich […] bewußt“ gewesen sei: „Von dir allein nun strömte alle Helle, / Ich lag vor dir, als vor des Lichtes Quelle!“ Mit humoristischer Nonchalance spielt Keller hier nicht nur auf geflügelte Liebesschwüre an, etwa auf die exaltierte Beteuerung ‚Ich hole dir die Sterne vom Himmel!‘ Nein, er bezieht auch das uralte blasphemische Verlangen des Menschen ein, wie Gott sein zu wollen und in Gottes Licht zu erstrahlen, womit sein Erzähler den blendenden Narzißmus der Geliebten
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ins Spiel bringt, kontrapunktisch zu seinem eigenen selbstlosen, ja sklavischen „Fleiß“, den die Angebetete „heimlich“ verlacht – eine Vorwegnahme der wiederholt aufkeimenden Angst Kellers, den Spott des weiblichen Geschlechts auf sich zu ziehen. Mindestens ebenso bedeutend ist jedoch ein literarhistorischer Bezug: Kellers spielerisch-parodistische Einbeziehung der petrarkistischen Poesie (worauf schon die Strophenform der Stanze verweist). Sein Liebespaar hat mühelos den Himmel gestürmt, während die Geliebte Petrarcas, Laura, durch ihren Aufstieg ins Himmelsreich in unüberwindlicher Distanz zu ihrem Anbeter verharrt. Der vergleicht ihre lichtumstrahlte Schönheit schwärmend mit den ewigen Gestirnen – Sonne, Mond und Sternen – und erhebt sie so zu einer hehren Himmelsgestalt, während Kellers Liebender die Gestirne dem Himmelszelt entwendet und sie kurzerhand seiner Herzensdame als Körperschmuck dienstbar macht. Ein hybrider Diebstahl, der maßlosen Eitelkeit eines Menschenkinds zuliebe, aber mit Witz erzählt, ein Witz, der sich zugleich als Parodie auf die petrarkistischen Verherrlichungen und Verhimmelungen der Frau versteht! Erscheinen Petrarcas Laura und Dantes Beatrice auf würdig-mystische Weise als „des Lichtes Quelle“, so eignet sich Kellers Geliebte das Himmelslicht mit erpresserischen Künsten an, vor Eitelkeit strahlend. Damit fühlt sie sich nun freilich auch bemüßigt, das Versprechen des ersten Kusses einzulösen. So würde endlich doch der Herzenswunsch, der sinnlich-leibliche, ihres Liebhabers erfüllt! Der jedoch – und dies verleiht der Himmelsszene eine unerwartete Tiefendimension – wird unversehens von erotischer Angst heimgesucht. Keller erfindet dafür einen höchst beredten Vorfall, mit dessen Hilfe er die persönliche Angst hinter einer universalen Erschütterung verbirgt. Seine – biographisch durchaus nachvollziehbare – Wunsch-Angst in Dingen der Erotik erhält auf diese Weise eine überpersönliche Bedeutung. Als nämlich die Geliebte ihre „süße Gunst […] endlich“ ihrem Gestirnedieb „erzeigen“ will, fährt „ein Angstschrei durch des Himmels Hallen“, „als wollt’ die Welt aus ihren Fugen fallen“. Die nächtliche Erde, die durch den Sternenraub „um Licht und Zeit gebracht“ wurde, hat diesen Angstschrei zum Himmel hinaufgestoßen. Mit humoristischer Emphase pointiert Keller hier – über die persönliche Selbstbehinderung hinaus – die Menschenangst vor dem ersten, langersehnten Kuß, der die Bangenden in den ‚siebenten Himmel‘ hinaufoder auch in die Hölle der Enttäuschung hinunterbefördern könnte. Wie dem auch sei – auf Gott-Vaters zorniges Geheiß muß der liebestolle Räuber die Gestirne mühsam wieder an Ort und Stelle befestigen, während die Geliebte „mit Behagen“ sich aus dem Staub, pardon: aus dem Licht macht, nach Art der Koketten aller Sorten, die ihre „süße Schuld“ am
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liebsten am Sankt Nimmerleinstag entrichten würden, und bis dahin dem anderen Geschlecht die Schmach des Schmachtens auferlegen möchten. Kellers experimentierfreudige Phantasie kennt nicht nur die Lust am episch ausladenden Humor, sie versteht sich auch auf bündige Kürze und pointierte Chocs. Davon zeugt die im XIV. Liebeslied erzählte „Aventür’“ (Text in der Anmerkung)329. Das lyrische Ich berichtet der „Allerliebste[n]“ von einer Begegnung mit ihrem Spiegelbild, einem männlichen Spiegelbild allerdings, als hätte die Geliebte sich unversehens in einen Mann, Weib-Mann, verwandelt. Zug um Zug, vom „dunkle[n] Gold der Haare“ und „süße[n] Blau“ der Augen zu den „Linien“ des Gesichts, beschreibt das erschrockene Ich die Nachbildung, ja Nachäffung des Vertrauten durch ein „weibisch“-männliches Antlitz. Hat hier Natur sich einen widrigen Scherz erlaubt und einem Mann die Physiognomie einer Frau verliehen? Also die Geschlechtergrenzen verwischt? Wir wissen aus Erzählungen wie Regine, wo Keller ein Mann-Weib karikiert, daß ihm solche Grenzverwischungen unheimlich waren, so, als würden die mannweiblichen bzw. weib-männlichen Mischgestalten immer zugleich einen Verrat an beiden Geschlechtern üben. Oder hatte der lyrische Erzähler bei seiner „Aventür’“ die Zudringlichkeit eines jungen Mannes erfahren, der ihn von ferne an die Geliebte erinnerte, und daraufhin, vom Ekel übermannt, diese Erinnerung forciert? Das ließe auf eine Abwehr Kellers, ja auf eine panische Reaktion gegen Homosexualität schließen, so daß des „Mundes Freundlichkeit“ im Gesicht seines Gegenübers geradezu „beleidigend“ wirkte. Oder hatte der lyrische Erzähler eine Ähnlichkeit mit der Geliebten in jenem fremden Gesicht zu bemerken geglaubt und diese Ähnlichkeit zum Phantasma eines Spiegelbilds ausgemalt, um damit das Originalbild zu provozieren? Um der Geliebten anzudeuten, daß sie alles andere als originell sei, daß sie ihresgleichen habe, unlautere Doppelgänger, und daß die Natur mit ihr ein ‚widerliches‘ Schauspiel treibe? Es dürfte schwer sein, eine dieser Möglichkeiten zu favorisieren und andere ganz auszuschließen.330 Es scheint jedoch, daß in die Empörung des Erzählers über die hermaphroditische Doppelgängerei sich auch aggressive Affekte mischen und den gewohnten Lobpreis der Geliebten – „Jede Zierde deiner Züge“, „Deiner Augen Sternenschimmer“ – unterminieren: Schier hätt‘ ich dein Bild geschlagen, Ja! ihn aus der Welt zu jagen, Wünscht’ ich angelegentlich.
Der sonst von Abwehr durchmischte Liebeswunsch wandelt sich zum Wunsch nach aggressiver Grenzziehung. Die Liebes-Abwehr ist federführend geworden.
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Das VII. Liebeslied, das später den Titel Nachtschwärmer erhielt, läßt die Liebessehnsucht wiederaufleben. Keller erprobt dafür eine traditionsreiche Form der Liebeswerbung: die des Ständchens. So weist sein Gedicht auf die volkstümliche Romantik und das Rokoko zurück. Die selbstironische Wendung vom altdeutschen „Ritter“ und seinem angesungenen „Fräulein“, das Bild vom „Saitenspiel“ mit der Empfindsamkeits-Metapher des „Silberbrünnlein[s]“, das romantische Tableau des Hauses der Liebsten im „Sternenschein“ und das märchenhafte „Elfensummen“ als Begleitmusik zum Ständchen – all dies verstärkt den Traditionsbezug. Keller hat ihm jedoch den Eros des lyrischen Ichs unverhüllt beigesellt, so daß die empfindsam-romantische und anakreontische Szenerie Dynamik und Leidenschaftlichkeit gewinnt. Von „heißer Lebenslust entglüht“, wirft das Ich „trunkne[ ] Blicke[ ]“ auf die nächtliche Landschaft und das ferne Haus der Geliebten. Es bannt seinen Eros nicht in gewohnter Manier und sublimer Zier in das Saitenspiel, es ruft vielmehr die ganze „Sommernacht“ zum Zeugen seines Begehrens auf, damit der Wald wie „Orgelschall“ rausche, der Strom seine „Wogen“ tosend talwärts befördere und die Mühlen „in des Tales Grund“ dazu den Takt dröhnend schlagen – ja, sogar ein in der Ferne heraufziehendes Gewitter soll der Nachtmusik als Präludium willkommen sein. Freilich, die Voraussetzung für diese explosive, von Leidenschaft durchstürmte Werbung ist die räumliche Ferne zwischen Minnesänger und angesungener Frau. Beide sind sie durch einen „Talstrom“ voneinander getrennt. Der hält auf der einen Seite den Verliebten in Distanz zur Geliebten, sorgt also für die Wahrung des gesellschaftlichen Anstands. Auf der anderen Seite entspringt diese ‚Stromsperre‘ der Phantasie des lyrischen Ichs, die offenbar von einer zögernden Scheu mitbestimmt wird. Seine Intention zielt nicht auf die unmittelbare, sondern auf die indirekte, ästhetisch sublimierte Nähe zur Geliebten: „Will eine Liederbrücke schlagen / Aus meiner Brust in ihre Brust“. Nur im sicheren Abstand zum Objekt seiner Liebe kann der Verliebte sein Begehren entfalten, ja es entfesseln, imaginativ, im „Tosen“ des Stroms. Der Strom, der ihn von der Geliebten fernhält und zugleich für seine zögernde Scheu ein willkommenes Hindernis ist, verkörpert im selben Atemzug und im Bunde mit anderen Naturelementen seine unstillbare, unhintergehbare Lust. Die in Kellers Nachtlied sich äußernde Ambivalenz ist zeitgeschichtlich aussagekräftig. Die Angst-Lust des Begehrens, der zwischen ersehnter Nähe und sozial gebotener bzw. auferlegter Versagung kreisende Eros ist in manchem Gedicht des späten Brentano, aber auch Eichendorffs und Mörikes bezeugt, man denke nur an den Peregrina-Zyklus des schwäbischen Lyrikers. Hier macht sich ein sozialpsychologisch aufschlußreiches Phänomen geltend – der Zwiespalt eines Jugendalters, das sein natürliches Triebleben von den Anforderungen geltender Sitte bzw. verinnerlichter
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moralischer Normen umstellt sieht. Das verzögerte und verinnerlichte Triebleben konnte den Einzelnen lähmen und melancholisch stimmen, es konnte von Fall zu Fall aber auch seine Phantasie beflügeln und Gefühlskräfte freisetzen, so daß eine versagte oder unerfüllte Liebe mit poetischen Bildern und seelischer Hochspannung aufgeladen wurde. Dieser Zusammenhang zwischen Liebesnot und kreativer Phantasie prägt – über den Liederzyklus hinaus – auch einzelne Gedichte Kellers, ja, er läßt sich bis in die Gedanken eines Lebendig-Begrabenen verfolgen, jenem (seit 1844 entstandenen) Gedichtezyklus (den Keller später in die Gesammelten Gedichte unter dem Titel Lebendig Begraben übernahm). Wenn im XI. Gedicht das lyrische Ich darüber klagt, daß es seine „junge Liebe“ nicht zu bekennen wagte (Kauffmann, S. 108), so entschädigt es sich für diese Mitteilungsnot durch die Erfindungskraft der Phantasie im XV. Gedicht (Kauffmann, S. 110ff.). Es ruht in einem Forst im „Schatten“ eines mächtigen Vogels aus und läßt sich von einer märchenhaft schönen Eidechse umschmeicheln, die sich zuletzt um seinen Hals legt: Das war der schönste und reichste Schmuck, Den ich in meinem Leben je getragen.
Eros und Kunst vereinigen sich in einem von der Phantasie entworfenen Bild. Was die Realität Keller schuldig bleibt, eine erfüllte Liebe, erträumt sich die Einbildungskraft. „Nun, Phantasie! lass’ deine Adler fliegen“, dichtet Keller zu Beginn des Zyklus Gedanken eines Lebendig-Begrabenen (I. Kauffmann, S. 100). Diesen Adlerflug, um im Bilde zu bleiben, verzeichnen eine Reihe bemerkenswerter Gedichte, die charakteristische Liebesarten Kellers erkennen lassen.
2. Liebesarten in einzelnen Gedichten (Unerfüllte Sehnsucht, Verzicht, Entsagung) Den Auftakt zur Betrachtung einzelner Liebesgedichte bilde das am häufigsten vertonte Gedicht Kellers. Schifferlied Schon hat die Nacht den Silberschrein Des Himmels aufgetan, Nun spült der See den Widerschein Zu dir, zu dir hinan! Wach‘ auf, Marian! Und in dem Glanze schaukelt sich Ein leichter dunkler Kahn, Der aber trägt und schaukelt mich Zu dir, zu dir hinan! Wach‘ auf, Marian!
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Ich höre schon den Brunnen geh‘n Dem Pförtlein nebenan, Und dieses hat ein frisches Weh’n Soeben aufgetan. Wach‘ auf, Marian! Ich fühle, wie die Erde schwellt Zum Himmel leis hinan; Nach Liebe dürstet alle Welt – Mein Schifflein, leg‘ dich an! Wach‘ auf, Marian! Dies Lied hat mir ein Bursch‘ gemacht, Der fuhr in meinem Kahn; Er hat’s für dich und mich erdacht, Bet‘ für ihn, Marian! Wach‘ auf, Marian!331
Nach Auskunft J. Fränkels, der bereits 36 Vertonungen registriert hatte, stammt die früheste von Kellers Freund Wilhelm Baumgartner (SW, 2.2, S. 39). Einer Komposition kommt Kellers „Lied“ aufgrund seiner Musikalität entgegen. Der Wechsel zwischen acht- und sechssilbigen Verszeilen in jeder Strophe, gekrönt jeweils durch eine fünfsilbige Zeile, verleiht dem Rhythmus Variabilität und Beweglichkeit; den rhythmischen Fluß verstärken die Enjambements, die (mit Ausnahme der Schlußstrophe) das Gedicht durchziehen. Ein Refrain, wie er dem Volkslied eigentümlich ist – „Wach‘ auf, Marian“ (Marian als Kurzform für Marianne) – vervielfältigt das musikalische Element ebenso wie der Widerklang einzelner Worte und Wortkombinationen: „aufgetan“, „Kahn“, „zu dir, zu dir hinan!“, „schaukelt sich / schaukelt mich“. Die für Kellers Lyrik ungewöhnlich intensive Musikalität korrespondiert mit der romantischen Grundsituation des Gedichts: ein in mondheller und sternenklarer Nacht entstandenes Liebeslied, in einem Kahn vorgetragen, der zum Haus der Geliebten hinanfährt. Von allen Gedichten Kellers atmet dieses am unmittelbarsten Atmosphäre und Musikalität romantischer Lyrik, ohne daß es ursprünglich romantisch oder, wie man heute zu sagen pflegt, ‚authentisch‘ romantisch wäre. Gewiß, der flüssige und bewegliche Rhythmus entspricht vollkommen der Bewegungsart des Kahns auf dem nächtlichen See, so daß die Grundsituation des Gedichts gleichsam übersetzt ist in die ästhetische Motorik. Doch die lyrischen Motive sind unverkennbar Zitate aus dem Bildervorrat der Romantik. Vom „Silberschrein“ des Himmels und seinem „Widerschein“ auf dem dunklen Wasser bis zum Kahn, der den Aufenthaltsort der Geliebten ansteuert, begegnet der Leser vertrauten romantischen Genrebildern. Kellers nächtlicher „Silberschrein“ und seine Spiegelung im flüssigen Element ist ein Konzentrat der Lichtspiele, wie wir sie etwa in Brentanos Himmel oben, Himmel unten oder Sprich aus der Ferne con variazione ausgeführt finden.
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Und der Liebeskahn zieht seinen Reigen von Brentanos Ein Fischer saß im Kahne und seiner Lore Lay bis zu Heines Loreley. Wenn ferner die 4. Strophe Kellers mit der emphatischen Verheißung einsetzt „Ich fühle, wie die Erde schwellt/ Zum Himmel leis hinan“, so stellt sich die Erinnerung an Eichendorffs Mondnacht („Es war, als hätt‘ der Himmel/ Die Erde still geküßt“) unausweichlich ein – der Vorgang einer kosmischen unio mystica wiederholt sich bei Keller in frappierend ähnlicher Form. Stellt jedoch Eichendorff, der Spätromantiker, das nächtliche Ereignis als objektives dar, so muß Keller, der Spätestromantiker, es subjektiv beglaubigen: „Ich fühle“. Das gebietet ihm der historische Takt. Das kosmische Ereignis ist nicht länger als objektives darstellbar wie noch in der romantischen Ära, es muß als zitiertes vom lyrischen Subjekt behauptet und bekräftigt werden: „Nach Liebe dürstet alle Welt – /Mein Schifflein, leg dich an!/ Wach‘ auf, Marian!“ Empfindet Kellers lyrisches Ich diese Überredungsform als zu drängend, zu subjektiv? Es hat ganz den Anschein, sonst würde es sein Begehren nicht in der letzten Strophe objektivieren und einem Dritten anvertrauen, der das Liebeslied angeblich für das Subjekt und seine Geliebte hergestellt hat: „Dies Lied hat mir ein Bursch‘ gemacht,/ Der fuhr in meinem Kahn;/ Er hat’s für dich und mich erdacht.“ Das eigene Begehren auf diese Weise einzukleiden in die Sprache eines Dritten und dadurch seine drängende Unmittelbarkeit zu dämpfen, entspräche ganz der Schüchternheit Kellers in Liebesdingen. Doch selbst dieser psychologische Aspekt hat einen literarischen Vorboten in Gestalt des schon zitierten Fischerliedes von Brentano. Dort begegnet am Ende der lyrische Erzähler dem Fischer „im Kahne“, der von einer nächtlichen Geisterbegegnung mit seinem „Feinsliebchen“ singt: „Der Kahn schwamm still einher,/ Der Fischer sang dies Liedchen,/ Als ob ich’s selber wär.“ Wie Brentano transponiert auch Keller das Liebeslied aus dem Munde eines Dritten in den des lyrischen Ichs. Und bei dieser Ähnlichkeit hat es nicht sein Bewenden. Bei Brentano treibt der junge Fischer in seinem Liebeslied schutzlos „in die See hinein“, einem ungewissen Schicksal preisgegeben. Darauf antwortet Keller, als führte er einen Dialog mit Brentano. Sein „Bet‘ für ihn, Marian“ klingt wie ein Echo auf das steuerlose Liebesschicksal des Brentano’schen Fischerknaben und interpretiert zugleich das Schicksal seines eigenen ‚Burschen‘. Der ist, als Teil des lyrischen Ichs, eines schützenden Gebets bedürftig, eines Gebets, das in eine Erlösung münden soll: „Wach‘ auf, Marian!“ In Kellers „Bursch’“ kristallisiert sich nicht nur die Schüchternheit des Dichters, der einen ‚Sprecher‘ für seine eigene Sache braucht, in ihm verdichtet sich auch die Erfahrung des Abgewiesenwerdens, die seine Bitte um ein Gehör umso dringlicher macht. Mit der Aneignung des
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Brentano’schen Finales erzeugt Keller mehr als einen späten romantischen Widerhall, er verschafft eigener Liebesnot und Liebessehnsucht einen prägnanten, hochkonzentrierten Ausdruck. Sehnsucht und Liebesnot sind auch zentrale Motive in Kellers Trauerweide332, einem Doppelgedicht, das seinen Bogen von einer kranken zu einer toten Geliebten schlägt (2. Gedicht siehe Anmerkung). Die Beschreibung der Kranken im ersten Gedicht bleibt weitgehend konventionell, Keller zitiert die weibliche Sphäre mit den Metaphern und Diminutiven vergangener literarischer Epochen, namentlich der Anakreontik und der Empfindsamkeit. Erst der unversehens von der Wintersonne auf das vereiste Fensterglas gezauberte „Trauerweidenbaum“ in der Schlußstrophe durchbricht die Konventionalität: „Da scheint die Wintersonne bleich / Durch’s Fenster in den stillen Raum, / Und auf dem Glase, Zweig an Zweig, / Erglänzt ein Trauerweidenbaum!“ – Das 2. Gedicht ist der Toten gewidmet. Ihre intensive Vergegenwärtigung setzt den ‚Fluß‘ der Phantasie frei, beinahe im ursprünglichen Sinn des Wortes. Denn die Erde, in der man die Toten zu bestatten pflegt, wird zum „Meer / Unzähliger Gräberwogen“ umphantasiert: zur „wellige[n] grünende[n] Flut“, in welche die Särge wie „Schifflein“ „hinuntergezogen“ werden. Das Bild des wogenden, schiffeverschlingenden Meeres enthüllt die regellos schweifende, willkürliche Macht des Todes, seine chaotische Dynamik, vor der kein noch so junges und blühendes Leben bestehen kann. Im Banne dieses Bildes verwandelt das lyrische Ich den Sarg der Geliebten zum Nachen, die Geliebte zur Schifferin, die in endlosen „schweigenden Tiefen“ verschwunden ist, unerreichbar für das trauernde Herz, das „wie des Lotsen Blei“ in die Tiefe sinkt, ohne auf Grund zu stoßen. So wird die Trauer des Liebenden nicht etwa beredet, sie wird vielmehr beredt im Bild der bodenlosen Meerestiefe und der ziellosen Suche. Die WasserMetaphorik springt auch auf die letzte Strophe über, wenn dort ein Baum an der Grabesstätte in fließende Bewegung gerät: Die Trauerweide umhüllt mich dicht, Rings fließt ihr Haar auf’s Gelände, Verstrickt mir die Füße mit Kettengewicht Und bindet mir Arme und Hände [.]
Die visionäre Wahrnehmung der Weide ruft mit der Metapher des fließenden Haares die Geliebte herbei, deren Eros fortwirkt und im Bunde mit dem Tod eine bedrückende leibliche Präsenz entfaltet; „mit Kettengewicht“ heftet sich das Eingedenken der Toten an den Trauernden und benimmt ihm den Lebensatem: Das ist jene Weide von Eis und Glas, Hier steht sie und würgt mich im grünen Gras.
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Kunstvoll schlägt das Gedicht eine Brücke von der Schlußstrophe des ersten zur Schlußstrophe des zweiten Teils. Die poetische, auf das Fensterglas hingezauberte Trauerweide hat doppelte Gestalt angenommen; sie lebt in der Natur fort und schlägt Wurzeln in der Seele des Ichs. Die Vorahnung des Todes ist zur Todesgewalt geworden, die in der Gewalt der Natur einen expressiven bildlichen Ausdruck findet. Körper und seelischer Innenraum des Ichs erstarren im magischen Bann der Trauerweide. Als Motor in diesem Vorgang ist die Phantasie tätig, die Leib und Seele mit dem „Kettengewicht“ ihrer Todesvisionen niederzwingt. Der in Distanz gehaltene bzw. sich in Distanz haltende Nachtschwärmer des VII. Liebeslieds und der vom Liebesglück durch Krankheit und Tod isolierte Märtyrer der Trauerweide – sie präfigurieren die für Keller charakteristischen Liebesarten der unerfüllten Sehnsucht und der unabwendbaren Versagung. Der grüne Heinrich erzählt Bände davon, sei es in der Beziehung des Romanhelden zur früh dahinwelkenden Anna, zur vollerblühten Judith oder zur scheu und zögernd umkreisten Dortchen Schönfund. Der Lyriker Keller hat die elementare Erfahrung der Liebesnot in ganz verschiedenen Reaktionsformen laut werden lassen. Darauf geben die hier vorgestellten Gedichte manchen Hinweis. Charakteristische Reaktionsformen sind darüber hinaus: der unfreiwillige und von Reue umdüsterte Verzicht (vgl. das XV. Gedicht des Zyklus Aus der Brieftasche333) und die großzügige Entsagung (vgl. die Gedichte XIV. und XVI. desselben Zyklus334). Diese Entsagung kann einmal in den Lobpreis der Geliebten münden (XIV.), ein andermal in einen seligen „Gram“ (XVI.), das heißt in ein Leidensfeuer der Selbsterneuerung, das jedem „reiche[n] Glück“ überlegen scheint. Von der ersten Entsagungsform, der großmütig-selbstlosen, zeugt eindringlich Kellers Gedicht Schöne Brücke. Ihm widmet sich folgende exemplarische Interpretation Schöne Brücke Schöne Brücke, hast mich oft getragen, Wenn mein Herz erwartungsvoll geschlagen Und mit dir den Strom ich überschritt. Und mich dünkte, deine stolzen Bogen Sind in kühnerm Schwunge mitgezogen, Und sie fühlten meine Freude mit. Weh der Täuschung, da ich jetzo sehe, Wenn ich schweren Leids hinübergehe, Daß der Last kein Joch14 sich fühlend biegt; Soll ich einsam in die Berge gehen Und nach einem schwachen Stege spähen, Der sich meinem Kummer zitternd fügt? 14
Vorrichtung zum Tragen und Ziehen.
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Aber s i e , mit anderm Weh und Leiden Und im Herzen andre Seligkeiten: Trage leicht die blühende Gestalt! Schöne Brücke, magst du ewig stehen, Ewig aber wird es nie geschehen, Daß ein beßres Weib hinüber wallt!335
Das Gedicht dürfte im Zusammenhang mit Kellers unglücklicher Liebe zu Johanna Kapp während seiner Heidelberger Studienzeit entstanden sein.336 Die erste Strophe erinnert im Präteritum und im Perfekt an die hochgespannten Erwartungen eines Ichs, das beim Überqueren einer Brücke den Schwung seines Herzens in den Schwingungen der Brückenbogen wahrzunehmen glaubt: eine „Täuschung“, wie die zweite Strophe offenbart, denn die entzauberten Erwartungen und die Schwere des entstandenen Leids werden „jetzo“, in der Gegenwart, von derselben Brücke mit steinerner Fühllosigkeit quittiert. Die dritte Strophe entschleiert, wer die Hoffnung des Liebenden beflügelt und seine Ent-Täuschung verursacht hat: eine blühende Frauengestalt, die ihre Schritte für einen anderen Liebenden über die Brücke zu lenken pflegt. Dennoch bleibt das lyrische Ich ihr großzügig gewogen und verheißt für die nahe und ferne Zukunft: „Schöne Brücke, magst du ewig stehen, / Ewig aber wird es nie geschehen, / Daß ein beßres Weib hinüber wallt.“ – Keller bettet ein menschliches Geschick konzentriert in drei Zeitformen ein und verleiht ihm dadurch eine besondere Prägekraft. Dabei ist das Liebesschicksal alles andere als konventionell; es äußert sich in ungewohnten Sprachformen. Redet sonst im Liebesgedicht das männliche Ich die Adressatin seiner Sehnsucht direkt an, so gilt Kellers ‚Du‘ der Brücke, der Trägerin seines Liebesschicksals. Mit dem brückenbezogenen Du wahrt das lyrische Ich die Unabhängigkeit der Geliebten, schützt es sie vor der Direktheit, vielleicht gar Zudringlichkeit seiner Affekte: so taktvoll äußern sich Scheu und Rücksichtsnahme des Liebenden. Ungewöhnlich ist auch die der Brücke selbst verliehene Bedeutung. Gewöhnlich ruft das lyrische Ich ein Natur- oder Kulturphänomen entweder zum Vertrauten seiner inneren Verfassung auf, in Form eines Vergleichs, eines Gleichnisses, eines Symbols, einer Allegorie – oder macht es zum vieldeutigen, rätselhaft undurchdringlichen, wenn nicht abweisenden und fühllosen Begleiter. Kellers lyrisches Ich umfaßt beide Darstellungsmodi. Seine Anrede an die Brücke unterstellt zunächst eine Fühlungnahme, die alsbald widerrufen wird: am Ende aber beruft es die fühllose Brücke wieder in den Zeugenstand – jetzt nicht mehr für sich, sondern zu Gunsten und zu Ehren der Geliebten. Dies ist denn auch der poetische Schlüssel, der das Paradox des Gedichts aufschließt: dieser Frau muß selbst die ungerührte Brücke Unvergleichlichkeit bezeugen. So wird der sprach- und blicklose Steinbau durch das Pathos der Liebe zum beredten Augenzeugen menschlicher
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Verhältnisse: ein schönes Beispiel dafür, wie die Menschen sich ihre Arbeit wieder zu eigen machen, die sie in der Bebauung der Natur verausgabt haben – ein Idealfall gelingender Kulturleistung! Im Pathos der Liebe gewinnt eine zweite Kulturleistung Transparenz, ungewöhnlich auch sie: die Erhebung enttäuschter Liebe über den Affekt verletzter Selbstliebe. Endet sonst die enttäuschte Liebe im Schmerz und in der Klage des Ichs, so überspringt bei Keller das Ich seinen eigenen Schatten und entäußert sich vollkommen im Preislied auf die Geliebte. Es ist ein Sprung über den Schatten des melancholischen Narzißmus, vielleicht unseres hartnäckigsten Ich-Begleiters: Soll ich einsam in die Berge gehen Und nach einem schwachen Stege spähen, Der sich meinem Kummer zitternd fügt?
Die sogenannte Erlebnislyrik zwischen Sturm und Drang und Expressionismus findet ihr Genüge häufig an Sinnbildern wie dem hier beschworenen „schwachen Steg[ ]“ – an der Natur als Trösterin im Liebesleid. Bei dieser harmonischen Korrespondenz zwischen Natur und Subjekt hält Kellers Gedicht sich nicht länger auf. Über den Abgrund der Melancholie spannt sich nicht der nachgiebige Steg, sondern eine metaphysische Schwungkraft, die zum Anderen, zum unerreichbaren Du führt. Die menschlich-allzumenschliche Liebe transzendiert sich selbst in schlackenloser Hingabe, die keinen persönlichen Anspruch mehr stellt, und sei’s auch nur den Anspruch auf die Intimität der Du-Anrede. Solcher Liebes-Metaphysik haftet weder naive Himmelsbläue noch verstiegener Edelmut an. Sie entspringt vielmehr mit innerer Logik der Struktur des Gedichts. Zwei Strophen lang stellt das Ich sein Schicksal mit allen Anzeichen des Vorglücks und des leidvollen Endes dar, zwei Strophen lang ist von Erwartung und Täuschung die Rede, ohne daß wir, die Leser, den Grund dafür erfahren. Den gibt erst die dritte Strophe preis: „Aber sie […].“ Bis dahin staut sich immer drängender die Spannung beim Lesen, wird die Frage nach der Ursache von „Freude“ und „Kummer“ immer unabweisbarer. Die über den Strom gebauten Brückenbogen sind in den rhythmischen Aufbau des Gedichts übersetzt: als Spannungsbogen für die Phantasie der Leser. Und als Träger für die Selbsterhebung des lyrischen Ichs. Der Liebende überbrückt den Abgrund melancholischer Selbstversenkung, indem er das bildliche Versprechen der ersten Strophe – den kühnen Bogenschwung – wahrhaftig Geist werden läßt. Er erneuert die Spannkraft der enttäuschten Liebe und verhilft ihr dergestalt zu „kühnerm Schwunge“. Die „stolzen Bogen“ der steinernen Brücke sind die der Seele geworden und wölben sich zum Hymnus auf die vergeblich Geliebte empor. Die über den Strom erbaute Brücke wird zur Himmelsbrücke der besten aller Weiber. Erst im Prozeß des Dichtens
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werden Ding und Geist, Natur und Seele wieder eins; ohne den Durchgang durch die ‚Täuschung‘ bliebe ihre Kongruenz wohlfeil; nur die Anspannung des Geistes und der Seelenkräfte kann diese Kongruenz als Idealbild aufleuchten lassen. Die uneitle großmütige Entsagung, die Kellers lyrischem Ich in der Schönen Brücke gelingt, kommt besonders eindringlich in einem Verb zum Ausdruck: „wallen“, dem finalen Schlußpunkt des Gedichts: Ewig aber wird es nie geschehen, Daß ein beßres Weib hinüber wallt!
Das feierliche, leicht altmodische „Wallen“ ist die erhabene Gangart par excellence. Es besitzt noch mehr Würde als „Wandeln“ oder „Schreiten“, vom trivialen „Gehen“ ganz zu schweigen. Im „Wallen“ wird der reiche Faltenwurf des Gewandes der Frau nachgebildet, es ist, als trüge sie die seidene Schleppe einer Königin. Die Majestät der geliebten, aber unerreichbaren Frau wird dergestalt durch die Suggestivkraft eines einzelnen Verbs beredt. Charakteristisch für den Poetischen Realismus Kellers – und nicht nur Kellers – ist besonders dieses Gedicht. Es poetisiert zunächst die schöne Brücke, indem es ihren „stolzen Bogen“ mitfühlendes Leben einhaucht (1), entzaubert dann diese Poetisierung als Täuschung (2), ehe es, auf dem Boden der Enttäuschung, zu einer innigeren und dauerhaften Poesie fortschreitet: zur Geliebten als der besten aller Weiber und zur Sublimierung der menschlich-allzu menschlichen Affekte (3). Die Substanz dieses seelisch-mentalen Dreischritts erhält von Strophe zu Strophe durch den Dreitakt der Zeit – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – eine nachhaltige Prägung. Die Zeit rhythmisiert gleichsam das bewegende menschliche Geschehen. Dieser lyrisch-strukturale Dreischritt ist, literarhistorisch gesehen, von Bedeutung. Das Gedicht antwortet damit auf eines der großen Paradigmen des Liebesschicksals im 18. und 19. Jahrhundert: auf das WertherParadigma. Wie im Briefroman Goethes der jugendliche Held zunächst von der Liebe inspiriert ist und auf ihren Schwingen die innigste Fühlungnahme mit der Natur erlebt, so tritt Kellers lyrisches Ich in der 1. Strophe, beschwingt von seiner Liebe, in einen intensiven Du-Bezug zur bebauten Natur: der Brücke und ihren „stolzen Bogen“. Und wie der junge Werther bei der Entdeckung, daß die Geliebte einem Anderen gehört, schlagartig die Natur als gott- und geistverlassene erfährt, die nurmehr seine innere Trostlosigkeit widerspiegelt – so erfährt Kellers lyrisches Ich aufgrund der gleichen Entdeckung den Einbruch „schweren Leids“ und die abweisende Fühllosigkeit der Brücke. Erst mit der 3. Strophe stellt es eine qualitative
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Differenz zum Schicksal Werthers her: während dieser sich nicht abfinden mag mit dem factum brutum, daß die Geliebte einem Anderen gehört und statt dessen besitzergreifende Ansprüche stellt, gibt Kellers lyrisches Ich die Geliebte mit ihrem „andern Leiden“ und ihren „andern Seligkeiten“ großmütig frei. So errettet es sich und die Geliebte vor dem mentalen und seelischen Abgrund, in den Werther zeitweise die Geliebte und für immer sich selber stürzt, mit der Konsequenz des Selbstmords. Gleichsam in einer Miniatur spiegelt das Gedicht mit seinen ersten beiden Strophen zwei zentrale Phasen des Werther-Schicksals wider, um schließlich dessen letzte tödliche Phase zu transzendieren. Bedenkt man die literatur- und kulturgeschichtlich tiefgreifende Wirkung des Werther, so leistet Kellers Schöne Brücke eine resümierende Verdichtung der berühmten Liebesgeschichte und einen bedeutsamen Brückenschlag zu ihrer Überwindung. Gemahnt Kellers Heidelberger Brücke nicht auch an Hölderlins Ode Heidelberg? In beiden Gedichten „fesselt“ ein „Zauber“, um mit Hölderlin zu sprechen, den Brückengänger. Bei Hölderlin „tönt“ die Heidelberger Brücke „von Wagen und Menschen“ und ermöglicht dem lyrischen Ich die Wahrnehmung der „reizenden Ferne“ mit ihren „Bergen“, aber auch des tieferliegenden „Stroms“ als Sinnbild der Zeitgeschichte – und zugleich gerät die schöne städtische Landschaft in sein Blickfeld. Dieses perspektiven- und spannungsreiche Zauberbild hält das lyrische Ich auf der Brücke fest. Bei Keller repräsentiert dieselbe Brücke einen Liebeszauber, auf den die Entzauberung und erneute Bezauberung durch die Geliebte folgen. Eine spannungsreiche Zaubersequenz auch dies, aber ganz der Innenwelt des lyrischen Ichs anverwandelt. Die „schöne Brücke“ Heidelbergs bezeugt über ein halbes Jahrhundert hinweg einen Zauber, der als wesentlicher Impuls für die Genese des Gedichts wirkt. Kellers großmütige Entsagung ist in seinem Werk zwar keine Ausnahme, doch findet sie sich, wie schon erwähnt, kontrastiert mit Formen des Verzichts, die von Reue durchgeistert sind: Verzichts-Formen, die vom aufgezwungenen zum selbstauferlegten Verzicht reichen. Von letzterem erzählt eindringlich Am Ufer des Stromes (Text siehe Anmerkung)337. Das Gedicht besitzt einen Vorspann, der einen „graulockig[en] […] Mann“ und einen Jüngling zusammenführt, dessen Liebesklage dem älteren Gefährten ein schmerzliches Bekenntnis entlockt, eine Art reumütiger Lebensbeichte. Der junge Mann – er wandert mit dem älteren am Stromufer entlang – führt Klage darüber, daß er ein Liebesgeständnis gewagt und von der Geliebten einen Korb, ein schmerzhaftes Nein erhalten habe: „nun beklemmt’s mir die Brust, / Daß Herz ich und Mund nicht zu halten gewußt!’“ Das fehlgeschlagene Wagnis mag seinen Stolz verletzt, seine Selbstachtung gekränkt, vielleicht das Verhältnis zu der jungen Frau ge-
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trübt haben. Der Alte jedoch kann das für so schlimm nicht erachten. Er hat in seiner „Jugend“, so erzählt er, „so manches Geständnis gemacht“, leichten und raschen Herzens – die Antworten darauf, abwehrende oder zustimmende, bewegten dies Herz nicht nachhaltig. Bei einer nur hielt er sein Geständnis zurück: Bei Einer nur hab’ ich das Wörtchen verschluckt, Wie sehr es auch sterbend im Busen gezuckt; Ich glaube, sie ahnt’ es und lächelte fein, Doch wußt’ ich nicht, sang’s in ihr Ja oder Nein.
Der Einen, der Erwählten seines Herzens, klang nur sein Schweigen entgegen. Zuviel stand auf dem Spiel. So sehr lag ihm an ihr, daß ein Nein seine Selbstachtung hätte erschüttern können. Für immer oder für dieses eine Mal nur? Hätte er nach einem Nein seinen Lebensmut nicht wieder zurückgewinnen können? Und hätte die Geliebte denn mit Nein geantwortet? Hat sie nicht auf dieses Geständnis gewartet, um ihn und sich selbst mit ihrem Ja zu beschenken? Die Chance bestand immerhin, folglich hätte sie erprobt, hätte erkundet werden müssen. Stattdessen hat der Liebende sich im Zögern und Verstummen geübt, bis zuletzt, bis er die Frau „im Leichenschmucke“ wiedertraf, den Mund umspielt von leisem „Spott“, als wollte sie noch etwas sagen: Mir lispelt’s im Ohre: »O träger Mann, Der so mit Worten geizen kann! Du hattest den Schlüssel zum seligen Haus, Wo fliegen die Engel hinein und hinaus!«
Es ist nicht verbürgt, daß die Frau auf sein Geständnis ihm das „selige[ ] Haus“ versprochen hätte. Aber es wäre möglich gewesen. Weil er die Möglichkeit durch sein Schweigen verspielt hat, hat er sein Leben nur halb gelebt. Er kann auch das Versäumte nie wieder gutmachen. Mit dem Tod der Frau kommt ihm dies dröhnend zum Bewußtsein: »Du hattest den Schlüssel zum goldenen Schrein Für alle zwei Beide, nun lieg’ ich allein!« Da donnert die Orgel, da psaltert der Chor, Und sie trugen hinaus, was ich elend verlor!
Im Donnern der Orgel gelangt auf unvergleichliche Weise die Lebensreue des Mannes zum Ausdruck, eine ihn übermannende, von allen Seiten ihn anrufende und anklagende Reue. Vielleicht wäre das „selige[ ] Haus“ der Geliebten minder selig, die aus- und einfliegenden „Engel“ minder zahlreich gewesen, als es ihm seine Vorstellungskraft jetzt ausmalt. Aber zur vertrackten Dialektik des Versäumten gehört, daß uns als doppelt liebenswert erscheint, was wir unwiderruflich verspielt haben. Das Elend des von seiner Reue Überwältigten ist der gestrenge Ausdruck seiner befangenen, mutlosen Psyche, die ihm eins versagte: das Wagnis einer Offenheit,
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das ein Wagnis bleibt, weil es die Möglichkeit eines Nein, eines Abgewiesenwerdens einbezieht. Die Angst vor Kränkung, vor der Kränkung des Stolzes und der Selbstliebe, erweist sich als das fundamentale Hemmnis für jenen Wagemut. So wird der Zögernde und Verstummende zum Gefangenen seiner selbst, seiner mutlosen Selbstliebe, seines überempfindlichen Ehrbegriffs. Ich-Stärke jedoch entwickelt sich nur in der Bereitschaft zur Selbstüberwindung, und natürliche Selbstliebe, soll sie nicht hypertroph werden, ist auf Selbstentäußerung angewiesen. Also auf jenen Mut, die Wahrheit des Herzens dort zu äußern, wo uns ein Glück, gar ein Lebensglück, greifbar scheint. Sonst droht – anstelle der Kränkung der Eigenliebe – die Kränkung des Lebensmuts, drohen die Melancholie der Reue und das verzehrende Bewußtsein einer Schuld gegenüber dem eigenen Selbst. Das ‚Zu spät‘ wird dem alten Mann zum unvertreibbaren Lebensgefühl. Es verschafft sich Geltung in quälenden Phantasien. Würde beispielsweise die arme, unscheinbare Fährmanns-Magd auf dem Strom, den er entlangwandert, seine Liebe auch nur im geringsten erwecken, auf der Stelle würde er’s bekennen, um seine Lebensschuld abzutragen: Befiel’ mich ein Fünklein Lieb’ zu ihr, Laut rief ich es von der Stelle hier, Rief’s laut in der Wellen rauschenden Gang, Mich dünkt’ es der allerschönste Gesang!
Zu spät! Er hat die Chance des rettenden Geständnisses für immer verspielt. Aber sein Eingeständnis des versäumten Geständnisses erfolgt vielleicht rechtzeitig genug, um seinem jungen Freund zu helfen. Auf daß dieser sein eigenes (mit einem Nein quittiertes) Geständnis nicht bereue – und ein künftiges, lebensentscheidendes Geständnis nicht versäume. Wir kennen die Antwort des jungen Mannes nicht. Keller hat seinem Vorspann keinen ‚Nachspann‘ folgen lassen, hat seine Geschichte, wie im Stillen Abenteuer338, nur halb gerahmt. Dieser halbe Rahmen jedoch, der eine Antwort ausspart, verlangt nach der ganzen Rahmung durch den Leser. Die Antwort, die im Stillen Abenteuer die Jägerrunde, die Am Ufer des Stromes der junge Mann schuldig bleibt, ist dem Leser anheimgestellt. In ihm pocht die Lebensgeschichte des Alten als Frage an das eigene Leben fort. Kellers halbe Rahmung erweist sich als Kunst des Offenhaltens – zum Leser hin; als Kunst des Einforderns der Leser-Reflexion. Kellers Feuerbach-Erfahrung mag seine Sensibilität für das Scheitern in Liebesdingen geschärft haben. War ihm dank Feuerbach die Welt „unendlich schöner und tiefer geworden“, das Leben „wertvoller und intensiver“339, so mußte ihn ein Verfehlen der Welt um so nachhaltiger, ein Vorbeileben am Leben um so schmerzhafter treffen. Insofern bildet Am Ufer des Stromes einen bedrängenden Gegenpol zur Feuerbach’schen Lebensphilosohie.
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3. Utopische Entwürfe. Dissonanzen Es ist für Keller, der in Liebesdingen so viel Verzicht üben und auf großmütige Entsagung sich einstimmen mußte, bezeichnend, daß er die Umrisse einer freien, sinnlich entfalteten Liebe in entlegenen Räumen entwarf, fernab seiner eigenen Lebenswelt, zwischen den Angehörigen einer anderen Gesellschaftsklasse, die, so mochte er es sich vorstellen, den Normen seiner sozialen Schicht nicht unterworfen waren und sich ihre eigene regellose Liebesart schaffen konnten. Insofern ist Waldliebe340 eine Spiegelung der Triebwünsche Kellers, der utopische Entwurf einer unzensierten befreiten Sinnlichkeit. Dafür eignet sich so recht der junge, „am Waldessaum / Mit gewandten Schritten“ hineilende Bursche, an dem alles Schwung und federnde Spannkraft ist, Unbefangenheit bis zur Unbedenklichkeit, ja Unverfrorenheit – hat er doch mit seiner Axt, die er „gestohlen“, dem Wald einen Föhrenbaum geraubt, den er wie eine Trophäe „auf der jungen Schulter“ wiegt. Ein Bild kraftvoll-elastischer Jugend, die über gesellschaftliche Normen respektlos hinwegeilt. Dieser Bursche ist für ein Liebesabenteuer in der freien Natur wie geschaffen. Die dafür ausersehene junge „Dirne“ begeht ihrerseits einen doppelten Normverstoß, denn einer ehrbaren Frau steht vor der Ehe die körperliche Hingabe damals so wenig zu wie überhaupt die Liebe im Freien. In Waldliebe ist die junge Frau für die unbedenkliche Aufhebung der bürgerlichen Ehre aufs beste vorbereitet, hat sie sich doch die „Birkenruten“, mit denen sie ihrem Burschen entgegenschreitet, widerrechtlich angeeignet, und wenn ihr die Wangen von langer und schwerer „Arbeit“ „in Gluten“ stehen, so zeigt sie damit zugleich ihr Liebesfeuer an. Das Eigentumsdelikt freilich ist zu Kellers Zeit unter armen Leuten – und um solche handelt es sich hier – häufig eine Lebensnotwendigkeit. Ohne Aussicht auf Brotarbeit und auf soziale Fürsorge blieb ihnen zeitweise nur das Betteln, der Diebstahl und ein schmähliches Gelegenheitsverdienst, um ihr Leben notdürftig zu fristen. Um so verlockender ist das Liebesbett, das sich Kellers Paar aus dem gestohlenen Waldesgut bereitet, mitten in einem Graben, wo, man staune, Wo ein kleiner Freudenquell Tief im Eschengrunde fließet Und die Silberadern hell Durch das samt’ne Moos ergießet […].
Was für ein Bild! Der Natur abgeschaut, zweifellos, und doch auch symbolisch, liest man es als Präludium der unmittelbar folgenden Umarmung. Nimmt die Symbiose des „Freudenquell[s]“ mit dem „samt’ne[n] Moos“ nicht den Wunsch der Liebenden nach einer Vereinigung vorweg? Die Umarmung selbst ist keineswegs nur waldursprünglich, sie ist bei aller Frische und Unverzüglichkeit auch von einem sozialen Rhythmus mit-
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bestimmt. Denn der junge Bursche möchte seine Lust am Körper der Geliebten, und das heißt an ihrem „verborgnen Reichtum“ haben, für den ihre „Juwele[n]“ einstehen. Haare, Augen, Zähne, Hals und Busen der Geliebten sind ihm die sinnlichsten Anziehungspunkte, aber auch Äquivalente des bürgerlichen Reichtums, angefangen vom „Gold“ der Haare und den Perlenreihen der Zähne bis zu den „Silberberge[n]“ der Brüste! Dem feurigen Liebhaber flüstert der Erzähler für jeden Körperteil der Geliebten einen exquisiten Bildvergleich ein, wie er in barocker Dichtung üblich war. Was das Leben dem jungen Mann an materiellen Herrlichkeiten vorenthält, strahlt ihm in Fülle am Leib der Geliebten wider. Aus dem Hungerleider und Dieb wird im Handumdrehen, im Nu einer Umarmung, ein fürstlich entlohnter Soldat, der da „ein Hundert Küsse“ zählt, „blank und bar auf meine Lippen“, dann ein üppiger Genießer, dem die Schönheit der Geliebten zum berauschenden Wein zusammenfließt, schließlich ein Königssohn, reich an kostbaren „Schätzen“. Man mag all dies für Sozialromantik halten, für die Erhebung der Armen in den Adelsstand erfüllter Liebe kraft eines poetischen Federstrichs, mag darin nichts als den Widerschein und das Echo eines nach sinnlicher Befreiung verlangenden Dichters erblicken. Aber die unaufhaltsame und dynamische Bewegung des Geschehens kündet auch von einem seine gesellschaftlichen Fesseln abstreifenden Eros, und die barocke Vergegenwärtigung der angestaunten weiblichen Körperteile spiegelt auch die selige Lust einer sinnlichästhetischen Hingabe wider. Teilt diese Lust auch die schöne bewunderte „Dirne“? Darüber schweigt sich der Erzähler aus, so recht nach Männerart, als fehlte der Frau das Stimmrecht und das Organ für eine Selbstdarstellung. Wir sehen sie nur im Spiegel der männlichen Entzückung – ein Schönheitsfehler in diesem Lobpreis ihrer sinnenberückenden Schönheit. Wie ist eine Liebe beschaffen, die ihre Triebnatur zügeln und die Befriedigung des Begehrens auf eine unbestimmte Zukunft vertagen muß, kurz: das Gegenteil zur Waldliebe mit ihrer spontanen sinnlichen Erfüllung darstellt? Einer derartigen Liebe verleiht Keller in Die Winzerin341 Gestalt. Idyllisch ist der Auftakt des Gedichts. Ein Naturereignis – die reifen Trauben kurz vor der Weinernte – wird vom Erzähler zum Gleichnis einer liebenden Frau erhoben: Am sonnig weißen Gartenhaus, Da reifet Traub’ an Traube, Die sanfte Schöne tritt heraus Und prüft die schwere Laube; Dem blauen Blick des Weibes gleicht Der Beeren dunkle Menge; Wohin ihr freundlich Auge reicht, Lacht freundliches Gedränge.
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Die Übereinstimmung zwischen dem Blick der Winzerin und dem AnBlick der ihr anvertrauten Frucht läßt auf eine harmonische Fortführung der Szenerie schließen. Dem ist nicht ganz so. Die Trauben werden der Frau unvermerkt zum Inbild ihrer Sehnsucht: Wie das „Blut“ der Trauben noch ‚gefangen‘ ist in der reifen Haut und nach außen drängt, so drängt das der Winzerin dazu, sich zu verströmen. Ihr Blick schweift wieder und wieder von der Frucht in die Ferne, erwartungsvoll und zugleich voll Bangen: „Gleich einer reifen Beere glänzt / Ihr feuchtes Aug’ hinüber, / Wo’s blaut und leuchtet unbegrenzt, / So fern, so fern herüber.“ Mit dem Blau der Trauben, des Auges und der Ferne komponiert Keller einen stimmigen Akkord, in dem gleichwohl eine ungelöste Spannung mitschwingt. Das schöne Bild der Beeren enthält eine Lockung, die auch von der Gestalt der Winzerin ausgeht. Noch antwortet kein erlösendes Echo auf diese sinnliche Lockung. Um so drängender ist das Begehren der Frau. Wie ihre Gestalt wird ihre Arbeit zum allegorischen Zeichen ihres Willens zur Hingabe, will sagen zur Aufgabe ihrer jungfräulichen Selbstbeschränkung. Sie weiß das nicht, doch macht Keller durch seine Metaphorik es dem Leser bewußt: Das „Blut der Traube“, das sie vergießt, verweist auf ihr eigenes, jungfräuliches; ihre Wangen blühen „gleich jungen Rosen“, Sinnbild ihres Eros, und sie kontrastieren zugleich mit dem Weiß ihres Gesichts und ihrer Arme, so daß im Zusammenspiel mit dem zitierten Blau ein neuer Akkord entsteht, harmonisch auch er, aber unverzüglich auch er unterwandert von ungelöster innerer Spannung: Sie keltert, daß der Busen fliegt Und woget ungemessen; Umsonst, was ihr im Sinne liegt, Das kann sie nicht vergessen! Umsonst – wie oft die Krüge sie Mit starkem Moste füllet, Sie selber hat den Durst noch nie, Das Sehnen nie gestillet.
Eindeutig-aufdringlich mischt sich das Begehren in die Arbeit, das Bewußtsein des gestauten, unerlösten „Blut[s]“ wird unabweisbar. Es ist noch immer ‚gefangen‘, während das der Trauben längst gärt und zum „Moste“ gedeiht. An dieser Stelle gibt das Gleichnis ‚Natur – Eros‘ seine harmonischen Korrespondenzen endgültig an die Dissonanz preis. Die Winzerin macht aus der Not allerdings eine Tugend – die typische Tugend der entsagungsfähigen Frau ihrer Zeit, ihres Jahrhunderts. „Mit treuer Sorge“, ungeachtet ihrer ungestillten Wünsche, läßt sie das Traubenblut „zum selt’nen Wein sich klären“ und versorgt damit Arme und Kranke. Die Frau als unentwegte Helferin, der caritas verpflichtet! Vielleicht darf sie aus diesem Grund, einer poetischen Gerechtigkeit gemäß, endlich ihr Glück aus der Ferne empfangen, nach Jahren des Wartens. Dieses Glück
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kommt zu Schiff gefahren, wie der Mythos und die alten Epen es erzählen. Und es löst eine uralte Wunschvorstellung Kellers ein: die Bekräftigung der Kindheitsliebe im Erwachsenenalter, das die Utopie der Treue und des Vertrauens endlich ins Recht setzt: „Ratlos verließ der Knabe dich, Nun kehrt ein Mann dir wieder! O schau wie leuchtet’s weit und breit, Wie klar der Tag, die Stunde! Und reif die schönste Lebenszeit Küßt mich von deinem Munde!“
Mag die Bilderwahl des Gedichts gelegentlich die Konventionalität streifen, der vierhebige Jambus als metrisches Schema zu regelmäßig und zu glatt wiederkehren – aufschlußreich ist das erzählte Leben der Winzerin dennoch. Und nicht nur des Beziehungsgeflechtes wegen zwischen Natur und Arbeit, Natur und Weiblichkeit, sondern auch deshalb, weil dieses Geflecht nicht bis zu Ende gesponnen wird, gesponnen werden kann. Die Analogie ‚Natur – Menschenleben‘ bricht ab, die Natur als Allegorie menschlichen Schicksals dankt ab. Letzteres gehorcht einem anderen Rhythmus als der Kreislauf der Natur und als die damit befaßte Arbeit des Menschen. Die lyrische Konvention eines Gleichnisses zwischen natürlichen und menschlichen Verhältnissen wird von diesem Gedicht zugleich ins Werk und außer Kraft gesetzt. Wenn Keller Gedichte wie Waldliebe (bzw. Waldfrevel) und Die Winzerin von den Neueren Gedichten in das Spätwerk übernommen hat, so verwies er damit auf seine Utopie einer erfüllten Liebe. Diese mochte ihm um so wünschenswerter sein als er selbst nur die scheiternde Liebe kennenlernte. Von ihr zeugt etwa in höchst distanzierter Form das Gedicht Die Entschwundene342, das sich auf seine 1866 verstorbene Verlobte Luise Scheidegger bezieht. Die junge Frau hatte den Freitod gesucht, vielleicht um sich dem älteren und bisweilen schlecht beleumundeten Keller zu entziehen.343 Dessen Leiden an der „Entschwundenen“ kommt unmittelbarer als im obengenannten Gedicht in einem zweiten zum Ausdruck: Du solltest ruhen und ich störe dich (Text siehe Anhang)344. Keller hat diese Selbstoffenbarung wohl aufgrund ihrer Unmittelbarkeit von den Gesammelten Gedichten ferngehalten; eine verräterische biographische Spur mochte ihn in dieser Selbstverhüllung bestärkt haben: An Luise Scheideggers Freitod im Wasser erinnert nur allzu deutlich der zweite Vers der dritten Strophe: „Steh auf und schüttle nur dein nasses Haar!“ Das selten zitierte Gedicht ist weniger konventionell als Die Entschwundene und öffnet sich einer unbereinigten Dissonanz. Es zitiert die Konvention des „Requiescat in pace“: „Du solltest ruhen“ und es verletzt
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sie. Der „süße[n] Tote[n]“ gewährt das lyrische Ich die Ruhe gerade nicht. Der Segensspruch, womit man auf Grabsteinen und in Todesanzeigen die Verstorbenen hier und da verabschiedet, wird mehrfach widerrufen: „Ich störe deine Ruhe“, „Ich wecke dich“, „Nicht eine Feste ist dein zartes Grab, / Drin du geborgen kannst und sicher ruhen!“ – „Du mußt mit meinem Grame schmerzlich kosen“. Die wiederholte Ruhestörung seitens des lyrischen Ichs läßt auf die Kränkung schließen, die ihm durch den Freitod der Geliebten widerfahren ist. Sie klingt in dem Vorwurf an, die Tote habe „die Ruh gesucht und mir die Unruh“ gegeben, weshalb das Ich nun diese Unruhe auf die Verstorbene übertragen und sie zur Zwiesprache herausfordern muß, Tag für Tag. – Warum hast du mich verlassen und einer nicht endenwollenden Unrast über-lassen? So könnte die unausgesprochene Rätselfrage des Ichs lauten, die das Du gleichsam zur Rechenschaft zieht. Nur die dritte Strophe verzichtet auf die Sprache des Vorwurfs und der Ruhe-Störung. Sie will das schöne Bild der Geliebten retten und tut dies in idyllisierender Manier: „Entschwundnes Gut, o Herz voll seltner Güte […] Tu auf die lieben Äuglein treu und klar“. Die hochgelobte Güte der Geliebten harmoniert nicht mit ihrem Freitod, der den Liebenden in Unruhe stürzt und ihn womöglich dem Selbstvorwurf einer Mitschuld an diesem Tod aussetzt. In der Ruhelosigkeit des Trauenden mag dieses heimliche Schuldbewußtsein als mögliche Antriebskraft gegenwärtig sein. Sie steht quer zum Idealbild der Geliebten in der dritten Strophe. So bricht im Gedicht eine Dissonanz auf, die dem Ich einen ganz unfrommen, beinahe aggressiven Wunsch eingibt: „Erst wenn der Tod mir selber Ruh verleiht, / Magst kehren du zu ruhn im Wesenlosen.“ In die Reihe der unkonventionellen Gedichte gehört Kellers auf den 28.12.1845 datierte Via Mala! 345 – so der Name der „Schlucht, durch die der Hinterrhein in das Tomleschg eintritt. Keller hat die Schlucht zusammen mit Xaver Schnyder von Wartensee um das Jahr 1846 durchschritten“ und darüber auch berichtet.346 Sein Gedicht widerruft den „Subjektivismus“, der seiner Jugendlyrik so häufig zum Vorwurf gemacht wird. Anstatt die Geliebte direkt anzusprechen, wählt sein lyrisches Ich den Umweg über einen mythologischen Vergleich. Es macht die berühmte Tochter Pharaos namhaft, die einst am Nil das Moseskind geborgen hatte. Die Schönheit der Königstochter, die selbst den Fluß zur Bewunderung hinreißt, wird zum Preislied auf die Geliebte, das „träum’risch Kind“ am „abendlichen Rheine“ (vgl. auch Kellers Gedicht Rheinwein. 1847, Kap. II). Bis in einzelne Details – das Grün des Schilfs bzw. der Wellen und das „goldumreifte“ bzw. von der Abendsonne umsponnene Haupt – zieht das lyrische Ich die Analogie, um den Sprung vom mythischen Einst in die
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Gegenwart sinnlich zu beglaubigen. Vor dem Horizont des Mythos gewinnt die Geliebte die Aura des Wunderbaren. Umso dramatischer wirkt demgegenüber die Situation des Liebenden. „Wolkenhoch auf schmalem Steg“ wandelnd, trennt ihn ein „Abgrund“ von der Geliebten. Anstatt jedoch in lyrischer Subjektivität seine Sehnsucht hinaus zu schreien, wie ein konventioneller Lyriker es tun würde – „Rosemarie, Rosemarie, sieben Jahre mein Herz nach dir schrie“, dichtete etwa Hermann Löns zur selben Zeit –, überantwortet Kellers lyrisches Subjekt seine Herzenssprache der Natur: „dem Tosen in den Klüften“ und dem gewaltigen „Tannenweh’n“. So gewinnt die Intimität des Subjekts ‚natürliche‘ Objektivität. In der Höhe der „kalten Eiseslüfte“ tritt die ungeborgene Einsamkeit seiner Liebe plastisch hervor – „ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“, um es in der Metaphorik Rilkes zu sagen, der Kellers Bild an Modernität nicht nachsteht. Die schauerliche Höhenluft in diesem Bild betont das lyrische Ich durch den Kontrast zur idyllischen Rheinebene, in welcher sich die Geliebte ergeht, in harmonischer Eintracht mit der Natur, ohne Wissen um die Fernliebe auf eisigen Höhn. Wahrlich ein „Abgrund“ an Distanz!
X. (Fremd-)Porträts Kontrapunktisch zu seinen Selbstbildnissen – entworfen im Medium der Natur, der Ich-Analyse, des Liebesdialogs – hat Keller eine Reihe von (Fremd-)Porträts entworfen. So sehr ihn das eigene Ich zur Erkundung reizt, so wenig vernachlässigt er andere Gestalten; sie sind für ihn ein Medium der Realitätsvergewisserung, die ihn vor übertriebener Subjektivität schützt. Von früh an wendet er sich der gegenständlichen Welt zu, verkörpert in beispielhaften Figuren, und hält sie in Charakterbildern fest. Der Porträt-Reigen des jungen und mittleren Keller spannt sich, um nur einige fiktionale Beispiele zu nennen, von der Spinnerin und der Frau Michel (bzw. Frau Rösel347) in den Gedichten (1846) bis zur Winzerin und zur Schifferin auf dem Neckar348 der Neueren Gedichte; dazu gesellen sich jene historischen Bildnisse, die er aus festlichen Anlässen anfertigte, etwa das Gedächtnis an Wilhelm Baumgarten oder das Gedenkblatt zu Ehren Ulrichs von Hutten (Ufenau349).Die zitierten Gedichttitel sind allerdings nicht Gegenstand der folgenden Porträtbetrachtungen, da wir sie anderen Themenkreisen zugeordnet haben (Weiblichkeit und Politik, Liebesgedichte, Der Kunst zu Ehren und Gelegenheitslyrik). Dafür sei an dieser Stelle auf einige poetische Bildnisse aufmerksam gemacht, die Keller einer Reihe unkonventioneller Gestalten gewidmet hat: Außenseitern, Originalen, Phantasten. Wir werden solche Gestalten in der ‚aufsteigenden Linie‘ ihrer Lebensalter vorstellen und den Bogen vom Porträt eines Kindes bis zu dem eines Greises schlagen. Bei einer Kindesleiche lautet der Titel des Gedichts350, in dem Kellers rückblickender Erzähler eines jäh erloschenen Lebens gedenkt. Mit feiner Hand zeichnet er das Bild eines eben gestorbenen Kindes, das zur Bildung von Worten noch nicht imstande war, dafür jedoch mit der überirdischen Leuchtkraft seiner Augen sprach: „Ursprünglich helles Licht von schönern Auen.“ Bezeugen diese Augen die ursprüngliche Heimat der Menschen, ihre paradiesische Unschuld? Verheißen sie ihnen ihr utopisches Ziel, ein neues Paradies des Lichtes und der Schönheit? Ob Heimat oder Ziel, gleichviel – es ging von diesen Augen ein Zauber aus, der des Betrachters Sehnsucht nach einer höheren Bestimmung des Lebens weckte. Alles Vollkommene kann offenbar diese sehnsuchtserregende Kraft besitzen. Es ruht in sich selbst und weist zugleich über sich hinaus auf ein unnennbar Schönes, ein metaphysisches Urbild: „Du lieblich Kind warst in
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X. (Fremd-)Porträts
dir selbst vollkommen“. Keller verschränkt diesen subtilen Platonismus mit der Idee eines den Tod transzendierenden Lebens. Dieses Kind war zu schön und zu vollkommen, als daß es für immer ein Opfer des Todes sein könnte. Sein Tod ist nur eine Station im unsterblichen Kreislauf des Lebens. „Das Eine Meer des Lebens“ wird die Gestalt und Seele des Kindes in sich aufnehmen und über die „dunkle Klippe“ des Todes hinwegtragen. Der Zauber, den Kellers „lieblich Kind“ offenbarte, entdeckt eine andere Kindergestalt auf eigene Faust – jener Knabe, der als ‚Taugenichts‘ eine der bewegendsten und liebenswertesten Figuren ist, die Kellers lyrische Feder gezeichnet hat. Sie lohnt eine exemplarische Interpretation. Der Taugenichts Die ersten Veilchen waren schon Erwacht im stillen Tal, Das Bettelpack schlug auf den Thron Im Feld zum ersten Mal. Der Alte auf dem Rücken lag, Die Mutter wusch am See; Bestaubt und unrein schmolz im Hag15 Das letzte Häuflein Schnee. Der Vollmond warf den Silberschein Dem Bettler in die Hand, Bestreut der Frau mit Edelstein Die Lumpen, die sie wand; Ein linder West blies in die Glut Von einem Dorngeflecht, Drauf kocht‘ in Bettelmannes Hut Ein sündengrauer Hecht. Da kam der kleine Betteljung, Vor Hunger schwach und matt, Doch glühend in Begeisterung Vom Streifen durch die Stadt, Hielt eine Hyazinth empor In dunkelblauer Luft; Die Blume war von selt’nem Flor Und selig süß ihr Duft. Der Vater rief: Wohl hast du mir Viel Pfennige gebracht? Der Knabe rief: O sehet hier Der Blume Zauberpracht! Ich lag am goldnen Gittertor Vom Morgen bis zur Nacht, Die Blume aus dem Wunderflor Zu stehlen nur bedacht! 15
Ein durch Hecken, Gebüsch oder Gehölz umfriedeter Ort, Gehege.
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Seht nur, wie vornehm und wie fein, Wie zierlich sie gebaut! Ich habe starr nach ihrem Schein Den ganzen Tag geschaut. O schlaget nicht mich armen Wicht, Laßt euren Stecken ruh’n! Ich will ja nichts, mich hungert nicht, Ich will’s nicht wieder tun! O sehet nur, ich werde toll, Die Glöcklein alle an! Ihr Duft, so fremd und wundervoll, Hat mir es angetan! Auch alle Blumen nun im Feld Lieb‘ ich von heute an; Die Hexe, welche neue Welt Hat sie mir aufgetan! O wehe mir geschlagnem Tropf! Brach nun der Alte aus: Mein Kind kommt mit verrücktem Kopf, Anstatt mit Brot nach Haus! Du Taugenichts, du Tagedieb, Und deiner Eltern Schmach! Und rüstig langt er Hieb auf Hieb Dem armen Jungen nach. Im Zorn fraß er den Hecht, noch eh‘ Er gar gesotten war, Warf weit die Gräte in den See Und stülpt‘ den Filz auf’s Haar. Die Mutter schmält‘ mit lindem Wort, Den mißgeratnen Sohn, Der warf die Blume zitternd fort Und hinkte still davon. Es perlte seiner Tränen Fluß, Er legte sich in’s Gras Und zog aus seinem wunden Fuß Ein Stücklein scharfes Glas. Der Gott der Taugenichtse rief Der guten Nachtigall, Daß sie dem Kind ein Liedlein pfiff Zum Schlaf mit süßem Schall.351
Nüchterne Pragmatik und zweckrationale Lebensfristung treten in Kellers Verserzählung in einen schroffen Gegensatz zur ästhetischen Sehnsucht des Menschen, dieser Grundbedingung aller Kunst. Da ist zunächst eine Szenerie im Frühjahr zur nächtlichen Stunde: ein „Bettelpack“, Mann und
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Frau, wagt sich zum ersten Mal wieder ins freie Feld. Von der Gunst der Natur, einer wahrhaft ästhetischen Gunst, merkt das Paar freilich nichts: Der Vollmond warf den Silberschein Dem Bettler in die Hand, Bestreut’ der Frau mit Edelstein Die Lumpen, die sie wand […].
Nein, die Armen scheinen ihre Sinne allein auf ihr Nachtmahl zu richten, einen Hecht, der gerade am Kochen ist, als ihr Familiensproß aus der Stadt zurückkehrt, von anderen Neigungen erfüllt als die beiden Alten: Da kam der kleine Betteljung, Vor Hunger schwach und matt, Doch glühend in Begeisterung Vom Streifen durch die Stadt, Hielt eine Hyazinth empor In dunkelblauer Luft; Die Blume war von selt’nem Flor Und selig süß ihr Duft.
Der Betteljunge hat den Ursprung der Poesie entdeckt – die Schönheit der Natur. Hat sie mit seinen empfänglichsten Sinnen, dem Gesichtssinn und dem Geruchssinn, so entdeckt, daß er Hunger und Mattigkeit darüber vergessen hat. Die Begeisterung, in der er glüht, ist ästhetisch durch und durch. Sie hebt ihn über alle Pragmatik und Daseinsvorsorge hinweg: Der Vater rief: Wohl hast du mir Viel Pfennige gebracht? Der Knabe rief: O sehet hier Der Blume Zauberpracht! Ich lag am goldnen Gittertor, Vom Morgen bis zur Nacht, Die Blume aus dem Wunderflor Zu stehlen nur bedacht!
Kellers bestechender Einfall beruht unter anderem darin, den Bettlervater, der in unbürgerlichen Verhältnissen lebt, als bürgerlichen Charakter zu zeichnen. Wie nur je ein lebenspraktischer Familienvater besteht er auf Ordnung und Mindestversorgung. Um so mehr reizt ihn der Knabe, dem die Ahnung des wahren „Glück[s]“ aufgeht, das da versinnlicht ist in „der Blume Zauberpracht“, ihren „Glöcklein“, ihrem „Duft“, der „so fremd und wundervoll“ anmutet. Diese Hyazinthe besitzt eine Magie, die den Diebstahl zur unwiderstehlichen Versuchung macht. Mitten im materiellen Elend und aller Lebenspragmatik zum Trotz entsteht vor dem Knaben die Anschauung eines freieren und schöneren Daseins, das seine eigene, seine ästhetische Ordnung hat. Sein Vater zensiert diesen Bruch mit dem bürgerlichen Lebensgesetz unnachsichtig, wie die Kleinbürger aller Klassen zu tun pflegen, wenn sie um ihre ‚Ehre‘ fürchten:
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O wehe mir geschlagnem Tropf! Brach nun der Alte aus: Mein Kind kommt mit verrücktem Kopf, Anstatt mit Brot nach Haus! Du Taugenichts, du Tagedieb Und deiner Eltern Schmach! Und rüstig langt er Hieb auf Hieb Dem armen Jungen nach.
Von eindrucksvoller Prägnanz ist die nun folgende Gebärdensprache des Vaters, hervorgerufen durch den Ausbruch des Knaben aus einer kleinlichen Ordnung. Sie deutet auf Kellers Kunst der szenischen Gestaltung hin, die an dieser Stelle das dialogische Für und Wider ablöst – beides Stilmittel, die einigen späteren Gedichten Kellers ihr eigentümliches Gepräge geben: Im Zorn fraß er den Hecht, noch eh’ Er gar gesotten war, Warf weit die Gräte in den See Und stülpt’ den Filz auf’s Haar.
Der pfahlbürgerliche Vater, wie er leibt und lebt, in seiner rechthaberischen Kleinstirnigkeit … Selbst die Mutter „schmält’ mit lindem Wort“ den „mißgeratnen Sohn“; sie mildert die väterliche Herrschaft und bleibt doch die getreue Dienerin ihres Herrn: eine Miniaturszene bürgerlichen Familienlebens par excellence! Die Schmähung des ästhetischen Gesetzesbrechers ist vollkommen: „Der warf die Blume zitternd fort / Und hinkte still davon.“ Aber die Anwälte des starren Gesetzes wissen nichts von der poetischen Gerechtigkeit, die hier das letzte Wort behält: Es perlte seiner Tränen Fluß, Er legte sich in’s Gras Und zog aus seinem wunden Fuß Ein Stücklein scharfes Glas. Der Gott der Taugenichtse rief Der guten Nachtigall, Daß sie dem Kind ein Liedlein pfiff Zum Schlaf mit süßem Schall.
Die Perlen des kindlichen Tränenflusses sind mehr als nur der Tränenfluß selbst; sie sind dessen poetische Erscheinungsform. Und mit dem scharfen Glas, das der Knabe aus seinem wunden Fuß zieht, darf nach und nach auch seine Herzenswunde heilen. Es bedarf dazu noch einer besonderen Gunst des Schicksals: – des „Gott[s] der Taugenichtse“, der mit Künstlern und Ästheten stets auf freundschaftlichem Fuße verkehrt. Sonst würde ihnen die Muße fehlen, ohne die ein Werk so wenig gedeiht wie seine Aneignung durch den Leser oder Hörer und Betrachter. Der freundliche Gott ist in dieser Nacht besonders liebenswürdig. Er ruft aus der
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Romantik, die eigentlich schon vergangen ist, die Nachtigall herbei, die Nachtigall der Brentanos und Eichendorffs, die mit ihrem „süße[n] Schall“ den Einsamen und den Liebenden zugetan ist und die Trauernden in Schlaf singt. „Das war wohl süßer Schall, / Da wir zusammen waren“, heißt es in Der Spinnerin Lied von Brentano, im Gedenken an den Geliebten von einst. Kellers „Gott der Taugenichtse“ beläßt der romantischen Nachtigall ihren „süße[n] Schall“, zum Troste des Leidgeprüften, auf daß er entschädigt werde für den Verlust der ‚blauen Blume‘. Doch ‚singt‘ die Nachtigall nicht wie früher, sie ‚pfeift‘ vielmehr: eine kleine Abschwächung des Singens, eine zarte humoristische Abtönung, damit das Romantische unaufdringlich wirke und das kindliche Gehör vom ‚Gesang‘ nicht überbeansprucht werde. Kellers letzte Strophe könnte aus dem Liederbuch Gottes stammen, falls es dieses gäbe – samt dem „Gott der Taugenichtse“, der darin auf jeden Fall einen Ehrenplatz hätte. Eine fast unmerkliche Feinheit Kellers sei angemerkt. Wenn der Knabe rückblickend gesteht: Ich lag am goldnen Gittertor Vom Morgen bis zur Nacht Die Blume aus dem Wunderflor Zu stehlen nur bedacht!
– so mutet dieses Tor nicht nur wie eine Vorrichtung zum Schutz eines herrschaftlichen Parks an; es spielt auch auf den Eingang zum Paradiesgarten an, worauf schon sein Attribut „golden“ und der „Wunderflor“ weisen. Wie in mythischer Vorzeit der Apfel auf das erste Menschenpaar eine Verführungskraft ausübte, die durch Schlangenrede unwiderstehlich wurde, so zieht „der Blume Zauberpracht“ den Knaben in ihren Bann und bemächtigt sich seiner vollkommen. Keller läßt den Sündenfall in neuer Gestalt anklingen, wenn der Knabe die Hyazinthe eine „Hexe“ nennt, die ihn zum Diebstahl durch Magie verführte. Die stumme Überredungs-Kunst dieser Hexe ist nicht geringer als die sprachliche der mythischen Schlange. Es handelt sich freilich – um es paradox zu formulieren – um einen unschuldigen Sündenfall, richtet sich doch die Liebe, mit der die zaubrische Blume den Knaben behext, auf Natur und Schönheit und erschließt ihm eine neue Seelenkraft im Bunde mit einer neuen Welt: Auch alle Blumen nun im Feld Lieb’ ich von heute an; Die Hexe, welche neue Welt Hat sie mir aufgetan!
Aufgetan“ hat sich dem Taugenichts ein Paradies, in dem Eros in aller Unschuld als ästhetische Sinnenkraft lebt. Den Sündenfall begehen andere, jene vor allem, die ihm diesen Eros neiden und ihn dafür bestrafen.
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Die zartsinnige Humanität Kellers rettet mit dem Knaben auch das ästhetische Vermögen der Menschen vor dem Zugriff der planen Realität – wenigstens für die Dauer einer Nacht. Zugleich deutet Keller mit feinem historischen Takt an, was seit Eichendorffs Taugenichts anders geworden ist. Durfte letzterer noch den Bürgersleuten, den schwerfälligen, zum Tanz aufspielen mit seiner famosen Geige, so muß der Kellersche ‚Nichtsnutz‘ sich und seine Wunderblume vor ihnen verleugnen. Mit der Ausbreitung der bürgerlichen Erwerbsethik und der Ausdehnung der privatwirtschaftlichen Logik werden den Spielräumen des Ästhetischen engere Grenzen gezogen. Kellers Taugenichts zeigt an, was die geschichtliche Stunde geschlagen hat. Er zeigt es auf eine Weise an, die den Leser zu seinem mitfühlenden Mitspieler macht. Die Bezauberung dieses Taugenichts durch eine Hyazinthe und eine Nachtigall setzt vielleicht in des Lesers eigenem Leben noch einmal einen Zauber frei, für Augenblicke, „vielleicht nie mehr, vielleicht dies letzte Mal“352. Der von Kellers Taugenichts entdeckte Zauber ist auch ein tragendes Motiv in der Klage der Magd 353. Der jungen Frau wird planvoll alles verweigert, was ihrem Leben „Glanz und Freude“ gewähren könnte. Die im literarischen Vormärz zwischen 1830 und 1848 hoffähig gewordenen Figuren aus den Unterschichten354 finden eine Ergänzung durch Kellers erniedrigte Magd. Wie Uhland, der in seinem Gedicht Der Knecht mit bemerkenswerter Prägnanz den Umriß einer abhängigen, perspektivelosen Existenz zeichnet, erprobt Keller die Form des Rollengedichts. Indem er die Magd selbst sprechen läßt, knüpft er an volksliedhafte Stilzüge an, wie sie seit Des Knaben Wunderhorn in der Lyrik populär geworden waren. Die ‚Klage der Magd‘ ist jedoch keine Liebesklage, nach dem gern imitierten Muster des Volkslieds, das etwa in Mörikes Verlassenem Mägdlein widerhallt. Sie ist vielmehr Anklage gegen eine Herrschaft, die der Magd das Leben nach allen Seiten streitig macht. Weder darf sie teilhaben am blühenden Frühjahr, noch an einem Lied sich erfreuen, weder die „warme[n] Blicke“ ihres „Vielgeliebte[n]“ erwidern, noch in Ruhe ihren Hunger stillen oder sich am Sonntag schmücken und im „tröstliche[n] Gebet“ sich aufrichten. Ob Natur oder Gesang, ob Liebe, Nahrung oder innere Erbauung – dieser Untergebenen wird jeder Genuß und jeder Trost verwehrt: ein krasses Beispiel für das Elend einer abhängigen Existenz. Daß die Magd, anstatt in Selbstzweifel und Selbstanklage zu versinken, ihre Erniedrigung aggressiv gegen die Herrin kehrt und deren Kindern einen ebenso schmählichen Dienst wünscht, ist der einzige Trost in einem hoffnungslosen Leben. Dessen ungeschönter Realismus ist das Wahrzeichen dieses Gedichts. Es zeigt, unter welchen sozialen Umständen Grundbedürfnisse und primäre Anlagen eines Menschen erstickt werden: zum Beispiel das Bedürfnis nach
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Schönheit, wie es schon am Taugenichts, oder die Anlage zum Glück und zur Liebe, wie sie an dem frühverstorbenen Kind hervorgetreten war. Das Elend einer abhängigen Existenz – Keller zeichnet es nicht nur individuell im Schicksal der Magd, er entwirft es auch kollektiv im Marsch einer Fremdenlegion durch ein „afrikanisches Felsental“ (Schlafwandel am Tage355). Die exotische Landschaft könnte vermuten lassen, daß der Autor seiner Lyriksammlung eine pittoreske Komponente beigeben möchte, in der Nachfolge der Wüstenpoesie eines Freiligrath. Aber die malerische Fremde tritt nicht um ihrer selbst willen in Szene. Sie ist vielmehr transparent auf ein allgemein politisches und zugleich persönliches Schicksal. Die „Fremdenlegion“ operiert wohl in der Fremde, aber das Gedicht spielt den Namen in eine zweite Bedeutung hinüber: „sich selber fremd“ ist die „braune Schar“. In Diensten des französischen Staats usurpiert die Legion nicht nur die nordafrikanische Fremde und enteignet den Grund und Boden der Eingeborenen, sie entfremdet sich selbst bei diesem Tun und Treiben, präziser: jeder Legionär wird sich selber fremd. Das Gedicht knüpft mit seiner Kolonialkritik an Kellers frühe Lyrik an: „Es wiegt die Nacht mit sternbesäten Schwingen“ (s. unsere Interpretation in Kap. III). Während jedoch die Enteignung der nordafrikanischen Eingeborenen nur zwischen den Zeilen lesbar wird, gelangt die Selbstentfremdung der Enteigner zu melodramatischem Ausdruck. „Schlafend zieh’n sie vorbei“, ihrer wachen Sinne beraubt, ohne Interesse für das zu erobernde Land. Parallel gebaute Sätze („Es nickt der Commandant […]“, „Es schläft die Truppe […]“ markieren die Wiederkehr der ewig gleichen Fortbewegung, die in einer schlagkräftigen Wendung pointiert wird: „Von der Gewohnheit Eisenfaust / In Schritt und Tritt gelenkt.“ Mitten im glühenden „Wüstenlicht“ wird das „schmerzliche Mienenspiel“ der Soldaten sichtbar, dieses Ineinander von „Gram und Leid und Bitterkeit“, das aus dem existentiellen Hintergrund ihrer Biographie hervorgeht: ihrem „verlorene[n] Vaterland“, wie es in der Erstfassung, ihrem „verlorene[n] Jugendland“, wie es in der späteren Fassung heißt. Die „Mutter, die einst den Sohn gerühmt“, haben sie ebenso enttäuscht wie den Vater. „Reu und Weh“ überkommt sie angesichts des „reizend[en] Spiegelbilds vom kühlen Heimatstrand“, das ihre Phantasie herbeizaubert, um die verzehrende Langeweile des Wüstenlebens zu dämpfen. Von fern klingen „Reu und Weh“ des Grünen Heinrich an, der in der Fremde (in München) die Hoffnungen seiner Mutter enttäuscht. Spiegelt das lyrische Ich das Familienleid des Autors Keller in einem ganzen „Bataillon“ von Fremdenlegionären wider? Des Autors, der sich 1852, im Jahr des Erstdrucks dieser Verse, noch ohne Beruf in der Fremde Deutschlands herumtreibt?
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Es zuckt die Lippe, es zuckt das Aug’, Auf dürre Wangen quillt Die unbemeisterte Träne hin, Vom Sonnenbrand gestillt.
Im privaten Schicksal der Legionäre ist freilich auch ein politisches, das Unrecht der Kolonialisierung, aufbewahrt. Von diesem Unrecht liefert die Legion eine aktuelle Probe. Mit einem meisterhaften Federstrich wird ein Angriff der (in Weiß gekleideten) Eingeborenen skizziert: Ein Schuß — da flattert’s weiß heran Und schon steht das Quarré Schlagfertig und munter […]
Die Legionäre, die blitzartig gegen alle vier Seiten Front machen und den Angriff abwehren, vergessen für Augenblicke ihr verfehltes Leben, ehe die Wiederkehr des Ewig Gleichen sie daran schmerzhaft erinnert. Eine Art Fortsetzung der sinnen- und glücksfeindlichen Herrschaft in Klage der Magd bildet die Mönchspredigt 356. Die Psychologie des lyrischen Erzählers ist ebenso durchdringend wie schlagfertig. Der da „auf’s Kanzelbrett“ schlagende Mönch – „Sein Hals ist kurz, der Atem fett“ – ist nicht nur ein widriger Eiferer. Wenn sein Wort bei der Schilderung der Hölle „voll roter Hitze“ und „glüh’ndem Hauch“ ist – dann stempelt diese Metaphorik ihn selber zum Abkömmling der Hölle. Sie haust in seinem eigenen Leib und in der eigenen Seele, weshalb er der Hölle auch eine autonome Seinsweise zuschreibt, über die sogar Gott alle Macht verloren habe: „Gott selber, schreit er, wollt’ er auch, / Kann jene Qual nicht mildern!“ Dieser Mönch wird vom eigenen Höllenfeuer so sehr verzehrt, daß er es ins ganze Universum projiziert. Die Feuerbach’sche Projektionslehre, wonach die Menschen ihre besten Seiten gleichsam zur Erfindung Gottes gebündelt haben, wird hier mit negativen Vorzeichen entwickelt: Die schlimmsten Seiten der Menschen haben ihnen die Erfindung der ewigen Höllenqual eingegeben. Auf dem Höhepunkt seiner Schwarzmalerei trifft den Prediger nach des Erzählers Willen der Schlag. Kellers Lust an der ‚schlagenden‘ Pointe wird hier buchstäblich wahr. Auch die Höllenprojektion ist ‚mit einem Schlag‘ dahin: Die Qual ist aus, die Hölle bricht, Sie brach mit seinem Herzen!
Die Verse erinnern an Heines Rede vom „dritten neuen Testament“: „Das Leid ist ausgelitten“, heißt es da, und: „Die dumme Leiberquälerei / Hat endlich aufgehöret“.357 Keller ersinnt eine ähnliche Vision. Der Zusammenbruch der alten Hölle, die sich die Menschen selber bereiten, ist die Voraussetzung für das Glück, das sich ihnen bislang entzogen hat.
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Der Tod, mit dem die Mönchspredigt endet, hat ein Doppelantlitz: Er trifft einen eifernden Quälgeist und bezeugt darin seine destruktive Kraft, erschließt aber gerade damit dem Leben neue Quellen, fern aller Höllenangst. Das Thema des Todes, in Kellers Werk von leitmotivischer Bedeutung, kehrt in manchem seiner Porträts wieder. Mit der Kindesleiche ist der Der alte Bettler im Hinblick auf dieses Thema verwandt. Hier wie dort verliert der Tod seinen Schrecken dank der Allgegenwart des Lebens. Kellers Bettler-Gedicht ist in zwei Fassungen überliefert: der von 1854 in den Neueren Gedichten358 und der Zweitfassung in den Gesammelten Gedichten359. Beide weisen auf eine soziale Lyrik zurück, die der Figur des Armen und Geächteten gewidmet ist. Jean von Bérangers Le vieux vagabond wurde, neben anderen sozialen und politischen Gedichten des französischen Lyrikers, in Deutschland durch die Übersetzung Adelbert von Chamissos (1838) unter dem Titel Der Bettler bekannt360; Georg Herwegh hat sich auf Bérangers ‚Alter Vagabund‘ in einer Strophe seines Gedichtes Béranger berufen; 1840 verfaßt, hat es in seine Gedichte eines Lebendigen (1841) Eingang gefunden, die für Keller laut eigenem Bekunden zum Geburtshelfer seiner Poesie geworden sind (vgl. Anm. 1). Chamissos Übertragung bewahrt den sozialkritischen Impuls Bérangers auf, der auch andere ArmenPorträts Chamissos, etwa Der Bettler und sein Hund, durchzieht. Kellers Eigentümlichkeit besteht gerade in der poetischen Überwölbung der Sozialkritik. Letztere klingt zwar an, wenn in Strophe I (der Zweitfassung) der alte Bettler als „arme[r] Schelm“ auftritt, dem man „des Alters Ehrenzoll versagt“, und sie klingt fort, wenn in Strophe III vom gestohlenen Erbe des Bettlers die Rede ist, wenn er in Strophe IV um seine „Bürgerehre“ fürchtet und in Strophe VI sein „Irrsal“ und seines „Elends dürren Stab“ beklagt. Doch sind diese Anklänge nur ein Anlaß, um das Gegenlied des Bettlers hörbar zu machen: das Lied von seiner Geborgenheit in der „Heimaterde“ und von seiner Liebe zum „Vaterland“. Weder „zeriss’ne[ ] Bettlerschuh’[ ]“, noch der Verlust der „Bürgerehre“, noch Verlassenheit und soziale Isolation könnten den Bettler irre machen in seiner Bindung an das Land seiner „Väter[ ]“ – ein Land, das für ihn vor allem Landschaft bedeutet, wohlvertraute und poetisch überhöhte Landschaft: Ich segne euch, o Strom, Gebirg und Auen, Die ihr im Lichte heiter vor mir schwimmt! Ein Reichtum ist dies selig klare Schauen, Den meinem Aug’ nicht Vogt noch Richter nimmt!
Dieser durch poetische Kontemplation gewonnene „Reichtum“ überwölbt die Armut des Bettlers und seine soziale Ausbürgerung. Literarhistorisch gesprochen, markiert Keller damit den Schritt von der frührealistischen Sozialkritik des Vormärz, wie sie bei Chamisso und Herwegh und in seiner eigenen frühen Lyrik bezeugt ist, zum ‚Poetischen Realismus‘ der
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zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Präziser formuliert: zu einer diesem Realismus bisweilen eigenartigen Neigung – der Neigung zur Verklärung. Keller hat in der Zweitfassung seines Gedichts diese Neigung forciert. Sein verelendeter Bettler tröstet sich dort mit der Vision von „eines Königs Grab“, in das er seine letzte Ruhestätte verwandelt. Und wie in der Erstfassung beschwört er seine „Seligkeit“ nach dem Tode, die darin bestehen soll, „im leichten Nebelkleid“ sein „Volk“ zu „umschweben“ und mit ihm „seines Glückes helle[n] Sonnenschein“ zu teilen. Dergestalt mündet des Bettlers Vision in ein Genrebild, das deutlich genug von der harmonisierenden Phantasie des Dichters geprägt ist. Über die Klassenschranken, die im Gedicht noch fühlbar sind, erhebt sich die Poesie im Geiste der Versöhnung mit „Volk“ und „Vaterland“: jenen ganzheitlichen Organismen, die der Realität den Schleier der Harmonie überstreifen. Keller hatte in den Neueren Gedichten von 1854 dem Alten Bettler unmittelbar die Klage der Magd folgen lassen361, offensichtlich in kontrapunktischer Absicht. Führt nämlich der Bettler aus der Sozialkritik hinweg in die Sphäre eines versöhnungsbereiten ‚Poetischen Realismus‘, so führt die Klage der Magd in eine sozialkritische Optik zurück. In den Gesammelten Gedichten bezieht Der alte Bettler eine neue Stellung. Ihm voraus geht Waldfrevel, ein Gedicht, das ebenfalls von Angehörigen der Unterschicht handelt, aber von solchen, die in der Blüte der Jugend stehen und sich ihr Glück im Verstoß gegen soziale Normen gewähren (vgl. unser Kapitel Liebesgedichte). Dem Bettler-Porträt folgt Der Schöngeist, das ironische Bildnis eines Ästheten, der das malerische Elend einer verarmten Familie genießerisch auf der Leinwand festhält: das würdelose Unterfangen eines sozial Arrivierten, gegen das die Bettler-Existenz in ihrem ganzen Außenseitertum eine eigene Würde behauptet. So enthält der versöhnlich stimmende ‚Poetische Realismus‘ Kellers in seinen Unterschichten-Porträts gleichwohl einen kritischen Stachel gegen eine ästhetisierende Kunstpraxis. Auch die Klage der Magd geht ihrer desillusionierenden Schwerkraft im neuen Kontext der Gesammelten Gedichte nicht verlustig. Gemeinsam mit Schlafwandel362, dem Poem von der Vergeblichkeit aller Träume im Schlepptau der Fremdenlegion, entzaubert das Gedicht die schöne Verheißung, die noch kurz zuvor von dem wundersamen hellen Kinderblick (Bei einer Kindesleiche) ausgegangen war. Liegt dem Gedicht Bei einer Kindesleiche eine biographische Begebenheit zugrunde,363 so dem Alten Bettler ein fiktionales Wunschbild. Has von Überlingen hingegen, veröffentlicht in den Gesammelten Gedichten364, verweist auf ein historisches Ereignis: so vielfältig sind die Grundrisse der von Keller gezeichneten Porträts. Keller hatte dieses Ereignis in der Zim-
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merischen Chronik365 entdeckt, die von einem „burger zu Überlingen“ erzählt, der da „den ersten tag Marcii gewapnet in ruck und kreps mit ainer hellenparten [im Harnisch mit einer Hellebarden, G.S.] fur sein hausthur“ getreten sei, um sich mit dem März „zu schlagen“366. Keller deutet den Monat März nicht nur als Frühlingsboten, er sieht in ihm gleichzeitig den Boten des „Alters“ und des „Tod[s]“. Wenn nun der wehrhafte Stadtbürger sich diesem März zum Kampfe stellt, so ficht er nicht allein um sein Leben, er läßt damit auch die Etymologie des Monatsnamens anklingen: März geht auf lateinisch Mars, den Kriegsgott, zurück. Was einem als die komische Tat eines Sonderlings dünken mag, hat einen rechtschaffenen Doppelsinn: die jahreszeitliche Zerreißprobe zwischen neuem Leben und drohendem Tod mündet in ein Gefecht mit dem Gott des Krieges – letzterer aber ist dem Has von Überlingen wohlvertraut. Denn Rüstung und Waffen des Has stammen aus seinem besten Mannesalter und sind Teil seines bisherigen Lebens gewesen. Indem er sie an der Schwelle zum Greisenalter wieder hervorholt, bleibt er seinem Lebensgang treu und besinnt sich auf seine Wehrhaftigkeit. So bietet er dem Altern Schach, anstatt sich ihm klagend zu überlassen oder Zuflucht zu Arzneien zu nehmen. Er braucht jenes Heilkraut, das da Selbsthilfe und Selbsterprobung heißt – ein beredtes Sinnbild für Kellers Idee der Originalität, die er, beispielsweise in seinen Züricher Novellen, als die Entfaltung der einen Menschen auszeichnenden Individualität begreift. Einer Individualität, die bei allem Einsatz des Lebens sich auf den Lebensgenuß versteht: Ein Trunk von gold’nem Rebenblute Erquickt ihn nach bestand’nem Streit, Und er genoß mit frohem Mute Des Frühlings neue Herrlichkeit.
Solche Individualität ist gerade nicht die eines Sonderlings, sie besitzt vielmehr nachahmenswerte Züge. Denn der mit dem März fechtende Held stellt sich dem Tod und sieht ihm direkt ins Gesicht, anstatt ihm, wie es menschlich-allzumenschlich wäre, auszuweichen und ihn zu verdrängen. Erst aus dieser Konfrontation mit dem Tod erwächst ihm der erhöhte Genuß des Lebens. So schöpft er denn dies Leben bis zur Neige aus – bis die vielerprobte Lebenskraft erloschen ist. Humoristischer Schelm, der Keller bisweilen ist, läßt er seinen Helden an einem ersten April sein Leben beschließen, er hatte also noch einmal den Ansturm des Märzen abgewehrt. Vielleicht aber hatte Mars sich nur zum Schein geschlagen gegeben und den siegreichen Kombattanten pünktlich, auf den Tag genau – in den April geschickt. Kellers Humor spielt bezaubernd zwischen Ernst und Scherz, er bewegt den Leser zum Nachdenken und erfreut ihn zugleich durch die Anmut der spielerischen Pointe. Der Humor Kellers durchdringt das Gedicht insgesamt. Er äußert sich vor allen Dingen im
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Gebrauch der Bilder. Der fechtende und im Zweikampf sich bewährende Ritter gehört einer alten Bildüberlieferung an. Wenn Keller ihn transformiert zum Kämpfer gegen ein Luftgebilde, so zieht er daraus gewiß einen lustspielhaften Effekt und nähert ihn zugleich einem wohlbekannten Genrebild an: dem mit Windmühlen fechtenden Don Quijote. Aber die Komik hat ihren eigenen Ernst, wie wir darzulegen versuchten. Indem Kellers Held seine Waffengänge von einst erneuert, erneuert er sein Leben und haucht ihm Widerstandskraft ein. An der Schwelle zum Greisenalter blickt er dem Tod unverwandt ins Auge und trotzt ihm noch manches Lebensjahr ab – im Medium seines Duells mit Wind und Wetter. So komisch und tiefsinnig zugleich kann sich Kellers Humor gebärden!
XI. Miniaturen. Das Eigengewicht der Dinge und der Kreatur Kellers Porträt-Kunst richtet sich auf Menschen nicht allein. Sie widmet sich auch Gegenständen, die ob ihrer Unscheinbarkeit selten ins poetische Gesichtsfeld treten, Dingen und Kreaturen, deren Geringfügigkeit eine lyrische Würdigung nicht eben nahelegt. Aus der Perspektive des Ichs, das sich in sie versenkt, erhalten sie jedoch ein Gewicht, das keine Geringschätzung mehr duldet. Die lyrische Nahaufnahme vergegenwärtigt die dinglichen und kreatürlichen Miniaturen mit subtiler Liebe zum Detail. So gewinnen sie Realitätscharakter, aber auch Bedeutung für das lyrische Ich selbst, für seine eigene Innenwelt. Diese doppelte Dimension haben vor Keller besonders Mörike und die Droste den geringfügigen Gegenständen abgewonnen. Ihr mikroskopischer Blick zeigt an, daß die naturkundliche Erschließung der Welt im Wachsen begriffen ist und ihren Einfluß auf die poetische Perspektive geltend macht. Wie Mörike versteht es Keller, die Miniatur unversehens zu erweitern und ihr Tiefe zu verleihen: der Mikrokosmos wird unter der Feder des Poeten dem Weltraum anverwandelt (Nachtfalter), zum Spiegel menschlicher Verhältnisse vertieft (Die kleine Passion), ins beziehungsreiche Spiel mit mythischen Elementen und entmythisierender Ironie versetzt (Stutzenbart), dem Ursprung der Kunst nahegerückt (Venus von Milo). Im Unterschied zu Mörike, der das konkrete Miniaturbild zum Sinnbild zu verwandeln liebt (Auf eine Lampe, An eine Christblume, Die schöne Buche), hält sich Kellers Verwandlungskunst in anspielungsvoller Schwebe auf. Man kann seine kleine Welt für sich, als autonome Sphäre, betrachten, man kann aber auch ihren übergreifenden, mit dem Filigranstift angedeuteten Hinweisen assoziativ folgen und sie in die abendländische Bildungsgeschichte einrücken. Eines der frühesten Zeugnisse für Kellers Neigung zur gegenständlichen Miniatur ist das Gedicht Nacht II., später Nachtfalter (Text siehe Anmerkung)367. Das lyrische Ich dieses Gedichts ist zweigeteilt. Objektiven Blicks nimmt es „die klare Sommernacht“ wahr mit ihrem milden „Mondenstrahl“ und der „volle[n] goldne[n] Pracht“ der Sterne. Seine subjektive Tätigkeit bleibt davon jedoch unberührt: sie besteht darin, „ein wild und gottverleugnend Lied“ zu schreiben. Befangen im eigenen Selbst, ver-
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säumt es möglicherweise die sinnliche Wahrnehmung der entfalteten Naturfülle: „Am offnen Fenster blühen dunkle Nelken / Vielleicht die letzte Nacht vor ihrem Welken.“ Mit dieser Spaltung zwischen objektiv wahrgenommener Natur und subjektiver Befindlichkeit ist zugleich Kellers Abstand zur romantischen Lyrik gekennzeichnet, die zwischen Natur und Subjekt eine enge Fühlungnahme herzustellen liebt, sei es auch nur für einen flüchtigen Augenblick. In Kellers Nachtfalter erfolgt diese Fühlungnahme relativ spät und nur dank eines Zufalls: „Und wie ich schreib’ an meinem Höllenpsalter, / Die süße Nacht im Zorne von mir weisend, / Da schwebt herein zu mir ein grauer Falter, / Mit blinder Hast der Kerze Docht umkreisend“. Der Schein der Kerze, der des Dichters befangenes Tun beleuchtet, zieht den Falter in seinen Bann, so die Verwandtschaft zwischen beiden andeutend: ihre Neigung zur Selbstzerstörung. „Wohl wie sein Schicksal flackerte das Licht“, vermutet das lyrische Ich in Beziehung auf den Falter – und flackernd, so könnte es hinzufügen, ist sein eigenes Schicksal in dieser Nacht. Es dürfte diese Verwandtschaft zwischen Subjekt und Kreatur sein, die den Blick des Dichters so anzieht: „Ich schaute lang und in beklommner Ruh, / Mit wunderlich neugierigen Gedanken / Des Falters unheilvollem Treiben zu.“ Im Bilde des Falters ertastet das Ich sein eigenes selbstzerstörerisches Treiben – daher seine kontemplative Versenkung in den Gegenstand. In dieser Kontemplation löst es sich von seiner Selbstbefangenheit. Im Anderen das eigene Schicksal erblickend, erwächst ihm daraus der Impuls, sich und das Andere vor der Selbstzerstörung zu bewahren: Doch als zu nah der Flamme schon fast sanken Die Flügel, faßt’ ich ihn mit schneller Hand, Zu seiner Rettung innerlich gezwungen, Und trug ihn weg. Hinaus in’s dunkle Land Hat er auf raschem Fittig sich geschwungen.
Was aus der Natur sich in die menschliche Behausung verirrte, wird der Natur wiedergeschenkt. Dergestalt schenkt der Dichter sich selber wieder, gewinnt er freien Abstand zu seiner selbstzerstörerischen Tätigkeit. In der konzentrierten Anschauung eines fremden Schicksals hat er sich wiedergefunden und die Welt außer sich wiederentdeckt: „Ich aber hemmte meines Liedes Lauf / Und hob den Anfang bis auf Weitres auf.“ Nicht nur zur Romantik bezieht der Dichter Distanz, auch zur klassischen Lyrik wahrt er Abstand. Sein Falter und sein lyrisches Ich bilden eine Art Kontrapunkt zu Goethes Schmetterlings-Metaphorik in der Seligen Sehnsucht.368 Nachts, „wenn die stille Kerze leuchtet“, macht sich das ins Bild des Schmetterlings gefaßte Goethe’sche Ich auf den Weg, um –
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„des Lichts begierig“ – in Flammen aufzugehen, Zeichen seines höheren Lebenswillens, seiner Sehnsucht nach Ichverwandlung durch Selbsthingabe. Dem Falter Kellers hingegen droht die endgültige Selbstzerstörung im Bannkreis des Lichts. Er macht dadurch dem Schauenden den Bann, der auf ihm lastet, transparent. Seinen Untergang vor Augen, erwacht in ihm neuer Lebenswille. Nimmt das lyrische Subjekt in der Seligen Sehnsucht den Tod auf sich um des neuen Lebens willen, so gewinnt es in Kellers Nachtfalter das Leben wieder angesichts der Drohung des Todes. Kleiner noch als Kellers Nachtfalter ist seine Spätsommer-Mücke. Kaum jemand kennt ihre Passionsgeschichte.369 Und doch würde sie jeder Anthologie deutscher Lyrik zur Ehre gereichen. Wie? Ausgerechnet die Geschichte vom „Mücklein“ zart? Ist das Sterben eines so winzigen „Wesen[s]“ ein hinreichender Grund für die Aufnahme eines Gedichts in den lyrischen Pantheon? In den erhabenen Todesreigen von Schillers Nänie bis zu Trakls Verfall und Benns Tristesse? Gelegentlich erlangt das Unscheinbarste eine Würde, die kein Mensch ahnte, der Dichter ausgenommen, für den kein Ding auf Erden der Poesie unzugänglich ist. Zwischen Spätsommer und Frühherbst, wenn den flügelleichten Kreaturen die letzten Stunden schlagen, gerät eine von ihnen auf des Dichters Buch. Ihr widmet sich unsere exemplarische Interpretation. Die kleine Passion 370 Der sonnige Duft, Septemberluft, Sie wehten ein Mücklein mir auf’s Buch, Das suchte sich die Ruhegruft Und fern vom Wald sein Leichentuch. Vier Flügelein von Seiden fein Trug’s auf dem Rücken zart, Drin man im Regenbogenschein Spielendes Licht gewahrt! Hellgrün das schlanke Leibchen war, Hellgrün der Füßchen dreifach Paar, Und auf dem Köpfchen wundersam Saß ein Federbüschchen stramm; Die Äuglein wie ein goldnes Erz Glänzten mir in das tiefste Herz. Dies zierliche und manierliche Wesen Hatt‘ sich zu Gruft und Leichentuch Das glänzende Papier erlesen, Darin ich las, ein dichterliches Buch; So ließ den Band ich aufgeschlagen Und sah erstaunt dem Sterben zu, Wie langsam, langsam ohne Klagen Das Tierlein kam zu seiner Ruh.
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Drei Tage ging es müd und matt Umher auf dem Papiere; Die Flügelein von Seide fein, Sie glänzten alle viere. Am vierten Tage stand es still Gerade auf dem Wörtlein „will!“ Gar tapfer stand’s auf selbem Raum, Hob je ein Füßchen wie im Traum; Am fünften Tage legt es sich, Doch noch am sechsten regt‘ es sich; Am siebten endlich siegt‘ der Tod, Da war zu Ende seine Not. Nun ruht im Buch sein leicht Gebein, Mög‘ uns sein Frieden eigen sein!
Der Binnenreim im ersten Vers (‚Duft‘ und ‚Luft‘) kündet von einem angeregten Spätsommertag, belebend und beschwingend, an dem indes die zarte Kreatur ihren Tod vorweg empfindet. Die durchsonnte „Septemberluft“ wird von der „Ruhegruft“ gleichsam widerrufen. Die mit dem Filigranstift gezeichnete Antithese schließt eine weitere ein: nicht in der Natur, wie es ‚natürlich‘ wäre, vielmehr in einem künstlichen Rahmen bereitet sich das Tier aufs Sterben vor. Das verleiht der Wortwahl – „Ruhegruft“ und „Leichentuch“ – ihr eigentümliches Recht. Weil das Buch von der Hand eines Menschen zeugt, darf diese Kreatur sich nach Menschenart darin ihre letzte Stätte suchen. Dieser Rangerhöhung erweist sie sich sogleich als würdig: Vier Flügelein von Seiden fein Trug’s auf dem Rücken zart, Drin man im Regenbogenschein Spielendes Licht gewahrt!
Der Diminutiv „Flügelein“ und die nachgeordneten Adjektive „fein“ und „zart“ erzeugen einen Volksliedton, der uns dies Wesen vertraut macht, während das Spiel mit Assonanzen und Binnenreim („Flügelein von Seiden fein“) die Vertrautheit melodisch steigert. Die wie „Seide“ anmutenden Flügel verleihen dem Tierchen etwas Kostbares, ebenso das „im Regenbogenschein / Spielende[ ] Licht“. Eine der seltensten und schönsten Launen der Natur – der Regenbogen – erscheint als Gestaltmerkmal dieser Kreatur. Erscheint so dank der Tiefenschärfe der Beobachtung Kellers. Wieviel durchdringende Feinheit des Sehens ist da im Spiel! Und wieviel liebende Feinheit auch: Hellgrün das schlanke Leibchen war, Hellgrün der Füßchen dreifach Paar, Und auf dem Köpfchen wundersam Saß ein Federbüschchen stramm; Die Äuglein wie ein goldnes Erz Glänzten mir in das tiefste Herz.
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Der Volksliedton klingt in den Diminutiven fort, die den einzelnen Partien des Körpers – pardon, des Körperchens – gelten; er klingt auch im Paarreim fort, der nun vorherrscht; verwandt ist der Stil hier der Sprachgebärde des Märchens, wie das „wundersam“ und das Gold der Augen bezeugen, und es fehlt nicht viel, möchte man meinen, daß dies Wesen zu sprechen anfängt. Es spricht jedoch auch in seiner Stummheit eine beredte Sprache, Körpersprache: Besitzt da nicht jedes Ding, von den Seidenflügeln und dem Regenbogenlicht über das Hellgrün des Leibs und der Füße bis zum Federbüschchen des Kopfs und zum goldnen Erzblick der Augen, die schicklichste Form und die einprägsamste Farbe? Und vereinigt sich dies alles nicht zu einer Erscheinung ohne Fehl und Tadel: einem Wunder der Natur? Einer Gestaltschönheit, wie sie in dieser Vollkommenheit nur die Kunst hervorzubringen vermag? Daß die Kunst Nachahmung der Natur sei, war eine Theorie der Ästhetiker des 18. Jahrhunderts. Keller variiert sie spielerisch, indem er die vollkommene Gestalt der Kreatur wie ein Kunstwerk en miniature inszeniert, mit stimmigen Proportionen und feinstem Farbenspiel. Man bedenke nur, mit wieviel Raffinement, sozusagen einer Lichtregie nach Mörike-Art, der Regenbogenschein im Hellgrün und Gold kunstvoll-natürlich wiedererglänzt. Und dann – welche Vielfalt an Verweisen enthält diese Miniaturerscheinung! Da ist der Fingerzeig auf menschliche Kunstfertigkeit und auf die Vorliebe für Zierde und Schmuck („Seide“ und „Federbusch“), ist sodann der Hinweis auf ein kostbares Mineral („Erz“), das unversehens Seelenkraft erlangt. Keller hat das rhythmisch bekräftigt. Die Verszeile „Die Äuglein wie ein goldnes Erz“, als vierhebiger Trochäus mit Auftakt zu lesen, wird von einer Zeile abgelöst, die überraschend mit einem Daktylus einsetzt: eine Unregelmäßigkeit, die den überraschten Herzschlag des lyrischen Ichs nachahmt, sein Überwältigtwerden von der liebenswürdigen Erscheinung: „Glänzten mir in das tiefste Herz“. Überhaupt scheint die Kunst der Variation dem vielseitigen Wesen die angemessenste. So beginnen die Zeilen 9–11 jeweils mit einem leichtfüßigen Daktylus, ehe die zwölfte Zeile mit einem gewichtigen Trochäus aufwartet und um eine Silbe verknappt ist, wodurch das ‚Strammsitzen‘ des Federbüschchens rhythmisch-humoristisch nachgebildet wird. Wundert es einen noch, wenn die kunstvolle Tiergestalt Kellers sich zur letzten Ruhestätte die Kunst erwählt? Nein, „dies zierliche und manierliche Wesen“ weiß, was ihm ziemt, und der Dichter betont es bis in die Wortwahl hinein, die er abermals nach Menschenart (‘zierlich, manierlich’) trifft: Dies zierliche und manierliche Wesen Hatt’ sich zu Gruft und Leichentuch Das glänzende Papier erlesen, Darin ich las, ein dichterliches Buch […]
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In der ersten Verszeile – „dies zierliche und manierliche Wesen“ – wechselt Keller unerwartet vom Verstakt zum Prosarhythmus und hebt so die Sonderstellung dieses Wesens hervor – seine Nähe zum formschönen Menschen. „Erstaunt dem Sterben“ der Kreatur zusehend, bemerkt das lyrische Ich eine neue, sozusagen ästhetische Korrespondenz. Das „glänzende Papier“, das sie sich zu „Gruft und Leichentuch“ ‚erlesen‘ hat, entspricht vollkommen dem Flügelkleid: „Die Flügelein von Seide fein, / Sie glänzten alle viere“. Das Material der Dichtkunst und das Gewand der Kreatur sind im ‚Glanz‘ vereint. Keller macht damit auf die Nachbarschaft von Kunst und Natur aufmerksam – im Sinne einer Variation der GoetheVerse: „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen / Und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden“371. Mit der Affinität zwischen Kunst und Natur werden zugleich menschliche und kreatürliche Praxis aufeinander bezogen. Der dem tagelangen Sterben des Tiers zugewandte Dichter bemerkt unter anderem: „Am vierten Tage stand es still / Gerade auf dem Wörtlein ‚will’!“ – Ein Zufall oder Notwendigkeit? Die Kreatur, die sich ihre Todesstätte eigens „erlesen“ hat, setzt auch ihren Todes-Willen durch gegen das nachschwingende, nur langsam weichende Leben. Im Einverständnis mit dem eigenen Tod – „ohne Klagen“ nähert es sich ihm – wird dieses Tier zu einer Allegorie des rechten Sterbens. Des Sterbens zur rechten Zeit. Des Sterbens in bewußter Vergegenwärtigung des bevorstehenden Todes und des noch pulsierenden Lebens. Des Sterbens daher als eines unabwendbaren Ringens zweier unversöhnter und doch versöhnbarer Sphären.372 Und des Sterbens schließlich in Würde, an einem ehrenvollen, form- und kunstschönen Ort. Als wollte Keller diesen Beziehungsreichtum bekräftigen, fügt er dem Ringen des Tiers auf dem Wörtchen „will“ das Verspaar hinzu: „Gar tapfer stand’s auf selbem Raum, / Hob je ein Füßchen wie im Traum“. Die letzten Nachklänge des Lebens sind schon ferngerückt durch das rührende „wie im Traum“, womit das fragile Tierchen seinen ‚letzten Willen’, den Todeswillen, bekräftigt. Kaum zu entscheiden ist, ob diese Stelle der Beobachtungssorgfalt des Dichters oder seiner Phantasie oder dem Zusammenwirken beider entsprungen ist. Das gilt auch für frühere und spätere Stellen, beispielsweise für diese: „Am fünften Tage legt es sich, / Doch noch am sechsten regt’ es sich; / Am siebten endlich siegt’ der Tod, / Da war zu Ende seine Not.“ Sieben Tage genau – hat die Wirklichkeit, hat die mythisierende Einbildungskraft sie hervorgebracht? Sechs Tage, so berichtet die Schöpfungsgeschichte, habe die Erschaffung der Welt gedauert, am siebten Tage habe Gott geruht und sein Werk betrachtet. So wäre denn Kellers Sterbegeschichte die Umkehrung der Schöpfungsgeschichte? Oder eine spielerische Abbreviatur der ‚großen Passion‘ Christi?
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Oder die Einbettung des Sterbens in das urmenschliche Zeitmaß der Woche (das zugleich einem Zeitmaß der Natur korrespondiert)? Oder einfach ein humoristisches Spiel mit der von vielen Völkern und Märchen gewürdigten Zahl sieben? Keller läßt auch hier die Bedeutungsvielfalt in der Schwebe und bereitet so seinen vieldeutigen Schlußsegen angemessen vor: „Nun ruht im Buch sein leicht Gebein, / Mög’ uns sein Frieden eigen sein!“ Mag man die Passionsgeschichte vom Spätsommer-Mücklein nach unserem Kommentar vielleicht als dichtungswürdig hinnehmen, so müßte anläßlich eines anderen Miniaturgedichtes Kellers wohl erneut eine zweifelnde Frage laut werden. Gemeint ist Stutzenbart 373 Herrlich in der Maienzeit Blaut des Himmels Kläre, Halt‘ zum Opferdienst bereit Nun die blanke Schere! Durch das off’ne Fenster zieh’n Schon des Bartes Flocken Schimmernd weiß; ach: hin ist hin! Singt die Norn‘16 am Rocken17. Welch ein winterlich Gespinnst Hat sie dir gesponnen! Und da fliegt der Reingewinst Deiner Lebenswonnen! Aber sieh! wie feierlich In die Höh‘ sie schweben, All die Flöcklein! Will zu sich Sie der Äther heben? Und am Ende sollst du gar Noch ein Heil’ger werden, Dessen Bart- und Lockenhaar Man verehrt auf Erden? Jetzt mit Blüten untermischt Tanzen sie im Winde; Doch was zwitschert, pfeift und zischt Dort für ein Gesinde?
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Eine der drei Schicksalsgöttinnen der altnordischen Mythologie, die den Schicksalsfaden eines Menschenlebens spinnen. Am Spinnrad der hölzerne Stab, auf den das Spinnmaterial (Flachs, Wolle) gewickelt wird; allg. für Spinnrad.
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Fink und Schwalbe, Star und Spatz – Wie das flirrt und flattert! – Haben bald den Silberschatz Deines Haupts ergattert! Fliegen mit dem teuren Gut Heim nach allen Seiten, Für die weich beflaumte Brut Schnöd das Nest zu breiten. Und was würdig hat umwallt Deine weisen Lippen, Dient dem Haus- und Ehehalt Leichter Vogelsippen! Lächle denn durch Blüt‘ und Blatt, Schönster Frühlingsmorgen! Darf ja, wer den Schaden hat, Für den Spott nicht sorgen!
Können Bart- und Lockenhaare, die Bart- und Lockenhaare eines alternden Mannes wohlgemerkt, zum Gegenstand der Poesie werden?374 Kellers lyrische Reichweite bringt auch das zustande. Es scheint, als wolle er demonstrieren, daß auch das nichtsnutzigste Ding – die quantité négligeable schlechthin – dem Reim und Rhythmus anvertraut werden kann. Und vor allem dem poetischen Bild! Denn im virtuosen Bildgebrauch, einem ganz unerwarteten geistreichen Gebrauch, erfährt das triviale Haar eine Erhebung, die keines Mannes Haar bis dahin sich hat träumen lassen … „Herrlich in der Maienzeit“ – so lautet Kellers Auftakt, rhythmisch und bildlich einem Gedicht Lenaus ähnlich, das da beginnt: Lieblich war die Maiennacht, Silberwölklein flogen, Ob der holden Frühlingspracht Freudig hergezogen. (Der Postillon)
Dies nun ist Kellers erster Bilderstreich: daß die vielbesungene „herrliche Maienzeit“ fürs Bartschneiden den rechten Rahmen bilden muß. Fürs Bartschneiden? Das hieße den Gott der Poesie verkennen, der dafür einen edleren Namen kennt: Halt’ zum Opferdienst bereit Nun die blanke Schere!
Kellers zweiter Bilderstreich: die ironisch lächelnde Erhebung der Bartabnahme in den Stand kultischen Dienstes, „Opferdienstes“. Die Erhebung ins Kultische verleiht der schnöden Praxis Erhabenheit, und die Schicksalsgöttin, die „Norn am Rocken“, willigt in das Spiel ein, wenn sie, die Göttin des Webens und Verknüpfens, „des Bartes Flocken“ und ihren Flug durchs „off’ne Fenster“ besingt. „Schimmernd weiß“ sind die „Flo-
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cken“, will sagen: die Farbe des Schnees zitieren sie und mit dem Licht des Frühjahrs brillieren sie. Ganz nebenbei schlingt Keller in die mythisierende Arabeske auch noch die Schnörkel zweier Jahreszeiten. Das „winterlich Gespinnst“, das die Norne „gesponnen“ hat, treibt nun frohgemut in der Frühlingsluft. Und es hat teil am erhabenen Aufschwung: Aber sieh! wie feierlich In die Höh’ sie schweben, All die Flöcklein! Will zu sich Sie der Äther heben?
Der Äther ist in der Geschichte der deutschen Lyrik ein seltenes Ereignis; allenfalls bei Klopstock und Hölderlin, unseren erhabensten Lyrikern, kommt er gelegentlich zur Sprache. Er besitzt eine quasi-göttliche Feierlichkeit, die Keller schalkhaft zitiert: sein dritter Streich. Nun gelangen die Flöcklein, die „schimmernd weiß[en]“, zu ihrer höchsten Erhebung. Und ähneln von ferne auch den „Silberwölklein“ Lenaus – „Silberschatz“ werden sie bei Keller ja auch drei Strophen später genannt. Noch ist es nicht soweit. Vielmehr kokettiert der Besitzer des ätherwärts aufstrebenden Haargespinstes mit einer allerhöchsten Ehrung. Könnte er nicht gar ein „Heiliger“ werden, Dessen Bart- und Lockenhaar Man verehrt auf Erden?
Das hieße denn doch die Götter versuchen. Erdennäher als solche Verstiegenheit ist die Vermischung der losen Haare mit den Sinnbildern des Frühlings: Jetzt mit Blüten untermischt Tanzen sie im Winde;
Kellers vierter Bilderstreich. Die zarten Frühlingsblüten dürfen sich ins Haartreiben mengen und eine wahrhaft gemischte Gesellschaft damit bilden. Eigentlich ist es eine haar-sträubende Mischung, die Keller hier ersinnt, aber auch unbestreitbar originell ihres Witzes wegen, Witz im älteren Wortsinn verstanden, als unerwartete Zusammenfügung des sachlich Auseinanderliegenden: der Poesie der Frühlingsblüten und der Prosa des gestutzten Haares. Dichtungswürdig wird letzteres also gleich zweimal – durch die Anklänge des Mythos und das Frühlingsbild der Maienzeit. Die wahre Würdigung jedoch folgt erst. Sie kommt durch eine EntWürdigung zustande, aber eine liebens-würdige. Nicht Norne und Äther und Blütenglanz besiegeln das Schicksal der Haare, sondern – Kellers fünfter Streich – das leichteste und loseste ‚Gesinde‘ der Welt: Fink und Schwalbe, Star und Spatz – Wie das flirrt und flattert! – Haben bald den Silberschatz Deines Haupts ergattert!
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Fliegen mit dem teuren Gut Heim nach allen Seiten, Für die weich beflaumte Brut Schnöd das Nest zu breiten.
Schnöd? Sind diese Haare nicht bestens aufgehoben bei der „weich beflaumte[n] Brut“? Dienen sie dort nicht dem Leben der Kreatur und retten sich so vor dem sang- und klanglosen Fall ins Nichts? Verweht in alle Winde – das wäre ihr tristes Schicksal geworden, hätte die zwitschernde und pfeifende Zunft sich ihrer nicht erbarmt: Und was würdig hat umwallt Deine weisen Lippen, Dient dem Haus- und Ehehalt Leichter Vogelsippen!
Der Haarschneider tut nur so, als wäre es schade um den würdigen Schmuck seiner Weisheit. Im Grunde kann er sich nichts Besseres wünschen als die lebendige Ruhestätte, die ihm die Kreatur hier bereitet. Dankt er ihr dafür nicht durch ein Gedicht? Und wie artig er diesen Dank abstattet! Er setzt eine Antithese ins Werk, gefertigt aus der Würde und Weisheit einerseits, den Vogelsippen andererseits, und er verleiht dem ersten Glied der Antithese viel poetische Dignität, zweifellos: da sind die reichen Assonanzen bei „was“, „hat“, umwallt“, sowie bei „Deinen“ und „weisen“, und da ist die Alliterationskette von „was“ und „würdig“ über „umwallt“ bis „weisen“. Aber mehr Gewicht hat dennoch die federleichte Pointe der Vogelsippe mit ihrem „Haus- und Ehehalt“, dieser wunderschönen Neubildung, komponiert aus dem bürgerlichen Haushalt und Ehebund und ins Vogelreich hinübergespielt, das nun unversehens den Hauch ordentlichen Familienlebens gewinnt. Auch dies ein Zeugnis für Kellers schalkhaften Witz, der die entferntesten Sphären – hier das Tierund Menschenreich – ineinander wirken läßt. Die „weisen Lippen“ reimen nicht nur auf „Vogelsippen“, sie danken ihnen die Verwahrung und Verwendung der Bart- und Haartracht. Da ist kein „Schaden“ und kein „Spott“ zu befürchten, wie die letzte Strophe zu vermuten gibt. Sie tut das nur aus koketter Selbstironie. Nein, was von Norne und Äther zu leicht befunden ward, wurde wenigstens im Vogelreich gewogen und für würdig befunden. So überleben die sterblichen, allzusterblichen Reste eines Dichters immerhin im Flügelreich der Kreatur – und diese im Reich der Poesie: der Dank des Dichters! Mit Theodor Storm möchte man sich fragen, ob das Trivialste der Welt – das Geschäft des Haarschneidens – Gegenstand der lyrischen Poesie sein kann: und siehe, es kann. Vorausgesetzt, daß es von der Phantasie erfaßt wird und in ihre Zuständigkeit gerät. Die Trivialität kann sich am Gegenbild des Erhabenen Glanz und Gloria besorgen oder sich auch mit Natur und Kreatur gesellig verbinden. Die Phantasie läßt dann nicht nur
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ihrem Einfallsreichtum die Zügel schießen, sie entzügelt auch ihren Witz, der das Unvereinbare geistvoll verschränkt. So zeugt sie zum Vergnügen des Lesers ihre zartgliedrigen Arabesken: Glasperlenspiele des erfindungsreichen Humors. Arabesken, zartgliedrige, bringt Keller auch durch Klangfolgen, Wortgebrauch und Rhythmus hervor. Die schon erwähnten Alliterationen werden präludiert von „winterlich“, „Reingewinst“ und „Lebenswonne“; „Schwalbe, Star und Spatz“ führen sich als Vogelsippe stabreimend ein und alliterieren sogleich mit bewegtem Flügelschlag: „Wie das flirrt und flattert!“ Mit Assonanzen brilliert die stabreimende Vogelsippe obendrein: „Schwalbe, Star und Spatz“, ja, auch ihre Beute weist diesen melodischen Akzent auf: „Haben bald den Silberschatz / Deines Haupts ergattert!“ Überhaupt reihen sich die Assonanzen wie Perlen aneinander. Ein weiteres Beispiel mag genügen: Das helle i im schimmernd[en]“ Barthaar treibt sein Wesen unverzüglich in „hin ist hin“, in „winterlich[en] Gespinst“ und „Reingewinst“, ehe es in Vogelgesang übergeht: „Doch was zwitschert, pfeift und zischt“. Humoristische Wortverbindungen wie diese letzte liebt Keller auch sonst, wie „Bart- und Lockenhaar“, „flirrt und flattert“, „Haus- und Ehehalt“, „Blüt und Blatt“ verraten. Sie haben volkstümliches Gepräge und kontrastieren reizvoll mit den subtilen mythologischen und hochpoetischen Anspielungen. Dem Gehör des Lesers prägt sich das Gedicht auch dank seines ,flügelleichten‘ Rhythmus ein. Für Elan und Schwungkraft sorgen die unentwegten Enjambements, welche die Kurzzeilen fließend aneinander binden und sowohl den Flug der Haare wie den der Vögel durch rhythmische Leichtigkeit nachbilden. Verklärt Kellers subtiler Humor in Stutzenbart eine Trivialität, so kritisiert er dagegen mit der Venus von Milo 375 das Geschäft der Trivialisierung: Wie einst die Medizäerin Bist, Ärmste, du jetzt in der Mode Und stehst in Gips, Porz’lan und Zinn Auf Schreibtisch, Ofen und Kommode. Die Suppe dampft, Geplauder tönt, Gezänk und schnödes Kindsgeschrei; An das Gerümpel längst gewöhnt, Schaust du an allem still vorbei. Wie durch den Glanz des Tempeltor’s Sieht man dich in die Ferne lauschen, Und in der Muschel deines Ohr’s Hörst du azurne Wogen rauschen!
Keller verfaßte das Gedicht zu einer Zeit, da die Statue von Milo an Popularität die der Venus von Medici schon übertraf. Sie war allerorten anzutreffen, in Reproduktionen aus den verschiedensten Materialien. Des
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Kunstgenusses wegen, zur Bildung des ästhetischen Sinns? Keller hatte anderes bemerkt, wahrhaft Desillusionierendes: Ich habe beobachtet, wie überall von Philistern und Unberufenen jetzt mit Vorliebe die arme Frau von Milo aufgepflanzt wird, um Bildung und Schönheitssinn zu beurkunden, weil sie hören und sehen, daß die Figur so hoch gehalten wird. […] Biscuit (mattes Porzellan) und Zinn sollen die schlechten Gußmaterialien bezeichnen, mit welchen die edle Gestalt geschändet wird.376
Kellers Beobachtung nimmt eine moderne Einsicht vorweg, um ein halbes Jahrhundert immerhin: die Einsicht Walter Benjamins in seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Indem es beliebig vervielfältigt, allerorten ausgestellt und herumgereicht wird, verliere das Kunstwerk, so Benjamin, seine Aura: seine Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit. Seine authentische Gestalt werde nivelliert und ihrer ursprünglichen Ausstrahlungskraft beraubt, die an einen bestimmten, einzigen Ort gebunden sei. Dieser Diagnose entsprechen die ersten beiden Strophen Kellers vollkommen, besser: die Diagnose entspricht ihnen. Die „schlechten Gußmaterialien“ im Verein mit allerhand „Gerümpel“ an den Aufstellungsplätzen der Statue zehren unentwegt an deren Kunstcharakter. Daher rückt Keller die Statue wieder zurecht, rückt er sie dorthin, wo ihre „edle Gestalt“ wieder aufglänzen kann: ihre Aura, wie Benjamin gesagt hat, ihre Authentizität, wie etwas schwerfälliger heute gesagt wird. Kellers Phantasie ist von überraschender, überwältigender Erfindungskraft. Er läßt, inmitten des Gerümpels, die Venus in die Ferne schauen und in die Ferne lauschen, zu ihrem Ursprungsort hin, am Mittelmeer: Und in der Muschel deines Ohr’s Hörst du azurne Wogen rauschen!
„Azurn[e]“: in den Wogen spiegelt sich der blaue Himmel Griechenlands. „Rauschen“: die Brandung des Meeres wird der Lauschenden zur Musik, die sie entrückt. Die „Muschel deines Ohr’s“: das Bild lenkt unwillkürlich unsere Vorstellungskraft auf des Strandes und des Meeres Muscheln. So sind wir dank weniger Verse dort angelangt, wohin es die Venus zieht mit der ganzen Kraft ihrer Sehnsucht: an ihrem Ursprungs- und Bestimmungsort. Mit bündiger Kürze entbindet Keller den Flug unserer Phantasie. Selbst der Briefschreiber Keller bleibt in dieser Hinsicht ein wenig hinter dem Lyriker zurück: „Kurz“, so schreibt er, „die Göttin soll aus einer obskuren und unwürdigen Umgebung heraus den Glanz des Mittelmeeres und ihres ehmaligen Marmortempels sehen u. dgl.“377 Das ist kurz und bündig genug, und hat doch nicht die entrückende, berückende Kürze der Verse. Keller hat auch andernorts tiefe Blicke geworfen in das Massenphänomen Kunst. Seine Erzählung Regine (im Erzählzyklus Das Sinngedicht 378) präsentiert Venus von Milo noch einmal. Der schönen Heldin haben drei
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XI. Miniaturen. Das Eigengewicht der Dinge und der Kreatur
kulturbeflissene Damen eine Reproduktion der Statue aufgeschwatzt. Und ein elegantes Seidentuch obendrein, mit dem Regine sich drapieren kann, drapieren soll, just wie die Venus das macht. So lernt sie denn, während einer längeren Abwesenheit ihres Mannes, ihre natürliche Anmut unter das Szepter der Statue beugen. Ist aber diese schon keine reine Kunst mehr, so ist es die erzwungene Nachahmung noch viel weniger: sie ist allenfalls kunstgewerblicher Manierismus. Als Regines Gatte eines frühen Morgens nach Hause zurückkehrt, bemerkt er zunächst die gipsene Statue und dann seine Frau, wie sie, in perfekter Unnatürlichkeit, vor dem Spiegel die Haltung der Venus und ihren Faltenwurf einübt. Es markiert dies den Beginn einer Entfremdung zwischen den Ehegatten, die im Selbstmord Regines gipfelt. Das ‚Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit‘ regt auch seine Betrachter zu Reproduktionstechniken an, in manchen Fällen zur Angleichung ihrer Selbst an die industriellen Fertigprodukte.
XII. Bilder städtischen Lebens 1. Kleinstädtisches Als der junge Keller 1845 unter dem Titel In der Stadt seine ersten Stadtgedichte verfaßte, war die deutsche Lyrik arm an städtischen Momentaufnahmen: arm an Zahl wie an stadtspezifischem Ausdruck. Was etwa Eichendorff unter dem Titel Danzig379, Heine im Buch der Lieder als nächtliches Stadtbild380, Wilhelm Müller als Abschied von der Stadt in der Winterreise381 in Verse gefaßt hatten – all dies spiegelte städtisches Leben nur atmosphärisch und in blassen Konturen wider. Das hing natürlich mit dem bekannten Umstand zusammen, daß die Stadt in Deutschland wie auch in der Schweiz und in Österreich seit langem ihren status quo beibehalten hatte und von modernen Prozessen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ausgeschlossen blieb. Bevölkerungszahl und Verkehrswege, das Stadtinnere und die Stadtgrenzen – solche und andere Größen im deutschen Sprachraum hatten sich seit den politischen und industriellen Revolutionen Europas im ausgehenden 18. Jahrhundert wenig verändert, im Unterschied zu Frankreich und England, wo politische Massenbewegungen, moderne Wirtschaft, Technik und Industrie das Bild größerer Städte mitgeprägt und die moderne Großstadt mitgeschaffen hatten. Gegenüber Berlin, Zürich und Wien wirkten westeuropäische Haupt- und Großstädte wie Paris und Marseille, London und Manchester atemberaubend durch ihr Verkehrstempo, ohrenbetäubend durch ihren Lärm, gigantisch durch ihre Menschenansammlungen, chaotisch durch den Wirrwarr ihrer Straßen und Gassen, sinnverwirrend mit dem überstürzten Wechsel der Eindrücke, hinreißend mit ihrer pittoresken Warenästhetik.382 Was seit der Aufklärung von Lichtenberg bis Heine und Weerth über London, von Campe bis Börne und Gutzkow über Paris an Städtebildern gezeichnet wurde, läßt ein Ineinanderspiel von Choc und Faszination erkennen, wie es eine deutsche Stadt nie hätte hervorrufen können. Man sehe sich daraufhin Heines Briefe aus Berlin an, durchaus erfrischende Stadtporträts, die jedoch den Atem der Provinz nicht vergessen machen. Und diese deutschstädtische Provinz, die Jahrzehnte hindurch sich ohne nennenswerte Veränderungen und Erschütterungen behaupten konnte, taugte, prosaisch wie sie war, offenbar auch nur zur Darstellung in der Prosa. Für die höhere Gattung der Lyrik schien es ihr an Poesie und Dignität zu feh-
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len. So blieb denn die Stadt ein Stiefkind unter den Schauplätzen des lyrischen Gewerbes. Um so bemerkenswerter ist die Intensität, mit der sich Keller ihr in lyrischer Form zugewandt hat. In der Stadt 1. Wo sich drei Gassen kreuzen, krumm und enge, Drei Züge wallen plötzlich sich entgegen Und schlingen sich, gehemmt auf ihren Wegen, Zu einem Knäul und lärmenden Gedränge. Die Wachparad‘ mit gellen Trommelschlägen, Ein Hochzeitzug mit Geigen und Gepränge, Ein Leichenzug klagt seine Grabgesänge: Das Alles stockt, kein Glied mehr kann sich regen. Verstummt sind Geiger, Pfaff‘ und Trommelschläger; Der dicke Hauptmann flucht, daß Niemand weiche, Gelächter schallet aus dem Hochzeitzug. Doch oben, auf den Schultern schwarzer Träger, Starrt in der Mitte kalt und still die Leiche Mit blinden Augen in den Wolkenflug. 2. Was ist das für ein Schrei’n und Peitschenknallen? Die Fenster zittern vor der Hufe Klang; Zwölf Rosse keuchen an dem straffen Strang Und Fuhrmannsflüche durch die Gasse schallen. Der auf den freien Bergen ist gefallen: Dem toten Waldeskönig gilt der Drang; Da schleppen sie, wohl dreißig Ellen lang, Die Rieseneiche durch die dumpfen Hallen! Der Zug hält unter meinem Fenster an, Denn es gebricht zum Wenden ihm an Raum; Verwundert drängt der Pöbel sich heran: Er weidet sich an der gebrochnen Kraft; Da liegt entkrönt der sturmgefeite Baum! Aus seinen Wunden quillt der frische Saft.383
Die beiden unter diesem Titel publizierten Sonette handeln von zwei grundverschiedenen Themen. Sie präsentieren jedoch beide eine stadtspezifische Erscheinungsform vor der Moderne: die Enge der altertümlichen Gassen. Keller hat diese Enge gleichsam potenziert, indem er – im ersten Sonett – gleich drei sich kreuzende Gassen vor Augen führt und in der Kreuzung drei Verkehrszüge aufeinandertreffen läßt: eine Wachparade, einen Hochzeitzug und einen Leichenzug. Es entsteht darob ein „lärmende[s] Gedränge“ und ein „Knäul“, in dem sich die drei Züge heillos verstricken: „Das Alles stockt, kein Glied mehr kann sich regen.“ Damit
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ist ein für die Stadt bis heute charakteristisches Phänomen getroffen, das an ihren Nerv rührt: die Stockung und der Stau, die ein Grundanliegen städtischen Lebens – die permanente Bewegung – außer Kraft setzen. Keller hat Gründe für diese Bewegungsstörung hervorgehoben: die Plötzlichkeit und den Zufall. Es kennzeichnet städtisches Leben, daß die rational geplante Bewegung von einem Ausgangspunkt zu einem Ziel durch das Unplanbare irrational durchkreuzt wird. Die von Keller ins poetische Bild gesetzte örtliche Kreuzung erhält ihren symbolischen Sinn durch diesen Widerspruch, in dem Rationalität und Irrationalität ‚übers Kreuz‘ geraten und einen widersinnigen Stillstand erzeugen. Keller hat die drei sich kreuzenden Gassen ebenso bewußt ins Spiel gebracht wie die drei Verkehrszüge, um – im ersten Quartett – eine Verkehrsstockung zu inszenieren. Und er hat im zweiten Quartett die Züge mit Bedacht voneinander unterschieden. Repräsentiert die „Wachparad’“ einen öffentlichen Ordnungsfaktor, so der Hochzeitszug den Lebensbund zweier Menschen, die ihrer Freude einen geselligen Ausdruck geben, während der „Leichenzug“ das Lebensende in „Grabgesänge[n]“ beklagt. So stehen sich grundlegende Seiten des Daseins gegenüber: die Polarität von Hoffnung und Leid, von zeugendem und absterbendem Leben (Hochzeits- und Leichenzug), und eine das Gemeinwesen repräsentierende Ordnungsmacht (Wachparade). Aber diese grundlegenden Seiten verhalten sich unvermittelt und fremd zueinander. Das demonstriert Kellers erstes Terzett. Jeder der drei Züge hindert die beiden anderen an ihrem Fortkommen und ist nur an seiner eigenen Bewegung interessiert. Die Straßenkreuzung wird dergestalt zum Sinnbild sich disharmonisch durchkreuzender Interessen, deren Träger in antithetischer oder auch gleichgültiger Anonymität verharren. Damit entwirft Keller die Extreme eines Stadtbilds, die sich vom dörflichen Leben prägnant abheben und seither in jedem städtischen Leben wirksam sind. Mag auch dörfliches Leben von disharmonischen Interessen bewegt werden, so sind deren Repräsentanten doch keineswegs anonym und einander fremd bis zur vollständigen Gleichgültigkeit. Aus dem Wirrsal, worin die Verkehrszüge und ihre Angehörigen versinken, erhebt sich einzig und allein – die Leiche. Sie verleiht dem zweiten Terzett ein unvergeßliches Gepräge. Zum Himmel blickend, kann sie diesen mit ihrem erloschenen Augenlicht nicht mehr er-blicken. Ausgerechnet der „Wolkenflug“, das einzige ungestörte Phänomen im gesamten Stadtbild, wird von niemandem wahrgenommen. Man darf sich den Sarg, worin die Leiche aufgebahrt ist, an seinem Kopfende mit einem kleinen Glasfenster vorstellen (wie dies Keller im Grünen Heinrich am Beispiel des Sarges der toten Anna beschrieben hat). Der Blick, der sich aus menschlicher Wirrsal durch das Glasfenster nach oben richtet, steht für
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die Hoffnung auf eine Rettung und Erlösung, eine doch vergebliche Hoffnung, erloschen wie das Licht der Augen. In unüberbrückbarer Ferne zieht der Wolkenflug über die mit sich selbst entzweite, gelähmte Stadt hinweg. Wirrsal und Chaos der Stadt hat Keller ästhetisch durch die architektonische Gliederung des Sonetts überformt. Inszeniert das erste Quartett die dynamische Entstehung der Verkehrsstockung, so macht das zweite die drei Verkehrszüge transparent. Das erste Terzett entwickelt daraus eine spezifische Note des städtischen Lebens: seine sich widerstreitenden Interessen und die Anonymität ihrer Träger, die sich aggressiv begegnen und einander doch gleichgültig sind. Das zweite Terzett hebt davon die Einsamkeit der Leiche ab, die als einzige im Straßengewirr den Blick zum Himmel richtet, als sei dort eine Hoffnung zu finden, die doch das erloschene Augenpaar nicht mehr wahrnehmen kann. Zwischen städtischem Geschehen und dem Geschehen in der Natur, versinnlicht im „Wolkenflug“, herrscht eine Kluft, die das zweite Terzett pointiert festhält. Die architektonische Gliederung des Sonetts verleugnet also keineswegs drei widerspruchsvolle Phänomene: die im Stadtinnern plötzlich ausgelöste Dynamik, den im stockenden Verkehr hervorbrechenden Interessenkonflikt, den blinden und taubstummen Dialog zwischen Leiche und Natur. Diese diskordante Trias gelangt syntaktisch und stilistisch einprägsam zum Ausdruck. Der lyrische Sprecher übersetzt die dynamische Bewegung im ersten Quartett in zwei Enjambements, wobei jeder in die Folgezeile springende Satz durch eine eingeschobene Adverbiale („krumm und eng“ bzw. „gehemmt auf ihren Wegen“) in seinem Fluß aufgehalten wird und dadurch die nachfolgende Verkehrsstockung ankündigt. Die drei das Geschehen tragenden Verben sind in auffälliger Korrespondenz mit Reflexivpronomen versehen (sich kreuzen, sich entgegen wallen, sich schlingen), rückbezüglichen Fürwörtern, die ihren buchstäblichen Sinn unversehens hervorkehren: die Rückbezüglichkeit verweist diese Verben im buchstäblichen Sinn auf sich selbst zurück, so daß ihre Bewegung in sich selbst kreist. Das zweite Quartett hebt sich syntaktisch vom ersten durch den Zusammenfall von Verszeile und Zugbeschreibung ab, wobei die erste (elliptische) Zeile der „Wachparade“ gilt, die zweite dem „Brautzug“, die dritte dem „Leichenzug“. Die vierte Zeile wartet gleich mit zwei Sätzen und Verben auf, um die Stockung rhythmisch durch eine Zäsur, semantisch durch eine Verdoppelung hervorzuheben („Das Alles stockt, kein Glied mehr kann sich regen.“). Kellers modern anmutender Zeilenstil – im Expressionismus hat sich namentlich Trakl seiner bedient – setzt die Unver-
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bundenheit der städtischen Phänomene und ihr disharmonisches Gegeneinander syntaktisch ins Bild und reicht bis in das erste Terzett hinein. Dort faßt die erste Verszeile die drei Verkehrszüge stellvertretend in drei Personen zusammen, deren Verstummen das Äquivalent zur Verkehrsstockung bildet. Die zweite Zeile ist für einen Fluch, die dritte für ein „Gelächter“ reserviert – erneut ein (syntaktisch profilierter) Hinweis auf die Diskordanz der aufeinander treffenden Verkehrszüge. – Das zweite Terzett hebt sich vom Zeilenstil der beiden vorausgehenden Strophen durch seinen drei Verse umspannenden Satzbau ab und markiert so syntaktisch seine Kluft zum städtischen Geschehen. Doch während der Satz über zwei Enjambements grammatikalisch jeweils in die Folgezeile „springt“, wird rhythmisch an jedem Zeilenende eine deutliche Zäsur hörbar: einmal infolge einer eingeschobenen Adverbiale des Orts („auf den Schultern schwarzer Träger“), dann aufgrund der markant ausgearbeiteten Totenbeschreibung: „Starrt in der Mitte kalt und still die Leiche“. Diese vorletzte Zeile hält gleichsam den Atem des Satzes rhythmisch an, um auf das schockierende Paradoxon der Schlußzeile („Mit blinden Augen in den Wolkenflug“ starren) vorzubereiten. Der Bruchteil einer Sekunde, der den Satzfluß unterbindet, bildet auch einen Kontrast zum „Wolkenflug“ hoch über dem Toten. Nicht nur das städtische, auch das rein menschliche Geschehen steht dem Naturgeschehen „blind“ gegenüber. Mit diesem desillusionierenden Finale schlägt Keller zugleich die Brücke zum zweiten Sonett. Die Fremdheit zwischen Stadt und Natur, in die Kellers erstes Sonett mündet, ist Thema des zweiten. Das Eingangsquartett stellt Unordnung und Gewalt des Straßenlebens dar, darin dem vorhergehenden Sonett verwandt. Nur mit einem maßlosen Aufwand an Kraft – „zwölf Rosse[n]“ – läßt sich eine „Rieseneiche“ „durch die dumpfen Hallen“ der städtischen Gassen schleppen. Die Anstrengung der ‚keuchenden‘ Rosse hat etwas Gewalttätiges an sich: die erschlagene Natur (die Eiche) kann nur durch die unterjochte Natur (zwölf angeschirrte Pferdestärken) fortbewegt werden – ein symbolischer Hinweis auf die Widernatürlichkeit des Geschehens. Keller akzentuiert diese Symbolik durch die Charakteristik der Rieseneiche als eines „Waldeskönig[s]“ aus „den freien Bergen“. Wer sich an Kellers Hymne vom ‚Eichenwald‘ erinnert384, weiß, daß mit der Freiheit und Königlichkeit der Natur Sinnbilder gemeint sind: Sinnbilder einer politischen, die Souveränität des Einzelnen verbürgenden Freiheit. Die Enge der Stadt und die ‚Dumpfheit‘ ihrer Verkehrswege sind dem freien „Waldeskönig“ und seinem politischen Sinn nicht angemessen, wie das erste Terzett andeutet. Und der herandrängende Pöbel ist es ebensowenig. Statt die freie Natur und ihre übertragene Bedeutung zu verstehen
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und zu würdigen, hält er Maulaffen feil und „weidet sich an der gebrochnen Kraft“. Die Schaulust der Menge und ihr Wohlgefallen an der geschändeten Natur demonstrieren, daß es ihr an einem Organ für die Schwere des Vorgangs elementar fehlt. Ihr ungehemmter Genuß an dem zerstörten Baum – „Aus seinen Wunden quillt der frische Saft“ – macht die Menge zur Parteigängerin der Naturausbeutung und Naturzerstörung und damit, im symbolischen Sinn, zu einer Kraft, die ihre eigene, noch unentdeckte Freiheit und Souveränität hintertreibt. Keller hat das Thema seines zweiten Sonetts dreißig Jahre später in seiner Erzählung Das verlorene Lachen erneut aufgegriffen und es mit einem so unverwechselbar kritischen und schmerzlichen Akzent vorgetragen, daß sein Erzähler wie ein Vorbote des modernen Naturschutzes wirkt. Schon sein Sonett rührt an einen zentralen Nerv der neueren Zivilisation: ihr Mißverhältnis zu Natur und Landschaft. Der Ursprung dieses Mißverhältnisses ist die moderne Stadt, die durch Technik und Industrie die Inbesitznahme der Natur bequem bewerkstelligen kann. Keller hatte kleinstädtische Verhältnisse, vermutlich die Verhältnisse im damaligen Zürich, vor Augen, als er seine beiden Sonette verfaßte. Aber er hat darin Grundbewegungen aufgedeckt, die eine Klein- und Mittelstadt mit der Großstadt, auch der modernen, teilt. Das verleiht seinem Doppelsonett einen noch immer verkannten Rang. Keller hat seine frühe stadtkritische Phänomenologie nicht unmittelbar fortgesetzt. Erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts hat er sich noch einmal lyrisch mit dem Problem des Städtischen befaßt. Damals stand die Erweiterung des Stadtraums zur Großstadt auf der Tagesordnung der Magistrate, der Vertreter der Wirtschaft, des Fortschritts – und der Moden. Dafür war ein Preis zu zahlen. Kellers Gedicht Ratzenburg385 handelt davon. Der Kommentar Kauffmanns macht auf den realhistorischen Hintergrund aufmerksam: Nach dem Beispiel größerer Städte, wie etwa Zürich, Genf und Bern, wurden im Jahr 1883 die mit Linden besetzten Stadtbefestigungen von Solothurn abgebrochen. Die geplante Demolierung weiterer Baudenkmäler der Vergangenheit stieß in der Schweizer Presse auf Widerstand, dem sich Keller mit seinem Gedicht anschloß. Dabei scheute er nicht davor zurück, Solothurn als Ratzenburg, d.h. Rattennest, lächerlich zu machen. Keller verwendet Schlagworte der Diskussion über die zahlreichen Stadtprojekte dieser Zeit, die zumeist an Paris orientiert waren: Die ‚Großstadt‘ (das Wort ist erst nach 1850 verbreitet) mußte vor allem ‚Quais‘ und ‚Boulevards‘ besitzen, auf der die ‚elegante‘ Damenwelt in der neuesten Mode, so der ‚Krinoline‘ (einem Reifrock, der seit der Jahrhundertmitte immer gewaltigere Ausmaße bekam), promenieren konnte.386
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Es dürfte für Kellers Gedicht sprechen, daß seine Kritik unverjährt ist. Sie war gewiß nicht neu, denn seit Haussmanns berühmter Zerschlagung der alten Pariser Viertel mit ihren krummen Gassen wurde sie con variazione vielfältig intoniert. Haussmann hatte die breiten imponierenden Boulevards angelegt, auf denen der wirtschaftliche Verkehr zügiger und bequemer als bisher fortrollen konnte, auf denen das französische Heer rasch und reibungslos zu seinen Bestimmungsorten marschieren sollte – und auf denen rebellierende Arbeiter ihre Barrikaden nicht länger zu errichten vermochten, wie Walter Benjamin in seinem Paris-Essay dargelegt hat.387 Gegenüber der Sachlogik Haussmanns hatten die Anwälte des alten vertrauten Stadtbildes mit seinen engen Gassen, den pittoresken Fassaden seiner Häuser, seinen Brunnen, Gärten, Türmen, seinen tausend Winkeln und Geheimnissen keine Chance. Ihr ‚poetischer Realismus‘ war den Fanfaren der Modernisierung nicht gewachsen. Der Austreibung der Poesie aus dem neuen Paris galt die Klage Baudelaires in Le Cygne, dem zweiteiligen Gedicht aus den Fleurs du Mal. Am Leid der Kreatur (eines Schwans) hat er die Rückschritte des Fortschritts und der modernen Sachzwänge aufgewiesen – darin hätte Keller ihm nur beipflichten können. Freilich, sein Ratzenburg bemerkt an der Modernisierung nur ihre Nachtseiten, nicht auch ihren unbestreitbaren Gewinn. Zweifellos fielen der Destruktion des Alten auch solche Einrichtungen, Häuser und sanitären Anlagen zum Opfer, die eine einzige Quelle von Krankheiten gewesen waren. Aber die Poesie ist nicht zu abwägender Gerechtigkeit verpflichtet. Sie richtet, doch nicht mit der sachlichen Umsicht des Richters. Bei der leidenschaftlichen Parteinahme für ihre eigene Sache darf sie auf einem Auge blind sein. Ihre Opponenten – Politiker, Wirtschaftskapitäne, Administratoren, angepaßte Realisten – tragen ohnehin den Sieg davon. Sie allein hält dem Unrettbaren die Treue.
2. Aus Berlin. Wanderbilder Keller hat zwar an seine frühe lyrische Stadtkritik erst spät wieder angeknüpft, er hat aber in den fünfziger Jahren Bilder städtischen Lebens skizziert, die ihm der Selbstvergewisserung dienten: der Orientierung in der Fremde. Als er 1850 von Heidelberg nach Berlin zog, mußte er sich auf deutschem Boden neu zurechtfinden. Dazu dienten ihm Stadtskizzen, von denen er vier unter dem Titel Berliner Gedichte 1852 erstmals veröffentlichte (im Deutschen Museum). Ergänzt um drei weitere Skizzen, fanden sie Aufnahme in die Neueren Gedichte von 1854, diesmal unter der Überschrift Aus Berlin388. Für seine Gesammelten Gedichte von 1888 wählte Keller eine neue Anordnung dieser Berlin-Skizzen, die er nun mit dem Titel Wanderbilder
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versah389, wobei er das Gedicht Frühling 1853 durch ein anderes, Biermamsell, ersetzte. Wanderbilder anstelle von Aus Berlin: der Titelwechsel markiert einen Wechsel der poetischen Perspektive. Bezeichnet die Wendung ‚Aus Berlin‘ den Standort des lyrischen Ichs in der Stadt selbst, so verweisen ‚Wanderbilder‘ auf die Optik des Reisenden. Und es ist in der Tat die Reise-Optik, die der Schweizer Keller hier mehrfach zur Geltung bringt. Auf das Eingangsgedicht Am Tegelsee (I.), das vom Heimweh des „Fremdlings“ in der Schlußstrophe redet, folgt In einem Lustwalde (II.), das die Fremdheit ins Politische wendet: Ich bin ein Fremder hier zu Lande, Wo Krongewalt herrscht allerwärts, Mich binden nicht die starren Bande […].
Man vernimmt die Sprache des republikanischen Schweizers nicht nur hier.390 Sie erklingt nicht minder im III. Gedicht Sonntags, wo Keller vom „schweigenden Totenhain“ spricht: seine Bezeichnung für den Friedrichshain, wo 1848 die „Märzgefallenen“, will sagen: die Opfer der Berliner März-Revolution beigesetzt worden waren.391 Das kritisch-ironisch vermerkte ‚Schmollen‘ des Königs ist eine Reaktion Seiner Majestät auf die Märzunruhen des Volks. Auch die Polkakirche (VI.) intoniert die kritische Ironie des republikanischen Fremdlings, der die neu erbaute Matthäikirche mit lispelnden „Hofhistoriographen“392, „ergrauten Paladinen“, „Kammerherrn mit Betermienen“ und einem „glatten / Superintendent[ ]“ füllt und dergestalt die enge Bindung dieser Kirchgänger an den orthodoxen Protestantismus und an den königlichen Hof aufs Korn nimmt. Der „byzantinisch[e]“ Einschlag in der Architektonik, die zugleich biedermeierliche Verniedlichung atmet („Bogen, Bögelchen“ und „Pförtchen“), verleiht den höfischen Herren einen synkretistischen Charakter: ihr Anpassungswille an herrschende Stile und Moden ist höchst versatil. Weniger stadt- als vielmehr staatskritisch ist demnach die Berlinperspektive Kellers. Wanderbilder – die Perspektive des ‚Fremdlings‘ und des Reisenden entpflichtet Keller, als Kenner Berlins aufzutreten und dessen städtischen Verhältnissen zu Leibe zu rücken. Was etwa drei Jahrzehnte vor ihm Berichterstatter aus Berlin schon vermeldet haben, Heine beispielsweise, der in seinen Briefen aus Berlin (1822) die in der Stadt herrschenden Opernmoden, Maskenbälle und ihre Warenofferten mit spitzer Feder festhält, oder Adolph von Schaden, der die Unarten von Berliner Droschkenkutschern und die halsbrecherische Fortbewegung von Postkutschen mit feiner Sonde freilegt393: Berlinaden dieser Art wandern in die Lyrik Kellers so wenig ein wie andere städtische Charakteristika, die er durchaus kennengelernt hat, etwa die Berliner Geselligkeit mit ihren Salons und ihrem Theater-
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leben samt dem Habitus der gebildeten Schichten. Lyrische Vorbilder für die Gestaltung solcher Themen gab es kaum – und vielleicht waren sie zu komplex für ein „Bild“ oder eine Skizze von knappem Umfang.394 Dafür hat Keller die typische Reise-Optik virtuos gepflegt, namentlich zwei ihrer spezifischen Merkmale: die Aufmerksamkeit für die malerischen Attraktionen der Fremde und für die einfallsreiche Varietät bei ihrer Anordnung. So verwundert es nicht, daß Keller, unbeschadet der „starren Bande“ der „Krongewalt“, den vielgerühmten Tiergarten Berlins wie auch seinen Schutzherrn und Umgestalter besingt: König Friedrich Wilhelm III. (In einem Lustwalde, II.). Kellers Wahrnehmung Berlins als einer Residenz, weniger als einer Stadt, legitimiert seinen Blick auf den königlichen Garten, dessen stadtferne Naturidyllik seine lyrische Feder beschwingt und ihr empfindsame Töne entlockt. Empfindsame wie auch spätromantische Töne schlägt schon sein erstes Wanderbild, Am Tegelsee (I.), an – ohne daß im mindesten der Eindruck lyrischer Konventionalität entstünde. Der Titel der Erstfassung Wilhelm von Humboldt’s Landhaus am Tegelsee bezeichnet den Ausgangspunkt des Gedichtes. Das „stille[ ] weiße[ ] Haus“ des großen Gelehrten und bildungspolitischen Reformers bezaubert den Betrachter durch seinen antiken Stil wie durch seine Einbettung in eine weltabgeschiedene Landschaft. Es ist dadurch mehr als eine Reise-Attraktion: eine Stätte kontemplativer Anschauung, die mit ihrer architektonischen Zeitenferne und ihrer Weltabgeschiedenheit dennoch zeitbezogen und welthaltig ist. Der ‚Wanderer‘ gedenkt des philologischen Genius, der Humboldt vertraut gemacht hat mit den fernsten Sprachen der Welt. Weltsprachen, die ihm ihr Echo vielfältig in sein entlegenes Landhaus zurücksenden: Von Meer zu Meer grüßt ihn Gesang, Gesang in allen Zungen.
Aus diesem Widerhall der Sprachen der Welt darf der Betrachter „Hoffnung“ schöpfen, vielleicht im Blick auf eine weltumspannende Verständigung – eine Hoffnung, wie sie in Humboldts Park dargestellt wird durch die Marmorstatue des dänischen Bildhauers Bertel Thorvaldsen. Den Park umgibt ein See, den See ein Föhrenwald, und während der Wald einen romantischen Traum hervorruft, spiegeln sich im See die Gestalten des Himmels, so daß in romantischem Geist das Getrennte zur Einheit finden darf, in schöner Konkordanz mit den Sprachen der Welt. Keller fügt daran ein Naturbild von zartestem Impressionismus, eine neue Stilrichtung erfinderisch vorwegnehmend: In leis’rem Blau die Sonne schweift, Ihr eigner Schein ist blasser, Von feuchter Reiherschwinge träuft Er perlengleich in’s Wasser.
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Der Schein der Sonne, der den Tropfenfall der Reiherschwinge zu einer leuchtenden Perlenreihe macht – welch eine delikate Vision! Und welcher Trost für den vom Heimweh ‚durchschauerten‘ Fremdling … Es zeugt für Kellers Kunst der Variation, daß er solchen sublimen Villa- und Landschaftsskizzen die handgreiflichste Straßenszene zugesellt, wie sein Gedicht Berliner Pfingsten und unsere Interpretation zeigen mögen: IV. Berliner Pfingsten Heute sah ich ein Gesicht, Freudevoll zu deuten: In dem frühen Pfingstenlicht Und beim Glockenläuten Schritten Weiber drei einher, Feierlich im Gange, Wäscherinnen fest und schwer, Jede trug ’ne Stange. Mädchensommerkleider drei Flaggten von den Stangen, Schön’re Fahnen, stolz und frei, Als je Krieger schwangen; Frisch gewaschen und gesteift, Tadellos gebügelt, Blau und weiß und rot gestreift, Wunderbar geflügelt! Lustig blies der Wind, der Schuft, Falbeln auf und Büste, Und mit frischer Morgenluft Füllten sich die Brüste; Und ich sang, als ich geseh’n Ferne sie entschweben: Auf und laßt die Fahnen wehn, Lustig ist das Leben! (Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 680f.)
Zur Gattung der Reisebilder gehört wesentlich, wie schon angedeutet, der bunte Wechsel der Sehenswürdigkeiten: variatio delectat. Kellers gattungsbewußtes ‚understatement‘ aber besteht darin, daß er die trivialsten Gegenstände zu Sehenswürdigkeiten erhebt – und dies ausgerechnet in der Lyrik, die traditionsgemäß die sublimen Dinge zum Sprechen bringt. Keller dagegen hebt Wäscherinnen und Wäsche, frisch gewaschene und gebügelte, ins Bild, und zwar ausgerechnet am hohen Pfingstfeiertag. Humoristisch verschränkt er das „frühe[ ] Pfingstenlicht“ und das „Glockenläuten“ nicht etwa mit der Niederkunft des heiligen Geistes, wie religiöser Brauch es will, sondern mit „Mädchensommerkleider[n]“, die da an Stan-
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gen befestigt sind – von den Wäscherinnen stolz geschwungene Stangen, an denen die Kleider wie veritable Fahnen „flaggen“: Schön’re Fahnen, stolz und frei, Als je Krieger schwangen; Frisch gewaschen und gesteift, Tadellos gebügelt, Blau und weiß und rot gestreift, Wunderbar geflügelt!
Das Verstempo wird beschleunigt dank der kurzen Zeilen, die ihrerseits den Worten und Rhythmen Flügel verleihen, in Korrespondenz zur frei und frisch wehenden Wäsche. Vom Schabernack überwältigt, der den skurrilen Vergleich mit Kriegsfahnen zugunsten der Kleiderfahnen entscheidet, bringt Keller den Wind ins Spiel, den „Schuft“, der die Falbeln, die Kleidbesätze, aufbläst und die „Büste[n]“ obendrein, so daß diese zu „Brüste[n]“ anschwellen, gefüllt „mit frischer Morgenluft“. Der Wind, der kreative Schalk, demonstriert ad oculos, wer in diese Sommerkleider hineinschlüpfen wird und was junge Frauen darin an Geheimnissen verstecken, an offenbaren, lockenden Geheimnissen. Das Berliner Genrebild erhält eine anzügliche Wendung, die den Erzähler mit Lust und Gesang erfüllt: Auf und laßt die Fahnen wehn, Lustig ist das Leben!
Wie verträgt sich solche Heiterkeit mit dem Pfingstfest, wo der heilige Geist mit tausend Zungen feurig redet? Man erinnert sich, was – nach der Apostelgeschichte des Lukas – einer vielköpfigen und vielsprachigen Menge einst widerfuhr: Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel und eines gewaltigen Windes und erfüllte das ganze Haus, da sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt, wie von Feuer […] und sie wurden alle voll des heiligen Geistes und fingen an zu predigen in andern Zungen, wie der Geist ihnen gab. (Apg. 2,2–2,4)
So hörten damals die Juden zu Jerusalem, wie Fremde plötzlich in ihrer (jüdischen) Sprache „die großen Taten Gottes reden“, wie der Geist einer allseitigen Verständigung die versammelten Menschen erfaßt. Wohnt aber in dieser Verständigung nicht eo ipso eine umfassende Menschenliebe? Ist hier nicht Eros gegenwärtig, wie die Metapher vom „Brausen“ eines „gewaltigen Windes“ verrät, jener die Menschen erschütternde Eros, dessen Leidenschaftlichkeit sich in den feuerbegabten Zungen kundgibt? Die romanischen Sprachen bewahren den biblischen Doppelsinn bis heute auf. Französisch ‚la langue‘, die Zunge, unser hocherotisches, den Liebesdialog entzündendes Organ, bedeutet zugleich ‚Sprache‘, also das dialogstiftende Prinzip schlechthin. Eros umfaßt beide Sphären, die spirituelle und die körperliche, er durchweht und befeuert beide, und die Apostel-
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geschichte hält im dynamischen Wirken der Elemente – dem Feuer und dem Brausen des Windes – die elementare Wirkung des Eros sinnbildlich fest. Keller erinnert daran scherzend, mit einem Schalkslächeln. Er läßt den Wind blasen und brausen wie einst, in biblischer Zeit, verleiht ihm Flügel, läßt ihn Geheimnisse offenbaren, die in „Mädchensommerkleider[n]“ stecken, delikate Blößen, die in der Erstfassung des Gedichts nicht nur mit „Brüsten“, nein auch mit „Lenden“395 assoziiert werden durften. Und als wäre es mit dieser Erinnerung an den irdischen Sinn des heiligen Pfingstfests nicht genug, scherzt Keller ein zweites Mal, indem er nicht nur das Wehen des Eros wahrnimmt, sondern diesen im selben Atemzug gleichsam befestigt, an Stangen, die den „wunderbar geflügelten“ Kleidern ihren Halt geben, einen „stolzen“ Halt, weshalb nun „schön’re Fahnen“ und stolzere Fahnenstangen hin und her schwingen „als je Krieger schwangen“. Solche sinnbildliche Anzüglichkeit mag manchem Leser allzu anzüglich sein: Honni soit qui mal y pense! Wenigstens an Pfingsten hat der Krieg, das verständigungsfeindliche und Eros verneinende Prinzip, das Nachsehen gegen den geflügelten versöhnenden Eros: „freudenvoll“, ja „wonnevoll zu deuten“, wie die erste Fassung verheißt. Das Gedicht erinnert fast in Heinescher Manier daran, wieviel sinnliche Weltlichkeit im pfingstlichen „Glockenläuten“ mitschwingen könnte, mitschwingen darf. Keller hat etwas vom ‚Pfingstwunder‘ in seinem Eingangsgedicht I. Am Tegelsee verlauten lassen. Über den Ort Wilhelm von Humboldts, der die Verwandtschaft so vieler Sprachen entdeckt hat, hieß es: Von Meer zu Meer grüßt ihn Gesang, Gesang in allen Zungen.
Die im Gesang sich kundgebende Universalsprache, in die alle Fremdsprachen münden, wäre der Auftakt zur weltumspannenden Gemeinschaft der Menschen. Ludwig Feuerbach, Kellers philosophischer Lehrer und Freund in Heidelberg, hat mit seinem emphatischen Begriff der Liebe dieser Utopie präludiert. Die Liebe galt ihm als das wesentliche dialogische und soziale Vermögen der Menschen. Einen Abglanz und Vorklang des Liebesdialogs spiegelt Kellers Gedicht in Landschaft und Natur wider: im weltumspannenden Gesang, in der intimen Kommunikation zwischen Landhaus, See und Wald, im Widerschein der Wolkenfrauen auf dem klaren See. Eben daraus schöpft der „Fremdling“ den Trost für Heimweh und Einsamkeit. Mit dem Liebesdialog als einem Seitenthema des Berlin-Zyklus kontrastiert der „schweigende Totenhain“ des III. Gedichtes Sonntags. Die dort versammelten Opfer der März-Revolution erheben ihre stumme Klage gegen den regierenden König, der ihnen „schmollend“ den Dialog verweigert.
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Schärfer noch ist der Kontrast zwischen dem Pfingstgedicht und dem darauf folgenden Weihnachtsmarkt (V.). Beim Gestaltungsprinzip der variatio spielt ja gerade der Kontrast eine Hauptrolle, insbesondere in der Gattung der Reisebilder. Kellers Weihnachtsmarkt knüpft zunächst an die Aufbruchstimmung und den Frohsinn des Pfingstgedichtes an, wenn er den „lustige[n] Wald“ auf dem Markt beschreibt und das die Sonne ersetzende „Rauschgold“ samt sinnlich lockenden Details einfängt, dem „fröhliche[n] Leben“ des „Volks“ zu Ehren. So entsteht zunächst ein weihnachtliches Genrebild. Dann jedoch skizziert Keller die ersten Konturen eines Gegensatzes, den er wenig später in einer einzigen Strophe bündelt: Und kommt die Nacht, so singt der Wald Und wiegt sich im Gaslichtscheine; Bang führt die ärmste Mutter ihr Kind Vorüber dem Zauberhaine […].
Prägnant kontrastiert Keller wohlhabende oder zumindest wohlversorgte Käufer mit Armen und Notleidenden, ehe er in kühner Volte sich an einen Weihnachtsbaum in vergangener Zeit erinnert. „Reifbezuckert“ stand er am Berg, und zwischen den Ästen waren schön die Sterne aufgegangen: die reinste Winteridylle – und gleichzeitig der reinste Trug: Am untersten Ast sah man entsetzt Die alte Wendel hangen. Hell schien der Mond ihr in’s Gesicht, Das festlich still verkläret; Weil auf der Welt sie nichts besaß, Hatt’ sie sich selbst bescheret.
Kellers ernüchternde Pointe ist ohne Beispiel. Mit lakonischer Schlagfertigkeit fährt sie dem Weihnachtsfest in die Parade und entwaffnet seine gemütvolle Zurüstung. Die alte Wendel gemahnt an die Verlassenen und Hungernden, denen das Fest der Familie zum Alptraum gerät. Keller rührt an ein Tabu, indem er das Rührendste scharf belichtet und in die Rührung der festlich Gestimmten einen Tropfen Gift versenkt: unter ihnen leben anonym, „lebendig begraben“, die sozial Ausgebürgerten. In der großen Stadt zahlreicher und verkannter als anderswo. Hält man sich das weihnachtliche Versprechen der wechselseitigen ‚Bescherung‘ aus Liebe gegenwärtig, dann erhält Kellers Festgedicht auch einen ausgesprochen religionskritischen Akzent. Die Kirche erreicht gerade die nicht, die der Liebe und des Trostes am bedürftigsten sind. Werfen wir einen letzten und zusammenfassenden Blick auf Kellers Gestaltungsprinzipien der variatio, des sozialen Kontrastes und des verfremdeten Genrebilds. Auffällig kontrastiert in Sonntags des „Königs Kuppel“ mit dem „Weichbild“ der Stadt, wo sich im Sande das „staubaufregend[e] Volk
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Berlins“ tummelt. Eine Idylle mit stillen Schiffen beschließt das Gedicht und öffnet zugleich seinen Horizont: Durch die Wipfel in die Ferne Golden sonnige Segel ziehn.
Den angedeuteten Kontrast zwischen Residenz und Volk variiert der Weihnachtsmarkt (V.); aufgebaut „um das hohe Schloß“, gibt er dem Volksleben Raum. Letzteres entfaltet Keller in einem Genrebild, das er mit biedermeierlichem Detailsinn zeichnet – und das er durch ein zweites kunstbewußt verfremdet. Denn der „reifbezuckert[e]“ „Weihnachtsbaum“ mit dem Sternenhimmel im Hintergrund – er dient der „alte[n] Wendel“ dazu, sich selbst den Garaus zu machen. Diese Desillusionierung des Genrebildlichen zählt zu Kellers stilkritischen Eigenarten (vgl. Kap. VII). Die Polkakirche zeugt davon, wenn der Tempel, „fein und niedlich“, „byzantinisch jede Fuge“, ein „erbaulich Bauexempel“, zusehends entzaubert wird durch die königliche Hofkamarilla. Die Polkakirche insgesamt bildet ihrerseits einen Kontrast zu den Schauplätzen des Volks in Berliner Pfingsten und im Weihnachtsmarkt. So entwerfen Kellers Reisebilder behutsam die Konturen eines sozialen Gegensatzes. Das verleiht ihnen eine ‚interessante‘ Komponente, wie sie zur Gattung der Reiseliteratur wesentlich gehört. Die Genrebilder umrahmen diese Komponente und verfremden sie gleichzeitig: so gedenkt das lyrische Ich im Lustwalde (II.) zwar dankbar seines königlichen Gestalters, aber alle genrebildliche Naturidylle kann doch die staatliche „Krongewalt“ nicht vergessen machen. In seinem Schlußgedicht, Biermamsell (VII.), vereinigt Keller die genannten Stilformen und Darstellungsmedien. Er entwirft den Kontrast zwischen einer Kellnerin und ihren Gästen, unter denen mancher einem Marquis Posa und sonst einem „edelbleich[en]“ Herrn gleicht. Während die hohen Gäste im Verlauf des Gedichts ihre Würde jedoch einbüßen, erfährt die Frau aus dem Volk eine Erhöhung. Das Genrebildliche ihrer Erscheinung – „runde Schulter“, „zierliche Brust“, „schwarze[ ] Seidentracht“ – wandelt sich unversehens zum Porträt einer Lady, die gar der Maria Stuart ähnlich sieht. Diese Nobilitierung einer Biermamsell bei gleichzeitiger Entwürdigung der aristokratisch sich gebärdenden Herren verrät einen kritischen Akzent Kellers, der festgeronnene soziale Hierarchien republikanisch unterminiert. Es gehört zur ornamentalen Lust Kellers, seine Kellnerin aus dem Volk durch einen witzigen Einfall zu erhöhen: „So edelbleich und schmerzenreich / Siehst du Marien Stuart gleich.“ Dazu hat ihn offenbar die Erscheinung der Kellnerin selbst angeregt: zum Beispiel ihrer „Hüften schlanke Lust“, wie es unvergleichlich schön heißt. Die sinnliche Lust regt die poetische an und die bringt das Phantasiegebilde der „Maria Stuart“
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hervor, der trauernden Heldin Schillers: ein literarisches Ornament, das der Kellnerin wohl ansteht. Solcher Schmuck entstammt dem Geist des Poetischen Realismus, der die hingebungsvolle Anschauung der Realität mit erfinderischem Humor zu verbinden weiß. Der Poetische Realismus ist es auch, der das Eingangsgedicht des Berliner Zyklus, Am Tegelsee, mitgeprägt hat. Der Gesang „von Meer zu Meer“, die intime Kommunikation von Haus und Landschaft, von Himmel und Erde – all dies bietet der Realität des „Fremdling[s]“ einen poetischen Schutzraum. Sein Republikanismus, der in deutschen Landen heimatlos ist, bedarf einer Ersatzbildung. Die kann er am Tegelsee gewinnen, im Landhaus Wilhelm von Humboldts, dort, wo die Extreme des Sozialen und Politischen, königliche „Krongewalt“ und Machtlosigkeit des Volks, im Adel des Geistes, der Architektur und der Landschaft überwunden sind.
XIII. Der Kunst zu Ehren. Kraft und Grenze der Phantasie Keller hat frühzeitig die Auffassung von der Kunst als Zeugin ihrer Zeit entwickelt. Er war sich von Beginn seines schriftstellerischen Schaffens an auch bewußt, daß ästhetischer Stil und künstlerische Diktion ihrer Zeit nicht enthoben sind, sondern Überlebenskraft in dem Maß gewinnen, wie sie aus dem Leben der Zeit selber hervorgehen. Wenn er am Eingang seiner Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe schreibt396, daß die „Fabel“ von der Leidenschaft der beiden jungen Veroneser „stets“ in „neuem Gewande in die Erscheinung“ treten und „alsdann die Hand“ zwingen würde, sie „festzuhalten“, so dachte er beim „neuen Gewand“ der Fabel auch an die neue Ästhetik, die der künstlerischen Hand aufgetragen war. Dieses Bewußtsein von der Zeitgenossenschaft der Kunst spiegelt sich nicht nur in dieser und jener brieflichen Äußerung Kellers wider397, es prägt auch einige seiner Gedichte. Unter ihnen ist bemerkenswert Kellers Erwiderung auf Justinus Kerner’s Lied: Unter dem Himmel 398. Kerner, zur spätromantischen ‚Schwäbischen Dichterschule‘ zählend, hatte in seinem „Lied“ den Himmel ins poetische Visier genommen und dort zunächst noch die schöne, alte Zeit erblickt: Die blaue Stille stört dort oben Kein Dampfer und kein Segelschiff, Nicht Menschentritt, nicht Pferdetoben, Nicht des Dampfwagens wilder Pfiff.
Zu Kerners Beruhigung ist die in seiner Zeit sich vollziehende Industrielle Revolution – sie ist unter anderem eine Revolution der Verkehrsformen – noch nicht an den Himmel hinaufgedrungen. Sie könnte allerdings in naher Zukunft dorthin gelangen, wie Kerners vorausgreifende Vision verdeutlicht – dann nämlich, wenn „der unsel’ge Traum“ vom „Fliegen“ wahr wird: Dann flieht der Vogel aus den Lüften, Wie aus dem Rhein der Salmen schon, Und wo einst singend Lerchen schifften, Schifft grämlich stumm Britannia’s Sohn. Schau’ ich zum Himmel, zu gewahren, Warum’s so plötzlich dunkel sei, Erblick’ ich einen Zug von Waren, Der an der Sonne schifft vorbei.
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Vor „solchem Himmelsgraus“ in „dampfestolle[r]“ Zeit warnt Kerner, während Keller in kritischer Gegenwendung den Fortschritt in Schutz nimmt. Er entspräche, meint Keller, dem ewigen „Werde!“, also der kulturellen Dynamik, deren Anwalt der Dichter sei: Schon schafft der Geist sich Sturmesschwingen Und spannt Eliaswagen an –
Auf Kerners damals wohlbekannte mystische Experimente anspielend (der „alten Pergamente (…) tolle[n] Zauber“), reklamiert Keller den echten „Zauber“ für den geistbestimmten Fortschritt, der die „Elemente“ – die Antriebskräfte der Dampfmaschinen – zu bändigen wisse und sie in den Dienst der menschlichen Muße und der künstlerischen Muse stelle: Ich seh’ sie keuchend sprühn und glühen, Stahlschimmernd bauen Land und Stadt: Indes das Menschenkind zu blühen Und singen wieder Muße hat. Und wenn vielleicht, nach fünfzig Jahren, Ein Luftschiff voller Griechenwein Durch’s Morgenrot käm’ hergefahren – Wer möchte da nicht Fährmann sein?
Kellers Erwiderung macht unter anderem einen Generationenstreit sichtbar. Während Kerner in ein Lebensalter vorgerückt ist, in dem man der dynamischen Bewegung der Technik häufig mit Skepsis entgegentrat399, gehört Keller einer Jugend an, die sich als Motor der geschichtlichen Bewegung versteht. So gesehen, ist seine Verspottung des rückwärtsgewandten Kerner triftig; dessen „Schäferkleid[ ]“ ist die Metapher für eine der Zeit ausweichende Poesie, während Kellers „Feuerdrach’“ eine Metapher für die Eisenbahn und zugleich für eine vorwärtsdrängende Dichtung ist. Davon abgesehen sollte Keller mit seiner Voraussage für das erste „Luftschiff“ – „nach fünfzig Jahren“ – erstaunlich nahe an die empirische Wahrheit kommen.400 Dagegen verrechnete er sich im Hinblick auf die Dialektik des technischen Fortschritts; anstelle einer von der Technik ermöglichten „Muße“, die der ästhetischen Muse – der Kunst – zugute kommen werde, wie Keller hoffte, beschleunigte der Fortschritt das Lebenstempo zu kunstfremder Unrast. Dieser Dialektik trägt hingegen Kerner Rechnung, wenngleich in kulturkonservativem Geist. Seine Skepsis hinsichtlich des technischen Fortschritts wurde später aufs befremdlichste bestätigt: insofern heute ein „Zug von Waren“ nach dem andern „an der Sonne“ ‚vorbeischifft‘ und dabei eine Luftverschmutzung globalen Ausmaßes entsteht (von Kerner in das nicht buchstäblich korrekte, aber im übertragenen Sinne stimmige Bild vom lecken „Ölfaß“ übersetzt). Öffnet Keller die Kunst zum technischen Fortschritt hin, ohne dessen rückschrittliche Seite zu erwägen, so antizipiert Kerner gerade diese und grenzt
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daher die Kunst von der neuen Zeit ab. Jeder der beiden argumentiert nach einer Seite hin triftig, nach einer anderen hin unzureichend, je nach Generationszugehörigkeit. Dergestalt ist der Kerner-Keller-Streit als Zeugnis einer epochalen Bewußtseinsgrenze aufschlußreich. Er ist dies auch in ästhetischer Hinsicht. Während es Kerner am Ende die Sprache verschlägt und des „Dichters Grolle“ nicht ohne Komik auf die neue Zeit, die „dampfestolle“, reimt, entwirft Keller zum Schluß eine Luftfahrt-Idylle von rosafarbener Naivität.401 Der junge Keller hat im übrigen sein Kunstverständnis vor Einseitigkeit geschützt, auch vor politischer. Dessen mag er sich im Nachhinein nicht immer bewußt gewesen sein. So gedenkt er beispielsweise in seiner autobiographischen Skizze von 1876/77 der Anfänge seines Dichtens wie folgt: Eines Morgens, als ich im Bette lag [Keller bezieht sich hier auf das Jahr 1843, G.S.], schlug ich den ersten Band der Gedichte Herweghs auf und las. Der neue Klang ergriff mich wie ein Trompetenstoß, der plötzlich ein weites Lager von Heervölkern aufweckt. […] Es war gerade die Zeit der ersten Sonderbundskämpfe in der Schweiz; das Pathos der Parteileidenschaft war eine Hauptader meiner Dichterei, und das Herz klopfte mir wirklich, wenn ich die zornigen Verse skandierte. […] Dennoch beklage ich heute noch nicht, daß der Ruf der lebendigen Zeit es war, der mich weckte und meine Lebensrichtung entschied.402
Nun, die „lebendige[ ] Zeit“ rief in Keller nicht schlichtweg „das Pathos der Parteileidenschaft“ wach. Herweghs Gedichte eines Lebendigen (erschienen 1843 und 1844) mögen ihm wie ein „Trompetenstoß“ ins Blut gefahren sein, zumal der Verfasser als politischer Flüchtling in Kellers Heimatstadt Zürich Aufnahme gefunden hatte, wie andere dichtende Emigranten aus Deutschland auch (vgl. unsere Einführung). Aber Keller hat seinem politischen Vorbild ein Gedicht gewidmet, das mehr ist als ein Echo auf diesen „Trompetenstoß“. Das Herwegh betitelte Sonett, erschienen 1846 in den Gedichten (Kauffmann, S. 58), setzt zwar ein mit dem für diesen Lyriker typischen Elan; auch Rhetorik und politische Metaphorik gemahnen an Herweghs mitreißende Entschiedenheit: Noch immer steht Zwing-Uri stolz gefirstet, Noch ist das Land ein kalter Totenschrein, Der schweigend harrt auf seinen Osterschein –: Zum Wecker bist vor Vielen du gefürstet!
Aber Herweghs Lyrik wird auch überraschend sinnlich als „Goldpokal“ präsentiert, angefüllt mit dem „jungen Wein“ eines „gute[n] Jahrgang[s]“, dem man entsprechend zugesprochen habe: eine für Keller bezeichnende Metaphorik, die, bei allem Interesse am Politischen, seine Lust am Genuß anklingen läßt, am ästhetischen Probieren von gelungenen Versen und kultivierten Weinen gleicherweise. Keller wünscht seinem politischen Vorbild, er möge mit seiner Lyrik noch mehr von diesem ästhetisch-
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sinnlichen Doppelgenuß einfangen, sobald nur „Zwing-Uri“, das Sinnbild des reaktionären Sonderbundes, bezwungen ist: Dann soll Dein Lied, das uns nur Sturm gesungen, Erst voll erblühn in reicher Frühlingspracht! Nur durch den Winter wird der Lenz errungen.
Herweghs Lyrik, so Kellers These, hat nach den politischen Aufrufen und militanten Fanfarenstößen ihre eigentliche Blütezeit noch vor sich – Lyrik als Kundgabe eines neuen reicheren Lebens im Geiste der Freiheit und des Friedens, der Muse und der Brüderlichkeit. Politik ist allerdings nur eine Komponente in Kellers Jugendlyrik. Und sie ist, wie andere Komponenten auch, einer genuin ästhetischen Macht unterworfen: der Phantasie. Ihr hat Keller ein eigenes lyrisches Denkmal errichtet. Winterspiel Verschlossen und dunkel ist um und um Mein winterlich Herz zu schauen; Doch innen, da ist es leuchtend und hell Und dehnen sich grünende Auen. Da stell‘ ich den Frühling im Kleinen auf Mit Rosengärten und Bronnen18, Und spann‘ ich ein zierliches Himmelsgezelt Mit Regenbögen und Sonnen. Da entzünd‘ ich Morgen- und Abendrot Und lasse die Nachtigall schlagen, Schlank gehende, blühende Jungfräulein Meergrüne Gewänder tragen. Dann ändr‘ ich die Szene, dann lass‘ ich mit Macht Den gewaltigen Sommer erglühen, Die Schnitter19 auf goldenen Garben ruhn, Blutrot das Mohnfeld blühen. Dann plötzlich erhell‘ ich mit Wetterschein Mein Herz und füll‘ es mit Stürmen, Lass‘ Schiffe und Männer zu Grunde geh’n, Dann „Feuer“ auf Bergen und Türmen! Hei! Revolution und Mordgeschrei Mit Galgen und Guillotinen! Geköpfte Könige, wahnsinnig‘ Volk, Convente und Höllenmaschinen!
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Poetisch: Brunnen, Quelle. Person, die Getreide schneidet.
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Nun ist mein Busen der Greveplatz20 Voll Pöbels und blutiger Leichen; Ich sehe mich selber im dicksten Gewühl Entsetzt und todblaß schleichen. Es wird mir so bang‘, kaum find‘ ich die Kraft, Den Gräuel noch wegzuhauchen; Braun dämmert ein Moor, ich liege tot, Wo verlassene Trümmer rauchen. Wie alles so stumm und erstorben ist, So trag‘ ich mich schweigend zu Grabe Und pflanz‘ ein schwarzes Kreuz darauf, Das ich selber gezimmert habe. Ich schreibe darauf: Hier ist in’s Gras Ein spielender Träumer gekrochen; Wohl ihm und uns, wär‘ die Welt von Glas, Er hätte sie lange zerbrochen!403
Das Gedicht ist im Geiste eines poetischen Experiments organisiert.404 Das lyrische Ich rettet sich aus winterlicher ‚Verschlossenheit‘ und ‚Stummheit‘ durch das Spiel der Imagination. Die erschafft zunächst (in Strophe II) einen Rokoko-Frühling mit „Rosengärten“ und „zierliche[m] Himmelsgezelt“ und entzündet darin eine Szenerie der Romantik (Strophe III), ehe sie einen „gewaltigen Sommer erglühen“ läßt (Strophe IV); vielleicht von der Glut des Sommers und seinem Wetterleuchten verführt, vielleicht auch eingedenk der „Stürme[ ]“ des baldigen Herbsts, ersinnt die Phantasie ein in Zerstörung und Tod explodierendes Spektakel (Strophe V), und es mag die verheerende Wirkung der Naturgewalten sein, die ihr nun das Blendwerk politischer Gewalten vor Augen rückt: die Phantasie bemächtigt sich der Französischen Revolution (Strophe VI und VII). „Galgen und Guillotinen“ und „blutige[ ] Leichen“ sowie der Greveplatz in Paris als Stätte der Hinrichtung König Ludwigs XVI. – all das trifft in der Einbildungskraft des Ichs zusammen. „Die Phantasie an die Macht“ – das berühmte Wort des Novalis würde die Intention des Keller’schen Gedichts präzise treffen, wenigstens bis zur siebten Strophe. Der kalkulierte Wechsel der literarischen Reminiszenzen und die Evokation von Natur- und politischen Gewalten bezeugen die unbeschränkte Souveränität der Einbildungskraft: die „Reichsunmittelbarkeit“ der poetischen Phantasie, um einen Begriff Kellers zu zitieren.405 Sie erlaubt die Montage des Disparaten – ein Grundprinzip moderner Kunst, das Keller antizipiert. Aber die Verfügungskraft dieser Phantasie enthält in sich selber einen dialektischen Umschlag: sie wird Opfer ihrer 20
Ehem. Name der Place de l’Hôtel de Ville in Paris; bis 1793 und von 1795–1830 Hinrichtungsstätte.
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eigenen Erfindung. Das lyrische Ich geht in den „Gräuel[n]“ und „Trümmer[n]“, die es heraufbeschworen hat, seinerseits zugrunde und trägt sich am Ende selber zu Grabe. Die Dynamik der selbstherrlich verfügenden Phantasie entfesselt einen zerstörerischen Narzißmus, so als müßte das Ich sich im Spiegel seiner eigenen Bilderproduktion verlieren, wie Narziß im Spiegelbild seiner selbst. Das Experiment des phantasierenden Selbst mit den Bruchstücken seiner Bildung, literarischen, naturkundlichen und politischen Bruchstücken, verläuft ebenso produktiv wie verhängnisvoll. Die Schlußstrophe krönt das Verhängnis mit einer unüberbietbaren Pointe. Der „spielende[ ] Träumer“ würde, „wär’ die Welt von Glas“, nicht nur sich selbst, er würde die ganze Welt zerbrechen. Das ist die pessimistische Umgestaltung des Finales der Erstfassung, wo das lyrische Ich auf die winterlichen Phantasiespiele den ‚Dichter im Großen‘ folgen ließ: der neue Frühling sollte ihn mit erhöhter Schöpferkraft begaben. Im Wandel der Schlußstrophen zeichnet sich die Wandlung von der vormärzlichen Emphase des schrankenlosen Ich-Experimentators zum kritischen Augenmaß des ‚Bürgerlichen Realismus‘ ab.406 Damit ist keineswegs das kreative Spiel der Phantasie in Verdacht geraten. Es bewährt sich als Gegenkraft gegen winterliches Elend, gegen das Leiden „in dürftiger Zeit“ (Hölderlin). Gefahr droht jedoch dann, wenn die Phantasie unbedenklich alles zum Material ihres Spieltriebs macht, auch eine weltbewegende Revolution und die mit ihr verknüpften Drangsale und Qualen der betroffenen Menschen. Das lyrische Ich bereitet sich all das zum puren ästhetischen Genuß auf, ohne sich auch nur eine ethische, politische oder geschichtsphilosophische Frage zu stellen, so als sei es ein Wesen ohne Substanz, eine reine Durchgangsstation für dramatische Eindrücke. Keller hat im Grünen Heinrich die Gefahren einer schrankenlosen Phantasie in der Kindheit seines Helden ausgeleuchtet. „Das spielende Kind“, wie ein Kapitel der Zweitfassung überschrieben ist, erfährt die Folgen einer schweifenden und ausschweifenden Phantasie, die jeglicher Anleitung entbehrt, schmerzhaft am eigenen Leib. Seine imaginative Schöpferkraft verquickt sich mit einem heillosen Herrschafts- und Destruktionstrieb. Wohl erst dank der in diesem Roman geleisteten Reflexion konnte der Lyriker Keller seine Schlußstrophe entscheidend abwandeln: an die Stelle der narzißtischen Geste der Erstfassung, die der ungebrochenen Selbstbekundung und Selbstverherrlichung des lyrischen Ichs dient, tritt in der Zweitfassung der reflektierende Erzähler, der in den beiden letzten Zeilen das Ich mit harscher Kritik verabschiedet. Freilich, dieses kritisierte Ich ist nur für das wirkliche Leben eine Gefahr. Im Raum der Kunst bleiben seine Zerstörungsphantasien folgenlos, sind sie ein Spiel der poetischen Einbildungskraft, nicht mehr. Das destruktive Potential,
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das im Gattungswesen Mensch angelegt ist, wird im künstlerischen Schaffensprozeß zu spielender Phantasie oder zum phantasievollen Spiel sublimiert. Im Bereich der Kunst ist die Chance zur Humanisierung der Lebenswelt gegeben. Der junge Keller hat diese Humanisierung häufig in den Formen der Dissonanz und Diskordanz erprobt – schließlich galt es, gegen den konservativen und jesuitisch eingefärbten Sonderbund die Republik durchzufechten. Eines seiner Vorbilder war der Maler Disteli, derselbe, der Kellers sogenanntes ‚Jesuitenlied‘, seine erste Gedichtpublikation überhaupt407, illustriert hatte. Nicht zuletzt deshalb hat Keller seinem Illustrator anläßlich seines Todes wenige Wochen später einen Nachruf folgen lassen: Auf Maler Disteli’s Tod (ursprünglich Auf Martin Disteli’s Tod 408). Die Karikatur als ein bevorzugtes Darstellungsmedium Distelis wird in diesem Nachruf als angemessener Träger politischer Polemik gewürdigt. Der reaktionäre Gegner wird in erbärmlichen Tiergestalten vorgeführt und als der „Bodensatz in einer Republik“ gegeißelt. Während anderen Völkern, z.B. den Deutschen, „im Genick“ die spätabsolutistische Tyrannei „laste[t]“, leistet sich die zur republikanischen Staatsform berufene Schweiz den Luxus stockkonservativen Unwesens, einen Hexen-‚Sabbat‘ von Jesuiten, „Spießbürger[n]“, Pfahl- und Unbürgern. Keller läßt die polemische Karikatur des Malers wiederaufleben, um sie den Schweizer Mitbürgern als sein eigentliches Vermächtnis zu überantworten. Die Schlußzeile – „Und fluchend steht das Volk vor seinen Bildern.“ – pointiert dieses Vermächtnis. Der republikanisch gesinnten Schweiz ist es aufgetragen, den Fluch, den ihr Distelis Bilder entlocken, in Taten umzumünzen. Man wird Kellers Würdigung einer operativen Ästhetik, die auf das Praktische und Allgemeine gerichtet ist, keineswegs mit dem Kunstverständnis seiner Frühzeit insgesamt gleichsetzen dürfen. Gewiß, die Phantasie als eine zentrale Kraft seiner Poetik ist auch im Nachruf an den Freund und Maler gegenwärtig, ist sie es doch, die den politischen Gegner in volkstümlichen Karikaturen, der Tierwelt entlehnt, einfängt. Diese Phantasie kann aber auch ganz andere, sozusagen aristokratische Wege einschlagen, auf denen der Schriftsteller seine Ferne zum Volkstümlichen, vielleicht gar sein unpraktisches Tun und Treiben wahrnimmt. Poetentod lautet der Titel eines der Gedichte, die eine ‚aristokratische‘ Poetik zum Vorwurf haben. Keller hat diese Poetik aus der ersten Fassung in den Gedichten409 in die kürzere, hier zitierte Zweitfassung der Gesammelten Gedichte410 übernommen. Der seinem Tod nahe Dichter blickt zurück auf das Gebäude seiner Kunst, auf „dieses Hauses Herrlichkeit“, das er auch sein „Königshaus“ nennt, von dem aus er „keck und sicher seine Welt regier-
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te“, eine Welt, in der des „Herdes Weihrauchflamme“ brannte und die „in Weihgefäßen auf Gesimsen glänzte“ – zur Aristokratie des Ästhetischen gesellt sich ein beinah sakrales Bewußtsein: die Kunst ist auf die Hingabe, die ausschließliche, des Künstlers angewiesen. Kein Wunder, daß die Wirkung dieser hohen Kunst ungewiß und unbestimmbar ist – „Mein Lied mag auf des Volkes Wegen klingen“ –, kein Wunder, daß möglicherweise nur ein Unbekannter, „vielleicht im Schülerkleid“, sie auffinden wird, kein Wunder, daß sie wohl kaum Tradition, jedenfalls keine Familientradition stiften wird: So löschet meines Herdes Weihrauchflamme Und zündet wieder schlechte Kohlen an, Wie’s Sitte war bei meiner Väter Stamme
Zur Verdeutlichung der Einmaligkeit des künstlerischen Schaffens hatte die Erstfassung im Hinblick auf Sohn und Tochter die Strophe beigefügt: Drum sollt ihr meinem Sohn das Leben gründen, Gebt ihm ein Handwerk, oder auch ein Schwert: Und du, mein Mädchen! wirst den Freier finden, Der dich in Lieb’ und Treuen redlich nährt.
Die Kunst ist mit wohlbestellter Bürgerlichkeit durchaus nicht im Bunde; sie bürgt nicht für Redlichkeit und Lebensfürsorge, hat weder ‚goldenen Boden‘ wie das Handwerk, noch Siegesaussichten wie der Krieger. Sie ist um der Schönheit willen, nicht praktischer Erfordernisse wegen da, wie eine von der späteren Fassung ferngehaltene Strophe überdeutlich verrät: Dann aber mäht die Rosenbüsche nieder Und brechet meine grünen Lauben ab! Der Boden trage Kohl und Rübe wieder: – Nur Eine Rose laßt auf unserm Grab!
Was kann da Kunst noch leisten? Vielleicht stärkt sie die seelische Widerstandskraft der wenigen einzelnen, die sie suchen und in ihr „die Heilkraft wider der Vernachtung Leid“ finden. Denn die Kunst ist eingeweiht in „das Leid der Erde“, das einhergeht „mit der Freude Traumgestalt“; „Phantasie“ aber und „Witz“ sind die ästhetischen Medien, in denen sie diesem Doppelgesicht befreienden Ausdruck verleiht. Gegen das Außenseitertum der Kunst und Schönheit streitet Keller in seinem Prolog zur Schillerfeier in Bern 1859411, wenn er das Ästhetische in einer allgemein verbindlichen sozialen Utopie zu verankern sucht. Rühmt die erste Hälfte dieses Prologs die zeitgenössische Schweiz und nennt das Vaterland „ein warm’ gebautes Haus“, preist sie die tapfere Selbstbehauptung der Schweizer auf dem Weltmarkt einerseits, ihr Ringen um „Vertrag und Recht, / Gesetz und Ordnung“ andererseits, so scheint
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doch „nur das erste Halbteil“ der eidgenössischen Geschichte „getan“. Die „andre schuld’ge Hälfte“ bleibt zu vollenden: Auf! schirrt die Wagen! bewimpelt eure Schiffe, In’s Reich der dunkeln Zukunft auszufahren, Ein einig durchgebildet Volk von Männern, Das redlich selbst sich prüft und kennt und dennoch In ungetrübter Frische lebt und wirkt, Daß seine Arbeit festlich schön gelingt Und ihm das Fest zur schönsten Arbeit wird!
Mit der jetzt anhebenden zweiten Hälfte der Schweizer Geschichte kommt Keller auch bei der zweiten Hälfte seines Prologs an. Sie ist der Schönheit – und damit Schiller, seinem festlichen Gegenstand – gewidmet. Der Schönheit hatte Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen ein Denkmal errichtet. An die zentrale Intention dieser Briefe erinnert Keller mit der Zeile: „Zur höchsten Freiheit führt allein die Schönheit“, ohne indes zu erläutern, wie Schiller (oder er selbst) sich diese Führung vorstellt. Unerläutert bleibt auch das schon zitierte „festlich schön[e]“ Gelingen der Arbeit. Keller nennt zwar verschiedene Arbeitsvollzüge, von der Predigt bis zum kaufmännischen Handel, aber der komplexe Schönheitsbegriff Schillers ruht nur wie ein Schemen auf ihnen. Keller zitiert lediglich das Resultat der Gedankenbewegung Schillers, das gerade deshalb abstrakt bleibt, aller Rühmung der Schönheit zum Trotz: Um Alle windet sie ein Zauberband, Das gleich uns macht im edlern Sinn des Wortes Wertvoll und fähig zu der Freiheit Zwecken.
Faßlicher wird dagegen, welche Bewandtnis es mit einer mißbrauchten Schönheit hat (mit der trügerisch-volksverblendenden des Despoten oder der eitlen des Narziß oder der täuschenden des schlechten Rhetors). Faßlicher auch, was Schönheit im Kunstwerk bedeutet, eine Kraft nämlich, […] die das Leben tief im Kern ergreift Und in ein Feuer taucht, d’raus es geläutert In unbeirrter Freude Glanz hervorgeht, Befreit vom Zufall, einig in sich selbst – Und klar hinwandelnd wie des Himmels Sterne!
Es ist dies die dichterische Umschreibung der Kunstauffassung des ‚Poetischen Realismus‘ in Kellers Epoche: das Leben wird vom Werk in stilisierter Widerspiegelung mit dem Schein einer höheren Notwendigkeit eingefangen. Am Beispiel des Wilhelm Tell deutet Keller alsdann an, daß man auch klassische Werke im Sinne dieses ‚Poetischen Realismus‘ verstehen kann. Das Drama Schillers – diese „hohe Schule / Der wahren Schönheit“ – stilisiert die Frühgeschichte der Schweiz zum Heldentum eines einzelnen wie auch eines Kollektivs, so daß sie zum Modell dient für die Gestaltung der künftigen Geschichte. Es handelt sich um jene „wahre Schönheit“,
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Die das Gewordene als edles Spiel verklärt, Das seelenstärkend neuem Werden ruft, Daß Dichtung sich und kräft’ge Wirklichkeit In reger Gegenspieglung so durchdringen, Wie sich, wo eine wärm’re Sonne scheint, Am selben Baume Frucht und Blüten mengen, Bis einst die Völker selbst die Meister sind, Die dicht’risch handelnd ihr Geschick vollbringen.
Verführerisch schön ist das Naturbild, in das Keller die wechselseitige Durchdringung von Dichtung und Wirklichkeit kleidet. Und doch wird dies Naturschöne nie das Sinnbild für ein „Volk“ sein. Kein Volk kann je eine harmonische Ganzheit darstellen, es wird vielmehr von den verschiedenartigsten Interessen bewegt sein, und keines wird je an der Kunst seine Handlungsmaximen ausrichten, sondern am komplizierten Gefälle der Realität. So aufschlußreich uns Kellers Schiller-Prolog erscheint als literarhistorisches Zeugnis für die fortwirkende Kraft der Goethezeit, so überholt war seine Verheißung: eine klassizistische Utopie! Und doch schien diese Utopie damals zeitgemäß zu sein, weil sie zwei gegenwärtigen Antriebskräften entsprang: der noch jungen Schweizer Demokratie, die zu schönen Hoffnungen berechtigte, und dem konkreten historischen Augenblick – dem Volksfest zu Ehren Schillers und der neuen Hauptstadt der Schweiz (Bern). Volksfesten, darin bestätigt uns auch Kellers Fähnlein der Sieben Aufrechten, war die Tendenz zur Verklärung der Wirklichkeit gleichsam eingeboren. Wenn Kellers Auffassung vom (Kunst-)Schönen dergestalt die Bereiche des operativen unmittelbaren Eingreifens, des aristokratischen Außenseitertums und der politischen Utopie umgreift, so äußert sich darin ihre Spannungsvielfalt. Der Prolog zur Feier von Beethovens hundertstem Geburtstag in Zürich 1870 differenziert diese Vielfalt412. Der prachtvoll-illusorische Faltenwurf der Schönheit im Schiller-Prolog wird nun, ein Jahrzehnt später, mit Skepsis zurechtgerückt. Der Beethoven-Prolog zeigt dies am Beispiel der Natur-Schönheit, genauer: der Nachtigallen. Die klangvollen Tiere ließen sich einst auf den napoleonischen Kriegsschauplätzen verheißungsvoll vernehmen, weil sie den militärischen „Streit für Frühlingslust, / Den Tod für holdes Minnen“ hielten. Entsprechend entfalteten sie die „Pracht“ ihres „schmelzenden Gesanges“, „als wär’ der schönste Lenz erwacht“, bis das tödliche Blei unversehens „durch ihre Brust“ fuhr. Ein „endlos langer Chor / Von blutenden Kohorten“ kontrastiert mit der Schönheit der Natur, von der so eindringlich Kellers Gedicht Der Taugenichts zeugte. Dissonante Kontraste klaffen auch inmitten der Geschichte auf. Die unberechenbare Aufeinanderfolge von „Glück“ und Untergang eines ‚Cäsaren‘, Napoleons I., ereignet sich erneut unter Napoleon III.,
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ausgerechnet zu Beethovens hundertstem Geburtstag. Die Geschichte steht unter einem destruktiven Wiederholungszwang: Und wieder haus’t des Sturmes Graus, Geharnischt führt der Tod hinaus Zahllose Völkerheere.
Deutlich spielt Keller hier auf den deutsch-französischen Krieg an. Das Aufeinandertreffen dieser beiden Ereignisse, des hundertsten Geburtstages von Beethoven und des Krieges von 1870/71, ist von beredter Symbolik. Die Geschichte steht der Kunst vollkommen gleichgültig gegenüber. „Wie Orgelton am Meere“ war Beethovens Eroica erklungen, stark genug, um die „Brandung“ der kriegerischen „Wogenheere“ zu übertreffen, aber nicht nachhaltig genug, um die Kriege selber zu verhindern. Beethoven hat ihnen seine „große[ ] Klage“ entgegengesetzt, jene Klage, die er dann in der 9. Symphonie in die Utopie der „Freude“ überführt hat, der Freude schöner Götterfunken, „den Sternen kühn entrafft“, wie Keller so eindringlich schön sagt: vergebens! Die politischen Katastrophen dauern fort, Geschichte und Kunst bleiben unversöhnt. Dergestalt errichtet Keller ein melancholisches Gegenbild zur frommen Utopie des SchillerPrologs. Die Deutschen als eine der Kriegsparteien brauchen sich ihres von Keller vorhergesagten Siegs nicht zu freuen. Würdig der großen Kunst Beethovens sind nur die an der Geschichtskatastrophe unbeteiligten Nationen, z.B. die Eidgenossenschaft: In gold’nem Frieden lassen wir Des Zaub’rers Lied ertönen.
Die utopische Kraft der Kunst ist einige Jahre später auch das Thema des lyrischen Dialogs Tod und Dichter 413. Die Phantasie ist der Ursprung dieser Kraft. In Tod und Dichter geht es um die Rettung dessen, der die Phantasie ins Werk setzt, ihren Schöpfer und Treuhänder. Der Tod, den diese Phantasie schon früh heraufbeschworen hatte, kreuzt erneut ihren Weg. In Winterspiel hatte sich Kellers lyrisches Ich qua Phantasie in den eigenen Tod verstrickt und nur mit Mühe sich ihm entwunden. In späteren Gedichten, die den Einfluß der Philosophie Feuerbachs verrieten, wurde der Tod als Lebensbegleiter ins Auge gefaßt und anerkannt – um des Lebens willen, das angesichts seiner Endlichkeit intensiv erlebt sein wollte. Nun, in Tod und Dichter, tritt der Tod allegorisch als selbständige Größe dem Leben gegenüber, als würde er unvermutet aus der Verborgenheit hervorkommen und das unwiderrufliche Ende ankündigen: Es ist Zeit! „Mache dich auf, aus ist der Traum!“ Es ist nicht das Leben allein, nach dem der Tod trachtet, es ist auch der Traum des Lebens, jenes Lebens, das die Phantasie zu träumen liebt und von dem der Dichter noch nicht lassen will:
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Halte weg die Sense! lasse steigen Meiner Irisbälle bunten Tanz!
Der „bunte[ ] Tanz“ der „Irisbälle“ zeigt es an: die Liebe der Phantasie gilt der Schwerelosigkeit und den musikalischen Rhythmen, den Farben und dem Lichterglanz: so hebt sie ästhetisch die Erdenschwere auf. Ist der Tod darauf eifersüchtig? Er bleibt unerbittlich und läßt sich auch nicht erweichen durch eine Lockung: daß der Dichter ihn zu preisen bereit sei als „Trost und Labsal alles Menschentumes“ und dergestalt den Ruhm des Todes mehre. Aber die Unnachgiebigkeit des Todes lockt zugleich den unerbittlichen Lebenswillen des Dichters hervor. Es kann einer noch so beredt den Tod als Lebensbegleiter anerkennen – wenn aus der Beteuerung Ernst wird, sträubt sich das Leben mit Haut und Haaren, mit allen Fibern und Fasern der Phantasie – sträubt sich und weiß sich zu helfen. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“414: es ist, als wollte der Dichter einer Idee Hölderlins auf die Sprünge helfen. Sein rettender Einfall beruht darin, dem Tod seine Phantasie produktiv vor Augen zu führen: Doch die lieblichste der Dichtersünden Laßt nicht büßen mich, der sie gepflegt: Süße Frauenbilder zu erfinden, Wie die bittre Erde sie nicht hegt!
Der Dichter spricht ein Prinzip aller Kunst aus: Sie erfindet, was die Erde ihm versagt, sie er-dichtet, was die Realität dem Leben vorenthält. Die Kraft der Sehnsucht zieht die unerfüllten Wünsche der Menschen ans Licht und verleiht ihnen Gestalt. Eine bloß fiktive Gestalt? Ist ästhetische Fiktion ‚bloße Einbildung‘? Schafft sie nur „Schemen“, wie der Tod mißbilligend vermerkt? Frauengestalten, die keine Spur hinterlassen im Leben und in der Welt? Nein, poetische Einbildungskraft ist die Kraft, Ersehntes und Erträumtes zum Bild zu machen und es der Welt aufzuprägen. Warum der Welt? Handelt es sich nicht einfach um Papier, um schwarze Lettern auf weißem Grund? So behauptet der Tod, der Dichter aber weiß es anders. Seine Frauenbilder leben zumindest im Verborgenen: Sind sie nicht auf diesem kleinen Sterne, Blüh’n sie doch wo in der Weltenferne, Blut von meinem Blute; zu verderben Bin ich nicht, eh’ jene sterben!
„Blut von meinem Blute“: was die Einbildungskraft erzeugt und dem Papier anvertraut, ist mehr als das Geflecht von Lettern, ist das ungelebte Leben des Dichters, ist der Gehalt und die Gestalt seiner Sehnsüchte und Wünsche, vielleicht auf Erden, „auf diesem kleinen Sterne“, niemals heimisch, aber „in der Weltenferne“ als Idealbild des Eros gegenwärtig. Jedenfalls ist es „Blut von meinem Blute“ und erzeugt Gestalten, die in die
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Einbildungskraft anderer, der Leser, einströmen, in ihren Träumen verkehren, ihre Hoffnungen nähren, ihr Selbstbild durchpulsen. Damit, mit dieser schaffenden und Leben zeugenden Erfindungskraft, hat der Tod nicht gerechnet. Kann er überhaupt den Lebensnerv des Dichters treffen, solange dessen Bilder am Leben sind? Ei, da fahr’ ich hin, sie wegzumähen, Und sie müssen gleich mit dir vergehen!
Ein schlechthin unmögliches Unterfangen! Wie kann der Tod Bilder hinwegschaffen, deren Existenz auf dem Papier verbürgt, ja verewigt ist? Und die aus dem Papier jederzeit, unter dem Anhauch des lesenden Geistes, ins Leben treten können? Einmal, irgendwann wird der Tod dessen inne werden und sich vom Dichter nicht noch einmal „in die Erdbeeren“ schicken lassen, wie Keller es humoristisch formulierte in einem Brief an Theodor Storm415, will sagen: nicht noch einmal sich täuschen und abweisen lassen. Dann ist des Dichters Spiel „in des Lebens Fluten“ endgültig zu Ende; die Gestalten seiner Einbildungskraft jedoch werden weiterleben als ‚Blut von seinem Blute‘, als die Zeugen seines Erdenlebens. So ist Kellers Dialog mit dem Tode unter anderem die freie Variation einer Utopie von Goethes Faust: Es kann die Spur von meinen Erdentagen Nicht in Äonen untergehen.416
– und so auch ein kleines Denkmal für die Überlebenskraft der Kunst.
XIV. Volkstümliches und Volksliedhaftes Von Weibern. Alte Lieder. 1846417 Eine überzeugende Würdigung ist dem Zyklus des jungen Keller bislang nicht zuteil geworden, auch nicht von der neueren Forschungsliteratur. Es sei daher versucht, einige zyklische Kompositionselemente dieses frühen Werks zu bestimmen: formprägende wie die bewußte Nachahmung des Volkslieds oder die leitmotivische Verwendung einer Farbe; thematisch auffällige wie die weibliche Unschuld, die lockende Frau und die Umkehrung der Geschlechterrollen; zwischen Form und Thematik vermittelnde Elemente wie die Konstruktion eines schwebenden Sinns bzw. eines doppelten Bodens.418 Keller hat in einer späteren Fassung seinem Zyklus den Titel Alte Weisen gegeben und darin einige Änderungen vorgenommen – ein Indiz für seine handwerkliche Sorgfalt und für die Wandlungen seines Stilempfindens. In einigen Fällen haben wir uns auf die Zweitfassung gestützt, sofern sie uns ,geglückter‘ als die ursprüngliche zu sein schien (vgl. Anmerkung 417). Keller knüpft mit seinem Zyklus an jene literarische Tradition an, die Herder und Goethe in ihrem frühen Schaffen gestiftet, Achim von Arnim und Brentano mit Des Knaben Wunderhorn fortgeführt hatten: die Tradition der Volkslied-Erneuerung und des kunstbewußten Spiels mit dem Volkslied.419 Uhland, Heine, Mörike hatten den Volksliedton ihrerseits angeschlagen und ihrer Lyrik damit einen Anschein von Naivität verliehen, hinter dem ‚sentimentalische‘ Bewußtseinslagen anklangen. Mit dieser Zwiegesichtigkeit spielen auch Kellers Alte Lieder. Noch die anscheinend naivsten dieser ‚Lieder‘ haben einen doppelten Boden oder einen verborgenen Haken. Hier und da deckt Keller den zweiten Boden im Verlauf des Gedichts auf, dann wieder verdeckt er ihn oder deutet ihn nur an, selten erzählt er das Geheimnis von Beginn an. Ob er es nun offenlegt oder nur darauf anspielt – stets ist dieselbe kunstbewußte Volkstümlichkeit am Werk. Ehe beispielsweise die Lor’ „ihrer Stimme Getön“ erklingen läßt (II. Die Lor’ sitzt im Garten)420, verbirgt sie mancherlei, vor allem ihre beredsamste Sprache – „der Augen / Himmlischen Strahl“. Dafür weht ihr „goldbrauner Haarwuchs / […] über den Zaun“, vielversprechend, als stammte er aus der Natur selbst oder als wehte er der Loreley zum Ge-
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denken im Garten fort.421 Anscheinend ist die Natur mit dem weiblichen Antlitz innig verwachsen. Der Betrachter schlägt daraus poetisches Kapital. Er spricht – in der Zweitfassung des Gedichts – vom Mund und Kinn der Schönen, als wären sie eine Art Gartenflor: Den Rotmund, das Weißkinn Doch läßt sie nicht schau’n.
Kann etwas mehr die Sehnsucht erregen als das in der Verborgenheit Gehaltene, als „Rotmund“ und „Weißkinn“? Wenn aber das Auge seine Neugier nicht stillen darf, nimmt das Ohr umso hingebungsvoller jeden Klang auf. Das Geheimnis der halb verborgenen Schönen schlägt seinen Sitz ganz und gar in „ihrer Stimme Getön“ auf und wird zum zaubrischen Glockenspiel: O du boshafte Hexe, Wie klingt es so schön!422
Ob die Magierin den Betrachter in ihrem Rücken ahnt und deshalb ihr Geheimnis ins goldbraune Haar und in die Stimme verlegt, bleibt verschwiegen. Es bleibt das unauflösliche Rätsel dieser ‚alten Weise‘. Weniger rätselhaft scheint Röschen biß den Apfel an423. Beim Verzehr des Apfels „brach und blieb ein Perlenzahn / In dem Butzen stecken“. Was ist natürlicher, als daß ein unwiederbringlich verlorener Zahn Tränen hervorruft? Aber „Tränen ohne Unterlaß“? Und so kostbar ‚perlende‘ Tränen, als müßte sie mit dem einen „Perlenzahn“ den bevorstehenden Verlust weiterer Zähne, ganzer Zahnreihen betrauern?424 Das „gute Kind“ findet sich unversehens an der Schwelle zur reiferen Jugendzeit, jener Schwelle, da ihr die Preisgabe ihrer Kindlichkeit bevorsteht. Im kostbaren Perlenzahn drängt sich ihr der unvermeidbare Verlust ihrer Unschuld auf, eingefangen im uralten Symbol des versehrten und verzehrten Apfels. Keller spricht diese Lesart nicht aus, eher verheimlicht er sie mit spielerischer Hand. Eben darin beruht die Lust des Lesens, das die Schwebe zwischen einer einfachen Geschichte und tieferer Bedeutung, zwischen Anekdote und Mythos auskosten darf, ohne sich entscheiden zu müssen. Der späte Keller wird in seiner Prosa dem Leser manche Kostprobe davon geben. Keller hat die skizzierte Mehrdeutigkeit auch in anderen ‚alten Liedern‘ erprobt, so gleich eingangs in Klärchen (I.)425. Die den „schlanke[n] Husar“ lockende Frau weist diesen am Ende wieder zurück. Warum? Sein „grobes Tier“ hat ihren „Reseda“ abgeweidet. Ist dieser Akt ganz sinnlichkonkret gemeint oder spielt er auf eine erotische und sexuelle Grobheit an? Hat die Gartenblume der jungen Frau oder die Blume ihres Eros Schaden genommen? Der Rappe – ist er nur Tier oder „Symbol der feurigen Leidenschaft des Jünglings“?426 Die Besonderheit – und der Reiz – des Gedichts besteht gerade darin, daß es die Schwebe zwischen den möglichen Bedeutungen nicht auflöst427, ähnlich wie es die „Lieb’“ des Klär-
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chen ungeklärt, Klaras Verhalten bewußt im – Unklaren läßt. Keller treibt ein virtuoses Spiel mit dem weiblichen Vornamen, der auf lateinisch clara (klar, glänzend, hell) zurückgeht. Nur die Augen der Frau glänzen „wie der Himmel so klar“; nur auf die Bewahrung ihrer „strahlenden Sternaugen“ kommt es ihr letztlich an. Ungreifbar dagegen bleibt, was sie mit dem Husar und was er mit ihr angestellt hat. Schlichtheit und Knappheit des Volkslieds, das Keller nachahmt, entpflichten ihn von Konkretisierungen und Klarstellungen. So eröffnet er der Phantasie des Lesers einen offenen Spielraum. In diesem Spielraum hält er auch ein offenbar ganz „frommes Kind“. Ja, er hat den Spielraum zwischen erster Fassung (XIII. Sabine) und zweiter (X. Das Gärtlein dicht verschlossen428) noch erweitert. „So eng verwachsen“ sind die „Heckensprossen“, daß die „Unschuld des frommen Kinds“ dahinter wohl verwahrt ist: sie ist reinster „Lilienschimmer“! Das Sinnbild aller Unschuld – die Lilie – leuchtet in seinem ganzen Glanz auf. Und wird eigens bekräftigt durch ein weiteres Sinnbild: „weißer Schnee“. Wer möchte noch zweifeln an der Frömmigkeit und der undurchdringlichen Unschuld des Kindes? Nur der Schalk, der in Kellers Feder sitzt und das lilienfarbene, schneeweiße Paradies mit einem Wunschbild, einem erotischen, verknüpft; listig tut er so, als entspräche das Bild dem Geist der heiligen Maria: Als hätt’ der gnadenreichen Maria reinste Hand Im Sonnenschein zum Bleichen Ihr Hemdlein ausgespannt.
Gesetzt, es wäre so, es läge da ein Hemdlein, unschuldig wie Lilien und weißer Schnee: wie stünde alsdann die Trägerin des bewußten Hemdleins da? So, wie sie es selbst oder wie es der lyrische Betrachter gern hätte? In jedem Fall wie von Natur geschaffen und belassen! Das Spiel mit der Farbe Weiß – wir verfolgen es erneut im Kapitel Artistenspiele – hat Keller vom Perlenzahn im Röschen-Lied über das LilienSchnee-Bild und den Hemdlein-Zauber hinaus vielfach intoniert, so daß diese Farbe ein Kompositionselement der letzten Zyklus-Gedichte wird.429 Das Weiß herrscht zum Beispiel in Sibylla (XIV.)430 vor, wenn „alt[e] Jungfern“ ihr Linnen nachts „am Sternenschein“ „bleichen“, während am Tage Sibylla ihre Linnen-Herrlichkeit „an der Sonnen“ ausbreitet, wo es wie ein Himmelstuch glänzt und wie „der weiße Schnee“. Der Bräutigam jedoch, anstatt Sibylla zur Hochzeit in die Kirche zu geleiten, muß die unversehens Verstorbene auf dem Kirchhof begraben. Die weiße Farbe ist aus der Unschuld unvermittelt in den Tod hinübergeglitten, den Lilien gleich, die beides, Unschuld und Tod, bezeichnen. Hier dominiert nicht
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mehr die Schwebe zwischen zwei Bedeutungen, sondern deren polare Verschlingung – ein anderes Kompositionsmittel Kellers. Unmittelbar darauf verleiht Creszenz (XV.)431 der Farbe Weiß eine weitere Bedeutungs-Nuance. „Kalt und fern“ glänzt der „weiße Mond“, aber „ferner“ noch „schimmert“ der „Stern“ der „Schönheit“ des Mädchens. Ihrer „Jugend Land“ ist längst entschwunden, ihres „Glückes Grund“ weit entrückt. Die schöne Farbe der Unschuld ist gleichsam erbleicht, die Reinheit unbefleckt, aber auch unerfüllt, glücklos geblieben. Der Himmel, der dem Mädchen offensteht, ist so „kalt“ wie der Mond der ersten Verszeile, er kann ihr das auf Erden vorenthaltene Liebesglück nicht ersetzen. So sitzt sie dort oben in einem „Silberschleier“, in vollkommener steriler Reinheit der Betrachtung ihrer „weißen Hände“ hingegeben, Bis irgend eine Harfensaite springt Und mir erschreckend durch die Seele klingt.
Das Unglück der Unschuld dauert nach dem Tode noch fort, der Himmel bleibt die Erlösung schuldig432: dieser Umschlag eines sittlichen Werts in die Negativität des ungelebten, unerlösbaren Lebens kristallisiert sich in ein- und demselben Weiß. Offenbar hat Keller hier einer Wunsch-Angst Ausdruck verliehen. Darauf lassen seine Variationen dieser Seelenlage schließen. „Ich fürcht’ nicht Gespenster“, sagt zwar das lyrische Subjekt in Walpurgis (IV.)433 tapfer, „keine Hexen und Fee’n“, aber ein Exemplar dieser Gattung macht ihm gewaltig zu schaffen: Am Wald, in dem grünen Unheimlichen See, Da wohnet ein Nachtweib, Das ist weiß, wie der Schnee.
Das „Weiß“ erglänzt in dämonischer Reinheit. Es fordert die „unschuldige Zier“ des Ichs heraus, mehr noch: es steht für dessen heimliche, uneingestandene Begier. Daher die verlockende Nacktheit des Nachtweibs, die dem Ich alle Sinne verrückt434: Jüngst, als ich im Mondschein Am Waldwasser stand, Fuhr sie auf ohne Schleier, Ohne alles Gewand! Es schwammen ihre Glieder In der taghellen Nacht; Der Himmel war trunken Von der höllischen Pracht.
Das lyrische Subjekt sieht seine Begier in leuchtendem Weiß vor sich, vom Mondschein beglänzt, als ob die Nacht taghell wäre. Am trunkenen Himmel spiegelt es seine eigene Sinnberückung, Sinnverzückung, ohne sich dessen bewußt zu werden. Es spaltet sein Triebleben, seine „höllische[ ]
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Pracht“, von sich ab und bewahrt sich seine dürftige „unschuldige Zier“. Die Angst der Keuschheit läßt den sinnlich-unkeuschen Wunsch untergehen: Aber ich hab’ entblößet Meine lebendige Brust; Da hat sie mit Schande Versinken gemußt!
Auch in anderen „alten Weisen“ macht das lyrische Subjekt keinen Hehl aus seiner widersprüchlichen Haltung gegenüber dem schönen Objekt des Begehrens. Und wiederholt bezieht es eine kritische Distanz dazu und überläßt sich schließlich einer negativen Wertung. In Kunigunde (XII.)435 heißt es über das einst vielumworbene Köhlerweib, „die feinste Blume“ im Land: „Sie trat in Gürtelketten / So stolz einher; / Den Bräutigam zu wählen / Fiel ihr zu schwer!“ Die Rede ist vom narzißtischen Stolz einer Schönen, die sich lieber in den Werbungen vieler spiegelt als sich auf die Wahl eines Einzigen zu beschränken. Keller sollte diesem selbstverliebten und herrschaftlichen Stolz der Frau in seinem eigenen Leben begegnen, unter Qualen begegnen436, und das Bedürfnis, sich dafür zu rächen, war ihm nicht fremd geblieben. Das Dahinwelken einer einst schönen Frau mochte diesem Bedürfnis entsprechen. Es ließ sich zwanglos mit einer poetischen Tradition, einem bekannten Motiv des petrarkistischen Liebessonetts, verschränken: der allzu späten Reue der alternden Frau über die einstige Zurückweisung des werbenden Mannes. Die stolze Narzissin in Kunigunde muß gleich doppelt büßen für ihren Unwillen, sich auf einen „Bräutigam“ ihrer Wahl festzulegen: durch die Ehe mit einem Köhler, einem sozial geringgeschätzten Arbeiter, und durch Trunksucht. Ironisch läßt Keller die Nase der Trinkerin im „Abendstrahl“ „wie wilde Rosen“ erglühen, das Rosenmotiv der literarischen Romantik gleichsam entzaubernd. Ironisch und doch nicht ohne tragischen Beiklang erschallt jetzt auch der „gellend[e]“ Gesang der Vereinsamten im menschenleeren Wald. Es kennzeichnet den Zyklus Kellers, daß die in Kunigunde evozierte Thematik auch die Gedichte V.–VIII. durchzieht: Ännchen437, Agnes438, Salome439 und Helene440. Dergestalt wird aus dem Herrschaftsbegehren der Frau ein Leitmotiv, das Keller mit der Lust an der Variation durchspielt. Er intoniert es in Klärchen (I.), wo das launische Fräulein einen Liebhaber fortjagt, und instrumentiert es dann vielfältig: In Ännchen beutet die Frau einen Kaufmann und einen Gärtner gezielt einem „Betteljung[en]“ zuliebe aus; in Agnes liebt die von einem Schreiner begehrte „Maid“ einen anderen und läßt sich von dem Glücklosen ein Hochzeitsbett und eine Wiege anfertigen – die Krönung seines Elends; in Salome will die junge Frau vor allen „Jungfrau’n im Land“ demonstrieren, daß sie einen „stolzen Mann“, den
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„Schönsten“ weit und breit, zu zähmen wisse, und zwar aggressiv durch das „feurig[e] Schwert“ der Liebe;441 in Helene erklimmt der weibliche Zähmungswille den Höhepunkt: Zug um Zug entzaubert eine Bauerntochter den „hohe[n] Krieger“, der ihr „sein Herz […] ergab“ und beraubt ihn seiner männlich-heroischen Attribute: „Euer Schwertgriff muß lassen / Für mich Gold und Stein, / Und die blitzende Klinge / Wird ein Schüreisen sein.“ Indem die Landfrau des Kriegers Waffe zum Schmuck ihrer selbst und zum häuslichen Verwertungsinstrument umschafft, entmännlicht sie den Mann und tritt ihrerseits die Herrschaft an. Keller führt diese Umkehrung der Geschlechterrollen mit sichtlichem Vergnügen an der Pointe vor. Volkstümlich daran ist, daß die Symbole männlichen Stolzes flugs umgetauft werden zum Zubehör von Herd und Haus. Und daß die Frau – dem Volksglauben gemäß – sich als Hexe geriert, die des Mannes Seelenheil entwendet. Mit Leib und Seele soll er sich ihr ergeben, dem „heiligen Christ“ zum Trotz. Ironisch zitiert Keller den volkstümlichen Höllenwahn: „Seid der Liebe verfallen / Und verpfänd’t euer Blut! / Müsset leiden und brennen / In ewiger Glut!“ All das geschieht zwar nur in der Phantasie der Frau, aber gerade die Phantasie kann kompromißlos die Rebellion des unterdrückten Geschlechts zum Ausdruck bringen – im Unterschied zur praktischen Begegnung der Geschlechter.442 Kontrapunktisch zu den poetischen Variationen des weiblichen Herrschaftsbegehrens hat Keller die Stimmen-Vielfalt der gefährdeten, verlorenen, sehnsüchtigen, scheinbar unzugänglichen, betrogenen Unschuld laut werden lassen, von leitmotivischer Bedeutung auch sie: in Röschen (IX.) der bevorstehende Verlust der Unschuld443, in Gretchen (X.)444 die verführte Unschuld, eine volkstümliche Reprise des Gretchen-Schicksals aus Goethes Faust, in Das rote Bärbchen (XI.)445 die ungeliebte Unschuld, die sich in Sehnsucht nach einem Geliebten verzehrt446, in Sabine (XIII.) die „dicht verschlossen[e]“ Unschuld, die gegen jede Lockung gefeit scheint447, in Sibylla (XIV.) die kurz vor der Hochzeit vom Tod ereilte Unschuld448, in Creszenz (XV.) die unverführte Unschuld, die sich erschrocken ihres unerfüllten Lebens bewußt wird.449 – Die bedrohten, die verführten, die unverführten, die unerfüllten Gestalten der Unschuld – ihnen ist das Unglück gleichsam auf die Stirn geschrieben (nur Sabines Schicksal ist noch ungeklärt), und man wird sagen dürfen, daß auch das siegreich bestandene Abenteuer der „unschuldige[n] Zier“ in Walpurgis (IV.) ein Pyrrhus-Sieg ist. Wie immer die Unschuld sich anstellt, was immer ihr widerfährt – es schlägt ihr nicht zum Segen aus. Mal verrät sie die Spuren des ungelebten, mal des verfehlten Lebens, in jedem Fall rückt Keller sie ins Zwielicht der glücklosen Geschlechterbegegnung. Diese skeptische Optik Kellers fällt auch in den Gedichten auf, die den Beginn seines Zyklus markieren und von der Lockung der Geschlech-
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ter handeln. Während in Klärchen (I.) die Frau den Mann vergeblich lockt, verliebt sich in Die Lor ’ sitzt im Garten der Mann aus unüberbrückbarer Distanz in die lockende Erscheinung der Frau; in Walpurgis (IV.) widersteht der Jüngling450 einer weiblichen Lockung, indem er seinen Eros verleugnet. Aber nicht allein die leitmotivisch erklingenden Stimmen der Lockung und der (angefochtenen) Unschuld lassen Untertöne der Vergeblichkeit und des Unglücks vernehmen, auch die des weiblichen Herrschaftsbegehrens tun es. In einen „Tränenstrom“ stürzt Agnes ihren Schreiner (VI.), ein „feurig’ Schwert“ muß der künftige Geliebte der Salome (VII.) gewärtigen, die „ewige[ ] Glut“ der Hölle hingegen der Gemahl Helenes (VIII.). Durch Kellers Alte Weisen spannt sich ein melancholischer Reigen scheiternder Geschlechterbeziehungen, mögen diese Weisen auch in anheimelnder Schlichtheit ertönen. Ihre Volkstümlichkeit ist schöner, raffiniert kalkulierter Schein, der Schmerzen und Qualen nur überblendet, um sie schärfer abzulichten. Wie traulich setzt etwa Das rote Bärbchen (XI.) ein mit seiner „dufterfüllte[n] Au’“ und den „Blümlein rings umher“, wie idyllisch wirken, so recht nach der Art des Volkslieds, die Reihung von Diminutiven und die Vermenschlichung, ja Verzärtlichung von Kreatur und Natur, ehe der Gedanke des Todes, des Tods nach einem unerfüllten Leben, sich unversehens am Horizont des Gedichts abzeichnet, in bewegender Gegenläufigkeit. Im Spiegel der traulich-kreatürlichen Idylle erscheint das Elend der ungeliebten Unschuld in seiner ganzen Blöße. Die Frage des roten Bärbchens – Gott! was hab’ ich denn getan, Daß ich ohne Lenzgespan, Ohne Einen süßen Kuß Ungeliebet sterben muß?
– diese verzweifelte Frage richtet sich auf das Rätselgesicht des Lebens. Es ist unentzifferbar. Unlösbar ist auch das Rätsel, warum ausgerechnet die ihrer Hochzeit sehnsüchtig entgegenharrende Braut in Sibylla (XIV.) mitten in ihren Vorbereitungen vom Tod ereilt wird. Erklären ließe sich eher, warum die schöne Wirtin (XVI.) nach einer erotisch faszinierenden Jugend vom männlichen Geschlecht nicht mehr umworben wird: aber würde das sie hinwegtrösten über ihre „totenstill[e]“ Verlassenheit? Die Frage nach einem Sinn ihrer unglückseligen Existenz bliebe so offen wie die Existenzfrage Gretchens (X.): Warum wird ihr statt des Myrtenkranzes, der eine ehrbare Braut schmückt, der Strohkranz der öffentlichen Schande zugedacht? Die Mutter Gottes hat sie so wenig davor gerettet wie irgend jemand sonst: Warum nicht? Das Rätsel des Lebens bleibt so ungelöst wie in anderen Gedichten. Keller hat es expressis verbis ausgesprochen in dem einzigen Text, dessen Hauptfigur nicht durch ein weibliches Wesen bezeichnet wird: Du milchjunger Knabe451.
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Du milchjunger Knabe, Wie siehst du mich an? Was haben deine Augen Für eine Frage getan!
Weder die „Ratsherrn“ der Stadt noch die „Weisen der Welt“ wissen eine Antwort auf die Frage des Kindes, die von verschiedenen Frauen des Zyklus auf je eigene Weise gestellt wird oder aus dem Aufbau der Gedichte stumm hervorgeht: ohne daß eine Antwort möglich wäre. In der Frage des Knaben verdichtet sich das Rätsel, das dem Leben selbst eingeboren scheint und das der Zyklus immer wieder umkreist: warum die Glückssuche der Menschen, namentlich die nach einer erfüllten Liebe, stets von neuem enttäuscht wird. Bezeichnenderweise wird die Frage nach dem „Glück“ zu Beginn des Zyklus in Klärchen (I.) aufgeworfen, in seiner Mitte von Röschen (IX.) durch „Tränen ohne Unterlaß“ gleichsam überflutet, an seinem Ende von der schönen Wirtin (XVI) mit einem unumkehrbaren Nein beantwortet: „Und einsam pocht mein Herz in dem verlass’nen Leibe“. XII. Alle meine Weisheit Alle meine Weisheit hing in meinen Haaren, Und all mein Wissen lag auf meinem roten Mund; Alle meine Macht saß auf dem wasserklaren, Ach, auf meiner Augen blauem, blauem Grund! Hundert Schüler hingen an meinem weisen Munde Und ließen sich von meinen klugen Locken fah’n21, Hundert Knechte spähten nach meiner Augen Grunde Und waren ihrem Winken und Blinken untertan. Nun hängt totenstill das Haar mir armem Weibe, Wie auf dem Meer ein Segel, wenn keine Luft sich regt, Und einsam pocht mein Herz in dem verlass’nen Leibe, Wie eine Kuckucksuhr in leerer Kammer schlägt!452
Mit dem Schlußgedicht mündet Kellers Zyklus in das Feld der Kulturkritik. Das Sujet der Geschlechter-Rollen, das an einem weiblichen Lebenslauf transparent wird, verdrängt den kurzen volksliedhaften Vers. Der Alexandriner verleiht dem schwerwiegend-schwermütigen Thema die angemessene Form. Weisheit, Wissen und Macht waren Jahrhunderte hindurch Attribute des respektheischenden Mannes gewesen – des Staatsmannes zum Beispiel oder des Gelehrten und des kirchlichen Würdenträgers. In Kellers Schöner Wirtin machen diese Attribute einen Wandel durch. Sie werden zeitweise zu den Eigenschaften der Frau, ehe sie ihr wieder abhanden kommen. So21
Altdt. für fangen.
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lange das weibliche Geschlecht Jugend mit Schönheit und Eros vereint, kann es auf seine Weise Wissen und Weisheit und Macht demonstrieren. Es bedarf dann nicht der Sprache wie der Mann, es spricht um so beredter durch die Pracht des Haars, das dem Manne als der Weisheit letzter Schluß erscheint, durch den wissenden Mund, der von Erfahrung kündet, durch Augen, deren Faszination Macht bedeuten. Mit der scheinbar naiven Übertragung der patriarchalischen Attribute auf Körpermerkmale der Frau schlägt Keller einen volkstümlichen Ton an. Doch er durchdringt das Volkstümliche mit der Kritik an den Geschlechterrollen. Der ‚Herr der Schöpfung‘ beansprucht zwar Geist und Macht für sich allein, für Schönheit und Eros aber macht er das weibliche Geschlecht zuständig, und von Zeit zu Zeit übermannt ihn die Sehnsucht danach so sehr, daß die begehrte Frau ihm als weise, wissend und mächtig erscheint. Er wirbt um sie und kann ihr Gefangener, ihr ‚Knecht‘ werden. Die Polarität der Geschlechter hat ihre eigene Dialektik, und die vom patriarchalischen Geschlecht dargestellte Selbstherrlichkeit kann bisweilen in Selbstunterwerfung umschlagen. Das bekräftigt nachdrücklich die zweite Strophe des Gedichts, die alle drei Attribute der ersten Strophe und ihre sinnlichen Äquivalente erneut beschwört: „weise[r] Mund[ ]“, „kluge[ ] Locken“, „Winken und Blinken“ der machtvollen Augen auf seiten der Frau, Knechtschaft auf der des Mannes. Diese Verkehrung der Geschlechter-Rollen hat ihre streng bemessene Frist. Sie endet, wenn das Altern der Frau einsetzt und wenn mit ihrer Schönheit die Ausstrahlungskraft ihres Eros verwelkt. Das lyrischweibliche Ich findet dafür ausdrucksvolle Körperzeichen, die mit volkstümlichen Bildern verknüpft werden. Es entstehen daraus Vergleiche von bezwingender Kühnheit: das Haar der Frau „hängt totenstill“ am Kopf, wie ein erschlafftes Segel auf unbewegter See, kein Liebeshauch umweht es mehr, kein Liebender atmet ihm mehr Leben ein; das Herz in ihrem „verlass’nen Leibe“ pocht einsam – „wie eine Kuckucksuhr in leerer Kammer schlägt“. Niemand hört der Uhr zu, sie schlägt vergeblich die Stunden, die von ihr verkündete Zeit interessiert keinen Menschen mehr, funktionslos läuft ihr Räderwerk fort und fort. Die Leere im Raum der „Kuckucksuhr“453 verweist auf die Weltlosigkeit und Verlorenheit der alternden Frau. Sie ist im Raum der Geschlechterbegegnungen überflüssig geworden. Nachdem die männliche Welt sich vor der Jugend und Schönheit gebeugt hat, tritt sie wieder ihre Herrschaft an und überläßt das „arme[ ] Weib“ dem Altern und Verwelken: die Schmach der Frau, die allein nach ihrer Physis bemessen wird. Kellers Gedicht malt ein petrarkistisches Genrebild zu Ende. Stets mahnt das Liebessonett von Petrarca bis Ronsard und Hofmannswaldau die be-
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XIV. Volkstümliches und Volksliedhaftes
gehrte schöne Frau an ihre Vergänglichkeit, auf daß sie hic et nunc, in der Blüte ihrer Jugend, dem Manne Gehör schenke; stets enthält diese Mahnung den versteckten Hinweis auf das unvermeidliche Altern, das die ungenossenen Stunden nicht wiederbringen und statt ihrer die Qual der Reue heraufbeschwören werde. Kellers „arme[s] Weib[ ]“ zeigt dagegen, daß die Frau in jedem Fall die Betrogene ist. Während das ‚starke Geschlecht‘ sich für sein biologisches Altern durch Weisheit und Macht entschädigt, wird dem ‚schwachen‘ die Biologie zum Verhängnis. Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts macht sich die Frau auf den Weg zur sinnvollen Selbstgestaltung des Alterns, auch unabhängig vom Mann.
XV. Humoresken Wenn von Keller, dem Erzähler, die Rede ist, fällt früher oder später das Stichwort vom Humor Kellers, und die Assoziation mit Novellen wie Spiegel, das Kätzchen oder Kleider machen Leute stellt sich ebenso leicht ein wie die Erinnerung an manche Szene aus dem Grünen Heinrich. Relativ unbekannt hingegen ist – entsprechend dem verbreiteten Desinteresse an Kellers Lyrik –, daß sein Humor auch in einer stattlichen Reihe seiner Gedichte mitregiert, ja, in manchen ihr eigentlicher Regent ist. Er mischt sich in seinen stets wachen und kritischen Blick auf zeittypische Erscheinungen und Moden, aber auch in seine Sympathie mit Gleichgesinnten oder Lebensgenießern im Geiste Feuerbachs. Im ersten Fall spielt der Humor gern ins Ironische, Spöttische oder Satirische, im zweiten übt er sich in trockenen Scherzen und einfallsreicher, nie verletzender Komik – und beide Male können daraus Parodien in den unterschiedlichsten Tonarten erwachsen. Gelegentlich läßt Keller dem Übermut die Zügel schießen und kokettiert mit Tabubrüchen, die er pointiert und geistvoll inszeniert, um die Provokation des Lesers durch das Vergnügen an der ästhetischen Darbietung aufzufangen. Zuweilen entspringen dem Übermut Scherze, die um der schlagfertigen Pointe willen erdacht scheinen – kleine ästhetische Luxusgeschöpfe, die daran erinnern, daß Kunst es nicht primär auf das Zweckmäßige abgesehen hat, vielmehr ihren Ursprung und ihr Dasein auch dem zweckfreien Spiel verdankt. Kurz, Kellers lyrischer Humor besitzt ein bemerkenswertes Register an Stilen und Tonarten, Farben und Mischungen. Daß Humor nicht gebunden ist an Altersreife und Altersweisheit, wie man häufig annimmt, im Irrtum befangen, ein höheres Lebensalter sei die Voraussetzung dafür, um milden Lächelns ‚über den Dingen zu stehen‘, daß Humor vielmehr eine altersunabhängige Sichtweise der Dinge und Menschen ist – das erweist die Lyrik schon des jungen Keller. Wieviel krauser Humor, der mit den pietätvollsten und feierlichsten Dingen – dem Herrgott persönlich – ironisch lächelnd spielt, durchgeistert etwa sein X. und XI. Liebeslied.454 Lächelnde Selbstironie ist diesem Humor komplementär. Ein frühes Gedicht, Konditor und Poet455, demonstriert sie. Denn es bleibt höchst ungewiß, ob der Poet dem Konditor es je gleichtun kann an „Herrlichkeiten“, die dieser „aus vollen Händen“ schüttelt, besonders „zur Weihnachtszeit“, wenn es „rings […] an den Wänden“ des Konditor-
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ladens so verführerisch „flimmert“ und „duftet“, daß alle Kinder zu „Schlecker[n]“ werden, die verzaubert in ihren „Kleinkinderhimmel“ hineinschauen und hineinriechen, wo als ihr „Gott“ der Zuckerbäcker waltet. Keller entwirft mit liebenswürdigem Filigranstift eine Märchenwelt des Kindesalters, eine Utopie sozusagen, die deshalb so anziehend wirkt, weil sie ganz selten – einmal im Jahr nur – in Erscheinung tritt. Und dann: wie verführerisch die schönen Dinge auch aussehen und duften – die staunenden Kinder dürfen sie vielleicht nicht einmal kosten und ihrer habhaft werden. Die Seltenheit der märchenhaften Erscheinung und ihre latente Unerreichbarkeit erhöhen ihren Zauber. Die „Reichen“ und „Allgewalt’gen“ hingegen, denen alle Dinge wie selbstverständlich zur Verfügung stehen – sie kennen gerade deshalb den Zauber und die Utopie nicht mehr: nichts bleibt zu wünschen übrig. Und der Poet? Indem Keller ihn mit dem Zuckerbäcker vergleicht, relativiert er humoristisch seine Würde. Höhere Wunder als der Konditor für Kinder, schafft er für sein Lesepublikum nicht; es hängt einzig und allein von der Perspektive des Lebensalters ab, ob jemand seine dringendsten Wünsche auf Zuckersachen oder Poesien richtet. Aber bringt denn der Poet seine Herrlichkeiten überhaupt zustande? Werden aus seiner Feder „süße Blumen“ hervorgehen wie aus der Hand des Konditors duftende Backwaren? Wird er ein so verzaubertes Publikum haben wie der Verfertiger des weihnachtlichen Gebäckwunders? Ach, vielleicht kann er nur auf eins sicher zählen – auf sein Handwerkszeug. Vielleicht kann er es nur in puncto Grundausstattung dem weiß gewandeten Zuckerbäcker gleichtun: Zipfelmütze, weiße Schürze, O wie nüchtern glänzet ihr! Und wie mahnt ihr mich an weißes, Reinliches – Konzeptpapier!
So die Schlußstrophe. Die Strophe davor hatte den Vergleich zwischen Dichtern und Konditoren anberaumt, mit der These, daß erstere „ihr Dichten / Just wie Zuckerbäcker“ treiben. Die letzte Strophe nun löst diese These nur teilweise ein. Nur für weißes Konzeptpapier, also für die handwerkliche Ausrüstung kann der Poet mit Sicherheit bürgen. Hinter dem Eigentlichen, dem schöpferischen Werk, bleibt ein Fragezeichen, im Gegensatz zum Backwerk, dessen Gelingen gewährleistet ist. Der so verheißungsvoll eingeleitete Vergleich bleibt auf halbem Wege stecken, des unsicheren poetischen Kantonisten wegen. Die Konzeptpapier-Pointe ist so recht nach Kellers Sinn: von humoristischer Selbstironie zeugend. Und sie ist ein typisches Keller-Gewächs: von bündigster Prägnanz, in einem einzigen Wort, dem Schlußwort, konzentriert. So liebt es der Artist im Dichter Keller. Und nicht ohne Koketterie hat er die treffende Pointe hingesetzt: denn dieses Mal zumindest hat der Poet es dem Zuckerbäcker gleichgetan und ein ganzes Werk, einen
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„Kleinkinderhimmel“ hingezaubert, erst auf Konzept- und dann auf richtiges Buchpapier. So treibt Keller ein Doppelspiel. Noch seine Selbstironie weiß der Humorist souverän-kokett zu hintergehen. Das prägnante geistvolle Finale eines Gedichts zählt zu Kellers hervorstechenden Stileigentümlichkeiten. Im Pointen-Gewerbe hat er noch manches kleine Meisterstück zustande gebracht, etwa das dreiteilige Gedicht Panard und Galet. Panard und Galet (Zu Daumers Hafis) I. Sie kamen von der Tränke, Sie wankten aus der Schenke, Mit einer Zecherschar, Als es Karfreitag Morgen Und grabesstille war. Von heißen Stirnen nicken Und stäuben die Perücken, Wie Wolke birgt den Blitz; Die spitze Kling‘ am Degen Zuckt wie geschliff’ner Witz. Sie taumelten und sangen, Vom Mund wie Stöpsel sprangen Die Verse, Schlag auf Schlag; Da schrie Panard: O fühlet Den furchtbar großen Tag! Das Universum trauert, Die dunkle Sonne schauert, Die Erde wankt und bebt, Daß unter unsern Füßen Der lose Boden schwebt! Unsicher ist’s, zu stehen Und ratsam nicht, zu gehen: Kehrt um! zu unsrem Wirt! – Und alsbald kroch die Herde Zurück zu ihrem Hirt. Dort blieben sie verborgen Bis an den dritten Morgen, Tief und geheimnisvoll, Bis durch die goldne Frühe Die Osterglocke scholl. Als die verjüngte Sonne In Auferstehungswonne Durchschritt des Frühlings Tor, Da stiegen aus der Höhle Weinselig sie hervor.
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II. Auf seinem Bette liegt Galet, Weglachend seines Todes Weh. Er schickt Panard den Morgengruß, Sechs frische Lieder zum Genuß. „Erst wollt‘ ich reimen, liebes Kind! So viele, als Apostel sind; Doch hab‘ ich’s nur auf sechs gebracht, Weil schon der Totengräber wacht, Der Totengräber vor der Tür Mit seinen Burschen lauscht herfür. Der hackt, wie Blumen, kunterbunt Die andern Sechse in den Grund, Daß zwischen Scholl‘ und Totenbein Sehn sie vergehn die Schwesterlein. Doch die sind lieblich, meiner Treu! Der letzte Reim ist süß und neu, So voll und rein, wie Rhein und Wein – Leb‘ wohl! mich dünkt, nun muß es sein!“ III. Es klagt Panard: Habt ihr geseh’n Die Stätte, wo Er ruht? So könnt ihr meinen Schmerz versteh’n Und meines Zornes Glut. Der keiner Quelle, noch so rein, Bei’m größten Durst genaht, Ihn, dem kein schnödes Wässerlein Die Lippe je betrat, Ihn haben sie nun hingelegt, Wo graus vom Dach herab Die Traufe ihm zu Häupten schlägt Und tröpfelt auf das Grab! Daß ich, wenn ich ’nen feur’gen Guß Weih’n möcht‘ auf seinem Stein, Hinweg voll Abscheu fliehen muß, Zu schützen meinen Wein! Ich selbst bin nun ein Wasserfaß, Dran keine Daube22 schließt, Da stets ein unglückselig Naß Mir aus den Augen schießt.
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Dauben: die zugeschnittenen und gebogenen Bretter für die Wandung eines Weinfasses.
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Es regnet meiner Tränen Fluß Wie toll zu jeder Stund‘, Daß mit der Hand ich decken muß Das Glas an meinem Mund. Die süße Traube sank zur Ruh‘, Vom Stocke, der ich bin. O Winzer Tod! nun schneide du Mich selber bald dahin!456
Gemeint sind mit dem Titel zwei „französische Poeten des 18. Jahrhunderts“, wie Keller in einer Fußnote zum Gedicht vermerkt hat.457 Man darf ergänzend präzisieren, daß es sich um „miteinander befreundete Liederdichter (und -sänger) der Pariser Opéra Comique“ handelt, „um die sich zahlreiche Anekdoten rankten“.458 Eine dieser Anekdoten bildet den Ausgangspunkt der kleinen Panard und Galet-Trilogie. An einem „Karfreitag Morgen“, einem „grabesstille[n]“, wanken die beiden Dichter und Sänger mit ihren Trinkkumpanen aus einer Schenke ins Freie, wo sogleich die Erde unter ihren Füßen bebt: ob daran ihre Weinseligkeit schuld ist oder ihr feuchtfröhlicher Respekt vor der erderschütternden Kreuzigung Christi, läßt Keller mit einem Schalkslächeln offen. Unzweifelhaft ist nur, daß sie alsbald zu ihrem Wirt zurückkriechen und zechend den Klang der Osterglocken abwarten, um schließlich „in Auferstehungswonne“ aus ihrer Taverne hervorzuschwanken. Während die Christenheit trauert, trinken sie diskret dem Leben zu. Verfaßt während Kellers Aufenthalt in Deutschland, atmet das Gedicht den Geist seiner Feuerbach-Begegnung. Daß die „weinselige“ Weltlichkeit Panards und Galets inmitten des symbolischen Sterbens und Auferstehens Christi blasphemische Zwischentöne enthält, ist unüberhörbar. Keller hat sie allerdings in einen literarischen Dreiklang eingebunden und darin entschärft. Da tönt einmal die Anekdote vom feucht-fröhlichen Erdenleben des französischen Freundespaars zur Osterzeit fort (überliefert von Melchior Grimm459); sodann klingt hier das im Untertitel des Gedichts anzitierte Buch Liederblüten des Hafis von Georg Friedrich Daumer mit – und damit auch der lebendige Widerhall, den der persische Dichter Hafis in Deutschland von Goethe bis Rückert jüngst gefunden hatte.460 Die spielerische Leichtigkeit, mit der Keller diesen Dreiklang anschlägt, lenkt den Leser bzw. Hörer von der Blasphemie auf die Melodie des Lebensgenusses. Auch angesichts des Todes, vielmehr: dem Tode zum Trotz, tönt diese Melodie weiter. Im zweiten Gedicht der kleinen Trilogie schickt Galet vom Totenbett aus dem Freund als Morgengruß „sechs frische Lieder zum Genuß“. Zwölf hatte er ursprünglich dichten wollen, den zwölf Aposteln ironisch zu Ehren, die Hälfte nur hat die Todesstunde ihm vergönnt. Diese sechs jedoch sind „lieblich“ wie das Leben selbst: „So voll und rein, wie Rhein und Wein“. Sterbend behauptet Galet gegen den Tod
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die Lust des Lebens, verewigt durch die Poesie. Im Klang eines Reimpaars wie „Rhein“ und „Wein“ wird die dem Diesseits innewohnende Musik hörbar, und im selben Reimpaar leuchtet ein Quell des Lebensgenusses – der Rheinwein – auf. Dieser Lebensquell fließt auch im dritten Gedicht der Trilogie, genauer: er möchte fließen, kommt aber nicht mehr so recht zum Zug. Unerhörtes ist geschehen. Man hat Galet zu Grabe getragen, doch direkt über diesem Grab, zu Häupten Galets, befindet sich eine Dachtraufe, aus der Regenwasser niedertropft – ausgerechnet auf diesen königlichen Weintrinker, auf ihn, „dem kein schnödes Wässerlein / Die Lippe je betrat“. Welche Ungunst des Schicksals! Und welch schäbige Provokation auch für Panard, den Freund, der jeden ‚feurigen Guß‘ Wein, den er dem Toten zum Gedenken auf dem Grabstein vergießt, vom trivialen Regenwasser hinweggeschwemmt sieht. Und dem darob immerzu Tränen „aus den Augen“ schießen, ein gewaltiger Tränenfluß, der senkrecht niederströmt und seinen köstlichen Weintrank gefährdet, weshalb er nun das Glas an seinem Mund „mit der Hand“ abdecken muß. Keller läßt das flüssige Element gleich mehrere Kapriolen schlagen, von der Dachrinne aufs Grab und den Grabstein herab und von den Augen zum weinseligen Mund hinunter – und stets triumphiert das schnöde Wasser über Wein und Sinnengenuß. Lohnt da das Leben noch? Mit humoristisch-ironischer Übertreibung macht der Erzähler seinen Helden zum Todeskandidaten, der endlich doch vom Weingenuß überwältigt wird: O Winzer Tod! nun schneide du Mich selber bald dahin!
Gemessen an der historischen Vorlage – der Anekdote von der Dachrinne über dem Grab461 –, ist Kellers Phantasie wahrhaftig produktiv: wasserund weinträchtig. Aus einer simplen und ein wenig bizarren Grabesstätte läßt er ein mehrstufiges Wein- und Wasserspiel hervorgehen, kurios und voll überraschender Pointen: ein fein gedrechselter, mit Arabesken versehener Scherz, der vom erfinderischen Vermögen des poetischen Humors und seinem verschwenderischen Einfallsreichtum zeugt. Die Poesie des Humors äußert sich nicht zuletzt in der zügigen Versfolge und ihren witzig-aberwitzigen Vergleichen: „Sie taumelten und sangen, / Vom Mund wie Stöpsel sprangen / Die Verse, Schlag auf Schlag.“ Wie vom Perlwein unverzüglich der Verschluß – der „Stöpsel“ – springt, so unaufhaltsam entspringen die gereimten Verse dem sangeskundigen Mund: rasch und ohne jede Stockung. Die bündige Kürze und poetische Leichtigkeit, die der Erzähler seinen trinkfesten Dichtern nachrühmt, demonstriert er persönlich an Ort und Stelle, ad oculos. So erweist er sich
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selber, in aller Diskretion, die poetische Ehre. Übrigens tragen die dichtenden Trinker als feine Herren auch einen Degen, nicht um die Klingen zu kreuzen, nein, um die Waffe in lupenreine Ästhetik zu überführen: „Die spitze Kling’ am Degen / Zuckt wie geschliff’ner Witz.“ Die kampfbereit ,zuckende‘ Klinge wird zur Metapher für die witzigen Finten und Pointen des Humors. Eines Humors, der religiöse Rituale schlagfertig umdreht und christliches Märtyrertum diesseitigem Wein- und Lebensgenuß anverwandelt, ja mit „spitze[r] Kling[e]“ auch biblische Wunder ins Gegenteil verkehrt. So wird aus Christi Verwandlung des Wassers in Wein am Ende die Rückverwandlung des Weins in Wasser: ein, poetisch betrachtet, vollkommener Chiasmus, erzeugt aus dem Geist der (Selbst-)Ironie, mithin ein kleines Meisterwerk der Rhetorik. Denn das überreichlich fließende Regenwasser treibt im Bunde mit einem unversieglichen Tränenstrom den tapferen Weingeist Panards zu letzter Konsequenz, zur Selbstaufgabe. So bleibt er dem Freund und dem Geist des Weins in Treue bis zum letzten Atemzug verbunden. Dem Wein zugewandt, wenn auch nicht nur ihm, ist der auf Panard und Galet folgende fünfteilige Zyklus, in dem ein vom Humor inspiriertes Gebilde Aufmerksamkeit verdient: Lacrimae Christi (Text siehe Anmerkung)462. Der Titel ist identisch mit dem Namen eines bekannten, in der Gegend des Vesuvs angebauten Weins. „Vom Fuße des Vesuv aus fällt der Blick auf den Golf von Neapel mit den Inseln Capri, Ischia und Sorrent.“463 Damit ist die Topographie des Gedichts umrissen. Was den Wein angeht, die „Tränen Christi“, so wird ihm eine ganz überraschende Ehre zuteil: er befeuchtet die Lebenslust eines am Vesuv entlangwandelnden Mönchs und eines seine Wege kreuzenden Weibs. Das Leiden Christi findet sich unversehens abgelöst von der Wollust zweier Menschen, die sich am hellichten Tag eine phantastische Nacht bereiten, erschaffen aus dem dunklen „Lockenflug“ der Frau, aus der Glatze des Mönchs, die als „Mondenschein“ leuchtet, und aus den „glühenden Augen“ der beiden, die eine wahre „Sternenpracht“ bilden. Mit einem Minimum sinnlicher Zeichen erzeugt der phantasiereiche Humor das nächtliche Universum der Liebe. Daß dieses Universum zum Fundament den „warmen Lavagrund“ hat, bürgt für das anhaltende Feuer der Liebe. Daß der kühlende Westwind Zephir mit im Spiele ist, schützt vor übergroßer Hitze des Liebesfeuers, deutet aber auch auf die Kühnheit der Begegnung, ist doch Zephir in der Lyrik vorzugsweise der Überbringer heimlicher Liebesbotschaften, in der antiken Mythologie gar der wohlmeinende Helfer bei der Entführung der Psyche durch Eros. Und der Feigenbaum, unter dem die Liebenden sich niedergelassen haben? Und dessen Frucht so „süß“ ist? Und „wo der Berg vor Liebe brennt!“? Man wird Brecht zitieren dürfen, wenn gera-
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de der Feigenbaum mit solchen verheißungsvollen Dingen assoziiert wird. Das Dreizehnte Sonett setzt so ein: Das Wort, das du mir oft schon vorgehalten Kommt aus dem Florentinischen, allwo Die Scham des Weibes Fica heißt. Sie schalten Den großen Dante schon deswegen roh Weil er das Wort verwandte im Gedichte.464
Es wäre müßig zu erwägen, ob Keller bewußt oder unbewußt die ‚süße Frucht‘ der Feige (fica) mit dieser Bedeutung verknüpft hat. Jedenfalls haben Mönch und Weib unterm Feigenbaum ihre „heimliche stille Nacht“, und da sich die beiden auf Diskretion verstehen und die „hölzerne Madonne“ am Wegrand nicht unnötig erregen möchten, „wirft das Weib ihr den Schleier“ zur schamhaften Verhüllung ihres Gesichtes zu. Nun können Religion und Kirche aufs schönste hinters Licht geführt werden. Sind nämlich die „Tränen Christi“ Zeugnis seines Mitleidens mit der sündenbeladenen Menschheit und ist die Jungfrau Maria Symbol der Unschuld schlechthin, auch der sexuellen, so verzichtet Kellers Liebespaar mit großer Lust auf alle Unschuld – und ist sich trotzdem keiner Sünde bewußt. Genußvoll kosten sie erneut vom Apfel des Paradieses – bzw. von der Paradieses-Feige – und ‚erkennen‘ einander: der Mönch das Weib in der Venus-Passantin, das Weib den Mann im Diener Gottes. Und so könnte die Geschichte der Welt noch einmal von vorne beginnen, in aller Unschuld: im Schatten eines Feigenbaums, mit einem Krug kühlen Weins, unter der Schirmherrschaft des wohlgesonnenen Eros. Ein Gegenstück zur unheiligen Poesie der Lacrimae Christi bildet Der Narr des Grafen von Zimmern, wo die Handlung in die heilige Wandlung Christi und seine überwältigende Präsenz mündet. Und das muß bei Keller, der die katholische Variante des Christentums nicht mochte, überraschen. Der Narr des Grafen von Zimmern Was rollt so zierlich, klingt so lieb? Trepp‘ auf und ab im Schloß? Das ist des Grafen Zeitvertrieb Und stündlicher Genoß: Sein Narr, annoch ein halbes Kind Und rosiges Gesellchen, So leicht und luftig wie der Wind, Und trägt den Kopf voll Schellchen. Noch ohne Arg, wie ohne Bart, An Possen reich genug, Ist doch der Fant23 von guter Art Und in der Torheit klug; 23
Junger, unreifer Bursche.
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Und was vergecken24 und verdreh’n Die zappeligen Hände, Gerät ihm oft wie aus Verseh’n Zuletzt zum guten Ende. Der Graf mit seinem Hofgesind Weilt in der Burgkapell‘, Da ist, wie schon das Amt beginnt, Kein Ministrant25 zur Stell‘; Rasch nimmt der Pfaff‘ den Narr’n bei’m Ohr Und zieht ihn zum Altare; Der Knabe sieht sich fleißig vor, Daß er nach Bräuchen fahre. Und gut, als wär‘ er’s längst gewohnt, Bedient er den Kaplan26; Doch wann’s die Müh am besten lohnt, Bricht oft der Unstern an; Denn als die heil’ge Hostia27 Vom Priester wird erhoben, O Schreck! so ist kein Glöcklein da, Den süßen Gott zu loben! Ein Weilchen bleibt es totenstill, Erbleichend lauscht der Graf, Der gleich ein Unheil ahnen will, Das ihn vom Himmel traf. Doch schon hat sich der Narr bedacht, Den Handel zu versöhnen; Die Kappe schüttelt er mit Macht, Daß alle Glöcklein tönen! Da strahlt von dem Ciborium28 Ein gold’nes Leuchten aus; Es glänzt und duftet um und um Im kleinen Gotteshaus, Wie wenn des Himmels Majestät In frischen Veilchen läge: Der Herr, der durch die Wandlung geht, – Er lächelt auf dem Wege!465
Kellers Gedicht fußt auf einer historischen Vorlage, der bereits zitierten Zimmerischen Chronik466, doch über sie geht Keller in der Schlußstrophe überdeutlich hinaus, indem er ein ‚christliches Wunder‘ ersinnt.467 Sehen wir uns, um dafür eine Erklärung zu finden, die Handlung bis zu diesem 24 25 26 27 28
Ungeschickt, närrisch die Dinge anfassen. Meßdiener in der katholischen Kirche. Ein dem Pfarrer untergeordneter Geistlicher, hier wohl der Pfarrer selbst. Das beim Abendmahl gereichte ungesäuerte Brot, eine scheibenförmige Oblate. Gefäß zur Aufbewahrung der Hostien.
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Punkt an. Der lyrische Erzähler – ein Meister verknappender Charakteristik – stellt zunächst den Narr des Grafen vor, an Jahren noch ein Knabe: „So leicht und luftig wie der Wind, / Und trägt den Kopf voll Schellchen.“ Gemeint ist mit der Kopfbedeckung die schellenbehangene Narrenkappe, vielleicht auch im übertragenen Sinn das Närrische an dem Knaben, der „an Possen reich genug“ ist, freilich auch „in der Torheit klug“: kein simpler, eher ein vielseitiger Charakter. Es fügt sich, daß der Knabe bei einem wichtigen Gottesdienst – der Graf ist mit dem Hofgesinde zugegen – ersatzweise den Ministrant machen und den Priester bedienen muß. Der Narr als öffentlicher Diener Gottes – eine Situation nicht ohne religiöse Pikanterie, um nicht zu sagen Frivolität! Was für eine Versuchung für Keller, den Ironiker in kirchlichen Dingen! Er läßt den Knaben seines Amtes mit Anstand walten, bis zur heiligen Wandlung, ehe er einen „Unstern“ über die versammelte Gemeinde heraufführt. Es fehlt zum Lobe Gottes das Ministranten-Glöcklein, das obligate, ohne welches der Gottesdienst an dieser Stelle seine Würde einbüßt. Totenstille tritt ein, der Graf fürchtet schon, erbleichend, ein Strafgericht des Himmels, da interveniert der Narr mit einem überraschenden Einfall: „Die Kappe schüttelt er mit Macht, / Daß alle Glöcklein tönen!“ Dem dramatischen Augenblick der Totenstille folgt auf dem Fuße der novellistische Umschlag in die ‚unerhörte Begebenheit‘: die vereinigten Narrenglocken als Begleitmusik zur heiligen Wandlung! So drängt der Lyriker Keller Dramatisches und Novellistisches in einem Atemzug zusammen und scheint, erneut frivol, einen religiösen Tabubruch herbeizubeschwören. Des Lesers Spannung steigert sich, um sich gleich darauf in der Schlußstrophe wie durch ein Wunder zu entspannen. Gott verbündet sich mit dem Narren! Er dankt ihm seine Geistesgegenwart durch eine zweite Wandlung: vom Hostienkelch aus fängt das ganze Gotteshaus zu leuchten an, verströmt es einen Duft wie von „frischen Veilchen“. Dies ist die zweite, die eigentlich ‚unerhörte Begebenheit‘: die Erhörung und Verherrlichung der Narrenglocken durch Gott. Der Knabe, der durch seinen kühnen Einfall, seine Geistesgegenwart, seine Entschlußkraft eine peinliche Situation bereinigt hat, ist der wahre Held der Geschichte. Denn nicht nur seinen hohen Herrn, den Grafen, nein auch seinen Allerhöchsten Herrn, Gott-Sohn und Gott-Vater, hat er aus dieser Situation gerettet. „Sei Er kein schellenlauter Tor“, rät Mephisto im Faust einem Studenten. Der Knabe in Kellers Gedicht wird zum ‚schellenlauten‘ Weisen. Sein Narrentum ist eins mit der Klugheit schlechthin, der Lebens- und Gottesklugheit. Man mag aus diesem Blickwinkel in Kellers Geschichte einen Gottesbeweis am Werk sehen. „Der Herr, der durch die Wandlung geht, – / Er
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lächelt auf dem Wege!“ Das scheint eindeutig genug zu sein, Gott selber läßt das Gotteshaus in goldnem Glanz erstrahlen und mit Blumenduft sich füllen. Wir wissen freilich auch, daß Keller, zeitlebens ein Skeptiker in kirchlichen Angelegenheiten, nicht eigentlich eine Beweisführung Gottes anzutreten gedenkt.468 Ihm geht es vielmehr um eine poetische Beweisführung. Die Phantasie des lyrischen Erzählers ist es, die – über die historische Vorlage hinaus – das Gotteswunder ausheckt. Es entfaltet sich jene „Reichsunmittelbarkeit der Poesie“469, um Kellers schöne Wendung zu zitieren, die sich sogar des Allerhöchsten bemächtigt, um damit ihr poetisches Spiel zu treiben. Und wie humorvoll tut sie das, mit welch überraschendem Witz bettet sie den Herrn in die Natur ein: „Es glänzt und duftet um und um / Im kleinen Gotteshaus, / Wie wenn des Himmels Majestät / In frischen Veilchen läge“! Hier blitzt ein wahrhaft göttlicher Einfall auf, vorgetragen mit jener koketten Anmut, die das Entfernteste zu verbinden vermag in einem einzigen Verspaar: des Himmels erhabene Majestät und frisch duftende Veilchen. Im Reiche der Poesie kann die Phantasie an Himmels Statt walten. Es ist die humorvollste Pointe der jahrhundertelangen Säkularisierung der Religion.470 Den Realismus der historischen Vorlage krönt Keller, so ließe sich resümierend sagen, durch den poetischen Einfall der Phantasie. Ein beredtes Zeugnis für die Epoche des Poetischen Realismus, der Keller zugehört. Er hat darüber hinaus in dem Gedicht sein eigenes Werk legitimiert. Der kluge, geistvolle Narr, dem er seine Ehre erweist, steht auch für ein ästhetisches Verfahren Kellers: seine Vorliebe, eine Fabel mit Possen und Burlesken zu durchheitern, sie mit überraschendem Witz aufzuladen, unerwartete komische Wendungen und Peripetien in die Handlung einzuführen, Außenseitern – und zu ihnen gehört der Narr – den Schein des Lächerlichen oder gar Verächtlichen abzustreifen. Der Taugenichts, Has von Überlingen, der Narr des Grafen von Zimmern, der Held in Jung gewohnt, alt getan: sie alle gehören zu einer Gesellschaft anscheinend närrischer und doch achtungswürdiger Außenseiter.
Exkurs: Kellers Gaselen Man mag erstaunt sein, wenn wir auch Kellers Gaselen unter seine Humoresken einreihen. Es handelt sich jedoch um die Zweitfassung dieses Zyklus in den Gesammelten Gedichten471, die Keller gegenüber der Erstfassung in den Neueren Gedichten von 1854472 erheblich verändert hat. Die ernsten und pathetischen Gedichte, die ursprünglich das Profil des Zyklus so unverkennbar mitprägten, wurden ausgeschieden (II.–IV., XI. und XII).473 Vom Kontext des Ernstes und des Pathos befreit, gewannen die übrigen Ge-
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dichte an spielerischer Leichtigkeit; die ihnen immanenten Züge des Humors konnten zwanglos zur Geltung kommen, zumal Keller gleich nach dem Eingangsgedicht einige Spottverse placierte (II.), die ursprünglich erst als Nr. XIII aufgetreten waren.474 So stimmte Keller die Leser in der Zweitfassung von Anfang an auf den leichteren Ton ein. Der Humor, den er in seinem neuen Zyklus hervortreten läßt, reicht von Scherz und Ironie bis zur Parodie.475 Nicht ohne Selbstverspottung zählt sich Keller zunächst (I. Gedicht) zu den „Epigonen“476, denen er freilich zu „entrinnen“ hofft, wie er am Ende seines Eingangsgedichts kundtut. Wie anders aber kann er „neue Lenzeskronen“ finden, wenn nicht durch die bewußte Reprise des Epigonalen und seine gleichzeitige Überwindung in Form der Parodie?! Eben dies ist die Intention seiner Gaselen! Die Palme, die Lilie, die Rose – diese durch Rückerts und Platens Gaselendichtung in Deutschland heimisch gewordenen Motive östlicher Poesie477 verwendet Keller mit ironischem Bedacht noch einmal. Schon Heine hatte diesen Motivkreis im Buch der Lieder seiner Ironie anvertraut: kein Zweifel, daß Keller, der Kenner Heines, damit nicht wieder Ernst machen will. Dafür ist sein Kunstverstand zu wach. Vorsicht ist schon geboten, wenn er, der Skeptiker in religiösen Dingen, Gott, dem Schöpfer, nachsagt (III. Gedicht), er habe seine Geliebte vor der Schar ihrer Geschlechtsgenossinnen auszeichnen, ja, letztere in Schatten stellen wollen, auf daß die Schönheit der Geliebten desto heller erglänze: Wie dankbar du des Schöpfers Sinn verstanden, Als seine Interpretin legst du dar!
Das ist reinste Ironie. Der Narzißmus der Geliebten, ein aus den Alten Liedern bekanntes Motiv, lebt sich im Namen Gottes aus, so, als sei sie mit dem Allerhöchsten im intimsten Bunde. Und Ironie waltet auch in der ziselierten Syntax mit ihren pretiös placierten Relativsätzen: „Mit feiner Hand hältst du in schönen Banden, / Das er dir gab, dein anmutreiches Haar. / Gleich einer Palme aus den Morgenlanden / Ließ er dich wachsen, der im Anfang war“. Nicht ohne komischen Akzent hinkt die bekannte Gottesformel – „der im Anfang war“ – hinterdrein, die nicht das Geringste mit dem Körperwuchs eines Mädchens zu schaffen hat. Ähnlich wie Keller hier die gedrechselten religiösen Redewendungen der östlichen Gaselendichtung und ihrer deutschen Nachahmungen parodiert, läßt er ihre Liebessprache mit diebischer Ironie Revue passieren. „Wenn schlanke Lilien wandelten, vom Weste leis geschwungen“ – so hebt das IV. Gedicht an, mit überfeiner, bewußt überdrehter Eleganz, entbehrt doch das Schreiten der Geliebten, das wandelnden Lilien verglichen wird, nicht der Komik, auch wenn der Westwind die Lilien noch so „leis“
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schwingen ließe. Seinen hintergründigen Spott bezeugt Keller in Heine’scher Manier durch die Kunst der übertreibenden Wiederholung. Denn ebenso „leise“ wie die Schwingen des Westwinds erklingen dem Liebenden die Schritte der Geliebten, und nicht minder „leise“ singt er zu ihrem schreitenden Takt sein „Liedchen“. Er ist so behutsam und so aufdringlich leise, daß er einem aufs Ohr fällt; sein Gehör wiederum ist so hyperfein, daß ihm der Gang der Geliebten sogleich zur Musik wird. Ihrem Narzißmus scheint seine Eitelkeit durchaus ebenbürtig. Und wenn er zu ihrem Schritt sich wiegt und „wiegend“ sich ihr anschmiegt, gleichsam mit den Hüften balzend, so imitiert Keller spöttisch das musisch-züchtige Liebeswerben eines in sich selbst verliebten Gaselenritters. Es ist ein diskreter, auf Taubenfüßen einherkommender Spott, so sensibel gibt Keller den Rhythmus der schreitenden Geliebten im fünfzehnsilbigen Vers mit dem sanften Gleiten des Jambus wider. Ganz auf seiner Höhe ist das edle Paar im V. Gedicht. Die Geliebte, mit Rosen und Schleier verziert, soll beim gemeinsamen Wandeln durch die Stadt ihre „losen“ Augen sittsam-hold über die Männerwelt schweifen lassen (ein höchst koketter Widerspruch!), während der Liebende dem Neid seiner Nebenbuhler erwartungsvoll entgegensieht. So wäre dem Narzißmus beider aufs trefflichste gedient. Im Glanz der Bewunderer und im Spiegel der Neider sich zu sonnen, dünkt ihnen ein erstrebenswertes gesellschaftliches Ereignis. Auch im VI. Gedicht zeigt sich der junge Mann vollständig auf den schönen Schein fixiert. Die Zähne der Geliebten gelten ihm als „Perlen der Weisheit“, womit er eine bedeutsame Formel östlicher Poesie entwürdigt; im „holden Lachen“ der Umworbenen erblickt er der Weisheit letzter Schluß und führt sich damit selbst ad absurdum. Der Gipfel weiblicher Weisheit – eine strahlend entblößte Zahnreihe – wäre nur mittels männlicher Torheit zu gewinnen: Doch um dein schönstes Lächeln zu gewinnen, Verlieren sich in Torheit meine Pläne!
Man vernimmt Kellers sarkastisches Lachen über so viel Aberwitz und traut daher auch dem folgenden Hymnus (VII.) nicht. Er ist ganz auf das Fein- und Hochsinnige eingeschworen, auf die zarten Bande, die den jungen Mann mit der Geliebten verknüpfen und die Geliebte mit der Rose, die sie in ihrer Hand hält, und die Rose wiederum mit der Biene, die in ihrem Kelch sitzt: „So reihen wir uns perlenhaft an Einer Lebensschnur“, lautet des Liebenden andächtiger Kommentar. Und doch ist das von einer allwaltenden Liebe anscheinend erfüllte Universum nur ein Glasperlenspiel seiner Phantasie. Es erinnert an Heines ironische Sprachkunst, der beispielsweise in den Neuen Gedichten (im VII. Gedicht des Neuen Frühlings)
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„Rose, Schmetterling, Sonnenstrahl, Abendstern und Nachtigall“ in eine universale Liebesverbindung versetzt. Mißtrauisch stimmt sogleich in Kellers Gasel die Freude der Liebenden über eine Trivialität: „So freu’n wir uns, wie Blatt an Blatt sich an der Rose schart.“ Mißtrauischer noch das folgende Ereignis, das glühend schön einsetzt und dessen verheißungsvolle Flammenspur alsdann in pretiöser Übertreibung und einer unfreiwillig komischen Paarung erlischt: Und glüht mein Kuß auf deinem Mund, so zuckt die Flammenspur Bis in der Biene Herz, das sich dem Kelch der Rose paart!
„Der Biene Herz“ – da mußte die Phantasie doch ein wenig nachhelfen und der Kreatur etwas andichten, etwas sehr Menschliches und auch sehr Keusches und Ausgefallenes, eben die Paarung eines Bienenherzens mit einem Rosenkelch. Es wäre eine Weltpremiere im Reich der Bienen. Kellers Phantasiegespinst parodiert nicht nur die Subtilitäten östlicher Dichtung und ihrer deutschen Nachahmer. Es verspottet zugleich eine Erotik, die vor ihrer eigenen Courage zurückschreckt und den ersehnten glühenden „Kuß“ in die Sphäre der Bienen und Rosen überführt. Es sind delikate Unebenheiten und Ungereimtheiten, die Keller in seine Strophen einführt, um damit die hochherzigen Feinsinnigkeiten seines lyrischen Ichs zu entzaubern. Gegenüber einem König möchte der junge Mann im VIII. Gedicht einen „Betteljung“ aufwerten, also die soziale Hierarchie für einen Augenblick umkehren. Und zwar mittels der Geliebten, die das Haupt vor dem König verhüllen, jedoch dem „Betteljung“ zuwenden soll, wenn ihn „das Elend des Lebens vorbeiweht!“ – Im ‚Vorbeiwehen‘ gewinnt der Betteljunge eine sonderbare Leichtigkeit; so beschwert er den Anblick seiner Betrachter nicht, die ihm huldvoll ein Lächeln gewähren und sich selber erfreuen an ihrer jovialen Herablassung: Zeugnis einer unfreiwilligen Selbstironie. Ernster geht es im IX. Gedicht zu, wenn das lyrische Ich einem politischen Kämpfer die Gefolgschaft verweigert. Denn der „peitscht“ – anstelle des Gegners – häufig bloß die Luft. Da ist es freilich ehrenwerter, kampflos das Feld der Liebe aufzusuchen und mit der Geliebten zahllose Küsse zu tauschen. Als ob das überhaupt der Rede, gar einer poetischen Rede, wert wäre! Interessanter wäre die Frage, was denn geschieht, wenn „hundertmal“ geküßt worden ist. Zieht das Subjekt dann, von Liebe beschwingt, endlich dem Feind entgegen oder führt es bei der Geliebten einen entscheidenden Streich? Zu dieser Frage regt das Schlußgedicht (X.) an. Vollbringt das Subjekt auf dem Feld der Liebe mehr als der Narr auf dem Kampffeld, der dort mit seinem „Stahl“ nur die Luft „peitscht“?
XV. Humoresken
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X. Verbogen und zerkniffen war der vord’re Rand an meinem Hut, Und rötlich färbte er sich auch, wie es des Trinkers Nase tut; Und wenn ich auf der Straße ging, so fiel ich in der Spötter Schlingen, Das füllte mich mit Ärger; der Chapeau29 war doch im ganzen gut. Drum dreht‘ ich ihn, bis hinter mir des Würdigen gelähmte Schwingen, Und vorn den wohlerhalt’nen Rand trat ich einher mit frischem Mut. Doch weh! an meinem Rücken nun die tausend schlimmen Augen hingen, Ich hörte zischeln hinter mir, und in den Kopf stieg mir das Blut Und zwang mich, den verdammten Filz flugs wieder vorn herum zu bringen, Denn lieber vor als hinter mir mag ich der Tadler stille Wut. In seinen Schatten neige dich, Schlußton von allem meinem Singen, Mein treues Lieb, und tröste mich mit deiner Lippen süßer Glut!478
Man darf dieses Gedicht ein wahrhaft krönendes Finale nennen. Sein Gegenstand – ein alltäglicher Hut – kontrastiert aufs frivolste mit der hehren Gattung des Gasels, die traditionsgemäß würdigere Sujets bedichtet: die Liebe und die Geliebte, die Lebensfreude, die Frömmigkeit, die Allmacht Gottes. Und nun ein „Chapeau“, noch dazu „verbogen und zerkniffen“, als Hauptthema der seriös fortschreitenden und ausladenden Langzeilen dieses „Gasels“! Parodiert da nicht schon das Objekt das Formgesetz? Und parodiert der Träger des Objekts es nicht abermals? Wie der junge Mann hier den beschädigten vorderen Hutrand nach hinten dreht, um ihn vor den Spöttern auf der Straße zu verbergen, wie nun aber die hinter ihm Dreinmarschierenden den Schaden bemerken und zu zischeln anfangen, so daß er den Hut wieder an seinen korrekten Bestimmungsort zurückdreht – das alles hat eine gestische Lebendigkeit und eine bühnenreife Komik, wie sie in der Lyrik selten sind. Die Tücke des Objekts bemächtigt sich da mit Witz eines ihm fremden Genres. Doch diese Tücke – und das verleiht dem Gedicht seine Doppelbödigkeit – stellt zugleich das Subjekt bloß, mehr noch: entblößt es. Der Hut, zur Zeit Kellers und noch lange danach, ist ein Zeichen sozialer Ehrbarkeit; er weist dem Individuum symbolisch seine Zugehörigkeit zur Gesellschaft an. Wenn im Grünen Heinrich der bayerische König incognito dem aus der Schweiz zugereisten ahnungslosen Fremdling den Hut vom Kopf schlägt, so ist das mehr als bloßer Mutwille, ist eine vorläufige Aufhebung seiner Bürgerlichkeit.479 So versteht sich, daß im vorliegenden „Gasel“ der Held an seinem Hutschaden leidet und seine symbolisch beschädigte Bürgerlichkeit zu verbergen sucht. Aber wie er das tut, wie er die Spötter vor und hinter ihm, samt ihrem Zischeln wahrzunehmen glaubt – das erinnert uns an Träume, in denen wir mit der Tücke des Objekts vergeblich ringen und uns in aller Öffent29
Frz. für Hut.
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XV. Humoresken
lichkeit bloßgestellt sehen. Insbesondere die körpereigene Nacktheit kann auf diese Weise unsere Träume heimsuchen und unserem Schamgefühl eine peinliche Fehde liefern. Das Gedicht handelt just von dieser Nacktheit, genauer: vom eigentlichen männlichen Geheimnis. Daß die Männlichkeit des lyrischen Subjekts sich hier in einen Hut kleidet, früher ein in Träumen wohlbekanntes Sexualsymbol480, wäre so fatal nicht, würde seine Beschädigung nicht für allgemeinen Spott sorgen. Versagungsängste des lyrischen Sprechers dürfen wir vermuten, wenn er seinen Hutrand „verbogen und zerkniffen“ wähnt. Wenn er jedoch zugleich eine ‚rötliche Färbung‘ des Hutes wahrzunehmen glaubt, analog zur Vermehrung der roten Blutkörperchen beim Anschwellen des Glieds, so wäre seinen Versagungsängsten Schach geboten, fiele ihm nicht „des Trinkers Nase“ ein, die ihrerseits ein Sexualsymbol, aber ein ohnmächtiges, ein durch reichlichen Alkoholgenuß entwaffnetes, darstellt. So scheint der wie ein Fremdkörper wirkende Vers mit seiner überraschend rötlichen Färbung und seinem Trinker-Vergleich einen Sinn zu gewinnen, wobei der Trinker gleichzeitig den Anschluß zur ersten Sinnebene des Gedichts, der beschädigten Bürgerlichkeit, herstellt. Wer an der These von den männlichen Versagungsängsten Anstoß nimmt, sei an eine hinreißend plastische Metapher dieses Gedichts erinnert: „des Würdigen gelähmte Schwingen“ nennt das Ich mit schönem Pathos den verbogenen Hutrand, nennt ihn so in unbewußter Anlehnung an seine symbolische Bedeutung als Manneswürde.
XVI. Artistenspiele Der junge Keller, der politisch und weltanschaulich so engagiert Partei ergriffen hat, Partei im Medium des Gedichts, ist wiederholt auch als lyrischer Artist aufgetreten: ein Formkünstler, der gewissen Sachverhalten pointierte Reize abgewinnt und an ihnen seinen Witz, seine Rhetorik, seine Formkraft erprobt, so daß die Aussage zum l’art pour l’art tendiert. Zweifellos verrät schon manches Gedicht aus dem Kapitel Humoresken diese Tendenz. Wenn Keller im Narr des Grafen von Zimmern und in Lacrimae Christi kirchliche Sujets mit Witz behandelt, ja sie mit Frivolität vorführt, so muß er sie zugleich mit sublimster Ästhetik darstellen, um dem Vorwurf pietätloser Willkür zu entgehen. Nur ästhetische Virtuosität kann dem Einwand, es handle sich um pure Respektlosigkeit, standhalten. Für solche Virtuosität läßt Keller von früh an eine ausgesprochene Neigung erkennen. Sie bezeugt sich beispielsweise in seinen lyrischen Farbkompositionen (die er später als Erzähler wiederaufgreifen und erweitern wird). Wie Keller namentlich die Farben Rot und Weiß zu Leitmotiven seiner Gedichte erhebt, ist bemerkenswert: Sie werden einerseits zu Bedeutungsträgern, erlangen aber auch einen über jede fixierbare Bedeutung hinausgreifenden Eigensinn aufgrund einer auffälligen Überbetonung, einer ausgeklügelten vielfältigen variatio, so daß man zuletzt von einer Farben-Autonomie reden möchte. Ein derart autonomes Spiel erprobt Keller auch mit anderen Motiven und Stilfiguren: so, wenn er die Antithese zwischen poetischem Lied und gänzlich unpoetischer Nahrungsaufnahme mit offenkundiger Lust an Pointen und Übertreibungen entwickelt, wenn er einen weiblichen Mund überraschend in die Sphären eines „Glöckleins“ und eines „Becherleins“ versetzt und beide Sphären pointiert ineinanderschlingt, wenn er dingliche Objekte mit Menschlichem grotesk verschränkt und die Groteske effektvoll ausschmückt, wenn er Frauenhaar mit extremen Bedeutungen auflädt und der poetischen Phantasie eine ekstatische Kapriole erlaubt. Nicht auf die angemessene Proportion zwischen einer Aussage und ihrem ästhetischen Ausdruck zielt Keller hier, vielmehr verleiht er dem Ausdruck einen luxuriösen Reichtum, der die Aussage verschwenderisch einkleidet. Dieser ästhetische Luxus erinnert an ein Formgesetz der Kunst, die es nicht auf Zweckmäßigkeit um jeden Preis abgesehen hat, auch nicht auf die möglichst funktionale Anpassung der künstlerischen ‚Gestalt‘ an den ‚Gehalt‘, wie etwa das Design
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XVI. Artistenspiele
und andere ästhetische Alltagsphänomene: vielmehr liegt der Kunst ein Spiel zugrunde, das über den Gehalt dysfunktional, mit Arabesken, Einfällen, Phantasien hinausschießen kann und so den mitspielenden Lesern und Betrachtern die befristete Freiheit von der allgegenwärtigen Zweckrationalität ermöglicht. Rosenwacht zählt zu jenen frühen Gedichten Kellers481, die von einem antikirchlichen Affekt durchsetzt sind und in denen ein Vorklang der Feuerbachschen Diesseitsphilosophie hörbar wird. Nicht der Priester im schwarzen Gewand und mit dem schwarzen Gebetbuch zieht die Aufmerksamkeit eines ‚Sterbenskranken‘ auf sich, sondern der Abglanz des Lebens: „Die Sonne hält das heil’ge Totenamt.“ Es ist der „volle Abendglanz“, der in das Krankenzimmer hereinbricht und mit seinem „rote[n] Golde“ das Priester-Schwarz in den Schatten stellt, aber auch das Weiß des todbleichen Antlitzes überflutet, als sollte das verfrühte Wirken des Todes, der da „ein Jünglingsleben“ heimsucht482, wettgemacht werden durch Glut und Glanz der Lebensfarbe. Der „Totentanz“ wird zum Ausgangspunkt einer Symphonie in Gold, die der lyrische Erzähler mit einem virtuosen Perspektivwechsel inszeniert. Zunächst tritt das Innere des Sterbezimmers für einen Augenblick ins Blickfeld, ehe das „Sommerland“ draußen mit seinem fließenden Gold aufleuchtet, das nun einzelne Gegenstände des Raumes anstrahlt, wobei neben dem Priester-Schwarz vor allem die weiße Farbe der Kammerwand, des Sterbenskranken und des Linnentuchs überblendet wird. Erneut rückt durch die Hinwendung der Dinge und Menschen „nach Westen“ die Abendsonne in den Blick, die dann mit dem Rauminnern sich in einer Art Klimax vermählt, veranschaulicht am Bild des Sterbenden, der in leidenschaftlichen Zügen sich des Lebens noch einmal bemächtigt: „Sein Nachtmahlkelch ist flüssig Sonnengold, / Wie durstig trinkt er diesen Liebessold!“ Mit dem mehrfachen Wechsel von Innen- und Außenperspektive kann der Erzähler sein Farbenspiel geradezu verschwenderisch in Szene setzen, bevor er es mit dem „letzte[n] Sonnenstrahl“ abruft, aber nicht, um dem Tod die Herrschaft zu überlassen, sondern um ihn zu bannen durch ein Sinnbild des Lebens: den „frische[n] Rosenstrauch“ im Sterbezimmer, der nun die Totenwacht hält, die zugleich – der Symbolik roter Rosen gemäß – eine Liebeswacht ist, ehe der „Herr[ ] des Lebens“ auch die Rosenblüten an ihre Vergänglichkeit mahnt.
Eine „Totenwacht“ inszeniert Keller auch in Winterabend. Ursprünglich der Gruppe Sonette in den Gedichten zugehörig483, hat er Winterabend in die Gesammelten Gedichte von 1888 übernommen484, mit großem Recht, wie man angesichts der artistischen Komposition sagen darf.
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Winterabend Schneebleich lag eine Leiche und es trank Bei ihr der Totenwächter unverdrossen, Bis endlich ihm der Himmel aufgeschlossen Und er berauscht zu ihr auf’s Lager sank. Von rotem Wein den Becher voll und blank Bot er dem Toten; bald war übergossen Das Grabgesicht und purpurn überflossen Das Leichenhemd; so trieb er tollen Schwank. Die trunken rote Sonne übergießt Im Sinken dieses schneeverhüllte Land, Daß Rosenschein von allen Hügeln fließt; Von Purpur trieft der Erde Grabgewand, Doch die verblaßte Leichenlippe tut Erstarrt sich nimmer auf der roten Flut.
Die Komposition beruht wie in Rosenwacht auf einem Farbenspiel, das den Tod mit dem Glanz des Lebensgenusses humoristisch überblendet. Der eine schneebleiche Leiche betreuende Totenwächter hat sich dem Wein ergeben und sich in die Seligkeit des Himmels hineingetrunken, wobei er großzügig auch den Toten bewirtet, dem er einen Becher roten Weins anbietet: „bald war übergossen / Das Grabgesicht und purpurn überflossen / Das Leichenhemd; so trieb er tollen Schwank.“ Die Surrealität, die der Schwank zeitigt, gewinnt geradezu expressionistischen Charakter. Wie der Totenwächter gerät auch die Sonne, als sei sie von seinem Treiben überwältigt, in Ekstase; und wie der Totenwächter trunken „auf’s Lager sank“, sinkt auch sie, anscheinend berauscht, ihrem Untergang entgegen: „Die trunken rote Sonne übergießt / Im Sinken dieses schneeverhüllte Land, / Daß Rosenschein von allen Hügeln fließt; / Von Purpur trieft der Erde Grabgewand“. Was für ein Bild! In seiner antinaturalistischen Kühnheit, seiner orgiastischen Dynamik, seiner Sprengung der realistischen Anschauungsweise durch Farbenfluß und Farbenpoesie nimmt es die Naturansichten eines Georg Trakl vorweg. Ähnlich wie Leichenhemd und Grabesstätte sich ekstatisch erweitern zum „Grabgewand“ der ganzen Erde, übergießen das Rot des Weins, Purpur und Rosenschein der Sonne das schneeverhüllte Land, so daß ein surreales Widerspiel entsteht zwischen dem ursprünglichen Weiß der Landschaft und der gewaltig auftrumpfenden Symphonie in Rot und Purpur. Die Begegnung zwischen dem Toten und dem Totenwächter steht zwar im Zeichen des Lebensgenusses, nicht der Trauer und des Jenseits, explodiert aber durch Kellers phantastischen Humor zu einem Farbgemälde, das einer eigenen Dynamik gehorcht und den Fluß des Weins zur Trunkenheit der Natur steigert.485
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Kontrapunktisch zu Rosenwacht und Winterabend liest sich Geistergruß 486 Ich sah ein holdes Weib im Traum Auf rotem Laube sitzen Wohl unter einem bereiften Baum, Der tät‘ wie Silber blitzen. Er blitzte wie Silber und Krystall In lieblicher Wintersonne; Leis rauscht‘ der Wind, wie Demantenfall30 Perlt’s von des Baumes Krone. Und auch der Schönen wallendes Haar Sah weiß wie Schnee ich prangen; Denn ach, wie manches liebe Jahr Ist schon in’s Land gegangen! Doch blühte noch ihr Antlitz fein Gleich weißen Rosenauen, Im Aug‘ der alte Sternenschein Und rot der Mund zu schauen. Wo kommst du her, wo gehst du hin? Sprach ich mit sanftem Beben; Bist selig? Bist du Büßerin? Wo lebst du nun dein Leben? Sie lächelte mild am selben Ort, Auch hab‘ ich sie nicken sehen; Sie sprach ein halb gehauchtes Wort. Das konnt‘ ich nicht verstehen. Des Reifes Flocken fing sie dann, Die fallenden, unverdrossen Und bot mir die Juwelen an, Die auf der Hand zerflossen. Drauf stieg der Nebel aus dem Tal, Empor aus Fluß und Weihern, Verhängend rasch des Waldes Saal Mit seinen dichten Schleiern. Ich sah sie zwischen die Bäume hinein Tief in den Schatten gehen Und ihres Haares Silberschein In Düsternis verwehen. Noch hat es hier, noch hat es dort Wie Augenglanz gefunkelt; Zuletzt war die Erscheinung fort Und auch der Traum verdunkelt.
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Demant: Diamant.
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Dominieren in Rosenwacht und Winterabend Gold, Rot und Purpur über die Farbe weiß, so ist es in Geistergruß umgekehrt: das Rot bildet den Hintergrund, vor dem sich das Weiß umso prächtiger abhebt. Insofern bilden die Gedichte eine Trias, die ihre eigene Umkehrung vorführt. Die überwältigend leuchtende Abendsonne in Rosenwacht und Winterabend ist in Geistergruß zur „liebliche[n] Wintersonne“ abgemildert, die einen „bereiften Baum […] wie Silber blitzen“ läßt. Unter diesem Baum, der überdies wie „Krystall“ funkelt, sitzt „auf rotem Laube“ das vom lyrischen Erzähler im Traum geschaute „Weib“. Ein Wunschbild, gewiß, wie eben Träume heimliche Wünsche ins Bild umzusetzen pflegen, aber die Erotik des Wunsches ist zugleich – auch dies ist für den Traum charakteristisch – durch eine Zensur gedämpft. Denn „Silber“ und „Krystall“ und der wie Diamanten vom Baum perlende Reif – sie sind allesamt metaphorische Zeichen eines sublimen und kostbaren, aber ohne Feuer und ohne Begier strahlenden Eros, ähnlich wie „der Schönen wallendes Haar“ voll anziehenden Zaubers ist, aber auch „wie Schnee“ prangt; es ist ein Sinnbild gebleichter Magie, ist doch seit der letzten Begegnung mit dieser Schönen „manches liebe Jahr […] in’s Land gegangen!“ Noch ist indes die ursprüngliche Anziehungskraft der geliebten Frau spürbar, wird sie gleichsam tradiert von den „weißen Rosenauen“ ihres Antlitzes, in dem die Augen ihren „alten Sternenschein“ und der Mund sein sinnliches Rot bewahrt haben. So reicht in den Traum die Erinnerung an den Eros von einst lebendig und zugleich gedämpft hinein. Mit den zahlreichen Variationen der Farbe weiß wird in das Liebesfeuer ein kühlender Hauch eingeführt, der die Liebenden auf Distanz hält. Um das Spiel mit der Farbe durch weitere Nuancen zu bereichern, läßt der Erzähler die Schöne „des Reifes Flocken“ auffangen und als Juwelen dem Träumer anbieten: ein augenblicklich zerfließender Schmuck, der keine dauerhafte Gemeinsamkeit zwischen den beiden mehr zu stiften vermag. Mit welcher Virtuosität der Erzähler die Farbe weiß zu variieren versteht, demonstriert das Ende seines Gedichts. Es ist auch das Ende des Traums. Das Weiß verdichtet sich dem Träumer zu einem Nebel, der „dichte[ ] Schleier[ ]“ bildet. In ihnen verschwindet die Frau zusehends, begleitet von „ihres Haares Silberschein“; noch funkelt es hier und da „wie Augenglanz“, doch breitet sich schließlich unwiderrufliches Dunkel um die kostbar schöne Erscheinung. Die den Eros von Anfang an zensierende Scheu, die eine ganze Sequenz von weißen Blitzen, Kristallen, Diamanten, Auen und Juwelen hervorgebracht hat, ist zur dominierenden Macht geworden und hat das herbeigesehnte Weib ganz verhüllt. Die Verdichtung des Weiß hat ihr psychisches Korrelat in der wachsenden Verdrängung des erotischen Wunsches. Die virtuose Komposition mit ihren Variationen in Weiß ist alles andere als ein bloßes Glasperlenspiel, ist vielmehr eine later-
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na magica über dem doppelten Boden einer zwischen Sehnsucht und Abwehr bewegten Seele. Kellers lyrische Farbgebungen korrespondieren auffällig mit seinen epischen. Ein Blick auf den Grünen Heinrich mag davon überzeugen. Der Held, den im Kindesalter der Glanz der Abendröte fasziniert, der einen Sonntagsbesuch auf dem Lande mit der aufkeimenden Liebe zu der jungen Anna krönen wird, auf der die Abendröte ruht: dieser Held hat seine erste Knabenliebe unter der magischen Beleuchtung des Mondlichts erlebt, als ihm eine schöne Schauspielerin im „weißen Nachtkleid“ entgegentrat, Hals und Schultern entblößt, und „einen milden Schein wie nächtlicher Schnee“ ausstrahlte; eine spätere Jugendliebe erlebt er abermals im Banne dieses nächtlichen Weiß, als die frauliche Judith sich in ihrer „schneeweißen Leinwand“ zeigt, woraus „mit blendender Schönheit“ ihre „weißen Schultern“ hervorleuchten und ihm eine Ahnung vermitteln von der „ewigen Heimat des Glückes“. Die eine wie die andere Farbe, die Abendröte und das nächtliche Weiß, gewinnen im Verlauf der Romanhandlung einen eigenen Reichtum an Bedeutungen; sie spiegeln Lebenserfahrungen des Helden wider, nehmen leitmotivischen Charakter an und verleihen dem Romangeschehen immer wieder atmosphärisches Kolorit, ein Kolorit, das gegensätzliche Aggregatzustände der Psyche umspannt. In einigen seiner lyrischen Gebilde pointiert und intensiviert Keller die Farbgebung seiner Epik; im schmalen Raum des Gedichts fällt sie noch stärker ins Auge als im ausgedehnten Erzählraum, läßt sich mit ihr ein noch virtuoseres Spiel treiben als dort. Zeittypische Phänomene, aber auch singuläre Erscheinungen jeder Art hat Keller einer artistischen Komposition unterworfen. Ghasel lautet der erste Untertitel487 eines Doppelgedichts mit der Überschrift Aus ihrem Leben: Dichtung und Wahrheit (Text des Ghasel in der Anmerkung)488. Das erste Verspaar, das eine Art Aufgesang bildet, präsentiert eine groteske Antithese: der dem „Lerchensang“ huldigende Poet ist auch ein gefräßiger Liebhaber gebratener Lerchen. Der Mittelteil des Gedichts erweitert diese Antithese und bietet die doppelte Anzahl an Verszeilen: vier. Die Groteske gewinnt dadurch Kontur und Farbe: „Bei Sonnenaufgang“, wenn der Tag poetisch schön „in Blau und Gold erglüht“, stimmt der Poet sein „Morgenlied“ an, das den Lerchengesang hymnisch preist; „bei Sonnenuntergang“ verleugnet er sein morgendliches Tun, indem er die „Liederbrust gebratner Lerchen“ gierig auf seine Gabel spießt. Was für ein Kontrast! Mehr noch: welch komisches Paradoxon. Die linke Hand des Dichters, die morgens einen Federkiel führt, weiß nicht, was die rechte tut, die abends mit einem „Gabelspieß“ bewaffnet ist. Der Idealismus des Poeten, der zu Tagesbeginn Schwung erhält durch Lerchenflug und Lerchenlied am blauen Himmelszelt, weicht am Ende des Tages einem schnöden Materialis-
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mus. Ein und derselbe Gegenstand – die Lerche – provoziert zwei unvereinbare Extreme. Kellers Abgesang, der wiederum, parallel zum Aufgesang, zwei Verszeilen umfaßt, bannt diese Extreme in eine satirische Pointe. Der Poet, Lerchensänger einerseits, Lerchenverzehrer andererseits: erfaßt er nicht die Natur nach allen Seiten, nach ihrer musisch-ästhetischen wie nach ihrer physisch-fleischlichen? Bedauerlich nur, daß der physischfleischliche Drang den poetischen ins Zwielicht rückt. Beide Male macht der Tausendsassa die Natur zur Unnatur: das eine Mal, indem er sie für ein konventionelles poetisches Geschäft, das andere Mal, indem er sie für ein Leib-und-Magengericht ausplündert. Bei diesem kalkulierten Unterfangen verhält er sich gleichzeitig archaisch, nach Art jener Primitiven, die geglaubt haben, sie würden mit der Einverleibung eines Anderen auch dessen geistige Fähigkeiten in sich aufnehmen. Keller hat den schroffen Zwiespalt zwischen hochtrabendem Idealismus und unverfrorenem Materialismus auch in seiner Erzählkunst verspottet, etwa in seiner Geschichte von den Mißbrauchten Liebesbriefen im zweiten Band der Leute von Seldwyla, wo zwei ausgemachte Narren, der Kaufmann Viggi Störteler und seine dichterische Spießgesellin Kätter Ambach, des öfteren zu Höhenflügen des Gemüts wie zu Abstürzen ins tierische oder materielle Wohl ansetzen. Mit possenhafter Lust treibt Keller solche Pendelausschläge erzählerisch auf die Spitze, ähnlich wie er sie lyrisch ins Groteske und Absurde treibt: durch stufenweise Ausschmückung und Verschärfung der Antithese zum Paradox, wobei er ein Formelement des Ghasels, sein Reimschema, virtuos ausnutzt. Das idealistischmaterialistische Reimpaar des Beginns („sang“ und „schlang“) wird an jedem übernächsten Versende („klang“, „drang“) variiert, ehe es am Ende in „schwang“ zur unauflöslichen Ambivalenz vereinigt wird, unterstützt durch die Adverbien „auf“ (Tagesbeginn) und „nieder“ (Tagesende). Ironisch läßt Keller die beiden Pole, den poetisch-idealistischen und den empirisch-materialistischen, auseinanderklaffen, jene Pole, die er in seiner schriftstellerischen Entwicklung zu versöhnen trachtete – der Entwicklung zum ‚Bürgerlichen Realismus‘. Verschärft Keller die rhetorische Figur der Antithese in Ghasel stufenweise, bis sie den Poeten blamiert, so verdoppelt er in Vergleich (Text siehe Anmerkung)489 die rhetorische Figur des Gleichnisses, bis eine geliebte Person ganz darin aufgeht: in das Gleichnis eingeht. Genau besehen, handelt es sich um ein Doppelgleichnis.490 Dem Mund einer Geliebten wird phantasievoll eine zweifache Gestalt verliehen: erst die eines „unermüdlich plaudernd[en]“ „Glöcklein[s]“, dann, indem das Glöcklein auf den Kopf gestellt wird, die eines „Becherlein[s]“, aus dem sich „allersüßeste[r] Wein“ trinken läßt. Die Diminutive atmen biedermeierlichen Geist und werden – parallel zu den Gleichnissen – konsequent bis zur Schlußpointe beibehal-
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ten, die ihrerseits mit einem Diminutiv frappiert: Das „Zünglein“ im „Mündchen“ der Geliebten ist das „Schwengelchen“, „das nie schweigt, als wenn ich dich küssen tu’!“ So meistert der lyrische Erzähler das heikle Problem einer Kuß-Beschreibung, indem er von der schönen Sache selbst auf ihre metaphorische Darstellung die Aufmerksamkeit lenkt: so wie er zuvor den Genuß des Küssens in das Bild des Becherleins voll Wein gekleidet hat. Sorgen die Diminutive dafür, daß Eros in aller Unschuld, mit Taubenfüßen gleichsam, auftritt, so die metaphorische Darstellung, daß er sich indirekt, sozusagen ‚durch die Blume‘ äußert. Es kommt mehr auf die artistische Inszenierung zweier Bildbereiche als auf die Darstellung des Eros selber an. Strophe I ist dem Gleichnis des Glöckleins gewidmet, dessen „silberne[r] Schall[ ]“ die Stimme der Geliebten zur Musik erhebt: „zart wie ein Luftlied“, „melodisch rein“. Strophe II erprobt die Umkehrung des Glöckleins zum Becher voll Wein, sprich: zum küssenden Mund, Strophe III schenkt dem (Wein-) Kuß-Genuß zwei Zeilen, ehe sie den Becher wieder in das Plauder-Glöcklein verwandelt. Es geht um das ästhetische Spiel mit Gleichnissen und um deren Ineinanderspiel – die Verwandlung vom Glöcklein zum Becherlein und umgekehrt. Strophe IV präsentiert die Gleichnisse gleichzeitig, in einem Atemzug, und brilliert mit der Pointe des „Zünglein[s]“ als eines „Schwengelchen[s]“, mal in hallender schallender Bewegung, mal lautlos dem Kuß zugetan. Keller hat es ganz offenkundig auf eine virtuose Demonstration abgesehen: den Mund der Geliebten in ein Doppelgleichnis zu verwandeln, dergestalt, daß die Gleichnisse erst abwechselnd – Strophe für Strophe – und dann im Bunde miteinander zur Sprache kommen: daß Plaudern und Küssen wie die zwei Seiten einer Medaille – pardon, eines Mundes – erscheinen. Die Verwandlung eines lebendigen Organs – des Mundes – in die metallene Metapher des Glöckleins und dessen brüske Umkehrung in einen Trinkbecher: diese doppelte Operation ist nicht ohne Kühnheit, nicht ohne aparte Willkür seitens des phantasierenden Humors. Es handelt sich um einen poetischen Einfall nach Art des concetto, einer ins Manieristische spielenden Stilfigur. Ihr hat Keller eine besondere Ehre erwiesen in Die Aufgeregten491. Abermals sind es Diminutive, die Keller Strophe für Strophe exponiert, aber diesmal verweisen sie nicht auf Menschliches, sondern auf dingliche Objekte, denen Menschliches angedichtet wird. Das erzeugt jene bizarren und grotesken Mißverhältnisse, mit denen Keller ironisch spielt: „Eine Bachwelle und ein Sandhäufchen / Brachen an einander sich das Herz!“ Stets ereignet sich zwischen den Dingen etwas Tragisches, und das treibt die Groteske auf die Spitze, zumal von Kleinstdingen die Rede ist, von kaum wahrnehmbaren Miniaturphänomenen: „Und ein holder Schmetterling zerriß / Den azurnen Frack im Sturm der Mailüftchen!“ Bewußt komponiert Keller dem Gedicht metaphorische Brüche
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ein, die bis zur Absurdität aufklaffen. Die Komik des „azurnen Fracks“, metaphorisch für die blaue Luft, steigert sich durch das zerstörerische Werk des „holde[n] Schmetterling[s]“ und eskaliert im Paradoxon des „Sturm[s] der Mailüftchen“: ein poetischer Nonsense im Vorgriff auf Morgenstern und auf dadaistische Lyrik. Gleichwohl ist den Absurditäten ein Gran Ernst beigemischt, stilkritischer Ernst. Keller parodiert jene zeitgenössische Literatur, die Nebensächliches und Geringfügiges dramatisch intoniert, Prosaisches mit Stimmungswerten auflädt und Trivialitäten zu Tragödien herausputzt. Wie dergleichen funktioniert, hat er in den Mißbrauchten Liebesbriefen satirisch dargestellt. Die Art und Weise, wie dort sein ‚Held‘ Viggi Störteler, ein Geschäftsmann und Poet dazu, hinter einer toten Blindschleiche oder einer Wagenfurche Tragisches wittert, in groteskem Mißklang zur Öde seiner Existenz, ist der poetischen Butterblume nicht unähnlich, die wegen eines verspritzten Tröpflein Taus ihren Geist aufgibt. Keller macht sein Mißtrauen gegen hochgeschwelltes Pathos zur Inspirationsquelle für „tief bewegte Lebensläufchen“, die er mit ironischsatirischer Fabulierkunst einer absurden Komik preisgibt. Ein Gegenstück zur unechten, inadäquaten „Leidenschaft“ der „Aufgeregten“ bildet der „wilde[ ] Geist“ im unmittelbar folgenden Gedicht: Aurelie Wenn so goldrötlich dunkel Mit schillerndem Gefunkel Dein Haar in Ruhe liegt, In Flechten reich gebunden, Von Purpurband umwunden Sich an die Wangen schmiegt: Dann ist es uns der Ordnung Bild Und streng gezog’ner Schranken, Und wir ergeh’n uns friedlich mild In zierlichen Gedanken. Doch wenn in ungebund’ner Pracht es sich aufgetan, Dann haucht ein unumwund’ner Und wilder Geist uns an, Wie wenn von Bergeshöhen Die Feuerzeichen wehen Und glüh’n von Tal zu Tal! Die dunkle Flamme flüstert, Die rote Seide knistert, Nun ist dein Haar ein lohes31 Und leidenschaftlich frohes Hochwehendes Streitsignal!492 31
altertüml. für brennendes, flammendes
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Es ist, als wollte Keller demonstrieren, wie authentische Leidenschaft entzündet werden kann, wie selbst Äußerliches, in diesem Fall Frauenhaar, eine solche Entzündung hervorzubringen vermag. Wird im traditionellen Frauengedicht, im petrarkistischen und seinen Nachbildungen beispielsweise, die weibliche Erscheinung in ihrer Ganzheit oder zumindest bedeutende Ausschnitte davon beschworen, so verlegt sich Keller auf das singuläre Phänomen der Haartracht. Die erste Strophe beschreibt das „in Ruhe“, „in Flechten reich gebunden[e]“ und „von Purpurband umwunden[e]“ Haar der Frau: ein Bild der „Ordnung“, das die Betrachter zu „friedlich mild[er]“ Stimmung und „zierlichen Gedanken“ einlädt, mithin ein Bild der sozialen Rolle, die einer allgemeinen Übereinkunft zufolge die Frau spielen soll. Die zweite Strophe errichtet den eklatanten und zugleich bis in die Attribute hinein präzisen Gegensatz dazu: das Haar in „ungebund’ner / Pracht“, von dem ein „unumwund’ner / und wilder Geist“ die Betrachter anweht. Kann das Haar, an und für sich betrachtet, Geist enthalten und Geist ausatmen? Wohl kaum … Wohl aber kann es die Phantasie und den Geist seiner Betrachter entbinden und zu Höhenflügen anregen. Eben dies ist hier der Fall, im wahrsten Sinn des Wortes. Der vom Haar ausgeatmete bzw. der dorthin hineinphantasierte Geist wirkt, „wie wenn von Bergeshöhen / Die Feuerzeichen wehen / Und glüh’n von Tal zu Tal!“ Was für ein ekstatisches Höhenbild, fernab von der konkreten Lage des angeschauten Frauenkopfes, und doch mit diesem durch eine farbliche Komponente insgeheim verbunden: es ist das „goldrötlich dunk[le]“ und „schillernde[ ] Gefunkel“ des Haars, das nun, im aufgelösten Zustand, gleichsam explodiert und zu Feuer und Glut wird, dergestalt, daß selbst der dunkle Ton im Haar zur „Flamme“ und das Purpurband zu knisternder „Seide“ erregt werden. Es folgt eine letzte Aufgipfelung, die zugleich das Finale des Gedichts bildet. Das Haar entflammt zum „hoch-wehende[n] Streitsignal“, nicht einem polemisch-aggressiven, sondern von froher Leidenschaftlichkeit besetzten Signal, das offenbar die zuvor angemahnte „Ordnung“ mit ihren „streng gezog’ne[n] Schranken“ und der „friedlich[en]“ Milde der Gedanken herausfordert und umstürzt. Soviel Gewalt vermag eine weibliche Haartracht zu entbinden, genauer: soviel Geist, mit Antithesen kokettierender Geist, vermag die Phantasie des Betrachters einer Haartracht zu entlocken. Keller demonstriert ad oculos, wozu die poetische Einbildungskraft – je nach Haarfrisur – imstande ist, welche polaren Extreme sie aus den Frisuren hervorlocken kann. So ist das Gedicht weniger ein Lobpreis weiblichen Haars als das artistische Experiment einer ideenreichen, polaritätskundigen Phantasie. Von einem Meisterwerk kompositorischer Artistik sei abschließend die Rede.
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Stilles Abenteuer In dem Winkel einer Schenke saßen Einstmals Jäger nach vollbrachtem Jagen. Sie erzählten sich die feinen Künste, Wie des Wildes Heimlichkeit zu sehen, Alle Kreatur sei zu beschleichen. Als sie nun nicht ihrem Witz alleine, Sondern auch dem Glück erkenntlich waren, Griff ein alter Schlingel nach dem Faden Des Gesprächs und zog ihn an sich, gleich der Schnur, mit der ein Netz man zuzieht. Ein erlebtes Jugendabenteuer Bracht‘ er vor mit schlauen Blinzeläuglein, Daß die Köpfe sie zusammensteckten Und die Pfeifen bald erkalten ließen: „Wohl, ich saß im hohen Eschenbaume, In dem Kronenbusche still verborgen; Unter’m Baume lag ein schönes Weibchen Auf dem sonnbeglänzten Sand im Bade, Auf dem Rücken lag sie unbeweglich, Mit dem Köpfchen auf dem warmen Ufer, Ihre Arme reglos drum geschlungen. Doch die kleinen Füße, sie verschwanden In dem blauen Purpur des Gewässers; Aber sichtbar wurde schon das Leuchten Ihrer Knie‘ durch das bewegte Wasser, Und wie Glas auf ihrem weißen Schoße Unablässig floß die Welle weiter, Und die Silberfischchen schwammen ruhig Über ihre Hüften hin, erblinkend, Wenn sie steuernd ihre Flossen regten. Auf des Stromes hellbeglänzte Breite Sah die Schöne mit halb offnen Augen. Kahl und einsam lag das andre Ufer, Nicht ein menschlich Wesen zu erspähen. Doch auf einmal kam ein Schiff gefahren Mitten auf des Stromes heit’rem Glanze; Und ich sah das Schiff und sah die Schöne. Sachte, sachte schloß sie beide Augen, Nicht sich regend, bis das Schiff vorüber. Und die Schiffer fuhren in die Ferne, Nur nach ihrem Ziel den Sinn gewendet. – Triumphierend lächelte die Holde; Denn das Äußerste zu wagen und ihm Zu entgehen, lieben oft die Frauen. Doch sie ahnte nicht, daß ihr zu Häupten Sie belauscht ein arger Entenjäger, Den das Glück auf jenen Baum getrieben;
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Und ich mußte mich zusammenfassen, Nicht wie reife Frucht vom Baum zu fallen, Während ich in meinem Sinn erdauert’32, Was zum Heil der Schönen zu beginnen? Schweigen, fand ich, ist das Heil für Alle; Wenn ich schweig‘ von dem, was ich gesehen, Ist mir wohl und ihr nicht weh geschehen!“493
Die 1854 erstmals publizierte Verserzählung erhielt einen Rahmen, als Keller sie aus den Neueren Gedichten in die Gesammelte Gedichte übernahm. Dieser Rahmen – die erste Strophe der Zweitfassung – relativiert nicht einfach die „Unmittelbarkeit“ der Erstfassung, wie eingewandt wurde494, vielmehr betont er das dem Gedicht eigentümliche epische Element, ein Charakteristikum der Lyrik Keller. Der geborene Erzähler läßt sich auch im Reich des Lyrischen nicht verleugnen. Ferner ist dieser Rahmen identisch mit einem Genrebild. Da sitzen „in dem Winkel einer Schenke“, so recht nach Männerart, einige Jäger zusammen und erzählen sich ihre „feinen Künste“, als da sind: „Wie des Wildes Heimlichkeit zu sehen, / Alle Kreatur sei zu beschleichen.“ – Solche Beschleichung der Kreatur und ihrer „Heimlichkeit“ erhält eine vielversprechend-lüsterne Note durch „einen alten Schlingel“, den Erzähler des Abenteuers. Er zieht den „Faden des Gesprächs“ an sich, „gleich der Schnur, mit der ein Netz man zuzieht“. Und was zappelt da im Netz und muß zu Weidmannsheil darin schmachten? Ein „schönes Weibchen“, splitternackt obendrein! Das nämlich ist der Kern des „erlebten Jugendabenteuer[s]“ –. Die Frau auf dem Prüf- und Experimentierstand, zwar nicht mit Händen, aber mit Augen zu greifen. Die patriarchalische Manier dieses Eingangs ist uralt, schon die biblische Erzählung von „Susanna im Bade“ gemahnt daran. Und uralt ist auch das gesellschaftliche Gebot, den Leib des Weibes als ein Geheimnis zu respektieren und ihm nicht ungebührlich näherzutreten, auch nicht mit Blicken. Bekanntlich hat dieses Gebot eine besondere Variante der männlichen Schaulust herausgefordert: den Voyeurismus. Je strenger ein Geheimnis gehütet wird, desto mehr wächst die Neugierde, es zu lüften. Der Körper der Frau, ihre kostbare Mitgift und ihr wohlgehütetes Mysterium, entzündet seit jeher die voyeuristische Begierde des Mannes – den peinlichen Lustersatz dessen, der in Distanz zum Lustobjekt gehalten wird. In patriarchalischen Gesellschaften bleibt keine Herrschaftsform ungesühnt. Das gehört zu ihrer vertrackten Dialektik. Kellers Erzählgedicht hat diese Dialektik zu ihrer Voraussetzung, nicht zum Hauptthema. Sein Erzählton, der zu einem „alten Schlingel“ passen muß, seine Metaphorik, die um die Beschleichung eines „Wildes“ kreist, sein Genrebild intimer Geselligkeit – all das erzeugt von vornherein 32
altertümlich, im Sinne von erwägen
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eine humoristische Tönung des männlichen Sündenfalls. Und dieser Fall wiederum ereignet sich nicht de facto, als vertikaler Fall eines Körpers und Zusammenfall zweier Leiber, er bleibt in der Schau von der Höhe in die Tiefe gleichsam stecken: „Wohl, ich saß im hohen Eschenbaume, In dem Kronenbusche still verborgen; Unter‘m Baume lag ein schönes Weibchen Auf dem sonnbeglänzten Sand im Bade, Auf dem Rücken lag sie unbeweglich, Mit dem Köpfchen auf dem warmen Ufer, Ihre Arme reglos drum geschlungen.“
Erneut ein perfektes Genrebild. Ein verstohlener Beobachter als Zeuge einer intimen Szene. Der ideale Standort des Voyeurs verbürgt ihm Verborgenheit, aber auch eine souveräne Perspektive: von oben fällt der Blick nach unten und besitzt zugleich ungetrübte Übersicht. Die Symbolik des hohen Baums ist dem Herrschaftsgestus des Jägers, die Lagerstätte unten, an seinem Fuße, dem niederen Rang des „Weibchens“ angemessen. Aber der Zwang zum Stillhalten und zum Sich-Verbergen verleiht dem hohen Standort auch etwas unwürdig Kindliches und Komisches. Kellers humoristische Ironie bleibt fühlbar; sie zieht der voyeuristischen Schaulust alsbald eine Grenze: „Doch die kleinen Füße, sie verschwanden In dem blauen Purpur des Gewässers; Aber sichtbar wurde schon das Leuchten Ihrer Knie’ durch das bewegte Wasser, Und wie Glas auf ihrem weißen Schoße Unablässig floß die Welle weiter, Und die Silberfischchen schwammen ruhig Über ihre Hüften hin, erblinkend, Wenn sie steuernd ihre Flossen regten.“
Die Nacktheit der Schönen ist gleichsam verhüllt – das ist der faszinierende Einfall des Gedichts. All die begehrten Attribute des weiblichen Körpers, die in Kellers Jahrhundert die männliche Schaulust herausfordern – sie bleiben weitgehend verborgen. Präziser: sie werden entborgen und bleiben verborgen zugleich. Die Füße der Frau vom Stande, im vergangenen Jahrhundert stets beschuht und bestrumpft, folglich die Neugier des Beschauers anziehend, entziehen sich dem Blick durch die Poesie des „blauen Purpur[s]“, der das Wasser durchfärbt, durch den intensiven Widerschein also der Himmelsbläue und der Sonne. „Leuchten“ dafür nicht die Knie’ des Weibs – zu Kellers Zeit immer durch den langen Rock oder das lange Kleid verhüllt, also gleichfalls ein Gegenstand männlicher Neugierde – leuchten dafür nicht diese Knie’, ja auch ihr Schoß, verheißungsvoll zum Beschauer herauf? Sie tun es zweifellos, doch ist es ein bewegtes,
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durch das Wasser in Unruhe versetztes Leuchten, das die Konturen der begehrten Körperteile ständig verschiebt, zum Verschwimmen bringt. Gewiß, der Schoß der ruhenden Frau unterhält intime Zwiesprache mit den Wellen, die ihn bestreichen, so als gestatte sie sich die Vorfreude auf einen Liebesakt von sublimster Sanftheit; sie läßt sich auch regungslos das Treiben der Silberfischchen über ihren Hüften gefallen und kostet dergestalt die Bewegung auf ihrem Leib fühlbar aus – aber ihr eigentliches Geheimnis bleibt dem Blick des Betrachters dennoch halb entzogen. „Wie Glas“ wirkt das über sie ziehende Wasser, wie bewegliches Glas, das den „weißen Schoß[]“ optisch fernrückt. Er gerät sozusagen in eine ‚gläserne‘ Schwingung, die dem Auge des Voyeurs eine ruhige Fixierung verwehrt. Die dem Eros allem Anschein nach sich öffnende Frau ist an ihrem Einfallstor gegen die zudringlich-zugreifende Betrachterlust geschützt. Daß hier nicht nur Diskretion, sondern Scham die Feder Kellers führt, zeigt der Fortgang dieser Betrachtung. Sie steigt nicht etwa zur Brusthöhe der Badenden empor, um vielleicht doch noch ein Geheimnis auszuspähen, sondern führt von ihr fort und zu „des Stromes hellbeglänzte[r] Breite“ hin. Keller setzt nach der abenteuerlichen Darbietung der Badenden ein episches Pausenzeichen. Sein Betrachter – und mit ihm der Leser – darf Atem schöpfen durch die Blickrichtung auf das weite Meer. Nur so kann ein neuer dramatischer Augenblick ganz seine Wirkung entfalten: „Doch auf einmal kam ein Schiff gefahren Mitten auf des Stromes heit’rem Glanze; Und ich sah das Schiff und sah die Schöne.“
Der Badenden droht neue Gefahr – diesmal nicht vom begehrlichen Augenpaar des Baumhockers, sondern vom bemannten Schiff: wird sie in dessen Blickfeld geraten, vielleicht seine Besatzung zu näherer Betrachtung verlocken? Ein elektrisch geladener Augenblick, der in den Ursprung des Wortes, den Augen-Blick, umschlagen könnte! Wie aber entzieht man sich dem? Nach Kinderart – dadurch, daß man die eigenen Augen vor den fremden verschließt und so, gleichsam symbolisch, seinen ganzen Körper der Fremdbetrachtung entzieht. Die Scham gebietet der Frau solch symbolisch-archaisches Versteckspiel, gebietet ihr die vollkommenste Regungslosigkeit, die – welche Genauigkeit der Beobachtung! – bis in das behutsame Schließen der Augenlider vorwaltet: „Sachte, sachte schloß sie beide Augen, Nicht sich regend, bis das Schiff vorüber. Und die Schiffer fuhren in die Ferne, Nur nach ihrem Ziel den Sinn gewendet. –“
Die Vogelperspektive des Betrachters hat – nach den Verhüllungen des ersten Schauaktes – einen zweiten erregenden Höhepunkt erlebt mit der
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hochgespannten Frage: Werden die Schiffer die Schöne sichten oder übersehen? In der doppelten, zwischen der Schönen und den Schiffern hin und her wandernden Blickrichtung hat der Betrachter seine Schaulust neu entfachen dürfen – und sie erneut enttäuschen müssen. Der Humorist Keller hat dem Voyeur einen zweiten Streich gespielt. Der vermag indessen dem Geschehen, bei dem manches ungeschehen blieb, eine Einsicht abzugewinnen: „Triumphierend lächelte die Holde; Denn das Äußerste zu wagen und ihm Zu entgehen, lieben oft die Frauen.“
„Das Äußerste zu wagen“ kann hier wohl nur bedeuten, daß die Schöne es auf eine Entdeckung mehr oder weniger habe ankommen lassen. Eine gewagte Vermutung! Aber vielleicht hat sie, ihrer ewigen Verhüllung in Kleidern überdrüssig, in der Tat der Lust zur Selbstdarstellung und freien Körpererfahrung in der Natur nachgegeben und auch nicht ausschließen wollen, daß ein Schiff von fernher gezogen käme, bemannt und mit vielen Augen bewaffnet. Keller spielt gern auf alte Mythen an und mit Vorliebe auf den Mythos des aus der Ferne kommenden Schiffers mit Brautwerbung und erotischer Verlockung (vgl. seine Erzählung Regine und sein Gedicht Die Winzerin). Ob die Badende mit der Möglichkeit des Entdecktwerdens spielte, bewußt oder halbbewußt, bleibt ebenso ihr Geheimnis wie ihr Körper seine Geheimnisse wahrt. – So wie Keller mit dem Filigranstift vor den weiblichen Schoß das bewegte Glas des Wassers zeichnete, zeichnet er in das Gedicht behutsam die Dialektik des „Äußersten“ ein. Dialektik meint hier: Wenn das kulturelle Tabu einen dazu herausfordert, das „Äußerste“ zu übertreten, so hindert andererseits die Scham einen daran, die Übertretung de facto durchzuführen. Im Spiel mit dem Äußersten kann das angefochtene Tabu letztlich unverletzt bleiben. Nur indem wir es in Frage stellen, sind wir bereit, es gelten zu lassen. Mit dem Geltenlassen hat der Jäger in der Baumkrone freilich so seine Mühe; es fehlte nicht viel, und das Verlangen nach dem nackten Weib hätte ihn übermannt. Kellers Humor nimmt spöttische Züge an: „Und ich mußte mich zusammenfassen, Nicht wie reife Frucht vom Baum zu fallen“ […].
Andererseits scheint das Beispiel der Scham, die das Weib gegenüber dem „Äußersten“ zeigte, auch auf ihn zurückzuwirken, denn er fragt sich, was er „zum Heil der Schönen“ unternehmen könnte: „Schweigen, fand ich, ist das Heil für Alle; Wenn ich schweig’ von dem, was ich gesehen, Ist mir wohl und ihr nicht weh geschehen!“
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Die beiden Schlußverse bilden die Pointe des Gedichts und stellen dessen einziges Reimpaar vor. Das Schweigen, wofür sich der Voyeur entscheidet, schützt die Schöne vor jeglicher Nachrede und erspart ihr eine mögliche Beschämung im Nachhinein. Diese Schweigen zähmt aber auch den Voyeurismus, zu dessen Untugenden das großsprecherische Ausmalen dessen gehört, was der verstohlene Beobachter ausgestellt sah. Gleichzeitig krönt die Pointe jene Verhüllung des Enthüllten, die den Fortgang der Handlung so augenscheinlich lenkte. Denn zum Schutze dienten der nackten Schönen sowohl das bewegte Wasser wie auch die gleichsam blinden Schiffer, die ihr Auge unverwandt nach dem fernen Ziel hin gewendet hatten. Die so vielversprechende Ausgangslage des Voyeurs, der sozusagen vom Hochstand ins Geheimnis einer Frau einzudringen schien, geht in die Zone der Scham und des Schweigens über. Umsonst hat die Männerrunde die Köpfe zusammengesteckt, um von der ‚Beschleichung‘ eines Frauenwildes allerhand Derbes und Saftiges zu hören. Der „alte Schlingel“ mit den „schlauen Blinzeläuglein“ ist selbst zum Humoristen geworden: er hat den lüsternen Herrenverein geschickt genarrt und ihn, nicht die Frau, im Netz seiner Erzählung gefangen. Er hat, mit anderen Worten, seinen Zuhörern eine kleine Lektion erteilt. Was ziemt dem Mann, der eine Frau in einer heiklen Situation antrifft? Er insistiert nicht etwa auf ihrer Blöße, sondern kleidet sie mit Takt und Feingefühl in sein Schweigen ein. Es scheint, als habe Keller in seinem Erzählgedicht auch von sich selbst geredet – namentlich von seinem Zögern in Dingen der Liebe. Wenn der grüne Heinrich dieses Zögern in seiner Begegnung mit Dortchen Schönfund als eine unüberwindliche, peinigende Scheu erlebt, so kleidet es der Erzähler des Stillen Abenteuers in die humoristische Verhüllung des beinahe Enthüllten. Sein Eros wagt sich ein gehöriges Stück weit vor, aber beileibe nicht zu weit. Er übt sich in Diskretion gegenüber den ‚letzten Dingen‘. Kellers kompositorische Stilmittel entsprechen in mancherlei Hinsicht unserem Verständnis seines Gedichts, ja, sie werfen ein deutliches Licht darauf. Und dies im buchstäblichen Sinn des Wortes ‚Licht‘. Das Dunkel im „Winkel einer Schenke“ kontrastiert mit der Helle des „stillen Abenteuers“, einer in zahlreichen Variationen dargebotenen Helle, die so recht geschaffen scheint für eine voyeuristische Betrachtung, aber auch für die Lust des Körpers an Licht und Sonne. Die Ambivalenz der Helle ist kaum zu übersehen. Dem Leser drängen sich hier einige konsonantisch-vokalische Beobachtungen auf, die man vielleicht als Glasperlenspiele abtun möchte. Sie sind mehr als das. „Sonnenbeglänzter Sand“, „hellbeglänzte Breite“, „heit’re[r] Glanz[ ]“ – solche Wendungen fangen sowohl die Körperlust der Schönen wie auch die schnöde Augenlust des Voyeurs ein. Ein Charakteristikum der zitierten Wendungen ist die konsonantische Verbin-
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dung gl, die sich in dem hellen, aber zugleich verhüllenden „Glas“ wiederholt. Der Liquid l bleibt präsent als Zeuge des Lichts; er bildet den Anfang des „Leuchtens“ und regt sich in den „Silberfischchen“, deren „Flossen“ zu „erblinken“ pflegen. So entstehen konsonantische Leitmotive, die gleichsam als Lichtträger fungieren. Ein vokalisches Leitmotiv, das a, ist ihnen bekräftigend zugesellt: vom „sonnenbeglänzten Sand im Bade“ über das „Glas“ bis zum „heit’re[n] Glanz[ ]“ zieht sich der lichte Reigen dieser konsonantisch-vokalischen Verbindung. Ihre Variationen und Wiederholungen erzeugen nach und nach ein musikalisches Gewebe. Es breitet sich aus wie „das bewegte Wasser“. Auffällig an dieser Wendung ist, daß dem a-Vokal in Wasser derselbe Konsonant vorhergeht wie dem betonten eVokal in „bewegt“: der stimmhafte Reibelaut w. Dieser Konsonant nun macht viel von sich reden, ist gegenwärtig im „Gewässer[ ]“, in der „Welle“, die unablässig „weiter“ fließt, und im „schwammen“ der Silberfische, kurz, er vergegenwärtigt das flüssige Element als Spielgeselle des Lichts. Beide Elemente, das flüssige und das glänzende, gehen manche Verbindung miteinander ein, wie die im „bewegten Wasser“ „leuchtenden Knie“ bezeugen. Der w-Laut selbst ist im lichtdurchwirkten „weiß[ ]“ vorhanden, jenem Weiß, das den „Schoß[ ]“ der Badenden auszeichnet. Der konsonantische Anlaut des Schoßes kehrt seinerseits als auffällige Alliteration wieder: bei der „Schöne[n]“, die des „Stromes hellbeglänzte Breite“ betrachtet, und beim „Schiff“ samt seinen „Schiffer[n]“ sowie beim Schließen („schloß“) der Augen. Ganz offensichtlich bzw. ganz vernehmlich kündigt dieser sch-Laut das Wortfeld des weiblichen Geheimnisses und der bedrohten Scham an. Er tritt mit dem w-Laut, dem Träger des flüssigen Elements, dreimal unmittelbar zusammmen: im „schöne[n] Weibchen“, dessen im Wasser ruhendes Geheimnis vom Voyeur beäugt wird, im „weißen Schoße“, dessen Geheimnis sich als undurchschaubar erweist, und im „Schweigen“, wo es mit Takt gewahrt wird und die Scham auf beiden Seiten, bei Mann und Frau, obsiegt. Im ‚Schweigen‘ als dem „Heil für Alle“ sind nicht nur zwei konstitutive Anlaute (sch + w) miteinander vereinigt, sondern auch die ihnen entsprechenden Wortfelder des schönen Geheimnisses und der Scham, die es schützt. Das Schweigen ist zugleich die erzieherische Antwort auf den „Winkel einer Schenke“. Dort bezeichneten die beiden Anlaute (‚w‘ und ‚sch‘) den Ort des Voyeurismus, des Voyeurismus eines „alte[n] Schlingel[s]“, der „schlau[ ]“ und mit „Witz“ die „Schnur“ eines Netzes zuzuziehen schien, um darin des „Wildes Heimlichkeit“ zu be-schleichen. Am Ende seiner Erzählung sind im ‚Schweigen‘ die beiden Anlaute gebändigt und zum feinen Anstand erzogen. In ihrer leitmotivischen Wiederkehr bildet sich nicht allein ein musikalisches Gewebe heraus, sondern zugleich ein geistigethischer Prozeß, der mit höherem „Witz“ als dem voyeuristischen erzählt
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wird, einem „Witz“, der seinen feineren Anlaut am Ende, in der Pointe des Gedichts, mit aller Nachdrücklichkeit zur Geltung bringen darf: „Wenn ich schweig von dem, was ich gesehen, Ist mir wohl und ihr nicht weh geschehen!“
Und doch – so harmonisch, gewissermaßen im Sinne eines diskreten Läuterungsprozesses, endet das Gedicht keineswegs. Denn der Ich-Erzähler – er schweigt ja durchaus nicht. Er redet vielmehr, episch breit und mit Genuß. Die Ironie des Autor-Erzählers bricht sich erneut Bahn. Er läßt seinen Ich-Erzähler sich verfangen im eigenen Erzählgarn, nachdem er darin zuvor seine Zuhörer gefangen und humoristisch getäuscht hatte. Und so weist das Gedicht, das ein so artistisches Vokal- und Konsonantengewebe entwirft, auch eine artistische Komposition im Ganzen auf. Fünfmal führt es den ironischen Erzählwitz vor: zweimal in der EntTäuschung des voyeuristischen Baumhockers, der an seinem Fuße ein Geheimnis erspähen wollte und nicht konnte, und der dann eine spähende Schiffsbesatzung erwarten durfte, die jedoch ‚blind‘ vorüberglitt; ein drittes Mal in der Ahnungslosigkeit der schönen Badenden, von der es heißt, sie habe „triumphierend“ gelächelt, als sie bemerkte, daß sie unbemerkt blieb von den vorüberfahrenden Schiffern, wobei ihr entging, daß sie zur selben Zeit der schnöden Schaulust des über ihr hockenden Voyeurs diente; ein viertes Mal in der Überlistung der begehrlich lauschenden, aber mit Diskretion abgefertigten Wirtshausrunde, und ein fünftes Mal in der Selbsttäuschung des Ich-Erzählers, der zu schweigen gelobte und eben jetzt das Gelöbnis beredt-redselig bricht. Indem der Leser diesen Widerspruch im Nachdenken, über den Kopf des Ich-Erzählers hinweg, erfaßt, rahmt er gleichsam von sich aus das Gedicht zu Ende (ähnlich wie bei dem Gedicht Am Ufer des Stromes, vgl. unser Kap. VII). Kellers fünf ironische Brechungen gliedern rhythmisch den zeitlichen Verlauf des Gedichts. Aber auch dessen räumliche Komposition wird fünffach gegliedert – sowohl im Bereich der Horizontalen-Vertikalen wie der NäheFerne-Perspektive. Sehen wir uns das virtuose Kabinettstück genauer an: Da ist zunächst das dichte Zusammenhocken der Männerrunde im „Winkel einer Schenke“: gedrängte Nähe, horizontal. Kontrapunktisch dazu erfolgt, mit dem Beginn der Ich-Erzählung, die phantasierende Entrückung hinweg vom Wirtshaus zum „hohen Eschenbaum“ (Aufblick in die Ferne, vertikal) und dann, wiederum kontrastiv, der Blick hinunter auf die badende Schöne am Fuße der Esche: vertikal fallender Nahblick. Diese Nähe wird nun mit epischer Detailmalerei ausgebreitet, am Körper der EnthülltVerhüllten entlang: intime Horizontale. Von dort gleitet das Auge sowohl des Voyeurs wie der Badenden hinweg „auf des Stromes hellbeglänzte
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Breite“, also in eine relative Ferne, die sogleich vervielfacht wird, haben doch die Schiffer „nur nach ihrem Ziel den Sinn gewendet“: horizontale absolute Ferne. Erneut fällt nun der Blick des Voyeurs auf die badende Frau: vertikale intime Nähe. Auch der Raum der Erzählung wird dergestalt mit feinster Architektonik aufgebaut, in regelmäßigem, aber kontrastiv belebtem Wechsel von Nähe und Ferne, Horizontale und Vertikale. Ein kleines kompositorisches Wunderwerk! So entschädigt sich der Maler in Keller für das berufliche Scheitern mit dem Zeichenstift und dem Zeichenbogen doppelt und dreifach. Denn mit dem Schreibstift wechselt er auf einem einzigen Blatt Papier souverän die Blickrichtung, staffelt er den Raum perspektivisch variabler als ein Zeichner dies je könnte, ganz zu schweigen von der Dynamik des Perspektivenwechsels, die sich von der Statik des zeichnerisch festgelegten Blickpunkts abhebt. Über Kellers artistischen Kompositionsspielen, die seinem virtuosen Lautgewebe entsprechen, sollten seine thematischen Variationen nicht aus dem Blick geraten. Daß dem begehrlichen Voyeur das Geheimnis der Schönen entzogen bleibt, ist nicht nur das Einfallstor für die Ironie Kellers. Es ist auch eine eminente Gelegenheit für den Erzählkünstler im Voyeur. Gesetzt, der Spähende hätte das Geheimnis ausgespäht – wie hätte er davon erzählen können? Die Epoche Kellers besaß keine Sprache dafür, die moralische Dezenz hätte eine ungeschminkte Schilderung noch weniger erlaubt als eine geschminkte. Näher am Objekt war die Malerei dank der Tradition des weiblichen Aktes; sie konnte dieses Objekt andeutend umkreisen, ohne es preisgeben zu dürfen. Die Preisgabe blieb der Kühnheit eines Gustave Courbet vorbehalten, mit dem Resultat, daß sein Ursprung der Welt bis in unsere Gegenwart ein Schattendasein in Geheimkabinetten fristete, den Argusaugen der amtlichen Zensur ebenso entzogen wie dem Aufschrei ästhetischer Sittenrichter oder des ‚gesunden Volksempfindens‘. Waren schon die Darstellungsmittel der bildenden Kunst beschränkt, so fehlte der Literatur jede Ausdrucksmöglichkeit hinsichtlich des heiklen Sujets. Aber aus dieser Sprachnot konnte sie eine Tugend zaubern, wie das Beispiel Kellers zeigt. Er beließ den „Ursprung der Welt“ in der Sphäre des Geheimnisses, eines vom Spiel des bewegten Wassers und der Sonnenlichtreflexe vertieften Geheimnisses. Dieses gewinnt eben dadurch eine erotische Faszination, die der puren Nacktheit wohl unerreichbar bleibt. Denn mehr als das gänzlich Enthüllte verlockt das Verborgene und Verhüllte die Einbildungskraft, und vielleicht ist der Akt des Erzählens diesem Spiel förderlicher als der des Schauens. Was man unmittelbar mit eigenen Augen sieht, hat seine bestimmte Gestalt. Was man erzählt bekommt, also hört oder liest, regt die subjektive Vorstellungskraft zu unwillkürlicher Bilderproduktion an. So wird die geschil-
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derte Gestalt neu erschaffen. Kellers Ich-Erzähler transponiert den Akt des Sehens in den des Beschreibens, der dem Leser solche produktive Subjektivität nahelegt. Was mag seine Vorstellungskraft bewegen, wenn über die Hüften der Schönen „Silberfischchen“ hinziehen: „erblinkend, wenn sie steuernd ihre Flossen regten“? Niemandes Phantasie ist gegen die Assoziationen geschützt, die das Wortbild der steuernden Flossen über dem Schoß der Schönen hervorrufen kann. Aber das Spiel des Eros, das man vermuten möchte, erlaubt keine eindeutige Festlegung – das würde der Unschuld der kreatürlichen Bewegung nicht gerecht. Handelt es sich nicht einfach um ein graziöses Spiel der Natur über dem menschlichen Leib? Und nicht etwa um eine vielsagende anzügliche Bewegung, die der schönen Badenden eine bildliche Vorlust auf direkte Freuden gewährt? Oder wenigstens um die stumme Sprache einer sinnlichen Erwartung? Kellers Silberfische, mit feinster Feder anschaulich in Szene gesetzt, rufen eine erotische Anmutung wach und wehren sie gleichzeitig ab. Sie bleiben in jener mehrdeutigen Schwebe, die seine lyrische Erzählkunst wiederholt auszeichnet. Wer sich nach der einen oder anderen Seite deutend festlegte, würde entweder naiv auf der natürlichkreatürlichen Sprache der Unschuld beharren oder sich als zudringlicher Bildentzifferer gebärden. Wer statt dessen die mehrdeutige Schwebe gelten ließe, bliebe in seiner Vorstellungskraft beweglich und könnte sie für das artistische Farbenspiel Kellers an dieser Stelle öffnen: für die im „blauen Purpur“ des Gewässers verschwindenden „kleinen Füße“ der Badenden; für das „Leuchten ihrer Knie‘ durch das bewegte Wasser“; für die „wie Glas auf ihrem weißen Schoße“ dahin fließende Welle, endlich für die im Sonnenlicht erblinkenden Silberfischchen. Die Poesie einer nuancierten Farbgebung verleiht dem erotischen Geheimnis einen „sonnenbeglänzten“ Zauber. Erneut hält sich der Maler in Keller schadlos für sein Scheitern auf der Leinwand. Schreibend trägt er verheißungsvolle Farben auf: vom leuchtenden und gläsernen Weiß über das glänzende Silber bis zum blauen Purpur. Es ist das Glück der Beschreibung, das der Ich-Erzähler sich, seinen Zuhörern und Lesern hier gewährt, das Beschreibungsglück, in das ihre ungestillte Neugierde (und seine eigene) hier mündet. Eine Leistung des poetischen Realismus Kellers auch dies, und nicht seine geringste. In seinen geglückten Gedichten ist der Lyriker dem Epiker Keller ebenbürtig.495
Folgerungen: Schwerpunkte der Lyrik Kellers 1. Skizze einer Poetik Die folgende Übersicht über unsere 16 Kapitel ist als eine zusammenfassende Charakteristik der Lyrik Kellers gedacht. Wir skizzieren ihre Schwerpunkte und führen auf diesem Weg in die Poetik seines lyrischen Schaffens ein. Die zentralen Themen und Motive der Gedichte Kellers erweisen dabei ihre unauflösliche Verschränkung mit seinen charakteristischen ästhetischen Verfahrensweisen. I. Wie im einzelnen dargelegt, fassen wir ein für Keller zentrales lyrisches Gestaltungsfeld – das der NATUR – anders als in der Forschungstradition üblich auf.496 Nicht etwa die ihm nachgerühmte magisch verzaubernde Naturoptik oder das ihm zugeschriebene Konzept einer Natur, die organische und harmonische Ganzheit verkörpert, sind es, die seinen überliefernswerten Gedichten das Gepräge geben. Keller setzt die vertrauten Naturbilder nur dem Anschein nach in eine bruchlose Analogie zum lyrischen Ich und seiner Seelenlandschaft – er bricht vielmehr die Analogie durch VERFREMDUNG UND ENTZAUBERUNG DES ORGANISCH SCHEINENDEN BILDES. Diese operative, organisierende Umwandlung des Naturbilds anstelle einer Fiktion, die organische Ganzheit vorspiegelt, wird zu einem Wahrzeichen von Kellers Lyrik (auch wenn noch einige traditionelle Naturgedichte in seinen drei Lyriksammlungen ihr Leben fristen). Kellers Haltung zur Natur verrät seit seinen Anfängen experimentelle Züge. Natur ist ihm kein poetisches Universum mehr, das er unbefangen (wie zeitweilig Storm) oder unbedenklich (wie die neuromantischen Stimmungslyriker von Geibel bis Liliencron) abspiegeln könnte. Natur ist für Keller mehr und mehr ein Bildervorrat, dessen er sich souverän bedient, um seiner Selbst- und Weltdeutung gleichnishafte oder allegorische, rätselhafte oder mehrsinnige (vgl. Kap. VI), humoristische oder artistische Züge einzukomponieren (vgl. Kap. XV und XVI). Für den jungen Keller ist die Natur unter anderem ein Experimentierfeld politischer Kritik und sozialer Utopien (vgl. Kap. II und III), für den mittleren Organ einer Lebensphilosophie im Geiste Feuerbachs (vgl. Kap. IV), aber auch Inspirationsquelle für eine Gleichnis- und allegorische Lyrik, die das Naturbild zum mehrsinnigen Zeichen für menschliche Zusammenhänge umdeutet
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oder es als Sinn-Bild einer Selbstanalyse einsetzt (vgl. Kap. VI, VIII und IX), entsteht ferner die episch-anschauliche Indienstnahme der Natur für Genrebilder oder für humorvoll arabeskenhafte Porträts von Personen und Dingen (vgl. Kap. VII, X u. XI, XV u. XVI). II./III. Seit ihren Anfängen hat die Forschung Kritik an einer Sondergattung der Naturlyrik geübt: der politischen.497 Das geschah von Fall zu Fall mit einem gewissen Recht. Denn unter Kellers politischen Naturgedichten findet sich ästhetisch Fragwürdiges und Entbehrliches, zweifellos. Ihre pauschale Infragestellung bzw. Herabsetzung hat jedoch etwas Wohlfeiles und entspringt gelegentlich schlichter Unkenntnis des insgesamt von Keller Geleisteten. Reizvoll sind nicht nur jene Gebilde, die sich in der Schwebe zwischen reiner Natursprache und politischer Sinngebung halten und sich eindeutiger Festlegung entziehen. Von ästhetischer Bedeutung sind auch Gedichte, die das überlieferte Bildmaterial plastisch-sinnlich erneuern, so daß der politische Sinn eine neue Glaubwürdigkeit erhält. Und bedeutsam sind die lyrischen Beispiele, die mit der modern anmutenden Montage disparater Bildbereiche DAS POLITISCHE IN KOMPLEXE ZUSAMMENHÄNGE (etwa mit Religion und Sexualität) rücken. Aufschlußreich ist schließlich Kellers Metaphorik dort, wo sie eine „Verweiblichung der Politik“ und eine „Politisierung des Weiblichen“ evoziert – eine relativ unbekannte Seite seiner lyrischen Produktion (vgl. Kap. III). Davon abgesehen, hat er in einigen wenigen Gedichten den traditionellen Zusammenhang zwischen Natursprache und politischer Sinngebung aufgekündigt, ja verabschiedet. So bedarf denn das Genre des politischen Naturgedichts bei Keller einer neuen Würdigung, nicht zuletzt mit Hilfe der EXEMPLARISCHEN INTERPRETATIONEN. IV./V. Von Naturbildern als den allegorischen Zeichen einer politischsozialen Sinngebung spannt Keller den Boden zu einer vom Geiste Feuerbachs belebten Lyrik: nun erscheinen Naturphänomene als ALLEGORIEN ODER GLEICHNISSE EINER PHILOSOPHIE DES DIESSEITS, des Menschenrechts auf eine sinnerfüllte Existenz hic et nunc. So mündet Kellers politisches Engagement in eine durch Naturbilder versinnlichte Bejahung des Lebens und seiner ‚natürlichen‘ Grenzen, unter bewußter Einbindung des allgegenwärtigen Todes. Damit hat aber auch die Natur ihren Dienst für Kellers Lyrik weitgehend erfüllt – Naturgedichte im eigentlichen Sinn verfaßt Keller nach seinen Neueren Gedichten (1851 u. 1854) nur noch selten. Doch hat er damit auch sein politisches Interesse auf dem Felde der Lyrik keineswegs verabschiedet. Als zeitlebens wacher Citoyen der Schweizer res publica, der er anderthalb Jahrzehnte im verantwortungsvollen Amte des ersten Zürcher Stadtschreibers diente, hat Keller Volksfeste,
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nationale Feiern und Jubiläen bedeutender Geister mit lyrisch-didaktischen Einstimmungen und Kommentaren begleitet (und unter der Überschrift Festlieder und Gelegentliches dafür ein Kapitel in seinen Gesammelten Gedichten eigens reserviert). Davon ist naturgemäß vieles zeitgebunden und nurmehr von kulturhistorischem Interesse, einige überliefernswerte Beispiele der ‚öffentlichen‘ Lyrik Kellers seien jedoch hier mitgeteilt. Wir betreten damit das Feld einer GELEGENHEITSLYRIK, die aus einer jahrhundertealten Tradition hervorgegangen ist, in neuerer Zeit jedoch mit Geringschätzung behandelt wird. Um so mehr scheint es uns geboten, am Beispiel Kellers zur Rehabilitierung des ehrwürdigen Genres beizutragen und das künstlerische wie soziale Niveau manches ‚bei Gelegenheit‘ verfaßten Widmungsgedichtes zu erhellen (vgl. etwa An Frau Ida Freiligrath). VI. Kellers Umbildung sinnlicher Phänomene, sei es in politischer oder lebensphilosophischer Absicht (z.B. im Geiste Feuerbachs), seine Umgestaltung konkreter Gegenstände zu Gedankengebilden macht auf den hohen Reflexionsgrad seiner Lyrik aufmerksam. Die einzelnen Dinge tragen ihre Bedeutung nicht stumm in sich, der lyrische Vorgang schreibt sie ihnen allmählich zu. Daher Kellers zeitweilige Neigung zu einer allegorisierenden, die sinnlichen Zeichen in Sinnträger umformenden Technik. In der NACHBARSCHAFT ZUR ALLEGORIE hat Keller seine komplexe GLEICHNISSPRACHE entwickelt, die das sinnliche Phänomen, sei es ein Naturbild oder eine menschliche Gestalt, zum Gefäß eines darüber hinausweisenden Sinnes macht. Je reicher die Sinnlichkeit des Gegenstands entfaltet ist, desto reicher und vielfältiger der gleichnishafte Sinn – und Keller, der sich wie wenige Lyriker deutscher Sprache auf die PLASTISCH-SINNLICHE ANSCHAUUNG VON GEGENSTÄNDEN versteht, entfaltet dadurch zugleich eine differenzierte Sinngebung, die zur Vielsinnigkeit, wenn nicht zum Rätsel neigen kann. Kellers Erhebung einer sinnlich-anschaulichen Quantität zu einer Qualität, einem Gleichnis des menschlichen Lebens, zeugt von einem Kunstsinn, der ein eigenes Kapitel rechtfertigt (Kap. VI). Es sollte Kellers Abstand zur Romantik wie seine Nähe zu Lyrikern der eigenen Epoche, namentlich C.F. Meyer, wenigstens andeuten. VII. Ähnlich wie Kellers Gleichnissprache als eine zentrale Komponente seiner lyrischen Rhetorik gelten darf, so seine GENREBILDER als ein Ferment seiner lyrischen Anschaulichkeit und seines szenischen Gestaltungsvermögens. Vielleicht hat kein Lyriker des 19. Jahrhunderts das Genrebild mit soviel Kunstverstand und hellhöriger Sensibilität eingesetzt wie gerade Keller. Die überlieferte und namentlich im Biedermeier kultivierte Pflege dieser Bildform ist von seiner Feder variationsreich abgewandelt und verfremdet worden; man kann durchaus von einer bewußten und konsequen-
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ten Verfremdungstechnik sprechen. Keller greift die dem optischen Gedächtnis des Lesers bereits vertrauten Genrebilder auf, um sie zu erneuern und mit überraschenden Bedeutungen aufzuladen, so daß sie nicht länger die Funktion eines ornamentalen Versatzstückes haben, vielmehr ihre eigene Statik dynamisch überwinden und zu Trägern der Zeitkritik Kellers wie auch zeitlos-mythischer Anschauungen werden. Die dem Genrebild immanente Tendenz zum Szenischen hat den GESTALTUNGSDRANG DES ERZÄHLERS Keller hervorgelockt, aber auch die Detailmalerei des verhinderten bildenden Künstlers angeregt. Das Episch-Anschauliche und Sinnliche vieler seiner Gedichte entspringt unter anderem ihrer Genrebildlichkeit. Sie ist keineswegs auf die in Kap. VII zitierten lyrischen Beispiele beschränkt. Genrebilder durchziehen vielmehr auch die andernorts exponierten Gedichte (vgl. etwa Erzählgedichte wie Die Schifferin in Kap. III, Has von Überlingen in Kap. X, Stilles Abenteuer in Kap. XVI, Venus von Milo in Kap. XI, die Städteansichten in Kap. XII oder auch Liebesgedichte wie das VII. der Liebeslieder in Kap. IX). Keller wird als kritischer Erneuerer einer Tradition erkennbar, die durch genrebildliche Melodramatik, Rührung und Idyllisierung das Gemüt des Lesers geprägt und konventionalisiert hat, es vielleicht zur musealen Rüstkammer wohlbekannter Lebensbilder hat erstarren lassen. Was dem Bildergedächtnis des Lesers vertraut anmuten mochte, in der Art eines ‚déjà vu‘, ist von Kellers Ästhetik in Bewegung versetzt und in unkonventionelle, nonkonforme Richtungen umgelenkt worden. VIII. Kontrapunktisch zum Genrebild lassen sich Kellers Selbstporträts anführen, die ihren Ausgangspunkt nicht in einem vertrauten Bildarrangement, sondern einem ich-bezogenen Bildentwurf haben. SELBSTDARSTELLUNG UND SELBSTANALYSE DES LYRISCHEN ICHS bilden ein Leitmotiv Kellers von seinen Anfängen bis zu seiner Spätzeit. Sie kontrastieren schon in seiner Frühzeit mit seinem politisch-öffentlichen Interesse. Ähnlich wie seine Naturlyrik die Gegenstände aus ihrer organischen Gebundenheit herauslöst, um sie zu Metaphern einer Seelenlage oder zu allegorischen Zeichen eines Politikums umzubetten – so versetzt Keller auch das poetische Subjekt auf den Prüfstand distanzierender Reflexion. Selbsterkenntnis kann in grundverschiedenen Medien erfolgen, in menschlichen Verhältnissen ebenso wie im Naturverhältnis des lyrischen Ichs, im Selbstgespräch so gut wie im Dialog mit einer allegorischen Figur. Kellers Wahl der poetischen Medien ist, seiner Neigung zum Experiment entsprechend, weitgespannt. Kennzeichnend für ihn ist die Tiefenschärfe der Selbstanalyse, der bohrende Zweifel, der jede (Selbst-)Verklärung außer Kraft setzt oder sie zumindest durch einen Impuls der Wahrhaftigkeit mit einem Fragezeichen versieht. Weltschmerzliches Gebaren entzau-
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bernd, entdeckt Kellers Ich noch im selbstkritischen Schuldbewußtsein narzißtische Züge, wird ihm selbst die „Melancholie“ zu einer Quelle unbeugsamer Wahrheitsfindung. Wahrheit ist indes keine feste, zeitlose Größe und Kellers widersprüchliche Selbstauskünfte zeigen Krisen der Identitätsfindung an. Nicht wenige der lyrischen Selbsterkundungen Kellers speisen sich aus der biographischen Verwandtschaft mit dem Grünen Heinrich, doch in der Verdichtung der episch ausgebreiteten Erfahrungen auf engem Raum gewinnen sie ihr eigenes, spezifisches Gewicht. Aufschlußreich ist auch Kellers Umgang mit der literarischen Tradition: er macht sie sich für seine Selbstdarstellung zunutze, ohne dem Stilgebaren des Epigonen zu verfallen. Die hier versammelten Selbstanalysen ergeben ein Panorama der komplexen lyrischen Ausdrucksmöglichkeiten Kellers, sie lassen jedoch von Fall zu Fall, unbeschadet ihrer hochentwickelten Individualität, auch seine Nähe zur Epoche des BÜRGERLICHEN REALISMUS erkennen. IX. Von den Selbstporträts und Ich-Analysen führt durchaus ein Weg zu Kellers Liebeslyrik. Was dem Ich in seiner Selbstreflexion unbekannt oder unbewußt bleibt, kann ihm in der Hinwendung zum anderen Geschlecht transparent werden. Insofern ergänzen Kellers Liebesgedichte die in seinen Selbstbildnissen aufgewiesenen Charakteristika, ohne daß man dabei stets Rückschlüsse auf seine Biographie ziehen müßte. Der Lyriker Keller kann seine Liebesphantasien auch ohne Ich-Aussage zur Sprache bringen, zum Beispiel im Medium erfundener Liebespaare: ein Zeugnis für seine Neigung zur ästhetischen Distanzierung und Objektivierung des eigenen Ichs. Dennoch wird man bestimmte leitmotivisch wiederkehrende Beziehungsformen notieren, die auf Lebenserfahrungen Kellers zurückweisen: von großmütiger Entsagung über den selbstauferlegten und erzwungenen Verzicht bis zu Lebensreue und unvertreibbarem Schuldbewußtsein reichen die Selbsterfahrungen, die das lyrische Ich mit hellsichtiger Psychologie erinnert. Ihre unversöhnte Hoffnungslosigkeit ist mit keiner anderen Liebeslyrik seit Goethe vergleichbar, selbst nicht mit derjenigen Heines, der in seinen Neuen Gedichten wenigstens vom Glück sinnlicher Erfüllung fabuliert. Letztere kann Keller allenfalls anhand fiktiver Gestalten erträumen, die anderen gesellschaftlichen Schichten als er selbst entstammen. Dort, wo Keller sich seinen Liebesphantasien frei überläßt, kündigt sich bisweilen der geborene Erzähler an, der mit erfinderischem Humor und ausladenden Details SZENEN ENTWIRFT und GESCHICHTEN AUSSPINNT; unverkennbar ist aber auch der die literarische Tradition seit Petrarca parodierende Belletrist mit dem artistischen Sinn für bündige Pointen und pointierte Chocs. Artistisch ist schon Kellers erster (bis heute unterschätzter) Liederzyklus – Siebenundzwanzig Liebeslieder – komponiert: eine lyrische
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Welt der Kontrastbildungen, der Spiegelungen, Korrespondenzen, Echos und Gegenspiegelungen, die auf ihre späte Erhellung wartet. Schon hier spielt Kellers ästhetische Erfindungskraft eine dominierende Rolle – seine kreative Phantasie, die nicht nur die Liebesnot des lyrischen Ichs einfallsreich bloßstellt und überwölbt, sondern auch anderen Sujets ihre Gepräge gibt. X. Komplementär zu Kellers Selbstbildnissen – entworfen im Spiegel der Natur, der Ich-Analyse, des Liebesdialogs – lassen sich eine Reihe von (FREMD-) PORTRÄTS anordnen. So sehr das eigene Ich Keller zur Introspektion reizt, so wenig vernachlässigt er die Vergegenwärtigung von Zeitgenossen oder historischen Gestalten. Intensität der Selbsterhellung und Extensität der Welterkundung bilden die einander ergänzenden Seiten seines bürgerlichen Realismus. Von früh an wendet sich Keller der gegenständlichen Welt zu und hält sie in Charakterbildern fest. Beispiele dafür finden sich auch in den Kapiteln III, V und XIII, wobei politische Akzente die jeweilige Physiognomie mitprägen. Die in Kap. X versammelten Porträts betreffen eine Reihe auffallend UNKONVENTIONELLER GESTALTEN: Außenseiter, Käuze, Originale, Ausnahmeerscheinungen. Kellers bürgerlicher Realismus hat eine Vorliebe für unbürgerliche, den menschlichen Durchschnitt überragende (bzw. unterschreitende) Personen. Wir stellen sie in der aufsteigenden Linie ihrer Lebensalter vor, so daß der Porträt-Reigen vom ‚sprachlosen‘ Kind zum Greis an der Schwelle des Todes reicht. DER TOD ist es, mit dem Keller seine Gestalten wiederholt konfrontiert, so als würde dadurch – gemäß seiner Feuerbach-Rezeption – das Leben auf die entscheidende Probe gestellt. Im übrigen rücken einige Charakterbilder Kellers bei aller Einzigartigkeit durchaus in die literarische Tradition ein, sei es in wahlverwandter oder abweichender Geisteshaltung, wie namentlich seine Unterschichten-Porträts zeigen. Noch sein bewegendstes Bildnis – das eines Taugenichts – weist auf das Eichendorff’sche Vor-Bild zurück, ohne ihm tributpflichtig zu sein; in prägnanten Szenen entwirft der lyrische Erzähler Keller eine Rehabilitation des Ästhetischen als eines menschlichen Grundvermögens, das von keiner Realität, sei sie noch so kleinbürgerlich-anmaßend, widerrufen werden kann – ein bemerkenswertes Zeugnis des poetischen Realismus Kellers, von dem er im Has von Überlingen eine weitere denkwürdige Probe gibt. Das Humor und Ernst mischende Porträt mündet in eine Pointe, deren ergreifende Bündigkeit etwas von der lyrischen Meisterschaft Kellers verrät. Zueinander gesellt, spiegeln Kellers Porträts die Varietät der Darstellungsmodi seines Realismus im Lyrischen wider; ihr Bogen reicht von
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satirischer Kritik am bürgerlichen und religiösen Ungeist (Der Taugenichts und Mönchspredigt) über die zwischen Ernst und Humor mehrdeutig spielende Zeichnung des unbürgerlichen Originals (Has von Überlingen) bis zur Entdeckung des Geistes der Utopie im Unscheinbaren (Bei einer Kinderleiche) und zur Versöhnung mit sozial unzuträglichen Verhältnissen (Der alte Bettler). Auch die Porträt-Techniken sind für Kellers Lyrik repräsentativ, insofern sie seine Neigung zum SZENISCHEN ERZÄHLEN einerseits, zur Kunst der SCHLAGFERTIG-GEISTVOLLEN POINTE andererseits bezeugen. XI. Keller hat seine Porträt-Kunst über die Welt menschlicher Individuen hinaus ausgedehnt auf jene unscheinbaren, ja winzigen Erscheinungen, die selten ins poetische Gesichtsfeld treten. Ihre Geringfügigkeit legt eine lyrische Würdigung nicht eben nahe. Aber die poetische Kraft der Versenkung verleiht ihnen ein Gewicht, das keine Geringschätzung mehr duldet, auch wenn es sich lediglich um einen Falter, eine Mücke oder – um Barthaare handelt. Keller entwickelt LYRISCHE NAHAUFNAHMEN, die mit subtiler Liebe zum Detail MINIATUR-OBJEKTEN Anmut und Würde verleihen. Er erneuert damit eine Tradition, die vom Spätaufklärer Brockes begründet worden war, dann lange Zeit nur als poetische Marginalie fortlebte und erst seit dem Biedermeier, namentlich seit Mörike und der Droste wiederbelebt wurde. Sie nimmt den bis dahin wenig geschätzten Alltag in seiner Unscheinbarkeit ins Visier, ihre mikroskopische Betrachtungsweise steht aber auch jener naturkundlichen Realitätserschließung nahe, die damals im Wachsen begriffen ist. Wer unscheinbaren und alltäglichen Dingen nachspürt als Berichterstatter, muß ihnen – über ein déjà vu hinaus – überraschende Seiten abgewinnen, bis dahin Unbemerktes und Unvermutetes zur Sprache bringen. Insofern fordert die Darstellung des Geringfügigen und Geringgeschätzten den Artisten im Lyriker heraus. Und wie Mörike versteht es Keller, die Miniatur unversehens zu erweitern und sie in ein beziehungsreiches Spiel mit mythischen Elementen, mit der großen Welt und mit menschlichen Verhältnissen zu versetzen. In ein Spiel der Anmutungen und Andeutungen, das sich eindeutigen Festlegungen seitens der Leser entzieht. Kellers KUNST DES SCHWEBENDEN NAHELEGENS UND FERNRÜCKENS VON BEDEUTUNGEN sucht ihresgleichen in der Lyrik des 19. Jahrhunderts. Der den einzelnen Dingen zuwachsende Spielraum der Bedeutungen zeigt die mitdeutende Tätigkeit des poetischen Subjekts an, weshalb denn auch seine lyrischen Gebilde keine Dinggedichte im engeren Sinn des Wortes darstellen; sie präludieren diese, unterscheiden sich aber von ihnen aufgrund der bewußt hervortretenden Auslegung der Dinge durch das betrachtende Subjekt.
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XII. Kellers Porträt-Kunst umgreift die dingliche und kreatürliche Miniatur ebenso behende wie die Ansicht einer Stadt und deren Hauptanziehungspunkte: eine bemerkenswerte Spannweite! An seinen STÄDTEBILDERN, wie er sie als junger Lyriker in ein Doppelsonett eingefaßt hat, ist ihre Modernität erstaunlich. Obgleich eine Kleinstadt ihm zum Vorwurf dient, hat Keller die Verkehrsstockung, die Anonymität, Aggressivität und die Gleichgültigkeit der Verkehrsteilnehmer bzw. Passanten so präzise eingefangen, daß eine typisch großstädtische Ansicht entsteht – in der deutschen Lyrik seiner Zeit eine Rarität. Wirrwarr und Wirrsal eines Verkehrsstaus spiegeln die Irrationalität der sich widerstreitenden Interessen von Stadtbewohnern wider; darüber hinaus kommt die Naturvergessenheit bzw. die Exploitation der natürlichen Ressourcen durch die Stadt ins Blickfeld. In Berlin, damals der einzigen deutschen Stadt mit urbanen Akzenten, hat Keller die dynamischen Verkehrsbilder seiner Anfänge nicht fortgesetzt; stattdessen hat er einzelne pittoreske Ausschnitte aus dem Leben und der Architektur der Stadt in Versen festgehalten, also das städtische Großformat in Kleinformate verwandelt. Er hat dafür die Optik eines Reisenden gewählt, eines Republikaners aus der Schweiz, den das deutsche monarchische und hierarchische Unwesen befremdet und der dafür malerische Besonderheiten besichtigt. Aber noch in dieser Stellung eines neugierigen Zaungasts bleibt seine Perspektive beweglich: bewahrt er einen desillusionierenden sozialkritischen Blick (Weihnachtsmarkt), aber auch die Sensibilität für flüchtige Straßenepisoden (Berliner Pfingsten) und die verklärend-utopische Optik des Poetischen Realismus (Am Tegelsee). Was Reisende vor ihm in ihren Reiseberichten an Gestaltungsmitteln einzusetzen pflegten – die lebhaft variierende, kontrastierende und genrebildliche Darstellung der Fremde –, konzentriert Keller mit leichter Hand im engen Raum des Gedichts: ein Zeugnis für seine KUNST DER ATMOSPHÄRISCHEN VERDICHTUNG UND BÜNDIGEN POINTIERUNG. XIII. Die bisher skizzierten Themen und Motive der Gedichte Kellers mögen eine Vorstellung von der Vielfalt und Variationsbreite seiner Lyrik vermitteln; dabei wird deutlich, wie eng die poetischen Sujets mit Kellers ästhetischen Verfahrensweisen verknüpft sind. Einige von ihnen bedürfen einer ergänzenden Charakteristik. Kellers reflektierter Einsatz ästhetischer Verfahrensweisen und Stilmittel wird – fast möchte man sagen ‚naturgemäß‘ – von REFLEXIONEN ÜBER DIE STELLUNG DER KUNST allgemein begleitet. Er hat zu bestimmten Anlässen – bei Gelegenheit – eigene Vorstellungen über die öffentliche Aufgabe der Kunst und das Künstlertum entwickelt (und dergestalt das Feld seiner GELEGENHEITSLYRIK erweitert). Namentlich dort, wo Keller das politische Leben seines Landes mit einer überlieferten klassi-
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schen Ästhetik verbindet, erneuert er die aufgeklärte Idee einer Vermittlung von Kunst und gesellschaftlichen Belangen (vgl. seine Prologe zur Schiller- und Beethoven-Feier). Er hat dazu aber auch aus der Perspektive des skeptischen Ästheten Stellung bezogen, der die Kunst abgesondert weiß von sozialer Lebenspraxis. So läßt das Kapitel XIII die Grundrisse einer spannungsreichen Ästhetik erkennen, die der Kunst ein unmittelbares Eingreifen in die Realität ebenso zutraut wie den Entwurf einer gesellschaftlichen Utopie, aristokratisches Außenseitertum ihr ebenso konzediert wie wegweisende Volkstümlichkeit. Kellers Poetik läßt sich nicht auf den berühmten ‚Begriff‘ bringen, es sei denn um den Preis der Vereinfachung. Gesellt man dem Kapitel XIII andernorts placierte Gedichte mit reflexivem Kunstverständnis hinzu (z.B. das Porträt des Taugenichts in Kap. X und das der Venus von Milo in Kap. XI), so gewinnt man eine Vorstellung von Kellers komplexer Kunstanschauung, die auch auf der Unbürgerlichkeit des Ästhetischen insistieren kann bzw. die spätere Kritik bürgerlicher Warenästhetik vorwegnimmt. XIV. Mehr noch als die ausdrücklichen Selbstreflexionen der Kunst in den Gedichten Kellers fällt seine BEVORZUGUNG BESTIMMTER KUNSTMITTEL auf. Von der experimentellen Organisation bzw. Montage der Naturbilder sowie der Gleichnissprache Kellers und seinen Genrebildern war bereits die Rede. Andere ästhetische Verfahrensweisen gesellen sich dazu. Eines der frühesten Zeugnisse für den Formkünstler Keller sind jene Alten Lieder, die Von Weibern handeln: KUNSTBEWUßTE NACHAHMUNGEN DES VOLKSLIEDS. Die Leserschaft freilich, zumindest die philologische, hat Kellers Kunst der zyklischen Komposition und leitmotivischen Durchbildung seiner Alten Weisen (so der spätere Titel) einer entsprechenden Aufmerksamkeit kaum gewürdigt. Das blieb Komponisten wie Johannes Brahms, Hugo Wolff und Hans Pfitzner überlassen. Vielleicht wirkte der Volksliedton, mit dem Keller hier einen melancholischen Reigen scheiternder Geschlechterbeziehungen inszeniert, zu leicht und zu naiv, vielleicht fehlte auch in den Reihen der älteren Wissenschaft der Sinn für Kellers unübliche Umkehrung der üblichen Geschlechterrollen. Was so leicht dahingesagt scheint und sich so naiv anhört, hat einen DOPPELTEN BODEN, ohne daß Keller das Doppelbödige je mit einem deutlichen Akzent hervorkehren würde. So entsteht jener für ihn so bezeichnende ‚schwebende‘ Sinn, der von seiner KUNST DER ANSPIELUNGSREICHEN BEILÄUFIGKEIT zeugt, entsteht jener filigrane Spielraum, der ein lyrisches Geschehen als schlichte wie als bedeutungsvolle Fabel zu lesen erlaubt, als pointiert erzählte aktuelle Anekdote wie als ein Bruchstück aus dem zeitlosen Mythos. Und schließlich kann man in den weiblichen Stimmen, die Keller sprechen läßt (es handelt sich um Rollengedichte!), verdeckte Hin-
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weise auf Kellers eigene Liebeserfahrungen vernehmen. So viel leistet der in seiner frühen Lyrik zitierte Volksliedton! XV. Muß von einer spezifischen und konstanten Formkraft Kellers, dem HUMOR, eigens die Rede sein? Alles spricht dafür, erstaunlicherweise. Als wesentliches Ingrediens seiner Erzählkunst längst erkannt, blieb dem Humor bis heute eine entsprechende lyrische Wertschätzung vorenthalten. Keller entwickelt ein VIELFÄLTIGES HUMORISTISCHES REGISTER, um seine Sympathie mit Artverwandten, weinseligen Lebensgenießern beispielsweise wie Panard und Galet, in unterschiedlichen Tonarten vorzutragen, scherzhaften, komischen, burlesken; er inszeniert ironisch und voller Witz Tabubrüche, um die Provokation des Lesers durch das Vergnügen an der ästhetischen Darbietung aufzufangen, er läßt seinem Übermut die Zügel schießen und sich zu Scherzen hinreißen, die allein um der schlagfertigen Pointe willen erdacht scheinen: kleine ästhetische Luxusgeschöpfe, die daran erinnern, daß Kunst ihr Dasein auch dem zweckfreien Spiel, der in sich selbst verliebten Muse, verdankt. Und Keller versteht sich schließlich auf die Parodie, die vor seiner eigenen Kunst nicht haltmacht. Selbstironie ist dem Humor Kellers durchaus vertraut; der im menschlichen Umgang so Empfindliche war sich selbst gegenüber kein Spielverderber. Kurz – der lyrische Humor Kellers bietet eine bemerkenswerte Skala an Stilen und Tonarten, Farben und Mischungen. Das XV. Kapitel kann davon nur eine fragmentarische Vorstellung vermitteln; Kellers humoristische Darstellungsweisen geben ja auch einigen andernorts aufgeführten Gedichten ihr Gepräge, man denke nur an Frühlingsbotschaft im IV. Kapitel, an das zehnte der Liebeslieder im IX., an Stutzenbart im XI., an Berliner Pfingsten im XII. oder an Stilles Abenteuer im XVI. Dafür sei ein ansonsten mit schierem Ernst rezipierter Gedichtzyklus – die Zweitfassung von Kellers Gaselen – auf seinen subtilen Humor hin überprüft, sei überdies Kellers kühner humoristischer Witz im Kontext religiöser Angelegenheiten erhellt. Für die „Reichsunmittelbarkeit“ der Phantasie im BÜRGERLICHEN REALISMUS besitzen die entsprechenden Gedichte eine Beweiskraft von souveräner Heiterkeit. XVI. Kellers Humoresken dürfen seinen ARTISTENSPIELE unmittelbar folgen (Kap. XVI), sind sie ersteren doch in puncto Kunstfertigkeit verwandt. Wenn Keller religiöse Angelegenheiten mit humoristischem Witz, ja nicht ohne Frivolität behandelt, so kann nur ästhetische Virtuosität dem Vorwurf standhalten, er übe sich in pietätloser Willkür. Für solche Virtuosität zeigt Keller von früh an eine ausgesprochene Neigung, wie sehr man auch den Kunstcharakter seiner lyrischen Gebilde in Zweifel ziehen mag. Bis zu welchem Grade Keller etwa die Farben Rot und Weiß nicht nur zu Bedeutungsträgern, sondern zu autonomen poetischen Figuren, sozusagen
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Luxusfiguren, zu machen versteht, mit welcher Lust an Pointen und Übertreibungen er dingliche Objekte mit Menschlichem grotesk verschränken und die Groteske effektvoll ausschmücken kann – das lohnt eine abschließende Vergegenwärtigung. Nicht auf die angemessene Proportion zwischen Aussage und ästhetischem Ausdruck zielt Keller hier, vielmehr verleiht er dem Ausdruck einen Reichtum, der die Aussage verschwenderisch einkleidet. Dieser ÄSTHETISCHE LUXUS erinnert an ein Formgesetz der Kunst, die es nicht auf Zweckmäßigkeit um jeden Preis abgesehen hat, auch nicht auf die möglichst funktionale Anpassung der künstlerischen ‚Gestalt‘ an den ‚Gehalt‘: vielmehr liegt der Kunst ein Spiel zugrunde, das über den Gehalt dysfunktional, mit Arabesken, Einfällen, Phantasien hinausschießen kann und so den mitspielenden Lesern und Betrachtern die befristete Freiheit von der allgegenwärtigen Zweckrationalität ermöglicht. Bedenkt man, daß eine Reihe von Kellers Gedichten einen unverkennbar epischen Grundzug besitzen, etwa die hier vorgestellten Erzählgedichte, so springt auch ihr GESELLIGER CHARAKTER ins Auge, mehr noch: ins Gehör. Denn das Erzählte will ja nicht nur vom einsamen Leser still, mit seinem inneren Gehör vernommen werden, es tendiert von sich aus dahin, einem Kreis von Zuhörern mitgeteilt zu werden. Diesen geselligen Charakter mancher Gedichte Kellers kehren nicht wenige durch seinen eigentümlichen Humor hervor, der – wie schon erwähnt – die unterschiedlichsten Spielarten entfaltet und von freundlich-wohlwollender bis zu scharfzüngiger und sarkastischer Ironie reicht, aber auch dem Scherz, der Parodie und dem Witz gewogen ist und in kauziger Detailmalerei sich ebenso virtuos erprobt wie in der schlagfertigen Pointe. Das Vergnügen, das Keller beim Leser hervorlockt, findet im geselligen Kreis einen idealen Resonanzboden. Das Lächeln, wenn nicht das Lachen, das Kellers Artistik zu erzeugen vermag, ist nirgends besser zuhause als dort, wo es sich vervielfältigt und mehrere Zuhörer zwanglos miteinander verbindet. Kellers episches und humoristisch vielfarbiges Erzählen bildet den geselligen Pol einer Lyrik, die als Gegenpol das Selbstporträt und die Selbstanalyse kennt, jene Formen der Ich-Aussprache, die Kellers tiefreichende, gelegentlich unnachsichtige Psychologie offenlegen. Wenn in der Geschichte der Poetik zusehends das Ich favorisiert und Subjektivität, etwa in Emil Staigers Grundbegriffen der Poetik, zum zentralen Kriterium des Lyrischen gekürt wurde, so scheint ein ansehnlicher Teil der Lyrik Kellers diesem Verständnis entgegen zu kommen, wenngleich gebrochener, reflektierter und selbstkritischer als namentlich Staigers Begriff des Lyrischen dies nahelegt. Aber es handelt sich hier doch nur um einen Teil der lyrischen Produktion Kellers. Ein anderer, ebenso wesentlicher Teil, der zur geselligen Rezeption einladende, knüpft an eine Lyrik-Tradition an, die man zu
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unterschätzen pflegt, wie beispielsweise die Vernachlässigung des Gelegenheitsgedichts verrät. Die Unterschätzung erfolgt generell zu Unrecht. Die zu hermetischer Selbstaussage neigende Lyrik des modernen solipsistischen Ichs kann nicht zum allgemeinverbindlichen Maßstab poetischer Hervorbringung gemacht werden. Gesellige Poesie von Robert Gernhardt bis zu zeitgenössischen Lyrik-Veranstaltungen ist vielleicht geeignet, neue Hörer für eine Gattung zu gewinnen, die vom Schatten der Schwerverständlichkeit begleitet wurde. Ist es überflüssig, eine hier oft erwähnte, primäre Formkraft Kellers abschließend noch einmal beim Namen zu nennen? „Nun, Phantasie! laß deine Adler fliegen“ lesen wir im I. Gedicht des Zyklus Lebendig Begraben.498 In einer dem Tod eng benachbarten Situation erhofft sich das lyrische Ich eine Überlebenschance durch die Tätigkeit der Phantasie. Sie ist ein poetisches Grundvermögen Kellers. Sie bringt wesentliche Formkräfte hervor, prägt sie bis in Details und regt die Vorstellungskraft des Lesers an. Ein Beispiel: Kellers Raumbilder, die ihrerseits unsere Raumvorstellung in Gang bringen. Es ist kein Zufall, daß die ersten vier der von uns eingehend interpretierten Gedichte (Kap. I) zu ihrer Grundstruktur topographische Bilder zählen, die dem jeweiligen Text Anschaulichkeit verleihen und ihn gleichzeitig gliedern helfen. Immer wieder erprobt Keller diese raumzeugende Formkraft und schafft mit ihr einen Variationsreichtum, der dem gegliederten Gebilde zugleich Beweglichkeit und Spannung verbürgt. Unsere letzte Interpretation, die Kellers Stillem Abenteuer gilt, bezeugt die Artistik seiner Raumgebilde. Durch sie grenzt er sich markant vom romantischen Gedicht ab, das die Konturen des Raums aufzulösen liebt, Erde und Himmel zeitweise miteinander verschwistert oder den bestimmten Ort gelegentlich ins Unendliche transzendiert (wie Eichendorff in seinem berühmten Gedicht Mondnacht). Die Phantasie lenkt auch Kellers Farbgebung, gleichfalls eine wesentliche Formkraft. Die plastische Komponente seiner Phantasie verleiht den Farben sinnliche Anschaulichkeit, im Unterschied wiederum zum romantischen Gedicht, das die atmosphärische Aura der Farbe darzustellen liebt und ihre konturenauflösenden Reflexe bevorzugt. In Poetentod499 konzediert Keller der Phantasie den existenziellen Status einer Lebensbegleiterin des Dichters; in Tod und Dichter nennt er sie die „lieblichste der Dichtersünden“, dazu geschaffen „Süße Frauenbilder zu erfinden, Wie die bittre Erde sie nicht hegt!“500
Ein bewundernswürdiges, aber auch von Kritik umsponnenes Denkmal errichtet er der Phantasie in Winterspiel 501. Dieses poetische Grundvermögen Kellers durchpulst die Vielfalt seiner lyrischen Themen und Verfah-
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rensweisen, seine Natur- wie seine Liebesdarstellungen, seine Allegorien und Gleichnisse, es belebt seine Miniaturporträts und Genrebilder, es durchdringt seinen Humor und seine Lust an der schlagfertigen Pointe wie auch sein Vergnügen am lyrischen Erzählen. „Die Phantasie an die Macht“: Keller hat der berühmten Sentenz des Novalis eine gewaltlose Überzeugungskraft verliehen.
2. Literarhistorische Bezugsfelder In Kellers Lyrik konvergieren mehrere literarische Traditionen. Daß daraus auch epigonale Gebilde hervorgehen können, sei nicht geleugnet. Die vorliegende Anthologie nennt einige von ihnen, richtet jedoch das Hauptaugenmerk auf die überliefernswerten Gedichte. Die Tradition der politischen Lyrik findet in Keller mehr als einen Kopisten und Konservator, er erneuert sie und führt sie auch zu Ende, wenn er den tradierten Zusammenhang zwischen Naturbild und politischer Semantik auflöst. Auch an Sujets der petrarkistischen, empfindsamen und romantischen Lyrik knüpft Keller unverkennbar an, doch prägt er sie zugleich mit den ihm eigentümlichen Kunstmitteln um. Wenn er, um ein Beispiel zu geben, die unmittelbare Evokation einer Landschaft oder einer Situation in romantischer Manier betreibt und den Leser darin direkt einbindet, so bildet er das romantische Motiv zu einer neuen Rätselschrift um (Winternacht) oder überführt Emphase und Ekstase des lyrischen Ichs in kontemplative Naturund Selbstversenkung (Stille der Nacht) oder rückt es in einen Gegensatz zur Natur (Nachtfalter). Namentlich durch seine plastisch gliedernde Raumgestaltung und durch Anschaulichkeit der Farbgebung grenzt sich Keller vom romantischen Gedicht ab, das die Konturen des Raums und der Farben aufzulösen liebt. – Unmittelbarkeit der Vergegenwärtigung von Natur und Welt und Direktheit der Leser-Anrede, die der Romantik durch die Empfindsamkeit und den Sturm und Drang überliefert wurden (vgl. Goethes Wie herrlich leuchtet mir die Natur oder Eichendorffs Hörst du nicht die Bäume rauschen), sind Keller nicht fremd; aber er relativiert sie entweder durch Kontrastbildungen (das lyrische Ich in Winternacht), durch Reflexionsstufen (Stille der Nacht), Gleichnisse und Sinnbilder (Waldlieder, Untergehende Liebe), durch Desillusionierungen (Schöne Brücke, hast mich oft getragen, In der Trauer) oder durch die Einbindung in einen Rahmen (Sommernacht). Insbesondere das zuletzt genannte Kunstmittel dient Keller dazu, die Unmittelbarkeit und Direktheit des lyrischen Vorgangs zu brechen (Jung gewohnt, Alt getan, Am Ufer des Stromes, Stilles Abenteuer etc.); indem er jedoch die Rahmenbildung nicht ganz abschließt, schafft er gleichzeitig einen offenen Raum für die Leser-Reflexion. Mit ihren unverkennbaren Bewußt-
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seinsstufen und zeitkritischen Perspektiven erneuert eine stattliche Reihe seiner Gedichte die deutsche Gedankenlyrik. Das dem Rahmen immanente, episierende und distanzschaffende Element kommt dem geborenen Erzähler Keller wie gerufen. Von ihm zeugen auch andere ‚epische‘ Formen seiner Lyrik – Genrebild, Szene, Schilderung und Bericht. Keller führt damit eine wesentliche Traditionslinie deutscher Lyrik, die des Erzählgedichts, fort. Was in der Lyrik von Brockes, Klopstock, Hölty, Schiller bis Uhland und Chamisso an lyrischer Erzählkunst aufgeboten wurde, findet in Keller einen genuinen Fortsetzer und Erneuerer (auch wenn er hergebrachte Genres wie Romanze und Ballade im engeren Sinn nicht aufgegriffen hat). Das Erzählgedicht kommt der Neigung Kellers zur szenischen Gestaltung und zur gegenständlichen Detailmalerei entgegen, es schafft Raum für das nuancierte Spiel seines Humors und es ermöglicht ihm die Kontrastbildungen zwischen epischem Verweilen und schlagfertig-witziger Pointe (von frühen Gedichten wie dem X. Liebesgedicht, dem Taugenichts über Waldliebe und Panard und Galet bis zu Geistergruß und Der Narr des Grafen von Zimmern spannt sich ein weiter und reicher Reigen). Gerade in der sinnlich-plastischen Gegenstandsfülle, in humoristisch-ironischen Entzauberungen überlieferter Genrebilder, in dialogischen Einblendungen und in pointierten, geistreichen Engführungen des lyrischen Geschehens kommt der Erzähler Keller als unverwechselbarer ERNEUERER DES ERZÄHLGEDICHTS zum Zuge. Nur kurze Zeit vor seinen lyrischen Anfängen in den vierziger Jahren hatten Annette von Droste-Hülshoff und Eduard Mörike ähnliche Verfahrensweisen entwickelt, namentlich die szenische Durchbildung des Gedichts, die präzise Detailmalerei und die konzentrierte Nahaufnahme dinglicher und kreatürlicher Miniaturen (vgl. Mörikes Die schöne Buche und Im Weinberg). Mit der Droste und mit Mörike verbindet Keller außerdem die Intensität des Memento mori, mit Mörike darüber hinaus das geistvolle Spiel des Humors mit alltäglichsten Dingen (Man vergleiche etwa Mörikes Alter Turmhahn, Ländliche Kurzweil, Ach nur einmal noch im Leben!, Waldplage mit Kellers Stutzenbart und Die kleine Passion). So gesehen, darf man, bei allen signifikanten Unterschieden, von verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen der Droste, Mörike und Keller ausgehen und die Anfänge des BÜRGERLICHEN REALISMUS auf die Publikationszeit ihrer ersten Lyrikbände (zwischen 1838 und 1846) vordatieren. Diese Annahme wird bekräftigt durch Kellers Abstand zu spätromantischen Lyrikern wie Lenau, den er anfangs schätzte und durch manche bildliche wie emotionale Reminiszenz ins Gedächtnis zurückrief, dessen weltschmerzliche Gebärde und bewußt gepflegte Naturmelancholie er jedoch zusehends überwindet (vgl. Kap. VIII und Gedichte wie Grillen, In
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der Trauer, Melancholie). Mehr ins Gewicht fallen die lyrischen Anklänge an Heine, wenn Keller beispielsweise im XV. Liebeslied die Ironisierung eines Gottesdienstes mit dem Entwurf einer erotischen Utopie verschränkt, im XVII. mit sarkastischer Lakonik die „Liebesglut“ abkühlt oder im XXI. sein frivoles Spielertum selbstkritisch kommentiert. Und wenn er in Gedichten Aus der Brieftasche ähnlich wie Heine in den Neuen Gedichten Liebeswerben und Liebeserfahrung variationsreich durchspielt in einer Art experimenteller Poesie. Keller hat den Zeitenwandel zwischen 1820 und 1848 nicht verträumt, und Heines kritisch-ironische Brechungen des romantischen Tons bzw. seines spätromantischen Nachhalls haben ihre Wirkung auf ihn nicht verfehlt, ja ihn auch zur Kritik veranlaßt (in seiner Verserzählung Der Apotheker von Chamouny). Jedenfalls ist Kellers eigene literarische Epoche, der BÜRGERLICHE REALISMUS, keineswegs durch eine scharfe Zäsur, wie literarhistorische Legendenbildung es sich vorstellt, vom Vormärz Heines geschieden, vielmehr nimmt sie dort ihren Anfang. Angesichts der Wachheit, mit der Keller in der Schweiz die gesellschaftlichen Bewegungen im Vormärz wahrnahm, ist das nicht verwunderlich. Andererseits trennten ihn die spezifischen Schweizer Verhältnisse nach und nach auch von der öffentlichen Situation der deutschen Schriftsteller im Nachmärz. Während letztere auf das Scheitern der Revolutionen von 1847/48 mit geschichtlicher Skepsis und Rückzügen ins Private reagierten (Heines nachmärzliche Existenz in Paris ist dafür ein markantes Beispiel), krönte Keller gewissermaßen den Sieg der Schweizer Demokratie durch seine Rezeption der Feuerbach‘schen Diesseitsphilosophie. Zwar verbrachte er die ersten Jahre des Nachmärz im politisch resignierenden Deutschland, aber die dort verfaßten Neueren Gedichte (1851 und 1854) lassen doch partienweise den Geist der Hoffnung, eine in der Schweiz geschöpfte Lebenszuversicht, erkennen. Dergestalt kann der BÜRGERLICHE REALISMUS je nach den besonderen Bedingungen eines Landes periodisch eine unterschiedliche Gestalt annehmen. Wenn mit Kellers philosophisch gegründeter Lebenszuversicht persönliche Erfahrungen, namentlich im Umfeld seiner Liebesbeziehungen, streiten, man vergleiche etwa in den Neueren Gedichten das unmittelbare Nebeneinander von Frühlingsbotschaft (S. 277) und Die falsche Scham (S. 279)502, so verleiht das seiner Lyrik die Offenheit ungelöster innerer Spannungen. Unschlichtbare Spannungsverhältnisse legt Keller auch im Feld der politisch-öffentlichen Verhältnisse und seines Kunstverständnisses offen (vgl. Kap. II, III und XIII), sie erfassen seine Identitätssuche wie seine Liebesauffassungen (vgl. Kap. VIII und IX). Sie sind ein Wahrzeichen der modernen Lyrik insgesamt. Ihr nähert sich Keller an, indem er eigenen und zeitgeschichtlichen Erfahrungen zum Ausdruck verhilft und so die lyrischen Traditionen, die er für sich nutzt, transzendiert.
Anhang WAS IST ES AN DER ZEIT? 1 Im Mittagsglast, auf des Gebirges Grat, Schlief unter alten Fichten müd ich ein; Ich schlief und träumte bis zum Abendschein Von leerem Hoffen und verlorner Tat. Schlaftrunken und verwirrt erwacht ich spat. Gerötet war des Urbergs hart Gebein, Gerötet seiner Lenden Busch und Stein, Der Himmel war wie eine blut’ge Saat! Mir aber schien der Tag nun aufzugehn; Ich hielt die Glut für lichtes Morgenrot Und harrte auf der Sonne Auferstehn. Doch Berg um Berg versank in Schlaf und Tod, Die Nacht stieg auf mit graulich stillem Wehn, Und mir im Herzen war es kalt und tot! 2 So werd ich manchmal irre an der Stunde, An Tag und Jahr, ach, an der ganzen Zeit! Sie gährt, sie tost, doch mitten auf dem Grunde Ist es so still, so kalt und zugeschneit! Habt ihr euch auf ein neues Jahr gefreut, Die Zukunft preisend mit beredtem Munde? Es rollt heran und schleudert weit, o weit! Zurück euch, ihr versinkt im alten Schlunde! O hätt den Hammer ich des starken Thor, Auf das Jahrhundert einen Schlag zu führen, Ich schlüg sein morsches Zeigerblatt zu Trümmern! Tritt denn kein Uhrenmacher kühn hervor, Die irre Zeit mit Macht zu regulieren? Soll sie denn ganz in Staub und Rost verkümmern? SW XIV, S. 71f.
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EINE NACHT 1. Aus wilder Liebesträume wirrem Treiben War ich erschöpft, beklommen aufgewacht; Ausruhend mußt ich auf dem Lager bleiben, Mich zu erholen von so banger Nacht. Und wie mir leichter ward, sandt ich mein Denken Zurücke in des Schlafes dunklen Schacht Und suchte sinnend an das Licht zu lenken, Was die entbundne Seele so erschreckt, In Todesangst vermochte zu versenken. Doch formlos, schattenhaft, was ich entdeckt, Und nur verworren ist es mir geblieben: Entschlafne Kinderjahre, aufgeweckt Und weinend in des Traumes Sturm getrieben, Sah ich in scheuer Flucht vorüberfliehn. Ich sah sie alle, jene guten, lieben, Verschollnen Tage, sah dahin sie ziehn Mit ihren kleinen Freuden, kleinen Sünden – Ach! warum mußtet ihr so schnell verglühn, Ihr bleichen Sternlein, nimmer zu entzünden? – Mir schienen jene Jahre bang und leis Und kaum vernehmbar also zu verkünden: „O weh dir, wehe! Deines Lebens Kreis, Er hat sein Mittel und sein Maß verloren! Du bist ein wurzellos, zerknicktes Reis, Dem Wintersturm zum leichten Spiel erkoren! Der seines Lebens Grundstein nicht gelegt, Dir wäre besser, wenn du nie geboren! Der seine Jugendzeit nicht zart gepflegt, Wirst nimmermehr die Zeit der Tat genießen! Wie kann dem Baum, der keine Blüten trägt, Dereinst die segensvolle Frucht entsprießen? Und, dessen Quell verschüttet ist im Sand, Kann frisch der Strom durch die Gefilde fließen? Die einst dein rauher Lenz zum Opfer fand, W i r sind die Blüten, deine Kinderjahre! Der klare Quell, versiegt am öden Strand, Es ist die Jugend dein, die unfruchtbare! Was schaust uns nach betränten Angesichts? Stürzt schon von deines Herzens Hochaltare Der Hoffnung Bild? In Staub und Kot zerbrichts! Drum reiß den welken Kranz aus deinen Locken Und folg uns nach ins leere graue Nichts!“
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Das Blut in meinen Adern wollte stocken, Als ich die Lieben mir entfliehen sah; Und meine Augen, sonst so starr und trocken, Sie füllten sich mit heißen Tränen da, Wie ich so hoffnungslos zum zweiten Male Verlieren sollt‘, die mir so deutlich nah! Sie schienen in des Traumes Zauberstrahle Wie eine führerlose, wilde Kinderschar, Die, kaum entronnen aus des Lehrers Saale, Ins Feld sich warf, der Zucht und Ordnung bar. Auf weiter Haide nun sie sich zerstreuten Und ich sah ihnen nach und ward gewahr, Wie diese unfruchtbaren, heißbereuten, Die Kinderjahre mein, im wilden Sumpf – Der mochte meinen Lebenslauf bedeuten – Versanken. Ein Gewimmer, fern und dumpf, Klang hilferufend noch zu mir herüber. Ich horchte schmerzzerrissen, starr und stumpf, Gepackt von der Verzweiflung eis’gem Fieber. Erbleichend fiel die Sonne nun hinab, Das Dämmergrau umfloß mich trüb und trüber; Ein matter Stern vom Himmel schoß herab, Ein leis Gelächter überstrich die Haide, Ein Irrlicht tanzt‘ auf meiner Jugend Grab – Bewußtlos sank ich hin mit meinem Leide. 2. Und wieder däuchte mir, daß alt und krank, Gefurchter Stirn, gebeugt, mit grauem Haar, Der Letzte auf der allerletzten Bank Ich in der längst vergeßnen Schule war. So saß ich da, ein abgelebter Greis Inmitten einer frischen Knabenschar; Ein scheuer Fremdling in dem fremden Kreis, Den um mich her ein neu Geschlecht nun zog. Der alte Lehrer aber streng und weis, Doch milden Sinns, der ernsten Lehre pflog. Ich horchte auf, gar sorglich, still und bang, Worum verfehltes Leben mich betrog, Wornach ich später oft vergeblich rang, Zu lernen jetzt. O es war wohl zu spät! In meinem Ohr des Lehrers Wort verklang, Wie wirkungslos ein Hauch vorüberweht! Und, was der Frühling rings ergriff mit Lust, War mir, dem Winter, auf das Eis gesät!
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Wie sollten auch in meiner kalten Brust Die zarten Pflanzen wieder duftend blühn, Die mir erfroren längst schon unbewußt? Vergeblich war und blieb mein angstvoll Mühn. Des Lehrers Nachsicht ging nun endlich aus, Auf mich begann sein Aug voll Zorn zu sprühn: Was willst du Alter in der Jugend Haus, Verpestend meinen schönen Maienflor? Du grauer Junge, mache dich hinaus! Hinaus mit dir, du unbrauchbarer Tor! Und, wie man einen bösen Geist verbannt, So stimmt‘ er an der Jugend zarten Chor; Ein altes Kirchenlied, mir wohlbekannt, Schlug seine frommen Töne an mein Herz! Da hab ich zitternd mich hinausgewandt Und schlich gebückt mit meinem heißen Schmerz Davon; und zu entrinnen dem Gesang Strebt ich mit schwanken Schritten feldauswärts. Doch wie ich auch ihm zu entfliehen rang, Die schwachen Füße widersetzten sich, In meinen Ohren stets das Lied noch klang Und jeder Ton traf wie ein blut’ger Stich Mein Innerstes. Denn einem Urteilsspruch Das friedenvolle, heil’ge Lied ja glich Und einem lächelnden Verbannungsfluch Aus dieser Erde zu der Toten Ruh! Es deckten, wie ein blumig Leichentuch, Die holden Kinderstimmen fest mich zu. 3. Es ist ein schöner Trost in banger Zeit, Daß, wenn für eines Traumes Angst und Not Der graue Tag uns keine Lindrung beut, Im Traume selbst ein lieblich Morgenrot Uns wieder Hoffnung, neuen Mut verleiht, Als frische Blumen mitgibt auf den Weg, Versüßend unsrer Fahrt Mühseligkeit. So ward auch ich im Traume wieder reg Und schien es mir, ich hätte bloß geträumt. Die bleichen Schrecken schwanden scheu hinweg; Der blaue Morgenhimmel, goldbesäumt, Goß in mein Herz erneute Lebensglut; Von reinem Silber klingend überschäumt
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Glänzt‘ von den Bergen klarer Quellen Flut. Es war ein Herbsttag, heiter, frisch und rein! Die Winzer sangen hell und wohlgemut Von allen Hügeln in das Land hinein! Die Wälder schimmerten von rotem Gold Weit weit umher im jungen Sonnenschein, Und die Natur hing ihren Liebessold In reichen Fruchtgewinden labend aus. Sie lächelte so mütterlich und hold Zu ihrer Kindlein lautem Saus und Braus. Ich aber sprang und eilte wie ein Reh, Vom letzten Schauer noch gejagt, feldaus, Durch all den Glast, und über Tal und Höh, Bis mich ein dämmerndes Gehölz umgab. Da lag in Waldesnacht ein tiefer See, Doch klar und still, wie ein kristallen Grab. Kein Laut ertönt‘, nur leise dann und wann Von welker Birken Rauschgold löst‘ sich ab Ein Tropfen Tau, der silbern niederrann Zum Wasserspiegel, fein, wie Elfensang! Auch mich die tiefe Ruhe überspann; Ich setzte mich an grünen Ufers Hang Und sah hinunter auf den dunkeln Grund, Der spiegelnd mit des Himmels Bläue rang. Da schaute, wie ein zweifelhafter Fund, Aus feuchtem Grab mein eigen Bild empor; Mir bebt‘ der Mund, dem Bilde bebt‘ der Mund, Aus unsern Augen stürzten Tränen vor, Und durch die Tränen sahen wir uns tief, O tief ins Eine arme Herz, und ich beschwor Mein eigen Bild, laut, laut, und rief: „Hast du nun wirklich keine Hoffnung mehr?“ – Ein Seufzer jetzt das Wasser überlief Und jagt’s in Zitterwellen vor sich her, Daß ob dem Flimmern bald mein Bild verschwand. So war nun der Pandora Büchse leer! Doch schrie ich noch verzweifelnd: „Halte Stand, Du falscher Schatten, und entflieh mir nicht!“ Und als der See die Ruhe wieder fand, Mein Aug zur Tiefe wieder war gericht, Konnt ich auch meinen Schatten wieder sehn, Und dicht daneben, wunderbar Gesicht! Schien mir sein bleiches Doppelbild zu stehn. Doch etwas Fremdes in dem Blicke lag, Und mich durchrieselte ein graulich Wehn.
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Ich rief: „Wie kommt mir dies Gespenst zu Tag?“ Und sah empor, da ward es mir entdeckt: An meiner Seite, wie ich selber pflag, Lag ich noch einmal ruhend ausgestreckt; Doch reiche Kleider schmückten die Gestalt. Und, was mich da am meisten noch erschreckt: Es war ein Jüngling und doch schon so alt, Weit bleicher noch von innerlichem Gram Als ich bislang in meinen Augen galt; Und seine Rede ich also vernahm: „Wer von uns beiden nun der Rechte sei, Der hier das größre Leid zu klagen kam, Das stell ich dir jetzt zu entscheiden frei. Ich bin geboren in des Glückes Schoß; Mir wurden der Talente mancherlei Und tiefe Sorgfalt zog sie mit mir groß. Ich habe jede Blume früh gepflückt Am Lebensstrom, der heiter vor mir floß; Das Schwerste ist mir leicht und schnell geglückt, Ich grub mit Eifer in des Wissens Schacht. Kein Tag ward mir je ungenützt entrückt, Zu eigen hab ich alles mir gemacht, Was nur der Mensch begierig lernen kann: Das hat mir frühe Früchte eingebracht, Und so ward ich, ein Knabe noch, zum Mann! Zum Mann? – O ein verlorner Sohn bin ich, Der all sein Sein verpraßt, eh es begann! In meinem übersatten Aug verblich Des Lebens wechselvolles Farbenspiel! Und kaltes, totes Grau umhüllet mich. Ich hab in vollem Lauf verfehlt mein Ziel, So daß ich taumelnd und der Kraft beraubt Weit über seinen Marken niederfiel. Und ich lag da mit tief gebeugtem Haupt, Verschmachtend in des Wissens üpp’gem Land, An das ich Tor mit eitlem Sinn geglaubt. Voll ernsten Spottes ich die Lehre fand: Nicht aus der Schule strömt der Taten Kraft, Eh wächst sie aus der Wüste heißem Sand! Und nicht von nervenschwacher Kennerschaft Strahlt aus des Schönen hoher Himmelsglanz! Was feine, heuchlerische Sitte schafft, O das ist nicht der Tugend Sternenkranz, Und aus dem Unglück nur entspringt das Glück, Der Irrtum erst macht unser Leben ganz –
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Zum zweimal zwölften Mal vor meinem Blick Nun raschelt da das vorwurfsvolle Laub: Enttäuscht und schaudernd schaue ich zurück In meiner Jugend aufgewühlten Staub. Es martert mich der Langeweile Pein; Ich bin im Frühling schon des Winters Raub. Ich bin zu stolz für ein behaglich Sein, Ich bin zu feige für das Ungemach! Verwöhnt von der Erziehung Lampenschein, Ist für den hellen Tag mein Aug zu schwach! Ich kann nicht handeln und kann doch nicht ruhn, Ich flieh den Reichtum wie der Armut Schmach; Ich kann nicht sünd’gen und nicht Gutes tun, Mich dürstet nach des Unglücks Feuerweih Und möchte sanft in seinen Stürmen ruhn, Doch fühl ich, daß ich schon verdorben sei Zu reiner Leiden jungfräulicher Qual. So fluch ich nun dem ew’gen Einerlei! So fluch ich nun des Tages mildem Strahl! So lock ich fluchend mir den Tod ans Herz Und bau von Flüchen mir ein Leichenmal!“ So sprach der Trug und schwang sich niederwärts, Und über ihm schloß sich die kalte Flut! Mir aber war, als ob mein alter Schmerz Nun bei dem Toten auf dem Grunde ruht‘. Indessen war es rauhe Winterszeit Geworden rings umher; der Sonne Glut War ausgelöscht und Dunkel weit und breit. Doch i n m i r war ein heller Tag erwacht; Ich sprang empor in frischer Fröhlichkeit: Wie Morgenrot, vom Ostwind angefacht, Wie einen taubesprengten Blütenkranz Trug ich mein Unglück singend durch die Nacht Und reiht‘ mich in des Lebens wilden Tanz! SW 13: Frühe Gedichte, S. 82–95
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FRIEDE DER KREATUR Spinnen waren mir auch zuwider All meine jungen Jahre, Ließen sich von der Decke nieder In die Scheitelhaare, Saßen verdächtig in den Ecken Oder rannten, mich zu schrecken, Über Tischgefild und Hände, Und das Töten nahm kein Ende. Erst als schon die Haare grauten, Begann ich sie zu schonen, Mit den ruhiger Angeschauten Brüderlich zu wohnen; Jetzt mit ihren kleinen Sorgen Halten sie sich still geborgen, Läßt sich einmal eine sehen, Lassen wir uns weislich gehen. Hätt ich nun ein Kind, ein kleines, In väterlichen Ehren, Recht ein liebliches und feines, Würd ich’s mutig lehren, Spinnen mit dem Händchen fassen Und sie freundlich zu entlassen; Früher lernt‘ es Friede halten, Als es mir gelang, dem Alten! SW 15,2: Nachgelassene Gedichte, S. 133f.
Du solltest ruhen und ich störe dich, Ich störe deine Ruhe, süße Tote, Ich wecke dich im kühlen Morgenrote, Und wecke dich, wenn Schlaf die Welt beschlich. Die in der Morgenfrüh in leisen Schuhen Die Ruh gesucht und mir die Unruh gab, Nicht eine Feste ist dein zartes Grab, Drin du geborgen kannst und sicher ruhen! Entschwundnes Gut, o Herz voll seltner Güte, Steh auf und schüttle nur dein nasses Haar! Tu auf die lieben Äuglein treu und klar, Gebrochen in des Lenzes reinster Blüte! Du mußt mit meinem Grame schmerzlich kosen, Solang er wacht, das ist die meiste Zeit! Erst wenn der Tod mir selber Ruh verleiht, Magst kehren du zu ruhn im Wesenlosen. SW 15,2: Nachgelassene Gedichte, S. 20
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Gottfried Keller: Sämtliche Werke. Hrsg. von Jonas Fränkel und Carl Helbling. Zürich und München 1926 ff. (seit 1931: Bern und Leipzig), hier: Bd. 21, S.18f. – Im folgenden zitiert unter der Sigle SW + Bandzahl + Seitenzahl. – Das vorliegende Zitat entstammt Autobiographien III. Kellers Lyrik wird im folgenden zitiert nach der Studienausgabe im Deutschen KlassikerVerlag: Gottfried Keller: Gedichte. Hrsg. von Kai Kauffmann. Frankfurt am Main 1995 (= Gottfried Keller: Sämtliche Werke: Bd. 1. Bibliothek deutscher Klassiker.) Es handelt sich (wie auf dem Schutzumschlag zu lesen ist) um die „Ausgabe sämtlicher zu Kellers Lebzeiten erschienenen Gedichte in ihrer zyklischen Anordnung – an den autorisierten Drucken überprüfte Ausgabe mit durchgängiger Kommentierung.“ Folgende Siglen werden verwendet: für die Gedichte von 1846: Gedichte, Kauffmann, + Seitenzahl; für die Neueren Gedichte von 1854 (1. Aufl. 1851): Neuere Gedichte, Kauffmann, + Seitenzahl; für die Gesammelten Gedichte von 1888: Gesammelte Gedichte, Kauffmann, + Seitenzahl. – Wenn aus Kauffmanns Kommentar zitiert wird, dann mit der Sigle: Kauffmann, + Seitenzahl. – Gedichte Kellers, die bei Kauffmann fehlen, werden nach den Sämtlichen Werken (Anm. 1) zitiert. Das Manuskript zum vorliegenden Buch war schon im Druck, als 2009 die Gesammelten Gedichte Kellers in der neuen Historisch-kritischen Ausgabe seiner Sämtlichen Werke erschienen. Es handelt sich um die Bände 9 und 10, hrsg. von Walter Morgenthaler. Als Textvorlage diente die letztwillige Ausgabe der Gesammelten Gedichte in den Gesammelten Werken Kellers von 1889. – Diese neue historisch-kritische Ausgabe der Gedichte sowie der Nachgelassenen Gedichte (Bde. 17,1 und 17,2) konnte nicht mehr berücksichtigt werden. Der wichtige Apparatband zu den Lyrik-Bänden ist allerdings noch nicht erschienen. An dieser Stelle sei auf diese historisch-kritische Ausgabe (HKKA) nachdrücklich verwiesen. Vgl. auch die kritische Würdigung von Hans Zeller: Ein neuer Weg zur Textkonstitution. Die Textverwitterung in der historisch-kritischen Keller-Ausgabe. In: Euphorion 91 (1997), S. 213–232. Der Titel des Sonetts lautet Herwegh, Kauffmann, S. 58. Wir gehen auf dieses Gedicht im Kap. XIII Der Kunst zu Ehren ein. Das hat mit Nachdruck schon Luzius Gessler dargelegt: Lebendig begraben. Studien zur Lyrik des jungen Gottfried Keller. Bern 1964. – Gesslers aufschlußreiche Arbeit, die Kellers frühe Gedichte als eine Art „lyrisches Tagebuch“ (S. 20) auffaßt, liefert unter anderem eine Chronologie der Entstehung der einzelnen lyrischen Texte und macht daran den Wandel der seelisch-mentalen Haltungen Kellers dingfest. Dessen „Durchbruch zur politischen Dichterei“, so Gessler, habe dem „verschlossenen“ jungen Mann gleichzeitig „einen Weg aus sich heraus“ geöffnet: „Ohne sich dessen bewußt zu sein, bezog er als Parteipoet einen Standpunkt außerhalb seiner selbst, der ihm erlaubte, seine eigenen Leiden – seine Mutlosigkeit, seine Verstocktheit, seine Unjugendlichkeit – an einem Gegenüber – am Land, am Volk, an seinem Widersacher – zu sehen, sie in ihrer Gefährlichkeit zu durchschauen und von ihnen zu sprechen, ohne wehleidiger Selbstbespiegelung zu verfallen.“ (S. 29) – Man wird der These, daß Keller seine psychische Situation zu objektivieren verstand, cum grano salis zustimmen dürfen. Freilich – warum soll er sich dessen nicht bewußt gewesen sein? Ebenso fragwürdig ist Gesslers pauschalisierende These, Keller habe seine seelischen Probleme
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Anmerkungen nicht nur am eigenen „Land“ und „Volk“ gespiegelt, was teilweise zutrifft, sondern auch an seinem politischen „Widersacher“. Hier politisiert Gessler den jungen Keller über Gebühr. Ein Gedicht wie Wen klag ich an (SW 12, S. 233f.) zieht eine klare Trennung zwischen dem Leiden des lyrischen Ichs und der „Menschheit“ einerseits und der Tyrannei der „alten Macht“ andererseits, die eben das Leiden verursacht. Diese Unterscheidung, die Gessler unterläßt (vgl. S. 27ff.), gilt auch für das Gedicht Und wieder däuchte mir, auf das wir in unserem VIII. Kapitel zu sprechen kommen (vgl. auch Anm. 261). SW 21, S. 20. Pluralität in dem hier gemeinten Sinn kann freilich nicht eine grenzenlose Ausweitung des Begriffs Natur bedeuten. Eine derartige Ausweitung ist in der Keller-Forschung über Jahrzehnte hinweg üblich gewesen. Federführend war hier Emil Ermatinger geworden. So einsichtsvoll Ermatingers Hinweise zu Entwicklungsphasen der Lyrik Kellers waren, so fragwürdig war sein damit verknüpfter schrankenloser Naturbegriff (vgl. E. E.: Die deutsche Lyrik seit Herder, Bd. 3: Vom Realismus bis zur Gegenwart, 2. Aufl. Leipzig und Berlin 1925). Ermatinger legt zunächst die Kellersche „Natur als die Urmutter allen Lebens“ fest, „als Fruchtbarkeit, Reichtum, Üppigkeit und als Gesetzgeberin von Sittlichkeit, Ordnung, Recht. Mit lichter Klarheit sehen wir die beiden Mächte sein Leben formen.“ (S. 112) Gemäß dieser Stilisierung der Natur zur Weltbeherrscherin geraten die politischen Kämpfe des Schweizer Volks in Kellers Epoche schlankweg auch zu einem „Stück Natur“ (S. 111), wird dieses Volk zu einem „naturhaften Volke“ verwandelt (S. 116), und was „die Gesellschaft als Sitte und der Staat als Gesetz hervorbringt“, geschieht ebenfalls „auf dem Boden des natürlichen Werdens“ (ebd.). Da ist es nur folgerichtig, wenn Ermatinger zufolge Keller „sich selber als in dem Ganzen der Natur eingewachsen“ betrachtet (S. 119) und wenn er „zugleich den Sinn, das Gesetzmäßige, Wesentliche, man kann ruhig sagen, die Idee der Naturerscheinung“ erfaßt: „So verschmilzt bei ihm Äußeres und Inneres, wie bei Goethe, zu einer wundersamen Einheit.“ (S. 121) – „Ganzheit“, „Einheit“, „kosmische Gesetzmäßigkeit“, „Naturvergottung“ (ebd.) – solche Begriffe zeigen an, daß Ermatinger die Naturanschauung Kellers zu einer organischen und metaphysischen Universalie erweitert, die alles Leben harmonisch durchdringt. Kellers vielfältige unkonventionelle Brechung der Naturperspektivik, auf die wir aufmerksam machen werden, erntet daher bei Ermatinger nur kritisches Unverständnis (S. 119), vgl. unsere Anm. 51 in Kap. I. – Dasselbe Unverständnis bezeugt Jonas Fränkel, der verdienstvolle Mitherausgeber der Sämtlichen Werke Kellers. Zurecht plädiert Fränkel für eine neue Wertschätzung des Schweizer Lyrikers, der, so sein Argument, „die Natur in allen Tönen besingt und wie ein werbender Geliebter allen ihren Wandlungen andächtig nachgeht.“ (Jonas Fränkel: Dichtung und Wissenschaft. Heidelberg 1954, S. 90). Keller, authentischer romantisch als die Romantiker selbst – so lautet Fränkels These: „Die ganze romantische Naturlyrik, auch die Eichendorffs, verblaßt neben der Hingerissenheit und der Inbrunst des jungen Keller.“ (Ebd.) Wie Ermatinger keinen dissonierenden Ton im Naturgedicht gelten läßt, so auch Fränkel: „Das Geheimnis der Wirkung eines lyrischen Gedichtes liegt in der durchgeführten Einheit eines angeschlagenen Tones, im völligen Aufgehen des Dichters in der von ihm beschworenen Welt. Wird jene Einheit aufgelöst, so entsteht, was man ‚romantische Ironie‘ nennt und was Heine als bewußtes Mittel zur Zerstörung der dichterischen Illusion so virtuos anwandte. Ohne zu wollen, tritt der Redaktor Keller, indem er sich zu dem Dichter Keller in Gegensatz stellt, in des Ironikers Heine Spuren. […] die unio mystica zwischen Ton und Inhalt, jene geheimnisvolle Stimmung, aus der ein vollendetes Gedicht wie ein Wunder aufblüht, geht dabei unwiederbringlich verloren.“ (S. 91f.) – Aufgrund dieses altertümlichen Lyrikbegriffs – eines für Fränkels Epoche typischen Begriffs – fällt Fränkel manches abwertende Urteil über den „Redaktor“ Keller, den alten Keller also, der dem „Dichter“ Keller bei der Überarbeitung seiner Jugendlyrik angeblich so beckmesserisch in die Parade gefahren ist. – Deutlicher noch als Fränkel greift Fritz Martini die Natur-Kategorien Ermatingers auf, um sie endlos zu variieren (Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus. 1848–1888, 2. Aufl.
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Stuttgart 1964). Daß die Natur dem Lyriker Keller zum „mütterlichen Seinsgrund“ werde und ihn zum „Lebensstrom des Ganzen“ hinführe, daß sie Ordnung bis „in das politischgesellschaftliche Zusammenleben“ bedeute (S. 276) – derartige Erklärungen Martinis haben vielerorts eine pathetische Unverbindlichkeit, weil sie vom einzelnen Gedicht abgelöst, anstatt an diesem nachgewiesen werden. Das gilt auch für die Rede von „dem zum Weltganzen geöffneten Dichter, der in Schönheit und Stille der Natur fühlend anschauend das verborgene Gesetz, die Übereinstimmung von Mensch und Welt erfuhr“ (S. 274) – eine Annahme, die auf eine stattliche Reihe überliefernswerter Gedichte Kellers gerade nicht zutrifft. „Seine Bildlichkeit zeigt auf die Natur – als Einheit des Wirklichen im Gesetz der erhaben-schönen, mütterlich bergenden Schöpfungsordnung, als durch Gefühl und Anschauung aufgenommene Erscheinung des Lebensgeistes. Der Dichter als Schöpfer ihrer sinndeutenden Bilder und die Welt als Schöpfung des göttlichen Geistes finden zueinander.“ (S. 275) – Es entsteht der Eindruck, als sei Kellers Lyrik nicht im Bürgerlichen Realismus zuhause, sondern in einer synkretistischen, aus Elementen Klopstock’scher Naturanschauung und romantischer Naturphilosophie erdachten Epoche. An einer Rückbindung Kellers an überlebte lyrische Formen ist Martini auch andernorts interessiert: „Kellers Alterslyrik kehrt in den wesentlichen Gedichten zu der Erlebnis- und Stimmungslyrik zurück, die sich an die Tradition Goethes, der Romantik anschloß.“ (S. 283) Eben dieser pauschalen These wird entschieden zu widersprechen sein. Zwar konzediert Martini der Lyrik Kellers auch „einen Wechsel in der Unruhe und zwischen Spannungen“ (S. 286), doch gleitet er über derartige Aussagen umstandslos hinweg, indem er sogleich die „dauernde Einheit im Zusammenhang der Dinge“ heraufbeschwört (ebd.). Martinis wiederholte Variationen der genannten Kategorien – des „Weltganzen“, der „Schöpfungsordnung“, der „Einheit“, des „Seinsgrunds“ – überlagern dann auch plausible Charakterisierungen der Lyrik Kellers, z.B. das „sinnlich farbkräftige Sehen der Dinge“ oder die „Freude am DinglichZuständlichen“. (S. 275) Dies ist der Nachteil der verdienstvollen Dissertation von Roy Chadwell Cowen: Die Bildlichkeit in der Lyrik Gottfried Kellers. Göttingen 1960. Cowen kommt aus der Schule Wolfgang Kaysers und verbindet die genaue Betrachtung einzelner Textelemente mit ihrer systematischen Zusammenstellung. So kann er über die lyrischen Bilder Kellers wiederholt treffende Aussagen machen (z. B. über seine Raumbilder und seine Farben). Aber er verharrt auch in jener Immanenz der Textanalyse, die damals als methodisch verbindlich galt, so daß er beispielsweise Bilder wie Sturm und Gewitter nicht in ihrer politischen Bedeutung zu erschließen vermag. Auch schreitet er nur ausnahmsweise von einzelnen Bildern zum Gedichtganzen weiter, weshalb ihr Stellenwert im Textkörper unbestimmt bleibt und er eine Sinn-Deutung der Gedichte erst gar nicht versucht. Lediglich bei seinen kursorischen Hinweisen zur literarhistorischen „Tradition des dichterischen Bildgebrauchs“ (S. 226ff.) überschreitet Chadwell seine immanente Methode. Angesichts der skizzierten Lyrikvorstellungen (Anm. 6 und 7) bedeutet die textbezogene Betrachtungsart Karl Fehrs einen deutlichen Fortschritt (vgl. unsere Anm. 22 u. 40). – Fast zeitgleich zu Fehr hat Carl Winter seine Keller-Monographie publiziert (Gottfried Keller. Zeit, Geschichte, Dichtung (Diss. 1970). Bonn: Bouvier Verlag). Während Fehr sich auf die künstlerische Individualität Kellers und Brennpunkte seiner geistigen Haltung konzentriert, wendet sich Winter den zeitgeschichtlichen und politischen Stellungnahmen Kellers und ihrem Wandel zu, die er an lyrischen und epischen Zeugnissen dingfest macht. Dergestalt zeigt der Beginn der siebziger Jahre zwei aufschlußreiche, durchaus repräsentative Fragestellungen und Erkenntnisinteressen. Die Geringschätzung der politischen Lyrik Kellers hat Tradition bis an die Schwelle der siebziger Jahre. Wir verweisen darauf am Beispiel des 1957 publizierten Aufsatzes von K. T. Locher (vgl. unsere Anm. 78). Eine zurückhaltende Würdigung, wie sie E. Korrodi dieser Lyrik zuteil werden läßt, ist eher die Ausnahme. Vgl. Eduard Korrodi: Gottfried Keller als Lyriker. In.: Ders.: Aufsätze zur Schweizer Literatur. Bern u.a. 1962, S. 68–83; besonders
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Anmerkungen S. 74ff. Carl Winter (Anm. 8) zeigt zu Beginn der siebziger Jahre Wege zu einer neuen Wertschätzung auf. – Eine erneute Unterschätzung des Genres erfolgt dann bei Bernhard Sorg (vgl. unsere Anm. 15). Keller hat seine Lyrik insgesamt wiederholt kritisiert. Hans Wysling, der Herausgeber des „Gedenkbands zum 100. Todesjahr“, hat ein Florilegium solcher selbstkritischer Äußerungen zusammengestellt: Gottfried Keller 1819–1890. Zürich u. München: Artemis-Verlag 1990. Das Problem der Epigonalität ist von Keller sehr früh (1847) und selbstkritisch dargestellt worden im Eingangsgedicht zu seinen Gaselen: „Unser ist das Reich der Epigonen“ (Neuere Gedichte, 1854, Kauffmann, S. 210; spätere Fassung: Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 603). – Vgl. dazu Thomas Böning: Gottfried Keller: Unser ist das Loos der Epigonen. In: Literarische Klassik. Hrsg. v. Hans-Joachim Simm. [suhrkamp taschenbuch materialien] Frankfurt/M. 1988, S. 461–474. – Siehe auch Barbara Neymeyr: Gottfried Kellers Epigonen-Gedicht: Poetologie im Kontext kritischer Epochendiagnose. In: Olaf Hildebrand (Hrsg.): Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen. Böhlau (UTB): Köln 2003, S. 145–161. – Daß Kellers Intention auch auf die Überwindung der Epigonalität zielt, zeigt der vorliegende Aufsatz Neymeyrs. Vgl. dagegen Bernhard Sorg (Anm. 15). Über die zum Teil stark differierenden Werturteile der Forschung hinsichtlich der Redaktion Follens informiert Elisabeth Büttiker: Von Liebesglück und Herzeleid. Drei lyrische Zyklen von Gottfried Keller. Bern u.a. 1994, S. 38f. – Plausibel ist Büttikers zusammenfassendes Urteil, „daß der Stellenwert der Follenschen Korrekturen von Fall zu Fall abzuwägen ist und daß man seiner Leistung weder mit einer generellen Verurteilung noch durch uneingeschränktes Lob gerecht wird.“ (S. 40) Daß Follen mit Einfühlungskraft und Humor sich der Lyrik des Freundes annehmen konnte, wird an einer poetischen Einlage deutlich, die er sich gestattete, einer weiterführenden und im Tone Kellers gehaltenen Replik auf dessen vierteiliges Gedicht Am Wasser. Kellers viertes Gedicht A. Dissonanz kontrapunktiert Follen durch ein lyrisches Eigengewächs B. Auflösung (vgl. Kauffmann, S. 36–38). Siehe dazu unsere Anm. 46. – Zur Rolle Follens vgl. auch die Hinweise Morgenthalers (Anm. 20). Wir schließen uns hier der einleuchtenden Argumentation Kauffmanns in seinem Kommentar zu Kellers Gedichten an (vgl. Kauffmann, S. 851f. u. 858ff.). – Keller hat später den Einfluß seiner literarischen Jugendfreunde geringgeschätzt, was angesichts der eingreifenden Redaktionen und Ratschläge Follens (vgl. die von Kauffmann, S. 858ff. beigebrachten Zeugnisse) eine kräftige Untertreibung sein dürfte: „Die Freunde aber wie Follen, Schulz, Eßlinger etc. waren doch eigentlich nicht au fait unserer jetzigen Bedürfnisse, wenigstens erinnere ich mich nicht e i n e s eingreifenden und fruchtbaren literarischen Gesprächs, das auf mich einen Eindruck gemacht hätte.“ (SW I, S. 296). Eine aufschlußreiche Darstellung dieses Problems liefert Carl Winter (Anm. 6). Winter diskutiert (S. 60ff.) am Beispiel des Gedichtes Es ist ein stiller Regentag und seiner ursprünglichen Fassung den Eingriff Follens und die ablehnende Haltung Fränkels dazu; vgl. SW 1, S. 68, S. 322 [Anhang], S. XXIV [Einleitung des Herausgebers]. Winter unterscheidet dabei klarsichtig die ästhetische und politische Dimension des Eingriffs durch Follen und der Ablehnung seitens Fränkels. Er macht darüber hinaus auf die politisch zwiespältige Haltung des jungen Keller aufmerksam. – Zum gesamten Fragekomplex vgl. auch unsere Anm. 12. So bei Johannes Klein: Geschichte der deutschen Lyrik. Von Luther bis zum Ausgang des zweiten Weltkriegs. Wiesbaden: Franz Steiner Verlag 21960. – Klein spricht von Kellers „wenig eigenständigen Liebesgedichte[n]“ (S. 585). Seine allgemein menschlichen und moralischen Kategorien verstellen ihm einen Weg zum Verständnis der Eigenart Kellers: „Herzenstapferkeit, Immerschaffen, Nie-Erliegen sind einfache Grundtöne seiner Lyrik.“ (Ebd.), „Gottfried Keller hat viel von der Körnigkeit eines Kalendermannes.“ (S. 587). Urteile dieser Art, aus der Feder eines Hochschullehrers, haben in der Nachkriegszeit wohl kaum den Sinn für Kellers lyrische Dichtung geschärft. Vor allem solche Gedichte Kellers, die in
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konventioneller Manier Naturgeschehen und Seelenlage parallelisieren, etwa Erster Schnee, hält Klein für „seine besten und unvergeßlichen Verse“ (ebd.). Umso erfreulicher ist es, daß Klein ein unkonventionelles Gedicht wie Winternacht zu würdigen wußte (S. 585f.). Einen anderen, interessanteren Zugang (als der von Klein versuchte) schlägt – drei Jahrzehnte später – Michael Feldt vor: Lyrik als Erlebnislyrik: Zur Geschichte eines Literatur- und Mentalitätstypus zwischen 1600 und 1900. Heidelberg 1990. - Feldts Kapitel über Keller (S. 309–328) verkennt durchaus nicht Kellers Traditionsgebundenheit, betont jedoch andererseits seine „Modernität“ (S. 328). „Artifiziell“ erscheint ihm diese in dem Maße, wie Keller gegenüber der Natur nicht mehr eine mimetische, das heißt abbildende Haltung einnimmt, sondern ein „Gefüge aus Schönheitsbildern“ entwirft (S. 318), die keine „Erlebnisse“ des Subjekts mehr aufnehmen, so daß Kellers Lyrik angeblich sowohl die gewohnte „Natur-Erfahrung“ wie auch die „Ich-Erfahrung“ ausspare (S. 319) und „nichts anderes als Schönheitserlebnis“ (S. 320) in einem künstlichen Sinn, d.h. „eine Abfolge von vorgestellten, artifiziellen Bildern“ konstruiere (S. 326). Auf diese Weise macht Feldt die lyrischen Texte Kellers mit ihren „rein ästhetizistischen Fügungen“ (ebd.) zu einem Präludium der künstlichen Welten eines Stefan George (vgl. S. 318 und S. 327). Im Gegensatz dazu etabliert er die politische Lyrik Kellers, die noch auf „Biographischem“, auf „Erlebnis und Erfahrung“ beruhe (S. 313).- So vielversprechend der antimimetische Ansatz Feldts ist, so forciert wirkt seine modernistische Zuspitzung Kellers; außerdem ist Feldts lyrische Materialbasis zu schmal für seine Thesen. Wir setzen uns mit diesen Thesen, die in eine komplizierte und teilweise begrifflich überladene Diktion gefaßt sind, anhand konkreter Beispiele auseinander. Vgl. unsere Anmerkungen 125 und 288 sowie unsere Interpretation zu Am fließenden Wasser (Kap. I) und zu Trübes Wetter (Kap. VIII, 1). Diese Feststellung gilt auch für jüngere Forschungsliteratur. Davon zeugt etwa Bernhard Sorgs Keller-Kapitel in seiner aufschlußreichen (und in vielen Kapiteln anregenden) Monographie Das lyrische Ich. Untersuchungen zu deutschen Gedichten von Gryphius bis Benn. Tübingen 1984 (= Studien zur deutschen Literatur, Bd. 80). – Sorg versteht Keller als besonders repräsentativ für die „Epigonalität der Lyrik des Realismus“, einer mit „subjektivem Bewußtsein“ erfahrenen „Epigonalität“ (S. 92), die mit „Realitätsverlust“ einhergehe (S. 93). Dieser Prämisse gemäß wählt Sorg solche Gedichte Kellers kommentierend und interpretierend aus, die entweder mittelmäßig sind oder die er als mittelmäßig bzw. epigonal mißversteht; so ein Ghasel, dem angeblich ein „ahistorischer, beinahe naiver Begriff von Klassik und Epigonalität“ zugrunde liegt (S. 96), so ein Sonett – Winterabend betitelt –, dem „etwas Unwahres und Gezwungenes“ eignen soll (S. 97); dann eine gereimte Erwiderung auf Justinus Kerners Lied“ die als „flach und harmlos“ charakterisiert wird (S. 103); ferner ein Naturgedicht – Willkommen, klare Sommernacht –, das seine eigenen „Naturbilder“ anscheinend „entwertet“ und bloß eine „Hohlform“ des „lyrischen Subjekts“ übrig läßt (S. 109); schließlich ein Goethe-Sonett, das als „flach“ bis zur unfreiwilligen Selbstparodie deklariert wird (S. 112), und ein Jesuitenlied, das „anspruchslos“ und ästhetisch weitgehend mißglückt zu sein scheint, aber angeblich „in Kellers Œuvre die Gattung des poetischen Gedichts ziemlich repräsentativ vertritt“ (S. 114). Das tut es mitnichten, und das tun auch jene Gedichte nicht, die im Medium der Interpretationen Sorgs eine Entwertung erfahren haben (ausgenommen davon bleibt Ich hab‘ in kalten Wintertagen). Wir haben uns mit diesem interpretatorischen Verfahren in den Kapiteln 1 Anm. 43, II Anm. 71 und XVI Anm. 401 auseinandergesetzt. – Zum komplexen Problem der Epigonalität vgl. Anm. 10. Zu den Mißverständnissen der Keller-Forschung gehört, daß sie die beharrliche Textanalyse durch ausufernde Textvergleiche meint ersetzen zu müssen. So wird gern das Motiv eines Gedichts bis in Kellers episches Schaffen hinein verfolgt und in seinen erzählerischen Verzweigungen aufgewiesen. In der Tat kann von Fall zu Fall die Bedeutung eines lyrischen Motivs durch solche Exkurse eine neue Nuance und Akzentuierung gewinnen, es büßt jedoch häufig genug seine Spezifik durch den weitschweifigen Vergleich auch ein. Ehe er gewagt wird, müßte erst die Eigenart des lyrischen Gebildes dargestellt werden. Auf
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Anmerkungen die ausufernden Vorlieben der Forschung machen wir exemplarisch aufmerksam in Kap. XI, Anm. 330 sowie in Kap. XIV Anm. 418 u. 421. Adolf Muschg: Der leere Spiegel. Bemerkungen zu Kellers Lyrik. In: Gottfried Keller. Elf Essays zu seinem Werk. Hrsg. von Hans Wysling, München 1990, S. 133–150, hier: S. 134f. Vgl. Hans Wysling: Lindenwipfelwehn. In: Frankfurter Anthologie. Hrsg. von Marcel ReichRanicki, Bd. 13. Frankfurt am Main und Leipzig 1990, S. 125. Unter den hier genannten Gedichten finden sich immerhin fünf, die Theodor Storm in einem Brief an Keller (22. Dez. 1883) zu seinen „Lieblingen“ zählt: Winternacht, Waldlieder, Abendlied, Stilles Abenteuer, Jung gewohnt, alt getan. Darauf hat Walter Morgenthaler hingewiesen: Gottfried Kellers Gedichte im Deutschen Klassiker Verlag. In: Text. Kritische Beiträge, Heft 2, Datum 1, 1996, S. 119–131. – Morgenthaler, Herausgeber der historisch-kritischen Gottfried-Keller-Ausgabe (vgl. Anm. 2), überprüft die Frankfurter Ausgabe im Hinblick auf „Textkonstitution“, „Emendationen“, „Kommentar”, „Handschriften“ und speziell an Beispielen der Neueren Gedichte (worauf wir an Ort und Stelle zurückkommen). Wir haben die relativ gut zugängliche Frankfurter Studienausgabe unseren Interpretationen zugrunde gelegt, damit der Leser unsere Urteile seinerseits ohne kostspielige Umstände am Text überprüfen kann. Kauffmanns hilfreiche Kommentare haben wir von Fall zu Fall berücksichtigt und dies jeweils auch vermerkt. Über seine interpretatorischen Hinweise sind wir – unserem thematisch unterschiedlichen Vorhaben entsprechend – meist wesentlich hinausgegangen. Von den sechs Gedichten, die der Zyklus umfaßt (Kauffmann, S. 18–26), verweisen wir an dieser Stelle auf drei. – Auf ein weiteres Gedicht (Es wiegt die Nacht mit sternbesäten Schwingen) weisen wir im III. Kap. hin. – Die Texte werden (mit Ausnahme von Stille der Nacht) nach ihrer Erstfassung in den Gedichten zitiert. Vgl. auch Karl Fehr: Gottfried Keller. Aufschlüsse und Deutungen. Francke Verlag: Bern und München 1972. Darin S. 29–43. - Künstlerischer Maßstab ist auch für Fehr traditionsgemäß die „echte Stimmungslyrik“ (S. 39), doch seine interpretatorischen Hinweise sind von Fall zu Fall genauer und stichhaltiger als traditonelle Sehgewohnheiten (vgl. Anm. 6). Gedichte, Kauffmann, S. 18f. Zweitfassung (unter dem Titel Unruhe der Nacht) in Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 387f. Vgl. die Verse „Die Nacht, die Nacht soll Dame / Nun meines Herzens sein!“ Oder: „Ich möchte gern mit ihr plaudern, / Wie man mit dem Liebchen spricht“. Vgl. die Verse: „Reichfunkelnde Sternenkrone / Ihr dunkles Haupt umflicht“. – Keller hatte sich in früheren Jahren mit Novalis vertraut gemacht. Die Verse „Ich will mich schlafen legen. / Der Morgenwind schon zieht“ erinnern an Eichendorffs Die Nacht. Vgl. besonders die beiden letzten Strophen. Vgl. die Verse: „Es streicht durch alle Täler / Ein Stöhnen, so klagend und bang“. Siehe die fünfte Strophe: „Die schwarzen Fichten sausen / Und wiegen sich her und hin, / Und über die feuchte Heide / Verlorene Lichter fliehn.“ Vgl. die sechste Strophe. Gedichte, Kauffmann, S. 25f.- Erst in den Gesammelten Gedichten hat Keller dem Gedicht den Titel Unter Sternen gegeben und die letzte Strophe gestrichen. Vgl. die zweite Strophe: „Heilig ist die Sternenzeit, / Öffnet alle Grüfte, / Strahlende Unsterblichkeit / Wandelt durch die Lüfte.“ „Hohe Lust! im dunklen Tal, / Selber ungesehen, / Durch den majestät’schen Saal / Atmend mitzugehen. / […] Scheidend rückwärts singt mein Mund / Jubelnde Gebete.“
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Auf die romantische Tradition hat namentlich E Korrodi (Anm. 7) aufmerksam gemacht. Sie wird in einigen frühen Briefen und Tagebuchstellen Kellers greifbar (vgl. Korrodi, S. 71f.) Die Schlußformel freilich, auf die Korrodi die „Dichtung“ Kellers bringt, vereinfacht die Komplexität seiner Lyrik; es handelt sich, so Korrodi, um „die Verschmelzung der Romantik mit der Wirklichkeit.“ (S. 82) Gedichte, Kauffmann, S. 24f. Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 386f. – Bei der folgenden Interpretation dieser Zweitfassung beziehen wir uns auf die Forschung in den Anmerkungen. „Es schienen so golden die Sterne“ lautet der Anfang der ersten Strophe; ihre Schlußzeile: „In der prächtigen Sommernacht“. Friedrich Theodor Vischer hat in dem Gedicht Kellers „die Ahnung einer neuen Religion“ sehen wollen und es in seinen Roman Auch Einer (1879) mit einigen Modifikationen eingefügt (vgl. Kauffmann, S. 1127). Kauffmann vermutet hier weitreichende mythologische Anspielungen, vgl. S. 888f. Etwa von Goethe in Dämmrung senkte sich von oben oder von Mörike in Früh im Wagen. Wer ist mit dem „Heldenkind“ gemeint? Karl Fehr gibt in seiner Essay-Sammlung (Anm. 22) einige wertvolle Hinweise. Er legt zwar dieses Kind zunächst kategorisch auf „das Christuskind“ fest (S. 67), modifiziert dann jedoch unter dem Eindruck eines frühen Keller-Gedichts über „Geistesfreiheit“ (vgl. S. 68) diese Aussage mit Hilfe einer „motivgeschichtlichen Erwägung“: Vergils vierte Ekloge antizipiert mit der Utopie eines friedenbringenden „Heldenkinds“ das christliche „Erlöserkind“ (S. 71). – Kellers Gedicht Rheinwein. 1847 (spätere Fassung Beim Rheinwein. 1847) versteht denn auch das „Heldenkind“ im Sinne der Geburt der politischen Freiheit (vgl. unser Kapitel Natur und Politik). Charakteristisch dafür ist Eichendorffs Mondnacht. Nachdem das lyrische Ich den Zusammenhang von „Himmel“ und „Erde“ mit höchster Intensität erfahren hat, scheint es seinen geographischen bzw. irdischen Ort schlechthin zu transzendieren, in einem Flug durch die Natur zu seiner ursprünglichen (biographischen bzw. metaphysischen) Heimat: „Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die stillen Lande, / Als flöge sie nach Haus.“ Den Charakter des Geheimnisses unterstreicht die Syntax der fünften Strophe. Ihr Einsatz „Doch wie“ deutet nicht mit Sicherheit auf einen Vergleich voraus, der ja eine andere Satzstellung (ein ‚so leicht fühle ich mich‘) fordern würde; das „doch wie“ kann auch einem älteren Sprachgebrauch zufolge zeitlich gemeint sein (im Sinne von ‚doch wie nun … fühle ich mich so leicht‘), aber auch dann wäre, grammatikalisch korrekt, eine Satzumstellung angebracht. In der ersten Fassung wird der grammatikalische Verstoß aufgrund des Doppelpunkts, der die beiden Satz- und Strophenhälften gehörig voneinander trennt, gleichsam entschuldigt. Auch das „unergründlich Schweigen“ der ersten und das Gefühl der Schwerelosigkeit der zweiten Satzhälfte lassen sich nicht unmittelbar zur Deckung bringen. So tut sich eine geheimnisvolle Lücke zwischen diesen Hälften auf. Verknüpfen wir die Strophe jedoch mit den vorhergehenden und der schwebenden Balance ihrer Polaritäten, so wird die innere Situation des lyrischen Ichs, die „stille“ und „gute“ Entrückung von irdischer Schwere und von einer Schmerz-Spott-Zerrissenheit, eher nachvollziehbar. Eine „namenlose Leere“ konstruiert dagegen B. Sorg (Anm. 15), indem er vom genannten Spiel der Polaritäten Kellers und seinem Sprachgebrauch absieht: vom „unergründlich[en] Schweigen“ (bzw. „unermeßlich[en] Schweigen“ in der Erstfassung) sowie von anderen zentralen Wortfügungen (z.B. dem „viel ersehnte[n] Heldenkind“ bzw. dem „längst ersehnten Heldenkind“ in der Erstfassung). Nachdem Sorg eine „namenlose Leere“ unterstellt hat, behauptet er, diese werde „mit dem vieldeutigen Wort vom ‚absoluten Schweigen‘ euphemistisch gewendet“; den Gipfelpunkt dieses angeblichen Euphemismus erblickt er in Kellers Wort vom „alten Gott“. Anstatt es als das Äquivalent des „Schweigens“ der nächt-
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Anmerkungen lichen „Welt“ und des welterfüllten Ichs aufzufassen, wie Kellers Gedicht es vorschlägt, dekretiert Sorg: „Es reduziert das lyrische Subjekt zur Hohlform [sic!], entwertet durch den Gang der Entwicklung die Naturbilder zu Beweisen eines tröstlichen Gottes und den tröstlichen Gott zum Beweis der Identität von Ich und Welt“. Weder von der „Hohlform“ noch von einer „Entwertung“ zeugt das Gedicht – eher vom Gegenteil. Daher ist auch Sorgs Folgerung fragwürdig: „Damit hat sich der Riß zwischen beiden („Ich und Welt“, G. S.) unmerklich aber folgenreich erweitert.“ Getreu seiner vorausgesetzten Prämisse – sie betrifft nicht nur Keller, sondern den Poetischen Realismus insgesamt – muß Sorg diesen „Riß“ feststellen. Er kann schwerlich hinnehmen, daß das lyrische Ich für einen Augenblick eine Art inniges Einverständnis mit Natur und Welt erfährt, selbst wenn es dies behutsam tut und durch seine konjunktivische Rede das Geheimnis und das Rätsel solchen Einverständnisses betont. – Im Widerspruch zu seiner Prämisse interpretiert Sorg Kellers Gedicht In hab‘ in kalten Wintertagen, von dem er zutreffend sagt, es schaffe „die Bilder einer sinnerfüllten ästhetisierten Welt“, als „Gleichnis eines erfüllten Lebens ohne Transzendenz“. (S. 106) – Vgl. dazu unser Kapitel IV Feuerbachiaden. Es herrscht aber auch ein Selbstwiderspruch in Sorgs Interpretation des Kellerschen Sommernacht-Gedichts. Wenn er dessen angebliche „namenlose Leere“ deklariert, so spricht er andererseits von der „Übermacht der Dinge“, ohne das eine mit dem anderen einsichtsvoll zu verbinden (S. 109). Von der „Übermacht der Dinge“ bzw. der „Realität“ (S. 93) muß Sorg seiner Prämisse zufolge reden, weil diese „eine nicht rückgängig zu machende Fremdheit zwischen Subjekt und Objekt“ (S. 93) voraussetzt. Wie fremd ist solche Rede dem Sommernacht-Gedicht! Vorliegende Deutung entfernt sich ziemlich weit von derjenigen Gerhard Kaisers: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben. Insel-Verlag: Frankfurt/M. 1981. Uns scheint, daß Kaisers Deutung einem gewissen Systemzwang erliegt. Zutreffend bemerkt er zunächst zur zweiten Strophe: „Das Urgebirge ‚um mich her‘ ist entmaterialisiert durch den Vergleich mit dem Nachtgebet. Seine massive Geschlossenheit ist aufgebrochen durch die Vorstellung des Meeres in der Ferne dahinter.“ (S. 610) Zwei Seiten später jedoch wird das „um mich her“ zu einer ersten ‚Umarmung‘ und das Meer „in der Ferne“ zu einer zweiten ‚Umarmung‘ gezwungen. Kaiser zollt auf diese Weise seiner Prämisse Tribut, daß Kellers Dichtung stets von einer unauflöslichen Mutter-Bindung und einer nicht endenwollenden Auseinandersetzung mit der Vater-Imago zeuge: „Im Hintergrund des Gedichts wird damit wieder die Familienszene ahnbar. Das umarmende Urgebirge, seinerseits vom Meer umarmt: Mutter Erde, Judith, die am Schluß der Zweitfassung des Grünen Heinrich als Naturmanifestation aus dem Felsen kommt. Der alte Gott, der endlich sich bezeugt: der ferne, entbehrte Vater.“ (S. 612) Was bei Keller ausdrücklich als „unergründlich Schweigen“ bzw. als konjunktivische Möglichkeit und tastend-vieldeutige Namenserkundung („als tät‘ der alte Gott“) dargelegt ist, wird von Kaiser behende ergründet und mit dem Stereotyp ‚Vater‘ belegt. – Nicht nur im Hinblick auf das Gedichtganze, auch im Detail werden großzügige Grenzüberschreitungen manifest. Das „erlebende Ich versinkt“, so Kaiser, im „Schweigen“ (ebd.), ein doch nirgends bezeugtes Versinken, das er wahrnehmen möchte, um die vermeintliche Natur-Mutter-Umarmung, worin das Ich zu versinken droht, heraufzubeschwören. Dergestalt versinkt mancher Hinweis im allerorten aufgesuchten Vater-Mutter-Syndrom. Keller hat Abendregen in die Gesammelten Gedichte aufgenommen (Kauffmann, S. 403). Erstfassung siehe Neuere Gedichte, 1854 (Kauffmann, S. 228f.). Gegenüber der hier zitierten modifizierten Fassung der Gesammelten Gedichte (Kauffmann, S. 417–421) trägt die Erstfassung in Gedichte (Kauffmann, S. 33–36) den Titel Am Wasser und ist ergänzt um das von A. A. L. Follen stammende Gedicht B. Auflösung (Kauffmann, S. 37f.). Vgl. unsere Anm. 12 und Kauffmanns Kommentar, S. 896. Für den II. Teil des Gedichts schlägt W. Morgenthaler (Anm. 20, S. 124) die plausible Lesart vor: „Doch wenn sein Beginnen / Der Seele Bedarf“ (statt „bedarf“).
Anmerkungen AM FLIESSENDEN WASSER I. II. Hell im Silberlichte flimmernd, Ich liege beschaulich, Zieht und singt des Baches Welle, An klingender Quelle Goldengrün und tiefblau schimmernd Und senke vertraulich Küßt sie flüchtig die Libelle; Den Blick in die Welle; Und ein drittes kommt dazu, Ich such’ in den Schäumen Eine Blüte hergeschwommen: Weiß selbst nicht, wonach? Alle haben drauf im Nu Verschollenes Träumen Heitern Abschied schon genommen. Wird in mir wach. Und die Esche beugt sich drüber, Da kommt es gefahren Schaut in Ruh das holde Treiben, Mit lächelndem Munde, Denkt: Ihr Lieben, zieht vorüber, Vorüber im klaren Ich will grünen hier und bleiben! Krystallenen Grunde, Und ich unter’m Eschenbaum: Das alte vertraute, Was soll denn mit mir geschehen Das Weltangesicht! In dem reizend leichten Traum? Sein Aug’ auf mich schaute Soll ich bleiben? Soll ich gehen? Mit äth’rischem Licht. Wohin ist’s geschwommen Im Wellengewimmel? Woher ist’s gekommen? Vom blauenden Himmel! Denn als ich in’s Weben Der Wolken geseh’n, Da sah ich noch eben Es dort vergeh’n. Ich seh’ es fast immer, Wenn’s windstill und heiter, Und stets macht sein Schimmer Die Brust mir dann weiter; Doch wenn sein Begegnen Der Seele bedarf, Im Stürmen und Regnen Auch seh’ ich es scharf. III. Ein Fischlein steht am kühlen Grund, Durchsichtig fließen die Wogen, Und senkrecht ob ihm hat sein Rund Ein schwebender Falk gezogen. Der ist so lerchenklein zu seh’n Zuhöchst im Himmelsdome; Er sieht das Fischlein ruhig steh’n, Glänzend im tiefen Strome! Und dieses auch hinwieder sieht In’s Blaue durch seine Welle Ich glaube gar, das Sehnen zieht Eins an des andern Stelle!
IV. Sah ich eine junge Welle, Die durch Alpenrosen floß Und sich rauschend mit der Quelle, Mit dem Strom in’s Tal ergoß. Schien der Himmel drin versunken, Und war doch so leicht und klar, Und ich hab’ davon getrunken, Wie so frisch und rein sie war! Bin dann auf dem Meer gelegen, Wo das Kreuz am Himmel steht; Nicht konnt’ unser Schiff sich regen, In der Glut kein Lüftchen weht’!
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Anmerkungen Schaut’ ich in die Wasser nieder, In die Tiefen unverwandt, Und sah meine Welle wieder Aus den Bergen, wohlbekannt. Von dem heißen Strahl durchzittert, Ja, sie war es, deutlich, nah! Doch versalzen und verbittert, Still und mutlos lag sie da. —
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Vgl. Mörikes Gedicht Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel. Gedichte, Kauffmann, S. 39f. Die Wertschätzung des jungen Keller für Lenau bezeugt sich unter anderem in seinem Gedicht An Lenau, erschienen in den Gedichten (Kauffmann, S. 157f.), und in Tokaier. Reminiszenzen an Lenau, in: Neuere Gedichte (Kauffmann, S. 220f.). Vgl. etwa Klopstocks Die frühen Gräber und Goethes An den Mond Eben diesen Gesichtspunkt hat die Forschungstradition verkannt. So schreibt E. Ermatinger (Einleitung, Anm. 6): „Kellers N a t u r g e f ü h l ist so ursprünglich und tief wie das Goethes, Mörikes und Eichendorffs. Wohl trifft man auch bei ihm jene an Heine und Lenau gemahnenden Bilder, in denen die Natur denaturiert und mit geistreicher Gewalttätigkeit in den Kreis menschlichen Lebens hineingezogen wird. In ‚Feldbeichte‘ erscheint der Mond mit seiner Silberglatze als Pfaffe, der dem Dichter die Beichte abnehmen muß.“ (S. 119) Neuere Gedichte, 1854, Kauffmann, S. 191. Spätere Fassung: Winternacht, Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 432f. – Die beiden aufschlußreichen dreistrophigen Fassungen, die der vierstrophigen vorhergehen, teilt H. Wysling (Anm. 9) mit (S. 193). Heyse läßt eine weibliche Gestalt die „schauerliche Schönheit“ des Gedichts empfinden und in einer Soirée vorlesen. Die Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik, gesammelt von Will Vesper und geschmückt von Käte Waentig (Düsseldorf und Leipzig: W. Langewiesche-Brandt). Eine Vorstufe der folgenden Interpretation findet sich in meinem Aufsatz „Der unerfüllte Eros in der Lyrik Gottfried Kellers“, in: Cahiers d’Etudes Germaniques 2003/2 – n°45 [Actes du Colloque international, Aix-en-Provence, 13, 14 et 15 mars 2003], S. 241–252. Stefan Bodo Würffel erkundet den Stellenwert der Nixengestalt Kellers in der Tradition der von Shakespeare angeregten Ophelia-Bilder. Stefan Bodo Würffel: Ophelia. Figur und Entfremdung. Bern: Francke, 1985. S. 34–40. Zum Motivkreis der weiblichen Wasserwesen vgl. die eingehende Untersuchung von Anna Maria Stuby: Liebe, Tod und Wasserfrau: Mythen des Weiblichen in der Literatur. Opladen 1992. Die erste Zeile der Winternacht hat Emil Staiger mit der ersten Zeile von Kellers Abendlied verglichen: „Augen, meine lieben Fensterlein“. Nicht nur die Anzahl der Silben ist in beiden Zeilen gleich, sie haben, konstatiert Staiger, auch den gleichen „rhythmischen Rahmen“ (S. 205). „In Notenschrift aber“, fährt er fort, „müßten wir die Silben des ‘Abendlieds’ in Vierteln, die der ‘Winternacht’ dagegen zweifellos in Halben setzen. Denn hier sind […] die Senkungen derart beschwert, daß nur der gemessenste Zeitfall dieser Sprache gerecht zu werden vermag. Lesen wir aber die Verse so, langsam, jede Silbe für sich, dann scheint in jeder dieser Pausen das Stillstehn der Zeit uns wie ein Todesschauer zu berühren. (S. 205). Emil Staiger: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller. (Kap. C. Die ruhende Zeit). Zürich 31963: Atlantis-Verlag. Vgl. dazu Gert Sautermeister: Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Gesellschaftsroman, Seelendrama, Romankunst, in: Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Hrsg. v. Horst Denkler. Stuttgart (Reclam): 1980. S. 80–123.
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Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 443. NIXE IM GRUNDQUELL Nun in dieser Frühlingszeit Ist mein Herz ein klarer See, Drin versank das letzte Leid, Draus verflüchtigt sich das Weh. Spielend meine Seele ruht, Von der Sonne überhaucht, Und mit Lieb‘ umschließt die Flut, Was sich in dieselbe taucht. Aber auf dem Grunde sprüht Überdies ein Quell hervor, Welcher heiß und perlend glüht Durch die stille Flut empor. Und im Quelle badest du, Eine Nix‘ mit goldnem Haar; Oben deckt den Zauber zu Das Gewässer tief und klar. Neuere Gedichte, 1854, Kauffmann, S. 275f. SEEMÄRCHEN Und als die Nixe den Fischer gefaßt, Da machte sie sich abseiten; Sie schwamm hinaus mit lüsterner Hast, Hinaus in die nächtlichen Weiten. Sie schwamm in gewaltigen Kreisen herum, Bald oben, bald tief am Grunde, Sie wälzt‘ mit dem Armen sich um und um Und küßt‘ ihm das Rot vom Munde. Drei Tage hatte sie Zeitvertreib Mit ihm in den Meeresweiten, Am vierten ließ sie den toten Leib Aus ihren Armen gleiten. Da schoß sie empor an das sonnige Licht Und schaute hinüber zum Lande; Sie schminkte mit Purpur das weiße Gesicht Und nahte sich singend dem Strande. Vgl. dazu die Frauenbilder des belgischen Malers Fernand Knopff. – Einen Vergleich zwischen Kellers Seemärchen und einem Nixen-Gedicht Friedrich Rückerts stellt Johannes Barth an: Geister-Frau. Zwei postromantische Bilder der Nixe. In: Max-Rainer Uhrig (Hrsg.): Gestörte Idylle. Vergleichende Interpretationen zur Lyrik Friedrich Rückerts. Würzburg: Ergon 1995. S. 171–185. Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 428f. In einem Brief an Theodor Storm vom 22.9.1882. Vgl. das Briefzitat bei Kauffmann, S. 1137. Brief an Keller vom 20.9.1879. – Storms Lob zitiert Kauffmann, S. 1133. Ernst Otto, der Kellers düstere Lebensstimmung im Umkreis der Entstehung des Gedichts aufzeigt (Januar 1879), betont gleichwohl auch seine Nähe zum Geist Feuerbachs in dieser Zeit und spricht von seiner „Diesseitsfreude und Lebenstapferkeit“ (S. 460). Die Verse 9 und 10 über die „Fünklein“ und „Sternlein innerlich zu sehn“ kommentiert er mit dem
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Anmerkungen Satz: „Die Innenwelt des Dichters ist so groß und weit, daß er das Licht der Außenwelt in der Tiefe seines Bewußtseins noch empfindet, wenn durch die gesunkenen Augenlider die Quelle des Lichts abgeschlossen ist.“ (S. 458) – Ernst Otto: Von RESPICE FINEM eines Feuerbachianers: Gottfried Kellers „Abendlied“. In: Soziokulturelle Kontexte der Sprach- und Literaturentwicklung. Festschrift für Rudolf Große zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Sabine Heimann u.a. Stuttgart: Akademischer Verlag 1989. S. 451–465. Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 729f. Eine Stellungnahme des frühen Keller zu technischen Neuerungen enthält sein Gedicht An Justinus Kerner, das wir in Kap. XIII behandeln. Zu den Ausnahmen im Bürgerlichen Realismus vgl. C. F. Meyers Gedicht Hohe Station. – Welche Schwierigkeiten die neue Technik den Lyrikern bereitet, zeigt Ferdinand von Saars Drahtklänge, eine Poetisierung der technischen Innovation. Vgl. dazu unsere Einführung. Vgl. Peter Stein: Politisches Bewußtsein und künstlerischer Gestaltungswille in der politischen Lyrik 1780–1848. Hamburg 1971. Vgl. Hans-Wolf Jäger: Politische Metaphorik im Jakobinismus und im Vormärz. Stuttgart 1971 (= Texte Metzler, 20). Von diesen und den folgenden Überlegungen her ist Skepsis geboten gegen pauschale Verurteilungen politischer Lyrik. Wir äußern unsere Einwände anhand zweier KellerForscher: Kaspar T. Locher (vgl. unsere Anm. 78) sowie Bernhard Sorg (vgl. Kapitel I., Anm. 15). Sorg führt Keller mit der These ein, er markiere „den Anfang des expliziten Ergreifens des poetischen Worts in die politische Sphäre“ (S. 93) und mache deutlich, warum „politische Lyrik“ „im 19. Jahrhundert so relativ plötzlich abundiert [sic!] und im Bewußtsein von Dichter und Leser einen derart prominenten Platz einnimmt und behält.“ (S. 110) Aber Keller ist in Wahrheit ein relativ später Nachfahre der politischen Lyriker vom Schlage Herweghs und Freiligraths, denen ihrerseits Lyriker wie Chamisso und Heine vorhergehen, zu schweigen vom politischen Gedicht der Aufklärung im Geiste Klopstocks oder des Jakobinismus (vgl. dazu unsere Anm. 69 u. 70). Mit keinem Wort streift Sorg die Tradition der politischen Lyrik, nicht ein Satz gilt den historisch-gesellschaftlichen oder kulturgeschichtlichen Voraussetzungen für ihre „prominente“ Bedeutung im Vormärz und der damit anscheinend verbundenen „Disposition wachsenden Subjektverlustes“ (S. 118). Offenbar vernachlässigt Sorg das politische Gedicht als eine Gattung der bis zum Barock zurückreichenden Gebrauchslyrik, die ihre eigene Formensprache hat (vgl. unser Kapitel V. Gelegenheitslyrik), folglich nicht vorab an der sogenannten ‚autonomen‘ Lyrik wertend zu messen ist; nur indem Sorg den ästhetischen Maßstab autonomer Kunst absolut setzt, kann er behaupten, das politische Gedicht zeichne sich „schwerlich je durch künstlerisches Gelingen“ aus (S. 119). Sorgs Kritik an der Gattung – ihre „Übernahme politischer Begriffe in den poetischen Kontext in der Hoffnung auf eindeutige Wiedererkennung“, ihre „Fixpunkte unbildlichen Sprechens“ und das Fehlen einer „Vermittlung des lyrischen Subjekts an der Objektwelt“, also ihre unvermittelte Reprise des vorgegebenen Sprach- und Gegenstandsmaterials (S. 114): alle diese Einwände treffen in manchen Fällen gewiß zu, aber sie treffen nicht die politische Lyrik insgesamt und schon gar nicht alle politischen Gedichte Kellers. Man vergleiche unsere Exemplarischen Interpretationen seiner Waldlieder und seines Ave Maria auf dem Vierwaldstätter See in Kapitel II und III, und man wird unschwer erkennen, welche bedeutende ästhetische Vermittlung der „Objektwelt“ durch das „lyrische Subjekt“ hier erfolgt ist, wie sehr begriffliche ‚Eindeutigkeit‘ und „Fixpunkte unbildlichen Sprechens“ einer eigenen mehrschichtigen und bedeutungsreichen Ästhetik anverwandelt sind, deren Metaphorik eine vertraute Bildlichkeit aufgreift, um sie umzugestalten. Dabei bezeugt das Subjekt gerade jene „Selbständigkeit“ (S. 119), deren Verlust in politischer Lyrik Sorg wiederholt behauptet, bis hin zur These von der „De-Potenzierung von lyrischer Subjektivität“ (S. 112). Es ist problematisch, die Gattung des politischen Gedichts von seinen „anspruchslosen“ Exemplaren her anzugreifen, wie es umgekehrt problematisch wäre, die autonome Lyrik anhand ihrer mediokren Repräsentationen zu verurteilen.
Anmerkungen
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Sorg begreift „Subjektivitätsverlust“ (S. 118) offenbar als einen historischen Prozeß und als einen lyrischen zugleich. Das ist anfechtbar. Der politischen Lyrik geht gerade der Selbstbewußtwerdungsprozeß des historisch-gesellschaftlichen Subjekts unmittelbar voraus. Es ist das seit der Aufklärung und der Französischen Revolution bis zum Vormärz wachsende Bewußtsein der möglichen Freiheit und Selbstbestimmung, aus der die Individuen Kraft, Zuversicht und Selbstvertrauen schöpfen. Sie sind sich auch ihrer Gegner, die ihnen weiterhin Unfreiheit und Fremdbestimmung zumuten wollen, wohl bewußt; diese Gegner werden in politischer Lyrik häufig beim Namen genannt. Unverständlich ist uns daher Sorgs These: „In unserem Kontext können wir also das politische Gedicht bestimmen als eine Antwort auf die immer tiefer werdende Kluft zwischen dem seiner selbst ungewissen Ich und der drohenden Übermacht der rätselhaften Dinge.“ (S. 119) Eher das Gegenteil ist der Fall. Das Selbstbewußtsein der politischen Lyrik geht oft genug in Selbstüberschätzung über, verschränkt mit einer Unterschätzung der herrschenden Machthaber. Sorg selbst zitiert ein entsprechendes Gedicht Herweghs an Ferdinand Freiligrath, wo sich verräterische Zeilen wie die folgenden finden: „Die Fürsten träumen, laßt die Dichter handeln! / Spielt Saul die Harfe, werfen wir den Speer. […] Ein Schwert in eurer Hand ist das Gedicht.“ In Deutschland resultiert solche Selbstüberschätzung, die der Schreibfeder die Durchschlagkraft des Schwerts beimißt, aus dem Fehlen eines politisch-öffentlichen Lebens. Nur eine in politischen Vereinen und Parteien sich bezeugende Öffentlichkeit hätte den Schriftstellern zur empirischen Erfahrung verhelfen können, was an demokratischen Ideen und Postulaten durchsetzbar war. Ohne politischen Handlungsspielraum und ohne Probehandeln konnten sie sich statt dessen Illusionen über die Kraft ihrer politischen Feder hingeben. Sie konnten sich, wie Herwegh, ein „Volk“ imaginieren, das nur des poetischen „Signals“ zum Handeln „harrt“, konnten sich, wie Sorg zu Recht vermerkt, aufwerten „durch Teilhabe am kollektiven Subjekt der Geschichte“ (S. 113). Heine hat solcher phantasmagorischen Selbstüberhebung seiner schriftstellernden Kollegen kritisch Bescheid gegeben – aus Paris, der europäischen Metropole, deren politische Öffentlichkeit ihm zu Erfahrungen und Einsichten verhalf, die Herwegh, der „eisernen Lerche“, wie Heine spottete (vgl. sein Gedicht An Georg Herwegh), verwehrt blieben. Die politisch-gesellschaftliche Rückständigkeit Deutschlands, die sich unter anderem in einer aggressiven Zensur äußerte, mahnte Heine, den Emigranten in Paris, zur Vorsicht und zur Skepsis, wenn er seine Hoffnungen auf eine Veränderung der deutschen Verhältnisse formulierte; es war auch stilistische Skepsis am Werk, eine metaphorisch-schwebende Vieldeutigkeit, wenn Heine solche Hoffnungen ins Bild setzte oder im Bild verklausulierte. Und so entstand eine politische Lyrik, deren kritische Sprengkraft nicht unmittelbar, sondern indirekt zum Ausdruck gelangte, eingebunden in komplexe Bedeutungen und mehrdeutige Chiffren, wie sie beispielsweise im lyrischen Epos Deutschland. Ein Wintermärchen sich finden, einem Werk, das sich all den Zuschreibungen entzieht, die Sorg für die Gattung ‚politische Lyrik‘ reserviert hat. Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 398f.
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Gedichte, Kauffmann, S. 12f.
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Auf mythische Reminiszenzen verweist Kauffmann, S. 882.
75
Goethes Werke (‘Hamburger Ausgabe’), Bd. 1: Gedichte und Epen, textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz, 15., durchgesehene Aufl. München 1993, S. 46f.
76
Wir entleihen diese Wortprägung dem alten sozialistischen Lied Brüder, zur Sonne, zur Freiheit.
77
Vgl. Anm. 71.
78
Kaspar T. Locher (Über Wahrheit und Wirklichkeit in Kellers Frühlyrik. Zwei Fassungen eines frühen Gedichts. In: DVjs 31 [1957], S. 506–524) hat das Verdienst, die dem Gedicht Morgen II. von 1846 bzw. Sonnenaufgang vorausliegenden Fassungen detailliert untersucht zu haben. Aufgrund der für die Keller-Forschung typischen Perspektive Lochers sei diese hier kritisch kommentiert. – Die erste Fassung des Gedichts vom Juni 1844 lautet bei Keller (vgl. SW 13, S. 41f.) wie folgt (siehe Locher, S. 506f.):
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Anmerkungen 1. Fahre herauf, du kristallener Wagen, Klingender Morgen, so frisch und so klar! Seidene Wimpel, vom Ostwind getragen: Flattre, du rosige Wolkenschar! 2. Unter dir flutet und duftet die Erde, Brausende Woge von Blüte und Staub! Asche und Glut auf zerfallendem Herde, Leben und Tod unter grünendem Laub! 3. Reinigend, segnend liegt Tau auf den Landen, Weihbrunn zum heiligen Sonnengebet! Ach aber trocken, versengt und in Banden Liegen die Völker dazwischen gesät! 4. Wie sich die schimmernden Kreuze bespiegeln Hoch auf den Domen Land auf und Land ab, Könntest du, blitzender Morgen, entriegeln Drunter das Alles verschlingende Grab! 5. Schwebt nicht ein Phönix dort hoch in den Lüften, Tummelnd sich freudig im goldenen Saal? Ach, nur ein Rabe aus nächtlichen Klüften Sonnt sein Gefieder am feurigen Strahl! 6. Springt nicht ein Fischlein aus silberner Welle, Das sich am lieblichen Lichte erfreut? Ja, ‘s ist ein Hecht, ein ergrauter Geselle, Der seinen täglichen Mord nur erneut! 7. Welches ist Lüge und welches ist Wahrheit, Ist es das Leben hier oder der Tod? Ist es die Finsternis, ist es die Klarheit, Ewige Täuschung das Morgenrot? 8. Beides ist Wahrheit und beides ist Lüge, Je nachdem eines das andre bezwingt! Hilf du dem Leben, o Morgen, zum Siege Und daß die Klarheit die Krone erringt! Locher nimmt zunächst Anstoß an dem für das Gedicht bezeichnenden Kontrast: den „lyrischen Tönen“ der ersten Strophen und den „Abstraktionen der letzten beiden Strophen“ (S. 509). Er sieht darin einen „Stilbruch“ (ebd.). „Hier spricht nicht mehr ein Dichter, sondern ein unsicherer Erkenntnistheoretiker“ (S. 508). Ein „Stilbruch“? Handelt es sich nicht eher um eine bemerkenswerte Eigentümlichkeit Kellers, die uns schon in unserem I. Kapitel aufgefallen ist – um das unkonventionelle Ineinanderspiel von sinnlicher Anschauung und Reflexion? Immerhin erprobt Keller eine sehr eigenwillige Auffassung der ‚Wahrheit‘: Wahrheit ist diejenige Wirklichkeit, die sich im allgemeinen Leben durchsetzt und einen normativen Charakter gewinnt. Locher hingegen hätte es in konventioneller Weise lieber gesehen, daß der „dichterische Funke“ nicht „von der schweren Wolke des Problematischen verdunkelt“ würde (ebd.). – Ferner ist Locher mit Kellers „paradoxer Zweideutigkeit der Wirklichkeit“ (S. 515) in den ersten sechs Strophen befaßt, die er explizit lobt, würden da doch einzelne empirische Phänomene unter „verschiedenen Aspekten“ gedeutet, je nach denkendem „Subjekt“: zum Beispiel das „harmlos sich des Lebens freuende Fischlein“, das auch als „ein todbringendes Geschöpf“ (S. 509) aufgefaßt werde. Es fragt sich jedoch, ob diese im Gedicht vorausgesetzte Hermeneutik tatsächlich vorhanden ist. Enthüllt sich nicht vielmehr das Fischlein bei näherem Zusehen als mordlustiger „Hecht“, der frohe Vogel Phönix als ein „Rabe“? Hier geht es offenbar um eine realitätsangemessene Perspektive, nicht um eine Gleichzeitigkeit divergierender Deutungsmöglichkeiten. Auch andernorts geht es nicht um das deutende Subjekt, sondern um einen faktisch bestehenden Zwiespalt (den man im übrigen mit Locher durchaus als „Paradoxon“ [S. 509]
Anmerkungen
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bezeichnen mag): um den Zwiespalt zwischen „Leben und Tod“ (Strophe 2, 3 und 7), zwischen verheißungsvoller Naturschönheit und politischer Unfreiheit (Strophe 3), zwischen religiöser Verheißung und irdischer Gefangenschaft im Vergehen und Sterben (Strophe 4). Nicht um eine „vieldeutige Wirklichkeit“ ist es dem Gedicht (S. 509) zu tun, sondern um eine widersprüchliche. Letztere würde übrigens auch mehr derjenigen entsprechen, die ein von Locher zitierter Aufsatz Kellers anvisiert, wo „das Großartige und das Gemeine, oder das Leben- und Todbringende unmittelbar nebeneinander erscheinen“ (S. 510). Hier – wie auch im Gedicht – ist der Widerspruch durchaus eindeutig. Locher aber bedarf der Konstruktion des Vieldeutigen, um davon Kellers zweite Fassung abzuheben, der er eine „einfache Mechanik der Wahrheitserkenntnis“ zuschreibt: „Eindeutig wird hier die Anklage gegen die Kirche erhoben. […] Die symbolischen [sprich: vieldeutigen, G.S.] Darstellungen der Wirklichkeit werden zu durchsichtigen Allegorien vereinfacht: der verkleidete, tückische Hecht stellt die unersättliche Kirche dar, die ihren Raub unter Vorspiegelung falscher Tatsachen einheimst […].“ (S. 515) Der klassisch-goethischen Auffassung des vieldeutig Symbolischen verpflichtet, kritisiert Locher jegliche „einfache, unmißverständiche Wahrheit“ (S. 521), selbst wenn es die Idee der „Freiheit“ ist, die Keller in seiner letzten Strophe der Kirche als Instanz der Unfreiheit entgegenhält. Locher setzt die „an sich vieldeutige Wirklichkeit“ mit dem „die Welt als Geheimnis erlebenden“ homo contemplativus konform und diesen wiederum mit dem „Allgemein-Menschlichen“ (S. 520) bzw. mit der in „allen noch so disparaten Erscheinungen liegenden Güte der Welt“ (S. 526). So kommt er denn am Ende selber bei der simplen, wenn nicht illusionären Eindeutigkeit an: der „Güte der Welt“. Daß man diese „Güte“ erst herstellen muß, daß sie, wenn überhaupt, nur auf dem Weg der „Freiheit“ herstellbar ist, kommt ihm von vornherein nicht in den Sinn: das wäre die Angelegenheit des verächtlichen ‚homo politicus‘ (ebd.), des „einen festgefaßten Standpunkt im öffentlichen Leben unzweideutig vertretenden Parteimann[es]“ (S. 520. Damit ist Locher bei der gängigen Beurteilung des politischen Gedichts angelangt (wie 30 Jahre nach ihm B. Sorg, vgl. unsere Anm. 71). Daß es geschichtliche Epochen gibt, in denen der Schriftsteller keine andere Wahl hat, als sich politisch zu äußern, sofern er nicht passiv die Heraufkunft einer politischen Restauration erleben will, deren Zensur auch seine Schreibpraxis betreffen würde – dies konzediert Locher erst am Ende seines Aufsatzes unter spürbarem Zögern. „Weder als politischer Dichter, noch als kontemplativer Lyriker“ habe sich Keller „ganz befriedigt“ gefühlt: „Schreibt er politische Lieder, so machen ihm nachträglich sein ästhetisches Gewissen und seine tiefere Einsicht in das Wesen der Wirklichkeit zu schaffen, und wenn er sich vom Lärm des Tages abwendet und in der Natur Ruhe und Frieden sucht, regt sich sein politisches Gewissen, seine aktive Liebe zum leidenden Mitmenschen, die sich zu bestätigen sucht.“ (S. 522) – Prinzipiell ist Lochers Hinweis auf das „Schwanken zwischen zwei deutlich gefühlten Berufungen“ triftig (ebd.); es spiegelt sich darin das Problem des modernen Schriftstellers, der ästhetische Autonomie auf der einen Seite, politisches Verantwortungsbewußtsein auf der anderen Seite für sich reklamiert. Seit Goethe, der im ersten Jahrzehnt seiner Weimarer Existenz dieses Problem nicht zu lösen vermochte, trägt der Schriftsteller es in seinem Werk aus: als dichtender Citoyen und als parteiloser Ästhet. Daß ersterer, der Citoyen, im politischen Gedicht der Sache nach nur die praktische „Stellungnahme“ bzw. die „entscheidende Tat“ vortragen könne, in puncto Ästhetik „vom Mittel der polemischen Vereinfachung Gebrauch“ machen müsse, ist die These Lochers, die bei B. Sorg und anderen noch drei Jahrzehnte später wiederauflebt. Was jedoch bei Locher noch verständlich ist aufgrund des Geistesklimas der fünfziger Jahre, eines Klimas unpolitischer Innerlichkeit, hat in den folgenden Dekaden den Charakter der Naivität. Denn inzwischen müßte es – spätestens seit der Rezeption Heines – bekannt sein, daß politische Lyrik sich keineswegs in künstlerisch unzulänglichen Appellen zur Tat erschöpft, daß sie vielmehr ästhetisch anspruchsvolle Analysen politischen Handelns zu bieten und tiefreichende Zweifel am Handeln der intelligentsia zu gestalten vermag. Heines Deutschland, ein Wintermärchen ist dafür ein beredtes und mehrdeutiges Beispiel (Vgl. Gert Sautermeister: Zur Wahrheit entstellt. Drei Traumgebilde Heines. In: Cahiers D’Etudes Germaniques, 33 [1997], S. 87–104). Keller selbst hat – über manche ästhetisch und gedanklich simple politische Gedichte hinaus – die Gattung durch bemerkenswerte Zeugnisse belebt und erneuert, wie wir im vorliegenden und nächsten Kapitel zeigen wollen.
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Anmerkungen Siehe Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 409f. FRÜHLINGSGLAUBE Es wandert eine schöne Sage Wie Veilchenduft auf Erden um, Wie sehnend eine Liebesklage Geht sie bei Tag und Nacht herum. Das ist das Lied vom Völkerfrieden Und von der Menschheit letztem Glück, Von goldner Zeit, die einst hernieden, Der Traum als Wahrheit, kehrt zurück. Wo einig alle Völker beten Zum Einen König, Gott und Hirt: Von jenem Tag, wo den Propheten Ihr leuchtend Recht gesprochen wird. Dann wird’s nur Eine Schmach noch geben, Nur eine Sünde in der Welt: Des Eigen-Neides Widerstreben, Der es für Traum und Wahnsinn hält. Wer jene Hoffnung gab verloren Und böslich sie verloren gab, Der wäre besser ungeboren: Denn lebend wohnt er schon im Grab. Frühere Fassung: Frühling (II.), Gedichte, Kauffmann, S. 27f. Vgl. Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes. Hamburg 1960. An der „Parallelsetzung der Jahreszeiten mit dem Menschlichen“ im „vormodernen Gedicht“ hat Peter von Matt eine temperamentvolle Kritik geäußert: Die verdächtige Pracht. Über Dichter und Gedichte. München 1998, S. 41ff. – Es ist bemerkenswert, daß Keller diese „Parallelisierung“ gelegentlich anklingen läßt, um sie aus politischer Perspektive zu entzaubern. Vgl. seine Stein- und Holz-Reden (Anm. 96). Gedichte, Kauffmann, S. 228. Vgl. Kauffmann, S. 1021. Gedichte, Kauffmann, S. 29f. Die zweite Fassung der beiden Texte in den Gesammelten Gedichten, die den Titel Zur Erntezeit trägt (Kauffmann, S. 414f.), tilgt zwar rhythmische Unebenheiten im ersten Gedichtteil (I, 1. Str.) und führt eine kunstvolle Metapher ein („Sie schneiden die Sorge auf brennender Au“, 2. Str.). Aber sie spart auch die ursprünglich zweite Strophe aus („Das Himmelblau und der Sonnenschein […]“), wo sich das lyrische Ich mit seiner „Pein“ zu Wort meldet. So erscheint denn das Bedürfnis nach politischer Erlösung einzig und allein als das der arbeitenden Schnitter – das heißt als eine Projektion des Ichs, die unvermittelt wirkt. Kauffmann, S. 892, erinnert zu Recht daran, daß diese Begriffe auf die Befreiungskriege und die Völkerschlacht von Leipzig der Jahre 1812 und 1813 anspielen. Nach den politischen Signalen „Freiheitsschlacht“ und „Völkertag“ im ersten Teil mutet der zweite Teil von Sommer überraschend unpolitisch an. Das lyrische Ich schöpft Atem in einem „weiche[n] Buchenschlag“, es läßt sich von einem „leise[n] West“ erfrischen, von der Vorstellung einer „schweigsam stillen Maid“ sänftigen (den sprachlichen Mißgriff tilgt auch die zweiten Fassung nicht) und gelangt zu dem Schluß: Uns Beiden ist, dem Land und mir, So innerlich, von Grund aus, wohl – einem Schluß, der einen scharfen Kontrast zum politischen Unbehagen davor bildet. Die im Übermaß schwelgende Natur, die eben noch das Bedürfnis nach einem doppelten Ge-
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witter, einem natürlichen und einem revolutionären, gezeitigt hat, schmiegt sich dem Subjekt jetzt wohlwollend-wohltuend an, so daß es das „grüne[ ] Samtgewand“ der Buchen wie ein eigenes „grünes Kleid / Von Sammet“ empfindet, die „linde[ ] Hand“ des „leise[n] West“ wie die „weiche Hand“ einer Frauensperson, das „blaue[ ] Aug’“ des Himmels wie „ihres Auges blaue[n] Stern“. Die harmonische Verschränkung zwischen Landschaft und privat empfindendem Ich könnte kaum perfekter sein! Doch die Kluft, die sich damit zum ersten Teil von Sommer auftut, besitzt ihre eigene Wahrheit. Sie läßt erahnen, daß Politisches und Privates nicht bruchlos ineinander übergehen, erahnen, daß eine politische Sehnsucht nicht auch das persönliche Begehren des Individuums umfassen muß – das ist der Realitätssplitter, den Keller hier einfängt. Als wollte sein lyrisches Ich den Bruch zwischen Allgemeinem und Besonderem nicht einfach hinnehmen, vielmehr sein Unbehagen darüber äußern, widmet es die letzten anderthalb Strophen einem „Heimatlose[n]“, der die schöne Natur wie eine Dissonanz durchschneidet und den Mißklang in der Seele des Betrachters widertönen läßt. Ein Heimatloser aber, der damals kein Bürgerrecht besitzt und nicht einmal eine ordentliche Familie gründen darf – ein entrechtetes Subjekt also, ist ein politisches Skandalon zu Kellers Zeit. Und so gleitet denn der zweite Teil von Sommer ebenso überraschend in die politische Sphäre zurück, wie er sich von ihr entfernt hatte. – Keller hat in seiner Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe das eindringliche Porträt eines Heimatlosen entworfen. Vgl. Gert Sautermeister: Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe [Erläuterungen und Dokumente] Stuttgart: Reclam 2003, S. 9f., S. 92–94. – Im Hinblick auf das „grüne Kleid“ des lyrischen Ichs sei vermerkt, daß es die Kleidungsfarbe des Grünen Heinrich antizipiert. Allerdings wird dieser grüne Anzüge aus Uniformstoff tragen. Das Samt reservierte Heinrich für ein von ihm ersonnenes lyrisches alter ego! Kauffmann, S. 404 GEWITTERABEND Es dämmert und dämmert den See herab, Die Wasser sind gar so dunkel; Doch wenn ob den Bergen der Blitzstrahl zuckt, Was ist das für ein Gefunkel! Dann tun dem Schiffer die Augen weh, Er sputet sich ängstlich zu Lande, Wo gaffend der Feierabend steht Am grell erleuchteten Strande. Die Leute freuen und fürchten sich Und wünschen ein gutes Ende Und daß der Herr kein Hagelgericht In ihren Krautgarten sende. Jetzt zischt der Strahl in die laue Flut, Rings spannen sich feurige Ketten; Der blöde Haufen ergreift die Flucht, Sie verkriechen sich in die Betten. Wenn Gott einen guten Gedanken hat, Dann raunt man: es wetterleuchtet! Pass' auf, Gesindel, daß nicht einmal Er in die Wirtschaft dir leuchtet! Kauffmann, S. 422f. HERBSTNACHT Als ich, ein Kind, am Strome ging, Wie ich da fest am Glauben hing, Wenn ich den Wellen Blumen gab, So zögen sie zum Meer hinab.
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Anmerkungen Nun hält die schwarz verhüllte Nacht Erschauernd auf den Wäldern Wacht, Weil bald der Winter, kalt und still, Doch tödlich mit ihr ringen will. Schon rauscht und wogt das weite Land Geschüttelt von des Sturmes Hand, Es braus’t von Wald zu Wald hinauf Entlang des Flusses wildem Lauf. Da schwimmt es auf den Wassern her, Wie ein ertrunknes Völkerheer Schwimmt Leich‘ an Leiche, Blatt an Blatt, Was schon der Streit verschlungen hat. Das ist das tote Sommergrün, Das zieht zum fernen Weltmeer hin – Ade, ade, du zarte Schar, Die meines Herzens Freude war! Sing’s in die Niedrung, dunkle Flut: Hier oben glimmt ein heißes Blut, Wie Heidefeuer einsam glüht, An dem die Welt vorüber zieht! Neuere Gedichte, 1854, Kauffmann, S. 190. Vgl. Jäger (Anm. 70), S. 29ff. – Siehe auch unsere folgende Interpretation der Waldlieder. Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 415–417. Frühere Fassung: Im Wald, Gedichte, Kauffmann, S. 30–33. Vgl. entsprechende Zeugnisse bei Jäger (Anm. 70) und Harro Zimmermann: Freiheit und Geschichte. F. G. Klopstock als historischer Denker und Dichter. Heidelberg 1987 (= Neue Bremer Beiträge, Bd. 5). Siehe dazu Eichendorffs Denkschrift Über die Folgen der Aufhebung der Landeshoheit der Bischöfe und der Klöster in Deutschland (1818). Die ökonomische Dimension des Eichenwaldes vor und nach Kellers Zeit pointiert kritisch Peter von Matt (Anm. 81), S. 122f. In seinem Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen, Caput VIII. Kauffmann, S. 500f. STEIN- UND HOLZ-REDEN Auf Lüneburger Heide, Da steht der alte Stein, Daneben die alte Eiche, Sie mag wohl tausendjährig sein. Gesellen ziehn vorüber Im Lenz mit frischem Sang; Sie singen von deutscher Freiheit, In heller Luft verhallt der Klang. Da spricht der Stein zur Eiche, Als wacht‘ er auf vom Traum: „Ging nicht vorbei die Freiheit? Wach‘ auf, wach‘ auf, du deutscher Baum!“ Und durch des Baumes Krone, Da fährt ein Windesbraus, Die moosigen Äste schlagen In tausend jungen Augen aus!
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Da spricht zum alten Steine Der frisch ergrünte Baum: „Klang nicht das Lied der Einheit? Wie, oder war’s des Windes Traum?“ Die Sänger sind gezogen Fernhin durch’s Heidekraut. Die Eiche hat ihnen von oben Gar lang und traurig nachgeschaut. Den letzten Ton in Lüften Hat sie verhallen gehört, Dann hat sie rauschend die Äste Vom welken Laub im Zorn geleert. „Nun will ich wieder schlafen,“ Spricht sie zum alten Stein, „Du wunderlicher Träumer Sollst mir nun einmal stille sein!“ Kauffmann, S. 136f. Kauffmann, S. 222f. RHEINWEIN 1847 Aller Sonnenschein, Der einen Sommer lang Längs dem schönen Rhein Sich um die Berge schlang, Breitet heute aus dem Wein zumal Seine Glorie durch den weiten Saal. In dem Scheine steigt Es auf wie Rebenhöh’n; Ob dem Zauber schweigt Der Gläser hell Getön, Und der selbstvergess’ne Zecher lauscht, Wie der Strom in seinen Ohren rauscht. Und im Morgenschein Durch die Gestade hin Sieht den hellen Rhein Er sich vorüberzieh’n, Und ein Binsenkörbchen trägt die Flut, Drin das Moseskind der Deutschen ruht. Scharf am Felsenriff Bricht sich der Morgenwind: O gebrechlich Schiff, O du verlass’nes Kind! Keine Königstochter badet heut, Die dir schützend ihre Rechte beut! Nur die Liebe wacht Und folgt am Uferhang, Und ihr Auge lacht Auf dich die Fahrt entlang: Liebe, die das Heldenkind gebar, Die der Freiheit reine Mutter war.
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Anmerkungen Bis die Zeit entfloh, Wo du einst wiederkehrst Und den Pharao Vor Gott erbeben lehrst, Wirst ein starker, kluger Moses sein. O wie lang noch fließt der grüne Rhein? Bei der herkömmlichen Geringschätzung der politischen Gedichte Kellers ist auch dieses eigentümliche ‚Genre‘ aus dem Blickfeld geraten. Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Klaus Briegleb, Bd. 4, 2. Aufl. München 1971, S. 578. So Ferdinand Freiligrath in seinem Gedicht Am Baum der Menschheit drängt sich Blüt und Blüte. In: Freiligraths Werke in einem Band. Ausgewählt und eingeleitet von Werner Ilberg. Berlin/Ost und Weimar 41980, S. 57ff. Zitiert nach Gesammelte Gedichte (Kauffmann, S. 644).- Eine erste Fassung des Gedichts mit dem Titel Ça ira hatte Keller auf den 31. August 1845 datiert. Sie war unter dem Eindruck einer sogenannten „Bartholomäusnacht“ in Leipzig entstanden, als der Prinz Johann von Sachsen eine aufsässige Menge von Soldaten hatte beschießen lassen (vgl. dazu sowie zur Umarbeitung der Erstfassung Kauffmann, S. 1224). – Unter dem Titel Ça ira hatte auch Freiligrath eine Gruppe politischer Gedichte publiziert (1846). Vgl. Freiligrath (Anm. 101), S. 83ff. Ähnlich metaphorisch-religiös verfährt Keller in seinem Gedicht Berliner Pfingsten (vgl. Kap. XII). Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 483f. – Das XIII. Gedicht war ursprünglich das XVI. in dem Zyklus Gedanken eines lebendig Begrabenen, erschienen 1846 in Gedichte (Kauffmann, S. 100–115). – Interpretatorische Hinweise zu diesem Zyklus gibt Christoph Vratz: Das Grabmotiv bei Ludwig Uhland und Gottfried Keller in der Tradition der englischen Gräberpoesie. In: Wirkendes Wort 1/2000, S. 17–32; hier S. 29ff. Das bedeutende Gedicht lautet wie folgt: LEBENDIG BEGRABEN XIII. Der schönste Tannenbaum, den ich gesehn, Das war ein Freiheitsbaum von sechzig Ellen, Am Schützenfest, im Wipfel Purpurwehn, Aus seinem Stamme flossen klare Wellen. Vier Röhren gossen den lebend’gen Quell In die granitgehau’ne runde Schale; Die braunen Schützen drängten sich zur Stell‘ Und schwenkten ihre silbernen Pokale. Unübersehbar schwoll die Menschenflut, Von allen Enden schallten Männerchöre; Vom Himmelszelt floß Julisonnenglut, Erglüh’nd ob meines Vaterlandes Ehre. Dicht im Gedräng, dort an des Beckens Rand Sang laut ich mit, ein fünfzehnjähr’ger Junge; Mir gegenüber an dem Brunnen stand Ein zierlich Mädchen von roman’scher Zunge. Sie kam aus der Grisonen letztem Tal, Trug Alpenrosen in den schwarzen Flechten Und füllte ihres Vaters Siegpokal, Drin schien ihr Aug‘ gleich Sommersternennächten.
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Sie ließ in kindlich unbefang’ner Ruh Vom hellen Quell den Becher überfließen, Sah drin dem Widerspiel der Sonne zu, Bis ihr gefiel, den Vollen auszugießen. Dann mich gewahrend, warf sie wohlgemut Aus ihrem Haar ein Röslein in den Bronnen, Erregt‘ im Wasser eine Wellenflut, Bis ich erfreut den Blumengruß gewonnen. Ich fühlte da die junge Freiheitslust, Des Vaterlandes Lieb‘ im Herzen keimen; Es wogt‘ und rauscht‘ in meiner Knabenbrust Wie Frühlingssturm in hohen Tannenbäumen. SW 14. S. 940. Vgl. dazu Hans-Wolf Jäger (Anm. 70), S. 12ff. Siehe dazu bei Hans-Wolf Jäger (Anm. 70) das Kapitel Naturbereich. Kauffmann, S. 112f. Siehe Kauffmann, S. 940. Gedichte, Kauffmann, S. 139f. Gedichte, Kauffmann, S. 82f. Gedichte, Kauffmann, S. 141f. Vgl. Kauffmann, S. 958: „Bei dem Gedicht Frau Michel hatte Keller die Vorbereitungen zur Vermählung des bayerischen Kronprinzen Maximilian mit der preußischen Prinzessin Marie vor Augen, die er selbst während seines Münchner Aufenthaltes im Oktober 1842 miterlebte. Sie sind auch in den Grünen Heinrich eingegangen.“ Wir zitieren die 2. Fassung des Gedichts aus den Gesammelten Gedichten von 1888 (Kauffmann, S. 421f.). Die 1. Fassung erschien in den Gedichten von 1846 (Kauffmann, S. 40f.). IN DUFT UND REIF Im Herbst verblichen liegt das Land, Und durch die grauen Nebel bricht Ein blasser Strahl vom Waldesrand, Den Mond doch selber sieht man nicht. Doch schau! der Reif wird Blütenstaub, Ein Myrtenhain der Tannenwald, Das falbe, halberstorbne Laub In bunten Blumenwogen wallt! Ist es ein Traumbild, das mir lacht? Ist’s Frühlingstraum vom neuen Jahr? Die Freiheit wandelt durch die Nacht Mit wallend aufgelöstem Haar! Und wandelnd späht sie rings und lauscht, Die bleiche, hohe Königin; Und ihre Purpurschleppe rauscht Leis über dunkle Gräber hin. Sie hat gar eine reiche Saat Verborgen in der Erde Schoß: Sie forscht, ob die und jene Tat Nicht schon in zarte Keime sproß.
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Anmerkungen Sie drückt ein Schwert an ihre Brust, Es blinkt in weißem Dämmerlicht; Sie bricht in wehmutvoller Lust Manch blutiges Vergißmeinnicht. – Es ist auf Erden keine Stadt, Es ist kein Dorf, des stille Hut Nicht einen alten Kirchhof hat, Darin ein Freiheits-Märt’rer ruht. Herbst I. Vgl. Kap. I Naturgedicht und lyrisches Ich. Neuere Gedichte, 1854, Kauffmann, S. 234f. Vgl. den Kommentar bei Kauffmann, S. 1024f. Aus Winternacht, aus dem IV. der Siebenundzwanzig Liebeslieder („Nun in dieser Frühlingszeit“) und aus Seemärchen. Vgl. Kap. I Naturgedicht und lyrisches Ich. Die Malerei hat beide Sujets seit dem Mittelalter variationsreich entfaltet. Vgl. sein zweiteiliges Gedicht Götterdämmerung. Im Zyklus Jugendandacht, z.B. im 3., 4. und 8. Gedicht. Vgl. sein Gedicht O Mutter halte dein Kindlein warm. Kauffmann, S. 21f. 2. Fassung (Nachtfahrer) in Gesammelte Gedichte, S. 393f. Die ästhetische Unzulänglichkeit des ersten Gedichtteils (man denke auch an die als „Silberblümchen“ apostrophierten Sterne und an Reime wie „minnig/tiefsinnig“) beeinträchtigt freilich seine progressiv-kritische Intention. Es ist durchaus sinnvoll, wenn M. Feldt (Anm. 14) im ersten Gedichtteil eine „ParadiesImagination“ bemerkt, welche „die Naturerscheinungen“ nicht als solche, sondern „transformiert in Gefüge aus Schönheitsbildern zeigt“, die „eine künstliche Welt […] erzeugen“ (S. 318). Doch ist es übertrieben, dies mit Baudelaires „paradis artificiels“ gleichzusetzen, die ein anderes, gänzlich naturfremdes Gepräge haben. Darüber hinaus sucht man vergeblich eine Reflexion des Autors über die „merkwürdige Trennungslinie“, die er bei Keller sieht und die mitten durch dieses Gedicht geht: die „Trennungslinie zwischen der engagierten, operativen und einer artifiziellen Lyrik“ (vgl. S. 313). Die Trennung ist weniger prinzipiell als Feldt annimmt. Auch der von Keller gezeichnete „Christenpfaffe“ besitzt eine artifizielle Qualität! Neuere Gedichte, 1854, Kauffmann, S. 250ff. DIE SCHIFFERIN AUF DEM NECKAR I. 1848 Wir standen an rauschender, schwellender Flut, Wir sieben Gesellen mit siedendem Blut, Vom Weine entzündet, voll Leben und Lust; „Hol‘ über!“ ertönt es aus jauchzender Brust. Da kam eine Schifferin rüstig heran, Sie faßte das Ruder und wandte den Kahn; Wir sprangen mit Mutwill und Lachen hinein, Fast war der gebrechliche Nachen zu klein. So stieß sie vom Land in die Wogen hinaus, Die Mitte des Stromes war weißlich und kraus; Wir brachten mit Schaukeln das Schifflein in Not, Doch ruhig und aufrecht regiert‘ sie das Boot.
Anmerkungen Mit Schmeicheln und Scherzen belagerten wir Die wehrlose Maid und es hingen an ihr Die glühenden Blicke, doch ihnen vorbei Schaut‘ sie auf die Wasser so kühl und so frei! Zuletzt in den Lüften entbrannte die Lust, Zu stehlen der Jungfrau das Tuch von der Brust, Und Worte und Augen und Wellen und Wind, Sie gaben zu schaffen dem kämpfenden Kind. Und siegreich erreicht sie den anderen Strand Und setzt uns mit klopfendem Herzen an’s Land; Dann wandte sie leicht in den Strudel zurück Und sah auf die Wasser mit heiterem Blick. II. 1849 Es ringen die Ströme gewaltig zu Tal, Die Deutschen nach Einheit mit Feder und Stahl; Der Neckar erreichet den fliehenden Rhein, Doch ewig muß Deutschlands Zerrissenheit sein. Die feindlichen Stämme, die kämpften im Tal; Die Preußen, die Hessen, die Baiern zumal Verfochten mit blutiger Mühe den Thron: Die Badischen sind gegen Süden gefloh’n. Am Strand blieb ein Häuflein Rebellen zurück, Die finden zum Flieh’n weder Furten noch Brück‘; Vom Rotweine trinken die Neige sie noch Und bringen voll Wut ihrem Hecker ein Hoch. Da kracht es vom Walde, da blinkt es vom Berg, Es flüchtet der Fischer, es birgt sich der Ferg; Ja blickt nur, ihr roten Gesellen, euch an! Wohl ist es um euere Köpfe getan! Schon blitzt durch die Gärten von Helmen ein Meer, Es fliegt der Husar auf der Straße daher; Die Schifferin sieht es vom anderen Bord, Sie springt in den Nachen – schon ist sie am Ort. Sie springen mit bleichen Gesichtern hinein, Fast ist der gebrechliche Nachen zu klein. Mit Männern und Waffen zum Sinken beschwert, Hat schon sie das Schiff in die Fluten gekehrt. Das ist eine düstre Gesellschaft im Boot, Wie Blut weht am Hute die Feder so rot, Zerrissen die Blouse, geschwärzt das Gesicht; In den Augen glimmet ein Totenlicht. Ein dürftiges Fähnlein im Winde sich rollt, Aus schlechtem Kattun, das ist schwarz, rot und gold; So tanzt auf den Wellen der schwankende Kahn, Die Schifferin sucht ihm die rettende Bahn. Und wie sie die Mitte des Neckars erreicht, Schon Kugel auf Kugel das Wasser bestreicht; Sie schlagen in’s Ruder, sie schlagen in’s Schiff, Es schweift um die Ohren der grauliche Pfiff.
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Anmerkungen Da recken die Bursche sich fluchend empor Und schnell fährt der schlummernde Blitz aus dem Rohr, Sie stemmen den Fuß auf den schwebenden Rand Und laden und senden die Kugeln an’s Land. Es schwellt sich im Nachen die purpurne Flut, Die Schifferin steht in dem schaukelnden Blut. Scharf streicht ihr der Tod an den Brüsten vorbei, Sie schauet zum Ziele hin sicher und frei. Schon führt sie zerschossene Leichen an Bord Und wutbleich kämpfen die Anderen fort; Das Fähnlein verschwindet und steht wieder auf; Sie führet getreulich dem Schifflein den Lauf. Und endlich gewinnt sie die schützende Bucht, In Hohlwegen bergen die Kämpfer die Flucht; Wo nächtliche Diebe und Wilderer geh’n, Verliert sich des Deutschpaniers klagendes Weh’n. Die Maid aber leget das Ruder zur Ruh Und drückt ihren Toten die Augen zu. Sie ziehet den schwimmenden Sarg auf den Sand Und setzet sich stumm auf den blutigen Rand. Da hat doch ihr Herz ein Erbeben gefaßt, Da erst sind die rosigen Wangen erblaßt. Das ruhige, kühle, das klare Gemüt Hat Ein Mal in zitternden Flammen geglüht! Die Kampfhandlungen, von denen das Gedicht erzählt, haben einen realen Kern. „Die Preußen, die Hessen, die Baiern“, von denen in der zweiten Strophe des zweiten Teils die Rede ist, hatten sich 1849 in der Tat zu einer Armee vereinigt, um die badischen Revolutionstruppen bis zum Neckar zurückzudrängen. Der in der dritten Strophe erwähnte Friedrich Hecker, der Anführer des ersten badischen Aufstands im April 1848, wirkt nebensächlich angesichts der poetischen Ausstrahlungskraft der unbekannten Frau. Kellers erzählerischer Realismus in diesem Gedicht mag inspiriert worden sein durch eigenes Erleben. Zur Zeit der deutschen Revolution wohnte er in Heidelberg und wurde dort mit den Kampfhandlungen am Neckar unmittelbar konfrontiert. Am 14.6.1849 schrieb er an seinen Freund Wilhelm Baumgartner: „Wenn Heidelberg angegriffen wird, so kann ich auch Pulver riechen, indem ich gleich neben der Neckarbrücke wohne, hart am Fluß. Schon mehrere Male hat man Kanonen dicht unter mein Fenster gestellt, als man den Feind auf den Fersen glaubte.“ (Gottfried Keller: Gesammelte Briefe in vier Bänden, Bd. 1, Hrsg. von Carl Helbling, Bern 1950, S. 283). Vgl. F. Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Teilen, 19. Aufl. Berlin/Ost 1971, Bd. II, S. 337. Auf die Aktualität der Feuerbach’schen Projektionslehre macht ein Aufsatz von Elisabeth Hurth aufmerksam: „125 Jahre nach Feuerbachs Tod sind die Kategorien seiner Projektionstheorie des Glaubens Grundlagen moderner Religionskritik geworden. Feuerbachs ‚Umkehrformel’, nach der religiöse Aussagen als Ausdrucksformen des Menschen zu deuten sind, gilt in der religionspsychologischen Forschung der Gegenwart als Allgemeingut.“ – Elisabeth Hurth: Fromme Atheisten – Ludwig Feuerbach und Gottfried Keller. In: Lutherische Monatshefte 37 (1998), S. 12–15, hier: S. 13.
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Brief an Wilhelm Baumgartner vom 28. Januar 1849. Vgl. Anm. 129, S. 274f. Ebd. S. 274. Ebd.: Brief an Wilhelm Baumgartner vom 21. Februar 1849. Vgl. Anm. 129, S.279. Ebd. Brief an Wilhelm Baumgartner vom 10. März 1849. Vgl. Anm. 129, S.279f. Brief an Ferdinand Freiligrath, Vgl. Anm. 129, S.245. An Wilhelm Baumgartner, 27. März 1851. Vgl. Anm. 129, S.290f. Die ethische Komponente dieser Weltfrömmigkeit betont Elisabeth Hurth (vgl. Anm. 131): „Gerade aus der Verneinung des transzendenten Gottes folgt vielmehr die Verpflichtung zu sittlicher Bewährung im Diesseits. […] So schlägt der Atheismus gleichsam in ‚Religion’ um und erhält eine ethische, pflichtmahnende Konkretion, die viele heute der christlichen Dogmatik nicht mehr entnehmen (können).“ (S. 14) Vgl. Goethes bekannten Zweizeiler: „Willst du ins Unendliche schreiten, / Geh nur im Endlichen nach allen Seiten.“ Vgl. Kauffmann, S. 915 ff. In dem Sonett Auch an die ‘Ichel’ (Gedichte) heißt es: „Was aber ward und wird aus den Millionen, / Die unversöhnt, bleich, siech von hinnen schwinden?“ (Kauffmann, S. 60). Ebd. SW 13, S. 97f. Siehe dazu Kap. VI. S. 103f. und Anm. 203. Wir zitieren die 2. Fassung des Gedichts in den Gesammelten Gedichten, vgl. Kauffmann, S. 443f. (ursprünglich „Wie ein Fischlein in dem Netz“, vgl. Kauffmann, S. 84f.). Siehe den zitierten Brief an Baumgartner vom 27. März 1851 (wie Anm. 138). Ebd. Vgl. unser Kap. II Politische Naturlyrik. Siehe den zitierten Brief an Baumgartner vom 27. März 1851 (wie Anm.138). Ebd. Siehe den zitierten Brief an Baumgartner vom 28. Januar 1849 (wie Anm. 132). 1854 ist das Erscheinungsjahr der „zweiten vermehrten Auflage“. In der ersten Auflage trug der Zyklus den Titel Aus dem Leben und war auf das Jahr 1849 datiert, womit Keller den unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Feuerbach-Begegnung betonte (vgl. den Kommentar Kauffmanns, S. 1033). Der Zyklus wird zitiert nach Neuere Gedichte, 1854, Kauffmann, S. 254–271. Wir zitieren die zweite, leicht veränderte Fassung des Gedichts (Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 512f.). Sie lautet wie folgt: SIEHST DU DEN STERN Siehst du den Stern im fernsten Blau, Der flimmernd fast erbleicht? Sein Licht braucht eine Ewigkeit, Bis es dein Aug‘ erreicht! Vielleicht vor tausend Jahren schon Zu Asche stob der Stern; Und doch steht dort sein milder Schein Noch immer still und fern.
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Anmerkungen
Dem Wesen solchen Scheines gleicht, Der ist und doch nicht ist, O Lieb’, dein anmutvolles Sein, Wenn du gestorben bist! 156 Siehe dazu unser Kap. XV Humoresken. 157 Neuere Gedichte, 1854, Kauffmann, S. 264f. In die Gesammelten Gedichte ist es ohne Motto unter dem Titel Rosenglaube aufgenommen, Kauffmann, S. 513f. Der Text dieses reizvollen und auch philosophisch anspruchsvollen Gedichts ist weithin unbekannt geblieben. Er lautet wie folgt: X. „So lange eine Rose zu denken vermag, ist noch nie ein Gärtner gestorben.“ Fontenelle Dich zieret dein Glauben, mein rosiges Kind, Und glänzt dir so schön im Gesichte! Es preiset dein Hoffen, so selig und lind, Den Schöpfer im ewigen Lichte! So loben die träumenden Blumen im Hag Die Wahrheit, die ernst sie erworben: So lange die Rose zu denken vermag, Ist nimmer ein Gärtner gestorben! Die Rose, die Rose, sie duftet so hold! Sie dünkt so unendlich der Morgen! Sie blüht dem ergrauenden Gärtner zum Sold, Der schaut sie mit ahnenden Sorgen. Der gestern des eigenen Lenzes noch pflag, Sieht heut schon die Blüte verdorben – Doch seit eine Rose zu denken vermag, Ist niemals ein Gärtner gestorben! Drum schimmert so stolz der vergängliche Tau Der Nacht auf den bebenden Blättern! Es zittert und lispelt die Lilienfrau, Die Vögelein jubeln und schmettern; Drum feiert der Garten den festlichen Tag Mit Flöten und feinen Theorben: So lange die Rose zu denken vermag, Ist niemals ein Gärtner gestorben! 158 Anm. Fränkel, SW XV, 1, S. 103. - Bei den Entretiens handelt es sich um ein 1686 erschienenes populärwissenschaftliches Werk (Gespräche über die Vielheit der Welten). Das von Keller zitierte Motto bezieht sich auf das Gespräch am 5. Abend. 159 Karl Pestalozzi hat ihm eine vielschichtige subtile Interpretation gewidmet: Kellers Gedicht „Rosenglaube“. In: Gottfried Keller. 1819–1890. London Symposium 1990. Hrsg. v. John L. Flood und Martin Swales. Stuttgart 1991: Akademischer Verlag, S. 11–28. 160 K. Pestalozzi (Anm. 159) deutet die Stelle anders und nimmt eine Gleichberechtigung der Gärtner- und der Rosenperspektive an: „Jede Perspektive bekommt auf ihre Weise Recht, da sie ihren natürlichen Grund in einem Lebensalter hat“ (S. 19) – dem fortgeschrittenen des ergrauenden Gärtners einerseits, dem jugendlichen der aufblühenden Rose andererseits. Dieser Gegensatz der Perspektive, der im zweiten Refrain mitschwingt, wandelt sich
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in der Folgestrophe und ihrem Refrain – Pestalozzi zufolge – zur „Engführung“ der Perspektiven im Sinne eines Ineinanderspiels in demselben Augenblick (S. 19ff.). Bei Mörike heißt es: „Schön prangt im Silbertau die junge Rose, / Den ihr der Morgen in den Busen rollte. / Sie blüht, als ob sie nie verblühen wollte, / Sie ahnet nichts vom letzten Blumenlose.“ – Nach diesem Auftakt mit seiner verwandtschaftlichen Beziehung zu Keller entfaltet Mörike eine Analogie zwischen Rose und menschlicher Jugendzeit, die das Bewußtsein des Erblühens und der Vergänglichkeit überspielt: „Mag denn der Jugend Blume uns verbleichen, / Noch glänzet sie und reizt unwiderstehlich; / Wer will zu früh so süßem Trug entsagen?“ So der Titel eines Barockgedichts von Andreas Gryphius. Vgl. Kauffmann, S. 1033. Zu einer ähnlichen Annahme kommt Jens Tismar, wenn er dem Gedicht „eine[] tiefe[] Unsicherheit darüber“ bescheinigt, „welche Ansicht vom Leben gültig sei: die Pilgerreise, das Buch des Lebens bzw. das Pergament der Zeit oder die Quelle, die möglicherweise zum Strom wird.“ J. T.: Zeit im Gedicht. Über Keller, Celan und Bobrowski. In: Norbert Miller, Volker Klotz, Michael Krüger (Hrsg.): Bausteine zu einer Poetik der Moderne. Festschrift für Walter Höllerer. München und Wien 1987, S. 411. Walter Höllerer: Die Zeit geht nicht. In: Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Interpretationen von der Spätromantik bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Benno von Wiese. Düsseldorf: August Bagel Verlag 1964, S. 201–217. Hier S. 202. Ebd., S. 205. Ebd., S. 211. Ebd., S. 210. Ebd., S. 211. Eine derartige Überlegung liegt nicht im Erkenntnisinteresse Emil Staigers: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller. Zürich 31963: Atlantis Verlag (Anm. 57). Staiger hat Kellers Gedicht in einer Fülle von Reflexionen umkreist, die „Gottfried Kellers Welt im Grundriss“ entwerfen (S. 164ff.). Damit bringt er weniger eine Text-Interpretation hervor als vielmehr einen um die Begriffe „Zeit“, „Leben“, „Welt“, „Humor“ kreisenden Essay, der viele noch immer lesenswerte Einsichten entfaltet. Die in sich ruhende und erfüllte Zeit, die Zeit als reine Gegenwart und als „ästhetisch-festliches Dasein“, das zweckfrei sich selbst genügt (S. 181) und wofür etwa Spiegel, das Kätzchen sinnbildlich einsteht (S. 180f.) – auf solche und verwandte Bestimmungen kommt es Staiger an. Beide Sonette zitieren wir nach der Ausgabe Fränkels (SW, XIV, S. 71f.). Sie bezieht sich auf Kellers Handexemplar und zeigt besonders in den Terzetten einen negativen und destruktiven Charakter. Daß Keller die Terzette des 2. Sonetts durch zwei positive, hoffnungsvolle ersetzte bzw. ersetzen ließ (wofür die redigierende Hand Follens verantwortlich zeichnete), verweist auf die Spannweite seiner Zeiterfahrungen in den vierziger Jahren. – Im Erstdruck trugen die Sonette den Titel Schein Und / Wirklichkeit. Zur redigierten Fassung siehe Kauffmann, S. 50 und sein Kommentar S. 903f. Vgl. Jäger (Anm. 70), S. 16ff. Jäger, ebd. Walter Benjamin: Geschichtsphilosophische Thesen. In: W. B.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1961, S. 276f. Vgl. Oskar Seidlin: Versuche über Eichendorff. Göttingen 1965. Siehe dazu auch die informativen Hinweise von Carl Winter (Anm. 6), besonders auf das Zeitgefühl der Jungdeutschen, S. 37ff.
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Anmerkungen
177 Neuere Gedichte, 1854, Kauffmann, S. 221f. Cyprier gehört zu jenen drei Weingedichten, denen Keller die Aufnahme in die Gesammelten Gedichte versagt hat. Um so ratsamer scheint es, wenigstens eines davon hier eigens vorzustellen: CYPRIER Du Wein der süßen Wonnen, Du heißer Trank der Lust! Willst du erlosch’ne Sonnen, Willst du versunk’ne Bronnen Erwecken in der Brust? Was führst du all mein Denken Gen Morgen fern zurück, Die Seele zu versenken, Die Sinnen mir zu tränken, In unermess’nem Glück, Wo grünen Myrtenhainen Der Goldaltar entsteigt, Sich glühes Widerscheinen Von Rosen an den reinen Marmornen Säulen zeigt! Und Meeresfluten ziehen Rings einen Zauberbann, Daß nirgends man entfliehen Dem ewigen Glüh’n und Blühen Der schönsten Liebe kann. Es rauscht in deinen Güssen, Du roter Inselwein! In deinen Feuerflüssen Ein fabelhaftes Küssen Zu meinen Lippen ein. Die Heidengöttin neiget Sich geisterhaft mir zu. Ihr rauhen Lieder, schweiget! In weißen Gliedern steiget Sie aus der Todesruh‘! 178 Neuere Gedichte, 1854, Kauffmann, S. 277ff. Spätere Fassung: Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 407ff. 179 Vgl. den Kommentar bei Kauffmann, S. 1040. 180 Vgl. ebd., S. 1041. 181 Vgl. unser Kap. VI. 182 Vgl. das grundlegende Werk von Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart: Metzler 1977. 183 Veröffentlicht in den Gedichten, Kauffmann, S. 52–56. 184 Vgl. die Hinweise bei Kauffmann, S. 904ff. 185 Ebd. 186 Zitiert nach Kauffmann, S. 905. 187 Vgl. unsere Kapitel Politische Naturlyrik. 188 Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 499f. Frühere Fassung: Wandersegen, Neuere Gedichte, 1854, Kauffmann, S. 246f. 189 Vgl. seine Gedichte Hurra, Germania! und So wird es geschehn!
Anmerkungen
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190 Im Hochland fiel der erste Schuß (1848). 191 Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 526f. 192 Vgl. den Abdruck der Meldung in der Neuen Zürcher Zeitung vom 12.12.1856 bei Kauffmann, S. 1165. 193 Ebd. 194 Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 538f. 195 Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 532f. 196 Vgl. Kauffmann, S. 1171. 197 Vgl. den Bericht von Adolf Frey, abgedruckt bei Kauffmann, S. 1172. 198 Das Lied vom Wort ist abgedruckt bei Kauffmann, S. 820f. 199 Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 531f. DAS NEUE GLÜCKHAFTE SCHIFF Erinnerung an die Lustfahrt, welche am Schlusse des eidgenössischen Gesangfestes 1858 zu Ehren der elsässischen Sänger auf dem Zürichsee stattfand. Auf dem Schiffe glänzte vor allem das von Straßburg den Zürchern gebrachte Geschenk eines schönen Trinkhornes, das jetzt die Stadtbibliothek bewahrt. Die Freundschaft fuhr auf klaren Wogen, Das Schiff war wahrlich gut bemannt! In heitrer Luft vereinigt flogen Die alten Banner wohlbekannt; Und aus der Tiefe rauscht‘ die Sage Verwundrungsvoll an’s Licht empor, Sie, die im Glanz verschwund’ner Tage Einst auf dem Rhein zum Festgelage Sah fahren schneller Männer Chor. Wir hoben singend aus den Wellen Die viermal hundertjähr’ge Fee; Sie schaute lachend uns Gesellen, Das Glanzgestad‘, den blauen See; Sie sah ein Kleinod leuchtend schwenken, Das Horn in Gold und Elfenbein, Wie’s reiche Treu‘ nur kann erdenken, Als gält‘ es, Helden draus zu tränken, – Das blitzt im Julisonnenschein. Sie neigte trinkend sich zum Horne Und wurde jung vom goldnen Schaum; Begeistert rief die schöne Norne: „Es ist ein Traum und doch kein Traum! So seid ihr Männer von den gleichen, Die ich zusammen einst geführt, Von jenen mut- und freudereichen, Die da nicht wanken und nicht weichen, Wo keck zu leben sich’s gebührt?“ Wohl sind wir andre, doch wir wohnen Im Haus, das jene aufgebaut; Noch hüten wir die Mauerkronen, Von denen jene ausgeschaut. Wir hoffen, da noch Trauben reifen,
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Anmerkungen Es jenen Alten nachzutun, Ein gutes Ziel nicht bloß zu streifen, Das Steuer recht und fest zu greifen Und niemals vor der Tat zu ruh’n!
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Nun stieg ein Eiland aus den Fluten, Da sprang die Freundschaft an den Strand; Wir knüpften neu der Wohlgemuten Im Grünen jedes schmucke Band. Manch schönes Aug‘ war zu gewahren Im holden Hin- und Wiedergeh’n; So mögen noch der Enkel Scharen Die Flut des Lebens froh befahren Und unsre Städte fortbesteh’n! Vgl. den langen Untertitel des Gedichts. Kauffmann, S. 1170. Siehe den Hinweis bei Kauffmann, S. 1170f. Gedichte, Kauffmann, S. 62f. REFORMATION Im Bauch der Pyramide tief begraben, In einer Mumie schwarzer Totenhand War’s, daß man alte Weizenkörner fand, Die dort Jahrtausende geschlummert haben. Und prüfend nahm man diese seltnen Gaben Und warf sie in lebendig Ackerland; Und siehe da: die gold’ne Saat erstand, An der sich Herz und Auge konnt‘ erlaben! So blüht die Frucht dem späten Enkelkinde, Die mit dem Ahnen schlief in Grabesschoß; – Das Sterben ist ein endlos Auferstehen. Wer hindert nun, daß wieder man entwinde Der Kirche Mumienhand, was sie verschloß: Das Wort des Lebens, wieder es zu säen? Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch, Bd. 1: Gedichte. Text, Bern 1963, S. 190. Gesammelte Gedichte, Kauffmann, 699f. Es ist in der ersten Auflage der Neueren Gedichte von 1851 enthalten (Kauffmann, S. 291f.), nicht hingegen in der Ausgabe von 1854 (vgl. Kauffmanns Kommentar, S. 1045 u. S. 986f.). Das erste der drei Sonette lautet: VON KINDERN I. Ich sah jüngst einen Schwarm von schönen Knaben, Gekoppelt und gespannt, wie ein Zug Pferde; Sie wieherten und scharrten an der Erde Und taten sonst, was Pferde an sich haben. Und mehr noch; was sonst diesen ist Beschwerde, Das schien die Buben köstlich zu erlaben; Denn lustig sah ich durch die Gasse traben Auf einen Peitschenknall die ganze Herde.
Anmerkungen
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Das Leitseil war in eines Knirpses Händen, Der, klein und schwach, nicht sparte seine Hiebe Und launenhaft den Zug ließ gehn und wenden. Mich kränkten minder diese Herrschertriebe, Als solchen Knechtsinns zeitiges Vollenden; Es tat mir weh an meiner Kinderliebe. 207 Das Sonett ist in der ersten Ausgabe der Neueren Gedichte von 1851 enthalten (Kauffmann, S. 293f.), nicht jedoch in der zweiten von 1854 (vgl. dazu Kellers briefliche Erklärung und Kauffmanns Hinweise S. 986f.). Der Text lautet:
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DER SCHEIN TRÜGT Ich weiß ein Haus, das ragt mit stolzen Zinnen, Frei spielt das Licht in allen seinen Sälen, Sein Giebel schimmert frei von allen Fehlen, Kein Neider schilt’s, nicht außen und nicht innen. Nur wer es weiß mit Klugheit zu beginnen, In seinen tiefsten Keller sich zu stehlen, Sieht üppig feuchtes Unkraut dort verhehlen Von dicken Schlangen wahre Königinnen. Doch würde der sich arg betrogen haben, Der rasch empor die Treppen wollte steigen, Die Neider mit der Kunde zu erlaben: Denn tiefer noch, im allertiefsten Schweigen, Da liegt ein ungemessner Schatz begraben, Der niemals wird dem Lichte wohl sich zeigen. Darauf legt sich Kauffmann fest, wenn er das Gedicht als „patriotisches Loblied auf die Schweiz“ identifiziert (S. 1046). Wie kann es angesichts des zweiten, höchst kritischen Quartetts ein derartiges Loblied sein? Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 460f. Neuere Gedichte, Kauffmann, S. 272. Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 646–648. Erst nach der Fertigstellung des vorliegenden Manuskripts begegnete ich einem kleinen, höchst lesenswerten Aufsatz von Karl Pestalozzi: Gottfried Kellers Ballade „Jung gewohnt, alt getan“ – Versuch einer Rettung. In: Sprache im technischen Zeitalter. Hrsg. von Walter Höllerer und Norbert Miller. Heft 84 (1982), S. 298–303. – Während unsere Interpretation des ersten Gedichtteils mit der von Pestalozzi weitgehend übereinstimmt, weicht die des zweiten Teils davon ab. Pestalozzi beurteilt hier das Verhalten des Balladenhelden ausgesprochen skeptisch, während wir das Widerspiel zwischen gesellschaftlicher Konvention und individuellem Normverstoß zu seinen Gunsten auslegen. Pestalozzi gelangt zu seinem Urteil nicht zuletzt aufgrund einiger interessanter Analogien, die er zwischen der „Ballade“ Kellers und seinem Roman Der grüne Heinrich bzw. seinen Erzählungen sieht. Die Frage, die sich uns stellt, ist unter anderem die nach der verwandten Konstellation zwischen dem grünen Heinrich, seiner Mutter und Dortchen Schönfund einerseits und andererseits dem Balladenhelden, seiner Mutter und dem vornehmen „Fräulein“. Kann man auch im zweiten Fall den Text auf eine „erotische Option“ des Mannes „für die Mutter gegen das „‚schöne Kind‘“ festlegen? (Pestalozzi, S. 301) Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 597–602. Zitiert nach Kauffmann, S. 1203. Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1974, S. 61f.
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Anmerkungen
216 Ebd., S. 64. Von solchen Genrebildern unterscheiden sich diejenigen Wilhelm Buschs durch Einfallsreichtum und Originalität. Siehe dazu das gehaltvolle Kapitel bei Gert Ueding: Wilhelm Busch. Das 19. Jahrhundert en miniature. Erweiterte und revidierte Neuausgabe. Frankfurt/Main 2007, S. 287–342. 217 Kauffmann, S. 227f. 218 Diese zweite Fassung zitieren wir: Kauffmann, S. 401. AM BRUNNEN Wie strahlet ihr im Morgenschein, Du rosig Kind, der Blütenbaum Und dieser Brunnen, frisch und rein – Ein schön’res Kleeblatt gibt es kaum. Wie dreifach lieblich hat Natur In euch sich lächelnd offenbart! Aus deinem Aug‘ grüßt ihre Spur Des Wandrers stille Morgenfahrt. Es ist, als käm‘ aus deinem Mund Das Lied, das dort die Quelle singt, Es ist, als tät der Brunnen kund, Was tief in deiner Seele klingt! Und wie der weiße Apfelbaum Mit seinen Zweigen euch umweht, Dies Bild, zart wie ein Morgentraum, Ist ein geschautes Frühgebet! Reich‘ einen Trunk, du klare Maid, Vom Quell, der deine Kindheit sah! Sein Rauschen sei dir allezeit, Die Klarheit deinem Herzen nah! Ich wünsche Segen deiner Hand Zur Arbeit, wie zum Liebesbund, Dem bravsten Burschen hie zu Land Das keusche Ja von deinem Mund! 219 Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 717f. 220 Hrsg. von Moriz Tscheinen und Peter Joseph Ruppen, Sitten 1872, S. 32 (vgl. Kauffmann, S. 1256). – Keller veröffentlichte das Gedicht erstmals 1878. 221 Erstdruck 1847 in Lyrische Blätter. Wir zitieren den Text nach Neuere Gedichte, 1854, Kauffmann, S. 188. Keller hat das Gedicht fast unverändert in die Gesammelten Gedichte (Kauffmann, S. 394f.) übernommen, ein Zeichen seiner Wertschätzung in späteren Jahren. 222 Vgl. Kauffmanns Anmerkung, S. 997. – Den Verweis auf Jean Paul schließt freilich Karl Fehr aus. Siehe die folgende Anm. 223. 223 Gemeint ist die Rede des Pfarrers von Bonnal. Darauf hat Karl Fehr (Anm. 22) aufmerksam gemacht (S. 45f.) und dabei Jonas Fränkels Verweis auf Jean Pauls Hesperus als Quelle Kellers ausgeschlossen. – Vgl. außerdem Eva Maria Brockhoff: Die Kühle im warmen Golde der Sommernacht. Zu Gottfried Kellers Sommernacht. In: Gedichte und Interpretationen, Bd. 4: Vom Biedermeier zum Bürgerlichen Realismus. Hrsg. von Günter Häntzschel. Stuttgart 1983, S. 169– 177, hier: S. 171. 224 Bis hierher fühlen wir uns im Verständnis des Gedichts bestärkt durch die KurzInterpretation von Walter Hinck, der die „gewisse Naivität des lyrischen Sprechens“ und den „Hang zu Vokabeln der Idylle“ im Bunde mit der „Hilfsaktion der Dorfburschen“ als „Genreszene“ ausweist und darin auch das „hohe Lied auf eine noch selbstverständliche
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Tatbereitschaft“ sieht, „die man Nachbarschaftshilfe, Nächstenliebe oder Solidarität nennen kann“. Walter Hinck: Ein alter Brauch – erhaltenswert. Gottfried Keller (1819–1890): Sommernacht. In: W. H.: Stationen der deutschen Lyrik. Von Luther bis in die Gegenwart – 100 Gedichte mit Interpretationen. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2000, S. 104–106. Das scheint mir E. M. Brockhoff (Anm. 223) richtig zu sehen (vgl. S. 174). Erstfassung in Gedichte, Kauffmann, S. 116–125. – Wir zitieren die Feuer-Idylle nach der leicht veränderten Zweitfassung der Gesammelten Gedichte, Kauffmann, S. 486–494. Vgl. den Kommentar Kauffmanns, S. 941. Den Urtypus dieser Beziehung stellt der vom Brand Roms ästhetisch faszinierte Kaiser Nero dar. Vgl. Jacques Robichon: Nero. Kaiser, Poet, Tyrann. München: Diederichs 2002. Besonders S. 243ff. Vgl. zum Beispiel den kleinen Gedichtzyklus der Droste Der Weiher oder Das Hirtenfeuer. Vgl. auch Kap. XVI Artistenspiele. Vgl. Gert Sautermeister: Nachwort zu Gottfried Keller: Das Sinngedicht. Novellen. München 1996, S. 374f. Vgl. Honoré de Balzac: Le Père Goriot (erschienen 1835). Dieser fragile Bezug zum ’politischen Feuer‘ sollte den Leser vorsichtig stimmen gegen Ermatingers emphatische Stilisierung des ländlichen Brands zum „Bilde des Revolutionsbrandes der vierziger Jahre“. (Emil Ermatinger: Gottfried Keller. Eine Biographie. Zürich 81950, zitiert nach Kauffmann, S. 942.) Vgl. unser Kapitel Artistenspiele. Zunächst publiziert in den Neueren Gedichten 1854, wurde Heimweh für die Gesammelten Gedichte umbenannt: In fremden Landen. – Im folgenden zitieren wir die erste Fassung, Kauffmann, S. 235ff. – Laut W. Morgenthaler (Anm. 20, S. 130) hat Keller die 2. Strophe schon in der Schweizer Heimat, spätestens 1846, verfaßt). Vgl. seine Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung. Michael Böhler hat diesen Zusammenhang mit aufschlußreichen Formulierungen dargelegt: „Im Gegensatz zu Deutschland, wo die 48er Revolution scheitert, etabliert sich in der Schweiz nach dem Sonderbundskrieg […] der moderne Bundesstaat.“ Der in Heidelberg und Berlin weilende Keller kann aus der Ferne „die politischen Errungenschaften“ der Schweiz, manifest in der Verfassung von 1848, „in ihrem ganzen idealen Lichte“ sehen; das gibt, so Böhler, „dem Schweizer in Deutschland das stolze Bewußtsein, den politischen Fortschritt zu vertreten. […] Erst nach seiner Rückkehr 1855 kommt es“, schreibt Böhler, „zu ersten Ansätzen“ einer Desillusionierung. M. B.: „Fettaugen über einer Wassersuppe“ – frühe Moderne-Kritik beim späten Gottfried Keller. Die Diagnose einer Verselbständigung der Zeichen und der Ausdifferenzierung autonomer Kreisläufe. In: Nachmärz. Der Ursprung der ästhetischen Moderne in einer nachrevolutionären Konstellation. Festschrift für Klaus Briegleb. Hrsg. von Thomas Koebner und Sigrid Weigel. Westdeutscher Verlag: Opladen 1996. S. 292–305. Vorstehende Zitate S. 293f. Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 651f. Das politisch bedeutende Gedicht lautet wie folgt: DER WAADTLÄNDER SCHILD Erinnerung an Ferdinand Flocon 1859 An der Brücke zu Lausanne Hängt der Wappenschild von Waadt, Darauf „Vaterland und Freiheit“ Froh das Volk geschrieben hat.
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Anmerkungen Erzgegossen glänzt das Wappen, In der Sonne strahlt die Schrift; Also schrieb man in Helvetien, Und von Eisen war der Stift! Sieh! im regen Brückenwandel Malet sich ein schönes Bild; Liebend hebt ein kleines Dirnchen Seinen Bruder vor den Schild, Lehrt ihn schreiben jene Worte „Freiheit“ und das „Vaterland!“ Und sie führt des Knäbleins Finger Mit der wenig größer’n Hand. Und sie lenkt den zarten Finger Am Metall hinauf, hinab, An den sonndurchglühten Zeichen, Die das große Rom uns gab. Und wie von der Kinder Locken Gold in Gold zusammenfließt, Von der Wangen Freudenröte Ros‘ an Rose blühend sprießt. Aber auf derselben Brücke Geht ein einsam fremder Mann, Wandelt mit ergrautem Haare Still und kühl in Acht und Bann; Er gewahrt das Spiel der Kleinen, Rascher fließt sogleich sein Blut, Doch um schmerzlich nur zu klagen Um verlornes höchstes Gut: „Welche Worte seh‘ ich schreiben Hier die Unschuld und das Glück! Wehvoll wenden sie mein Sehnen, Frankenland! zu dir zurück! Was mir dort in Blut und Greuel Im Verrat zusammenbrach, Lehret hier ein Kind das and’re, Singt der Vogel auf dem Dach!
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Ist denn euer Himmel blauer, Schweizer! gold’ner euer Korn? Sind denn laut’rer eure Brunnen, Eure Rosen ohne Dorn? Glück und Unschuld, ach! sie bauen Wohl allein der Freiheit Reich! Ob ihr schuldlos seid – nicht weiß ich’s – Doch gesegnet seh‘ ich euch!“ Zitiert nach Kauffmann, S. 1228. Erstfassung in Neuere Gedichte (1854), Kauffmann, S. 257ff. Wir zitieren die leicht veränderte Zweitfassung der Gesammelten Gedichte, Kauffmann, S. 516ff. Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 405f. Bei Matthäus, Markus und Lukas fehlt die in Kreuzesnähe weilende Maria. Offensichtlich hat Keller bei ‚seiner‘ Maria bildliche Darstellungen im Sinn.
Anmerkungen
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243 Vgl. Nachtfalter (Kapitel XI), Trost der Kreatur. II (siehe Kauffmann, S. 395f.) und den einprägsamen Vergleich im Abendlied (Kapitel I), die Augen betreffend, die in der Todesstunde „vergeh’n, / Wie von eines Falters Flügelweh’n“. 244 Siehe Die kleine Passion (Kapitel XI). 245 Siehe etwa Joh. 14,11: „Glaubet mir, daß ich im Vater und der Vater in mir ist“. 246 Vgl. Markus 15,34: „Und um die neunte Stunde rief Jesus laut und sprach: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘“ 247 Matthäus 1,18 betont, daß Maria „schwanger war von dem heiligen Geist“. 248 Vgl. Gert Sautermeister: Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (1854/55; 2. Fassung 1879(80). Gesellschaftsroman, Seelendrama, Romankunst. In: Erzählen im Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen. Hrsg. von Horst Denkler. Stuttgart 1980, S. 80–123. 249 Vgl. Joh. 5,19f.: „Der Sohn kann nichts von sich selber tun, sondern nur was er sieht den Vater tun; und was dieser tut, das tut gleicherweise auch der Sohn. Denn der Vater hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er tut […].“ – Vgl. auch Lukas 3,22: „Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.“ 250 Sigmund Freud: Totem und Tabu, v.a. Kapitel IV. 251 Für diese Lesart plädiert Gerhard Kaiser (Anm. 44), S. 627. Der Sohn, so seine These, könnte über Maria, die gleichsam sein Geschöpf ist, angstfrei verfügen und sie zum „geliebten Weib“ machen. 252 Den hier aufgeworfenen Fragen steht Karl Fehr (Anm. 22) fern. Ihn interessiert Kellers Reduktion der „Trinität auf den Gottessohn“ und die „gewaltige Ausweitung der Christusgestalt zum Allgott“ (S. 230), woraus er den gewagten Schluß zieht, Keller habe dieses „erhabne Bild als ein leidenschaftlich Gläubiger – gleichsam in keuscher Christusminne – vor dem Skeptizismus seiner Zeit und seines zweifelnden Verstandes gerettet.“ (ebd.) Eher rettet wohl der Interpret mit Pathos den alternden Feuerbachianer Keller für eine christliche Religiosität… 253 Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 508–510. RHEINBILDER I. Das Tal Mit dem grauen Felsensaal Und der Hand voll Eichen Kann das ruhevolle Tal Hundert andern gleichen. Kommt der Strom mit seinem Ruhm Und den stolzen Wogen Durch das stille Heiligtum Prächtig hergezogen, Und auf einmal lacht es jetzt Hell im klarsten Scheine, Und dies Liederschwälbchen netzt Seine Brust im Rheine! II. Stillleben Durch Bäume dringt ein leiser Ton, Die Fluten hört man rauschen schon, Da zieht er her die breite Bahn, Ein altes Städtlein hängt daran.
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Anmerkungen Mit Türmen, Linden, Burg und Tor, Mit Rathaus, Markt und Kirchenchor; So schwimmt denn auf dem grünen Rhein Der goldne Nachmittag herein. Im Erkerhäuschen den Dechant Sieht man, den Römer in der Hand, Und über ihm sehr stille steht Das Fähnlein, da kein Lüftchen geht. Wie still! Nur auf der Klosterau Keift fernhin eine alte Frau; Im kühlen Schatten neben dran Dumpf donnert’s auf der Kegelbahn.
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III. Frühgesicht Es donnert über der Pfaffengass‘ Des weiland heil’gen römischen Reiches Wie Gottes Heerschild jähen Streiches; Der Morgen dämmert rosig blaß. Und wie der Schlag weithin verhallt, Wogt eine graue Nebelmasse, Als zög‘ ein Heervolk seine Straße, Das auf den Wassern endlos wallt. Im Zwielicht raget Dom an Dom, An allen Fenstern lauscht’s verstohlen; Doch auf gedankenleichten Sohlen Vorüber eilt der Schattenstrom. Das rauscht und tauschet Hand und Kuß, Der Sturmhauch rührt verjährte Fahnen Wie neues Hoffen, altes Mahnen, Erschauernd wie ein Geistergruß. Was brav und mannhaft ist, vereint Zieht es, den letzten Streit zu schlagen; Es klirrt zu Fuß, zu Roß und Wagen, Zum Freunde wird der alte Feind, Und neben Siegfried reitet Hagen. Abgedruckt bei Kauffmann, S. 1155. Vgl. etwa Kauffmann, S.991. SW 13, S. 82–95. – Der Text der Trilogie wird im Anhang wiedergegeben. L. Gessler (Anm. 4), S. 20. SW, 13, S. 394f. Zu diesem zeitgeschichtlichen Doppelgesicht vgl. C. Winter (Anm. 6), S. 37ff. C. Winter (Anm. 6) macht sich dagegen die befangene Perspektive des lyrischen Ichs zu eigen und meint, es habe sich „durch eigene Schuld“ der Gesellschaft entfremdet, weil es „nicht zur rechten Zeit am Prozeß der Geschichte mitgewirkt“ habe (S. 19). Winter setzt diese aktive Mitwirkung absolut, ohne die Hindernisse dafür als gesellschaftliche Zwänge zu durchschauen und deren psychologische Auswirkungen auf das Ich zu erkunden. Das verleiht seiner Argumentation gelegentlich einen moralisch rigorosen Akzent.
Anmerkungen
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261 Es ist eine Schwäche der stellenweise aufschlußreichen Lyrik-Interpretationen L. Gesslers (Anm. 4), daß sie solche Verse kurzerhand mit politischer Bedeutung aufladen; Gessler verknüpft sie (S. 26) assoziativ mit dem Schluß der ersten Strophe von „Wann zur Maizeit alle Felder lachen“, wo es (im Hinblick auf die schöne „Maizeit“) heißt: „Ihr Tyrannen, grauet euch dann nicht, / Daß ihr so gefürchtet, / Daß ihr so gehaßt, wie Schlangen über Blumen kriecht?“ – Es ist offenkundig, daß trotz gelegentlicher metaphorischer Anklänge Kellers lyrisches Ich sich qualitativ vom politischen Tyrannen unterscheidet, ja, nachgerade ein Opfer der Tyrannei ist, etwa erzieherischer Tyrannei, wie aus dem mittleren Gedicht der Nacht-Trilogie unschwer erkennbar wird. Von einer „auf den [politischen] Widersacher projizierten eigenen Situation des Dichters“ (Gessler, S. 27) kann daher nicht die Rede sein. Siehe dazu auch unsere Einleitung und das Gedicht Wen klag ich an (SW 13, S. 233f.). 262 Sämtliche Zitate aus „Der Tragödie erster Teil“, Szene „Nacht“. 263 Zitiert wird Shakespeares Hamlet nach der Übertragung von Schlegel/Tieck. 264 Muschg (Anm. 17), S. 144. 265 Ebd. S. 144f. 266 Ebd. S. 145. 267 Ebd. 268 Gedichte, Kauffmann, S. 100–115. – Aus diesem Zyklus Kellers wird aus Raumgründen nur das XVI. Gedicht eingehend betrachtet, allerdings in der späteren Fassung in Lebendig Begraben; dort ist es das XIII. (vgl. Anm. 104). 269 In Kap. IV beziehen wir uns auf die spätere Fassung dieses Gedichts; es ist dort das XIII. 270 Das zeigt C. Winter (Anm. 6) überzeugend auf. Vgl. sein Kapitel 2 des 1. Teils: Die „irre Zeit“ und die „Lebendig-Begrabenen“. 271 Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 434f. – Die erste Fassung erschien in den Gedichten (Kauffmann, S. 65f.). 272 Weitere aufschlußreiche Hinweise dazu gibt Karl Fehr (Anm. 22), S. 61f. 273 Anders spricht davon C. F. Meyer in seinem Gedicht Lenzfahrt. 274 Karl Fehr (Anm. 22) vermutet, daß sich hier Kellers „Wirklichkeitssinn“ und „Solidaritätsempfinden“ vordrängt (S. 63). Warum bildet dann jedoch diese Strophe eine „Dissonanz“ (ebd.) in einem Gedicht, das laut Fehr ganz für „dieses Leben jetzt und hier“ eintritt (S. 64)? 275 Vgl. Muschg (Anm. 17), S. 137. 276 Am entschiedensten Gerhard Kaiser (Anm. 44), aber offenbar auch Hans Wysling. Vgl. seine Miszelle Lindenwipfelwehn (Anm. 18), S. 125–127. 277 Muschg (Anm. 17), S. 148. 278 Zitiert nach G. K.: Sämtliche Werke und Ausgewählte Briefe. Carl Hanser, München 1958. Bd. 1, S. 21. 279 Muschg (Anm. 17), S. 147. 280 Ebd. 281 Ebd., S. 148. 282 Ebd., S. 149. 283 Gedichte, Kauffmann, S. 169ff. Spätere Fassung in den Gesammelten Gedichten, S. 655ff. 284 Der junge Keller hat seiner Lenau-Verehrung in einem eigenen Widmungsgedicht An Lenau Ausdruck gegeben (Gedichte, Kauffmann, S. 157f.). Vgl. auch das Gedicht Tokaier mit dem Untertitel Reminiszenz an Lenau in den Neueren Gedichten, 1854 (Kauffmann, S. 220f.). 285 Die angezeigten Gedichte finden sich bei Kauffmann S. 210, S. 237 und S. 266.
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Anmerkungen
286 Erschienen in Neuere Gedichte, 1854 (Kauffmann, S. 266f.). 287 Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 425f. Leicht veränderte Fassung des V. Gedichts im Zyklus Herbst der Gedichte (Kauffmann, S. 43). TRÜBES WETTER Es ist ein stiller Regentag, So weich, so ernst, und doch so klar, Wo durch den Dämmer brechen mag Die Sonne weiß und sonderbar. Ein wunderliches Zwielicht spielt Beschaulich über Berg und Tal; Natur, halb warm und halb verkühlt, Sie lächelt noch und weint zumal. Die Hoffnung, das Verlorensein Sind gleicher Stärke in mir wach; Die Lebenslust, die Todespein, Sie ziehn auf meinem Herzen Schach. Ich aber, mein bewußtes Ich, Beschau’ das Spiel in stiller Ruh, Und meine Seele rüstet sich Zum Kampfe mit dem Schicksal zu. 288 Es ist daher nicht ratsam, von „einer Dissoziation von Ich und Natur“ zu sprechen und das „Auseinandertreten[] von Ich und Natur“ zu behaupten (M. Feldt, Anm. 14, S. 323f.). Trotz der gewissen Inkongruenz in der Analogiebildung zwischen Natur und Herz wird eine Beziehung der Naturphänomene zum betrachtenden Ich erkennbar, die M. Feldt verkennt. 289 Kauffmann, S. 47. 290 Gottfried Keller: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe, hrsg. von Clemens Heselhaus, Bd. 1: Der grüne Heinrich. 1. Fassung, 3. Aufl. München 1969, S. 136. 291 Neuere Gedichte, 1851, Kauffmann, S. 294f. Wir zitieren die leicht veränderte Zweitfassung in Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 469f. 292 Vgl. Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848–1880. Hrsg. von Max Bucher, Werner Hahl u.a., Bd. 1. Stuttgart 1976. 293 Keller hat in die Gesammelten Gedichte vier Gedichte aus der Erstfassung des Grünen Heinrich übernommen und sie unter dem Titel Aus einem Romane zu einem zweiteiligen Zyklus gefügt (Kauffmann, S. 701–704). Dabei hat er das letzte Gedicht aus dem Grünen Heinrich, Verlornes Recht, verlornes Glück, an den Anfang gerückt; es bildet den ersten Teil (I.) des Zyklus. Den zweiten Teil (II.) hat er In der Trauer überschrieben. In die Zweitfassung des Grünen Heinrich hat er nur Verlornes Recht, verlornes Glück und Klagt mich nicht an (das Eingangsgedicht von In der Trauer) übernommen. Aufgrund der komplizierten Textverhältnisse ist es angebracht, die hier interpretierten Gedichte zu zitieren. Siehe dazu die Anmerkungen 294 und 298. 294 Gesammelte Gedichte, Kauffmann, S. 703f. (vgl. Anm. 293): IN DER TRAUER 1. Klagt mich nicht an, daß ich vor Leid Mein eigen Bild nur könne sehen! Ich seh‘ durch meinen grauen Flor Fern euere Gestalten gehen.
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Und durch den starken Wellenschlag Der See, die gegen mich verschworen, Geht mir von euerem Gesang, Wenn auch gedämpft, kein Ton verloren. Und wie die müde Danaide wohl, Das Sieb gesenkt, neugierig um sich blicket, So schau ich euch verwundert nach, Besorgt, wie ihr euch fügt und schicket! 2. Ich kenne dich, o Unglück, ganz und gar Und sehe jedes Glied an deiner Kette! Du bist vernünftig, zum Bewundern klar, Als ob ein Denker dich geordnet hätte! Nicht mehr noch weniger hat mir gebührt, Mir ist gerecht die Schale zugemessen; Und dennoch hab‘ ich bitt’rer sie verspürt, Als niemals ich getrunken noch gegessen. Jetzt aber bring‘ ich leichter sie zum Mund, Als einst die müde Seele noch wird wissen; Der quellenklare Perltrank ist gesund, Ich lieb‘ ihn drum mit dürstendem Gewissen! 3. Ein Meister bin ich worden Zu weben Gram und Leid; Ich webe Tag‘ und Nächte Am schweren Trauerkleid. Ich schlepp‘ es auf der Straße Mühselig und bestaubt; Ich trag‘ von spitzen Dornen Ein Kränzlein auf dem Haupt. Die Sonne steht am Himmel, Sie sieht es und sie lacht: Was geht da für ein Zwerglein In einer Königstracht? Ich lege Kron und Mantel Beschämt am Wege hin Und muß nun ohne Trauer Und ohne Freuden zieh’n! 295 Als Danaiden bezeichnet man die fünfzig Töchter des Danaos, den die Griechen für den Stammvater der Danaer hielten. Mit dem Vater vom Onkel aus Ägypten nach Argos in Griechenland vertrieben, wurden die Danaiden von den fünfzig Söhnen dieses Onkels als Ehefrauen begehrt; auf Befehl des Vaters erstachen sie diese (von einer Ausnahme abgesehen) in der Hochzeitsnacht. Nach hellenistischer Überlieferung wurden sie deshalb im Hades dazu verdammt, unablässig Wasser in ein durchlöchertes Faß zu schöpfen: Sinnbild einer fortdauernden, vergeblichen Arbeit. 296 Vgl. Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (Anm. 290), 4. Band, 7. Kapitel, S. 670.
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Anmerkungen
297 Kellers „stille Trauer“ ist der Gegenstand eines Aufsatzes von Herbert Anton: >Stille Grundtrauer