Die Möglichkeit des Sports: Kontingenz im Brennpunkt sportwissenschaftlicher Analysen [1. Aufl.] 9783839416570

Es ist typisch modern, nahezu alles auf ein mögliches Auch-anders-sein-Können hin zu beobachten. Bereits die bloße Exist

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German Pages 354 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Die Möglichkeit des Sports. Vorwort
STEIGERUNG & REDUKTION
Kontingenz, Moral, Sport, Geschichte
Kontingenz in Serie: Zur ›Spannung‹ des modernen Sports
Zur Anthropologie der Kontingenz des Sports
Doping im Spitzensport der Gesellschaft. Systemtheoretische Betrachtungen
Denken in Bewegung. Über die Gegenwart des Geistes in den Praktiken des Körpers, das Ergreifen von Situationspotenzialen und die Bewältigung von Unsicherheit
Kontingenz der Erfahrung – Erfahrung der Kontingenz
Leibsein zwischen Unverfügbarkeit und Verfügbarkeit: eine bildungstheoretische Position
REDUKTION & STEIGERUNG
Der Körper als Medium der Gewissheit in modernen Gesellschaften
Zeitbomben. Adipositas und die Gefräßigkeit der Kommunikation
Überlegungen zur Schließung von Wissensmärkten am Beispiel angewandter Sportwissenschaft
Empirie als Sedativum. Sportpädagogische Vergewisserungen
Hybride Kontexturen – Kontingenzbearbeitung in Sportstunden als Thema fallrekonstruktiver Unterrichtsforschung
Ungewissheitsbearbeitung durch Reflexivität – eine erfolgversprechende Strategie für die Lehrer/innenausbildung?
Kommunikation im Sportunterricht – möglich?
Autorinnen und Autoren
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Die Möglichkeit des Sports: Kontingenz im Brennpunkt sportwissenschaftlicher Analysen [1. Aufl.]
 9783839416570

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Swen Körner, Peter Frei (Hg.) Die Möglichkeit des Sports

KörperKulturen

Swen Körner, Peter Frei (Hg.)

Die Möglichkeit des Sports Kontingenz im Brennpunkt sportwissenschaftlicher Analysen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: emanoo / photocase.com (Ausschnitt) Lektorat & Satz: Swen Körner, Peter Frei Korrektorat: Tanja Jentsch, Bottrop Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1657-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Die Möglichkeit des Sports. Vorwort | 7

STEIGERUNG & REDUKTION Kontingenz, Moral, Sport, Geschichte Hans Ulrich Gumbrecht | 11 Kontingenz in Serie: Zur ›Spannung‹ des modernen Sports Tobias Werron | 25 Zur Anthropologie der Kontingenz des Sports

Robert Prohl | 49 Doping im Spitzensport der Gesellschaft. Systemtheoretische Betrachtungen Swen Körner | 73 Denken in Bewegung. Über die Gegenwart des Geistes in den Praktiken des Körpers, das Ergreifen von Situationspotenzialen und die Bewältigung von Unsicherheit Thomas Alkemeyer | 99 Kontingenz der Erfahrung – Erfahrung der Kontingenz Franz Bockrath | 129 Leibsein zwischen Unverfügbarkeit und Verfügbarkeit: eine bildungstheoretische Position Eckhard Meinberg | 157

REDUKTION & STEIGERUNG Der Körper als Medium der Gewissheit in modernen Gesellschaften Jörg Thiele | 175 Zeitbomben. Adipositas und die Gefräßigkeit der Kommunikation Swen Körner | 195 Überlegungen zur Schließung von Wissensmärkten am Beispiel angewandter Sportwissenschaft Eike Emrich & Lutz Thieme | 219 Empirie als Sedativum. Sportpädagogische Vergewisserungen Swen Körner | 255 Hybride Kontexturen – Kontingenzbearbeitung in Sportstunden als Thema fallrekonstruktiver Unterrichtsforschung Matthias Schierz | 281 Ungewissheitsbearbeitung durch Reflexivität – eine erfolgversprechende Strategie für die Lehrer/innenausbildung? Ilka Lüsebrink | 301 Kommunikation im Sportunterricht – möglich? Peter Frei | 329 Autorinnen und Autoren | 347

Die Möglichkeit des Sports Vorwort

Es geht, was geht. Und es geschieht, was geschieht.1 Was geschieht, geschieht mit Notwendigkeit, ohne alternativlos zu sein. So realisiert sich z.B. im Lesen oder Schreiben dieser Zeilen in jedem Moment eine Möglichkeit, die davon abhängt, was ihr konkret vorausliegt. Als realisierte Möglichkeit schränkt sie zugleich ein, was als nächstes kommen kann, welcher Anschluss wählbar ist. Dass alles, was geschieht, (irgendwie) auch anders sein könnte, ist eine typisch moderne Vorstellung. Sie setzt Abstand voraus zu dem, worauf sie sich bezieht. »Jede Vorstellung von Möglichkeit ist die Zutat eines Beobachters«.2 Es gehört zu den typischen Konditionierungen der sozio-kulturellen Moderne, alles, was war oder ist auf ein mögliches auch Anderssein-können hin zu beobachten. Das Hinzubeobachten wählbarer Alternativen macht Selektion als Entscheidung sichtbar. Entscheidung kann neuzeitlich zur Angabe von (jeweils guten) Gründen motiviert werden. Der modaltheoretische Kontingenzbegriff eröffnet den Blick für dieses ›auch Anderssein-können‹. Kontingent in diesem Sinne erscheint das weder Unmögliche noch Notwendige, aber keinesfalls Beliebige – und zwar aus jeweils sachlich, zeitlich und/oder sozial differenten Blickwinkeln. Kontingenz irritiert, erzeugt Dynamik. Man kann sie sich leisten und dies als Mög-

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Und zwar »in einem weltweiten Zugleich« (Luhmann, N. 1990: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 681. Vgl. dazu auch Nassehi, A. (2011): Gesellschaft der Gegenwarten: Studien zur Theorie moderner Gesellschaft II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

2

Luhmann (1990): 683.

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lichkeitsraum erfahren. Andere erleben genau das als Gefahr. Dem kann begegnet werden – durch Methodik, durch Semantik, durch Programmatik oder Organisation.3 Das zu tun bedeutet allerdings immer auch: Kontingenzen (und damit Kontingenzbearbeitungsbedarf) an nächster Stelle und auf neuem Niveau zu erzeugen, die wiederum selbst auch genau das noch sind: realisierte Möglichkeiten, bedingte Notwendigkeiten. Steigerung und Reduktion stehen dabei im Verhältnis konditionierter Koproduktion. Die Beiträge des vorliegenden Bandes zeigen: Sportwissenschaft als Wissenschaft des Sports hat mehrfach guten Grund, den Blick für die ebenso zahlreichen wie spezifischen Kontingenzen und Kontingenzreduktionen ihres Gegenstandsbereichs, ihrer Theorien und Methoden, des durch sie erzeugten Wissens sowie schließlich ihrer Anwendungsfelder und begleitenden Professionen zu schärfen. Die Möglichkeit des Sports ist dabei die Zutat von Beobachtern. Die Herausgeber danken für die Geduld der Autoren, sowie Jana Eisenstein und Annika Steinmann für zahlreiche Arbeiten am Manuskript, das in vielfacher Weise von seinem Gegenstand eingeholt worden ist.

Köln und Hildesheim im April 2012 Swen Körner & Peter Frei

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Also durch Leitbilder, Diversity-Management, Team-Building, Rollenprofile, Protokolle, Entscheidungen u.Ä.m.

Steigerung & Reduktion

Kontingenz, Moral, Sport, Geschichte HANS ULRICH GUMBRECHT

Das Buch, mit dem vor allem ich lesen lernte, wies den großen Fritz Walter als Autor aus, aber es war nicht der damals (im September 1954 wurde ich eingeschult) sehr berühmte Titel 3:2 mit seiner persönlichen Geschichte des Wunders von Bern, sondern leider das andere Buch von Fritz Walter: Spiele, die ich nie vergesse, in dem zwar tatsächlich von vielen Spielen die Rede war, an denen er teilgenommen hatte, nur eben nicht von denen bei der Weltmeisterschaft in der Schweiz, die ihn so berühmt gemacht hatten. In meiner (vielleicht etwas ungerechten) Erinnerung war es ein mild-sadistischer Zug in der Erziehungspraxis unserer Eltern, den beiden Kindern immer nur ungefähr das zu schenken, was wir uns gewünscht hatten: also schon ein Buch von Fritz Walter, bloß eben das andere. Aber ich muss mich dann mit der zweiten Wahl angefreundet haben, denn auf der freien Seite nach dem grünen Einband von Spiele, die ich nie vergesse zog ich um die runde Schachtel für meinen Tafelschwamm herum einen Kreis und zeichnete in den Kreis das Vereinsabzeichen von Fritz Walters 1. FC Kaiserslautern. Darunter lese ich heute zwischen Anführungszeichen, mit Kuli und in Kinderschrift die selbsterfunden-nachempfundenen Worte: »Der Ball ist rund, sagt Chef Herberger, man weiß nicht, wohin er rollt: zu uns in die Pfalz oder zum Karlsruher SC.« (Ich schwärmte für den damals ziemlich starken KSC.) Nicht zufällig war es eine Kontingenzformel, die meine kindliche Assoziation voller Bewunderung Herberger aus dem Mund nahm, Fritz Walter auf die Zunge legte – und dann nach den eigenen Erstklässerphantasien ein bisschen auswalzte.

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Auf genau jene Worte wäre ich wohl nie gekommen, wenn der Zusammenhang von Sport und Kontingenz (der sprichwörtliche Fan in der Stehkurve würde natürlich Zufall sagen) nicht schon lange den Status eines Emblems gehabt hätte. Neben Sport und Kontingenz steckte in meinem kleinen Graffito auch eine Ahnung von der Dimension sportlicher Moral. Ich wollte dem großen Fritz Walter ja jene Großzügigkeit und Gelassenheit gegenüber seinen potenziellen Gegnern aus Karlsruhe unterstellen, die Erwachsene damals selbst außerhalb des Sports gerne Fairness nannten: impliziert war, dass solche Tugenden auf einer Einsicht in die Unvermeidlichkeit von Kontingenz beruhten – und auf dieser mir Sechsjährigem gar nicht nachvollziehbaren Voraussetzung stellte ich den Kapitän der deutschen Nationalmannschaft als eine Art von ethischem Vorbild dar. Schließlich habe ich mich rückblickend gefragt, ob es denn vorstellbar ist, dass ein Sechsjähriger heute mit seinem Laptop eine Seite entwirft, auf der Fußball, Kontingenz und sogar Moral in ähnlicher Weise zusammenkommen. Die Frage habe ich mir nicht gestellt, weil ich glaube, dass Kinder heute weniger phantasievoll sind als damals (das wäre die allerbanalste Variante von Kulturkritik), sondern weil ich mir vorstelle, dass ganz andere Wörter zusammenkämen, wenn ein Sechsjähriger unserer Gegenwart einer solchen Fußballträumerei nachginge. Abstrakter gesagt: ich sehe Konfigurationen wie die von Sport, Kontingenz und Moral als historische Phänomene an. Warum und unter welchen Bedingungen sie sich verändern, möchte ich auf den folgenden Seiten fragen, und umgekehrt will ich sehen, ob solche Transformationen besondere Einsichten in die Verschiedenheit historischer Situationen eröffnen. Dabei fange ich systematisch und eher bescheiden mit der Frage an, was denn genau Kontingenz heißt – oder in einem anderen philosophischen Register formuliert: wie wir den Begriff Kontingenz gebrauchen wollen (1). Auf dieser Grundlage werde ich zu zeigen versuchen, dass und warum uns ein grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen kontingenzdominierten Phänomenen und Moral heute stärker beeindruckt als zur Zeit Fritz Walters (2). Im dritten Abschnitt trage ich einige Beobachtungen über historische Varianten des Verhältnisses von Sport und Kontingenz zusammen, um sie auf die Frage nach möglichen Erklärungen und Verstehensansätzen zuzuspitzen (3). Erste Vorschläge zu Antworten bereite ich dann vor mit einer Unterscheidung zwischen je verschiedenen Inszenierungen der Dimension der Kontingenz, wie sie für verschiedene Typen von Sport charakteristisch sind (4). Diese Vorarbeit wird uns erlauben, die Do-

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minanz jeweiliger Typen von Sport in jeweiligen historischen Momenten als Symptom des historischen Wandels im Verhältnis zwischen Sport und Kontingenz aufzufassen (5). Aus einer etwas anderen Perspektive gesehen: Ich möchte mit der These experimentieren, dass verschiedene, in bestimmten historischen Situationen allgemein dominante Kontingenztypen die historische Dominanz bestimmter Typen von Sport in diesen Situationen erklären können.

1 Kontingent heißt, was weder notwendig noch unmöglich erscheint. Unter Bedingungen der Kontingenz eröffnen sich Felder aus Möglichkeiten, von denen uns in jedem Moment eine zufällt. Die Regeln eines Spiels oder einer Sportart machen bestimmte Fälle notwendig (beim Fußball, Rugby und American Football beginnt zum Beispiel jede Mannschaft mit elf Spielern) und schließen andere aus (beim Football darf der Ball nicht nach hinten und beim Rugby nicht nach vorne gepasst werden), so dass eine begrenzte Menge möglicher Situationen verbleibt, von denen in jedem Moment eine der Fall ist. Dass man im Englischen das Adjektiv contingent stets mit der Präposition upon verwendet, zeigt, wie die Beobachtung des Falls, der eintritt aus einem Feld von Möglichkeiten, stets die Frage auslösen kann, ob Faktoren, die dem Feld der Möglichkeiten selbst extern sind, zu erklären vermögen, warum eben dieser und nicht ein anderer Fall eingetreten ist. Erklären kann hier entweder bedeuten, einen Fall als notwendige Konsequenz zu erklären (Handspiel im Strafraum muss mit einem Elfmeter geahndet werden) oder einen Fall plausibel zu machen (das Tempo aus dem Spiel zu nehmen, kann aber muss nicht eine Strategie sein, um einen knappen Torvorsprung zu verteidigen). Wir sind geneigt zu sagen, dass die Zukunft für uns prinzipiell ein Horizont der Kontingenz im nun erklärten Sinn ist. Dennoch macht es einen Unterschied, ob wir davon ausgehen, dass die Fälle der Zukunft schon immer vor-entschieden, aber uns nicht zugänglich sind, bevor sie wirklich werden, oder ob es vom menschlichen Handeln abhängen soll, welche Fälle unter den von einer Zukunft als Möglichkeiten-Feld gebotenen Fällen eintreten. Die zweite Konzeption von Zukunft war nicht vor dem Historismus des 19. Jahrhunderts institutionalisiert und ist uns, glaube ich, im frühen 21.

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Jahrhundert wieder weniger selbstverständlich geworden, als sie es noch bis vor wenigen Jahrzehnten war. Hingegen wird die Vergangenheit in einer Retrospektive immer als Raum der Kontingenz erscheinen, weil sich das, was vorstellbar, aber nicht der Fall geworden ist, jedenfalls als vergangene Möglichkeit (als eine vergangene, nicht eingetretene Zukunft) projizieren lässt. Die Gegenwart hingegen ist die kontingenzfreie Dimension par excellence, die Dimension der Fälle, die uns zufallen. Die Gegenwart ist reflexionsfrei. Denn wenn Sinn nach den klassischen Definitionen des Begriffs entstehen soll aus einem Vordergrund/Hintergrund-Verhältnis zwischen dem, was eintritt oder eingetreten ist, und dem, was der Fall hätte sein können, dann ist Kontingenz vor allem eine Dimension des Sinns, der Reflexion – und nicht der aktuell gegenwärtigen Praxis. Kontingenzbewusstsein im Sport steht dem Erfolg der Athleten fast immer im Weg und muss wohl selbst aus der Perspektive der Trainer als eine notwendige Bedingung ihrer Arbeit gelten, die in den entscheidenden Momenten einzuklammern ist. Schließlich weckt der Blick auf die Horizonte der Kontingenz eine Stimmung von der Prosa der Welt, von grauer, bescheidener Alltäglichkeit, da der Blick auf das Mögliche ja immer ein Blick nur auf das Mögliche ist, ein Blick, welcher die dramatischeren Eindrücke des Durchbrechens von Grenzen des Unmöglichen (hin zum Wunder) und des Vordringens zu den Gründen des Notwendigen (hin zum Metaphysischen) ausschließt. Alle Sportarten, haben wir unterstellt, sind aufgrund ihrer spezifischen Regeln je spezifische Felder von Kontingenz, das heißt Felder von möglichen Fällen. Aber zugleich scheint Sport in einem Spannungsverhältnis zur prosaischen Stimmung des Kontingenten zu stehen. Denn gibt Sport nicht der Kontingenz als Stimmung des Alltäglichen oft eine am Ende doch dramatische Aura, welche von einem Spiel mit den beiden Grenzen des Kontingenten kommt? Sport kann Phantasien vom Aufheben des Notwendigen und mithin von der Ermöglichung des Unmöglichen als Folge der Aufhebung des Notwendigen wecken. Das bringt mich zu meiner bewusst paradoxalen zweiten These: Sport ist heute nicht einfach ein Bereich der Kontingenz, sondern Steigerung und Feier des Kontingenten durch beständiges Spielen mit der doppelten Überschreitung der beiden das Kontingente hervorbringenden Grenzen. Genau genommen ist es dieses überraschend komplexe Verhältnis des Phänomens Sport zur Dimension der Kontingenz, welche dem Sport als spezifischem Gegenstand und als

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spezifischem Medium historischen Verstehens seine besondere Relevanz gibt.

2 Von ›Moral‹ können wir nicht reden, ohne an feste Hierarchien von Werten oder an Prioritäten unter Verhaltensformen zu denken. Prinzipiell steht deshalb ›Moral‹ in einem Verhältnis der Spannung zum Sport als Domäne der Kontingenz – doch diese grundlegende und sehr abstrakte Beobachtung sollte uns nicht übersehen lassen, dass es Zeiten gab, in denen Sport und Moral weit kompatibler wirkten als heute (zum Beispiel eben die Zeiten Fritz Walters). Dass Sport Charakter bilden könne, war eine vor allem auf der Notwendigkeit einer Unterwerfung individueller Interessen unter Spielregeln und unter Mannschaftsdisziplin beruhende Vermutung, welche die mancherorts zentrale Rolle des Sports in Erziehungsprogrammen seit dem frühen 19. Jahrhundert rechtfertigte. Inzwischen ist – wohl in halbbewusster Reaktion auf die klassische Unterstellung einer positiven Beziehung zwischen Sport und Moral – nicht selten gerade umgekehrt vom Sport als einer grundlegenden Gefahr für die Individualmoral der Sportler die Rede. Doch das scheint nur der eine Pendelausschlag zwischen zwei Extrempositionen zu sein: Zwischen den Vorstellungen von moralischer Stärkung und von moralischer Gefährdung durch den Sport dominiert heute, da das Bild vom Sport als einer Domäne der Kontingenz im Vordergrund steht, ein Bewusstsein der Inkompatibilität und der wechselseitigen Unabhängigkeit zwischen Sport und Moral. Kaum mehr etwas wirkt unveränderlich am Kontingenzphänomen Sport. Nicht der zeitliche Rhythmus der Olympischen Spiele, welcher in der Antike Teil einer kosmologischen Ordnung war – während nun im vorigen Jahrzehnt Winterspiele und Sommerspiele unter dem Ziel einer wirtschaftlichen und medialen Entzerrung auf verschiedene Jahre verlegt worden sind; nicht die Bewegungssequenzen, Methoden und Strategien, mit denen Sportler die von ihren Disziplinen auferlegten Probleme lösen – es zählt allein der sich in Siegen und Rekorden artikulierende Erfolg. Siege und Erfolge selbst gelten natürlich niemandem mehr als Beweise göttlicher Präsenz oder Intervention, und selbst ihre Strahlkraft als Symbole für die Überlegenheit des einen oder anderen politischen Systems ist in den ver-

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gangenen 50 Jahren erstaunlich verblasst. Wer schließlich heute als Jugendlicher oder später im Leben mit einem Sport anfängt, der tut das nicht unter der einen oder anderen Zielvorstellung, sondern gerade weil Sportarten dadurch Spiele sind, dass sie keine Ziele vorgeben. Statt erzieherisch zu wirken in der Ausbildung hin zu einer begrenzten Zahl von Charaktertypen, fungiert Sport im frühen 21. Jahrhundert wohl vor allem als ein komplexes Dispositiv der individuellen Differenzierung – bis hin zu individueller Exzentrik. Und nichts könnte gegenüber der Welt des Moralischen indifferenter sein als unendliche Differenzierung.

3 Was sind nun neben dem sich wandelnden Verhältnis von Moral und Sport andere historische Fälle, wo sich Kontingenzsituationen in der Gesellschaft und Kontingenzfunktionen im Sport berühren und wechselseitig beeinflussen? Es soll zunächst allein darum gehen, solche Momente zu benennen – für den Versuch ihrer Analyse brauche ich die im nächsten Absatz zu entwickelnde Serie von Unterscheidungen zwischen Typen des Sports und ihren je spezifischen Inszenierungen von Kontingenz. Zuerst und vor allem ist unübersehbar, dass der Beginn des modernen Sports, dass jener Moment eines Auftakts, mit dem der Sport bis heute in einem Verhältnis der Kontinuität verbunden ist, zusammenfällt mit dem historischen Moment der Emergenz des Beobachters zweiter Ordnung, das heißt: mit der Emergenz jenes Welt-Beobachters, der es nicht vermeiden kann, sich selbst im Akt der Weltbeobachtung zu beobachten – und die Emergenz des Beobachters zweiter Ordnung ist jenes epistemologische Ereignis, durch das Kontingenz in den Vordergrund des Alltags rückte. Diese beiden Anfänge – der Anfang des modernen Sports und der Anfang des Beobachtens zweiter Ordnung – vollzogen sich in jenen Jahrzehnten zwischen 1780 und 1830, die Reinhart Koselleck Sattelzeit nannte, um sie als Phase der Entstehung einer Gegenwart zu markieren, welche weitgehend die unsere ist. In jene Zeit fallen auf der Seite des Sports die Entwicklung des Berufsboxens in London zu einer Zehntausende von Zuschauern faszinierenden Unterhaltungsform, aber auch seit 1795 die Ausrichtung ebenfalls professioneller Pferderennen an den Feiertagen der Französischen Revolution und schließlich seit dem frühen 19. Jahrhundert die Entwicklung des Sports zu einer zentralen Bil-

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dungskomponente an einigen englischen Colleges. Gleichzeitig beginnt die Selbstbeobachtung im Akt der Weltbeobachtung zumindest für Intellektuelle unvermeidlich zu werden, was die Phänomene der Welt unvermeidlich als kontingent – als abhängig von dem jeweils aus einer Pluralität von Möglichkeiten ausgewählten Blickwinkel – erscheinen lässt. Dass der mit der Emergenz des Beobachters zweiter Ordnung entstehende Perspektivismus und Kontingenzüberschuss zwei epochemachende Reaktionen heraufbeschworen hat, ist oft beschrieben worden: zum einen die für das gestaltende Eingreifen menschlichen Handelns erstmals offen erscheinende Zukunft des historistischen Weltbildes; zum anderen die Geschichtsphilosophie als Versprechen der möglichen Entdeckung von Gesetzen historischen Wandels, durch die sich die Zukunft vorhersehen und mithin wieder schließen lassen sollte. In seiner historischen Entfaltung konvergiert der moderne Sport wegen seiner Insistenz auf den offenen Ausgang jeglichen Wettkampfs deutlich mit der offenen Zukunft des Historismus und eben nicht mit der Geschichtsphilosophie. Fast ein Jahrhundert später, um 1900, im Jahrzehnt der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit, sieht Peter Sloterdijk eine »Renaissance des Somatischen«, einen neuen Schub von Körperaktivitäten in der westlichen Kultur, welche nicht mehr spirituell motiviert sind, sondern durch ein Verständnis als »Übung«. Das heißt, sie werden ausgeführt als Verhaltenssequenzen, deren einziges Ziel darin liegt, die nächste Verhaltenssequenz mit derselben Struktur besser oder doch wenigstens genauso gut werden zu lassen. Üben wird bald zu einem generellen Postulat, mit dem der praktizierte Amateursport seine traditionelle Aura des exklusiv Aristokratischen verlieren wird. Sollte auch diese zweite Bewegung aus der Geschichte des modernen Sports auf ein neues Verhältnis zu einem in der Gesellschaft dominierenden Kontingenztypus verweisen? Vorab kann man erwarten, dass sich im Zeichen des Übens die dominante Motivation vom Agon, dem Wettkampf mit anderen, zu Arete, dem Arbeiten an sich selbst, verschoben haben muss. Zugleich und drittens geht diese Renaissance des Somatischen, das ist wohl kaum noch bemerkt worden, einher mit einer neuen Begeisterung für die um einen Ball gruppierten Mannschaftssportarten, mit einer Begeisterung, für die es einerseits keine Vorgeschichte gibt, und die andererseits in so kurzer Zeit eine derartige Breite und Intensität des Publikumszuspruchs findet, dass wir mittlerweile dazu tendieren, sie als Sport schlechthin anzu-

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sehen. Die gegen die Zeichen der Zeit an einer Kultivierung ihrer spirituellen Ansprüche festhaltende Olympische Bewegung versuchte lange Zeit, sich von den nicht nur populären, sondern allenthalben dem Professionalismus zuneigenden Mannschaftssportarten zu distanzieren – und in Reaktion auf diese Distanznahme wurden seit 1930 Fußballweltmeisterschaften (und später Meisterschaften) abgehalten, die offen für Berufsspieler waren. Baseball in der Karibik und in den Vereinigten Staaten, Kricket im britischen Commonwealth, Rugby auf der südlichen Halbkugel, in Frankreich und auf den britischen Inseln, American Football in der Vereinigten Staaten und Fußball, zunächst in Europa und in Südamerika, durchlaufen ähnliche Popularitätssteigerungen. Doch weder ihr explosionsartiger Erfolg noch die zumindest chronologische Konvergenz mit den Bewegungen des Übens sind je erklärt worden. Schließlich und viertens will ich die immer wieder diskutierte Möglichkeit wenigstens erwähnen, Kontingenz als Eigenwert der am höchsten entwickelten Gesellschaften seit der Mitte des 20. Jahrhunderts aufzufassen. Eigenwertig wird ein Effekt in einem System von dem Moment an, wo er alle anderen System-Funktionen überschattet und also mitprägt. Eine solche Steigerung lässt sich im Hinblick auf Kontingenz am besten anhand der Dimension der Zukunft illustrieren. Wenn die Zukunft seit der Emergenz des Historismus im frühen 19. Jahrhundert vor allem als Dimension der Kontingenz gegolten hatte, so wird die Kontingenz der Zukunft kontingent von dem Zeitpunkt an, wo die kontingenzdominierte Zukunft des Historismus in Konkurrenz tritt mit der Zukunft einer aufkommenden anderen Konstruktion von Zeit, die nicht selbstverständlich offen ist. Ob solches Kontingentwerden der Kontingenz als dominanter Verfasstheit der Zukunft Resonanzen im Sport fand und welche Sportphänomene unter Umständen zu diesen Resonanzen gehören könnten, scheint ebenfalls noch nie diskutiert worden zu sein. Im letzten Absatz meines Essays will ich davon noch einmal sprechen.

4 Bevor wir auf die im vorausgehenden Abschnitt erarbeiteten offenen Fragen mit einigen tentativen Antworten (oder weiterführenden Hypothesen) zurückkommen, möchte ich nun – zur Vorbereitung dieser tentativen Ant-

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worten – zwischen sechs Typen von Sportarten unterscheiden und zwischen sechs Modi, in denen sie die ihnen jeweils inhärenten Kontingenzbestände inszenieren. Dabei ist vorausgesetzt, dass Sportarten ihre Kontingenzbestände inszenieren (und auch zelebrieren), indem sie die jeweils umrandenden und ermöglichenden Horizonte des Notwendigen und des Unmöglichen relativieren und tendenziell aufheben. Ich erwähne unter den Sport-Typen zuerst die Varianten des Bodybuilding, jene Praktiken also, in denen es darum geht, dem eigenen Körper eine in quantitativer oder qualitativer Hinsicht erstaunliche neue Form zu geben. Bodybuilding hängt davon ab, einen primär gegebenen Typus des eigenen Körpers nicht als notwendig und mithin unveränderlich zu akzeptieren und zugleich bestimmte Intensitätsgrade der Selbstdisziplin nicht als unmöglich auszuschließen. Sein Effekt liegt darin, den vorgegebenen Variationsrahmen für Körper-Kontingenz zu erweitern. Vom Bodybuilding zu unterscheiden sind als zweite Gruppe jene Sportarten (ich denke vor allem, aber nicht ausschließlich an die Leichtathletik), wo eine Bewegungssequenz so weitgehend an eine vorgegebene Funktion angepasst wird, dass der Eindruck des subjektiv Absichtlichen verschwindet, woraus nach Heinrich von Kleists Argumentation in seinem Aufsatz vom Marionettentheater (Über das Marionettentheater, 1810) der Eindruck von Anmut entsteht (Marionetten, sagt Kleist, wirken anmutig, weil ihnen niemand Intentionen unterstellen kann). Für solche Anmut kenne ich keine mitreißendere Illustration als die Bilder von Jesse Owens aus Leni Riefenstahls berühmten Film über die Olympiade von 1936. Jesse Owens stellte Rekorde auf, die damals wie ein Horizont des Unmöglichen aussehen mussten, indem er die Notwendigkeit einer Konzentration auf individuelle Absichten einzuklammern schien. Man hatte den Eindruck, dass eine höhere Kraft seinen Körper antrieb. Prothetisch nenne ich drittens jene Disziplinen, in denen die Leistung der eigenen Körper durch Koppelung mit einem anderen System erhöht wird, ganz abgesehen davon, ob dieses andere System nun ein Pferd, ein Fahrrad, ein Boot, ein Rennwagen, ein Gewehr oder ein Bogen ist. Das Unmögliche in der Geschwindigkeit oder in der (etwa von einem Gewehr ermöglichten) Präzision zerstörender Gewalt wird hier möglich, indem der Athlet die zunächst notwendig, aber widersprüchlich erscheinenden alternativen Ziele einer vollkommenen Kontrolle des anderen Systems oder einer vollkommenen Anpassung an das andere System aufgibt und von Moment zu Moment den stets labilen und richtigen Grad der Optimierung findet.

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Es gibt viertens eine Reihe von Sportarten, in denen sich Athleten bewusst einer (potenziell erniedrigenden) Konfrontation oder einer (potenziell tödlichen) Gefahr aussetzen: Bergsteigen, Boxen und Ringen, aber auch Tennis entsprechen dieser Definition. Man begibt sich als Bergsteiger, Ringer, Boxer oder Tennisspieler freiwillig gewisser Strategien des Selbstschutzes hin, die unter Alltagsbedingungen als notwendig angesehen werden. Diese Annahme bestimmter Gefahren eröffnet die Möglichkeit von Leistungen (aber auch von Fällen nachhaltiger Selbstopferung – denken Sie an die Krankheit Muhammad Alis), welche anders nicht plausibel sein könnten. Eine weitere Reihe von Sportarten verlangt fünftens eine temporäre Anpassung des Körpers an vorgegebene Formen, die nicht seiner primär zuhandenen Anatomie und Physiologie entsprechen. Dies ist zum Beispiel der Fall beim Turnen, beim Eiskunstlauf oder beim Turmspringen. Je weiter die einzelne Sportlerin bereit und imstande ist, eine primär zuhandene Form ihres Körpers nicht als notwendig anzusehen, desto eher wird ihr das vermeintlich Unmögliche – das vermeintlich Unmögliche des fünffachen Axels etwa – gelingen. Schließlich noch ein Wort zu den seit dem späten 19. Jahrhundert so erstaunlich populären Mannschaftssportarten. Meine These zu den Mannschaftssportarten heißt, dass ihre Faszination nicht einfach in der Hoffnung auf einen Sieg liegt (darin unterschieden sich die Mannschaftssportarten ja nicht von den anderen Disziplinen), sondern in den Ereignissen der Emergenz von Spielzügen, das heißt: in den Ereignissen der Emergenz von Formen, welche komplex und substantiell sind (mehrere Spielerkörper konstituieren sie), verzeitlicht (sie vergehen von dem Moment an, wo sie zuerst erkennbar werden) und ereignishaft (weil sie sich als Negentropie-Leistung jeweils gegen die andere Mannschaft als Entropie-Drohung durchsetzen müssen und deshalb nie voraussagbar sind). Das zur Produktion einer Form sonst Notwendige, nämlich die freie Verfügung über den Raum, wird durch die Gegenwart der anderen Mannschaft prekär, wodurch erst das Unmögliche – nämlich die Hervorbringung von Formen gegen den anwesenden Entropie-Druck der anderen Mannschaft – möglich ist. Bestätigt hat sich entlang der Unterscheidung all dieser sechs Typen von Sport unsere Vermutung über den Punkt ihrer Konvergenz. Er liegt darin, dass Leistungssport – als Feier und Steigerung des Kontingenten – immer die eine oder andere sonst für notwendig erachtete Rahmenbedingung des Kontingenten aufgibt und dadurch Möglichkeiten zum (freilich nie garantierten) Erreichen des sonst als unmöglich Geltenden öffnet.

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5 Jean-Jacques Rousseau hat eine der frühesten und wirklich emblematisch gewordenen Beschreibungen der neuen Bedingung des Gesellschaftlichen unter postrevolutionär-bürgerlichen Prämissen erfunden – und es kann nicht überraschen, dass sie eine Formel der doppelten Kontingenz ist. Im wechselseitigen Blickkontakt mit dem anderen Bürger, heißt es, erfahre ich den anderen Bürger als meinen Herrscher und zugleich als meinen Untertan, so wie auch der andere mich als Untertan und zugleich als Herrscher erfährt. Es wird also ein zweifaches Verhältnis der Hierarchie und der Spannung evoziert, welches friedvoll und harmonisch nur sein kann, weil die von der Herrscherperspektive geweckten Begierden jeweils von der Drohung der Untertanenperspektive in Schach gehalten werden. Sport als Allegorie und Feier von Kontingenz begleitete die Emergenz dieser neuen gesellschaftlichen Welt vor allem in der Form von zwei Disziplinen der Konfrontation: mit dem schon vor 1800 in London so erstaunlich populären Berufsboxen und mit den sich an den Colleges rasch differenzierenden MannschaftsBallsportarten. In beiden Fällen muss das fast Unmögliche der jeweiligen Leistung erst der Gegenwart eines Gegners abgewonnen werden – so wie ja auch die Freiheit des Bürgers immer dem Freiheitsanspruch des anderen Bürgers abzuhandeln ist. Die früh zum Professionalismus tendierenden Sportarten, so können wir vermuten, dramatisierten, was an Kontingenz- und Konfliktpotenzial in der neuen Ordnung der Alltage steckte. Sie verweigerten die Gewissheit von Zukunftsprognosen (wie die Geschichtsphilosophie sie bot) und ließen allein Wettkämpfe zwischen Sportlern zu (nicht etwa eine den Konflikt überkommende Harmonie, von der Rousseau träumte). Nun vermute ich, dass jene Renaissance des Somatischen um 1900, von der Sloterdijk schreibt, nicht eine Verlängerung der Geschichte des modernen Berufssports war.1 Eher sehe ich in ihr eine Sozialisierung und Verallgemeinerung des olympischen Sports und des Amateursports mit seinem ursprünglich aristokratischen – nun nicht mehr haltbaren – Anspruch auf Selbst-Bildung. Im Gegensatz zum Leistungssport, der nicht ausschließlich, aber doch zu einem großen Anteil als Berufssport existiert hatte, war und ist Sport als

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Sloterdijk, P. (2009): „Du musst dein Leben ändern“. Über Anthropotechnik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Üben nicht an der Steigerung von Kontingenz als Aufhebung des Notwendigen und am Erreichen des Unmöglichen orientiert, sondern daran, Kontingenzräume zu unendlicher individueller Differenzierung zu nutzen. Der Massensport unserer Gegenwart, darauf hat wohl zuerst die feministische Philosophin Judith Butler verwiesen, bringt unendlich mehr als nur zwei Typen von Körpern, als nur weibliche und männliche Sportler hervor. In diesem Sinn muss man wohl davon ausgehen, dass die individuell selbstreflexive Renaissance des Somatischen als Amateursport (mit den Olympischen Spielen als ideologisch verbrämendem Horizont) einerseits und andererseits die Massenereignisse des professionellen Mannschaftssports zunächst während des frühen 20. Jahrhunderts in einem Verhältnis der Spannung standen. Erst nach der Jahrhundertmitte haben sich auch die zentralen olympischen Individualdisziplinen zu professionellen Sportarten entwickelt, deren Stars davon leben, dass sie an der Vermarktung der Sportausrüstung für das sportliche Fußvolk teilnehmen. Heute sind die Einkünfte und die Lebensform eines international erfolgreichen Biathleten oder eines Rekorde brechenden Schwimmers zum Beispiel wohl nur noch graduell verschieden von denen eines berühmten Fußballspielers – und natürlich hält es der von Gesundheitsgründen motivierte Hobby-Skilangläufer längst nicht mehr für einen Widerspruch, wenn er die Spiele der Fußballbundesliga oder der Nationalmannschaft verfolgt. Mit dieser Fusion seiner zwei ehemals in Spannung stehenden zwei Hälften ist der Sport während der vergangenen Jahrzehnte beinahe gesellschaftlich flächendeckend geworden. Wie viele Zeitgenossen trifft man denn heute noch, die tatsächlich weder als moderat Aktive noch als Zuschauer am Sport teilhaben? Diese ungeahnte Ausdehnung des Sports als Domäne der Kontingenz mag nun gerade in jenem historischen Moment erreicht gewesen sein, als Kontingenz zum Eigenwert unserer Gesellschaften wurde. Vielleicht kann dieser Hintergrund erklären, warum die hochmoralisierte Aufregung unserer Medien über Doping im Spitzensport selbst manchen von denen eigenartig unzeitgemäß vorkommt, welche ihrer politischen Tendenz beistimmen. Gegen die einhellig strenge Position der Sportverbände und Journalisten lassen sich vorab eine Reihe pragmatischer Argumente aktivieren: dass man physisch Höchstleistenden nicht verweigern sollte, was sich jeder Durchschnittsbürger herausnimmt, der einen verkaterten Tag mit einer Kopfwehtablette beginnt; dass durch allzu radikale Verbote die Sportler in eine Dunkelzone medizinisch problematischer Kompe-

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tenzansprüche gedrängt werden; dass der Vorsprung der Pharmaindustrie gegenüber den Kontrollmaßnahmen der Verbände in den vergangenen Jahrzehnten wohl nur gewachsen ist. Vor allem aber wird durch die vielfältigen Dopingverbote Sport als ein emblematischer Raum von Kontingenz verengt. Sollte es nicht in die Entscheidung eines jeden Sportlers fallen, ob er Dopingmittel benutzt – und wenn ja, welche es sein sollen? Aus der Prämisse von der Kontingenz als Eigenwert unserer gegenwärtigen Gesellschaften folgt, ich habe das schon erwähnt, dass auch der Status der Zukunft als Kontingenzhorizont der historistischen Konstruktion von Zeit nun kontingent geworden sein könnte. Gegenüber einmal auf ihre Bahn gekommenen Entwicklungen und Tendenzen gibt es vielleicht gar keine Alternative und keine Möglichkeit der modifizierenden Intervention mehr. Am Ende seines Buchs über das Üben beschreibt Sloterdijk,2 wie der flächendeckend gewordene Sport heute an einem Scheideweg zu stehen scheint: »Entweder fungiert der Sportler weiterhin als Zeuge für die menschliche Fähigkeit, an der Grenze zum Unmöglichen Schritte nach vorn zu tun – mit unabsehbaren Übertragungswirkungen auf alle, die sich auf das schöne Schauspiel einlassen, oder er geht den schon jetzt vorgezeichneten Weg der Selbstzerstörung weiter, auf dem debile Fans ko-debile Stars mit Anerkennung von ganz unten überschütten, die ersten betrunken, die zweiten gedopt«. In der einen oder in der anderen Richtung seiner zukünftigen Entwicklung würde der Sport Wesentliches aus unserer individuellen und kollektiven Existenz mitreißen. Bloß eine Nebensache, bloß eine schöne oder eine hässliche Nebensache ist er für uns jedenfalls nicht mehr.

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Sloterdijk (2009: 660).

Kontingenz in Serie: Zur ›Spannung‹ des modernen Sports TOBIAS WERRON

»You never know. They are the best three words in sports.« »That’s the great thing about sports, when you hope for something improbable to happen, and 499 times out 500, it never happens […] and then there’s the 500th time, and for God’s sake, it’s happening.« BILL SIMMONS, US-SPORTKOLUMNIST

E INLEITUNG Der offene Verlauf und der mit ihm verbundene ›thrill‹ von Spielen und Wettkämpfen sind wohl zu fast allen Zeiten und in den unterschiedlichsten Gesellschaftsordnungen als Attraktion erlebt worden. Auch dass sie maßgeblich zur Popularität des heutigen Wettkampfsports beitragen, dürfte niemand bestreiten. So weit, so trivial. Theoretisch interessant (und kompliziert) wird die Frage nach der Spannung im Sport, wenn man historisch vergleicht: Was zeichnet die Spannung heutiger sportlicher Wettkämpfe gegenüber antiken oder frühmodernen Vorgängern aus, und inwiefern kann die Produktion und Inszenierung von Spannung im modernen Wettkampfsport selbst als Ausdruck seiner Modernität gelten? Fragt man so, wird

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Kontingenz auf zwei unterschiedlichen Problemebenen bedeutsam, die ich im folgenden Beitrag unter den Titeln Kontingenz des modernen Sports und Kontingenz im modernen Sport unterscheiden und aufeinander beziehen will: Kontingenz des Sports bezieht sich auf die Unwahrscheinlichkeit der Entstehung des modernen Sports selbst. Kontingenz in diesem Sinne ist eine heuristische Prämisse, die unterstellt, dass der moderne Sport unwahrscheinlich war, aber gleichwohl möglich geworden ist, und auf dieser Grundlage nach den historischen Bedingungen seiner Möglichkeit fragt. Kontingenz im Sport zielt dagegen auf Produktion und Erleben von Kontingenz im modernen Sport, darauf also, dass Wettkampfverläufe als kontingent erlebt werden können, und fragt nach der Art und Weise, wie dieses Erlebnispotenzial im modernen Sport angeeignet, organisiert und interpretiert worden ist. Die zentrale These meines Beitrags wird sein, dass beide Fragen in einem engen historischen Zusammenhang gesehen werden sollten. Die historische Unwahrscheinlichkeitsschwelle, die moderne Sportarten in ihrer Entstehungsphase im 19. Jahrhundert überwinden mussten (und immer wieder aufs Neue überwinden müssen), hat sich ihre charakteristischen Strukturen eingeprägt und findet daher auch Ausdruck in der Art und Weise, wie in ihnen Spannung inszeniert und interpretiert wird. Bezieht man Kontingenz des Sports/im Sport aufeinander, wird folglich nicht nur die Spannungsproduktion im modernen Sport besser verständlich, sondern auch, wie sich der moderne Wettkampfsport von historischen Vorgängern und verwandten Spiel- und Wettkampfformen unterscheidet. Insbesondere wird nun deutlich, dass beide – die Spannungsproduktion im modernen Sport wie auch die Typik des modernen Sports – von der laufenden Beobachtung und dem Wissen eines Expertenpublikums abhängig sind, das in der sporthistorischen und -soziologischen Literatur bisher wenig Beachtung gefunden hat. Der Beitrag entfaltet diese These in vier Schritten: (1) Ich konturiere zunächst die Ausgangsfrage nach der ›Spannung‹ des modernen Sports im Licht anderer Theorien, die auf die Bedeutung der Spannungsproduktion im modernen Sport hingewiesen haben; (2) anschließend zeige ich am Forschungsstand der sporthistorischen Literatur, weshalb es sich lohnt, von der Kontingenz des modernen Sports auszugehen, und unterbreite einen Vorschlag zur Benennung der Unwahrscheinlichkeitsschwelle, die im Übergang zum modernen Sport überwunden werden musste; (3) vor diesem Hin-

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tergrund skizziere ich die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mehr oder weniger konstanten Prinzipien der Spannungsproduktion im modernen Sport und zeige, dass und weshalb das Spannungserleben dabei zu einer Frage des Wissens und der Expertise geworden ist. (4) Ich schließe mit einem Resümee und einem Plädoyer für eine ›Wissenssoziologie‹ des Wettkampfsports, das die Kerngedanken des Beitrags auf eine Kritik an weit verbreiteten Vorurteilen zum Publikum des modernen Sports zuspitzt.

1. W AS MACHT DIE S PANNUNG SPORTLICHER W ETTKÄMPFE THEORETISCH INTERESSANT ? Unter der Spannung von Sportwettkämpfen soll hier zunächst ihr ergebnisoffener Verlauf verstanden sein. Das ist erwähnenswert, weil Wettkämpfe nicht der einzige Spieltyp sind, der als Generator von Spannungserleben in Betracht kommt. Die vier bekannten Typen und Erlebnisdimensionen von Spielen beispielsweise, die Roger Caillois unterschieden und auf ihre Beziehungen untersucht hatte – Verstellung (mimicry), Rausch (ilinx), Glücksspiel/Chance (alea) und Wettkampf (agôn) –, lassen sich alle als Quelle von Spannungserleben begreifen, solange man weniger auf die Spielform selbst, sondern auf das psychische Erleben, die Einstellungen oder, wie es bei Caillois heißt, die »Haltungen« der Spieler abstellt (Caillois 1958, 1964). Nur alea und agôn sind aber Kandidaten für ein Spannungserleben, das sich aus der geregelten Ergebnisoffenheit des Spielverlaufs selbst ergibt, denn Münzwurf und Kartenspiel, Wettlauf und Fußballspiel sehen in ihrer Spielanordnung Ausgänge vor, deren Offenheit konstitutiver Teil der Spielanordnung ist: Man kann gewinnen oder verlieren, die Leistung des anderen übertreffen oder ihm unterliegen, und es gehört zum Sinn des Spiels, dass vor seinem Beginn Sieg oder Niederlage nicht feststehen. In Wettkämpfen (im Unterschied zum reinen alea) ist diese Offenheit Aspekt eines Leistungsvergleichs, der als Generator von Spannung inszeniert und interpretiert werden kann. Spannung in diesem Sinne gehört zu den Erlebnispotenzialen, die in der Struktur der Wettkampfform selbst angelegt, also grundsätzlich jedem Wettkampf zu eigen sind (näher Werron 2005b). Wie viele Analytiker des modernen Sports bemerkt haben, ist dieses Potenzial im modernen Wettkampfsport nicht nur aufgegriffen und genutzt

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worden, sondern hat dort auch eine spezifische Form und Bedeutung angenommen. In der wohl einflussreichsten Theorie des modernen Sports von Norbert Elias ist die Anziehungskraft der Spannung der Wettkämpfe und die diesbezügliche Quest for Excitement (Elias/Dunning 1986) sogar zum eigentlichen Kern der Erklärung des modernen Sports geworden. Elias zufolge ist es die Suche nach Spannung, die den Aufstieg und die Beliebtheit des Sports in der Moderne erkläre – eine starke These, die darauf hinweist, dass die Bedingungen des Spannungserlebens in jeder Erklärung des modernen Sports Berücksichtigung finden sollten. Das Prinzip seiner Erklärung kann man am besten mit dem – von Krockow (1980) geprägten – Begriff der Ausgleichshypothese zusammenfassen: Der Sport biete Gelegenheit, sich zivilisiert zu erregen, diszipliniert zu entdisziplinieren, um die sonst in der modernen Gesellschaft geforderte Zivilisiertheit und Disziplin dann umso besser zu wahren.1 Das »Excitement«, das die Wettkämpfe bieten, gewinnt Bedeutung, eben weil die Moderne sonst gerade keines mehr zu bieten habe: »Excitement in unexciting societies.« (Elias/Dunning 1970) Dieses Argument scheint mir in seinen Vorzügen wie Nachteilen typisch zu sein für die interessantesten der heute verfügbaren soziologischen Theorien des modernen Sports.2 Einerseits ist es ein wichtiger Vorzug der Arbeiten von Norbert Elias und Eric Dunning, dass sie die Eigenattraktivi-

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Diese These hat eine lange, bis an die Anfänge der modernen Sportgeschichte zurückreichende Geschichte. Zur essayistischen Debatte im deutschen Sprachraum zwischen 1880 und 1930 mit Argumenten, die in späteren wissenschaftlichen Theorien zum Teil wieder vorkommen, vgl. Müller (2004). Der Grundgedanke taucht aber bereits bei zeitgenössischen Beobachtern Mitte des 19. Jahrhundert auf, die Sport u.a. als ›safety valve‹ für die latente Aggressivität von Stadtbewohnern bezeichneten (zu frühen amerikanischen Fassungen Riess [1989: 23f.]; zu britischen Bailey [1987: 36f.]).

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Der einfachste und zugleich gewichtigste Einwand gegen solche Hypothesen scheint mir zu sein: Was zeichnet eigentlich den verlustfreien Zustand aus, im Kontrast zu dem sich ausgleichsbedürftige Verlusterfahrungen (wie Langeweile, Affektdämpfung usw.) bestimmen lassen? Kann man sich an sozialstrukturelle Veränderungen nicht auch gewöhnen, so dass sie psychisch nicht länger als Verlust ins Gewicht fallen? Welche Verluste können durch Gewöhnung aufgegangen werden, welche nicht? Zur Kritik an diesem »kompensatorischen Fehlschluss« näher Werron (2010: 46-51).

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tät des Wettkampferlebens im Kontrast zu den von anderen Soziologen und Funktionären häufig präferierten ›ernsthaften‹ sozialen Funktionen wie soziale Kohäsion, Gesundheit, Charakterbildung etc. herausgestellt haben. Damit haben sie den Blick dafür geschärft, dass sich die Dynamik und Popularität des modernen Sports nicht aus – immer nur seinen Verfechtern und Funktionären einleuchtenden – nützlichen gesellschaftlichen Funktionen oder aus – immer nur partiell einleuchtenden – Analogien mit anderen Bereichen (von wirtschaftlicher Konkurrenz über künstlerische Ästhetik bis zur quasi-religiösen Symbolik) ableiten lassen. Die soziologischen Erkenntnischancen dieser Einsicht haben die Figurationssoziologen aber m.E. nicht ausgeschöpft, weil sie sich auf die psychische Seite des Erlebens und seine angeblich kompensatorische Beziehung zum Zivilisationsprozess konzentriert haben. Das erklärt ihren starken Akzent auf ›Erregung‹ und ähnliche primär psychisch konnotierten Begriffen, und es erklärt auch ihre Neigung zu letztlich psychologisch-anthropologisch begründete Kompensationsthesen, die in der Formel vom ›excitement in unexciting societies‹ zum Ausdruck kommen. Ganz ähnlich sind – trotz unterschiedlicher theoretischer Ausgangspunkte – die Studien von Karl-Heinrich Bette und Uwe Schimank zum Zuschauersport angelegt: Auch sie erkennen das Publikumserleben im Sport in seiner Eigenlogik grundsätzlich an, auch sie würdigen es aber primär als psychisches »Erlebniskorrelat« und suchen die Erklärung für die Zuschauerattraktivität des Sports daher ebenfalls letztlich nicht in sozialen Formen des Sporterlebens, sondern im Ausgleich von »Verlusterfahrungen« moderner Individuen (Bette 1989, 2005; Bette/Schimank 1995a, 1995b, 2000). Die Kompensationslogik lässt sich hier am Gebrauch des Spannungsbegriffs selbst ablesen: Die Spannung des Sports wird als »harmlose« Spannung beschrieben und der belastenden »ernsthaften« Ungewissheit des sonstigen modernen Lebens gegenübergestellt (Schimank 1988: 196; Bette 1989: 174). Ein Aspekt dieser Gleichsetzung des Publikumserlebens mit ›harmlosem‹ psychischem Erleben ist, dass das Publikum tendenziell zu einem Umweltphänomen herabgestuft wird, auf das der Sport im Prinzip auch verzichten könnte, das er aber durch Kompensationsverlockungen und andere Tricks gleichwohl an sich zu binden weiß (in den Konsequenzen deutlich bei Riedl [2006]). Die Folgen dieser Argumentation lassen sich unabhängig von sonstigen theoretischen Präferenzen (für Figuration und Zivilisation bei Elias/

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Dunning, für Kommunikation und Ausdifferenzierung bei Bette/Schimank) daran ablesen, dass die Eigendynamik (›Autonomie‹) des modernen Sports von beiden akzeptiert wird (bei Elias unter dem Begriff »sportization«, z.B. Elias 1986: 151; mit Bezug auf die Globalisierungsdebatte Maguire 1999; zur »gefährlichen« Autonomie des Sports Schimank 2005), aber letztlich nicht zur historischen Erklärung eingesetzt wird. Besonders auffällig ist dies in der Systemtheorie, deren Vertreter ja sonst – und m.E. zu Recht – Wert darauf legen, die Dynamik eines Systems primär aus seiner Eigenlogik und Selbstreferentialität erklären zu wollen. Umso auffälliger ist, dass die Mehrheit der systemtheoretischen Sportsoziologien den modernen Sport als ›autotelische Aktivität‹ versteht, die ihre Entstehungs- und Differenzierungsdynamik nicht primär aus eigenen Ressourcen, sondern aus Leistungsbeziehungen mit anderen Teilsystemen wie Medizin, Politik, Massenmedien und Wirtschaft beziehe, und daher mehr als diese davon abhängig sei, sich in Intersystembeziehungen als nützlich zu erweisen – womit sie die wesentlichen Gründe für die Dynamik des Sports gewissermaßen in die Umwelt des Systems verschiebt (Schimank 1988; Bette 1989; Cachay/Thiel 2000; Riedl/Cachay 2002; anders nur Stichweh [1990, 1995], der die Differenz von Spiel und Sport stärker betont und auf die »Prominenz des Leistens als Leisten« im modernen Sport abstellt). Diese kompensatorischen Argumentationsverfahren scheinen maßgeblich dazu beigetragen zu haben, dass die sozialen Voraussetzungen des Spannungserlebens im modernen Sport auch in Ansätzen, die sich für seine Eigendynamik und Eigenlogik interessieren, unterbelichtet geblieben sind: Beide Argumentationen gehen von soziologischen und historischen Fragestellungen aus, münden aber letztlich in primär anthropologisch oder sozialpsychologisch gebauten Erklärungsmodellen. Sie haben daher die Aufmerksamkeit auf die eigenständige Spannungsproduktion des modernen Sports lenken können – das ist ihr Vorzug –, sie aber von den sozialen Prozessen, die diese Spannungsproduktion historisch ermöglicht und reproduziert haben, abgezogen – das ist ihr Defizit. Sie laufen damit letztlich auf empirisch nicht gedeckte funktionalistische Reduktionen komplexer historischer Fragestellungen hinaus, die in der Soziologie weit verbreitet sind, von Historikern und historischen Soziologen aber zu Recht kritisiert werden (z.B. Tilly 1984). Folgt man dieser Kritik, ist die Frage nach der Spannungsproduktion im Sport auch deshalb interessant, weil sie Anlass gibt, die Frage nach der Entstehung und Typik des modernen Sports konsequent

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als historisch-soziologische Frage zu behandeln – und genauer nach den historischen Möglichkeitsbedingungen des modernen Sports zu fragen.

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Mit dem Ausdruck ›Möglichkeitsbedingungen‹ ist der Weg angedeutet, der von dieser Kritik zur Kontingenz des modernen Sports führt und diese mit der Kontingenz im Sport verbindet. Man kann dies an einem Begriff der Kontingenz erläutern, der auf beide Aspekte passt, aber je nach Verwendung auf unterschiedliche Probleme aufmerksam macht. Dieser Begriff verknüpft die Negation von Unmöglichkeit mit der Negation von Notwendigkeit. Etwas ist kontingent, wenn es weder unmöglich noch notwendig, also so-aber-auch-anders-möglich ist, und dieses »›auch anders möglich sein‹ bezeichnen wir mit dem traditionsreichen Terminus Kontingenz«. (Luhmann 1984: 47; gesellschaftstheoretisch Luhmann [1992]; für eine ideengeschichtliche Einordnung Makropoulos [2004]) Bei Luhmann dient dieser Begriff jedoch nicht allein als Beschreibungskategorie, sondern auch als wissenschaftliche Erkenntnisstrategie (z.B. Luhmann 1981): Wer etwas für kontingent erklärt, fingiert etwas, was anderen als normal und selbstverständlich erscheinen mag, als unwahrscheinlich und unselbstverständlich, und hält damit Sachverhalte, die in einer weniger ›kontingenzempfindlichen‹ Perspektive als gegeben vorausgesetzt werden können, für erklärungsbedürftig. Das vermehrt die Zahl der erklärungsbedürften Fragen und gibt Anlass, nach den Bedingungen der Möglichkeit des zu erklärenden Sachverhaltes zu fragen. Wendet man diese Strategie auf den modernen Sport an, führt sie zu der Frage, wie der moderne Wettkampfsport möglich und normal werden konnte, obschon er, soziologisch gesehen, unwahrscheinlich und unselbstverständlich war (und ist): Welche spezifische Unwahrscheinlichkeitsschwelle musste der Wettkampfsport überwinden, um im 20. Jahrhundert zu einem mehr oder weniger selbstverständlichen Teil unseres Alltags zu werden? Mein Vorschlag zur Bestimmung dieser Unwahrscheinlichkeitsschwelle ist, dass das Interesse am Erleben von (und der potenziellen Teilnahme an) Wettkämpfen als unwahrscheinlich unterstellt werden sollte, solange es nicht durch eigene Teilnahme am Wettkampf, Zugehörigkeit zu einer Dorfgemeinschaft, Verwandtschaft, Freundschaft oder andere lokal vorgeordne-

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te sportexterne Interessen oder Beziehungen vorgeebnet ist. Mit anderen Worten: Das Interesse Dritter an Wettkämpfen versteht sich nicht von selbst, sondern ist erklärungsbedürftig. Die Pointe dieses Vorschlags lässt sich gut am Forschungsstand der sporthistorischen Literatur illustrieren, die sich in den letzten Jahrzehnten immer differenzierter mit der frühen Entstehungsphase des modernen Sports auseinandergesetzt hat, d.h. vor allem mit dem Übergang zu dem von Verbänden überwachten ›organized sport‹ in Großbritannien und den USA seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Das ist zugleich diejenige historische Phase, in der viele der noch heute charakteristischen Strukturen des modernen Sports entstanden sind, daher für die Arbeit an einer Theorie des modernen Sports von besonderer Bedeutung ist. In der Regel beschränken sich die Erklärungen von Historikern darauf, eine Reihe von Faktoren (v.a. Industrialisierung, Urbanisierung, Bevölkerungswachstum, neue Verkehrs- und Kommunikationstechniken, bürgerliche Leistungs- und Erziehungsideologien, Wettinteressen etc.) zusammenzustellen, die zur Modernisierung des Sports ›geführt‹ hätten und diese im Licht neuer Fakten neu zu gewichten (zur Übersicht Holt 1989; Gorn/Goldstein 1993; Tranter 1998; für instruktive Einzelstudien Adelman 1986; Goldstein 1989; Eisenberg 1999). So differenziert einzelne Sportarten und Klassenmilieus in dieser Literatur untersucht wurden, so selten wurde jedoch versucht, die Probleme näher zu benennen, die im Übergang zum modernen Sport überwunden werden mussten. Die instruktivste Problemformulierung, die ich gefunden habe, ist folgende: »A population dispersed over enormous distances was perhaps the single greatest obstacle to the growth of American Sports. During the nineteenth century […] improvements in communication and transportation plus the growth of the cities greatly aided in the solution to the problem of spatial separation.« (Rader 1990: 19) Nach dieser Formulierung war es das Problem der räumlichen Trennung, das der Entwicklung des Sports entgegenstand und durch Industrialisierung, Urbanisierung usw. gelöst wurde. Das scheint auf den ersten Blick plausibel, zumal wenn man die Modernisierung des Sports mit einer Transformation zum ›Weltsport‹, also mit einem Prozess auch der räumlichen Ausweitung in Zusammenhang bringt (in diesem Sinne explizit auch Adelman 1981; Stokvis 1992). Wendet man die eben angedeutete Prämisse der Kontingenz des modernen Sports konsequent auf die Entstehungsphase des modernen Wettkampfsports an, wird jedoch deutlich, dass auch dieses Problem zu voraussetzungsvoll definiert ist: Weshalb war die räumliche

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Trennung eigentlich nach der Jahrhundertmitte plötzlich zu einem ›Problem‹ geworden? Weshalb sollten sich Sportler und Publikum für entfernt stattfindende Wettkämpfe überhaupt interessieren und es als Mangel empfinden, keinen Zugang zu ihnen zu erlangen? Weshalb hätte man nicht weiterhin Spiele und Wettkämpfe als lokale Veranstaltungen mit lokaler Relevanz begreifen können, so wie man es, bei allem Interesse an Wettkampf und Wetten, das sich durch die gesamte frühe Neuzeit (Behringer 2009) sowie insbesondere in Großbritannien seit dem späten 17. Jahrhundert beobachten lässt (Brailsford 1999; Harvey 2004), in den Jahrzehnten und Jahrhunderten zuvor stets gehalten hatte? Beide Problemformulierungen sehen die Hauptbeschränkung im Übergang zum modernen Sport überwunden in der Limitation auf lokale, d.h. räumlich und sozial limitierte Wettkampfkulturen; der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass es in der von mir vorgeschlagenen Formulierung auf Fragen der räumlichen Ausweitung nur sekundär, d.h. als Teil- oder Folgeproblem eines allgemeiner formulierten Problems ankommt: Das Interesse am überlokalen Leistungsvergleich versteht sich nicht von selbst, sondern will geschaffen und auf Dauer gestellt sein, und dieses grundlegende Problem muss eine Sportart immer mit lösen, wenn sie sich über lokale Vergleichskontexte hinaus zur ›Weltsportart‹ entwickeln will. Zum näheren Verständnis dieser Unterscheidung hilft ein weiterer Ausflug in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, nun erweitert um einen Kontrast zur Ausgangslage vor dem Umbruch seit den 1860er Jahren. Zu ihr vermerkt eine klassische Studie zum amerikanischen Sport, dass » […] the sport calendar of the 1840's and 1850's was anything but continuous from January to December. There was little to write about in the winter months, the organization of sport was still in its formative stage, prize fights or athletic contests were held only sporadically, and the public mind was not yet ready for the intensity of exploitation which characterized the press of the decades following the Civil War.« (Betts 1953: 245) Die fehlende Kontinuität, auf die in diesem Zitat hingewiesen wird (und auf die es mir hier ankommt), ist nicht mit Bedeutungslosigkeit der Wettkampfkulturen des frühen 19. Jahrhunderts zu verwechseln. Die sporthistorische Literatur der letzten Jahrzehnte hat eindringlich gezeigt, welches quantitative Ausmaß und welche organisatorische Komplexität der frühneuzeitliche Sport insbesondere in Großbritannien und den Vereinigten Staaten bereits erreicht hatte, und ganz besonders im frühen 19. Jahrhundert, als Geselligkeitsmotive

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und Wettinteressen offenbar eine fruchtbare Allianz eingegangen waren (detailliert Harvey 2004). Fehlende Kontinuität meint also nicht, dass es nur wenige Wettkämpfe gab, sondern dass die durchaus zahlreich vorhandenen noch kaum in einen gemeinsamen Deutungskontext integriert waren. Was aber macht den Übergang von dem in lokale Wett- und Geselligkeitskontexte aufgeteilten Betrieb der 1840er und 50er Jahre zum kontinuierlichen Betrieb aus, wie er sich im Wesentlichen bis heute erhalten hat? Meine These ist, dass die Überwindung dieser Unwahrscheinlichkeitsschwelle auf einer Transformation der Kommunikations- und Beobachtungsverhältnisse beruhte, die sich in den 1860er Jahren abzeichnete und durch neue Formen der öffentlichen Wettkampfberichterstattung in einer telegraphisch unterstützten Fach- und Tagespresse angestoßen wurde (für eine ausführlichere Analyse Werron 2010: 225-382). Diese öffentliche Selbstbeobachtung, anfangs vor allem betrieben von Sportpublizisten, die spezialisierte Fachzeitschriften und Jahrbücher herausgaben, setzte ein Zusammenspiel von drei ›modernen‹, einander wechselseitig plausibilisierenden Prozessen in Gang: (1) die zunehmende Vereinheitlichung der Wettkampfbedingungen (insbesondere durch einheitliche Wettkampfregeln, Spielfelder und -geräte, Einführung von Schiedsrichtern usw.), (2) die Einführung und Stabilisierung eines hierarchisierten und kontinuierlichen Wettkampfbetriebs (mit Leistungsklassen, Ligensystemen, Weltmeisterschaften etc.); schließlich (3) die Proliferation erweiterter und verfeinerter Leistungskriterien (wie Rekorde, Statistiken, Legenden etc.). Die grobe Chronologie der Innovationen lässt sich am Beispiel der zentralen Innovationen in früh professionalisierten Mannschaftsportarten wie Baseball (USA) und Fußball (Großbritannien) nachvollziehen: Seit den 1860er Jahren expandierte die Sportpresse und begannen sich ›associations‹ für die Überwachung der Regeln verantwortlich zu machen, seit den 1870er Jahren bildeten sich zunächst im Baseball und Fußball erste Cup- und Ligensysteme, die die Bestimmung von ›champions‹ systematisierten, seit den 1880er Jahren wurde zunehmend mit ¾world championships‹ sowie ›internationals‹ (Länderspielen) experimentiert, und all diese Formen formierten sich im Zusammenspiel mit neuen Formen der Wettkampfberichterstattung in Organen wie football annuals und anderer Sportliteratur, die Ende der 1880er Jahre dann auch schon auf die Geschichte ganzer Sportarten zurückblicken und sie statistisch erfassen konnte (für das diesbezüglich besonders beeindruckende Baseball z.B. Harris 1889). Wie diese Daten andeuten, lässt sich

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die erstmalige Konsolidierung dieses Zusammenspiels ziemlich präzise auf den Zeitraum zwischen etwa 1860 und 1890 datieren, nicht zufällig derselbe Zeitraum, in dem sich auch das Telegraphienetz in Großbritannien und den USA als mehr oder weniger selbstverständliche kommunikative Infrastruktur etablierte. Im Zusammenspiel dieser Innovationen setzte sich die für den modernen Sport typische Vorstellung eines gleichzeitigen globalen Leistungsvergleichs unter Abwesenden durch, versinnbildlicht durch den neuen Begriff des ›Rekords‹, der sich in den 1880er Jahren insbesondere in den cgsSportarten durchsetzte, d.h. einer weltweit anerkannten (oder anzuerkennenden) Leistung, die bislang unübertroffen ist, aber im Prinzip jederzeit und überall übertroffen werden kann (Mandell 1976). Dieses universale Vergleichsarrangement konsolidierte sich zunächst weitgehend in nationalem Rahmen (zuerst wohl im amerikanischen Baseball), bildete aber in diesem Rahmen bereits früh Ansprüche auf globale Bedeutung aus, die sich auch in der gehäuften Austragung von ›Weltmeisterschaften‹ seit den 1880er Jahren ausdrückten (zu den für diese Logik besonders typischen frühen ›world championships‹ im Baseball Lansche 1991). Um 1900, als viele der eben aufgeführten Formen erste Stabilität gewonnen hatten und die ersten Olympischen Spiele ausgetragen worden waren, kann daher im Prinzip von ›Weltsportarten‹ gesprochen werden, deren faktische Reichweite freilich in der Regel noch beschränkt war, jedenfalls nicht in einem räumlichen Sinne ›global‹, und es in vielen Sportarten bis heute geblieben ist. Historisch ist der Haupteffekt dieser Entwicklungen daher weniger in der faktischen Expansion zu sehen als in einer imaginativen Transformation, der Entstehung eines neuen »Möglichkeitssinns« (Musil), die es vorstellbar werden ließen, jeden Wettkampf in einem universalen Vergleichshorizont zu interpretieren und zu erleben. Nur in diesem erweiterten Horizont konnten räumliche Distanzen als ›Probleme‹ erscheinen, die dann durch weitere Wettkampfformen, neue Verkehrstechniken (Auto, Flugzeug), internationale Verbände usw. ›gelöst‹ werden konnten. So gesehen waren Raumprobleme nicht das Ausgangsproblem des modernen Sports, sondern lediglich Teil oder Folge von ›Horizonterweiterungsproblemen‹, die in einem Zusammenspiel genuin sozialer Innovationen bewältigt werden mussten.

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3. K ONTINGENZ IM S PORT Was folgt aus dieser Problemformulierung und diesem historischen Erklärungsmodell für eine Analyse der Spannungsproduktion im modernen Sport? Ich hatte schon angedeutet, dass man der sozialen Struktur aller Wettkämpfe – d.h. auch aller vor-modernen – ein Spannungspotenzial zuschreiben kann. Für die Gewichtung dieser Einsicht ist es freilich wichtig zu sehen, dass Spannung nur eines unter mehreren Potenziale dieser Art darstellt. Wettkämpfe lassen sich näher bestimmen als zeitlich, räumlich und sozial limitierte Leistungsvergleiche, die den Vergleich von Leistungen in räumlich, zeitlich und sozial gedrängter Form zur Darstellung zu bringen (von den zehn Sekunden eines 100-Meter-Laufs zu den fünf Tagen eines Kricketspiels, von einem Quadratmeter im Schach bis zur mehreren 100 Kilometern in einem Radrennen, von den zwei Teilnehmern eines Boxkampfes bis zu den mehreren 1000 eines Stadtmarathons). In diesem Sinne bildet jeder Wettkampf eine ›lokale‹ Sinninsel, in der ein bestimmtes Spektrum von Erlebnismöglichkeiten angelegt ist: Wer einen Wettkampf erlebt, kann sein Interesse auf die Leistungsdimension richten, d.h. auf Sieg und Niederlage und Anerkennung oder Kritik einzelner Leistungshandlungen (Leistung), auf die Ereignishaftigkeit des Wettkampfes selbst (Präsenz), auf die Identifikation mit einer der Wettkampfparteien (Identifikation), auf den ergebnisoffenen, anders-möglichen Verlauf des Wettkampfes (Kontingenz), oder auch auf mehrere oder alle dieser Potenziale zugleich. Entsprechend lässt sich der moderne Sport auch historisch daraufhin beobachten, wie moderne Sportarten diese Erlebnispotenziale zu nutzen und aufeinander abzustimmen gelernt haben: Leistungen können in historische Vergleiche und umfassende Leistungsstatistiken eingebettet und so mit zusätzlicher ›legendärer‹ Bedeutung aufgeladen werden, die Präsenz der Wettkämpfe kann in ›Großereignissen‹ und einer ästhetischen Semantik der Einzigartigkeit und einmaligen Atmosphäre kultiviert, Identifikation kann in ›Fandogmatiken‹ zu einer Tradition erhoben und zur identitätsstiftenden Abgrenzung von anderen genutzt werden, und all diese Erlebnispotenziale können sowohl durch neue Veranstaltungsformen (von der Leistungsseite her) als auch durch neue Beobachtungsformen (von der Publikumsseite her) kultiviert und stabilisiert werden. Der moderne Sport entsteht, indem er sich die Potenziale der Begrenzung der Wettkampfform durch Transzendierung ihrer Grenzen zunutze macht.

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Der Übergang zum modernen Sport, so die entsprechende konkretisierende These zum Spannungserleben, beruht auf einem Prozess, durch den Sportarten lernten, der ›singulären‹ Ergebnisoffenheit einzelner Wettkämpfe eine Vielzahl projizierter Kontingenzmomente hinzuzufügen. Je mehr sich das Zusammenspiel zwischen einzelnen Wettkämpfen und kontinuierlichen Wettkampfbetrieben stabilisierte, desto deutlicher kristallisierte sich neben einer ›lokalen‹ Variante des Kontingenzerlebens eine ›kontextualisierte‹ und ›globalisierte‹ Variante heraus, die sich auf den Vergleich zahlreicher Wettkämpfe und einen entsprechenden Reichtum von Verweisungsmöglichkeiten stützte. Neben die Kontingenz der Wettkämpfe tritt eine laufende Projektion von ›Andersmöglichkeiten‹, eine Kontingenz in Serie, die es erlaubt, nicht nur den Wettkampfverlauf als solchen spannend zu finden, sondern auch, ob sein Verlauf den aus vergangenen Wettkämpfen abgeleiteten Erwartungen gerecht wird: Wird die Fußballmannschaft A nach diesem Spiel in der Tabelle weiter steigen oder fallen, wird der Leichtathlet B den seit vielen Jahren geltenden Rekord endlich brechen, wird der Baseballspieler C seine Strähne von ›hits‹ fortsetzen, kann der Basketballspieler D seinen Ruf als bester Spieler dieser Saison, diese Jahrzehnts oder aller Zeiten festigen usw.? Das spezifisch moderne Spannungserleben ist also nicht einfach mit dem Erleben ergebnisoffener Wettkampfverläufe gleichzusetzen, es speist sich vielmehr aus der Stabilisierung dieses Erlebens: der systematischen Erhaltung und ständigen diskursiven Anreicherung von Ergebnisoffenheit in Wettkampfbetrieb und Sportdiskurs. Unter den historischen Innovationen, die die Stabilisierung dieses zweiten, seriellen Kontingenzerlebens möglich gemacht haben, sind neben der Vereinheitlichung und globalen Diffusion der Wettkampfbedingungen sowie einem narrativ und statistisch zunehmend ausgefeilten Sportdiskurs zwei besonders hervorzuheben: (1) die hierarchische Unterscheidung von Leistungsklassen, die die Eindeutigkeit der Leistungszurechnung mit prinzipiell unbeschränkter Aufnahmefähigkeit für die Inklusion von Teilnehmern verbinden; (2) kontinuierliche Ligen- bzw. Seriensysteme, die die Teilnehmer (Athleten, Clubs, Nationalmannschaften) bestimmter Leistungsklassen immer wieder neu aufeinandertreffen lassen und dem Vergleich und der Evaluation aussetzen. Beide ergänzen sich in der Produktion ›serieller‹ Kontingenz: Während die Zuordnung ähnlich Leistungsstarker zu gemeinsamen Leistungsklassen dafür sorgt, dass sich die Leistungsunterschiede zwischen den Wettkampfparteien in Grenzen halten, sorgt die Or-

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ganisation in kontinuierlichen Wettkampfbetrieben dafür, dass diese Leistungsunterschiede immer wieder neu dem Vergleich ausgesetzt werden können. Beides garantiert, dass alle Leistungen, Siege und Niederlagen im Kontext des kontinuierlichen Wettkampfbetriebs vorläufig bleiben, was den Blick auf den jeweils nächsten Wettkampf lenkt – ›immer der schwerste‹ – und die Spekulation über mögliche Rückschlüsse von vergangenen auf den Verlauf zukünftiger Wettkämpfe stimuliert. Auf diese Weise werden insbesondere Favoriten geschaffen (die dem ständigen Risiko von Leistungsschwankungen und Zufällen ausgesetzt werden) als auch Außenseiter, die trotz vergangener Misserfolge auf zukünftige Erfolge hoffen können und ihren Anhängern Anlass zu entsprechenden Hoffnungen geben. Vor allem aber entsteht ein Sportpublikum, dass Zusammenhänge zwischen vielen Wettkämpfen einer Sportart herzustellen vermag und dessen Faszination am Sport sich primär auf umfangreiches Wissen und das kontinuierliche Verfolgen des Wettkampfbetriebs abstützt. Da sich die Beziehung zwischen singulärer und serieller Kontingenzproduktion in vielen Sportarten heute weitgehend stabilisiert hat, fällt nur noch selten auf, dass diese beiden Erlebnisdimensionen nicht etwa von Natur aus harmonieren, sondern auch in Konflikt geraten können (woran die Einrichtung von Ligasystemen auch tatsächlich in den meisten Fällen gescheitert ist; hierzu eindrucksvoll Brucato 2001).3 Kontinuierlicher Leistungsvergleich und serielle Kontingenzproduktion setzen ja voraus, dass auf viele vergleichbare, d.h. prinzipiell gleichen Bedingungen unterliegende und nach gleichen Leistungskriterien beurteilbare Leistungen zurückgeblickt und aus diesen Erwartungen auf künftige Wettkampfleistungen abgeleitet werden können. Die Wettkämpfe müssen m.a.W. einander so ähnlich gemacht werden, dass sie vergleichbar erscheinen. Das kann – paradox formuliert – nur gelingen, wenn sich die Wettkämpfe nicht unterscheiden, d.h. wenn sie soweit identisch sind, dass jede Wettkampfleistung plausibel einem gemeinsamen Vergleichskontext zugerechnet werden kann. Achtet man auf solche Vereinheitlichungseffekte, wird deutlich, dass von ihnen

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Das lässt sich auch an der Entstehungsphase des Ligasystems beobachten: Die erste Profiliga überhaupt, die National Association of Professional Base Ball Players (NAPBBP) von 1871, löste sich nach wenigen Jahren wieder auf, u.a. weil sich das Leistungsniveau der Mannschaften zu weit auseinander entwickelt hatte (Goldstein 1989: 134ff.).

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auch Folgeprobleme für das Spannungspotenzial der Wettkämpfe ausgehen können: die Langeweile, die droht, wenn sich einzelne Sportler oder Teams dauerhaft als (zu) überlegen erweisen – als Favoriten gewissermaßen, die nicht mehr scheitern können –, so dass der Rückblick auf vergangene Wettkämpfe so vollständig über den Verlauf künftiger Wettkämpfe informiert, dass man sich vielleicht noch am Talent der Sportler (Leistung), an der Atmosphäre im Stadium/der Ästhetik der Bewegungen (Präsenz) oder an der Überlegenheit der eigenen Mannschaft (Identifikation) erfreuen mag, aber eben kaum mehr an der Vielfalt der Spekulationen über mögliche Ausgänge, die das serielle Kontingenzerleben ausmachen. Nur vor diesem Hintergrund werden weitere Maßnahmen verständlich, die sich im modernen Wettkampfsport nach und nach etabliert haben, um die ›Spannungsbalance‹ zwischen singulären und seriellen Kontingenzen zu erhalten, nämlich diverse Maßnahmen zur Erhaltung von competitive balance wie finanzielle Ausgleichsregelungen, Gehaltsobergrenzen (salary caps) oder Draft-Systeme zum Erwerb von Nachwuchsspielern, die in vielen Mannschaftssportarten heute eine wichtige Rolle spielen (und eine eigene ökonomische Forschung hervorgebracht haben; vgl. z.B. Fort/ Maxcy 2003). Sie sind ein besonders interessanter Hinweis auf die gezielte Kontingenzproduktion im modernen Sport, weil sie anders als Leistungsklassen und kontinuierlicher Betrieb als solcher dem Interesse am Erleben von Höchstleistungen auch widersprechen können. Denn eine (gewollte) Folge solcher Maßnahmen ist ja, dass die besten Spieler in Ligasystemen nur noch selten Gelegenheit bekommen, in ernsthaften Wettkämpfen miteinander (statt gegeneinander) zu spielen, was das Zustandekommen überragender, zuverlässig gewinnender Teams unwahrscheinlich macht (zur Geschichte dieser Maßnahmen und ihrer Effekte s. Leifer 1995). Sie sind daher ein exemplarischer Beleg dafür, dass es im modernen Wettkampfsport nicht allein um die Darstellung und den Vergleich von Leistungen, sondern um die Ausschöpfung sämtlicher Erlebnispotenziale der Wettkämpfe geht.4 Damit unterstreichen Maßnahmen zugunsten von competitive balance das hier vorgetragene Argument, dass Kontingenzerleben im modernen

4

Wohl nicht zufällig ist das Ligensystem, das von all diesen Maßnahmen derzeit am systematischsten Gebrauch macht, die amerikanische Football-Profiliga NFL, »viel ausgeglichener als alle vergleichbaren Ligen« (Dietl/Franck 2006), zugleich auch die populärste und finanziell erfolgreichste.

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Sport nicht mit ereignisbezogener Spannung gleichgesetzt werden darf, sondern auch mit der regulären Erwartbarkeit einer Vielzahl von Kontingenzmomenten zu tun hat, die von aufwendigen Wettkampfbetrieben und durch differenzierte Beobachtung hergestellt werden. Die seriellen Kontingenzen umfassenderer Vergleiche treten so mit den singulären Kontingenzen der Wettkämpfe in eine Steigerungs- und Spannungsbeziehung, die in jeder Sportart auf eigene Weise arrangiert wird sowie beständig neu formuliert und justiert werden muss. Je kontingenzfreundlicher die Wettkampfanordnung, desto größer daher die Zahl möglicher Verläufe, über die sich reflektieren, diskutieren und spekulieren lässt. Nur auf dieser zweiten Kontingenzebene ist daher wohl zu erklären, dass Sportarten, deren Wettkampfanordnungen für Täuschungen und Missverständnisse (z.B. zwischen Mannschaftsmitgliedern und -gegnern), natürliche Zufälle (Golf) und technische Defekte (Motorsport) und andere Unvorhersehbarkeiten im Grenzbereich zwischen Notwendigkeit und Unmöglichkeit offen sind (zu einer kleinen Kontingenztypologie von Sportarten, jedoch ohne Bezug auf die hier betonte sekundäre Ebene der Kontingenzproduktion, vgl. Gumbrecht 2010: 16f.), sich im 20. Jahrhundert zunehmend auch als die populärsten erwiesen haben. Historische Analysen dieser dualen Spannungsproduktion und ihrer Beziehungen zu anderen Erlebniswerten (d.h. Leistung, Präsenz und Identifikation) könnten daher auch dazu beitragen, die evolutionären Erfolgs- und Überlebensbedingungen von Sportarten besser einzuschätzen. Das leitende Prinzip aller Sportarten, um diesen zentralen Punkt noch einmal zu wiederholen, ist dabei, dass minimale Leistungsunterschiede immer neu dem Vergleich ausgesetzt, narrativ-statistisch ausgewertet sowie auf jeden bevorstehenden Wettkampf projiziert werden können.

4. S CHLUSS : F ÜR

EINE ›W ISSENSSOZIOLOGIE ‹ DES MODERNEN W ETTKAMPFSPORTS

Ich habe in diesem Aufsatz vorgeschlagen, von einer spezifischen Unwahrscheinlichkeitsschwelle des modernen Sports auszugehen und von dort die Kontingenzproduktion im modernen Sport zu erschließen: Sofern das Interesse an Wettkämpfen nicht durch eigene Teilnahme, persönliche Bekanntschaft oder andere sportexterne Beziehungen vorgeebnet ist, versteht es sich nicht von selbst, sondern will geschaffen und auf Dauer gestellt sein.

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Ausgehend von dieser Prämisse kann man zeigen, dass sich die historische Kontingenz moderner Sportarten auch in der Art und Weise ausdrückt, wie in ihnen Kontingenz inszeniert und interpretiert wird. Nur im modernen Sport, beginnend in den 1860er Jahren und angetrieben durch einen (von einer Allianz aus Presse und elektronischen Medien begünstigten) öffentlichen Leistungsvergleichsdiskurs, verfestigt sich die Vorstellung eines gleichzeitigen globalen Leistungsvergleichs unter Abwesenden, ein spezifisch moderner Möglichkeitssinn, der jeden Wettkampf in einem universalen Horizont weiterer Wettkämpfe zu deuten und zu inszenieren erlaubt. Moderne Sportarten zeichnen sich daher durch eine ›duale‹ Spannungsproduktion aus, die sich neben dem offenen Verlauf der Wettkämpfe selbst auch auf die beständige Spekulation über minimale Leistungsunterschiede im ›seriellen‹ Vergleichszusammenhang ganzer Sportarten abstützen kann. Für diese zweite Form des Kontingenzerlebens ist weniger entscheidend, wie der konkrete Wettkampf verläuft und wie ¿erregend‹ er auf die Psyche seiner Betrachter einwirkt, sondern welche Erwartungen aus der Geschichte einer Sportart gewonnen und auf jeden Wettkampf projiziert werden können. Auf dieser zweiten Ebene des Kontingenzerlebens sind die Kontingenz des modernen Sports – seine historischen Möglichkeitsbedingungen – und die Kontingenz im modernen Sport – sein eigener Möglichkeitssinn – unauflöslich miteinander verbunden (ausführlicher Werron 2010). Welche Konsequenzen könnten sich aus dieser Analyse für die weitere historisch-soziologische Erforschung der Kontingenzproduktion im modernen Sport ergeben? Sie legt zunächst eine begriffliche Konsequenz nahe: Angesichts der hier skizzierten sozialen Formen der Kontingenzproduktion und ihrer langfristigen historischen Konsequenzen empfiehlt es sich, den stark psychisch konnotierten Begriff der Spannung wissenschaftlich eher sparsam zu gebrauchen. ›Kontingenzerleben‹ mag nicht elegant klingen, ist aber der analytisch vorzugswürdige, da weniger psychisch konnotierte Begriff. Dieses Kontingenzerleben lässt sich nun in zwei Grundformen differenzieren: ›Spannung‹ kann man auf den speziellen Fall des eng an Wahrnehmungsprozesse gekoppelten Kontingenzerlebens einzelner Wettkämpfe einschränken, etwa auf ein als spannend (›packend‹, ›mitreißend‹, ›dramatisch‹ etc.) beschriebenes Fußballspiel, wenn beide Mannschaften in der Schlussphase auf ein entscheidendes Tor drängen. Davon zu unterscheiden ist das serielle Kontingenzerleben, das sich weniger den Wettkämpfen selbst verdankt als der Dauerspekulation darüber, was der Ausgang bevor-

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stehender Wettkämpfe für den weiteren Wettkampfbetrieb bis hin zur Geschichte einer ganzen Sportart bedeuten könnte (mit Betonung auf ›könnte‹, da es dieser Art des Erlebens ja um die laufende Projektion unsicherer Erwartungen, nicht um die Zuschreibung von Bedeutung als solche geht). Kontingenzerleben im ersten Sinne mag ein historisch mehr oder weniger universales Phänomen sein, im zweiten Sinne ist sie dagegen tatsächlich nur im modernen ›Weltsport‹ realisiert worden. Unterscheidet man diese beiden Formen, wird deutlich, dass sich das Kontingenzerleben im Sport seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend der Expertise von Sportbeobachtern verdankt, die Wettkampfleistungen in umfassenden Vergleichskontexten und innerhalb der Geschichte ihrer Sportart einordnen und sie damit auch für soziale und räumlich entfernte Beobachter interessant machen können. Diese Einsicht verdient auch deshalb zum Abschluss noch einmal betont zu werden, weil sie gleich zwei in der Sportsoziologie weit verbreiteten Vorurteilen widerspricht: Erstens dem Vorurteil, dass das ›excitement‹ im Sport primär die Funktion der Entlastung und Erholung von der Komplexität des modernen Lebens erfülle, das in den eingangs zitierten Ausgleichshypothesen von Norbert Elias, Karl-Heinz Bette/Uwe Schimank u.a. zum Ausdruck kommt. Folgt man der hier vorgeschlagenen Perspektive, entlastet der moderne Wettkampfsport gerade nicht primär von Komplexität und Kontingenz, sondern produziert und strukturiert sie systematisch selbst. Er setzt ein Publikum voraus und reproduziert es zugleich, das sich als Schreiber und Leser, Sprecher und Hörer von täglich neu produzierten Informationen ständig und aktiv mit Ungewissheit belastet. Schon frühe Beobachter der ›modern sports‹ wunderten sich daher gelegentlich, wie das beständige Verfolgen der Wettkämpfe als Erholung gelten könne »for those who have been thinking, reading, and talking about football all the week« (Mason 1980: 230)? Mir scheint, dann man dieser Einsicht auch dadurch Rechnung tragen sollte, dass man diese Ausgleichshypothesen weniger (jedenfalls nicht nur) als wissenschaftliche Theorien, sondern auch als historische Semantiken begreift, die den modernen Sport seit dem 19. Jahrhundert begleiten und auf die evolutionären Erfolgschancen des Sports und einzelner Sportarten Einfluss genommen haben. Einsichten in die konstitutive Rolle des Wissens im modernen Sport widersprechen aber auch einem weiteren Vorurteil, dessen Erschütterung mir für die künftige Forschung noch wichtiger zu sein scheint. Ich meine

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die Auffassung, dass der moderne ›Showsport‹ an ein immer unkundigeres Publikum adressiert würde, da er das Publikum auf den passiven Status eines weitgehend unkundigen Konsumenten reduziere (Bourdieu 1986) oder Wettkämpfe verurteile, einem immer unkundigeren Massenmedienpublikum vorgeführt zu werden (Meyer 1973; Schimank 1988). Das Gegenteil scheint mir zuzutreffen: Keine Wettkampfkultur ist je mehr auf die Expertise ihres Publikums angewiesen gewesen als der moderne Sport. Eine Soziologie des Sports, die dieser Einsicht Rechnung tragen will, müsste die entsprechende Wissensproduktion als konstitutiven Bestandteil des modernen Sports begreifen und eine Vielfalt von Wissensformen, die bislang kaum oder nur verstreut analysiert worden sind, in einen systematischen Zusammenhang zu bringen versuchen: von der Funktion und Geschichte der Sportstatistik (Tygiel 2000; Werron 2005a) über Formen visueller Legendenbildung (z.B. in Wiederholungssendungen von ›Sportklassikern‹), das Zusammenspiel visueller und kognitiver Wissensformen (Adelmann/Stauff 2003), das narrative »storytelling« in der Sportberichterstattung (Oriard 1993), Wechselgerüchte u.Ä. als Narrative und Unterhaltungsformen eigener Art (»rumour central«), die Datenproduktion und -verarbeitung in »fantasy leagues« (Davis/Duncan 2006), Formen institutionalisierter Gedächtnispflege (etwa Datenbanken oder »halls of fame«), die »mediale Vervielfältigung« der Beobachtungsformen des Sports (Stauff 2006), insbesondere die Reflexion und der Transfer sportlicher Motive in die Literatur (Oriard 1982; Leis 2000; Sicks 2008) bis hin zu Echtzeit-Kommentaroptionen im Internet. Untersuchungen, die solche Wissensformen im Kontext der Ausdifferenzierung einzelner Sportarten analysieren, könnten den Einfluss eines Expertenpublikums sichtbar machen, das in der sportsoziologischen Forschung bislang weitgehend übersehen worden ist. Es bedarf, könnte man dieses Plädoyer auch zusammenfassen, einer ›Wissenssoziologie‹ des Sports, die diese Beobachtungs-, Vergleichs- und Evaluationsformen als konstitutive Beiträge zum modernen Wettkampfsport analysiert. Folgt man der hier skizzierten Perspektive, wird man der Bemerkung des Philosophen Martin Seel, die Moderne feiere im Sport »die Mysterien ihrer Kontingenz« (Seel 1993: 98), zustimmen können. Man wird ihr aber hinzufügen müssen, dass sich dieses Kontingenzerleben nicht allein auf die Ästhetik der Wettkämpfe und die stets vom Scheitern bedrohten Anstrengungen der Sportler bezieht. Der Genuss von Kontingenz im modernen Sport stützt sich vielmehr auch auf eine Sportexpertise, die sich an ihrem

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eigenen Scheitern erfreut, auf ein Wissen, das Spannung erzeugt, weil es immer unvollständig bleibt, das aufgebaut wird, um sich vom tatsächlichen Verlauf der Wettkämpfe gezielt enttäuschen zu lassen. Es sind diese Publikumsexperten, diese soziologisch noch kaum gewürdigten Virtuosen der Selbstenttäuschung, für die gilt: »You never know. They are the best three words in sports.«

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Zur Anthropologie der Kontingenz des Sports ROBERT PROHL

P ROBLEMAUFRISS Spätestens seit der luhmannschen Formel von der ›doppelten Kontingenz‹ als Ausgangssituation zwischenmenschlicher Begegnung hat der Begriff ›Kontingenz‹ Konjunktur und ist in ironischer (Esser 1991) wie empirischer Absicht (z.B. Berger/Hammer: 2007) auch auf den Sport bezogen worden.1 Die wissenschaftliche Bearbeitung des Phänomens ›Kontingenz‹ ist jedoch wesentlich älter und nicht auf den Bereich der Sozialwissenschaften beschränkt. Die dem griechischen Philosophen Heraklit (ca. 500 v. Chr.) zugeschriebene Formel ›panta rhei‹ meint im Kern bereits das Phänomen der Kontingenz im zeitlichen Wandel. In der Statistik bezeichnet ›Kontingenz‹ das gemeinsame Auftreten zweier Merkmale, wobei die Frage beantwortet werden soll, ob dieses Auftreten zufällig, d.h. dessen Vorhersage ›ungewiss‹ ist. In gänzlich anderem Zusammenhang, aber im gleichen Sinne hat Gumbrecht (2010: 12) in jüngerer Zeit den Sport als »Feld der Kontingenz« einer kulturphilosophischen Betrachtung unterzogen: »Kontingent heißt, was weder notwendig noch unmöglich erscheint. Unter Bedingungen der Kontingenz eröffnen sich Felder aus Möglichkeiten, von denen uns in jedem Moment eine zufällt.« Temporal betrachtet sei die Zukunft der typi-

1

Auf den »guten Sinn der Unsicherheit« hat aus sportpädagogischer Sicht auch Hecker (1993) hingewiesen.

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sche Zeitmodus des Kontingenten, zumal wir seit der Aufklärung davon ausgehen, dass diese »offen«, d.h. nicht vorherbestimmt ist. Auch die Vergangenheit hält Gumbrecht (ebd.: 13) für einen Raum der Kontingenz, »weil sich das, was vorstellbar, aber nicht der Fall geworden ist, jedenfalls als vergangene Möglichkeit (als eine vergangene, nicht eingetretene Zukunft) projizieren lässt«.2 Retrospektiv hätte es eben immer auch anders kommen können. Die Gegenwart hingegen sei die »kontingenzfreie Dimension par excellence, die Dimension der Fälle, die uns zufallen« (ebd.). Der Sport nun stelle ein historisch bedingtes und kulturell formiertes Feld der »Feier und Steigerung des Kontingenten« (ebd.: 18) dar. Genau in diesem Punkt wird der Zusammenhang zwischen ›Kontingenz‹ und ›Sport‹ theoretisch interessant. Denn dass ›Ungewissheit‹ (des Ausgangs) nicht nur ein wesentliches, sondern das entscheidende Merkmal des Sports ausmacht, ist spätestens seit der klassischen ›Kontingenzformel‹ des Fußballspiels von Sepp Herberger öffentliches Gemeingut: »Der Ball ist rund.«3 Insofern ist dieser Zusammenhang längst bekannt und geradezu trivial: Wenn der Ausgang des Spiels nicht offen ist, ist es kein Sport. Ob dieser Zusammenhang deshalb, um der Unterscheidung von Hegel zu folgen, auch zureichend erkannt – also verstanden – ist, bleibt aber fraglich. Es ist nämlich bisher noch offen geblieben, aus welchen Gründen Menschen solches überhaupt tun, welchen (Mehr-)Wert sie erfahren, wenn sie einen Ball mit präzisionsmotorisch wenig geeigneten Körperteilen zu kontrollieren versuchen und sich dabei auch noch gegenseitig behindern – um beim Beispiel Fußball zu bleiben. Um das Erkennen im Sinne des Verstehens dieser Phänomene der Kontingenz soll es im Folgenden gehen, wobei zwei Fragestellungen fokussiert werden:

2

Dieser Deutung von Gumbrecht kann natürlich entgegengehalten werden, dass gerade die Vergangenheit keine Möglichkeit des »Andersseins« mehr bietet und deshalb »dem Reich der unwiderruflichen Tatsachen« (Herzog 2002) angehört, also eben keine Kontingenz aufweist. Die temporalen Perspektiven der Institution »Sport« werden im weiteren Verlauf dieses Beitrags wieder aufgerufen werden.

3

Franz Beckenbauer hat daraus die ultimativ-kontingente Spielstrategie abgeleitet: »Schau’n mer mal.« Beide Bundestrainer wurden mit den jeweiligen Nationalmannschaften bekanntlich Fußballweltmeister.

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Was ist unter ›Steigerung der Kontingenz‹ im Sport zu verstehen? Genauer: Wozu und wie steigert man Ungewissheit (statt sie zu reduzieren)? Was wird dabei ›gefeiert‹? Genauer: Wozu und wie feiert man Ungewissheit (statt sie zu vermeiden)?

Das Besondere und damit auch das spezifisch Bereichernde der Kontingenz des Sports können nur im Rahmen von und in Differenz zu einer allgemeinen Betrachtung der Kontingenz des menschlichen Daseins in den Blick geraten. Aus diesem Grund werden zunächst (1) die anthropologischen Grundlagen der Kontingenz als ›conditio humana‹ erörtert, die insbesondere in der Denkfigur der ›exzentrischen Positionalität‹ von Helmuth Plessner, wenn auch nicht unter diesem Begriff, eine zentrale Rolle einnimmt. Dabei wird sich zeigen, dass gerade das Bewusstsein seiner Kontingenz dem Menschen zwar Freiheitsgrade schafft (›frei zu‹), auf der Gegenseite aber auch mit einem Lastcharakter behaftet ist, denn das auf Kontingenz gestellte Wesen ›Mensch‹ ist auch ›frei von‹ Sicherheit, wobei diese Form der Freiheit nicht frei gewählt, sondern wesensmäßig, gleichsam ›schicksalhaft‹ auferlegt ist. Die soziokulturelle Antwort auf diese ›Unfreiheit der Freiheit‹ (sprich: Kontingenz) sind ›Institutionen‹, deren anthropologische Bedeutung anschließend (2) mit Blick auf das menschliche Handeln erörtert wird. Dem ›Sport‹ als einer bewegungskulturellen Institution kommt in diesem Denkmodell eine Ungewissheit nicht etwa bewältigende, sondern vielmehr thematisierende Funktion zu, so dass sportliche Handlungen als »besondere Tätigkeiten« (Schürmann 2001) zu verstehen sind. Davon soll in Abschnitt 3 die Rede sein, bevor ein abschließendes Fazit (4) mögliche Erträge der Kontingenzerörterungen zusammenfasst und auf die beiden eingangs aufgeworfenen Fragestellungen bezieht.

1 D IE

EXISTENZIELLE K ONTINGENZ DER › CONDITIO HUMANA ‹

»Der Mittelpunkt außerhalb«, auf diesen kurzen Nenner bringt Eßbach (1994) die Denkfigur der ›exzentrischen Positionalität‹, mit der Helmuth

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Plessner die ›conditio humana‹ zu erfassen versucht.4 Deren charakteristisches Merkmal ist die Selbstverborgenheit des Menschen, der ›Homo Abscondidus‹. Um diese prinzipielle und nicht etwa nur epistemische Unergründlichkeit nachzuvollziehen, bedarf die Denkfigur ›exzentrische Positionalität‹ einer näheren Erläuterung, die Plessner in seinem Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928)5 entwickelt. ›Positionalität‹ ist bei Plessner das Kennzeichen eines jeden lebendigen Körpers und ermöglicht ein spezifisches Verhältnis des Körpers zu seiner Grenze, die wiederum als Medium zwischen dem Organismus und seiner Umwelt fungiert: Während der umgebende Raum die Grenze eines unbelebten Körpers (z.B. eines Steines) ist, steht ein organischer Körper in einer Beziehung zu dem Raum um ihn herum und somit in einem Verhältnis zu seiner Grenze (vgl. Plessner 1975: 103f.). Während Tiere6 nach Plessner ›zentrisch positioniert sind und ›aus ihrer Mitte heraus‹ im ›Hier und Jetzt‹ leben, können Menschen in ein Verhältnis zu sich selbst treten. Tiere ›sind‹ ihr Leib und gehen im Erleben auf, Menschen ›haben‹ zudem einen Körper und können sich zusätzlich auf ihr Erleben beziehen – sich also beim Erleben erleben. Der Mensch steht gleichsam »neben sich«, ohne sich zu verlassen. Dafür braucht es einen Abstand des Menschen zu seinem erlebenden Zentrum, der im Begriff der ›ex-zentrischen‹ Positionalität zum Ausdruck kommt: »Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld.« (Ebd.: 292) Für den weiteren Gedankengang hinsichtlich der spezifischen Kontingenz des Sports sind insbesondere die Konsequenzen für das menschliche Leibverhältnis von Bedeutung. Der Mensch als Person ist nach Plessner ein Dreifaches:

4

Zur Aktualität der Philosophischen Anthropologie Plessners in der allgemeinen Philosophie vgl. Fischer (2000), Kämpf (2001: 111ff.); in der Sportphilosophie Schürmann (2000, 2007), Meinberg (2006).

5

Im Folgenden zitiert aus der 3. Auflage (1975).

6

Dass Plessner nicht zwischen höheren bzw. niederen Tierarten differenziert und die Primatenforschung inzwischen Zweifel an der Apodiktik dieser Einteilung anmeldet, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang sind ausschließlich die Merkmale der exzentrischen Positionalität der menschlichen Existenz jenseits von Mensch/Tier-Vergleichen (vgl. dazu Brandt 2009).

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»Das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches positional derart dreifach charakterisiert ist, heißt Person. Es ist das Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und seiner Aktionen, seiner Initiative. Es weiß und es will. Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt.« (Ebd.: 293)

In drei paradox formulierten »anthropologischen Grundgesetzen« fasst Plessner schließlich zusammen, wie der Mensch – auf »Nichts« gegründet – »dieser seiner Lebenssituation gerecht« wird (ebd.: 309). Das Gesetz der ›natürlichen Künstlichkeit‹ Dieses erste ›Grundgesetz‹ prägte ein geflügeltes Wort der Pädagogik als die anthropologische Begründung von Erziehung und Bildung schlechthin: »Als exzentrisch organisiertes Wesen muss er sich zu dem, was er schon ist, erst machen. […] Der Mensch lebt nur, indem er ein Leben führt.« (Ebd.: 309f.) In dieses Wissen um den Zwang zur Freiheit mischt sich »der Schmerz um die unerreichbare Natürlichkeit der anderen Lebewesen« (ebd.: 310), die er mit anderen Mitteln ausgleichen muss. Darum ist der Mensch von Natur aus künstlich: »Als exzentrisches Wesen nicht im Gleichgewicht, ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos, muss er ›etwas werden‹ und sich das Gleichgewicht – schaffen.« (Ebd.) Eben darin liegt die Notwendigkeit ein »Komplement nicht-natürlicher, nichtgewachsener Art« (ebd.) zu schaffen, »[…] das Movens für alle spezifisch menschliche, d.h. auf Irreales gerichtete und mit künstlichen Mitteln arbeitende Tätigkeit, der letzte Grund für das Werkzeug und dasjenige, dem es dient: die Kultur« (Ebd.: 311). ›Kultur‹ ist in der Philosophischen Anthropologie Plessners der Ausdruck der ›konstitutiven Gleichgewichtslosigkeit‹ der exzentrischen Positionalität und nicht Symptom einer verlorengegangenen und damit auch potenziell wiederzugewinnenden primären Natürlichkeit. Kurz gesagt: Kultur ist die Natur des Menschen. Der Mensch als exzentrisches Lebewesen steht deshalb nie in unmittelbarem Kontakt zur Welt, womit das zweite ›Grundgesetz‹ angesprochen ist:

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Das Gesetz der ›vermittelten Unmittelbarkeit‹ Die Situation des Menschen ist eine durch die Intention vermittelte zur Welt. Dies macht ihn zu einem handelnden Wesen. Da die Intention als solche im Vollzug der exzentrisch positionierten Weltvermittlung nicht bewusst wird, hat der Mensch im Alltag den Eindruck, dass er unmittelbar in Kontakt mit der Welt stünde »[…] und die naive Direktheit mit der ganzen Evidenz, die Sache an sich gepackt zu haben, kommt zustande« (Plessner 1975: 328). Jedoch wird das Wissen um die Vermittlung im Vollzug zwar »vergessen«, dadurch aber nicht »getilgt«: »Die Vermitteltheit des Weltbezuges bleibt bestehen und kann in der Reflexion durchschaut werden.« (Kämpf 2001: 69) Diese immanente Gebrochenheit des menschlichen Weltbezugs führt dazu, dass »echte Erfüllung der Intention, unmittelbare Beziehung des Subjekts zum Gegenstand seiner Bestrebung, adäquate Realisierung […] nur als vermittelte Beziehung zwischen personalem Subjekt und dem erzielten Objekt möglich (ist). Erfüllung soll von dort [der Welt; Anm. d. Verf., R.P.] und nicht von hier [dem Bewusstsein; Anm. d. Verf., R.P.] kommen. Erfüllung ist wesentlich das auch ausbleiben Könnende.« (Plessner 1975: 336)

Für den weiteren Gang der Erörterungen ist also festzuhalten, dass Kontingenz (das mögliche Ausbleiben des Intendierten) die Bedingung der Möglichkeit für die Erfüllung einer Intention darstellt, denn »die ursprüngliche Begegnung des Menschen mit der Welt, die nicht zuvor verabredet ist, das Gelingen der Bestrebung im glücklichen Griff, Einheit von Vorgriff und Anpassung, darf allein echte Erfüllung heißen.« (Ebd.) Gleichwohl ist diese Erfüllung nie von Dauer. Aufgrund seiner exzentrischen Gebrochenheit zur Welt, die einerseits das Fundament seiner Freiheit bildet, ist der Mensch andererseits dazu verdammt, das Gleichgewicht zwischen Intention und Welt stets aufs Neue herzustellen: »Durch seine Taten und Werke, die ihm das von Natur verwehrte Gleichgewicht geben sollen und auch wirklich geben, wird der Mensch zugleich aus ihm herausgeworfen, um es aufs Neue mit Glück und doch vergeblich zu versuchen.« (Ebd.: 339) Auch dieses Sisyphos-Moment, das der Kontingenz der menschlichen Existenz zu eigen ist, wird später in Verbindung mit der Kontingenzanalyse des Sports nochmals aufgerufen werden. Zuvor bleibt je-

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doch das dritte und letzte ›Grundgesetz‹ zu erörtern, das die beiden vorgenannten gleichsam umgreift. Das Gesetz des ›utopischen Standorts‹ Je nach Sichtweise zwingt die Exzentrizität den Menschen zur bzw. ermöglicht sie dem Menschen die Kultivierung seiner Umwelt und seiner selbst in Form eines Systems künstlicher Objekte7, die jedoch sämtlich den »Stempel der Vergänglichkeit« (ebd.: 341) tragen. Diese Vergänglichkeit erfährt er auch an sich selbst. Die Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit und korrelativ dazu der Nichtigkeit der Welt erweckt in ihm das Bewusstsein »der absoluten Zufälligkeit des Daseins« (ebd.). Will der Mensch in dieser grenzenlosen ›Zufälligkeit‹ (bei Heidegger: »Geworfenheit«) einen festen Punkt, einen ›Weltgrund‹, dann bleibt ihm nur die ›Zu-Flucht‹ in den Glauben: »Wie die Exzentrizität keine eindeutige Fixierung der eigenen Stellung erlaubt (d.h. sie fordert sie, hebt sie jedoch immer wieder auf – eine beständige Annullierung der eigenen Thesis8), so ist es dem Menschen nicht gegeben, zu wissen ›wo‹ er und die seiner Exzentrizität entsprechenden Wirklichkeit steht. Will er eine Entscheidung so oder so, – bleibt ihm nur der Sprung in den Glauben.« (Ebd.: 342)

Mit Blick auf die Frage, welche Bedeutung die Kontingenz für die menschliche Existenz hat, lässt sich der Ertrag der anthropologischen Analyse knapp zusammenfassen:9 Der Mensch als exzentrisch positioniertes Wesen, als ›Wesen der Lücke‹, ist sich selbst kontingent und darum ist die Welt für den Menschen kontingent. Dies ist ein Problem, das andere, z.B. ›zentrische‹ Lebensformen nicht haben. Gleichzeitig aber beinhaltet diese ›Geworfenheit‹ in die Kontingenz mit der ›Möglichkeit des Ausbleibens des Intendierten‹ die Be-

7 8

S.o. erstes anthropologisches Grundgesetz. Auch an dieser Stelle sei auf das Sisyphos-Moment der menschlichen Existenz hingewiesen, das zum anthropologischen Verständnis sportlichen Handelns w.u. aufgegriffen wird.

9

Wobei der Begriff ›Kontingenz‹ von Plessner nirgends, zumindest nicht zentral, verwendet wird.

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dingung für eine ›erfüllte Intention‹. Dies ist ein Potenzial, über das andere, z.B. ›zentrische‹ Lebensformen nicht verfügen. Allerdings gelten für die Kontingenz der menschlichen Existenz zwei Ausnahmen: • •

Die Nicht-Kontingenz der Kontingenz des Daseins selbst.10 Die Nicht-Kontingenz des ›Vorbei‹ (Heidegger), also das Wissen um die Gewissheit des eigenen Todes.

Diese beiden nicht-kontingenten Merkmale der ›conditio humana‹ – Gewissheit der Ungewissheit und Endlichkeit ԟ begründen die Rede vom Lastcharakter des Daseins (Heidegger). Um damit fertig zu werden, schafft sich der Mensch künstliche Sicherheiten. Diese können metaphysischer Natur sein, wie die von Plessner im ›utopischen Standort‹ thematisierte ›Flucht in den Glauben‹, also in die Religion. Der säkulare Weg des Umgangs mit der existenziellen Kontingenz, der Weg den z.B. die Aufklärung beschreitet und der für ein tieferes Verständnis des Sports von Bedeutung ist, liegt hingegen in der Schaffung von Institutionen, die dem individuellen Handeln Sicherheit verleihen.

2 I NSTITUTIONEN ALS A NTWORT AUF DIE K ONTINGENZ DES H ANDELNS Seit der anthropologischen Institutionenlehre von Gehlen (1961) wird in sozialwissenschaftlichen Theorien ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen den Begriffen ›Handeln‹ und ›Institution‹ gesehen: »Filtert man den übergreifenden Aspekt […] heraus, so wird der Begriff Institutionen verwendet im Sinne einer sozialen Ordnung, die für das menschliche Handeln Erwartungssicherheit bietet.« (Kuper/Thiel 2010: 483) Aus diesem Grund wird zunächst eine anthropologische Erörterung der Kontingenz des Handelns vorgenommen, bevor der Blick auf die Bedeutung und die Funktion von Institutionen gerichtet wird. Die dialektische Struktur der schicksalhaften Ungewissheit des Daseins, in der Anthropologie Plessners mit der ›exzentrischen Positionalität‹ auf

10 In Termini der plessnerschen Grundgesetze kann hier von der ›gewissen Ungewissheit‹ der menschlichen Existenz gesprochen werden.

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den Punkt gebracht, findet bei Kamlah (1973: 34ff.) in dem Begriffspaar »Widerfahrnis und Handlung« eine handlungsphilosophische Entsprechung.11 Wesentliches Anliegen dieser Unterscheidung ist die »Wiederentdeckung des Widerfahrnischarakters des menschlichen Lebens« (ebd.: 39). Nach Kamlah ist der Mensch aufgrund seiner Bedürftigkeit einerseits handelnd aktiv, wobei dieses Handeln einem »Begehren« folgt, »das erst nach mehr oder weniger ausgeprägtem Überlegen zu einem Entschluss und somit zu beabsichtigtem Handeln führt« (ebd.: 52). Andererseits ist der Mensch auch im selbst Handeln stets ›Widerfahrnissen‹ ausgesetzt. Handlungen gelingen oder misslingen, führen zu Erfolg oder Misserfolg oder auch zu unerwarteten Nebenfolgen, so dass es kein ›pures‹ (d.h. widerfahrnisfreies) Handeln geben kann, wohl aber Widerfahrnisse ohne Handeln (z.B. Schicksalsschläge oder auch Naturereignisse). Handlungen spielen sich also in widerfahrenden Situationen ab – die Widerfahrnis einer Situation veranlasst Handeln. Da Handlungen Bedürfnissen folgen, ist daraus zu schließen, dass Widerfahrnisse werthaft sind, denn sie »widerfahren uns aufgrund unserer Bedürftigkeit« (ebd.: 36). Der Unterschied zwischen ›gut‹ und ›schlecht‹ ist somit kein primär moralischer, sondern ein Unterschied der Widerfahrnis relativ zu einem spezifischen Bedürfnis: »Nehmen wir die Handlungen hinzu, dann ist der Unterschied von gut und schlecht zunächst der Unterschied von gelingen und misslingen.« (Ebd.) Mit Blick auf die Bedeutung der Kontingenz des sportlichen Handelns kommt der Widerfahrnischarakter in den Rückschlagspielen besonders deutlich zum Ausdruck. So sind z.B. im Tennis12 die Handlungen des einen Spielers die Widerfahrnisse des anderen, jedoch verwandelt sich auch der eigene Schlag als Handlung – im Gelingen oder Misslingen – unmittelbar in eine (werthafte) Widerfahrnis. Aus der Beobachtung, dass Handlungen Reaktionen auf (kontingent) widerfahrende Situationen sind und diese Widerfahrnisse stets eine Wertkomponente in sich tragen, ergibt sich für Kamlah der Pri-

11 Die folgende Interpretation der Anthropologie Wilhelm Kamlahs entstammt in Teilen der Habilitationsschrift des Verf. (vgl. Prohl 1991: 145ff.). Näheres zum sprachkritischen Kontext einer ›logischen Propädeutik‹ des sportlichen Handelns siehe dort. 12 Kamlah (ebd.: 37) verwendet explizit das Tennisspiel als paradigmatische Situation, um die Dialektik von Handeln und Widerfahren zu verdeutlichen.

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mat des Gefühls (›emotio‹) gegenüber dem Verstand (›ratio‹) in der Handlungsgenese. Er hält es für ein »Missverständnis der Vernunft und ihrer Aufgabe gegenüber den Begehrungen« (ebd.: 60), wenn man jegliches Handeln aus rationaler Begründung gleichsam hervorgehen lassen wolle: »Ohne den Antrieb unserer Emotionen wären wir nicht lebendige Menschen, könnten wir weder handeln noch leiden, noch reden, noch denken.« (Ebd.) Die spezifisch menschliche Problematik der Handlungsaffektivität fokussiert auch die »Anthropologie des Handelns« von Tenbruck (1978), der sich »gegen jenes herrschende Rationalitätsverständnis (wendet), das durch seine Verengung fast alle wesentlichen Probleme des menschlichen Handelns in eine vermeintliche Irrationalität ausklammert« (ebd.: 89). Ebenso wie Plessner (s.o.) sieht Tenbruck in der Welt- und Zeitoffenheit die Gebrochenheit des menschlichen Weltbezugs begründet, aus der die nicht hintergehbare Unsicherheit des Handelns resultiert: »Handeln (ist) objektiv des Erfolgs nicht sicher und bleibt an das Bewusstsein der Unsicherheit und des Risikos gebunden.« (Ebd.: 91) Zum tieferen Verständnis der kontingenten Grundsituation müsse von der Aufmerksamkeit des Handelnden ausgegangen werden, denn »[…] diese richtet sich nämlich unvermeidlich auf das unsichere Handeln und spart das sichere aus. […] Handeln liegt nur im Grade seiner Unsicherheit (und seiner Bedeutung für den Handelnden) im Aufmerksamkeitsbereich.« (Ebd.: 92) Da der Mensch jedoch nur über eine begrenzte Aufmerksamkeitskapazität verfügt, bedarf er der Entlastung durch ›Versicherung‹ seiner Umwelt in Form von ›Institutionen‹. Eine ›Institution‹ ist allgemein als Sektor einer spezifischen sozialen Ordnung aufzufassen, der das Handeln von Menschen normativ leitet, indem die Willkür des individuellen Handelns beschränkt und ein gemeinsamer Handlungsrahmen sowie mit ihm verbundene Verpflichtungen definiert werden. Der Einzelne wird damit wesentlich vom ansonsten vorhandenen Entscheidungsdruck angesichts einer offenen, kontingenten Zukunft entlastet. Dadurch gewähren Institutionen Dauerhaftigkeit und Kalkulierbarkeit durch die Stabilisierung von Handlungsabläufen (vgl. Hubig 1998: 259), d.h. sie entlasten die individuelle Aufmerksamkeitskapazität der Akteure. Die funktionale Bedeutung von Institutionen in Form von technischen Fortschrittsleistungen und sozialen Ordnungsmustern zur Entlastung bzw. Ökonominierung des Aufmerksamkeitshaushalts des Menschen ist insbesondere in der Philosophischen Anthropologie von Arnold Gehlen (z.B.

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1961) herausgearbeitet worden. Es ist leicht zu zeigen, dass der Sport wesentliche Merkmale einer Institution erfüllt (vgl. Weise/Prohl 2009). So stellt das Regelwerk des Sports fraglos eine ›soziale Ordnung‹ dar, die gleiche Handlungsmuster (z.B. Sportarten) entstehen lässt innerhalb derer das ›Treffen von Entscheidungen‹ erleichtert wird. Für den weiteren Gang der Erörterungen der spezifischen Kontingenz des Sports ist diese rein funktionale Interpretation der ›Institution‹ jedoch nicht hinreichend, denn im Sport wird die Aufmerksamkeit im Handeln eben nicht nur (qua sozialer Ordnung) entlastet, sondern dabei in besonderer Weise (heraus-)gefordert, wie das Tennis-Beispiel bei Kamlah (s.o.) verdeutlicht. Der Sport ist also eine Institution, deren soziale Ordnung Aufmerksamkeitsleistungen im Bewegungshandeln nicht etwa reduziert, sondern vielmehr evoziert. Deshalb ist es für eine Theorie das sportlichen Handelns von entscheidender Bedeutung zu beachten, dass die äußere Unsicherheit des Handelns, also das Risiko des Scheiterns hinsichtlich der ›nach außen‹, auf die ›Welt‹ gerichteten Handlungsziele, nicht die einzige Dimension der Kontingenz des Daseins ist. Hier kann der Gedankengang von Tenbruck (1978) zur Affektivität des Handelns wieder aufgenommen werden, der darauf aufmerksam macht, dass es neben der äußeren auch eine innere Dimension der Kontingenz des Handelns gibt, welche die Unsicherheit hinsichtlich der Handlungsziele selbst betrifft. Auch diese innere Unsicherheit des Handelns »[…] gründet in der Weltoffenheit des Menschen, der zwar eine kaum erschöpfbare Zahl von Zielen und Wünschen haben kann, aber, von wenigen biologisch fundierten Bedürfnissen abgesehen, keine bestimmten haben muss und eben deshalb vor der Frage steht, was seine ›wahren‹ Bedürfnisse sind.« (Ebd.: 95)

Tenbruck bezeichnet es gar als einen »schwerwiegender Fehler«, wenn »Handeln« eindimensional als ein »Erfüllungs-Apparat« aufgefasst wird, über den als Mittel der Zielerreichung unproblematisch verfügt werden könne. Vielmehr sei es von ebensolcher Bedeutung, den Eigenwert des Handelns zu berücksichtigen: »Diese Eigenqualitäten, welche das Handeln für den Menschen besitzt, werden sinnfällig darin, dass unser Tun mit gewissen Last- oder Lustgefühlen befrachtet sind, die noch vor Erfolg oder Misserfolg auf das Handeln selbst bezogen sind.« (Ebd.: 97) Während die Probleme der äußeren Handlungsführung dem Menschen in gegenständli-

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cher Form als angebbare Aufgaben in der Welt entgegenträten, habe die innere Handlungsführung »es wesentlich mit der Steuerung von energetischen Zuständen und deren emotionalen Ausdrücken, […] dazu mit Bedeutungen und Werten zu tun, die aber fließend, schwankend und ungeformt, also kaum fassbar und objektivierbar und in keinem Falle direkt beherrschbar sind« (Ebd.: 101). Aus diesem Grund, so Tenbruck weiter, hat der Schwerpunkt im Verlauf der kulturellen Entwicklung des Menschen auf der Reduzierung der äußeren Unsicherheitsfaktoren gelegen, wie die w.o. ausgeführte funktionale Bedeutung der ›Institution‹ (z.B. für Gehlens ›Mängelwesen‹; ausführlicher dazu Weise/Prohl 2009) gezeigt hat. Für die Probleme der inneren Handlungsführung sind der technischen Entwicklung vergleichbare kumulative Fortschritte allerdings nicht zu verzeichnen. Eben darin liegt ein Fallstrick der fortschreitenden Kontingenzreduktion durch Maßnahmen der nach außen gerichteten Handlungskontrolle, die jedoch die »Paradoxie von Sicherheit und Ertragsverlust« (Tenbruck 1978: 112) übersieht: »In dem Maße, wie der Mensch erfolgssichere Handlungsmuster aufbaut, verliert das Handeln seinen Eigenreiz als Handeln und entwertet sich subjektiv der Ertrag. Der Handelnde bezahlt die Erfolgssicherheit mit Monotonisierung und Gratifikationsverfall.« An dieser Stelle kann die anthropologische Einsicht Plessners wieder aufgerufen werden, dass Kontingenz als das mögliche Ausbleiben des Intendierten die Bedingung der Möglichkeit für eine »echte Erfüllung der Intention«, d.h. für erfülltes Handeln ist. Besonders eindrucksvoll, da für jedermann konkret nachvollziehbar, ist dieses paradoxe Verhältnis zwischen Erfolgssicherheit und Wertverlust des Handelns im Falle des alltäglichen Sich-Bewegens. Der Alltag von (erwachsenen13) Menschen in modernen Gesellschaften bietet motorisch kaum mehr Herausforderungen. Anders formuliert: Fast alle alltagsmotorischen Handlungen sind von Erfolg gekrönt, d.h. sie gelingen (fast) ausnahmslos. Unsere alltäglichen Verrichtungen wie das Öffnen und Schließen von Türen, Treppensteigen, Auto anlassen und lenken, wie auch die feinmotorische Tätigkeit des Notizenschreibens in Vorlesungen oder Seminaren vollziehen wir nebenbei, ohne dass wir sie im Einzelnen bemerken würden. Jedoch – trotz dieser ›Erfolge‹ er-

13 Weshalb Kinder, die in geeigneten Umwelten aufwachsen dürfen, auch noch keines ›Sports‹ bedürfen.

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freuen wir uns dieser Handlungen nicht, denn gerade aufgrund der damit verbundenen Sicherheit der Zielerreichung widerfahren sie uns im Vollzug ohne Wert. Wir werden unserer Bewegungshandlungen im Alltag nicht mehr gewahr, unser leibliches Empfinden ›verschwindet‹ gleichsam in der Funktionalität unserer alltäglichen Verrichtungen. Falls überhaupt, dann bemerken wir unsere alltäglichen Bewegungshandlungen eher im Misslingen (klemmende Schubladen oder Türschlösser, glatte Treppen oder Fußböden usw.), kaum jemals jedoch im Gelingen. Mit Plessner (s.o.) ist aus dem Umstand des »Verschwindens« unserer leiblichen Empfindungen im Bewegungsalltag keinesfalls zu folgern, dass sie damit auch »getilgt« seien. Vielmehr wird diese im Alltag »nichterlebte« Handlungsdimension zur Belastung. Tenbruck (1978: 115) deutet zwei Wege der Kultivierung an, die dahin führen (können), sich seines »verborgenen Leibes« (Fuchs 2000) und damit auch des Vollzuges von Handlungen im positiven Sinne bewusst zu werden: Zum einen, indem wir den Vollzug unserer Bewegungshandlungen als solchen thematisieren, z.B. indem wir bewusst mit dem Fahrrad zum Einkaufen fahren, obwohl es mit dem Auto schneller ginge. Wir genießen also die rhythmische Bewegung des Tretens der Pedale und die damit verbundene körperliche Anstrengung an frischer Luft. Allgemein gesprochen: Wir (be-)achten den Bewegungsvollzug des Einkaufens, indem wir ihn (in Form des Fahrradfahrens) thematisieren.14 Zum anderen, indem wir den Erfolg unserer Bewegungshandlungen vorsätzlich verunsichern und dadurch das (mögliche) Gelingen aufwerten. Für diese Form der Kultivierung der Bewegungshandlung gibt es im Alltag kaum Beispiele, da diese, wie gezeigt, auf die Reduzierung der äußeren Handlungsunsicherheit abhebt. Hier kommt nun der ›Sport‹ als eine bewegungskulturelle Institution ins Spiel, die im folgenden Abschnitt näher betrachtet wird.

14 Im Unterschied zu diesen privaten Fluchten aus der Entsinnlichung des Bewegungsalltags sind Rituale und Zeremonien institutionalisierte Kulturformen der thematisierenden Entlastung der inneren Handlungsführung (z.B. die TeeZeremonie, die im Japanischen als ›Tee-Weg‹ bezeichnet wird).

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3 D IE I NTENTIONALITÄT DER K ONTINGENZ IM SPORTLICHEN B EWEGUNGSHANDELN Der bisherige Stand der Erörterungen bestätigt die Einschätzung von Schürmann (2001), dass sportliches Handeln eine »besondere Tätigkeit« darstellt. Um die Spezifik dieser »Besonderheit« hermeneutisch herauszuarbeiten, schlägt Schürmann (2001) weiter vor, sich an einem »Prototyp« des Sports der Moderne zu orientieren, den er gegenwärtig in dem olympischen Sport erkennt. Ähnlich empfiehlt Seel (1995) zum Verständnis des Sports nur solche Qualitäten in Betracht zu ziehen, die unverwechselbar konstitutiv für das sportliche und sportbezogene Handeln sind, wobei er die Sportspiele als paradigmatisch ansieht. Gemeinsam ist diesen Deutungen des ›typischen‹ Sports von Schürmann und Seel zum einen, dass es sich dabei stets um motorische Aktionen handelt und zum anderen, dass diese motorischen Aktionen der Agonalität, also dem Wettkampf verpflichtet sind. Diese beiden Merkmale liegen den folgenden Erörterungen der spezifischen Kontingenz der Institution Sport zugrunde. Unter temporalem Aspekt kann die Institution »Sport« mit Herzog (2002) in »drei qualitativ abgrenzbare Zeitzonen« untergliedert werden: • • •

Die Startperspektive des Vorher (Zukunft), die den Raum der Möglichkeiten beherbergt; die Wettkampfperspektive des Während (Gegenwart) als Zeit der Ereignisse; die Zielperspektive des Nachher (Vergangenheit), die dem Reich der unwiderruflichen Tatsachen angehört.

Im Unterschied zum reinen Spiel, das nur die Gegenwart kennt, umfasst der Sport nach Herzog alle drei Ekstasen der modalen Zeit, woraus sich sein spezifisch »rhythmischer, pulsierender Charakter als symbolische Form« ergibt. Die Sportarten als kulturelle Objektivationen des Bewegungshandelns überformen also keine »natürlicherweise existierende Wirklichkeit, sondern schaffen diese gleichsam ex nihilo [Herv. d. Verf., R.P.]« (ebd.: 247). Dies meint der Begriff »symbolische Form« zur Kennzeichnung des Sports, denn als solche »[…] überdauert die Organisation des Sports die pulsierende Wirklichkeit seiner kulturellen Objektivationen. Sie ist aber nur da, um den Sport als Kulturform zu schützen. Der Sport lebt nicht von sei-

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ner Organisation, sondern von der Spannung, die er dank der modalen Zeitgestalt, die ihm zugrunde liegt, zu erzeugen vermag: […] jeder Wettkampf markiert einen Neuanfang. Immer scheint alles in einer neuen Gegenwart wieder beginnen zu können.« (Ebd.: 248) Andererseits führt agonales Handeln auch zu ›anstrebbaren Ergebnissen‹ (z.B. dem Sieg, der Medaille usw.), so dass Sport – insbesondere als Leistungssport – auch Strukturen der Arbeit beinhaltet (vgl. bereits Rigauer 1969). Die Frage ist nun, in welchem Verhältnis ›pulsierende Spannung‹ und ›anstrebbare Ergebnisse‹ in der Institution Sport zueinander stehen.15 Bei genauerer Betrachtung ist jede ›Institution« sowohl durch eine Idee als auch durch deren Organisation, sozusagen den Betrieb, gekennzeichnet. Insofern setzt sich eine Institution aus konstitutiven, d.h. soziale Wirklichkeit konstruierenden, und regulativen, d.h. die Abläufe der produzierten Wirklichkeit steuernden Prinzipien zusammen. Nach den bisherigen Ausführungen lautet ein wesentliches, wenn nicht das entscheidende konstitutive Prinzip des Sports: Sportlicher Wettkampf ist organisierte Unsicherheit (Kontingenz). Das heißt der Zweck der Institution besteht darin, kontingente Räume »pulsierender Spannung« (Herzog 2002) zu generieren. Dies bedeutet, dass im Rahmen dieser Institution Menschen in geregelter Weise versuchen, sich gegenseitig am Erfolg ihrer Bewegungshandlungen zu hindern. Dabei wird das Ziel des Handelns (allgemein gesprochen: der Sieg) eines jeden Menschen, der sich dieser Institution anheimgibt (Sportler bzw. Athleten), vorsätzlich der Unsicherheit ausgesetzt. Die Kontingenz ist desto größer, je ausgeglichener die Leistungsfähigkeit der Konkurrenten ist, d.h. je gleicher die Chancen auf den Sieg verteilt sind. Der Lohn dieser intentionalen (und nicht existenziell auferlegten!) Kontingenz der Zielerreichung durch Selbstbindung an das Regelwerk besteht nicht etwa in dem ›angestrebten Ergebnis‹ (d.h. dem Sieg), sondern darin, dass die Mittel der Zielverfolgung (allgemein gesprochen: die Bewegungshandlungen) in dem Maße an Wert gewinnen, wie das Handlungsziel kontingent ist. Im sportlichen Wettkampf herrscht mithin das Primat der Mittel gegenüber dem Ziel (vgl. auch Stygermeer 1999). Das konstitutive Prinzip der Institution ›Sport‹ besagt also, dass hier Bewegungshandlungen zum

15 Die folgende Analyse der institutionellen Merkmale des (agonalen) Sports entstammt in wesentlichen Teilen dem Artikel Eliteschulen des Sports als Bildungsorganisation einer Zivilgesellschaft (Prohl/Emrich 2009: 200f.).

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Zweck einer Leistungserbringung vollzogen werden, bei denen die Mittel der Zweckerfüllung nicht gleichgültig sind. In der Aufwertung der Handlungsmittel durch Verunsicherung des Handlungsziels liegt das ästhetische Moment des Wettkampfsports, das Seel (1995) treffend als die »Zelebration des Unvermögens«16 bezeichnet, wobei die Hinzufügung des Attributs organisierte Zelebration den Sachverhalt noch schärfer kennzeichnet. Der Begriff des ›Ästhetischen‹ wird hier und im Folgenden in einem weiten Sinne auf eine spezifische Weise der sinnlichen Weltwahrnehmung und -gestaltung angewendet, der die enge Bedeutung des ›künstlerisch Schönen‹ überschreitet (vgl. Caysa 2003; Franke 2001). In dieser allgemeinen Form wird eine Handlung dann als ›ästhetisch‹ bezeichnet, wenn ihr Zweck dazu dient, die Mittel zur Erfüllung des Zwecks aufzuwerten, der Zweck also zum Mittel wird. Eine ›Medaille‹ ist unter dieser ästhetischen Perspektive nicht etwa der Zweck (wettkampf-)sportlichen Handelns, sondern ein kontingentes Handlungsziel, das anzustreben die Bedingung ist, um den Zweck des sportlichen Wettkampfs (d.h. die Aufwertung der Mittel des Handlungsvollzugs) zu ermöglichen. In der Art und Weise, d.h. in der Qualität des Umgangs mit dieser Grundsituation liegt der Kern der Identität als Sportler in der Institution Sport. Das ästhetische Potenzial des konstitutiven Prinzips des Sports als organisierte Unsicherheit leitet über zum regulativen Prinzip des Wettkampfsports: Fairness ist ästhetische Moral. Diese zunächst etwas ungewohnt erscheinende Perspektive auf den Begriff ›Fairness‹ als einem Prinzip, das die Sicherung des ästhetischen Erfahrungspotenzials des Wettkampfsports regelt, liegt bereits in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes ›fair‹ (altenglisch: klar, schön) begründet. Um die Unsicherheit des Wettkampfs genießen zu können, bedarf es (mindestens) eines Widersachers, dessen Widerstand ich mir freiwillig zumute, so dass dieser für die Dauer des Wettkampfs zu meinem (ästhetischen) Partner wird. Hier zeigt sich die moralische Dimension der Fairness, welche eine Form der Mündigkeit verlangt, um durch bewusste Einhaltung der Regeln das ästhetische Erfahrungs-

16 Wobei sich dieses ›Unvermögen‹ auf die Unmöglichkeit bezieht, die Kontingenz der Wettkampfsituation zu beherrschen.

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potenzial des Wettkämpfens für beide Parteien zu sichern.17 Damit werden letztlich die Aspekte des Miteinanders (beiderseitige Anerkennung der Regeln der Konkurrenz) im Gegeneinander (beide kämpfen um ein in der Konkurrenz liegendes Positionsgut) in einer wirkungsvollen Balance verknüpft, eine Balance, die Kontingenz geradezu ›produziert‹, um sie dann gemeinsam ›zelebrieren‹ zu können. Indem sie die Mittel ihres Handelns zum Zweck erheben, machen die Akteure der Institution ›Wettkampfsport‹ – metaphorisch gesprochen – freiwillig genau das ›Sisyphus-Moment‹ thematisch, das der menschlichen Existenz eigentlich schicksalhaft auferlegt ist18: Der Sieg ist eben nie von Dauer, so dass stets die Niederlage droht. In der Sprache des Sports formuliert: Es gibt immer ein nächstes Mal, nach dem Spiel ist vor dem Spiel; das nächste Spiel ist immer das schwerste (s.o. vgl. auch Herzog 2002). Das stete Ringen um den immer wieder von Neuem verunsicherten Erfolg ist jedoch nicht ›wirklich ernst‹, sondern wird in einem gesellschaftlich geschützten und sozial normierten Raum, sozusagen in einer institutionalisierten Nische der Kultur vollzogen, der die Notdurft der Unsicherheit und Endlichkeit menschlicher Existenz kultiviert (vgl. Grupe 1982: 107). Das geflügelte Wort von Albert Camus (2004: 160): »Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen«, ist für den Wettkampfsportler geradezu geprägt. Während Sisyphos seinem von den Göttern als Strafe auferlegten Schicksal nicht entgehen kann, er also keine andere Wahl hat, sucht der Sportler die Unsicherheit des Wettkampfs, die er nie endgültig beseitigen kann, in mündiger Entscheidung immer wieder absichtlich auf, indem er dessen Normen und Regeln freudig, also ›fair‹ akzeptiert. Bildlich gesprochen verwandelt sich auf diese Weise die ursprüngliche Mühsal des Rollens des Felsens als dem (vergeblichen) Weg zu dem Ziel, diesen auf dem Gipfel des Berges zu platzieren, in die ästhetische Erfahrung des Felsrollens, wofür der Gipfel nur der Anlass ist. Unabhängig von der jeweiligen Sportart als kontingente Manifestation, steht diese Me-

17 Der aus diesem Gedankengang resultierende ›bipolare Fairnessbegriff‹ der sich zwischen den Wertdimensionen der Moral und der Ästhetik aufspannt, ist in Prohl (2004) ausführlicher begründet worden. 18 Das existenzielle Sisyphos-Moment ist in Abschnitt 1 auf Grundlage der exzentrischen Positionalität eingeführt worden, die nach Plessner eine »immanente Gebrochenheit des menschlichen Weltbezugs« zur Folge hat.

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tapher für den kulturellen Bedeutungskern der Institution ›Sport‹, so dass der ›faire Wettkämpfer‹ in der rhetorischen Figur ›mündiger Ästhet‹ auf den Begriff zu bringen ist (ausführlicher dazu Prohl 2004; Emrich/Prohl/ Brand 2006).

4 F AZIT Abschließend sollen die eingangs im Anschluss an Gumbrecht (2010) aufgeworfenen Fragen aufgegriffen werden, was es denn bedeutet, das im Sport Kontingenz einerseits ›gesteigert‹ und andererseits ›gefeiert‹ wird. Im Anschluss an die anthropologischen Erörterungen kann festgestellt werden, dass die Institution ›Sport‹ es dem Menschen ermöglicht, sich über sein Schicksal stellend das Absurde zu intendieren – so wie im Mythos des Sisyphos bei Camus. Die von Gumbrecht (ebd.) ins hermeneutische Feld geführte »Steigerung der Kontingenz« im Sport ist also nicht etwa quantitativ im Sinne eines ›Mehr‹ an Kontingenz, sondern qualitativ im Sinne einer ›höheren Ebene‹ der Kontingenz zu verstehen. Infolge des absichtlichen Herbeiführens von Kontingenz ist der Sport die Institution der ›MetaKontingenz‹ – und genau dies unterscheidet ihn von allen anderen Institutionen. In Termini der Anthropologie des Handelns von Tenbruck (1978) formuliert: Sport ist die absichtliche Belastung der äußeren Handlungsführung zum Zweck der Entlastung der inneren. Da dies die genaue Verkehrung der eigentlichen anthropologischen Funktion von Institutionen darstellt19, kann Sport durchaus als eine paradoxe Institution bezeichnet wer-

19 An dieser Stelle sei die Anmerkung gestattet, dass Institutionen gleichsam der »Feind des Kontingenten« und mithin des Neuen sind. Dies hat, wie gezeigt, anthropologisch durchaus seinen guten Sinn, wobei es allerdings Ausnahmen gibt. Eine davon repräsentiert wie gezeigt der Sport. Aber auch die Universität ist eine Institution, deren Aufgabe nicht darin besteht Kontingenz zu reduzieren, sondern im Gegenteil mit den Möglichkeitsräumen der Kontingenz (in Gedanken) zu spielen. Dies sei all jenen Exzellenzjüngern ins Stammbuch geschrieben, die gegenwärtig dabei sind, die Universität nach Art eines Wirtschaftsunternehmens in eine kontingente Denkrisiken minimierende, ökonomische Institution der (kleingeistigen) Gewinnmaximierung zu verwandeln oder nach Art

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den. Was aber bewirkt diese Paradoxie? Damit ist die zweite Eingangsfrage angesprochen: Inwiefern wird Kontingenz im Sport ›gefeiert‹? »Das Training schreibt die Noten und dann spielt man die Musik im Kampf«.20 Im Sinne des Zitats aus der unmittelbaren Erfahrungswelt des professionellen (sic!) Boxens in der Überschrift dieses Abschnitts beschreibt Seel (1995: 121ff.) die ästhetische Differenzerfahrung des (Wettkampf-)Sportlers verallgemeinernd als »Verselbständigung des Leibes«. Den Kern sportlichen Handelns sieht Seel darin begründet, im Rahmen begrenzter Zeit und begrenzten Raumes eine Leistung durch körperliche Tätigkeiten zu vollbringen, deren Koordination nicht vollständig beherrscht werden kann, also kontingent ist. In der unter diesen Bedingungen gelingenden Bewegung handelt der Sportler nicht länger im Geschehen des Wettkampfs, sondern er »wird eins« mit dem Geschehen: »Der Sinn dieser Anstrengung liegt darin, körperliches Tun als reines Geschehen erfahrbar werden zu lassen.« (Ebd.: 123) Um das Geschenk der Verselbstständigung des Leibes jedoch empfangen zu können – schärfer formuliert: Um dieses Geschenks überhaupt würdig zu sein – bedarf es gezielter und je nach Leistungsniveau auch langwieriger Vorbereitung, also des Trainings.21 Im sportlichen Wettkampf dann wird die im Training mühevoll erworbene innere Gelassenheit und äußere Fertigkeit im Sinne des Wortes ›aufs Spiel gesetzt‹, d.h., auf meta-kontingenter Ebene intentional verunsichert. Ehni (2000: 51) fasst diese »paradoxe Logik von Training und Wettkampf« prägnant zusammen: »Während die ganze Vernunft des Trainings darauf gerichtet ist, die Bedingungen für den Sieg im Wettkampf herzustellen, ist die ganze Vernunft des Wettkampfs darauf gerichtet, genau diese Rechnung zu widerlegen und offen zu halten.« Erst in dieser Paradoxie liegt die Bedingung der Möglichkeit jener »Erfahrung des reinen Geschehens«, in der Seel (1995: 124f.) den ästhetischen

eines Postamtes als Institution der kontingente Denkwege vermeidende, reibungslosen Distribution von (verbrauchtem) Wissen zu organisieren. 20 Wladimir Klitschko in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 07.07.2007. 21 Auch dieser ›Training‹ genannten Vorbereitung auf den sportlichen Wettkampf wohnen ästhetische Potenziale inne, die an anderer Stelle ausführlicher erörtert worden sind (vgl. Prohl 2004).

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Sinn wettkampfsportlichen Handelns erkennt. Der leistungssportliche Wettkampf erscheint ihm als »[…] eine ästhetische Inszenierung der menschlichen Natur, und zwar nicht zuerst seiner sozialen Natur, wie gern behauptet wird, sondern zuallererst seiner physischen Natur – derjenigen Natur, auf die er sich in allen seinen körperlichen Aktionen verlassen muss, deren er sich aber zugleich niemals vollständig versichern kann. […] Denn das Telos des Sports ist kein anderes als dieses ästhetische Telos – für eine begrenzte Zeit die Unwägbarkeit unserer körperlichen Natur zu genießen.« (Ebd.)

Damit kann der Bogen zurück zu den anthropologischen Grundgesetzen von Plessner (1975) geschlagen werden: Im Schonraum der sozialen Ordnung der Institution ›Sport‹ kann der Mensch seine exzentrische Position zur Welt ›feiern‹ indem er die existenziell-widerfahrende Kontingenz seiner leiblichen Handlungen aktiv intendiert, sie somit auf einer kulturellen Meta-Ebene thematisiert und sich dadurch über deren Lastcharakter erhebt. Sportliche Aktionen sind also zutiefst ästhetische Bewegungshandlungen. Wo ästhetisches Licht ist, findet sich allerdings auch profaner Schatten. Wenn die Meta-Kontingenz der Institution Sport vergessen bzw. wenn gegen die meta-kontingente Grundlage sportlichen Handelns systematisch verstoßen wird, dann drohen Sinnverlust oder Pleonexie.22 Solche Sinnverfehlungen aufgrund der Verkehrung von Zweck und Mittel der paradoxen Institution Sport provozieren geradezu ›ästhetische Flüchtlinge‹23, die sich andere bewegungskulturelle Sozialräume schaffen bzw. sich diesen zuwenden, wie z.B. ›Trendsportarten‹ (vgl. Gugutzer 2004) oder ›informellen Sportszenen‹ (vgl. Stern 2010). Je massiver die Organisatoren des offiziel-

22 Sinnverlust kann z.B. im verpflichtenden Sportunterricht drohen, wenn in der Sportdidaktik einem (zu) engen materialen Bildungskonzept (›Sportartenkonzept‹) gefolgt wird (vgl. Prohl 2010). Die Gefahr der Pleonexie besteht z.B. im Spitzensport nicht nur in ökonomischer, sondern auch in nationalstaatlicher Hinsicht (›Medaillenspiegel‹), wobei beide Felder im Falle der Olympischen Spiele durchaus auch Durchschnittsmengen aufweisen. 23 Diese rhetorische Figur verdankt ihre Entstehung einem gemeinsamen Seminar mit Robert Gugutzer zur Ästhetik des Sports im Wintersemester 2009/10 an der Universität Frankfurt.

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len (Wettkampf-)Sports die Meta-Kontingenz ihrer Institution verfehlen, desto intensiver wird die leibliche Meta-Kontingenz im ursprünglichen Sinne der Aufwertung der Mittel in anderen, informellen Kontexten ›zelebriert‹ werden. Oder in den Worten eines ›Freestylers‹: »Ich hab mal gehört von einem Snowboard-Contest, da haben sie vorher ausgemacht, die Jungs teilen sich straight das Pricemoney, die 16. Das find ich schon cool eigentlich.« (Kolb/Botros 2010: 82)

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Doping im Spitzensport der Gesellschaft Systemtheoretische Betrachtungen S WEN K ÖRNER

I Der Körper als organisch-physische Materialitätsbasis sportlicher Leistung setzt Grenzen der Machbarkeit.1 Zum Beispiel nähert sich die Proteinumsatzrate unter Belastung des zellulären Systems einem Wachstumsplateau. Natur bezeichnet hier2 eine empirische Grenznorm biologischer Adaptation. Natur ist aber auch als moralisches Argument für Nicht-Machbarkeit im Einsatz. Beispielsweise dann, wenn in Folge des Einsatzes von im weitesten Sinne Technologie die Einhaltung ›menschlicher‹ Grenzen angemahnt wird, etwa im Kontext von (Gen-)Doping. Über die Natur des Menschen, so heißt es dann in strenger Geste, dürfe so nicht verfügt werden; eine Forderung, die freilich den Preis der Paradoxie zahlt, insofern sie selbst über etwas verfügt, was sich nach eigener Aussage eigentlich der Verfügung entziehen soll.3

1

Auf den internen Verweisungszusammenhang systemtheoretischer Begriffe (wie Funktion, symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, Mediencode, Kontingenzformel, symbiotische Mechanismen) hin präzisierte Fassung von Körner (2012).

2

Vgl. Rost (2011: 68ff.), an Modell und Experiment Mader (1990: 55ff.).

3

Vgl. dazu mit Blick auf die habermas’sche Unterscheidung von Gemachtem und Gewordenem im Kontext der Gentechnologie Nassehi (2003: 242).

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Der moderne Spitzensport definiert sein Spiel sehr konsequent entlang einer doppelten Erwartung: der Erwartung von Höchstleistung bei gleichzeitig guter Moral. Die Dublette konditioniert das Verhalten seiner Akteure und dient zugleich der internen Steuerung externer Selbstbilder: Publikum, Massenmedien, Wirtschaft und Politik nehmen den Spitzensport beim Wort: Sie erwarten Höchstleistung bei gleichzeitig vorzeigbarer Moral. Nun liegt die Enttäuschung von Erwartungen in der Struktur der Erwartung, insofern sie nicht nur die Möglichkeit ihrer Bestätigung (Konformität) begründet, sondern gleichfalls die Möglichkeit ihrer Enttäuschung (Nonkonformität). Und genau deshalb macht es Sinn, das Risiko der Enttäuschung gleich mitzuerwarten und abzusichern. Spitzensport hat eigens hierfür Einrichtungen etabliert. Dass Leistungen nicht sinken, sondern tendenziell steigen, dafür sorgt die durchlaufende Inanspruchnahme der Eigenkomplexität menschlicher Körper sowie die strukturelle Kopplung an eine betreuende Sportwissenschaft bzw. Technologieentwicklung. Und dass die Moralerwartung dabei konstant gehalten werden kann, ist die Leistung verbindlicher Regelwerke, die den Spielraum möglicher Verhaltensselektionen einschränken und dadurch jene Arten und Weisen bestimmen, unter denen man Leistungen als sportliche Leistungen zu akzeptieren bereit ist. Das in den 1960er Jahren eingesetzte Dopingverbot dient in dieser Optik der Kompensation vom Spitzensport selbst erzeugter Effekte. Es setzt die in ihm strukturell eingebaute Steigerungs- und Rekordlogik zwischen die Leitplanken einer großen Moral, die mehr erwarten lässt als bloße Treue zur Spielregel: Du sollst (höchst-)leisten, aber mit reinem Herzen, d.h. nicht dopen. Dieser Erwartung kann man entsprechen oder nicht. Letzteres scheint zunehmend der Fall.4 Doping im Spitzensport ist seit Jahrzehnten ein Thema der Kommunikation, das regelmäßig begleitet wird vom Hinweis auf vermeintlich bessere Tage und die Forderung nach einem (wieder) sauberen Sport. Der Beitrag stellt die Frage nach Funktionen: nach der Funktion des Spitzensports für die Gesellschaft, des Dopings für Sport und Gesellschaft sowie des Dopingverbots und der Kontrolle für die Moral. Die Funktionsfrage wird vorgebracht im Sinne systemtheoretischer Abstraktion, d.h. als beobachterabhängige Konstruktion eines Problems, für das

4

Pitsch/Maats/Emrich (2009: 33) ermitteln im Rahmen einer Online- (639 Datensätze) und schriftlichen Befragung (863 Datensätze) deutscher Leistungssportler eine Häufigkeit des Dopings von bis zu 35 %.

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Spitzensport, Doping, Dopingverbot etc. jeweils als Lösung betrachtet werden können.5

II Die moderne Gesellschaft zerfällt in Funktionssysteme, die jeweils »unter dem Gesichtspunkt ausdifferenziert sind, bestimmte Probleme zu lösen – je besser, desto besser« (Luhmann 1983: 171). Soziale Systeme wie Wirtschaft, Politik, Recht, Kunst, Wissenschaft oder Erziehung pflegen exklusive Aufmerksamkeiten für Bestimmtes, bei gleichzeitiger Indifferenz allem anderen gegenüber. Dabei sind sie wechselseitig füreinander Umwelten und gehen über Leistungsbeziehungen strukturelle Kopplungen ein. Systeme sind die Reproduktion der Differenz von Geschlossenheit und Offenheit. Spitzensport ist ein soziales System in der Umwelt sozialer Systeme wie Kunst, Wirtschaft, Erziehung, Politik oder Religion, das sich durch die exklusive Bearbeitung eines bestimmten Bezugsproblems von diesen unterscheidbar macht. Kunst führt der Wirklichkeit deren Möglichkeiten vor Augen, Erziehung sorgt für karriereförmige Selektion, Politik exekutiert kollektiv bindende Entscheidungen, Religion bemüht sich um Transzendenzreferenz in einer immanenten Welt, während diesseitige Sicherung gegenwärtiger und künftiger Bedürfnisse Aufgabe der Wirtschaft ist. Auf welches soziale Problem ist der moderne Spitzensport hin funktionalisiert? Obschon es in langer Tradition bis heute populär ist, Sport oder sein Wesen in teilweise schmeichelnden Analogien zu modellieren, ist er, in systemtheoretischer Auflösung, mit keiner der oben genannten Sphären und Funktionen identisch. Eine Ballstafette erscheint nur poetologisch betrachtet als Poesie, die Tour de France besitzt allein aus Sicht der Ökonomik eine Produktstruktur, Kniefall und Bekreuzigung nach Torerfolg gelten allein religiös geschulten Beobachtern als Dank an höhere Instanzen und die sportin-

5

Durch den Fokus auf Funktion wird abgesehen davon, was Gesellschaft sonst noch ausmachen könnte, etwa Menschen, und gerade dadurch ein Begriff gewonnen, der Vergleichsmöglichkeiten von (unterschiedlichen) Lösungen für (unterschiedliche) Problembezüge ermöglicht. Zur Strategie begrifflicher Abstraktion vgl. Luhmann (1996: 16f.).

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terne Formung des Lebenslaufs mag Pädagogen als eine Möglichkeit riskanter Charakterschulung erscheinen.6 Spitzensport ist eine Errungenschaft der modernen Gesellschaft, in der individuelle Lebensläufe wie der Lauf der Dinge überhaupt nicht länger alternativlos auf einen allgütigen Algorithmus heiliger Gründe rückführbar werden. Spätestens im gegen religiöse Deutungs- und Entscheidungsvorgaben weitgehend differenzierten 19. Jahrhundert hält die Gesellschaft dauerhaft Möglichkeiten verfügbar, Zukunft als prinzipiell offen, gestaltbar und von dort aus prinzipiell auf steten Zuwachs hin zu erwarten. Wissenschaft konzeptualisiert Erkenntnis als Fortschritt, Idee und Programm staatlicher Wohlfahrt betreten die Bühne der Politik, in der Wirtschaft löst das Wachstumsparadigma das merkantilistische Summenkonstanzprinzip der Güter ab, Erziehung entkoppelt Zukunft von Herkunft und entdeckt den Menschen als ›steigerbare Realität‹, und mit der Ausdifferenzierung der Massenmedien in der zweiten Jahrhunderthälfte versetzt sich die Gesellschaft in einen Dauerzustand endogen erzeugter Unruhe: durch Beobachtung von sich selbst in sich selbst.7 Und es ist wohl kaum ein Zufall, dass eine Gesellschaft, in der all das möglich wird, zunehmend den sportlichen Leistungsvergleich bzw. dessen Vorläufer für sich entdeckt.8

6

Das bedeutet freilich nicht, dass Sport nicht genau so beschrieben werden kann, wohl aber ist damit gemeint, dass, wenn man so beobachtet, das dann eben genau so tut (und nicht anders). Indexiert ist also die Referenz auf Beobachtung, was gleichfalls für die Form systemtheoretischer Beobachtung gilt. Dem Kosmos der Essenzen ist nicht zu entnehmen, als was Spitzensport zu beschreiben ist.

7

Vgl. dazu exemplarisch für staatliche Wohlfahrt Briggs (1961), für das Erzie-

8

Also von der Take-off-Phase des modernen Sports im letzten Drittel des 18.

hungssystem Luhmann/Schorr (1979: 63). Jahrhunderts bis hin zur Ausdifferenzierung seiner Organisationsstrukturen 100 Jahre später. Gutsmuths Arrangements im Schnepfenthaler Philanthropin (17851839), der Vergleich körperlicher Leistung, die Konstruktion von Messapparaten, die Protokollierung von Ergebnissen sowie die Einrichtung eines Prämiensystem indizieren den Übergang vom vor-modernen zum modernen Leisten. Vgl. dazu Eichberg (1984).

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III Worin besteht der Unterschied, ob man morgens abfahrenden Bussen hinterherläuft oder einen 50-Meter-Sprint bei einer Hallenweltmeisterschaft absolviert? In beiden Fällen läuft man. Hier wie dort ohne zu wissen, wie es ausgeht. Denn weder ist klar, als wievielter man das Ziel erreicht, noch ob der Busfahrer öffnet und es zum Transport gegen Zahlung kommt. Den Unterschied, den es macht, hier oder dort zu rennen, lässt sich als Sinngrenze fassen. Diese Sinngrenze wird buchstäblich überschritten, wenn und sofern man die Straße gegen die WM-Bahn eintauscht. Für den Spitzensport ist es vor allem der Mechanismus organisierter Interaktion, der die Grenze zwischen System und Umwelt zieht, also über innen und außen, Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit disponiert. Die Systembildung läuft als Interaktion unter Anwesenden unter der Bedingung wechselseitiger Wahrnehmbarkeit.9 Das schließt die Kopplung an Kapazitäten anwesender Körper und Psychen ein. Ohne sie geht nichts. Entscheidend für Systembildung ist hier die Reflexivität von Wahrnehmung und die damit verbundene Reduktion von Komplexität: man nimmt wahr, wahrgenommen zu werden, und richtet sein Verhalten exakt darauf ein – wissend, dass für den oder die anderen gleichzeitig Gleiches gilt. Interaktion im Spitzensport löst laufend die Zumutung der Verhaltenssynchronisation und bedient sich dazu der distinkten Form des Wettkampfes. Wettkämpfe motivieren, in Leistungsvergleiche einzutreten, Positionen in Raum und Zeit auf physiologisch belastende und bisweilen hochriskante Weise zu verändern, Körper an Geräte zu schnallen, eintreffende Schläge zu akzeptieren, ein Zuspiel anzunehmen, auf einen Sprung einen eigenen folgen zu lassen oder im Pulk mit anderen über eine Linie zu laufen, an der man kurz vorher gestartet war. Leistungsvergleich ist für den modernen Spitzensport das, was für Wirtschaft Geld, Wissenschaft Wahrheit, Religion Glaube, Intimität Liebe oder Macht für Politik ist: sein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, seine Steuerungssprache.10 Die sozio-evolutionäre Ausdifferenzie-

9

Darin ist Spitzensport dem Erziehungssystem vergleichbar, vgl. Luhmann (2002).

10 »Reduzierte Komplexität übertragbar zu machen und für Anschlussselektivität auch in hochkontingenten Situationen zu sorgen, gehört zu den Grundvorausset-

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rung des Spitzensports ist gebunden an die Ausdifferenzierung eines speziellen Kommunikationsmediums, das konkret die Form des Wettkampfes annimmt. Wettkämpfe lösen das Problem der Unwahrscheinlichkeit, dass Ego Alters Verhalten zum Ausgangspunkt eigenen Verhaltens wählt und sich auf den Vergleich von Leistungen einlässt: Jemand wirft auf ein Tor, der andere sich dem Ball entgegen.11 Erst im Sportwettkampf wird derart Unwahrscheinliches in einer Weise wahrscheinlich, dass man nicht nur akut damit rechnen kann, sondern sich Lebensläufe zeitweise darauf einstellen sieht, dass ein Sozialsystem genau das dauerhaft ermöglicht: in wechselnden Kontexten, bei künftiger Gelegenheit (generalisiert), auf Grundlage einer gemeinsam geteilten Normstruktur (symbolisch). Wettkämpfe dimensionalisieren das spitzensportliche Sinngeschehen sachlich, raum-zeitlich und sozial.12 Die Sachdimension gibt an, um was es geht samt Regeln (also etwa um Leichtathletik: Hammerwerfen, Weitsprung etc.), und damit ist klar, um was es nicht geht (Bodenturnen, Feldhockey, Skeleton etc., samt Regeln); die Zeit- und Raumdimension legt fest: Der Wettkampf findet statt jetzt und hier, und nicht irgendwann und irgendwo, freilich eingespannt in eine Vergangenheit vorheriger und in eine Zukunft künftiger Ereignisse; in sozialer Hinsicht ist schließlich spezifiziert, wer warum teilnehmen darf, und wer warum nicht. Wettkämpfe disponieren über Anwesenheit und Abwesenheit, Zugehörigkeit und NichtZugehörigkeit, Innen und Außen und vollziehen somit die Sinngrenze des Systems im Sinn von Grenzziehung allgemein. »Der Sinn von Grenzen liegt in der Begrenzung von Sinn« (Willke 2000: 51) – und zwar als Bedingung der Steigerung ebenjenen begrenzten Sinns. Wettkämpfe geben demnach an, was wo zu welcher Zeit von wem als Leistungsvergleich im Biathlon, Turnen, Boxen, Bobfahren oder Handball usf. erwartbar und anschlussfähig ist. Quer dazu liegende Überschussproduktionen werden durch Superbeobachtung sozial sanktioniert. Wer im Fußball den Ball (wiederholt) mit der Hand wirft oder beim Gegner eine rechte Gerade landet, sieht

zungen des Aufbaus komplexer Gesellschaftssysteme« (Luhmann 1991: 174) – und ist eine Funktion symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. 11 Gelöst wird das Problem doppelter Kontingenz: Ego rechnet sein Verhalten dem Verhalten Alters zu, während Alters Verhalten am Verhalten Egos ansetzt. Man spielt dann gegeneinander Fußball, läuft um die Wette usf. 12 Vgl. Bette (2010: 92); Werron (2005).

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rot und muss gehen – die Sozialfigur des intervenierenden Dritten (Schiedsrichter) bezieht daraus ihr Sinnprofil.13 Spitzensport ist dabei aufgrund seiner Interaktionsnähe und Wahrnehmungsbasiertheit besonders anspruchsund druckvoll. Der Leistungsvergleich in der Form des Wettkampfes bezeichnet ein Bündel von Erwartungen bzw. Erwartungserwartungen, das Alter und Ego wechselseitig zu Einschränkungen motiviert, die vollziehen, auslegen und bestätigen, was im Grundsatz durch die Form Organisation als weiteren selektiven Mechanismus der Systembildung vorausgesetzt ist (Mitgliedschafts- und Vollzugsbedingungen, Regelwerke etc.).

IV Zu den strukturellen Eigenschaften symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien gehört die Einrichtung binär schematisierter Mediencodes, die über einen positiven Anschluss- sowie einen negativen Reflexionswert verfügen, wobei sich der Vorzugswert in der Regel vom jeweiligen Medium ableitet.14 Codes ermöglichen es Systemen, Informationen über die Welt strikt entlang von zwei Werten unter Ausschluss dritter Möglichkeiten zu gewinnen. Sie schalten Systemdifferenzierung in den Modus operativdigitaler Schließung. Eine entlang von Theorien und Methoden geführte Aussage erscheint im Sensorium der Wissenschaft als entweder wahr oder falsch, ob sie nach Maßgabe künstlerischer Kriterien schön, nach Rechtsprogrammatik recht oder nach pädagogischer Ansicht vermittelbar ist, spielt wissenschaftlich keine Rolle. Für das Sportsystem im Allgemeinen hat Stichweh den Code leisten/nicht-leisten vorgeschlagen, der für Spitzensport bereits jedes Nicht-leisten als relevante nicht-sportliche Systemumwelt ausfiltert.15 Spitzensport bewegt sich typischerweise auf der Seite des Leistens. Mit Blick auf Wettkampf als jene besondere Form, die der Leistungsvergleich im Spitzensport annimmt, erscheint es plausibel, in den Vorzugswert (›leisten‹) des Sportcodes einzutreten und die Unterscheidung

13 Vgl. Bette (2010: 96). 14 Vgl. Luhmann (1991: 174ff.), Codebestimmungen des (Spitzen-)Sports kommen mit anderen Worten nicht an der Frage nach dem Medium vorbei. 15 Vgl. Stichweh (1990: 384f.).

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von überlegener/unterlegener Leistung als binäre Codierung des Spitzensports anzusetzen.16 Sportwettkämpfe preisen am Ende aus, was zu Beginn keinesfalls offensichtlich zu sein hat und deshalb artifiziell auf ›Null‹17 gebracht werden muss: den Unterschied von überlegener und unterlegener Leistung. Auf Grundlage wechselseitig akzeptierter Fiktionen von Gleichheit setzt Spitzensport kaskadenhaft wahrnehmbare Unterschiede in die Welt, die sich in Vereinfachung hochkomplexer Vorgänge als überlegene oder unterlegene ›Leistungen‹ (präziser: als Leistungsmitteilungen) auf anwesende Körper, Personen oder Mannschaften zurechnen lassen und über Symbolik (Urkunden, Medaillen), Bilder (z.B. Zielfoto) und Zahlen (z.B. Tausendstelsekunde) zur Unterscheidung gebracht werden. Die Funktion des Spitzensports besteht demzufolge im Vergleich und der Unterscheidung personalisierbarer Leistungen. Ausgehend vom Gebot prinzipiell gleich verteilter Chancen, das einen prinzipiell offenen Ausgang erwarten lässt, zielt Spitzensport auf die Alter/Ego-konsentierte Produktion (der Fiktion18) wahrnehmbarer Unterschiede, codegeführt in der Form des Wettkampfes. In die Funktionsstelle des von ihm traktierten Bezugsproblems, für das spitzensportliche Differenzproduktion die Lösung ist, ließe sich demnach Gleichheit einsetzen. Invers zur Restgesellschaft, zum Gleichheitspostulat und Quotenausgleich in Familie, Arbeitswelt, Wissenschaft und Politik, bringt der Spitzensport harte und anderweitig hoch umstrittene Unterschiede mit demonstrativer Geltung zur Ansicht. Hier gibt es (noch) Sieger und Verlierer, die erste und eine zweite Klasse, Männer und Frauen oder imagined communities (Anderson) wie den Club einer Stadt oder das Team einer Nation usf. Unterschiede mithin, die sich in der Sprache großer Erzählungen (z.B. Hel-

16 Zur Zweitcodierung von Systemen am Beispiel von Wirtschaft vgl. Luhmann (1994: 201). 17 Durch Gewichts- und Leistungsklassen, die Symbolik von Start- und Ziellinien, die Null auf Stoppuhr und Zentimetermeterband. 18 Fiktion deshalb, weil Raum- und Nationalgrenzen im globalen Kommunikationszusammenhang zunehmend als künstliche Konstruktion erscheinen; gleiches gilt für die körperbasierte Unterscheidung von Männern und Frauen, auf deren soziale Konditioniertheit Kulturwissenschaft und Genderforschung aufmerksam machen.

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densemantik19) zu schlichten, aber gleichwohl wirkmächtigen Ontologien20 stilisieren lassen, deren Dekonstruktion andere Sozialbereiche seit Jahrzehnten programmmäßig betreiben.

V Sportwettkämpfe arrangieren Leistungsvergleiche um des Vergleichens willen.21 Wer zum Bus rennt, will Bus fahren (und vielleicht zur Arbeit). Laufleistung ist hier Mittel zum Zweck. Wer in einem Wettkampf an den Start geht, dessen Leistung wird systematisch mit der Leistung anderer verglichen – selbst und gerade dann, wenn die subjektiven Beweggründe eventuell ganz anders gelagert sein sollten, also auf Nachfrage etwa Spaß, geselliges Miteinander oder Gesundheit ausgeflaggt werden. Dass Spitzensport als organisierte Interaktion unter Anwesenden in selbstbezüglicher Schleife den Vergleich von Leistungen arrangiert (Selbstreferenz), schließt die Konversion von Wettkampfleistungen in soziale Anerkennungswährungen (Fremdreferenz) keineswegs aus. Das geschieht andauernd. Konvertiert wird in knappe und sozial begehrte Ressourcen: in Aufmerksamkeit, Ruhm oder Geld. Gleichwohl handelt es sich bei der Zahlung einer Siegesprämie wie auch bei der monatlichen Gehaltsüberweisung um eine wirtschaftliche Operation, und eben nicht: um eine sportliche. Sportwettkämpfe konditionieren, dass in ihnen Leistungsmitteilungen auf Leistungsmitteilungen folgen, also Operationen gleichen Typs. Ein Hammerwurf motiviert den nächsten Hammerwurf, und typischerweise nicht die Inverkehrbringung von Zahlungsmitteln in Gegenerwartung adäquater Güter oder Dienstleis-

19 Zur These ›harmloser‹ Sportheldenverehrung in einer von religiösen, militärischen, politischen und wissenschaftlichen Helden weitestgehend befreiten und das Individuum wegorganisierenden Gesellschaft vgl. Bette (2010: 108ff.). 20 In der Inanspruchnahme des Körpers durch soziale Systeme, insbesondere im Sport, sieht Peter Fuchs eine Re-Ontologisierung deontologisierter Gesellschaften am Werk (mündl. Gespräch). 21 Eingeschlossen: den Vergleich von Vergleichen, z.B. in puncto Rekorde (diese vs. letzte Olympische Spiele). Reflexivität ist ein typisches Merkmal symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, das die kommunikativen Möglichkeiten von Systemen steigert.

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tungen.22 Umgekehrt bekommt man beim Bäcker das Brötchen nicht, wenn oder weil man hammerwirft. Man muss zahlen. Das exakt ist die Klinge, die eine Systemtheorie des Spitzensports ansetzt:23 Ihre Frage ist die nach jener nötigen Operation, nach jenem Ereignis, durch die bzw. das der moderne Spitzensport seine Reproduktion und Ausdifferenzierung sichert. Gesellschaft reproduziert sich durch Bezugnahme von Kommunikation auf Kommunikation, nicht durch Gedanken (wie das Bewusstseinssystem), nicht durch Mitose (wie die Zelle) – wenngleich sie beides im Sinne von clustered environments voraussetzt (Emery/Trist 1973: 45). Kommunikation meint die dreistellige Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen, die Mitteilung einer Information, die angenommen oder abgelehnt werden kann.24 Während Kommunikation in der Wirtschaft die Form der Zahlung annimmt, in der Politik Entscheidungen auf vorherige Entscheidungen Bezug nehmen, Wissenschaft Publikation auf Publikation folgen lässt oder sich Recht in der rekursiven Anwendung von Normen (Selbstreferenz) auf Sachverhalte (Fremdreferenz) reproduziert, erzeugt Spitzensport seine operative Geschlossenheit dadurch, dass in ihm Leistungsmitteilungen an Leistungsmitteilungen anschließen, die an Leistungsmitteilungen anschließen usf. Spitzensport ist – systemtheoretisch – reine Operativität eines bestimmten Kommunikationstyps, der die Form rekursiv vernetzter Leistungsmitteilungen innerhalb rekursiv vernetzter Wettkampfereignisse annimmt, die für sich nichts außerhalb ihrer selbst bedeuten »und genau diesen Sachverhalt kommunizieren« (Stichweh 2005: 116). Das, und nicht etwa die bloße Aggregation von Athleten, Trainern, Zuschauern, Stoppuhren, Schwingböden, Bällen, Schwimmhosen, Spikes, Arzneien oder Wurfgeräten macht Spitzensport zum System.

22 Das wäre nicht mehr Sport, sondern Betrug und fiele somit in Bearbeitungskompetenzen des Rechtssystems. Typischerweise ist auch Leistungsvergleich ein selbstsubstitutives Kommunikationsmedium, dessen Funktion von keiner anderen Steuerungssprache (wie Geld, Wahrheit, Glaube oder Macht) ohne Funktionsverlust übernommen werden kann. 23 In lockerer Anlehnung an Ockham (Entia non sunt multiplicanda sine necessitate). 24 Wobei Annahme oder Ablehnung die Selektion des Verstehens im Sinne von anschließen meint. Verstehen wiederum ist Mitteilung einer Information für weiteres Verstehen usf. Vgl. grundlegend Luhmann (1996: 195ff.).

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Beschreibt man Spitzensport in diesem strikten Sinne als System, mutet das Beschriebene mit Blick auf gepflegte Selbst- und Fremdbeschreibungen vergleichsweise hohl an. Es geht dann nicht mehr um Gesundheit, Integration oder Vorbildwirkung, nicht mehr um Sport als Religion, Arbeit oder Kunst, und auch Aufmerksamkeit, Ruhm und Einkommen bezeichnen in dieser Optik Anschlüsse aus der gesellschaftlichen Umwelt des Systems, und nicht solche des Systems Spitzensport selbst. Die Bedeutung der gesellschaftlichen und außergesellschaftlichen Umwelt für die Ausdifferenzierung des Spitzensports ist damit keineswegs geschmälert. Sie tritt zutage in zahlreichen auf Dauer gestellten Leistungsbezügen, an denen das System zweifellos genauso evoluiert wie die gekoppelten Systeme in seiner Umwelt. Man denke vor allem an Wirtschaft, Wissenschaft, Erziehung oder Politik. Und vor allem an die Rolle der Massenmedien und damit des Publikums.25 Allerdings wären auch Politik, Erziehung, Wissenschaft, Wirtschaft oder Kunst ohne die strukturelle Kopplung an Massenmedien nicht das, was sie gerade jeweils sind.26 Systemtheorie ist System/UmweltTheorie, in jedem Fall.27 Für Spitzensport kann die Geschlossenheit des Spitzensports systemtheoretisch kaum ressourcenarm genug (also rein operativ) angesetzt werden. Exakt diese Sparsamkeit ist Bedingung für Offenheit.

VI In die Funktion des Spitzensports ist eine Steigerungsaspiration eingebaut. Werden Leistungen gemessen, sind Vergleiche die Folge. Vergleiche führen auf Unterschiede, die ihrerseits bewertet werden. Kurzzeitig aufgeho-

25 Um die in der sportsoziologischen Literatur aktuell scharfe Bemerkungen ausgetauscht werden. Vgl. dazu mit Blick auf Werron (2010) Bette (2011). 26 Deren sozio-evolutionäre Ausdifferenzierung co-variiert ebenfalls mit Verbreitungsmedien wie Buch, Presse, Rundfunk, Fernsehen oder Internet. Für Spitzensport ist schließlich noch auf jene Systemkontexte hinzuweisen, deren Leistungsvergleiche sich weitestgehend resonanzlos vollziehen oder bestenfalls im Rahmen Olympischer Spiele zyklisch massenmediale Aufmerksamkeit erfahren. 27 Wodurch sich die Theorie enttautologisiert: Systeme sind immer Systeme-ineiner-Umwelt, Einheit einer Differenz.

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ben im Gedächtnis beteiligter Personen sowie langfristig abrufbar in Berichten, Listen und Tabellen, bildet die Sequenz den Bezugspunkt nachfolgender Sequenzen. Spitzensport setzt genau diese Vergleichslogik mit Steigerungserwartung in Serie. Eine wichtige Funktion kommt hierbei der Aufzeichnung von Höchstleistungen zu. Rekorde28 machen in Raum und Zeit sowie sozial entfernte Leistungen aufeinander beziehbar. Als »geniale Abstraktionen« (Guttmann 1979: 59) ermöglichen sie den Vergleich zwischen damals und heute, Lebenden und Toten. Rekorde bezeichnen systemtheoretisch Eigenwerte des Spitzensports, die das System durch rekursive Beobachtung produziert und dessen Operationen nachhaltig beeinflussen. Während ihre technische Seite (die Aufzeichnung) die Selektionshorizonte von Alter und Ego auch bei raum-zeitlicher Drift zusammenführt, motiviert die informationelle Seite (die Referenz auf Höchstleistung) zur Anschlusshandlung (Überbietung).29 Rekorde stehen der Form des Wettkampfes dabei zur Seite, die unwahrscheinliche Kommunikation des Spitzensports zu ermöglichen.30 Aus der Steigerungserwartung resultiert Technologiebetroffenheit. Zum einen durch Technologien, die ihren Ansatzpunkt im Binnenraum des Menschen finden, in der Biomechanik menschlicher Bewegung, der Energiebereitstellung, Sauerstoffversorgung, Skelettmuskulatur u.a.m. Zum anderen konsultiert der Spitzensport einen Technologietyp, der sein Problem von der anderen Seite her bearbeitet, also an der Außengrenze des Menschen ansetzt, wie der ultraleichte Laufschuh oder (die schon wieder verbotenen) Ganzkörperschwimmanzüge mit ultraschallgeschweißten Nähten. Das alles gibt es, um selbst dann noch Unterschiede und Steigerungen treffsicher abbilden zu können, wenn die Potenziale menschlicher Physiologie und Biomechanik ausgereizt sind.

28 Anfangs als Begriff für die Aufzeichnung von Leistung (engl. to record), später dann als Begriff für Höchstleistung selbst. Vgl. Eichberg (1984). 29 Als »den auffälligsten Wesenszug des Sports« identifiziert Diem »das Streben nach Leistung, nach höchster Leistung, nach Rekord, sei es nun nach dem persönlichen Rekord der jeweiligen Entwicklungsstufe, sei es nach dem Rekord im Rahmen des Vereins, der Stadt, des Landes oder gar dem Weltrekord« (Diem 1960: 13). 30 Insofern handelt es sich um Medienstrukturen.

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Die selbst gesuchte Nähe des Spitzensports zur Technologie (und nicht etwa zur Ethikberatung, Sportpädagogik oder Menschenbildanalyse) gründet in deren simplem Versprechen, isolierbare Bereiche komplexer Systeme und System-Umwelt-Relationen auszugrenzen, innerhalb derer wiederum isolierbare Elemente nach dem Kausalschema von Ursache und Wirkung planmäßig gekoppelt werden können und somit Kontrolle, Steuerung und Prognose in Aussicht stellen. Das ist im Prinzip die triviale Grundlage der Beziehung von Spitzensport zu Disziplinen angewandter Sportwissenschaft wie Sportmedizin, Trainingswissenschaft, Biomechanik oder Sportpsychologie: Erwartung und Versprechen »funktionierender Simplifikation im Medium der Kausalität« (Luhmann 2003: 97). Darin freilich steckt eine Portion Mythos. Technologische Eingriffe in komplexe Systeme, und zu ihnen zählt der einzelne menschliche Organismus ebenso wie die Ansammlung einer Vielzahl von Organismen (und Psychen) in der Umwelt organisierter Wettkampfinteraktion, haben mit Nicht-Linearitäten zu rechnen, mit nicht-intendierten Effekten, die dann wiederum aufwendig durch weiteren Technologieeinsatz im Sinne eines Containments beherrschbar gemacht werden müssen. Technologie ist der Paradefall riskanter Entscheidung.31 Acetylsalicylsäure z.B. wirkt auf verlässliche Weise schmerzhemmend und vermag körperliche Ermüdungsschutzmechanismen gezielt auszuschalten, beim Boxen hingegen sollte man der blutverdünnenden Wirkung wegen auf ihren Einsatz tunlichst verzichten.32 Und auch Sportwissenschaft und AntiDopingforschung erzeugen paradoxerweise den Fortschritt jener Entwicklung, zu deren Begrenzung sie antreten. Das von ihnen erzeugte Wissen um Wirkungsweisen bestimmter Verfahren und Substanzen präzisiert zugleich das Wissen für deren Nutzbarmachung im Dopingkontext. Auch Doping ist (riskante) Technologie, Simplifikation im Medium der Kausalität, die ange-

31 Ein gutes Beispiel außerhalb des Spitzensports ist Kernkrafttechnologie, zu deren Risikoabsicherung eine Ummantelung eingerichtet werden muss, die in puncto Aufwand und Kosten der Primärtechnologie inzwischen in nichts nachsteht; oder auch die Frage des Computernutzers, ob er ein bestimmtes Antivirenprogramm auf das Risiko der Systemlähmung hin nun aktivieren soll oder nicht. 32 Damit ist angespielt auf die in Anti-Dopinglaboren festgestellte Zunahme von legalen Schmerzmitteln in Dopingproben.

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sichts der Komplexität sportlichen Erfolgs33 regelmäßig an die Grenze des Simplifizierbaren stößt.

VII Seine technologiebasierte Steigerungserwartung flankiert der Spitzensport mit einer Moralerwartung, die über den situativen oder auch rein instrumentellen, Kosten-Nutzen-wägenden Umgang mit sportlichen Spiel- und Wettkampfregeln hinausgeht. Wenn ein Sprinter zu früh den Startblock verlässt, ein Feldspieler im Handball den Ball mit dem Fuß spielt, ein Fußballspieler seinen Gegenspieler foult oder ein Boxer beißt, so handelt es sich hierbei um Regelverstöße, die im Leistungsvergleich anschlussfähig verarbeitet werden und diesem bisweilen eine andere, aber durchaus vorgesehene Richtung geben. Aus ihnen resultiert eine neue Wettkampfsituation, ein Freiwurf, ein Elfmeter, ein zweiter Versuch, ein Punktabzug – Spannung zwar, aber noch nicht die große Moralerwartung des Spitzensports. Die große Moral des Spitzensports folgt daraus, dass dieser den Einsatz bestimmter Technologien in einem dezisionistischen Akt mit einem Verbot belegt, dessen Einhaltung kontrolliert, die entdeckte Missachtung sanktioniert und in die Tiefe charakterbasierter Motive verschiebt. Bezeichnend ist die konditionale Kombination rechtlicher und moralischer Normschemata: Abweichung erzeugt Missachtung, während Konformität Achtung auf sich zieht. Doping ist für den Spitzensport keine ausschließliche Frage des Rechts, sondern vor allem eine Frage der Moral, die Achtungswerte verteilt und dazu den ganzen ›Menschen‹ als zurechnungsfähige Zurechnungsgröße benötigt. Moral setzt Adressabilität34 voraus, die sich in der organisierten Interaktion des Spitzensports sinnfällig an der Stelle der Leistungsmitteilung einhakt und von beteiligten Körpern und Psychen auf Menschen schließen lässt, die wissen, was sie tun. Der moderne Spitzensport hält in einer paradoxen Wendung seine große Moral gerade dadurch im Spiel, dass in ihm gegen mehr als bloß einzelne

33 Vgl. dazu allgemein Hohmann/Lames/Letzelter (2007: 199) sowie differenziert zum keineswegs (linearen) Verhältnis von Doping und Leistungssteigerung am Beispiel leichtathletischer Disziplinen Lames (2002). 34 Zu Adressabilität als soziologischem Grundbegriff vgl. grundlegend Fuchs (1997).

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sportartspezifische Regeln verstoßen werden kann. Das Dopingverbot als historisch und sachlich kontingente, aber gleichwohl ultimative Norm fixiert eine generalisierte Verhaltenserwartung, die aus sich heraus nicht nur ihre Einhaltung, sondern auch den Verstoß wahrscheinlich macht. Normen stabilisieren sich immer an beidem. Die Erwartung eines ¿sauberen Sports‹ ist also nicht zuletzt das Resultat ihrer Negation, des Dopings, wie es umgekehrt ›Doping‹ nur deshalb gibt, weil sich die Erwartung an einen dopingfreien Sport als sanktionsfähige Norm hat etablieren können. Anders formuliert: Nicht obwohl, sondern weil es Doping gibt, gibt es ›sauberen Sport‹, seine große Moralerwartung, die den ganzen Menschen angeht. Überführte Doper gelten einem verbreiteten Sprachgebrauch zufolge als ›Doping-Sünder‹ – die implizit-argumentative Metaphorik verweist hier instruktiv auf die Tiefe und Breite der Schuldanklage. Doping ist kein akzidenteller Missgriff, den man mit einem saloppen je ne sais pas aus der Eigenzurechnung katapultieren kann. Doping ist eine Frage substanzieller Eigenschaften, auf die ein Sportcharakter schattenhaft festgelegt wird. Das so zu beschreiben zerstört weder Geist, Wesen noch Charakter des Sports. Irritiert wird vielmehr das unhinterfragte Selbstverständnis jener Fremdbeschreibungen, die am Spitzensport eigene Bedürfnislagen, Erwartungen und Nutzeninteressen hartnäckig als die seinen kondensieren lassen. Doping führt den Image-Transfer-Effekt unternehmerischer Testimonial-Werbung mit Sportlern für Marken und Produkte vor Probleme, dekonstruiert die pädagogische Erzählung vom Spitzensportler als vorbildlichen ›Menschen‹ und verflüssigt das schöne Bild eines politischen basking in reflected glory.

VIII Steigerung hat zwei Seiten: Maximierung und Optimierung. Während Maximierung nach dem mathematischen Reinheitsgebot mit der Autorität der Zahl Bereiche quantifizierbarer Verbesserung ausgrenzt, ist Optimierung semantisch betrachtet immer gute Optimierung,35 also imprägniert von moralischen Hoch- und Höchsterwartungen. Steigerung heißt demnach: quantitativ-maximale und moralisch-optimale Leistung. In diesem kompakten Sinne, der Maximierung mit Moral kombiniert, bezeichnet Steigerung die

35 Vgl. Oelkers (1990: 41ff.).

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Kontingenzformel des modernen Spitzensports.36 Steigerung präzisiert den Mediencode und gibt an, was für das System auf keinen Fall negierbar, also auf jeden Fall erwartbar ist. Diesen Erwartungskomplex externalisiert der Spitzensport auf seine zentralen Agenten: die Athleten. Mit der Sozialfigur des Athleten konstruiert der Spitzensport jene elitäre Erwartungsadresse, die er ansteuert, um zum nächsten Anschluss zu kommen. Für seinen spezifischen Operationstyp, die wettkampfförmig zur Episode verkettete Leistungsmitteilung, stellt der Athlet die physische und psychische Materialitätsbasis als unverzichtbare Möglichkeitsbedingung zur Verfügung. Leistungsmitteilungen sind die Stelle, an der Kommunikation auf beteiligte Psychen und Körper zurechnet, wie umgekehrt, dem Bewusstsein sinnförmig seine soziale Resonanz entgegenschlägt und Wirksamkeit im System spitzensportlicher Kommunikation erlebt werden kann:37 Ich bin es, der den Hammer geworfen, den Spieler gefoult, die Gerade gelandet oder das Tor geschossen hat – und damit Anschlüsse (einen weiteren Wurf, eine Spielunterbrechung etc.) erzeugen konnte. Man kann das beobachten als ›konditionierte Koproduktion‹38 von Systemen, die sich wechselseitig Eigenkomplexität zur Verfügung stellen, um dadurch jeweils eigene Möglichkeiten zu steigern. Spitzensport greift hochselektiv auf Potenziale von Psyche und Körper zu, um diese auf seinen Funktionssinn der Differenzproduktion durch Vergleich und Steigerung von Leistung hin zu dirigieren – je besser, desto besser. Umgekehrt nutzen Körper und Bewusstsein die Möglichkeit des Spitzensports dazu, ihren jeweiligen Operationstyp auf komplexe Weise in Gang zu halten und so den Aufbau eigener Struktur zu stimulieren.39 Der Mensch (wie auch der Mensch) ist in einem sehr treffenden Sinne aus dem System des Spitzensports ex-kommuniziert, sofern damit Haarwuchs,

36 In systemtheoretischer Argumentation hat zuerst Becker (1987) auf Steigerung als möglicher Kontingenzformel des Sports aufmerksam gemacht, dabei allerdings Moral im Sinne einer Steigerungsbremse ausgeschlossen. Das ist hier gerade nicht gemeint. 37 »Kommunikation [….] simplifiziert oder materialisiert sich als Kette von Ereignissen, die als Mitteilungshandlungen auffallen« (Fuchs 1997: 59) – so auch hier. 38 Zur konditionierten Koproduktion, am Beispiel von Bewusstsein und Kommunikation, vgl. Fuchs (2002). 39 Polysynaptische Reflexe und Muskelhypertrophie wären Beispiele für das Bewusstsein: typische Selbstbeschreibungen (z.B. das Selbst als Athlet).

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mitochondriale Oxidation, energiegeladene Sehnen, Spinalmotorik, zerebrale Vorgänge oder Gedanken, Motive, Gefühle, Verstand, Vernunft u.Ä.m. gemeint sein sollten.40 Draußen bleiben auch andere soziale Seiten des Personseins: ob Athleten verliebt, reich, arm, klug, schön oder an für Leistung vernachlässigbaren Orten erkrankt sind (z.B. Fußpilz), spielt für den Spitzensport keine Rolle. All das ist Umwelt, einiges davon sogar relevante Umwelt, ohne die im Spitzensport nichts laufen würde. Aber für ein System, das auf die operative Verkettung von Leistungsmitteilungen spezialisiert ist, bezeichnen Körper und Psychen Binnenstrukturen seiner Umwelt, die letztlich unerreichbar bleiben. Wie wichtig diese Umwelt für den Spitzensport ist, zeigt sich allerdings darin, dass hier eine ganze Armada von Symbolen und Strukturen entwickelt und aufgebaut worden ist, die Imaginationen von Erreichbarkeit und Steuerbarkeit erzeugen. Dazu zählen u.a. betreuende Medizin, Physiotherapie, Ernährungsberatung, Psychologie, Trainingslehre oder das Dopingkontrollwesen mit den entsprechenden Sozialfiguren (Teamarzt, Physiotherapeut, Fitnesstrainer, Psychologe, Dopingfahnder, Analytiker etc.). Sie belagern die Grenze und machen fast ungesehen, dass es diese Grenze überhaupt gibt. Und weil es sie gibt, ist im Übrigen auch Doping ein Umweltproblem.41 Eine aufwendige soziale Operation (Urin- bzw. Blutanalyse) ist von Nöten, um Klarheit in undurchsichtige Körperverhältnisse zu bringen und eine mehr oder weniger glaubwürdige Gegensymbolik zur de facto fehlenden Steuerbarkeit zu installieren.42 Die stärkste Imagination für die Erreichbarkeit von Körper und Bewusstsein geht von der Sozialfigur des Athleten aus. Sie fungiert als Bindeglied, das in die eine Richtung auf Körper und Psyche und in die andere Richtung auf den Spitzensport der Gesellschaft verweist. Der Athlet ist hier kein klassisches Subjekt, sondern eine soziale Erwartungsadresse (wie das klassische Subjekt), deren Ansatzpunkt die Mitteilungsselektion, im Spitzensport also die Leistungsmitteilung ist. An ihr schließt Kommunikation auf

40 Das alles kann natürlich zum Thema der Kommunikation werden. 41 Verstanden als heimlicher Griff zur Pille oder Spritze sowie körperliche Folgezustände, nicht als Thema der Kommunikation. 42 Warum gedopt wurde, wenn gedopt wurde, weiß man damit immer noch nicht. In dieses Defizit rückt z.B. die empirische Sozialforschung ein. Aber auch deren Texte sind Sozialstrukturen, die kein »echtes« Bewusstsein in die Kommunikation einschleusen.

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einen Mitteilenden, dem Selbstreferenz unterstellt und sinnförmige Selektion zugerechnet werden kann. Spitzensport digitalisiert den individuellen Lebenslauf zur Karriere. Karriere im Spitzensport ist nicht voraussetzungslos zu haben. Sie entsteht aus einem langwierigen Prozess sachlicher, zeitlicher und sozialer Ein- und Ausschließungen,43 in deren Zuge spitzensporttypische Erwartungen und diesbezügliche Dispositionen eingeübt, verinnerlicht und in einen Bereitschaftsmodus versetzt werden. Von einem Spitzenathleten kann man erwarten, dass er weiß, was ihn erwartet, und weiß, dass auch andere erwarten, dass er so erwartet. Sich darauf einzulassen, ist nach allem, was man bislang theoretisch und empirisch dazu sagen kann, auf jeden Fall riskant.44 Das wird am Beispiel Doping sehr deutlich.45 Karriere im Spitzensport ist eine unter bildungsbiographischen, erwerbsbiographischen und gesundheitsbiographischen Gesichtspunkten überaus riskante Form moderner Individualisierung.46 Die Alternativen dazu bilden freilich lediglich andere Weisen, die ebenfalls nicht der Risikobeobachtung entgehen.47 Aber im Spitzensport gibt es besondere Neuigkeiten.

IX Doping stellt eine Art Knopfdrucktechnologie in Aussicht. Dezenter noch als der heimliche Griff zum Amphetamin setzt Gendoping dort an, wo der legitime Einfluss auf vermeintlich oder tatsächlich leistungslimitierende Körper- und Mentalprozesse an achtbare Grenzen stößt. Und mehr noch als herkömmliches Doping wirft Gendoping Fragen von gesamtgesellschaftli-

43 Der empirisch validierte Befund einer Hyperinklusion in den Spitzensport setzt hier an. Vgl. Stichweh (2005: 115); Bette/Schimank (2006: 41ff.). 44 »Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich eine Ausdifferenzierung des Hochleistungssports vollzogen, die die Hinsichten, in denen es riskant ist, sich auf Hochleistungssport einzulassen, enorm gesteigert hat«, weshalb Stichweh für »eine Risikoanalyse der Sports« (Stichweh 2005: 115) plädiert. 45 Vgl. Bette/Schimank (2006: 145ff.). 46 Zur typischen Konstellation, die zur Anpassung (Coping) durch Abweichung (Doping) führt, grundlegend Bette/Schimank (2006). 47 Stichwort: Diplom-Taxifahrer (als Studienrisiko).

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cher Tragweite auf, die das interne Verarbeitungs- und Verantwortungsvermögen des organisierten Sports schlicht überfordern dürften. Die gentechnologisch in Aussicht gestellte Verfügbarkeit des Unverfügbaren provoziert nicht nur neue Diskussionen um Verbot, Kontrolle und deren Begründung im Spitzensport, sondern stößt vor in die heikle Zone zentraler Gattungsfragen (Stichwort: Keimbahnmanipulation).48 Gendoping stellt mit neuer Radikalität eine ganze abendländische Semantik des Menschen, seiner Natur und Würde auf die Probe. Die Naturalisierung der Menschenwürde im Recht, die Anthropologisierung von Vernunft und Handlungsautonomie in Erziehung und Ethik – sie alle sind daran gewöhnt, an der Natur des Menschen überzeitliche Bedeutungen und Funktionen auszulesen. Es spricht einiges dafür, dass sich auch im Fall von Gendoping die entscheidenden Vorgänge nicht an der Natur des Menschen abspielen, sondern in der Kommunikation über sie. Ein gentechnologisch überexpressiertes Glucosetransportprotein bedeutet sich selbst nichts. Die ausgelösten biochemischen Prozesse bleiben unbeeindruckt, sie laufen weiter. Beindrucken lässt sich davon allein die Gesellschaft. Und sie entwickelt in der Frage über den Menschen seit je her variable Vorstellungen.49

X Welches Problem löst die Dopingkontrolle? Für den Spitzensport selbst handelt es sich um eine hochfunktionale Einrichtung.50 Ist die Probe positiv, das Phänomen der sog. falsch-Positiven mal ausgenommen, stabilisiert das Testergebnis das Vertrauen in die Wirksamkeit des Kontrollwesens, die Beherrschbarkeit des Problems und nicht zuletzt darin, dass es vom organisierten Sport auch hinreichend ernst genommen wird. Zugleich ermöglichen überführte Körpersäfte den Mechanismus der Schuldabwälzung. Als Authentizitätsmarker lenken sie den Blick auf einzelne Dopingsünder, die mit regelmäßig vernehmbarer Empörung ausgeworfen werden, während der

48 Vgl. dazu Körner/Schardien (2012). 49 So beantworten Antike, Mittelalter und Neuzeit die Frage, ob Behinderte, Pygmäen oder auch ›Fremde‹ Menschen sind, bekanntermaßen unterschiedlich. Vgl. grundlegend Fuchs (2007). 50 Vgl. dazu Emrich/Pitsch (2009).

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Betrieb ungestört weiterlaufen kann.51 Demgegenüber stabilisiert jede negative Probe, das Phänomen fehlender Nachweismöglichkeiten mal ausgenommen, offensichtlich die große Moral.52 Das heißt die Erwartung in einen sauberen, d.h. noch fairen, noch natürlichen und noch gesunden (d.h. noch menschlichen) Spitzensport. Die Grenze zwischen gedopt und nicht-gedopt ist eine Sinngrenze und verläuft auf schmalem Grat. Das zeigt ein Blick auf den Code der WeltAnti-Doping-Agentur (WADA), auf Grenzwertdiskussionen und auf Möglichkeiten, die gerade aus dem Bereich der Gentechnologie auf sich aufmerksam machen. Eine selten beachtete Paradoxie des Dopingkontrollsystems liegt darin, im Bemühen um die Überwachung der Einhaltung natürlicher (oder gesunder oder fairer) Grenzen jeweils mit anzugeben, wie sehr hier Natur (Gesundheit, Fairness) nur als gleitende soziokulturelle Grenzziehung, etwa durch biostatistisch ermittelte Normbereiche und damit auch als anders möglich, zu haben sind. Systemtheoretisch gesprochen werden hier Unterschiede, die es eigentlich zu hypostasieren gilt, durch eigene Beobachtung als Unterscheidungen sichtbar, d.h. als Zwei-Seiten-Formen, und damit dem Kosmos der Essenzen enthoben. Wer Natur bezeichnet, der tut dies immer schon im Rahmen einer Unterscheidung, die Kultur erzeugt, auch wenn man auf die Gegenseite kreuzt. Das Kontrollwesen jedenfalls zieht die es tragenden Grenzen selbst, bisweilen verschiebt es sie. Und auch seine Evidenzproduktion in Form eindeutiger A- und B-Proben erscheint letztlich nur solange plausibel, wie die Verfahren der Erzeugung im toten Winkel verbleiben.53 Über den prekären Status gängiger Verbotskriterien (Gesundheit, Fairness, Natürlichkeit) ist in der Dopingdebatte viel zu lesen,54 an dieser Stelle interessiert alleine, dass es die Verbotsnorm gibt, und man seither regelmäßig Abweichungen registrieren kann. Und immer noch gilt die Faustregel: je intensiver Aufklärung und Kontrolle, desto subtiler die Abweichung. Mit dem Kontrollwesen hat sich eine Sonderform von Beobachtung zweiter Ordnung institutionell auf Dauer gestellt. Gedopt/

51 Für den organisierten Sport ist Doping insofern als »brauchbare Illegalität« (Luhmann 1976: 304) funktional. Im Anschluss daran Bette/Schimank (2006: 217). 52 Weniger offensichtlich, das war die These weiter oben, stabilisiert sich die große Moral komplementär durch Normabweichung. 53 Vgl. dazu Pitsch (2009) sowie Grüneberg (2010). 54 Vgl. Gugutzer (2009).

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nicht-gedopt ist zur beobachtungsleitenden Unterscheidung avanciert, die den wettkampfförmig ermittelten Unterschied von überlegener und unterlegener Leistung inzwischen notorisch supercodiert. Ist die überlegene/unterlegene Leistung auch eine saubere? Der Wettkampf selbst garantiert für nichts. Die Intransparenz der an ihm beteiligten Körper, sein Technologiedefizit an dieser Stelle, verhindert Gewissheit und Durchblick. Dadurch wird es zugleich unwahrscheinlicher, dass Ego Alters Verhalten vorbehaltlos als Bedingung eigenen Verhaltens akzeptiert. Mit anderen Worten: das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium des Spitzensports gerät in eine Art Dauerkrise. Zu ihrer Bearbeitung hat das System wie andere Sozialsysteme auch eine besondere Symbiotik ausgebildet, mit deren Hilfe auf Körper zugegriffen werden kann. Bestehen Zweifel an wissenschaftlicher Wahrheit, entscheidet sinnliche Wahrnehmung, gerät Macht als Steuerungsmedium der Politik in die Akzeptanzkrise, ist es an physischer Gewalt, die soziale Ordnung zu re-stabilisieren, wird Liebe beweispflichtig, kommt Sexualität ins Spiel.55 Funktionssysteme aktivieren ihren symbiotischen Mechanismus immer dann, wenn die Bindungskraft des eigenen Mediums an Grenzen stößt. Für den Spitzensport besteht dieser Bewältigungsmechanismus wesentlich in der Einrichtung des Dopingkontrollwesens, der durch Verfahren (Melde- und Kontrollsysteme56) und Symbolik (A- und B-Probe) den Körperbezug in besonderer Weise auf Dauer stellt. Es geht darum, gleichsam durch Transparenzmachung von Umwelt (Urin, Blut) nach dem Schema gedopt/nicht gedopt eindeutige Informationen über diese zu gewinnen, um damit Vertrauen in das System bzw. Medium des Leistungsvergleichs (wieder-)herzustellen, mithin zur generalisierten Annahme seiner typischen Selektionsofferten zu motivieren. Und auch für zahlreiche Systeme in der

55 Zur Mitausdifferenzierung symbiotischer Mechanismen im Zuge der Ausdifferenzierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien vgl. grundsätzlich Luhmann (2005: 265ff.). 56 Körper (und Psychen) müssen erreichbar sein, mit allem was dazu gehört. Zum Beispiel dem seit 2009 eingesetzten Online-Meldesystem ADAMS der WADA, an dem direkt Kritik- und Legitimationsdiskurse ansetzen (›elektronische Fußfessel‹). Das ist für symbiotische Mechanismen typisch (Wie viel polizeiliche Gewalt ist zulässig?).

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gesellschaftlichen Umwelt des Spitzensports erweist sich die Unterscheidung gedopt/nicht gedopt anschlussfähig.

XI Gesellschaft ist Kommunikation. Kommunikation ein transitives Geschäft. Moderne Gesellschaften sind polykontextural verfasst. Polykontextural heißt: an ein und dasselbe Ereignis kann aus unterschiedlicher Perspektive angeschlossen werden, z.B. medial, politisch, rechtlich usf. Dass sich polykontexturale Anschlüsse funktional in den Kontext von Ausdifferenzierung und Reproduktion stellen lassen, lässt sich gerade am Doping eindrucksvoll studieren. So hört Wissenschaft typischerweise nicht auf, wissenschaftsförmige Sätze über Doping zu produzieren; Biochemiker hören gerade nicht auf, Körpersäfte zu analysieren und neue Nachweisverfahren zu entwickeln; Ethik hört gerade nicht auf, unter allen verfügbaren Ethiken die guten auszuwählen, um den Spitzensport(ler) daran zu messen; Recht hört gerade nicht auf, eine allgemeine Norm auf Sacherhalte anzuwenden und natürlich stellen auch Massenmedien ihren Betrieb mit Blick auf entdeckte Doper gerade nicht ein; genauso wenig wie Pädagogik und Prävention ihre mit guten Absichten ausgestattete Arbeit am noch-nicht mündigen Athleten. Doping wird regelmäßig verhandelt als Krise des modernen Sports – vermutlich aufgrund gestörter Erwartungen. Für die Gesellschaft sind Krisenthemen Aufmerksamkeitsregeln, sie sichern hohe Resonanzen in einer strukturell begrenzt resonanzfähigen Gesellschaft.57 Insofern also, das heißt unter der Perspektive einer an der Nadel von Kommunikation hängenden Gesellschaft, hat Doping nicht nur im Spitzensport der Gesellschaft eine beachtenswerte Funktion, sondern gleichfalls für die polykontextural verfasste Gesellschaft des Spitzensports. An ihm amplifiziert jede Menge Sinn.

57 Vgl. dazu Luhmann (2004: 219f.), für die ›dicken Kinder‹ der Gesellschaft Körner (2008).

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D OPING

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Denken in Bewegung Über die Gegenwart des Geistes in den Praktiken des Körpers, das Ergreifen von Situationspotenzialen und die Bewältigung von Unsicherheit1 THOMAS ALKEMEYER

Zusammen mit der Idee des autonomen Subjekts hat die neuzeitlichmoderne Gesellschaft ein Handlungskonzept hervorgebracht, das idealtypisch folgendermaßen aussieht: Am Anfang setzt sich dieses Subjekt, möglichst unter Ausschluss von Emotionen, ein Handlungsziel, durchdenkt Handlungsalternativen, trifft eine Entscheidung und entwirft einen Plan, der dann anschließend in die Praxis umgesetzt wird. Der Handlungsvollzug ist in diesem Konzept ein der Modellbildung nachgeordnetes, selbst nicht erklärungsbedürftiges Epiphänomen. Entsprechend kommt dem menschlichen Körper darin der Status eines bloßen Vollzugsorgans vorgängiger geistiger Prozesse zu. Wenn überhaupt, dann wird er als ein die Rationalität des Handelns gefährdender, letztlich triebhafter Störenfried thematisiert. Dieses, um Rationalität bemühte Entscheidungen als Ursache des Handelns einsetzende Handlungskonzept ist in den letzten Jahrzehnten in verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen zunehmend infrage gestellt wor-

1

Der vorliegende Beitrag ist die grundlegend überarbeitete und erweiterte Fassung eines bereits in anderem Zusammenhang publizierten Beitrags (Alkemeyer 2009). Für weiterführende Hinweise danke ich Kristina Brümmer, Patrick Linnebach und Matthias Michaeler.

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den (vgl. Wiesenthal 2009: 26). Selbst in der Organisations- und Management-Theorie, deren klassische Konzepte des Projektmanagements meines Wissens überwiegend Top-Down-Initiativen oder – wie beispielsweise in der Software-Entwicklung – Wasserfallmodelle2 postulierten, deutet sich ein Umdenken an. Vor allem im Hinblick auf die Entwicklung und Umsetzung neuer Ideen scheinen perfekt durchgeplante Projekte keineswegs immer ideal zu sein. Etliche solcher Projekte in der Wirtschaft oder im Bildungssektor scheitern, so wird beklagt. Der Grund dafür dürfte weder in mangelnder Professionalität beim Managen liegen, noch darin, dass die Idee zwar gut und nur die Umsetzung falsch ist, sondern im Gestus des Entwerfens und Projektierens selbst. Dieser Gestus scheint einen grundsätzlichen Fehler zu haben: Ein am Top-Down-Modell orientiertes Projekt definiert ein Ziel und den Weg dorthin, lässt daneben jedoch wenig Spielraum.3 Die Experimentierfreudigkeit und Kreativität der Beschäftigten droht dadurch ebenso auf der Strecke zu bleiben wie ihre Selbstorganisationsfähigkeiten. Klassische Modelle des Projektmanagements werden deshalb verschiedentlich, beispielsweise in der Softwareentwicklung, durch eine inkrementelle Vorgehensweise ersetzt.4 Diese zeichnet sich durch permanente kommunikative Rückkoppelungen aus, so dass kontinuierlich auf im Entwicklungsprozess sich ergebende Veränderungen reagiert werden kann. Während alle Phasen der Produktentwicklung im Wasserfallmo-

2

Das Wasserfallmodell geht davon aus, dass sich die Softwareentwicklung in unterschiedliche Phasen unterteilen lässt, die planmäßig aufeinander folgen. Die Ergebnisse jeder Phase gehen, so die Annahme, wie bei einem Wasserfall, als bindende Vorgaben in die nachfolgende, nächst tiefere Phase ein (vgl. Himmelreich 2006).

3

Darauf ist unlängst auch in einem instruktiven Artikel in der Süddeutschen Zeitung hingewiesen worden (SZ vom 18./19. Dezember 2010, Beruf und Karriere Nr. 293).

4

Schimank (2009: 89f.) argumentiert, dass der »Inkrementalismus« den Rahmen des Mainstreams der Entscheidungsforschung nicht sprenge, so dass diese auch ein nicht-teleologisches Handeln zu erklären in der Lage sei. Fraglich ist allerdings, ob mit dem Werkzeugkasten dieses handlungs- und entscheidungstheoretischen Mainstreams auch die unten genannten Merkmale sozialer Praxis – insbesondere ihre Materialität und Körperlichkeit sowie ihre Kollektivität – angemessen berücksichtigt werden können.

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dell streng linearisiert sind, werden sie beim inkrementellen Vorgehen immer wieder neu durchschritten. Wie genau die Steuerung erfolgt und in welche Phasen der Herstellungs- bzw. Entwicklungsprozess unterteilt wird, unterscheidet sich dabei von Methode zu Methode. Stets stehen jedoch sich selbst organisierende Teams im Mittelpunkt. Das inkrementelle Vorgehen soll sie in die Lage versetzen, Erfahrungen, die während der Entwicklung bzw. aus vorangegangenen Entwicklungsschritten gewonnen wurden, unmittelbar zu nutzen und konstruktiv in den Produktionsprozess einzubringen (vgl. Himmelreich 2006). Solche Vorgehensweisen scheinen gesellschaftliche Bedingungen zu reflektieren und gleichzeitig mitzutragen, die in soziologischen Gegenwartsanalysen unter anderem als Kennzeichen einer ›zweiten‹ bzw. ›reflexiven Moderne‹ etikettiert werden. In der Theorie der ›zweiten Moderne‹ wird nicht nur dem Begriff der Rationalität, sondern auch dem Konzept der Unsicherheit eine große Bedeutung beigemessen. Da in der »Zweiten Moderne« ein im Vergleich mit ihr noch weitgehend einheitliches Weltbild der »Ersten Moderne« durch »plurale Orientierungen und Partikularwissen« (Wiesenthal 2009: 27) ersetzt worden sei, mangele es ihr an gesicherten Entscheidungsgrundlagen; die Handlungsorientierungen würden »fluide«, blieben »kontextgebunden und von zeitlich begrenzter Brauchbarkeit« (Beck et al. 2001: 36). In sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht sei Handlungsunsicherheit die Folge. Subjektiv werde die objektive Komplexität der Ereignisbedingungen als Unmöglichkeit sicheren Wissens erlebt. In der Zeitdimension äußere sich diese Unsicherheit in der Unerreichbarkeit verlässlicher Vorhersagen: Der zukünftige »Wirkungsraum des Handelns« (Wiesenthal 2009: 29) könne nicht mehr zureichend aus vergangenheitsbezogenem Wissen prognostiziert werden. Und in der Sozialdimension überlagerten die Kontingenzen eines zunehmend ungebremsten kompetitiven Handelns die »Kausalkomplexität der Sachdimension« (ebd.) zusätzlich: Wenn sich Eigenes und Fremdes im Wettbewerb gegenseitig konditionieren, wenn Ego und Alter ihre Absichten permanent zu durchkreuzen und sich zu täuschen versuchen, führe diese zu »strategischer Interaktionsunsicherheit« (ebd.). Diese äußere sich vor allem im ständigen Bestreben der Akteure, »sich vor den Folgen der Handlungswahl eines potentiell arglistigen Interaktionspartners zu schützen« (ebd.). Folgt man diesen Diagnosen, dann sind Ungewissheit, Unsicherheit und Uneindeutigkeit eine ständige Herausforderung an eine zunehmend größere

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Zahl individueller und kollektiver Akteure.5 Diese seien gezwungen, auch dann zu re-agieren, wenn sie sich weder auf gesichertes Wissen noch auf Verhaltenserwartungen verlassen könnten und etablierte Verfahren der Problemlösung nicht (mehr) griffen. »Müssen und Können«, »Entscheidungsbedarf und Entscheidungskompetenz«, träten nun auseinander (Wiesenthal 2009: 27). Das neuzeitlich-moderne Modell des rational entscheidenden Homo oeconomicus scheint diesen Bedingungen nicht (mehr) angemessen. Als erfolgversprechender Handlungsmodus greife rational choice allenfalls in gut kalkulierbaren Umwelten, nicht jedoch in den sich ausweitenden »Zonen von Unsicherheit und Überraschungsrisiken« (ebd. 38). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie, mittels welcher Vermögen, Wissensformen und Verfahrensweisen handeln die Akteure eigentlich in diesen Zonen? Im vorliegenden Beitrag soll die These vertreten werden, dass sich diese Frage zumindest ansatzweise über eine praxeologische Beschreibung sportlicher Praktiken beantworten lässt.6 Die für die folgende Argumentation wichtigsten Merkmale einer solchen praxeologischen Perspektive sind die Aufmerksamkeit für die Körperlichkeit und Materialität, die implizite und informelle Logik sowie die Kollektivität der sozialen Praxis. Mit diesen Akzentuierungen beanspruchen praxeologische Ansätze, die »Rationalismen und Intellektualismen anderer Sozial- und Kulturtheorien« (Reckwitz 2003: 290) zu überwinden. Insbesondere Sportspiele wie Handball, Basketball oder Fußball sind – so mein Ausgangspunkt – Modelle unsicherheitsgeprägter Handlungsräume jenseits trivialer Alltagsroutinen. Ihr Verlauf ist deshalb auch nur bedingt vorab zu planen und von außen, zum Beispiel von der Trainerbank, zu beeinflussen (I.). Sportspiele eignen sich vor diesem Hintergrund nicht nur zur Veranschaulichung eines Handelns in Unsicherheitszonen, sondern auch dazu, einen geschärften analytischen Blick für die Relevanz eines stummen verkörperten Praxiswissens für das ›Mitspielen‹ auszubilden. Geist, Intelligenz und Sinn gehen dem Handeln nicht voraus, sondern stecken in den für ein bestimmtes Spiel charakteristischen Bewegungen des Körpers, so soll in diesem Zusammenhang argumentiert werden

5

Das heißt nicht, dass Ungewissheit, Unsicherheit und Uneindeutigkeit erst in der »reflexiven Moderne« vorkommen, sondern nur, dass sie sich in dieser (womöglich) gehäuft ereignen (vgl. auch Schimank 2009: 91).

6

Zum Verständnis von Sport als soziale Praxis vgl. Alkemeyer (2008a).

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(II.).7 Auf dieser Folie erlangt die sportliche Praxis sowohl in bildungstheoretischer Hinsicht als auch für die praxeologische Sozialforschung eine über ihren besonderen Gegenstand weit hinausreichende, allgemeine Bedeutung (III.). Hintergrund dafür ist eine neue Aufmerksamkeit der Kulturund Sozialwissenschaften für die ›stummen‹, körperlich-materialen Fundamente des Sozialen. Eine (selbst-)kritische Reflexion auf jene aktuellen wissenschaftlichen Ansätze und Diskurse, die eine Explikation dieser, die sozialen Praktiken implizit und damit unerkannt tragenden Grundlagen fordern und ermöglichen, schließt den Beitrag ab (IV.). Denn bislang Verborgenes, wie beispielsweise implizites Wissen, beobachtbar zu machen und gleichsam an die Oberfläche zu zerren, bedeutet auch, es potenziell pragmatischen Zugriffen oder gar Verwertungsinteressen zu öffnen.

1. S PORT UNTER

ALS D RAMATISIERUNG DES H ANDELNS U NSICHERHEIT

Mit dem Sport haben sich moderne Gesellschaften eine Institution geschaffen, in deren Rahmen Spannung künstlich erzeugt und in aller Regel auch wieder abgebaut wird (vgl. Elias/Dunning 1986). Für die Erzeugung und den Erhalt der Spannung über die Dauer eines sportlichen Ereignisses hinweg ist, neben der Ungewissheit des Ausgangs eines jeden Wettkampfs, auch die Unsicherheit über das Gelingen jedes einzelnen Spielzugs verantwortlich: Der Wettkampfsport bietet – insbesondere in Form der Mannschaftsspiele – raum-zeitlich gerahmte, aus dem Fluss des Alltagslebens herausgehobene Bühnen, auf denen die für die moderne Gegenwart als charakteristisch diagnostizierte »spannungsvolle Kopräsenz« (Wiesentahl 2009: 39) von erhöhtem Entscheidungsbedarf bei Abwesenheit sicherer Entscheidungsgrundlagen dramatisiert und aufgrund der Körperlichkeit der

7

Aus praxeologischer Perspektive sind die wahrnehmbaren Körperbewegungen stets ein sinnhaftes, für die ›Mitspieler‹ unmittelbar verständliches Verhalten. »Eine Praktik zu lernen, heißt immer auch, die jeweilige praktische Intelligibilität zu erwerben«, die diese Praktik sinnhaft strukturiert (Schmidt/Volbers 2011: 4): Aktive Teilnehmer ebenso wie Zuschauer sehen nicht einfach nur ›Körper‹ oder ›Bewegungen‹, sondern erkennen ›Personen‹ (respektive Mit- und Gegenspieler) und ›Handlungen‹ (vgl. ebd.: 12).

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Handlungsvollzüge für Zuschauer nicht nur beobachtbar, sondern auch kinästhetisch miterlebbar gemacht wird (vgl. Alkemeyer 2008b). Unsicherheit hat im Sport vielfältige Erscheinungsformen. Sie kennzeichnet den Umgang der Sportler mit Geräten und Spielobjekten ebenso wie ihre Interaktionen untereinander. Bereits eine vergleichsweise wenig komplexe Sportart ohne direkten Gegnerkontakt wie das Rudern im Zweier ohne Steuermann provoziert Instabilitäten in beiden Interaktionsdimensionen. So führt die von dem entscheidenden Funktionscode (Sieg/Niederlage) sowie vom Überbietungsimperativ des modernen Wettkampfsports (citius – altius – fortius) bedingte Bootsform – das Boot ist nur 32 cm breit – zu einer extremen Lageinstabilität und damit Anfälligkeit für die äußeren Einflüsse von Wind, Wellen und Strömung. Unter diesen, der Sicherheit der Handlungsabläufe abträglichen Bedingungen muss nicht nur eine individuell optimale Vortriebswirkung erzielt, sondern auch das Verhalten der Ruderpartner aufeinander abgestimmt werden: Die Ruderschläge müssen synchronisiert, die eingesetzten Kräfte harmonisiert werden. Gleichzeitig gilt es, die Gegner im Auge zu behalten und deren Aktionen angemessen zu beantworten: Bei dauernder Veränderung der Handlungsbedingungen sind in jedem Augenblick diffizile inter- und intrakoordinative Aufgaben zu bewältigen (vgl. Fahrig/Witte 2007). In Sportarten mit mehreren Spielern und direktem Gegnerkontakt wie dem Fußballspiel sind die Komplexität der Handlungsbedingungen und damit das Unsicherheitsniveau noch erheblich höher. Im Unterschied zu den Plansequenzen eines Kinofilms, zur Dramaturgie eines Theaterstücks oder zur Choreographie einer Ballettaufführung gibt es für die Züge eines Sportspiels kein Skript.8 Sie existieren vielmehr ausschließlich in ihrem Vollzug. In einem Modus »antagonistischer Kooperation« (Wacquant 2003: 89) werden hochdynamische, komplexe und damit labile Beziehungsmuster – Elias (1996) bezeichnet sie als Figurationen – erzeugt, die sich völliger Planbarkeit entziehen. Regeln, die Begrenzungen von Raum und Zeit, die Interaktionsform des Wettkampfes, Spielobjekte und Geräte machen die

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Selbstverständlich sind auch die Interaktionen auf den Bühnen des klassischen Theaters oder des Balletts störanfällig, jedoch sind Störungen nicht konstitutiv für diese Aufführungsgattungen. Anders verhält es sich mit der Performancekunst und dem Postdramatischen Theater, das in dieser Hinsicht dem Sport ähnelt (vgl. Alkemeyer 2004).

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Orientierung im Spiel und damit die Handlungsvollzüge künstlich schwer. Zu keinem Zeitpunkt kann das gemeinsam erzeugte Spiel von einem Spieler oder einer Gruppe von Spielern kontrolliert werden. Der Spielverlauf übernimmt vielmehr selbst die Regie, vor allem dann, wenn die gegnerischen Gruppen eine annähernd gleiche Spielstärke haben (vgl. Elias 1996: 75ff.). Jede individuelle Handlung, jede Intention und Entscheidung, ist damit letztlich ein Emergenzphänomen9: Sie ergibt sich in einem überindividuellen Spielprozess, in dem die Teilnehmer permanent aufeinander Bezug nehmen und sich gegenseitig bewusst wie unbewusst, kognitiv wie körperlich, wichtige Impulse geben. Diese Emergenz von Handlungen und Entscheidungen in kollektiven (Spiel-)Prozessen ist höchst voraussetzungsreich: Diese entstehen nur dann, so lässt sich in Fortführung der bourdieuschen Überlegungen zur Koinzidenz von Habitus und Habitat (vgl. Bourdieu 2001: 188ff.) folgern, wenn ein Spiel bzw. wenn eine Spielsituation bereits erlernte, im ›Körpergedächtnis‹ eines Spielers aufbewahrte Handlungs- und Entscheidungspotenziale gleichsam ›triggert‹, also derart anspricht und aktiviert, dass sie aus den Kulissen auf die offene Bühne treten.10 Die Akteure des modernen Wettkampfsports – Trainer, Aktive, Funktionäre – streben stets die Kontrolle über das Wettkampfgeschehen an, können Kontrollverluste jedoch nie (ganz) verhindern.11 Überraschungsrisi-

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Zur Emergenz von Entscheidungen in überindividuellen Prozessen (vgl. auch Wilz 2009).

10 Das bedeutet ebenfalls, dass das Spiel nicht ursächlich auf die Pläne und Intentionen von Subjekten zurückgeführt werden kann. Vielmehr werden die Subjekte des Spiels im Spielen selbst geformt, sie formen sich darin aktiv selbst und wirken darüber ihrerseits gestaltend, reproduzierend oder verändernd auf das Spiel zurück. Subjektivierung kann daher nur relational konzipiert und als Figuration, das heißt als ein in seine Einzelbestandteile nicht auflösbares Ganzes, verstanden werden, so dass Ursachen und Wirkungen nicht voneinander getrennt und eindeutig bestimmt werden können. Dies ist auch der Kerngedanke des DFG-Graduiertenkollegs 1608 »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (www.praktiken-der-subjektivierung.de). 11 Beides – Kontrolle und Kontrollverlust – ist konstitutiv für den Wettkampfsport. Stern (2010: 131) sieht eben darin einen zentralen Unterschied zum Risikosport,

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ken sind in den praktischen Vollzügen dieses Sportmodells allgegenwärtig, Unstimmigkeiten sind vorprogrammiert, die Tücken des Misslingens lauern überall. In riskanten Bewegungen werden Grenzsituationen der Körperbeherrschung und des Zusammenspiels vorgeführt, an denen im Grenzfall das in den modernen Mythen rationalen Beherrschbarkeit verdrängte »Problem des Umschlags von Beherrschung in Nichtbeherrschung sichtbar wird« (Luhmann 1996: 110). Bereits die geringste Konzentrationsstörung oder der kleinste Geschwindigkeitsverlust können einstudierte Spielzüge scheitern lassen – zumal dann, wenn, wie im Fußballspiel, ein ohnehin nur schwer zu beherrschender Gegenstand – der Ball – regelgemäß mit dem Fuß gespielt werden muss, einem Organ, das dazu von ›Natur‹ aus denkbar ungeeignet ist, jedenfalls weitaus ungeeigneter als die Hand. Aus der Struktur des Spiels als dynamischer Verflechtungszusammenhang gegenseitig sich veranlassender wie limitierender Aktionen resultiert ein Handeln in permanenten Krisensituationen (vgl. Gebauer 2006: 17ff.; Alkemeyer 2008b). Spielkonstellationen können sich jäh ändern, einstudierte Spielzüge müssen spontan widerrufen und neu aufgebaut werden. Systematisch steuern Sportspiele auf einen Punkt zu, der das individuelle Können transzendiert, so dass Unvorhersehbares eintritt. Die ästhetische Faszination des Spiels resultiert, so hat es Martin Seel (1993) bereits vor knapp zwei Jahrzehnten formuliert, aus dieser »Zelebration des Unvermögens«. Wettkampfcode, Reglement und die materielle Rahmenbedingungen eines Sportspiels sollen dessen Produktion als eine Figuration unter Spannung gewährleisten. Mit taktischen Veränderungen wie neuen Spielsystemen, die einen Wettbewerbsvorteil versprechen, wandeln sich auch die Anforderungen an die einzelnen Spieler, in der Folge die Trainingskonzepte sowie das theoretische wie praktische Wissen der Spieler: ihr motorisches und technisches Geschick, ihr (taktisches) Spielverständnis, ihre Aufmerksamkeiten und Wahrnehmungsfähigkeiten. Die Beziehungen zwischen den Figurationen und den Spieler-Subjekten sind mithin wechselseitig konstitutiv. Ein kurzpassbasierter ›Konzeptfußball‹12 mit ständig wechselnden Posi-

in dem der Kontrollverlust nicht Teil des Spiels sei, sondern dessen Rahmen sprenge: Mit dem Kontrollverlust drohen in diesem Sportmodell ernste Konsequenzen, bis hin zum Tod eines Sportlers. 12 Während im Fußball der 1970er Jahre noch Fußball-Heroen wie Netzer, Beckenbauer oder Overath dominierten, ist der gegenwärtige Konzeptfußball mit

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tionen, ›engen Räumen‹ und enormem Zeitdruck erzeugt neue Unsicherheitskonstellationen; er braucht andere Spieler als beispielsweise das auf lange Pässe ›in die Spitze‹ ausgerichtete Spielsystem der Vergangenheit. »Eine zunehmende Ball- und Spielgeschwindigkeit in Verbindung mit vermehrter Beeinflussung durch Gegner verlangt ein immer schnelleres und adäquateres Reagieren in immer kürzeren Zeiten«, schreiben die Trainingswissenschaftler Schöllhorn et al. (2004). Im modernen Training ginge es deshalb vorrangig darum, »die Spieleraktionen von Beginn an resistent gegen Störungen unterschiedlichster Art« (ebd.: 13) und die technischtaktischen Vermögen variabel verfügbar zu machen, anstatt Bewegungsabläufe in Serien von Übungen nur einzuschleifen. Wer für eine Aktion zu lange benötigt, wird postwendend durch Ballverlust bestraft. Die Spieler müssen eine Spielsituation in Sekundenbruchteilen erfassen, um sie angemessen beantworten zu können. Zeit zum gründlichen Bilanzieren von Handlungsalternativen bleibt in aller Regel nicht. Augenblicklich müssen für Außenstehende zumeist unmerkliche physische Äußerungen – Körperhaltungen, Fußstellungen, ein leises Muskelzucken – als Hinweise auf Zukünftiges ›gelesen‹, oder besser: erspürt werden. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist, dass kein Spieler auf die physischen Äußerungen des Gegners vertrauen kann. Denn die Spieler nutzen ihr in Training und Wettkampf neben konditionellen, technischen und taktischen Fähigkeiten erworbenes Vermögen zum körperlichen Ausdruck von Bewegungsabsichten nicht nur um den Mitspielern ihre Vorhaben anzuzeigen, sondern auch zum Bewirken »vorsätzliche[r] Fehlinterpretationen« (Goffman 1974: 33, Anm. 13) beim Gegner, vulgo zum Fintieren. Im Eifer des Wettkampfgeschehens muss immer auch zwischen wirklichen und vorgetäuschten Absichten unterschieden werden. Im Spiel bleibt nur, wer in einer gegebenen Spielstellung die kommende, in ihr bereits enthaltene vorwegnehmen kann, wer in der Lage ist, sich motorisch und gedanklich ins kollektive Netz der Spielzüge einzuschalten

seinem Fluss an Kurzpässen, rotierenden Positionen und einem ballorientierten Verschieben und Übergeben arm an so genannten Führungsspielern. Er beruht weniger auf Hierarchien von ›Regisseuren‹ und ›Wasserträgern‹, als auf leistungsfähigen, arbeitsteilig organisierten Kollektiven: An die Stelle hierarchisch klar organisierter Systeme sind tendenziell symmetrische Netzwerke getreten (vgl. Delabar 2005; Alkemeyer 2010).

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und zu antizipieren, wo sich Ball, Mit- und Gegenspieler demnächst befinden werden. Spieler, die eine Situation schneller erfassen als ihre Gegner, können sich Vorteile verschaffen: Sie finden kurzfristig Entlastung vom Zeitdruck der Praxis und haben die Chance, den erwirtschafteten Zeitgewinn zu einem blitzschnellen situationsgebundenen Durchspielen von Handlungsalternativen zu nutzen. Auch die Verbesserung technischer Fertigkeiten zielt unter den Bedingungen eines immer höheren Spieltempos auf Zeitgewinn ab. Angesichts zunehmender Zeitknappheit muss jeder Spieler technisch in der Lage sein, den Ball nur einmal statt wie früher dreimal zu berühren, um ihn anzunehmen, mitzunehmen und weiterzuspielen: Ballannahme, Ballmitnahme und Ballweitergabe müssen zu einer Bewegung verschmelzen.13 Obwohl die Möglichkeitsräume erlaubten Verhaltens durch Regeln abgesteckt sind, ist jedes Spiel durch eine Ereignishaftigkeit ständig neu sich ergebender Spielsituationen gekennzeichnet. Vereine und Trainer stehen damit vor dem Problem, den Spielverlauf nur bedingt, zum Beispiel durch Spielereinkäufe, Vorbereitung und taktisch-strategische Vorgaben, kontrollieren, planen und während des Spiels von außen beeinflussen zu können. Eine Koordination der Spieler durch Unterwerfung unter enge taktische Vorgaben könnte sich unter diesen Bedingungen sogar als kontraproduktiv erweisen, da strenge Vorgaben ein situativ benötigtes Improvisationsgeschick ähnlich stark einzuengen drohen wie Top-Down-Strategien in der Wirtschaft. Spielgestaltung und Spielkontrolle sind demgegenüber Dauerprobleme, die eine Mannschaft durch Selbstorganisation im Spiel praktisch lösen muss: In kollektiver Aktion muss es ihren Mitgliedern fortlaufend noch unter Bedingungen höchster Bedrängnis gelingen, situationsadäquat

13 So jedenfalls der französische Stürmer Thierry Henry in einem informativen Interview mit der FAZ vom 13. Juni 2004 (vgl. »Wenn du den Ball hast, muß der andere die Panik haben.«) Henry fährt fort: »Wenn wir auf der rechten Seite angegriffen werden und ich stehe auf der linken, dann werde ich allein sein, isoliert, wenn wir den Ball gewonnen haben. Also verlagere ich mich, sorge dafür, dass ich gut stehe für den Gegenangriff. Wenn der Ball dann kommt, sehe ich das ganze Spiel schon vor mir. Ich sehe die Laufwege, die Passwege, die Ballannahme, den möglichen Abschluß, alles. Im modernen Spiel geht alles so schnell, zu schnell. Also musst du dem Spiel im Kopf voraus sein. Du musst Zeit gewinnen, dann gewinnst Du das Spiel.«

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zu reagieren und kommunikative Anschlüsse für ein Weiterspielen zu erzeugen. Die Frage, wie Mannschaften dies fertigbringen und im Training, aber auch im Spiel selbst, entsprechende Mitspielfähigkeiten ihrer Akteure zugleich ausbilden und verfügbar machen, ist eine in der Sportwissenschaft bislang ungelöste Frage.14

2. S PORTLER ALS PRAKTISCHE E XPERTEN FÜR DIE B EWÄLTIGUNG VON U NSICHERHEIT Trainierte, aufeinander eingespielte Fußballspieler sind vor diesem Hintergrund bereichsspezifische praktische Experten für eine kollektive Selbstorganisation des Handelns unter den Bedingungen regelhaft erzeugter Unsicherheit. Ihre Situation ähnelt in mancher Hinsicht der Situation von Akteuren in den von Weick und Sutcliffe (2007) so genannten High Reliability Organizations (HROs). Damit sind beispielsweise atomgetriebene Flugzeugträger, Flugsicherungssysteme, Geiselverhandlungen, Notfallmedizin, Kernkraftwerke oder Löschtrupps in der Buschbrandbekämpfung gemeint. Den Teilnehmern von HROs gelingt es in der Regel, Geschehensabläufe trotz wiederholter Störungen ›im Griff zu behalten‹ und ›Spitzenleistungen‹ zu vollbringen. Ihr Handeln ist von fünf Prinzipien gekennzeichnet: 1. eine größere Aufmerksamkeit für Fehler als für Erfolge, 2. der Verzicht auf grob vereinfachende Interpretationen, 3. ein feines Gespür für Situationen, betriebliche Abläufe und soziale Beziehungen, 4. das Streben nach Flexibilität und Improvisationsgeschick, 5. Hochachtung für fachliches Wissen und Können. In ihrer Gesamtheit prägen diese fünf Verhaltensmuster einen »kollektiven Zustand der Achtsamkeit« (ebd.: 7) aus, das heißt eine die Individuen überspannende, gemeinsame leiblich-mentale Haltung, die gekennzeichnet ist durch eine hohe Aufmerksamkeit für schwache, von außen kaum merkliche Anzeichen kommender Probleme sowie die Bereitschaft, Situationsdeutungen im Handlungsvollzug permanent zu revidieren und zu

14 Diese Frage kann wohl nur über ethnographische Studien in ›natürlichen‹ Situationen, das heißt in Training und Wettkampf, beantwortet werden kann. Laborstudien unter experimentellen Bedingungen, welche die Akteure vom kollektiven Spielgeschehen isolieren, scheinen dazu kaum in der Lage.

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aktualisieren, um sich fortwährend auf neue (Spiel-)Situationen einstellen zu können (vgl. ebd.: 57f.). Der Handlungshorizont ist in diesen Organisationen eher situationsbezogen als strategisch ausgerichtet. Ein vornehmlich durch Erfahrungslernen entwickeltes »Gespür für Situationen« erlaubt es ihren Akteuren, »stetige Anpassungen vor[zu]nehmen, die verhindern, dass sich Fehler ansammeln und ausweiten« (ebd.: 26). HROs erreichen Zuverlässigkeit und Stabilität also weder durch ein ›von oben‹ durchgeplantes, normorientiertes oder bürokratisches Handeln noch durch das bloße Abspulen von Routinen, sondern durch fehlersensitive Anpassungen des Verhaltens an ständig wechselnde Situationen. Fehlersensitives Verhalten ist nun genau das, was in den üblichen Intelligenztheorien als intelligent bezeichnet wird (vgl. Wingert 2007). Ähnlich wie im modernen Konzeptfußball mit seinen Stafetten aus kurzen schnellen Pässen sind flexibles Reagieren und ein situationsadäquates Modifizieren, gegebenenfalls auch Abweichen, von Plänen, festgelegten Strategien und Routinen, gefragt. In der Haltung der Achtsamkeit richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Antizipation von Störungen. Sie legt damit eine grundlegende Skepsis gegenüber Erwartungen und Plänen nahe, denn diese orientieren die Wahrnehmung vornehmlich auf bereits bekannte Merkmale von Ereignissen oder Personen: Erwartungen und Pläne unterstützen die Neigung, alle Daten, die nicht zu ihnen passen, zu ignorieren. Sie führen somit zu »toten Winkeln« (Weick/Sutcliffe 2007: 46) in der Wahrnehmung. Im Spiel hat das zumindest unerwünschte Folgen, im ›Ernst des Leben‹ mitunter auch gefährliche. Planungen unterstellen ein Ausmaß an Verstehen, dass man in unsicheren Handlungsräumen unmöglich erreichen kann. Die diesen Räumen adäquate Einstellung der Achtsamkeit wirkt den toten Winkeln der Wahrnehmung entgegen. Sie lenkt die Aufmerksamkeit vom Erwarteten aufs Unerwartete, »vom Sicheren zum Ungewissen, vom Expliziten zum Impliziten, […] vom Übereinstimmenden zum Widersprüchlichen« (ebd.:58). Vorreflexive subjektive Äußerungsformen dieser Achtsamkeit sind kurze Augenblicke der Irritation und Überraschung, der Beunruhigung oder auch Bestürzung, kurz alles, was ›aus dem Rahmen fällt‹. In Unsicherheitszonen sind demnach gerade sinnlich-leibliche Wahrnehmungen (der Beunruhigung, Befremdung usw.) relevante Medien eines ins Handeln eingebundenen praktischen Erkennens.

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Der Haltung der Achtsamkeit korrespondiert ein Handlungsmodus der Flexibilität und Variabilität. Die Unterstellung einer Allgegenwart des Unerwarteten unterstützt die Bereitschaft, bereits vor dem Abschluss einer rationalen gedanklichen Diagnose mit dem Handeln zu beginnen. Denn im Unterschied zum Postulat klassischer Handlungstheorien, der Handlungsvollzug sei nichts weiter als die Ausführung eines vorab entworfenen Planes, liegt dem achtsamen Vorgehen die Einsicht darin zugrunde, dass den in den Handlungsvollzug eingefalteten leiblichen Empfindungen eigene Erkenntnisqualitäten zukommen. Diese Überzeugung ermuntert »zum Handeln während man denkt, oder zu handeln, damit man klarer denken kann« (ebd.: 84). Sie fordert dazu auf, Denken und Praxis, Bewusstseinsvorgänge und sinnlich-leibliche Wahrnehmungen als eine Einheit zu begreifen. Achtsamkeit stellt sicher, »das Unerwartete auf beständige Art zu erspüren« (ebd.: 98): Nicht das Handeln soll zu einer Routine werden, sondern eine Form des Sehens, die Bernhard Waldenfels (1999: 139) als ein »sehendes« im Unterschied zu einem »wiedererkennenden Sehen« bezeichnet hat. Während sich das wiedererkennende Sehen im Gesehenen einrichtet und aus dem Beobachteten bereits Bekanntes und Gewusstes herausliest, reagiert das sehende Sehen auf die Wahrnehmungen im Prozess des Sehens: Es ist »ein Sehen, das den Rahmen sprengt« (ebd.) und »neue Sichtweisen erprobt« (Brandstetter 2007: 46). Die Subjektzentrierung dieser phänomenologischen Überlegungen kann praxeologisch überwunden werden, wenn man sie mit Reflexionen des französischen Sinologen und Philosophen François Jullien zusammenbringt. Jullien (1999) unterscheidet ein modernes westliches (in seinen Grundzügen bereits skizziertes) Denken der Modellbildung von einem chinesischen Denken der Regulierung.15 In diesem Denken der Regulierung wird der Akteur, ähnlich wie in den kulturwissenschaftlichen Praxistheorien, dezentriert. Das heißt, es wird nicht von einem Subjekt als autonomem Urheber von Initiativen und Planungen ausgegangen, sondern von Situationen und deren – im Geschehensfluss sich ergebenden – Situationspotenzialen (vgl. ebd.: 13ff.). Ein situationsadäquates Agieren zeichnet sich, so Jullien, dadurch aus, dass der Agierende nicht gegen den Strom schwimmt,

15 Es ist in diesem Zusammenhang unerheblich, ob diese Charakterisierungen das ›Wesen‹ beider Denkweisen auch tatsächlich treffen. Es geht hier allein um den heuristischen Wert dieser Unterscheidung.

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sondern gleichsam auf ihm surft: Seine Achtsamkeit richtet sich darauf, die tragenden Faktoren und Potenziale einer Situation aufzuspüren, um diese von innen heraus ergreifen und in seinem Sinne (mit) regulieren zu können. Er ist also nicht Akteur oder Subjekt im Sinne eines autonomen Zentrums der Initiative, sondern agent in einem auch von Bourdieu angepeilten Sinn: Im Unterschied zu den Begriffen acteur und sujet bezeichnet agent eine innerhalb überindividueller Figurationen, Organisationen oder Praktiken wirkende Kraft (vgl. Krais/Gebauer 2002: 84). Jullien reflektiert nicht, wie Bourdieu, auf die sozialen Bedingungen des Erkennens und Ergreifens spieltypischer Situationspotenziale. Führt man seine Gedanken jedoch mit den Einsichten Bourdieus zusammen, dann wäre ein agent jemand, der die für ihn aufgrund seiner erlernten Dispositionen erkennbar in einem bestimmten Spiel situativ sich ergebenden Möglichkeiten praktisch ergreift und durch dieses Ergreifen zugleich in das Spiel eingreift. Durch das Ergreifen und Entfalten der in eine Situation für ihn eingefalteten Möglichkeiten verhilft er diesen nicht nur zur Existenz, sondern verändert die Situation auch und gestaltet damit den Spielverlauf mit, aus dem sich immer neue Situationspotenziale ergeben. Mit diesen Überlegungen geht es Jullien darum, eine andere, sich vom hegemonialen neuzeitlichen europäischen Denken unterscheidende Rationalität zu erfassen, die nicht darauf abzielt, in der Wirklichkeit Pläne bzw. Idealformen durchzusetzen (und eben dadurch permanent Widerstände zu provozieren), sondern sich durch das mimetische Vermögen auszeichnet, sich in flüchtige soziale Situationen gleichsam einzufädeln, um diese unter Vermeidung von Reibungsverlusten von innen – aus dem Spiel heraus – mit zu regulieren. Dies setzt ein feines Situationsgespür bzw. eine praktische Klugheit voraus, die im alten Griechenland bereits als metis (vgl. Detienne/Vernant 1974; Jullien 1999: 20f.) oder von Bourdieu (1987) als praktischer »Sinn für das Spiel« (sens du jeu) bezeichnet wurde. Der Erwerb und die Funktionsweisen eines solchen Spielsinns können an den Praktiken des Fußballs, des Eishockeys und anderer Mannschaftsoder Schnelligkeitssportarten prominent studiert werden. Um Unerwartetes so erfolgreich wie möglich zu bewältigen, müssen Hochleistungssportler Fähigkeiten entwickeln, die Fingerspitzengefühl, ›Spielinstinkt‹, Orientierungssinn und Geschicklichkeit ebenso einschließen wie Kniffe und Tricks. Es handelt sich dabei um Wissensformen, die überwiegend nicht kognitiv verfasst sind, sondern als ein nur äußerst schwer zu verbalisierendes kno-

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wing how (Ryle 1969) im Handlungsvollzug selbst, das heißt lokal situiert, existieren (vgl. Hirschauer 2008; Alkemeyer 2010). Derartige, in Fleisch und Blut übergegangene, also verkörperte Wissensformen tragen auch die vielfältigen Praktiken des Alltags (vgl. Kaufmann 1999). In den Sportspielen und Schnelligkeitssportarten werden sie unter Bedingungen inszenierter Unsicherheit systematisch bis zur Perfektion gesteigert und in dieser Steigerung für ein überwiegend staunendes Publikum als aufgeführtes Wissen (performed knowledge) demonstrativ ausgestellt. Von einem solchen vorreflexiven, überwiegend als Können bezeichneten Wissen wird auch in praxistheoretischen Ansätzen gern behauptet, es trage vornehmlich Verhaltensroutinen und trüge darüber zur Reproduktion bestehender sozialer Strukturen bei. Die Praktiken des Sports machen jedoch darauf aufmerksam, dass es vielmehr auch zu einem situationsgerechten Variieren von bzw. Improvisieren mit eingeschliffenen Körpertechniken befähigt und es ermöglicht, ohne Überlegenssicherheit von antrainierten Spielweisen abzuweichen, zum Beispiel, um den Gegner zu überraschen und dem Spiel von innen heraus eine neue Wendung zu geben.16 Bourdieu hat in seinen späteren Arbeiten, vor allem in den Méditations pascaliennes (2001), darauf hingewiesen, dass dieses Wissen auch eine eigene Reflexivität – das klassische Merkmal philosophischer Wissensbegriffe – besitzt, die es erlaubt, Bewegungshandlungen noch in ihrem Vollzug zu beurteilen und gegebenenfalls, etwa durch ein Neu-Justieren des eigenen Körpers in Raum und Zeit, zu korrigieren oder sogar zurückzunehmen. Abweichungen vom antizipierten Handlungsverlauf oder das Misslingen gewohnheitsmäßig vollzogener Aktionen führen, so Bourdieu (2001: 208), zu Augenblicken der Irritation und des Zögerns. Diese Augenblicke können, wie er schreibt, »eine Form des Nachdenkens hervorrufen, die nichts mit dem scholastischen Denken zu tun hat«, sondern »der Praxis zugewandt bleibt und nicht demjenigen, der sie vollführt« (ebd.). In Anleh-

16 Auch eine solche Kreativität gründet jedoch nicht ausschließlich im ›Genie‹ eines überragenden Einzelspielers, sondern in Interaktionen. Vor allem in Krisensituationen können sich einem agent bisher unbekannte Fähigkeiten offenbaren, sofern sein erlernter Spielsinn auf Bedingungen trifft, die seine in körperlich-mentalen Tiefenschichten verborgenen Potenziale aktualisieren. Der Spieler bringt dann überraschend Akte hervor, zu denen er in einer anderen Situation nicht fähig gewesen wäre: Er wächst in der Situation über sich hinaus.

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nung an Karl Bühlers Terminus des »empraktischen Redens« (Bühler 1965: 52) ließe sich von einem empraktischen Denken sprechen. Ein von Bourdieu gewähltes Beispiel dafür ist eine angedeutete Körperbewegung, »mit der ein Tennisspieler einen misslungenen Schlag wiederholt, um durch einen Blick oder eine Geste den Effekt dieser Bewegung zu prüfen, die es auszuführen galt« (Bourdieu 2001: 208). Solche flüchtigen Momente eines Nachspürens, das heißt eines reflexiven Spürens findet man in den Improvisationen eines Pianisten ebenso wie in der Kür einer Turnerin oder den Aktionen eines Fußballers. Ausdrücklich bezeichnet sie Bourdieu als Erscheinungsformen eines »praktischen Reflektierens« (ebd.: 209) im Sinne eines selbstbezüglichen Vorgangs, der weder auf von außen kommende Korrekturen angewiesen ist noch einen zeitraubenden Umweg über Sprache und Bewusstsein nehmen muss, sondern im Selbststeuerungsvermögen eines trainierten (bzw. sozialisierten) Körpers gründet.17 Es handelt sich dabei um einen praktischen Modus des Reflektierens unterhalb der Schwelle jener ausdrücklichen »Praktiken der Reflexivität« (Reckwitz 2009: 177f.) wie Selbstbeobachtung und self-monitoring, die gezielt trainiert werden, um beispielsweise gegenwärtigen gesellschaftlichen Erwartungen an körperliche Attraktivität, gesundheitsbewusstes Verhalten oder emotionale Intelligenz entsprechen zu können. Sportwissenschaftliche Forschungen zum impliziten Wissen fokussieren überwiegend nur isolierte individuelle Akteure in Laborsituationen (vgl. Brümmer 2009), gleichwohl scheinen sie Bourdieus Beobachtungen zu bestätigen. Sie zeigen beispielsweise, dass Handlungsorganisation und Bewegungskoordination zumindest nicht ausschließlich auf geistigen Steuerungsprogrammen beruhen, sondern auf dem Handlungsverlauf impliziter Rückkoppelungsschleifen. Diese Rückkoppelungen beziehen sich sowohl auf das im Bewegungsvollzug sich einstellende (propriozeptive) Körpergefühl als auch auf (exterozeptive) Rückmeldungen über die permanent in Raum und Zeit sich verändernde Person-Umwelt-Relation. Fortlaufend wird die Bewegungsausführung durch sensorische Feedbacks über das

17 Gugutzer (2002: 295ff.) bezeichnet dieses Vermögen als »reflexive Leiblichkeit«; Sutton (2007: 775) spricht von einer »kinaesthetic awareness of movement as familiar, revealed for example in an immediate feeling for something going differently or awry […]«, Franke (2003) von einem »Selbstbezug im Handeln«.

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(Nicht-)Eintreten antizipierter Körperlagen, -positionen und Geschehensabläufe kontrolliert (vgl. bspw. Montagne 2005). Wissen geht der Praxis somit nicht nur voraus, sondern wird in den Praktiken (des Tennisspielens, aber auch des Unterrichtens, Wissenschaft-Machens usw.) selbst generiert. Die in diesen Praktiken vollzogenen Bewegungen sind demnach eigenständige Quellen eines (impliziten) Wissens, das in – in Sportstätten, aber auch in Laboratorien, Büros oder Klassenzimmern – konkret lokalisierten Praktiken zwischen ontologisch unterschiedlichen, menschlichen und nichtmenschlichen (Dinge, Räume, Sprache usw.) Handlungsträgern zirkuliert und entsteht. Dieses Wissen gehört demzufolge auch keinem isolierten Subjekt. Es ist vielmehr ein relationales Wissen der Praxis, das situativ in praktiktypischen Bewegungen und Spielzügen in Erscheinung tritt. Dieses Wissen macht Adaptionen erlernter Körpertechniken und Bewegungsmuster an augenblickliche Erfordernisse möglich, die ihrerseits die Spiel-Figurationen verändern, zu neuen Spielsituationen führen, neue Adaptionen verlangen usw. Mit zunehmender Expertise gelingt es Sportlern immer besser, eingeschliffene motorische Muster selbst unter größtem Zeitdruck situationsadäquat zu variieren und Störungen zu kompensieren: Geübte Weitspringer treffen den Balken auch dann erstaunlich zuverlässig, wenn sie zuvor einen Fehler gemacht haben oder vom Gegenwind gestört wurden; sie passen dann die Länge ihrer letzten Schritte vor dem Absprung entsprechend an. Turner kompensieren eine zu späte durch eine besonders schnelle Öffnung ihres Körpers in der Endphase eines Saltos. Selbst tausendmal geübte, automatisierte Bewegungen werden von den praktischen Experten des Sports niemals identisch ausgeführt, sondern stets kontext- und situationsbezogen verändert (vgl. Montagne 2005: 133f.). Sportler weitgehend störungsresistent zu machen, heißt damit, so Schöllhorn et al. (2004) in ihrem Modell differentiellen Lernens, im Training nicht bloß Bewegungsabläufe einzuschleifen, sondern Bewegungsaufgaben beständig abzuwandeln, um jene Befähigung zu einem blitzschnellen situationsadäquaten Reagieren anzubahnen, die Bourdieu als ›praktische Intelligenz‹ bezeichnet. In populärwissenschaftlichen Publikationen wird diese Fähigkeit gern als Bauchgefühl, Instinkt oder Intuition bezeichnet und damit in die Nähe des Irrationalen gerückt. Bei genauerer Analyse entpuppt sie sich jedoch als ein methodisch trainiertes, durch praktische Mitgliedschaft erworbenes Vermögen, in dem sich Achtsamkeit, körperliche Geschicklichkeit, Ver-

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standesleistungen und sensorische Handlungsregulationen unauflöslich mischen. Eine aus diesen körperlich-sinnlichen wie kognitiv-mentalen Faktoren zusammengesetzte Mitspielkompetenz ist bereits für das Funktionieren hierarchisch klar gegliederter, bürokratischer Organisationen unentbehrlich, denn auch hier existieren stets formal nicht geregelte Leerstellen, die durch Ad-hoc-Handeln mehr oder minder kreativ gefüllt werden müssen (vgl. Hatch 1999). Insbesondere in schwach formalisierten, institutionell nur wenig eingehegten, von großen Handlungsspielräumen sowie Ungewissheit geprägten sozialen Spielen ist diese Kompetenz für die Selbstorganisation unverzichtbar. Als Ressource für prospektives Handeln, die situationsabhängig im Spielfluss aktiviert wird, versetzt sie die Spieler in die Lage, das Spiel-Verhalten der Interaktionspartner fortlaufend praktisch zu deuten und das eigene Handeln an situativen Erfordernissen zu orientieren.

3. D AS S PORTSPIEL ALS I NDIKATOR UND V ERSUCHSLABOR In einem Beitrag über Inklusion und Exklusion ist auch Niklas Luhmann (2008) auf den Sport eingegangen. Dies mag mit Blick auf das in der Überschrift angekündigte Thema zunächst überraschen. Luhmann plausibilisiert es im Folgenden jedoch, indem er die von ihm so genannten »Schnelligkeitssportarten« als einen Sozialbereich in den Blick nimmt, der den Exklusionsbereichen der Gesellschaft ähnele: Wie im Sport, so Luhmanns Kernargument, sei in den Elendsvierteln brasilianischer Großstädte – für ihn Exklusionsbereiche par excellence18 – das ständige »Beobachten der Stellung, Entfernung, Häufung von menschlichen Körpern« eine »unerlässliche[n] soziale[n] Kompetenz«. Nur vermittels einer »Art von intuitionsgeleiteter Wahrnehmung« (ebd.) ließen sich Situationen hier augenblicklich einschät-

18 In den Exklusionsbereichen finden sich Menschen, die zum Beispiel in der Folge von Arbeitslosigkeit aus immer mehr gesellschaftlichen Teilsystemen (Konsum, Gesundheitssystem, Bildung usw.) ausgeschlossen bleiben. Dass man nicht unbedingt nur Extreme wie die Elendsviertel brasilianischer Großstädte vor Augen haben muss, um Exklusionsbereiche zu exemplifizieren, zeigt Bourdieu (2003) in ihren Analysen des Elends der Welt in der französischen Gesellschaft (vgl. auch Schimank/Volkmann 1999: 46f.).

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zen und Gefahren erkennen.19 Im Schnelligkeitssport sieht Luhmann diese quasi-intuitive Wahrnehmungs- und Beurteilungsfähigkeit paradigmatisch entwickelt. Vor diesem Hintergrund erklärt er das »verbreitete Interesse am Fußball oder auch an Tennis, an Eishockey oder an anderen Schnelligkeitssports […] geradezu als eine Art ›preadaptive advance‹ […]: als Bewunderung eines Könnens, das im Moment von den meisten von uns noch gar nicht aktuell gefordert wird [Herv. d. Verf., T.A.]« (ebd.: 251, Anm. 60).20 Bewunderungswürdig ist für Luhmann vor allem »das nur über geschulte Wahrnehmung erreichbare Tempo der Einstellung auf Ereignisse« (ebd.: 245). Mit seiner Annahme, im Sport werde ein Können präsentiert, »das im Moment von den meisten von uns noch gar nicht aktuell gefordert wird«, deutet Luhmann an, dass der kulturelle Raum des Sports ein sensibler

19 Problematisch ist aus praxeologischer Perspektive allerdings die Annahme Luhmanns, Exklusionsbereiche zeichneten sich dadurch aus, dass in ihnen Menschen »nicht mehr als Personen, sondern als Körper erfaßt« würden (Luhmann 2008: 245). Wie bereits erwähnt, nehmen die Beteiligten in der Sicht der Praxeologie nicht bloße Körper wahr, sondern stets sinnhaft strukturierte Körper, das heißt Personen (s. Fußnote 4) – und dies wohl auch in Bedrohungssituationen: Wenn man sich von einem Körper bedroht fühlt, wird dieser Körper in Abhängigkeit von Kontext und Situation wie intuitiv als ein angreifender Körper erkannt; Angreifer und Angegriffener nehmen sozusagen gemeinsam an einem ›Sprachspiel‹ teil und konstituieren ihre Körper darin gegenseitig als angreifender und angegriffener, das heißt als kontext- bzw. situationsspezifische Körper. 20 In der Argumentationsfigur eines »preadaptive advance« wird Luhmanns Grundthese eines Wechsels in der primären Differenzierungsform der modernen Gesellschaft erkennbar: Die »Logik der funktionalen Differenzierung gerät in […] Widerspruch zu den Tatsachen der Exklusion. Ihre Unwahrscheinlichkeit, ihre Künstlichkeit wird sichtbar. Ihre Codes gelten und gelten nicht in derselben Gesellschaft. Und daraus kann man […] den Schluß ziehen, daß die Gesellschaft durch die Unterscheidung von Inklusion […] und Exklusion […] ›supercodiert‹ ist und man sich faktisch zunächst immer erst an diesem Unterschied orientieren muß, wenn man sich zurechtfinden will.« (Ebd.: 243) In dieser Sicht ist also der Wechsel in der Primärdifferenzierung der Grund dafür, dass fragliches Können zukünftig nicht nur von den Spitzenkönnern des Sports, sondern tendenziell von allen Menschen gefordert sein könnte.

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Seismograph gesellschaftlicher Veränderungen sein kann. Folgt man diesem Argument, dann registriert und reflektiert der Sport nicht nur Entwicklungen in anderen Bereichen der Gesellschaft, sondern nimmt diese mitunter auch vorweg. Da seine Räume vom ›Ernst des Lebens‹ entlastete, jedoch keineswegs realitätsferne Welten bilden, eröffnet er die Möglichkeit des Erprobens, Auslotens und Beobachtens von Handlungsweisen und Fähigkeiten, die sich bislang weitgehend unbeachtet vornehmlich in Randbezirken der Gesellschaft abzeichnen, in Zukunft jedoch auch in deren Zentren relevant werden könnten. Als eine paradigmatische Unsicherheitszone wäre Sport somit in doppelter Hinsicht interessant: In bildungstheoretischer Perspektive eignete er sich als ein Experimentier- und Lernfeld des Handelns unter Unsicherheit (a), für künftige Forschungen als ein ›natürliches‹ Labor zur Untersuchung dieses Handlungsmodus (b). Ad a) Wenn es zutrifft, dass die Leerstellen und Ambiguitäten unsicherer Handlungskontexte in der Gegenwartsgesellschaft immer größer werden, dürfte die Bedeutung von Sportpraktiken als ein diesen gesellschaftlichen Bedingungen adäquater Lern- und Bildungssektor zunehmen. Denn die überwiegend implizite und kollektive Pädagogik dieser Praktiken eröffnet vielfältige Möglichkeiten einer Weitergabe jener körperlich-mentalen Kompetenzen, die zu einem praktischen Umgang mit Nicht-Planbarem befähigen (vgl. Böhle 2006: 264f.). Absichtsvoll wird insbesondere in Sportspielen in Bereiche systematisch inszenierter Unberechenbarkeit vorgestoßen, in denen sich in mehr oder minder berechenbaren Umwelten entwickelte und bewährte Handlungsstrategien als unzureichend erweisen. Als labile Figurationen spieltypischer Körperbewegungen verlangen diese Spiele ein Handlungswissen, das sich wie in kaum einem anderen Sozialbereich durch eine Logik der Situationsbezogenheit, Nahraum-Optionen, KurzfristHorizonte, Prozeduralität und einen adaptiven Umgang mit Unsicherheit auszeichnet. Ad b) Für eine praxeologische Handlungsforschung sind die Praktiken des Sports nicht zuletzt deshalb interessant, weil sie die Relevanz eines ›alternativen‹ verkörperten Praxiswissens geradezu aufdrängen. Träfen die soziologischen Diagnosen einer Ausweitung von Unsicherheitszonen in der Gegenwartsgesellschaft zu, dann gewänne dieses Wissen auch in anderen Kontexten an Bedeutung – beim Organisieren von Arbeitsabläufen, im Projektmanagement, bei kollektiven Entscheidungsprozessen in der Politik usw. Zunehmend scheint sich auch in diesen Feldern ein planmäßiges oder

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bürokratisches Handeln als zu starr und damit wenig erfolgreich zu erweisen. An den Praktiken des Sports lassen sich die Bedeutung und das Prozessieren verkörperten Wissens besonders gut beobachtbar machen.21 Die Teilnehmer setzen sich hier klar erkennbar in ein praktisch-sinnliches Verhältnis zu den materiellen wie symbolischen Anforderungsstrukturen ihrer Sportart, die es ihnen kraft ihrer Präsenz auferlegen, augenblicklich Dinge zu tun, ohne eindeutige Handlungsanleitungen, Pläne oder Programme zur Verfügung zu haben. Insbesondere die Spielsituationen schneller Mannschaftssportarten haben insofern eine bemerkenswerte Realitätsnähe, als sie nachdrücklich auf die Unzulänglichkeit eines ›scholastischen‹ Denkens aufmerksam machen, das die Fiktion erzeugt, Handeln sei das bloße Ausführen einer Rolle, einer Partitur, eines Skripts oder eines Plans – und damit in einem sicheren Umwelt- und Handlungswissen verankert. Praxeologische Forschungen gestatten es demgegenüber, näheren Aufschluss über die lokale Situiertheit des (sportlichen) Handelns, über seine – menschliche und nicht-menschliche Handlungsträger einschließende – Kollektivität sowie über die Relevanz verkörperten Praxiswissens für ein den situativen Anforderungen eines Spiels gerecht werdendes Agieren zu erlangen. Dieses Praxiswissen äußert sich nicht nur in der praktischen Beherrschung vom Spiel verlangter Körpertechniken, sondern auch in der spieladäquate Anschlusshandlungen ermöglichenden kommunikativen Kompetenz, Absichten sowohl zu erkennen zu geben (bzw. vorzutäuschen) als auch unmittelbar zu verstehen. Vor diesem Hintergrund wäre in praxeologischer Perspektive nicht vom Körper im Singular, sondern nur im Plural zu sprechen. Denn jede soziale Praktik (jede Sportart bzw. jede ›Sportarten-Familie‹) schafft aufgrund ihre jeweiligen Übungsformen, Trainingsmethoden, Spielmuster und Erfordernisse ihre eigenen, für die Teilnehmer unmittelbar intelligiblen Körper: Die Körper des Fußballs haben andere Fähigkeiten (der praktischen Beherrschung, des Kommunizierens und Verstehens) und sind für seine Mitspieler anders sinnhaft strukturiert als beispielsweise die Körper des Turnens oder des Boxens. Praxeologische Beobachtungen des Sports bieten die Chance,

21 In der qualitativen empirischen Sozialforschung ist Beobachtbarkeit nicht etwa unmittelbar gegeben, sondern muss durch entsprechende Methoden hergestellt werden (vgl. Scheffer 2002).

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solche Konstruktionen praktikspezifischer ›Umgangskörper‹22 in Prozessen des Übens, Trainierens und Mitspielens detailliert nachzuzeichnen. Dabei kann nicht nur erschlossen werden, wie die beobachtbaren Bewegungen nach und nach in die Form des jeweiligen Spiels gebracht, sondern wie damit zugleich auch spieladäquate Weisen des Wahrnehmens und Verstehens, des Fühlens und Spürens ausgeprägt werden. Exemplarisch ließen sich somit am Sport die Körperliches und Mentales einschließenden Bildungsprozesse praktischer Experten erforschen. Obwohl ihre Relevanz für das Handeln in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft zunehmend betont wird, steckt die empirische Erforschung des Erwerbs, aber auch des situierten Aktualisieren, jener praktischen Intelligenz, ohne die spielspezifische Situationspotenziale nicht ergriffen werden können, nach wie vor in den Kinderschuhen. Bewegungswissenschaftliche Forschungen zu diesem Problemkomplex konzentrieren sich ausschließlich (oder zumindest überwiegend) auf das einzelne Individuum in Laborsituationen. Das Problem solcher artifiziellen Versuchsanordnungen mit isolierten Akteuren ist, dass sie die akteurszentrierte Tendenz klassischer Handlungstheorien fortschreiben, nämlich menschliche Aktivitäten vom Subjekt und dessen individuellen Fähigkeiten aus zu denken. Die Bildung kompetenter, das heißt mitspielfähiger, Subjekte kann in diesen Versuchsanordnungen allenfalls ansatzweise erschlossen werden. Praxeologische Ansätze setzen demgegenüber an den kollektiven, die Aktionen Einzelner überspannenden Praktiken an und interessieren sich dafür, wie diese Praktiken ihre ›Mitspieler‹ rekrutieren, wie darin ein ›stummes‹ knowledge in action weitergegeben wird (vgl. Schmidt 2008) und wie Menschen dadurch zu mit-

22 In Auseinandersetzung mit dem anthropologischen Denken Ludwig Wittgensteins bezeichnet Gebauer (2009: 95ff.) mit diesem Begriff Körper, deren Bewegungen und Weisen des Wahrnehmens, Erkennens und Beurteilens in die Form eines bestimmten »Sprachspiels« gebracht sind. (Sprach-)Spieladäquat geformte Umgangskörper sind so ›eingestellt‹, dass sie nur diejenigen ihrer vielfältigen Möglichkeiten einsetzen, »die vom jeweiligen Sprachspiel verlangt werden« (ebd.: 98). Als ins Spiel eingepasste Körper bilden sie zugleich »die Basis gegenseitiger Verständlichkeit« (ebd.: 97): Sie sind im Sinne des Spiels geregelt, berechenbar und vernünftig, das heißt, sie verfügen über spielbezogene »sprachmäßige Züge« (ebd.: 99), die ihre Verständlichkeit für alle Mitspieler garantieren.

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spielfähigen Subjekten gemacht werden bzw. sich selbst dazu machen, dass sie aktiv am Spiel (einschließlich des Übens und Trainierens) teilnehmen (vgl. Alkemeyer et al. 2009). In dem Maße, wie Teilnehmer in eine Praktik verwickelt werden und sich selbst darin verwickeln, partizipieren sie an dem kollektiven Wissen, das die Praktik trägt und organisiert. Erst in dieser und durch diese Verwicklung entstehen auf eine spielspezifische Weise wissende Subjekte, die ein Spiel gemeinsam tragen und ›am Laufen halten‹. Um den Erwerb und das Prozessieren eines solchen Wissens in sozialen Praktiken aufzuschließen, sind praxeologische Beobachtungen in ›natürlichen‹ Handlungskontexten unabdingbar.23

4. D IE W IEDERKEHR DES V ERDRÄNGTEN , DIE AUFGABEN DER G EISTES - UND S OZIAL WISSENSCHAFTEN UND DIE ›G EFAHREN ‹ EINER E XPLIZIERUNG DES I MPLIZITEN »Reflexive Modernisierung« bedeutet, dass sich die Moderne selbst zum Thema wird (vgl. Beck/Bonß/Lau 2001: 11). Ein Aspekt dieser reflexiven Selbstthematisierung ist, dass sich in der modernen Gesellschaft – zusammen mit der Ausweitung ihrer Unsicherheitszonen – eine neue Aufmerksamkeit für jene körperlich-materialen Dimensionen zu entwickeln scheint, deren Verdrängung und Abwertung (als irrational) lange Zeit die conditio sine qua non ihres eigenen Selbstverständnisses war. Indizien dafür sind populärwissenschaftliche Publikationen über die ›Macht der Intuitionen‹ oder des ›Bauchgefühls‹ ebenso wie die vollmundig verkündeten (kultur-) wissenschaftlichen turns der letzten Jahre – vom spatial turn über den body turn bis hin zum practice turn. Die Gemeinsamkeit dieser (angeblichen) turns besteht darin, neben den geistigen auch die körperlichen-materiellen Seiten des Sozialen in den Blick zu nehmen. In ihrer Folge ist das Interesse

23 Ansätze zu einer solchen praxeologischen Sportforschung bieten beispielsweise die ethnographisch orientierten Studien Wacquants (2003) zum Erwerb eines boxerischen Habitus, Girtons (1986) Beschreibung des Eintauchens in die Welt der Kampfkünste oder Allen Collinsons (2008) Darstellung des allmählichen Sich-Einstimmens auf einen Partner beim gemeinsamen Laufen.

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für diese Bedeutung körperlicher Praktiken als Ort eines impliziten Praxiswissens beträchtlich gestiegen. Sie lässt sich am Sport oder auch am Tanz besonders gut ausleuchten. Im Lichte praxistheoretischer Prämissen erlangen diese explizit körperthematischen Praktiken eine allgemeine, über ihren besonderen Gegenstand weit hinausreichende theoretische und empirische Relevanz: Sie liefern den Ansatzpunkt für eine analytische Perspektive, die den sozialisierten Körper als einen intelligenten Träger von Praktiken auch in anderen Bereichen begreift – selbst in jenen, die exklusiv den immateriellen Höhenflügen eines körperlosen Geistes vorbehalten zu sein scheinen wie die Welt der Wissenschaft. Deren Funktionieren kommt zwar ebenfalls ohne ein verkörpertes, vor-theoretisches, implizites Wissen – beispielsweise darüber, wie Wissenschaft gemacht und performiert werden muss, um als Wissenschaft anerkannt zu werden – nicht aus. Jedoch wird dieses Wissen in den ›scholastischen‹ Welten mentalistischer und textualistischer Wissensbegriffe beständig verleugnet, das heißt als Wissen de-thematisiert. Wenn es nun eine Aufgabe der Geistes-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften ist, in das gesellschaftliche Leben weitgehend unbemerkt eingefaltete Dimensionen zu entfalten, also Implizites zu explizieren, dann heißt das, im ›normalen‹ Leben ob ihrer Vertrautheit übersehene, im Selbstverständlichen verborgene bzw. de-thematisierte Praxisformen (z.B. des Erkennens und Beurteilens), Institutionen (z.B. die Sprache) und Handlungsträger (z.B. die Dinge und die Körper) beobachtbar zu machen. Durch methodische Reflexion auf das Verdeckte bzw. Verdrängte können diese Wissenschaften dann unter anderem begreiflich werden lassen, wie die Praktiken verschiedener Sozialbereiche funktionieren und ihre jeweiligen Praxis- und Denkstile generieren. Zu den Kernaufgaben der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften gehört freilich ebenso die (kritische) Selbstreflexion. Wenn Repräsentationen oder Diskurse stets an der Konstitution dessen beteiligt sind, was sie repräsentieren bzw. artikulieren, dann gilt dies selbstverständlich auch für wissenschaftliche Repräsentationen und Diskurse. So wirken auch vermeintlich bloße Gegenwartsdiagnosen am Schaffen einer Wirklichkeit des Diagnostizierten mit, indem sie Räume des Denk- und Sagbaren abstecken (vgl. Foucault 1991). Sozialwissenschaftliche Bestimmungen einer zunehmend unsicheren ›Zweiten Moderne‹ beispielsweise malen mit am Bild einer Gesellschaft, das – ungewollt – seinen Teil zu einer breiten Mobilisierung der Menschen beiträgt: Es fordert dazu auf, fortlaufend an sich selbst zu arbei-

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ten, um sich gegen alle Unsicherheiten zu wappnen. Vor allem an das Gouvernementalitätskonzept Foucaults anknüpfende sozial- und kulturwissenschaftliche Studien der jüngeren Vergangenheit haben gezeigt, dass das auf den Rahmen der klassischen, stabilen Industriegesellschaft verweisende Leitbild des zuverlässigen Menschen im Zusammenhang des Hegemonialwerdens des Bildes einer ›flüssigen‹ (postindustriellen) Konsumentengesellschaft allmählich vom Leitbild des Selbstunternehmers verdrängt wird (vgl. beispielhaft Bröckling 2007). Dieses Leitbild propagiert eine »verlässliche Elastizität, die mit jeder Wendung des Schicksals […] fertig werden kann« (Treiber/Steinert 2005: 15). In der aufgezwungenen Suche nach individuellen Lösungen für gesellschaftlich erzeugte Probleme (wie das Problem der Unsicherheit) avancieren Elastizität, Mobilität, Kreativität und Fitness zu neuen ideologischen Leitwerten. Da man nie sicher sein kann, ob sich Erwartungen ändern oder widerrufen werden, bevor ihnen entsprochen werden konnte, darf das Subjekt nicht zur Ruhe kommen. Es muss sich dauernd ändern und dauernd auf weitere Änderungen gefasst sein. Das neue Prinzip der Herrschaft sei deshalb, so wird gefolgert, weniger die Unterdrückung als die dauernde Überforderung (vgl. ebd.). Wissenschaftliche Untersuchungen, die dazu beitragen, die Bedingungen des Erwerbs einer solchen Anpassungsfähigkeit auszuleuchten und ihre Erkenntnisse womöglich sogar in entsprechende (sport-)pädagogische Programme zu überführen, laufen Gefahr, einen aktiven Beitrag dazu zu leisten, dass sich die Subjekte immer tiefer in eben jenen Teufelskreis der (Selbst-)Überforderung verstricken, dem sie durch Training doch gerade zu entkommen suchen. Dies gilt es zu berücksichtigen.

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Kontingenz der Erfahrung – Erfahrung der Kontingenz FRANZ BOCKRATH

Ein Gespenst geht um in der Bildungsdiskussion. Nicht mehr Themen und Inhalte bestimmen die Auseinandersetzungen über Curricula und Vermittlungsfragen, sondern Strukturen des Wissens beziehungsweise domänenspezifische Kompetenzen rücken in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Gespenstisch ist der damit verbundene Anspruch, denn durch die Einführung von Bildungsstandards in den einzelnen Unterrichtsfächern geht es nicht mehr nur um die Vermittlung fachspezifischer Kenntnisse, sondern an ihrem Beispiel sollen ebenso grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten ermittelt und gemessen werden.1 Bestritten wird also nicht, dass – wie bisher – möglichst relevante fachspezifische Themen zu unterrichten seien; schließlich wird die Sau nicht schon allein durch das Wiegen fett. Vielmehr richtet sich der vorgeschlagene Perspektivwechsel auf den damit verbundenen Anspruch, dass Kompetenzen als allgemeine Bedingungen der Möglichkeit des Lernens und Wissenserwerbs entsprechend ihrer bestimmbaren Entwicklungslogik2 und messbaren Ausprägung stärker in den Mittelpunkt

1

»Bildungsstandards messen deshalb Kompetenzen, nicht fachspezifische Kenntnisse, aber sie messen sie, indem sie domänenspezifisch definierte Aufgaben zur Lösung vorlegen.« (Tenorth 2008: 173)

2

Die Bezüge zu strukturalistischen Ansätzen sind unverkennbar: »Die genetische Erkenntnistheorie versucht, Erkennen, insbesondere wissenschaftliches Erkennen, durch seine Geschichte, seine Soziogenese und vor allem die psychologi-

130 | FRANZ B OCKRATH

zu rücken seien. In diesem Zusammenhang genießen Kompetenzen, wie Tenorth hervorhebt, »gewissermaßen Latenzschutz« (Tenorth 2008: 173), da übergreifende Kompetenzmuster im Alltag weder unmittelbar erscheinen noch einzelnen Unterrichtsfächern eindeutig sich zuordnen lassen. Die dem Kompetenzmodell inhärenten kognitivistischen (›konsekutives Lernen‹), formalistischen (›strukturiertes Lernen‹) und universalistischen (›entwicklungslogisches Lernen‹) Annahmen wurden bereits von unterschiedlicher Seite kritisiert. Erinnert sei etwa an die Kritik des Entwicklungsmodells moralischer Kompetenzstufen von Lawrence Kohlberg, das nach Auffassung von Habermas zwar plausibel und gut begründet erscheint, »diese Plausibilität […] freilich damit erkauft, daß die Beschreibung die sozialkognitiven Bedingungen für moralische Urteile bereits mit den Strukturen dieser Urteile selbst vermischt.« (Habermas 1988a: 140) Der Kritiker sieht eine notwendige Aufgabe folglich darin, die theoretischen Bedingungen und empirischen Beschreibungen für ein entwicklungslogisches Stufenmodell hinsichtlich ihrer diskurstheoretischen Voraussetzungen »begriffsanalytisch« aufzuklären, »ohne die das Argumentationsspiel nicht funktioniert« (ebd.). Oder mit anderen Worten: Die Hypothesen zur Kompetenzentwicklung der – wie in diesem Fall – moralischen Urteilsbildung, lassen sich nicht wiederum mit Blick auf angenommene Kompetenzstrukturen rechtfertigen, sondern diese bedürfen ihrerseits einer Grundlegung, die Habermas in den transzendentalpragmatischen Kommunikationsvoraussetzungen der Argumentation zu erkennen meint. Deutlich wird an diesem Beispiel, dass Kompetenzbegriffe und -modelle nicht einfach als gültig vorausgesetzt werden können, sondern dass der hypothetische Charakter ihrer Grundannahmen (›Entwicklungslogik‹, ›hierarchischer Stufenaufbau‹, ›normativer Bezugspunkt der Moralentwicklung‹) nur mit diskursiven Mitteln überprüft werden kann und gegebenen-

schen Ursprünge der Begriffe und Operationen, auf denen es beruht, zu erklären. Die Begriffe und Operationen stammen zum Teil aus dem Alltagsbewusstsein, so daß ihre Ursprünge ihre Bedeutung für das und im Erkennen auf einer höheren Stufe erhellen können. Wo immer möglich, zieht die genetische Erkenntnistheorie auch Formalisierungen in Betracht – insbesondere logische Formalisierungen, die sich auf äquilibrierte Denkstrukturen und in bestimmten Fällen auf Transformationen von der einen zur nächsten Stufe in der Entwicklung des Denkens beziehen.« (Piaget 1992: 7)

K ONTINGENZ

DER

E RFAHRUNG – E RFAHRUNG

DER

KONTINGENZ

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falls entsprechende Revisionen erforderlich macht.3 Hieran ist zu erinnern, wenn man in der aktuellen Euphorie über die Umstellung des Bildungssystems auf Kompetenzen und Evaluationen mitunter zu vergessen scheint, dass die Übersetzung in entsprechende Standards und Erhebungsinstrumente dazu verführt, die Frage nach ihrer Geltungsbegründung als nicht mehr so wichtig anzusehen. Dies gilt zumindest für jene anfänglichen Versuche, Bildungsstandards für das Fach Sport zu entwickeln, die wie selbstverständlich die moderne Kompetenzrhetorik bedienen, ohne jedoch bereits vorliegende Ansätze zur fachbezogenen Kompetenzentwicklung zur Kenntnis zu nehmen.4 Und auch in dem bisher ambitioniertesten Versuch »zur Entwicklung einer domänenspezifische[e] ›Sprache‹ physischer Expression« (Franke 2008) finden sich zwar wichtige Hinweise zu einer kompetenzorientierten Strukturierung körperlicher Bewegungsformen (›Bewegungs-‹, ›Handlungs-‹, ›Partizipationskompetenz‹); freilich fehlt auch hier eine Auseinandersetzung mit bereits vorliegenden theoretischen Konzepten und empirischen Erhebungen etwa über die Zusammenhänge von sportlichen Aktivitäten und moralrelevanten Dispositionen.5 Nach dem derzeitigen Stand der Diskussion entsteht zumindest der Eindruck, dass die Sorge über den Legitimationsstatus der ästhetisch-expressiven Fächer dazu verleitet, die Aufnahme in das Kerncurriculum moderner Allgemeinbildung

3

Man denke in diesem Zusammenhang etwa an Kohlbergs eigene Revisionsvorschläge (Kohlberg 1984) sowie an die Einwände seiner zahlreichen Kritiker. Vgl. dazu exemplarisch die Skepsis gegenüber der Annahme einer transkulturellen Gültigkeit des Stufenmodells (Gibbs 1977) oder die Frage nach der Geschlechtsbedingtheit moralischer Urteilsbildungen (Gilligan 1982).

4

So werden etwa im Bildungsplan von Baden-Württemberg für das Fach Sport »personale und soziale Kompetenzen wie Kooperation, Fairness, Konfliktfähigkeit, Risikobereitschaft und Verantwortung« (Oberschulamt Karlsruhe 2003: 3) nicht mehr nur normativ eingeführt, sondern terminologisch durch entsprechende Kompetenzbezüge für den aktuellen Diskurs über Bildungsstandards anschlussfähig gemacht.

5

Zum so genannten ›Wertdifferenzierungsvermögen‹ (vgl. Bockrath 1999; 2001a; 2001b; 2005; 2009a). Zu den Grenzen kompetenzorientierter Standardisierungen im Bereich ästhetisch-expressiver Bildung (vgl. Bockrath 2008).

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durch vorschnelle Anpassungen an politische Vorgaben und kompetenztheoretische Moden abzusichern.6 Der Hinweis auf die ›ästhetisch-expressiven Fächer‹7 führt uns zum eigentlichen Thema. Denn im Unterschied zu kognitiv-theoretischen oder normativ-praktischen Weltzugängen, die sich in Anlehnung an die habermaschen Argumentationstypen8 an der »Wahrheit von Propositionen« sowie der »Wirksamkeit teleologischer Handlungen« orientieren beziehungsweise »die Richtigkeit von Handlungsnormen« zu klären beanspruchen, verweisen ästhetische Zugänge auf subjektive Erfahrungen und lebensweltliche Bezüge, die ohne universelle Geltungsansprüche auftreten. Im Sinne des Autors handeln Personen im Bereich expressiver Äußerungen und ästhetischer Werte rational, wenn sie »ihre Bedürfnisnatur im Lichte kulturell eingespielter Wertstandards deute[n]; aber erst recht dann, wenn sie eine reflexive Einstellung zu den bedürfnisinterpretierenden Wertstandards selbst einnehmen.« (Habermas 1988b: 41) Im Unterschied zu diesem Beispiel einer »ästhetischen Kritik« (vgl. ebd.) ist freilich eher davon auszugehen, dass eingespielte Wertstandards auch ohne diskursive Prüfung und reflexive Verständigung anerkannt werden, wenn sie die Geschmackspräferenzen

6

Vgl. dazu die Ausführungen zu den so genannten »unnützen Fächern«, denen noch die »Anerkennung ihres Wertes [fehlt], der durch die Standardisierung offenbar verliehen wird« (Tenorth 2008: 164).

7

Baumert unterscheidet vier so genannte »Modi der Weltbegegnung«, denen sich entsprechende Fächergruppen zuordnen lassen: So rechnet der Autor zur »kognitiv-instrumentellen Modellierung der Welt« die Mathematik und Naturwissenschaften; zur »ästehtisch-expressiven Begegnung und Gestaltung« gehören Sprache und Literatur ebenso wie Musik, Malerei, Bildende Kunst und physische Expression; die »normativ-evaluative Auseinandersetzung mit Wirtschaft und Gesellschaft« erfolgt über die Fächer Geschichte, Ökonomie, Politik/Gesellschaft und Recht, während »Probleme konstitutiver Rationalität« im Rahmen von Religion und Philosophie bearbeitet werden. Diesen »Modi der Weltbegegnung« werden entsprechende »Kulturwerkzeuge« zugeordnet, die als »basale Sprach- und Selbstregulierungskompetenzen« erworben werden müssen. Vgl. dazu Baumert, zit.n. Klieme/Avenarius/Blum et al. (2003: 68, Abb. 5).

8

Vgl. dazu die entsprechende Unterscheidung von Habermas (1988b: 45).

K ONTINGENZ

DER

E RFAHRUNG – E RFAHRUNG

DER

KONTINGENZ

| 133

einzelner sowie sozialer Gruppen zum Ausdruck bringen.9 In den Fokus reflexiver Auseinandersetzung geraten sie erst dann, wenn sie »als authentischer Ausdruck einer exemplarischen Erfahrung« (Habermas 1988b: 41) scheitern, das heißt wenn sie von den jeweils Betroffenen nicht mehr im Sinne ihrer angenommenen ästhetisch-expressiven Geltungsbedeutung anerkannt werden. Folgt man diesem Gedanken, wonach ästhetisch-expressive Weltzugänge a) in der Regel unreflektiert bleiben, weil sie vor allem körperlichpraktisch bedeutsam sind, und b) selbst im Falle ihrer diskursiven Hervorhebung nicht mit dem »Anspruch auf kulturell allgemeine oder gar universale Zustimmungsfähigkeit« (Habermas 1988b: 41) vertreten werden können, so zeigt sich, dass sprachlich orientierte Rationalitätsvorstellungen sowie strukturalistische Kompetenzkonzepte nur bedingt geeignet sind, den eigentümlichen Gehalt ästhetischer Präferenzen und physischer Expressionen aufzuklären. Umgekehrt gilt freilich auch, dass ästhetische Erfahrungen, die neuerdings wieder vermehrt als Legitimationsbasis für den angenommenen Bildungswert des Sports bemüht werden10, nicht bloß unvermittelt sich ereignen oder rein rezeptiv ausfallen, sondern ebenso hinsichtlich ihrer jeweiligen Wirkungen beurteilt werden und mithin sozial vermittelt bleiben. Da die Form der Beurteilung – folgt man darin Kant – weder auf wissenschaftliche Erkenntnis noch auf praktische Zwecke gerichtet ist, sondern aus der Lust am »freie[n] Spiel der Vorstellungskräfte« (Kant 1981b: B 29) entsteht, handelt es sich hierbei immer schon um ein reflexives Verhältnis, das eine spezifische – weil begriffsungebundene – Einheit des Mannigfaltigen bewirkt.11 Unklar ist allerdings, wie die »begriffslose Einheit des Schö-

9

Eben darin liegt die Pointe der bourdieuschen Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft – so der Untertitel von Bourdieu 1982 –, welche kulturelle Wertpräferenzen und Geschmacksvorlieben nicht auf diskursive Geltungsansprüche, sondern auf praktische Verhaltensweisen und körperliche Dispositionen zurückführt, »in denen die vitalsten Interessen einer Gruppe ihren Niederschlag finden« (Bourdieu 1982: 740).

10 Vgl. aktuell Weise/Prohl 2009 sowie vorher bereits Beckers (1985) und Franke (1997, 2003, 2008). 11 »Die Erkenntniskräfte, die durch diese Vorstellung ins Spiel gesetzt werden, sind hierbei in einem freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff sie auf eine be-

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nen« und das »freie Spiel der Vorstellungskräfte« vorzustellen sind, wenn man ihre reflexive Bedeutung nicht – wie Kant – im »interesselosen Wohlgefallen« (ebd.: B 17) oder in einer »kontemplativen Einstellung« (ebd.: B 15) zu den Gegenständen verortet, sondern als praktisch hervorgebrachtes und sozial vermitteltes Verhältnis deutet. Im Folgenden wird daher in einem ersten Schritt versucht, die reflexive Bedeutung von Erfahrungen als »immer schon« vermittelte zu begreifen, womit zugleich das falsche Versprechen unmittelbarer Einsichten und unvermittelter Gewissheiten zurückgewiesen wird (1). In einem zweiten Schritt werden schließlich ebenso jene begriffszentrierten Vermittlungsversuche kritisiert, die mit dem Anspruch auftreten, Erfahrungen kategorial zu vereindeutigen, wodurch die Unbestimmtheit und Offenheit von Erfahrungsprozessen bedroht wird. Vor diesem Hintergrund wird in einem dritten Schritt am Beispiel der theoretischen Figur der »vermittelten Unmittelbarkeit«12 die Frage nach dem reflexiven Potenzial der Kontingenz von Erfahrungen als Erfahrungen der Kontingenz für ästhetische Bildungsprozesse gestellt. In diesem Zusammenhang wird deutlich werden, dass die Offenheit und Reflexivität von Erfahrungsprozessen eng aneinander gebunden sind (3). Abschließend wird sodann geprüft, welche Folgen sich für körperliche Lernprozesse ergeben, wenn sie im Sinne ihrer ›vermittelten Unmittelbarkeit‹ gedeutet werden (4).

sondere Erkenntnisregel einschränkt. […] Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt.« (Kant 1981b: A 29 und A 32) 12 Die Offenheit von Erfahrungsprozessen ließe sich ebenso unter direkter Bezugnahme auf Plessners Annahme einer exzentrischen Positionalität des Menschen ausführen, indem etwa das »Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit« (Plessner 1981: 396 ff) als zweites von insgesamt drei angenommenen »anthropologischen Grundgesetz[en] (ebd.: 396) näher zu beleuchten wäre. Doch nicht dieser Ansatz soll hier weiter verfolgt werden, sondern anstelle anthropologischer Begründungen wird der Gedanke der Kontingenz von Erfahrungen im Folgenden am Beispiel ihrer Negativität und Nichtidentität entwickelt.

K ONTINGENZ

DER

1. V ERMITTELTHEIT

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VON

DER

KONTINGENZ

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E RFAHRUNG

Nach Auffassung des klassischen Empirismus müssen allgemeine Sätze oder Axiome erst begründet werden, bevor sie zur Begründung anderer Sätze herangezogen werden. Als Begründungsmaßstab beziehungsweise Geltungsgrund gilt hierfür die Erfahrung. Besondere Erfahrungssätze, die »unmittelbar durch Erfahrung überprüft werden können« (Popper 1979: 15), lassen sich im Sinne dieser Vorstellung erst dann zu allgemeinen Erfahrungssätzen verdichten, wenn nicht nur logische Gesetzmäßigkeiten beachtet werden, sondern auch empirische Rückbezüge möglich sind. Ein schwarzer Schwan reicht demnach bereits aus, um die allgemeine Aussage: ›Alle Schwäne sind weiß‹, zu falsifizieren. Und auch komplexere Annahmen und Theorien, selbst wenn sie nicht auf bestimmte ›Wahrnehmungsurteile‹, »Elementar-« oder ›Protokollsätze‹ sich zurückführen lassen, müssen auf »empirisch-methodischem Wege« widerlegbar sein, um »einer ›Nachprüfung‹ durch die ›Erfahrung‹ fähig« zu sein.13 Auch wenn dem Verifikationsprinzip im Erfahrungsmodell des Kritischen Rationalismus schon sehr früh eine Absage erteilt wurde, folgt auch der Falsifikationismus in seiner Hochschätzung des Gegebenen der entsprechenden Grundvoraussetzung des älteren Empirismus. Denn auch hier gilt, dass das Gegebene – gleich ob farbunterschiedliche Schwäne oder experimentelle Befunde zur Quantentheorie – als verbindliche Erkenntnisbasis anzunehmen ist. Der Hauptunterschied zwischen klassisch-empiristischen und kritisch-rationalistischen Vorstellungen besteht lediglich darin, dass in traditionellen Ansätzen so genannte Erfahrungstatsachen noch als unverrückbar hingenommen wurden, wogegen ihre Geltung nach modernpositivistischer Lesart nur als vorläufig anzusehen ist. Gegen die empiristische Form der Erfahrungsbestimmung, wonach die kontrollierte Sammlung und Verarbeitung so genannter Sinnesdaten – wenn schon nicht zu objektiven, so doch wenigstens – zu objektivierbaren Erkenntnissen führe, wurden bereits vor geraumer Zeit gewichtige Einwände erhoben. So schreibt Hegel in seiner Enzyklopädie der philosophischen

13 Nach Popper (1994:15) sollen auch komplexe Theorien und »Sätze, die nicht verifizierbar sind, als empirisch anerkannt werden«. Hieraus schlussfolgert der Autor: »Ein empirisch-wissenschaftliches System muß an der Erfahrung scheitern können [Herv. i.O.].« (Ebd.) .

136 | FRANZ B OCKRATH

Wissenschaften im Jahr 1830 über »[d]as Princip der Erfahrung«, dieses enthalte »die unendlich wichtige Bestimmung, daß für das Annehmen und Fürwahrhalten eines Inhalts der Mensch selbst dabei seyn müsse, bestimmter, daß er solchen Inhalt mit der Gewißheit seiner selbst in Einigkeit und vereinigt finde. Er muß selbst dabei seyn, sey es nur mit seinen äußerlichen Sinnen, oder aber mit seinem tieferen Geiste, seinem wesentlichen Selbstbewußtseyn.« (Hegel 1999b: 46) Man kann diese Aussage als Leitgedanken dialektischer Begriffsbildung lesen. Denn nicht wird etwas als einfach gegeben (quid facti) oder schlechthin gültig (quid juris) vorausgesetzt, sondern Gegebenes und Geltendes wird immer schon als durch Subjektivität Vermitteltes vorgestellt. Dies gilt, im Sinne des Autors, für sinnliche wie auch für begriffsbezogene Erfahrungen gleichermaßen. Nun mag man bei einfachen Erfahrungen noch zugestehen, dass »der Mensch selbst dabei seyn müsse«; für Erkenntnisse jedoch, die einen höheren Objektivitätsanspruch reklamieren, scheint dies nicht zu gelten. Dementsprechend wird nach empiristischer Lesart gefordert, Subjekt und Objekt bei der Erkenntnisgewinnung möglichst auseinanderzuhalten, da sämtliche Erfahrungsinhalte und Geltungsansprüche subjektunabhängig gegeben seien. Hegel vertritt demgegenüber die Auffassung, dass Unmittelbares nicht einfach vorliegt und als solches erscheint, da Subjekt und Objekt der Erfahrung immer schon aufeinander bezogen und miteinander vermittelt sind.14 Die Rolle des Subjekts als die des Vermittlers im Erfahrungsprozess wird folglich nicht – im positivistischen Sinne – als fehlerhaft oder defizitär vorgestellt, sondern als notwendige Bedingung der Möglichkeit von Erfahrungen und Erkenntnissen gefasst. Diese enthalten immer schon subjektive Leistungen, das heißt sie werden als im Werden begriffen vorgestellt15 und

14 Ähnlich bereits Kant mit seiner Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen. Letztere »erfordern jederzeit über die Vorstellungen der sinnlichen Anschauung noch besondere, im Verstande ursprünglich erzeugte Begriffe, welche es eben machen, daß das Erfahrungsurteil objektiv gültig ist« (Kant 1976: 53). 15 Bei Kant wird die Brücke zwischen dem erkennen Subjekt und dem zu erkennenden Objekt demgegenüber durch das transzendentale Bewusstsein gebildet, das als transzendentales objektiv und als Bewusstsein subjektiv ist. Im Unterscheid zu Hegel bleiben für Kant die ursprünglichen Verknüpfungsformen des transzendentalen Bewusstseins apriorisch bestimmt und somit vor aller Erfah-

K ONTINGENZ

DER

E RFAHRUNG – E RFAHRUNG

DER

KONTINGENZ

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widersprechen damit bloß abstrakten Annahmen über vermeintlich reine Erkenntnisse und objektive Gewissheiten. Die dialektische Bewegung der Erfahrung bezieht sich demnach nicht nur auf die Seite des Erfahrungsgegenstandes, sondern immer auch auf die Formen der Vermittlung durch das Subjekt der Erfahrung, die bei Hegel eng an die Bildung des Bewusstseins geknüpft sind. So schreibt der Autor der »Phänomenologie des Geistes«, dass »[d]iese dialektische Bewegung, welche das Bewußtseyn an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen, als an seinem Gegenstande ausübt, in sofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, […] eigentlich dasjenige [ist], was Erfahrung genannt wird.« (Hegel 1999a: 60) Die Geschichte der Bildung des Bewusstseins und die Geschichte der Bildung der Welt lassen sich nach dieser Vorstellung nicht voneinander trennen.16 Damit wird zugleich sämtlichen Unterscheidungsversuchen zwischen subjektiven Erfahrungen einerseits und objektiven Erkenntnissen andererseits eine deutliche Absage erteilt. Denn: »In der Erfahrung ist das Empirische nicht mehr unmittelbar, sondern selber schon begrifflich. In dem Maße, wie sich das Sinnliche so als geistig vermittelt erweist, wird die Erfahrung zur geistigen Erfahrung.«17 Nicht also geht es im hier unternommenen Rekurs auf die Tradition des deutschen Idealismus einfach darum, die gesuchte Objektivität von Erfahrungen subjektivistisch umzukehren. Hierfür stehen eher andere Autoren, die – wie etwa Descartes oder auch Hume – ausdrücklich eine Wendung zum Subjekt vollziehen. Vielmehr dient der hier nur anzudeutende Rückgriff auf Vernunftkritik und Geistphilosophie dem Zweck, aufzuzeigen, wie jeder Objektivitätsanspruch durch die Beziehung auf das Subjekt zwar mit Einschränkungen verbunden ist, zugleich jedoch nur im Subjekt selbst sich objektiv begründen lässt.18 Akzeptiert man diese Voraussetzung philoso-

rung gültig, weshalb Prozesskategorien und Veränderungsvorstellungen – Hegel spricht von seiner »Phänomenologie« als einer »Leiter« (Hegel 1999a: 23), die den »Weg zur Wissenschaft« (ebd.: 61) weisen will –, hier nur für den Vorgang der Erfahrungsbildung, nicht jedoch für seine erfahrungsunabhängigen Geltungsvoraussetzungen angenommen werden. 16 Vgl. dazu auch die entsprechende bildungstheoretische Interpretation von Pongratz (1986: 135), die den vorliegenden Beitrag maßgeblich angeregt hat. 17 Kappner, zit.n. Pongratz (1986: 135). 18 Zumindest darin stimmen Vernunftkritik und Geistphilosophie überein.

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phischer Begriffsbildung, dann wird deutlich, warum der Weg des Bewusstseins von der Stufe des Empfindens – Hegel spricht in diesem Zusammenhang von sinnlicher Gewissheit – zu derjenigen der philosophischen Selbsterkenntnis emporsteigt. Erkenntnis- und Gegenstandstheorie fallen bei Hegel zusammen, so dass die »Phänomenologie des Geistes« den Geist selbst zum Vorschein bringt, wodurch der Weg zur Wissenschaft selbst schon Teil der Wissenschaft ist. Die Annahme der ›Phänomenologie des Geistes‹, wonach alles Wissen werdendes absolutes Wissen sei, kulminiert schließlich in der Vorstellung vom religiösen und philosophischen Bewusstsein und damit in der Gewissheit, dass die Welt der Erscheinungen nur dem erscheinenden Bewusstsein als gegeben erscheint, wogegen erst das sich selbst wissende Bewusstsein die Kluft zwischen dem Erkennen und dem Erkannten aufzuheben vermag. Gegen diese Schlussfolgerung, die gleichsam vom Ende beziehungsweise vom Absoluten her die Entwicklung des Geistes beobachtet, ist mit guten Gründen eingewendet worden, es handele sich hierbei um eine identitätsphilosophische Verkürzung der Subjekt-Objekt-Dialektik. Hegel spricht in diesem Zusammenhang sogar selbst vom Erkennen als dem »in sich zurückgehenden Kreis, der seinen Anfang voraussetzt, und ihn nur im Ende erreicht.« (Hegel 1999a: 429) Für den hier herausgestellten Aspekt der notwendigen Vermitteltheit von Erfahrungen ist freilich von Interesse, dass unabhängig vom angenommenen absoluten Beobachterstandpunkt, der das gesamte Feld des Erfahrungsweges vom ›natürlichen Bewusstsein‹ bis zum ›absoluten Wissen‹ zu überblicken meint, der dialektische Prozess selbst als Beobachtung des von Erfahrung zu Erfahrung wandernden Bewusstseins aufzufassen ist. Indem die Grenze des Erfahrungskreises auf diesem Weg beständig verschoben wird, wobei die dabei durchlaufenden Stationen als bloß vorläufige erkannt werden, wenn etwa das ›sinnliche Bewusstsein‹ über das bisher für wahr Gehaltene mit sich selbst in Widerspruch gerät, indem also dieser Prozess auf sich selbst verweist, bedarf es keines absoluten Beobachtungspunktes, um das Bewusstsein in Bewegung zu versetzen. Nicht vom Ende oder vom absoluten Wissen her, sondern bereits aufgrund seiner widersprüchlichen Erfahrungen wird das Bewusstsein gedrängt, über sich hinauszugehen. Und solange Erfahrungssubjekt und Erkenntnisobjekt nicht

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übereinstimmen beziehungsweise eins sind, bleiben beide Seiten notwendig aufeinander bezogen beziehungsweise miteinander vermittelt.19

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Die zuvor herausgestellte Vermitteltheit von Erfahrungen verweist ebenso auf ihr Gegenteil, das heißt auf ihre vermeintliche Unvermitteltheit. Auch diese Denkfigur findet sich bei Hegel, wenn er davon spricht, dass sich der sich seiner selbst gewisse Geist im unendlichen Subjekt als absolut Erstes wiedererkennt.20 In diesem Zusammenhang ist die Wahl eines ersten Ursprungs, wie Adorno anmerkt, für die hegelsche Philosophie eigentlich nicht entscheidend, da sie »ein solches Erstes als Festes und im Fortgang des Denkens unverändert sich selbst gleich bleibendes Prinzip« nicht anerkennt. Jedoch statuiert die eingenommene Denkfigur »als solche bereits die Priorität des Geistes, auch wenn auf jeder Stufe das Subjekt ebenso als Objekt sich bestimmt wie umgekehrt das Objekt als Subjekt.« (Adorno 1990: 261) Das Problem der Prima Philosophia ist somit für den dialektischen Erfahrungsprozess selbst unerheblich, wenn man ihn nicht auf ein bestimmtes Ende hin festschreibt. Es bedarf keines unmittelbaren Anfangs oder absoluten Ursprungs, um den Erfahrungsweg nachzuzeichnen. Die Setzung eines Ersten erfüllt bei Hegel – darin übrigens der kantischen Freiheitsidee verwandt – vor allem die Aufgabe, die angestrebte Vollständigkeit

19 Dies zeigt übrigens, dass die philosophische Forderung nach Widerspruchslosigkeit durchaus als Zumutung aufzufassen ist. Demgegenüber nötigt uns »unsere gesamte Erfahrung – die lebendige, die sogenannte vorwissenschaftliche sicher noch mehr als die in gewisser Weise bereits zugerichtete wissenschaftliche – […], an dieser Voraussetzung, an dieser Präsupposition zu zweifeln.« (Adorno 1995: 129) 20 »Denn der sich selbst wissende Geist, ebendarum daß er seinen Begriff erfaßt, ist er die unmittelbare Gleichheit mit sich selbst, welche in ihrem Unterschiede die Gewißheit vom Unmittelbaren ist, oder das sinnliche Bewußsein, – der Anfang, von dem wir ausgegangen; dieses Entlassen seiner aus der Form seines Selbst ist die höchste Freyheit und Sicherheit seines Wissens von sich.« (Hegel 1999b: 432)

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von Erkenntnis und Tat in theoretischer wie praktischer Absicht zu etablieren. Freilich gibt es in jeder Erfahrung, sofern sie auf etwas Neues, bisher Unbekanntes zielt, wenigstens ein Moment von einem unmittelbaren Ersten, das zuvor noch nicht existierte oder noch verborgen war. Wer ganz eingenommen wird von etwas, wer sich darin verliert, ohne sich aufzugeben, und wer seinen Empfindungen – wie man bezeichnenderweise sagt – freien Lauf lassen kann, ohne schwärmerisch zu werden, der erhascht vielleicht etwas vom augenblicklich Aufscheinenden, vermeintlich Unmittelbaren. Vermeintlich deshalb, weil auch das augenblicklich Gegebene in seinem Gewordensein bereits vermittelt ist und nicht ursprünglich auf die Bühne tritt. Als Gegebenes hat es ebenso eine Ursache, die das von ihr Hervorgebrachte als Gewordenes bedingt, und die ihrerseits als Gewordenes in Erscheinung tritt. Folglich ist die gesamte Abfolge der Erscheinungen immer schon vermittelt, das heißt innerhalb der Reihe findet sich keine bestimmbare Ursache von etwas schlechthin. ›Das Ganze‹, von Hegel als »das Wahre« gekennzeichnet (Hegel 1999a: 19), bleibt verborgen. Zurück bleibt nur der Schein des Unvermittelten im Augenblick des Unmittelbaren. Im unvermittelt Aufscheinenden, augenblicklich Gegebenen artikuliert sich allerdings auch die Beschränktheit des Bewusstseins, dessen Begriffsarbeit am Nichtbegrifflichen seine Grenze findet. Adorno greift diesen Gedanken auf, wenn er darauf hinweist, dass die Einsicht in die Vermitteltheit von Erfahrung »den Begriff der Unmittelbarkeit« (Adorno 1990: 72) geradezu herausfordert. Doch nicht ist ihm daran gelegen, den Begriff des unbegriffen Unmittelbaren positiv auszubuchstabieren und ihm dadurch einen ›hohen Sinn‹21 zu geben. Auch wenn man der Philosophie – mit Adorno gesprochen – nicht »die bündige Verpflichtung zur Unnaivetät« (Adorno 1980: 81) auferlegen dürfe, da im unvermittelt Aufscheinenden wenigstens die herausgehobene Besonderheit des ansonsten »bloß Gegebenen« gewürdigt wird, schlägt der Autor sich nicht vorschnell auf die Seite der »Irrationalisten und Intellektuellenfresser« (ebd.: 80). Stattdessen legt er umgekehrt den Finger auf die Wunde des sich selbst als vermittelt begreifenden

21 Vgl. dazu etwa die programmatische Formulierung von Novalis: »Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.« (Novalis 1978: 334)

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Denkens, um an seiner Unzulänglichkeit die Einsicht in seine konkret bestimmte, negative Dialektik zu entfalten: »Es ist eben jenes Weitergehen und nicht Verweilenkönnen, jene stillschweigende Zuerkennung des Vorrangs ans Allgemeine gegenüber dem Besonderen, worin nicht nur der Trug des Idealismus besteht, der die Begriffe hypostasiert, sondern auch seine Unmenschlichkeit, die das Besondere, kaum daß sie es ergreift, schon zur Durchgangsstation herabsetzt und schließlich mit Leiden und Tod der bloß in der Reflexion verkommenden Versöhnung zuliebe allzu geschwind sich abfindet – in letzter Instanz die bürgerliche Kälte, die das Unausweichliche allzu gern unterschreibt.« (Ebd.: 81) An anderer Stelle heißt es entsprechend, dass »[d]er Triumph«, der sich aus der Einsicht in die Vermitteltheit des Unmittelbaren ergibt, am Ende womöglich hinwegrollt »über das Vermittelte und […] in fröhlicher Fahrt die Totalität des Begriffs [erreicht], von keinem Nichtbegrifflichen mehr aufgehalten« – worin der Autor – »die absolute Herrschaft des Subjekts« erkennt (Adorno 1977: 174). Diese Herrschaft gründet sich somit in dem ungeheuren Anspruch des souverän verfügenden, schöpferischen Geistes, das »bloß Gegebene« beziehungsweise »unmittelbar Erscheinende« begrifflich zu ordnen und zu formieren. Der Totalitarismusverdacht, der sich für Adorno daran knüpft, verweist auf die grundlegende Differenz von Form und Inhalt in dem Sinne, dass die Unbestimmtheiten des Gegebenen einseitig – »[i]n der Prägnanz des mythischen Bildes wie in der Klarheit der wissenschaftlichen Formel« (Horkheimer/Adorno 1972: 33) – durch die Bestimmungen des Subjekts aufgehoben werden. Der damit verbundene Anspruch auf Gültigkeit und Objektivität, der nach logozentrischer Auffassung nur im begrifflichen Denken einzulösen ist, bleibt jedoch ebenso notwendig auf sein Gegenteil verwiesen. Sieht man genauer hin, so löst sich das begrifflich zu Bearbeitende nach Abzug der vom Subjekt herrührenden Bestimmungen nahezu vollständig auf. Gemessen an den Formen seiner Bestimmungen spricht Kant etwa vom Gegeben als dem »chaotisch Mannigfaltigen«, das nur deshalb ist, weil es bereits in der Behauptung seines Daseins in einer – obgleich noch vagen – Beziehung zum Subjekt steht.22 Und von hierher ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Einsicht Hegels, »daß dieses reine Sein […], als welches da die

22 Vgl. zu dieser von Kant so genannten »Apprehension in der Anschauung« (Kant 1981a: A 99).

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letzten Gegebenheiten der Erkenntnis sein sollen, ein Nichts sei; daß es genauso gut Nichts wie Sein eben sein soll« (Adorno1995: 150). In der Form ihrer begrifflichen Bestimmungen, so lässt sich dieser Gedanke zusammenfassen, bestimmen Geist und Vernunft sich soweit als möglich selbst und mindern dadurch das bloß Gegebene und Unbestimmte bis zur Bedeutungslosigkeit herab. Dabei bleibt das beständig zu subsumierende Material der Erfahrung merkwürdig qualitätslos und inhaltsleer – wodurch freilich erst der Grundstein für seine möglichst unbeschränkte begriffliche Bestimmung und praktische Bearbeitung gelegt wird. Die Unmittelbarkeit von Erfahrungen verweist, gemessen an den absoluten Ansprüchen ihrer begrifflichen Vermitteltheit, auf Wahres und Falsches zugleich. Wahr an ihnen ist, dass sie das ›bloß Gegebene‹ zunächst ›als solches‹ nehmen und nicht sogleich auf begriffslogische Prozeduren zurückgreifen sowie auf entsprechende anthropomorphe Zweckbestimmungen sich besinnen. Werden sie hingegen, in subjektiver Sicht wie auch in vermeintlich objektiver Bedeutung, als ›Ganzes‹ genommen oder als ›Unvermitteltes‹ verklärt, so erweisen sie sich als trügerisch und falsch. Adorno drückt diesen widersprüchlichen Zusammenhang folgendermaßen aus: »Nicht ist jegliche als primär auftretende Erfahrung blank zu verleugnen. […] Was am Objekt dessen vom Denken ihm auferlegte Bestimmungen übersteigt, kehrt es dem Subjekt erst einmal als Unmittelbares zu; wo das Subjekt seiner selbst ganz gewiß sich fühlt, ist es wiederum am wenigsten Subjekt. Das Allersubjektivste, unmittelbar Gegebene, entzieht sich seinem Eingriff. […] Idealistischer Schein ist die Zuversicht, aus Unmittelbarem als Festem und schlechterdings Erstem entspringe bruchlos das Ganze. Unmittelbarkeit bleibt der Dialektik nicht, als was sie unmittelbar sich gibt. Sie wird zum Moment anstatt des Grundes.«23 (Adorno 1977: 49ff.)

23 An gleicher Stelle problematisiert der Autor ebenso die Ansprüche der begrifflichen Vermitteltheit: »Am Gegenpol verhält es sich mit den Invarianten reinen Denkens sich nicht anders. Einzig kindischer Relativismus bestritte die Gültigkeit der formalen Logik oder Mathematik und traktierte sie, weil sie geworden ist, als ephemer. Nur sind die Invarianten, deren eigene Invarianz ein Produziertes ist, nicht aus dem, was variiert, herauszuschälen, als hätte man dann alle Wahrheit in den Händen. Diese ist zusammengewachsen mit dem Sachhaltigen, das sich verändert, und ihre Unveränderlichkeit der Trug der prima philosophia. Während die Invarianten nicht unterschiedslos in der geschichtlichen Dynamik

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Unmittelbarkeit, so ließe sich auch formulieren, weist über sich hinaus, ohne jedoch bereits ›das Ganze‹ zu repräsentieren. Bei Hegel, der jeden »der Theile der Philosophie« – und damit auch jede Stufe des sich entfaltenden Bewusstseins – als »ein philosophisches Ganzes« begreift (Hegel 1999b: 56), werden die einzelnen Erfahrungselemente im Vermittlungszusammenhang begriffen, »so daß das System ihrer eigentlichen Elemente die ganze Idee ausmacht, die ebenso in jedem Einzelnen erscheint« (ebd.). Adorno hingegen vermeidet diese Identitätsbestimmung, der zufolge ›Teil‹ und ›Ganzes‹ eine begrifflich zu fassende Einheit bilden. Stattdessen besinnt er sich auf den auch von Hegel in diesem Zusammenhang verwendeten Begriff des »Moment[s]« (ebd.), der semantisch gleichermaßen auf Bewegendes (Unmittelbares) wie auf Bewegtes (Vermitteltes) verweist. In beiden Aspekten erkennt Adorno jedoch keinen unveränderlichen Grund für die Erfahrungsbildung, weshalb er dafür plädiert, sie in ihrem – freilich widersprüchlichen – Zusammenhang zu begreifen. Folgt man diesem Gedanken, so steht die Unmittelbarkeit als bewegendes Moment nicht, wie bei Hegel, schon für die »Einheit« (ebd.: 57) oder »Totalität des Ganzen« (ebd.), sondern an ihre Stelle tritt bei Adorno die Offenheit des Erfahrungsprozesses, die sich als »vermittelte Unmittelbarkeit […] auf allen Stufen des entfaltenden Bewusstseins erneut reproduziert« (Pongratz 1986: 136).

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Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten steht Kontingenz nicht einfach für das, was sich ereignet oder geschieht und ebenso anders hätte ausfallen und erfahren werden können. Im Sinne der dialektischen Figur der Erfahrungsvermittlung, die den Prozess der Bildung des Bewusstseins an den Gegenständen der Erfahrung beschreibt, meint Kontingenz vielmehr die notwendige Offenheit und Unabgeschlossenheit dieses Vorgangs. An die Stelle der vermeintlichen Zufälligkeit und Akzidenz der Erfahrungsinhalte tritt hier also die Vorstellung von der Beweglichkeit und Veränderlichkeit des Erfahrungsprozesses selbst.

und der des Bewußtseins sich lösen, sind sie in ihr Momente; sie gehen in Ideologie über, sobald sie als Transzendenz fixiert werden.« (Adorno 1977: 50)

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Doch woher rührt diese Offenheit, die den Erfahrungsprozess – auf dem »Weg des Zweifels« (Hegel 1999a: 56)24 – in Bewegung hält und dabei gleichermaßen die Gegenstände der Erfahrung wie auch das erfahrende Bewusstsein umkehrt? Bei Hegel gründet sie in der Vorläufigkeit der Erfahrung und der daraus abgeleiteten methodologischen Forderung, »gleichzeitig die Phänomene als solche sprechen zu lassen – das ›reine Zusehen‹ – und doch in jedem Augenblick ihre Beziehung auf das Bewußtsein als Subjekt, die Reflexion, präsent zu halten« (Adorno 1980: 82). In dieser Charakterisierung der hegelschen Dialektik, in der sowohl das Moment der Unmittelbarkeit als auch das der Vermitteltheit aufgenommen ist, zeigt sich zugleich die ganze »Doppelschlächtigkeit der Methode«, die »weder stur noch souverän, weder blind noch leer, weder atomistisch noch konsequent zu verfahren« habe, um den »antagonistischen Forderungen des Zusehens und Konstruierens« (ebd.) entsprechen zu können. Anders jedoch als Hegel, der den Erfahrungsprozess gleichsam vom Ende her denkt und von diesem Standpunkt aus das Verhältnis von Subjekt und Objekt identitätsphilosophisch deutet, verweist Adorno demgegenüber auf die Brüche sowie auf den Preis der unversöhnlich bleibenden und nicht vorschnell sich Einverstanden erklärenden dialektischen Vorgehensweise: »Vom Denkenden heute wird nicht weniger verlangt, als daß er in jedem Augenblick in den Sachen und außer den Sachen sein soll – der Gestus Münchhausens, der sich an dem Zopf aus dem Sumpf zieht, wird zum Schema einer jeden Erkenntnis, die mehr sein will als entweder Feststellung oder Entwurf. Und dann kommen noch die angestellten Philosophen und machen uns zum Vorwurf, daß wir keinen festen Standpunkt hätten.« (Ebd.) Zur Systemphilosophie, die auf »das Ganze« zielt, um es als »das Wahre« (Hegel 1999a: 19) auszuzeichnen, eignet sich der hier beschriebene Gestus ausdrücklich nicht. Vielmehr verweist die zugleich »in den Sachen und außer den Sachen« verlegte Positionierung auf eine »Moral des Denkens« (Adorno 1980: 80), die in diesem paradoxen Doppelverhältnis keinen

24 Gadamer kommentiert diesen Gedanken folgendermaßen: »Die Erfahrung hat nach Hegel die Struktur einer Umkehrung des Bewußtseins und deshalb ist sie eine dialektische Bewegung. […] In Wahrheit durchschaut das philosophische Bewußtsein, was das erfahrende Bewusstsein eigentlich tut, wenn es von einem zum anderen fortgeht: es kehrt sich um. Hegel behauptet also, das wahre Wesen der Erfahrung selber sei, sich so umzukehren.« (Gadamer 1990: 360)

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Fehler, sondern eine Notwendigkeit erkennt. Damit verbunden ist freilich der umfassend angelegte Anspruch, das dialektische Denken überhaupt von verdeckenden Affirmationen und Synthetisierungen zu befreien, »ohne an Bestimmtheit etwas nachzulassen« (Adorno 1977: 9). Denn: »Eine Philosophie so zu glätten, daß schließlich doch alles zueinander paßt, das ist nicht schwer; das ist, mit Hegel zu reden, ein ›Tritt, der sich bald erlernt‹.« (Adorno 1995: 129) Diese unversöhnliche, den widersprüchlichen Verhältnissen trotzende Haltung, sieht in der Offenheit und Unabgeschlossenheit des Erfahrungsprozesses zugleich eine notwendige Bedingung der Möglichkeit jeder Erfahrungsbildung, die diesen Namen verdient. Alle Erfahrung, sofern sie gelingt, enthält ein negatives Moment (vgl. Pongratz 1986: 136) – hier freilich nicht verstanden in dem Sinne, »daß durchs Denkmittel der Negation ein Positives sich einstelle.« (Adorno 1977: 9) Gegen die Vorstellung Hegels einer ins Positive gerichteten Negation der Negation will die »Negative Dialektik« sich »von derlei affirmativem Wesen befreien« (ebd.). Während die hegelsche Fassung der bestimmten Negation noch davon ausgeht, dass man zunächst wissen müsse, was jeweils negiert werde, damit ein neues Wissen und Können sich bilde, das die ältere Erfahrung in sich aufnehme25, weist Adorno jede Vorstellung an eine gelingende Aufhebung oder Versöhnung zwischen Unmittelbarem und Vermitteltem zurück. Mit »konsequenzlogischen Mitteln« trachtet er, »anstelle des Einheitsprinzips und der Allherrschaft des übergeordneten Begriffs die Idee dessen zu rücken, was außerhalb des Banns solcher Einheit wäre« (Adorno 1977: 10). Damit befindet sich der Autor gleichsam im offenen Raum zwischen bestimmter Negation und negativer Erfahrung, in dem das Erfahrene zwar als das Falsche erkannt wird, eine Lösung jedoch noch nicht gefunden ist.26

25 Zur Unterscheidung zwischen ›unbestimmter‹ und ›bestimmter Negation‹ vgl. Hegel (1999a: 18; 1999b: 209). Zum Einfluss dieser Denkfigur auf das Verständnis von Bildung, Aufklärung und Kritik in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion vgl. Benner (2003). Zur praktischen Umsetzung im Erfahrungslernen siehe Oser/Spychiger (2005). 26 Während sich Erziehungs- und Bildungsprozesse traditionell an den »Steigerungsmöglichkeiten der menschlichen Natur« (Bockrath 2009b: 59) orientieren, die der Idee der »Höherentwicklung der Menschheit« (Benner 1973: 10) verpflichtet sind, betont Adorno demgegenüber das »rückläufige Moment« und die

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Was bleibt, ist das »Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteressement bekundete: beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen; bei dem, was seit Platon als vergänglich und unerheblich abgefertigt wurde und worauf Hegel das Etikett der faulen Existenz klebte« (ebd.: 20). Die ›negative Dialektik‹ besinnt sich daher zum einen auf die begriffslose Seite der Erfahrungsgegenstände, die durch die kategoriale Bearbeitung des objektivierenden Denkens ausgeblendet wird, was wiederum nur im Moment der Entfremdung und Zerrissenheit – also negativ – erfahrbar ist. Im weiter oben angesprochenen Totalitarismusvorwurf, der die angestrebte Einheit des Begriffs als unbegrenzten Herrschaftsanspruch des Subjekts entlarvte, kam dieser Gedanke zum Ausdruck. Zum anderen kritisiert die ›negative Dialektik‹ ebenso unnachgiebig jene vermeintlich unmittelbaren Erfahrungen27, die selbstvergessen und distanzlos, das heißt ohne jegliche Anstrengung des Begriffs, sich dem Gegebenen überlassen. In Anlehnung an eine ähnliche Formulierung Adornos ließe sich die begriffslose Erfahrung, die der Verzauberung durchs Unbegriffene erliegt, auch als »erfahrungslose Erfahrung«28 bezeichnen. Diesem Erfahrungsentzug wäre mit der – ebenfalls negativen – »Erfahrung verhinderter Erfahrung« (Pongratz 1986: 137) zu begegnen, die sich unter strikter Zurückweisung vorschneller Einverständnisse »als entfremdete Entfremdung erfährt« (ebd.). Um jedoch diesen letztlich labilen Zustand ausbilden und einnehmen zu können, »muß das Subjekt sich einerseits objektiv über die Unmittelbarkeit des Gegebe-

»Besinnung auf das Destruktive« (Horkheimer/Adorno 1972: 3), das dem aufklärenden Denken ebenso innewohnt wie dem Fortschritt. Diese Haltung, die nichtsdestotrotz an der Vorstellung festhält, »daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist« (ebd.), führt Benner in einer späteren Auflage zu der selbstkritischen Frage, »wie heute mit dem dieser Idee [der Höherentwicklung der Menschheit] zugrunde liegenden Vernunftoptimismus kritisch umgegangen werden kann.« (Benner 1991: 10). Legt man für ihre Beantwortung »das Moment einer gelingenden Erfahrung« (Benner 2003: 107) zugrunde, dann wird deutlich, dass diese »mehr als ein bloßes Resultat von Kritik darstellt« (ebd.) und somit in einem kontingenten Sinne zu verstehen ist. 27 Vgl. ausführlicher dazu am Beispiel von Rousseau (Bockrath 2003). 28 So charakterisiert Adorno an anderer Stelle in ähnlicher Weise die »reinen Anschauungen« Kants als »Erfahrung ohne Erfahrung«, um ihre Widersprüchlichkeit aufzuzeigen (Adorno 1956: 156).

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nen erheben und andererseits subjektiv doch wieder ein solch unmittelbares Verhältnis zu den Dingen aufbringen, das dazu befähigt, von sich aus an den Dingen überhaupt etwas aufleuchten zu sehen« (ebd.: 138). Beschrieben wird damit eben jene Kontingenz der Erfahrung, die als Erfahrung der Kontingenz in Erscheinung tritt und gleichermaßen gegen die einseitige Verkürzung subjektiver Unmittelbarkeit und objektiver Vermitteltheit gerichtet ist. Im Sinne dieser doppelten Negation ist es unerlässlich, das Moment der Subjektivität zugleich als Moment der Vermittlung und das Moment der Objektivität ebenso als Moment des Unmittelbaren zu begreifen. In diesem Fall besteht zumindest die Aussicht, sich vor den »Pseudo-Orientierung[en] in einer immer undurchsichtiger werdenden Welt« (ebd.: 137) zu befreien, um »aus der Höllenmaschine, aus dem Zwangsmechanismus eines in sich geschlossenen Denkens hinauszugelangen« (Adorno 1973: 209f). Dieser Zwangsmechanismus schließt, wie gesehen, das unmittelbare subjektive Verhältnis zu den Dingen ebenso ein wie ihre objektive Vermittlung im begriffslogischen Denken. Beide Erfahrungsbereiche erschließen sich erst in ihrer doppelten Negation in ihrem widersprüchlichen Zusammenhang als zwei Seiten einer Medaille.

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In bildungstheoretisch orientierten Ansätzen, die das Erfahrungslernen im Sport ästhetisch zu legitimieren beziehungsweise – wie eingangs erörtert – in entsprechende Bildungsstandards zu übersetzen versuchen, wird entweder das subjektive Verhältnis zu Spiel und Wettkampf positiv herausgestellt, oder aber es werden unter Vermeidung dieses Umwegs sogleich objektive Parameter benannt, an denen die positiven Auswirkungen sportlicher Betätigungen zu bemessen sind. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Verwendung von Formulierungen und Denkfiguren, die fast ausnahmslos affirmativ angelegt sind – unabhängig davon, ob sie konkret oder abstrakt ausfallen. So begreifen etwa Weise/Prohl den Wettkampfsport in seiner »entfunktionalisierenden Wirkungsweise«, der »eine intensivierte Form der Wahrnehmung und eine gesteigerte Art der Reflexion des Könnens im NichtKönnen« (Weise/Prohl 2009: 193) ermöglichen soll. Um den reflexiven Charakter des damit einhergehenden Bildungsvorgangs zu unterstreichen,

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verweisen die Autoren auf die »freiwillige Zumutung eines Allgemeinen, das die Aufopferung individueller Besonderheiten und die Abstandnahme von unmittelbaren persönlichen Bedürfnissen verlangt«, damit die Vollendung des Bildungsprozesses als »Heimkehr zu sich« (ebd.: 194) gelinge. Die hiermit verbundenen Erwartungen richten sich dementsprechend auf die subjektiven Erfahrungen, die einen »höheren Sinn« (ebd.: 194) freilich erst durch ihre Einbindung in den Vermittlungszusammenhang des Sports – als der »Institution der Produktion ästhetischer Erfahrung« (ebd.: 192) – erhalten sollen. Im Sinne dieser Auffassung bleiben die ästhetischen Sinnzuschreiben subjektiv; sie machen allerdings nur Sinn im Rahmen ihrer institutionellen Vermittlung: »Mit Blick auf die Institution Sport legen die Schnittstellen, die sich an dieser Stelle zwischen Institutions- und ästhetischer (Bildungs-)Theorie auftun, nahe, den Sinn des Spiels eben nicht in seinen Regeln und Regelungen zu vermuten, sondern diese als Ermöglichungsbedingung eines höheren Sinns aufzufassen.« (Ebd.: 190) Formulierungen wie diese erinnern unweigerlich an jene tautologischen Versuche, die den Sinn des Sports in diesen selbst verlegen29 – nunmehr allerdings unter ausdrücklicher Bezugnahme auf vermeintlich »höhere« subjektive Sinngebungen. Nachdem der »Zustand des Sports prekär« geworden sei und »die Praxen des Leistungssports gemessen an den moralischen Standards einer Zivilgesellschaft kaum mehr zu rechtfertigen sind« (ebd.: 186), besinnt sich die ästhetische Bildungsdiskussion auf die angenommenen Freiheiten und Möglichkeitsräume, welche die »Institution Sport als Mittel zur Reduktion der Komplexität der Welt« gewähren soll, indem »subjektive Erlebniskomponenten unter Verzicht auf praktische und kognitive Ergebnisse beteiligt werden« (ebd.: 190). Da dies im Handeln weitgehend habitualisiert und zweckfrei geschehe, wodurch zugleich »geistige Energien nach oben« freigesetzt und »eine Dämpfung der Überzeugung der Existenz einer realen Welt« (ebd.) erreicht würde, erscheint für die Autoren eine im bildungsrelevanten Sinne wesentliche Voraussetzung für ästheti-

29 »Der Sinn des Sports darf […] eben nicht mit seinem erkennbaren oder erstrebten Nutzen gleichgesetzt werden, nicht mit den politischen oder merkantilen Zwecken, für die er in Gebrauch genommen wird, auch nicht mit seinen erreichten oder nicht erreichten sportlichen Erfolgen, sondern er ist zu messen an dem autonomen sportlichen Sinn, den er sich gibt.« (Grupe 1985: 27f.) Vgl. dazu den luziden Kommentar von König (1996: 227).

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sche Reflexionen erfüllt zu sein. Nicht mehr ist zu sagen, was den Sport inhaltlich auszeichnet, nachdem dieser in eine Legitimationskrise geraten ist, sondern es werden stattdessen seine vermeintlich entlastenden Funktionen und Wirkungen hervorgehoben, die den Raum für neue subjektive Sinngebungen freisetzen sollen. Diese Art des Zugangs setzt sich einer zweifachen Kritik aus: Auf der einen Seite bleibt der Verweis auf die vermeintlich entlastenden institutionellen Rahmenbedingungen30 unter theoretischer Ausklammerung der erwähnten Defizite und prekären Zuschreibungen an entscheidender Stelle unvollständig. Indem nämlich die handlungsrelevanten Widersprüche und Paradoxien des Gegenstandes Sport unanalysiert bleiben, um seinen vermeintlich »höheren Sinn«31 auszuweisen, ist es überhaupt erst möglich, ihn als bloßes »Medium für die Produktion eines außergewöhnlichen Sinnes seitens der Erfahrenden« (ebd.: 187) misszuverstehen. Wer darüber hinaus, diesem Ansatz folgend, die »Sinnfrage des Leistungssports« (ebd.: 186) auf einer »institutionstheoretischen Abstraktionsbasis« (ebd.: 187) zu beantworten versucht, verengt den Blick auf das residuale Wie ästhetischer Erfahrungsbildung. Erreicht wird dadurch eine bloß formale Bestimmung des Erfahrungsvorgangs, der inhaltlich erst im wahrnehmenden Innewerden der Erfahrenden (vgl. ebd.: 192) zu sich selbst kommen soll. Was dagegen im Zuge der Erfahrungsbildung der theoretisch wie praktisch relevanten »Legitimationskrisen des Sports« (ebd.: 186) als widersprüchlich wahrgenommen wird, das heißt wie der zu bestimmende Gegenstand im Verhältnis von Institution und Erfahrung inhaltlich vermittelt ist, bleibt dieser Art der Beobachtung verborgen. Im Unterschied dazu zeigt etwa der strukturalistischdekonstruktivistische Ansatz von Ehni (1977) für die sportpädagogische

30 Die Autoren beziehen sich in ihren Ausführungen unter anderem auf Gehlen (vgl. Weise/Prohl 2009: 190), der bekanntermaßen die These von der Entlastung des Menschen durch Kunst und Kultur vertritt, deren befreiende Wirkungen er jedoch verneint, da ihre gesellschaftliche Funktion vor allem darin liege, die alltäglichen Notwendigkeiten erträglich zu machen. Zu diesem vermeintlichen »Vorteil« moderner Kunst, der eine »rein kunstbezogene Einstellung des Betrachters« erzwinge, vgl. Gehlen (1960: 201). 31 Vgl. zu dieser Art der Sinnproduktion die aufschlussreiche Kritik der »Geisteskultur als Selbstzweck« einer sich selbst verabsolutierenden Bildungsvorstellung von Adorno (1972: 95).

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Diskussion in anschaulicher Weise, wie widersprüchliche Erfahrungen als Erfahrungen von Widersprüchen sowohl theoretisch als auch praktisch im Vermittlungsprozess wirksam werden. Erfahrungen der Kontingenz, die beispielsweise durch Verfremdungen akteursbezogener Wahrnehmungsroutinen und institutioneller Rahmenbedingungen erreicht werden, dienen dabei nicht einfach der Irritation, sondern betonen vielmehr die konkret bestimmte Offenheit und Nichtidentität von Bildungsprozessen. Auf der anderen Seite wird durch den Einsatz von Verfremdungstechniken auch die Stellung des Subjekts im sportbezogenen Vermittlungszusammenhang thematisiert. Im Zuge der spontanen Veränderung oder der absichtsvollen Dekonstruktion materialer Anordnungen und symbolischer Strukturen setzen sich die Akteure bereits ansatzweise über das Gegebene hinweg und verweisen damit auf ein neuartiges, körperlich-praktisch bestimmtes Verhältnis. Der dabei aufscheinende distanzierte Umgang mit den Ernstfällen des Lebens, der insbesondere der Kunst ihre je spezifischen Freiheitsräume eröffnet hat, könnte auch den im Sport vorherrschenden Emotionen und Ängsten etwas von ihrer Gewalt und Ernsthaftigkeit nehmen. Im variierenden Spiel mit vertrauten Routinen, Ritualen und Tabus entwickelt sich dann möglicherweise jenes reflexive Verständnis, das in den standardisierten Abläufen des institutionalisierten Sports von vornherein auf die Beherrschung der »Unwägbarkeiten des Spiels« (Weise/Prohl 2009: 192) eingeschränkt ist. Zu einer ästhetisch-reflexiven Verfeinerung bedarf es jedoch mehr als bloßer Kontrolle und Anstrengungsbereitschaft. Die einseitige Ausrichtung des Begehrens auf seine Befriedigung im sportlichen Erfolg bewirkt nur selten seine raffinierte Steigerung und befördert in der Regel eher sein vorzeitiges Verlöschen. Hiervon auszunehmen sind nur die wenigen virtuosen Momente im Sport, die allerdings zu selten und zu unkonventionell sind, um damit eine breite »pädagogische Begründungsdiskussion des schulischen Sportunterrichts« (ebd.: 187) zu fundieren. Somit steht zu befürchten, dass »[d]er Sport als Institution der Produktion ästhetischer Erfahrung« (ebd.: 186) eher der Verhinderung dessen dient, was nur unter Bedingungen kultiviert werden kann, bei denen Selbsterhaltung und Selbstpreisgabe noch nicht identisch sind. Nicht schon ergibt sich der »ästhetische Mehrwert […] aus den Einschränkungen des Handelns im Rahmen der Institution Sport« (ebd.: 189), sondern er entsteht vielmehr dann, wenn Restriktionen aufgelöst und neue Erfahrungsbezüge angeregt werden. Um dies zu erreichen, bedarf es spielerischer Formen –

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etwa der Verhüllung, Entgrenzung oder Ironie –, mittels derer die Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität immer wieder neu hervorgebracht wird, während sie im Sport bereits vorab deutlich markiert ist. Das Subjekt könnte dadurch – im bereits angesprochenen Sinne – ein »unmittelbares Verhältnis zu den Dingen aufbringen, das dazu befähigt, von sich aus an den Dingen überhaupt etwas aufleuchten zu sehen« (Pongratz 1986: 138). Dabei wären die Akteure zugleich Zuschauer ihrer selbst, das heißt sie könnten ihre Gefühle fühlen und ihre Genüsse genießen, ohne von vornherein auf ein eindeutig bestimmtes Handlungsziel festgelegt zu sein. Der in der ästhetischen Diskussion über den Bildungswert des Sports auffällig oft bemühte Begriff der Reflexivität erhielte in diesem Zusammenhang zugleich eine veränderte, eher dem Spielerischen zuneigende Bedeutung. Die entsprechende Maxime könnte demnach lauten: Wo Ernst war, soll Spiel werden. Erreicht würde hierdurch zweierlei: Einerseits führten die sportbezogenen Verfremdungen zur Einsicht in den kontingenten Charakter des objektiv vermittelten sportlichen Handlungsrahmens, der dadurch als ein Moment des Unmittelbaren beziehungsweise subjektiv Verfügbaren in Erscheinung träte. Andererseits würde deutlich, dass das Moment der Subjektivität ebenso als ein Moment der Vermittlung zu begreifen ist, da sich Veränderungen notwendig auf etwas beziehen, das – wie der intersubjektive sportliche Handlungsrahmen – nicht unmittelbar aus sich selbst heraus erzeugt werden kann. In diesem Zusammenhang würde sich die bereits angesprochene »Erfahrung verhinderter Erfahrung« (Pongratz 1986: 137) allerdings nur dann einstellen, wenn die angestrebten Verfremdungen und Distanzierungen weder der Verzauberung durchs Unbegriffene erliegen noch in den Zwangsmechanismus hermetischer Pseudo-Orientierungen sich einfügen. Adorno übrigens, der den zu seiner Zeit geführten ästhetischen Debatten über Antihelden und Antidramen damit begegnet, dass die »Negative Dialektik […] von allen ästhetischen Themen sich fernhält« (Adorno 1977: 10), sieht seine Aufgabe vor allem darin begründet, »mit der Kraft des Subjekts den Trug konstitutiver Subjektivität zu durchbrechen« (ebd.). Dieser paradoxe und antisystematische Grundzug, der den Gedanken der Offenheit und Reflexivität von Erfahrungsprozessen als Bedingung seiner eigenen Möglichkeit begreift, ist kaum geeignet, die Diskussionen über ästhetische Erfahrungen, Kompetenzen und Curricula im Sport durch ein weiteres Mo-

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dell zu bereichern. Sein Beitrag liegt eher in der Kritik begrifflicher Verkürzungen in den entsprechenden Legitimationsdiskursen, ohne daraus freilich den Anspruch auf ein positives Wissen – nach Art der bestimmten Negation – abzuleiten. Dies bewahrt jedoch nicht davor, sämtlichen Forderungen mit Bestimmtheit zu begegnen, die das Kontingente und Nichtidentische von Erfahrungsprozessen entweder begriffsschematisch oder reflexionsfrei aufzuheben versuchen. Insbesondere Lehrplänen und Bildungsstandards ist eine solche affirmative Ausrichtung eigen – und zwar auch dann, wenn sie mit bildungstheoretischem Aufwand und mit ästhetischen Gründen gerechtfertigt werden.

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Leibsein zwischen Unverfügbarkeit und Verfügbarkeit: eine bildungstheoretische Position ECKHARD MEINBERG

1. D IE P ROBLEMSTELLUNG Es ist fürwahr kein Geheimnis: Das Leibsein, in das jeder von uns tagtäglich und auch nächtlich auf das Innigste verstrickt ist, aus dem man nicht aussteigen kann, das man nicht irgendwo abzustellen, und dann vorübergehend zu verlassen vermag, wird theoretisch nicht annähernd so hofiert, wie dies angesichts seiner lebenspraktischen Bedeutung vermutet werden könnte. Schaut man sich in der wissenschaftlichen Diskurslandschaft um, dann wird dieser Eindruck rasch bestätigt. Weder innerhalb der pädagogischen Wissenschaft noch in anderen Kulturwissenschaften ist das menschliche Leibsein der Aufmerksamkeitserreger, dem man sich magisch hingezogen fühlt, was, so wird man auch belehrt, eine langwährende Tradition hat, mit der zu brechen nur selten unternommen worden ist. Auch die Anthropologie, welche gemäß ihres erklärten Ziels, das Große und Ganze der ›conditio humana‹ in den Reflexionshorizont einzuspannen, hat sich nicht gerade mit ›Ruhm bekleckert‹. Immerhin: In der soziologischen Forschung hat sich mittlerweile ein neues Teilgebiet herauskristallisiert, welches das Leibsein vornehmlich auf den Körper beschränkt und pauschal danach fragt, wie dieser Körper gesellschaftlich gemacht wird und unter dem Etikett einer recht buntscheckigen Soziologie des Körpers (vgl. dazu Gugutzer 2004) dahintreibt.

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Selbstverständlich ist in der pädagogischen Praxis und Theorie gleichermaßen eine um die menschliche Leiblichkeit zentrierte Erziehung und Bildung kein Fremdling, erfreuen sich doch gerade Leibespraktiken im weitesten Sinne seit der griechischen Antike einer bildenden Wertschätzung, weshalb u.a. Platons Paideia-Konzeption davon nicht unbeeindruckt bleiben konnte. Dass dessen Meisterschüler Aristoteles sie ebenfalls nicht ignorierte, war konsequent. Der Gedanke einer Leibesbildung ist demzufolge ein eherner, der in der Folgezeit bis heute, unterschiedlich temperiert und konzipiert, nicht mehr preisgegeben werden sollte, sich allerdings auf dem Theoriemarkt nie als der ›große Renner‹ behauptet hat. Das gilt nicht bloß für die Gegenwart, die doch unablässig seit mehr als zwei Jahrzehnten dem Leibsein als Körper die Ehre erweist – ganz so, als ob dieses physische Gebilde einmal vom Erdboden verschwunden gewesen wäre, wird die ›Wiederkehr des Körpers‹, eine Art von Wiederauferstehung begangen. Seither floriert ein regelrechter Körperboom, bei dem der Körper zum Ort und Hort von Wünschen, Sehnsüchten, Utopien und Träumen wird. Zwar ist die ›Alltagsliteratur‹, insbesondere die Ratgeberliteratur von Berufenen und Unberufenen, von echten Profis und dilettierenden Amateuren metastasisch gewachsen, deren Empfehlungen für das ›rechte körperliche Outfit‹ sorgen sollen, aber in der pädagogischen Wissenschaft hat dies keineswegs dazu geführt, den Körper als Leib aus seinem Dornröschenschlaf zu erwecken. Die länger schon praktizierte Spezialisierung und Ausdifferenzierung hat u.a. dazu beigetragen, dass offenbar niemand, d.h. kein ausgegliedertes Teilgebiet innerhalb der Erziehungs- und Bildungswissenschaften die Verantwortung für das Leibsein in seinem pädagogischen Aspektreichtum bereit ist, zu übernehmen, mit der folgenschweren Konsequenz, dass die Leiblichkeit relativ selten als ein genuin pädagogischer Topos vorkommt. Eine allseitig und mehrfältig ansetzende Leibpädagogik ist in dem Dickicht hochspezialisierter Theorieansätze schwerlich auszumachen; als eine explizite Subdisziplin eben dieser Wissenschaft ist sie nicht aufzufinden, was auch einiges über diese mehr als 200 Jahre alte, an Universitäten vertretene Disziplin aussagt. Nun könnte gekontert werden: Gut und schön! Aber: In diesem disziplinären Spektrum der Teilgebiete gibt es doch etwa eine Bewegungs- und Sportpädagogik, die ganz nah an der Leiblichkeit dran sind – und nicht zu vergessen die Gesundheitspädagogik, zu der sich nach der Absicht Hörmanns noch eine »Krankenpädagogik« (vgl. Hörmann 2001) gesellen soll-

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te. Und dann sind da auch noch ästhetische Bildungs- und Erziehungstheorien, die, sofern an der Aisthesis ihren Ausgangspunkt findend, den menschlichen Leib ebenfalls nicht übergehen. Allerdings: All diese separierten Teilgebiete fristen ein Eigendasein, wenden sich dem Leibsein unter einer ganz spezifischen Perspektive zu, so beispielsweise die Sportpädagogik, die vornehmlich den ›sportiven Körper‹ und folglich einer sportiven Leibesbildung und Leibeserziehung ihr Interesse schenkt. Außerdem nehmen die Subgebiete der Erziehungswissenschaft kaum Notiz voneinander, obwohl und exemplarisch die Gesundheit innerhalb der Sportpädagogik eine altbewährte Thematik ist, kommt es, wenn überhaupt, höchst selten zu einem Dialog zwischen Sportpädagogik und Gesundheitspädagogik und umgekehrt, was entsprechend auch auf die anderen Teilsektoren zutrifft. Es dominieren eindeutig partikulare Sichtweisen auf das Leibsein, das quasi parzelliert wird, weshalb ein pädagogisches Gesamtverständnis der Leiblichkeit fehlt. Genau dies zu ermöglichen, wäre die originäre Aufgabenstellung einer Leibespädagogik im umfassenden Sinne. Und just dieser Gedanke ist es, der nachfolgend ein klein wenig weiter vorangetrieben werden soll. Es geht um eine Konzeption von Leibespädagogik als einer eigenständigen Subdisziplin der Bildungswissenschaft, die ›mehr‹ und anderes ist als eine Gesundheitspädagogik oder Sportpädagogik, insofern sie versucht, das Leibsein in der Fülle seiner Aspekte in den Blick zu bringen und zu besonderen Umgangsweisen mit dem Leibsein insgesamt anzuhalten. Ein unverrückbarer Grundpfeiler ist darin eine Theorie der Leibesbildung, die ich in meiner jüngsten Monographie (vgl. dazu Meinberg 2011) ausführlich, jedoch immer noch nicht ausführlich genug entwickelt habe und der einige Hauptannahmen entnommen werden. Das Projekt dieser ›neuen‹ Leibespädagogik basiert auf einer Theorie der Leibesbildung, welche die Bildungsnotwendigkeit des Leibseins voraussetzt.

2. D AS L EIBSEIN

ALS

B ILDUNGSAPRIORI

Leibsein als Aufgabe, so betitelt Böhme (2003) eine seiner zahlreichen Monographien und lässt damit schon von der Überschrift her keinen Zweifel daran, dass wir Menschen unseren je eigenen, individuell getönten Leib anzunehmen haben, dass dieser nicht nur einfach ›da‹ ist, den wir bewegen und der uns bewegt, vielmehr haben wir ihn auch zu bewältigen, ob wir

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wollen oder nicht. Das Leibsein ist uns nicht bloß gegeben, sondern auch aufgegeben, ist Gabe und Aufgabe. Man kann das auch so umschreiben: An der leibhaftigen Präsenz führt schlechterdings kein Weg vorbei: auch nicht die Wege der Bildung. Der Leib ist das menschliche Bildungsapriori überhaupt, ohne Ansehung dessen, was da inhaltlich gebildet wird und werden soll. Das Leibsein liegt einer jedweden Bildung voraus und zugrunde, es erweist sich als der Ermöglichungsgrund aller Formen von Bildung. Die Leibgebundenheit ist eine elementare Grundvoraussetzung für sämtliche Bildungsprozesse, sie ist als stete Begleiterin des Menschen für Bildungsvorgänge unhintergehbar. Es kommt noch etwas hinzu, dass diese leibliche Bildungsbasis verstärkt. Bildung bedarf, um überhaupt in Gang zu kommen, des und der Anderen. Das sich bildende Individuum ist auf Andere und Anderes angewiesen – in der Sprache der klassischen Bildungstheorie: auf Welt (vgl. dazu u.a. W. von Humboldt). Und dabei ist es der Leib, der als ›Zünglein an der Waage‹ zu betrachten ist, weil er, und nur er es ist, der diese Wechselwirkung von Ich und Welt ermöglicht; er erweist sich als die Nahtstelle, als Gelenk zwischen Selbst und Welt. Der Leib ist ein Bildungsaspirant nicht nur aufgrund seines apriorischen Charakters für Bildungsprozesse insgesamt, sondern auch deshalb, weil es ein leib-körperbezogenes Wissen anzueignen gilt. Sowohl die Wissensproduktion wie die Wissensaneignung, der Wissenserwerb sind nicht das ausschließliche Resultat bzw. Prozesse des Kopfes, des kognitiven Apparats, sondern Emotionen sind u.a. daran beteiligt. Da diese letztlich leibgebunden sind, ist der Leib nicht bloß stummer Zeuge bei der Wissensfabrikation. Der Clou ist vielmehr: Der Leib als Körper ist Objekt des Wissens, indem man unterschiedliche Kenntnisse über diesen erwirbt, und kann zugleich Subjekt des Wissens sein. Eine andere und weitere Problematik der Bildung ist die der Bestimmung. Bildung, mag sie auch noch so rudimentär sein, ist deshalb so zentral für uns Menschen, weil sie uns hilft, Wege in die Selbstbestimmung zu weisen. Dabei ist eine eigentümliche Dialektik am Werke, die ausgehalten werden muss, da unabwendbar: durch Bildung können wir unser Selbst graduell verschiedenartig bestimmen, aber es wird auch immer bestimmt, und sei es nur aus Bequemlichkeit (vgl. dazu Meinberg 2010b: 41ff.). Über unser Selbst können wir letzten Endes nicht gänzlich verfügen, auch zumal unseres Leibseins wegen. Es ist wesentlich dieses Leibsein, das uns daran hindert, es im Letzten zu beherrschen oder so herzustellen, zu formen, wie

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ein Tisch hergestellt wird. Wir müssen unser Leibsein auch immer geschehen lassen, nicht nur in einer über uns urplötzlich hereinbrechenden Krankheit. Das Leibsein schwankt zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem, zwischen Bestimmen und Bestimmtwerden, Gewissheit und Ungewissheit, Sicherheit und Unsicherheit und ist deshalb alles entscheidend dafür, dass eine Leibesbildung wie Bildung überhaupt diese schlechthinnige Unverfügbarkeit nicht auszuradieren vermag, auf die jüngst Schürmann von einer anderen Seite her überzeugend eintritt (vgl. dazu Schürmann 2010b: 61ff.). Bei allen Vorbehalten gegenüber der Verfügbarkeit des Leibseins ist in Pädagogenkreisen dessen Bildungswürdigkeit ziemlich unumstritten. Seitdem man sich neuzeitlich darangegeben hat, Notwendigkeiten und Möglichkeiten zu begründen, ist diese Art der Bildung mit der Idee der Allgemeinbildung verknüpft worden, eine Vorgehensweise, die repräsentativ ist und für die neue Leibesbildung, wie zu zeigen wird, eine ganz besondere Bedeutung erhält.

3. L EIBESBILDUNG UND ALLGEMEINBILDUNG Gut belegbar ist, dass der naturgegebene Leib dadurch zu einem kulturellen Bildungsgut avancieren soll, dass er an der Allgemeinbildung partizipiert. Dafür wird oftmals bis in die Gegenwart hinein der berühmten PestalozziMetapher von ›Kopf – Herz – Hand‹ nachgesprochen. Die Allgemeinbildung soll eine möglichst umfassende Bildung aller Menschen garantieren, was die so genannten ›allgemeinbildenden Schulen‹ schon vom Begriff her suggerieren. Darin darf auf keinen Fall eine auf das Leibsein bezogene Bildung fehlen, für die in der Schule unterschiedliche Ansatzpunkte bestehen. Zum einen bietet der Sportunterricht wohl intendierte Anlässe zu einer sportiven Leibesschulung, dem deshalb eine Einzigartigkeit im Kanon dadurch zukommt, dass er körperliche und leibliche Praxen mit einer gediegenen Erfahrungswelt initiiert, die, sofern darauf reflektiert wird, eine sportive Leibesbildung im engeren Sinne eröffnet. Zum zweiten wird Leiblichkeit erfahrbar in ästhetischen Fächern wie Musik und Kunst, auch wenn es dort, anders als im Sportunterricht, nicht darum geht, Kondition und Fitness anzutrainieren mit dem Ziel der Körperertüchtigung. Aber auch das Üben und Spielen eines Instruments oder der Gesang sind stets leibgebunden, ohne dass der Leib direkt ins Visier unterschiedlicher Zielsetzungen geraten

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würde, was sogleich dahingehend zu relativieren ist, dass eine musikalische Praxis indirekt auf aisthetische Bildung abhebt, welche die Sinn- und Sinnesgebundenheit der Bildung würdigt. Jeder dieser Sinne, z.B. in der Musik der Hörsinn oder in der Malerei der Sehsinn, ermöglicht einen eigenen Zutritt zur Welt, aber doch so, dass unter den Sinnen ein innerer Zusammenhang hergestellt wird, wie u.a. Plessner hellsichtig und tiefgründig in seiner Anthropologie der Sinne (vgl. dazu Plessner 2003 [1972]) eruieren konnte. Das Heraustreten des Leibes im Musik- und Kunstunterricht könnte auch als leibliche Bildung im weiteren Sinne apostrophiert werden, in welcher das Bildungssubjekt die Möglichkeit erhält, seine Leiblichkeit auf eine ganz bestimmte Weise wahrzunehmen, zu empfinden und zu spüren. Was z.B. den schulisch aufbereiteten Sport mit anderen Unterrichtsfächern verbindet, ist der Gedanke der Allgemeinbildung, der, wie sich zeigen lässt, in einer doppelten Weise bedeutsam wird: einmal dadurch, dass die leibliche Bildung vom Bildungsganzen als deren Teil her gedacht und begründet wird, sodann, enger gefasst, wird im Rahmen der Leibesübungen auch Wert auf eine allgemeine Ausbildung gelegt, insofern dort ebenfalls eine vielseitige, ausgewogene Bildung eingeklagt wird. Man orientiert sich an jener Maxime, auf die Herbart die Pädagogenwelt im 19. Jahrhundert eingeschworen hat, nämlich ›vielseitiges‹, der Bildung zuträgliches ‹Interesse‹ zu wecken, was sowohl als Maß für die Bildung insgesamt wie für die sportive Leibesbildung im Besonderen angelegt wird. Ähnlich auch Pestalozzi, einer der ganz wenigen deutsch-klassischen Bildungsdenker, der sich vom Leibsein bildende Effekte erhoffte und deshalb die, so seine Terminologie, Körperbildung für Bildungs- und Erziehungsprozesse verpflichtend machte. Bei ihm lässt sich übrigens dieses doppelte Rechtfertigungsschema der Körperbildung/Leibesbildung nachhalten. Er geht von der Idee des ganzen Menschen aus und stößt dabei gleichsam wie von selbst auf den Aspekt Leib/Körper, und andererseits fordert er für die Körperbildung nochmals eine eigenständige allgemeine Grundbildung. Dieser Doppelgesichtspunkt der Allgemeinbildung sollte für die Leibesbildung, Leibeserziehung und den Sportunterricht bis in unsere Tage hinein außerordentlich folgenreich und erfolgreich werden (vgl. dazu Meinberg 1996: 59ff.). Als drittes kommt die Auffassung hinzu, dass der Leibesbildung quasi ein Bildungsüberschuss innewohne. Empirisch jedoch kaum nachweisbar

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wird behauptet, dass die physische Bildungsform positiv auf andere Areale des Menschen ausstrahle und diese bereichere. Vor allem die moralische und soziale Bildung könnten durch sportives Tun Gewinne erzielen. Der singulären leibbezogenen Bildung wird unterstellt, dass sie das Allgemeine der Bildung positiv beeinflusse. Somit wird die Idee der allgemeinen Bildung auf dreifache Weise stark gemacht: Im Kontext der Einordnung und Begründung der leiblichen Bildung in das Bildungsganze, dann in der Vorstellung einer möglichst vielseitigen, ausgewogenen Form der Leibesbildung selbst sowie in der Annahme, dass zum Beispiel Leibesbildung als Sportunterricht betrieben, nicht nur das Leiblich-Körperliche zu formen in der Lage sei, sondern auch zusätzliche Bereiche, wie den Teamgeist und die Charakterbildung. Im Anschluss an diese traditionell typischen Legitimationsmuster der Leibesbildung im Rahmen der Allgemeinbildung, die bis heute nicht außer Kraft gesetzt wurden, sondern von denen man weiterhin Gebrauch macht, nimmt die ›neue‹ Leibespädagogik für sich in Anspruch, der Idee der Allgemeinbildung noch eine andere Drehung zu geben, indem sie von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer auf das Leibsein bezogenen Allgemeinbildung ausgeht, also von einer leiblichen Allgemeinbildung beziehungsweise allgemeinen Leibesbildung. Sie nimmt damit zwangsläufig das faktische Vorhandensein einer Pluralität von Leibesbildungsformen ernst. In der leiblichen Allgemeinbildung versammeln sich Spezialpädagogiken, beziehungsweise spezielle leibbezogene Bildungsformationen, die sich zu einer derartigen Allgemeinbildung zusammenfügen – als da sind: die sportive Leibesbildung, sodann die Gesundheits- und Sexualbildung, sowie die ästhetische, ökologische und technische Bildung. Denn in all diesen Bildungsbereichen spielt das Leibsein, freilich verschiedenartig akzentuiert, mit hinein, geht es um Arbeit am Leibsein. Wenigstens diese aufgelisteten Bildungsgebiete können zum Verbund einer leibbezogenen Allgemeinbildung zusammengeschlossen werden, in der mannigfache Interaktionen zwischen den einzelnen Gebieten stattfinden können, etwa zwischen der ästhetischen und ökologischen Bildung und der Sexual- sowie Gesundheitsbildung (vgl. dazu genauer Meinberg 2011) und andere mehr. Diese gegenseitigen Durchdringungen und Verweisungen begünstigen die Entwicklung eines nicht parzellierten Gesamtverständnisses des Leibseins, das keinesfalls auf die schulische, intentionale Allgemeinbildung beschränkt ist. Denn mit dem Leibsein müssen wir immer und überall zu

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Rande kommen, die längste Zeit außerhalb der Schule, die deswegen auch nur ein Ort ist, an dem, freilich im Gegensatz zu anderen, absichtsvolle Gelegenheiten für bildende Effekte des Leibseins geboten werden. Vieles, das eine leibliche Allgemeinbildung im weitesten Sinne ermöglicht und erfahrbar macht, geschieht non-intentional in außerschulischen Situationen, Feldern und Institutionen. Die These ist daher nicht zu gewagt: Leibesbildung kann sich vielerorts ereignen, sie kann, wie in der Schule, geplant werden, vermag sich jedoch auch völlig ungeplant, absichtslos und unbewusst zu vollziehen. Auf jeden Fall ist sie ein fundamentum inconcussum unserer Lebensführung, die immer auch Leibesführung ist, dabei abhängig nicht nur vom einzelnen Individuum, vielmehr auch vom jeweiligen Zeitgeist der Gesellschaft, die man, auf unsere gesellschaftliche Situation geblickt, als technische Zivilisation bezeichnen kann. Inwieweit diese eigentümliche Leib- und Körperverständnisse mitprägt und zu einer Herausforderung für die Leibesbildung und Lebensführung avanciert, wird nun beispielhaft angezeigt.

4. T ECHNISCHE Z IVILISATION ALS H ERAUSFORDERUNG FÜR DIE GEGENWÄRTIGE L EIBESBILDUNG Genauer hingesehen, verbirgt sich dahinter die uralte Grundsatzproblematik von Natur und Kultur, sich zusammenziehend in die Fragestellung: Was macht die Kultur, hier repräsentiert durch Technik, aus der Natur des Menschen? Oder in philosophisch-anthropologischer Semantik: Wie stellt sich die ›zweite Natur‹, als dem Insgesamt der Kultur zur ›ersten Natur‹, der biologisch-physiologischen, die uns mit anderen Lebewesen verbindet? Noch anders: Wie verhält sich das Kulturwesen gegenüber dem Naturwesen Mensch? Darauf ist im Laufe der Zeit selbstredend verschiedenartig geantwortet worden. Um es auf eine allgemeine Pointe zu bringen: In der zeitgenössischen Zivilisation wird die ursprüngliche Natur, die ›erste Natur‹, immer mehr zugunsten der Technik, Ausfluss einer kulturellen Erfindungsgabe, zurückgedrängt. Wo dereinst Naturjünger das Zepter schwangen, regieren längst und zumeist Technikapologeten. Wo menschliche Natur ist, tritt partiell und immer häufiger Technik, verbreitet der technische Geist seine scheinbar unwiderstehliche Aura. »Der Leib, die Natur, die wir

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selbst sind«, wie Böhme es seit Jahren treffend formuliert, müsste um das Wort ›reduzierte‹ Natur ergänzt werden, denn dies ist sie inzwischen für zahlreiche Erdenbürger geworden. Die Natur, das ist ein unübersehbares Zeitsignum, hat an Orientierungskraft eingebüßt, das Leibsein, das dem Einzelnen, ungleich gewichtet, Last und Lust gleichermaßen beschert, wird in der technischen Zivilisationsära zur Disposition gestellt, als ›Baustelle‹ angesehen, an der man allerlei Renovierungsmaßnahmen vornehmen kann – und, wie der Zeitgeist einflüstert, auch vornehmen sollte. Dieses ›von Natur aus‹, das Naturgegebene wird entwertet und einem zum Teil rigiden Veränderungswillen unterworfen, wie er sich u.a. im grassierenden Enhancementrausch artikuliert (vgl. dazu u.a. auch Sloterdijk 2009) und zugleich die Frage nach dem ›Normalen‹ des Leibes und Körpers schürt (vgl. Villa 2008). Die kulturelle Herabwürdigung des menschlich Naturhaften bei gleichzeitiger Aufwertung technisch bedingter Innovationen sah u.a. der Philosoph- und Technikkritiker G. Anders, Sohn des berühmten Psychologen William Stern, vor mehr als einem halben Jahrhundert heraufziehen und fasste diesen Vorgang als Syndrom der »prometheischen Scham«, als deren »Grundmakel« die »Herkunft« erscheint. Dazu heißt es: »T.«, der bei Anders für den Menschen steht, »schämt sich, geworden, statt gemacht zu sein, der Tatsache also, im Unterschied zu den tadellosen und bis ins Letzte durchkalkulierten Produkte, sein Dasein blinden und unkalkulierbaren, dem höchst altertümlichen Prozess der Zeugung und Geburt zu verdanken« (Anders 1985: 24). Diese Scham ist erfüllt vom bloßen »natum esse«, das als »niedrig« empfunden wird, weil es »nur« Natur ist. Wenngleich die natürliche Geburt in unseren Breitengraden immer mehr zurückgeht, ist es den technischen Allmachtsphantasien noch nicht gelungen, die Geburt als Ereignis der Natur abzuschaffen, und auch die ›InVitro-Fertilisation‹ benötigt immer noch Spurenreste von Natur. Was Anders mit der »prometheischen Scham« ausdrücken will, ist eine neuartige unsichtbare Scham, die nicht im Blick- und Bedeutungsfeld der MenschMensch-Relation liegt; der Mensch schämt sich vielmehr gegenüber der Technik, er empfindet ihr gegenüber Scham, »weil er überhaupt nicht gemacht ist und als Nichtgemachtes allen seinen Fabrikationen unterlegen ist« (Anders 1985: 25). Der Mensch in der technischen Zivilisation, schließt man sich dieser Argumentation an, versucht dieses Unterlegenheitsgefühl durch sachkundigen technischen Beistand zu kompensieren, betrachtet das

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Leibsein und die Körperlichkeit als technisches Projekt, bastelt an seiner originären Natur, die er partiell nicht akzeptieren will. Er geriert sich als ein undankbares Naturgeschöpf. Die ›prometheische Scham‹ scheint also für uns Heutige nach wie vor einen nicht unbeträchtlichen Charme auszusprühen, bringt sie vielerlei Kreationen hervor, die allesamt auf den ›Naturzustand‹ des Leibseins zielen, so dass es zu einem Naturschwund kommt, den Fischer-Rosenthal so präzisiert: »Hierzu gehört der verschärfte Druck, den die Reproduktionsmedizin allein durch die Bereitstellung entsprechender Pränataldiagnostiken und realer Wahlmöglichkeit der Reproduktionsart ausübt. Weitere Manifestationen sind das Fitness- und Gesundheitsbusiness. Sie erstrecken sich über die operativen und medikamentösen Körperkorrekturen und -kontrollen. Sie zeigen sich im Diäten-Diskurs und seiner Vermarktung […].« (Fischer-Rosenthal 1999: 25f.) Die Technisierung der ›ersten Natur‹ findet vielfältige Ansatzpunkte mit unterschiedlicher Motivationslage, die offen und versteckt nicht spur- und spurenlos an der Leibesbildung vorbeigehen. Ganz im Gegenteil werden sie zu einer echten Herausforderung insoweit, als durch die ›zweite Natur‹ qua Technik neue Leibverhältnisse gestiftet und erfahren werden. Der im Zentrum stehende bildende Umgang mit dem Leibsein wird technischer, damit auch un-natürlicher. Nur eines von anderen Exempeln: Dem von der ›ersten Natur‹ Gegebenem, quasi eine Natursetzung, wird partiell die Akzeptanz verweigert, mithin auch die Anerkennung des Selbst, die, spätestens seit Hegels Analyse in der Phänomenologie des Geistes, aus Bildungsprozessen nicht herausgehalten werden kann. Das Bildungssubjekt anerkennt seine Natur zuweilen ›nur‹ partiell, damit auch sich selbst nur bedingt, das Naturgesetzte wird entkräftet, nur eingeschränkt zugelassen. Mit anderen Worten: Man will sich (immer partiell) nicht durch die Natur bestimmen lassen, dem Pathischen der menschlichen Natur widersetzt man sich. Die Mentalität des technischen Zeitalters will es und gestaltet es so, dass die Natur ihrer Orientierungsfunktion beraubt wird, wodurch auch das kontingente Mit-sichGeschehen-Lassen seitens des Leibseins eliminiert wird. Dem Eigensein, wenn man es so ausdrücken darf, der Eigenlogik der Leiblichkeit wird mit einem Gestaltungswillen begegnet, der selbst bestimmen will, was die ›erste Natur‹ ist, sein soll und darf. Das mit dem Leibsein unaufhebbar vorhandene Schicksalhafte wird negiert, um darüber verfügen zu können, es bestimmbar zu machen. Das heißt

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auch: Dem typischen Naturverlust in der technischen Zivilisation geht ein Anerkennungsverlust der Natur voraus, der letztlich im Binnenraum des Selbst ein Selbstanerkennungsverlust ist und Praktiken der Leib/Körperverdinglichung protegiert, wie sie nicht nur in Dopinghandlungen exzessiv exerziert werden. Beispielsweise lebt die derzeit boomende Schönheitsindustrie ebenfalls von solchen, das ›natürliche‹ Schicksal nicht duldenden Selbstverdinglichungspraxen, was wichtig für eine ästhetisch orientierte Leibesbildung ist – wie überhaupt und generell beobachtbar ist, dass der Leibesbildung und Lebensführung als Leibesführung ein bemerkenswerter ästhetischer Reichtum immanent zu sein scheint, was durchgängig sämtliche leibbezogene Spezialbildungen angeht: sowohl die ökologische wie die sportive als auch die Sexual- und Gesundheitsbildung sind mehr als ›nur‹ ästhetisch angehaucht, die Ästhetik ist ein hervorstechendes Verbindungsmerkmal eben dieser leiblichen Allgemeinbildung (vgl. dazu detaillierter Meinberg 2011), und zwar allein schon deshalb, weil es in all diesen Sonderbereichen der Leibesbildung um Formung und Gestaltung des Leibseins zu tun ist. Diese zutiefst ästhetische Grundierung schlägt auch bei den drei Vorschlägen durch, die abschließend für bildungsverheißende Umgangsformen mit dem Leibsein in der technischen Zivilisation unterbreitet werden.

5. D REI E MPFEHLUNGEN FÜR EINEN BILDENDEN U MGANG MIT DEM L EIBSEIN IN DER TECHNISCHEN Z IVILISATION 1. Eine umfassende Leibesbildung, die, wie keine zweite, die Natur des Menschen zur Geltung zu bringen beabsichtigt und, so genommen, eine besondere Schattierung von Naturpädagogik ist, verdankt sich der Notwendigkeit eines leibbezogenen Formierungszwanges, einer ästhetischen Notwendigkeit im Vollsinn des Wortes. Damit geht einher, dass man sich zum Leibsein als einer Naturtatsache verhalten muss – und dies geschieht aufgrund von Deutungen: Die ›erste Natur‹ wird vom Standpunkt der ›zweiten Natur‹ interpretiert, die uns sagen soll, was es mit dem Leib auf sich hat. Wie ansonsten überhaupt, kann man auch hinsichtlich der Leiblichkeit nicht nicht interpretieren. Und: Wie in sämtlichen Bildungsprozessen erfolgen

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solche Deutungen mit dem Ziel des Verstehens, was die Leibesbildung, praktisch wie theoretisch, verfolgt. Wir alle sind dann, in der Konsequenz, auch Hermeneuten, indem wir, implizit und explizit bei der konkreten Bewältigung des Leibseins auf eine Hermeneutik dieses Leibseins, einer wie auch immer gearteten Verstehenskunst, in der das ästhetische Moment überdeutlich anklingend, angewiesen sind. Es ist diese ursprüngliche leibliche Naturbedingtheit, die Gabe der Natur, die uns eine derart spezifische Hermeneutik abverlangt. Ohne en détail auf diese weiter Bezug nehmen zu können, ist diese besondere Verstehensvariante in der Fachliteratur explizit als Notwendigkeit kaum einmal erwähnt worden. Meines Wissens erstmalig in den 80er Jahren von mir (vgl. dazu Meinberg 1985), in diesem Jahrtausend von Körner (2002) und Liebau/Klepacki/Zirfas (2009). In dem Konzept einer leiblichen Allgemeinbildung ist sie dagegen fest verfugt und fungiert dort als ein zentraler Aufgabenbereich, der zumal in einer technischen Zivilisation nicht hoch genug einzuschätzen ist (vgl. dazu nähergehend Meinberg 2011). Sie verklammert sämtliche leibbezogenen Spezialbildungen, aus denen sie sich nährt. Wie jede Ausdrucksform von Bildung ist die Leibesbildung auf Verstehensleistungen aus. Bildung ist ein unablässiger hermeneutischer Vorgang, sie ist grundsätzlich gar nicht anders als eine auch hermeneutische Bildung zu denken. Bildungsprozesse sollen es ermöglichen, die Welt und sich selbst ›besser‹ verstehen zu lernen, worin auch die leibhaftige Bildung ihr Generalziel hat, sich auf das eigene und fremde Leibsein in sozial-kulturell geprägten Kontexten zu verstehen. Eine durchaus alltagspraktische Verstehenskunst des Leibseins ist eine der maßgeblichen Ambitionen der Leibesbildung. Eine Hermeneutik des Leibseins, die um das Verstehen und Eröffnen der sinnhaften Momente und Bedeutungen des Leib/Körpers kreist und dessen besondere ›Lesbarkeit‹ unterstellt, steht in einem fließenden geschichtlichen Prozess und weitet sich zu einem nichtabreißbaren Dauerprojekt aus. Eine der ersten Forderungen an die Adresse der Leibesbildung im weitesten Sinne ist das Einüben eines Leibverstehens, ist die Entfaltung einer hermeneutischen Leibeskompetenz, Minimum und Maximum einer Verstehenskunst der Leiblichkeit. Trotz dieses fragmentarischen Hinweises ist noch zweierlei berichtenswert: Zum einen schließt eine Hermeneutik des Leibseins im weiteren Sinne eine Phänomenologie ein, die ›klassische‹

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(vgl. dazu u.a. Thiele 1996) wie auch die ›neuere‹ (vgl. dazu Waldenfels 2000; Böhme 2003) und ›neue‹ in der Version von Schmitz, der hier bahnbrechend gewirkt hat. Freilich fällt auch die Pragmatik als pragmatischer Ansatz (Böhme 2003) in die Zuständigkeit einer umspannenden Hermeneutik der Leiblichkeit. Zum anderen zeichnen sich hermeneutische Ausdifferenzierungen ab, die man systematisch durchaus einer übergreifenden Hermeneutik des Leibseins zuordnen könnte, wobei an Schmids »Hermeneutik des Schmerzes« (vgl. dazu Schmid 1998) oder jüngst an Schürmanns Versuch einer »Hermeneutik des Sports« (vgl. dazu Schürmann 2010: 55ff.) zu denken ist.

2. Jede menschliche Praxis orientiert sich an Zielen, Idealen, Maximen und Imperativen. In der Neuzeit hat man dem pädagogischen Tun und Denken der Mündigkeit einen bemerkenswerten Status zugeschrieben – und zwar als Wert, Prinzip, Regulativ und Ideal in einem, das gerade für demokratische Gesellschaften konkurrenzlos zu sein scheint. Nun kann es nicht der Ehrgeiz sein, eine neuerliche Hymne auf das Autonomieideal anzustimmen. Stattdessen soll auf ein anderes Ideal verwiesen werden, das dem hier vorgestellten Verständnis von Leibesbildung zuspielen kann; gemeint ist der souveräne Mensch, mithin die Souveränität, für die sich Böhme seit einem Vierteljahrhundert (vgl. Böhme 1985) stark macht und an dem er weiterhin festhält. Dessen Anthropologie in pragmatischer Absicht (ebd.), die eine ganze Reihe diskussionswürdiger Bildungsimplikationen enthält (vgl. dazu Meinberg 2011), will eine Lehre von »den menschlichen Dingen«, den so bezeichneten »Humana« sein, die ebenso »konstitutive Bestandsstücke« wie menschliche Vermögen umschließen; sie begreift sich als eine »Hinführung zum Menschen«, der »man selbst ist«. Diese vom Grundtenor her Kants Anthropologie nahestehende, allerdings modifizierte Variante rückt das Leitbild des »souveränen Menschen« ins Licht, von dem es heißt, dass dieser, abgehoben vom autonomen Menschen, sich »gerade nicht durch Steigerung der Herrschaft über sich selbst noch über andere« auszeichnet. Souveränität in diesem Sinne heißt eher, nicht über alles herrschen zu müssen. Ich (= Böhme) verwende das Wort so, wie man jemand souverän nennt, der die Leistung anerkennen oder Niederlagen ertragen kann. Unter Bezugnahme auf Freud pointiert er diesen Gedanken so: »Freud hat einmal gesagt, der humanisierte Mensch sei derjenige, der lieben, arbeiten und Frustration hinnehmen könnte. Die Formel kann bei rechter Interpretation

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eine Erläuterung für die Idee des souveränen Menschen sein.« (Böhme 1985: 287) Der souveräne Mensch scheint auch der autonomieskeptische zu sein, der um Ohnmacht und Unverfügbarkeit Wissende und Handelnde, sich durch ein Grenzenbewusstsein Auszeichnende. Könnte dieser nicht auch und gerade für eine Leibesbildung, welche die Unverfügbarkeit des Leibes unterstellen muss, als Regulativ dienen und folglich diesen nicht als Alleskönner oder Rekordleib zum Körper instrumentalisiert, der bewusst Naturverluste hinnimmt, indem er diese durch Techniken und Technologien malträtiert? Allein: Souveränität als mögliche und gewiss nicht unplausible Orientierungsmarke für eine leibliche Allgemeinbildung wie für die menschliche Lebensführung überhaupt anzusetzen, erfordert konkrete Haltungen, um Wirksamkeit entfalten zu können. Sobald es um angemessene und wünschenswerte Haltungen geht, betritt man, wie von selbst, auch und entschieden ethisches Terrain. Das Ideal der Souveränität führt, ähnlich dem Autonomieideal, geradewegs in die Ethik im weiteren Sinne und zu einer dritten und letzten Empfehlung.

3. Gegenüber dem Autonomieideal, welches die Leiblichkeit menschlicher Existenz weitgehend ausblendet und unterschätzt, ist »Souveränität dagegen charakterisiert durch ein Selbstbewusstsein, in dem die pathischen Weisen der Existenz anerkannt und in das Selbstverständnis des Menschen aufgenommen sind« (Böhme 2008: 191). Entscheidend ist u.a., dass souveräne Haltungen die Natur qua Leibsein akzeptiert, dass sie deren Widerfahrnisse und das Kontingente respektiert und mit sich geschehen lässt. Souveränität bedeutet nach Böhme immer auch ein »über den Sachen stehen, aber gerade nicht so, dass sie einem nichts angehen, sondern dass man sie zu tragen weiß« (Böhme 2008: 188) und deswegen in letzter Instanz von der Selbstsorge »geschultert« wird. Die Tugend der Souveränität kann als ein essentielles Element der Selbstbekümmerung aufgefasst werden, die ihrerseits mitten ins Herz der allgemeinen Leibesbildung und Lebensführung geht und als Imperativ so formuliert werden kann: ›Achte auf deinen Leib und kümmere dich um ihn in möglichst all seinen Facetten und Zuständen‹. Dieses Sich-Kümmern um das Leibsein, von der beispielsweise die Sorge um die Gesundheit eine Facette von anderen ist, übrigens nach Gadamer

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»ein Urphänomen des Menschseins« (Gadamer 1993: 9), ist an ein Tun wie auch Unterlassen gebunden. Ein um die Selbstbekümmerung kreisender Imperativ für die Leibesbildung in der technischen Zivilisation respektiert, anders als ein gegenwärtig weit verbreiteter Mainstream, die Eigentätigkeit der Natur und anerkennt ausdrücklich das prinzipiell unverfügbare Leibsein, das jedem noch so ambitionierten und hochtrabenden Gestaltungswillen mitsamt dessen Enhancementträumen, die bisweilen zu Albträumen mutieren, unwiderrufliche Grenzen setzt. Es ist diese leibgebundene Unverfügbarkeit, die einer forschen, allzu kecken Verfügbarkeitspädagogik immer wieder ein Schnäppchen schlägt und deren Allmachtsphantasien verhöhnt.

L ITERATUR Anders, G. (1956): Die Antiquiertheit des Menschen. 2 Bde. München: Beck. Anders, G. (1985): Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. 7. unveränderte Auflage. München: C.H. Beck. Böhme, G. (1985): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Böhme, G. (2003): Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht. Zug: Die Graue Edition. Böhme, G. (2008): Ethik leiblicher Existenz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fischer-Rosental, W. (1999): Biographie und Leiblichkeit. Zur biographischen Arbeit und Artikulation des Körpers. In: P. Ahlheit, B. Dausien, W. Fischer-Rosenthal, A. Hanses, A. Kiel (Hg.), Biographie und Leib. Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 15-44. Gadamer, H.-G. (1993): Über die Verborgenheit der Gesundheit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gugutzer, R. (2004): Soziologie des Körpers. Bielefeld: transcript. Hörmann, G. (2001): Gesundheitspädagogik in der Ausbildung von Berufsschullehrern/innen. In: C. von Reibritz, P.-E.Schnabel, K.Hurrelmann, Der mündige Patient. Weinheim/München: Juventa. Körner, S. (2002): Der Körper, sein »Boom«, die Theorie(n). Anthropologische Dimensionen zeitgenössischer Körperkonjunktur. Berlin: Lie-

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Reduktion & Steigerung

Der Körper als Medium der Gewissheit in modernen Gesellschaften JÖRG THIELE

1. E INLEITUNG Die Entwicklung moderner Gesellschaften hat eine ganze Reihe von paradoxen Entwicklungen mit sich gebracht, die sich auch im Verhalten und den Handlungen der individuellen Akteure widerspiegeln. Eine dieser Entwicklungen betrifft die gleichzeitige Steigerung von Wissen auf der einen und Orientierungslosigkeit auf der anderen Seite. Es ist wohl nicht zu bestreiten, dass zunächst durch die beschleunigte und zugleich globalisierte Ausdehnung von Forschung und Wissenschaft, dann aber auch durch die daran anschließende öffentliche Verbreitung der Ergebnisse im Kontext der neuen Medien, eine Wissensexplosion stattgefunden hat. Nicht ohne Grund werden diese Gesellschaften auch als ›Wissensgesellschaften‹ bezeichnet. ›Wissen‹ wird somit zu einer, vielleicht sogar zu der Leitwährung innerhalb dieser Gesellschaften. Das Resultat dieser Akkumulation von Wissen ist nun aber nicht, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte, ein höherer Grad an Sicherheit oder Gewissheit. Die Gründe dafür sind vielfältig und werden u.a. von eigenen wissenschaftlichen Disziplinen wie Wissenschafts- und Erkenntnistheorie oder der Wissenssoziologie erforscht (vgl. z.B. Holzinger 2007; Liesner/Wimmer 2003). Die Vermehrung von Wissen – so eine der Kernbotschaften – produziert zugleich und unvermeidbar immer auch mehr Nicht-Wissen (vgl. z.B. Willke 2002: 10ff.). Zudem scheint die Menge an Nicht-Wissen dabei schneller zu wachsen als die des Wissens. Traditionell

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fanden sich in Gesellschaften bestimmte Instanzen zur Kompensation dieses Nicht-Wissens, die damit zugleich immer auch eine Möglichkeit zur Orientierung geboten haben. Eine der zentralen Instanzen, die in der Vergangenheit den gesellschaftlichen Akteuren zumindest ein Angebot zur Selbstvergewisserung zur Verfügung gestellt haben, waren Religionen unterschiedlicher Provenienz. Vor allem in modernen, westlichen Gesellschaften ist diese Funktion der Religion aber ebenfalls für eine wachsende Zahl von Menschen fragwürdig geworden und ein angemessener Ersatz ist ebenfalls nicht in Sicht. Allerdings zeigen sich in modernen Gesellschaften interessante Tendenzen, die in dieser ambivalenten Situation entsprechende Kompensationen anbieten und die Sehnsucht nach Orientierung und Gewissheit durch ›Gewissheitsversprechen‹ einzulösen versuchen. An dieser Stelle kommen zunächst der Körper, dann aber auch der Sport und die Sportwissenschaften ins Spiel. Auf diese Bereiche werde ich mich auch in meinen nachfolgenden Überlegungen konzentrieren. Sie beziehen sich im Kern auf Entwicklungen, wie ich sie in Deutschland detailliert wahrnehme, wie sie sich aber auch in anderen modernen Gesellschaften vergleichbar abzeichnen. Es scheint aber nicht angemessen, hier auch von einer Globalisierung zu sprechen, da die infrage stehenden Prozesse offenbar ein bestimmtes Niveau gesellschaftlicher Entwicklung zwingend voraussetzen, das durchaus nicht ›global‹ konstatiert werden kann. Genau so verfehlt wäre aber eine Reduzierung allein auf die ›westliche‹ Hemisphäre, wie Entwicklungen in bestimmten asiatischen Ländern (z.B. Japan, Südkorea) eindrucksvoll bestätigen. Da ich das Thema nicht in seiner gesamten Breite und Tiefe verfolgen kann, werde ich im Rahmen dieses Beitrags ein exemplarisches Vorgehen wählen. Die angeführten Beispiele sind aber nicht beliebig. Im Zentrum der Überlegungen steht dabei der Gedanke, dass der Körper in modernen Gesellschaften aus scheinbar sehr unterschiedlichen Perspektiven zum Gegenstand für die Produktion von Gewissheit benutzt werden kann. Die etwas weitergehende These ist dann, dass bei einer genaueren Analyse die festgestellten Unterschiede durchaus auch als Einheit verstanden werden können. Die These der Pluralität und Vielfalt moderner Gesellschaften wird daher um die These einer ebenfalls zu konstatierenden Vereinheitlichung auf anderer Ebene ergänzt. So zutreffend die Beschreibungen der Ausdifferenzierung, Individualisierung und Heterogenität auch sind, ebenso bedeutsam – wenn auch weitaus weniger beachtet – sind parallel ablaufende Prozesse

DER KÖRPER ALS MEDIUM DER GEWISSHEIT IN MODERNEN GESELLSCHAFTEN

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der Homogenisierung und Uniformisierung moderner Gesellschaften. Ein Beispiel par excellence dafür bieten der Umgang mit dem Körper bzw. daraus resultierende Entwicklungen des Sports mit seinen Tendenzen zur Produktion von ›Monokulturen‹. Auch hier findet also beides statt: Ausdehnung, Wachstum und auch Differenzierung auf der einen, Angleichung, Konformisierung auf der anderen Seite der Entwicklungsprozesse.1 Ich möchte dazu in drei Schritten vorgehen: Zunächst werden in zwei Schritten Beispiele für den Umgang mit dem Körper als Gewissheitsinstanz vorgestellt. Das erste Beispiel analysiert dabei eine aktuelle und brisante sportwissenschaftliche Betrachtungsperspektive. Hier wird der Körper als Diagnosegegenstand in den Blick genommen. Das zweite Beispiel wechselt die Perspektive, indem die individuellen Akteure in ihrer spezifischen Behandlung des eigenen Körpers betrachtet werden. Der Körper wird hier zum Gegenstand für therapeutische (oder: interventionistische) Anliegen. Im dritten und letzten Schritt soll der Versuch unternommen werden, die Beschreibungen aus einer kritischen Distanz zu reflektieren. Die zentrale Frage ist hier, ob die Gewissheitsversprechen sich nicht plausibler als Fiktionen interpretieren lassen.

DES K ÖRPERS – DIE DIAGNOSTISCHE P ERSPEKTIVE

2. G EWISSHEIT

Auch wenn eingangs kurz beschrieben wurde, dass in modernen Wissensgesellschaften immer mehr Zonen des Nicht-Wissens produziert werden, so hat sich doch an der grundsätzlichen Einschätzung von wissenschaftlicher Forschung als dem zentralen Ort der Produktion von Erkenntnis, von Wissen, von Wahrheit, vielleicht auch von Gewissheit wenig geändert. Die am Beginn der Moderne stehende Vorstellung Descartes, an allem zunächst zu zweifeln, um genau über diesen Prozess des Zweifelns am Ende des Weges doch zu Wissen und Wahrheit zu gelangen, dürfte nach wie vor das Bild

1

Interessant ist dabei die Frage der Bewertung dieser Prozesse. Das häufig zu vernehmende ›Lob der Pluralisierung‹ ist dabei möglicher Weise noch nicht das letzte Wort, wenn man unterstellt, dass die vielleicht essenzielleren Prozesse auf dem Felde einer übergeordneten Homogenisierung ablaufen. Insbesondere die ökonomische Globalisierung kann dafür als Beispiel fungieren.

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von Wissenschaft in großen Teilen der Gesellschaft bestimmen. Der dabei auch vorhandene Zweifel an der Wissenschaft selbst bezieht sich nicht primär2 auf ihre Funktion als Produzent von sicherem Wissen, sondern eher auf die Frage der praktischen Konsequenzen, die aus solchem Wissen dann gezogen werden können, Konsequenzen, die selbst durchaus nicht wieder wissenschaftsbasiert sein müssen, sondern häufig ganz anderen Logiken folgen. So bezweifelt vermutlich kaum jemand die naturwissenschaftlichen Wissensgrundlagen bei der Frage der atomaren Kernspaltung, Zweifel ergeben sich aber in ganz erheblichem Ausmaß hinsichtlich der Frage einer sinnvollen Nutzbarkeit der daraus herstellbaren Kernenergie. Wenn heutzutage überhaupt noch übergreifend eine Instanz der Produktion von Gewissheit existiert, dann ist es primär die Wissenschaft und dort insbesondere die Art von Wissenschaft, die sich im Kern auf die Analyse und Auslegung naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten berufen kann. Für die Sportwissenschaften hat dies ebenso faszinierende wie auch eigenartige Konsequenzen. Als eine Art ›Querschnittswissenschaft‹ beschäftigt sie sich mit dem sportlich aktiven, sich bewegenden Menschen. Zur Ausübung dieser wie auch immer gearteten Tätigkeiten brauchen die Akteure ihren Körper. Dieser Körper kann dann in den Sportwissenschaften zum Gegenstand der Betrachtung werden – und zwar auf sehr unterschiedliche Art und Weise, weil sehr unterschiedliche Teildisziplinen unter dem Etikett der Sportwissenschaften vereinigt sind (vgl. z.B. Thiele/Schulz 1992). Wenn es dabei um die Frage der Sicherheit des Wissens, um Gewissheiten geht, dann stellt man sehr schnell fest, dass ganz besondere – eben die naturwissenschaftlich ausgerichteten – Teildisziplinen der Sportwissenschaften (z.B. Sportmedizin, Trainingswissenschaft, vermehrt interessanterweise auch die Sportpsychologie) zur Bereitstellung des entsprechenden (sicheren) Wissens befragt werden. Dem eigenen Selbstverständnis folgend reagieren die befragten Disziplinen – in sich durchaus plausibel – mit der Bereitstellung des nachgefragten Wissens. Dies führt dann zu

2

Wenngleich auch dies immer mehr zu geschehen scheint. Zweifel an wissenschaftlich ›fabriziertem‹ Wissen setzen immer mehr auch schon bei den Produktionsbedingungen dieses Wissens an, nicht erst bei den Interpretationen und Ableitungen von wissenschaftlich produzierten ›Fakten‹. Gleichwohl verfügt wissenschaftlich produziertes Wissen immer noch über einen hohen Grad an gesellschaftlicher Anerkennung.

DER KÖRPER ALS MEDIUM DER GEWISSHEIT IN MODERNEN GESELLSCHAFTEN

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spezifischen Diskursformen, die nun an einem aktuellen Beispiel bezüglich der Konstruktion des dort produzierten Wissens nachgezeichnet werden sollen (vgl. kritisch dazu auch Körner 2008). Als Beispiel wähle ich die seit einigen Jahren zunehmende Diskussion um die mutmaßlich defizitäre körperliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (vgl. die Diskussion zusammenfassend Bünemann 2008: 7ff.). Im Zentrum dieses Diskurses stehen die dort eng miteinander verknüpften Themenbereiche von einerseits Übergewicht bzw. Adipositas und andererseits abnehmender körperlicher und motorischer Leistungsfähigkeit. Nach meiner Beobachtung wird dieser Diskurs mittlerweile weltweit geführt.3 Ausgehend von Entwicklungen in den Vereinigten Staaten finden sich in Deutschland und Europa, aber auch auf anderen Kontinenten (z.B. Australien, Japan, China) offenbar vergleichbare und besorgniserregende Tendenzen.4 Grundlagen dieser Einordnungen sind dann durchgängig als relevant erachtete Statistiken und Messwerte. Meine Darstellung bezieht sich nun weitgehend auf den europäischen Diskurs. Dabei geht es mir nicht primär um eine thematische Auseinandersetzung mit den genannten Phänomenen, sondern um die Art und Weise der Diskursführung, die zur Produktion spe-

3

Damit soll nicht gesagt sein, dass in allen Teilen der Welt dieser Diskurs so geführt würde. Jeder von uns weiß nur zu gut, dass Überernährung nur eine Seite der Medaille ist, Unterernährung aber für einen erheblichen Teil der Weltbevölkerung das zentrale Problem darstellt.

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Das Interesse der WHO an dem Thema und die Einrichtung einer International Obesity Taskforce sind übergreifende und institutionell unterlegte Kennzeichen für einen erhöhten Aufmerksamkeitsfokus relevanter Beobachtungs- und Interventionsinstanzen. Begleitet werden diese politischen Aktivitäten – bezogen auf Deutschland kann man die medial inszenierte Einrichtung der Plattform Ernährung und Bewegung durch die damalige, auch einschlägig schriftstellernde Bundesministerin Künast im Jahr 2004 als Beispiel nehmen – durch eine nicht mehr überschaubare Publikationsflut auf dem wissenschaftlichen Terrain und schließlich auch in der medialen Wahrnehmung, z.B. durch eigens konstruierte Sendeformate der öffentlichen Zurschaustellung extrem adipöser Personen, die nun medial begleitet ›Buße tun‹, indem sie sich den ›Spielregeln‹ selbst ernannter Verhaltenstrainer unterwerfen. Die wöchentlichen, öffentlichen Wiegeprozeduren offenbaren dann Erfolg oder Misserfolg der bußfertigen Sünder und Sünderinnen.

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zifischer Formen sicheren Wissens führt und damit Gewissheit herzustellen versucht. Der Körper eignet sich besonders gut für einen derartigen Zugriff, weil seine materiale und physische Basis die Anwendung entsprechender Gesetzmäßigkeiten erlaubt. Diskussionen über das Nachlassen der körperlichen und motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen gibt es schon sehr lange, sie lassen sich in Europa bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen und tauchen in regelmäßigen Abständen immer wieder auf (vgl. z.B. Cachay/Thiel 2000: 70ff.; Spiekermann 2008). Die aktuelle Diskussion, auf die ich nun eingehe, lässt sich seit etwa 10-15 Jahren beobachten und weist einige Besonderheiten auf. Zum einen zeigt sich eine direkte Kopplung von zwei prinzipiell unterschiedlichen Phänomenen, indem die zunächst einmal schwer nachweisbare Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit an eine deutlich leichter nachweisbare, weil in der Regel gut sichtbare Form der äußeren Veränderung der Körper gekoppelt werden kann. Der ›dicke‹ Körper, das ›fette‹ Kind kann von jedermann identifiziert werden – vorausgesetzt, dass entsprechend akzeptierte Körpernormen existieren, doch dazu später mehr – und damit ist einer hoher Grad an sichtbarer, d.h. direkt für jedermann wahrnehmbarer, Gewissheit garantiert. Als ›Augentier‹ ist dem Menschen die Sichtbarkeit ein kaum zu ersetzender Gewissheitsgarant. Insbesondere in unserem alltäglichen Dasein glauben wir die Dinge oft erst dann, wenn wir sie ›mit eigenen Augen‹ gesehen haben. Die körperliche Ausdehnung ist für diese Form der Vergewisserung wie geschaffen. Mangelnde körperliche Leistungsfähigkeit ist demgegenüber ein verborgenes Defizit, wir können es den Akteuren nicht so leicht ansehen. Zur weiteren Gewissheitssteigerung sind folgerichtig dann auch weitere Maßnahmen notwendig und damit ist ein weiteres Kennzeichen des aktuellen Diskurses angesprochen, seine Konzentration auf wissenschaftlich produziertes Wissen. Sowohl Übergewicht wie auch die körperliche Leistungsfähigkeit sind mittlerweile zum Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Studien geworden, wobei insbesondere auch die naturwissenschaftlich orientierten Teildisziplinen der Sportwissenschaften daran einen großen Anteil haben (z.B. Studien wie CHILT, IDEFIKS, KIGGS, MoLe, WIAD). Der Grund für die Durchführung dieser wissenschaftlichen Studien lag zum einen in dem hohen politischen Interesse aufgrund der hauptsächlich durch die Medien produzierten Aufmerksamkeit und zum anderen in der angebli-

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chen Unsicherheit des vorhandenen Wissens. Diese Unsicherheit zeigte sich wesentlich im Fehlen von repräsentativen Untersuchungen und mangelnder Vergleichbarkeit der benutzten Messinstrumente. Mit der Forderung nach Messbarkeit ist nach meiner Einschätzung die wesentliche Voraussetzung geschaffen, um den sehr speziellen Diskurs der letzten Jahre besser beschreiben zu können. Das einzig legitim erscheinende Mittel zur Herstellung von objektiver Gewissheit bezüglich der angesprochenen Probleme ist – so scheint es – die Messung der Phänomene. Was wird aber dort nun gemessen? Bezogen auf Deutschland gab es insbesondere in der Sportwissenschaft zunächst die Debatte um die körperliche Leistungsfähigkeit, erst danach trat das Problem des Übergewichts in den Vordergrund. Die behauptete Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit war aber so lange gesellschaftlich nicht relevant, wie das Problem nicht wirklich ›sichtbar‹ war. Sichtbar wurde es durch das Phänomen Übergewicht, weil hier eine kausale Verknüpfung in der Form vorgenommen wurde, dass beide Phänomene in einer offensichtlichen Wechselwirkung stehen. Wer sich zu wenig bewegt, der wird an Gewicht zunehmen, der wird sich dann noch weniger bewegen usw., die klassische Variante eines Teufelskreises. In diesem Diskurskontext entstand auch der Gedanke der Entwicklung eines deutschlandweit normierten motorischen Tests für Kinder und Jugendliche (Bös 2009) und die Durchführung eines deutschen Gesundheitssurveys von Kindern und Jugendlichen mit einem eigenen Teil zur Diagnose der motorischen Leistungsfähigkeit (Bös et.al. 2009). Die Qualität der Instrumente soll hier nicht weiter diskutiert werden, wichtig ist für die hier zu behandelnde Fragestellung allein die Tatsache, dass nur die entwickelten Messinstrumente (oder prinzipiell ähnliche) so etwas wie eine ›objektive Gewissheit‹ bezüglich des infrage stehenden Phänomens garantieren können. Noch deutlicher wird diese Sichtweise am Phänomen des Übergewichts. Hier reicht die Sichtbarkeit allein eben auch nicht aus – sie ist in gewisser Hinsicht notwendig, aber nicht hinreichend, sondern sie bedarf zusätzlich einer definierten Messgröße. Weil unser Sehen nicht ›objektiv‹, sondern in hohem Maße ›sozial strukturiert‹ ist, bedarf es einer zusätzlichen, sozial akzeptierten Normierung der körperlichen Ausdehnung. Diese mittlerweile allgemein bekannte – und: sozial akzeptierte – Messgröße ist der so genannte ›Body-Mass-Index‹ (BMI). Auch wenn es heute kaum noch möglich ist, die massive und differenzierte Kritik an diesem Messinst-

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rument außer Acht zu lassen, möchte ich doch genau dies hier tun.5 Wichtiger für unsere Fragestellung erscheint mir, dass der BMI in idealtypischer Weise so etwas wie Gewissheit produziert, weil er nicht nur misst, sondern die Messgröße zudem auch noch qualitativ zuordnet (Untergewicht – Normalgewicht – Übergewicht – Stufen der Adipositas). Die so gefundene Zahl ergibt nicht nur einen Messwert (wie z.B. auch die Körpergröße), sondern sie ermöglicht auf der Basis von festgestellten Grenzwerten zugleich auch deren eindeutige Bewertung. Auch die mittlerweile in wissenschaftlichen Kreisen anzutreffenden Relativierungen führen in der Praxis nicht dazu, dass diese Bewertungen grundsätzlich infrage gestellt würden, sondern legen vielmehr ganz bestimmte Interventionen nahe (z.B. mehr Bewegung, weniger Essen, konkrete Diäten, spezifische Bewegungsprogramme). Betrachtet man das Gesamtergebnis dieses aktuellen Diskurses, so besteht eine bemerkenswert hohe Übereinkunft bezüglich der Eindeutigkeit der Ergebnisse. Auf der Basis von klaren und nachvollziehbaren Messprozeduren werden den untersuchten Körpern der Kinder und Jugendlichen bestimmte Qualitäten und Zustände attestiert, die einen hohen Grad an Gewissheit ausstrahlen. Der Grund für diese Gewissheit liegt in der Konstruktion des Körpers als einer im Kern physischen Größe, die den naturwissen-

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Vgl. zur Kritik am BMI und seinen Grenzwertfestlegungen etwa Schorb (2008: 57ff.; 2009: 32ff). Die hohe Verbreitung des BMI erklärt sich wohl im Wesentlichen so durch seine einfache, um nicht zu sagen: simple Konstruktion. Wenn man bedenkt, dass in den USA im Jahr 1998 ca. 35 Mio. Amerikaner zu ›Übergewichtigen‹ wurden, weil einfach die Grenzwert nach unten verschoben wurden, dann liest man Statistiken zum Übergewicht mit anderen Augen. Ähnliche Diskussionen hat es um allerlei relevante medizinische Grenzwerte immer wieder gegeben. Ein instruktives und detailreiches Beispiel findet sich zum Thema der Abänderung der Cholesterin-Grenzwerte bei Kühn (1993). An diesen Beispielen wird immer wieder deutlich, dass massive ökonomische Interessen hinter der Festlegung von medizinischen Grenzwerten liegen. Grenzwerte definieren Risikogruppen, je größer die Risikogruppe, desto größer der potenzielle Markt für die entsprechenden Pharmaka. Die ›soziale Konstruktion‹ von Normen ist demnach ein höchst komplexes Geflecht von Interessenlagen und demnach alles andere als ›objektiv‹. Eine Zahl vermittelt aber den Eindruck von Objektivität, weil die Herstellung der Zahlen leicht in Vergessenheit gerät (vgl. Ortmann 2007).

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schaftlich fundierten Prozeduren auch zugänglich ist und keinerlei eigene Absichten verfolgt. Die schließlich zutage geförderten Zahlen und Zahlenkolonnen sprechen dann für sich und lassen auch kaum einen Widerspruch zu. Einzige immanente Ausnahme ist dann nur noch der Verweis auf Messfehler. Die Messergebnisse stehen nun auch nicht für sich, sondern werden in der Regel von weitergehenden Interventionen, Maßnahmen oder Empfehlungen begleitet, je nachdem, welche Ziele man aus den Messergebnissen schlussfolgernd erreichen möchte. Als zukunftsgerichtete Aussagen sind solche Konsequenzen schon aufgrund ihrer zeitlichen Ausrichtung mit prinzipieller Unsicherheit oder Ungewissheit behaftet, weil wir aus sehr unterschiedlichen Gründen nicht wissen können, was in der Zukunft passiert. Interventionen versuchen, auch die Zukunft in den planenden Griff zu bekommen und damit gewissermaßen festzuzurren. Genau zeigt sich dann aber auch eine zumeist schmerzhaft wahrgenommene Begrenzung unserer Gewissheitsproduktion, denn was die Frage der Interventionen betrifft, so fallen die bisherigen Erfolge eher mager aus. Das mit hoher Gewissheit diagnostizierte Problem ›Übergewicht/Adipositas‹ entzieht sich erfolgreich einer ebenso gewissen Problemlösung, zumindest auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, der Erfolg systematischer Interventionen bleibt chronisch ungewiss. Allerdings finden sich gerade in den konkreten Körperpraktiken auch deutliche Tendenzen, diese strukturellen Ungewissheiten zumindest in Teilgewissheiten umzuformen. Als Gewissheitsproduzent tritt wissenschaftliches Wissen hier eher im Hintergrund auf, Hauptakteur wird das seinen Körper bearbeitende Individuum.

3. D IE G EWISSHEIT

DES K ÖRPERS – DIE THERAPEUTISCHE P ERSPEKTIVE

Innerhalb moderner Gesellschaften hat sich auch die Vielfalt der Körperund Bewegungspraktiken deutlich gewandelt. Feststellbar ist grundsätzlich eine Ausweitung und Differenzierung dieses gesellschaftlichen Sektors. Immer mehr Menschen treiben Sport in seiner traditionellen Form oder gehen einer anders bezeichneten körperlichen Aktivität nach – und zugleich gibt es auch die bereits oben angesprochene Diagnose des Bewegungsmangels und des körperlichen Verfalls. Auch dies kann man als eine Paradoxie

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moderner Gesellschaften deuten, man muss es aber nicht. Ich möchte im Folgenden versuchen, beide Phänomene der Bedeutungssteigerung bzw. des Bedeutungsverlusts von körperlicher Aktivität als miteinander zusammenhängend zu verstehen.6 Auch hier soll die Frage der Sehnsucht nach Gewissheit den roten Faden bilden. Betrachtet man die Spielarten der neueren Entwicklungen sportlicher und körperlicher Aktivität, so fällt neben dem Phänomen der Pluralisierung vor allem das der Ästhetisierung ins Auge. Für den Prozess der Ästhetisierung ist zudem festzustellen, dass sich in nahezu allen Feldern derartige Veränderungen nachweisen lassen. Sei es über die Kleidung, über die Form der Inszenierung oder auch die Präsentation von Körperlichkeit selbst, wohl kaum eine aktuelle Form der körperlichen Präsentation kann sich entsprechenden Trends entziehen. Am nachdrücklichsten jedoch finden solche Formen der Ästhetisierung ihren Ausdruck in den neueren Versionen des so genannten Fitness-Sports (Bodybuilding, Bodyshaping, Bodyforming usw.). »Bodybuilding und kosmetische Operationen, aber auch kleinere ästhetische Veränderungen, wie Piercing und Tatooing, verweisen generell darauf, dass das Erscheinungsbild immer weniger als naturgegebenes Schicksal erfahren, sondern zunehmend zum Gegenstand der bewussten Gestaltung gemacht wird.« (Penz 2001: 205) Auffallend sind zum einen die nach wie vor erstaunlichen Zuwachsraten, die diese Sektoren der Körperaktivität bzw. des Sports aufzuweisen haben. Waren in der Vergangenheit immer auch konjunkturelle Schwankungen in den Mitgliederzahlen zu verzeichnen, so weist die Branche seit etwa der Mitte dieses Jahrzehnts kontinuierlich wachsende Mitgliederzahlen aus (Steigerung von 2005-2009: von 4,19 Mio. auf 7,07 Mio.). Auffallend sind zum anderen auch die bei entsprechenden Befragungen klar formulierten Motive und Zielstellungen der Fitness-Sportler: neben einem übergeordneten Gesundheitsmotiv stehen unterschiedlich nach Geschlechtern, aber gleich hinsichtlich ihres Stellenwerts die Motive Muskelaufbau und Körperformung (vgl. Zarotis 1999; Kläber 2010). Und genau in diesen Zieldimensionen manifestiert sich eine weitere Form der Gewissheitssehnsucht.

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Dieser Gedanke ist nicht neu, sondern wurde in strukturell gleicher Weise bereits von Bette (1989) als Gleichzeitigkeit von Körperaufwertung und Körperabwertung in die Diskussion eingeführt.

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Innerhalb (sport-)soziologischer und teilweise auch (sport-)philosophischer Diskussionen wird die These der Nutzung des eigenen Körpers als Instanz der Orientierungsgewinnung und Selbstvergewisserung schon seit einigen Jahren diskutiert (vgl. z.B. Villa 2000; Hahn/Meuser 2002; Hitzler 2002; Gugutzer 2004, 2006; Jäger 2004). Mit dem Systemtheoretiker und Sportsoziologen Bette gesprochen »geben Körper und Natur als spür- und greifbare Größen ein Eindeutigkeitsversprechen, das seinesgleichen sucht« (2010: 132). Noch einmal verstärkt findet sich diese Tendenz in eben jenen Formen körperlicher Selbstrealisierung, die bereits als Reflex auf die Herausforderungen und Ansprüche moderner Gesellschaften zu interpretieren sind, wie etwa der Fitness-Sport. Wer sich heute mit dem Ziel der Bearbeitung des eigenen Körpers in ein Fitness-Studio begibt, der wird dort mit ausgefeilten und zumeist auch wissenschaftlich unterfütterten Technologien des Körpers konfrontiert, die alle nur dem Ziel der Optimierung körperlicher Grundfähigkeiten wie Kraft und Ausdauer bei gleichzeitiger Perfektionierung des körperlichen Erscheinungsbildes dienen. Wohl in keinem anderen Kontext ist das Gewissheitsversprechen so deutlich rekonstruierbar und wohl nirgendwo ist es auch so gut nachvollziehbar. Wer sich dazu entschließt, den Empfehlungen der Fitnesstrainer regelmäßig und konsequent Folge zu leisten, wer also seinen Trainings-›Plan‹ akribisch einhält, der darf sich auch der entsprechenden »Belohnungen« gewiss sein (vgl. z.B. Kläber 2010: 108ff.). Zwar reagiert auch hier nicht jeder Körper gleich auf die gesetzten Reize, aber sicher ist, dass er reagiert und dass auch die angezielten Resultate mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit prinzipiell erreicht werden können. Diese Gewissheit gibt es in kaum einen anderen Bereich der menschlichen Selbstvervollkommnung. Wer sich etwa entschließt ein Musikinstrument zu erlernen, der wird nach einer entsprechenden Übungszeit durchaus nicht sicher sein können, das Instrument in einer ansprechenden Qualität auch tatsächlich spielen zu können und wer sich entschließt durch intensive Beschäftigung mit einem Thema einen kognitiven Lernprozess zu initiieren, der wird sich des Erfolgs auch nicht in vergleichbarer Weise sicher sein können. Dies ist im Kern im Kontext der Körperformung anders, eben weil unser Körper auf physische Reize mit voraussagbarer Sicherheit reagiert. Anders gesagt: Wir können bei entsprechenden Trainingsreizen einen Muskelaufbau gar nicht verhindern, wir sind so gesehen unserem Körper auch ausgeliefert. Wer sich einem regelmäßigen, systematischen Fitness- und/oder Krafttraining unterzieht, der wird entsprechende körperli-

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che Anpassungserscheinungen auf der Habenseite verbuchen können, sicher mit Unterschieden, aber mit deutlich höheren Erfolgsaussichten als in vielen anderen Bereichen menschlichen Handelns. Mehr noch besteht im Fitness-Sport nicht nur die Möglichkeit, körperliche Ziele mit hoher Sicherheit zu erreichen, sondern zudem sind die Zieldimensionen auch noch ausgesprochen gut definiert. In modernen Gesellschaften besteht offenbar ein weitgehend geteilter Konsens darüber, wie ein trainierter, gesunder oder ›normaler‹ Körper auszusehen hat und welchen Idealvorstellungen er möglichst nahe zu kommen hat. Hier spielen die im letzten Abschnitt angesprochenen diagnostischen Rahmungen eine Rolle, indem sie einen Normbereich definieren, der so etwas wie einen Mindeststandard körperlicher Präsenz darstellt. Die Körpertechnologien dienen hier gewissermaßen als therapeutische Verlängerungen der Diagnostik, indem sie Werkzeuge und Methoden an die Hand geben, die die gesetzten körperlichen Normwerte auch erreichbar erscheinen lassen. Hier ist es zudem so, dass das Nicht-Erreichen der Zieldimension immer den Unzulänglichkeiten des Individuums, nicht aber der Fehlbarkeit der Therapie zugerechnet werden muss, denn wie gesagt verbürgt die konsequent durchgeführte Therapie aufgrund des Gewissheitsversprechens auch den Erfolg. Die Zieldefinitionen zur adäquaten Formung des eigenen Körpers speisen sich aber noch aus einer weiteren, nicht weniger ausschlaggebenden Quelle. Ich meine die in modernen Gesellschaften allenthalben sichtbaren ›Vorbilder‹ körperlicher Idealisierungen, wie sie uns in den Medien und in der Werbung ununterbrochen präsentiert werden. Wenn die These zutrifft, dass in modernen Gesellschaften die Technologien des Selbst (Foucault) immer mehr zum zwingend notwendigen Steuerungsinventar der agierenden Subjekte werden, dann dürfte dies für die möglichst angemessene Zurichtung des eigenen Körpers im Sinne einer leistungsfähigen, dynamischen, trainierten oder in einem Wort ›schlanken‹ Physis vielleicht sogar in besonderer Weise Gültigkeit beanspruchen (vgl. Kreisky 2008). Im Unterschied zu den Normvorgaben oder körperlichen Normstandards einer diagnostischen Perspektive verfügen die Idealisierungen aber über keinerlei interne Stoppregeln, die dem Individuum das Erreichen eines Idealzustands signalisieren könnten. Im Gegenteil: Das Ideal zeichnet sich gerade durch seine Nicht-Erreichbarkeit aus, was für den realen Einzelnen die unangenehme Konsequenz hat, mit seinen Bemühungen an kein Ende kommen zu

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können7 Die einzige hier noch erreichbare Gewissheit ist die, dem Ideal niemals genügen zu können. Auch wenn dies in der realen Lebenspraxis der Individuen keine akuten Probleme bereiten sollte, so bleibt auch für den ganz normalen, durchschnittlichen Fitness-Sportler über die allgegenwärtige Präsenz des modernen Idealkörpers die permanente Forderung der Selbstoptimierung. Leistet er dieser Aufforderung in angemessener Weise Folge, dann ist ihm auch der Lohn einer zumindest partiellen Annäherung an gesellschaftlich favorisierte Idealvorstellungen des Körpers gewiss. Auf der Ebene der körperlichen Aktivität ergeben sich somit Möglichkeiten der Selbststeuerung – vielleicht könnte man auch sagen, eine spezifische Form der Autonomie – die in anderen gesellschaftlichen Feldern zumindest für die Mehrheit der Individuen so nicht zugänglich sind. Darin liegt in der Tat ein hohes verführerisches Potenzial.

4. G EWISSHEITSGARANTIEN ODER G EWISSHEITSFIKTIONEN ? Die beiden Beispiele haben versucht zu verdeutlichen, wie sich die moderne Sehnsucht nach Gewissheit über unterschiedliche Thematisierungen von

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Hier zeigen sich ebenfalls interessante, an dieser Stelle aber nicht weiter zu vertiefende Parallelen zwischen gesellschaftstheoretischen und subjekttheoretischen Perspektiven. So weit hergeholt der Vergleich zwischen dem ›schlanken‹ Subjekt und dem ›schlanken‹ Staat auf den ersten Blick auch erscheinen mag, er lässt sich durchaus plausibel begründen. So wenig wie aktuell etwa neoliberale Gesellschaftsmodelle einen Zielpunkt der Entwicklung angeben können – Ideal ist der permanente, besser noch ständig gesteigerte Fortschritt, unendliches Wachstum – so wenig ist dies für die individuelle Entwicklung im Kontext der Subjektmodellierung eines ›flexiblen Selbst‹ möglich. Gesellschaften wie Subjekte bewegen sich in einem – allerdings selbst konstruierten und zu verantwortenden – niemals stillstehenden Hamsterrad mit allenthalben diagnostizieren Überlastungs- und Überreizungsschäden. Interessant ist in diesem Kontext auch, dass z.B. neoliberale Theorien mit entsprechenden Gewissheitsversprechen arbeiten. Der neoliberale Weg ist die einzige(!), alternativlose Entwicklungsrichtung. Nicht grundlos werden daher entsprechende Konzepte auch ›ideologiekritisch‹ diskutiert (vgl. z.B. Butterwegge/Lösch/Ptak 2007).

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Körperlichkeit verwirklichen lässt. Einmal eher traditionell über die Nutzung messender Wissenschaft und zum zweiten – wenn man so will – eher als Resultat einer reflexiven Moderne, die die Individuen nach dem Wegbrechen der bewährten Orientierungsrahmen auf ihre Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit als Der Nullpunkt der Orientierung (Husserl) zurückverweisen. Aber bewirken diese Zugriffe nun tatsächlich eine höhere Gewissheit, ein Mehr an sicherem Wissen, das dann in der Folge auch zu mehr Orientierung in notorisch auf der Suche befindlichen modernen Gesellschaften führen könnte? Nach meiner Einschätzung ist es sehr schwierig, auf diese Frage eine eindeutige Antwort zu finden. Aber genau dies ist auch schon ein erster zentraler Aspekt der Beantwortung. Auch die vorgestellten ›Gewissheitsstrategien‹ basieren natürlich auf bestimmten Voraussetzungen, unter denen allein sie ihre Versprechen auch mit der notwendigen Eindeutigkeit einlösen können. Diese Voraussetzungen sind aber ihrerseits hinterfragbar und keineswegs aus sich selbst heraus evident. Bezogen auf die diagnostische Perspektive lassen sich natürlich viele Rückfragen sowohl an die dort produzierten Messwerte wie auch an die auf ihnen basierenden Schlussfolgerungen stellen. Der Rückgriff auf Messwerte, Grenzwerte, Standards u.Ä. verdankt sich einem weitgehend unbefragten, Objektivität verbürgenden Mythos der Zahl. »Typisch dafür sind betriebswirtschaftliche ZuRechnungen. Sie sagen nicht nur, was ist, sondern, um Austins berühmten Buchtitel zu paraphrasieren, sie ›tun Dinge mit Zahlen‹. Sie präsentieren uns die Rechnung. Das ist ihr Werk. Zahlenwerke behaupten nicht nur quantitative Zusammenhänge, sondern etablieren sie als geltend – verschaffen ihnen, alsbald kaum mehr bezweifelbare Geltung.« (Ortmann 2007: 8) Messwerte spielen uns Eindeutigkeit vor, unterliegen jedoch zahlreichen Hilfshypothesen, ohne deren Anerkennung sie ihre Eindeutigkeit schnell einbüßen. So ist bei vielen Tests der motorischen Leistungsfähigkeit zumeist nicht eindeutig klar, was sie eigentlich messen, welche Bedeutung die gewonnenen Messwerte besitzen und was aus ihnen gegebenenfalls für Schlüsse zu ziehen sind. Genau diese Einschränkungen werden aber in der Regel nicht thematisiert (und je weiter sie sich aus dem wissenschaftlichen Bereich entfernen desto weniger). Stattdessen sprechen die Messwerte dann schnell ›für sich‹ (idealtypisch auch hier der BMI). Auch das Gewissheitsversprechen der eigenständigen Körperformung ist – wie schon angedeutet – alles andere als beruhigend. Hier sind es indes

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nicht die Messwerte selbst, die Gegenstand der Verunsicherung sind, sondern vielmehr die Orientierung an einer Idealnorm, die für die allermeisten Individuen insofern zur puren Fiktion wird, als sie für sie auch bei intensivster Anstrengung unerreichbar bleiben, die Normen stammen ›aus einer anderen Welt‹ (z.B. als virtuell optimierte Körper der Werbung). Aus der Gewissheit biotechnologisch unterstützter Selbstoptimierung kann so unter der Hand die Einsicht in die Unzulänglichkeit des eigenen biologischen Materials – dem eigenen Körper – entstehen.8 Die Gewissheitsgarantien und -versprechen des Körpers erweisen sich also bei einem genaueren Hinsehen als brüchig. Auch die in vielen Feldern beobachtbare intensive Thematisierung der Körperlichkeit, die meines Erachtens durchaus zu Recht als ein Kennzeichen gesellschaftlicher Entwicklung der letzten Jahrzehnte beschrieben wird, bildet da keine Ausnahme. Die Aufmerksamkeitslenkung auf die eigene Körperlichkeit hilft zur Bewältigung der Erfahrung von Kontingenz in modernen Gesellschaften allenfalls vordergründig und zumeist auch nicht dauerhaft.9 Angesichts des fundamentalen Charakters moderner Kontingenzerfahrungen wäre es auch verwunderlich, wenn der Rückzug auf den eigenen Körper hier eine Ausnahme bilden könnte. Das diagnostische und therapeu-

8

Durchaus auch mit entsprechenden Kollateralschäden, wie etwa jüngere Untersuchungen zur Dopingunterstützung im Feld des Fitness-Sports aufweisen. Dass dies offenbar schon lange nicht mehr ein Problem allein des Hochleistungssports ist, ist wohl die gravierendste Erkenntnis dieser Untersuchungen (vgl. Kläber 2010: 12ff.).

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An allererster Stelle ist hier natürlich an die Vergänglichkeit gerade des Körpers zu erinnern. Die Selbstvergewisserungsstrategien über den Körper sind bei aller möglichen Intensität letztlich immer zeitlich begrenzt, was dann unter Umständen in neue und womöglich noch sehr viel tiefere Zweifel (oder Verzweiflung) führen kann, weil niemand dem Alterungsprozess des Körpers sich bislang entziehen kann. Das Verhalten in den entsprechenden körperorientierten Szenen lebt dann auch von kollektiven Ausblendungen und Tabuisierungen. Die bislang einzig wirklich verbriefte Gewissheit des Körpers ist seine Vergänglichkeit und sein Verfall. Wer also auf den Körper als Gewissheitsgaranten setzt, der tut dies immer mit einem ungedeckten Wechsel auf die Zukunft. Das muss nicht im Scheitern des Unternehmens enden, doch gibt es genügend Beispiele gerade dafür.

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tische Gewissheitsversprechen des Körpers bleibt ein ›Versprechen‹, dessen Einlösung vor allem eines bleibt: ungewiss.

5. W ARUM U NGEWISSHEIT ? Abschließend soll noch kurz eine Antwort auf die Frage versucht werden, warum die Gewissheitsbestrebungen zumeist in aller Regel in neuen Ungewissheiten enden. Auch der in den letzten Jahrzehnten hoch gehandelte Kandidat ›Körper‹ bildet da keine Ausnahme. Vielleicht hängt dies mit der Konstruktion der Bedeutung von »Gewissheit« zusammen. Auch wenn der Wortstamm ›Wissen‹ auf ›Ge-wissheit‹ hindeutet, so führt dies doch auf einen falschen Weg. ›Gewissheit‹ lässt keinerlei Zweifel zu, ist in diesem Sinne total. In der Wissensdimension hingegen – so hatte sich gezeigt – ist demgegenüber durch die beständige Produktion von Nicht-Wissen der Zweifel ein konstitutives Element, der alles Wissen unter den Vorbehalt der Vorläufigkeit stellt. Nur dadurch ist beständige Fortentwicklung möglich. Wer also ›Gewissheit‹ möchte, der ist auf eine prinzipiell andere Form der Sicherung angewiesen. Traditionell war dies die Glaubensdimension und nicht ohne Grund spricht man in diesem Kontext auch von Glaubens-Gewissheiten. Dieser Weg aber scheint den Akteuren in modernen Wissens-Gesellschaften auch zunehmend verschlossen, zumindest wenn man die traditionellen Rahmungen des Glaubens betrachtet. Andererseits weist die häufige Verwendung von Metaphern aus religiösen Kontexten – z.B. die Bezeichnung von Fitness-Studios als ›Körpertempel‹ oder ›Körperkirchen‹, oder der Vergleich der Körperpraktiken mit ›Askese‹ oder ›Exerzitien‹ – darauf hin, dass die Bezüge zu religiösen Sinndimensionen bei der Suche nach Körper-Gewissheiten mehr sein könnten als nur Kategorienfehler (vgl. Kluge et al. 2000: 113). Ich möchte mit einem Zitat eines Vertreters der philosophischen Anthropologie, Helmuth Plessner, schließen, das die Problematik auch für unsere Thematik auf den Punkt bringt: »Wer nach Hause will, in die Heimat, in die Geborgenheit, muss sich dem Glauben zum Opfer bringen. Wer es aber mit dem Geist hält, kehrt nicht zurück.« (Plessner 2003 [1928]: 420) So gesehen behält die Ungewissheit zumindest in wissenschaftlichen Diskursen das letzte Wort. Und in diesem Feld siedelt sich der vorliegende Beitrag an. Ob der Körper im Erleben der Akteure ein Surrogat für verloren gegangene

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Glaubensgewissheiten anbieten kann, ist eindeutig kaum zu beantworten, kann aber mit guten Gründen bezweifelt werden.

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Zeitbomben Adipositas und die Gefräßigkeit der Kommunikation S WEN K ÖRNER

I Es zählt zu den gut beobachtbaren Besonderheiten moderner funktional differenzierter Gesellschaften, in ihren Selbstbeschreibungen auf gegenwärtige Krisen und ausgehend von ihnen auf die Riskanz zukünftiger Gegenwarten abzustellen. Arbeitslosigkeit, Jugendgewalt, Rassismus, Atomenergie, Einwanderung, Bildung oder Klimawandel bezeichnen fallweise Großthemen der letzten Jahre und Jahrzehnte, die sich in immer neuen Anläufen zu Problemherden verdichten und bis heute die öffentliche Diskussion meinungsklimatisch bestimmen. Eine Besonderheit von Krisenthemen besteht darin, in den Aufmerksamkeitshorizont einer Mehrzahl eigenlogisch operierender gesellschaftlicher Funktionssysteme einzutreten und gleichsam als Beitragsmagnet massenmedialer, politischer, wissenschaftlicher, erzieherischer, wirtschaftlicher, rechtlicher usf. Kommunikation interne Relevanz und Anschlussfähigkeit zu erzeugen. Ein Grund ihres sozialen Beharrungsvermögens dürfte über Sachunterschiede hinweg darin bestehen, dass Krisenthemen mit selbstverständlicher Gewissheit Probleme ungewissen Ausgangs vorführen. An die beunruhigende Ungewissheit zukünftiger Entwicklungen gegenwärtiger Probleme koppelt sich resonanzverstärkend eine öffentliche Rhetorik der Angst und Sorge. Diese verpflichtet zu Anteilnahme und Initiative, versorgt die laufende Diskussion mit Moral und leistet dadurch ihre selektive Engführung: Angesichts der Höhe und Dramatik erkannter Defizite erscheinen Möglichkeiten des Laissez-faire inakzeptabel.

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Diese krisentypische Verlaufsfigur verjüngt sich seit geraumer Zeit auch am Körper. Genauer: an der körperlichen Verfassung ›unserer‹ Kinder und Jugendlichen. Sie sind zu dick. Die Gesellschaft reagiert mit Bordmitteln: Massenmedien mit Schlagzeilen, Themenabenden und einem imaginaire1, das Erziehungssystem mit Reformreflexion und (schul-)praktischer Intervention, die formalen Organisationen des Sports mit nationalen Kampagnen für mehr Sport und Bewegung, das Wirtschaftssystem mit Investitionen in pädagogische und medizinische Interventions- und Präventionsprojekte, die Politik mit Anerkennung als political issue bei gleichzeitiger Delegation entsprechender Verantwortlichkeiten sowie schließlich die Sportwissenschaft mit Artikulation eines erhöhten Forschungsbedarfs. In Letzterer bestimmen typischerweise zwei Perspektiven die Auseinandersetzung. Die erste ist empirischen Zielsetzungen verschrieben, die nicht selten im straffen Organisationskontext von Auftragsforschungen verfolgt werden. Das erkenntnisleitende Interesse besteht darin, über Mess- und Testinstrumentarien aktuelle Zahlen und Zeitreihenvergleiche zum Gewichtsstatus von Kindern und Jugendlichen zu generieren. Die zweite Perspektive schließt an ebenjene Daten selektiv an und nutzt diese als Startprämisse pädagogischer Problembearbeitung in guter Absicht. Der vorliegende Artikel wählt andere Wege. Die erfolgreiche Rede von dicken Kindern geht gesellschaftsweit so glatt über die Zunge, dass man fragen kann: Wie ist das möglich? Die Fragestellung zielt auf jene Erfolgsbedingungen, die der Realität2 dicker Kinder seit nunmehr einigen Jahren den Bezug hoher gesellschaftlicher Aufmerksamkeitswerte sichern. Das Anliegen wird in sieben Schritten entfaltet. Der erste umreißt kurz den Ort des Geschehens (II), die Schritte zwei bis vier benennen Erfolgsbedingungen (III-V), während die letzten drei Kapitel auf die besondere Rolle von Sport, Erziehung und Sportwissenschaft fokussieren (VI-VIII).

1

Hahn/Jacob (1994: 167).

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Die Realität juveniler Körperdefizite wird im Folgenden beschrieben als eine Realität der Kommunikation, und zwar mit Luhmann (1996: 22) im »Doppelsinn von Realität als tatsächlich ablaufende, das heißt: beobachtbare Operation und als dadurch erzeugte Realität der Gesellschaft«, Realitäten also, die durch Kommunikation (als Beobachtung) verabschiedet, und durch die Kommunikationen (als Operationen) selbst real werden.

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II Zwei junge Fische schwimmen vor sich hin. Sie treffen auf einen älteren Artgenossen, der in die andere Richtung schwimmt. Der Ältere nickt den beiden jüngeren zu und sagt: »Guten Morgen, Jungs, wie ist denn das Wasser da hinten?« Irritiert blicken sich die beiden kleinen Fische an. Eine Weile schwimmen sie weiter. Schließlich sagt der eine zum anderen: »Was zum Teufel ist Wasser?« Die kleinen Fische in der Anekdote von David Foster Wallace scheinen nicht zu wissen oder einfach vergessen zu haben, welchem Medium sie ihr Dasein verdanken, hier also Wasser, warm oder weniger warm. Die Existenzbedingung ›Wasser‹ ist so selbstverständlich, so unmittelbar, dass man erst gar nicht mehr auf sie kommt. Vergleichbares gilt für Gesellschaft. Im Sinne der Anekdote ist daran zu erinnern, was eigentlich selbstverständlich ist, aber (und vielleicht deshalb) nicht selten in Vergessenheit zu geraten scheint, nämlich: dass Kommunikation über dicke Kinder genau das ist: Kommunikation über dicke Kinder. Jedenfalls sind Körperhautfalten, Cholesterin- und Triglyceridwerte oder das Verhältnis von Körpergröße und Gewicht (BMI) niemals über sich selbst irritiert, wie immer es um sie bestellt sein mag. Jeder Körperzustand ist, wie er ist, und er ist für sich selbst weder defizitär noch nicht-defizitär, sondern völlig sinn-indifferent. Und exakt aus ebendiesem Grund jenseits von Gesellschaft. Adipöse Kinder werden daraus erst durch Beobachtung. Kommunikation ist der Vollzugsmodus sozialer Beobachter. Weder Kinder noch Körper stehen einfach so herum und warten darauf, wissenschaftlich erkannt, statistisch abgebildet, moralisch oder gesundheitspolitisch bewertet und am Ende pädagogisch behandelt zu werden. Dazu bedarf es schon eines Maßbandes, einer Blutprobe, einer mathematischen Berechnung, eines Kommentars, einer Portion guter Absichten oder eines Fitnesstests. Abstrakter formuliert: Eines Operators, der Unterscheidungen einführt, der sagt, dies und nicht das, dick und nicht dünn, defizitär und nicht normal, schlecht und nicht gut usf. Das wiederum lässt sich beobachten. Man beobachtet dann, wie ein Beobachter beobachtet, was er beobachtet – und kann sich fragen, warum der beobachtete Beobachter das so tut, wie er es tut. Es geht dann nicht darum, Kinder zu beobachten, sondern soziale Beobachter wie Wissenschaft, Massenmedien, Politik, Erziehung und

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Sport dabei zu beobachten, wie sie (Kinder) beobachten. Das klingt theoretisch, ist aber praktisch, weil die Rückfragen alle Beobachter betreffen. Den Beobachter der Beobachter eingeschlossen. Die Realität dicker Kinder ist somit beobachtbar, wohlgemerkt: beobachtbar. Wenn das alles bislang trotzdem wenig überzeugend gewesen sein sollte, könnte das an der ersten Erfolgsbedingung liegen, der Ökonomie der Sichtbarkeit.

III Im Unterschied etwa zu Praktiken des Sportdopings, die in der Regel einer unmittelbaren Sichtbarkeit entzogen sind und deren Heimlichkeit über komplizierte körperanalytische Verfahren ans Licht gebracht werden muss, bezeichnen Übergewicht und Adipositas sinnfällige Norm-Abweichungen, die auch ohne die Zuhilfenahme aufwendiger wissenschaftlicher Messverfahren, Statistiken und Graphiken unmittelbar einleuchten. Wenn z.B. junge Körper massige Falten werfen, dann stimmt ganz offensichtlich etwas nicht. Ihre Realität ist dann ebenso unstrittig wie die Aussage, dass es Männer und Frauen im Sinne ontischer Sachverhalte ›gibt‹.4 Man kann das sehen. Fällt der Blick – gleichsam von Körper zu Körper – auf abweichende Körpermaße, finden wir ganz zu Recht authentisch, was wir da sehen. Externe Bestätigung erfahren die eigenen Wahrnehmungsdaten durch wissenschaftliche Zahlenwerke zur juvenilen Adipositas. So wird mit Sinn angereichert und zu einem Wissen verdichtet, was bereits im Alltag über Wahrnehmung distinkte Formen angenommen hat. Eine wichtige Rolle für die Erzeugung sozialer Redundanz spielen Massenmedien. Dicke Kinder sind medial ideal: das Thema ist aktuell, quantitativ einschlägig, besitzt einen klaren Lokalbezug, steht offen für

3

Im Mittelpunkt stehen mithin Kommunikationen, nicht Menschen bzw. Kinder aus Fleisch (Fett) und Blut. Indem Kommunikation bezeichnet, von NichtKommunikation unterschieden und damit der Mensch (bzw. das Kind) als überkommunikativ greifbares Wesen den Ausschlussbereich markiert, wird die zentrale und viel gehörte Kritik mangelnder Mensch-, Subjekt- und Handlungsorientierung an die Adresse der Systemtheorie gleichsam umgedreht und in die laufende Diskussion als analytisches Potenzial zurückgespielt.

4

Vgl. dazu Nassehi (2003).

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Moralisierung und erfüllt zusätzlich in Form von Körperbildern das massenmediale Steuerungsprinzip der Visualisierbarkeit von Information. Schlagzeilen wie Die Kalorienbomber sind da (FASZ 17.09.2006) oder »Sie sind fett, faul, und lieben Fast Food« (Spiegel Online 27.09.2004) bieten sich für flankierende bildhafte Darstellungen geradezu an. Ihre Glaubwürdigkeit profitiert von der Quasi-Evidenz des Gegenstandes, der sich scheinbar unvermittelt, d.h. im Wortsinn authentisch abbilden lässt. Die Offensichtlichkeit am Körper kristallisierender Problemzonen verschränkt sich mit der Aufnahmefähigkeit zweidimensionaler Bildcodes, die ihren Informationsgehalt im Gegensatz zur weniger strukturreichen linearen Schrift sachlich und zeitlich verdichtet anbieten können.5 Setzen wissenschaftliche Darstellungen den konzentrierten und bisweilen langwierigen Nachvollzug komplexer Sinnzusammenhänge und differenzierter Argumentation voraus, und geben mithin Anlass zu Reflexion und Sachzweifel, kürzen Körperbilder derartige Umwege zur Einsicht auf einfache Weise ab: Sie schließen Gegenstand und Erkenntnis gleichsam zwischen zwei Lidschlägen kurz. Die Möglichkeit noch mitzusehen, dass dabei bereits Unterscheidungen den Blick digitalisieren, die darüber entscheiden, wie man sieht, was man sieht, und damit zugleich auch anweisen, wie weiter beobachtet werden kann (also etwa: wenn dick, dann nicht gut, weil ungesund und deshalb behandlungsbedürftig vs. nicht-bedürftig etc.), dieses ohnehin sehr kleine Einfallstor für die Beobachtung der Selbstbezüglichkeit des Sehens bleibt durch ebenjene Unmittelbarkeit chronisch verschlossen. Über Körper-Bilder lassen sich Deutungsangebote in Umlauf bringen, die kaum zu ignorieren und noch schwieriger abzulehnen sind. Verstanden als mitgeteilte Information, liefern Körperbilder Anschlüsse, die über die äußere sichtbare Form beglaubigt werden. Was vom Gesehenen zu halten ist, drängt sich dem Betrachter geradezu auf. Bilder von Kinder-Körpern in Aktion wie sie uns Massenmedien, aber auch pädagogische Ratgeber oder sportwissenschaftliche Tagungsbroschüren vorführen, Körperbilder also, auf denen Kinder lachen, schwitzen, an Turngeräten hängen, oder besser noch: in natürlicher Umgebung an Ästen, erzählen dabei eine andere Geschichte, bieten völlig andere Sinnanschlüsse als jene Darstellungen, in denen massige Körper mit entblößten Fettfalten und heruntergezogenen

5

Flusser (2000: 126f.).

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Mundwinkeln dargeboten werden.6 Beide Varianten enthalten implizite Schlussregeln, die nach dem Schema: wenn X, dann Y, Daten kausal mit Konklusionen vertäuen und damit eine hochfunktionale Reduktion von Komplexität leisten. Im ersten Fall: wenn bewegt, dann engagiert, dann glücklich, dann gesund, dann natürlich. Im andern: wenn dick, dann faul, dann unglücklich, dann krank, dann behandlungsbedürftig. Gegenteilige Beispiele oder negative Zusammenhänge wie z.B.: wenn dick, dann glücklich oder gesund etc., stechen gerade nicht ins Auge. Im Gefolge dieser funktionalen Nachlässigkeit werden aus Körperbildern absolute Zeichen, Gewissheiten. Die Wahrscheinlichkeit jedenfalls, Bilder dicker Kinder nicht zu verstehen als Mitteilungen der jeweils anderen Seite von Sportlichkeit, Zufriedenheit oder Gesundheit, dürfte eher gering sein.7 Das Körperbild fungiert als Argument und Sinnangebot – als Metapher mit Annahmezwang. Die Verhältnisse sind unmittelbar einsichtig. Dass übergewichtige Kinder nicht der kollektiven Phantasie des Zeitgeistes entspringen, hat also nicht zuletzt damit zu tun, dass ihre Realität gleichsam ins Auge springt. Abseits sinnlicher Vorschussplausibilitäten kann man es allerdings immer genauer wissen wollen. Und genau das ist es, was Eigenfrequenzen von Politik, Massenmedien, Erziehung oder Sport endgültig in Schwingung versetzt. Es geht um irritierende Ausmaße, Vergleiche und Differenzen. Und das – so die nächste These – leistet im vorliegenden Fall die Autorität der großen Zahl.

IV Gesellschaftsweit hohe Aufmerksamkeitswerte haben insbesondere jene Zahlen aus dem ersten deutschen Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) auf sich gezogen:

6 7

Vgl. dazu Körner (2008: 106ff.). Und genau jene wahrnehmungsbasierte Offensichtlichkeit kann als funktionales Äquivalent im Rahmen einer Evidenzbeschaffung begriffen werden, das über zahlreiche Verlegenheitsstellen empirischer Gewichtsforschung buchstäblich hinwegsehen lässt. Vgl. dazu Körner (2008: 115ff.).

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»Vor dem Hintergrund der Referenzpopulation aus den 1980er- und 1990er-Jahren betrachtet, […] hat sich in der Gruppe der Kinder und Jugendlichen der Anteil der Übergewichtigen (Adipöse eingeschlossen) um 50 % erhöht. […] 15 % der Kinder und Jugendlichen von 3-17 Jahren sind übergewichtig, und 6,3 % leiden unter Adipositas. Hochgerechnet auf Deutschland, entspricht dies einer Zahl von ca. 1,9 Millionen übergewichtigen Kindern und Jugendlichen, davon ca. 800.000 Adipösen.« (Kurth/Schaffrath Rosario 2007: 737)

Die soziale Themenkarriere dicker Kinder wäre ohne diese oder ähnliche 8 Zahlen undenkbar. Zahlen sorgen für irritierende Gewissheit, vermitteln einen komprimierten Einblick in Ausmaße, lassen den Betroffenheitspegel hochfahren und ziehen entsprechende Kommentierungen in den Verlaufsbahnen wissenschaftlicher, politischer, massenmedialer oder pädagogischer Kommunikation nach sich. An den KiGSS-Zahlen interessiert zunächst nicht die Einseitigkeit des an ihnen vollzogenen Bewertungsstils, also etwa in der Aussage, dass »6,3 % leiden« und demzufolge auf der anderen Seite 93,7 Prozent nicht litten – immerhin, wie man ja auch sagen könnte. Und wieso eigentlich leiden? Hochinteressant ist zunächst vor allem, dass es 6,3 Prozent sind. Und wie jede andere Zahl, so unterstellt auch diese Eindeutigkeit und Geltung: 6,3 sind der Fall. Und 6,3 sind unter allen Umständen 6,3. Und nicht etwa 4. Jede Zahl besitzt mithin jenseits ihres Zustandekommens und ihrer Bewertung den informationellen Vorzug, immer eine bestimmte Zahl zu sein, was Eindeutigkeit und Substanz verspricht. Wie aber die Zahl zustande gekommen ist, darüber (man könnte auch sagen: zur sie erzeugenden Beobachtung) sagt sie selber nichts aus, und hinterlässt trotzdem Wirkung. Oder gerade deshalb. Denn blendete man ein, dass sich auch das Zahlenwerk der KiGGS-Studie dem so genannten Body-Mass-Index verdankt, d.h. also dem Quotienten aus Gewicht in Kilogramm und quadrierter Körpergröße in Metern, und bis zum 18. Lebensjahr als adipös gilt, wer den Grenzwert des 97. Perzentils, das heißt den Mittelwert der drei höchsten BMI einer Population (z.B. 1000 5-jährige Mädchen) erreicht, wenn man also mit anderen Worten in Augenschein nimmt, dass hier mit einer unspezifischen Ausgangsgröße hantiert wird, die nichts ›Exaktes‹ über die Verhältnisbestimmung körperlicher Fett-, Muskel-, Knochen- und Wasserantei-

8

Brettschneider/Naul (2004); Currie et al. (2004); Lobstein et al. (2004) .

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le auszusagen im Stande ist, so könnte man mit guten Gründen über die Evidenz und kommunikative Karriere einer Zahl, die ja nicht gerade wenigen Heranwachsenden immerhin pathogene Fettleibigkeit attestiert, durchaus in die Kontroverse geraten. In jedem Fall ist der lineare Rückschluss von BMI-Werten auf Fettleibigkeit ausgesprochen spekulativer Natur und mit dem strikten Methodenideal empirischer Forschung kaum zu vereinbaren. Dass der Body-Mass-Index unter keinen Umständen misst, was er zu messen vorgibt, dieser mit Blick auf Gütekriterien empirischer Forschung disqualifizierende Befund, leistet seiner inner- und außerwissenschaftlichen Karriere interessanterweise bis heute keinerlei Abbruch. Das nicht nur im 9 Rahmen der KiGGS-Studie, in der er als »akzeptables Maß« geführt wird, sondern ebenso im Statistischen Jahresbericht der Europäischen Union. Und auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung fordert problemsensible Lehrer und Eltern in einem ihrer Ratgeber dazu auf, »nicht nach Augenmaß [zu] entscheiden«, denn »das kann leider trügen« (BZgA 2006: 7). Gebot der Stunde sei der BMI, ein Online-Rechner auf der Inter10 netseite der BZgA schafft Gewissheit. Die Sicherheit, mit der ein erkennbar unsicheres Instrument öffentliche Verbreitung bis hinein in intime familiäre Erwartungsstrukturen erfährt, die dann nicht zuletzt auch Körpererwartungsstrukturen sind, jene Selbstverständlichkeit also, mit der eine simple Formel betroffene Augenmaße supercodiert, irritiert zumindest einen Beob11 achter der Berechnung. Besondere Beachtung verdient der Hinweis, dass der BMI gerade in wissenschaftlichen Studien ungebrochen die harte Unterscheidung von adi12 pös vs. nicht-adipös exekutiert, und damit eine Realität dicker Kinder zahlenmäßig dingfest macht, obwohl seine Unzulänglichkeit kaum zu überse-

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Vgl. dazu: www.kiggs.de/experten/downloads/dokumente/ppt_adipositas.pdf

10 Die DAK etwa fragt ihre Mitglieder (DAK-Gesundheit 2004): Wie fit sind Sie mit ihrem BMI? und berichtet unter dem Titel Ich will nie wieder der Fettsack sein (DAK-Gesundheit 2004) von André (11) und Lisa (17), die nach sechswöchiger Therapie in einer Fachklinik je zehn Kilo abgenommen haben und weitere Erfolge verbuchen können (»In Mathe bin ich auch schon besser geworden.«). 11 Von Kapriolen auffälliger Grenzwertflexibilität zu schweigen (vgl. Körner 2008: 118). 12 Brettschneider/Naul (2004); Currie et al. (2004); Lobstein et al. (2004); Klaes/ Cosler (2006); Kurth/Schaffrath Rosario (2007).

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hen und hinlänglich bekannt ist. Aber nicht die Unzulänglichkeit des BMI ist das eigentlich Verblüffende, sondern die Tatsache, dass man sie einleitend konzedieren, das dann aber auch gleich wieder vergessen kann. Der BMI bleibt in der Folge irritationsfrei Methode der Wahl. Letztlich verdanken sich auch Gewichtsrealitäten, die ›abweichenden‹ wie die ›normalen‹, einer Selbstbezüglichkeit des vermessenden Blicks, hier also einer mathematischen Formel, die exakt jene Daten produziert und zirkulieren lässt, die sie als mögliche Werte in das Beobachtungsprogramm eingibt. Insofern kommt der Überraschungswert explodierender Gewichtszahlen – also z.B. 1,9 Millionen – niemals wirklich überraschend, sondern ist im Rahmen der Formel immer schon erwartbar (und ggf. regulierbar, Stichwort: Grenzwertverschiebung). Man könnte anders unterscheiden, etwa zur Hautfaltenmessung oder Blutfettanalyse greifen. Mit keinem dieser Instrumente allerdings wären Zahlenmassen vergleichbarer Karrierefähigkeit generierbar. Nicht von ungefähr verdankt der millionenschwere Nationale Aktionsplan IN-Form: Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewe13 gung der Bundesregierung seine Begründung exakt jener herkunftsblinden Masse-Größe-Relation, die in ihm zu »einer gigantischen Zahl« (FAZ 10.05.2007) aggregiert, über deren zweifelhafte Genese man allerdings im Weiteren vergeblich klärende Hinweise sucht. Am Ende steht vielmehr zu Buche, dass »in Deutschland rund 2 Millionen Kinder und Jugendliche übergewichtig oder adipös sind« (BMELV/BMG 2007: 2f.). BMI-Werte mutieren unversehens zu Seins-Werten, die im Verlauf ihrer politischen und massenmedialen Reduktion auf simple Gewissheiten die Gewissheit ihrer eigenen Konstruiertheit inklusive diesbezüglicher Ungewissheiten hinter sich lassen, und nur deshalb Karriere machen können als »Zahl, bei der einem Hören und Sehen vergehen« (FAZ 10.05.2007). Den BMI-Zahlen ist ihre Selbstbezüglichkeit nicht anzumerken. Sie stehen für harte Fakten, treten auf als objektive Repräsentationen des fetten Seins in der empirischen Beobachtung und geben der Forschung, der Öffentlichkeit, den Massenmedien, der Politik, dem Erziehungssystem final zu verstehen, was in Sachen Übergewicht unter deutschen Kindern und Jugendlichen der Fall ist, und nicht, dass und wie hierfür unterschieden worden ist. Und warum so, und nicht anders. Gerade dass Zahlen zu ihrer Eigengenese schweigen (und so eine gewissermaßen beobachtungsfreie

13 Vgl. dazu BMELV/BMG (2007); BMELV/BMG (2011); www.in-form.de

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Welt denken lassen: eine Zahl ist eine Zahl), sichert ihre gesellschaftliche Resonanz. Zahlen kombinieren auf unscheinbare, aber hochfunktionale Weise auf engstem Raum informationelle Eindeutigkeit mit Selbstvergessenheit. Sie sprechen auf den ersten Blick für sich: 4,7 Millionen Arbeitslose, 100 Prozent Bio oder eben 1,9 Millionen Übergewichtige. Die Ökonomie der Zahl, ihr vergleichsweise geringer Raum- und Erläuterungsbedarf, erklärt ihre hohe soziale Annahmewahrscheinlichkeit. Auf Basis von Zahlen kann diskutiert und entschieden (Politik), gemeldet und berichtet (Massenmedien) sowie mit guten Absichten ausgestattete Veränderungsarbeit an Personen gestartet werden (Erziehung). Es gibt sie also, die dicken Kinder – man kann das sehen und messen. Das aktuell Gemessene ist vergleichsweise schlecht.14 Indem Zahlen auf Zahlen verweisen, die auf Zahlen verweisen, sind Vergleiche die Folge. Vergleiche führen auf Differenzen. An Differenzen rasten Bewertungen ein, denn Zahlen sprechen nur auf den ersten Blick für sich. Die Bewertungsoperation wiederum vollzieht den Schluss von Zahlen auf ihre soziale Bedeutung, der über die Einführung weiterer, werthaltiger Unterscheidungen in den Kontext der Beobachtung realisiert wird. Das führt auf eine weitere beachtenswerte Erfolgsbedingung, zum Stil der Bewertung.

V Wenn Deutschland es mit einer »besorgniserregend wachsenden Zahl adipöser und bewegungsgestörter Kinder und Jugendlicher« (Klaes et al. 2000: 18) zu tun bekommt, lautet die Frage: wieso eigentlich besorgniserregend? Dass zahlreiche Kinder, sofern sie es gemäß BMI denn sind, zu dick sind, ist für sich genommen nicht das Problem. Das Problem resultiert erst daher, dass Übergewicht im Angelpunkt einer Vielzahl kausaler Zurechnungen auf Folgen steht, die es in sich haben. Für das einzelne Kind wie auch für die Gesellschaft. Neben beachtlichen Einbußen in Sachen Gesundheit, Lebensqualität, Lernvermögen oder Sozialverhalten für den Einzelnen sind es insbesondere problematische volkswirtschaftliche Entwicklungen, wie sinkende Wettbewerbsfähigkeit und steigende Gesundheitsausgaben, die in bemerkenswert einfacher Kausalität als Folgen des Übergewichts ausgewie-

14 Vgl. dazu Currie et al. (2004).

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sen werden. »Allein durch den Fernsehkonsum von Kindern und Jugendlichen werden im Jahr 2020 in Deutschland etwa 20.000 Menschen an den Folgen von Übergewicht sterben […], ein volkswirtschaftlicher Schaden der – vorsichtig geschätzt – in zweistelliger Milliardenhöhe liegen wird.« (Spitzer 2005:48) So utopisch die Prognose klingen mag, sie beansprucht Geltung allein über das Kindheits-Argument. Kinder von heute sind die Erwachsenen von morgen, und insofern die reale Utopie der Gesellschaft. Wie immer es um sie bestellt sein mag. Als wäre es nicht schon Herausforderung genug, dass Kinder in demographischer Hinsicht knapp geworden sind, sind es nun ausgerechnet übergewichtige Kinder nicht länger. Weil das so ist, bezeichnen die vielen Dicken unter den Wenigen die kritische Problemmasse einer Gesellschaft, die sich in Anbetracht einer entsicherten Zukunft in Alarmstimmung versetzt. Der Sound der Bewertung ist ein Sound der Krise, aus dem beispielhaft zwei zentrale Stimmen eingespielt werden. Obgleich klar ist, dass Übergewicht nicht wirklich eine »Zeitbombe« ist, oder übergewichtige Kinder nicht wirklich »Kalorienbomber«, und in Deutschland trotz steigender Prävalenzen nicht wirklich eine »Bombe weiter tickt«, die wirklich zu »entschärfen« wäre, kommt die Bomben-Metaphorik in großer Einvernehmlickeit daher.15 Metaphern springen ein, wenn die Abweichung vom Erwartbaren, von einer wie auch immer errechneten Normalität, gravierende Ausmaße annimmt. Die Zahlen zum Übergewicht künden von einer derart krassen Überdehnung. Gleichwohl ist die an ihnen einrastende BombenMetaphorik mehr als der bloße Ausdruck spontanen Entsetzens. Obwohl Metaphern keineswegs sind, was sie bezeichnen, spuren sie Realität. ›Adipositas‹ ist beheimatet im Kontext von Medizin und Wissenschaft. ›Bomben‹ hingegen stammen originär aus den Bereichen Terror und Militär. Werden nun beide Bedeutungsfelder gekoppelt, mit einseitiger Fließrichtung der Semantik, begründet dies einen Wirklichkeitsentwurf, der bestimmte Aspekte hervorhebt und andere ausblendet. Erscheint Adipositas als Zeitbombe, wird aus ihr eine Bedrohung, die zu fürchten ist und die deshalb entschärft werden muss. Alles, was für Bomben gilt, gilt jetzt auch für Adipositas. Die Bomben-Metaphorik enthält somit eine implizite Schlussregel und damit ein gerne übersehenes argumentatives Potenzial.

15 Zitate aus: FASZ (17.09.2006); DSB-Presse (21.02.2006); Brettschneider/Bünemann (2005: 74).

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Sie ist – im Sinne Kants – eine »Maschine der Überredung« (1998: 430, §53). Gleiches gilt für die Rede von »seuchenhaften Zügen« (Brettschneider, zitiert nach DSB-Presse 24.05.2005) oder der »Seuche Fettsucht« (FAZ 15.7.2009). Durch sie werden Übergewicht und Adipositas hinübergespielt in das semantische Feld einer hochgradig ansteckenden Infektionskrankheit, einer communicable disease.16 Die Seuchenkommunikation beschwört das Szenario einer schwer kontrollierbaren zivilisatorischen Katastrophe, in Bezug auf die eine ehemalige Gesundheitsministerin plausibel fordern konnte »Übergewicht bis 2020 zu stoppen« (Schmidt, zitiert nach FAZ 10.05.2007). So wie die Bomben-Metaphorik das Problem juvenilen Übergewichts zu einer krisenförmigen Gefährdung stilisiert und zusätzlich die Unbedingtheit zielführender Problembearbeitungen vor Augen führt, so dynamisiert das anschauliche Bild einer ›Seuche‹, die ›zu stoppen‹ sei, das vom Problem ausgehende Gefahrenpotenzial und suggeriert eine wellenförmige, eigendynamische Ausbreitung, der mit allen verfügbaren Mitteln Einhalt zu gebieten ist. Gleichviel ob Bombe oder Seuche17, der Blick richtet sich selektiv auf Gefährdung, was wiederum die Kommunikation von Sorge, Angst und Handlungsdruck veranlasst – andernfalls, um im Bild zu bleiben, droht ›die Bombe hochzugehen‹. Die Lage ist ernst. Lösungen pressieren.

16 Für den Versuch, die »obesity epidemic« (Christakis/Fowler 2007: 378) im Sinne einer gleichsam mimetischen Ansteckungsgefahr von Fettleibigkeit zu erklären, vgl. eine im New England Journal of Medicine publizierte Längsschnittstudie, deren Ergebnisse »suggest an important role for a process involving the induction and person-to-person spread of obesity« (ebd.: 377). Mit Dicken bekannte oder befreundete Menschen liefen den errechneten Daten zufolge selbst Gefahr, dick zu werden. Die WHO-Terminologie von Infektionskrankheiten als communicable diseases (wobei communicable biologisch gemeint ist) erfährt hier eine neue, nämlich soziale Aufladung. 17 Oder auch die zeitgeistige Rede von einem bevorstehenden globalen »Tsunamie der Fettleibigkeit«, durch die eine internationale Forschergruppe auf Basis weltweiter Daten im Fachmagazin The Lancet (auf sich) aufmerksam gemacht hat (Anand/Salim 2011).

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VI Für die Gesellschaft sind dicke Kinder ein Problem. Probleme werfen reflexartig die Frage ihrer Lösbarkeit auf. Im vorliegenden Fall geht die Lösungserwartung nicht allein davon aus, dass etwas getan werden muss, sondern ebenfalls, dass überhaupt etwas getan werden kann. Die Erwartung konzentriert sich dabei in besonderer Weise auf Sport und Bewegung. Was mit den dicken Kindern sinnvoll zu tun sei, scheint klar: Turnen mit den kleinen »Kalorienbomben« (FAZ 14.04.2007) bzw. »Bewegung, Bewegung, Bewegung« (Schmidt, zitiert nach FAZ 10.05.2007). Neben dem Schulsport bringt hier insbesondere der organisierte Sport seine Möglichkeiten in Stellung. Seine Semantik pflegt eine Vielzahl mit Sport in Verbindung gebrachter positiver Wirkungen für Individuum und Gesellschaft: Sport integriert, Sport vermittelt Werte, Sport ist gesund. Auf derartige Wirkungen schwören sich DOSB, Landessportbünde sowie Sportfachverbände in regelmäßigen Schüben identitätsstiftend ein. Damit geben sie an, was in Sachen Sport der Fall und also gesellschaftlich erwartbar ist.18 Das Besondere daran ist freilich, dass sich die angenommenen oder tatsächlichen Wirkungsweisen jeweils auf Werte ohne Maß beziehen. So kann von Integration, Moral oder Gesundheit für die Zukunft immer ein Mehr im Vergleich zum Gestern gefordert werden. Ist Übergewicht gesellschaftlich erfolgreich als Problem ins Profil gesetzt, werden Lösungsversprechen des organisierten Sports in hohem Maße attraktiv. Und weil es Lösungen gibt, wächst auch die interne Sensitivität für gesellschaftliche Krisenlagen: »Deutschland sitzt auf einer gesundheitspolitischen Zeitbombe mit dem Aufdruck ›Übergewicht‹. Verstärkte Bewegungsanreize und sportliche Betätigung im Kindes- und Jugendalter können diese Sprengkraft entschärfen [Herv. d. Verf., S.K.].« (DSB-Presse 21.02.2006) Der organisierte Sport setzt sich in Szene als Reservoir hochwirksamer Lösungen für eine soziale Problemlage (›Sprengkraft entschärfen‹), an deren Konstruktion er sichtlich Anteil hat (›Zeitbombe‹).

18 Vgl. dazu insbesondere die intern aufgelegten Zweckprogramme (z.B. Grundsatzerklärung, Agenda Sport tut Deutschland gut, Leitbild des deutschen Sports, Staatsziel Sport) des deutschen Sportdachverbandes DOSB, der mit ca. 27 Millionen Mitgliedern immerhin größten Personenvereinigung Deutschlands (DSB 2000, 2003; DOSB 2006).

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Insbesondere der Politkommunikation ist die Lektüre ambitionierter Wirkungsversprechen von Sport und Bewegung anzumerken. Ihre Ergebenheitsadressen19 an den Sport liefern ein gutes Beispiel erfolgreichen Bedarfs- und Reputationsmanagements, einer intern durch permanente Programmwiederholung (Initiativen, Slogans, Projekte etc.) vorbereiteten externen Nachfrageveranlassung, die die institutionelle Position des organisierten Sports weiter festigt.20 Politische Erwartungsadressierung in Richtung Sport ermöglicht umgekehrt Rückerwartungen an die Adresse der Politik, wodurch die Dynamik interner Stabilisierungsprozesse weiter Fahrt aufnimmt: Weil der organisierte Sport weiß, dass die Politik weiß, welche Möglichkeiten in ihm schlummern, sind Ansprüche und Erwartungen externalisierbar. Man wächst mit den Ansprüchen.21 Insbesondere die Sportwissenschaft leistet in diesem Zusammenhang wertvolle Zubringerdienste. Sie macht evident, was für Sportverbände im Sinne gefühlter Wirkung lediglich mehr oder weniger plausibel verkündbar ist.22 Natürlich hält gerade die Sportwissenschaft nicht wenige gegenläufige oder relativierende Befunde verfügbar.23 Diese bilden allerdings regelmäßig den Ausschlussbereich eines organisierten Blicks, der einrechnen muss, dass der soziokulturelle Erfolg seines Projekts nicht zuletzt an der Kommunikation eines Wir-

19 Vgl. Noll (2006: 2); BMELV/BMG (2007: 4f.). 20 Wie etwa ein Blick in den 29. Beschluss der Sportministerkonferenz (SMK) des Deutschen Bundestages zeigt. Hier heißt es: »Im Bewusstsein der wesentlichen Beiträge des Sports im Rahmen eines ganzheitlichen Erziehungsprozesses und eines positiven Entwicklungsprozesses der Kinder und Jugendlichen sowie der im Rahmen der DSB-Gesellschaftskampagne ›Sport tut Deutschland gut‹ kommunizierten zahlreichen positiven Implikationen des Sporttreibens in andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens betont die Sportministerkonferenz die hohe Bedeutung des Kinder- und Jugendsports fòr die heutige und zukònftige Generation in Deutschland.« (SMK 2005: 3) 21 Und »die Bombe tickt weiter« (DOSB-Presse 4.10.2006). 22 Zum Beispiel sei »die Förderung von körperlicher Aktivität auch in jungem Alter unbedingt als eine auch gesundheitsökonomisch lohnende Investition anzusehen«, und deshalb »das Thema Bewegung dauerhaft auf die Agenda von Prävention und Gesundheitsförderung zu platzieren« (Rütten et al. 2005: 12), erschienen in der Reihe Gesundheitsberichterstattung des Bundes. 23 Dazu Körner (2008: 156ff.).

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kungsrealismus hängt, der Kontingenzbeobachtung nur in kontrolliertem Maße verträgt. In jedem Fall profitiert die Durchsetzungsreflexion des organisierten Sports von der harten Referenz auf wissenschaftlich verbriefte Gewissheit. Dass der organisierte Sport hier nicht nur als Lösung, sondern zugleich als Teil des Problems sichtbar wird, erscheint in funktionaler Hinsicht wiederum als Lösung: als Lösung von Bestandsproblemen, die die Fortsetzbarkeit kommunikativer Autopoiesis sichert. Denn solange es dicke Kinder, eingewoben in Diskurse um Folgen und Ursachen sport- und bewegungsbezogener Relevanz ›gibt‹, sind Beiträge des organisierten Sports sequenzierbar, und bleiben aus Sicht der (v.a. politischen) Umwelt förderungswürdig. Neben dem organisierten Sport bringt noch ein weiterer sport- und bewegungsbezogener Gesellschaftsbereich seine Potenziale ins Gespräch. Im Schulsport verbindet sich Sport mit einem Handlungsfeld, dem die Machbarkeitsannahme von der ersten Stunde an eingeschrieben ist, und ohne diese schlechterdings nicht könnte, was es können wollen muss: erziehen.

VII Viele jener Krisen, die moderne Gesellschaften in Zyklen beschäftigen (wie Arbeitslosigkeit oder Klimawandel), sind im System der Erziehung von hohem Informationswert. In nicht wenigen Fällen stimulieren hier Krisenresonanzen den Aufbau neuer Strukturen aus bestehenden Strukturen, passfähige Pädagogiken entstehen (Arbeitslosenpädagogik, Ökologische Pädagogik). Vergleichbares gilt für die Krise juveniler Körperlichkeit. Das Erziehungssystem reagiert strukturell betroffen. Erziehung bezeichnet das Anliegen absichtsvoller Veränderung von Personen durch darauf spezialisierte Kommunikation, die in Interaktionen realisiert werden.24 Ohne die Annahme von Machbarkeit sind Erziehungsansinnen nicht zu haben. Die Machbarkeitsannahme basiert auf einer doppelten Prämisse: Vorausgesetzt werden einerseits entsprechende Veränderungsmöglichkeiten auf Seiten der Klientel, grundsätzlich eingeführt durch eine Anthropologie der Weltoffenheit (Herder) und Perfektibilität (Rousseau), und sozusagen auf Maß geschnitten durch eine pädagogische Psychologie der Einwirkung (Herbart),

24 Vgl. Luhmann (2004: 159).

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in der eine gerichtete Außenbeeinflussung innerer Abläufe und Dispositionen modelliert wird.25 Zum anderen setzt Machbarkeit das Vorhandensein einer Art Technologie voraus, von der zielführende Lösungen erwartet werden können. Als planmäßige Veränderungsarbeit am Menschen steht Erziehung im Ruf einer hochwirksamen Kausalität, die – und das ist neben der doppelten Machbarkeitsprämisse der zweite entscheidende Punkt – der Defizite bedarf, um ihr Machbarkeitsanliegen entfalten zu können.26 Von Defiziten kündet bereits jede Absicht zu erziehen, insofern sie ausgeht vom Überwindungsbedarf eines Status quo, der nicht länger akzeptabel erscheint. Deutlicher noch kommt die Defizitorientierung in der Annahme einer Erziehungsbedürftigkeit zum Vorschein, die nicht selten unter Rückbuchung auf die Natur ausgleichsbedürftige Zustände humaner Unfertigkeit beschreibt, die sich auf kognitive, moralische sowie eben auch auf körperliche Entwicklungsdimensionen bezieht. Im Ausgang einer einflussreichen Anthropologie der Bedürftigkeit erfährt Erziehung gleichsam naturgemäße Rechtfertigung. Indem sie ihr naturalisierendes Bedürftigkeitskonzept zusätzlich um negativ konnotierte zivilisatorische Entwicklungen (Technologisierung, Ökonomisierung, McDonaldisierung etc.) erweitert, verfährt Erziehung sozusagen totalisierend. Nach Bedarf werden Defizitkomplexe benennbar, deren Diagnose und Bearbeitung ad infinitum weiter getrieben werden kann. Nach Oelkers (2002) besteht genau darin die Macht der Erziehung: Defizite verbindlich und Bearbeitungspotenziale benennbar zu machen. Vor diesem Hintergrund kommen einer Sportpädagogik die alarmierenden Gewichtszahlen erkennbar zupass, belegen diese im Medium harter Daten, was den rituellen Startpunkt ihrer Anstrengung markiert: die Semantik humaner Defizite. Moralisch und empirisch sekundiert, bezieht der pädagogische Topos, dass Kinder und Jugendliche der Erziehung ebenso bedürftig wie zugänglich sind, in Zeiten juveniler Fettmiseren weitere Plausibilität.27 Es muss etwas getan werden. Es kann etwas getan werden. Und

25 Vgl. Oelkers (1991: 111ff.). 26 Vgl. Oelkers (2001: 258ff.). 27 Nicht zufällig betritt hier die Krisenrhetorik zeitbombenmäßiger Bedrohung die Bühne: »Übergewicht ist sowohl für die individuelle als auch für die gesellschaftliche Entwicklung als Zeitbombe anzusehen, die es dringend zu entschärfen gilt. Insbesondere Ganztagsschulen bieten an dieser Stelle die Chance über

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dass etwas getan wird, ist gut. Denn die Zahlen sind schlecht. Secundum non datur. Das Erziehungssystem befleißigt sich seit Jahr und Tag einer Semantik, die Defizit- mit Machbarkeitsannahmen kombiniert, um Verbesserungsabsichten verlängert und dieses plausible Buሷndel auf ihr Klientel bezieht – und in regelmäßigen Abständen auf sich selbst. Das System hebt an zur (Binnen-)Reform. Das Auftaktargument ist bekannt. »Wenn die nachlassende motorische Leistungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen, einhergehend mit zunehmender Übergewichtigkeit, so überzeugend und wissenschaftlich fundiert belegt werden kann, wie es in den letzten Monaten geschieht, mòssen daraus zwangsläufig Schlussfolgerungen für eine Neuorientierung des Schulsports gezogen werden.« (Hummel 2005: 353)

Körper- und kindbezogene Defizite in der Umwelt28 des Erziehungssystems werden hier zum Anlass genommen, um auf Defizite im System aufmerksam zu machen: auf eine falsche konzeptionelle Ausrichtung von Sportunterricht bzw. Schulsport sowie auf Defizite schulischer Organisation. ªDie Schule hat sich in ihrem Anforderungsniveau vorhandenen motorischen Defiziten angepasst – und auch dem Ansinnen mancher Eltern, die Kinder ja nicht zu überfordern. […] Es ist an der Zeit zu zeigen, dass Sport und Bewegung mit Mühen verbunden sein können und es bedarf eines Unterrichts, der Kinder fördert und begeistert, aber darüber hinaus fordert.« (Lang 2006: 290)

Dass Schule als Mitverursacher der angezeigten Problematik angeklagt

ein größeres Sportangebot […] einen erheblichen Beitrag im Kampf gegen zunehmendes Übergewicht zu leisten.« (Brettschneider/Bünemann 2005: 73); vgl. auch Naul (2005: 72). 28 Die Systemtheorie unterscheidet System und Umwelt. Für Sozialsysteme unterscheidet sie inner- und außergesellschaftliche Umwelten. Sozialsysteme sind füreinander innergesellschaftliche Umwelten, unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Funktion und vereinen sich unter dem Aspekt ihrer Operationsweise (Kommunikation). Körper und Bewusstseinssysteme bilden aufgrund unterschiedlicher Operationsweisen (Leben/Denken) außergesellschaftliche ›Umwelten‹. Bei Körperdefiziten handelt es sich demnach aus Sicht des Erziehungssystems um ein (freilich selbstreferenziell erzeugtes) Umweltproblem.

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wird, variiert einen klassischen reformpädagogischen Topos, der gerade dann bequem in Anschlag gebracht werden kann, wenn die bevorzugte eigene Variante die beklagte Involviertheit zu beenden verspricht. Und Fitnessunterricht steht kaum im Verdacht seine Klientel zu unterfordern. Die eigene Alternative überzeugt gerade deshalb, weil ihre Stärke in der Kompensation vorheriger Programmschwächen liegt.29 Exakt das ist die Bezugslogik pädagogischer Differenzierung, der rekursiven Überarbeitung und Wiederholung ihrer Form in und durch Re-Form. Im Staffellauf fachdidaktischer Konzeptionen hat die Spaß- und Wahrnehmungsorientierung an das Prinzip Leistung zu òbergeben.30 Der pragmatische Charme einer entschieden auf Fitnesserziehung (als Mechanik der Einwirkung) abstellenden pädagogischen Praxis erschließt sich keineswegs allen mit der Reflexion von Sportunterricht befassten Beobachtern. Vielmehr erzeugt die didaktische Neuorientierung aus sich heraus den Anlass weiterer Reformreflexion, die im Sinne der Logik pädagogischer Rekursivität am Fitnessprogramm anschließt, dessen behauptete Stärken zur Schwachstelle erklärt und die eigene Alternative im Schema der Negation erwirtschaftet. Die dominante Ausrichtung auf Fitnessoptimierung erscheint dann als bedenkenswerte Reduktion von Sinnvielfalt auf eine Monokultur der Fitness, die das Potenzial pädagogisch begleiteter Erziehungs- und Bildungsprozesse gerade deshalb verfehle, weil diese notwendig (und paradox bestimmt) unbestimmt seien.31

VIII Dicke Kinder lassen sich nicht beliebig herbeireden. Ihre soziale Realität ist der Effekt einer Vielzahl unterschiedlicher kommunikativer Resonanzen, die sich auf komplexe Weise wechselseitig irritieren und Halt spenden. Dicke Kinder werden gerade deshalb zur Schlagzeile (Massenmedien), zur Zielscheibe intentionaler Veränderungsarbeit (Erziehung), zur Inklusionsfigur bewegter Gemeinden (organisierter Sport) oder zur Agenda von loose talk und bindender Entscheidung (Politik), weil ihre Realität (und wiederum

29 Vgl. Paschen (1997). 30 Vgl. Hummel (2005); Wydra/Leweck (2007). 31 Vgl. Beckers (2007).

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diese Realität als Problem) von Seiten der Wissenschaft hinreichend autorisiert ist. Weil Zahlen vorliegen, die das Zeug zur Krise haben. Die krisentypische Stimmung hängt konstitutiv ab von der Gewissheit, dass bezeichnete Defizite eindeutig und real sind. Indem sich eine Prävalenzraten ermittelnde empirische Forschung auf nur eine Seite schlägt, also Realität und nicht Konstruktion bezeichnet, Gewissheit und nicht Ungewissheit thematisiert, umhüllt sie sich selbst mit einer Eindeutigkeitsfiktion, die ungebremst weitermachen lässt. Dicke Kinder sind Thema. Und sie sind selbst dann noch Thema, wenn die Autorität der exakten Zahl verblasst. Kommunikation wechselt dann in den Modus sinnlich-moralischer Bedarfserzeugung, realisiert vor allem als Rück-Transformation abstrakter Zahlenwerte in konkrete Kinder: Es gibt übergewichtige Kinder. Man kann das sehen. Und jedes einzelne Kind zählt. Kind ist dann der Kitt, mit dessen Hilfe sich die Körperdefizitkommunikation ungestört von Gegenempirie oder abweichenden Moraloptionen plausibel fortsetzen lässt. Die zentrale Erfolgsbedingung für die soziale Karriere dicker Kinderkörper kann so zusammenfassend beschrieben werden als Konstruktion einer Nicht-Konstruiertheit, die empirisch zahlenmäßig und/oder empirisch-sinnlich den Eindruck stabiler Realitätsimplikation erzeugt und damit eine wesentliche Bedingung der eigenen kommunikativen Anschlussfähigkeit. Die Rolle einer daten- und gewissheitsproduzierenden Sportwissenschaft ist dabei eine Beobachtung wert. Allerdings ist festzuhalten, dass keineswegs hinter allem die Sportwissenschaft steckt. Den Alarmdiskurs 32 nähren selbstredend auch weitere andere epidemiologische Beobachter. Zudem existieren gleichermaßen themenbezogene Beiträge aus Kreisen der Sportwissenschaft, für die das Folgende deshalb nicht gilt, weil sie die neuerliche Körperkrise ebenfalls mit guten, z.B. historischen, pädagogischen oder soziologischen Gründen oder mittels Gegenempirie in ein anderes 33 Licht zu rücken wissen. Dennoch wäre der Krisendiskurs um die dicken Kinder der Gesellschaft ohne das Hinzutun der Sportwissenschaft zumindest so nicht entstanden. Auch und gerade sie bringt jene großen Zahlen und drastischen Bewertungen in Umlauf, derer es bedarf, um soziale Beobachter endgültig in Krisenstimmung zu versetzen. Sportwissenschaftliche Überge-

32 Vgl. Körner (2008: 117f., 149f.). 33 Z.B. Thiele (1999); Klein et al. (2005); Beckers (2007).

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wichtsforschung platziert sich im Rahmen kalkulierbarer Beobachtungsverhältnisse zwischen Wissenschaft, Massenmedien und Politik auf bislang erfolgreiche Weise doppelt: als Instanz zur Diagnose und Lösung des Problems. Nach innen erzeugt die Doppelrolle Dynamik. Auf ihrer Basis gelingt es, in einer Art Endlosschleife jene Daten zu produzieren, die Defizite bescheinigen und zugleich Lösung in Aussicht stellen. Zugleich ist die Doppelrolle Garant gelingender Umweltbeziehungen: Die Ergebnisse finden erwartbar Gehör in den Massenmedien, sichern die Aufmerksamkeit öffentlicher und politischer Reputationsauditorien und machen attraktiv für potente Forschungsförderer. Der daraus resultierende Nutzen in Zeiten etablierter Drittmittelorientierung an Hochschulen ist applausfähig. Unter dem Schutz dieser Orientierung gedeiht jedoch eine Form organisierter Blindheit, die neue Risiken birgt. Die vorauseilende Anpassung an externe Resonanzwahrscheinlichkeiten berührt zukunftsweisende Fragen disziplinärer Identität. Bereits zum jetzigen Zeitpunkt muss es als fragwürdige Ironie eines Bemühens um empirische Exaktheit gelten, dass dieses den Verstoß gegen eigene fundamentale Forschungsprinzipien im toten Winkel platzieren muss, um die öffentlichen Bühnen der Darstellung mit jener gebotenen Seriosität betreten zu können, derer es bedarf, um weiterhin irritationsfrei Zuständigkeit signalisieren und Ressourcenakquise betreiben zu können. Sportwissenschaft erweist sich auch in dem Maße als lernfähige Disziplin, wie sie dazu bereit ist, sich in selbstbezüglicher Volte von Beobachtungen auf Voraussetzungen und Folgen des eigenen Handelns irritieren zu lassen.

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Überlegungen zur Schließung von Wissensmärkten am Beispiel angewandter Sportwissenschaft EIKE EMRICH & LUTZ THIEME

E INLEITUNG Sportwissenschaft wurde in der Bundesrepublik Deutschland im Vorfeld der Olympischen Spiele 1972 universitär mit dem Ziel etabliert, möglichst gesichertes Wissen zur systematischen Beeinflussung sportlicher Leistungen zu entwickeln (vgl. Mevert 2010). Das Gelegenheitsfenster zur universitären Integration der Sportwissenschaft im Vorfeld der Olympischen Spiele in München war günstig. Sowohl die erkennbare Säkularisierung als auch die allgemeine Entwicklung der Hochschulpolitik erleichterten dieses Vorhaben. Die Sportwissenschaft sollte über die erfolgreiche Beeinflussung sportlicher Leistungen im Systemwettstreit zwischen sozialistischem Ostblock und kapitalistischem Westen zum Sieg des Westens beitragen. Insbesondere die Trainingswissenschaft und die Sportmedizin als sportwissenschaftliche Teildisziplinen sind in ihrer Entwicklung dadurch kurzfristig gefördert worden und konnten in der sich konstituierenden Sportwissenschaft eine Rolle spielen, die ihnen ansonsten wahrscheinlich nicht zugekommen wäre. Die Wirkung angewandter Sportwissenschaft auf die erzielte Leistung ist im Sport im Unterschied zu anderen Disziplinen klarer messbar. Insofern ist universitäre Sportwissenschaft angewandte Wissenschaft und Evaluationswissenschaft zugleich. Allerdings ist die Anwendung technokrati-

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schen Leistungswissens in der Praxis des Sports durch Regeln spezifisch eingeschränkt, indem nicht alles, was möglich ist, im Kontext der Leistungsbeeinflussung legaler- und legitimerweise angewendet werden darf. Sportwissenschaft muss also zur Erfüllung ihres Auftrages einerseits interdisziplinär den Gegenstand der leistungsbezogenen Intervention untersuchen, andererseits führt dieser Auftrag aufgrund der regelbedingten Einschränkung der Verwendung möglicher Befunde in der Praxis häufig zu einer freiwilligen Verengung von Forschungsfragen auf Forscherseite, womit eine Verengung von Forschungsperspektiven einhergeht. Da Sportwissenschaft von ihrem anwendungsbezogenen Gründungszweck her nicht primär im Sinne von Grundlagenforschung gedacht war, wurden und werden Sportwissenschaftler1 und die Sportwissenschaft in ihrer Leistungsfähigkeit als Disziplin immer noch in erheblichem Maße an den Erwartungen einer Sportpraxis gemessen, die vorrangig aus ihrer Perspektive nützliches, das heißt letztendlich im Sinne von Wenn-DannAussagen geeignetes Leistungswissen fordert. Im Bereich der Anwendung solchen Wissens kommt es aktuell zu einer Konkurrenzsituation zwischen universitären sportwissenschaftlichen Instituten und den in der DDR gegründeten, außeruniversitären Instituten wie IAT und FES, die sich auch im wiedervereinigten Deutschland im Auftrag des Deutschen Olympischen Sportbundes weiterhin der wissenschaftlichen Betreuung und Lenkung der (Leistungs-)Sportpraxis annehmen und hierfür mit erheblichen materiellen und personellen Ressourcen durch die öffentliche Hand ausgestattet wurden.

P ROBLEMSTELLUNG Das Handeln von Sportwissenschaftlern in der Universität orientiert sich idealtypischerweise an zentralen Werten und Ideen der Institution Wissenschaft. Inwieweit sich Spannungslinien daraus ergeben, dass die Forschungsförderung im Sport vorrangig auf die konkrete Bearbeitung von

1

Wenn wir im Folgenden lediglich die männliche Form verwenden, erfolgt dies aus Gründen der Lesbarkeit. Es sind jedoch immer Akteure beiden Geschlechts gemeint.

Ü BERLEGUNGEN ZUR S CHLIESSUNG VON W ISSENSMÄRKTEN

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Problemen der Leistungssteigerung bzw. -steuerung2 ausgerichtet ist, andererseits dies aber zwangsläufig eine Engführung von universitärer Forschung begünstigt und dadurch die etablierten Denkstile in der Sportwissenschaft (zu Denkstilen vgl. Fleck 1980: 37ff.) möglicherweise perpetuieren hilft, wird nachfolgend in seinen Auswirkungen auf Sportwissenschaft und Sportwissenschaftler diskutiert. Unsere Darstellung orientiert sich dabei an folgenden Fragestellungen: 1. Durch welche Werthaltungen ist die universitäre Wissenschaft allgemein gekennzeichnet und welche normativen Erwartungen ergeben sich daraus idealtypisch für den Wissenschaftler? 2. Inwieweit weichen die aus den universitären Werthaltungen resultierenden normativen Erwartungen an den Wissenschaftler im aktuellen Forschungsbetrieb außengesteuerten Erwartungen? 3. In welcher Konkurrenzsituation steht eine als angewandte Sportwissenschaft konzipierte Disziplin mit außeruniversitären Produzenten bzw. Anbietern von Wissen und was bedeutet dies für die Handlungsstrategien der Akteure? 4. Welche Spannungen zwischen inneren Gehorsamkeitsverpflichtungen und außengesteuerten Erwartungen ergeben sich für die Position des Sportwissenschaftlers? 5. Inwiefern kann es für den Sportwissenschaftler angesichts zunehmend außengesteuerter Erwartungen rational sein, wissenschaftliche Mythen zu perpetuieren?

2

Auch in anderen Bereichen der Sportwissenschaft geht es implizit um die Beeinflussung von Leistung, so etwa im Alterssport um die Bewahrung der Leistungsfähigkeit (also Bremsen des altersbedingten Rückganges), schnelle Wiederherstellung (im Reha-Bereich), Diagnose und Entwicklung von Leistungsfähigkeit verschiedener Altersgruppierungen (z.B. die Talentdiagnostik von Kindern und Jugendlichen) usw. In angrenzenden Bereichen wie der Sportökonomik steht die Verwertung sportlicher Leistung (Sport-Ökonomik) oder die Funktion und Symbolik sowie die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit (Sportsoziologie, Sportpsychologie, Sportphilosophie) usw. an prominenter Stelle. Darüber hinaus kommt es zu vielfältigen Überschneidungen in der Betrachtung des Phänomens Leistung zwischen den Teildisziplinen.

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Für die methodische Vorgehensweise hat uns Max Weber (1988 [1921]: 252; vgl. Albert 2005) mit seinem berühmten Zitat den Weg zur Untersuchung unserer Fragen gezeigt: »Interessen (materielle und ideelle), nicht Ideen beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber die ›Weltbilder‹, welche durch Ideen geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.« Neben dem methodologischen Individualismus, der geeignet ist, das aus Interessen resultierende zweckrationale Verhalten von Menschen zu untersuchen, ist weiterhin ein moderater methodologischer Holismus anzuwenden, der für die Analyse des Einflusses von Werten und Ideen als direkte Antriebe auf die Motivation von Akteuren geeignet ist, also die soziale Wirkung von Makro-Sachverhalten auf die Akteure untersucht. Werte sind für Weber somit im Sinne der Welt drei bei Popper (1973: 75f., 109ff.; genauer der normativen Welt 3a, s. Meleghy 1997: 163) Weichensteller des Handelns, das sich zwischen Wert- und Zweckrationalität bewegt. In der weichenstellerischen Konstellation von Werten und Ideen muss sich der mehr oder minder interessengeleitete Sportwissenschaftler im konkreten Betrieb von Wissenschaft zwangsläufig zwischen dem Normen befolgenden Homo sociologicus und dem nutzenmaximierenden Homo oeconomicus entscheiden.

1. W ISSENSCHAFT

UND

U NIVERSITÄT

Die Regeln der Institution Wissenschaft werden während der Sozialisation zum Wissenschaftler, die man in diesem Sinn als Hinführung zur und Hineinwachsen in die Institution der Wissenschaft begreifen muss, erworben bzw. vermittelt. Sie verpflichten den Wissenschaftler dazu, eigene Forschungsergebnisse der Fachwelt zu unterbreiten, die über sie kompetent urteilen kann. Geprägt durch kognitive Rationalität als zentralem Wertmuster (Parsons/Platt 1990: 121; vgl. 113ff.) stellt er sich durch die allen zugängig zu machende Publikation seiner Befunde der Diskussion in der scientific community. Dabei legt er methodische Schwachstellen und Grenzen des eigenen wissenschaftlichen Beitrages offen und berücksichtigt relevante Beiträge von Fachkollegen ohne Ansehen der Person, die er an den allgemein anerkannten Standards der jeweiligen Fachdisziplin entlang be-

Ü BERLEGUNGEN ZUR S CHLIESSUNG VON W ISSENSMÄRKTEN

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wertet, unabhängig davon, welche persönliche Beziehung er zu diesem Kollegen hat (zum reinen Ethos der Forschung s. Merton 1938). Organisierter und institutionalisierter Skeptizismus als zentraler Bestandteil der kognitiven Rationalität des Wissenschaftlers ist eine verlässliche Basis dafür, intellektuelle Unredlichkeit und Betrugsfälle aufzudecken. Vereinzelte Fälle intellektueller Unredlichkeit werden so relativ sicher entdeckt und über die damit verknüpften negativen Sanktionen das Wissenschaftsethos beständig regeneriert (vgl. Kurucz 1986). Daraus entwickelt sich ein spezifischer Habitus der wissenschaftlichen Strenge und der vollen Nüchternheit des Sachurteils, der nicht selten auch in alltäglichen Auseinandersetzungen zu einer Art zweiten Natur wird, die eine professionelle Deformation bzw. Verknüpfung von sozialer und kognitiver Schließung beinhaltet (Emrich/Fröhlich 2010). Wissenschaft also als Lebensform und Lebenshaltung zugleich (Mittelstraß 1982). Die Werthaltungen der Institution Wissenschaft werden beständig im Handeln der Akteure reproduziert, indem auf ihrer Grundlage normative Erwartungen für die Institutionsmitglieder formuliert und soziale Deutungsmuster im Handlungsfeld Wissenschaft angeboten werden. Wissenschaftliche Handlungen werden so auf der Grundlage dieser normativ verankerten Werthaltungen und Deutungsmuster in sozialen Rollen gebündelt und somit mittels expliziter und spezifischer Regeln normativ gesteuert. Zu dieser normativen Steuerung gehört auch eine spezifische Logik der Praxis in Form von Wartezeiten und Statusbarrieren, Ritualen, obligatorischen Passagepunkten usw. (allgemein zur Produktion und Reproduktion kulturellen Kapitals Bourdieu 1987) Universitär produziertes Wissen als allen zugängliches öffentliches Gut, das in mehrheitlich staatlich finanzierten Universitäten von Wissenschaftlern im Tausch gegen Gehalt und Reputation produziert wird, wird solange als Vertrauensgut hoher Qualität wahrgenommen, solange die skizzierten Regeln bei der Produktion eingehalten werden.3 Häufige, nicht geahndete Verletzungen z.B. in Form von Betrug reduzierten den Glauben an die Regeltreue (Verlässlichkeit), das Vertrauen in Wissenschaft sowie den Wert des Wissens. Gleichzeitig würde das die Neigung des Staates reduzieren, die Produktion wissenschaftlichen Wissens zu subventionieren.

3

Selbst die Ergebnisse von Industrieforschung können auch nur eine begrenzte Zeit durch Patente von der Verwertung durch Dritte ausgeschlossen werden.

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Die für die Wissensabnehmer nicht beobachtbare Regelgebundenheit der Produktion führt zwangsläufig zu einer Asymmetrie zwischen Produzenten und Konsumenten von Wissen. Die Nachfrager wissen nicht, wie das Wissen produziert wurde, sie können lediglich daran glauben, dass bestimmte Standards eingehalten wurden. Insofern ist der Glaube an die Geltung einer starken innerlichen Verpflichtung des Wissenschaftlers im Sinne des reinen Ethos der Forschung ein Qualitätsmerkmal universitär produzierten Wissens, das kaum durch wissenschaftsexterne Kontrolle und Überwachung kompensiert werden kann. Externe Überwachung ist insofern kein wirklich geeignetes Substitut, als den Überwachern gewöhnlich die entsprechenden Fachkenntnisse und Sozialisationserfahrungen fehlen, die man braucht, um die Werthaltigkeit spezialisierter Forschung zu bewerten. Dies gilt umso mehr, als Spezialisierung und Arbeitsteilung der Wissenschaft kontinuierlich voranschreiten. Schon für Weber (2002: 588) war 1919 bereits klar, dass Wissenschaft »in ein Stadium der Spezialisierung eingetreten ist, wie es früher unbekannt war, und dass dies in alle Zukunft so bleiben wird. Nicht nur äußerlich, nein, gerade innerlich liegt die Sache so: dass der Einzelne das sichere Bewusstsein, etwas wirklich ganz Vollkommenes auf wissenschaftlichem Gebiet zu leisten, nur im Falle strengster Spezialisierung sich verschaffen kann.« Gerade angesichts fortschreitender Arbeitsteilung und immer höher spezialisierter Einzelkönner, die von wenig immer mehr wissen, bedarf die Koordination von Arbeit also in höchstem Maße der Internalisierung spezifischer Werthaltungen, wie sie aus dem reinen Ethos der Forschung und der Idee von Wissenschaft resultieren. Nur wenn Spezialisten ihr spezifisches Wissen nach bestem Wissen und Gewissen entsprechend den Werten der Wissenschaft generieren, kann den Ergebnissen, die sogar der einzelne Fachkollege aufgrund der Spezialisierung teilweise gar nicht mehr beurteilen kann, vertraut und darauf aufgebaut werden. Die von Weber aufgezeigte Differenz zwischen äußeren Bedingungen der Wissenschaft und dem inneren Beruf des Wissenschaftlers scheint sich bis heute weiter vertieft zu haben. Die äußeren Bedingungen einer akademischen Karriere waren und sind einerseits durch eine bis heute aufzeigbare ungewöhnliche Riskanz, die Weber als hasard bezeichnet (vgl. Weber 2002 [1919]: 583; vgl.: 585), gekennzeichnet, andererseits zeigt sich auf der Organisationsebene eine weiter voranschreitende Entwicklung der Universitäten hin zu staatskapitalistischen Unternehmungen, die nicht ohne Be-

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triebsmittel größten Umfangs verwaltet werden können und dadurch eben auch in spezifische organisatorische Abhängigkeiten vom Staat geraten.4 Der ›innere Beruf‹, also die Berufung zum Wissenschaftler verlangt aus idealtypischer Sicht leidenschaftliches Engagement für die Wissenschaft und gleichzeitig Distanzierung gegenüber dem Gegenstand eigener Forschung. »Persönlichkeit« auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der, der rein der Sache dient«, heißt es bei Weber (2002 [1919]: 591). Die Institution der Universität im Sinne Humboldts stellte dafür einen Rahmen bereit, dass genau jene Eigenschaften produktiv wirksam werden konnten (zur Situation der Universität in Deutschland s. Emrich/Fröhlich 2010). Aktuell tritt zur institutionell verbrieften Freiheit von Forschung und Lehre (Art. 5, Abs. 3 GG) die zunehmende Ressourcenabhängigkeit des (von einigen privaten Anbietern abgesehen) staatskapitalistischen universitären Betriebs. Aufgrund dieser Ressourcenabhängigkeit gerät die Institution Universität auf der Ebene der Organisation in die partielle Abhängigkeit vom Staat. In der Folge wird universitätsintern die Bedeutung der Verwaltung gegenüber dem Lehrkörper erhöht (Scholz/Stein 2010) und universitätsextern die Institution Universität den politischen Beschlüssen und Empfehlungen von Bildungskommissionen bis hin zur Europäischen Union zunehmend ausgeliefert (s. dazu Emrich/Fröhlich, 2010). Der Wissenschaftler selbst wird nach glücklichem Abschluss einer riskanten Karriere in Form der Rufannahme durch zunehmende Verwaltungsund Routinetätigkeit wesentlich daran gehindert, seinen forscherischen Neigungen, für die er ja spezialisiert ist, in vollem Umfang nachzugehen. Seine Leidenschaft für eine wissenschaftliche Sache wird überschattet durch institutionelle Anforderungen, die Drittmitteleinwerbungen nahelegen und emergente Reputationsmechanismen durch in Impact-Faktoren gemessenen Publikationsdruck ergänzen. Beides mündet in Überinvesti-

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»Und es tritt da der gleiche Umstand ein wie überall, wo der kapitalistische Betrieb einsetzt: die ›Trennung des Arbeiters von den Produktionsmitteln‹. Der Arbeiter, der Assistent also, ist angewiesen auf die Arbeitsmittel, die vom Staat zur Verfügung gestellt werden; er ist infolgedessen vom Institutsdirektor ebenso abhängig wie ein Angestellter in einer Fabrik: – denn der Institutsdirektor stellt sich ganz gutgläubig vor, daß dies Institut ›sein‹ Institut sei, und schaltet darin –, und er steht häufig ähnlich prekär wie jede ›proletaroide‹ Existenz und wie der assistant der amerikanischen Universität.« (Weber 2002: 484)

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tionsstrategien so genannter Rattenrennen (Akerlof 1976: 599) auf individueller Ebene und in ruinöse Rüstungswettläufe der konkurrierenden Organisationen, die vom jeweiligen Träger und aus Eigeneinnahmen der Organisation zu bestreiten sind. Nicht selten kommt es aufgrund dieses Drucks auch zu sozialen Schließungen in Form von Seilschaften (zum Begriff s. Emrich/Papathanassiou/Pitsch 1996) und zu Zitationskartellen usw., um Produktionsvorteile zu sichern und Absatzchancen zu wahren. Die Wissenschaft als autonomes System, in dem der Forscher sich selbst Rätsel aufgibt (Kuhn 1970), erhält im Zuge dieses Prozesses externe Aufträge mit genau angegebener Extension, wie z.B. die Sportstättenentwicklungsplanung oder auch öffentlich vermittelte Aufträge, die sich als Folge einer Krise im Sinne der Gefährdung eines Kollektivgutes ergeben (z.B. die Erforschung vermeintlich nachlassender motorischer Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen). Deren Bearbeitung, die häufig von Drittmittelgebern außerhalb des Wissenschaftssystems finanziert wird, ist insofern für die Mitglieder der scientific community rational, als man damit Aufmerksamkeit und Ressourcen erhält. Die alleinige Definitionsmacht zur Verleihung von Reputation lag früher mehr oder minder exklusiv in der scientific community. Im Zuge öffentlicher Beauftragung und vorrangig medial bestimmter Aufmerksamkeitsgewinner übernehmen andere Bezugsgruppierungen nicht mehr vorbehaltlos deren Reputationszuweisungen, sondern bauen eigene Mechanismen auf, innerhalb derer positiv wertbesetzte Reputation zunehmend durch Aufmerksamkeit ersetzt wird. Das Definitionsmonopol der scientific community wird so abgeschwächt und es kommt vermehrt zu vorrangig medial und politisch bestimmten Aufmerksamkeitszuweisungen, die wiederum hilfreich bei der Einwerbung öffentlicher Forschungsaufträge sind.

2. W ISSENSCHAFT

UND

W ISSENSMARKT

Dem Wissenschaftler als Angehöriger einer Universität steht vor diesem multifaktoriellen Hintergrund ein breites Spektrum der Verwendung seiner Arbeitskraft zur Verfügung. Seine Entscheidung über deren Verwendung berücksichtigt grundsätzlich sowohl materielle als auch immaterielle Interessen, ist aber auch durch die individuell variierende normative Wirkung der Institution auf sein Handeln beeinflusst. Er ist nunmehr gefordert ratio-

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nal abzuwägen, wie er seine Zeit für welche Projekte mit welchen Forschungsfragen einsetzt und welcher Nutzen aus den antizipierten Ergebnissen für wen entstehen kann. Gleichzeitig muss er abwägen, ob seine Verhaltensweise angesichts der normativen Verpflichtungen der Institution akzeptabel ist. Die Art dieser Wahl bestimmt wesentlich die Gütereigenschaften und damit den Tauschwert des am Ende einer Wissensproduktion entstandenen Outputs. Insofern handelt es sich aktuell um eine anomische Situation im Sinne Mertons (1968), in der zwar die Ziele der Universität und der Wissenschaft bekannt sind, jedoch nur schwer mit den legitimerweise zur Erreichung der Ziele einsetzbaren Mitteln erreicht werden können. Zudem weisen weder Ziele noch Mittel jenes hohe Maß an Verbindlichkeit auf, das für die deutsche Universität humboldtscher Prägung und ihre Vertreter als verbindlich angenommen werden kann (Emrich/Fröhlich 2010), so dass durch die Situation den Betroffenen weder die Flucht in einen normativen noch einen funktionalen Ritualismus nahegelegt wird. So entstehen faktisch normative Opportunisten, die Ziel und Mittel akzeptieren, sich aber über institutionelle Normen zeitweilig hinwegsetzen (Dubin 1967: 245, zit.n. Lamneck 1983: 131) und Opportunisten der Mittel, die vorgeschriebene Mittel zugunsten illegitimer bewusst ablehnen (Dubin 1959: 161, zit.n. Lamneck 1983: 131). Dies schließt ein Weiterleben der alten Verbindlichkeit im Sinne des reinen Talks auf der Legitimationsebene (vgl. dazu Brunsson 1994) bzw. der inszenierten Geltung in der Universität nicht aus, um sich weiterhin den hohen Ressourcenzufluss zu sichern. Allerdings drängt sich auch hier die Vermutung auf, dass insbesondere von Wirtschaft und Politik selbst der Talk über die Gültigkeit der alten Werthaltungen, wie sie sich aus dem reinen Ethos der Forschung ergeben, nicht mehr belohnt und als antiquiert betrachtet wird. Der Output wissenschaftlicher Produktion kann zunächst als Aussagen mit Wahrheitsanspruch und einem Vorhersagewert (vgl. dazu auch den Code wahr/unwahr bei Luhmann 1992) beschrieben werden, auch wenn diese Orientierung im täglichen Produktionsprozess nicht immer deutlich hervortritt (Knorr Cetina 1991). Es werden Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge formuliert, auf deren Grundlage Vorgänge der natürlichen und sozialen Welt zielgerichtet beeinflusst werden können. Der Wert einer durch Wissenschaftler produzierten Aussage bemisst sich für diesen aus den ihm für diese Aussage zufließenden immateriellen und materiellen Zuwendungen. Immaterielle Zuwendungen können sich z.B. aus einer gestiegenen

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Reputation innerhalb einer Peergroup, aus dem Erhalt eines Preises oder einer Auszeichnung, aus gesellschaftlicher Wertschätzung, der Durchsetzungsfähigkeit eigener Argumentationsfiguren, der erhöhten Legitimation der eigenen Arbeit oder auch aus der Stillung eigenen Wissensdurstes speisen (vgl. Frey 2010). Materielle Vorteile in Form von Einkommen werden durch den exklusiven Verkauf der Arbeitsleistung an einen Arbeitgeber und der Veräußerung der Teilhabe an wissenschaftlichem Output an verschiedene Nachfrager generiert. Der Tauschwert der Arbeitskraft und des Gutes ›Teilhabe an wissenschaftlichem Output‹ richtet sich nach der Nachfrage potenzieller Arbeitgeber bzw. dem Wert der wissenschaftlichen Erkenntnisse für nachfolgende Verwertungsprozesse durch andere Individuen bzw. als Produktionsfaktoren für Industrie, Handel, Gewerbe und öffentlichen Institutionen. Grundlagenforschung und Wissen mit sofortigem Marktanschluss stellen dabei zwei Pole eines Kontinuums dar. Während sofort anschlussfähiges Wissen für den Nachfrager außer den Beschaffungskosten keine weiteren Investitionen erfordert, ist die Überführung von Grundlagenwissen in anschlussfähiges Wissen stark risikobehaftet. Betriebswirtschaftliche Investitionskostenrechnungen erweisen sich dabei in ihrer Anwendung als ungeeignet, weil der Transformationsprozess in marktanschlussfähiges Wissen ein mit vielen Unwägbarkeiten behafteter und letztlich ergebnisoffener Prozess ist. Renditeüberlegungen ergebnisorientierter Organisationen werden also zwangsläufig dazu führen, wissenschaftlichen Output in den Bereichen nachzufragen, die möglichst hohe Renditechancen versprechen. Zu den Nachfragern gehören auch Organisationen im Sport, bei denen es entweder um kurzfristige Gewinnorientierung (z.B. kommerzielle Ligen im Fußball), um sportlichen Erfolg (z.B. die Spitzenverbände) oder um direkte Wirkungen bei Vereinsmitgliedern und mittelbare für das Gemeinwohl (z.B. jede Form von Breitensport im Verein) geht. Bei der Einschätzung dieser Renditechancen bedienen sich diese Organisationen im Regelfall eigener Spezialisten in Form von wissenschaftlich ausgebildeten Personen (z.B. Koordinatoren für Wissenschaft in Spitzenverbänden), die aufgrund des hohen Spezialisierungsgrades jedoch mindestens komplementär auf die Informationen von Wissenschaftlern angewiesen sind, so dass von einer Informationsasymmetrie auszugehen ist. Diese Informationsasymmetrie dürfte im Bereich der Grundlagenforschung größer sein als in der Nähe marktanschlussfähiger Wissensproduktion. Wird die

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Rendite als Differenz zwischen Ertrag und Aufwand konzipiert, beinhaltet der Aufwand die Aufwendungen, die zur Beschaffung eines bestimmten Wissensniveaus notwendig sind. Der Ertrag ist abhängig vom Lösungsbeitrag des neuen Wissensstandes für ein formuliertes Problem. Da die formulierten Probleme technischer, funktionaler aber auch gesellschaftlicher Natur sein können und die Preisbildung für Lösungen gesellschaftlicher Probleme keinem Marktregulativ unterworfen ist, wächst der Ertrag neu produzierten Wissens auch mit der gesellschaftlich anerkannten Größe bzw. Dringlichkeit des Problems, zu dessen Lösung das neue Wissen beitragen kann. Insofern ist verständlich, dass die mediale Produktion von Dringlichkeit in Form von Krisenkonstruktionen sprunghaft zunimmt (vgl. Hüttl 1998, zum negativen Kassandra-Symptom) und sich Wissenschaftler medial auch als Krisenproduzenten betätigen. Die öffentliche Hand in Deutschland subventioniert die Produktion solchen sportwissenschaftlichen Wissens, das der Erzeugung höherer Renditechancen der Sportorganisationen im Bereich des Spitzensports dient, also mehr Medaillen ermöglicht. Dazu bedient sich die öffentliche Hand gewissermaßen als Koproduzent der Universitäten und ihrer sportwissenschaftlichen Institute, was die Kosten der Wissensproduktion für den Bund senkt, da er ja auf von Ländern finanzierte Universitäten zurückgreifen kann. Öffentlich finanzierte Förderprogramme generell, z.B. die öffentlich finanzierte Beschäftigung von Wissenschaftlern in Hochschulen und deren Betrieb, sind aus dieser Perspektive Subventionen, die das Marktgleichgewicht zwischen Wissensproduzenten und Wissensnachfragern verschieben. Man stelle sich im Sport nur einmal vor, wie viele Spitzenverbände sportwissenschaftliches Wissen nachfragten, wenn sie selbst in vollem Umfang für seine Produktion zahlen müssten Die öffentliche Subventionierung von Forschung kann nicht nur im Sport mit dem Konzept der meritorischen Güter (Musgrave 1957) ordnungspolitisch gerechtfertigt werden. Bei vielen Wissensbeständen dürfte es sich um öffentliche Güter handeln, deren Produktion der Staat ebenfalls über die Finanzierung von Hochschulen, anderen inhaltlich ungebundenen Forschungseinrichtungen (z.B. Max-Planck-Institute) sowie mithilfe von Förderprogrammen sichert. Eine hinreichende institutionelle Finanzierung ermöglichte die Entscheidungsfreiheit des Wissenschaftlers, sich der Produktion des Wissens zuzuwenden, die seinem Ethos als Wissenschaftler und seinem Interesse entspricht. Bei dieser Entscheidung muss er nicht,

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kann aber auf Anreize aus dem Wissensmarkt oder aus Förderprogrammen reagieren. Zwangsläufig führt eine unzureichende institutionelle Finanzierung bei gleichzeitigen außengesteuerten Erwartungen bezüglich entsprechender Drittmitteleinwerbung zu einer Hinwendung zu Förderprogrammen oder zum Gang auf den Wissenschaftsmarkt, ohne dabei allerdings a priori zwingend die Werthaltung des Wissenschaftlers aufgeben oder Reputationseinbußen hinnehmen zu müssen. Je stärker dabei allerdings der Druck der outputorientierten Außensteuerung wird, umso geringer wird die Chance, dass die Bindung an die zentralen Werthaltungen der Institution Wissenschaft erhalten bleibt. Zu dieser Entkoppelung tragen u.a. auch die tatsächlich oder scheinbar verkürzten Halbwertzeiten wissenschaftlichen Wissens, die Reduzierung von Planungshorizonten in Zielvereinbarungen und auch die Zunahme karriereimmanenter obligatorischer Passagepunkte bei. Darüber hinaus vermindert das Streben von Wissenschaftlern nach materiellen und immateriellen Erträgen aus ihrer Wissensproduktion bei gleichzeitiger Zunahme der Anzahl der Wissenschaftler sowie der Versuch, obligatorische Passagepunkte der Wissenschaftskarriere als quantifizierbare Zugangskriterien rechtssicher zu gestalten, die Wirkung normkonformer Sozialisation im Sinne des reinen Ethos der Forschung.

3. D IE M AKROEBENE – D ER (S PORT -)W ISSENSCHAFTLER ZWISCHEN M ULTIPRINCIPALEN UND M ULTIAGENTEN Die bislang beschriebene Wirkung der Institution Wissenschaft im Allgemeinen und der Sportwissenschaft im Besonderen auf die Antriebe und Motive der Akteure im Sinne der Logik der Situation kann je nach Einzelfall entlasten oder belasten. Da die Sozialstruktur »Sportwissenschaft« als Potenzial für ihre Akteure wirkt (Coleman 1991: 359), bleibt ihre Beschreibung ohne die Berücksichtigung von Entwicklungen auf der Makroebene einerseits und der Betrachtung der Mikroebene der individuellen Interessen und Entscheidungen andererseits unvollständig. Dazu bedarf es zunächst einmal der Analyse der Wirkungen der Situation auf das Verhalten des ›mittleren Akteurs‹.

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Die aktuellen Bedingungen der Universität erhöhen die Notwendigkeit einer Drittmittelfinanzierung, Impact gesteuerter Publikationen und medialer Resonanz, so dass die Gefahr wächst, Entscheidungsspielräume unter Inkaufnahme der Verletzung der Grundsätze des reinen Ethos der Forschung im Sinne Mertons (1938) zu nutzen. Die Nutzung solcher diskretionärer Spielräume5 ist besonders im Fall solcher Finanz- bzw. Auftraggeber (Principale) zu erwarten, die nicht originär wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen verpflichtet sind (zur Institutionenökonomik s. Richter/Furubotn/ Streissler 2003). Überall dort, wo die Befunde aus beauftragter Forschung nicht nur dem Erkenntnisgewinn, sondern auch materiellen Gewinnchancen und/oder politischen (Legitimations-)Zielen dienen, wird der Forscher (Agent) dann kurzfristig seine Chancen auf Folgeaufträge erhöhen, wenn er erwartungskonforme Befunde liefert. Jener universitäre Auftragnehmer erhöht also seine Chancen auf Folgeaufträge durch externe Finanzgeber, der Spielräume bei der Interpretation seiner Daten im Sinne des Auftraggebers nutzt und eine Konfrontation mit auf Wissensmärkten hoch gehandelten Wissensinhalten vermeidet, und zwar so lange, wie noch keine kritische Masse gegenläufiger Wissensinhalte existiert. So erklärt sich zumindest zum Teil die Dominanz bestimmter wissenschaftlicher Mainstream-Themen (vgl.

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Abweichend von den idealtypischen Regeln der bürokratischen Herrschaft im Sinne Max Webers kommt es bei Nutzen maximierenden Akteuren, die bei unvollständiger Information handeln, zwangsläufig zu Zieldivergenzen zwischen Principalen und Agenten (Schumpeter 1942: 279, 282; Herder-Dorneich 1959; Buchanan/Tullock/Buchanan 1962; Niskanen 1971; Shepsle, 1992: 113), die auf der Abweichung zwischen den Zielen, die die Principale ansteuern und demjenigen, das der Agent ansteuert, beruhen. Solche Divergenzen sind in Organisationen weit verbreitet und werden als ›bureaucratic drift‹ bezeichnet. Folgende Annahmen prägen allgemein den bureaucratic drift: a) Mitarbeiter in Verwaltungen nutzen diskretionäre Handlungsspielräume, b) sie versuchen aus weitgehend egoistischen Zielen, den ihnen zur Verfügung stehenden Apparat und das ihnen zustehende Budget zu maximieren, c) verfolgte individuelle Ziele sind: Aufstieg, Beförderung, eine bessere Bezahlung, Macht und Gestaltungsmöglichkeiten, aber auch der Versuch, sich der Kontrolle durch den Pincipal zu entziehen und d) geschicktes Agenda-Setting ermöglicht Verwaltungsmitarbeitern eine Beeinflussung der Auszahlung des Principals.

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Merton 1985) sowie die wissenschaftssoziologischen Befunde, auf die Kuhn (1970; 1974) seinen Begriff der Normalwissenschaft aufbaut. Die wissenschaftliche Schulenbildung fördert diesen Prozess. Diese Bedingungen bedeuten für den Spielräume nutzenden, erwartungskonformen Auftragnehmer kurzfristig mehr Drittmittel, Folgeaufträge und soziale Anerkennung und damit auch eine Stärkung seiner Möglichkeiten, als Principal in anderen Kontexten zu agieren. Im Extremfall kommt es bei der Nutzung von diskretionären Spielräumen sogar zu abweichendem Verhalten in Form von Datenfälschung. Langfristig schließt sich so der Wissensmarkt für innovative Ergebnisse, die nicht selten den Interessen des Auftraggebers zuwiderlaufen, das Vertrauen in die universitäre Sportwissenschaft und ihre Leistungsfähigkeit wird geschmälert. Allerdings ist die Wirkung des Vertrauens in dieser spezifischen sozialen Beziehung zwischen Auftragnehmer und Auftraggeber zweiseitig: Wenn der Sportwissenschaftler für Praktiker opportune Ergebnisse liefert, kann der Eindruck entstehen, Sportwissenschaftler könnten nur wenig mehr als Praktiker mit wissenschaftlichem Studium auch schon können. ›Das wussten wir doch schon vorher‹ oder ›Dazu hätten wir keinen Wissenschaftler gebraucht‹. Wenn die akzeptierten Ergebnisse/Befunde/ Diagnosen sich mittelfristig als unzutreffend herausstellen, wird der Anspruch der Verlässlichkeit des Wissens untergraben. Insofern ist die Nutzung von Interpretations- und Deutungsspielräumen Ausdruck des Verhältnisses von Sportwissenschaft und Sportpraxis unter der Bedingung einer meist zum Zweck der Leistungsoptimierung drittmittelfinanzierten Forschung. Wenn etwa die Ergebnisse sportwissenschaftlicher Evaluation in einem Markt für sportwissenschaftliche Forschungsergebnisse dann verstärkt nachgefragt werden, wenn sie den Interessen eines Auftraggebers besonders entsprechen, kann ein Forscher als Auftragnehmer sich grundsätzlich an zwei Handlungsalternativen orientieren. Erstens er berichtet wahrheitsgemäß unter Offenlegung aller Schwächen und unter Berücksichtigung des Geltungsbereiches der Befunde. Da dies nur belohnt würde, wenn gleichzeitig alle Forscher sich ähnlich verhielten, stellt sich zwangsläufig eine Tendenz zur Grenzmoral (Briefs 1957; vgl. Rauscher 1988: 332f.) ein. Zweitens berichtet er wahrheitsgemäß ohne Nutzung seiner Spielräume und erhöht damit das Risiko, Erwartungen eines Auftraggebers zu enttäuschen, die andere Forscher unter Nutzung ihrer Spielräume nicht enttäuschen. Lediglich eine Orientierung am reinen Ethos der

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Forschung kann also ein solches Verhalten verhindern, aber nur um den Preis des Ausscheidens des Wissenschaftlers aus der Auftragsforschung. Damit kommt es zum interessanten Phänomen, dass nur derjenige im Wissensmarkt verbleibt, dessen normative Bindung schwächer ist (zur Logik solcher Probleme Homann/Pies 1994; Homan/Kirchner 1995). Insofern ist ein Auftragnehmer, der mit der Untersuchung von z.B. Programmwirkungen im Leistungssport von einem Auftraggeber beauftragt wurde, dann zunehmend geneigt, im Rahmen seiner Spielräume solche Deutungen seiner Befunde zu liefern, die den Erwartungen seiner Auftraggeber genügen, wenn er sich am normativen Druck der Wissenschaft weniger orientiert, was umso leichter fällt, je mehr die Praxis ihn für seine Leistungen lobt, wobei diesem Lob gewöhnlich keine Wirkungsevaluation zugrunde liegt. Die Orientierung an den Erwartungen des Auftraggebers gilt insbesondere für anwendungsorientierte wissenschaftliche Begleitforschung. Die Tatsache, dass diese Art von Forschungsförderung in der Sportwissenschaft in hohem Maße über das Bundesinstitut für Sportwissenschaft erfolgt, erhöht diesen Druck. Die Konstruktion des Bundesinstitutes für Sportwissenschaft (BISp) als gemeinsame Agentur (zu ›common agencies‹ grundlegend Bernheim/Whinston 1986; Dixit/Grossman/Helpman 1997), bei der mehr als ein Auftraggeber (hier der Deutsche Olympische Sportbund und die Bundesregierung über das Bundesministerium des Innern) Autorität an eine Agentur delegieren, verstärkt den Interessenkonflikt von zweckfreier universitärer sportwissenschaftlicher Forschung einerseits und dem öffentlichen Auftrag zur Erfolgssteigerung zwecks nationaler Repräsentanz andererseits nochmals. Im Fall von Bundesregierung und universitären Forschungseinrichtungen sind die Interessen als Auftraggeber und Auftragnehmer zumindest teilweise gegensätzlich. Die Bundesregierung, die über das BISp faktisch als mitfinanzierender Koproduzent auftritt, hat das Interesse, mit möglichst wenig Ressourceneinsatz nützliches Anwendungswissen im Sinne der Erzielung maximaler sportlicher Erfolge bei Einhaltung bürokratischer Transparenzregeln zu generieren. Der Deutsche Olympische Sportbund strebt die Verfügungsrechte für diese Art von Anwendungswissen zwecks gesteigerter Medaillenausbeute an, ohne selbst die Kosten für die Entwicklung tragen zu müssen. Die dem Wissenschaftsethos verpflichteten universitären Forschungseinrichtungen wollen vorrangig forschen, was die Generierung von Wissen zwecks Maximierung sportlicher

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Erfolge nicht ausschließt. Sie sind jedoch angesichts zunehmender institutioneller Absicherung ihrer Forschung zunehmend darauf angewiesen, in Konkurrenz untereinander ihre Ressourcenzuweisungen über das BISp zu maximieren, um den außengesteuerten Erwartungen im Konkurrenzkampf der Wissenschaftsorganisationen zu genügen.6 Die sportbezogene Forschungsförderung wird damit durchgängig organisiert wie Industrieforschung. Die öffentliche Hand bedient sich über das BISp der universitären Institute als Auftragnehmer. Auftragnehmer für Forschungsprojekte werden durch die Agentur BISp so ausgewählt, dass verborgene Absichten (hidden intention) und versteckte Eigenschaften (hidden characteristics) vor Vertragsabschluss eliminiert werden und Moral-Hazard-Probleme im Nachgang (wenn sich etwa der Auftragnehmer nach Vertragsabschluss erwartungswidrig verhält) erst gar nicht entstehen. Damit kommt es zu einer doppelten Problematik, nämlich einerseits zu Spannungslinien innerhalb der Sportwissenschaft zwischen finanzierten Auftragnehmern und anderen Wissensproduzenten und den Auftraggebern. Damit verbunden ist die Bevorzugung von vermeintlich weniger verborgenen Absichten und verborgenen Handlungen aufweisenden technisch- naturwissenschaftlichen Disziplinen. Dies führt jedoch zur Verdrängung der die wissenschaftliche Redlichkeit sichernden Werthaltungen und gipfelt u.a. in den in der Vergangenheit beobachtbaren Formen organisierter Heuchelei in Teilen der (Sport-)Medizin, die zugleich Gaspedal und Bremse im Bereich der Dopingbekämpfung waren.7 Gewollte Nebenfolge dieser Selektionsprozesse ist eine selektive Wahrnehmung der potenziellen Auftragnehmer aus Sicht der Auftraggeber, indem nur noch diejenigen infrage kommen, die mit höherer Wahrscheinlichkeit und in der Vergangenheit erprobt erwartete Deutungen liefern, was wiederum zu einem MatthäusEffekt führt (wer da hat, dem wird gegeben, wer da wenig hat, dem wird

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Unabhängig davon ist immer auch eine Konstellation der Wissensproduktion denkbar, bei der die institutionelle Grundausstattung und das freie Forschungsinteresse dem Wissenschaftler eine Wissensproduktion ermöglichen, deren Inhalt auf dem Wissensmarkt nicht nur nicht nachgefragt, sondern dort gehandelten Wissensinhalten sogar entgegensteht und deren Wert bedroht.

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Deutlich wurde dies z.B. in der Verstrickung Freiburger Universitätsärzte in die Dopingpraktiken im Radsport.

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genommen; Merton 1968).8 Zumindest auf der Ebene der Organisation führt die so durch die individuelle Nutzung der Spielräume vergrößerte Ressourcenallokation zu Reputationsgewinnen. Damit kommt es zur Paradoxie im Sinne der Institution der Wissenschaft, dass eine durch Verengung von Fragestellungen und Ausschluss von Unsicherheit gekennzeichnete Wissensproduktion außengesteuerten Erwartungen besser genügen kann. Darüber hinaus gewinnen mit der Engführung von Fragestellungen, einer Schließung von Wissensmärkten und der zunehmend fehlenden Absicherung zweckfreier Forschung Werturteile wieder an Bedeutung, da diese nicht nur Entscheidungen des Wissenschaftlers, sondern auch über das agenda setting der Auftraggeber und dessen Verarbeitung innerhalb der Wissenschaftsorganisationen Einfluss auf die Produktion von Wissen nehmen können.

4. D IE M IKROEBENE – D ER (S PORT -)W ISSENSCHAFTLER ZWISCHEN HOMO SOCIOLOGICUS UND H OMO OECONOMICUS Die generell an sportwissenschaftlicher Wissensproduktion interessierten Akteure haben im universitären Kontext prinzipiell weitgehende Entscheidungsfreiheit in Bezug auf den Einsatz der ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen und mithin über das Ziel (ausgedrückt in Forschungsfragen) und die Art und Weise der Wissensproduktion. Die Entscheidung zur konkreten Produktionsfunktion kann nunmehr aufgrund eines intrinsisch9 mo-

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Die Ausführungen Treutleins (2008) in einem öffentlich zugänglichen Brief an den Direktor des BISp (www.jensweinreich.de/2009/04/09/zum-forschungs projekt-dopinggeschichte/, Zugriff am 19. Januar 2011) liefern erste Hinweise in eine solche Richtung. So wurde nach Aussage Treutleins ein informell von einem BISp-Mitarbeiter als gut bezeichneter Forschungsantrag zum Doping nicht genehmigt und letztlich auf eigene Kosten durchgeführt, weil, so die Vermutung Treutleins, kritische Aufklärung gar nicht gewollt war.

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Nachdem die Ökonomik Motive aufgrund der Annahme stabiler Präferenzen lange unbeachtet lassen konnte, gibt es zunehmend Versuche einer Erweiterung ökonomischer Betrachtungen durch die Dimensionen extrinsisch und intrinsisch

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tivierten Forschungsinteresses, eines extrinsischen Tauschwertes der möglichen Forschungsergebnisse oder einer Mischung aus beidem erwachsen. Die Reputation in der scientific community ist zwar nicht unabhängig von den unterstellten Entscheidungsgründen für die Themenwahl, dürfte sich jedoch in hohem Maße an der Einhaltung der wissenschaftsinternen Normen sowie am erzielten Reputationsgewinn in der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin orientieren. Daneben nimmt eine Nutzenorientierung erkennbar zu, die sich nicht an Reputation oder Tauschwert, sondern an medialer Aufmerksamkeit orientiert. Die Vergesellschaftung der Wissenschaft (Weingart 2001) begünstigt diese Entwicklung, in deren Verlauf wissenschaftliche Befunde in den Medien verkürzt wiedergegeben werden. Wissenschaftler gewinnen so öffentliche Aufmerksamkeit, werden aber in medial aufbereitete Pro- und ContraKonflikte hineingezogen, in denen die Öffentlichkeit zum Schiedsrichter in wissenschaftlichen Fragen wird. Mediale Berichte erhöhen nicht nur die Aufmerksamkeit des Wissenschaftlers, sie führen auch zu erhöhter Nachfrage im Wissensmarkt, zumal die Nachfrager eher nicht zwischen wissenschaftlicher Reputation und Aufmerksamkeit differenzieren können. Insofern wird mittels medialer Mechanismen bei zunehmendem Konkurrenzdruck um Drittmittel der Anreiz zu einer Abschwächung interner Wissenschaftsstandards bei Wissenschaftlern erhöht.10 Der Nutzen aus dem Res-

zur Erklärung menschlichen Verhaltens (z.B. Frey 1997; Frey/Jegen 2001; Frey 2010), ohne dass dabei die Arbeiten der Psychologie (prägend wohl auch für die deutsche Sportpsychologie Heckhausen 1980) vollständig rezipiert wurden. 10 Diese Logik wird aktuell zumindest in Einzelfällen in einem Teil der Presse auch durchbrochen. Zum Sportentwicklungsbericht heißt es in der FAZ-Net: »Dabei handelt es sich um die tiefer gelegte und breiter aufgestellte gute alte Vereinsstudie. Sie ist eine wertvolle Bestandsaufnahme. Diejenigen, die sie der Politik als Steuerungsinstrument aufschwätzen, sind nicht unabhängige Wissenschaftler, sondern entlarven sich als Lobbyisten. Sich mit Entwicklung, also auch mit der Zukunft zu beschäftigen heißt, unbequeme Fragen aufzuwerfen; etwa die, ob es für integrativen Sport, ob es für bewegte Schule, ob es für Gesundheitsförderung – alles Themenfelder, für die der organisierte Sport zu Recht Kompetenz beansprucht – wirklich immer genormter Wettkampfstätten bedarf oder ob es nicht auch ein bisschen preiswerter geht. Der Sport stünde besser da,

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sourceneinsatz zur Wissensproduktion für den Sportwissenschaftler ergibt sich daher ex post aus der Befriedigung seines intrinsisch motivierten Forschungsinteresses, dem Tauschwert der produzierten Wissensinhalte, der Erregung medialer Aufmerksamkeit sowie dem Reputationsgewinn in relevanten Peergroups, die in jeweils unterschiedlichen Mischungen vorliegen. Ex ante kann das Maß der einzelnen, voneinander nicht immer unabhängigen Elemente der Nutzenfunktion im Sinne der subjektiven Werterwartungstheorie nur individuell abgeschätzt werden. Aus der Perspektive des Rational-Choice-Ansatzes bedarf es neben der Explikation der Nutzenfunktion der Modellierung des entscheidenden Akteurs, also des mittleren Sportwissenschaftlers, um auf dieser Grundlage eine Prognose zur Summe der individuellen Entscheidungen und damit eine ökonomisch-soziologische Folgenabschätzung für die Institution Sportwissenschaft zu ermöglichen. Dem Rational-Choice-Ansatz genügt eine weiche Form von Rationalität (Kirchgässner 2008: 30; Coleman 1991: 16ff.; grundlegend Simon 1955; vgl. Opp 2002), die sich in der Orientierung des individuellen Handelns an den daraus erwachsenen Konsequenzen äußert. In die Orientierung des individuellen Handelns geht auch die Wirkung von Werten und Ideen der Institution im Sinne eines moderaten Holismus (Albert 2005) mit ein. Das Handeln der Akteure folgt damit individuellen Präferenzen, die Präferenzen kollektiver Akteure können jedoch nicht immer auf individuelle Präferenzen zurückgeführt werden (Coleman 1991: 48ff., ebenso Arrows Unmöglichkeitstheorem [1951]), vor allem weil die normativen institutionellen Wirkungen im Sinne der Logik der Situation (hier der normativen Welt 3 a im Sinne Poppers, s. Melgehy 1997) jeweils innerhalb flexibler Grenzen durchaus zu differenten individuellen Reaktionen führen können. Darüber hinaus wird nicht mehr von vollständiger, sondern von begrenzter Information der Akteure ausgegangen (Kirchgässner 2008: 17), die in Interaktionen zudem meist nur asymmetrisch verfügbar ist. Die Akteure reagieren auf Anreize, die sich aus ihren Präferenzen sowie aus den wahrgenommenen externen Handlungsbeschränkungen ergeben und wählen diejenige Handlungsalternative aus, die entsprechend ihrer Präferenzordnung den höchsten Nutzen verspricht. Entsprechend modellierte Akteure können

wenn er sich viel mehr auf Fragen einließe, statt populistisch Antworten vorzutäuschen.« (Reinsch 2009)

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dem Typ nach als Homo oeconomicus charakterisiert werden, unterscheiden sich jedoch vom Homo oeconomicus traditioneller Prägung in bedeutendem Maße (Kirchgässner 2008: 63ff.) und werden zu einem »soziologisierten Homo oeconomicus« (Schimank 2007: 71ff.; vgl. schon früher den Homo socio-oeconomicus bei Neuloh 1980: 13ff., 77ff.). Dagegen basiert das Modell des Homo sociologicus auf dem Streben nach Erwartungssicherheit, die ihm als handlungsorientierende Rollenangebote durch seine soziale Umwelt präsentiert werden. Diese Handlungsanforderungen können vom Akteur als ›role taking‹ oder als ›role making‹ interpretiert werden (Schimank 2007: 37ff.). Während das ›role taking‹ ohne akteurimmanentes Wollen bzw. akteurimmanente Präferenzen auskommt, weil es Rollenerwartungen habitualisiert hat, führt ein ›role taking‹ unvermeidlich zur Einbeziehung des Willens des handelnden Akteurs (Schimank 2007: 69). Im Sinne einer Kontrastierung wenden wir daher im Folgenden den Homo oeconomicus in seiner modernen Version und den Homo sociologicus als treuen Vollzieher normativer Rollenerwartungen auf die wissenschaftlich tätigen Akteure der Sportwissenschaft an. Die Rollenerwartung der wissenschaftlichen Peergroup an einen Sportwissenschaftler im Sinne des Wissenschaftsethos werden im Prozess der Sozialisation dem Nachwuchswissenschaftler angeboten. Neben der fachlichen Bildung erwirbt der Wissenschaftler im Laufe seiner beruflichen Entwicklung entsprechende Rollenbilder. Darin enthalten sind Sanktionsandrohungen, meist in Form von Reputationsverlust, die beim Fall aus der Rolle oder beim abweichenden Verhalten von der Peergroup vollzogen werden und das Rollenverhalten des Wissenschaftlers im Falle von Komplikationen im Rollenhandeln stabilisieren. Diese Stabilisierungsfunktion wirkt umso stärker, je glaubwürdiger die Androhung rollenimmanenter Sanktionsmechanismen wahrgenommen wird, was umso besser gelingt, je stabiler diese institutionalisiert sind. Folgenloses abweichendes Verhalten führt umgekehrt zu einer Erosion der bisherigen Rollenerwartungen bis hin zum Zusammenbruch der durch die Werte und Normen konstituierten institutionellen Erwartungen an Positionsinhaber.

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Ein dem Wissenschaftsethos der Sportwissenschaft verpflichteter Akteur11 verhält sich daher idealtypisch nicht nur rollengemäß und setzt seine Ressourcen entsprechend der Beschränkungen des Wissenschaftsethos ein, er beteiligt sich auch an der Aufrechterhaltung der Rollenerwartungen durch Sanktionierung von rollenabweichendem Verhalten12, zeigt also normengestützt Übereifer. Allerdings dürften die Rollenerwartungen in den verschiedenen sportwissenschaftlichen Hochschuleinrichtungen durchaus unterschiedlich kontrastiert sein, was zu Anpassungen von Rollenbildern nach einem Wechsel zwischen sportwissenschaftlichen Institutionen führt. Schwerwiegende Differenzen scheinen jedoch eher unwahrscheinlich, da sich die Rollenerwartungen an Sportwissenschaftler in die Rollenerwartungen an Wissenschaftler insgesamt einfügen müssen, um Sanktionen anderer Fachdisziplinen zu entgehen und die Reputation des Fachs gegenüber anderen Fachdisziplinen zu sichern. Insofern ist von einer großen Schnittmenge sich weitgehend entsprechender Rollenerwartungen auszugehen. Dies trifft jedoch nicht für sportwissenschaftliche Institutionen außerhalb von Hochschulen zu. Entsprechend den organisationsspezifischen Zielen wird der in solchen Institutionen tätige Sportwissenschaftler mit Rollenerwartungen konfrontiert, die mit dem durch eine akademische Ausbildung vermittelten Ethos der Wissenschaft nur noch wenig gemein haben. Die empirische Befundlage legt einen unterschiedlichen Umgang mit solchen Intra-Rollenkonflikten nahe (Schimank 2007: 57). Dieser dürfte von einer freiwilligen Exklusion aus einer dem Wissenschaftsethos verpflichte-

11 Die Akzeptanz einer Rolle begründet sich aus der damit einhergehenden Entlastung von dauernder Unsicherheit und der damit verbundenen Notwendigkeit der Schaffung von Orientierung. 12 Dies ist ein anderer Erklärungsansatz als der der experimentellen Ökonomie, die die Sanktionierung von Verhalten anderer unter Einsatz eigener Ressourcen aufgrund reziproker Handlungen erklärt (z.B. Falk 2003). Hier wird streng nutzenmaximierend argumentiert. Der subjektiv erwartete Entlastungsvorteil aus der Aufrechterhaltung der Rollenerwartungen übersteigt die zur Sanktion eingesetzten Ressourcen. Dies könnte vor allem für Kleinkostensituationen gelten, ohne dass dafür dann moralisches Handeln als Begründung herangezogen werden muss (vgl. Kirchgässner 2008: 151ff.). Allerdings handelt es sich bei der Aufrechterhaltung von Rollenbildern dann um ein öffentliches Gut, was wiederum Anreize zum Trittbrettfahren nach sich zieht.

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ten Referenzgruppe, über den Versuch, beiden Rollenerwartungen gerecht zu werden, oder zumindest den Anschein im jeweiligen sozialen Kontext zu erwecken, bis hin zu Bemühungen um beruflichen Zugang zu Hochschulen reichen (grundsätzlich zu solchen Ambivalenzen normativer Erwartungen Dreitzel 1968: 101f.; zur Entkoppelung zwischen Entscheiden, Reden und Handeln auf Ebene des kollektiven Akteurs s. Brunsson 1994; allgemein zu Techniken der Eindrucksmanipulation durch Ausdruckskontrolle s. Goffman 1983). Ein sportwissenschaftlicher Homo oeconomicus wird den Ertragswert aus dem Ressourcenverbrauch zur Wissensproduktion, der Befriedigung seines intrinsisch motivierten Forschungsinteresses, dem Tauschwert der produzierten Wissensinhalte sowie dem Reputationsgewinn in relevanten Peergroups und den öffentlichen Aufmerksamkeitsgewinn maximieren. Die Befriedigung des Erkenntnisinteresses und der Reputationsgewinn sind ohne Probleme mit der sich aus dem reinen Ethos der Forschung ergebenden Rollenerwartung an Wissenschaftler vereinbar, so dass sich hieraus zunächst keine Folgen aus der Unterscheidung zwischen Homo oeconomicus und Homo sociologicus für die Institution Sportwissenschaft ergeben. Sollte es zu negativen Rückwirkungen aus dem Nutzen der durch Tausch erlösten Ressourcen auf die Auszahlungen aus der Befriedigung intrinsischen Forschungsinteresses und aus Reputation kommen (wenn etwa Forschungsergebnisse für Dopingzwecke eingesetzt werden), müssen die dortigen Verluste durch die realisierten Ressourcengewinne überkompensiert werden. Der Homo oeconomicus ist daher bei entsprechender Nutzenerwartung durchaus bereit, Verluste an Reputation und innerer Befriedigung seines Forschungsinteresses in Kauf zu nehmen. Da sich diese Ressourcenerwartungen aus unterschiedlichen Ressourcenquellen speisen und diese einer Beeinflussung durch den Sportwissenschaftler durchaus zugänglich sind, spiegeln diese Ressourcenerwartungen zugleich die individuelle Bewertung der Chancen auf Durchsetzung der eigenen Angebote gegenüber Nachfragern auf dem Wissensmarkt sowie der Durchsetzung von Forderungen an die eigene Hochschule als Ressourcengeber für eine möglichst hohe Grundausstattung wider. Dazu kommt die Bewertung der Chance auf Durchsetzung eigener Interessen gegenüber den Absendern von zweckfreie Forschung ermöglichenden Forschungsprogrammen sowie gegenüber den medialen Selektionsmechanismen.

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Der Absatz des aus der Wissensproduktion resultierenden Wissenszuwachses auf dem Wissensmarkt ist abhängig vom Verhältnis zwischen dem Preis, den der Nachfrager zahlen soll und dem Lösungsbeitrag in Bezug auf ein konkretes Problem, den der Nachfrager dafür bekommt. Während der Preis für wissenschaftliche Leistungen (›Auftragsforschung‹) am Anfang der Wissensproduktion steht, kann der Lösungsbeitrag zu diesem Zeitpunkt oftmals noch gar nicht abgeschätzt werden. Insofern ist Wissenschaft aus Nachfragersicht ein ungeheures investives Risiko und ähnelt damit der Produktion spitzensportlicher Erfolge; stets ist es eine Mischung aus Berechenbarkeit und Glücksspiel mit Systemtipp. Der sportwissenschaftliche Homo oeconomicus handelt rational, wenn er eine so optimistische Prognose des Lösungsbeitrags angibt, dass diese gerade noch nicht von Fachleuten des Nachfragers als unrealistisch aufgedeckt wird. Da jeder sich um Drittmittel für Auftragsforschung bemüht und die Verhaltensvariante optimistischer Prognosen des Lösungsbeitrages von allen gewählt wird, kommt es zu einer Art Übertreibungsspirale (Antragsprosa), die nur durch drohende Reputationsverluste gebremst werden kann, wie sie etwa bei wissenschaftlichen Skandalen drohen. Solche Reputationsverluste dürften im Nutzenkalkül eines sportwissenschaftlichen Homo oeconomicus, der im Hochschulkontext agiert, höher gewichtet sein als bei einem sportwissenschaftlichen Homo oeconomicus, der nicht über die Möglichkeit zweckfreier Forschung verfügt und dessen institutionelle Rahmung stark von den technologischen Eigenschaften des von ihm produzierten Wissens abhängt. Diese Art Homo oeconomicus wäre in noch größerem Maße bereit, ›optimistische‹ Prognosen zur Generierung von Drittmitteln oder auch zur Sicherung seiner beruflichen Existenz einzusetzen. So lange mit hoffnungsbeladenen Prognosen Drittmittel generiert werden können, also mangelnde Diagnosefähigkeit mit dem Versprechen auf zukünftige Leistungsfähigkeit kompensiert wird, werden sie von beiden Homo oeconomicus-Typen beibehalten. Gescheiterte Prognosen werden durch umso optimistischere ersetzt und das Scheitern als Investition in den künftig als noch höher prognostizierten Problemlösungsbeitrag interpretiert. Damit verknüpft sich auch der Trend zur Beibehaltung von Forschungsrichtungen und Theorien. Jede Einarbeitung in neue Theorie- und Forschungsfelder erhöht noch einmal deutlich das individuelle investive Risiko bei ständig wachsenden Marktzugangsbarrieren. Dabei bietet die im Wissenschaftsethos verankerte Ergebnisoffenheit von Forschungsprozessen dem

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Homo oeconomicus paradoxer Weise immer wieder eine Rückzugsmöglichkeit, wenn seine Ergebnisse hinter dem versprochenen Lösungsbeitrag zurückbleiben, was den Anreiz zu äußerst optimistischen Problemlösungsprognosen weiter verstärkt. Letztlich steht der Auftraggeber damit vor einem hinlänglich diskutierten Principal-Agent-Problem (z.B. Pratt/Zeckhauser 1985; Eisenhardt 1989), da der Auftragnehmer wesentlich mehr über sich und seine Motive weiß als er. Die Sportwissenschaft als solche gerät jedoch analog zum Gebrauchtwagenmarkt in Akerlofs berühmten Beitrag (1970) in Gefahr, auf dem Markt der Auftragsforschung ständig hinter den selbst artikulierten Lösungsprognosen zurück zu bleiben, weil eine Verdrängung des sportwissenschaftlichen Homo sociologicus durch den Homo oeconomicus stattgefunden hat. Je häufiger sie hinter ihren Lösungsprognosen zurückbleibt und umso optimistischer die Folgeprognose formuliert wird, umso höher ist das Risiko schwindenden Vertrauens in die Leistungsfähigkeit der Disziplin Sportwissenschaft. Erfolgt die Preisbildung für den erwarteten Output der Wissensproduktion nicht über Märkte, sondern betrifft das neu produzierte Wissen gesellschaftliche Probleme, bemisst sich der Wert des Wissens nicht nur an dessen prognostizierten Lösungseigenschaften, sondern auch an der wahrgenommenen Größe des Problems und der Dringlichkeit seiner Beseitigung. Ein sportwissenschaftlicher Homo oeconomicus hat ein Interesse an einer möglichst hohen wahrgenommenen Problemgröße und Dringlichkeit, weil dies den Wert seiner Wissensproduktion steigert und positive Auswirkungen auf die Reputation des Produzenten erwarten lässt, man denke nur an Forschungsfelder wie Atomkraft13, Klimaforschung14, Gentechnologie usw. oder allgemein im Sport an den behaupteten Rückgang motorischer Leistungsfähigkeit nebst daraus resultierender Gesundheitsgefährdung (vgl. z.B. Worth/Opper/Bös 2009; Worth et al. 2009). Allerdings hat er als extremer

13 Vgl. am Beispiel der Atomkraft Kurucz (1986). 14 Weimann (2010) diskutiert am Beispiel einer Expertise des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums der Finanzen zur Klimapolitik die Vernachlässigung der Ergebnisse eines noch weniger etablierten ökonomischen Forschungsprogramms sowie die strukturelle Bevorzugung des etablierten Forschungsprogramms im Kontext von Politikberatung. Zur Wirkung ökonomischer Politikberatung vgl. Rürup (2009) und Wiegard (2009).

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Homo oeconomicus kein tatsächliches Interesse an einer Problemlösung, da spezialisierte Wissensproduktionen sehr häufig spezifische Investitionen beispielsweise in Messgeräte, Kenntnis ausgefeilter Modelle etc. erfordern, die bei Problemlösungen entwertet werden, die ihn anfangs zum temporären Monopolisten mit entsprechenden Konkurrenzvorteilen machten. Die mangelnde Diagnosefähigkeit der wissenschaftlichen Beiträge wird dabei vom Wissenschaftler schwächer gegenüber dem Innovationswert bewertet und in Kauf genommen. Gegenüber dem Auftraggeber immunisiert dabei das Vertrauen auf künftige Leistungen die Legitimationsfähigkeit der für eine Praxisberatung unzureichenden Erkenntnis, sichert also solange Anschlussforschung, solange dieses Vertrauen besteht. Produziert wird dieses Vertrauen auf sozialem und kommunikativem Weg über die Schließung sozialer Beziehungen, aber gewöhnlich nicht mittels Evaluation der Wirksamkeit vorgelegter Problemlösungsvorschläge. Teilweise tritt sogar die Situation auf, dass das Problem in seiner Existenz gar nicht nachweisbar ist, trotzdem aber Lösungsversuche produziert werden. Die Extremform von Nutzenmaximierung stellt daher die Erzeugung von Problemen dar, für deren Lösung der Homo oeconomicus bereits Ansätze, z.B. mithilfe der zur Verfügung gestellten Grundausstattung oder von eigentlich zur zweckfreien Produktion von Wissen aufgelegten Förderprogrammen, produziert hat. Im Sinne der Mehrfachverwertung von Investitionen in Theorie und Empirie erhöht er somit seinen Ertrag durch mehr oder weniger identische Reproduktion, was wiederum die Dominanz bestimmter methodischer Zugänge, theoretischer Basierungen und empirischer Vorgehensweisen erklärt. Beispielhaft kann man das an der Beteiligung der Sportwissenschaft am behaupteten Problem zurückgehender motorischer Leistungen verdeutlichen. Bevor die empirische Befundlage, die höchst widersprüchliche Aussagen liefert, die von zurückgehenden, in etwa gleich bleibenden bis hin zu verbesserten Leistungen reicht, geklärt ist (vgl. z.B. Klein et al. 2005; Worth/Opper/Bös 2009; Worth et al. 2009), werden Programme zur Intervention im offenen Markt politisch motivierten Geldgebern angeboten und somit die Bearbeitung eines Problems gegen Drittmittel offeriert, dessen Existenz noch gar nicht belegt ist. Solche Entwicklungen sind häufig im Fall von Kollektivgutverknappungen wie z.B. Ehrenamtskrise (vgl. Pitsch/Emrich 1997), Krise des olympischen Sports in Form mangelnder Medaillenausbeute usw. erkennbar. Unzureichende Diagnosefähigkeit geht

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hier kurzfristig mit erhöhter Diagnosekapazität einher, wird aber mitteloder langfristig die Sportwissenschaft in eine Legitimationskrise führen.

5. W ISSENSCHAFTLICHE M YTHENJAGD UND M YTHENBEWAHRUNG ZWISCHEN H OMO OECONOMICUS UND H OMO SOCIOLOGICUS ? Die Überzeugungskraft, bestimmte Handlungen und Wissensbestände als legitim zu kennzeichnen und diese als verbindlich durchzusetzen, resultiert in der Institution Sportwissenschaft aus Legitimitätsdiskursen. Nur solange dabei eine bestimmte legitime Ordnung und Deutung als verbindlich betrachtet werden, ist die Institution gegen konkurrierende Sinndeutungen geschützt. Sie erweist sich in diesem Sinn als eine überindividuelle Anhäufung von über Generationen erworbenen Wissens, mit dessen Hilfe man versucht, Probleme bestimmter Art zu bewältigen. Wird das in der Institution über Generationen angesammelte Wissen über die Institution hinausgehend Gegenstand einer rationalen Diskussion von Legitimitätsansprüchen z.B. in den Medien, wird nicht nur die Legitimität der Institution abgeschwächt, sondern auch die Chance der Befolgung institutionalisierter werthaltiger Handlungs- und Orientierungsmuster. In der Folge wird die Institution mit ihrem spezifischen normativen Interpretationsangebot einem Konkurrenzkampf verschiedener Deutungen ausgeliefert. Dabei unterscheidet sich die Härte dieses Konkurrenzkampfes auch abhängig davon, ob konkurrierende Deutungen von institutionsangehörigen Abweichlern (z.B. Martin Luther in der Kirche), aus anderen Disziplinen (z.B. Medizin, Physik usw.) oder aus anderen konkurrierenden außeruniversitären Institutionen (z.B. IAT oder FES) geliefert werden. Solange in dieser Konkurrenz um Sinndeutung eine monopolähnliche Situation für die Sportwissenschaft besteht, somit andere Anbieter keine überzeugenden Sinndeutungen liefern und Menschen keine konkurrierenden Erfahrungen machen bzw. solche kommunizieren, ist die Situation für die Institution Sportwissenschaft unproblematisch. Werden allerdings solche konkurrierenden Erfahrungen kommuniziert, führt dies zu Konflikten mit institutionellen Selbstdeutungen. Unter welchen Bedingungen erweisen sich aber nun Institutionen wie die Sportwissenschaft und das darin konservierte Wissen und die vorherr-

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schenden Deutungen gewissermaßen als stabil? Stabilität wird sozial mittels Sozialkapital unter dem Einfluss der Institution immer wieder reproduziert, indem mithilfe relevanter Netzwerke bestimmte Verhaltensweisen und Orientierungen immer wieder neu verstärkt und stabilisiert werden, was zu einer spezifischen Institutions-Identität führt. Diese institutionelle Identität ist für die deutsche Sportwissenschaft durch Interpretationssysteme geschützt, die wiederum bezogen auf institutionelle Deutungen ebenso wie bezogen auf Umweltaspekte wie ein kognitiver Filter wirken, durch den die Wahrnehmung selektiv gesteuert wird. Getragen von stabilen Wahrnehmungs- und umweltbezogenen Deutungsmustern führt dies zu routinisierten Entscheidungsabläufen, die relativ beständig gegen Neuerungen sind und durch eingängige Metaphern stabilisiert werden. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden in der Folge in der Institution nicht in ihren realen Auswirkungen betrachtet, sondern häufig aufgrund ihrer inhaltlichen Passungsfähigkeit zu den zentralen normativen Annahmen der Institution, die parallel durch Mythen stabilisiert werden, auf die dann zuweilen Wissenschaftler treffen, die Wissenschaft als Mythenjagd begreifen (Elias 1970: 53f.). Diese Mythenjagd dürfte umso leichter fallen, je weniger normative Bindungskraft die Individuen gegenüber den etablierten Deutungsmustern der Institution empfinden, was gewöhnlich mit atypischen Sozialisationsverläufen einhergeht. Veränderungen dieser stabilen sozialen Situation setzen Innovationen voraus, die wiederum Voraussetzung institutionellen Wandels sowohl hinsichtlich der Institutionsidentität als auch der alltäglichen Entscheidungspraxis und auch bezüglich der Umweltdeutung der Institution sind und dadurch auch den Handlungsrahmen des einzelnen Akteurs erweitern. Eine Diffusion von Innovationen in die alltägliche Praxis der Institution Sportwissenschaft setzt voraus, dass sie sich entweder in einer Krisensituation bewährt haben und/oder von Individuen mit hoher Reputation aus anderen institutionellen Settings übernommen und somit adoptiert wurden. Die Signalisierung von Problemlösungskompetenzen und von Renditechancen sowie die Benennung von Problemen, Problemgrößen und Lösungsdringlichkeiten kann sowohl vom sportwissenschaftlichen Homo oeconomicus als auch vom sportwissenschaftlichen Homo sociologicus vorgenommen werden, da dies durchaus mit einer dem Wissenschaftsethos verpflichteten Rolle vereinbar ist. Der Homo sociologicus würde jedoch auf die Verwendung nicht-wissenschaftlicher Argumente, wie sie identifizierte

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Mythen darstellen, verzichten, während sich der sportwissenschaftliche Homo oeconomicus dieser in der Institution Sportwissenschaft vorkommenden Mythen bedienen kann. Diese Mythen, verstanden als verbreitete Erzählung zur Gegenstandsbeschreibung, die auf nicht begründbaren Grundlagen beruht, entstehen in der Wissenschaft jedoch nicht nur durch methodologische Fehler wie beim Kritischen Rationalismus (z.B. Popper 2002). Sie können auch bei Anwendung anerkannter wissenschaftstheoretischer Methodologie, wie der Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme (z.B. Lakatos 1974) und der Wissenschaft als Abfolge von Normalwissenschaft und wissenschaftlicher Revolution (z.B. Kuhn 1970) Eingang in den Produktionsprozess von Wissen finden. Wissensproduktion auf der Grundlage des kritischen Rationalismus sollte durch konsequente und wiederholte Falsifikationsversuche keine Mythenbildung zulassen. Bei fehlerhaftem methodologischem Vorgehen können sich jedoch Mythen der empirischen Gültigkeit, der empirischen Unversehrtheit und der Deduktion bilden. Der Mythos der empirischen Gültigkeit entsteht, wenn Aussagen zum Gegenstand keinen Falsifizierungsversuchen ausgesetzt wurden, der Gegenstandsbeschreibung aber empirische Bewährtheit unterstellt wird. Wurden Aussagen zum Gegenstand falsifiziert, diese Falsifizierung aber ignoriert, können sich Mythen der empirischen Unversehrtheit entwickeln. Mythen der Deduktion basieren auf induktiven Ableitungen aus bewährten Aussagen, bei denen die Unsicherheit des Induktionsschlusses ignoriert wird. Zu dieser Mythenentstehung durch Methodologiefehler treten methodologiekonforme Entstehungsmöglichkeiten von Mythen. So können Mythen in der Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme als Bestandteile des harten Kerns von Forschungsprogrammen definiert und so Falsifizierungsversuchen entzogen werden (›negative Heuristik‹). Wissenschaftliche Revolutionen fegen Mythen als Bestandteile des Normalwissenschaftsparadigmas zwar hinweg, Mythen können jedoch wieder Bestandteil der neuen Normalwissenschaft nach einer wissenschaftlichen Revolution sein. Die gilt insbesondere dann, wenn Mythen nicht als Anomalien erkannt und als solche bearbeitet werden. Die bewusste Aufrechterhaltung von Mythen zur Nutzenmaximierung durch einen sportwissenschaftlichen Homo oeconomicus lässt sich daher empirisch nicht unterscheiden vom unbewussten Gebrauch durch den Homo oeconomicus oder durch den Homo sociologicus, und zwar infolge

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noch ungenügender Durchdringung des Gegenstandsbereichs oder aufgrund starker institutioneller Verankerung. Bei bewusster Aufrechterhaltung von Mythen ist der sportwissenschaftlichen Homo oeconomicus daher weitgehend vor negativen Auswirkungen auf seine Reputation geschützt, andererseits kann empirisch der rational Mythen erhaltende und reproduzierende Homo oeconomicus nicht vom Homo sociologicus unterschieden werden, der dem sozialen Zwang der in der Institution verankerten Deutungen erliegt. Im Gegenteil: Es kann dem sportwissenschaftlichen Homo oeconomicus sogar gelingen, zur Rollenerwartung im universitären Kontext und damit zum Homo sociologicus zu werden. Fehlen Sanktionen bei Verstößen gegen das reine Ethos der Wissenschaft durch die Referenzgruppe, kann der Akteur Signale der ihn alimentierenden Organisation im Sinne des Homo oeconomicus interpretieren und seine Leistungszulagen erhöhen. In der Folge können sich die wahrgenommenen Rollenerwartungen so lange in Richtung Homo oeconomicus verschieben, bis Homo sociologicus und Homo oeconomicus zusammenfallen. Die Einführung der W-Besoldung und die Ausrichtung der Hochschulen an externen Nutzenmaßstäben können als solche Signale aufgefasst werden. Wie unsere bisherigen Darlegungen vermuten lassen, haben diese externen Maßstäbe in der Sportwissenschaft eine besonders große Differenz zu Maßstäben, die aus dem Wissenschaftsethos deduziert werden könnten. Notorischen Bewahrern wissenschaftsethischer Maßstäbe bliebe bei einer Entwicklung der Sportwissenschaft hin zur außengesteuerten Nutzenpräferierung des Homo oeconomicus nur noch der Anschluss an eine neue Referenzgruppe, deren Rollenerwartung in stärkerem Maße dem Wissenschaftsethos entspricht. Diese könnten die betroffenen Sportwissenschaftler beispielsweise in der Mutterwissenschaft ihrer sportwissenschaftlichen Teildisziplin suchen, allerdings nur dann, wenn diese in geringerem Maße von einer solchen Entwicklung betroffen wäre.

Z USAMMENFASSUNG Der dem Wissenschaftsethos verpflichtete Homo sociologicus ist bedroht. Dies zum einen durch die Veränderungen wissenschaftsexterner Rahmenbedingungen, die als Erwartungen an Universitäten artikuliert und in Steue-

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rungsmechanismen übersetzt werden. Die damit verbundenen Ansprüche an die Universität provozieren auf der Ebene der Universität als kollektivem Akteur zwar eine Rhetorik der Verteidigung reiner Wissenschaft, transformieren diese Signale aber für die internen Akteure in Handlungsanreize. Zum anderen wird der wissenschaftliche Homo sociologicus durch einen Wissenschaftlertyp des Homo oeconomicus bedroht, der genau auf solche Handlungsanreize rational reagiert (vgl. dazu Emrich/Fröhlich 2010). Die institutionellen Bedingungen der Sportwissenschaft scheinen kein ›Artenschutzprogramm‹ für den wissenschaftlichen Homo sociologicus darzustellen. Vielfältige Principal-Agent-Konstellationen und die normativen Umstände der Etablierung der Sportwissenschaft als universitäre Disziplin verknappen das ›Nahrungsangebot‹ für den wissenschaftlichen Homo sociologicus wohl in stärkerem Maße als in anderen Disziplinen. Zudem fällt die Bestimmung der Art schwer. Die Verwendung von Mythen erweist sich nicht als zuverlässiges Identifizierungsmerkmal und dem (sport-)wissenschaftlichen Homo oeconomicus steht eine erfolgversprechende Mimikry-Strategie zur Verfügung, um den (sport-)wissenschaftlichen Homo sociologicus weiter zurückzudrängen.

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Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 130 (3), S. 279296. Weingart, P. (2001): Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Göttingen: Velbrück Wissenschaft. Wiegard, W. (2009): Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist (war) der erfolgreichste Politikberater im Land? In: Sozialer Fortschritt 58 (8), S. 173-176. Worth, A./Opper, E./Bös, K. (2009): Konzeption des Motorik-Moduls (MoMo). In: K. Bös/A. Worth/E. Opper/J. Oberger/A. Woll (Hg.), Motorik-Modul: Eine Studie zur motorischen Leistungsfähigkeit und körperlich-sportlichen Aktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Baden Baden: Nomos, S. 10-15. Worth, A./Opper, E./Mess, F./Woll, A./Jekauc, D./Bös, K. (2009): Motorische Leistungsfähigkeit, körperlich-sportliche Aktivität und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. In: K. Bös/A. Worth/E. Opper/J. Oberger/A. Woll (Hg.), Motorik-Modul: Eine Studie zur motorischen Leistungsfähigkeit und körperlich-sportlichen Aktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Baden Baden: Nomos, S. 16-41.

Empirie als Sedativum Sportpädagogische Vergewisserungen S WEN K ÖRNER

I Indem sich Systeme von ihrer Umwelt unterscheiden und die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz intern handhaben, entsteht ein imaginärer Bereich, der Beobachtetes und Beobachtendes auseinanderzieht und auf diese Weise Beschreibungen des Systems im System ermöglicht.1 In diesem Bereich werden Projektionen diskutiert, Erwartungen ausgebildet und Anschlüsse stimuliert, die typischerweise um die Einheit des Systems kreisen – und dazu Differenzen in Anspruch nehmen. Vergewisserungen der Sportpädagogik verlaufen nach diesem Muster. Nahezu vollständig immer dann, wenn es ernst wird oder werden soll. Mit ernst ist gemeint, dass es typischerweise um Standort- oder Zukunftsfragen geht, zu deren Bearbeitung ein nach je aktuell gültigen Relevanzkriterien berufenes Personal sich einfindet. Vollständig soll heißen: mit scharf gestelltem Blick auf jeweils beide Seiten einer Unterscheidung: Es geht dann etwa um Sein und Schein in der Sportpädagogik2, um Anspruch und Wirklichkeit3, um Theorie und Praxis4 oder um Sein und Sollen.5 Und nahezu vollständig deshalb, weil

1

Grundlegend überarbeitete und erweiterte Fassung von Körner (2010).

2

Vgl. Schierz/Thiele (1998).

3

Vgl. Oesterhelt et al. (2008).

4

Vgl. Lüsebrink (2003).

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eine dichte Erzählung der Funktion dieser und anderer Unterscheidungen für die interne Formgebung der Disziplin aussteht. Typischerweise zielt die sportpädagogische Identitätserwartung gerade nicht auf das je aktuelle Prozessieren dieser Differenzen, sondern auf deren unbedingte Versöhnung – um daran chronisch zu scheitern, was man beklagen und wieder vergessen kann, und dann ggf. als beklagenswertes Vergessen erinnern. Theorie und Praxis verblüffen sich so immer wieder Mal durch wechselseitige Versagensvorwürfe.6 »Zwischen Sollen und Sein« kommt es offensichtlich noch heute zu »sowohl falschen als auch mangelhaften Beziehungen« (Balz 2009b: 7), während andernorts »die Wiederkehr der sportpädagogischen Anspruchslosigkeit« (Beckers 2007) zur Gegenrede provoziert. Wie überhaupt stets kontrollbedürftig: das Verhältnis von Sein und Schein.7 Was also tun mit der bornierten Widerständigkeit von Differenzen und mit Einheitsverlusten? Das größte Aussöhnungspotenzial verbindet die Sportpädagogik gegenwärtig mit dem empirischen Paradigma. Freilich zum Preis einer nächsten Differenz, denn der empirische Ausgleich »normativer Schlagseiten« (Balz 2009b: 7) ist ja gerade kein theoretischer. Empirische Forschung organisiert ihr Erkenntnisinteresse nach dem Prinzip der Nähe durch Distanz, demgemäß Weltsachverhalte durch methodische Kontrolle der eingesetzten Beobachtungsmittel auf Distanz gebracht werden. Ziel ist die kontrollierte Annäherung im Medium wahrer Aussagen. Das gilt für qualitative Zugänge gleichermaßen wie für quantitative. So trifft die Ethnomethodologie auf die Eigensinnigkeit sozialer Praxen, Objektive Hermeneutik auf jene objektiv geltenden Strukturen, die den Takt des Sozialen vorgeben, eine an der Nadel vernetzungsfügiger Daten hängende grounded theory auf fallweise Wirkliches, das statistische Paradigma schließlich auf das, was wirklich der Fall ist. Und das alles – die Konkurrenz um empirische Wirklichkeitsnähe und Gewissheitsüberbietung – findet in der Sportpädagogik bereits lange und dazu recht umfänglich statt. Empirische Zugänge zur sozialen Wirklichkeit motivieren inzwischen nicht nur ein ganzes Lehrbuchwesen.8 Über forschungsbasierte Studienmodule halten sie zudem frühzeitig Einzug in die Mentalverhältnisse von Bachelorstuden-

5

Vgl. Balz (2009a).

6

Vgl. %URGWPDQQ  6FKPLGW-Millard (1993).

7

9JO6FKHUOHU  6FKLHrz/Thiele (1998).

8

9JO.XKOPDQQ%DO]  0LHWKOLQJ6FKLHU]  

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ten, gehören innerhalb der Nachwuchsrekrutierung zur Steuerungssprache erfolgreicher Selektion, und sie sind geradezu stilbildend für die Prosa aktueller Stellenausschreibungen – während der soziale Nennwert ›reiner‹ Theoriearbeit gen Null tendieren dürfte. Gegenüber einer notorischen Praxis- und Wirklichkeitsferne von Theorie, so scheint es, stellt Empirie Relevanzgewinne durch Distanzverkürzung in Aussicht. Der Beitrag setzt hier an. Ziel ist es, Latenzbereiche dieser starken disziplinären Erwartung mit Mitteln der Theorie in Sichtweite zu bringen, d.h. »angeregt durch theoretische Begriffe, […] minimale Verschiebungen und Kombinationen in den bereits vorliegenden Beschreibungen« zu erzeugen, »die so jedoch zu neuen und insofern zumindest in bestimmten Hinsichten überraschenden Einsichten führen« (Baecker 2010: 7). Die erste betrifft das Verhältnis von Theorie und Empirie selbst, denn was weiter oben noch unter Anrufung harter struktureller und semantischer Bezüge als SeinsGegensatz konstruiert worden ist, vollzieht und beschreibt in systemtheoretischer Abstraktion ein- und denselben Operationstyp: Beobachtung (II). Von dort aus tritt sodann jene paradoxe Drift der Sportpädagogik deutlicher zum Vorschein, die daraus resultiert, dass sie die Beantwortung wichtiger Fragen zur Legitimität (der Zwecke), Kausalität (der Maßnahmen) und Identität neuerlich dem empirischen Paradigma anvertraut. So sehr es zweifellos gute Gründe sind, die dazu bewegen (III): Empirische Vergewisserung führt hinterrücks ein, was sie vordergründig so penibel zu beseitigen trachtet: Ungewissheit (IV).

II Was uns als Realität erscheint (oder nicht), ist das Ergebnis von Beobachtung (und Nicht-Beobachtung). Beobachtung soll heißen: Bezeichnung im Rahmen einer Unterscheidung. Werden z.B. Männer bezeichnet, dann vielOHLFKW LP 8QWHUVFKLHG ]X )UDXHQ YLHOOHLFKW DEHU DXFK LP 8QWHUVFKLHG ]X Ehemännern oder Kindern. Ist von Kindern die Rede, geht es gerade nicht um Erwachsene, sowenig es um Evolution oder Sozialisation geht, wenn Erziehung stattfinden soll. Steht Theorie auf dem Programm, dann z.B. im Unterschied zu Empirie (oder Praxis oder Poiesis). Beobachtung ist Bezeichnung, Bezeichnung allerdings von immer nur einer Seite im Rahmen der Unterscheidung. Und das gilt selbst dann, wenn man Theorie und Empi-

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rie zu theoretischer Empirie zusammenzieht9, also gleichzeitig bezeichnet. Dann nämlich bezeichnet man immer noch im Unterschied. Etwa im Unterschied zu theorieloser Empirie, empirieloser Theorie oder auch zu etwas völlig anderem, z.B. zu dem, was man in Anlehnung an Max Weber die »dumpfe Gewöhnung« (1980: 192) des Alltags nennen kann und keineswegs Wissenschaft braucht, um klar zu kommen. Das alles ist bereits Beobachtung von Beobachtung. Deren Besonderheit besteht genau darin, jene Unterscheidung zu bezeichnen, die der beobachtete Beobachter benutzt, vielleicht sogar über längere Zeit sequenziert, um eine stabile Beobachteradresse auszudifferenzieren. Der Text selbst führt das vor. Als Beobachtung (Beschreibung) nimmt er aktuell ebenjene Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung in Anspruch, um damit die Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung selbst zu beobachten. Die beobachtete Unterscheidung ist die beobachtende Unterscheidung.10 Sie ist die gleiche, und dennoch eine andere: the same ist different.11 Die Selbstanwendung muss an dieser Stelle nicht weitergetrieben werden, um zu sehen, dass Theorie und Empirie sich einer konkreten und beobachtbaren Praxis des Unterscheidens und Bezeichnens verdanken. Für sie selbst gilt, was für alle ihre möglichen Gegenstände gilt: Bezeichnet sind keineswegs beobachterunabhängig zugängliche Domänen des Seins, sondern Realitäten der Beobachtung.12 Deren Bedingung wiederum wird gestiftet durch Unterscheidungsgebrauch selbst, etwa wenn Stellenausschreibungen eine ›Orientierung am empirischen Paradigma‹ verlangen und damit ganz praktisch neue Einsatzorte für weiteren Unterscheidungsgebrauch schaffen. Hier treten dann, lokal und sozial markierbar, empirisch arbeitende Sportpädagogen in Erscheinung. Und diese (wie Theoretiker auch) bekämen von der Welt schlechterdings nichts zu sehen, würden sie nicht gerade: unterscheiden und bezeichnen. Theorie, Empirie und alle daraus folgen-

9

Vgl. Kalthoff/Hirschauer/Lindemann (2008).

10 Dem zugrunde liegt das re-entry der Unterscheidung in den Bereich des durch sie Unterschiedenen. In der Notation des Formenkalküls Spencer-Browns:

11 Vgl. Luhmann (2004a: 145). 12 Was natürlich auch für diese Beobachtung gilt, vgl. Luhmann (1997: 43).

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den Derivate (also so etwas wie theoretische Empirie) operieren vor diesem Hintergrund unter denselben epistemologischen Voraussetzungen. Sie vollziehen Beobachtung. Das ist ihre erste Gemeinsamkeit. Der stilisierte Unterschied zwischen Mitteln der Theorie und solchen der Empirie ist in beobachtungstheoretischer Hinsicht nicht grundsätzlicher, sondern eher (im mehrfachen Wortsinn) taktischer Natur. »Wenn man sich das epistemologisch zumutet und den methodologischen Diskurs nicht unter der Prämisse der asymptotischen Annäherung an den ontischen Forschungsgegenstand führt, sondern im Sinne der Frage nach der beobachtenden Gegenstandskonstitution durch Forschung, bekommen all jene so bequemen Konflikte – zwischen Theoretikern und Empirikern oder Qualitativen und Quantitativen oder auch zwischen Hermeneuten und Anti-Hermeneuten – eine ganz neue, eine untergeordnete Bedeutung.« (Nassehi/Saake 2002: 70)

Die Frage ist also, »wie der wissenschaftliche Beobachter seinen Gegenstand durch Beobachtung konstituiert [Herv. d. Verf., S.K.]« (ebd.. Die jeweilige Wahl der Mittel ist fatal im Sinne Luhmanns (2000). Eine gewählte Unterscheidung lässt konsequent nur in den Blick nehmen, was sie zu sehen erlaubt. Man sieht, was man sieht, weil man so sieht – und nicht anders. Wo z.B. Systemtheoretiker eine Gesellschaft der Systeme, der Funktionen, der Codierung etc. sehen, sehen Handlungstheoretiker eine Gesellschaft der Subjekte, der Motive, der Absichten. Streit um seins-richtige Bezeichnungen bleibt so natürlich möglich, ist aber keineswegs notwendig, emanieren bezeichnete Sachverhalte doch hier wie dort aus dem begrenzten Spielraum differenzbasierter Kommunikation.13 Das zumindest ist die Position einer Wissenschaft der Gesellschaft (Luhmann 1990), die nicht umhin kann, Konsequenzen daraus zu ziehen, dass sie im Vollzug ihrer Beobachtung im eigenen Gegenstandbereich auftaucht, ja ihren eigenen Gegenstand vollzieht. Der unterscheidungsabhängigen Öffnung des Blicks für Bestimmtes entgegen steht dessen selektive Schließung allem anderen gegenüber. Wer z.B. unter den Leitprämissen des symbolischen Interaktionismus Grounded

13 Zur Frage empirischer Angemessenheit luhmannscher Systemtheorie aus dem Blickwinkel des methodologischem Individualismus vgl. den Text von Esser (1991), dessen (verdeckte) Ironie auch darin liegt, zu konfirmieren, was er zu ironisieren bemüht ist.

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Theory betreibt und auf Komapatienten trifft, dem eignet eine erwartbare Sprachlosigkeit – weil die Rahmentheorie nicht vorsieht, Komapatienten als handelnde Personen zu begreifen. Für eine entlang spezifisch aktiver Aushandlungsprozesse sich aufmodulierenden empirisch fundierten Theorie erzeugen die Körper komatöser Patienten bestenfalls Schwingungssalat. Üblicherweise jedoch geraten sie als relevantes Datum erst gar nicht in den Blick.14 Sofern Beobachter je nach Wahl der zugrunde gelegten Unterscheidung zu unterschiedlichen Resultaten gelangen, und damit zu unterschiedlichen Realitäten, gilt für Empirie, Theorie und alle daraus folgenden Derivate weiterhin, dass unterschiedliche Unterscheidungen zu jeweils unterschiedlichen Forschungsgegenständen und schließlich Wissensbeständen über sie führen. So macht es den durchaus feinen Unterschied zwischen biologischen, juristischen oder gendertheoretischen Kontexturen, ob man Männer von Frauen oder von Ehemännern unterscheidet oder diese Unterscheidungspraxis selbst auf ihre sozio-kulturelle (und nicht etwa natürliche) Bedingtheit hin befragt. Und es macht einen Unterschied, ob man dazu eine Geburtsurkunde, einen Gentest oder Aussagen junger Eheleute bemüht, und dabei am Ende Statistiken, Urteile oder Narrationen produziert. Verschiedene Beobachter mögen dasselbe bezeichnen, aber dabei durchaus auch unterVFKLHGOLFK XQWHUVFKHLGHQ XQG JHQDX GDV LVW HV ZDV LQIRUPDWLRQVWHFKQLVFK den Unterschied macht.15 Die genannten Beispiele verdeutlichen weiterhin, dass Theorie, Empirie und alle daraus folgenden Derivate jeweils für sich Geltung reklamieren, und sich damit wechselseitig kontingent setzen: anderes wäre möglich. Daraus resultiert eine zweite Gemeinsamkeit: Denn unter dem Vergleichsgesichtspunkt, jeweils Gewissheiten über Weltsachverhalte abzuliefern, was letztlich nur positiv Kontingenzausschluss umschreibt, beanspruchen Theorie, Empirie und alle daraus folgenden Derivate funktional äquivalente Leistungsfähigkeiten. Das freilich bekommt man zu sehen, wenn man im Schema funktionaler Analyse beobachtet, d.h. entlang der Unterscheidung Problem/Lösung. Sie ermöglicht es, »Vorhandenes als kontingent und Verschiedenartiges als vergleichbar zu erfassen« (Luhmann 1984: 83). Die Überlegungen zu Theorie und Empirie galten dem Gleichen im

14 Vgl. Lindemann (2002). 15 Vgl. Bateson (1983: 488).

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Unterschiedenen, nämlich letztlich (epistemologisch betrachtet) Beobachtung zu sein und sich damit (funktional betrachtet) in einem Raum vergleichbarer Lösungen zu bewegen, ohne an diesem Punkt, etwa über die Annahme sich aufdrängender Qualitäten einer universitas rerum, letzte Kriterien dafür ausmachen zu können, warum das eine nun besser im Sinne von wahrer oder richtiger sein sollte als das andere. Beobachtung zweiter Ordnung lässt die Merkmale des Beobachtens nicht hinter sich. Sie ist zugleich Beobachtung erster Ordnung, immer Bezeichnung von einer Seite im Rahmen einer Unterscheidung.16 Insofern bleibt auch Beobachtung von Beobachtung, wie man sagen könnte, im Sehen auf einem Auge blind. Im Moment ihres Vollzugs kann sie die eigene Unterscheidung nicht bezeichnen. Die Einnahme absoluter oder kritikfreier Standpunkte fällt damit flach. Es geht dann nicht mehr um ›höhere‹ Wahrheit oder ›tiefere‹ Erkenntnis. Beobachtungen 2. Ordnung besetzen keine Meta-, sondern eine Chronoposition, eine andere Zeitstelle. Das ist Bedingung und Folge jener typisch modernen Beobachtungsverhältnisse, die in rekursiver Verkettung von Beobachtung Kontingenz als Eigenwert erzeugen.17

III Sportpädagogik beschreibt sich gegenwärtig vorzugsweise als empirisch engagierte und arbeitende Disziplin. Resonanzen empirischer Forschungsmethoden aus der innerwissenschaftlichen Umwelt (Soziologie, Erziehungswissenschaft, Psychologie) sind hier seit ca. Mitte der 1980er Jahre zu beobachten.18 Geht man der Frage nach den spezifischen internen und

16 Vgl. Luhmann (1990: 110). 17 Wobei Beobachtung als superpositive Operation (bezeichnet wird immer nur eine Seite) im Moment des Vollzugs notorisch eine Bindung eingeht, also eine Möglichkeit realisiert, also Kontingenz einschränkt. Kontingenzbewusstsein kommt ins Spiel, sofern die Bezeichnung als Bezeichnung im Rahmen einer Unterscheidung bezeichnet, also die Unterscheidung unterschieden, also beobachtet wird (sich also wiederum eine Bindung realisiert usf.). Vgl. dazu auch Esposito (2005). 18 Vgl. dazu z.B. die dvs-Tagungsdokumentationen der Sektion Sportpädagogik GHU OHW]WHQ -DKUH 2HVWHUKHOW HW DO   %UDQGO-%UHGHQEHFN6WHIDQL  

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externen Bedingungen nach,19 führt an der Komplexität relevanter Systemumwelten kein Weg vorbei. Komplexität meint den Eigenwert moderner funktional differenzierter Gesellschaften schlechthin: Funktionssysteme wie Wirtschaft, Recht, Politik, Religion, Sport, Massenmedien, Erziehung oder Wissenschaft, Organisationen wie Schulen, Zentralbanken, Gerichte oder Sportverbände, Interaktionssysteme wie Fußballspiele, Warteschlangen, Tresengespräche oder Therapiekreise setzen eine stetig wachsende Anzahl von Möglichkeiten des Erlebens und Handelns frei. Entscheidend ist nun, dass weder psychische noch soziale Sinnsysteme über hinreichende Verknüpfungskapazitäten verfügen, die es erlauben würden, die Gesamtheit möglicher Elemente, Elementrelationen sowie Relationen relationierter Elemente zu überblicken, geschweige denn zu steuern. Daran leiden z.B. politische Entscheidungen, etwa mit Blick auf die bornierte Eigenlogik moderner Arbeits- und Finanzmärkte oder auch Sportlehrerinnen und Sportlehrer, mit Blick auf die eigenwilligen Aneignungsdynamiken ihrer Lernsubjekte. Überschüssige Komplexität ist die Form, in der Wissenschaft den Widerstand von Welt und Umwelt erfährt und, davon im Selbstkontakt irritiert, mit Erhöhung ihrer requisite variety (Ashby) reagiert, mit Steigerung von Eigenkomplexität. Eine Möglichkeit, das intern verfügbare Auflöse- und Rekombinationsvermögen zu erhöhen, bietet empirische Forschung. Fragebögen, Interviews oder Videographien lösen die geläufige soziale Welt in Daten auf, die dann nach Maßgabe des jeweiligen Auswertungsparadigmas gleichsam auf Autopilot auf Beziehungen hin untersucht werden können. Das gilt für das axiale Codieren im Rahmen der Grounded Theory gleichermaßen wie für die lineare Kopplung von Variablen durch Ermittlung des Korrelationskoeffizienten im statistischen Paradigma. Worauf immer die Wahl fällt: »Die Komplexität der Welt erscheint im Überraschungswert selbstproduzierter Daten.« (Luhmann 1990: 370) Um aufzufangen, was Marquard (1998) als typischen »Notwendigkeitsschwund« der Moderne bezeichnet, bietet empirische Forschung eine attraktive Option. Sie verspricht Reduktion von Ungewissheit. In dreifacher Hinsicht. Erstens sachlich, durch elaborierte Verfahren der Standardisierung sowohl auf Seiten des Gegenstandes wie auf

)UHL.|UQHU   ]XU JHJHQWHLOLJHQ $XIIDVVXQJ HLQHV (PSLULHGHIL]LWV Ygl. Hoffmann (2009). 19 Im Folgenden ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

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Seiten der Beobachtung.20 Zweitens sozial, durch Verteilung der Ungewissheitsreduktion auf mehrere Schultern, also durch arbeitsteilige Forschungsorganisation (quantitativ, qualitativ sowie entsprechende Kombinationsmöglichkeiten, Stichwort: Triangulation, sowie Subdifferenzierung).21 Drittens zeitlich, durch eine Temporalsemantik des Noch-Nicht, die Ungewissheiten als vorläufig, jedoch prinzipiell behebbar vorstellt und damit eine konkrete Erreichbarkeit und Steuerungsmöglichkeit zukünftiger Gegenwarten benennt.22 Ausgestattet mit dem Versprechen der Wiederherstellung typisch moderner Gewissheitsverluste, wird empirische Forschung auch für eine Sportpädagogik attraktiv, die im historischen Durchlauf damit zu rechnen gelernt hat, dass bislang noch jede ihrer Ordnungen durch eine sich stets verändernde Praxis der Dinge und ›Menschen‹ durcheinander gebracht worden ist. Im Angelpunkt ebenso zahlreicher wie unterschiedlicher Umweltbezüge (wie Schule, Schülerinnen und Schülern, deren Lebenswelt, Sportorganisationen, Wirtschaft, Bildungspolitik etc.) sowie von dort aus sich verschachtelnder Beobachtungsverhältnisse, scheint für die gegenwärtige Sportpädagogik allein Empirie noch jene Mittel verfügbar zu halten, die eine angemessene Beschreibung, Erklärung und Kontrolle der Lage in Aussicht stellen. Im Bereich relevanter Umweltbezüge der Sportpädagogik gerät mit der aktuellen öffentlichen und bildungspolitischen ›Großwetterlage‹ eine weitere entscheidende externe Resonanzbedingung in den Blick. Seit nunmehr gut einem Jahrzehnt lassen nationale und internationale Vergleichsstudien zur Leistungsfähigkeit deutscher Schülerinnen und Schüler in regelmäßigen Schüben den Betroffenheitspegel gesellschaftsweit hochfahren. Während Massenmedien die Befundlage programmgemäß zur einfachen Gewissheit finalisieren, pendeln politische Beobachter feldgerecht zwischen Räson und Regulierung. So schlägt das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit seinem Rahmenprogramm zur Förderung der empirischen Bildungsforschung den Weg einer empirischen Wende innerhalb der Bildungspolitik ein, wobei einer solchen Wende »eine empirische Wende in der Bildungsforschung vorausgehen muss, weil sonst die Erkenntnisinstrumente nicht verfügbar sind, die für eine evidenzbasierte Steuerung benötigt werden« (BMBF 2008: 3). Auslöser dieser konzertierten

20 Vgl. Nassehi (2003: 35). 21 Vgl. Ortmann (2009: 124). 22 Vgl. Esposito (2007).

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Wendeoperation ist der sog. ›PISA-Schock‹ bzw. ›Bildungsnotstand‹ (Fahrholz/Gabriel/Müller 2002). Obschon sich die Krisenmetaphorik keineswegs auf motorische Kompetenzen und damit auf das Unterrichtsfach Sport bezieht, ist die Sportpädagogik aktuell sichtlich bemüht, sich als Teil dieser empirischen Wendeoperation zu gerieren. Die im BMBF-Programm aufgeführten Desiderata sind zum einen allgemein genug gefasst, um auch an besondere und einschlägig konsentierte Bedarfe sportpädagogischer Forschung angeschlossen werden zu können: fundierte Aussagen über Wirkmechanismen von Lehr-Lernprozessen, Systemevaluation, Professionalisierung des pädagogischen Personals, Kompetenzdiagnostik oder output- und evidenzbasierte Steuerung23 zählen inzwischen zum festen Aufgabenportfolio zeitgenössischer Sportpädagogik.24 Zum anderen haben, in etwa zeitlich parallel zu PISA, TIMSS & Co., Ergebnisse von Großstudien zum Gewichts- und Fitnessstatus deutscher Kinder und Jugendlicher die aktuelle statistische Depression gewissermaßen ganzheitlich erweitert. »Der Motorikquotient des Körperkoordinationstests für Kinder (KTK), der vor etwa 30 Jahren – dem IQ vergleichbar – auf 100 geeicht wurde (Kiphard/Schilling, 1974), liegt im Mittel nur noch bei 90 und internationale Studien weisen darauf hin, dass potenzielle PISA Untersuchungen zur Motorik für die deutschen Kinder kaum positiver ausfallen würden als in den anderen schulischen Lernfeldern. In einer gerade abgeschlossenen kulturvergleichenden Studie zur Entwicklung der Allgemeinmotorik haben die Kinder und Jugendlichen aus Deutschland den vorletzten Platz belegt, abgeschlagen hinter den Heranwachsenden z.B. aus Brasilien Japan, Polen, Südafrika.« (Roth 2006: 15)

Die Motorik deutscher Kinder ist, was sie im internationalen Vergleich nicht ist: vorletzter Platz, nicht Spitzengruppe. Das ist die Information. Und sie ist »Anlass zur Sorge« (ebd.).25 »Beklagenswerte Verluste« (Bös 2003: 106) in Sachen Fitness haben in der Folge tatsächlich eine breite Diskus-

23 Vgl. BMBF (2008: 3). 24 Vgl. Hietzge/Neuber (2009). 25 So findet sich in zahlreichen zeitgenössischen Fitnessstudien ein Kommunikationstyp, der sich deshalb als pädagogisch qualifizieren lässt, weil er typische Kindheitstopiken, Veränderungserwartungen und Machbarkeitsannahmen enthält (vgl. Körner 2008).

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sion um nationale Tests und motorische Standards ausgelöst und dabei einen akuten empirischen Handlungsbedarf erzeugt, der sich problemlos an die oben skizzierte BMBF-Programmatik anschließen lässt. »Die motorische Leistungsfähigkeit steht in enger Beziehung zur Gesundheit. Diese Beziehung verfestigt sich mit zunehmendem Lebensalter. […] Die aktuelle Diskussion in Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit zeigt, dass die Leistungsfähigkeit heutiger Kinder und Jugendlicher gegenüber früheren Generationen zurückgegangen ist. Diese Erkenntnis passt zu der bildungspolitischen Diskussion um Standards in den unterschiedlichen Schulfächern, die durch die Ergebnisse der PISA-Studie ausgelöst wurde.« (Bös u.a. 2009: 10)

Das in der Folge mit politischem Mandat der Sportministerkonferenz (SMK) entwickelte26 nationale Erhebungsinstrumentarium – der Deutsche Motorik-Test 6-18 – zielt genau darauf: Ungewissheiten (der Problemursachen, ihres Zusammenwirkens, ihrer Messbarkeit, Generalisierbarkeit und Behebbarkeit) im Medium empirischer Verfahren in Gewissheit zu übersetzen. Dabei sind die generierenden Verfahren bei genauerer Betrachtung weniger eindeutig als jene Zahlen, die sie erzeugen.27 Im Schnittpunkt öf-

26 Die Entwicklung des Deutschen Motorik-Tests lag in den Händen einer sportwissenschaftlichen Expertenkommission. Sie bietet ein beachtenswertes Beispiel selbstinitiierter Nachfrageerzeugung. Am Ende war man extern beauftragt mit dem, was man zuvor selbst als intern-externe Bedarfsmeldung und Zuständigkeit in die Wege geleitet hatte – durch den Hinweis auf ausgleichsbedürftige Missstände (empirische Daten zu Fitnessdefiziten und Defizite der Konstruktion empirischer Daten zu Fitnessdefiziten), verlängert um eigene Bearbeitungsmöglichkeiten (Sport!). Vgl. dazu Körner (2008: 130ff.). 27 Die Daten zur motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen verdanken sich einer mehrstufigen Kombinatorik, deren Konstruktcharakter sich dem ersten Blick entzieht. Die Zahlen gehen zurück auf bewertete Testresultate, die ein ›motorisches System‹ im Sinne einer Trivialmaschine im Rahmen operationalisierter Testaufgaben (z.B. Rumpfbeuge) erwirtschaftet, in denen Teilleistungen abgefragt werden, die schließlich als Indikatoren für motorische Leistungsfähigkeiten gelten, die wiederum Fitness (bis hin zu Gesundheit, Lebensqualität, Sozialverhalten, Lernvermögen) indizieren sollen. Interessant daran ist u.a. eine schnell übersehene theoriebautechnische Feinheit der zugrunde liegen-

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fentlich und politisch relevanter Krisenlagen, sich zunehmend verschärfender Handlungsbedarfe sowie gezielter Erwartungsadressierung definiert die empirische Wende der Sportpädagogik ihr Spiel. Das führt zu einer weiteren externen Resonanzbedingung, zur Mutterdisziplin der Sportpädagogik, der Erziehungswissenschaft. Aktuell lernt sportpädagogische Forschung gleichsam mit Blick nach oben viel davon, wie ihre Mutterwissenschaft als Speerspitze einer empirischen Wende innerhalb der Bildungsforschung ihre Qualitätstreffer erzielt. Es ist vielleicht weniger trivial, als es auf den ersten Blick anmutet, exakt dieses Potenzial einer asymmetrischen Interdisziplinarität für die empirische Wende der Sportpädagogik nicht zu unterschätzen. Für sportpädagogisches Lernen am erziehungswissenschaftlichen Modell spricht zunächst ein wissenschaftshistorisches Argument. Denn mit dem Übergang von geisteswissenschaftlicher Pädagogik zu einer empirisch-analytischen Erziehungswissenschaft in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vollzieht die Disziplin eine empirische Wende vor der empirischen Wende. Ein Rückblick erscheint in mehrfacher Hinsicht instruktiv. Zum einen lassen sich an diesem historischen Vorläufer genau jene Bedingungen studieren, die soeben für aktuelle Resonanzen empirischer Forschung geltend gemacht worden sind: Komplexität und Krise. Denn der damalige Umschwung auf empirische Epistemologie – von Heinrich Roth in seiner Göttinger Antrittsvorlesung 1962 programmatisch als »realistische Wendung in der pädagogi-

den fähigkeitsorientierten Annahme ›latenter Eigenschaften‹. Sie vollzieht eine Begründung des Nichtbeobachtbaren durch seine (indirekte) Beobachtung am Beobachtbaren, das seinerseits im Nicht-Beobachtbaren gründet. Fähigkeiten ermöglichen Bewegungsvollzüge, die gemessen und bewertet werden können, und umgekehrt stabilisieren mess- und bewertbare Bewegungsvollzüge die Annahme von Fähigkeiten (vgl. Klein et al. 2005: 24). Das zu Begründende begründet sich demnach aus sich selbst heraus: Es gibt Fähigkeiten, weil es Bewegungen gibt, und Bewegungen weil es Fähigkeiten gibt – und natürlich gibt es das Ganze auf diese Weise nur, weil beobachtende Sinnsysteme es sich geben, d.h. so und nicht anders unterscheiden. Von ihrer selbsttragenden Konstruktion lassen sich die finalen Zahlenparaden zur körperlichen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen nichts anmerken. Möglich freilich sind gleichfalls empirische Rückfragen, etwa, was genau die (Un-)Fähigkeit zur gemeinen Rumpfbeuge (un-)gesund macht?

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schen Forschung« (1963: 109) eingefordert und 1968 von Dahmer und Klafki als vollzogen erklärt – basiert einerseits auf der selbst diagnostizierten Unzulänglichkeit, die Komplexität umliegender Praxen und Lebenswelten nicht länger angemessen abbilden zu können. Weil Pädagogik als Handlungswissenschaft genau das aber für prinzipiell möglich halten muss, wird die Diagnose zum Problem. Auf der anderen Seite vollzieht sich der Umschwung kaum zufällig zu einer Zeit, in der den nationalen Dirigierungsstellen (Schelsky) für Bildung und Sozialchancen ein »katastrophaler« Gesamtzustand attestiert worden ist, der »den Anschluss an die großen Kulturnationen« (Picht 1964: 21) mehr als fraglich werden ließ. Variation der Erkenntnismittel bei stabiler Anspruchslage: damit ist eine weitere zentrale Resonanzbedingung für die empirische Wende sportpädagogischer Forschung berührt: den besonderen Gegenstands- und Anwendungsbezug der Disziplin als interner Voraussetzung. Wie die Erziehungswissenschaft, so versteht sich auch die Sportpädagogik seit ihren Anfängen als Theorie-Praxis-Disziplin, als Handlungswissenschaft.28 Schon aus diesem Grund führen Selbstbeschreibungen ihrer Identität notorisch auf Vielfalt: auf eine Vielfalt kognitiver, physischer und sozialer Referenzen, entsprechend vielfältige Eigen- und Fremderwartungen, zu deren Absicherung wiederum eine entsprechende Vielfalt sach- und sozialangemessener Erkenntnismittel bemüht werden muss. Die Form sportpädagogischen Wissens kann demnach gefasst werden als Eklektik im Sinne Tenorths (1987: 702ff.): Es soll theoretisch erklären, normativ begründen, empirisch fundieren, damit Prognose, Beratung und Steuerung ermöglichen und schließlich in der Summe den eigenen Status festigen, die Disziplin legitimieren. Der Anspruch an die Elastizität sportpädagogischer Eklektik ist gemessen an der Vielfalt vorhandener Bezüge, der Höhe der Ansprüche sowie einzurechnender Widerstände enorm: Die Schülerinnen und Schüler, die Lehrerinnen und Lehrer, die Schulen, die Trainer, der Leistungssport, die Politik usf. – was immer man nimmt, bezeichnet sind jeweils nicht-triviale »Systeme mit eingebauter Reflexion« (Luhmann 1984: 656), die potenziell nein sagen können, auf deren vergangene, gegenwärtige und künftige Zustände man nicht direkt durchgreifen kann und sich somit letzter Kontrollierbarkeit entziehen. Ungewissheit erscheint so als parasitäre Konstitutionsbedingung der

28 Vgl. Meinberg (1987).

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Sportpädagogik. So wie bereits Roth an die »realistische Wende« die Hoffnung geknüpft hatte, diese möge die Pädagogik nach innen und außen hin stärken und aus der Randzone der Wissenschaften in deren Mitte rücken, so konzentrieren sich gegenwärtig die größten sportpädagogischen Hoffnungen auf die Bindungs- und Geltungskräfte empirischer Forschung. Wie ähnlich sich die Bemühungen um Absicherung gegen Enttäuschung von damals und heute sind, zeigt zudem ein flüchtiger Blick auf das jeweilige Leitvokabular. Damals: Verhaltenssteuerung, Lernzieloperationalisierung, Qualitätskontrolle, heute: Testierung, Standardisierung, Evaluation. Interne Bedingung für die empirische Wende sportpädagogischer Forschung ist demnach die besondere Konstitution der Disziplin, die Ungewissheit hat, aber *HZLVVKHLW ZLOO EHJOHLWHW YRQ GUHL UHODWLY ]HLWVWDELOHQ 8PZHOWLUULWDWLRQHQ Komplexitätsdruck, gesellschaftliche Problemlagen sowie mutterwissenschaftliche Orientierung.

IV Einer Beobachtung Blumenbergs (2001) nach ist mit dem Sündenfall die Entkoppelung von Weltzeit und Lebenszeit ins Werk gesetzt. Mit dem Griff zur verbotenen Frucht wird Erkenntnis möglich, zugleich jedoch das Leben endlich. Erkenntnis braucht Zeit, und Zeit ist seit dem Anfang ihrer Möglichkeit knapp, d.h. man muss wählen. Jede Wahl ist riskant. Dass die Entscheidung für empirische Forschung für die Sportpädagogik gleichermaßen an Chancen wie Risiken gebunden ist, wobei eben auch Gewissheiten riskant sein können wie umgekehrt Ungewissheiten chancenreich, ist das Thema einer reflexiven Sportpädagogik. Sportpädagogik bezieht die Möglichkeit empirischer Fundierung gegenwärtig vor allem auf ihr Lieblingsund zugleich Sorgenkind, den Schulsport bzw. Sportunterricht, den sie »vor dem Hintergrund aktueller Bildungsdiskurse weiterhin unter Legitimationszwang« (Neuber 2009: 19) sieht. Hilfreich, weil vom tatsächlichen oder angenommenen Rechtfertigungszwang entlastend, so die Annahme, wären jetzt empirische Evidenzen dafür, dass ein Sportunterricht auch kann, was er zu können vorgibt. Zum Beispiel im Sinne der Persönlichkeitsentwicklung von Schülerinnen und Schülern mehr positive als negative Wirkungen zu erzielen, und zwar intentional. »Nur wenn es gelingt, sportpädagogisch begründete Wirkungszu-

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sammenhänge empirisch zu belegen, kann von einer sportpädagogischen Wirkungsforschung gesprochen werden.« (Ebd.: 16) Als gelungen in diesem Sinne, der Erwartungsstörung scheinbar nicht länger vorsieht, kann dann z.B. eine Studie gelten, die im Rahmen einer varianz- und regressionsanalytischen Auswertung von 3252 Schülerfragebögen resümiert, »dass im Sportunterricht zum einen offenbar überwiegend pädagogisch wünschenswerte Normen vermittelt werden« und »dass diese wahrgenommenen Normen […] einen signifikanten Einfluss auf die Schüler/innen ausüben«, womit »die Studie nicht zuletzt auch bildungspolitische Argumente zur Sicherung beziehungsweise Stärkung des Sportunterrichts liefert« (Hoffmann 2008: 207). Vergleichbare Vergewisserungsarbeit leistet ein seit einigen Jahren massiv voranschreitender Einbau referenzwertorientierter Testverfahren in den Sportunterricht.29 Durch Messung juveniler BodyMass-Indizes oder sportmotorischer Leistungsfähigkeiten werden Defizite exakt bezifferbar, pädagogische Absichten können kondensieren. Und nach einer Phase unterrichtlichen Treatments ermöglicht ihre wiederholte Anwendung ggf. noch die Feststellung von Verbesserung, die dann wiederum auf Absicht und Wirkung rückbuchbar ist, also pädagogischen Erfolg dokumentiert. Als Doppelinstrument für Defizitaufweis und Wirkungsbeweis leisten Testverfahren demnach eine pädagogisch selten erreichte Schließung. Komplexität, Widerstände sowie Ungewissheiten von Gegenstand und Methode verschwinden so hinter einem Schleier mathematischer Formeln, etwa im Bestimmtheitsmaß R hoch 2, also der dritten Nachkommastelle des quadrierten Korrelationskoeffzienten im Rahmen linearer Regressionsanalysen, mit dem o.g. Studie den Erfolg eines normenvermittelnden Sportunterrichts auf präzise Zahlenwerte bringt.30 Gewissheit taucht auf, der Beobachter ab. Mit ihm verschwindet zugleich der feine Unterschied, dass empirische Beobachtung stets Beobachtung im eingeführten Sinne ist (Kap. II), d.h. selbstreferenzielle Erzeugung von Fremdreferenz, also letztlich Verdopplung ohne Original.31 Wie kann man, um es an einem einfachen Beispiel festzumachen, Schüler daraufhin befragen, was sie wahrnehmen oder denken, ohne dabei Antworten zu erhalten, die selbst keine Wahrneh-

29 Vgl. Bös (2005) Wydra (200 :\GUD/HZHFN   30 Vgl. Hoffmann (2008: 206). 31 Vgl. Nassehi (2010: 204ff.).

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mungen oder Gedanken sind?32 Die Beobachtungsverhältnisse sind komplex, die beteiligten Systeme füreinander undurchsichtig, Bewusstsein für Kommunikation nicht direkt erreichbar – aber derartige Probleme überspielt flagrant die Ökonomie der präzisen Zahl. Sie garantiert der Sportpädagogik an dieser und anderer Stelle nicht nur Gewissheit und Ruhe nach innen, sondern steht ebenso für gelingende Außenbeziehungen: Sie ist das Sedativum ihrer Kritiker, und bisweilen Garant für die Zuneigung einflussreicher Reputationsauditorien und potenter Forschungsförderer. Wie jede Entscheidung nach dem Sündenfall ist somit auch jene für empirische Vergewisserung riskant. Zwei sportpädagogische Risiken seien angeführt, die das empirische Vergewisserungsbestreben nolens volens produziert und nur zum Preis beachtlicher Gewissheitsverluste mitbeobachten kann: (1) Trivialisierung nicht-trivialer Systeme, im obigen Beispiel: von Schülern und Lehrerinnen. Trivialisierte Systeme erkennt man daran, dass sie auf einen bestimmten Input nach fester Regel mit einem vorhersehbaren Output reagieren. Sie laufen, springen, werfen etc. – und produzieren dabei modellhaft Werte, die sie und das System der Erziehung berechenbar machen.33 Für Schüler, die einem aktuellen Leitbild sportpädagogischer Forschung gemäß nach festem Testdesign an Sprossenwänden hängen, Sandsäckchen weit werfen, Liegestütz machen oder im Rechteck laufen, hieße ihre Nicht-Trivialität auszuleben, launisch zu reagieren, z.B. »TuringQualitäten à la ›kein Bock‹« (Luhmann 2004b: 198) zu entwickeln und auf diese Weise den fixen Sinn der Testbatterie kreativ zu hintertreiben. Nichttriviale Systeme, und Sportschülerinnen zählen dazu, erkennt man mithin an ihrem Überraschungswert. Gleichwohl liegen trivialisierte Verhaltensgesten im Bereich des Wahrscheinlichen, zumal Schüler erwarten, dass Lehrer genau das erwarten, und Lehrer erwarten, dass Forschung genau das erwartet, und es mit Blick auf Benotungsroutinen (für Lehrer und Schulen: Eva-

32 Vgl. Fuchs (2005). Die Frage richtet sich ebenso an Daten empirisch-qualitativer Forschung. Dazu Wohlrab-Sahr (1999: 486): »Die Frage, um die es dabei geht, ist also die, ob in irgendeiner Form vom Text auf das, worauf der Text verweist geschlossen werden kann, und weiter, was es denn ist, worauf der Text verweist [Herv. i.O.].« 33 Vgl. Körner (2009b).

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luationsverfahren) wohl besser ist, dieser Erwartung folgsam nachzukommen.34 (2) Mögliche Geltungs- und Legitimationsprobleme einer sich selbst trivialisierenden Forschung, die auf empirische Evidenz setzt und dafür ihre Gegenstände und Erkenntnismittel auf pragmatische Dimensionen herunterIlKUW ]% LQGHP VLH$EVLFKW XQG Wirkung regressionsanalytisch verrechQHW)LWQHVVDXIMHQH6XPPHPRWRULVFKHU)lKLJNHLWHQUHGX]LHUWZLHVLHLP Rahmen motorischer Testbatterien abrufbar und in Zahlen transformierbar HUVFKHLQW RGHU LQGHP VLH PHWKRGRORJLVFKH 8Q]XOlQJOLFKNHLWHQ GHV %RG\Mass-Index einleitend konzediert, diese Konzession im Anschluss aber gleich wieder vergessen muss, um weiterhin irritationsfrei Körpergröße mit Gewicht in Relation setzen zu können. Beachtenswert ist zudem, dass sich Forschungstechnologie hierbei unter der Hand als Erziehungstechnologie geriert und damit abermals die »Hoffnung auf die erreichbare Funktionssicherheit pädagogischer Methoden« (Spranger 1965: 26) wiederauferstehen lässt. Während empirische Forschung dabei eigene Möglichkeiten und Standards unterbietet, lässt der Übertritt ihrer Verfahren und Verfahrensregeln in die Sphäre pädagogischer Praxis diese – nach alldem, was man bislang zum Verhältnis von pädagogischer Intention und Wirkung zu wissen meint – weit über deren technologische Verhältnisse leben. Verglichen mit gegenwärtigen Empirie- und daraus resultierenden Erwartungsschüben, verhält sich die Sportpädagogik zu möglichen Risiken und nicht-intendierten Folgewirkungen eigener Entscheidungen insgesamt eher touristisch: Mahner wähnt man vor allem in der Wüste, und Wüste ist Umwelt. Doch die Zeichen stehen nicht schlecht. Die empirische Wende erzeugt Überschüsse und damit aus sich heraus fortlaufend Einrastpunkte für reflexive Beobachtung. Jedes Verstehen kann prinzipiell an der Informations- oder an der Mitteilungsseite anschließen – und dieser Unterschied macht den Unterschied. Reflexiv heißt die Beobachtungsform nicht etwa deshalb, weil sie nach-denkt und andere nicht. Reflexiv ist sie deshalb, weil sie sich zurück- und vorbeugt auf Voraussetzungen und Folgen eigenen Handelns. Indem sie Ungewissheit als ständigen Begleiter empirischer Gewissheitsproduktion behandelt, fällt ihr Blick zugleich auf hartnäckige Mythen der Disziplin: auf Kausalität, Steuerbarkeit, Funktionssicherheit – und damit auf Latenzbereiche der eigenen Konstitution.

34 Vgl. dazu z.B. www.fitnesslandkarte-niedersachsen.de

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Über die Rolle der Systemtheorie in dieser Angelegenheit scheint keineswegs abschließend befunden. Dass sie in luftigen Höhen und bei geschlossener Wolkendecke, wie Luhmann (1984) es so schön formuliert hat, blinde Flecken und Selbstbezüglichkeiten sportpädagogischer Forschung mit Liebe fürs Detail detektieren kann, traut man ihr inzwischen sehr wohl zu.35 Neuere sportpädagogische Überlegungen zu einer reflexiven Methodologie36 oder systemtheoretischen Empirie weisen zudem darauf hin, dass Systemtheorie dem empirischen Paradigma vielleicht sogar mehr zu bieten hat. Man mag diese Theorie weiterhin personalisieren, ihren Gebrauch oder Nichtgebrauch zur Frage von Moral und Charakter stilisieren, ihr das vermeintliche Fehlen von Menschbezügen wie überhaupt von ›konstruktiven‹ Beiträgen ankreiden oder sich mit wissender Geste zu der universalen Behauptung versteigen, es gäbe schlicht keine universalen Theorien mehr: Ein Seitenblick auf Entwicklungslinien innerhalb der Gegenwartssoziologie (und nicht nur hier) zeigt, dass Systemtheorie in den letzten Jahren vielfältige Anwendungs- und Revisionspotenziale unter Beweis gestellt hat, von denen sich auch eine Sportpädagogik durchaus noch selbstbewusst faszinieren lassen könnte. Im Rahmen einer reflexiven Begleitung der empirischen Wende sportpädagogischer Forschung vermag Systemtheorie zu zeigen, dass man Voreingenommenheiten ebenso wie Ungewissheiten selbstverständlich wegregulieren und wegrechnen kann – aber das dann eben, wie kunstvoll immer, tut. Der Beobachter begegnet sich selbst im eigenen Gegenstand. Das gilt für alle Spielarten der Empirie, und das gilt ebenso für alle Spielarten der Theorie. Im Sinne einer Systemtheorie basierten oder durch sie begleiteten empirischen Forschung37 käme es deshalb darauf an, tragende Selbstbezüglichkeiten und blind spots des forschenden Blicks kontrolliert einzuführen,

35 Vgl. Körner (2009a). 36 Vgl. Schierz/Thiele (2009). 37 Die Empiriefähigkeit der Systemtheorie beinhaltet, um eine erste Unterscheidung nach Systemreferenz anzudeuten, ein zweifaches Beobachtungsprogramm. Erstes Programm: Empirische Beobachter dabei beobachten, wie sie beobachten (Fremdreferenz). Im zweiten Programm ist die Systemtheorie selbst jener empirische Beobachter (Selbstreferenz), der sich (zeitversetzt) daraufhin befragt, entlang welcher Unterscheidungen er eigentlich die geläufige Welt in Daten auflöst, sie rekombiniert und sich vom jeweiligen Ergebnis überraschen lässt.

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um die damit begründete Selektivität der Beobachtung selbst beobachtbar zu machen. Die Frage der Systemtheorie ist mithin einerseits die empirische Frage danach, wie der beobachtete Beobachter (der er selbst sein kann) Ungewissheit bearbeitet, indem er Unterscheidungen prozessiert, die Bestimmtes einschließen und anderes ausschließen. Als beobachtende Beobachtung legt sie jedoch andererseits stets darauf wert, die eigene »dumpfe Gewöhnung« (Weber) nicht unmarkiert zu lassen, also über eigene Voreingenommenheiten und daraus resultierende Limitationen mitlaufend aufzuklären.38 Im Übrigen wird damit lediglich ein sowohl erziehungswissenschaftlich39 wie auch sportwissenschaftlich40 und sportpädagogisch41 einschlägig vorformuliertes Erkenntnisprogramm aufgegriffen und respezifiziert. Dieses Programm – so ließe es sich auf einen Nenner bringen – zielt auf die »Hervorbringung reflexiver Formen pädagogischen Wissens, also einer Tätigkeit, die sich zu den Resultaten der Wissenschaftsproduktion gleichsam zurückbeugt, um aufzuklären über die von ihnen vermeintlich produzierte Aufklärung« (Lenzen 1996: 119). Innere Stärke könnte für die Sportpädagogik aus der Relativierung hoher Ansprüche resultieren.42 Vielleicht aber besteht diese Stärke gerade im dauerhaften Leiden am Verlust, in einer im Prinzip unerfüllbaren Differenz von Anspruch und Wirklichkeit (Theorie und Praxis, Sein und Sollen usf.) sowie dem kontingenten Versuch einer – aktuell vor allem empirischen – Wiederbearbeitung, der sein Scheitern immer schon einrechnet. Annäherung, Versöhnung und Einheit gleichwohl (immer wieder neu) zu erwarten, folgt aus dem unbedingten Anwendungs- und Nützlichkeitsanspruch der Disziplin. Dieser gewährt robusten Latenzschutz. Systemtheoretisch freilich kann man davon abstrahieren. Das Kreisen um Differenzen und Beklagen von Verlusten ergibt dann einen klaren Sinn: Es lässt sich beobachten als

38 »In dieser Selbstanwendung wird sichtbar, dass die Theorie den gleichen Bedingungen wie die Empirie folgt, weswegen es sich anbietet, die Systemtheorie nicht als grand theory zu fassen, sondern als small theory: Sie beschreibt ein Prinzip der Selbsteinschränkung der Kommunikation, das sich in allen Situationen […] wiederholt [Herv. i.O.].« (Vogd 2009: 105) 39 Vgl. Lenzen (1996). 40 Vgl. Bette (1992). 41 Vgl. Thiele (1999). 42 Ebd.

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eine Art Pathologie mit betrieblichem Funktionssinn, deren Beitrag zunächst einmal ganz simpel darin besteht, dass in rekursiver Schleife Beitrag auf Beitrag folgen kann – in einem Alternativraum vergleichbarer Möglichkeiten. Es kann dann weitergehen, ganz empirisch, ganz theoretisch. Ein engagierter Beobachter der Pädagogik hat einmal mit Blick auf die Vielfalt und Subtilität in ihr vorfindlicher Einrichtungen zur Enttäuschungsabwicklung vermutet, dass die Disziplin darin »vielleicht sogar die genuinen Mechanismen ihrer Wissensproduktion entwickelt« (Tenorth 1987: 707). Durch die Vorwegnahme der Möglichkeit des Scheiterns ambiguisiert auch die Sportpädagogik eigene und fremde Erwartungen. Die Vorlage für Neuanfang kommt von ihr selbst. Man kann das als Komplexitätsgewinn verbuchen.

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Hybride Kontexturen – Kontingenzbearbeitung in Sportstunden als Thema fallrekonstruktiver Unterrichtsforschung M ATTHIAS S CHIERZ

1. E INLEITUNG Proskes Beobachtung, die gegenwärtige Unterrichtsforschung konvergiere »trotz aller Heterogenität in der Annahme, dass Unterricht im hohen Maße von Kontingenz geprägt ist« (Proske 2006: 139), stellt die Erwartung in Zweifel, man könne aufgrund der Überlegenheit theoretischer und methodologischer Ansätze der pädagogischen Psychologie mit einer schnellen, technologiebasierten Verbesserung von Schulleistungen im internationalen Vergleich rechnen. Mit Radtke (2003) sei daran erinnert, dass Weinert schon 1989 bilanzierte, was im Ergebnis auch für den Forschungsstand 2011 zu konstatieren ist: »Es gibt fast nichts, was man […] nicht mit dem Unterrichtserfolg einzelner Schüler oder ganzer Schulklassen in Verbindung gebracht hätte. Die Folge davon war, und ist eine Inflationierung der in pädagogisch-psychologischen Untersuchungen berücksichtigten potenziellen Einflussvariablen mit dem ebenso verallgemeinerbaren wie enttäuschenden Resultat, dass sich keine substantiellen, stabilen und generell gültigen Zusammenhänge zwischen isolierten Unterrichtsmerkmalen und den verschiedenen Erfolgskriterien des Unterrichts finden lassen. […] Eine Zusammenstellung der dabei erzielten Resultate, die sich auf 7.827 einzelne

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Studien und auf nicht weniger als 22.155 korrelative Bezüge stützt (Fraser 1987), könnte zu der Annahme verleiten, dass jede der berücksichtigten Variablen in gewisser Weise sowohl bedeutsam als auch unwichtig ist.« (Weinert 1989: 210) Angesichts der Bilanzierung könnte man den Nutzen der Suche nach Variablenzusammenhängen ebenso in Zweifel ziehen wie den präskriptiven Gewinn deskriptiver Unterrichtsmodelle. Weinert litt aber nicht unter Zweifeln, sondern sah sich durch das Fehlen verwendbarer Ergebnisse darin bestärkt, weitere Forschungsbedarfe zu Variablenzusammenhängen und Lehrmodellen zu konstatieren, so dass Gruschka mit Verweis auf Radtke (2003: 127) kommentierte: »22.155 korrelative Bezüge, und nichts Genaues weiß man nicht. Die empirische Bildungsforschung lebt mit und von dieser Frustration und sie macht sich mit der nächsten Studie der Erfindung einer neuen, vielleicht aussagekräftigeren Variable und Konstellation von Variablen wieder ans Werk.« (Gruschka 2005: 23) Die Suche nach Variablenkonstellationen, die das Versprechen auf Unterrichtsoptimierung empirisch einlösen könnten, setzt sich in der gegenwärtigen Schuleffektivitätsforschung ungebrochen fort. Über die Erfolge der Suche lässt sich weiterhin trefflich streiten. Angesichts des immer noch eklatanten Mangels an technologisch verwertbarem Wissen überrascht es daher nicht, dass der Kontingenzbegriff in die theoretischen Designs der Unterrichtsforschung wieder verstärkt Eingang findet.1 Proske zieht beispielsweise aus seinen Problematisierungen kausal-analytischer Unterrichtsforschung die Konsequenz, zukünftig eine »kontingenzsensible Forschungsstrategie« (ebd.: 149) zu verfolgen, um »Problembeschreibungen des Untersuchungsgegenstandes zu formulieren, mit denen die in den Klassenzimmern stattfindenden Vermittlungs- und Aneignungsprozesse jenseits einer rein intentionalistischen wie auch jenseits einer kausalitätssuggerierenden Beschreibung untersuchbar werden. Für diese Unterrichtsbeschreibungen […] scheint die empirische Auseinandersetzung mit den in diesem Beitrag diskutierten Fragen unhintergehbar: Wie emergieren kommunikationsbasierte Lehr-Lern-Verhältnisse unter Kontingenzbedingungen und

1

Unter dem Stichwort »Kontingenz« wird die Diskussion um ein »Technologiedefizit« der Pädagogik (vgl. Luhmann/Schorr 1982) als Diskurs zur Ungewissheitsproblematik und Riskanz pädagogischer Interventionen fortgeführt (vgl. Helsper/Hörster/Kade 2003; in der Sportwissenschaft Frei/Körner 2010).

H YBRIDE K ONTEXTUREN

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welche Kontexturen werden für die Selbstkonstitution und Form des Unterrichts relevant?« (Ebd.: 149) Proskes Kritik erzeugt ein starkes Déjà-vu. Er begründet kein neues Paradigma der Unterrichtsforschung, sondern schließt konsequent an die schon Ende der 1970er Jahre erhobenen Einwände gegen eine lerntheoretisch basierte Unterrichtsforschung in den Grundformaten der pädagogischen Psychologie an (vgl. Terhart 1978) und verfolgt sie in einer methodologischen Kritik codebasierter Unterrichtsbeobachtung weiter.2 Die Ausführungen der folgenden Abschnitte weisen in die gleiche Richtung. Sie setzen die Tradition rekonstruktiver Unterrichtsforschung in der Sportdidaktik fort, ohne sich jedoch der Illusion hinzugeben, den Status und die Hegemonie kausalanalytischer Studien in der Schuleffektivitätsforschung bedrohen zu können.3 Seit nahezu 20 Jahren wird die komplexe empirische Forschungslandschaft der Sportwissenschaft in ihrer Teildisziplin Sportpädagogik/-didaktik durch Arbeiten kasuistischer Unterrichtsforschung geprägt.4 Sie fokussieren alltägliche Unterrichtsprozesse im Sport, diskutieren das Verhältnis zwischen qualitativer, interpretativer und rekonstruktiver Forschung und begreifen konventionelle Verfahren des Unterrichts als or-

2

So kritisiert Proske (2006: 143ff.) das inhaltsanalytische Beobachtungsverfahren am Beispiel der BIQUA-Studien (Doll/Prenzel 2004), in denen Videodokumente entlang theoretisch entwickelter Indikatoren und Kategorien durch Beobachter codiert werden. Die Kritik besagt, dass die codierenden Rater in kurzen Zeitabständen über die Bedeutung der Ereignisse unterrichtlicher Kommunikation entscheiden müssen und sich dabei unvermeidlich in »ÜbereinstimmungBedeutsamkeits-Dilemmata« verstricken. Darin wiederholt sich eine Kritik an den Schemata der Unterrichtsbeobachtung von Flanders/Bales, die am Beginn der 1980er Jahre formuliert wurde (vgl. Balhorn 1980). Diese Kritik fand auch Eingang in die Anfänge interpretativer Unterrichtsforschung in der Sportdidaktik (vgl. Schierz 1986: 23).

3

Dass ›Kontingenz‹ einerseits aus den unterrichtlichen Differenzen zwischen Aneignung und Vermittlung, Zwang und Autonomie resultiert und andererseits zugleich die didaktische Differenz zwischen ›großen Erzählungen‹ und ›kleinen Geschichten‹ konstituiert, war die Grundbotschaft der Studien der Hamburger Arbeitsgruppe (vgl. Scherler 1989; Scherler/Schierz 1993; Schierz 1996).

4

Einen Überblick zu ›kasuistischer Sportpädagogik‹ geben Krieger/Miethling (2005: 332ff.).

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ganisierende, vorstrukturierende, zentrierende, aushandelnde oder bewertende Praktiken, in deren Formbildungen versucht wird, »den Hiatus zwischen Unterrichten und Lernen zu schließen« (Proske 2006: 146). Als akteurs- oder klientenorientierte Beiträge5 beobachten die vorliegenden Studien in jüngerer Zeit Sportunterricht in Anschluss an Oevermann (1996) mithilfe der Unterscheidung ›Routine/Krise‹ und stellen das unterrichtliche Geschehen in professionstheoretische Zusammenhänge. Die vorliegenden Forschungsergebnisse schließen nahtlos an handlungs- und praxislogisch orientierte Ansätze der Professionalisierungstheorie an und bestätigen das Bild einer pädagogischen Berufspraxis, die von problemerzeugenden Widersprüchlichkeiten, paradoxalen oder antinomischen Handlungsanforderungen bestimmt ist.6 Kontingenz und Ungewissheit sind daher seit den Anfängen fallrekonstruktiver Forschungen zum Sportunterricht und zur Ausbildung von Sportlehrern und -lehrerinnen zentrale Themen der Sportwissenschaft. Sportunterricht wird unter Prämissen »pädagogischer Kommunikation« (Kade 2004) als ein Geschehen beobachtet, das in kommunikativen Prozessen gegenstandsbezogen Sinn erzeugt und zugleich auf selbstreferenzielle und daher schwer kontrollierbare und technologisch nicht beherrschbare Verstehensleistungen verwiesen ist. Mit der Intention des ›large-scale Assessments‹ unterschätzt kausal-analytische Unterrichtsforschung in ihren Wirkungsmodellen die Mehrdimensionalität und Kontextualität des im Theorem der ›pädagogischen Kommunikation‹ beobachtbaren Unterrichtsgeschehens erheblich. Lehr-Lern-Prozesse, sofern man sie unter kommunikationstheoretischen Prämissen luhmannscher Systemtheorie betrachtet, sind zu beiden Seiten hin kontingent, denn Unterricht produziert als Kommunikationssystem in seinen wissensbezogenen Aushandlungsprozessen sowohl auf Schüler- wie auf Lehrerseite ein unvermeidliches ›Mehr‹ an Sinnbestimmungen und Anschlussmöglichkeiten. Die Kommunikation unter Anwesenden im Unterricht erzeugt und bearbeitet ein Problem doppelter Kontingenz. Alter und Ego, Lehrer und Schüler verfügen auf beiden Seiten über Selektionsspielräume ihrer Initiativhandlungen, und auf beiden Seiten

5 6

Vgl. Wernet (2006: 183ff.). Vgl. Helsper (1996). Für Handlungsfelder des Sports siehe Schierz/Thiele (2002), in Hinblick auf die Ausbildung von Sportlehrern und -lehrerinnen vgl. Lüsebrink (2006, 2010).

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bleibt die Ungewissheit, welcher Anschluss vom anderen als Reaktion gewählt wird. Die aus doppelter Kontingenz resultierende Dynamik von unterrichtlichen Kommunikationsereignissen, aber auch deren Verknappung auf Formen der Orientierungskommunikation, lässt sich aus Sicht interpretativ-rekonstruktiver Forschung nur sequenziell, d.h. durch die Analyse des Verlaufs von Anschlussselektionen erschließen.7 Rekonstruktive Unterrichtsforschung beobachtet daher einerseits im Kommunikationsprozess vorausgesetzte und erzeugte Kontingenz. Anderseits beobachtet sie aber auch die unterrichtlichen Bewältigungsstrategien der Bearbeitung, Einschränkung und Vernichtung von Kontingenz (vgl. Nassehi 2008). Unter der Perspektive der Einschränkung von Kontingenz geraten die Kontexturen des Unterrichts, seine Artikulationsschemata, seine konventionellen Praktiken, seine Rituale, anders gesagt seine Struktur- und Formbildungen in den Fokus rekonstruktiver Forschung. Gefragt wird, wie je unterschiedliche Formen unterrichtlicher Ordnung aus der Notwendigkeit der Bearbeitung von Kontingenz hervorgehen, bzw. wie Unterricht die ihm inhärenten Kontingenzprobleme in seinen historisch erwirtschafteten Lösungen als institutionalisierte Formgebungen immer schon bearbeitet und in Organisation überführt. Unter dieser Perspektive versucht rekonstruktive Unterrichtsforschung zu den institutionell-organisatorischen Formbildungen des Pädagogischen anhand von kontrastierenden Fallstrukturanalysen vorzudringen.8

7

Kommunikation wird in diesem Beitrag mit Luhmann als ein dreistelliges Ereignis verstanden. Neben Mitteilung und Information ist Verstehen das Element, welches über die Bedeutung einer Erziehungserwartung oder eines Lernangebots entscheidet. Der Sinn einer Handlung resultiert aus dem Anschlussverhalten eines Gegenübers. Verstehen ist aus luhmannscher Sozialtheorie daher kein mentaler Akt, sondern eine Praxis, in der Orientierungserwartungen in Folgereaktionen erfüllt oder enttäuscht werden (vgl. Schneider 2008).

8

Unter der Zielstellung der Rekonstruktion des ›Modus Operandi‹ der Kontingenzbearbeitung durch pädagogische Formbildung hat sich das Vorgehen der dokumentarischen Methode bewährt (vgl. Bohnsack 2008; in der Sportwissenschaft Schierz/Messmer/Wenholt 2008). Das gilt auch für den methodischen Stil der Objektiven Hermeneutik. Unter sportdidaktischen Gesichtspunkten bietet aber die dokumentarische Methode den Vorzug, in videographischen Analysen die Simultanität körperlicher Ereignisse und die sich in ihnen ausdrückende

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Solche Kontrastierungen sind im Folgenden nicht zu leisten. Der Beitrag beschränkt sich auf die Interpretation einer sehr dichten unterrichtlichen Sequenz, um den Gedanken anzubahnen, dass Sportunterricht sich hybrider Kontexturen bedient, um Kontingenz zu bearbeiten. Die an- und abschließende Fallstrukturhypothese zum fachlichen Kern des Sportunterrichts ist durch diese Analyse allein nicht gedeckt. Sie besagt, dass sich ein Unterrichtsfach ›Sport‹ in der schulischen Praxis aufgrund der Hybridkultur von Sportstunden bis heute nicht konsequent konstituieren konnte. Das Unterrichtliche des Fachs unterliegt selbst Bedingungen der Kontingenz. Es ist nicht notwendig, aber auch nicht unmöglich.

2. »D U

BIST DRAN !« – K ONTINGENZEINSCHRÄNKUNG DURCH F ORTSETZUNGSKONTROLLE

Die folgende Unterrichtspassage beruht auf der protokollierenden Notiz einer Beobachtung, die in einem vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft geförderten Projekt mit dem Titel Talent und Bildungsgang notiert wurde (Pallesen/Schierz 2010). Es fokussierte Öffnungen, Destabilisierungen und Restabilisierungen, aber auch Schließungen der Grenze einer Einzelschule gegenüber dem Leistungssport. Die symbolischen Formen der Grenzgestaltung entscheiden, so lautete eine These des Projekts in Anschluss an Kramer et al. (2009) über Übergänge, Selektionen und Transformationen derjenigen, die als Talente im Sport in die Schule kommen und dort nicht nur mit Belastungs- sondern auch Bildungserfahrungen konfrontiert sind. Die Studie beschäftigte sich aber nicht nur mit dem Randgeschehen zwischen Sport und Schule, sondern auch mit dem Kerngeschäft der Schule, nämlich mit Unterricht und der sozialen Logik seiner Praktiken. Es interessierte, welchen allgemeinbildenden Sportunterricht Talente mit Karriereambitionen im Leistungssport in der Sek I erhielten. In zwei Schulen erfolgte der ›Unterricht‹, besser spricht man von der jeweiligen Sportstunde, in Kaderklassen. In einer Schule wurden die Talente nicht abgesondert, sondern im üblichen Klassenverband zum Sport angeleitet.

›Materialität‹ sozialer Praktiken (vgl. Reckwitz 2008) des Unterrichts stärker in die Rekonstruktion von Kommunikationsereignissen und Formbildungen einbeziehen zu können.

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Der Unterschied zwischen den Klassentypen markierte jedoch keinen weiteren Unterschied hinsichtlich der alltäglich anzutreffenden Sportstunden. Hier wie dort dominierte ein Standardmodell, dass dem Diskursmodell von Sinclair und Coulthard entsprach (1977; vgl. auch Lüders 2003). Die Stunden bestanden aus einer vorbereitenden, zentralen und abschließenden Phase. Die Phasenverläufe waren für Sportstunden typisch. Aufwärmen und Aufbau strukturierten die soziale und inhaltliche Ebene der Stunden vor und setzten den organisatorischen Rahmen. Die zentrierende Phase verhandelte das Thema der Stunde in Variationen des Initiation-Response-Feedback-Musters (IRF-Muster), in dem die Partizipation der Schüler und Schülerinnen am Stundengeschehen sich weitest gehend auf das Befolgen von Anweisungen, das Beantworten von Fragen, das Erledigen von Aufträgen und die Erkundigung nach den nächsten Aufgaben beschränkte. In der abschließenden Phase, die eindeutig als eine Phase des Nicht-Unterrichts zu verstehen war, spielten die Schüler und Schülerinnen ein ihnen bekanntes Spiel. 2.1 Die Sportstunde im interaktionalen Gleichfluss Seit Bernfeld (1925) setzt Sozialisationstheorie bekanntlich immer dort an, wo erziehungswissenschaftliche Zeitgenossen und Zeitgenossinnen empfindlich reagieren: bei ihren erzieherischen Intentionen. Es ist aber nicht deren Legitimität, die die Sozialisationstheorie primär anzweifelt, es sind in der Regel die sozialen Voraussetzungen ihrer Realisation als geplantes Geschehen. Dabei beginnt es immer völlig harmlos. Luhmann, vielleicht der Bernfeld der 1980er und 1990er Jahre, schrieb den schlichten Satz: »Dass ein Schüler oder ein Lehrer beobachtet, was in der Klasse läuft, und sich sein Teil dabei denkt, liegt auf der Hand. Das soziale System ist so konstruiert, dass dies möglich ist – zum Beispiel durch die Regel, dass nur einer auf einmal redet und dass der Lehrer das Drankommen reguliert.« (Luhmann 1986: 112) Die Regulation des Drankommens ist für die Fortsetzung des Unterrichts notwendig, und der Lehrer oder die Lehrerin möchte gern kontrollieren, wie es weitergeht und muss kontrollieren, dass es weitergeht. Wie Krummheuer (2002) am Mathematikunterricht zeigt, gelingt dies besonders gut im ›interaktionalen Gleichfluss‹, also durch Anschlusssequenzen in der Lehrer-Schüler-Interaktion auf niedrigem Niveau, im IRF-Muster also, das die Partizipationschancen der Schüler und Schülerinnen an der

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Konstitution thematischen Sinns erheblich einschränkt, sie aber auf Trab hält. Unterricht entkommt dem Fortsetzungszwang nicht. Das liegt auf der Hand, wie Luhmann sagt, aber unter Umständen liegt es dort wie ein Stück glühende Kohle. Aus der Sicht soziologisch orientierter Unterrichtsforschung stellt Unterricht eine in Interaktionen sinnhaft konstituierte Wirklichkeit dar, in der die Bedeutungen von Lerngegenständen ›situationell‹ emergieren und als Weichenstellungen den weiteren Fortgang des Geschehens bestimmen (vgl. Schelle/Rabenstein/Reh 2010). In den vergangenen Jahrzehnten haben Studien in ganz unterschiedlichen Schulfächern immer wieder gezeigt, dass es nicht garantiert ist, dass Unterrichtsinteraktion im Reißverschlussverfahren funktioniert, auch wenn der Lehrer Anschlusssequenzen in der Spalte ›erwartetes Schülerverhalten‹ ordentlich geplant hat und im Sinne starker Rahmung im Unterrichtsprozess höchst persönlich entscheidet, wer als nächstes dran ist. Realisierte Anschlussoptionen werden von Lehrenden häufig als problematisch wahrgenommen und nicht selten scheitert ihr Versuch, an die Bedeutungen anzuschließen, die Schüler und Schülerinnen in Bezug auf Themen und Situationen des Unterrichts herstellen. Unterricht, auch der im IRF-Muster, beinhaltet grundlegende Kontingenz, Ungewissheit und Eigendynamik seiner doch sehr überschaubaren Anzahl von Standardpraktiken und -situationen. Nicht jeder Schüler, der sich meldet, weiß etwas. Schlimmer noch, sie oder er weiß etwas, aber zur falschen Zeit. Nicht jeder Schüler, der vormachen will, kann es. Und nicht jeder Schüler, der dran ist, turnt auch. Memo: Barrenstation, 7. Klasse, zentrierende Phase S1 stürzt beim Abgang vom Barren. Er steht auf und geht an der Lippe blutend, leicht humpelnd auf direktem Weg zum Umkleideraum. In der Riege am Barren stehen sechs Schüler. S2 markiert den Beginn der Riege. In etwa drei Meter Abstand neben dem Barren steht der Lehrer. L zu S1: Geht es? S1 antwortet nicht. L zu S2: Du bist dran! S2 zögert.

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(Kommentar im Memo: Die Körperhaltung von S2 möchte man spekulativ-kabarettistisch so interpretieren: Nur weil er zufällig nach S1 an der Reihe ist, wird er sich nicht für das Höhere seiner Bildung durch riskanten Körpereinsatz am Barren opfern. Das hatte S1 zwar auch nicht vor, wurde aber von der Tücke des Barrens überrascht. In Hinsicht auf Selbstreferenz sorgt S2 sich um seine körperliche Unversehrtheit. In Hinblick auf Fremdreferenz sorgt er sich um die Zurechnungsfähigkeit seines Lehrers.)

›Dran zu sein‹ ist die dominante Form, in der sich die Partizipation der Schülerinnen und Schüler vollzieht. Im ›Dransein‹ scheint sich der Sinn der Sportstunde in extremer Verdichtung zu zeigen. Sein wesentlicher Mechanismus besteht aus der Erhaltung von Erwartungsstrukturen durch Abweichungsdämpfung (vgl. Schimank 2008: 236). Erwartet wird Gruppenmobilisation durch interaktionalen Gleichfluss. Es ist daher der Eigenlogik der Fortsetzungskontrolle zuzurechnen, dass sie die Behandlung von Schülern und Schülerinnen als Trivialmaschinen erzwingt: »Es wäre ja auch schwierig, einen Schüler im Unterricht mit anderen zu fördern, der sich von seinem Selbst soufflieren lässt, er würde jetzt lieber hinausgehen und eine Zigarette rauchen, er halte überhaupt nichts von Mathematik und denke die ganze Zeit an Fußball.« (Luhmann 2004a: 37) Aber mit dieser Schwierigkeit ist zu rechnen, auch wenn die Leistung der Erziehung zur Trivialmaschine Schüler und Schülerinnen dahingehend sozialisiert, dass sie sich entschließen, die »Mitwirkung des Selbst unter Verzicht auf eine Störung des Programms« (ebd.) zu leisten. Ohne Frage kann Rollendistanz das Ergebnis von Sozialisation durch kommunikative Ereignisse sein, die auf Erziehung ausgerichtet sind: S1 turnt immer, wenn er dran ist, auch wenn er nichts davon hält. Das ist dann die Voraussetzung für die Entstehung einer Schülerkultur, die »ironische Distanz zum Lehrpersonal« (Luhmann 2002: 79) pflegt und bei passender Gelegenheit auslebt. Aber Schüler und Schülerinnen sind keine Trivialmaschinen und die Beziehung von Selbstreferenz und Unterrichtsorganisation bleibt unzuverlässig. Trivialisierung durch Fortsetzungskontrolle kann als Einschränkung von Kontingenz gelingen, muss es aber nicht. Nicht jeder, der sich meldet, weiß etwas. Nicht jeder, der dran ist, turnt. Nicht alle, die Mathematik als Übung im Scheitern erleben, entscheiden sich für das Standhalten und verzichten auf die Zigarette. Wenn Schülerinnen und Schüler keine Trivialmaschinen sind, auch wenn das Unterrichtsskript von ihnen erwartet, sich zumindest so zu verhal-

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ten, als seien sie welche, was sind sie dann? Von Foerster sprach von einer Turing-Maschine. Hurrelmann führte die in mehrfacher Hinsicht positiv gestimmte Rede vom »produktiv Realität verarbeitenden Subjekt« ein (vgl. Hurrelmann 1987). Das klang zwar verdächtig nach einer Tautologie, erreichte nicht Luhmanns Sprachniveau und torpedierte darüber hinaus dessen Denken. Aber Hurrelmanns Wende zum Subjekt war im Kontext der Sozialisationstheorie durchaus erfolgsgekrönt. Liebau spendete beispielsweise Applaus, wenn auch in der Wahrnehmung mancher Soziologen von der falschen Seite: »Dass die Soziologie nach ihren deterministischen Verirrungen inzwischen ebenfalls das ›produktiv Realität verarbeitende Subjekt‹ entdeckt hat, freut die Pädagogik selbstverständlich. Sie hat es schon länger mit selbsttätigen Subjekten zu tun.« (Liebau 2001: 11) Schüler und Schülerinnen verarbeiten also auch in den Augen soziologischer Beobachter seit der Ära Hurrelmann mit höchst unterschiedlicher Produktivität Realität, so auch ihre Behandlung als Trivialmaschinen im interaktionalen Gleichfluss. Die Realität, für die der Unterricht handlungsbefähigt, so könnte man vielleicht aus der kleinen Sequenz schließen, ist vor allen anderen Realitäten die Realität der Sportstunde selbst. Luhmann hat Recht: Schüler beobachten das Geschehen und denken sich ihren Teil. Das Problem ist, darauf hatten schon Luhmann und Schorr unter dem Stichwort »multipler Systemreferenz« (1982: 17) aufmerksam gemacht, dass der Lehrer, der ebenfalls beobachtet und sich sein Teil denkt, ihr Denken nicht beobachten kann, da es nicht auf der Sichtbarkeitsebene stattfindet. In einer Klasse als einem komplexen System der Interaktion unter Anwesenden kann der Lehrer den Überschuss der Beobachtungsmöglichkeiten der Schüler, ihre Verstehensgewinne und Verstehensdefizite, ihre Selbst- und Fremdreferenzen, die Freiheit ihrer Gedanken und Reaktionen und ihre originellen Schöpfungsakte als Co-Konstrukteure des Unterrichts, die Quellen ihrer sozialisationstheoretisch beschworenen Produktivität also, nicht beobachten, geschweige denn verstehen. Er versteht in der Situation vermutlich nicht einmal seine eigene Selektivität hinsichtlich der Reproduktion unterrichtlicher Ordnung, die auf Beitragsselektion und der Regulation des ›Drankommens‹ beruht. Er setzt habitualisiert darauf, dass eine Sportstunde ein opportunistischer Prozess ist, der seine eigene Geschichte fortsetzt und sich von kleinen Unglücksfällen nicht gleich irritieren lässt. Darum ist S2 dran, auch wenn S1 die Lippe blutet. Lehrende handeln, so die Konsequenz

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bei Luhmann, in Hinblick auf die situative Dynamik des Interaktionssystems Schulklasse schemabasiert, aber nicht wissensbasiert. 2.2 Die Sportstunde als widersprüchliche Einheit von Erziehung und Bildung Der bisherige Interpretationsfaden folgt den Unterscheidungen und Bezeichnungen, die soziologisch orientierte Unterrichtsbeobachtung ermöglichen. Unter dem Primat der kontingenten Anschlusskommunikation ist Unterricht aber noch unzureichend bestimmt. Es handelt sich bei Unterricht ja um eine Form pädagogischer Kommunikation, die dem didaktischen Anspruch der wechselseitigen Erschließung von Schüler und Sache erliegt. Daher soll eine erziehungswissenschaftliche Perspektive erweiternd angelegt werden, die mit Gruschka sich das Ziel setzt, »die widersprüchliche Einheit der Unterricht strukturierenden Didaktik, der im Unterricht thematisierten Erziehungsaufgaben und der aufbrechenden Bildungsepisoden im Spannungsverhältnis zwischen den material hervortretenden pädagogischen Ansprüchen und dem normalisierend durchlaufenden Instruktionsprozess je am besonderen Fall zu bestimmen.« (Gruschka 2005: 42) Im Folgenden wird der Versuch einer solchen Bestimmung unternommen. Hierfür scheint die Überführung einer aktuell in der Sportdidaktik bedeutsamen Formel von einem normativen in einen empirischen Kontext hilfreich zu sein. Erziehungswissenschaftliche Unterrichtstheorie traf vor etwa 200 Jahren eine Unterscheidung, die Sozialisationstheoretikern sogar heute noch gefallen könnte, wenn sie sich für ihren empirischen Gehalt interessieren würden. Um 1800, also in der Vorphase des Umschwenkens von häuslicher auf öffentliche Erziehung, setzte, wenn auch mit einem heillosen Definitionschaos, die Rede vom ›erziehenden Unterricht‹ ein. Sie behauptete die Einheit von Pädagogik und Didaktik und erreichte als gut gemeintes Postulat über 200 Jahre später die Didaktik des Sports (vgl. Neumann 2004). Wie auch immer die Einheit von Pädagogik und Didaktik in Hinblick auf Sport in der Gegenwart zu denken ist, und warum auch immer Sportdidaktik so viel Hoffnung auf Erziehung setzt (vgl. Schierz 2010) – die Rede vom ›erziehenden Unterricht‹ liefert der empirischen Unterrichtsforschung eine relevante beobachtungsleitende Differenz, weil die behauptete Einheit auf einer Unterscheidung beruht, die zur Relationierung und zur Beobachtung von Spannungsverhältnissen zwingt.

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Denn die an S2 gerichtete Erwartung, sich der Fortsetzungskontrolle des Lehrers unterzuordnen und die Barrenübung zu turnen, wird von ihm möglicher Weise als Erziehungszumutung aber nicht als Bildungsangebot wahrgenommen. Er weiß fachliches Lernen ziemlich trennscharf von institutioneller Erziehung zu unterscheiden, ohne vermutlich sein Wissen und die Kriterien seines Wissens explizieren zu können. Unterricht, das könnte der empirische Gewinn der Rede vom ›erziehenden Unterricht‹ sein, kann unversehens aus seiner Einheit in spannungsreiche Differenz zerfallen und als Erziehung oder Bildung wahrgenommen werden, auch und gerade von Schülerinnen und Schülern, die Situationen beobachten und sich ihren Teil denken. S2 reagiert nicht automatisch mit der wertschätzenden Aneignung eines Bildungsinhalts, nur weil er dran ist. Er reagiert auf vielleicht das Drankommen selbst, also auf die abweichungsdämpfende Erziehung zur Ordnung und zu interaktionalem Gleichfluss, somit auf die Erwartung, im Unterricht mit der Strömung zu schwimmen. Er reagiert vielleicht konform, vielleicht aber nur opportunistisch, es aus taktischen Gründen gerade noch aushaltend. Vielleicht reagiert er auch distanzierend, sich ans Ufer rettend oder sich in Freiheit steigernd. Wie auch immer: Was für den einen ein Bildungsangebot ist, ist für den anderen nur eine Erziehungszumutung, gerade weil Unterricht als Einheit der Differenz von Bildung und Erziehung zwar in der Unterrichtstheorie immer beides zugleich ist, aber nur als das eine oder das andere, nicht aber als beides zugleich im situativen Handeln bezeichnet werden kann. Daraus resultieren selbst im IRF-schemabasierten Unterricht in den wenigen Interaktionssequenzen, in denen Schülerinnen und Schülern eingeschränkte Partizipationschancen an der Bedeutungskonstitution von Situationen und Themen zugestanden werden, nicht unerhebliche Anschlussblockaden oder Anschlussüberraschungen für den geplanten Fortgang der Sportstunde. Anders gesagt: Es wird allein schon dadurch kompliziert, dass Lehrende nicht wissen können, ob Schülerinnen und Schüler Unterrichtsrealität als Erziehungszumutung oder als Bildungsangebot verarbeiten werden und zu welcher Produktivität sie entsprechend ihrer Selektion dann neigen. Dabei ist es nicht unwahrscheinlich, dass das Zögern von S1 die Doppelfunktion eines expressiven und eines konstativen Akts umfasst. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass der Schüler nicht zur Verhaltenskontrolle des Lehrers Stellung nehmen will, sondern zum Bildungsangebot ›Barrenturnen‹. Denn vielleicht erkennt er die Notwendigkeit ›psychischer Nichtintervention‹ in

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unterrichtliche Erziehung als Ausdruck von Selbstdisziplin an, möchte aber doch bei allem Sinn für ästhetische Bildung über die Riskanz misslingender turnerischer Formenbildung im Medium der Bewegung sprechen und den »fruchtbaren Moment im Bildungsprozess« (Copei) noch etwas vertagen. Welche von mehreren möglichen Funktionen der Schüleräußerung für den Fortgang des Unterrichts bestimmend wird, kann aber erst der konkrete Fortgang der kommunikativen Ereignisse zeigen, die mit der Wahl einer Anschlussreaktion des Lehrers eingeleitet werden.9 Deutet man aus dieser Perspektive die Anschlussreaktion des Lehrers auf den Sturz von S1, geht man also noch einmal einen Schritt in der Sequenz zurück, dann sorgt das Verhalten des Lehrers für eine Irritation. »Geht es?« ist die Anrufung eines Sportlers, nicht die eines Schülers. Der Sportler hat eine leichte oder eine schwere Verletzung, er muss sich behandeln lassen oder nicht. Er kommt zurück in das Geschehen, oder er bleibt draußen. Der Schritt zur Unterrichtsunterbrechung ist nicht unberechtigt. Der Sturz gibt dem Lehrer aber offensichtlich keinen Anlass, vom NichtUnterricht zum Unterricht in der Form zurückzukehren, dass er nach der Versicherung, dass S1 nichts Ernsthaftes passiert ist, im Rahmen der pädagogischen Logiken von Erziehung, Bildung oder Didaktik auf das Ereignis reagiert. Die Anforderung des Barrenturnens wird weder unter erzieherisch vermittelten Sicherheitsgesichtspunkten (»Bitte nur mit Sicherheitsstellung turnen!«), noch unter bildungsepisodischen Erkenntnisgesichtspunkten (»Warum wurde das Bewegungsproblem nicht gelöst?«), noch unter Gesichtspunkten des didaktisch fokussierten Feedbacks (»Denkt dran, …«) gegenüber S1 oder den anderen Schülern thematisiert. Stattdessen folgt nur die Aufforderung an S2 »Du bist dran!«.

9

Mit Luhmann gedacht, gewinnt die Rede vom ›erziehenden Unterricht‹ ihre Bedeutung über den fachlichen Orientierungsdiskurs hinaus im Kontext einer theoretischen Empirie des Unterrichts. Wenn man eine Unterscheidung unter dem Gedanken ihrer Einheit einführt, kann man die eine Seite nicht ohne die andere bekommen. Das genau zeigt interpretative Unterrichtsforschung. Ein Unterrichtsmodell, wie das von Helmke (2003) beispielsweise, das Lehre nur als Angebot modelliert, erfasst aus der Sicht theoriegeleiteter qualitativer Unterrichtsforschung nur eine Seite der Medaille und blendet die andere, die der institutionellen Erziehung und ihrer Zumutungen aus.

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Das Irritierende der Passage besteht darin, ob das, was in, vor und nach ihr stattfindet, überhaupt als Unterricht charakterisiert werden kann, da dessen didaktische, erzieherische und bildungsrelevante Formbildungen offensichtlich im Anschlussverhalten des ›Lehrers‹ ausgespart bleiben. Die instrumentelle Aneignung, erst recht die krisenhafte, sinnerschließende Zueignung der Sache durch die Schüler wird vom Lehrenden durch Anschlussregulation normalisiert – also schlichtweg übergangen. Findet in dieser Passage, womöglich in der ganzen Sportstunde einfach nur das statt, was die Rede von der ›Sportstunde‹ ohnehin besagt – nämlich ›Sport‹? Steht diese Passage exemplarisch für das, was in Sportstunden typischerweise geschieht?

3. H YBRIDKULTUR – S PORTSTUNDEN G RENZFÄLLE VON U NTERRICHT

ALS

Es wird niemanden, der zu Sportunterricht empirisch forscht, die These überraschen, dass Sportstunden eine Hybridkultur aus »ungleichartigen Konstellationen« (Spielmann 2010) bilden, in denen Unterricht in den kontingenzbearbeitenden Ordnungen des Sports und Sport in den kontingenzbearbeitenden Ordnungen des Unterrichts erzeugt oder eben auch vernichtet wird. Sportstunden bewegen sich ständig an der Grenze zwischen Unterricht und Nicht-Unterricht. Sie sind Grenzfälle von Unterricht und zugleich Grenzfälle von Sport. Es ist daher gar nicht ausgemacht, ob es sich beispielsweise beim IRF-Muster um eine Form des Unterrichts oder eine Form schlichten Trainings handelt. Schüler und Schülerinnen treiben in der Standardform der Sportstunde angeleiteten Sport in hybriden Kontexturen aus Unterricht und Training und lernen die instrumentelle Beherrschung des Stoffs. Der mögliche Bildungssinn einer Unterrichtsstunde bleibt ihnen in simplen Sportstunden verborgen, solange sie für Schüler nur angeleitetes schulisches Sportreiben vorsehen und sie von Bildungsprozessen entbinden. So stellt sich nach der Analyse von solchen Sportstunden ein um das andere Mal der Eindruck ein, so die persönliche Bilanz des Autors nach 20 Jahren Unterrichtsforschung, dass in ihnen eigentlich »nichts Rechtes zu lernen war« (Gruschka 2005: 85). Dass Sportstunden nur dann in den Rang von Unterrichtsstunden geraten, wenn schon in ihrer Planung mitbedacht wird, »die wissenschafts- und

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erkenntnistheoretischen Fragen nicht als Überhöhung des Inhalts, als deren philosophische Kür und Metakommentar zu begreifen, sondern als deren Kern, von dem aus sich das Fachliche erst erschließt und Lernen als Verständnis möglich wird« (Gruschka 2005: 85), hatte Ehni (1977) zum Kerngedanken seines Fachentwurfs erhoben. Er versuchte im konstruktivistischen Ansatz einer auf verstehende und gestaltende Erkenntnis modernen Sports und auf die Reflexion versportlichter Lebenswelten zielenden Bildungsaufgabe die Voraussetzungen eines Fachs ›Sport‹ zu begründen, das es verdiente, ein Unterrichtsfach genannt zu werden. Sein Ziel war, Schülern die Kontingenz der Sache selbst zu zeigen. In der schulischen Praxis dominieren dagegen, nüchtern bilanziert, bis heute in der Regel Sportstunden, in denen Schüler und Schülerinnen lernen, die Macht der Dispositive des Sports im angeleiteten Sportreiben anzuerkennen. Ein Unterrichtsfach mit erkennbarer Bildungsaufgabe ist aus empirischer Sicht noch nicht oder nur in Ansätzen entstanden. Fallrekonstruktive Unterrichtsforschung zu Sportstunden, die von Problemen der Öffnung und Schließung von Kontingenz ausgeht und Kommunikation untersucht, stößt eher zufällig zur Fallstruktur von Unterricht vor und trifft stattdessen regelmäßig auf Formbildungen des Sports in der institutionellen Rahmung von Schule. Unterricht kann aber im Rahmen fallrekonstruktiver Forschung notwendigerweise nur dann thematisiert werden, wenn andere und weitere Aspekte als »Kommunikation und Kontingenzbearbeitung« hinzukommen, nämlich »die Bildung an der verhandelten Sache oder die mit ihr betriebene Erziehung und Didaktik« (Gruschka 2005: 75). Schulsportliche Praxis bearbeitet von bildungs- und unterrichtstheoretischen Überlegungen im Stil eines Gruschka oder Ehni unbeeindruckt die Kontingenz des Interaktionsgeschehens in Sportstunden in hybriden Kontexturen und bleibt als Fachkultur in ihren Legitimationskontexten einem materialen Bildungsdenken verpflichtet, das im Sport schon verbürgt sieht, was allein Unterricht erst zu leisten vermag – die Bildung des Schülers. Unterrichtsforschung, die als Bildungsforschung konzipiert wird, hat es daher schwer, in Sportstunden ihr Material vorzufinden. Zumindest ist die Selbstkonstitution von Unterricht in Sportstunden kontingent: Sie ist nicht notwendig – das zeigt empirische Forschung. Sie ist aber auch nicht unmöglich. Daher wäre die Erforschung der Bedingungen, unter denen sich Unterricht in Sportstunden selbst konstituiert, ein interessantes Thema künftiger Forschungen.

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H YBRIDE K ONTEXTUREN

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Ungewissheitsbearbeitung durch Reflexivität – eine erfolgversprechende Strategie für die Lehrer/innenausbildung? I LKA L ÜSEBRINK

E INLEITUNG Die nachfolgenden Überlegungen beziehen sich auf einen spezifischen Ausschnitt des Ungewissheitsdiskurses das pädagogische Handeln von Lehrerinnen und Lehrern betreffend. Inwiefern Ungewissheit hier ein Thema ist, wird im ersten Abschnitt aufgezeigt. Ob Reflexivität eine erfolgversprechende Bearbeitungsstrategie im Umgang mit Ungewissheit darstellt, soll im zweiten Kapitel diskutiert werden. Dazu ist es zunächst notwendig, genauer zu klären, was unter Reflexivität im Kontext von Lehrer/innenhandeln zu verstehen ist. Folgt man der These, dass Reflexivität eine geeignete Form der Ungewissheitsbearbeitung darstellt, dann stellt sich für die Ausbildung die Frage nach deren systematischer Entwicklung und Entfaltung. Häufig wird hierbei auf Fallarbeit verwiesen, aber auch hier ist zu klären, wie Fallarbeit zu gestalten ist, damit sie der Steigerung von Reflexionskompetenz für das Handeln von Lehrer/innen dienen kann (Kap. 3). Ein knappes Fazit beschließt die Überlegungen (Kap. 4).

302 | I LKA L ÜSEBRINK

1. U NGEWISSHEIT

IM

L EHRER / INNENHANDELN

Die Ungewissheit pädagogischen Handelns stellt keinesfalls eine neue Erkenntnis erziehungswissenschaftlicher Forschung dar, allerdings lässt sich in den letzten Jahren eine auffällige Fokussierung der Thematik beobachten (vgl. z.B. Helsper/Hörster/Kade 2003; für die Sportpädagogik Frei/Körner 2010). Auf der Ebene der pädagogischen Interaktion sieht Wimmer das Problem darin, »durch Erziehung eine Intention verfolgen zu wollen, es aber eigentlich nicht zu können, weil, was gewollt wird, nur von anderem selbst hervorgebracht werden kann« (Wimmer 1997: 425f.). Kade und Seitter unterscheiden zwischen »der Ungewissheit des pädagogischen Wissens, des zu vermittelnden Wissens, der Intransparenz der zu Erziehenden sowie der Ungewissheit ihrer Handlungsfolgen, einschließlich der nichtintendierten und nicht-antizipierten Nebenfolgen« (2003: 52). Helsper geht davon aus, dass Ungewissheit ein Strukturmerkmal jedweder Lebenspraxis ist, im professionellen pädagogischen Handeln aber in besonderer Weise virulent wird, weil es •





»kein technisches, standardisierbares Handeln ist, das lediglich in der Anwendung unfraglicher Regeln besteht, mittels derer das Eintreten von Absichten und Zielen kontrolliert werden kann; ein notwendigerweise interaktives Handeln ist, in dem die Einigung auf gemeinsame Rahmungen und ein Arbeitsbündnis erforderlich ist, das in situativ ausgehandelte Arbeitsinterims übersetzt werden muss – Prozesse, die aufgrund der komplexen interaktiven Aushandlungsbasis ungewiss bleiben; darin um die Ermöglichung der Entstehung des psychisch Neuen, von Kompetenzen als Voraussetzung für neue Welt- und Selbstdeutungen geht (Dezentrierung) und dies allenfalls kommunikativ angeregt werden kann, weil der Aufbau psychischer Strukturen ein psychischer Prozess ist, der durch Kommunikation nicht direkt steuerbar ist.« (Helsper 2003: 145)

Ohne diese Bestimmungsversuche hier weiter fortsetzen zu wollen, sei darauf verwiesen, dass die dargestellte Fokussierung der Thematik einhergeht mit der Behauptung, dass der Ungewissheitsdiskurs eine neue Qualität erreicht habe. So sprechen Kade und Seitter gar von einem Paradigmenwech-

U NGEWISSHEITSBEARBEITUNG

DURCH

REFLEXIVITÄT

| 303

sel, »der die Umstellung vom Eindeutigkeits-, Wissens- und Sicherheitsdiskurs auf einen Mehrdeutigkeits-, Nichtwissens-, Unsicherheits- und Risikodiskurs reklamiert und Erziehung und Bildung als ›Praktiken des Nichtwissens‹ akzentuiert« (2003: 52). Kade und Seitter unterscheiden verschiedene Praktiken des Umgangs mit Ungewissheit: neben Vertrauen und Ausblendung nennen sie hier auch Reflexivität (vgl. ebd.: 53). Allerdings existieren auch kritische Stimmen, die auf Überzeichnungen und Fehlschlüsse aufmerksam machen. Tenorth sieht als einen grundlegenden Fehlschluss den von der Unbestimmtheit der pädagogischen Aufgabe hin zu ihrer Unbestimmbarkeit (vgl. Tenorth 2006: 586). Genau dies, die Bestimmung der nicht eindeutig gesellschaftlich festgelegten Aufgaben, sei jedoch durch die Profession zu leisten. »Deshalb ist ›Unbestimmtheit‹ aber auch nicht der Endpunkt der Analyse und der Anfang von Verzweiflung, sondern der Beginn der Arbeit; denn ›unbestimmbar‹ ist die jeweilige professionelle Aufgabe nun wirklich nicht. Die Bestimmungsarbeit beim Unterrichten beginnt vielmehr, wenn morgens die Glocke zur ersten Schulstunde schlägt.« (Ebd.: 587) Für diese Bestimmungsarbeit gibt es nach Tenorth nun keine Technologien, die von deterministischen Wirkungsannahmen ausgehen könnten. Dies entspreche allerdings auch einem sehr engen Begriff von Technologie, der gegenüber der Logik pädagogischer Praxis äußerlich und auch irrelevant sei (Tenorth 1999: 263). Tenorth betont demgegenüber, dass es durchaus ein beschreibbares professionelles Handlungsrepertoire von Pädagogen gibt, das er mit dem Begriff der »paradoxe[n] Technologie« fasst (vgl. Tenorth 2006: 588; vgl. auch Baumert/Kunter 2006). Die oben angesprochenen, von einem Paradigmenwechsel ausgehenden Ansätze bezeichnet Tenorth im Anschluss an Holzkamp als »Letaltheorien«, die daran »sterben«, dass »sie nicht einmal Alltagsbefunde und erfahrungen plausibel erklären können, in diesem Fall: dass Unterricht alltäglich geschieht, nicht nur scheitert, sondern Leistungen zeigt, die ihm und dem Handeln der Lehrer zurechenbar sind und die man auch nicht als die ›Trivialität des Gelingens‹ abwerten kann.« (Tenorth 2006: 583) Hier ordnet er auch Wimmers These ein (ebd.: 582), die »das Nicht-Wissen als Zentrum des Pädagogischen« deklariert und »die Fähigkeit, die Kluft zwischen dem irreduziblem Nicht-Wissen (Situation, Singularität) und (pädagogischem) Wissen handelnd zu überwinden als Kern pädagogischer Professionalität« (Wimmer 1997: 425).

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Trotz dieser Einschränkungen sieht auch Tenorth, dass die Reichweite von Technologien begrenzt ist und der Umgang mit unbekannten Themen und Problemen des schulischen Alltags Reflexivität erfordert (Tenorth 2006: 591; vgl. auch Radtke 2004: 104). Diese lasse sich sinnvoll, weil handlungsentlastet, in der ersten Ausbildungsphase aufbauen. Fasst man die genannten Überlegungen zusammen, dann zeigt sich, dass das Thema Ungewissheit im Rahmen pädagogischer Professionalität eng am Unterrichten als Kerngeschäft von Lehrer/innen orientiert ist. Nicht unerwähnt bleiben sollte an dieser Stelle, dass Ungewissheit für einen Teil der Lehramtsstudierenden allerdings kein Thema darstellt. Die Analyse studentischer Falldiskussionen legt bspw. offen, dass einige Studierende genau wissen, worum es in der jeweiligen Situation geht und was zu tun ist (vgl. Lüsebrink 2006b). Auch Reh (2005: 264) verweist auf den »festen Glauben« an pädagogische Alltagsmythen. Eine Aufgabe der Hochschulausbildung besteht demnach auch darin, diese Studierenden zu verunsichern und ein Hinterfragen der vorhandenen Überzeugungen zu initiieren (vgl. Lüsebrink 2006b).

2. R EFLEXIVITÄT Auch der Topos der ›Reflexivität‹ sowie daran angrenzende Begriffe wie ›Reflexion‹, ›reflektieren‹ oder ›Reflexionskompetenz‹ verzeichnen in den letzten Jahren einen geradezu inflationären Gebrauch.1 Allerdings: »Reflection by itself means very little. All teachers are reflective in some sense. It is important to consider what we want teachers to reflect about and how.« (Zeichner/Liu 2010: 73)2 Zu klären wäre also, was genau unter den genannten Begriffen im Kontext der Lehrer/innenausbildung verstanden werden kann.

1

Reflexivität und Reflexionskompetenz werden im Folgenden von mir weitgehend synonym verwendet und bezeichnen die Fähigkeit zur Reflexion/zum Reflektieren.

2

Die Notwendigkeit, genauer darzulegen, was unter Reflexivität in der Lehrer/innenausbildung verstanden wird, zeigt sich auch darin, dass die Diskussion im anglo-amerikanischen Raum eine ganz andere Zuspitzung erfährt als im deutschsprachigen (vgl. Zeichner/Liu 2010).

U NGEWISSHEITSBEARBEITUNG

DURCH

REFLEXIVITÄT

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Ausgangspunkt vieler Überlegungen zur Reflexivität sind die Studien John Deweys, in denen er sich grundlegend mit Denkprozessen auseinandersetzt (Dewey 1910, 1951). Für den vorliegenden Kontext von Interesse ist u.a. Deweys Hinweis auf zwei zentrale Momente der Reflexion: Ausgangspunkt ist eine Unsicherheit, ein Zögern oder Zweifeln, das einen Akt des Suchens und Forschens initiiert (Dewey 1951: 12). Reflektierendes Denken beinhaltet demnach die Bereitschaft, Unsicherheit zu ertragen und die Bildung eines Urteils aufzuschieben. Den Wert des Denkens sieht Dewey primär darin, rein impulsive sowie rein gewohnheitsmäßige Handlungen zu vermeiden (ebd.: 15). »Reflective thinking represented a triumph of reason and science over instinct and impulse. […] Dewey’s reflective thinking was meant to replace appetites and impulses with scientifically rational choices.« (Fendler 2003: 18) Reflexionen zielen abschließend auf ein Urteil, wobei Dewey betont, dass wir uns Problemen nie ganz vorurteilsfrei nähern. Der Weg der Folgerungen führt demnach vom Vorurteil über Teilbzw. Versuchsurteile zum »richtigen Urteil« (Dewey 1951: 111). Damit lässt sich ein Bogen zu Schön und seinen Überlegungen zum Reflective Practitioner (1983) schlagen.3 Auch er betont die Vorläufigkeit des »Rahmenexperiments« bei der Problemdefinition durch Expert/innen. Eine für die Lehrer/innenausbildung hilfreiche Unterscheidung betrifft zudem die unterschiedlichen Handlungstypen, die sich im Handeln von Expert/innen finden, wobei zwei durch explizite Reflexionen gekennzeichnet sind. Handlungen vom Typ I sind charakterisiert durch ein unausgesprochenes Wissen-in-der-Handlung (»tacit knowing-in-action«). »Our knowing is ordinarily tacit, implicit in our patterns of action and in our feel for the stuff with which we are dealing.« (Ebd.: 49) Bei dieser Art des Handelns wird von den Akteur/innen nicht zwischen Denken und Handeln getrennt. Die Handelnden sind sich oft nicht bewusst, wie sie dieses Wissen erlernt haben und sind auch nicht in der Lage, es zu beschreiben: Sie wissen mehr als sie sagen können. Ihr Wissen lässt sich also nur begrenzt verbalisieren, es drückt sich vielmehr in der Handlungsgeschicklichkeit aus (vgl. ebd.: 49ff.). ›Tacit knowing-in-action‹ reicht zur Aufgabenbewältigung nicht mehr aus, sobald Probleme auftreten. Dann sind Handlungen vom Typ II erforderlich, also Reflexion-in-der-Handlung bzw. »reflection-in-action« (ebd.:

3

Zu Differenzen zwischen Dewey und Schön vgl. Fendler (2003).

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62). Das Scheitern von Routinen zieht zunächst einen Prozess der vorläufigen Problemdefinition nach sich. Diese erste Problemdefinition beschreibt Schön als »naming and framing« und betont den (notwendig) hypothetischen Charakter dieses »Rahmenexperiments« (»on-the-spot experiment«). Obwohl der Situation einerseits konsequent eine Problemdefinition übergestülpt wird, ist es andererseits unbedingt erforderlich, offen zu bleiben für die resultierenden Wirkungen und Nebenwirkungen. Die Problemdefinition erfolgt über Analogiebildungen, bei denen die Expert/innen auf Erfahrungen mit vergleichbaren Situationen zurückgreifen. Dabei versuchen sie nicht, durch Subsumtion zu einem gemeinsamen Allgemeinen zu gelangen, sondern über den Vergleich von Ähnlichkeiten und Unterschieden die möglichen Konsequenzen der vorgenommenen Rahmung zu durchdenken (vgl. ebd.: 138). Gerade in dieser ersten Phase sind die gegensätzlichen Anforderungen von einerseits überzeugtem Eintreten für die vorgenommene Problemdefinition und andererseits forschender Überprüfung der resultierenden Folgen miteinander zu vereinbaren, was Schön als »double vision« bezeichnet. »At the same time that the inquirer tries to shape the situation to his frame, he must hold himself open to the situation’s back-talk.« (Ebd.: 164)4 Von dieser in der Handlung stattfindenden Reflexion unterscheidet Schön eine weitere Form, die sich dadurch auszeichnet, dass der Handlungsfluss unterbrochen und für die Reflexion von der Situation Abstand genommen, zurückgetreten wird. Die Handlung vom Typ III nennt Schön Reflexion-über-die-Handlung (»reflection-on-action«) (vgl. ebd.: 276). Sie ist dann notwendig, wenn schwerwiegende Probleme nicht anders zu bewältigen sind. Die Explikation des Handlungswissens erlaubt detaillierte Betrachtungen, die einerseits eingespielte Routinen verunsichern können, andererseits aber die unabdingbare Voraussetzung für Veränderungen sind (vgl. ebd.: 290ff.). Die mit der Reflexion-über-die-Handlung verbundene

4

Feindt versteht »reflection-in-action« erst dann als professionell, wenn sie sich zumindest in der Ausprägung einzelner Dimensionen ausreichend von alltäglicher Reflexion – die in vergleichbarer Weise stattfindet – unterscheidet. »Professionell Handelnde müssten entsprechend in der reflexiven Konversation mit der Situation schneller, deutlicher, offener eine angemessene Deutung der Situation hinbekommen. Sie müssten eher bereit sein, das Eigene der Situation zu rekonstruieren und diese weniger unter das Vertraute subsumieren.« (Feindt 2007: 52)

U NGEWISSHEITSBEARBEITUNG

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REFLEXIVITÄT

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Objektivierung der Situation kann in unterschiedlicher Form geschehen, u.a. auch durch die Fixierung von Daten, die dann einen detaillierten Forschungsprozess gestattet. Zeichner und Liu (2010) konstatieren für die internationale Bewegung, die unter dem Schlagwort der Reflexion stattfindet, drei zentrale Anliegen: Zum ersten richtet sie sich gegen ein Verständnis von Lehrer/innen als »technicians«, die lediglich das ausführen, was andere von außerhalb des Klassenraums ihnen auftragen. Einbezogen ist hier auch Kritik an TopDown-Strategien der Schul- und Unterrichtsreform, die Lehrer/innen in eine passive Rolle drängen. Zum zweiten geht die Idee der »Reflective Practice« einher mit einer erhöhten Wertschätzung des Praxiswissens von Lehrer/innen, was gleichzeitig verknüpft ist mit der These, dass Lehrer/innen für ihre individuelle Weiterentwicklung von ihrer eigenen Praxis ausgehen und diese reflektieren müssen. Dies führt drittens zu der Erkenntnis, dass die Ausbildung angehende Lehrer/innen lediglich auf den Einstieg in ihren Beruf vorbereiten kann. Die professionelle Weiterentwicklung ist dann auf Fähigkeiten angewiesen, die es ermöglichen, aus den eigenen Unterrichtserfahrungen zu lernen. Diese Fähigkeiten gilt es, im Rahmen der Ausbildung zu entwickeln (vgl. ebd.: 69f.). In der deutschsprachigen Diskussion um Reflexivität im Lehrer/innenhandeln lassen sich im Anschluss an Reh (2004) unterschiedliche Ansätze differenzieren. Handlungstheoretische Konzeptionen fokussieren die selbstreflexive Leistung des einzelnen Professionellen. Sie lassen sich weiter unterteilen in solche, die biographische Selbstreflexionen ins Zentrum stellen und diejenigen, die das unterrichtliche Handeln fokussieren. Erstgenannte werden von Reh unter dem Label »Reflexivität als Bekenntnisstruktur« (ebd.: 368) gefasst und hinsichtlich ihrer professionalisierenden Wirkungen eher skeptisch betrachtet. Reh verweist auf die Bedeutung von Schule und Unterricht als zentrale Bezugspunkte des Auf- und Ausbaus von Reflexivität. Gleichzeitig mahnt sie die Grenzen handlungstheoretischer Ansätze insofern an, als dass sie – im Anschluss an systemtheoretische Überlegungen – die Bedeutung organisatorischer Rahmungen betont, die kommunikative Reflexivität im Kontext der Institution Schule ermöglichen. Bei Helsper (2001) findet sich eine Zuspitzung dessen, was Oevermann mit dem Begriff des wissenschaftlich-reflexiven Habitus (vgl. 1997; 2002) angestoßen hat. Wissenschaftliche Reflexivität beinhaltet nach Helsper (2001: 11) demnach nicht nur die Fähigkeit zur Reflexion sondern auch das

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Verfügen über wissenschaftlich abgesicherte Wissensbestände sowie eine »reflexive, methodisierte, wissenschaftliche Erkenntniskompetenz« (ebd.: 12). In Bezug auf das eigene Handeln wird so ein exzentrischer Blick ermöglicht, der auf prinzipielle Begründung und Perspektivierung drängt, auf das Hinterfragen ganz selbstverständlich geltender Überzeugungen, der aber auch einer Wissenschaftsgläubigkeit entgegenwirken soll (ebd.: 12). Perspektivierung ist auch ein Aspekt, den Radtke (2004) aufgreift: »Eine wissenschaftliche Lehrerbildung, die sich als Bildung im Medium von Wissenschaft begreift, hätte das Ziel, Wissen über die Perspektivenabhängigkeit und Relativität der Wirklichkeitsdeutungen bereitzustellen, um damit ein reflexives Wissen darüber zu ermöglichen, wie die Praxis und wie man selbst in ihr funktioniert.« (Ebd.: 142) Deutlich wird hier, dass Reflexivität gesteigert wird zu einer Reflexivität im Kontext wissenschaftlicher Lehrer/innenausbildung, was u.a. in den Begriffen »reflexives Wissen« und »wissenschaftliche Reflexivität« zum Ausdruck kommt. Der damit verknüpfte (hohe) Anspruch wird in Rehs Überlegungen zu »Standards der Reflexivität des Wissens« (2005) deutlich. Folgende Standards werden von ihr formuliert: Die Präsentation von Wissen sollte • •

• •

»im Wissen um die Differenz von Wissensformen, um Geltungsbedingungen und Reichweite der Aussagen geschehen […]. als Aufmerksamkeit auf das Einzelne erfolgen, als Aufmerksamkeit auf die Situation, den Fall, der oder die beobachtet, beschrieben, erzählt und interpretiert wird […]. sich als Bezug von Theorien auf den Fall und die kategoriale Infragestellung dieser in der Ausbuchstabierung des Falles zeigen. […] als Explizierung impliziter Annahmen z.B. über Kausalitäten, über Schule und Pädagogik geschehen. Tatsächlich gilt es dabei etwas zu ›verlernen‹, zu dekonstruieren: die unreflektierte Distanzlosigkeit einem Wissen, aber vor allem auch den pädagogischen Alltagsmythen gegenüber […].« (Ebd.: 263f.)

Neben der Zuspitzung auf wissenschaftliche Reflexivität findet also eine weitere, keinesfalls unerhebliche statt: Es geht nicht um eine allgemeine, kontextunabhängige Reflexivität, sondern um eine schul- und unterrichtsbezogene. Da Unterricht grundsätzlich in Fächern (oder ggf. in Fächerver-

U NGEWISSHEITSBEARBEITUNG

DURCH

REFLEXIVITÄT

| 309

bünden) stattfindet, ist zudem davon auszugehen, dass Reflexivität nicht nur kontext-, sondern auch fachspezifische Anteile aufweist. Insgesamt deuten vor allem Rehs Überlegungen darauf hin, dass Fallarbeit eine tragende Rolle für die Entwicklung von schul- und unterrichtsbezogener Reflexionskompetenz einnehmen könnte.

3. Z UR E NTWICKLUNG VON

SCHUL - UND UNTERRICHTSBEZOGENER R EFLEXIONS KOMPETENZ : DAS B EISPIEL F ALLARBEIT

Hinsichtlich der Bedeutung, die Fallarbeit hier zugeschrieben wird, stellen sich allerdings auch eine ganze Reihe – bislang wenig diskutierter – Fragen, von denen einige im Folgenden aufgegriffen werden sollen. Zunächst einmal erscheint es plausibel, dass Reflexionskompetenz durch Reflektieren auf- und ausgebaut wird. Fallarbeit stellt dann eine naheliegende Option dar, da – neben vielen Differenzen – als relativer Konsens davon ausgegangen wird, dass Fallarbeit die aktive reflektierende Auseinandersetzung der Studierenden5 mit Fällen6 impliziert und die Studierenden gerade nicht auf eine eher rezeptive oder nachvollziehende Rolle verweist. Die Studierenden werden nicht belehrt, sondern lernen in der gemeinsamen Diskussion und Bearbeitung der Fälle (vgl. z.B. Bauersfeld 1999: 203). Allerdings sei bereits hier angemerkt, dass zum einen bislang kaum empirische Untersu-

5

Ich beziehe mich im Folgenden auf die Entwicklung von Reflexionskompetenz durch Fallarbeit im Rahmen der ersten Ausbildungsphase. Selbstverständlich stellt Fallarbeit auch für die anderen Phasen der Lehrer/innenausbildung eine Option dar.

6

Nur am Rande sei auf die Unterscheidung Bucks (1989; 1967) verwiesen, der verschiedene Autoren auch aktuell noch folgen, indem sie von einem Fall erst dann sprechen, wenn die angesprochene Subsumtion vollzogen ist bzw. wenn der Prozess der ›Fall‹-Bearbeitung eingesetzt hat. Fälle sind demnach als Produkte einer Auseinandersetzung mit Szenen, Situationen, Vorfällen, Begebenheiten u.Ä.m. zu verstehen (vgl. z.B. Günther 1978: 167f.; Scherler 1983; Scherler/Schierz 1995a; Fenkart/Krainz-Dürr 1996: 175; Beck/Scholz 1997: 681f.; Lüsebrink 2006a: 42ff.)

310 | I LKA L ÜSEBRINK

chungen zu den tatsächlichen Effekten von Fallarbeit existieren (s.u.). Zum anderen ist ›Reflektieren‹ natürlich nicht eine auf die Fallarbeit beschränkte Aktivität universitärer Ausbildung. Ein Argument, welches an dieser Stelle für Fallarbeit in Anspruch genommen wird, betrifft die Möglichkeit, Reflexionen auf das zukünftige Arbeitsfeld Schule und – in vielen Fällen – auf das Kerngeschäft des Unterrichtens zu konzentrieren. Zudem soll es darum gehen, Reflexionskompetenz systematisch so zu entwickeln, dass sie auch innerhalb der beruflichen Praxis im Sinne einer professionellen Weiterentwicklung genutzt werden kann. Weitere Argumente ergeben sich aus der oben vorgenommenen Bestimmung von schul- und unterrichtsbezogener Reflexionskompetenz. Wenn diese u.a. darin besteht, dass bei der Präsentation von Wissen das Einzelne im Fokus der Aufmerksamkeit steht und eine Beziehung zwischen Theorie(n) und konkreter Situation hergestellt wird, dann scheint Fallarbeit genau diese Anforderungen erfüllen zu können. Um die möglichen Gewinne und Grenzen von Fallarbeit zur systematischen Entwicklung schul- und unterrichtsbezogener Reflexionskompetenz abschätzen zu können, ist es jedoch erforderlich, genauer zu hinterfragen, was – und damit komme ich zu den oben angesprochenen Differenzen – im Einzelnen unter Fallarbeit zu verstehen ist bzw. verstanden werden kann. Was ist Fallarbeit? Ein Blick in die Literatur macht zunächst deutlich, dass hinsichtlich Begrifflichkeit und Konzeptionierung keine Übereinstimmung herrscht, wobei unterschiedliche Begriffe zum Teil mit unterschiedlichen theoretischen Konzepten verbunden sind, zum Teil aber auch nicht. Fallarbeit, Fallrekonstruktion, Fallstudie, Fallanalyse und Kasuistik werden teils synonym (vgl. z.B. Gruschka 1999: 160ff.), teils in deutlicher Abgrenzung voneinander verwendet (vgl. z.B. Ohlhaver/Wernet 1999b; Oevermann 2000). Weitgehend ungeklärt ist auch die Frage, ob zwischen Fallarbeit im Rahmen der Ausbildung und Fallstudien im Kontext qualitativ-empirischer Forschung – so also die hier von mir gesetzte begriffliche Differenzierung – lediglich graduelle oder möglicherweise auch qualitative Unterschiede bestehen (vgl. Scherler 2006). Welche Folgerungen ziehen die unterschiedli-

U NGEWISSHEITSBEARBEITUNG

DURCH

REFLEXIVITÄT

| 311

chen Zielsetzungen – Steigerung von Reflexionskompetenz7 vs. Erkenntnisgewinn – nach sich? Unter Berücksichtigung der aktuell in den Fachdidaktiken und der Erziehungswissenschaft diskutierten Verfahren8 konzentriere ich mich im Folgenden auf unterschiedliche Varianten von Fallarbeit im Rahmen der Ausbildung. Dabei diskutiere ich zunächst die Frage, was reflektiert wird (bzw. reflektiert werden sollte): Unterricht oder Erfahrungen von Unterricht (2). Nachfolgend steht die Frage der Umsetzbarkeit von im Rahmen des Studiums erlernten Auswertungsverfahren in die berufliche Praxis im Zentrum (3). Hierbei wird der Bogen von an wissenschaftlicher Forschung orientierten Methoden, beispielhaft an der objektiven Hermeneutik dargestellt, zu eher praxisnahen Verfahren gespannt. Falldarstellung: zwischen Transkript und Narration Unterricht ist ein flüchtiges Geschehen und muss daher für systematische Bearbeitungen fixiert werden. Im Anschluss an Bergmann (1985: 305) lässt sich zwischen einer registrierenden und einer rekonstruierenden Konservierung unterscheiden. Zur Gruppe der Erstgenannten gehören z.B. Videoaufnahmen, während alle Formen der sprachlichen Vergegenwärtigung rekonstruierende Konservierungen darstellen. Aber auch Videoaufnahmen müssen für die Datenauswertung weiter aufbereitet werden. Innerhalb der objektiven Hermeneutik geschieht dies durch die Transformation in Transkripte,

7

Selbstverständlich werden mit Fallarbeit auch noch weitere Zielsetzungen verbunden, wie z.B. die Einführung in pädagogisches Sehen und Denken, die Erweiterung praxisbezogenen Wissens etc. (vgl. z.B.Günther 1978; Scherler/Schierz 1995a; Müller 1997; Bauersfeld 1999; Ohlhaver/Wernet 1999b; Beck u.a. 2000; Schierz/Thiele 2002).

8

Einen Vergleich unterschiedlicher Fallarbeitskonzepte legen Schierz/Thiele/ Fischer (2006) vor. Dabei spannen sie den Bogen von Konzepten, bei denen der Fall primär Ausgangspunkt für die gezielte Suche nach theoretischen Wissensbeständen ist – wie z.B. beim Problem-based Learning der deutschen Medizinerausbildung – bis hin zu solchen, die als Fallberatung weitgehend auf wissenschaftliche Wissensbestände verzichten (vgl. ebd.: 68ff.). Heinzel/Alexi/Marini vergleichen die Effekte der Arbeit mit Real- gegenüber denen von Papierfällen (vgl. 2011).

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die von Oevermann als »natürliche Protokolle« (1991: 270) bezeichnet werden und bei denen er davon ausgeht, dass sie »gültige Ausdrucksgestalt der Sache selbst« sind (ebd.: 303). Dieser »methodologische Realismus« (vgl. Flick 2000: 184) wird von anderer Seite aber durchaus mit Skepsis betrachtet. Bergmann betont, dass auch Videoaufzeichnungen nicht das »wirkliche« Geschehen registrieren: »Zur ›Wirklichkeit‹ eines sozialen Geschehens gehört ja gerade das, was seine methodische Fixierung für die soziologische Analyse notwendig macht, – seine Flüchtigkeit. Aber eben mit seiner Fixierung büßt ein soziales Geschehen seine Flüchtigkeit ein. Demnach ist die audiovisuelle Aufzeichnung eines sozialen Geschehens keineswegs die rein deskriptive Abbildung, als welche sie zunächst erscheinen mag, ihr ist vielmehr in ihrer zeitmanipulativen Struktur grundsätzlich ein konstruktives Moment eigen [Herv. i.O.].« (Bergmann 1985: 317) Darüber hinaus stellen auch Videoaufzeichnungen immer eine Auswahl aus der »amorphen Ereignismasse« dar (ebd.: 308) und enthalten damit weitere konstruktive Anteile, »die aus solchen zugegebenermaßen banalen Entscheidungen resultieren, wann die Aufzeichnung beginnt und endet« und »welches Medium der Aufzeichnung verwendet wird« (Flick 2000: 183). Bergmann (1985: 317) spricht demzufolge von einem »konstruierten Realismus« und »hergestellte[r] Authentizität«. Oevermann betont demgegenüber, dass die technisch bedingte Selektivität von Aufzeichnungsgeräten im Gegensatz zur Selektivität der erkennenden und wahrnehmenden Subjektivität gegenüber den Sinn- und Bedeutungsstrukturen der zu protokollierenden Wirklichkeit indifferent ist, diese also »unverzerrt, gewissermaßen ›naturgetreu‹« wiedergegeben werden (Oevermann 2000: 85). Konstruktivistische Ansätze gehen davon aus, dass auch die Datenaufbereitung nicht ohne konstruktive Anteile denkbar ist. Dies betrifft analog zur Aufzeichnung zunächst Fragen der Auswahl und Detaillierung: Was soll wie detailliert in ein Protokoll aufgenommen werden? Weiterhin stellt sich hier die Frage nach der Art und Weise der sprachlichen Darstellung. Scherler (1992: 216ff.) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Verschriftungen, Beschreibungen und Erzählungen. Verschriftungen beschränken sich auf die wörtliche Wiedergabe des Gesprochenen auf der Basis linguistischer Transkriptionssysteme. Allein der Umstand, dass es unterschiedliche Transkriptionssysteme gibt, macht bereits deutlich, dass auch hier konstruktive Anteile nicht zu umgehen sind. Darüber hinaus be-

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schränkt sich schulischer Unterricht – und besonders der Sportunterricht – nicht auf verbale Äußerungen (vgl. auch Scherler/Schierz 1995a: 14f.). Beschreibungen beziehen darüber hinaus die sinngemäße Wiedergabe von Gesprochenem ein sowie nicht-sprachliche Handlungen und Kontextinformationen. »Die Paradoxie der Beschreibung liegt darin, daß man etwas beschreibt, um es besser zu verstehen; daß man etwas aber nur dann beschreiben kann, wenn man dies schon verstanden hat.« (Scherler 1992: 217) Erzählungen stellen nun die Form dar, in der die konstruktive Leistung des Darstellenden am größten ist. Der Erzähler gibt der Erzählung einen Rahmen und Faden. Er »weiß, was er dem Hörer oder Leser erzählen will. Seine und dessen Erwartungen, Interessen, Vorverständnisse bestimmen den Gang der Erzählung. Die Erzählung sagt über den Erzähler und dessen Bild vom Hörer so viel wie über ein Geschehen. Das Lehrreiche, nicht das Wirkliche steht im Vordergrund. Die Auslegung rekonstruiert, was in der Erzählung schon angelegt ist und nimmt dazu Stellung.« (Ebd.: 218) Für Oevermann beinhaltet die Übersetzung von aufgezeichneten sprachlichen Äußerungen in die Schriftsprache kein Problem, im Gegenteil: »Schriftsprachlichkeit ist einerseits erfolgreiche Notierung der nur unmittelbar hörbaren Sprache und andererseits als diese Notierung immer schon viel mehr: nämlich das Zu-sich-selbst-Bringen von Sprache in der Radikalisierung der Konstitution von Bedeutung, losgelöst von der Unmittelbarkeit des fesselnden Hier und Jetzt des Wahrnehmungs- und Handlungsfeldes einer Praxis.« (Oevermann 2000: 109f.) Problematisch wird jedoch die Notation nicht-sprachlicher Ausdrucksgestalten, da entsprechende Notationssysteme nur begrenzt zur Verfügung stehen. Oevermann spricht hier u.a. auch die Notation von Bewegungssequenzen und Filmausschnitten an, hinsichtlich derer »nach wie vor große ungelöste Probleme« bestehen (ebd.: 115). Da Beschreibungen – auf die angesichts fehlender Notationssysteme zurückgegriffen wird – im Unterschied zu Notationen nicht ohne interpretative Anteile auskommen (ebd.: 113), werden sie von Oevermann als praktische Operationen verstanden und nicht als Forschungsmethoden. Dementsprechend votiert er dafür, den Begriff der Beschreibung ganz fallen zu lassen und sich auf Notationen zu beschränken (ebd.: 114). Eine Lösung für die Darstellung nicht-sprachlicher Ausdrucksgestalten liefert Oevermann damit allerdings nicht.

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Diese bietet sich dann, wenn man eine konstruktivistische Perspektive einnimmt und wie z.B. Schierz (1997) der Erzählung9 einen zentralen Stellenwert für die didaktische Forschung und Lehre zuweist. Da jede Darstellung von theoretischen Prämissen durchwirkt ist und Daten nicht ihre eigene Geschichte erzählen können, wird nach Schierz die »Realität der Erzählung, auch einer solchen, die sich auf Daten stützt, […] erst durch eine konstruktive Leistung als eine kohärente Realität erzeugt« (ebd.: 12). Aber nicht nur Daten einerseits und Fakten oder Tatsachen andererseits sind zu unterscheiden (vgl. auch Scherler/Schierz 1995a: 95), sondern auch die Dichotomie von Realität und Imagination ist zu hinterfragen. »Der Transformation von Daten in Tatsachen und der von Tatsachen in Erzählungen ist immer deutende Phantasie beigemischt, die einen plot als einen möglichen Sinn stiftenden Zusammenhang, aber nicht als einzig wirklichen denkbar erscheinen lassen. Zwischen purer Fiktion, die Ereignisse (Daten) erfindet, und dem Ideal interpretationsfreier Deskription, die bezeugte Ereignisse (Daten) wiedergibt, liegt ein Erzählkontinuum, auf dem sich Deskription, Imagination und Fiktion untrennbar miteinander verschränken.« (Schierz 1997: 13) Noch einen Schritt weiter geht Messmer, der einen engeren Erzählbegriff wählt und mit der Verwendung von Narrationen in Forschung und Lehre einem Paradigmenwechsel – im Anschluss an den turn to narrative in den Sozialwissenschaften – folgt. Für ihn zählt weder die objektivste Form noch die schlüssigste Argumentation, sondern »die Bedeutung des Dargestellten« (Messmer 2005: 221). »Erzählungen erhalten damit die Aufgabe, den Bedeutungsgehalt von realen Situationen darzustellen. Damit ist aber ein Bedeutungspluralismus gemeint, sowohl für die beteiligten psychischen als auch die sozialen Systeme.« (Ebd.: 222) Messmer erhebt mit diesem Ansatz nicht den Anspruch, Wahrheit abzubilden, sondern Anschluss an die Denkmuster angehender Lehrer/innen zu finden und damit Wirkungen auf deren Handlungsweisen zu erzielen (vgl. Messmer 2011). Im Gegensatz dazu lassen sich an die objektive Hermeneutik anknüpfende Falldarstellungen als Versuch deuten, ›der Realität‹ von Schule und Unterricht möglichst nahe zu kommen. Aus einer konstruktivistischen Perspektive erzeugt dies zumindest Rückfragen hinsichtlich:

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Schierz arbeitet mit einem weiten Erzählbegriff, der »die Wiedergabe eines Geschehens von einem point of view« bezeichnet (1997: 11f.).

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der Annahme einer existenten Wirklichkeit und der Annahme, dass sich diese Wirklichkeit durch entsprechende Protokolle abbilden lässt.10

Folgt man der These, dass es um die Herstellung von möglichst großer Nähe zur ›Realität‹ von Schule und Unterricht geht, dann erscheint hier aus konstruktivistischer Perspektive eine andere Variante deutlich erfolgversprechender. Sie basiert auf der Prämisse, dass Lehrer/innen – z.B. in der Auseinandersetzung mit Konflikten oder verfehlten Zielsetzungen – nicht ›den‹ Unterricht reflektieren, sondern ihre Erfahrung von Unterricht (vgl. auch Scherler 1992: 216f.). Das, was für Lehrer/innen Anlass zur Reflexion gibt – und auch im Sinne einer professionellen Weiterentwicklung geben sollte –, sind Geschehnisse, in die sie selbst (handelnd und auch emotional) involviert waren, die sie aus einer bestimmten Perspektive erlebt haben. Flick unterscheidet dementsprechend zwischen Ereignissen, die zu Erfahrungen werden, welche sich wiederum zu Texten transformieren lassen. »Welche formale Gestalt und welchen Inhalt dieser Text hat, ist jeweils Ergebnis subjektiver und sozialer Konstruktion und leitet sich nicht aus der Erfahrung oder Sache per se ab. Erfahrungen werden in Alltagsinteraktionen von den Beteiligten in einer spezifischen Version dargestellt – für sich und für andere.« (Flick 2000: 191) Vergleichbar spricht Thonhauser (1996: 62) von Fall-Geschichten als Gegenstand von Erinnerungsarbeit. Wenn aber nicht ›der‹ Unterricht sondern Erfahrungen von Unterricht Gegenstand professioneller und auch professionalisierender Reflexion sind, dann könnte Nähe zu dieser Realität dadurch hergestellt werden, dass sich

10 Dazu Flick (2000: 189f.): »Zunächst wird unhinterfragt eine existente Wirklichkeit angenommen, der sich mittels der objektiven Hermeneutik ›unter die Röcke greifen‹ läßt. Der Fallrekonstruktion gelingt es, den Kern dieser Realität freizulegen – ausgehend von ihrer ›realen Sequentialität‹ (Oevermann 1991: 271) hinführend zu Strukturen als eine auf andere nicht reduzierbare, objektiv gegebene, das heißt methodisch zwingend nachweisbare Realität (Oevermann 1993: 113). Nicht nur die (untersuchte soziale) Realität wird ungetrübt von konstruktivistischen (Selbst-)Zweifeln als gegeben unterstellt, sondern auch der Charakter der rekonstruierten Strukturen als objektiv gegebene Realität angenommen. Schließlich werden Konstruktionsprozesse bei der Erstellung von Datenmaterial (programmatisch als Protokoll bezeichnet) völlig ignoriert.«

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auch Fallarbeit im Rahmen der Ausbildung auf Erfahrungen von Unterricht bezieht. Dies wäre im Sinne einer zielgerichteten Ausbildung eine andere Art von ›Realitätsnähe‹, die im Unterschied zum Verfahren der objektiven Hermeneutik auch deshalb ›realistischer‹ und damit erfolgversprechender ist, weil sie ›realisierbar‹ ist – denn sie scheitert nicht an fehlenden Notationssystemen nicht-sprachlicher Anteile von Unterricht ebenso wenig wie an fehlenden Videoaufzeichnungen kritischer und damit reflexionswürdiger Ereignisse. Fallrekonstruktion11: zwischen wissenschaftlicher Forschung und praktischer Verwendbarkeit Wie bereits angedeutet, wird der Pol der wissenschaftlichen Forschung nachfolgend am Beispiel nur eines Verfahrens, nämlich der Sequenzanalyse im Rahmen der objektiven Hermeneutik, dargestellt. Das bietet sich auch im Anschluss an die Überlegungen zur Falldarstellung an, da sich diese ebenfalls stark an Oevermanns Ansatz orientiert haben. Das Herzstück der Fallrekonstruktion innerhalb der objektiven Hermeneutik ist die Sequenzanalyse, mit deren Hilfe die Fallstruktur herausgearbeitet wird. Dabei handelt es sich nicht nur um ein äußerst anspruchsvolles, sondern auch um ein ausgesprochen detailliertes und aufwendiges Verfahren, so dass in der Regel nur sehr kleine Textmengen ausgewertet werden können. Das ist deshalb nicht problematisch, weil bereits wenige Textsequenzen ausreichen, um eine hinreichende Fallrekonstruktion durchzuführen, sofern elementare Regeln wie die Prinzipien der Totalität und der Wörtlichkeit eingehalten werden (vgl. Oevermann 2000: 97ff.). Zudem ist die Anzahl der zu rekonstruierenden Fälle häufig gering, der Aufwand nimmt von Fall zu Fall ab. »Insgesamt ist also die Methode der Fallrekonstruktion in der Forschungspraxis und in der klinischen bzw. pädagogischen Praxis viel weniger zeitaufwendig, als es immer wieder hingestellt wird.« (Ebd.: 100) Das anspruchsvolle Verfahren der objektiven Hermeneutik soll nach Oevermann also auch von angehenden Lehrer/innen erlernt und in ihrem späteren Berufsalltag angewendet werden (vgl. ebd.: 60; Oevermann 2002).

11 Auch hinsichtlich dieses Begriffes herrscht keine Einigkeit. Ich verstehe ihn hier synonym zu dem der Fallauslegung oder -interpretation, also nicht begrenzt auf das Verfahren der Fallrekonstruktion im Rahmen der objektiven Hermeneutik.

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Dabei geht Oevermann von einem Kontinuum zwischen einer »praktischabgekürzten« Version der Fallrekonstruktion, die sich im intuitiven, auf Berufserfahrungen basierenden Fallverstehen professionalisierter Lehrer/innen zeigt (ebd.: 156) und der wissenschaftlichen Operation der Fallrekonstruktion aus (vgl. ebd.: 154). In der alltäglichen Praxis von Lehrer/innen erlaubt die Dominanz von Handlungs- und Entscheidungsdruck lediglich ein »naturwüchsiges und kunstlehrerhaftes Fallverstehen« (ebd.:58), das in der Regel ausreicht, um die Praxisanforderungen zu erfüllen. Das explizite Verfahren der objektiven Hermeneutik erfüllt nach Oevermann drei zentrale Funktionen. Zum ersten dient es der Explizierung und Erklärung des naturwüchsigen Fallverstehens, so dass den Lehrpersonen zweitens die Möglichkeit eröffnet wird, sich gegenüber szientistischen, subsumtionslogischen Verfahren zu rechtfertigen. Zum dritten ist eine detaillierte Fallrekonstruktion dann notwendig, wenn Krisen, in die das abgekürzte, intuitive Fallverstehen geraten kann, geklärt werden müssen. Auch die Supervision angesichts unzweckmäßiger Routinisierung basiert auf einer expliziten Fallrekonstruktion (ebd.: 154ff.). Für den vorliegenden Kontext, in dem es um Reflexionssteigerung durch Fallarbeit geht, ist vor allem der dritte Punkt von Interesse. Dieser erzeugt allerdings auch einige Rückfragen. Zum einen betrifft dies das von Oevermann konstatierte Kontinuum, welches in folgender Aussage sogar noch gesteigert wird: »Der professionalisiert Handelnde erweist sich so hinsichtlich der diagnostischen Anteile seiner Berufspraxis als naturwüchsiger objektiver Hermeneut, ohne je etwas von dieser Methodologie erfahren haben zu müssen.« (Ebd.: 58f.) Diese Aussage verwundert angesichts der ansonsten von Oevermann sehr scharf aufgebauten Differenzen zwischen objektiver Hermeneutik und »Nachvollzugshermeneutiken« sowie wissenssoziologischen Interpretationsverfahren. Während er diesen u.a. eine »unkritische, bloß paraphrasierende Abschilderung der zu analysierenden Erscheinungswelt« attestiert (ebd.: 96), erhebt er den Praktiker zum »naturwüchsigen objektiven Hermeneuten«. Berücksichtigt man die in allen Darstellungen der objektiven Hermeneutik deutlich werdende Komplexität des Verfahrens der Sequenzanalyse (vgl. z.B. Oevermann 2000), dann erscheint die Auffassung vom »naturwüchsigen objektiven Hermeneuten« und dem »praktisch-abgekürzten Fallverstehen« doch eher irritierend. Warum sollte ausgerechnet die praktisch tätige Lehrperson die Fallstricke vermeiden, denen offenbar nahezu alle Hermeneuten jenseits der objektiven

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Hermeneutik zum Opfer fallen? Diese Einschätzung wird auch durch Erfahrungen mit der Vermittlung objektiver Hermeneutik an Lehramtsstudierende bestätigt (vgl. z.B. Beck et al. 2000; Oevermann 2000: 155; aus zweiter Hand: Scherler 2006), denen Verständnis und Motivation für das Erlernen einer derart komplexen Methode fehlt, abgesehen davon, dass die Rahmenbedingungen des Lehramtsstudiums hierfür kaum geeignet sind.12 Insgesamt führen die dargestellten Überlegungen zu der Schlussfolgerung, dass auch dann, wenn eine detaillierte Fallrekonstruktion nur bei nicht anders zu lösenden Krisenfällen notwendig ist und die Bearbeitung weniger Zeit in Anspruch nimmt als zunächst angenommen, die Praktikabilität doch eher fragwürdig erscheint. Im Anschluss an den oben aufgeworfenen Topos der ›Realitätsnähe‹ ließe sich hier also erneut hinterfragen, wie realistisch es ist, dass Sequenzanalysen im Sinne der objektiven Hermeneutik zu Instrumenten der Krisenbearbeitung von Lehrkräften werden können. Helsper reduziert in seinen Überlegungen zur Professionalisierung von Lehrer/innen die Ansprüche an die Fallrekonstruktion bereits erheblich. Er erwartet keine objektiv-hermeneutische, sondern eine rekonstruktiv-hermeneutische Kompetenz (Helsper 2001: 14). Die Sequenzanalyse wird verstanden als Rekonstruktion »Schritt für Schritt entlang des Ablaufs eines Textes […]. Dabei wird – zuerst ohne jede Erklärungsabsicht – versucht, durch eine detaillierte Textinterpretation zu erschließen, was das Besondere dieses Falles ist. Darin durchdringen sich rekonstruktive und konstruktive Momente: Denn an jeder Stelle des Textes wird gefragt, wie könnte es weitergehen? Dadurch werden differente Handlungsanschlüsse gedankenexperimentell entworfen, aus denen der faktisch realisierte lediglich eine Option darstellt. Damit kommt die Besonderheit des Falles, als selektive Auswahl aus verschiedenen Optionen in den Blick, aber zugleich auch die ungenutzten Handlungsmöglichkeiten.« (Ebd.: 14) Dies stellt doch eine deutlich ›abgespeckte‹, allerdings auch weitaus realistischere Version dessen dar, was Oevermann für die Lehrer/innenausbildung vorsieht.

12 Auch Krummheuer verweist auf vergleichbare Schwierigkeiten: »Legt man hierbei den (strengen) Maßstab der in der Forschung vertretenen methodologisch kontrollierten und theoretisch orientierten Analyse an, so zweiteilt man nach meiner Erfahrung das Seminar in eine Gruppe von an dieser Forschung interessierten und in eine Gruppe von eher theorieabweisenden, vorwiegend an direkt handlungsanleitenden Ergebnissen orientierten Studierenden.« (1999: 100)

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Auch Bauersfeld weist darauf hin, dass es nicht darauf ankommt, »perfekte Interpretierer auszubilden. […] Wohl aber kommt es bei der Anleitung darauf an, Distanz zu gewinnen zu ihren allzu geläufigen Erstinterpretationen, daß sie ihre Deutungsrepertoires erweitern und damit an Urteilsfähigkeit wie an Selbstreflektiertheit zunehmen.« (Bauersfeld 1999: 205) In den anglo-amerikanischen Überlegungen zum reflektierenden Praktiker geht es explizit um die Vermittlung von Fähigkeiten an Studierende, die diese in ihrer späteren Praxis zur Unterrichtsreflexion nutzen können (vgl. Zeichner/Liu 2010: 69). Realitätsnäher erscheinen hier also Varianten, die sich nicht primär an wissenschaftlichen Forschungsmethoden orientieren, sondern an innerhalb der Ausbildung lehr- und lernbaren Verfahren, die dann ohne ›Abkürzung‹ in der alltäglichen Praxis zum Einsatz kommen können. Solche Verfahren sind bspw. das Fallberatungsmodell von Müller/Mechler/Lipowsky (1997) oder das Schrittmodell didaktischen Theoretisierens von Scherler/Schierz (1987). In diesen Konzepten werden Hilfen in Form von Leitfragen oder Arbeitsschritten formuliert, die sich direkt für die Reflexion eigener Praxis im späteren Lehrer/innenberuf nutzen lassen. Auf der Seite der an praktischer Verwendbarkeit orientierten Verfahren ließe sich nun hinterfragen, ob sie tatsächlich zur Steigerung von Reflexionskompetenz in der angezielten Art und Weise führen. Im Rahmen der anglo-amerikanischen Bemühungen um eine reflexive Lehrer/innenbildung finden sich (nicht explizit auf Fallarbeit bezogen) durchaus auch kritische Einschätzungen: »A major focus of criticism is the degree to which reflective practices serve to reinforce existing beliefs rather than challenge assumptions. Some reflective practices may simply be exercises in reconfirming, justifying, or rationalizing preconceived ideas.« (Fendler 2003: 16) Die verwendeten Konzepte müssten sich also auch an der Frage messen lassen, inwieweit es ihnen gelingt, tiefergehende Reflexionen zu initiieren. Ein Manko, das sowohl an wissenschaftlicher Forschung als auch an praktischer Verwendbarkeit orientierte Verfahren gleichermaßen betrifft, ist jedoch das fast vollständige Fehlen empirischer Untersuchungen der tatsächlichen Effekte von Fallarbeit im deutschsprachigen Raum (vgl. Heinzel/Alexi/Marini 2011; Lüsebrink 2011). Im anglo-amerikanischen Raum existiert bereits eine größere Zahl empirischer Studien. Sie befassen sich mit unterschiedlichen Fragen, wie z.B. nach der Bedeutung der Gruppendiskussionen im Rahmen der Fallbearbeitung oder der Rolle der Diskus-

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sionsleiter/in (vgl. Levin 1999a, 1999b). Die Untersuchungen zeigen einerseits, dass sie zur Ausdifferenzierung, Klärung und Konkretisierung der Zielsetzungen beitragen. Andererseits liegen die Schwächen dieser sich eher als Aktionsforschung verstehenden Richtung darin, dass detaillierte Darstellungen des Forschungsvorgehens fehlen (vgl. auch Harrington 1999: 33; Lundeberg/Levin/Harrington 1999).

4. F AZIT »Reflexivität – eine erfolgversprechende Strategie für die Bearbeitung von Ungewissheit?«, so lautete die Leitfrage meiner Überlegungen. Zur Beantwortung habe ich zunächst kurz dargestellt, dass – trotz erheblicher Unterschiede in der Schwerpunktsetzung – zumindest Einigkeit darüber besteht, dass die Praxis des Lehrer/innenhandelns nicht frei von Ungewissheit gedacht werden kann. Auch wenn die Rede vom Technologiedefizit der Erziehung und des Unterrichts nicht bedeutet, dass Lehrer/innen in ihrem Arbeitsalltag keine Technologien zur Verfügung stehen, bedürfen diese »paradoxen Technologien« (Tenorth 1999) doch der Ergänzung durch Reflexivität angesichts der zu leistenden Bestimmungsarbeit. Interessant ist allerdings, dass Studierende häufig zunächst hierfür sensibilisiert, sprich: verunsichert werden müssen, da sie z.T. mit sehr festen Gewissheiten darüber, wie Schule und Unterricht funktionieren und was jeweils zu tun ist, ins Studium kommen. Dass Reflexivität ganz allgemein zur Bearbeitung von Ungewissheit dient, darüber herrscht ebenfalls relativer Konsens. Zu klären war jedoch, was Reflexivität im Kontext pädagogischer Professionalität im Detail bedeutet. Dies hatte zum ersten eine Zuspitzung auf schul- und unterrichtsbezogene Reflexivität zur Folge, zum zweiten findet sich in der deutschsprachigen Diskussion eine Steigerung zur wissenschaftlichen Reflexivität, eine durchaus anspruchsvolle, möglicherweise auch unrealistische Zielsetzung. So zeigen zumindest die Ergebnisse der Wissensverwendungsforschung, dass die Integration wissenschaftlichen Wissens in die Reflexion praktischer Probleme eher unwahrscheinlich und mit vielen Fragezeichen hinsichtlich dessen versehen ist, was genau mit den wissenschaftlichen Wissensbeständen in der Verwendung passiert (vgl. Bommes/Dewe/Radtke 1996).

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Darüber hinaus ist eine zielgerichtete Entwicklung von Reflexionskompetenz auf weitere Konkretisierungen der zugrunde liegenden Zielsetzung angewiesen. Und umgekehrt ermöglichen diese Konkretisierungen eine Auswahl sinnvoller Verfahren – z.B. aus dem breiten Spektrum von Ansätzen zur Fallarbeit. Diese wurden zwischen den Polen von objektivistischen und konstruktivistischen Herangehensweisen primär unter dem Fokus einer realistischen (resp. realisierbaren) Umsetzung diskutiert. Als entscheidend für die Auswahl wurde herausgestellt, dass die Studierenden in Verfahren eingeführt werden, die sie auch in ihrer späteren Berufspraxis nutzen können. Dies spricht für eine Orientierung an Unterrichtserfahrungen – nicht an Unterricht. Eine besondere Schwierigkeit der Reflexion eigenen Unterrichts liegt ja gerade darin, dass dieser nicht aus einer Außenperspektive erlebt wird, sondern Lehrer/innen als Involvierte in die Situation, in Konflikte, Auseinandersetzungen u.Ä.m. verstrickt sind. Trotzdem muss es ihnen gelingen, Distanz aufzubauen, die Perspektiven der Schülerinnen und Schüler einzunehmen und so zu anderen Rahmungen der Situation und damit auch zu anderen Lösungsmöglichkeiten zu gelangen. Der Blick auf die spätere Berufspraxis spricht zudem für Auswertungsverfahren, die nicht durch zu hohe Komplexität und zu großen Zeit- und Arbeitsaufwand von vornherein an den schulischen Rahmenbedingungen scheitern. Gleichzeitig müssen die Verfahren aber die Möglichkeit eröffnen, ›tatsächlich‹ zu neuen Einsichten zu gelangen und nicht nur vorhandene Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zu bestätigen. Im Rückblick auf 25 Jahre reflexiver Lehrer/innenausbildung in den USA kommen Zeichner und Liu zu einem eher skeptischen Fazit hinsichtlich angezielter Effekte: »Here, despite all of the rhetoric surrounding efforts to prepare teachers who are more reflective and analytic about their work, in reality, reflective teacher education has done very little to foster genuine teacher development.« (Zeichner/Liu 2010: 70) Für den deutschsprachigen Raum scheint mir noch gar keine ausreichende Fokussierung von Reflexivität als zentralem Ziel der Lehrer/innenausbildung vorzuliegen. Schaut man sich z.B. die gängige Prüfungspraxis an, dann steht das Abprüfen von Wissen nach wie vor im Vordergrund. Für weitergehende Umsetzungen sind neben den hier angesprochenen Zuspitzungen dessen, was Reflexivität im Rahmen der Lehrer/innenausbildung bedeutet, auch verstärkte Forschungen zu den angezielten Effekten notwendig.

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U NGEWISSHEITSBEARBEITUNG

DURCH

REFLEXIVITÄT

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Kommunikation im Sportunterricht – möglich? P ETER F REI

Im Zuge der jüngst von der Politik einmal mehr bekräftigten Losung »Exzellenzinitiative Lehrerbildung« (Bundesforschungsministerin Schavan) dürften auf Seiten jener Wissenschaftskollegen, die sich mit Lehrerbildung beschäftigen, ebenfalls einmal mehr zarte Hoffnungen für ihre zukünftigen Arbeiten geweckt worden sein. Denn zum Inhalt dieses Aufrufs gehört die Forderung nach erhöhten Praxisanteilen in der Lehrerbildung, die dann auch noch entsprechend theoretisch rückgebunden sein sollten. Schnell ist der, natürlich tendenziöse Anschluss zu den schon ein wenig länger zurückliegenden Empfehlungen der KMK zur stärkeren Entwicklung forschungsorientierter Fachdidaktiken hergestellt (vgl. Terhart 2000). Und es fällt nicht nur nicht schwer, beide Entwicklungsbekundungen zu verbinden, sondern es ergeben sich naheliegende positive Auslegungen. Eine dieser Auslegungen könnte darin liegen, dass endlich von einem weiten Praxisverständnis ausgehend eine Professionalisierung pädagogischen Handelns in der Lehrerbildung angegangen wird bzw. werden soll. In weiterer Präzisierung hieße das dann, nicht nur Gefallen am Ruf nach mehr Praxis in der Lehrerbildung zu finden (vgl. Wernet/Kreuter 2007), sondern der vermeintlichen Dignität des (eigenen) Unterrichtens zu misstrauen und vielmehr einen reflexiven Zugang zur unterrichtlichen und schulischen Praxis in einen hohen Stand zu heben. Ein Zugang im diskursiven Modus, der die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer nicht als Schülerinnen und Schüler trivialisiert, sondern eine »Kultur der professionellen Kooperation« (Terhart 1996: 463) zu implementieren hilft. Kein leichtes Unterfangen, weil, so

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wird noch zu zeigen sein, der Modus Operandi, nämlich Kommunikation, grundsätzlich kontingent strukturiert ist, aber in pädagogischen Kontexten beinahe a priori als einvernehmliche Koordinierungsoption gefasst wird. Dabei hat bereits Mollenhauer in seiner Gleichsetzung von Erziehungshandeln und kommunikativen Handeln auf das Disparate, eben nicht zwingend Einvernehmliche von Kommunikation hingewiesen (vgl. Mollenhauer 1972: 71f). Dennoch, so die These, wird für pädagogische Handlungskontexte, zumal schulische, Kommunikation auf einseitige, eben konsensorientierte Art gefasst. Die gesamte Lehrerbildung ist mit der Differenzierung in Gelingen und Stören von dieser Orientierung durchzogen. Die Steuerungsbegriffe sind jene von Rollenübernahme und/oder Perspektivenübernahme, die Konsequenzen erheblich und der folgende Dreischritt als Gegenposition natürlich ein wichtiges Anliegen.

1. K OMMUNIKATION

ALS KONTINGENTES

G ESCHEHEN

Eine nachhaltige Entzauberung eines ebenso hoffnungsgeladenen wie schlichten Verständnisses von Perspektivenübernahme liefert bereits Gadamer in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode. Perspektivenübernahme in personaler Verständigung ist demnach dergestalt zu fassen, »[…] daß das Verstehen sich nicht auf ein Sichversetzen in den anderen, auf eine unmittelbare Teilhabe des einen am anderen gründet. Verstehen, was einer sagt, meint, […] sich in der Sprache Verständigen und nicht, sich in einen anderen Versetzen und seine Erlebnisse Nachvollziehen.« (Gadamer 1999: 387) Doch Verstehen ist nach Gadamer nicht nur eine Sache des Entwurfs, sondern auch eine solche der Erfahrung, die insbesondere dann produktiv ist, wenn sie negativer Art ist: »Es sind die gestörten und erschwerten Situationen der Verständigung, in denen die Bedingungen am ehesten bewusst werden, unter denen eine jede Verständigung steht.« (Ebd.) Indem ich als Gegenüber die Erfahrung mache, dass meine bisherige Meinung über eine Sache sich an der Auffassung des anderen bricht, sie also alles andere als absolut wahr sein kann, bin ich zu Korrekturen verpflichtet, wenn ich die Sache wirklich treffen will. Damit wäre nicht nur differenziert, was jenseits sozialromantischer Vorstellungen mit Perspektivenübernahme gemeint sein kann, sondern es entsteht ein grundlegender Sinn für sprachliche Kommunikation in partner-

K OMMUNIKATION IM S PORTUNTERRICHT –

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schaftlichen Handlungssituationen. Danach kann Kommunikation nicht nur bedingt durch die Absichten der beteiligten Partner bestimmt werden, sondern sprachlich-kommunikative Konventionen, der Vorrat an vergangenen, durchlebten Handlungssituationen führen zu einem kontingenten Charakter von Kommunikation. Und zwar in dem Sinne, dass in konkreten Handlungssituationen spezifische Anschlüsse und Verläufe für die Koordinierungsleistungen beider Partner genutzt werden. Diese Annahme von Kommunikation wird in systemtheoretischer Betrachtung weiter radikalisiert. Individuelle Präferenzen spielen nunmehr keine Rolle, sondern für das Zustandekommen von Kommunikation reicht bereits das Differenzmoment, bestehend aus An- oder Abnahme eines Kommunikationsangebots. Kommunikationspartner kalkulieren in ihren adressierten Botschaften die Antwortoptionen ihres Gegenübers, indem sie sich selbst antworten und schließlich die Erwartungshaltungen des anderen antizipieren. Dieses rationale Prinzip wird von Parsons vor dem Hintergrund eines utilitaristischen Handlungsverständnisses sehr nachhaltig herausgestellt und unter den Begriff der »doppelten Kontingenz« gefasst (vgl. Parsons 1968: 36). Dies meint die Kalkulation eines Aktors, ob sein Adressiertes auf Anerkennung oder Ablehnung stoßen wird. Handlungsentscheidungen sind bei Parsons letztlich individuelle Entscheidungen von Aktoren, die antizipativ aus Handlungsalternativen auswählen. Der Vorrat an kulturellen Praxen und Normen stellt die Folie für diese Entscheidungen parat. In wissenssoziologischer Wendung wird an dieser Stelle der Gattungsbegriff eingeführt. Dabei sind mit kommunikativen Gattungen allgemeine Strukturen von kommunikativen Vorgängen gemeint. In diesen Strukturen werden gesellschaftliche Wissensbestände verschiedener Explizitheitsgrade vermittelt. Mit kommunikativen Gattungen sind jene verbindlichen Lösungen angezeigt, mittels derer sich die Akteure über Ereignisse, Sachverhalte, Wissensbestände und Erfahrungen intersubjektiv unter verschiedenen Sinnkriterien verständigen. Innerhalb von Gattungen werden Themen vermittelt, bewältig und tradiert (vgl. Schütz/Luckmann 1984). Somit sind die mit kommunikativen Gattungen gefundenen Lösungen nicht zufällig, sondern verbindlich und wirksam organisiert. Bereits in der Organisation eines Kommunikationsangebots gibt es demnach ein Gesamtmuster, an dem der Adressierende orientiert ist. Ein Muster, das ihm selbst oft nicht bewusst ist, das aber in gleichförmiger Weise seinen kommunikativen Handlungen zugrunde liegt (vgl. Bergmann 1987: 35). Ein explizites, analytisches Wis-

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sen über diese Form der Regelhaftigkeit von Kommunikationsprozessen ist keine Voraussetzung für den Vollzug dieser Form – ein empirischer Bestand, der z.B. in Akten des Lobens begreifbar wird. Es ist eher ein vortheoretisches (implizites) Wissen darüber in Anschlag zu bringen, für welche soziale Situationen sich welche Gattungen anbieten. Im Zuge des parsons’schen Handlungsverständnis, zu dessen Weiterführung er selbst beitrug, sind zahlreiche Reformulierungen anderer namhafter Protagonisten angestoßen worden. Dabei wurde dieses Verständnis zunehmend daraufhin überprüft, inwiefern es dazu beiträgt, das Entstehen von Bedeutungskonventionen theoretisch zu erklären. Zu diesem Zwecke wurde die Sichtweise einer subjektiven Handlungsentscheidung eines Aktors aufgegeben und stärker auf die Geltungen von Aussagen fokussiert, die im intersubjektiven Prozess hergestellt werden und Handlungen koordinieren. Konsens, bei Habermas als nicht hintergehbare Orientierung kommunikativer Bemühungen bestimmt, wird als eine mögliche Wendung in Kommunikationsprozessen gesehen, nicht aber als theoretische Voraussetzung von Kommunikation (vgl. Luhmann 1984: 160). Zwar anerkennt auch Habermas die Möglichkeit, ja sogar die Wahrscheinlichkeit, dass Konsens nicht hergestellt wird; mit dem in diesen Fällen angeratenen Wechsel seiner Betrachtungsebene auf jene des Diskurses hält er jedoch an seiner Figur einer an universellen Geltungsansprüchen orientierten einvernehmlichen Verständigung fest (vgl. Habermas 1988: 115). Dies war (vgl. Waldenfels 1985: 110) und ist bis heute (Niederberger 2007: 213f.) der Kristallisationspunkt einer aus verschiedenen Richtungen artikulierten Idealismuskritik an der habermas’schen Idee einer kommunikativen Rationalität.1

1

In seinen Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns weist Habermas selbst beinahe emphatisch derartige Kritiken zurück: »Nichts macht mich nervöser als die in vielen Versionen und in den schiefsten Kontexten wiederholte Unterstellung, daß die Theorie des kommunikativen Handelns, weil sie auf die soziale Faktizität anerkannter Geltungsansprüche aufmerksam macht, eine rationalistische Gesellschaftsutopie entwerfe, mindestens suggeriere […] Die ideale Sprechsituation hat ihren Stellenwert in der Wahrheitstheorie; anhand dieses Modells habe ich, krude genug, versucht, die formalpragmatischen Voraussetzungen argumentativer Rede zu klären. Diskurse sind aber Inseln im Meer der Praxis, also unwahrscheinliche Formen der Kommunikation, auf deren Möglichkeit der alltägliche Appell an Geltungsansprüche

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MÖGLICH ?

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Habermas hält trotz eingeführter und später weiter ausgeführter Relativierungen an universellen Geltungsansprüchen fest und weist partikulare, oft eben nicht an Einvernehmlichkeit orientierte Handlungen zwischen Akteuren in die Sphäre des Nicht-Kommunikativen: des Strategischen. Dabei ist offensichtlich, wem das moralisch einwandfreiere Primat zusteht. Kommunikation wird aufwendig als Garant für eine Reproduktion von Lebenswelt eingeführt, wohingegen genau dieser Lebenswelt durch die Modi systemischer Rationalität Gefahr droht (vgl. Habermas 1988 : 522). Eine Mediatisierung der Lebenswelt als Indiz für eine Entkoppelung von Lebenswelt und System ist dabei das Damoklesschwert (vgl. ebd.: 229ff.). In sportpädagogischen Diskursen finden sich Spuren einer derartigen Gegenüberstellung lebensweltlicher, zum Vorrat gesellschaftlicher, kultureller und persönlicher Gewissheiten gehörenden Wissensbeständen einerseits, und kontrafaktischer, systemischer Rationalitäten andererseits. Pädagogische Konzepte wie z.B. die ›bewegte Schule‹, das Plädoyer für eine tägliche Sportstunde, Anti-Dopingkampagnen und der omnipräsente Verweis auf die Bedeutung von Fair Play verdanken sich derartigen Gegenüberstellungen. Zwar scheint auch in wissenschaftlich motivierten Argumentationen das moralische Primat auf, längst aber nicht in der plakativen Wendung naiver alltags- und populärwissenschaftlicher Diskurse: hier Sport, Spiel und Bewegung als Garanten guten Lebens, dort die medialen, ökonomischen und asozialen Rationalitäten, die selbiges verhinderten und u.a. zu einer Degeneration einer ganzen Jugendgeneration beitrügen – eine Jugend, die, mal zu dick, mal hyperaktiv, mal sozial verarmt, letztlich motorische Defizite aufweise. Nein, sportpädagogische Diskurse sind bisweilen von leichten Verzauberungen geprägt, wenn es um den Stellenwert von Kommunikation geht. Da wird dann im Pathos sozialen Handelns die Konstituierung von Kommunikation mit einem Empathieverständnis konfrontiert, das Verstehen und Verständigung in pädagogischen Situationen angeblich garantiere. Empathie wird dabei als die Möglichkeit und Fähigkeit verstanden, »sich in die Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle eines anderen hineinzuversetzen und sein Handeln daran auszurichten« (KleindienstCachay 1996: 19). In anderer Wendung wird dies als eine Form der kommunikativen Kompetenz ausgewiesen, die wiederum zur Qualität sozialen

allerdings implizit verweist. Nur insofern sind Idealisierungen auch in die Alltagspraxis eingebaut.« (Habermas 1984: 499f.)

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Handelns stilisiert wird (vgl. Ungerer-Röhrich et al. 1990; Ungerer-Röhrich 1994). Was allerdings unter einer solche Kompetenz zu verstehen ist und wie soziale Handlungen entstehen, bleibt vage. Mal wird darauf verwiesen, dass Lehrer zum Zwecke einer »personenorientierten Interaktion« (Ungerer-Röhrich 1994: 152) ein individuelles Bild von ihren Schülern entwerfen und in Folge sich mit ihrer »persönlichen Identität« (ebd.) einbringen sollen. Durch spezielle Maßnahmen wie z.B. der Hinweis auf die Perspektiven anderer, die Beteiligung der Schüler an inhaltlichen Entscheidungen oder durch eine Relativierung der Bedeutung eines Sieges, sollten »Impulse im Hinblick auf die zu verbessernde Interaktion« (ebd.) gegeben werden. Beinahe entwaffnend ist die Quintessenz, dass ein Lehrer, will er seinen erzieherischen Auftrag erfüllen, die Lebenssituation seiner Schüler zu berücksichtigen habe, um einen mehrperspektivischen Unterricht planen zu können und: Dass er dann langfristig gute Chancen habe, »mit sozial kompetenten und verantwortungsbewußten Schülern arbeiten zu können, die sich untereinander als Person sehen und respektieren« (ebd.). FunkeWieneke fügt diesen Verzauberungen seine so genannten kleinen »Imperative« hinzu (vgl. Funke-Wieneke 1997: 22f.). Dort heißt es dann: »Mein Lehrer ist wahrhaftig. Was er lehrt ist ihm auch selbst ein Lebensbedürfnis […]« (Ebd.) Es wird mit Blick auf gelingende Verständigungsprozesse dem Anspruch vertraut, den Standpunkt des anderen einnehmen zu können, ohne die Frage danach zu stellen, welche kulturell eingespielten (kommunikativen) Handlungsorientierungen überhaupt zur Verfügung stehen. In dieser Version gerät viel zu kurz, wie im Zuge gegenseitiger Verständigungsleistungen Bedeutungen überhaupt entstehen. Denn im Sinne kontingenter Kommunikation geht es gerade nicht um bestehende Bedeutungen, die etwa ein Folgendes festlegen, sondern um Offenheit für das Plötzliche und Unvorhersehbare, das freilich nicht unvorbereitet daherkommt, weil es aus einem Vorhergehenden, Früheren hervorgeht und gleichfalls darüber hinausweist (vgl. Gadamer 1999: 350f.).

2. S PORTUNTERRICHT : D ER F ALL ›J ACK ASS ‹ Das Thema der Stunde lautet ›Sprünge über den quergestellten Längskasten‹. Riegenaufstellung an drei Stationen. Vor den Kästen liegen jeweils Reuterbretter. Die Schüler vollführen unterschiedliche Sprünge, gehockte,

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gestreckte, mit und ohne Drehung. Der Lehrer gibt entsprechende Anweisungen, Erklärungen und Korrekturen. Das Geschehen läuft zehn Minuten ohne besondere Ereignisse und somit so, wie es vermutlich vom Lehrer gewollt und geplant ist. Die Schüler sind bei der Sache und machen einen durchaus motivierten Eindruck. Das Handlungsgeschehen nimmt jedoch einen jäh anderen Verlauf, als ein Schüler, der bisher nicht auffällig war, unvermittelt nach dem Absprung vom Brett gewollt und theatralisch gegen den Kasten knallt, quasi an diesem zerschellt und langsam gen Boden rutscht, akustisch unterlegt mit bekannten Geräuschen körperlichen Niedergangs. Er rappelt sich dennoch, beinahe wiedererwartend hoch, reißt die Arme zur Siegerpose und lässt sich von seiner Riege im Hintergrund, mit zeitlicher Verzögerung auch von den anderen beiden Riegen, feiern. Der Lehrer quittiert diese Inszenierung noch mit Gleichgültigkeit. Dies ändert sich jedoch urplötzlich, da nun auch die anderen Riegenmitglieder des gefeierten Helden, es letzterem gleichtuend, ebenfalls am Kasten ›zerbrechen‹, so dass nicht mehr das Überspringen, sondern ein möglichst schmerzvolles Scheitern stilisiert wird. Das Geschehen erhält eine gänzlich andere, natürlich vom Lehrer nicht intendierte Wendung. Die Stimmung der Schüler ist auf dem Hoch, alle jubeln und sind hoch kreativ bei dem Versuch, sich am Kasten Schmerzen, wenn größtenteils auch nur vorgetäuschte, zuzufügen. Je größer der vermeintliche Schmerz, je abstruser das Scheitern, desto größer der Applaus der anderen. Der Lehrer bricht nach ca. drei Minuten – immerhin! – das Geschehen mit sehr ärgerlicher Miene und nicht minder verärgertem Tonfall ab und leitet über in eine disziplinarische Ansprache. Es wird deutlich, dass er sich provoziert fühlt. Er unterstellt den Schülern, vor allem aber dem Initiator, Boykottabsichten. Die Schüler protestieren und fühlen sich offensichtlich zu unrecht in dieser Form angegriffen. Mit dieser semantisch relativ dichten Unterrichtsszene soll die angestimmte Rede von Kommunikation als kontingentes Geschehen exemplifiziert werden. In der Zusammenarbeit mit Studierenden offenbarten sich in der Analyse dieser (erlebten) Unterrichtszene unterschiedliche Sichtweisen und Bedeutungszuschreibungen. Verschiedene Handlungsstrategien wurden entwickelt. In der Einschätzung des Besonderen dieses Falles steuerten vor allem zwei gegensätzliche Positionen die Diskussion: (1) Für einen Teil der

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Studierenden lag ein nur schwer erklärbarer Unterrichtsbruch vor, denn eigentlich lief doch alles recht gut. Letztlich war es dann die Disziplinlosigkeit eines einzelnen Schülers, die zu einer Art Dominoeffekt führte. Die Reaktion des Lehrers wurde als durchaus nachvollziehbar eingeschätzt. Danach musste eingeschritten werden, denn gerade im Turnen sei Disziplin und Konzentration entscheidend. Der Sicherheitsaspekt wurde genannt. (2) Für einen anderen Teil der Studierenden lag die Sache anders. Der vermeintliche Akt der Disziplinlosigkeit wurde so gelesen, dass zuerst der initiierende und dann die ihm folgenden Schüler eine spezifische, unverwechselbare Nachinszenierung eines bei vielen Jugendlichen hoch im Kurs stehenden Medienformats lieferten. Es ist durch den Musikkanal MTV bekannt geworden und trägt den bezeichnenden Namen ›JackAss‹ und bezieht seine Einzigartigkeit daraus, dass 20-30-jährige Protagonisten in selbst gewählten und konstruierten Alltagssituationen abstruse Bewegungsaufgaben zu lösen versuchen. Es handelt sich um eine Art Stunts. Allerdings wird weniger das heroengleiche Bewältigen dieser nicht ungefährlichen Situation stilisiert, z.B. dergestalt, dass die ›Helden‹ ohne Kratzer aus dieser Sache hervorgingen, sondern das Scheitern wird bejubelt. Es gefallen also die Gefallenen und Lädierten. Der Heldenmythos wird bewusst konterkariert. Die ›JackAss-Helden‹ werden zu solchen durch bloße Auseinandersetzung mit Aufgaben, die häufig die Grenzen des so genannten guten Geschmacks überschreiten. Zum Nachmachen nicht geeignet, so auch der warnende Untertitel dieses Formats. Der diesen Fall vortragende Student bestätigte im Verlauf der Diskussion, dass die Schüler in ihren Sprüngen gegen den Kasten tatsächlich dieses Format zur Vorlage nahmen. Es fielen entsprechende Kommentare, die er in Kenntnis dieses Formats sehr wohl einordnen konnte. In seiner Sicht lag in und mit diesem Schülerhandeln auch kein Akt des Boykotts vor – schließlich waren die Schüler vorher mit Motivation dabei –, vielmehr fand eine Inszenierung statt, die sich weder gegen den erlebten Sportunterricht noch gegen den Sportlehrer richtete. Ob der Sportlehrer tatsächlich eine Chance hatte, diese Darbietung als eine Form des Medienhandelns zu identifizieren, bleibt unklar. Ohne Kenntnisse der Vorlage scheint dies eher sehr schwierig zu sein, so dass sich eine bekannte Erkenntnis wiederholt: Sportlehrer können nie umfassend die relevanten Handlungsbezüge ihrer Schüler kennen. Wer wollte dies verlangen? Aber sie können sich in schwierigen Situationen je neu vergegenwärtigen, dass ihre eigenen Wahrnehmungen

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und Einschätzungen der Situation eben auch zu ganz eigenen Beziehungsinterpretationen führen. Im vorliegenden Fall derart, dass Handlungsweisen der Schüler auf die eigene Person bezogen werden, obwohl die Schüler offensichtlich einen ganz anderen Fokus hatten. Volkamer und Zimmer sehen in derartigen Mustern mögliche Ursachen für die Verschärfung eigentlich harmlos gemeinter Zwischenfälle zu bedeutsamen Unterrichtsstörungen (vgl. Volkamer/Zimmer 2000: 42). So ließe sich die geschilderte Szene in etwa wie folgt expandieren: Für eine bestimmte Zeit wird der Sportunterricht als Rahmung benutzt, um partikulare Interessen zu verwirklichen. Die eher unverbindlichen, häufig zufälligen und in der Regel nicht geplanten Bezugnahmen auf mediale Vorgaben stellen die Rationalität des Sportunterrichts nicht infrage. Sie haben mit ihr schlicht nichts zu tun. Schüler nutzen sportunterrichtliche Arrangements, Zeiten, Räume und Geräte für Bewegungs- und auch kommunikative Handlungen, weil Situationen danach sind. Weil ihnen danach ist. Es geht ihnen nicht um die Sache Sportunterricht, sondern um einen Gewinn in einer Handlungssituation, die sich ihnen darstellt und die sie auf ihre spezifische Weise konstituieren. Universale Geltungsansprüche (im habermas’schen) Sinne sind da in weiter Ferne. Unterrichtliche Handlungen sind immer auch eigenweltlich (vgl. Schierz 1997: 70f.). In den Blick geraten schließlich nicht nur rein sprachlich vermittelte Kommunikationen, sondern im Sinne eines umfassenderen relationalen Verständnisses von Handlungskoordinierungen sind auch Zusammenhänge zwischen Räumen, Zeiten und Ereignissen von Interesse (vgl. Rorty 1994: 68). Sich einerseits einem traditionell auf Einvernehmlichkeit orientierten Kommunikationsverständnis verpflichtet zu fühlen, das andererseits durch die Unterrichtspraxis häufig und wiederkehrend konterkariert wird, hat gelinde gesagt einen ambivalenten Charakter. Denn der Umgang mit den Schülern im Unterricht ist in seinem Verlauf ungewiss, er hält unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen, Motive und Einschätzungen parat (vgl. Wimmer 1996: 429ff.), die im sportunterrichtlichen Handeln, mehr noch als in anderen Fächern das Geschehen prägen. Sportunterricht ist unmittelbar. Körper, Räume, Zeiten und Aktionen geben dem Handeln eine besondere Dynamik, einen Wechsel, der nur begrenzt vorweggenommen werden kann. Routinen haben es da schwer. Es ist dies die eigentliche Herausforderung an gelingendes Sportlehrerhandeln. Dort werden besondere Belastungspotenziale empfunden (vgl. Miethling 1986: 108ff., 215ff.; Treutlein/Janalik/Hanke 1996; Volka-

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mer/Zimmer 2000: 50ff.), zu deren Bewältigung Hinweise auf einvernehmliche kommunikative Koordinierungen mit Schülern wenig helfen. So wird hier jetzt für ein Kommunikationsverständnis plädiert, welches nicht ausschließlich die Übereinstimmung, sondern nicht minder die Verschiedenheit von Meinungen und Sichtweisen als üblich und wesentlich einstuft. Konflikte sind als etwas zu begreifen, das zu Unterricht schlicht dazugehört. Erlebten Schwierigkeiten wird in dieser Lesart die Note der ›persönlichen Unzulänglichkeit‹ der Lehrkraft genommen, sie rücken vielmehr als unumgängliche Herausforderung an das Expertenhandeln von Sportlehrern in den Blick. Freilich ist dies eine Herausforderung, bei der die Sportlehrer auf sich selbst zurückgeworfen sind. Ziehe beschreibt dies als einen Aspekt der »Normalschwierigkeit von Schule« (Ziehe 2003: 360) und diagnostiziert für die Lehrtätigkeit im 21. Jahrhundert im Gegensatz zur traditionellen Schule einen »Zuwachs an Anstrengung« (ebd.). Die Antwort auf die Frage nach einem professionellen Handeln in dieser und vergleichbaren Situationen nimmt sich bescheiden aus. Sowohl ein Zulassen, wie auch eine Ablehnung dieser Schülerinszenierung ließen sich gut begründen. Aus kommunikativer Sicht macht es allerdings einen Unterschied, ob im Falle einer Ablehnung diese auf der Folie persönlicher Kränkung erfolgt und dies entsprechend an die Schüler adressiert wird oder ob der Sportlehrer ohne derartige Attribuierungen eine entsprechende Haltung kommuniziert und ein unverbindliches, partikulares Schülerhandeln ins Kalkül zieht. Dann verbliebe die Chance, unter eigentlich unverbindlichen, kommunikativen Bedingungen dennoch eine Verständigung zu erzielen, in denen beide Seiten ihren Anspruch auf Wahrhaftigkeit gewahrt sehen. Auf diesem Wege legen sie die ›Spielregeln‹ für Sportunterricht und Schule gemeinsam fest. Das ist kein leichtes Unterfangen, weil es bedeutet, in komplexen Handlungssituationen relativierende Zuschreibungen vorzunehmen (vgl. Schön 1983: 128ff.) – und das unter den Bedingungen von Zeitmangel und Lehrplanvorgaben. Lüsebrink hat dazu sehr praxisnah gearbeitet und Fälle komplexen Lehrerhandelns in der Zusammenarbeit mit Studierenden ausgelegt (vgl. Lüsebrink 2005, 2006). In den Blick geraten bei ihr Unglücksfälle von Sportunterricht, mit deren Hilfe sie ein differenziertes Verständnis von Problembearbeitungen und stellvertretenden Deutungen entwickelt. In ihren Einschätzungen der Chancen und Grenzen von Perspektivenübernahmen ist sie dabei wohltuend pragmatisch. Sie dokumentiert in den verschiedenen

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Perspektiven auf problematischen Sportunterricht Einvernehmliches wie Disparates zugleich. Indes, die sich mit diesen Überlegungen darbietende Relativierung einvernehmlich kommunikativer Koordinierungen wird in einem dritten Gliederungsschritt präzisiert.

3. D ISTANZ

ALS ZENTRALE

K ONTINGENZERFAHRUNG

Dem Glaube und der Hoffnung an Konsens und universeller Geltung im kommunikativen Geschäft soll nun eine Figur entgegengestellt werden, die in Anlehnung an Sander (1998) als ›distanzierte Verständigung‹ eingeführt wird. Mit ihr wird aufgegriffen und – so die Hoffnung – pointiert, was in den prominenten handlungstheoretischen Positionen im Grunde immer schon angelegt ist. Diese Figur soll helfen, gegenüber kommunikativ verursachten pädagogischen Brüchen und Konflikten eine tragende Reflexionsfolie ins Spiel zu bringen. Sie vereinigt in sich zentrale Annahmen moderner Zeitdiagnosen: »Moderne Gesellschaften zeichnen sich gerade dadurch aus, daß sie sich auf der Interaktionsebene ›kultureller‹ Präferenzen (also Lebensmuster, Verkehrsformen etc.) zu kulturell multiplen Gesellschaften ausdifferenziert haben, also zu Gesellschaften zunehmender vielfältiger und destandardisierter Vorgaben von Kultur […], wobei unter Kultur ganz allgemein die kollektive Konstruktion des jeweils ›Passenden‹ an Verkehrsformen, Lebensmustern, kommunizierten Themen, kurz: des gesamten Zivilisierung des Lebens verstanden wird.« (Sander 1998: 27, Herv. i. O.)

Nach dieser Facon ist mit der Diskussion um die Bedeutung von Kommunikation für gesellschaftliches Zusammenleben gleichzeitig die Problematik von Einheit und Differenz, von Gleichheit und Ungleichheit mit angelegt. Sander wie zuvor bereits Berger (1986) konstatiert neben pluralen Kulturund Lebensformen in weiterer Konsequenz inkommensurable Normen und Lebensstile, denen Dissenserfahrungen mindestens genauso zu eigen sind wie Erfahrungen von Konsens. Interessant ist dabei die Beobachtung, dass sich Gesellschaften, die derart von einer radikalen Moderne gezeichnet sind, durch enorme Stabilität auszeichnen, weil offenbar die handlungsbestimmenden sozialen Grammatiken sehr wohl für gesellschaftliches Zu-

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sammenleben taugen und schon immer getaugt haben. Sie sind es, die Stabilität garantieren. Trotzdem hält sich die Sorge um gesellschaftlichen Konsens, vermutlich als Reminiszenz an ein einvernehmlich koordinierbares oder noch pointierter: an ein ›gutes‹ Leben. »Der Wandel der modernen westlichen Gesellschaften wird mit der Sorge verknüpft, daß tradierte Gemeinschaften und soziale Verklammerungen nicht nur permanent gefährdet seien, sondern ›ohne Ersatz‹ zerfallen könnten und dann noch statt eines Endes mit Schrecken ein Schrecken ohne Ende eintrete. Diese latente Furcht vor dem Nachlassen der Bindungskraft moderner Gesellschaften muß nicht unbedingt durch faktische Ursachen gespeist werden, sondern kann selbsterzeugend gedacht werden. Als Skepsis am Gefüge der Gesellschaft operiert sie mit Vorannahmen über Möglichkeiten sozialer Ordnung, an deren Anspruchsniveau gemessen die Geschichte und die Gegenwart der modernen Gesellschaften Kritik und Sorge automatisch hervorrufen müssen.« (Sander 1998: 30, Herv. i. O.).

Der Glaube an ein konsensuelles Miteinander ist also ein ziemlich hartnäckiger. Perspektiven, die Bindungen und Aushandlungen anders fassen, haben es schwer. Und auch für schulische Kontexte scheint dies zu gelten, zumindest immer dann, wenn Lehrer angehalten werden, doch die Perspektive ihrer Schüler einzunehmen, um einvernehmliche Absprachen und Vereinbarungen herstellen zu können. Die Frage, ob dies überhaupt gelingen mag, sei hier nicht beantwortet, hingegen: Ist den Akteuren überhaupt an einem Zugang zu der Welt bzw. den Welten des Gegenübers/der Gegenüber gelegen? Ist dies für das Gelingen von Unterricht überhaupt notwendig? Immer? Ziehe wendet sich stark gegen schulische Interaktionsstrukturen zwischen Lehrern und Schülern, die den Jugendlichen notwendige Fremdheits- und Distanzerfahrungen quasi vorenthalten (vgl. Ziehe 1996a). Anstatt an Sehnsüchten nach Einvernehmlichkeit und Zusammengehörigkeit festzuhalten, wird die Perspektive vorgezogen, das Schule und Unterricht sowohl Mitgestaltungsrechte als auch Enthaltungsrechte parat halten (vgl. ebd.: 939). Die Schüler geben immer auch Antworten auf die (impliziten) Fragen des Lehrers, welche Erziehungs- und Bildungsangebote angemessen erscheinen, welche für das Beziehungsgeschäft sinnvoll und funktional sind. Dass derartige Verhältnisse einem steten Wandel unterzogen sind, ist eine Herausforderung von Schule. »Schule soll doch nicht nur Schule sein; andererseits: Schule soll bloß Schule bleiben.« (Ziehe

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1996b:70) Damit hebt Ziehe nicht nur die Eigenweltlichkeit von Schule hervor, sondern immer schon angelegte Distanzmomente gehören geradezu zum sozialisatorischen Aufgabenkatalog von Schule. In ähnlicher Weise hat Schierz für sportunterrichtliches Handeln auf die Tatsache und Problematik unterschiedlicher Weltzugehörigkeiten hingewiesen (vgl. Schierz 1997: 68ff.). Es ist kein weiter Schritt, anzunehmen, dass Bindungslosigkeit oder gar Distanz ebenso zum Profil von Koordinierungsprozessen gehören wie einvernehmliche Verständigung. Vermutlich ist ein gemeinsames Handeln erst vor dem Hintergrund der Option möglich, sich für oder gegen Konsens, für oder gegen Distanz in Verständigungsprozessen entscheiden zu können. Diese Fassung von Kommunikation verabschiedet sich von einer normativen Überhöhung dergestalt, dass Kommunikation eben nicht automatisch eine stark erzieherische Bedeutung, z.B. im Sinne eines Rollenlernens, zugesprochen wird. Es lassen sich für diese ›Distanzperspektive‹ auf Kommunikation weitere Argumente bei Beck (1986), Joas (1990) oder Welsch (1988), finden es lässt sich aber eben auch von spezifischen Kontingenzerfahrungen sprechen. »Distanz und Beziehungslosigkeit als Strukturmuster der Differenzierung auf der Interaktionsebene von Gesellschaften müßten demnach die Bedingung der Möglichkeit bereitstellen, um die Ausbildung ›sozialer Nähe‹ als ›entdifferenzierte Wahlverwandtschaften‹ auf teilgesellschaftlicher Ebene zu sichern.« (Sander 1998: 46, Herv. i. O.)

Das Strukturmuster kommunikativen Handelns lässt demnach distanzierte Verständigung und weniger hohe Rollenerwartungen zu. Diese Form der Kommunikation heißt bei Sander »mediatisierte Kommunikation« (vgl. ebd.: 74ff.). Mediatisierte Kommunikation (vgl. auch Krotz 2001) wird ähnlich wie der Begriff der Medienkommunikation als eine Form von Verständigung verstanden, der Anonymität und Diffusität zu eigen ist. Die Person des Gegenübers wird lediglich partiell thematisch, gemeinsam geteilte Meinungen und Haltungen spielen keine Rolle, das Beziehungsgefüge ist ein unverbindliches oder bindungsloses. Die Partner – so man dieser Bezeichnung noch zustimmen mag – richten keine erhöhten Erwartungen aneinander, sie sind nicht einmal an Einvernehmlichkeit interessiert und entscheiden sich für einen Umgang, der sich partikularen Interessen verdankt. Dies ist aber

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nun nicht das Ende von Verständigung noch bloß strategisches Handeln, sondern vielmehr ein Handeln, in dem die Inkommensurabilität von Interessen, Meinungen, Lebensmustern zugestanden wird. Sie koexistieren und sie stehen nicht auf dem Prüfstein gemeinsamer Aushandlungsprozesse. Sie erzeugen aufgrund eines Harmoniegedankens damit auch keine Spannungen, sondern eher Toleranz für etwas, das unverbunden oder gar fremd bleibt. Mediatisierte Kommunikation ist weniger aufwendig und mühsam als eine auf einvernehmliche Verständigung abzielende Kommunikation, und sie regelt viele Alltagssituationen (aber auch berufliche, institutionelle und schließlich auch unterrichtliche Situationen) unkompliziert und direkt. Die pädagogische Bedeutung eines derart gefassten Kommunikationsverständnisses liegt interessanterweise in ›klassischen‹ Kategorien. Denn da es aufgrund von Unverbindlichkeit und Distanz als unwahrscheinlich gelten kann, dass sich in pädagogischen Vermittlungsprozessen verbindliche normative ›Technologien‹ von Kommunikation oder kommunikativer Kompetenz finden lassen, ist es daran, auf die Autonomie der zu Erziehenden zu setzen und der Logik ihrer kommunikativen Muster gewahr zu werden. Dies wäre dann ein Akt von Vertrauen und Toleranz, der nicht der Illusion anheimfiele, aus wissenschaftlichen Wissensbeständen ließe sich eine Transformation in die pädagogische Praxis bewerkstelligen. Vor diesem Hintergrund nun lässt sich die kommunikationstheoretische Prämisse der Rollenübernahme für (schul-)pädagogische Ambitionen von Forschenden ein wenig anders als üblich wenden. Danach wird nicht länger auf ein diffuses Verständnis von Rollenübernahme gesetzt, sondern in den Blick geraten die verfügbaren Handlungsorientierungen von Akteuren, die spezifische lebensweltliche Situationen zu arrangieren haben. Dazu gehört auch, das Aufspüren eines konsensuellen Miteinanders in pädagogischen Interaktionen zu relativieren, und sich eher zu den je spezifischen kommunikativen Mustern hinzuwenden, die z.B. Schüler untereinander bemühen und ausprägen, wenn sie sich über Themen verständigen oder wenn sie einfach ihren Alltag koordinieren. Vorausgesetzt es kann gelingen, ein derartiges Wissen zu erlangen, dann kann es nicht dazu dienen, auf Umwegen doch noch eine Überführung in Einvernehmlichkeit (z.B. mit den kommunikativen Ansprüchen des Lehrers) erreichen zu wollen. In einem Verständnis von Kommunikation, das Distanzerfahrung beinhaltet und dem

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Unverbindlichkeit ebenso zu eigen ist wie Verbindlichkeit, kann es nur darum gehen, ein derartiges Wissen reflexiv werden zu lassen. Vielleicht liegt ein pädagogischer Stellenwert darin, Distanz und Differenz zu schärfen, statt zu nivellieren. Vielleicht ist mit Blick auf LehrerSchüler-Konstellationen damit noch keine Brisanz angelegt. Vielleicht entsteht eine Brisanz erst dadurch, dass das eigentlich ›Spannungslose‹, weil eben Unverbundene durch normative Anstrengungen in Spannung versetzt wird. Konflikte als im Handlungsgeschehen immer schon potenziell angelegt zu begreifen, hat einen entscheidenden Vorteil: Die schnelle Zuschreibung persönlicher Unzulänglichkeiten im pädagogischen Alltag wird entschärft. Es geht also um ein Kommunikationsverständnis, das sich durch ein Austarieren von Nähe und Distanz auszeichnet. Eine Kommunikation, die nicht von universalen Geltungsansprüchen bestimmt wird, sondern mit der sich entscheidet, wann Konsens zugelassen wird und wann nicht. Erst mit der Akzeptanz der anderen und häufig fremden kommunikativen Bezüge des Gegenübers können die Interagierenden im Bedarfsfall auf einvernehmliche Koordinierungen umschalten. Somit könnte es gelingen, »in Verhältnissen unmöglicher universaler Geltungsansprüche Verständigung über das Ausbalancieren des Zulassens und der Reduktion von Konsensprozessen doch noch zu ermöglichen« (Sander 1998: 89).

L ITERATUR Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M: Suhrkamp. Berger, J. (1986): Die Moderne. Kontinuitäten und Zäsuren (= Soziale Welt, Sonderbd. 4). Göttingen: Schwartz, S. 3-11. Bergmann, J.R. (1987): Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion. Berlin/New York: de Gruyter. Funke-Wieneke, J. (1997): Der Sportlehrer als Beispiel – einleitende Gedanken zum Thema (Vom Vorbild zum Unbild – und wieder zurück?). In: G. Köppe/D. Kuhlmann (Hg.), Als Vorbild im Sport unterrichten. Hamburg: Czwalina, S. 9-23. Gadamer, H.-G. (1999): Gesammelte Werke, Bd. 1. Hermeneutik: Wahrheit und Methode. – Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (folgt der 6. Aufl. 1990). Tübingen: Mohr.

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Habermas, J. (1984): Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J. (1988): Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. II., 4. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Helsper, W. (1996): Antinomien des Lehrerhandelns in modernisierten pädagogischen Kulturen. Paradoxe Verwendungsweisen von Autonomie und Selbstverantwortlichkeit. In: A. Combe/W. Helsper (Hg.), Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 521-569. Joas, H. (1990): Die Demokratisierung der Differenzierungsfrage. Die Krise des Fortschrittglaubens und die Kreativität des kollektiven Handelns. In: Soziale Welt 1, S. 8-27. Kleindienst-Cachay, C. (1996): Empathie in Sport und Spiel. In: Sportpädagogik 20 (2), S. 19-28. Krotz, F. (2001): Die Mediatisierung kommunikativen Handelns. Wie sich Alltag und soziale Beziehungen, Kultur und Gesellschaft durch die Medien wandeln. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.. Luckmann, T. (1988): Kommunikative Gattungen im kommunikativen »Haushalt« einer Gesellschaft. In: G. Smolka-Koerdt/P.M. Spangenberg/D. Tillmann-Bartylla (Hg.), Der Ursprung von Literatur. München: Fink, S. 279-288. Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lüsebrink, I. (2005): Fallarbeit im Kontext universitärer Lehrer/innenbildung. Rekonstruktion und Auswertung einer studentischen Fallbearbeitung. In: Unterrichtswissenschaft 33 (1), S. 30-51. Lüsebrink, I. (2006): Pädagogische Professionalität und stellvertretende Problembearbeitung. Ausgelegt durch Beispiele aus Schulsport und Sportstudium. Köln: Strauß. Miethling, W.-D. (1986): Belastungssituationen im Selbstverständnis junger Sportlehrer. Schorndorf: Hofmann. Mollenhauer, K. (1972): Theorien zum Erziehungsprozeß. Zur Einführung in erziehungswissenschaftliche Fragestellungen. Weinheim/München: Juventa. Niederberger, A. (2007): Kontingenz und Vernunft. Grundlagen einer Theorie kommunikativen Handelns im Anschluss an Habermas und Merleau-Ponty. Freiburg/München: Karl Alber.

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Autorinnen und Autoren

Alkemeyer, Thomas, Dr., 1955, Professor für Sport und Gesellschaft an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg, Sprecher des DFGGraduiertenkollegs Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Soziologie des Körpers, Sportsoziologie, soziologische Praxistheorien, Subjektivierungsforschung. Publikationen: Alkemeyer, Th. (1996): Körper, Kult und Politik. Frankfurt/New York: Campus; Alkemeyer, Th. (2003): Semiotische Aspekte der Soziologie: Soziosemiotik. In: R. Posner/K. Robering/Th.A. Sebeok (Hg.): Semiotik, Semiotics. Ein Handbuch zu den Zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. Berlin/New York: de Gruyter, S. 2757-2846; Alkemeyer, Th. (2009): Ordnungen in Bewegung – Choreographien des Sozialen. Körper in Sport, Tanz, Arbeit und Bildung. Bielefeld: transcript. Bockrath, Franz, Dr., seit 2004 Professor für Sportwissenschaft (Schwerpunkt Erziehungswissenschaft des Sports und Sportgeschichte). Arbeitsund Forschungsschwerpunkte: Philosophie und Kulturwissenschaft des Sports; thematisch vergleichbare Publikationen: (I) Bockrath, F./Boschert, B./Franke, E. (Hg.) (2008): Körperliche Erkenntnis. Formen reflexiver Erfahrung. Bielefeld: transcript; (II) Bockrath, F. (2008): Grenzen der Standardisierung: Implizites Wissen – Körperliches Wissen – Negatives Wissen. In: Franke, E. (Hg.): Erfahrungsbasierte Bildung im Spiegel der Standardisierungsdebatte. Hohengehren: Schneider, S. 99-124; (III) Bockrath, F. (2009): Physiologische Pädagogik. In: C. Bünger et al. (Hg.), Bildung der Kontrollgesellschaft. Analyse und Kritik pädagogischer Vereinnahmungen. Münster: Schöningh, S. 59-70.

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Emrich, Eike, Dr., Studium der Soziologie, Volkswirtschaftslehre und des Sports, Diplomabschlüsse 1980/81 und 1984, Promotion 1988 an der Universität des Saarlandes, Habilitation 1995/96 an der Johannes GutenbergUniversität Mainz, Lehrstuhl für Sportökonomie und Sportsoziologie am Sportwissenschaftlichen Institut der Universität des Saarlandes, Studiengangsleiter am Centrum für Evaluation (CEval) der Universität des Saarlandes. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Organisationstheorie, Fragen der Effizienz und Effektivität von Sportförderung, Korruptionsforschung in Wirtschaft und Sport, Fragen der Wirksamkeit von Subventionen im Sport, Arbeitsmarktanalysen im Sport, Effekte außerwissenschaftlicher Einflüsse auf die Sportwissenschaft, Evaluationsforschung. Publikationen (Auswahl): Emrich, E. (1996): Zur Soziologie der Olympiastützpunkte. Eine Untersuchung zur Entstehung, Struktur und Leistungsfähigkeit einer Spitzensportfördereinrichtung. Niedernhausen/Ts.: Schors; Emrich, E./Pitsch, W./ Papathanassiou, V. (2001): Die Sportvereine. Ein Versuch auf empirischer Grundlage. Schorndorf: Hofmann; Emrich, E./Güllich, A. (2005): Zur »Produktion« sportlichen Erfolges. Organisationsstrukturen, Förderbedingungen und Planungsannahmen in kritischer Perspektive. Köln: Strauß. Frei, Peter, Prof. Dr., 1963, lehrt u.a. Sportpädagogik am Institut für Sportwissenschaft der Stiftung Universität Hildesheim, Promotion (1998) und Habilitation (2007) am Pädagogischen Seminar der Deutschen Sporthochschule Köln, Forschungsschwerpunkte: Schul- und Sportunterrichtsforschung, Kinder- und Jugendleistungssport, Sport-Medien-Kultur. Publikationen: Frei, P. (2012): Kommunikative Sportpädagogik – Daten, Merkmale, Perspektiven. Berlin u.a.: Lit;. (2012). Frei, P. & /Körner, S. (2004).: Brennpunkte der Sportwissenschaft: Sport-Medien-Kultur. St. Augustin: Academia. Frei, P./Lüsebrink, I./Rottländer, D./Thiele, J. (2000): Belastungen und Risiken im weiblichen Kunstturnen. Teil 2: Innensichten, pädagogische Deutungen und Konsequenzen. Schorndorf: Karl Hofmann. Gumbrecht, Hans Ulrich, is the Albert Guérard Professor of Literature at Stanford University. Among his books on literary theory and literary and cultural history are: Gumbrecht, H.U. (1990): Eine Geschichte der spanischen Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1990; Spanish translation forthcoming); Gumbrecht, H.U. (1992): Making Sense in Life and Literature. ( Minnesota: University of Minnesota Press; Gumbrecht, H.U. (1998):

A UTORINNEN UND A UTOREN

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In 1926: Living at the Edge of Time. Cambridge, Mass./London: Harvard University Press; Gumbrecht, H.U. (2002): Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. München: Hanser; Gumbrecht, H.U. (2003): The Powers of Philology. Xxx: University of Illinois Press; Gumbrecht, H.U. (2004): Production of Presence. Stanford: Stanford University Press; Gumbrecht, H. U. (2006): In Praise of Athletic Beauty. Cambridge, Mass./ London: Harvard Press; Gumbrecht, H.U. (2010): California Graffiti – Bilder von westlichen Ende der Welt. München: Hanser; Gumbrecht, H.U. (2010): Unsere breite Gegenwart Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Gumbrecht, H.U. (2011): Stimmungen lesen. München: Hanser. A book on the post1945 era as a time of »latency« is forthcoming. Gumbrecht is a regular contributor to the Humanities-section of the Frankfurter Allgemeine Zeitung, NZZ (Zürich), and Estado de São Paulo. He is a member of the American Academy of Arts & Sciences, Professeur attaché au Collège de France, and has been a Visiting Professor at numerous universities worldwide; most recently, he was a Fellow of the Siemens Foundation in Munich, Germany (2009/2010). Körner, Swen, Dr., 1975, studierte u.a. Sportwissenschaft in Köln. Promotion an der Technischen Universität Darmstadt 2008. Von 2009-2011 Professor für Sportsoziologie und Sportpädagogik an der Universität Hildesheim, seit 10/2011 Leiter der Abteilung Pädagogik an der Deutschen Sporthochschule Köln. Forschungsschwerpunkte: Erziehungs- und Sozialwissenschaften des Sports. Ausgew. Publikationen: Körner, S. (2008): Dicke Kinder – revisited. Zur Kommunikation juveniler Körperkrisen. Bielefeld: transcript; Körner, S./Schardien, St. (2012) (Hg.): Höher – schneller – weiter. Gentechnologisches Enhancement im Spitzensport. Ethische, rechtliche und soziale Perspektiven. Paderborn: Mentis; Körner, S. (2012): Systems Theory and Sport Science. (korean., zus. mit Hyeongseok Song). Lüsebrink, Ilka, PD Dr., 1965, akademische Mitarbeiterin, Sportlehrer/innenausbildung, Sportunterrichtsforschung, Kinder- und Jugendleistungssport, Fallarbeit. Ausgew. Publikationen: Lüsebrink, I. (2006): Pädagogische Professionalität und stellvertretende Problembearbeitung – ausgelegt an Beispielen aus Schulsport und Sportstudium (= Sport – Medien – Gesellschaft 4). Köln: Strauß; Lüsebrink, I./Krieger, C./Wolters, P. (2009): Sportunterricht reflektieren. Ein Arbeitsbuch zur theoriegeleiteten Unter-

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richtsauswertung (= Sport – Medien – Gesellschaft 9). Köln: Strauß; Lüsebrink, I./Rottländer, D./Thiele, J. (2000): Belastungen und Risiken im weiblichen Kunstturnen. Innensichten, pädagogische Deutungen und Konsequenzen (= Schriftenreihe des Bundesinstituts für Sportwissenschaft 102). Schorndorf: Hofmann. Meinberg, Eckhard, Prof. Dr. Dr. h.c., 1944, Emeritus. Forschungsschwerpunkte: Anthropologie, Bildungsphilosophie, Ethik, Sportpädagogik. Wichtige Publikationen: Meinberg, E. (1995): Homo oecologicus. Das neue Menschenbild im Zeichen der ökologischen Krise. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellchaft (japanische Übersetzung Tokio 2001); Meinberg, E. (1996): Hauptprobleme der Sportpädagogik. 3. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (russische Übersetzung Moskau 1996); Meinberg, E. (2011): Leibliche Bildung in der technischen Zivilisation. Über den Umgang mit dem Leibe. Berlin: Lit. Prohl, Robert, Prof. Dr., 1952, lehrt Sportpädagogik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Forschungsschwerpunkte: Bildungstheorie des Sports; empirische Schulsportforschung; Bewegungsförderung in der Früherziehung. Wichtigste Publikationen: Prohl, R. (2010): Grundriss der Sportpädagogik. 3. Aufl. Wiebelsheim: Limpert; Prohl, R. (1991): Sportwissenschaft und Sportpädagogik – ein anthropologischer Aufriss. Schorndorf: Hofmann; Prohl, R. (1995): Die Zeitlichkeit der Selbstbewegung. In: Ders./J. Seewald (Hg.), Bewegung verstehen. Schorndorf: Hofmann, S. 17-56. Schierz, Mathias, Dr. phil., Professor für Sportpädagogik/-didaktik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Forschungsschwerpunkte: Schulkultur, Bildungsgangtheorie, qualitative Methoden. Zahlreiche Publikationen zur rekonstruktiven Unterrichts- und Schulsportforschung. Zuletzt: Pallesen, H./Schierz, M. (2010): Talent und Bildungsgang. Rekonstruktionen zur Schulkultur in Verbundsystemen »Schule – Leistungssport« (= Studien zur Bildungsgangforschung 29). Opladen/Farmington Hills, MI: Barbara Budrich; Thiele, J./Schierz, M. (2011): Handlungsfähigkeit – revisited. Plädoyer zur Wiederaufnahme einer didaktischen Leitidee. In: Spectrum der Sportwissenschaften 23/1, S. 52-75.

A UTORINNEN UND A UTOREN

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Thiele, Jörg, Dr., 1960, Professur für Sportpädagogik, Institut für Sport und Sportwissenschaft der TU Dortmund; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Schulsportforschung und -entwicklung; Thiele, J./Schierz, M. (2011): Handlungsfähigkeit revisited – Plädoyer zur Wiederaufnahme einer didaktischen Leitidee. In: In Spectrum der Sportwissenschaften 23 (1), S. 52-75; Thiele, J. (2008): »Aufklärung – was sonst?« Zur Zukunft der Schulsportentwicklung vor dem Hintergrund neoliberaler Vereinnahmungen des Bildungssystems. In: Spectrum der Sportwissenschaften 20 (2), S. 59-74. Thieme, Lutz, Dr., 1966, aktueller beruflicher Status: Professor für Sportmanagement FH Koblenz/RAC Remagen; Privatdozent an der Universität des Saarlandes. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Entwicklung von Steuerungsinstrumenten für Sportvereine und -verbände, öffentliche Sportförderung, Wissenschaftstheorie. Wichtigste Publikationen (1-3): Thieme, L. (2011): Zur Konstitution des Sportmanagements als Betriebswirtschaftslehre des Sports – Entwicklung eines Forschungsprogramms. Berlin: epubli; Thieme, L. (2010): Mitgliedermeldungen und Bestandserhebungen. Entscheidungstheoretische Modellierung von Konflikten zwischen Sportvereinen und Sportfachverbänden. In: Sportwissenschaft 40 (3), S. 191203; Graumann, M./Thieme, L. (2010): Controlling im Sport. Grundlagen und Best Practice für Vereine, Verbände und Ligen. Berlin: Erich Schmidt. Werron, Tobias, Dr., 1970, Habilitationsstelle (Akad. Rat a.Z.) an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Globalisierungs- und Weltgesellschaftsforschung, Sportsoziologie. Neuere Veröffentlichungen u.a.: Heintz, B./Werron, T. (2011): Wie ist Globalisierung möglich? Zur Entstehung globaler Vergleichshorizonte am Beispiel von Wissenschaft und Sport. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 63 (3), S. 359-394; Werron, T. (2010): Direkte Konflikte, indirekte Konkurrenzen. Unterscheidung und Vergleich zweier Formen des Kampfes. In: Zeitschrift für Soziologie 39, S. 302-318; Werron, T. (2010): Der Weltsport und sein Publikum. Zur Autonomie und Entstehung des modernen Sports. Weilerswist: Velbrück.

KörperKulturen Anke Abraham, Beatrice Müller (Hg.) Körperhandeln und Körpererleben Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld 2010, 394 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1227-1

Franz Bockrath, Bernhard Boschert, Elk Franke (Hg.) Körperliche Erkenntnis Formen reflexiver Erfahrung 2008, 252 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-227-6

Aubrey de Grey, Michael Rae Niemals alt! So lässt sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verjüngungsforschung 2010, 396 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1336-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

KörperKulturen Elk Franke (Hg.) Herausforderung Gen-Doping Bedingungen einer noch nicht geführten Debatte Dezember 2012, ca. 270 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1380-3

Sabine Mehlmann, Sigrid Ruby (Hg.) »Für Dein Alter siehst Du gut aus!« Von der Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels. Multidisziplinäre Perspektiven 2010, 278 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1321-6

Paula-Irene Villa (Hg.) schön normal Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst 2008, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-889-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

KörperKulturen Karl-Heinrich Bette Sportsoziologische Aufklärung Studien zum Sport der modernen Gesellschaft 2011, 260 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1725-2

Karl-Heinrich Bette, Felix Kühnle, Ansgar Thiel Dopingprävention Eine soziologische Expertise März 2012, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2042-9

Franz Bockrath (Hg.) Anthropotechniken im Sport Lebenssteigerung durch Leistungsoptimierung? 2011, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1868-6

Julia Diekämper Reproduziertes Leben Biomacht in Zeiten der Präimplantationsdiagnostik 2011, 416 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1811-2

Karen Ellwanger, Heidi Helmhold, Traute Helmers, Barbara Schrödl (Hg.) Das »letzte Hemd« Zur Konstruktion von Tod und Geschlecht in der materiellen und visuellen Kultur 2010, 360 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1299-8

Nicholas Eschenbruch, Dagmar Hänel, Alois Unterkircher (Hg.) Medikale Räume Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit 2010, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1379-7

Robert Gugutzer Verkörperungen des Sozialen Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen April 2012, 256 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1908-9

Gerrit Kamphausen Unwerter Genuss Zur Dekulturation der Lebensführung von Opiumkonsumenten 2009, 294 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1271-4

Swen Körner Dicke Kinder – revisited Zur Kommunikation juveniler Körperkrisen 2008, 230 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-954-1

Susanne B. Schmitt Ein Wissenschaftsmuseum geht unter die Haut Sensorische Ethnographie des Deutschen Hygiene-Museums Juli 2012, 272 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2019-1

Charlotte Ullrich Medikalisierte Hoffnung? Eine ethnographische Studie zur reproduktionsmedizinischen Praxis August 2012, 356 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2048-1

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