Krieg und Migration im Comic: Interdisziplinäre Analysen 9783839451250

Freund oder Feind? Eigenes oder Fremdes? Graphische Erzählungen brechen vorstrukturierte binäre Wahrnehmungsmuster auf.

236 54 27MB

German Pages 310 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Das Kriegskind Comic
Der Traum vom besseren Leben − Das Thema Migration im Comic
Erzählende Dinge – Zur Funktion gezeichneter Objekte in Comics über Krieg und Migration
Kartierung der Flucht ‒ Karten in Migrations-Comics
Im Zwischenraum − Migration in deutschsprachigen Comics der Gegenwart
»What happens in the gutter?« und die Symbiose von Text und Graphik ‒ Formale Aspekte in Joe Saccos Journalism
»Wodurch werden wir zu dem, was wir sind?« Im Himmel ist Jahrmarkt von Birgit Weyhe – eine deutsche Familiengeschichte
Das Schicksal der Vertriebenen – Das Ende der japanischen Kolonialpolitik in der Mandschurei in Satonaka Machikos Und morgen strahlt wieder die Sonne (Ashita kagayaku, 1972-1973)
Popularisierung von Kriegserinnerung im Manga In this corner of the world (Kōno Fumiyo, 2007-2009)
Harraga en bande dessinée – Flüchtlinge in frankophonen Comics und Graphic Novels
Biopolitik und Transversalität − Eine Analyse von Javier de Isusis graphischer Erzählung Asȳlum
Autorinnen und Autoren
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Krieg und Migration im Comic: Interdisziplinäre Analysen
 9783839451250

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icon Düsseldorf (Hg.) Krieg und Migration im Comic

Edition Kulturwissenschaft  | Band 223

icon Düsseldorf ist das interdisziplinäre Comicforschungs-Netzwerk der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf. Es hat sich 2017 konstituiert, um das Medium Comic aus verschiedenen Fachperspektiven in den Blick zu nehmen und setzt sich aus den folgenden Fachvertreter_innen zusammen: Susanne Brandt (Geschichte), Michael Heinze (Anglistik), Frank Leinen (Romanistik), Elisabeth Scherer (Modernes Japan), Mara Stuhlfauth-Trabert (Germanistik) und Florian Trabert (Germanistik).

icon Düsseldorf (Hg.)

Krieg und Migration im Comic Interdisziplinäre Analysen

Mit freundlicher Unterstützung durch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Barbara Yelin/Reprodukt Korrektorat: Leonie Blume, Christina Grieb, Ann-Kristin Siegers Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5125-6 PDF-ISBN 978-3-8394-5125-0 https://doi.org/10.14361/9783839451250 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort

Michael Heinze und Frank Leinen | 7 Das Kriegskind Comic

Andreas Platthaus | 13 Der Traum vom besseren Leben – Das Thema Migration im Comic

Dietrich Grünewald | 21 Erzählende Dinge – Zur Funktion gezeichneter Objekte in Comics über Krieg und Migration

Monika Schmitz-Emans | 53 Kartierung der Flucht ‒ Karten in Migrations-Comics

Mara Stuhlfauth-Trabert und Florian Trabert | 75 Im Zwischenraum – Migration in deutschsprachigen Comics der Gegenwart

Florian Trabert | 107 »What happens in the gutter?« und die Symbiose von Text und Graphik ‒ Formale Aspekte in Joe Saccos Journalism

Michael Heinze | 127 »Wodurch werden wir zu dem, was wir sind?« Im Himmel ist Jahrmarkt von Birgit Weyhe – eine deutsche Familiengeschichte

Susanne Brandt | 157

Das Schicksal der Vertriebenen – Das Ende der japanischen Kolonialpolitik in der Mandschurei in Satonaka Machikos U m r e stra lt e er e S e (Ashita kagayaku, 1972-73)

Stephan Köhn | 181 Popularisierung von Kriegserinnerung im Manga In this corner of the world (Kōno Fumiyo, 2007-2009)

Elisabeth Scherer | 207 Harraga en bande dessinée – Flüchtlinge in frankophonen Comics und Graphic Novels

Marina Ortrud M. Hertrampf | 241 Biopolitik und Transversalität − Eine Analyse von Javier de Isusis graphischer Erzählung Asȳlum

Frank Leinen | 265 Autorinnen und Autoren | 303

Vorwort Michael Heinze und Frank Leinen

icon Düsseldorf, das als Herausgebergruppe des vorliegenden Sammelbandes fungiert, steht als Akronym für das interdisziplinäre Comicforschungs-Netzwerk der Heinrich-Heine-Universität. Ihren Beginn fand die Initiative vor fünf Jahren mit einem Aufruf an die Institute der Philosophischen Fakultät, Forschende und Lehrende im Bereich des graphischen Erzählens mögen sich untereinander austauschen. Sehr schnell stellte sich heraus, dass eine Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen an diesem Thema interessiert ist und in diesem Bereich arbeitet, aber kaum von den Forschungen der anderen wusste. Dies spiegelt auch den schweren Stand wider, den Comicforschung an deutschen Universitäten zuweilen noch hat. Von Unwissenschaftlichkeit ist hin und wieder die Rede, von Beschäftigung mit dem allzu Populären aus eventuell rein persönlicher Vorliebe für die neunte Kunst. Dass diese Vorurteile gegenüber dem Medium nicht gerechtfertigt sind und es sich als hervorragender Forschungsgegenstand anbietet, zeigt nicht nur die weltweit seit Jahrzehnten auflebende Comicforschung, sondern im deutschen Kontext auch der wachsende Bekanntheitsgrad der Fachvereinigung ComFor (Gesellschaft für Comicforschung) in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Der Comic (die Bande Dessinée, der Manga, die Graphic Novel etc.) ist als Medium der Populärkultur ein faszinierendes Objekt literatur- und medienwissenschaftlicher, historischer und kunsthistorischer sowie vieler weiterer Forschungsansätze. Durch ihre mediale Andersartigkeit gegenüber beispielsweise rein textlichen Erzählungen bieten Comics nicht nur eine ideale Grundlage für eine interdisziplinäre Herangehensweise, sie fordern diese geradezu, denn der Literaturwissenschaftler1 wird ohne Wissen um die graphische Gestaltung und deren Historie genauso wenig relevante Analyseergebnisse erzielen, wie der Kunsthistoriker ohne die literaturwissenschaftliche Einordnung. Diese inhärente Interdisziplinarität spiegelt sich bereits in den Gründungsmitgliedern von icon Düsseldorf wider:

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Das generische Maskulinum schließt im gesamten Band die weibliche Form ein.

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Susanne Brandt (Geschichte), Michael Heinze (Anglistik), Frank Leinen (Romanistik), Elisabeth Scherer (Japanforschung), Mara Stuhlfauth-Trabert und Florian Trabert (Germanistik). icon Düsseldorf wächst seit seiner Gründung beständig und verfolgt das Ziel, das Forschungsthema graphisches Erzählen nicht nur in der Philosophischen Fakultät der HHU fest zu etablieren, sondern sich auch nachhaltig in die deutsche Comicforschung einzubringen. Vor diesem Hintergrund hat icon Düsseldorf bereits mehrere Workshops und Lesungen mit Comic-Autorinnen und -Autoren wie Barbara Yelin, Birgit Weyhe, mawil, Simon Schwartz und Ralf König angeboten. Im direkten Austausch mit den Künstlerinnen und Künstlern sollen Studierende nicht nur an den Comic als Forschungsgegenstand herangeführt, sondern auch für den Schaffensprozess sensibilisiert werden. Gastvorträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, welche die Comicforschung mit Nachdruck vorantreiben, sowie von Fachleuten wie Andreas Platthaus von der F.A.Z., der in diesem Band in das Thema einführt, aber auch zahlreiche Einzellehrveranstaltungen sind darauf ausgelegt, das Thema Comicforschung über den universitären Rahmen hinaus einer möglichst breiten Öffentlichkeit nahezubringen. Der vorliegende Band geht auf eine Ringvorlesung gleichen Titels im Wintersemester 2017/18 zurück. Die in ihm enthaltenen Beiträge bauen auf Vorlesungen der Beteiligten auf, die den Anspruch hatten, sowohl einen Überblick über das Thema ›Migration und Krieg in graphischen Erzählungen‹ zu geben als auch in Einzelbeispielen in die analytische Tiefe zu gehen. Dabei wurde unter anderem intensiv über die graphische Erzählung Irmina (2014) von Barbara Yelin diskutiert. Aus diesem Grund freuen wir uns umso mehr, dass wir unser Titelbild diesem mehrfach preisgekrönten Comic-Roman entnehmen durften, der die von Brüchen und Widersprüchen gezeichnete Lebensgeschichte der gleichnamigen Hauptfigur vor allem während der Zeit des Nationalsozialismus nachzeichnet. Das erste Kapitel »London«, in dem Irmina ihre Ausbildung als Fremdsprachensekretärin beginnt, sowie das dritte Kapitel »Barbados«, in dem sie einen alten Bekannten aus dieser Zeit wiedersieht, umschließen die Ereignisse des Hauptkapitels »Berlin«, in dem das Leben während des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges im Mittelpunkt steht. Das durch die Lebensgeschichte der Großmutter Yelins inspirierte Geschehen spannt dabei einen weitreichenden Bogen zwischen den dreißiger und achtziger Jahren. In den Kapiteln »London« und »Barbados« spielt die Beziehung der jungen Frau zu Howard Green eine wesentliche Rolle, und unser Titelbild greift einen besonders wichtigen Moment im Leben beider auf – ihren Abschied, als Irmina England verlassen muss, um nach Deutschland zurückzukehren. Sie hatte sich zuvor in London mit dem jungen Mann angefreundet, der in einem Klima des wachsenden Rassismus trotz seiner

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dunklen Hautfarbe und seiner Herkunft aus den britischen Kolonien an der Eliteuniversität Oxford erfolgreich studieren konnte. Nach dem Krieg, so erfahren die Leser gegen Ende des Bandes, stieg Howard zum Generalgouverneur des Inselstaates Barbados auf. Anlässlich der Geburtstagsfeier seiner Tochter lädt er im letzten Kapitel seine ehemalige Freundin Irmina, mit der er seit dem Krieg keinen Kontakt mehr hatte, auf die Insel ein. Howards Tochter trägt den gleichen Namen wie sie, da er ihren Wagemut und ihre Entschlossenheit, die sie als junge Frau besaß, stets bewundert hatte. Während des Nationalsozialismus, so wird indes deutlich, hat Irmina diese positiven Eigenschaften verloren. Sie wurde immer mehr zur Mitläuferin, die sich wie so viele ihrer deutschen Zeitgenossen durch ihr Wegschauen an den Verbrechen der Nationalsozialisten mitschuldig machte. Selbst wenn Yelins Buch als Rückschau auf Irminas Leben gestaltet ist, so konfrontiert uns die Autorin und Zeichnerin gerade in den ersten beiden Kapiteln mit Problemen und Fragestellungen von bedrückender Aktualität: Hierzu zählt, dass Howard wegen seiner Hautfarbe diskriminiert wird. Gleiches gilt für die Benachteiligung von Frauen und den Fortbestand oder das Wiederaufleben traditioneller Rollenbilder. Auch Problemlagen, die mit den Stichwörtern Nationalismus und Neokolonialismus in Verbindung zu bringen sind, werden thematisiert. Wenn sich im Alltag der Hauptfigur nach 1936, als sie in Berlin lebt und arbeitet, zunächst indirekt, dann aber immer massiver, Indizien ergeben, die auf den wachsenden Rassismus sowie die Vertreibung und Ermordung von Juden hinweisen, dann gibt dies angesichts der von wachsendem Rechtsextremismus und Antisemitismus gezeichneten bundesrepublikanischen Aktualität besonders zu denken. Mit Irmina verbindet sich deswegen die Mahnung, angesichts solcher bedrohlichen Entwicklungen aus den Lehren der Vergangenheit zu lernen und, anders als die Hauptfigur, Position zu beziehen. Wenn Irmina gegen Kriegsende ihrem Sohn in den von Leichen gesäumten Straßen Berlins den Rat gibt: »Mach es wie ich, Frieder. Nicht hinsehen«, dann liegt gerade hierin ihr Fehler: Yelin appelliert an ihre Leser, angesichts von Unrecht und Grauen eben nicht wegzuschauen. Sie hält uns den Spiegel vor, indem sie fragt, welche Position wir zwischen Anpassung und Widerstand, Resignation und Auflehnung, Wegschauen und Hinsehen wählen. Wie diese kurzen Verweise auf zentrale Fragestellungen in Yelins Buch, das Monika Schmitz-Emans in einem der Aufsätze des vorliegenden Bandes detaillierter untersucht, deutlich machen sollten, spielen die Themen Migration und Krieg in Irmina eine wichtige Rolle. Die auf unserem Titelbild dargestellte Abschiedsszene am Kai besitzt vor diesem Hintergrund einen emblematischen Charakter für die erzählte Handlung des Bandes. Zugleich reflektiert sie über Irmina hinausgehend Themen und Motive, die in unserem Sammelband im Zusammenhang mit anderen graphischen Erzählungen zur Sprache kommen. Eine solche

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Lesart wird dadurch möglich, dass Yelin uns erlaubt hat, die in ihrem ganzseitigen Panel mittig platzierte, auf Irmina verweisende Sprechblase »Ich komme wieder…« ebenso wie die Angabe »Portsmouth, April 1935« zu löschen. Diese Dekontextualisierung des Bildes führt zu einer neuen Semantisierung, die weiterführende Interpretationen zulässt. Das Panel steht dabei immer noch für Irmina, aber auch für sich selbst und damit für Botschaften abseits des narrativen Kontextes. Im Zusammenhang mit dem Titel dieses Bandes, Krieg und Migration im Comic, erlaubt die Bildsprache Yelins weiterführende Gedanken. Ein erster Blick auf das Panel erfasst eine bedrückende Szenerie im Zeichen des Abschieds und der Abfahrt, denn eine graue Tristesse legt sich über das Bild, zu der neben dem gewählten Motiv die graphische Gestaltung in besonderem Maße beiträgt: markante dunkelgraue Bleistiftstriche und Schraffierungen sowie der Einsatz matter, düsterer Farben. Assoziationen an die prekäre Existenz von Fliehenden oder Verfolgten tun sich auf. Vor dem Hintergrund der dargestellten Zeit – die Kleidung der Personen verweist auf die dreißiger und vierziger Jahre – denkt der Betrachter an Migranten, die Europa Richtung Westen verlassen wollen oder müssen, an den Exodus der europäischen Juden oder die Flucht spanischer Republikaner während des Bürgerkrieges. Mit Ausnahme der beiden Figuren in der Mitte, die voneinander Abschied nehmen, sind die dargestellten Personen gesichtslos oder von hinten, anonymisiert, gezeichnet. Dicht gedrängt, in Alltagskleidung, warten sie auf den Zugang zum Schiff. Unter ihnen befinden sich auch Kinder und ältere Frauen. Alle Personen führen nur das Notwendigste mit sich, man sieht Rucksäcke, aber keine Gepäckstücke. Das Schiff, eine Heterotopie, die im Zusammenhang mit Flüchtenden in verschiedenen Beiträgen dieses Bandes Erwähnung findet, wird in Kürze abfahren, und die Schornsteine stoßen schon große Rauchschwaden aus, die wie eine finstere, unheilvolle Ahnung über dem Schiff schweben. Zwar herrscht auf dem Panel der Eindruck von Düsternis vor, doch fällt auf, dass sich mit der graphischen Horizontalen, welche durch die Reling markiert wird, auch eine leichte Abstufung der Grautöne verbindet: Sind sie im Vorderund Mittelgrund des Panels, im unteren Teil des Bildes, noch dunkler gewählt, so wirkt das Schiff im Hintergrund etwas heller gestaltet. Auch Teile der Wolken, die aus den Schornsteinen quellen und um sie herum wabern, sind im Bereich der Schornsteine in einem helleren, weißlichen Grau gezeichnet, das sich von der Finsternis über ihnen abhebt. Diese nuancierte Farbgebung insinuiert, dass sich für die Passagiere mit der Ankunft auf dem Schiff und der Abfahrt auch Hoffnung verbindet. Eine Person auf dem Schiff, die nahe des rechten Bildrandes platziert ist, winkt in Richtung der Wartenden. Eine Geste der Erleichterung oder lediglich der Versuch, Bekannte auf sich aufmerksam zu machen? Yelins Panel, so wird

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deutlich, erlaubt viele Lesarten, und die Überfahrt birgt Gefahren, aber auch Chancen. Gefährlich erscheint allein schon der Übergang vom Kai zum Schiff über die zerbrechlich wirkende, sich unter der Last der Menschen durchbiegende Gangway. Das Bildmotiv vermittelt dem Betrachter einen Eindruck vom Prekären ihrer Situation. Die Metapher des Stegs veranschaulicht in diesem Zusammenhang die Schwellensituation, in der sich die dargestellten Personen befinden, er tritt als ambivalentes Sinnbild ihrer migratorischen Erfahrung und ihrer transitorischen Existenz in Erscheinung. Mit der Bewegung auf der Schwelle und dem Übergang in einen neuen Lebensraum verbinden sich Risiken, aber auch neue Perspektiven. Doch auch die vermeintliche Sicherheit des Schiffes kann sich innerhalb kürzester Zeit als trügerisch erweisen – möglicherweise warten Stürme auf die Reisenden, vielleicht auch der Tod. Was geht unter diesen Umständen in ihnen vor? Welche Ängste und Hoffnungen hegen sie? Yelins Panel gibt keine Antworten auf diese Fragen, vermittelt dem Betrachter jedoch einen Eindruck von den Unwägbarkeiten eines langen, möglicherweise gefährlichen Weges mit ungewissem Ziel – eine bedrückende Erfahrung, die viele Migranten angesichts des Unbekannten, zu dem sie aufbrechen, teilen. Zum Abschluss dieses Vorwortes möchten wir im Namen von icon Düsseldorf der Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post sowie dem Dekan der Philosophischen Fakultät, Prof. Dr. Achim Landwehr, für die jeweils anteilige Übernahme der Druckkosten ganz herzlich danken. Zu danken ist ebenfalls den ebenso kompetenten wie unermüdlichen Hilfskräften und Mitarbeiterinnen der Abteilung Romanistik V. Leonie Blume, Christina Grieb und Ann Kristin Siegers haben mit ihrer sorgfältigen und zuverlässigen Korrekturarbeit sowie der Erstellung des Layouts zum Erscheinen von Krieg und Migration im Comic maßgeblich beigetragen.

Das Kriegskind Comic Andreas Platthaus

Wenn von Migration und Krieg in graphischen Erzählungen die Rede ist, geht der Blick naturgemäß auf das Inhaltliche. Und die Beispiele für beide Themen sind Legion: Man denke bei Migration nur an Art Spiegelmans Maus (1980) und Marjane Satrapis gezeichnete Autobiographie Persepolis (2000), um zwei in der Comic-Historiographie epochemachende Werke zu nennen. Oder, um ein jüngeres und deutsches Beispiel zu wählen, auch an Sheree Domingos Ferngespräch (2019). Und beim Krieg kommen unvermeidlich Autoren wie Jacques Tardi, Zeina Abirached oder Shigeru Mizuki in den Sinn, aber auch da sei mit Arne Jyschs Wave and Smile (2012) über einen Bundeswehrsoldaten im AfghanistanEinsatz ein aktuelles hiesiges Beispiel genannt. Wobei diese Auswahl im Rahmen ›graphischer Erzählungen‹ nur Comics berücksichtigt, obwohl genauso gut auch Bilderbücher wie Isabel Minhós Martins und Bernardo P. Carvalhos Hier kommt keiner durch! (2016) über die Abschottung von Grenzen gegen Migrationsbewegungen oder Claude K. Dubois’ mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnetes Akim rennt (2013) über die Erlebnisse eines Kindes im Krieg berücksichtigt werden könnten. Doch die meist für eine kindliche Leserschaft gedachten Bilderbücher sind durch ihren beschränkten Umfang weniger gut geeignet, den komplexen (und grausamen) Aspekten von Migration und Krieg gerecht zu werden. So verdienstvoll die Bemühungen um eine kindgerechte Erklärung dieser Phänomene auch sind – gerade angesichts der Erfahrungen von Kindern als Leidtragenden in den jeweiligen Situationen –, so wenig können und wollen sie im Regelfall zeithistorisch oder psychologisch umfassend erzählen. Ausnahmen bestätigen auch da die Regel: Shaun Tans The Arrival (2006) ist nicht umsonst ein in diesem Buch häufig genanntes Beispiel. Dessen Stärke aber just darin liegt, sich die Erzählweise des Comic derart zunutze zu machen, dass dieses Werk eines Bilderbuchautors viel eher als Graphic Novel wahrgenommen und vermarktet wird. Auch dieser Aufsatz widmet sich allein dem Comic, weil er ›graphische Erzählung‹ als ein deutsches Synonym für die Bezeichnung ›Graphic Novel‹ versteht,

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das zugleich über die Vermeidung der Rede vom Roman (novel) die Beschränktheit des englischen Begriffs vermeidet, die im angelsächsischen Sprachraum längst auch Genres wie Graphic Journalism oder Graphic Memoir hat entstehen lassen, während hierzulande alles, was man als anspruchsvolle Comics ausweisen möchte, von Verlagen, Buchhandel und Kritik unter dem marketingtechnisch so erfolgreichen Schlagwort subsumiert wird. Dieser Aufsatz wird sich aber anders als die anderen im vorliegenden Band nicht vorrangig mit inhaltlichen Fragen beschäftigen, sondern mit comic-historischen. Genauer gesagt wird er in seinem ersten Teil betrachten, wie vor allem der Krieg (aber auch Migration) die Entstehung des Comic als Erzählform geprägt haben. Der zweite Teil widmet sich dann zwei Beispielen eines Comic und einer ›graphischen Erzählung‹, die gerade kein Comic ist, die den Zusammenhang von Krieg und Migration besonders eindrucksvoll verdeutlichen.

I. Der Comic ist ein Kriegskind in vielerlei Hinsicht. Als er in den Vereinigten Staaten seinen Siegeszug antrat, war die Nation noch immer gespalten durch die Folgen des dreißig Jahre zurückliegenden Bürgerkriegs. Die Reconstruction, das von der Regierung in Washington als Wiederbelebung der zerstörten Infrastruktur des Südens ausgegebene politische Programm, das aber vor allem ein auf Versöhnung ausgerichtetes Wiederbelebungsprojekt der amerikanischen Unions-Psychologie war, fand ihr Ende erst durch einen weiteren Krieg: den gegen Spanien im Jahr 1898, mit dem sich die Vereinigten Staaten erstmals als militärischer Akteur auf die Weltbühne begaben und damit durch außenpolitische Ablenkung die innenpolitischen Gräben überbrückten, wenn auch nicht zuschütteten. Die amerikanische Presse hatte diesen Krieg herbeigeschrieben, und es waren gerade die besonders chauvinistischen Massenblätter in New York, die konkurrierenden Tageszeitungen World und Morning Journal, in denen der Kampf um die Leser nicht nur mit solchem Kriegsgeschrei, sondern auch mit Bildergeschichten ausgetragen wurde. Im Gegensatz zu den Karikaturen polarisierte diese neue Form der Cartoons aber nicht durch Meinungsmache, sondern bemühte sich um Ablenkung durch ihren humoristischen Inhalt, der ihr schließlich auch die Bezeichnung ›Comic‹ einbrachte. Comics waren jedoch publizistisch durchaus ernst zu nehmen; nichts war in den letzten Jahren des neunzehnten und den ersten des zwanzigsten Jahrhunderts derart ausschlaggebend für den Absatz der Boulevardblätter. Selbst deren herabsetzende englische Sammelbezeichnung Yellow Press verdankte sich der damals

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neuen Bilder-Sensation: In der New York World hatte 1895 Richard F. Outcaults Yellow Kid debütiert, die erste allgemein als Comic anerkannte Serie, und ein Jahr später war sie schon zum Journal abgeworben worden, weil sie so erfolgreich war, und auf diese Weise hatten beide Zeitungen dank des Yellow Kid ihren Namen weg und mit ihnen gleich das ganze sensationslüsterne Pressegenre. Die Beliebtheit von Outcaults Pionierserie verdankte sich im Wesentlichen der Wirklichkeitsnähe ihrer wimmelbildartigen ganzseitigen Einzelzeichnungen, in denen die zahlreichen Akteure eine ärmliche Hinterhofszenerie bevölkern und miteinander in all den Zungen sprechen, die auch in New York täglich zu hören waren: Ihr Englisch ist ein durch die jeweiligen Herkunftssprachen der Zuwanderer geprägtes Kauderwelsch, das die Grundlage für den Wortwitz auch der meisten anderen frühen Comics bot, selbst wenn niemals wieder eine solche Akzentvielfalt wie im Yellow Kid geboten wurde. Deshalb ist der Comic auch ein Migrationskind, und diese Herkunft ist weitaus häufiger betont worden als seine Abstammung aus dem Krieg. Sie war auch offensichtlicher, nicht nur in sprachlicher Hinsicht, sondern auch weil die meisten Zeichner der neuen Erzählform erst in zweiter Generation Amerikaner waren oder gar selbst frisch ins Land gekommen waren und die Humortraditionen der Heimatländer ihrer Familien mitgebracht hatten, die dann in ihre Arbeit einflossen. Doch diese dem Comic immer wieder gern nachgesagte völkerverbindende Tradition wird ergänzt durch eine mindestens ebenso prägende manichäische Weltsicht, die ihren grundlegenden Kontrast von Gut und Böse aus der politischen Situation der Entstehungszeit herleitet. Dazu muss man auf dem Zeitstrahl der Comic-Entwicklung weiter voranschreiten, hin zu dem Punkt, wo die Zeitungs-Comics als bestimmende Publikationsform abgelöst werden durch ein neues Vertriebsphänomen: das Comic-Heft. Das verdankte sich der Etablierung eines neuen Figurentyps, des amerikanischen Superhelden. Und nirgendwo sonst ist die Dichotomie von Gut und Böse derart ausgeprägt deutlich geworden wie in diesen Geschichten. Ihre Durchsetzung als seitdem kommerziell bestimmendes erzählerisches Genre in den Vereinigten Staaten erfolgte im Zweiten Weltkrieg. Überwiegend von jüdischen Autoren geschaffen, zog dieser neue Typ von Hauptfiguren ganz buchstäblich gegen faschistische Ideologie und Imperialismus in den Krieg – viele Superhelden der frühen vierziger Jahre kämpften gegen Schurken, die kaum verbrämte Züge von Deutschen und Japanern trugen. Und als zwanzig Jahre später der Kalte Krieg zwischen Ost und West seinen Höhepunkt erlebte, wandelte sich das gängige Superheldenbild zwar hin zu einer traumatisierten Persönlichkeit, wie sie durch die sogenannte ›MarvelRevolution‹ und deren wichtigste Protagonisten Stan Lee und Jack Kirby propagiert wurde, aber nun wurde der Krieg ins Innere der Figuren verlegt, und somit

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knüpfte man wieder an die allerfrüheste Prägung der Erzählform an: Es herrschte abermals Bürgerkrieg, diesmal aber in der Psyche der Figuren. Ihm sind die Superhelden bis heute nicht wieder entkommen. Dass eine der erfolgreichsten jüngeren Marvel-Heftserien Civil War heißt und diesen Titel auch an eine der kassenträchtigen Verfilmungen des Marvel Cinematic Universe weitergereicht hat (den zweiten Captain America-Film von 2016) ist nur konsequent. Aber man muss gar nicht in den Vereinigten Staaten verweilen, um zu beschreiben, wie Krieg die Entwicklungslinien des Comic bestimmt hat. Comichistorisch geschah das am eindrucksvollsten in Japan, dem Land, dessen Kultur heute wie keine andere durch Comics geprägt ist, auch wenn sie dort die Bezeichnung Manga tragen. Wobei dieses Wort allein den einheimischen Geschichten vorbehalten ist – eine chauvinistische Trennung, die ihre Ursache in der Herausbildung der japanischen Comic-Tradition nach 1945 hat, dem Jahr der Niederlage des Landes. Zuvor hatte es dort natürlich auch schon Bildergeschichten gegeben, aber genau wie in Deutschland war die einheimische illustrative Tradition zu stark gewesen, als dass die neue aus Amerika stammende (und in der nationalistischen Propaganda entsprechend negativ konnotierte) Erzählform sich hätte durchsetzen können. Das erfolgte erst nach der Kapitulation, als in einer Art von kultureller Kompensation alles Amerikanische nun von den Geschlagenen umarmt wurde, was zuvor arrogant als minderwertig abgetan worden war – auch dies ein Phänomen, das in Japan und Deutschland gleichermaßen zu beobachten war. Doch in Japan knüpften die amerikanischen Comics an eine fruchtbarere Tradition an: die Bildmächtigkeit der dortigen Kultur. Mit dem Erfolg des jungen Osamu Tezuka, der Geschichten im graphischen Stil von Walt Disney-Comics zeichnete, aber eine Erzählweise betrieb, die originär japanisch blieb, entwickelte sich eine ganze Industrie, die einerseits das Bedürfnis nach Comics befriedigte, andererseits aber statt auf Importe aus Amerika (wie sie in Deutschland erfolgten) auf Eigenproduktionen setzte, deren Besonderheit auch durch die Sammelbezeichnung ›Manga‹ betont wurde – ein Begriff, den kein Geringerer als Katsushika Hokusai, der bedeutendste japanische Künstler überhaupt, im frühen neunzehnten Jahrhundert für seine publizierten Skizzenhefte geprägt hatte. Natürlich gibt es auch importierte Comics in Japan, doch sie werden nicht Manga genannt, sondern bleiben Comics. Darin liegt eine sprachliche Abwertung, die es ähnlich auch in Frankreich gibt, wo zumindest amerikanische Superheldengeschichten auch nicht als bandes dessinées bezeichnet werden, sondern mit dem englischen Lehnwort als comics. Man mag darin eine harmlose Form des Kulturkriegs sehen. In Westdeutschland lief man dagegen nach 1945 ohne jeden Vorbehalt zu den amerikanischen Comics über, wobei die ersten importierten Superhelden-Serien erfolglos blieben. Dafür war der Erfolg der seit 1951 auf Deutsch erscheinenden

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Disney-Heftreihe Micky Maus hierzulande beispiellos, und auch wenn es Versuche einheimischer Produktionen wie Fix & Foxi oder die Groschenheftchen des Zeichners Hansrudi Wäscher gab, wurde das große Geschäft doch mit Importen gemacht: Nach Micky Maus, die zwei Jahrzehnte lang nahezu allein das ComicGeschäft bestimmte, kam Asterix und damit ein Boom der Übersetzung von französischsprachigen Serien. In der DDR dagegen diskreditierte man die westliche Comic-Produktion als Propaganda für das kapitalistische System und etablierte nach dem Schock des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 eine eigenständige ›Bilderheft‹-Kultur, die ihren markantesten Ausdruck im Mosaik von Hannes Hegen fand. Die SED begriff Comics als Waffe im Kalten Krieg, und so verdankt sich eine der größten deutschsprachigen Erfolgsgeschichten in diesem Metier der Systemkonkurrenz – Mosaik erscheint heute noch. Nach 1989 entwickelte sich dann auch in Westdeutschland, nicht zuletzt angeregt durch junge ostdeutsche Künstler wie Anke Feuchtenberger, ATAK oder Henning Wagenbreth, eine lebendige einheimische Comic-Szene, die seitdem zahlreiche erfolgreiche Autoren hervorgebracht hat. Hier kann man im Hinblick auf das vorangegangene Ende des Kalten Kriegs endlich einmal von einer Friedensdividende für den Comic sprechen. Überhaupt öffnete sich vor drei Jahrzehnten die Welt nicht nur politisch. Der kulturelle Austausch wuchs gleichermaßen. In den neunziger Jahren begann der internationale Siegeszug der Manga, der aber auch als Folge eines Konflikts betrachtet werden kann: zwischen Generationen. Das ehedem subversive Phänomen einer Comic-Lektüre, die vom jungen Publikum gegen seine bornierten Eltern durchgesetzt werden musste, war in dem Moment obsolet, als die Jugendlichen selbst erwachsen und zu Eltern wurden, die ihren Kindern das Lesen von Comics selbstverständlich zubilligten, ja schlimmer noch: sie selbst weiter lasen. Gerade der rebellische Reiz von Comic-Lektüre entfiel nun, bis die Entdeckung von Manga als eine Erzählform, die andere graphische und inhaltliche Codes aufwies, wieder die Verstörung der Älteren zurückbrachte, die zuvor jahrzehntelang ausschlaggebend für den Erfolg bei Jugendlichen gewesen war – man denke auch an den Siegeszug der Underground-Comics in den späten sechziger Jahren im Zuge der sogenannten ›Gegenkultur‹. Wer mit westlichen Comics aufgewachsen war, der hatte nur in den seltensten Fällen Verständnis für die Erzählweise von Manga, und der resultierende Widerstand gegen deren Lektüre ermöglichte genau das für Jugendliche attraktive Distinktionsmerkmal.

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II. Viele Migrationsbewegungen sind Folge von Krieg, und in den Comics zum Thema schlägt sich das nieder. Man denke nur an die beiden ganz zu Beginn genannten Beispiele für eindrucksvolle individuelle Migrationsschicksale, Art Spiegelmans Maus und Marjane Satrapis Persepolis – sowohl die Einwanderung der polnischen Juden Anja und Vladek Spiegelman in die Vereinigten Staaten als auch die Erfahrungen von Marjane Satrapi als iranischer Flüchtling in Westeuropa hatten ihre Ursachen im Krieg: dem Vernichtungskrieg der Deutschen in Polen, der die Shoah ermöglichte, und dem ersten Golfkrieg zwischen Iran und Irak in den achtziger Jahren. Die Spiegelmans konnten sich als Überlebende von Auschwitz keine Zukunft in einem Europa vorstellen, dessen jüdische Bevölkerung zu großen Teilen (darunter die meisten eigenen Angehörigen) ermordet worden war, und Marjane Satrapi wurde als Teenagerin von ihrer Familie nach Europa geschickt, damit sie in einer vom Krieg unbeschwerten Umgebung leben konnte. Es handelt sich dabei also jeweils um Beispiele für individuelle Schicksale aus Opfersicht, um Menschen, die vom Krieg zur Emigration gezwungen wurden, ohne dass sie selbst aktiv Krieg geführt hätten. Wobei Vladek Spiegelmans kurze Zeit als polnischer Soldat in der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs eine von der Rezeption meist vernachlässigte Episode in Maus darstellt, die aber keinesfalls geeignet ist, ihn als begeisterten oder gar erfolgreichen Krieger zu charakterisieren. »Warum soll ich jemanden erschießen?«, fragte er sich selbst im Schützengraben, bevor er genau das dann doch tat. Aber die Bilder des sterbenden deutschen Soldaten, den Vladek Spiegelman tötete, haben ihn nie mehr verlassen, und dass diese Erinnerung durch die in den Vernichtungslagern erlittenen Traumata nicht ausgelöscht oder zumindest überlagert worden war, ist eines der eindrucksvollsten psychologischen Details in Maus. Seltener, aber nicht weniger eindrucksvoll sind die Beispiele von graphischen Erzählungen, die sich der Migration von siegreichen Kriegsteilnehmern widmen. Das berühmteste ist kein Comic, wird aber immer wieder genannt, wenn es um dessen kunsthistorische Vorläufer geht: der Teppich von Bayeux. Er dokumentiert die Vorgeschichte und den Ablauf der Eroberung Englands durch das Heer des Normannenherzogs Wilhelm im Jahr 1066 und entstand mutmaßlich noch zu Lebzeiten dieses Herrschers. Die Unterwerfung der Engländer durch die französischen Invasoren ist ein selten als Migrationsgeschichte gewürdigtes Ereignis, weil der Fokus der Forschung auf erzwungener Migration liegt, aber durch die Einwanderung von zehntausenden Familien aus der Normandie, die fortan die neue Oberschicht in England bildeten, wurde das zuvor angelsächsisch-keltisch geprägte Königreich grundlegend verändert. Der Teppich von Bayeux macht den Beginn

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dieser Migration anschaulich, und er betont die Unterschiede zwischen beiden Volksgruppen durch physiognomische und modische Merkmale. Als zeitgenössische Quelle für die Erschließung der damaligen Lebenswelt dies- und jenseits des Ärmelkanals ist er deshalb von überragender Bedeutung, aber zugleich entwickelten die anonymen Stickerinnen (man vermutet vor allem das Werk von Frauen, wenn auch wohl nach von Männern gezeichneten Vorlagen) eine graphische Sprache, die in Dramaturgie, Figurencharakterisierung und Bild-Text-Verschränkung vieles von dem um mehr als achthundert Jahre vorwegnimmt, was dann die Erzählprinzipen des Comic ausmachen sollte. Schließlich soll ein Comic vorgestellt werden, der eine Sonderrolle im zeitgenössischen graphischen Erzählen von Krieg und Migration einnimmt. Der 1964 geborene französische Comic-Zeichner Emmanuel Guibert freundete sich 1994 mit dem damals fast siebzigjährigen Alan Ingram Cope an. Cope lebte seit Jahrzehnten in Frankreich, aber zum ersten Mal war er als junger amerikanischer Soldat nach Europa gekommen, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, den er nur noch als seltsames Schauspiel erlebte, auf das er sich in seiner amerikanischen Kaserne zwei Jahre lang umsonst vorbereitet hatte, denn es kam alles anders als gedacht. Cope landete 1945 im bereits befreiten Frankreich, rückte dann kampflos mit den amerikanischen Truppen durch das besiegte Deutschland in die Tschechoslowakei vor, aus der man sich abermals kampflos zurückziehen musste, weil das Abkommen von Jalta dieses Land der sowjetischen Einflusssphäre zugeschlagen hatte. Für den jungen Mann aus Kalifornien war der Militäreinsatz in Europa der erste Blick in die Welt, und er verliebte sich in den alten Kontinent, sodass er nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten dort nicht mehr lange blieb, sondern nach nur wenigen Monaten dauerhaft nach Frankreich übersiedelte – wieder die Migration eines Siegers. Guibert zeichnete die Erinnerungen seines Freundes an dessen Leben auf, zunächst auf Audiokassetten und dann in drei Comic-Bänden unter dem Titel La Guerre d’Alan, die aber erst nach Copes Tod im Jahr 1999 erschienen. Darin integriert Guibert historische Fotos und persönliche Dokumente in seine ComicPanels und schuf damit eine neue Ästhetik, die er selbst in seinem wiederum dreibändigen Nachfolgeprojekt Der Fotograf (2003; Le Photographe) über eine klandestine Mission der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen im sowjetisch besetzten Afghanistan (auch dies also ein Kriegs-Comic) zur Vollendung brachte, und die zahlreiche Comic-Zeichner auf der ganzen Welt inspirierte, zuletzt die Deutschamerikanerin Nora Krug in ihrem Band Heimat (2018), der sowohl vom Leben ihrer badischen Familie in ›Drittem Reich‹ und Zweitem Weltkrieg erzählt als auch vom eigenen Leben in der neuen amerikanischen Heimat – auch dies eine graphische Erzählung, die Krieg und Migration zugleich thematisiert. Inhaltlich

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aber ist La Guerre d’Alan ohne jede Konkurrenz, denn das von Guibert darin gezeichnete Bild des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit ist gerade in deren Unspektakularität höchst ungewöhnlich; man bekommt ein Gefühl für eine noch immer kriegsbedingte Normalität, die hier ohne jede graphische Opulenz als sachliche Bilddokumentation präsentiert wird. In zwei erst viel später nachgereichten Comics mit kalifornischen Jugenderlebnissen von Alan Ingram Cope (L’Enfance d’Alan, 2012 und Martha & Alan, 2016) zeichnet Guibert dann weitaus aufwendiger, setzt Farbe ein und variiert die Seitenarchitektur viel stärker als in der ursprünglichen Trilogie. Die Friedenszeiten der zwanziger und dreißiger Jahre, in denen es für den jungen Alan undenkbar gewesen war, jemals woanders hinzuziehen, kommen in detailreich und realistisch gezeichneten Bildern daher, während die Konfrontation des Soldaten mit der europäischen Fremde in stilisierten Panels stattfindet, deren Figuren wie aus Ausschneidebögen entnommen zu sein scheinen. Die befremdende Wirkung von Krieg und Migration wird in La Guerre d’Alan überdeutlich – und anschaulicher als in all den Kriegs- und MigrationsComics, die ihr Heil in abenteuerlichen Erzählungen suchen. Die Normalität des Alan Ingram Cope ist das Verstörende an Emmanuel Guiberts Comics. Und das ist es denn auch, die Verstörung, die das gemeinsame Element aller gelungenen Erzählungen über Krieg und Migration ausmacht − egal ob graphisch oder schriftlich oder filmisch. Denn verstörend sind beide Ereignisse, zumindest für die Opfer und manchmal nicht nur für sie.

Der Traum vom besseren Leben − Das Thema Migration im Comic Dietrich Grünewald

Migration ist ein Phänomen, das die Menschheitsgeschichte begleitet (vgl. Conrad 2017). Abenteuer- und Entdeckerlust, sein Glück in der Fremde zu suchen, können Gründe sein, meist aber verlassen die Menschen nicht freiwillig ihre Heimat. Wirtschaftliches Elend, lebensfeindliches Umfeld durch Naturkatastrophen, Verfolgung aufgrund religiöser, ethnischer oder politischer Gründe, Krieg und Zerstörung zwingen zur Flucht.

SEISMOGRAPH KUNST Angst und Unsicherheit, aber auch Sehnsucht und Hoffen beherrschen die Emigranten, Gefühle, die der Präraffaelit Ford Madox Brown in seinem Gemälde Abschied von England (1855)1 in die Gesichtszüge des Bildhauers Woolner und seiner Frau legt, die nach Australien auswandern; ein prägnantes Beispiel für die Künste, die als sensible Medien, als subjektiv-reflektierende Seismographen Bangen und Hoffen von Migranten begleitend und dokumentierend zeigen. Auch in der aktuellen Kunst findet das Thema ‒ die Medien berichten ja täglich über Krieg und Terror im Nahen Osten, in Afrika, in Myanmar ‒ über den zeitlichen Moment hinaus Widerhall. Zum Beispiel in der Literatur: Bodo Kirchhoff erzählt in dem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Werk Widerfahrnis (2016), wie ein deutsches Paar auf seiner Reise durch Italien versucht, Flüchtlingen zu helfen, die illegal durch das Land irren. Reem Sahwil, selbst Migrantin, beschreibt in Ich habe einen Traum (2017) ihre Geschichte als Flüchtlingskind in Deutschland.

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Ford Madox Brown: Abschied von England, 1855 (Abbildung in Barilli 1988, Tafel 28).

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Ironisch-satirisch und zugleich entlarvend bitter sind die Filmkomödie Willkommen bei den Hartmanns (2016) von Simon Verhoeven und das für das Düsseldorfer Schauspielhaus geschriebene Theaterstück Willkommen (2017) von Lutz Hübner und Sarah Nemitz. Die Bildende Kunst findet für das Thema auf der Documenta 14 in Kassel ein weltweit beachtetes Forum (vgl. Latimer/Szymczyk 2017). Neben älteren, aufgrund der Brisanz erneut präsentierten Werken, wie Hopscotch (1974)2 von Vlassis Caniaris, eine Installation, die ironisch-sarkastisch die Flucht als Kinderhüpfspiel umschreibt, reagieren Kunstschaffende mit neuen Werken auf die Fluchttragödien. So verweist der irakisch-deutsche Installationskünstler Hiwa K mit seinen als Unterkunft dienenden Abwasserrohren provozierend auf die menschenunwürdigen Unterkünfte vieler Flüchtlinge in Griechenland, präsentiert der mexikanische Künstler Galindo Schiffswracks als Zeugnisse der Flucht, die er auf der griechischen Insel Lesbos gefunden und zu bespielbaren Instrumenten gemacht hat, hat der nigerianisch-amerikanische Künstler Olu Oguibe einen 16 Meter hohen Obelisken geschaffen, der als mahnende Inschrift ein Zitat aus dem Matthäus-Evangelium: »Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt« (Matthäus 25, 35f.) in Arabisch, Deutsch, Englisch und Türkisch aufweist.3 Auch in der Street-Art ist das Thema präsent. Migration Crisis von Icy & Sot, eine modellhafte Häuserruine auf einem Boot, war 2017 auf der Ausstellung Magic City unter anderem in München zu sehen. Die Künstler, selbst iranische Flüchtlinge, schreiben zu ihrer Arbeit: »Mit Migration Crisis wollen wir zeigen, dass Syrien die größte Krise unserer Zeit geworden ist. Das Flüchtlingsboot trägt den detaillierten Nachbau eines kriegszerstörten Wohngebiets, eine Metapher dafür, dass Flüchtlinge immer den Ballast des Krieges mit sich herumtragen.« (McCormick 2017: 101) Kunstwerke können Betrachtern emotionale wie rationale Impulse für Einstellung und Handeln geben; sie benötigen aber vonseiten des Publikums einen entsprechenden Resonanzboden, die offene Bereitschaft, sich auf das (oft mehrdeutig metaphorische) Angebot einzulassen. Direkter und provokanter sind zahlreiche Karikaturen der letzten Jahre, deren Zeichner sich als kluge, oft scharf analysierende und pointiert aufzeigende zeitnahe Dokumentaristen und Kritiker erweisen. Die Angst vor einer ›Überflutung‹ von Flüchtlingen prangert Gerhard Haderer an. Wenn einem in Meereswellen kämpfenden Menschen der Rettungsring verweigert 2

Vlassis Caniaris: Hopscotch, 1974, Installation, sechs menschliche Gestalten, neun Koffer, ein Vogelkäfig, Kreide auf Teerpappe, 155 x 440 x 600 cm, Athen, Nationales Museum für Zeitgenössische Kunst.

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Die Stadt Kassel verlieh Olu Oguibe für dieses Kunstwerk den Arnold-Bode-Preis und hat das Werk gekauft; es steht seit April 2019 an der Treppenstraße (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Obelisk_(Olu_Oguibe)).

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wird, weil er die festgelegte Obergrenze für Flüchtlinge überschreitet (vgl. Haderer: 2016: 17), so spiegelt das im zynisch-bitteren Verlachen die politischen Reaktionen auf die ›Flüchtlingswelle‹, die von bemühter Anteilnahme bis zu radikaler Ablehnung reichen. Wobei freilich Abschottung wie Ignoranz sich selbst ad absurdum führen, wie Till Mette demonstriert, wenn er Strandurlauber zeigt, die blind vor der Realität sich lieber per idyllischem Medienbild eine heile Welt vorgaukeln, als die Flüchtlingsboote wahrzunehmen (vgl. Mette 2016). Noch deutlicher wird Gerhard Meester: Indem er Innenminister Seehofer zeigt, wie er, kapitulierend vor populistischen Forderungen, mit der Axt die Asylrecht-Wurzel vom Baum des Grundgesetzes abschlägt, wird anschaulich, dass ein Aushöhlen des Asylrechts tatsächlich unser freiheitlich-demokratisches Staatsverständnis insgesamt bedroht (vgl. Meester 2018). Bilder können aber auch konkrete Hilfen sein, wie eine Initiative im Ludwig Forum Aachen zeigt. Hier wurden von September 2016 bis Januar 2017 Kinderzeichnungen ausgestellt, die der Künstler Mohammad Ahmad, selbst vor dem Irak-Iran-Krieg geflohen, mit Kindern in der Körnerkaserne, der Aachener Erstunterkunft, gemalt hat. Auch viele Kinder sind auf der Flucht. Die Bilder spiegeln ihre Trauer und Ängste, aber auch ihre Hoffnungen.4 In diesem Beitrag soll es nun um Comics gehen, um Bildgeschichten, die teils aus der Feder von Betroffenen, teils von Beobachtern stammen und sich mit Migration auseinandersetzen. Sie beleuchten das Thema nicht punktuell, sondern zeigen – der Kunstform entsprechend ‒ Prozesse, sich entwickelndes Geschehen, exemplarische, besondere wie typische Schicksale, fiktiv oder real, stets Angebote mit der Chance, dass sich der Rezipient aufgrund der besonderen aktiven Rezeptionsanforderung der Bildgeschichte nicht nur einfühlen kann, sondern identifizierend mitfühlt, miterlebt. Entsprechend ist die Erzählweise fast durchgängig linear, also im prozessualen Geschehen gut verfolgbar, gegebenenfalls durch Binnenerzählungen unterbrochen. Der Stil der Zeichnung ist – von einigen wenigen Beispielen abgesehen, die aus Gründen der Ausdrucksstärke den Akteuren überzeichnete Physiognomien geben – realistisch, oft expressiv, sodass sowohl der Eindruck von Wahrhaftigkeit des Gezeigten als auch eine emotional betonte Wirkung erzielt werden.

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Vgl. http://ludwigforum.de/event/bilder-von-gefluechteten-kindern. Hier sei auch auf eine Aktion des Fernsehsenders Arte verwiesen, in dessen Auftrag Reinhard Kleist im syrischen Flüchtlingslager Kawergosk zusammen mit Flüchtlingskindern zeichnete (vgl. https://info.arte.tv/de/kawergosk-5-sterne-eine-comicreportage-vonreinhard-kleist). Ich danke Ralf Palandt, München, für diese und weitere Informationen zum Thema.

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EIN NEUES LAND Zentrales Beispiel soll der textfreie Bildroman Ein neues Land (2008; The Arrival) sein. An ihm sollen Stationen und wesentliche Probleme von Migration aufgezeigt werden, mit erweiterndem Blick auf Bildgeschichten anderer Autorinnen und Autoren, die zu den jeweiligen Aspekten herangezogen werden. Ein neues Land, 2011 mit dem Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis ausgezeichnet, hat der australische Künstler Shaun Tan geschaffen. Er erzählt die Migrationsgeschichte eines Mannes, der Abschied von seiner Familie nimmt und dann per Schiff mit anderen Auswanderern in ein fernes Land aufbricht (vgl. ebd.: 3, 9, 18), von den Schwierigkeiten, die sich bei der Ankunft ergeben, den bürokratischen Akten der Registrierung, der Konfrontation mit einer ganz neuen Situation in einer fremden Umgebung (vgl. ebd.: 25, 28, 59), vom langen schwierigen Prozess der Eingliederung, der Herausforderung, Arbeit zu finden (vgl. ebd.: 80ff.) und dann von dem Glück, mit der nachgereisten Familie ein neues, besseres Zuhause gefunden zu haben (vgl. ebd.: 117f.). Tan arbeitete fünf Jahre lang an diesem Werk, das aus 122 Bildseiten besteht mit detailreichen, realistisch wirkenden Zeichnungen, moduliert in Grafit und Sepia, das Motiv mal ganz- oder auch doppelseitig, meist aber in mehreren Zeichnungen auf einer Seite, vier bis sieben oder mehr in gleichem Format oder auch unterschiedlich in der Größe ausgeführt, in Korrespondenz mit der gewählten Dramaturgie. Orientiert an der Geschichte seines Vaters, der 1960 von Malaysia nach Australien auswanderte, vermittelt Tans Buch eine optimistische Botschaft. Es zeigt, dass und wie Migration und Integration gelingen können. In vielen Panels entdeckt der Betrachter Verweise auf reales Geschehen; so im Motiv der Seite 19 die Hommage an Tom Roberts Gemälde Coming South (1886),5 einer Ikone australischer Einwanderungsgeschichte, aber auch die Verwandtschaft mit Fotodokumenten, die europäische Auswanderer auf dem Weg in die USA zeigen, ist nicht zu übersehen.6 Der Titel der deutschen Ausgabe, Ein neues Land, ist recht glücklich gewählt, denn er verweist auf die Problematik der Migration und macht anschaulich, warum hier ohne Worte nur mit Bildern erzählt wird: Den Auswanderer erwartet Neues, Fremdes, wie es sich in Landschaft, Flora und Fauna zeigt, vor allem aber in der Kultur, in Architektur, Kleidung, Lebensart, den kleinen aber wichtigen Dingen des Alltags (siehe Abbildung 1).

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Tom Roberts: Coming South, 1886, Öl/Leinwand, 63,5 x 52,2 cm, Melbourne, National Gallery of Victoria.

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Vgl. unter anderem https://www.wohin-auswandern.de/historische-bilder.

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Abbildung 1: Shaun Tan: The Arrival, S. 37

Quelle: Carlsen 2008

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Dem neuen Land muss er sprachlos begegnen, denn er kennt die Sprache der Menschen in diesem Land nicht, die Schriftzeichen weiß er nicht zu lesen – er nimmt alles nur visuell auf (vgl. ebd.: 36f.). Aber Bilder ermöglichen Kommunikation: Auf der Suche nach einer Unterkunft kann der Protagonist durch die einfache Strichzeichnung eines Bettes erfolgreich vermitteln, was er meint (vgl. ebd.: 39). Dabei wird erfahrbar, dass es bei aller Fremdheit doch immer wieder Schnittstellen der Kulturen gibt. Die fremdartige Bildflut muss der Protagonist sortieren und deuten, was durch Kontextbezüge, aber auch durch partielle Überschneidungen mit Vertrautem aus der alten Heimat gelingt. Der Betrachter des Buches sieht sich dabei in der gleichen Lage wie der Auswanderer, wird wie er mit vertrauten und neuen Bildzeichen konfrontiert, muss sich kombinierend und deutend durch die Bildfolge von Seite zu Seite navigieren, kann das Gezeigte erfassen, weil es mit sozialisierter Seherfahrung korrespondiert, wird Fremdes assoziierend angleichen. Auch wenn der Rezipient manchmal zunächst ratend und ratlos zurückbleibt, versteht er dann doch in der Folge und manchmal auch im erinnernden Zurückblättern durch Kontextbezüge, durch Aktionen und ihre Folgen, durch Wiederholungen, die zur vertrauten Routine werden, das Gezeigte bei partieller Offenheit. Wesentlich dabei ist die Körpersprache der Akteure; so werden die Gedanken, Gefühle und Worte beim Abschied des Protagonisten von Frau und Kind visuell anschaulich und können vom Betrachter mitempfunden werden (vgl. ebd.: 9). Neben ikonischen Zeichen tragen vor allem Indices und Symbole die Geschichte; so ist der gefaltete Papiervogel eine wiederkehrende Metapher (vgl. ebd.: 8, 20f.). Das Sinnbild steht für die steten Gedanken des Protagonisten an die Heimat, verbindet Sehnsucht, Wehmut und Hoffnung. Und wenn er in seiner Wohnung im neuen Land seinen Koffer öffnet, sieht er darin bildmetaphorisch seine Familie, die er bald zu sich holen möchte (vgl. ebd.: 44). Tan hat dem Protagonisten seine eigenen Züge gegeben, die Körpersprache selbst erprobt, fotografisch festgehalten und als Impuls für die Zeichnungen genommen. So ist eine hohe Natürlichkeit und Lebendigkeit entstanden, die fast suggestiv dazu führt, dass sich der Betrachter mit dem Protagonisten identifiziert, mit seinen Augen sieht und Schritt für Schritt versteht wie er. Der Betrachter bleibt nicht distanziert, sondern spielt mit.7 Tans Bildroman führt uns chronologisch vier Stationen des Migrationsprozesses vor, die als Richtschnur dienen sollen, Aspekte der Migration in ihrer Darstellung in Comics vorzustellen. Als erste Station ist der Grund für die Migration zu nennen – hier metaphorisch durch den als bedrohlich und gefährlich empfundenen Schatten eines Drachenschwanzes an der Hauswand symbolisiert (vgl. ebd.: 5ff.). Diese Bedrohung scheint der Zukunft der Familie im

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Vgl. http://www.shauntan.net/books.html, vgl. auch Höppner 2012, insbesondere 147f.

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Heimatland keine Chance zu lassen; also wird der Entschluss gefasst, zu emigrieren. Diesem Entschluss folgt als zweite Station die Reise ins ferne, andere Land, die in der Regel keine bequeme Tour, sondern eine strapaziöse, oft auch gefährliche Flucht ist. Hier ist es zunächst eine Zugfahrt, der eine Schiffsreise folgt (vgl. ebd.: 9, 14ff.). Zusammen mit vielen anderen Emigranten reist der Protagonist in die unbekannte neue Welt. Wolkenbilder (vgl. ebd.: 16f.) spiegeln zum einen die Eintönigkeit und die Tristesse der langen Reise wider, zum anderen verweisen sie metaphorisch auf die seelische Belastung des Protagonisten. Die dritte Station ist die Ankunft im neuen Land (vgl. ebd.: 22ff.). Ist sie legal, wie bei Tan, so führt sie zu zahlreichen bürokratischen Maßnahmen, die die Ankömmlinge durchlaufen müssen, von der medizinischen Untersuchung bis zur Registrierung und weiteren Verweisung (vgl. ebd.: 26ff.). Danach gilt es, viertens, erste Schritte zur Integration zu unternehmen, eine Bleibe zu finden (vgl. ebd.: 40f.), zu lernen, sich zu orientieren und zu verständigen (S. 50ff.) und Arbeit zu bekommen, um den Lebensunterhalt zu sichern (vgl. ebd.: 82). Das ist oft nicht leicht, denn immer kommt es auch darauf an, wie die ansässigen Menschen auf Neuankömmlinge reagieren.

GRÜNDE FÜR DIE EMIGRATION Wahre Geschichten syrischer Flüchtlinge (2016) heißt eine Comic-Kurzgeschichte, »erfunden« (wie es im Untertitel heißt) von dem Libanesen Mazen Kerbaj, der derzeit in Berlin lebt. Darin listet der Autor Fluchtgründe und Erwartungen syrischer Flüchtlinge auf. Auch der Bildroman Illegal. Die Geschichte einer Flucht (2018; Illegal) von Eoin Colfer, Andrew Donkin und Giovanni Rigano nennt die unterschiedlichen Beweggründe afrikanischer Menschen, die die Strapazen einer ungewissen Flucht auf sich nehmen – persönliche Gründe (»Ich will meinen Sohn wiedersehen.«), Flucht vor Gewalt (»Ich musste meine Heimat verlassen. Der Krieg kam.«), Hoffnung auf bessere Bildung und Arbeit (»Meine Kinder sollen ein gutes Leben haben« – »Ich möchte an einer Schule arbeiten.« – Colfer/Donkin/Rigano 2018: 72). In Tans Geschichte wird die Migration, wie gesagt, metaphorisch begründet; mit Zacken bewehrte Drachenschwänze (vgl. Tan 2008: 6f.) stehen für drohende Gewalt, konkrete Gründe (zum Beispiel politische Repressalien) sind nur interpretierbar. Bei anderen Migranten, die dem Protagonisten in der neuen Welt begegnen, wird Tan direkter. Als Geschichten in der Geschichte, als Ich-Erzählungen der Betroffenen, werden ihm und damit dem Betrachter traurige Schicksale

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erzählt. So ist für eine junge Frau eine Gesellschaft, in der ihr das Lesen und Lernen verboten und sie als Arbeitssklavin missbraucht wurde, der Migrationsgrund. Der Charakter der jeweiligen Ich-Erzählung wird dadurch unterstützt, dass die Panels wie alte Erinnerungsfotos, aufgeklebt auf einer Albumseite, präsentiert werden (vgl. ebd.: 54ff.). Einem Mann, der ihm sehr behilflich war, berichtet der Protagonist von seinen Fluchtgründen und weckt damit dessen schlimmste Erinnerungen (vgl. ebd.: 65). In beschwörender Pose erzählt nun der Mann seine Geschichte, berichtet von fremden riesigen Aggressoren, die mit großen Trichtern panisch flüchtende Menschen einsaugten (vgl. ebd.: 66ff.). Die emotional starken Bilder sind offensichtlich durch vergleichbare Darstellungen, die allegorisch den Krieg als Riesenungeheuer visualisieren, wie wir es bei Goya oder Kubin finden, inspiriert.8 Und noch ein dritter Protagonist erzählt seine Geschichte: nämlich wie er als Soldat in den Krieg zog, dann die Schrecken des Schlachtfeldes erleben musste und – als Invalide zurückgekehrt – nur mehr vor einer Trümmerlandschaft steht (vgl. ebd.: 89ff.). Auch hier erzählt Tan mit bekannten Bildverweisen, zitiert Fotos aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg,9 greift Motive aus Otto Dixʼ Kriegszyklus auf (vgl. Löffler 1986). Die fiktive Geschichte wird damit exemplarisch an tatsächliche reale Schicksale angebunden.

KRIEG UND VERTREIBUNG Grausame Zeichnungen, die das Flüchtlingselend, Verletzte und Tote zeigen, erzählen in der Kurzgeschichte »Schicksal« (2016) von Harsho Mohan Chattoraj am Beispiel eines Jungen, wie furchtbar das Leiden von Hindus war, die nach der Abtrennung des islamischen Pakistan von Indien aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Krieg und seine schrecklichen Folgen sind einer der häufigsten Gründe für Migration, wie zahlreiche Bildgeschichten eindrucksvoll und mahnend belegen. Bereits Anfang des 13. Jahrhunderts zeigt ein Bildroman, der in die Berliner Handschrift des ersten deutschen Versromans, des Eneasromans von Heinrich von Vel8

Francisco de Goya: Der Koloss, um 1808-12, Öl/Leinwand, 116 x 105 cm, Madrid, Prado; Alfred Kubin: Der Krieg, um 1901, Lithographie, 226 x 300 mm, Abbildung. in: Kubin 1980: 38.

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Für Fotos aus dem Ersten Weltkrieg (die jubelnd ins Feld ziehenden Landser, Abbildung. unter anderem in: Unser Jahrhundert im Bild 1964: 185) vgl. Tan 2008: 89f. Das Motiv auf Seite 95 entspricht einem Foto, das einen Kriegsinvaliden im zerstörten Hamburg 1945 zeigt, vgl. https://scilogs.spektrum.de/denkmale/das-foto-einmarsch-amerikaner-deutschland/zerstoerung-krieg-hamburg-1945-invalide/.

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decke, eingebunden ist und diese Geschichte eigenständig adaptiert, die kriegerische Zerstörung Trojas und die Flucht des Äneas und seiner Getreuen per Schiff aus der brennenden Stadt (vgl. Grünewald 2012: 6-21). In seinem Totentanz Danse macabre (1941) zeigt Frans Masereel den Tod als selbst betroffenen und geschockten Akteur. Der Flame hatte schon die Gräuel des Ersten Weltkrieges mit zahlreichen Illustrationen und Bildgeschichten angeklagt; im Zweiten Weltkrieg floh er aus dem besetzten Paris nach Avignon und lebte in engem Kontakt zur Résistance versteckt im Untergrund. Hier schuf er den Totentanz. Sein Akteur, der Tod als Skelett, ist angesichts der Gewalt, die ihm von menschlichen Kriegstreibern aufgezwungen wird, entsetzt. Er selbst führt den schier endlosen Menschenzug an, der vor der Gewalt des Krieges flüchtet (vgl. Masereel 1985: 530f.). Auch Si Lewens textfreie Parade (1957) zeigt einen metaphorisch aufgeladenen Zug von Kriegsflüchtlingen. 1918 als Sohn in eine polnisch-jüdische Familie geboren, wuchs Lewen in Berlin auf und erhielt hier unter anderem Zeichenunterricht vom Klee-Schüler Max Adron. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wanderte er mit seinem Bruder nach Frankreich aus, kam 1935 nach New York und meldete sich 1942 freiwillig zu einer Spezialeinheit der US-Armee mit Deutschmuttersprachlern, den Richie-Boys. Er gehörte zu denen, die das KZ Buchenwald befreiten. Die furchtbaren Eindrücke inspirierten ihn zu seiner Parade, die 1957 veröffentlicht wurde und die Art Spiegelman 2016 neu herausgebracht hat. Auch jüngere Kriege, die zu Vertreibung und Flucht führten, finden ihren Widerhall in Comics. So erzählt Joe Kubert in Fax aus Sarajevo (1996; Fax from Sarajevo – A story of survival) vom Bosnienkrieg 1992-1995, Zeina Arbirached, die heute in Paris lebt, schildert in Ich erinnere mich (2008; Je me souviens) den Bürgerkrieg im Libanon 1975-1990 und Hamid Sulaimans Geschichte Freedom Hospital (2012) handelt von einem Untergrund-Krankenhaus, in dem verwundete Flüchtlinge im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten versorgt werden. Der Bildroman spiegelt die komplexe Zerrissenheit Syriens wider, führt den Betrachter in den Bürgerkrieg, in dem Terroristen des IS, Soldaten des Assad-Regimes, die freie syrische Armee und diverse Verbündete, Russen, Türken, Kurden, Amerikaner kämpfen. Der syrische Krieg zwingt Tausende in die Flucht.

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POLITISCH-RESTRIKTIVE SYSTEME Nicht nur Krieg, auch politisch-restriktive Systeme, die ihre Bürger unterdrücken, die Menschenrechte missachten, die die Lebensführung vorschreiben, die Meinungsfreiheit verbieten, Menschen aus politisch-ideologischen, aus ethischen oder aus religiösen Gründen verfolgen, lassen vielen nur die Emigration zum Überleben. Das nationalsozialistische Deutschland gibt dafür ein trauriges Beispiel ab, was von Betroffenen auch als Bildgeschichte anklagend festgehalten wurde, wie zum Beispiel in Karl Schwesigs Schlegelkeller (1935/1936). Schwesig gehörte zum Künstlerkreis der Düsseldorfer Kunsthändlerin Mutter Ey (wie auch Max Ernst, Otto Dix, Otto Pankok), wurde 1933 verhaftet und im Schlegelkeller, dem Verhörkeller der SA, gefoltert und zu 16 Monaten Haft verurteilt; dann gelang ihm die Flucht nach Antwerpen, wo in der Rückschau dieser Lithographie-Zyklus entstanden ist. Die Originale sind in Moskau verschollen; 1983 konnte er aufgrund von Fotografien rekonstruiert werden. Auf Berichten von Emigranten, die Carl Meffert in Argentinien kennengelernt hat, sowie auf eigenem Erleben, basiert sein Linolschnitt-Bildroman Nacht über Deutschland (1937-1938) (vgl. 2011: 64-76). Der Koblenzer Künstler ging 1926 nach Berlin und wirkte dort im Kreis um Käthe Kollwitz. Als kritischer Künstler unerwünscht und bedroht, floh er 1933 in die Schweiz, lebte dort illegal, arbeitete für die Gewerkschaftspresse, erfuhr Hilfe und Unterstützung, musste aber doch täglich mit Verhaftung und Abschiebung rechnen. 1935 emigrierte er nach Argentinien. Dort entstand als Fortsetzungsserie, unter dem geänderten Namen Clément Moreau in mehreren Zeitungen publiziert, die in Linoleum geschnittene Geschichte, die er dann 1976 – leicht gekürzt – als Bildroman mit einem Vorwort von Heinrich Böll veröffentlichte. Eine Reihe von Künstlerinnen und Künstlern hat in erinnernder Rückschau Bildromane geschaffen, die das vielfältige Geflecht von Schikanen, Unterdrückung und Verfolgung zeigen, das sie zur Emigration veranlasst hat. So schildern Marjane Satrapi (heute in Paris lebend) in Persepolis (2000), Parsua Bashi (heute in Zürich lebend) in Nylon Road (2006) oder Mana Neyestani (heute in Paris lebend) in Ein iranischer Albtraum (2013; Une métamorphose iranienne) die Zustände im Iran nach der Machtübernahme Chomeinis 1979. Nina Bunjevacs Vaterland (2015; Fatherland, 2014) zeigt, wie ideologisch-doktrinäre Maßnahmen im Jugoslawien Titos ihre Familie nach Kanada auswandern ließen, wo ihr Vater sich rechtsradikalen Gruppen anschloss und bei der Vorbereitung eines Bombenattentats ums Leben kam. Aktuell auf die Flüchtlingsströme aus Afrika bezieht sich der Bildroman Der Traum von Olympia (2015) von Reinhard Kleist. Er ba-

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siert auf wahren Gegebenheiten und erzählt die Geschichte der somalischen Läuferin Samia, der islamistische Fundamentalisten in ihrem Heimatland nicht erlauben, für die olympischen Spiele in London zu trainieren.

ARMUT, WIRTSCHAFTLICHE LAGE UND PERSPEKTIVLOSIGKEIT Auch die wirtschaftliche Situation eines Landes, die für viele Menschen Armut und Perspektivlosigkeit bedeuten kann, wird als Migrationsgrund in Comics thematisiert. Die Leporello-Bildgeschichte Migrar. Weggehen (2011; Migrar) der Mexikaner Martínez Pedro und Mateo orientiert sich ästhetisch an der Tradition aztekischer Kodizi (siehe Abbildung 2). Sie erzählt aus der Perspektive eines mexikanischen Jungen, dessen Vater aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten in die USA emigrierte. Bekanntlich ist Präsident Trump fest entschlossen, gegen die Migranten aus Mittelamerika eine Mauer zu bauen. Auch Europa tut sich schwer, Migranten aufzunehmen. Nach wie vor ist eine sinnvolle Aufteilung von Migranten auf die Mitgliedsländer der EU nicht geklärt, weigert sich zum Beispiel Italien, Schiffe mit aus Seenot geretteten Flüchtlingen Hafenzugang zu gewähren (vgl. unter anderem Meiler 2019). Nicht nur das Mittelmeer als natürliche Grenze, zusätzliche stacheldrahtbewehrte Mauern, kontrollierte Zollstreifen und anderes mehr sollen die ›Festung‹ Europa abschotten. Und doch versuchen immer wieder Menschen zum Beispiel aus Afrika, der Not ihrer Heimatländer zu entfliehen, um in Europa ein besseres Leben zu finden. »Habt ihr die Mauern gesehen, die Europa um sich zieht und mit Stacheldraht und Glassplittern befestigt? Wenn etwas so geschützt wird, muss es wertvoll sein, oder?« (Tietäväinen 2014: 36). Diese Überlegungen eines Marokkaners im Bildroman Unsichtbare Hände (2014; Näkymättömät kädet) des Finnen Ville Tietäväinen schildern Gründe der Emigration: dem wirtschaftlichen Elend und der Perspektivlosigkeit zu entkommen, und nach Europa, ins glücksverheißende Paradies, zu gelangen. Aber Europa – aus Angst vor der Flüchtlingsflut, aus Angst, den erreichten Lebensstandard zu verlieren – schützt seine Außengrenzen, riegelt sie ab.

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Abbildung 2: Javier Martínez Pedro und José Manuel Mateo: Migrar. Weggehen, S. 5f.

Quelle: Edition Orient 2015

Der Fotograf Carlos Spottorno und der Journalist Guillemo Abril recherchierten an den Außengrenzen der EU. Ihre Foto-Comic-Reportage Der Riss (2017; La Grieta) dokumentiert die Abriegelung auf erschreckende Weise. Er zeigt die Zäune, die den Flüchtlingsstrom aufhalten sollen, in Ungarn, in Griechenland, den Zaun in Melilla, der 12 km2 kleinen in Marokko liegenden spanischen Enklave,

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den immer wieder Flüchtlinge, vor allem aus Ländern südlich der Sahara, überklettern (vgl. Spottorno/Abril 2017: 19). Über Melilla will auch der junge Senegalese Téjé nach Europa kommen, um sein Glück zu suchen und Geld zu verdienen. »Ich hab’ nur kein’ Bock, mein ganzes Leben im Müll zu verbringen« (Hedrich/Pampuch 2016: 53) sagt er. Durch nichts lässt er sich aufhalten, wie Andreas Hedrich und Sebastian Pampuch in Schläfer im Sand (2016) so mitfühlend erzählen.

WEGE DER MIGRATION ‒ REISE/FLUCHT In Tans Roman ist die Ausreise eine legale Schiffsreise in ein Land, das Auswanderer aufnimmt. Wir vergessen heute nur zu leicht, dass es wirtschaftliche Not, Massenelend und Perspektivlosigkeit waren, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert Millionen von Europäern vor allem nach Amerika emigrieren ließen (vgl. Blaschka-Eick 2010).10 Die erwähnten Bildzitate bei Tan deuten das an, und auch eine Reihe weiterer Bildgeschichten widmen sich diesem Thema. So erzählt ein Großvater in der Bilderbuch-Bildgeschichte Das Streichholzschachtel-Tagebuch (2013; The Matchbox Diary) von Paul Fleischman und Bagram Ibatoulline seiner Urenkelin von der Flucht aus Italien. Um der wirtschaftlichen Not zu entkommen, wanderte sein Vater nach Amerika aus und holte dann seine Familie nach. Da der Großvater als Junge nicht schreiben konnte, bewahrte er in Streichholzschachteln viele kleine Dinge auf, die an sein Zuhause und die Migration erinnern. Auch der Bildroman Die Ballade von der Typhoid Mary (1990) von Ursula Fürst greift das Thema auf. Schiffslinien, wie die Reedereien Norddeutscher Lloyd (Bremen), die Hamburg-Amerika-Linie oder die Austro-Americana im damals österreichischen Triest, waren auf solche Auswandererfahrten spezialisiert. Und für die Schiffslinien war das ein großes Geschäft. Der Bildroman zeigt, wie Reedereien aus Kostenersparnis die unglaublichsten Zustände an Bord zuließen; viele Auswanderer, die mit Mühe und Not das Geld für die Passage zusammen bekommen hatten, erkrankten. Fürst erzählt, wie eine an Typhus erkrankte Frau, die selbst resistent ist aber den Krankheitserreger weiterträgt, in der neuen Heimat zum Todesengel für viele Menschen wird. Nicht jede Emigration ist gefährlich; wer das nötige Geld hat, kann auch heute – meist ganz legal und wenig spektakulär ‒ per Schiff oder Flugzeug aus den meisten Ländern ausreisen. Vor allem, wenn die Familie einen entsprechenden Stand in der Gesellschaft hat, kann eine Ausreise relativ problemlos verlaufen, wie das 10 Vgl. auch das 2007 eingerichtete Auswanderer-Museum Ballin-Stadt in Hamburg, vgl. https://www.ballinstadt.de/.

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Zeina Arbirached (Ich erinnere mich) oder auch Marjane Satrapi (Persepolis, Bd. 2: Jugendjahre) erzählen. Wesentlich schwieriger gestaltete sich die Auswanderung – besser ist von ›Flucht‹ zu reden – von Mana Neyestani aus dem Iran. In Ein iranischer Albtraum erzählt er rückblickend seine Geschichte. Weil er wegen einer als zu kritisch ausgelegten Illustration angeklagt und zeitweise inhaftiert wurde, wird seine Emigration zum Albtraum. Mithilfe von Schleppern, mit gefälschten Pässen, mit viel Glück, hartnäckiger Durchhaltekraft gegen viele bürokratische Schwierigkeiten und auf verschlungenen Wegen über China und Malaysia gelingt es ihm und seiner Frau schließlich dank der Unterstützung von Reportern ohne Grenzen im Pariser Asyl Fuß zu fassen. Aus der jüngeren deutsch-deutschen Geschichte ist bekannt, wie abenteuerlich und gefährlich Fluchtwege sein können. In ihrem Comic Geteilte Stadt Berlin (2012) sammeln Susanne Buddenberg und Thomas Henseler authentische Geschichten von DDR-Flüchtlingen, die erzählen, wie die Berliner Mauer unter Lebensgefahr über- oder unterwunden wurde. Halfen DDR-Flüchtlingen vielfach engagierte und eher seltener bezahlte Fluchthelfer, so sind Fluchtwillige weltweit sehr oft auf professionelle, meist auch kriminelle Schlepper angewiesen. Das wird in der Bildgeschichte Die Flucht (2016; The Journey) von Francesca Sanna thematisiert: Angeregt durch eine Begegnung mit Mädchen in einem Flüchtlingszentrum in Italien, hat Sanna das Thema Flucht in einem Bilderbuch aufgegriffen, um so schon Kinder für das Problem zu sensibilisieren. Krieg und Tod des Vaters sind Auslöser für die Flucht von Mutter und Kindern. Eine riesige Mauer und ein grimmiger Wächter stoppen die Flucht – bis gegen Bezahlung ein Fluchthelfer den Dreien über die Mauer hilft und sie auf der Flucht ins Ungewisse mit vielen weiteren Flüchtlingen in einem Boot über das Meer mit seinen vielen Gefahren schickt. Ein älteres Lesepublikum sprechen in Illegal Colfer/Donkin/Rigano an, die von einer Flucht aus Nigeria erzählen, von der Abhängigkeit der Migranten von skrupellosen Schleppern, die die verängstigten Menschen in unsicheren, kaum seetauglichen Schlauchbooten dem Mittelmeer überlassen. Während hier und bei Sanna die Strapazen ein glückliches Ende finden, münden solche Bootsfahrten nicht selten in einer Katastrophe. Reinhard Kleist erzählt in Der Traum von Olympia, welche Mühen Samia auf sich nimmt, das Land zu verlassen, um an der Olympiade in London teilnehmen zu können. Mit anderen schleppt sie sich zu Fuß durch die Wüste, reist eingepfercht in einem engen Auto, wird gezwungen, in einem Schlauchboot das Meer zu überqueren. Der erkennbare Motivbezug zu Géricaults berühmten Bild von

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Menschen in Seenot, Das Floß der Medusa (1818-1819),11 zeigt, wie gefährlich diese Bootsfahrten sein können. Samia erreicht ihr Ziel nicht, sondern ertrinkt. Schon 2012 konnte man auf dem Comic-Salon in Erlangen das kostenlose Heft Comicaze 28 zum Thema Heimat erhalten.12 Hier findet sich eine Geschichte von Christoph Schöne, die von einer Flucht aus Afrika über das Mittelmeer mit tragischem Ende erzählt: »Ich habe es nicht geschafft…« (Schöne: 2012, S. 15f.). Auch der geflüchtete Senegalese in Schläfer im Sand überlebt seine Flucht nach Europa nicht. Er wird am spanischen Strand tot aufgefunden und wie ein Stück Müll entsorgt (siehe Abbildung 3). Im oben erwähnten Foto-Comic Der Riss wird über die Rettungsaktion Frontex der EU berichtet. Hier kann die italienische Militärfregatte Grecale syrische, marokkanische, pakistanische und nigerianische Bootsflüchtlinge bergen.13 Während die Bildgeschichten das traurig-dramatische Geschehen erzählen und doch – bei aller bildmächtigen emotionalen Einstimmung ‒ die wertende Kommentierung dem Rezipienten überlassen, hat das ungelöste Problem zahlreiche Karikaturisten zu bitter-zynischen Satiren eindeutiger Parteilichkeit inspiriert. In seinem Blatt Na bitte, auch die Superreichen zeigen Mitgefühl (2015) lässt Gerhard Haderer eine schöne Reiche auf ihrem Luxusschiff angesichts eines Schlauchbootes mit Flüchtlingen ihren Diener anweisen: »Jean, werfen Sie 5 Cent hinunter. Ich kann dieses Elend nicht mitansehen!« (Haderer 2015: 58) Und in Katharina Greves Zeichnung meint ein Frontex-Mann zu seinem Kollegen im Angesicht von schwimmenden Flüchtlingen, deren Boot gerade untergeht: »Achte auf die Beinarbeit. Die Bundesliga sucht Nachtwuchs.« (Greve 2014: 134)

11 Théodore Géricault: Das Floß der Medusa, 1818-1819, Öl/Leinwand, 491 x 716 cm, Paris, Louvre., vgl. Hagen 1983. 12 Für den Hinweis danke ich Ralf Palandt. 13 Vgl. auch Borstel/Eickmeyer 2017. Die Autoren nahmen an Rettungseinsätzen auf dem Rettungsschiff MS Aquarius der Organisation SOS Méditerranée im Mittelmeer teil und führten Gespräche mit der Schiffscrew und Geflüchteten.

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Abbildung 3: Andreas Hedrich/Sebastian Pampuch: Schläfer im Sand, S. 13

Quelle: Mückenschweinverlag 2016

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ANKUNFT UND AUFNAHME Tans Bildroman erzählt von einer legalen Auswanderung. Australien hat, wie unter anderem die USA oder Kanada, ein Einwanderungsgesetz, welches das Prozedere vorgibt. Tan schildert, wie der Neuankömmling das bürokratische Verfahren über sich ergehen lassen muss, wie er gesundheitlich untersucht, wie er nummeriert und gekennzeichnet, wie er zur Akte wird und erst – mit gestempelten Ausweispapieren versehen – sein neues Land betreten darf (vgl. Tan 2008: 27ff.). Deutschland hielt lange an der Ideologie fest, kein Einwanderungsland zu sein. Das 2018 beschlossene neue Einwanderungsgesetz bezieht sich auf Fachkräfte für die Wirtschaft aus Nicht-EU-Ländern (vgl. k. A. 2018). Für Migranten gilt das im Grundgesetz (Artikel 16a) aufgenommene Recht auf Asyl für verfolgte Flüchtlinge. Aber die Anerkennung als Asylsuchender ist eine Individualentscheidung, keinesfalls sicher und führt auch nicht automatisch zu einem ständigen Bleiberecht. Statt Einwanderung war es in der BRD gängige Praxis sogenannte Gastarbeiter anzuwerben. Mit bundesweitem Medienecho wurde 1964 der millionste Gastarbeiter begrüßt und erhielt als Geschenk ein Moped. Bei Gastarbeitern zählt die Arbeitskraft, die angeworben werden kann, weil in der Heimat – zum Beispiel von Italienern, Griechen oder Türken – zu wenige Arbeitsplätze bereitstehen. Ein Bleiberecht ist nicht vorgesehen, der Arbeitsaufenthalt ist zeitlich befristet. In der Praxis bleiben viele Gastarbeiter in Deutschland und holen ihre Familien nach. 1977 veröffentlicht die Büchergilde Gutenberg das Buch Gastarbeiter von Dragutin Trumbetas. In Zagreb geboren und in den sechziger Jahren selbst als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, schildert er in drastischen, an George Grosz erinnernden Zeichnungen, deren Situation. Die Szenen sind oft provokant, irritierend (siehe Abbildung 4). »Halten wir uns etwa unsere Gastarbeiter wie die Südafrikaner sich ihre Schwarzen? Für die niedere und schwere Maloche und gegen geringeres Entgelt? Nein, wir sind nicht ganz so schlimm, aber auch nicht gut genug« (Zwerenz zit. nach Trumbetas 1977: 12), schreibt Gerhard Zwerenz im Vorwort. Mit seinen Blicken hinter die Fassade ist das Buch Mahnung und Anstoß, will zeigen, dass Gastarbeiter Menschen sind, nicht nur billige, ausbeutbare Arbeitskräfte – und dass es eine gesellschaftliche Aufgabe ist, sie nicht in einem Ghetto auszugrenzen und denen, die bleiben wollen, eine Integrationschance zu geben.

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Abbildung 4: Dragutin Trumbetas: Gastarbeiter, S. 53

Quelle: Büchergilde Gutenberg 1977

Auch die DDR holte Gastarbeiter ins Land, unter anderem aus der Volksrepublik Mosambik. Birgit Weyhe stellt in ihrem Bildroman Madgermanes (2016) deren Schicksal am Beispiel dreier Protagonisten vor, fiktiv, aber an umfassend recherchierten Fakten orientiert und somit ein exemplarischer Spiegel historischen Geschehens. Die Hoffnung auf gute Ausbildung und entsprechenden Verdienst ließ Männer wie Frauen diese Chance ergreifen. Sie erwartete nicht nur ein fremdes Klima und eine fremde Kultur, sondern auch Masseneinquartierung, Arbeitszuweisung und zahlreiche Verbote, die den Alltag regelten.

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Während die Einreise von Emigranten, die auf dem Arbeitsmarkt gesucht werden, zumeist bürokratisch geregelt verläuft, schildern andere Bildgeschichten den oft leidvollen, oft auch gefahrvollen Einstieg in das neue Leben der Flüchtlinge, die erst um ihr Recht auf Asyl kämpfen müssen. Meffert (Nacht über Deutschland) hat das in der Schweiz wie in Argentinien selbst erlebt. Er zeigt, wie hilflos der Flüchtling dem bürokratischen Verfahren ausgeliefert ist, wie er seinen Zorn mit geballten Fäusten unterdrücken, wie er die skeptisch-ablehnenden Blicke ertragen muss (vgl. Meffert 2009: 105f.). Auch die aktuelle Situation von Flüchtlingen in Europa findet ihren zum Teil erschreckenden und mahnenden Widerhall in kürzeren wie längeren Comics. Die meisten Flüchtlinge kommen nach Ankunft zunächst in einem Lager unter – mit all den Problemen, die das mit sich bringt. So schildert Paula Bulling in der Kurzgeschichte »Lesvos« (2006) die Lage der Flüchtlinge in einem griechischen Lager, und Kate Evans widmet den 177 Seiten starken Comic-Roman Threads from the Refugee Crisis (2017) dem Lager bei Calais, in dem Flüchtlinge warten und hoffen, nach England einreisen zu dürfen. Sie zeigt, wie ungenügend und belastend diese Unterbringung ist, wie rasch soziale Spannungen im Lagerleben ausbrechen und auch zu Gewalt führen – untereinander (vgl. Evans 2017: 29) wie auch bei Polizeieinsätzen (vgl. ebd.: 127ff.).14 Viele Flüchtlinge versuchen, auch ohne Aufenthaltsgenehmigung im Lande zu bleiben. Wer illegal eingereist ist, muss nicht nur ständig mit der Angst leben, entdeckt und abgeschoben zu werden, er ist auch schnell ein erpressbarer Spielball skrupelloser Geschäftemacher. So erzählt Baru in Hau die Bässe rein, Bruno! (2011; Fais péter des basses, Bruno!) eine spannende Kriminalgeschichte im Fußballmilieu. Hier ist die illegale Einreise mehr Kulisse denn Thema; doch kann am Schicksal des afrikanischen Jungen Slimane exemplarisch abgelesen werden, wie es vielen Illegalen ergeht. Von einem windigen Vermittler als Fußballspieler angeworben, reist Slimane versteckt im Flugzeug nach Frankreich ein. Mit Glück kann er auf dem Flugplatz den Polizeikontrollen entkommen. Baru zeigt Slimanes Leben in der ständigen Angst, entdeckt und ausgewiesen zu werden. Die Situation der Illegalen, die hoffen, im reichen Europa einen Arbeitsplatz und Verdienst zu finden, vor allem, um die Familie zu Hause zu unterstützten und sich eine Zukunft aufzubauen, öffnet skrupellosen Geschäftemachern und Erpressern Tor und Tür. Dies erzählt der Finne Ville Tietäväinen in seinem zwar fiktiven, aber auf intensiver Recherche tatsächlicher Verhältnisse basierenden Comicroman Unsichtbare Hände. Schauplatz ist hier Spanien. Die illegalen afrikanischen Emigranten müssen ständig damit rechnen, von der Polizei aufgegriffen und wieder abgeschoben 14 Vgl. auch Migrant Image Research Group (2017): Lampedusa, eine Recherche auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa, einem Knotenpunkt der Migrationsbewegung zwischen Afrika und Europa.

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zu werden. Ohne sich wehren zu können, werden sie wie Sklaven gehalten und ausgebeutet (siehe Abbildung 5). Abbildung 5: Ville Tietäväinen: Unsichtbare Hände, S. 89

Quelle: avant-verlag 2014

Treffend hat auch Marie Marcks diese prekäre Lage in einer satirisch-kritischen Zeichnung kommentiert: Den bequem im Sessel ruhenden, metaphorisch als Riese dargestellten hiesigen Unternehmer bedienen zahlreiche kleine, visuell als Fremde erkennbare Menschen. »Ein echter politischer Asylant ist froh um jede Arbeit!« (Marcks 1985: k. A., Herv. i. O.), kommentiert der füllige Riese und lässt die Asche seiner Zigarette achtlos auf den Boden fallen – wo schon ein devoter Asylantenzwerg bereitsteht, sie aufzukehren.15

15 Hier sei auch auf die Comicadaption Der Dschungel (2018) von Kristina Gehrmann nach dem Roman von Upton Sinclair verwiesen, der das Schicksal europäischer Migranten in den USA des ausgehenden 19. Jahrhunderts kritisch beleuchtet. Der ›American Dream‹ erfüllte sich in den Schlachthöfen von Chicago nur für wenige.

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INTEGRATION Tan zeigt in seiner optimistischen Geschichte als vierte und mit der dritten natürlich eng verschmolzene Station einen Integrationsprozess, der dank zahlreicher Hilfen gelingt, aber auch aufgrund der eigenen Bereitschaft zur Anpassung wie der Toleranz der Einheimischen. Starkes Symbol für das Leben im neuen, nun eigenen Zuhause mit der nachgekommenen Familie (vgl. Tan 2008: 118) ist die Szene mit der kleinen Tochter, die einer gerade neu angekommenen jungen Frau nun selbst hilft, sich zurecht zu finden (vgl. ebd.: 121f.). Dass Integration durchaus gelingen, dass es aber auch große Schwierigkeiten, Ablehnungen, Hass und sogar Gewalt geben kann, hat die jüngere Geschichte leider auch in Deutschland gezeigt. In Madgermanes greift Birgit Weyhe unterschiedliche Schicksale auf. Nach der Wende wurden viele der Arbeitskräfte aus Mosambik nicht übernommen, Betriebe wurden abgewickelt, Menschen ins Heimatland zurückgeschickt. In Mosambik mussten sie dann entsetzt feststellen, dass die DDR zwar ihre Löhne überwiesen, aber die eigene korrupte Bürokratie das Geld veruntreut hatte. Manche Menschen hatten aber auch die Möglichkeit, in Deutschland zu bleiben und die Chance auf Integration zu nutzen. Weyhe erzählt das am Beispiel Anabellas (vgl. Weyhe 2016: 163ff.). Sie kann studieren, wird Ärztin und darf in Deutschland bleiben (vgl. ebd.: 217, 224). Allerdings zum Preis der Anpassung: Zwar hat sie die eigenen Wurzeln, die eigene Kultur nicht verdrängt, doch sie muss sich einfügen und lebt so im Zwiespalt (vgl. ebd.: 228f.). Integration in das aufnehmende Land ist nicht leicht. Dabei kann es nicht um völlige Anpassung mit Aufgabe der eigenen kulturellen Wurzeln gehen, was ironisch überspitzt Karikaturen vorführen, zum Beispiel mit dem unter Beifall der Einheimischen bayerisch fluchenden türkischen Obsthändler (vgl. Greser/Lenz 2015) oder dem türkischen Ehepaar, das sich ›typisch deutsch‹ unter dem symbolträchtigen Bild eines röhrenden Hirschen wohnlich eingerichtet hat (vgl. Plaßmann 2007: 4). Parsua Bashi, die aus dem Iran nach Zürich emigrierte, ist selbst Betroffene und schildert in ihrem Bildroman Nylon Road, wie mühevoll es für sie war, in der fremden Kultur Fuß zu fassen, sich neu zu orientieren, zu lernen, was sie mit Ehrgeiz und großer Energie auch schaffte (vgl. Bashi 2006: 3). Aber die eigene Sozialisation, die eigene Kultur kann nicht einfach abgeschüttelt werden. Mit einer literarisch-metaphorischen Figur, wie sie aus Marie Luise Kaschnitzʼ berühmter Kurzgeschichte Das dicke Kind von 1951 bekannt ist, stellt Bashi diese Problematik anschaulich dar. Sie begegnet sich selbst: Die Erwachsene in Zürich trifft sich selbst als Kind von sechs Jahren. Ihre Erinnerung wird personalisiert und konfrontiert sie mit ihrer iranischen Herkunft (vgl. ebd.: 43ff.). Sie zeigt, dass Integrations- und Erinnerungsarbeit ineinandergreifen müssen. Bashis Weg ist –

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mit diesem Buch – der zeichnerisch-erzählende Umgang damit (vgl. ebd.: 426f.). So wie sich Bashi nur schwer in die ihr bisher fremde neue Kultur einfügen kann, geht es auch der Laotin, die der Indochina-Krieg nach Frankreich verschlagen hat. Manuele Fior erzählt in seiner Kurzgeschichte »Großmutter und Enkel« (2018) von dieser Zerrissenheit. Noch die Enkelin, in Frankreich geboren und aufgewachsen, spürt das: »Ich fühle mich wie ein Mix aus zwei Kulturen.« (Fior 2018: 52) Nicht alle Emigranten können mit dem Trauma ihrer Vergangenheit leben; oft werden sie von ihren Albträumen eingeholt. Ein Beispiel dazu stellt Judith Vanistendael in Kafka für Afrikaner (2011; De maagd en de neger) vor. Die Integration eines jungen Togolesen ist gegenüber vielen Vorbehalten und Ablehnungen, die er im niederländischen Alltag erfährt, nicht leicht. Dazu kommt, dass er die Anerkennung als Asylsuchender nicht erhält. Die neunzehnjährige Sofie, die aus einem wohlsituierten und liberalen belgischen Elternhaus kommt, verliebt sich in ihn, heiratet ihn. Das sichert ihm den Aufenthalt – aber die Beziehung zerbricht an seinen seelischen Problemen, wie Vanistendael so bedrückend anschaulich zeigt (siehe Abbildung 6).16 Wie vielerorts in Deutschland mit Asylsuchenden umgegangen wird, dokumentiert Paula Bulling in ihrem Bildroman. In der Verlagsankündigung heißt es: »›Die Unterbringungen von Flüchtlingen soll ihre Bereitschaft zur Rückkehr in das Heimatland fördern‹ – so steht es in der Bayerischen Asyldurchführungsverordnung. In anderen Bundesländern braucht es diese zynische Amtsvorgabe gar nicht, wenn es um den Umgang mit Asylbewerbern geht. Vor allem Sachsen-Anhalt, das so genannte ›Land der Frühaufsteher‹, steht in dem Ruf, in Flüchtlingsfragen die restriktivsten und unflexibelsten Auslegungen der Gesetzlage durchzusetzen.«17

Paula Bulling, die mit dem Titel Im Land der Frühaufsteher (2012) auf den genannten Werbeslogan anspielt, erzählt in sieben Kapiteln vom Leben in sachsenanhaltischen Flüchtlingsheimen, von Enge und Tristesse. Eine eher deprimierende Bilanz.

16 Das Thema prägt auch Ulli Lusts lesenswerten biographischen Bildroman Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein (2017). 17 https://www.avant-verlag.de/comics/im-land-der-frühaufsteher. In der aktuellen Bayerischen Asyldurchführungsverordnung (GVBl 13/2016) heißt es in § 7 (3): »Die Verteilung und die Zuweisung dürfen die Rückführung der betroffenen Personen nicht erschweren.« (Bayerische Staatskanzlei 2016: 262)

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Abbildung 6: Judith Vanistendael: Kafka für Afrikaner, S. 144.

Quelle: Reprodukt 2011

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Dazu kommt, dass leider eine wachsende Gruppe von Menschen zunehmend mit dem ›Problem Ausländer‹ überfordert ist. Vor allem bei denen, die sich als Verlierer der Gesellschaft empfinden, verbinden sich irreale Ängste mit Neid, was Ablehnung produziert. Von populistisch-radikalen, skrupellosen Politikern angeheizt und missbraucht, von der rationalen Politik zum Teil leider zu wenig ernst genommen und aufgeklärt, entwickelt sich vielerorts Hass, der schließlich zu gewalttätigen Ausschreitungen führen kann, wie es auch Birgit Weyhe in Madgermanes mit den Verweisen auf die Gewaltaktionen 1991 in Hoyerswerda darstellt (vgl. Weyhe 2016: 132, 138, 140). Dabei müsste das Problem der Fremdenfeindlichkeit (das überall auf der Welt zu beobachten ist) eigentlich bewusst sein (vgl. Oeser 2015). Alltäglicher Rassismus, Diskriminierung aus Fremdenfurcht ist offensichtlich ein tief verankertes Problem, das immer wieder zu beobachten ist. Schon Heinrich Hoffmann thematisierte es 1845 mit der »Geschichte von den schwarzen Buben« im Struwwelpeter – mit guter erzieherischer Absicht, müssen die Jungen nun selbst erleben, wie es ist, schwarz zu sein.18 Allerdings entlarvt sich die Bestrafung als in Vorurteilen eingeschweißtes Wertedenken: SchwarzSein als Mangel bleibt unwidersprochen. Es scheint, wie beispielsweise die Ereignisse in Chemnitz (August 2018) zeigen, sehr schwer zu sein, mit rationalen, sachlichen Argumenten diese ›besorgten‹ Bürger, die sich leider meist kritiklos dem rechtsradikalen Mob unterordnen, ins Gespräch zu bringen. Dennoch kann nur das der richtige Weg sein. Und eine Reihe von Comics stellt sich dieser Aufgabe, wie zum Beispiel Jetzt reichtʼs in Sachsnitz (2008) von Torsten Bähler und Amal oder Pure Fruit #12 (2016, hg. von Franziska Ludwig und anderen), die in einfühlsamen Geschichten von Flüchtlingsschicksalen erzählen und die Leser für deren Probleme sensibilisieren möchten. Auch zahlreiche Schülerarbeiten, in Projekten in und außerhalb des Kunstunterrichts entstanden, zeigen, dass viele junge Menschen das Problem erkannt haben und in Comics gegen Rassismus, gegen Fremdenhass, gegen Gewalt Stellung beziehen (vgl. Weber/Moritzen 2017). In einer Klassengemeinschaftsarbeit wurde das Thema Flüchtlinge im Kunstunterricht (Klassenstufe 5/6) bildnerisch entwickelt. Die Lehrerin schreibt dazu: »Während des Zeichenprozesses entstanden immer wieder Gespräche zwischen den Schülern zum Thema ›Flüchtlinge‹. Dabei kam heraus, dass sich manche Menschen auf einen Neubeginn freuen, wenn sie in der Fremde angekommen sind. Andere haben keine Kraft mehr, resignieren und kehren um. Und so mancher Mensch verliert sein Leben. Ein Thema,

18 Hoffmann, Heinrich (1971): Der Struwwelpeter (zit. nach der Ausgabe 1876), Zürich: Diogenes, S. 16-19.

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das betroffen macht! [...] Notwendig war es auch zu thematisieren, wie den Flüchtlingen in Deutschland geholfen werden kann. Vor allem eine Schülerin meiner Klasse, die mit drei jugendlichen Flüchtlingen in einer Wohngruppe lebt, konnte von ihren Erfahrungen berichten.« (Atzkern 2017: 28)

Gegenüber den negativen und von den Medien leider besonders herausgestellten fremdenfeindlichen Aktivitäten finden sich in Deutschland auch viele Menschen, die sich mit hohem Engagement um Flüchtlinge bemühen, die ihnen helfen, die Möglichkeiten auszuloten und sich dafür einsetzen, ihre Integration zu befördern. Ein anschauliches Beispiel sind die Comic-Reportagen Geschichten aus dem Grandhotel (2016). Den Comic schufen Studierende der Projektgruppe Comicwerkstatt der Fakultät für Gestaltung an der Hochschule Augsburg. Die Geschichten beziehen sich auf das Grandhotel Cosmopolis, das Anlaufstelle und erste Heimat für Flüchtlinge in Augsburg wurde. »Alle Beiträge dieses Heftes basieren auf Interviews mit Flüchtlingen, ehrenamtlichen Helfern, Besuchern des Cafés im Grandhotel sowie vor Ort gemachten Beobachtungen.« (Loos 2016: 1) Sie schildern den Alltag in der Flüchtlingsunterkunft, berichten von Fluchtursachen und spiegeln Sorgen und Hoffnungen der Asylsuchenden. Durchaus verbunden mit subjektiven Interpretationen der Comic-Autoren und auch fiktiven Elementen zielt der Band darauf, seine Leser informativ wie unterhaltend für einen positiven Umgang mit Flüchtlingen zu sensibilisieren und zu gewinnen. Das intendiert auch der letzte Comic, der hier benannt werden soll, Alphabet des Ankommens (2017) von Axel Halling, Lilian Pithan und Sascha Hommer. Er ist das Ergebnis eines Projektes des Deutschen Comicvereins e.V., das im März 2017 an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg durchgeführt wurde, gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung (vgl. http://alphabetdesankommens.de/).19 Zwölf Journalisten und Zeichner, einige von ihnen selbst mit Migrationserfahrungen, berichten in prägnanten Comic-Reportagen von konkreten Beispielen, die zeigen, welche Schwierigkeiten das Ankommen in Deutschland und der Aufenthalt im fremden Land mit sich bringen. Neben zahlreichen Problemen, bürokratischen Hürden, manch erduldeter Unfreundlichkeit, zeigen die Comics aber auch, dass Hilfe geboten wird, dass zum Beispiel in einem Fußballverein, einem Tanztheaterprojekt oder mit einem gemeinsamen Frühstückstisch einem Neuanfang zusammen der Weg geebnet werden kann. Allein die Tatsache, dass in letzter Zeit vermehrt kürzere wie längere ComicGeschichten sich dem Thema Migration angenommen haben, zeigt, dass auch

19 Zu jeder Comic-Reportage gibt es auch Unterrichtsmaterialien, die sich insbesondere für die Sekundarstufe II und die Erwachsenenbildung eignen. Vgl. auch Pithan 2017.

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diese Kunstform als sensibles Medium reflektierender Wahrnehmung und Kommentierung gesellschaftlicher Wirklichkeit funktioniert und damit demonstriert, dass das Thema nicht nur in emotional übersteuerten Angstszenarien seinen Widerhall findet, sondern auch in angemessener intellektueller Auseinandersetzung. Comic-Geschichten, spannende Erzählungen, die ihre Basis bei aller Fiktion aus der Realität ableiten, oder sachliche Comic-Reportagen, die subjektiv aber parteilich pointiert informieren und zur Stellungnahme zwingen, erweisen sich dabei als anschauliche und für das Thema höchst dienliche Form. Auch der wertenden Einschätzung von Barbara Eder ist nur zuzustimmen: »Dass es im Comic die Möglichkeit gibt, Imaginationen einen symbolischen Ausdruck zu verleihen, prädisponiert diesen für die Darstellung von ›Fremdheits‹-Erfahrungen: Im Comic kann der imaginative Raum eines ›Dritten Ortes‹ dargestellt werden, mit dem sich viele MigrantInnen identifizieren, die sich weder dem Herkunftsland ihrer Eltern noch der Kultur im Einwanderungsland zugehörig fühlen.« (Yun 2017)

Ob der Autor, die Autorin aus eigener Erfahrung, gewissermaßen das eigene Trauma aufarbeitend, die Bildgeschichte kreiert, ob es sensible und mitfühlende Beobachter sind, die sich verantwortlich und betroffen fühlen – die vorgestellten Comics können ihren wichtigen Beitrag dazu leisten, dass wir alle verständnisvoller und offen für die vielfältigen Probleme mit der Thematik umgehen und vielleicht motiviert werden, unseren positiven Beitrag zu ihrer Lösung im Alltag zu leisten.

LITERATUR Primärliteratur Arbirached, Zeina (2014): Ich erinnere mich. Beirut, Berlin: avant-verlag. Bähler, Torsten/Amal (2008): Jetzt reicht’s in Sachsnitz. Eine Geschichte aus Sachsen und anderswo, Pirna: Hilfe für Betroffene rechter Gewalt e.V., AKuBiZ e.V. Baru (2011): Hau die Bässe rein, Bruno!, Wuppertal: Edition 52. Bashi, Parsua (2006): Nylon Road, Zürich: Kein & Aber. Borstel, Gaby/Eickmeyer, Peter (2017): Liebe deinen Nächsten. Auf Rettungsfahrt im Mittelmeer an Bord der Aquarius, Bielefeld: Splitter. Buddenberg, Susanne/Henseler, Thomas (2013): Geteilte Stadt Berlin. Zeitgeschichten, Berlin: avant-verlag.

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Erzählende Dinge – Zur Funktion gezeichneter Objekte in Comics über Krieg und Migration Monika Schmitz-Emans

Das Leben im Krieg ist als Gegenstand literarischer, bildkünstlerischer und graphisch-narrativer Darstellung eine besondere Herausforderung, gehe es nun um direkt Kriegsbeteiligte oder um vom Kriegsgeschehen betroffene Zivilisten. Wie lassen sich der Krieg, seine Begleiterscheinungen und seine Folgen überhaupt in einer Weise darstellen, die den historischen Erfahrungen gerecht wird? Die diese nicht auf Anekdotisches reduziert, sie aber auch nicht zur großen Geschichte stilisiert? In einer Weise, die Verharmlosungen vermeidet, aber auch nicht einfach auf den Schockeffekt von Gewaltszenen und Katastrophenbildern setzt? In einer Weise, die nah an den historischen Erfahrungen ist und doch bewusst die eigenen Möglichkeiten rekonstruierender und stilisierender Darstellung nutzt? Solche Fragen stellen sich vor allem, wenn die Adressaten Kinder und Jugendliche sind: Gerade hier gilt es, einerseits Wissen zu vermitteln und Hilfestellung zum Begreifen zu geben, und andererseits Grenzen des Zumutbaren zu berücksichtigen. Wie entgeht man der Verharmlosung durch eine Darstellungsweise, die adressatengerecht sein will? Als Strategie einer mittelbaren, aber prägnanten Vorgehensweise soll im Folgenden die zeichnerische Darstellung von Dingen an einigen Beispielen beleuchtet werden. Von Ding-Motiven haben Comics seit der Frühzeit dieser Form von Bilderzählung profitiert: Gezeichnete Dinge wurden zu prägnant eingesetzten Elementen dargestellter Schauplätze und Episoden; oft bekamen sie sogar ein Gesicht oder wurden zu wichtigen Teilen der Handlung – man denke an den Ziegelstein in Herrimans Krazy Kat und die anderen Dinge, welche die Krazy Kat-Welt wiedererkennbar machen; man denke an die animierten Dinge in den Comics von Lyonel Feininger oder auch an die Goldstücke von Onkel Dagobert etc. Dinge sind

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ergiebige und gestaltungsfähige Motive, wenn es darum geht, graphisch von spezifischen Lebenssituationen und Lebensformen zu erzählen. Als Bestandteile von Schauplätzen, Interieurs und Szenen in realistischen Darstellungen sind sie wichtige Indikatoren von Situationen, wichtige Attribute von Akteuren. Als Zeichen betrachtet, können gezeichnete Dinge indexikalische, ikonische und symbolische Verweisfunktionen haben, respektive diese Funktionen verbinden. Sie können Assoziationen hervorrufen, Grundstimmungen vermitteln, die dargestellten Szenen und Situationen indirekt bespiegeln und kommentieren. All dies gilt zwar nicht allein für Darstellungen des Lebens im Krieg, sondern auch für alle möglichen anderen Themen. Aber das Thema des Kriegslebens bietet die Möglichkeit zu Spezifikationen. Erstens, weil unter den Bedingungen des Kriegs verglichen mit Friedenszeiten andere Dinge die Lebenswelt der Betroffenen prägen, die der direkten Kriegsteilnehmer ebenso wie die der Zivilisten, sodass diese ›Kriegsdinge‹ als solche bereits signifikante Bildmotive sind. Und zweitens, weil der Besitz oder das Verfügenkönnen über bestimmte Dinge in Kriegszeiten für Soldaten wie für Zivilisten überlebensrelevant sein kann – weil also unter diesen spezifischen Bedingungen bestimmte Dinge eine verstärkte Signifikanz als Gebrauchsdinge besitzen. Um die für Bildergeschichten vielfach prägende Poetik gezeichneter Dinge zu charakterisieren, bieten sich zwei abweichende, ja der Tendenz nach auf den ersten Blick gegenläufige Ansätze an, die sich aber doch auch als komplementär betrachten lassen. Ein erster Ansatz ergibt sich ausgehend von Roland Barthes’ Reflexionen über den »Wirklichkeitseffekt« (»effet du réel«) in Erzählungen, genauer: in realistischen Romanen und Beispielen literarisch-narrativer Historiographik (vgl. Barthes 2006: 171).1 Barthes beobachtet an Texten von Flaubert und Michelet, dass bei der Schilderung von Szenen und Situationen wiederholt Details erwähnt werden, die für die »Struktur der dargestellten Welt« keine erkennbare Bedeutung hätten.2 Zwar erfüllen in Romanen und historischen Erzählungen erwähnte Dinge in der Regel eine ganze Reihe von Funktionen: So können sie dazu dienen, die Akteure zu charakterisieren, sie können an Vergangenes erinnern oder auf die Zukunft vorausdeuten, sie können symbolischen Charakter haben. Aber bei manchen Details in den dargestellten Szenerien fragt sich der Leser doch, warum sie überhaupt erwähnt werden. Sie haben, in strukturalistischer Terminologie 1

Der französische Originaltext Lʼeffet du réel wurde 1968 veröffentlicht.

2

So teilt, wie Barthes es formuliert, Flaubert bei der Beschreibung eines bestimmten Raums unter anderem mit, dass »ein altes Klavier […] unter einem Barometer, einen pyramidenförmigen Haufen von Schachteln und Kartons« trug (Gustave Flaubert: Ein schlichtes Herz, zit. nach Barthes 2006: 164). Solche Angaben scheinen auf »überflüssige Details« zu zielen, scheinen allenfalls »Auffüllungen« zu sein, die eine Stimmung unterstützen, ohne sich auf die Struktur der dargestellten Welt auszuwirken (vgl. ebd.).

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gesagt, im Code der Erzählung keinen systematischen Ort. Sie sind insofern etwas Überflüssiges, Luxuriöses, ein Füllmaterial, das zusätzlichen Erzählaufwand macht, ohne der Erzählung als Ganzem zu dienen; sie sind (wie) Signifikanten ohne decodierbares Signifikat. Barthes’ These zu solchen ›bedeutungslosen‹ Details in realistischen narrativen Darstellungen besagt nun, dass diese Details einen ›Wirklichkeitseffekt‹ erzeugen: Sie verweisen als Zeichen nicht auf spezifische Signifikate innerhalb der Signifikate-Welt, die der Text durch seine Zeichen erbaut und vermittelt, sondern sie verweisen in den Augen des Betrachters auf Wirklichkeit als den textexternen Referenten der Darstellung.3 Was sie in ihrer Kontingenz dem Rezipienten bedeuten, ist Wirklichkeit als etwas Kontingentes; sie verleihen den Texten, in denen sie vorkommen, so einen spezifischen Realitätsbezug.4 Barthes bezeichnet in seinen Ausführungen eine solche bloße Darstellung des Wirklichen unter Verzicht auf Modi des codierten Bedeutens sogar zuspitzend als »Widerstand gegen den Sinn«.5 Gezeichnete Dinge können in graphischen Erzählungen analog zu solch bedeutungslosen Dingen in literarisch-historiographischen Erzählungen fungieren: etwas an sich Bedeutungsloses, das aber eben dadurch signalisiert, dass hier Wirklichkeit dargestellt wird – eine Wirklichkeit, in der ebenfalls vieles kontingent erscheint. Die von Barthes angedeutete Spannung zwischen bedeutungslosen Dingen und narrativen Sinnerzeugungsverfahren erscheint gerade mit Blick auf Erzählungen vom Krieg interessant: Lassen sich doch in Barthes’ Spuren die bedeutungslosen Details, die an sich nichtssagenden Dinge, durchaus als Hinweise auf Kontingenz und Fragmentierung der Welt interpretieren – als Widerstände gegen die Suggestion einer kohärenten Welt und einer kohärenten Darstellung. Was da so herumliegt, herumsteht, durch Hände geht, verweigert gleichsam die Aussage, sperrt sich gegen eine Lektüre. Allerdings ist auch eine solche Betrachtung von Bilddetails, von bedeutungsindifferenten und insofern widerständigen Dingen

3

Barthes spricht von einer »referentiellen Illusion«; diese besage: »das als Signifikat der Denotation aus der realistischen Äußerung vertriebene ›Wirkliche‹ hält als Signifikat der Konnotation wieder in ihr [sic] Einzug« (ebd. 171).

4

»[I]n dem Augenblick, in dem diese Details angeblich direkt das Wirkliche denotieren, tun sie stillschweigend nichts anderes, als dieses Wirkliche zu bedeuten; das Barometer Flauberts, die kleine Tür Michelets sagen letztlich nichts anderes als: wir sind das Wirkliche; bedeutet wird dann die Kategorie des ›Wirklichen‹ (und nicht ihre kontingenten Inhalte) […]. Es kommt zu einem Wirklichkeitseffekt« (ebd., Herv. i. O.).

5

›Wirklichkeitseffekte‹ werden nicht nur von Einzelheiten in realistischen Erzählungen erzeugt, sondern auch von Bilddetails auf Fotos. Auf fotografischen Bildern sieht man oft Details, die offenbar nur zufällig ins Bild geraten sind (vgl. ebd. 169).

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eine Interpretation, nur eine auf anderer Ebene als der der Entzifferung codierter Zeichen. Ein zweites Beschreibungsmodell für Dinge in Comics und Graphic Novels steht zum ersten in Spannung. Es ergibt sich aus der These, dass Dinge selbst etwas erzählen oder doch wichtige Katalysatoren des Erzählens sind.6 Das erzählerische Potenzial von Dingen wird im späten 20. Jahrhundert theoretisch aus verschiedenen Perspektiven erörtert.7 Vor allem auf Alltagsdinge richtet sich das Interesse von Kultur-, Kunst- und Literaturhistorikern. Mieke Bal (Bal 2006, 117145) erinnert an das traditionsreiche Konzept ›sprechender‹ Dinge und konzeptualisiert Arrangements aus solchen Dingen als narrative Gebilde, die sich analog zu verbalen Erzählungen beschreiben und interpretieren lassen, wenn man denn neben verbalen Ausdrücken grundsätzlich auch andere Träger von Erzählung gelten lässt.8 Eine entsprechend weitgefasste Definition von »Erzählung« bestimmt diese als Syntagmenbildung im Rahmen eines semiotischen Systems.9 Dinge gehören zu den Zeichenketten, durch welche sich »Geschichten« formieren, und es kann heuristisch ergiebig sein, die Dinge selbst versuchsweise als gleichsam dinggewordene Geschichten zu betrachten. Gemeint sind dabei nicht Versuche, vorgängige Erzählungen mittels Objekten nachzuerzählen; vielmehr geht es Bal um ein an die Dinge selbst gebundenes und durch sie konstituiertes Erzählen. Das Sammeln von Dingen wäre Bals Ansatz zufolge selbst schon ein basaler narrativer 6

Beide Annahmen sind nicht identisch, aber das kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Vgl. zu diesem Thema Bal 2006: 120.

7

Vgl. die folgende repräsentative Überlegung: »Dinge erzählen Geschichten. Dinge sind für die Konstitution von Bedeutung in einer Erzählung nicht beiläufig oder nachrangig. Erzählte Dinge sind für die Bemühungen gegenwärtiger Narratologie ein zentrales Arbeitsfeld.« (Baisch 2015)

8

»[E]s liegt […] auf der Hand, daß sprachliche Texte nicht die einzigen Objekte sind, die zur Übermittlung einer Erzählung fähig sind. Die Sprache ist nur ein – vielleicht das hervorstechendste – Medium, in dem sich Erzählungen konstruieren lassen. Wie die Tradition der Historienmalerei beweist, bieten Bilder ebenfalls die Möglichkeit dazu, ganz zu schweigen von gemischten Medien wie Film, Oper und Comic strip. Allmählich frage ich mich, ob die ausschließliche Konzentration aufs Sprachliche beim Studium des Narrativen nicht den Bereich der Beobachtungen in recht willkürlicher Weise begrenzt hat.« (Bal 2006: 120)

9

»Ich werde das Sammeln als Erzählung erörtern. Nicht als einen Prozeß, über den eine Geschichte erzählt werden kann, sondern als etwas von sich aus Narratives.« (Ebd.: 122) »Nach meiner Auffassung ist die Erzählung eine Darstellung im Rahmen eines semiotischen Systems, in dem eine subjektiv fokalisierte Reihe von Ereignissen vorgeführt und übermittelt wird.« (Ebd.: 123)

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Prozess. Auszugehen ist dabei von einer Variabilität der Ding-Codes und ihrer Syntagmen sowie von unterschiedlichen Bedeutungspotenzialen, die beim Erzählen mit Dingen aktualisiert werden können. So etwa kann es geschehen, dass Dinge, die in einen anderen Sammlungskontext versetzt werden, neue Bedeutungen annehmen. Durch Modifikationen der Ding-Arrangements lässt sich die Aussage der Sammlung insgesamt verändern (vgl. ebd.: 139f.). Wie im verbalen Erzählen bekundet sich in der Sammlertätigkeit ein anthropologisch fundiertes Bedürfnis zu erzählen, insbesondere Geschichten von sich selbst; darum gehört das Sammeln selbst auch zum Wesen des Menschen (vgl. ebd.: 126). Zu den unterschiedlichen Typen von Geschichten, die sich mittels der Sammeltätigkeit erzählen lassen, gehört der der »Todeserzählung« (ebd.: 142). In den folgenden Beispielen graphischer Erzählungen über Krieg und Migration spielen gezeichnete Alltagsobjekte eine wichtige Rolle. Dabei allerdings oszillieren diese Objekte zwischen bedeutungslosen Dingen mit Wirklichkeitseffekt und sprechenden Dingen.

ALLTAGSSZENEN UND ALLTAGSDINGE AUS DEM ERSTEN WELTKRIEG − ALEXANDER HOGH/JÖRG MAILLIET: TAGEBUCH 14/18. VIER GESCHICHTEN AUS DEUTSCHLAND UND FRANKREICH Das 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs erschienene Tagebuch 14/18 (2014; 14-18: Quatre histoires de France et d’Allemagne) erzählt in Form von vier Comics oder kurzen Graphic Novels aus dem Leben von vier Figuren, zwei deutschen und zwei französischen; die verbindende Handlungszeit ist die des Ersten Weltkriegs. Die Episoden um die Figuren sind auf jeweils perspektivische Weise eingebettet in Zeitgeschichtliches (Kriegsausbruch, Mobilmachung, Kriegsverlauf, Kampfhandlungen). Die Protagonisten werden im Rahmentext vorgestellt; Walter, Lucien, René und Nessi sind historische Figuren.10 Sie haben

10 Walter Bärthel, ein 17-jähriger deutscher Gymnasiast, wird bei Kriegsausbruch von patriotischer Begeisterung erfasst, meldet sich freiwillig und gerät an die Westfront. Der 6-jährige Réne Lucot stammt aus einer Ortschaft im Frontraum und erlebt die Kriegszeit aus Kinderperspektive. Eine gespaltene Haltung zwischen patriotischer Kriegsbegeisterung und dem Wunsch nach Frieden nimmt die bei Kriegsausbruch 14-jährige Agnes Kiendl (Nessi) ein, die fern der Front doch durch Hunger und andere Entbehrungen die

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Aufzeichnungen hinterlassen, die den Comic-Geschichten zugrunde gelegt wurden. Ihre Geschichten sind auch für jüngere Leser nachvollziehbar und vor allem an Schüler adressiert. Dazu trägt der Zeichenstil bei, ein vertrauter ligne claireStil. Aber auch die Erzählweise zielt auf Begreifliches, knüpft an Vertrautes an, schildert Lebensverhältnisse, die auch nach hundert Jahren noch gut vorstellbar erscheinen. Die ›große Geschichte‹ wird heruntergebrochen auf individuelle Lebensgeschichten. So rücken insbesondere Sorgen, Leid und Ernüchterung, aber auch der Patriotismus von Deutschen und Franzosen in den Blick. Die Lebenswelten der Figuren sind detailreich wiedergegeben. Dinge spielen dabei eine wichtige Rolle: Nahrungsmittel, Kleider, Gebrauchsobjekte, die scheinbar nur herumstehen, -liegen oder -hängen, um Realitätseffekte zu erzeugen, aber auch stark symbolische Gegenstände wie Fahnen, Helme, Pickelhauben. Letztlich trägt jedes Detail zur Narration bei. Mehrfach sind Zeichnungen von Briefen oder Tagebüchern in die Bildgeschichte integriert: Wir sehen dann gleichsam den jeweils Erzählenden beim Erzählen. Fotos von Soldaten bilden abwesende Familienväter ab – und so mittelbar die Störung vertrauter Lebensverhältnisse. Bei der Darstellung einer Hochzeit (einer Kriegstrauung) und von Mahlzeiten im Familienkreis werden Details der Speisen, die jeweiligen Rahmenbedingungen sowie herumstehende Gegenstände realistisch-detailgetreu gezeichnet, um dem Betrachter die Vorstellung eines konkreten Einblicks in die Figurenwelt zu vermitteln. Eine Seite der Nessi-Erzählung mit Darstellung einer gemeinsamen Mahlzeit in der Familie bietet ein Beispiel (vgl. Hogh/Mailliet 2014: 56, siehe Abbildung 1): Spärliches (und verschwindendes) Essen auf den Tellern wirkt wie ein Index der herrschenden Unterversorgung mit Nahrungsmitteln, die durch den Hinweis auf das Backen mit Kartoffelmehl bestätigt wird. Bilddetails wie die Köpfe von Jagdtrophäen an der Wand und die Standuhr erinnern symbolisch an Zeitlichkeit und Tod – und konkreter daran, dass das Ende des Deutschen Kaiserreichs kommen wird. Dazu passende Endlichkeitssymbole aus der Kunstgeschichte sind sowohl die Kerze, bei deren Licht Nessi schreibt, als auch die qualmende Pfeife des Mannes, die an William Hogarths Finis-Graphik erinnert. Ein leerer Teller unten rechts auf der Bildseite visualisiert – zumal zusammen mit dem Stichwort »Hungerfrieden« – nochmals die Nahrungsknappheit und symbolisiert allgemeiner einmal mehr das baldige Ende.

Folgen des Kriegs zu spüren bekommt. Der 22-jährige Lucien Laby wird als Medizinstudent im Kriegsdienst zur medizinischen Versorgung der Verwundeten herangezogen; als Hilfsarzt und Patriot zwischen unterschiedlichen Haltungen schwankend, empfindet er das Grauen des Kriegs zunehmend stärker.

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Abbildung 1: Nessi unter ›sprechenden‹ Dingen

Quelle: TintenTrinker 2014

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Den vier Comicerzählungen ist jeweils ein Anhang zugeordnet, der über die vier historischen Vorbilder der gezeichneten Figuren in Text- und Bild-Dokumenten informiert. Auch in diesen Anhängen spielen Dinge eine tragende Rolle: Als persönliche Spuren der Figuren (und damit als suggestive Beglaubigungen der Geschichten) finden sich allerlei Objekte abgebildet, darunter Fotos, Dokumente und Gebrauchsgegenstände.

BARBARA YELIN: IRMINA Barbara Yelins Graphic Novel Irmina (2014) erzählt die Lebensgeschichte einer Frau, die in ihrer Jugend eine Weile in England lebt und dort eine Liebesbeziehung zu einem farbigen Studenten aus der Karibik unterhält, dann aber umständehalber nach NS-Deutschland zurückkehrt und dort heiratet. Sie wird zur eher unreflektierten Mitläuferin, verliert im Krieg ihren Mann, wird mit ihrem Kind ausgebombt und ist in der Nachkriegszeit auf sich allein gestellt. In späten Jahren erreicht sie eine Einladung ihres karibischen Jugendfreundes, den sie in seiner Heimat besucht. Dieser Besuch löst bei Irmina ein Nachdenken über sich selbst aus. Die Darstellung des Zweiten Weltkriegs erfolgt in im zweiten Teil der dreiteiligen Geschichte, die Irminas Leben in Berlin nach ihrer Rückkehr aus England schildert.11

11 Die junge Irmina von Behdinger aus Stuttgart arbeitet als Fremdsprachensekretärin im Kriegsministerium und hofft auf eine Versetzung nach London, die man ihr versprochen hat. Doch der Plan zerschlägt sich. Irmina lernt den jungen Architekten Gregor Meinrich kennen, einen überzeugten Nationalsozialisten, den Irmina bald heiratet. Die an sich unpolitische Irmina gewöhnt sich NS-Denkstil und NS-Jargon an, übernimmt schließlich auch die Durchhalteparolen. Die Judenverfolgung verdrängt sie, obwohl sie in Berlin Zeugin einschlägiger Übergriffe wird, an denen auch Gregor beteiligt ist. Die zunehmende wirtschaftliche Not in Deutschland und der ausbleibende berufliche Erfolg werfen Schatten über die junge Ehe, aus der ein Kind hervorgeht: Frieder. Der Krieg bricht aus; Gregor wird Soldat; Irmina muss sich zu Hause unter zunehmend prekäreren Umständen durchschlagen. Schließlich erzwingt der Bombenkrieg eine Evakuierung aufs Land. Hier erhält Irmina die Nachricht vom Tod ihres Mannes. Nach dem Krieg kehrt die alleinstehende Frau ins heimische Stuttgart zurück und arbeitet als Schulsekretärin.

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Schon das Titelbild der Graphic Novel lässt erwarten, dass Yelins an sich realistischer Zeichenstil Affinitäten zum Symbolischen und Metaphorischen hat. 12 Dies bestätigt die Bildergeschichte im Folgenden, auch und gerade die bilderzählerische Darstellung von Irminas Leben zur Kriegszeit. Objekte und Interieurs charakterisieren sie als Repräsentantin einer (klein-)bürgerlichen Welt, die auch unter Kriegsbedingungen zunächst für intakte Fassaden zu sorgen versucht, bevor sie vom Bombenkrieg betroffen wird. Allerlei Dinge gehören zu dieser Welt: Möbel, Gebrauchs- und Dekorationsobjekte, Kleider, Kinderspielzeug und Nahrungsmittel. Ins Bild gesetzt werden die metonymischen Bedeutungspotenziale solcher Dinge als Zeichen für bestimmte Lebensformen und -praktiken. Manches, was als kontingentes Alltagsding mit Wirklichkeitseffekt erscheinen könnte, erweist sich im Kontext der Gesamtgeschichte als symbolträchtiges Objekt. Dies gilt etwa für einen Satz Bauklötze, mit dem Irminas kleines Kind spielt (siehe Abbildung 2). Einerseits scheinen diese schlicht zu einer Familienszenerie zu gehören, die in einer Wohnung spielt, auf die der Schatten kriegsbedingter Sorgen und Zerstörungen noch nicht gefallen ist. Es gibt andererseits aber doch zu denken, dass der kleine Junge seinen Turm so hoch baut, dass dieser dann einstürzt – wie um zu symbolisieren, wohin es mit Deutschland durch politisch-militärischen Größenwahn bald kommen wird. Die motivische Verknüpfung der Bauklötze mit einem Zinnsoldaten sowie die Platzierung der Baukastenszene in unmittelbarer Nachbarschaft zu Hinweisen auf Judenpogrome signalisieren einen Zusammenhang zu umfassenderen Zerstörungsprozessen, und die rötliche Farbe der Bausteine bietet einen weiteren Anlass zu symbolischer Lektüre. Die Farbregie der Zeichnerin unterstreicht die symbolischen Potenziale der dargestellten Dinge. Vor dem Hintergrund der in Grautönen gehaltenen Darstellung der NS- und Kriegszeit heben sich rote Gegenstände ab – allerdings auf eine insgesamt ambige Weise, welche die Mehrdeutigkeit von Dingen visualisiert. So stehen rote Rosen und andere rote Dinge für den Wunsch nach Freude, nach Leben, nach Genuss und Spiel, doch sie lassen auch Krieg und Gewalt assoziieren, gleichsam gegen ihre eigentliche Funktion als Objekte.

12 Die Fahrradtour eines Paares (es sind Irmina und ihr Freund Howard) durch eine helle, heitere Landschaft findet ihr düsteres Gegenbild in der Darstellung zerbombter Häuser, einer Frau (Irmina) mit Koffer, einer zerstörten Stadt.

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Abbildung 2: Irmina und die Dinge als Zeichen

Quelle: Reprodukt 2014

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Eine besonders prägnante Episode von Irmina (siehe Abbildung 3) dreht sich um ein Glas mit eingemachten roten Früchten. Es ist ein letztes Relikt aus Friedenszeiten, in Notzeiten für besondere Gelegenheiten aufgehoben; Irmina holt es hervor, als eine ausgebombte Freundin bei ihr Zuflucht sucht. Doch das Glas fällt hin und zerbricht. Wie außer sich versucht die verzweifelte Irmina, trotz der Scherben von den Früchten zu essen: ein prägnantes Bild für ihre Verzweiflung – und dafür, wie Dinge ihr Gesicht ändern können. Von einem Behälter für ein Genussmittel ist das Glas zur potenziell tödlichen Gefahr geworden. Rote Dinge bilden bei Yelin eine Art Motiv-Netz, das einerseits auf den Wunsch nach Glück und Genuss hindeutet (rote Blumen, rote Bausteine, rote Marmelade), andererseits auf Zerstörung und Verwundungen (ein blutendes Knie, ein umgestürzter Baustein-Turm, das zerbrochene Marmeladenglas). Bemerkenswerte Ähnlichkeiten bestehen hier zu Wolfgang Borcherts Kurzgeschichte An diesem Dienstag (1947). Diese setzt sich aus Einzelszenen um verschiedene Figuren zusammen, deren Beziehungen untereinander teilweise nicht ganz klar sind. Die Figuren bewegen sich auch in verschiedenen Ereigniskontexten, aber diese erscheinen durch Motive verzahnt – insbesondere durch Objekte von roter Farbe. Das Rot eines Schals, der Glut einer Zigarette, des Fleckfiebers und eines Lippenstifts lassen die verbindende Farbe abwechselnd als Symbol des Lebens und des Todes erscheinen. Während Borcherts Geschichte die Bedeutungspotenziale der roten Objekte schon durch ihre (vordergründige) Zusammenhanglosigkeit und Lakonik stark akzentuiert, geht Yelin mit ihren roten Objekten verhaltener um. Deren Darstellung verzichtet bei aller Affinität zum Symbolischen nicht ganz auf die Suggestion eines detailfreudigen Realismus.

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Abbildung 3: Rote Marmelade als unheilvolles Vorzeichen

Quelle: Reprodukt 2014

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SCHEINBAR ZUFÄLLIGES IM BILD ZWISCHEN REALITÄTSEFFEKT UND ZEICHENHAFTIGKEIT − EMMANUEL GUIBERT/DIDIER LEFÈVRE/ FRÉDÉRIC LEMERCIER: DER FOTOGRAF Gerade fotografische Darstellungen von Dingen (auch als Bildelemente innerhalb von Comics) können jenen Wirklichkeitseffekt erzeugen, von dem Roland Barthes bezogen auf den realistischen Roman gesprochen und den er auch bei fotografischen Bildern beobachtet hat – den Effekt kontingenterweise ins Bild geratener Dinge, die eben wegen ihrer Kontingenz das Bild so wirklichkeitsnah erscheinen lassen. Graphische Erzählungen mit integrierten Fotos setzen manchmal auf diesen Effekt – was aber nicht ausschließt, dass die ungeplant ins Bild geratenen Dinge im Kontext der Erzählung dann auch zeichenhaften Wert bekommen. Im Gegenteil kann sich die Suggestion einstellen, gerade das zufällig Auftauchende spreche für sich, lege für die Wirklichkeit als solche und unabhängig von artifiziellen Arrangements Zeugnis ab. Die dreiteilige Graphic Novel Der Fotograf (2008/2009; Le Photographe), in Koproduktion13 entstanden, erzählt von den Reisen des Fotografen Didier Lefèvre durch Afghanistan: An der Seite einiger Ärzte der Organisation Médecins Sans Frontières, die sich um Kranke und Verletzte in abgelegenen Dörfern und anderen entlegenen Gebieten kümmern, lernt der Fotograf das ihm unbekannte Land und seine Bewohner kennen, die Kamera immer zur Hand, um festzuhalten, was er sieht. Der Fotograf dokumentiert vor allem die Armut und Not der Zivilbevölkerung des vom Krieg gezeichneten Afghanistan, die oft tödlichen Gefahren, die der Kriegsschauplatz auch für die Zivilisten mit sich bringt sowie die verschiedenen Formen der Hilfe, die die westlichen Ärzte anbieten können und die doch nie reichen. Den Stil der Graphic Novel bestimmt insbesondere die Kombination von Fotos und Zeichnungen, wobei die Zeichnungen offenbar nach Fotos derselben Provenienz wie die gezeigten Aufnahmen (respektive: nach diesen Aufnahmen selbst) entstanden. Lefèvre hat das fotografische Material, vor allem in Form von Kontaktabzugs-Streifen, geliefert, Guibert hat daraus eine Graphic Novel gemacht, unterstützt durch den Koloristen Lemercier. Die Zeichnungen sind den Fotos sehr nahe, auch wenn Guibert seine Motive reduziert; sie präsentieren sich entsprechend auch als in hohem Maße realitätsbezogen. In den drei Bänden von Der Fotograf findet sich eine Vielzahl von Fotos, die offenbar bestimmte Objekte und Szenen dokumentieren sollten, bei denen – wie

13 Guibert: Szenario, Zeichnungen Kolorierung; Lemercier: Kolorierung und mise en page, Lefèvre: Szenario und Fotos.

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bei den Aufnahmen von Reportagefotografen – dann aber doch mehr Details ins Bild geraten sind als zunächst intendiert und überschaubar. Gerade diese Details indizieren dann in ihrer Überflüssigkeit und Zufälligkeit das Wirkliche; sie signalisieren, dass Wirkliches in seiner ganzen Kontingenz hier seinen Abdruck hinterlassen hat. In manchen Fällen ist es jedoch nicht sicher, ob wie beiläufig mit ins Bild geratene Gegenstände und Details absichtlich oder unabsichtlich fotografiert wurden. Wenn sie eigens erwähnt werden, kann dies doch eine nachträgliche Entdeckung des Textverfassers sein. Ob die seltsame Konstellation aus Maschinengewehr und Blumenstrauß (siehe Abbildung 4), den die Erzählerinstanz auf dem Bild eines Afghanen entdeckt, zufällig oder gezielt fotografiert wurde, lässt sich nicht entscheiden. Vielleicht ist sie ein zufälliges Detail. Durch ihre Kommentierung – ein Blumenstrauß bezirze eine Kalaschnikow – verwandelt sie sich in ein signifikantes Motiv. Anders als mit dem auffälligen Doppelmotiv von Waffe und Blumenstrauß verhält es sich mit Aufnahmen, die der Ärztin Juliette gelten (siehe Abbildung 5). Die attraktive Frau wird mit zivilisatorisch-kulturellen Attributen assoziiert, und die Requisiten ihres Alltags – Zahnbürste, Ohrringe, Kleidung – signalisieren eine Haltung, die auch in Kriegszeiten an bestimmten kulturellen Errungenschaften festhält. Die Dinge, die zu Juliette gehören, sind Symbole eines tapfer behaupteten zivilisatorischen Standards und einer Privatsphäre, die ein Gegengewicht zur kargen Welt des Kriegs bildet. Ob zufällig oder absichtsvoll im Bild: Bilder von Dingen tragen einen erheblichen Teil der Handlung des Kriegsreiseberichts mit. Insgesamt steht Der Fotograf, bedingt durch das oftmals schnell, in großen Mengen und unter extremen Bedingungen aufgenommene Fotomaterial im Zeichen von Ambiguitäten: Welche Bildmotive zufällig in die Geschichte hineingerieten, welche absichtsvoll, ist oft schwer zu sagen. Gerade darin liegt ein indirekter Hinweis auf Kontingenzen, die das Leben der Betroffenen bestimmen. In der Auswahl und Nachzeichnung der Fotos für die Graphic Novel liegt aber auch eine Chance, aus kontingenten Motiven sprechende Motive zu machen.

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Abbildung 4: ›Erzählende‹ Dinge: ein Gewehr, ein Blumenstrauß

Quelle: Edition Moderne 2008

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Abbildung 5: Juliettes persönliche Dinge

Quelle: Edition Moderne 2008

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WANDERNDE DINGE UND IHRE GESCHICHTEN − SHAUN TAN: THE ARRIVAL Die Graphic Novel Ein neues Land (2008; The Arrival) von Shaun Tan enthält keinen Text, zumindest keinen in irgendeiner lesbaren Sprache. Tans Graphic Novel erzählt die Geschichte eines Auswanderers, der aus seiner von Gewalt und Angst überschatteten Heimat in ein fremdes Land übersiedelt. Er trifft dort auf eine völlig fremde Welt, lernt andere Auswanderer und Einheimische kennen, sucht sich eine Wohnung und Arbeit und kann schließlich Frau und Kind in die neue Welt nachholen. Die Bilder wirken durch ihre bräunliche Färbung wie alte Fotos. Dabei ähnelt The Arrival (altmodischen) Science Fiction-Universen, es erinnert aber auch an die USA um 1900, also zur großen Einwandererzeit. Tan gestaltet unter anderem eine Geschichte über die Vieldeutigkeit der Zeichen, die eine unbekannte Kultur ausmachen – und über Versuche, sie zu entziffern. Sinnbilder der (versuchten, scheiternden oder gelingenden) Kommunikation und Orientierung sind Zeichnungen, Wörterbücher, Briefe, Stadtpläne, gefaltete Papiervögel, Plakate, Briefe und Bücher.14 The Arrival ist in sehr klarer Weise eine Geschichte über die Charakterisierung von Dingen. Die Erzählung über den Migranten beginnt vor der Abreise aus der Heimat: Auf der ersten Seite (siehe Abbildung 6) sind einzelne Dinge abgebildet, die zum Zuhause gehören, darunter neben diversen Gebrauchsgegenständen je eine Fotografie des Auswanderers mit Frau und Tochter sowie eine Kinderzeichnung derselben Figurengruppe. Das allererste Bild stellt einen aus Papier gefalteten Vogel dar. Der Protagonist packt das Foto ein; die melancholischen Bilder um den Aufbruch drücken wortlos aus, wie schwer der Familie die Trennung fällt. Die Geschichten der hier gezeigten Objekte (Koffer, Papiervogel, Foto, Kinderzeichnung, Hut etc.) werden im Folgenden die Geschichte des Protagonisten begleiten, mit ihr aufs Engste verflochten.

14 Kapitel 1 erzählt von der Abreise des Familienvaters, Kapitel 2 von seiner Überfahrt im Kreis anderer Auswanderer. Aus einer Seite seines Notizbuchs macht er einen Papiervogel. Die Einwanderer durchlaufen akribische Kontrollen, die an die Immigrationsrituale in den USA zur großen Migrationszeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert erinnern. Die Menschen haben merkwürdige, nie gesehene Haustiere und sind von rätselhaften Objekten umgeben. Der herumirrende Einwanderer verständigt sich mit Gesten und Zeichnungen. In Kapitel 3 trifft der Held bei der Erkundung der neuen Welt andere Immigranten; man verständigt sich mangels gemeinsamer Sprache durch Bilder. Kapitel 4 gilt dem Eintritt ins Arbeitsleben, Kapitel 5 dem Nachzug der Familie; Kapitel 6 erzählt vom neuen Leben in der neuen Welt.

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Abbildung 6: Dinge von persönlicher Bedeutung für den Helden

Quelle: Carlsen 2008

Papiervögel, symbolische Objekte, in denen sich die Sehnsucht nach Überbrückung großer Distanzen ausdrückt, werden immer wieder gefaltet, schon auf der Überfahrt des Helden ins neue Land. Und sie signalisieren die Verbundenheit, die zwischen den Familienmitgliedern auch während der Trennung besteht. Der Koffer des Reisenden ist als Behälter der Gebrauchs- und Erinnerungsobjekte ein materialisiertes Stück Heimat. In dieser Eigenschaft betrachtet ihn der ausgewanderte Protagonist einmal – und sieht im Koffer halluzinatorisch seine Frau und seine Tochter am heimischen Tisch sitzen. Seine Gesten im Umgang mit den mitgebrachten Objekten sind ebenso sprechend wie die Objekte selbst: das Arrangieren der Dinge in der neuen Wohnung, das Auswickeln und Aufhängen des Familienbildes (siehe Abbildung 7).

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Abbildung 7: Träger von Erinnerungen, Auslöser von Emotionen

Quelle: Carlsen 2008

Dinge sind nicht allein Verweise auf Stimmungen und Situationen. Die Figuren in Tans Geschichte sprechen mangels einer gemeinsamen Sprache auch mithilfe von Dingen, sie lassen diese manchmal gleichsam für sich sprechen. Bemerkenswerterweise gelingt die Kommunikation immer wieder. In mehreren (wortlosen) Dialogszenen wird gezeigt, was Dinge alles sagen können, wenn die Menschen sich sprachlich nicht miteinander verständigen können. Auch der Leser versteht die dargestellten Dinge, obwohl vieles fremdartig wirkt. Manche Details wirken, als bezeugten sie Wirklichkeit im Sinn des Barthesʼschen Wirklichkeitseffekts – und das, obwohl die bezeugte Wirklichkeit eine Phantasiewelt ist. Aber die Foto-Optik der Bilder lässt immerhin die Vorstellung zu, manches habe sich eher beiläufig ins Bild geschlichen.

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Prägend für Tans Graphic Novel ist die Idee vom erzählenden Potenzial der Dinge. Durch den Verzicht auf eine verbale Erzählung wird dieses Potenzial besonders markant in Szene gesetzt. Deutlich wird bei Tan vor allem, welche Signifikanz Alltagsdinge gerade für Migranten haben, wie diese Dinge die Heimat metonymisch repräsentieren, aber auch symbolisieren. Vor allem in Gestalt von bildhaften Dingen nehmen die Personen ein Stück altes Leben mit in die Fremde, etwa als Kinderzeichnung (hier: der eigenen Familie) oder als Fotografie. Bestimmte Dinge sind vertraute Begleiter in die neue Alltagswelt (hier: ein Koffer); andere sind Symbole der Hoffnung, so ein Papiervogel. Durch den Umgang mit Dingen gewöhnt sich der Immigrant aber auch an sein neues Land; im Unvertrauten finden sich Dinge, die sich wiedererkennen lassen, und ungewohnte Objekte werden allmählich vertraut. Dinge haben Geschichten, und diese verknüpfen sich mit denen der Menschen. Das was hier hinsichtlich des Umgangs mit Dingen an Beispielen aus Graphic Novels über Krieg und Migration beobachtet wurde, ließe sich analog auch in Comics/Graphic Novels zu anderen Themen feststellen. Und doch haben in Kriegsund Migrationsgeschichten Ding-Darstellungen einen besonderen Stellenwert: In der Fremde (der des Kriegsgebiets oder der des für Migranten neuen Landes) gewinnen Gegenstände eine besondere Signifikanz, sei es als spezifische Dinge des Kriegs, Dinge des Migranten, Dinge der Fremde, sei es als Relikte einer Sphäre des Friedens und der Heimat. Bedeutsam können sie sein, weil man sich erst an sie gewöhnen muss, aber auch, weil sie Geborgenheit vermitteln. In jedem Fall charakterisieren Dinge vielfach präzise die Figuren, die sich mit ihnen umgeben oder mit ihnen konfrontiert werden. Gerade in Geschichten über Krieg und Migration verweisen viele Dinge direkt oder indirekt auf Leben und Tod, erinnern an einstige Friedenszeiten, charakterisieren die Not, repräsentieren Lebensnotwendiges – was sich dann unter anderem darin manifestiert, dass sie geringer werden, zu fehlen beginnen oder zerstört werden. Gerade in fremdartigen Welten und Situationen muss man sich oft mittels Dingen verständigen, weil die vertraute Wortsprache nicht ausreicht. Soweit die Perspektive der Figuren auf der intradiegetischen Ebene. Auf der Ebene der bewussten Gestaltung durch Zeichner, Szenaristen und Textverfasser sind all diese Funktionen von Dingen Gegenstand des möglichen Kalküls. Dinge, die in der dargestellten Welt wie zufällig ins Bild rücken, sind von den Comic-Autoren bewusst inszeniert worden. Dinge können zum einen als Erzeuger von Realitätseffekten betrachtet werden, als etwas, das gezeichnet wurde, um zunächst einmal Wirklichkeit zu denotieren. Man kann sie aber auch (beides schließt sich nicht aus) als sprechende Zeichen deuten – oft auch als Metaphern. Die metaphorische Bedeutung von Dingen mag sich dabei den Figuren

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auf der intradiegetischen Ebene oft nicht erschließen, während der Leser sie wahrnimmt. Aber natürlich können im Prinzip auch gezeichnete Figuren mit Dingen wie mit Metaphern oder Metonymien umgehen, was Shaun Tans Emigrant ja tut, wenn er Foto, Koffer und Papiervogel als Stücke der Heimat behandelt.

LITERATUR Primärliteratur Guibert, Emmanuel/Lefèvre, Didier/Lemercier, Frédéric (2008): Der Fotograf, Bd. 1: In den Bergen Afghanistans, Zürich: Edition Moderne. Guibert, Emmanuel/Lefèvre, Didier/Lemercier, Frédéric (2008): Der Fotograf, Bd. 2: Ärzte ohne Grenzen, Zürich: Edition Moderne. Guibert, Emmanuel/Lefèvre, Didier/Lemercier, Frédéric (2009): Der Fotograf, Bd. 3: Allein nach Pakistan, Zürich: Edition Moderne. Hogh, Alexander/Mailliet, Jörg (2014): Tagebuch 14/18. Vier Geschichten aus Deutschland und Frankreich. Unter Mitwirkung und mit einem Vorwort von Gert Krumeich und Nicolas Beaupré, hg. v. Julie Cazier und Martin Block, Köln: TintenTrinker. Tan, Shaun (2008): Ein neues Land, Hamburg: Carlsen. Yelin, Barbara (2014): Irmina. Mit einem Nachwort von Dr. Alexander Korb, Berlin: Reprodukt. Sekundärliteratur Baisch, Martin (2015): »Dinge erzählen. Valentin Christ plädiert aus der Perspektive des Mittelalters für eine Narratologie der Objekte«. Rezension zu Valentin Christ: Bausteine zu einer Narratologie der Dinge. Der ›Eneasroman‹ Heinrichs von Veldeke, der ›Roman d’Eneas‹ und Vergils ›Aeneis‹ im Vergleich, online verfügbar unter: http://literaturkritik.de/id/20986 [Zugriff: 19.12.2017]. Bal, Mieke (2006): Kulturanalyse, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Barthes, Roland (2006): »Der Wirklichkeitseffekt«, in: ders., Das Rauschen der Sprache, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 164-172.

Kartierung der Flucht ‒ Karten in Migrations-Comics Mara Stuhlfauth-Trabert und Florian Trabert

»Jede Quest […] findet in zwei Sphären statt, in der des Wirklichen, das ist das, was die Landkarten uns zeigen, und in der Sphäre des Symbolischen, für die es einzig die unsichtbaren Landkarten in unseren Köpfen gibt.« (Rushdie 2019: 132f.)

COMICS UND MIGRATION Im letzten Jahrzehnt sind zahlreiche Comics erschienen, die sich mit den unterschiedlichen Aspekten der gegenwärtigen Flüchtlingsthematik auseinandersetzen und dabei die Gründe der Flucht, die Strapazen des Fluchtwegs, die Probleme bei der Ankunft und die Schwierigkeiten bei der Integration im neuen Land ins Panel setzen. Hinzu kommen didaktisch ausgerichtete Projekte, die den Comic als geeignete Plattform sehen, sich mit Migration transkulturell auseinanderzusetzen.1 1

Das Alphabet des Ankommens (2017) der Bundeszentrale für politische Bildung umfasst zwölf Comic-Reportagen über den Neuanfang in einem fremden Land von JournalistInnen und ZeichnerInnen aus zehn Ländern (vgl. https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/alphabet-des-ankommens/). Der von Angela Weber und Katharina Moritzen herausgegebene Band Tausend Bilder und eins – Comic als ästhetische Praxis in der postmigrantischen Gesellschaft (2017) versammelt Comics von SchülerInnen und Studierenden zu den Themen Heimat, Fremde, Flucht und Identität, denen Essays und Interviews von WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen gegenübergestellt sind und stellt ein Plädoyer für eine sparten-, kultur- und generationenübergreifende Auseinandersetzung mit Migration dar (vgl. Weber 2017).

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Die besondere Affinität zwischen Comic und Migration liegt bereits in der Geschichte des Mediums begründet. In seinen ersten vier Jahrzehnten war der Comic ein reines Zeitungsphänomen und flüchtiges Medium, da ein »nach Jahren und Monaten geordneter Reprint zum Wiederlesen […] in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nie vorgesehen« (Braun 2017: 6) war. So beginnt der Comic als Massenkultur, als Medium, das ein breites urbanes Publikum erreichte und sich in den Städten der amerikanischen Ostküste vor allem an europäische Einwanderer richtete. Allein in New York wurden damals über 50 Sprachen gesprochen, weshalb sich Zeichnungen in Kombination mit reduzierten sprachlichen Mitteln hervorragend eigneten, um über ethnische Grenzen hinweg miteinander zu kommunizieren. Comics wurden nicht nur von gesellschaftlichen Minderheiten gelesen, sondern auch von ihnen produziert: »Das Yellow Kid2 sprach die Sprache der irischen Immigranten, die Katzenjammer Kids von Rudolph Dirks richteten sich an die deutschen Migranten und Harry Hershfields Abie the Agent hatte einen jiddischen Akzent.« (Engelmann 2016) Auch das Genre der Superhelden-Comics – Superman, Batman, Captain America – wurde von einer gesellschaftlichen Minderheit erschaffen, die mit Flucht, Migration, Assimilation und Ausgrenzung umzugehen hatte: »Alle Superheldenfiguren, die wir heute noch kennen, sind ab der zweiten Hälfte der Dreißiger Jahre von jungen jüdischen Comiczeichnern, viele mit osteuropäischem Migrationshintergrund, entwickelt worden, geprägt von der Hoffnung auf das Eingreifen eines mit übernatürlichen Kräften ausgestatteten Lebewesens angesichts des deutschen Nationalsozialismus. […] Der Comic war somit historisch ein Medium, das für Minderheiten eine Plattform der Kommunikation geboten hat, in dem Themen wie Flucht, Assimilation und Ausgrenzung, Rassismus und die Suche nach den eigenen, verlorenen Traditionen immer wieder eine wichtige Rolle gespielt haben.« (Ebd.)

Von den amerikanischen Wurzeln des Comic aus betrachtet, ist es also nicht verwunderlich, dass auch die gegenwärtigen Migrationsbewegungen in diesem Medium verhandelt werden. Der folgende Beitrag möchte sich dem Themenfeld Migration und Comic allerdings weniger aus einer historischen oder inhaltlichen Perspektive nähern, sondern den Fokus vielmehr auf die Funktion von Landkarten in Migrations-Comics richten. Im Anschluss an Robert Stockhammer werden Karten dabei als »Zeichenverbundsysteme« verstanden, »die ein Gelände darstellen, das 2

Der 25. Oktober 1896 kann als Geburtsstunde des amerikanischen Comics angesehen werden, da an diesem Tag im New York Journal die erste Episode von Richard F. Outcaults Comicstrip Hoganʼs Alley erschien. Zentraler Charakter dieses Strips ist bereits The Yellow Kid.

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als bereisbar vorgestellt wird« (Stockhammer 2007: 13).3 Dass Landkarten immer wieder auf unterschiedlichen narrativen Ebenen in Migrations-Comics integriert sind, erscheint angesichts der Bedeutung, die der Raum und die Orientierung im Raum für Flüchtende haben, wenig verwunderlich. Ein kurzer Abschnitt soll zunächst die Bedeutung von Karten für MigrantInnen erläutern. Die darauf folgenden Überlegungen zur Vergleichbarkeit der Medien Karten und Comics bilden die Grundlage für eine Reihe von begrifflichen Unterscheidungen, die die Analyse der Karten in den folgenden Comics ermöglichen sollen: Shaun Tans The Arrival (2006), Joe Saccos Journalism (2012), Reinhard Kleists Der Traum von Olympia (2015), Léopold Prudons De l’autre côté (2015) sowie Zeina Abiracheds und Mathias Enards Zuflucht nehmen (2018; Prendre refuge).

KARTEN UND MIGRATION Für Flüchtende ist die Orientierung im Gelände für jede Phase der Flucht ungemein wichtig. Vor der Flucht können Karten helfen, einen Fluchtweg zu eruieren und sowohl auf der Flucht als auch bei der Ankunft in einem neuen Land dienen sie der Orientierung in einem unbekannten Gelände. Diese Bedeutung der Landkarten soll zunächst ein historisches Beispiel illustrieren: Ein sehr bewegendes Zeitdokument für Migration stellt der Philo-Atlas. Handbuch für jüdische Auswanderung dar. Der Philo-Atlas wurde zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, als das jüdische Verlagswesen schon verboten war, die Nationalsozialisten aber noch an der Auswanderung der Juden interessiert waren (vgl. Urban-Fahr 1998: 11). Der Philo-Atlas, von einem jüdischen Verlag 1938 wenige Tage vor seiner Zwangsschließung herausgegeben, sollte sowohl den noch im Deutschen Reich verbliebenen als auch den bereits ausgewanderten Juden zu allen Fragen der Emigration Antwort, Rat und Hilfe bieten.4 Als einen wichtigen Bestandteil enthielt der Philo-

3

Diese Definition schließt die Karten erfundener Länder ein, im Gegenzug jedoch die Aktivität des mapping sowie andere diagrammatische Darstellungen wie Tabellen und Stammbäume aus. Der Begriff mapping wird in den Kulturwissenschaften und der Unternehmensberatung inflationär für die »verschiedensten mehr oder minder strukturierenden Beschreibungen, Planungen oder Optimierungen von Phänomenen oder Abläufen« verwendet, die im Gegensatz zu Karten »nicht wesentlich durch lokale Parameter bestimmt sind (›Mapping Male Sexuality‹, ›Mind Mapping‹, ›Mapping Your Future‹ usw.)« (Stockhammer 2007: 14).

4

Mehrere hundert Stichwörter boten aktuellste Informationen von A bis Z: von Abmeldung, Amerika und Ausweisung über Durchreisevisum, Ernährung, Frauenwanderung,

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Atlas zudem 20 mehrfarbige thematische Karten im Anhang, auf welche die Herausgeber sogar im Untertitel hingewiesen haben. Genau wie die Stichworte sind auch die Informationen, welche die Karten liefern, ganz auf die Auswanderung gerichtet: Sie zeigen die Sprachregionen der Welt, die Durchschnittstemperaturen der potenziellen Einwanderungsländer sowie die Entfernung von Berlin in Kilometern. Auch gegenwärtige Migrationsphänomene sind ohne die Verwendung von Karten kaum denkbar, wenngleich Flüchtende zumeist nicht mehr auf gedruckte, sondern digitale Karten zurückgreifen. Eine von der Freien Universität Berlin im Jahr 2016 durchgeführte Studie zur Mediennutzung von Flüchtenden hat die Bedeutung von Navigationsdiensten unterstrichen: »Über 40 Prozent der Flüchtlinge, die während der Flucht mit ihrem Smartphone auf das Internet zugriffen, nutzten unterwegs Navigationsdienste wie Google Maps.« (Emmer/Richter/Kunst 2016: 51) Entgegen einem in westlichen Industrienationen weit verbreiteten Vorurteil stellen Smartphones für die Flüchtende keine Luxusgegenstände dar, sondern vielmehr die einzige Möglichkeit, auf das Internet zuzugreifen (vgl. Meyer 2015). Auch einige der hier analysierten Migrations-Comics thematisieren, wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird, die Nutzung digitaler Informationsmedien durch Flüchtende.

COMICS UND KARTEN ALS VERWANDTE KUNSTFORMEN Die auf den ersten Blick wenig plausibel erscheinende These, dass Comics und Landkarten verwandte Kunstformen darstellen, soll durch einen kleinen Umweg über Dylan Horrocks Meta-Comic Hicksville (2012) begründet werden, der einige sehr aufschlussreiche Reflexionen über das Verhältnis der beiden Medien enthält. An einer in poetologischer Hinsicht zentralen Stelle interviewt der Comic-Journalist Leonard Batts einen neuseeländischen Comic-Zeichner, der sich selbst als »Kartograf« (Horrocks 2012: 85) bezeichnet und somit eine enge Verwandtschaft zwischen dem Zeichnen von Comics und dem Kartographieren herstellt. Auf die Frage nach Gemeinsamkeiten der beiden Medien bekommt Batts die folgende

Impfschutz, Kinderverschickung, Nachwanderung, Reichsfluchtsteuer und Siedlungsformen oder Singapur bis hin zu Tel Aviv, Transitvisum, Typhus und dem Zollverschluss. Hinzu kamen Adressen aller wichtigen jüdischen Organisationen im In- und Ausland und Tabellen, zum Beispiel über die Umrechnung von Reichsmark in fremde Währungen (vgl. Urban-Fahr 1998: 10).

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Antwort: »›Sie sind gleich: Sie nutzen die gesamte Sprache – nicht nur Worte oder Bilder‹«.5 Auch wenn es sich bei dieser Gleichsetzung von Karten und Comics sicherlich um eine Zuspitzung handelt, ist in der Verschränkung von Text- und Bildebenen eine wesentliche Gemeinsamkeit der beiden Medien zu sehen. Mit Bildern teilen Karten die Eigenschaft, Projektionen von drei Dimensionen auf eine zweidimensionale Fläche zu sein.6 Das Besondere an Karten ist, dass hier »eine Art von Flächigkeit zur Geltung [kommt], die meist Verzicht [...] auf eine Imitation der Dreidimensionalität [leistet] […]. Nähe und Ferne im Nebeneinander ist die (fast) alles entscheidende Matrix« (Krämer 2009: 99). Für den Bildbzw. Kartenbetrachter ergibt sich aus der Zweidimensionalität die Simultanität des Sehens. Denn im Gegensatz zu den anderen Sinnen kann das Auge in einem Augenblick mehreres gleichzeitig wahrnehmen. Da wir mit einem Augenblick einen Überblick gewinnen, Relationen, Proportionen und Muster erkennen können, enthält »die Formwahrnehmung« bereits »die Anfänge der Begriffsbildung« (Arnheim 1977: 37). Bereits auf den ersten Blick entnehmen wir einer Landkarte das Verhältnis von Stadt- und Landflächen, Größenverhältnisse der Städte zueinander, erfassen vorhandene Wasserflächen und vieles mehr. Eine derartige synoptische Gleichzeitigkeit stellt ein Merkmal aller Bildflächen und somit auch des Comic dar. Beim Betrachten einer Comic-Seite nehmen wir die »Seitenarchitektur« (Platthaus 2008: 24) gleichfalls mit dem ersten Augenblick wahr. Das Verhältnis der Panels auf einer Seite erzeugt einen Gesamteindruck, der die anschließende Lektüre der einzelnen Panels entscheidend lenkt. Eine weitere Gemeinsamkeit der Bildebene bei Karten und Comics ist in der Reduktion zu sehen. Wie Scott McCloud geltend gemacht hat, trägt die ikonische und eben nicht foto-realistische Darstellung von Charakteren, die sich zumeist auf wenige charakteristische Linien beschränkt, entscheidend zur Identifikation der Rezipierenden mit den Charakteren bei (vgl. McCloud 1993: 24-59). Ganz ähnlich verzichten auch Karten auf die exakte Wiedergabe des Verlaufs von Straßen oder der Form von Städten zugunsten einer aus pragmatischen Gründen notwendigen Schematisierung:

5

Den Umstand, dass es auch Comics gibt, die auf Sprache gänzlich verzichten, nimmt der Comic-Künstler zu Recht nicht als Einschränkung seiner Aussage wahr, da man beim Sprechen auch nicht immer den gesamten zur Verfügung stehenden Wortschatz nutzen würde (vgl. Horrocks 2012: 85).

6

Für die Projektion der dreidimensionalen Wirklichkeit auf die Fläche bedient sich das Medium Karte drei grundlegender Bestandteile: Maßstab, Zeichensatz und Kartennetzentwurf, durch den Flächen, Winkel, Form, Entfernung und Richtung verzerrt werden (vgl. Monmonier 1996: 12).

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»Noch der raffinierteste Kartenzeichner, der Farben und Linien sich überlagern läßt, kommt an die organische Komplexität sich vermischender Sprachen und Stile nicht heran. Linien, Striche, Schraffierungen – sie alle sind Indizien, Hinweise, Kürzel, Zeichen des ›Als-ob‹. Sie sind Hilfskonstruktionen zur Bewältigung von Komplexität, zur Herstellung von Ordnung. Wir brauchen die Reduzierung, die Konstruktion, die Ordnung – gerade wenn wir Komplexheit, Nicht-Konstruiertes, Unübersichtliches und Chaos uns vergegenwärtigen und darstellen wollen.« (Schlögel 2003: 142)

Ebenso sind Texte zentraler Bestandteil beider Medien. Im Comic findet sich Text auf gleich mehreren Ebenen: als Figurenrede in den Sprech- oder Gedankenblasen, als Erzählerstimme in den Captions oder als in die Bildebene integrierte Schriftzeichen (vgl. Dittmar 2011: 97-116).7 Auch Karten aus Schriftkulturen weisen fast immer Schriftzeichen auf. Die Ausrichtung der Schriftzeichen entscheidet sogar über die Orientierung der Karte: »Ob diese nämlich im Wortsinne ›orientiert‹ ist, der Osten also oben liegt, oder ob sie – wie sich dies seit der Frühen Neuzeit langsam durchgesetzt hat – genordet ist, wird von der Position desjenigen bestimmt, der das Blatt so dreht, dass er die meisten geographischen Bezeichnungen auf der Karte lesen kann.« (Stockhammer 2007: 53) Darüber hinaus müssen Karten genau wie Texte ›gelesen‹ werden, da sie gemacht sind und keinen Spiegel der Welt darstellen. Die zentrale Unterscheidung zwischen Sehen und Lesen bei der Betrachtung einer Karte liegt in der Wiedererkennungsleistung, »durch welche eine empirisch vorkommende Markierung beim Lesen als Verkörperung eines generellen Typus identifiziert wird« (Krämer 2009: 100). Karten teilen mit der neunten Kunst jedoch nicht nur die Verschränkung von Text und Bild, sondern stellen ebenso wie der Comic eine Kunstform dar,8 die

7

Zur weiteren Auseinandersetzung mit der Text-Bild-Relation im Comic vgl. das Kapitel »Schrift und Bild« in Packard et al. 2019, S. 33-37 sowie den Abschnitt »Text-BildBeziehungen« in Abel/Klein 2016, S. 99-101.

8

Auch diesbezüglich reflektiert ein intradiegetischer Comic in Hicksville über die Kartographie. Ein Ureinwohner Neuseelands, Hone Heke wirft einem Landvermesser vor, dass er mit seiner Tätigkeit nur Machtinteressen vertritt: »Ihr seid Vermesser. Mithilfe Eurer Karten lässt sich das Land in Stücke schneiden, besitzen, verkaufen. Sie dienen dem Handel, dem Gesetz, der Entfremdung.« (Horrock 2012: 234) Der Landvermesser sieht sich jedoch als Künstler, der mit seinen Karten Landschaft verschrift(bild)licht: »Ich sehe mich eher als topografischen Künstler. Ich übersetze das Land in eine lesbare Schrift. / Manche Aspekte einer Landschaft können weder Malerei noch Dichtung adäquat darstellen – die reine Form des Landes selbst; die genauen Beziehungen zwischen Orten und Dingen… / Hier kommt meine Kunst zum Tragen« (ebd.).

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historisch eingeordnet und interpretiert werden kann und sogar interpretiert werden sollte. Dies mag angesichts der Tatsache überraschen, dass uns Karten im Alltag vor allem als objektive »Gebrauchsbilder« (Majetschak 2005: 114) erscheinen, die im Idealfall helfen, unseren Standort auf der Karte indexikalisch festzulegen und uns durch wiederholten Abgleich zwischen Karte und Welt zum gewünschten Ziel leiten. Indem Karten zahlengenaue Maßverhältnisse ins Spiel bringen und im Gegensatz zu Literatur und Comic keine zusammenhängenden Geschichten erzählen, sondern auf »etwas [deuten] statt etwas zu bedeuten« (Stockhammer 2007: 8), suggerieren sie sachliche Objektivität. Bereits aus einer historischen Perspektive stellt sich diese Referenzialität auf die Welt jedoch als Scheinobjektivität heraus. Vormoderne Kartentypen wie die römischen Itinerare oder die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Portolankarten sind aus Texten entstanden: aus den Aufzählungen auffälliger Landmarken, die zur Orientierung dienen konnten (vgl. Seidel 2016: 110). Systematische Überlegungen verschärfen den Zweifel an der Objektivität von Karten noch zusätzlich. Erstens können Karten in ihrer Repräsentation falsch oder veraltet sein und somit nur noch »visuelle Behauptungen« (Krämer 2009: 104) darstellen. Zweitens veranschaulichen insbesondere ältere Karten das Zusammenspiel zwischen faktischer Referenz und bildkünstlerischer Phantasie. So wurden mittelalterliche Karten beispielweise oft »mit rührend falsch gezeichneten Elefanten, deren Anatomie aus fünfter oder sechster Hand auf den Illustrator kam«, verziert oder der noch nicht kartographierte Raum alter Seekarten »durch jene vielköpfigen Seeungeheuer [ergänzt], die rätselhaft kollektive Alpträume aus dem Unbewussten der Ozeanreisenden hervorgeholt haben müssen« (Kehlmann 2005: 21). Drittens hat jede Karte ihren Blickwinkel und ihre Perspektive, durch die sie »nicht nur einen Schlüssel zum Sehen oder Verstehen der abgebildeten Welt [liefert], sondern auch über die Richtung und Intention derer [informiert], die sich dieses Bild von der Welt gemacht haben« (Stockhammer 2007: 91). Die prinzipielle Affinität der beiden Medien Comic und Karte unterstreicht als ein Extrembeispiel Matt Maddens 99 Ways to tell a Story. Exercises in Style (2005).9 In dieser Sammlung von 99 einseitigen Comicstrips folgt Madden dem Prinzip ›Thema und Variationen‹, indem er auf unterschiedlichste Art und Weise eine vergleichsweise banale Geschichte abwandelt, die einmal sogar als Landkarte

9

Der Untertitel ist als eine explizite Anspielung auf Raymond Queneaus Exercices de Style (1947) zu verstehen, deren Konstruktionsprinzip Maddens Comic imitiert: Eine kurze und banale Geschichte wird auf 99 verschiedene Weisen erzählt. Die »Two-inone (Madden/Queneau)« überschriebene Episode überlagert dabei die Geschichte Maddens und Queneaus (vgl. Madden 2005: 112f.)

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erzählt wird (vgl. Madden 2005: 94f.). Bei diesem Beispiel wird sogar die Unterscheidung zwischen extra- und intradiegetischer Integration der Karte hinfällig, da die Karte selbst zur Diegese wird. Möglich wird dieses Zusammenfallen, in dessen Zuge Figuren zu Territorien und Handlungssegmente zu Orten werden, allerdings nur durch das für den Comic konstitutive Prinzip der Wiederholung.

DREI BEGRIFFSPAARE ZUR ANALYSE VON KARTEN IN COMICS Im Folgenden werden drei Begriffspaare eingeführt, die es ermöglichen, die Funktion und Aussagekraft von Karten in Migrations-Comics zu bestimmen. Das erste Begriffspaar entstammt der analytischen Erzähltheorie und ermöglicht Aussagen darüber, ob die Karten Teil der erzählten Welt sind und von den handelnden Figuren des Comic wahrgenommen werden (intradiegetisch) oder sie nicht Teil der Diegese sind und zur Text-Leser-Kommunikation gehören (extradiegetisch), da sie beispielsweise nur auf dem Vor- oder Nachsatzpapier des Comic-Bandes zu finden sind. Während mit intradiegetischen Karten verschiedene handlungsrelevante Funktionen verbunden sein können, dienen extradiegetische Karten zumeist der Orientierung der Rezipierenden. Das zweite Begriffspaar Strukturraum vs. Bewegungsraum lässt sich erneut aus dem Comic Hicksville ableiten. Nachdem der Comic-Zeichner Emil Kópen in dem bereits zitierten Interview zunächst die Verwandtschaft von Karten und Comics hervorgehoben hat, unternimmt er die folgende Differenzierung: »Es gibt zweierlei Karten. Manche geben die Verortung von Dingen im Raum wieder. Das ist die erste Art – die Geographie des Raumes. Andere stellen die Verortung von Dingen in der Zeit dar, oder vielleicht ihre Veränderung im Laufe der Zeit. Diese Karten erzählen Geschichten, das heisst, sie sind die Geografie der Zeit.« (Horrocks 2012: 86)

Kópen bedient sich dieser Differenzierung, um den Comic tendenziell der ›Geographie der Zeit‹ zuzuordnen, was insbesondere im Hinblick auf Scott McClouds Ausführungen einleuchtend ist, der den Comic bekanntlich als »sequential art« (McCloud 1993: 7) definiert. Im Anschluss an McCloud ist in der Verräumlichung der Zeit ein wesentliches Kennzeichen von Comics zu sehen. Im Hinblick auf das Medium Karte entspricht die Differenzierung in eine ›Geographie des Raums‹ und eine ›Geographie der Zeit‹ Krämers Unterscheidung in einen Struktur- und einen Bewegungsraum. Karten präsentieren entweder einen stabilen Strukturraum mit einer simultanen Koexistenz zueinander in Relation gesetzter Orte oder einen in

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sukzessiver Abfolge entstehenden temporären Bewegungsraum (vgl. Krämer 2012: 156). Krämer geht es vor allem um den Moment des Kartengebrauchs, bei dem der Kartennutzer die strukturelle Karte für sich in einen Bewegungsraum verwandelt: »[D]ie pragmatische Funktion von Karten besteht darin, ein uns unvertrautes und unübersichtliches Terrain in einen für uns zugänglichen Bewegungs- und Handlungsraum zu verwandeln; und dies kann genau dann gelingen, wenn die Karte ein Strukturmodell dieses Terrains abgibt, sodass die Positionen und Bewegungen von Subjekten im realen Territorium als Punkte und Linien im Strukturbild der Karte erscheinen können.« (Krämer 2012: 157)

Hier soll das Begriffspaar Strukturraum und Bewegungsraum für eine differenzierte Betrachtung der Funktion und narrativen Einbettung von Karten in Comics verwendet werden. Mit diesen Begriffen sind Tendenzen bezeichnet, die in den Karten unterschiedlich wirksam sein können. Das dritte Begriffspaar schließlich stammt von Christian Jacob, der zwischen transparenten und opaken Karten unterscheidet. Jacob zufolge strebt die transparente Karte eine möglichst exakte Repräsentation des zu kartierenden Territoriums an: »The ›transparent map‹ paradigm […] is based on a conception of image and representation as an imitation of an external and objective reality. It involves a belief in the map as a neutral, purely informative device« (Jacob 1996: 192). Umgekehrt verhält es sich bei der opaken Karte: Hier steht im Zentrum, wie die Karte etwas zeigt, und nicht, was die Karte repräsentiert. »In der opaken Perspektive bildet die Karte das Territorium nicht etwa ab, sondern bringt es hervor.« (Krämer 2010: 155) Im Anschluss an Foucault sind Karten somit durch diskursive Effekte gekennzeichnet, da sie nicht »als Gesamtheit von Zeichen« zu verstehen sind, »die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen«, sondern vielmehr als »Praktiken […], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (Foucault 1973: 74). Für Jacob spiegeln sich in der begrifflichen Unterscheidung transparenter und opaker Karten unterschiedliche Denkschulen wider, die miteinander konkurrierende Interpretationen von Karten hervorbringen. Es handelt sich bei transparenten und opaken Karten also weniger um verschiedene Kartentypen, als eher um die Akzentuierung bestimmter Funktionen von Karten. Während transparente Karten durch die Tendenz gekennzeichnet sind, dass in der Tradition des britischen Empirismus das Artifizielle an Karten naturalisiert wird, ist für opake Karten umgekehrt die Kulturalisierung des Natürlichen charakteristisch (vgl. Jacob 1996: 191). Krämer kritisiert die einseitig konstruktivistische Position, denn ihr zufolge handelt es sich nicht um miteinander konkurrierende und sich einander

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ausschließende Interpretationsansätze, sondern im Gegenteil um ein fruchtbares Wechselspiel. Krämers Einwand soll hier insofern Rechnung getragen werden, als dass transparente und opake Karten nicht als miteinander konkurrierende Dichotomie, sondern als zwei Pole verstanden werden, zwischen denen sich Karten mit einer Tendenz zur einen oder anderen Seite verorten lassen. Grundsätzlich lässt sich jedoch festhalten, dass Karten reichhaltiges Anschauungsmaterial für die Prämisse Foucaults liefern, dass sich Wissen und Macht wechselseitig bedingen (vgl. Foucault 1976: 39). In Karten bündelt sich das Wissen über ein bestimmtes Territorium, sodass deren Macht in den Absichten liegt, die mit ihnen befördert werden, seien diese Absichten navigatorischer, militärischer, raumplanerischer, geopolitischer oder ideologischer Art. Karten stellen schlichtweg eine »unabdingbare Voraussetzung für vielerlei wirtschaftliche und vor allem auch militärische Bedürfnisse eines Staates« (Kohlstock 2014: 14) dar. Umgekehrt gilt aber auch, dass durch Karten bestimmte Machtansprüche erhoben werden, indem diese etwa die Grenzen zwischen Territorien markieren.10 Insbesondere die Geschichte des europäischen Kolonialismus ließe sich auch als eine Abfolge derartiger Machtansprüche erzählen: Bereits wenige Jahre nach der Entdeckung Amerikas grenzte der damalige Papst Alexander VI. die Einflussbereiche Spaniens und Portugals ab, indem er eine Linie auf einer Landkarte eintrug (vgl. Seidel 2016: 138). Solche Machteffekte bewirken eine Verzerrung der kartographischen Darstellung, sodass es außerordentlich »schwierig [ist], eine scharfe Trennlinie zwischen ›Grammatik‹ und ›Rhetorik‹ der Karten […] zu ziehen. Jede Verzeichnung verzeichnet.« (Stockhammer 2007: 49, Herv. i. O.) Dieses Spannungsverhältnis von (scheinbarer) Objektivität und (offenbarer) Intentionalität ist insbesondere für die zu analysierenden Karten in den ausgewählten MigrationsComics kennzeichnend. Im Folgenden werden ausgehend von einer Skizzierung der Migrationsnarrative in Shaun Tans The Arrival, Joe Saccos Journalism, Reinhard Kleists Der Traum von Olympia, Léopold Prudons De lʼautre côté und Zeina Abiracheds und Mathias Enards Zuflucht nehmen einzelne Panels oder Panelsequenzen, die Landkarten zeigen, anhand der vorgestellten Begriffspaare analysiert. 10 Die Macht der Karten liegt jedoch nicht nur in den Absichten der Kartographen, sondern wirkt auch auf der Ebene der Rezipierenden. Denn »so rasch sich in Kriegen, Revolutionen, Staatszusammenbrüchen die Namen von Ländern und Staaten, die Farben von Territorien und die Grenzverläufe ändern mögen, die Linien, die die Lebenspraxis in den Köpfen hat entstehen lassen, sind nachhaltiger und dauerhafter. […] Diese Kartenbilder im Kopf leben mit den Generationen. […] Sie sind nicht dadurch schon getilgt, daß ein Vertrag geschlossen oder eine neue Schulwandkarte aufgehängt worden ist« (Stockhammer 2007: 86).

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LANDKARTEN IN MIGRATIONS-COMICS Shaun Tan: The Arrival Innerhalb der hier untersuchten Comics kommt Shaun Tans The Arrival eine gleich mehrfache Sonderrolle zu. Die in einem fiktiven Land spielende Handlung lässt sich weder räumlich noch zeitlich verorten, evoziert aber Verhältnisse, wie sie vor allem für Migrationsbewegungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts charakteristisch waren. Die außerordentliche Popularität von The Arrival innerhalb des Genres der Migrations-Comics ist zudem auf den Umstand zurückzuführen, dass dieser textlosen Graphic Novel ein außerordentlich optimistisches Migrationsnarrativ zugrunde liegt. Dem namenlosen Protagonisten stellen sich bei seiner Übersiedlung in ein ihm zunächst vollkommen fremdes Land verschiedene Hindernisse in den Weg, die er aber allesamt überwinden kann: Er findet eine Bleibe, Arbeit, neue Freunde und holt am Ende sogar seine Familie in die neue Heimat. Dass Tan The Arrival seinen Eltern gewidmet hat,11 ist nur das offenkundigste Indiz für den Umstand, dass der Zeichner Erfahrungen seiner eigenen Familie verarbeitet hat. Diesen biographischen Hintergrund hat Tan in dem Materialienband Sketches to a Nameless Land (2010) offengelegt: »Consciously or otherwise, I’ve always been attracted to stories about characters who find themselves lost, displaced, in an unfamiliar world, or experiencing some other troubled sense of belonging. […] This preoccupation may have something to do with my background. My mother is a third-generation Australian of Irish and English ancestry, and my father is Chinese, born in Malaysia to immigrant parents.« (Shaun Tan 2010: 10)

Dem optimistischen Migrationsnarrativ in The Arrival liegt ein hermeneutisches Verfahren zugrunde, das auf zwei zumindest auf den ersten Blick widersprüchlichen Prinzipien fußt, die sich wie folgt formulieren ließen: Nichts versteht sich von selbst, aber alles ist prinzipiell verständlich. Ist der namenlose Protagonist anfangs einer radikalen Fremdheitserfahrung ausgesetzt, da sich ihm Sprache, Schrift und Kultur seiner neuen Heimat nicht erschließen, so versteht er diese im Laufe der Handlung immer besser und zuletzt sogar nahezu vollständig (vgl. Stuhlfauth-Trabert 2019: 533f.).

11 Da The Arrival keine Paginierung aufweist, wird hier auf eine Angabe der Seitenzahlen verzichtet; die betreffenden Stellen sind aber anhand der Kontextualisierungen leicht zu finden.

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Diese kulturelle Hermeneutik lässt sich anhand der in The Arrival integrierten Landkarten bestens illustrieren. Abbildung 1: Shaun Tan: The Arrival, S. 56f.

Quelle: Arthur A. Levine Books 2006

Zu Beginn des dritten Teils unternimmt der Protagonist erste eigenständige Schritte in dem neuen Land und zieht dabei eine Landkarte zu Rate, die somit Teil der Diegese ist. Wenngleich diese Karte vollkommen transparent ist und vorrangig dem pragmatischen Zweck der Orientierung dient, ist sie für den Neuankömmling zunächst nicht weniger unverständlich als für die Rezipierenden: Sie zeigt ein Labyrinth von Straßen, das mit fremden Schriftzeichen und Symbolen übersät ist. Der sich über fünf Panels erstreckende Zoom-out scheint zunächst die Verlorenheit des Protagonisten zu verdeutlichen; wie in der gesamten Graphic Novel zeichnet sich aber bereits im Aufkommen des Hindernisses seine Überwindung ab. Am

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Ende der Zoombewegung ist ein charakteristischer Straßenverlauf zu erkennen, der auf dem oberen Teil der Karte wiederzufinden ist. Somit kann der Protagonist seine Position bestimmen, und er wird sich im Lauf der Handlung immer besser zurechtfinden. Die Landkarte ist selbstverständlich nicht mit dem Territorium identisch, aber die Differenz zwischen beiden wird so weit wie möglich nivelliert. Diese Szene greift der Schluss von The Arrival noch einmal auf. Die Integration der Familie in die neue Heimat ist am Ende so vollständig, dass die Tochter des Protagonisten einem neu angekommenen Mädchen den richtigen Weg auf einer Landkarte zu weisen vermag. Somit illustriert The Arrival die These Homi Bhabhas, der zufolge »die ›vollständige Mitteilung‹ […] den Traum der Assimilationisten oder den Alptraum des Rassisten« (Bhabha 2000: 335) darstellt. Die in The Arrival geschilderte Welt ist eine Utopie, die sich den Anforderungen hybrider Identitäten, dem oft mühevollen Verhandlungsprozess zwischen ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ nicht oder allenfalls während momentaner Krisen stellen muss. Kulturelle Differenzen sind in Tans Geschichte letztlich nur Oberflächenphänomene, die durch tiefer liegende Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen überbrückt werden. Joe Sacco: Journalism Mit Malta steht – wie auch in allen weiteren hier analysierten Comics – der Mittelmeerraum als Brennpunkt der Migration von Afrika nach Europa im Zentrum von Joe Saccos Comic-Reportage »The Unwanted«. Die Reportage erschien erstmals 2010 in der Virginia Quarterly Review (vgl. Sacco 2012: 157) und wurde 2012 von Sacco in den Sammelband Journalism aufgenommen, den Michael Heinze in diesem Band ausführlicher analysiert. Die Wahl von Handlungsort und Sujet sind, wie Sacco gleich zu Beginn der Reportage verdeutlicht, auch durch seine eigene Biographie motiviert: »I was born in Malta. / My family immigrated to Australia when I was a baby… / and the Australian government, eager to populate its large continent with white-faced Europeans, paid most of our passage.« (Ebd.: 113) Dass Sacco seine eigene Migrationsgeschichte in der Reportage thematisiert, lässt sich als Teil seiner prinzipiellen Strategie verstehen, nicht den Anschein einer vermeintlichen Objektivität zu erzeugen, sondern vielmehr die eigene, notgedrungen subjektive Perspektive zu verdeutlichen. Genau dieses Prinzip formuliert Sacco im Vorwort zu Journalism: »I, for one, embrace the implications of subjective reporting and prefer to highlight them. Since it is difficult (though not impossible) to draw myself out of a story, I usually don’t try.« (Ebd.: XI) Der Umstand, dass die Biographie Saccos an die Herkunft Tans erinnert, dessen Fa-

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milie gleichfalls nach Australien eingewandert war, lässt die Unterschiede zwischen den beiden Comics allerdings nur umso schärfer hervortreten. Anders als Tan in The Arrival zeichnet Sacco in seiner Reportage ein düsteres Bild der Migration, die trotz der Beschränkung auf Malta als ein globales Phänomen erscheint. Kaum zufällig ist »Globalization!« (Ebd.: 109) auch das erste Wort der Reportage, wenngleich damit zunächst noch nicht die Migration gemeint ist, sondern der Fischhandel – konkret die im Mittelmeer gefangenen Thunfische, die auf Malta für den japanischen Markt verarbeitet werden. Dieser zunächst überraschende Ausgangspunkt akzentuiert die Ökonomie als zentrales Prinzip, das die globalen Ströme von Waren und Menschen lenkt. Die Gewinne durch den Fischhandel sind den Maltesern dabei durchaus willkommen – die Flüchtenden hingegen, wie bereits der Titel der Reportage »The Unwanted« verdeutlicht, sind es nicht. Dass Sacco im ersten Abschnitt der Reportage vor allem die Perspektive der Malteser und im dritten, abschließenden Teil die Situation der Flüchtenden darstellt, lässt sich als Umsetzung der im kurzen Nachwort skizzierten Zielsetzung verstehen, beide Seiten zu Wort kommen zu lassen.12 Diese beiden Teile umrahmen die Binnengeschichte über den Flüchtling John, die auf gleich zweifache Weise den ökonomischen Diskurs der ersten Panels aufgreift. Zum einen wirkt Johns Geschichte, der in seinem Heimatland Eritrea grausamen Repressionen ausgesetzt war, dem weit verbreiteten Vorurteil entgegen, dass die moderne Migration vor allem ökonomische Ursachen hat; zum anderen wird John selbst auf seiner Flucht »like a commodity« (Ebd.: 128) behandelt – immer wieder ist er gezwungen, Schlepperbanden zu bezahlen, die ihn zu der nächsten Station seiner Fluchtroute bringen. In fast allen Reportagen des Sammelbandes Journalism finden sich, zumeist zu Beginn der jeweiligen Reportagen, Landkarten, die sich in ihrer Funktion mit solchen vergleichen lassen, die in Nachrichtensendungen eingeblendet werden. Sie geben, wie etwa die Karten von Hebron, Tschetschenien und dem indischen Distrikt Kushinagar (vgl. ebd.: 10, 32, 163), den Rezipierenden eine ungefähre Vorstellung von der Lage der Krisengebiete, aus denen Sacco berichtet. Die beiden Landkarten in »The Unwanted« finden sich zwar gleichfalls zu Beginn der Reportage, jedoch weicht insbesondere die erste Karte aus mehreren Gründen von dem beschriebenen Muster ab (vgl. ebd.: 110).

12 In dem notizartigen Nachwort schreibt Sacco »Though obviously my sympathies are with the migrants, who had endured tremendous hardships to reach such an unwelcoming place whatever their reasons for setting out across the Mediterranean Sea, I thought it was incumbent on me to treat the fears and apprehensions of the Maltese people seriously.« (Sacco 2012: 157)

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Abbildung 2: Joe Sacco: Journalism, S. 110

Quelle: Jonathan Cape 2012

Die Karte zeigt mit dem größten Teil Afrikas und dem südlichen Europa einen sehr großen Raum. Die Pfeile, die die Migration von Afrika nach Europa visualisieren, akzentuieren zudem den Bewegungsraum und nicht den Strukturraum. Zuletzt ist die Karte als eindeutig extradiegetisches Element in die Diegese montiert: Sie bildet den Hintergrund eines Panels, das zwei Malteser zeigt, die Flüchtenden für ihre Weiterfahrt nach Sizilien mit Getränken und Nahrungsmitteln versorgen. Diese Montage entspringt offenkundig dem auch in vielen anderen Comics greifbaren Bemühen, zum einen sachliche Informationen über Migration zu vermitteln, zum anderen aber durch das Erzählen von Einzelschicksalen Identifikationspoten-

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ziale zu stiften. Was auf der Karte als abstrakt-geometrischer Pfeil erscheint, gewinnt im unteren Teil des Panels in Gestalt des überladenen Flüchtlingsboots eine konkrete Anschaulichkeit. Die zweite Landkarte findet sich auf der direkt gegenüberliegenden Seite, wobei dieses Kompositionsprinzip vor allem den Unterschied zwischen den beiden Landkarten akzentuiert. Dem extrem großen Maßstab der ersten Karte steht der kleine Maßstab der zweiten Karte gegenüber. Erscheint die Insel Malta auf der ersten Karte nur als ein winziger, kaum wahrnehmbarer Punkt, wird sie auf der zweiten Karte zu einem aus drei Inseln bestehenden Archipel, das, wie die Caption verrät, »with 400.000 residents […] one of the world’s most densely populated places« (ebd.: 111) darstellt. Diese rein sachliche Information ermöglicht es den Rezipierenden zunächst, ein gewisses Verständnis für die Malteser aufzubringen, die den Flüchtlingsstrom als eine Bedrohung ihrer Heimat empfinden. Wichtiger ist jedoch, dass die Gegenüberstellung der beiden Karten die Einbettung der regionalen Perspektive in eine globale Perspektive verdeutlicht. Die Malteser können ebenso wenig wie die Rezipierenden von Saccos Reportage die Augen vor der Tatsache verschließen, dass Migration zwar zunächst als Herausforderung auf regionaler Ebene erscheinen mag, letztlich aber ein globales Phänomen darstellt, das die gesamte Menschheit betrifft. Reinhard Kleist: Der Traum von Olympia Auch Reinhard Kleist verbindet in seinem Comic Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar faktuales und fiktionales Erzählen, richtet seinen Fokus aber stärker auf ein Einzelschicksal. Bereits der Untertitel weist auf den biographischen Gehalt des Comic hin, der die Geschichte einer realen Persönlichkeit erzählt und der Sportlerin aus Somalia ein Denkmal setzt. Nachdem Samia Yusuf Omar 2008 bei der Olympiade in Peking im 200 Meter Vorlauf zwar ihre persönliche Bestzeit gelaufen war, aber das Ziel mit deutlichem Abstand zu allen anderen Sprinterinnen erreicht hatte, beschloss die junge Frau, Somalia zu verlassen, um unbehelligt von der fundamentalistischen Al-Shabaab-Miliz für die Olympischen Spiele 2012 weitertrainieren zu können. Sie wagte die Flucht über den Sudan und Libyen nach Europa, ertrank aber im Alter von 21 Jahren im Mittelmeer. Auf der Grundlage von Recherchen in Italien und Afrika sowie intensiven Gesprächen mit der Schwester des Opfers und ihren Freunden (vgl. Kleist 2015: 7) rekonstruiert Kleist Omars Geschichte so weit wie möglich. Eine stilistische Besonderheit des Comic liegt in den fiktiven Facebook-Nachrichten, welche die Figur ihren Freunden zukommen lässt und die den Comic strukturieren. Auffällig ist dabei der Funktionswechsel, der sich bei den Facebook-Nachrichten vollzieht: Während Omar diese zu Anfang noch einsetzt, um ihre Sportlerinnenkarriere zu

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promoten, veranschaulichen die während der Flucht geschriebenen Einträge ihre zunehmend hoffnungsloser werdende Lage.13 Überhaupt kann der Kontrast zwischen den teilweise archaischen Umständen von Omars Flucht und ihrer modernen Mediennutzung als ein Grundzug dieses Comic beschrieben werden. Zwei in dieser Hinsicht besonders aufschlussreiche Panels zeigen Omar und andere Flüchtende, die sich über eine Landkarte des Mittelmeerraums beugen, auf der ein Handy liegt (vgl. ebd.: 105). Die im Panel gezeigte Nutzung der Karte und NichtNutzung des Handys zeigen das Ursprüngliche des Migrationsprozesses, das eben nur bedingt durch moderne Technologie begleitet werden kann. Aber bereits das erste Panel von Der Traum von Olympia stellt eine extradiegetische Karte Nord-Ost-Afrikas dar (vgl. ebd.: 6; siehe Abbildung 3). Zusammen mit dem Vorwort des Zeichners und einigen zum Verständnis der Geschichte notwendigen Hintergrundinformationen auf den beiden folgenden Seiten ist die Karte der eigentlichen Handlung vorangestellt, sodass ihr ein paratextueller Status zukommt. Allerdings erschöpft sich ihre Funktion nicht darin, die Handlung zu verorten, wie man dies von vielen Karten auf den Vor- und Nachsatzpapieren von Comics oder Romanen kennt. Bereits durch die Positionierung unmittelbar zu Beginn des Comic wird die Aufmerksamkeit der Rezipierenden auf die Karte gelenkt, welche die Lebensgeschichte von Samia Yusuf Omar als Migrationsgeschichte ausweist. Die Karte zeigt vor allem einen Bewegungsraum, der die Migrationsroute der Sportlerin von Mogadischu in Somalia über Addis Abeba, die Grenzstadt Metema, Khartum und Sabha bis ins Mittelmeer nachzeichnet. Dies verdeutlichen sowohl die Pfeile, welche die einzelnen Stationen von Omars Reise visualisieren, als auch die neben den Pfeilen gezeichneten Transportmittel, die angeben, mit welchem Fahrzeug Omar die jeweiligen Streckenabschnitte bewältigt hat.

13 Diese Verwendung von Facebook stellt einen durchaus realistischen Zug des Comic dar, wie sich im Anschluss an die bereits zitierte Studie festhalten lässt: »Die Nutzung der großen Social Media‐Plattformen ist unter den Flüchtenden weit verbreitet: Es ist anzunehmen, dass der Großteil des interpersonalen Austauschs über die hier genannten Dienste abgewickelt wird. In dieser Kategorie zeigten sich auch stärkere Unterschiede zwischen den Ländern: In Zentralasien, insbesondere dem Iran, ist Telegram als durch staatliche Zensur noch relativ wenig behinderte Plattform populär, während in anderen Ländern WhatsApp und Facebook am häufigsten genutzt werden.« (Emmer/Richter/Kunst 2016: 27)

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Abbildung 3: Reinhard Kleist: Der Traum von Olympia, S. 6

Quelle: Carlsen 2015

Der Strukturraum tritt deutlich gegenüber dem Bewegungsraum zurück, zumal alle Länder jenseits der von der Protagonistin durchquerten Gebiete als unstrukturierte weiße Fläche, als terra nullius erscheinen. Nach Flugzeug, Bus, Laster und Jeep verliert sich die Spur der Somalierin im Mittelmeer; das winzige Kreuz auf der Karte visualisiert den Tod durch Ertrinken und nimmt den tragischen Ausgang der Geschichte vorweg: Samia Yusuf Omar wird ihr Ziel Europa nie erreichen. Die Karte, so ließe sich zugespitzt sagen, erzählt in denkbar gedrängter Form und in vollkommener Transparenz bereits die gesamte Geschichte von Der Traum von Olympia. Durch diese Erzählstrategie verschärft Kleist die Kritik an der europäischen Flüchtlingspolitik, die er im Vorwort explizit formuliert. Die Biographie der jungen und mutigen Frau verfügt über ein hohes Identifikationspotenzial, aber die Rezipierenden lesen ihre Geschichte mit dem Wissen ihres frühen Todes.

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Léopold Prudon: De l’autre côté Léopold Prudons Comic De l’autre côté erzählt die Geschichte des Tunesiers Hamza, der aus seiner Heimat über die Stationen Lampedusa und Mailand nach Paris flieht. Dass Hamzas Flucht stellvertretend für viele andere Schicksale steht, verdeutlicht die Darstellung von anderen Flüchtenden, die Hamza auf seiner Überfahrt von Tunesien nach Lampedusa begleiten. In einem streng geometrischen Panelraster sind die Portraits von zwölf Flüchtenden angeordnet, wobei die den gesamten Comic kennzeichnende Reduktion auf eine Schwarz-Weiß-Gestaltung die Individualität der Flüchtenden gegenüber dem ihnen gemeinsamen Zustand des bangen Wartens zurücktreten lässt (vgl. Prudon 2015: 30). Die Anordnung der Portraits greift ein Gestaltungsprinzip auf, dessen sich bereits Shaun Tan im Vorsatzblatt von The Arrival bedient hatte, um zu illustrieren, dass die Schicksale anderer Flüchtender nicht weniger erzählenswert gewesen wären als das seines namenlos bleibenden Protagonisten. Sieht man von dieser Gemeinsamkeit ab, stellt auch De l’autre côté einen vollständigen Gegenentwurf zum optimistischen Migrationsnarrativ von The Arrival dar: Hamza wird keine erfolgreiche Integration in die europäische Gesellschaft gelingen, statt dessen wird am Ende des Comic die Prophezeiung eines Freundes in Erfüllung gehen, der ihn mit eindringlichen Worten vor der Flucht gewarnt hatte: »Tu seras seul, tu trouveras rien de mieux qu’un job de merde, qu’un logement de merde. Voilà ce qui se passera.« (Ebd.: 11) Hamzas Wünsche und Ängste werden jedoch vor allem auf der visuellen Ebene vermittelt. Seine Furcht, auf der Überfahrt im Mittelmeer zu ertrinken, wird im Comic durch scheinbar zusammenhangslos eingefügte Panels veranschaulicht, die Unterwasserszenarien mit Fischen oder untergegangenen Schiffen zeigen. Folgt man Scott McClouds Typologie von Panelübergängen, so wird in den ersten Abschnitten die vergleichsweise seltene Übergangsform ›aspect-to-aspect‹ (vgl. McCloud 1993: 72) zu einem zentralen Kompositionsprinzip des Comic. Durch die Darstellung dieser Ängste wird auch indirekt die Grausamkeit des europäischen Grenzregimes sichtbar gemacht, das den Tod vieler tausend Flüchtender nicht nur in Kauf nimmt, sondern sogar gezielt zur Abschreckung weiterer Flüchtender einsetzt. Dass sich der gesamte Comic im Spannungsfeld einer sachlichen und einer emotionalen Perspektive befindet, spiegelt sich auch in den Landkarten wider, die durch höchst unterschiedliche Darstellungsprinzipien gekennzeichnet sind. Die ersten Landkarten finden sich auf einer intradiegetischen Ebene.

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Abbildung 4: Léopold Prudon: De l’autre Côté, S. 41

Quelle: Les Enfants Rouges 2015

Wenige Stunden vor Beginn seiner Flucht sieht sich Hamza im Internet zwei Landkarten von Lampedusa an. Während die erste Karte in einem großen Maßstab die Umrisse der Insel zeigt, verdeutlicht die zweite Karte in einem merklich kleineren Maßstab die Lage Lampedusas vor der tunesischen Küste (vgl. Prudon 2015: 16f.). Die Reduktion auf Schwarz und Weiß trägt hier zur Schematisierung

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der beiden Karten bei und lässt ausschließlich den Strukturraum hervortreten. Den Eindruck einer nüchtern-objektiven Darstellung verstärken zudem die Informationen zur Einwohnerzahl und Größe der Insel, die der ersten Karte beigegeben sind. Gleichwohl ist diese Objektivität hinsichtlich beider Karten nur eine scheinbare. So finden sich neben der ersten Karte weitere Ergebnisse von Hamzas Suchabfrage: Die Links zur französischen Tageszeitung Le Figaro und zur Seite des an der Universität Paris VIII lehrenden Anthropologen Alain Bertho bringen eine spezifisch westliche Perspektive auf die Migration ins Spiel. Der kleine Maßstab der zweiten Karte wird von Hamza durch einen Zoom-out herbeigeführt, sodass dieser sich der Hoffnung auf eine erfolgreiche Überfahrt hingeben kann: »Ҫa paraît tout proche, sur la carte…« (ebd.: 17). Dienen diese beiden Landkarten trotz ihrer offenkundigen Transparenz bereits unverkennbar als Projektionsflächen, so gilt dies erst recht für die dritte Landkarte, zumal diese extrem opak gestaltet ist. Das als Splash Page hervorgehobene Panel stellt erneut eine Karte Lampedusas dar. Von der vermeintlichen Sachlichkeit der digitalen Karte unterscheidet sich diese Karte durch die Imitation mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kartographierungspraktiken, wie sie exemplarisch etwa in der sogenannten Carta Marina (1539) ausgeprägt sind, der ersten einigermaßen korrekten Landkarte Nordeuropas. Damalige Karten besaßen noch keine Meridiane oder Breitenparallelen und entstanden nicht durch Projektion. Zur Kursbestimmung waren die Karten von einem Netz sogenannter Rumbenlinien überspannt, das aus den sich schneidenden Strahlen kreisförmig angeordneter Windrosen besteht (vgl. Knauer 1981: 19). Zudem enthielten derartige vormoderne Landkarten oftmals Verzierungen auf den Meeresflächen in Gestalt von Schiffen und Meeresungeheuern (vgl. ebd.: 12). Die Imitation dieser Gestaltungsprinzipien verdeutlicht, dass die Schifffahrt von Tunesien nach Lampedusa für Hamza und die anderen Flüchtenden bedeutet, was Seereisen im Zeitalter der Entdeckungen noch prinzipiell waren: ein Wagnis, mit dem man sein Leben aufs Spiel setzte. Während die Flüchtenden von ihrem Boot aus ein Flugzeug beobachten, in dem die Reisenden den gleichen Weg weitaus schneller und vor allem sicherer zurücklegen können (vgl. Prudon 2015: 38), sind sie selber mit der durchaus konkreten Gefahr konfrontiert, zu den mehreren tausend Flüchtenden zu gehören, die Jahr für Jahr im Mittelmeer ertrinken. Die Fische mit ihren weit aufgerissenen Mäulern und die Seeschlange dienen nicht der Verzierung der Landkarte, sondern sind Teil des leitmotivischen Verweissystems, das Hamzas Angst vor dem Ertrinken visualisiert.

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Zeina Abirached und Mathias Enard: Zuflucht nehmen Der französische Schriftsteller Mathias Enard und die libanesisch-französische Comic-Zeichnerin Zeina Abirached verschränken in ihrem Migrations-Comic Zuflucht nehmen eine biographische Episode aus dem Leben der Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach (1908-1942) mit der fiktionalen Migrationsgeschichte der syrischen Wissenschaftlerin Neyla im Jahr 2016. Neyla ist vor dem Syrienkrieg nach Berlin geflohen und lernt bei ihren Bemühungen, die bürokratischen Hürden der Einwanderung zu meistern und sich in Berlin heimisch zu fühlen, den Berliner Karsten kennen. Er interessiert sich für Sprachen und Kulturen des Nahen Ostens und verliebt sich in die Syrerin. Die zaghafte Beziehung, die zwischen Neyla und Karsten entsteht, löst bei beiden Figuren intensive Reflexionen über die eigene kulturelle Identität und den Umgang mit dem Fremden im eigenen Bekanntenkreis aus. Solange Neyla und Karsten zusammen sind und sich gegenseitig ihre Muttersprachen näherbringen, erscheinen ihnen ihre kulturellen Differenzen nicht nur überwindbar, sondern sogar bereichernd zu sein (vgl. Abirached/Enard 2019: 188-209). In den Szenen hingegen, die beide in ihrem eigenen kulturellen Umfeld zeigen, veranschaulichen nicht zuletzt die Kommentare aus dem jeweiligen Bekanntenkreis die Differenzen ihrer Lebenswirklichkeiten, die am Ende zumindest für Neyla so schwer wiegen, dass sie die entstandene Bindung zu Karsten schweren Herzens aufgibt. Karstens Interesse am Orient verdeutlicht seine Lektüre des titelgebenden Buchs »Zuflucht nehmen«, das die Geschichte um Annemarie Schwarzenbach auf einer intradiegetischen Ebene erzählt. Thematisch sind die beiden Erzählebenen auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Auch in der Binnengeschichte wird eine intensive Liebesbegegnung ohne Zukunftsperspektive inszeniert. Im Jahr 1939 reist Schwarzenbach gemeinsam mit Ella Maillart nach Afghanistan und lernt dort wenige Tage vor Kriegsausbruch in Europa die Archäologen Ria und Joseph Hacklin kennen. Bei Wanderungen durch das Bamiyan-Tal mit den riesigen Buddha-Statuen kommen sich die Schriftstellerin und die Archäologin näher. Zudem bildet der Krieg eine unmittelbare Verbindung zwischen den beiden Erzählebenen. Als Schwarzenbach 1939 im Bamiyan-Tal im Radio von dem Einmarsch Hitlers in Polen erfährt, muss sie ihre Reise durch Afghanistan abbrechen. Der Comic endet mit der Zerstörung der Buddha-Statuen durch die Taliban im Jahr 2001, wobei diese dritte Zeitebene als eine weitere Klammer zwischen den

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beiden Erzählebenen dient.14 Die intensivste Verknüpfung der beiden Erzählebenen leistet jedoch Zeina Abirached auf der bildkünstlerischen Ebene des Comic, indem sie mit gezielt eingesetzten Wiederholungen ausgewählter Bildmetaphern arbeitet. Zu dieser leitmotivischen Bildsprache gehören insbesondere Sternenbilder, die beide Paare auf einer überzeitlichen Ebene miteinander verbinden (vgl. ebd.: 51, 64f., 93, 105, 215 und 306f.). Ria und Annemarie sprechen über die Unvereinbarkeit der beiden Sternbilder Orion und Skorpion, die niemals gleichzeitig am Himmel zu sehen sind: »Sie stehen sich am Himmel gegenüber. Deshalb… / ist es besser, sie berühren sich nicht!« (Ebd.: 215) Diese Aussage weist auf das Scheitern der beiden Beziehungen voraus. Den Karten in Zuflucht nehmen kommt eine Sonderstellung zu, da sie im Vergleich zu den zuvor besprochenen Beispielen weniger dazu dienen, die Handlung zu verorten oder einen Fluchtweg nachzuzeichnen, sondern wie die Sternbilder und Buddha-Statuen Teil der komplexen Bildsprache des Comic sind. Diese Bildsprache erreicht in Neylas Abschiedsbrief an Karsten ihren Höhepunkt (vgl. ebd.: 288-315). Die einfache, parataktische Sprache des Briefs ist dadurch motiviert, dass Neyla erst vor kurzem angefangen hat, Deutsch zu lernen. So wortkarg dieser Abschiedsbrief jedoch ausfällt, so bildgewaltig ist er gestaltet. Dabei bleibt in der Schwebe, ob die Bildebene intradiegetisch die Gedanken und Gefühle visualisiert, die Karsten bei der Lektüre gleichsam vor seinem inneren Auge sieht, oder ob die Bilder extradiegetisch den Rezipierenden die emotionale Tiefe hinter den einfachen Worten vermitteln. Wenn Neyla schreibt: »Ich habe Angst. / Vor diesem neuen Land …/ und dieser Stadt. / In der meine Augen / nicht die Augen der anderen / erreichen können.« (Ebd.: 288f.), zeigt das Panel hinter der Caption mit dem Text »und dieser Stadt« eine Straßenkarte, die man nur durch den Kontext der gegenüber liegenden Splash Page als Karte Berlins identifizieren kann. Vor allem der Verlauf der Spree, die sich bei der Museumsinsel gabelt, und die charakteristische Form des Rummelsburger Sees lassen den Strukturraum Berlin erkennen.

14 Zudem zeigt das Frontcover Annemarie Schwarzenbachs Kopf im Gras vor den Buddha-Statuen im Bamiyan-Tal und das Backcover Karsten in der gleichen Position am selben Ort.

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Abbildung 5: Zeina Abirached und Mathias Enard: Zuflucht nehmen, S. 194

Quelle: avant-verlag 2018

Kartierung der Flucht ‒ Karten in Migrations-Comics | 99

Bemerkenswert an dieser Splash Page ist, dass die Linie, welche die Spree darstellt, sich am unteren Panelrand in einen Faden mit einer Nadel verwandelt, die Neyla zwischen den Fingern hält. Dieses Bild stellt einen Rückverweis auf den Moment dar, in dem Neyla Karsten ein arabisches Liebesgedicht in Wort und Schrift beigebracht hat: »Die Liebe, mein Liebster, ist ein schönes, […] auf den Mond gesticktes Gedicht« (ebd.: 193-195). Passend zu diesen Versen zeigt die Bildebene arabische Schriftzeichen, die von einer Hand auf den Mond gestickt werden; so ist es hier nicht die Spree, sondern die geschwungene Linienführung der arabischen Schriftzeichen, die sich in den Faden verwandeln. Diese Kontextualisierung verstärkt die opake Qualität der Karte, deren artifizieller Charakter ausgestellt wird. Die Rezipierenden sehen mit der Nadel sogar das Werkzeug, mit dem diese Karte gemacht wurde. Die für den gesamten Comic charakteristische bildmetaphorische Verdichtung setzt sich bei der nächsten Karte fort, die den Abschiedsbrief visualisiert. Diese Karte zeigt das Mittelmeer, das als weiße Umrisslinie über den Sternenhimmel gelegt wurde. Der Text und der Umstand, dass er auf vier weit voneinander entfernte Captions verteilt ist, zeugt von der radikalen Einsamkeit, die Neyla empfindet: »Ich lese den Himmel mit meinem Finger. / Wie um Punkte zu verbinden. / Wege zu finden. / Menschen zu erreichen.« (Ebd.: 292f.) Auch auf dieser Doppelseite ist eine Hand zu sehen, deren Zeigefinger auf ein Segelboot zeigt; doch auch wenn die Segel des Bootes gehisst sind, scheint sich das umrissene Mittelmeer nicht als Bewegungsraum für dieses Boot zu eignen, da es sich ohne konkretes Ziel schwerelos zwischen den Sternen verliert. Den emotionalen Höhepunkt von Neylas Abschiedsbrief begleiten mehrere Panels, die Karten von Berlin und Aleppo in die Bildebene integrieren. Trotz der extremen Schematisierung der Straßenzüge ist eine Identifikation dieser beiden Städte möglich: Bereits an anderen Stellen des Comic wurden die entsprechenden Ausschnitte eindeutig mit Berlin oder Aleppo in Verbindung gebracht.15 Zudem lässt sich anhand des jeweiligen Straßenverlaufs erkennen, ob es sich um die Straßenzüge Berlins oder Aleppos handelt, da die Karte von Aleppo weitaus mehr Sackgassen aufweist (vgl. ebd.: 288, 296). Aus diesem Grund fällt es den Rezipierenden auch nicht schwer, in der Straßenkarte, die sich wie eine Rasterfolie über Neylas Körper legt, erneut Aleppo zu erkennen.

15 Der Kartenausschnitt im unteren Panel (vgl. Abirached/Enard 2019: 296) ist eindeutig auf Aleppo zu beziehen, da dieser Auszug bereits bei dem Gespräch zwischen Karsten und Neyla über ihre zerstörte Heimatstadt eingeführt wurde (vgl. ebd.: 102).

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Abbildung 6: Zeina Abirached und Mathias Enard: Zuflucht nehmen, S. 303

Quelle: avant-verlag 2018

Neylas Heimatstadt hat sich in ihren Körper eingeschrieben, hat sie gezeichnet. Auch ohne die Textkästen: »Ich kann nicht / hier / leben. / Ich kann nicht / hier / lieben« (ebd.: 302f.), erschließt sich den Rezipierenden, dass es Neyla unmöglich ist, sich Karsten vollständig zu öffnen. Genau wie die gestickte Straßenkarte Berlins ist auch diese Karte Aleppos in hohem Maße opak zu nennen: Die genaue

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Kartierung der beiden Städte tritt fast vollständig zurück gegenüber dem symbolischen Gehalt, den der Verweis auf den jeweiligen Strukturraum transportiert. Während die Hand mit der Sticknadel über Berlin Neyla noch in der konstruktiven Rolle zeigt, sich Berlin anzueignen, ihren Alltag aktiv zu gestalten und vielleicht bei Karsten ›Zuflucht zu nehmen‹, zeigt der mit den Straßenzügen Aleppos gezeichnete Körper eine passive Neyla, die im wahrsten Sinne des Wortes nicht aus ihrer Haut kann, selbst wenn sie das möchte. »Gehen wir unseren Weg weiter. / jeder / auf seiner Seite / des Himmels« (ebd.: 306f.), ist der Schluss den Neyla zieht, und der auf der Bildebene von der Zusammenführung der beiden für den Comic zentralen Bildmetaphern Sternbild und Stadtkarte unterstützt wird. Jetzt stehen sich nicht nur die Sternbilder Orion und Skorpion unvereinbar gegenüber, sondern auch Neyla und Karsten, die hier durch zwei Planeten symbolisiert werden, die mit den Straßenzügen Berlins und Aleppos überzogen sind. Mit seiner komplexen Bildsprache stellt auch dieser Comic einen Gegenentwurf zu dem positiven Migrationsnarrativ aus Shaun Tans The Arrival dar. Die Syrerin Neyla ist eine Geflüchtete, die entgegen den Erwartungen, die der Titel bei den Rezipierenden erweckt, (noch) keine Zuflucht genommen hat.

KARTE UND NARRATION Abschließend sollen noch einmal die drei zur Analyse herangezogenen Begriffspaare – extradiegetisch vs. intradiegetisch, Strukturraum vs. Bewegungsraum und transparent vs. opak – für Überlegungen auf einer abstrakten Ebene herangezogen werden. Zumindest auf der Grundlage des sicherlich schmalen Textkorpus lässt sich als Ergebnis prinzipiell festhalten, dass zwar verschiedene Kombinationen der drei Begriffspaare möglich sind, diese aber unverkennbar bestimmte Affinitäten aufweisen. Beschränkt man sich aus heuristischen Gründen zunächst auf den einfacheren Fall der transparenten Karten, die innerhalb des Textkorpus – wenig überraschend – den weitaus größeren Anteil ausmachen, so lässt sich eindeutig eine bestimmte Kopplung feststellen: Karten, die den Strukturraum in den Vordergrund stellen, sind durchweg auf einer intradiegetischen Ebene verortet, während umgekehrt die Karten, die den Bewegungsraum akzentuieren, ausschließlich auf der extradiegetischen Ebene zu finden sind. Beide Fälle sind durch unterschiedliche Strategien gekennzeichnet, die Karten in die Narration zu integrieren: Die Abbildung eines Strukturraums dient den Figuren vor allem zur Orientierung in einem ihnen unbekannten Gelände, wie dies exemplarisch bei dem namenlosen Protagonisten aus Tans The Arrival der Fall ist. Die Abbildung eines Bewegungsraums richtet sich hingegen an die Rezipierenden, welche die Bewegung mit der

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Narration in Verbindung bringen können; dieses Prinzip ist prototypisch bei der Karte umgesetzt, die Kleists Der Traum von Olympia vorangestellt ist und welche die Geschichte des Comic bereits in nuce enthält. Für den vielleicht konventionellsten Fall – die Darstellung eines Strukturraums auf einer extradiegetischen Ebene, die dem aus der Filmanalyse bekannten establishing shot entspricht – findet sich unter den analysierten Comics hingegen gerade kein Beispiel.16 Die Vermutung liegt nahe, dass den Zeichnerinnen und Zeichnern an einer narrativen Integration der Karten gelegen war, da sich auf diesem Weg die jeweiligen Aspekte der Migrationsproblematik anhand der Karten weitaus besser veranschaulichen lassen. Auf die Spitze getrieben ist diese narrative Integration bei den beiden zuletzt analysierten Comics, Prudons De l’autre côté sowie Zeina Abiracheds und Mathias Enards Zuflucht nehmen, die eindeutig die opake Qualität der Karten hervorheben. Bezeichnenderweise wird die Unterscheidung zwischen extra- und intradiegetischer Ebene in diesen beiden Fällen zumindest problematisch – wie bei Prudon –, wenn nicht sogar gänzlich unmöglich – wie bei Abirached und Enard. Die Karten werden hier im wahrsten Sinne des Wortes zu Projektionsflächen für die Ängste, Wünsche und Sehnsüchte der ProtagonistInnen und gewinnen eine unverkennbare metaphorische und symbolische Qualität. Die Karten dienen hier nicht mehr der Orientierung der Figuren oder Rezipierenden, sondern veranschaulichen vielmehr eine fundamentale Desorientierung. Die Karten lassen sich so wenig von der Narration trennen, wie sich die Haut vom menschlichen Körper ablösen lässt; die Projektion der Karte Aleppos auf den Körper Neylas veranschaulicht diese Verbindung mit aller Deutlichkeit. Die Behauptung des Kartographen aus Dylan Horrocks’ Hicksville, der zufolge die Medien Comic und Karten im Prinzip identisch sind, erscheint angesichts dieser Beispiele kaum mehr als eine Übertreibung.

16 Die einzige Ausnahme von dieser Regel stellt die Karte Maltas in Saccos Journalism dar, die aber wie gezeigt durch den Kontrast zur unmittelbar gegenüber gelegenen Karte zumindest indirekt in die Narration integriert ist (vgl. Sacco 2012: 110f.).

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Im Zwischenraum − Migration in deutschsprachigen Comics der Gegenwart Florian Trabert

POLITISCHE AKTUALITÄT IM COMIC Migration zählt ohne Zweifel zu den brisantesten Themen des gegenwärtigen politischen Diskurses – in Deutschland, in Europa und weltweit. Der Ausnahmezustand des Jahres 2015, in dessen Verlauf eine knappe Million Flüchtlinge in Deutschland Asyl gesucht hat, ist nur der deutlichste Ausdruck der Tatsache, dass dieses Thema schon zuvor auf der politischen Tagesordnung stand und auch auf unabsehbare Zeit weiter stehen wird. Einer Studie zufolge, die 2019 von der SPDnahen Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht wurde, sehen die Deutschen in dem Themenkomplex Migration, Flucht und Asyl die größte Herausforderung, vor der Deutschland in den nächsten 10 bis 20 Jahren stehen wird; die Themen soziale Gerechtigkeit sowie Klimawandel und Umweltschutz folgen erst auf dem zweiten und dritten Platz (vgl. Faus/Storks 2019: 21). In Ost- und Südeuropa sowie in den USA sind in den letzten Jahren populistische und autoritäre politische Bewegungen an die Macht gelangt, die sich für eine restriktive Flüchtlingspolitik einsetzen; aber auch in Deutschland ist die Partei Alternative für Deutschland (AfD) – die zunächst als eurokritische Partei gegründet wurde, aber spätestens seit 2015 auf eine migrationsfeindliche Politik setzt – mit der Bundestagswahl 2017 zur stärksten Oppositionspartei geworden. Nicht weniger als die Zukunft der liberalen Demokratien, die sich in zunehmendem Maße Bedrohungen von innen wie von außen ausgesetzt sehen, scheint sich an der Frage zu entscheiden, wie die westlichen Staaten mit Flüchtlingen umgehen können und wollen. Wie alle Künste hat auch der Comic diese Entwicklungen mit aktualitätsbezogenen Werken reflektiert. Im Folgenden sollen mit Im Land der Frühaufsteher

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(2012) von Paula Bulling und Geschichten aus dem Grandhotel (2016) von Studierenden der Hochschule Augsburg zwei in den letzten Jahren erschienene deutschsprachige Comics in den Blick genommen werden, die sich mit der Situation von Flüchtlingen in Deutschland beschäftigen. Im Land der Frühaufsteher – der Titel ironisiert eine Imagekampagne des Bundeslandes Sachsen-Anhalt1 – ist eine Comic-Reportage über afrikanische Flüchtlinge in dem östlichen Bundesland. In sechs nur lose miteinander verbundenen Abschnitten stellt Bulling verschiedene Aspekte im Leben der Betroffenen dar. Ihren kritischen Fokus richtet die Zeichnerin auf das trostlose Alltagsleben in den Flüchtlingsheimen, zugleich beleuchtet sie aber auch Afro-Shops als Orte kulturellen Austauschs, die beschränkte Freizeitgestaltung sowie Möglichkeiten politischen Widerstands gegen die staatliche Flüchtlingspolitik. Geschichten aus dem Grandhotel hingegen rückt eine deutschlandweit einmalige Einrichtung in den Fokus, das seit 2011 in der Augsburger Innenstadt bestehende Grandhotel Cosmopolis. Laut der Homepage des Projekts befinden sich im Grandhotel »unter einem Dach ein Hotel mit 12 Doppelzimmern und 4 Mehrbettzimmern mit gastronomischen und kulturellen Angeboten und eine staatlich geführte Unterkunft für 65 Geflüchtete« (Homepage Grandhotel Cosmopolis). Der Comic beleuchtet in kurzen episodischen Abschnitten die Entstehungsgeschichte dieser Einrichtung, vor allem aber die Schicksale der dort lebenden Flüchtlinge. Die von acht Studierenden gezeichneten Binnengeschichten werden durch eine Rahmenhandlung des Herausgebers Mike Loos zusammengehalten, in der das Friedenssymbol der Taube als Leitmotiv fungiert. Die sprechende Taube ruft direkt zu Beginn die bewegte Geschichte der Stadt Augsburg in Erinnerung, die nicht zuletzt durch die frühneuzeitlichen Religionskriege und deren Folgen geprägt wurde: durch den 1555 abgeschlossenen Augsburger Religionsfrieden, aber auch durch den Dreißigjährigen Krieg, dessen Ende in Augsburg bis zum heutigen Tag mit einem gesetzlichen Feiertag begangen wird (vgl. Loos 2016: 5). Der Gegensatz zwischen dem friedlichen Deutschland der Rahmenhandlung und den oft durch Kriegserfahrungen gekennzeichneten Schicksalen der Flüchtlinge erfährt somit von vornherein eine entscheidende Relativierung. Die beiden Comics eignen sich aus mehreren Gründen für einen Vergleich. Zum einen handelt es sich in beiden Fällen um Comic-Reportagen, wobei bereits die Paratexte den Bezug zur Realität herstellen: Eine Notiz am Ende von Im Land der Frühaufsteher erinnert an den afrikanischen Flüchtling Azad Hadji, mit dessen Tod unter bislang nicht aufgeklärten Umständen sich der letzte Abschnitt beschäftigt. In Geschichten aus dem Grandhotel beziehen sich gleich mehrere Paratexte 1

Zur Imagekampagne vgl. https://archive.is/20120910181244/http://www.sachsen-anhalt.de/index.php?id=fld8qw0s7o53b.

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– ein Grußwort des dritten Bürgermeisters der Stadt Augsburg sowie ein Vor- und Nachwort des Herausgebers Mike Loos (vgl. ebd.: 3f., 93) – auf das Augsburger Grandhotel Cosmopolis. Das im Januar 2016 verfasste Nachwort lässt die Ereignisse des Jahres 2015 Revue passieren und setzt diese mit der Entstehung des Comic in Verbindung. Loos beendet seine Ausführungen mit der Thematisierung der ›Kölner Silvesternacht‹, in deren Zuge es zu sexuellen Übergriffen auf Frauen durch Gruppen junger Männer aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum kam und die einer zunehmend migrationskritischen Stimmung in Deutschland Vorschub leistete. Aus dem reportageartigen Charakter der beiden Comics ergibt sich zudem, dass diese keine durchgängige Handlung um einen Protagonisten als Kondensierung verschiedener Migrationserfahrungen aufweisen – wie dies etwa in der fast schon klassischen Graphic Novel The Arrival (2006) von Shaun Tan der Fall ist –, sondern verschiedene Aspekte und Schicksale in nur lose miteinander verbundenen Abschnitten beleuchten. Zuletzt handelt es sich in beiden Fällen um Comics von jungen Zeichnern: Im Land der Frühaufsteher ist das Debut der 1986 geborenen Paula Bulling, während die Zeichner von Geschichten aus dem Grandhotel mit Ausnahme des Herausgebers Mike Loos zwischen 1985 und 1994 geboren wurden. Im Folgenden werden die beiden Comics aus drei unterschiedlichen, aber komplementären theoretischen Perspektiven untersucht: In einem ersten Schritt soll gezeigt werden, inwiefern sich die in den Comics dargestellten Flüchtlingsunterkünfte als Heterotopien im Sinne Michel Foucaults beschreiben lassen; im Anschluss an die postkoloniale Theorie Homi K. Bhabhas stellt sich sodann die Frage, wie die beiden Comics kulturelle Hybridität thematisieren; ein letzter Abschnitt widmet sich dem von der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Chakravortry Spivak aufgeworfenen Problem, inwiefern die Flüchtlinge als Subalterne überhaupt über eine eigene Stimme verfügen können. Gemeinsam ist allen drei Perspektiven der Fokus auf Machtkonstellationen, die jedoch bei Foucault räumlich, bei Bhabha kulturell und bei Spivak politisch akzentuiert sind.

HETEROTOPIEN Die von Foucault konzeptualisierten Heterotopien stellen ein hochgradig paradoxes Phänomen dar. Der Definition Foucaults zufolge handelt es sich bei Heterotopien um »tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen.« (Foucault 2005: 935) Bereits die Definition lässt erkennen, dass dieses Konzept eine große

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Dehnbarkeit aufweist, zumal der Philosoph gleichermaßen Räume utopischen Charakters wie Gärten, aber auch Räume dystopischen Charakters wie Gefängnisse als Beispiele für Heterotopien anführt (vgl. ebd.: 937f.). Der heuristische Mehrwert dieses Konzepts ist darin zu sehen, dass gerade diese scheinbar außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung stehenden Räume oft mehr über die Machtstrukturen einer Gesellschaft aussagen als die Räume, in denen sich die jeweilige Gesellschaft ungebrochen und affirmativ repräsentiert. Dieser Zusammenhang von Raum- und Machtstrukturen steht auch im Fokus von Im Land der Frühaufsteher. Ziemlich genau in der Mitte des Comic findet sich eine längere Sequenz von doppelseitigen Splash Pages, die die Flüchtlingsunterkünfte in den sachsen-anhaltinischen Kleinstädten Halberstadt, Harbke, Bernburg und Möhlau darstellen (vgl. Bulling 2012: 58-65). Der nahezu vollständige Verzicht auf sprachliche Elemente in diesen Splash Pages lenkt die Aufmerksamkeit des Rezipienten umso mehr auf die öde Monotonie der Plattenbauten; diese unterscheiden sich nur in Details, wie etwa dem auf die Außenwand der Flüchtlingsunterkunft von Harbke aufgesprayten Hakenkreuz, dessen Haken Bulling aber subversiv nach links weisen lässt (vgl. ebd.: 60f.). Insbesondere gleichen die Einrichtungen von Foucault analysierten Heterotopien wie dem Gefängnis oder der Kaserne – in genau diesen Funktionen wurden vermutlich sogar einige der entsprechenden Gebäude zuvor genutzt. Die Figur Aziz beschreibt ihre Situation unumwunden mit den Worten: »Wir leben hier in eine Knast, der seine Name nicht sagt.« (Ebd.: 32), und diese Analogie unterstreicht auch die sich auf Knast reimende Bezeichnung ZASt als Akronym für Zentrale Anlaufstelle. Foucault zufolge setzen Heterotopien »ein System der Öffnung und Schließung« (Foucault 2005: 940) voraus, und tatsächlich müssen die Protagonistin und ihre Begleiterin bei ihrem Besuch der Flüchtlingsunterkunft in Halberstadt Kontrollen über sich ergehen lassen, die an einen Gefängnisbesuch erinnern (vgl. Bulling 2012: 27f.). Insgesamt werden diese Einrichtungen in Im Land der Frühaufsteher, um eine Differenzierung Foucaults einzubeziehen, von Krisenheterotopien zu Abweichungsheterotopien. Sie sind nicht vorrangig Menschen in Krisensituationen vorbehalten, sondern werden zu Orten, »an denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht« (Foucault 2005: 937). Ablesbar ist diese Entwicklung, die laut Foucault einer grundsätzlichen Tendenz moderner Gesellschaften entspricht (vgl. ebd.: 936), auch an der Aufenthaltsdauer, die sich eben nicht mehr auf den krisenhaften Moment der Ankunft in einem Gastland beschränkt, sondern zum Dauerzustand wird. Der Flüchtling Farid lebt, wie eine der wenigen Captions des Comic berichtet, schon »seit sieben Jahren in verschiedenen Heimen in Sachsen-Anhalt« (Bulling 2012: 24). Dieser Ausgrenzung der afrikanischen Flüchtlinge, die als Normabweichungen

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vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden, entspricht spiegelbildlich ihr Wunsch nach Normalität, wie ihn Aziz artikuliert: »In diese Ort ich frage mich: wer bin ich… / … und wie kann ich ein normal Mensch sein?« (Ebd. 38, Herv. i. O.) Insgesamt kritisiert Bulling die Flüchtlingsunterkünfte als raumgewordenen Ausdruck eines strukturellen Rassismus, der die Flüchtlinge systematisch von gesellschaftlicher, kultureller und politischer Partizipation ausgrenzt. Dieser gesellschaftskritischen Darstellung steht die optimistische Schilderung des Grandhotel Cosmopolis in Geschichten aus dem Grandhotel gegenüber. Dem entspricht bereits die Lage des Grandhotel mitten in der Augsburger Innenstadt, während die Halberstadter Flüchtlingsunterkunft mehr als eine Stunde Fußmarsch vom Bahnhof entfernt ist – der räumlichen Isolation des Gebäudekomplexes widmet Bulling eine ganze Splash Page (vgl. Bulling 2012: 55f.). Gleichwohl vermag auch die Augsburger Einrichtung ihre Sonderstellung nicht vollkommen abzustreifen: In beiden Comics müssen die Comic-Reporter den Weg zu den Flüchtlingsunterkünften erfragen und werden dabei mit dem Alltagsrassismus der Passanten konfrontiert. Dieser verbirgt sich in Im Land der Frühaufsteher hinter der nur scheinbar harmlosen Frage: »Sindse sicher, dasse da hinwolln?« (Bulling 2012: 26, Herv. i. O.), und bricht sich in Geschichten aus dem Grandhotel mit dem Ausruf Bahn: »Sodom und Gomorrha, mitten im Domviertel.« (Loos 2016: 7) Gleichwohl beschreibt die sprechende Taube der Rahmenhandlung die Augsburger Einrichtung als eine »tatsächlich verwirklichte Utopie[.]« (Foucault 2005: 935) im Sinne Foucaults: »Die Betreiber dieses etwas speziellen Hotels nennen es die konkrete Utopie, eine grenzenlose, kosmopolitische Alltagskultur zu verwirklichen.« (Loos 2016: 6) In diesem Sinne feiert vor allem Paul Rietzls Binnengeschichte mit dem bezeichnenden Titel »Welcome to Utopia« die Einrichtung als »ein links-alternatives Hippie-Fantasieland« (ebd.: 29), läuft dabei aber zugleich Gefahr, die oft lebensgefährlichen Fluchten der Migranten zu verharmlosen, indem sie diese mit der Anreise der Hotelgäste vergleicht (vgl. ebd.: 31). Aber gerade weil sich das Grandhotel aus den widersprüchlichen Orten des Hotels und der Flüchtlingsunterkunft zusammensetzt, erfüllt es eine zentrale Eigenschaft von Heterotopien, die Foucault zufolge »die Fähigkeit [besitzen], mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen« (Foucault 2005: 938). Der utopische Charakter des Projekts ergibt sich genau aus dieser Fähigkeit, das Unvereinbare miteinander zu vereinbaren, was sich auch in der konkreten räumlichen Gestaltung niederschlägt: »Der Charme des Gebäudes schwankt zwischen Kaserne… / … und Bastelstube« (Loos 2016: 29) konstatiert einer der Betreiber, der in den beiden entsprechenden Panels in Soldatenuniform und Handwerkermontur gezeichnet ist. Verglichen mit den

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festgefahrenen Strukturen der ostdeutschen Flüchtlingsunterkünfte, wie sie Bulling schildert, verlangt das Augsburger Grandhotel von seinen Gästen, Bewohnern und Betreibern permanente Improvisation, ermöglicht aber gerade dadurch auch Freiräume.

HYBRIDITÄT Trotz der stark divergierenden Darstellung der Flüchtlingsunterkünfte in den beiden Comics lassen sich diese gleichermaßen als hochgradig hybride Räume im Sinne Homi K. Bhabhas beschreiben: »Diese ›Zwischen‹-Räume stecken das Terrain ab, von dem aus Strategien – individueller oder gemeinschaftlicher – Selbstheit ausgearbeitet werden können, die beim aktiven Prozeß, die Idee der Gesellschaft selbst zu definieren, zu neuen Zeichen der Identität sowie zu innovativen Orten der Zusammenarbeit und des Widerstreits führen.« (Bhabha 2000: 2)

Als Zwischenraum par excellence fungieren Bhabha zufolge Treppenhäuser, da diese Identitätskonzepte in Frage stellen, die auf der Logik von Differenzen wie Schwarz/Weiß, Selbst/Anderer beruhen. Das Hin und Her im Treppenhaus verhindert, dass sich die Identitäten am oberen oder unteren Ende festsetzen und eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, die nicht mehr von Hierarchien bestimmt ist (vgl. ebd.: 5). Bezeichnenderweise setzen beide Comics Treppen und Treppenhäuser in Szene, die in ihrer konkreten Ausgestaltung jedoch unterschiedlicher nicht sein könnten. In Bullings Comic eröffnet sich aus dem Treppenhaus der Ausblick auf eine trostlose Landschaft, die nur zu deutlich der Perspektivlosigkeit der afrikanischen Migranten entspricht (vgl. Bulling 2012: 36, siehe Abbildung 1). Die gewählte Perspektive lässt das von Bhabha beschriebene Potenzial von Treppenhäusern, Übergänge zwischen Polaritäten zu schaffen, gerade nicht hervortreten. Eine ganz andere Funktion kommt hingegen der Treppe zu, die am Ende der Rahmenhandlung von Geschichten aus dem Grandhotel dargestellt ist (vgl. Loos 2016: 88, siehe Abbildung 2). Die Treppe verbindet hier deutlich zwei Ebenen miteinander und ist Teil eines Raums, in dem vom angeregten Gespräch bis zum Kinderspiel verschiedene gesellschaftliche Vorgänge ablaufen. Im Augsburger Grandhotel wird eben jene Destabilisierung von Hierarchien und Hybridisierung von Identitäten möglich, die den Figuren aus Bullings Comic verwehrt bleibt.

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Abbildung 1: Das Treppenhaus in Bullings Comic

Quelle: avant-verlag 2012

Abbildung 2: Das Treppenaus im Comic der Augsburger Design-Studierenden

Quelle: Wißner Verlag 2016

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Das Beispiel der Treppenhäuser lässt bereits erkennen, dass der konkrete Raum bei Bhabha vor allem als Metapher für Prozesse kultureller Hybridisierung fungiert, auf die seine Überlegungen vorrangig abzielen. Im Land der Frühaufsteher inszeniert kulturelle Hybridität vor allem durch die Mehrsprachigkeit des Comic: Mit Deutsch, dem gebrochenen Deutsch der Flüchtlinge, Sächsisch, Französisch, Englisch und Mòoré – einer vor allem in Burkina Faso verbreiteten Sprache – werden nicht weniger als sechs verschiedene Sprachen bzw. Sprachvarietäten von den Figuren gesprochen, teilweise sogar in Sprachmischungen. Diese Mehrsprachigkeit greift sogar auf die Paratexte über und damit auf eine Ebene, die sich außerhalb der Diegese befindet: An den Schluss des Comic hat Bulling den Hinweis »Ende/Fin« (Bulling 2012: 125) gesetzt. Diese Mehrsprachigkeit, die vor allem in den ersten beiden Abschnitten die Regel und nicht die Ausnahme darstellt, erschwert die Lektüre des Comic erheblich, knüpft aber zugleich an die Ursprünge dieser Kunstform im US-amerikanischen Migrantenmilieu des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts an. Die bereits in Richard F. Outcaults Comicserie The Yellow Kid zu findende Sprachenmischung von Englisch, Deutsch und der Ghettosprache der New Yorker Migranten steigert sich in George Herrimanns Krazy KatComicstrips zu einer surrealen Polyphonie, die sich aus Englisch, Slang sowie Verballhornungen der unterschiedlichsten Sprachen zusammensetzt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Norm der Einsprachigkeit geradezu als eine Domestizierung der wilden Anfänge dieser Kunstform, deren Modernität »in der konstitutiven Disharmonie und Nicht-Identität, im hieroglyphischen Charakter ihrer Zeichen, in der phantomhaften Verwirrung von Sein und Schein« (Balzer/Wiesing 2010: 11) zu sehen ist. Bulling kehrt zu diesen Anfängen des Comic zurück, formuliert sie aber neu im Sinne ihres gesellschaftspolitischen Engagements für Flüchtlinge. Im Land der Frühaufsteher exponiert die Mehrsprachigkeit bereits im ersten Abschnitt des Comic, in dem die Protagonistin ihre Recherchen über die Situation der afrikanischen Migranten in einem Afro-Shop beginnt – der seinerseits durch das Werbeschild »Schulze’s Getränke-Eck« (Bulling 2012: 6), das mit seinem falschen Apostroph vermutlich noch von der vorherigen Verwendung des Gebäudes herrührt, als Zwischenraum ausgewiesen ist. In diesem längeren Abschnitt unterhält sich die Protagonistin fast ausschließlich auf Französisch mit mehreren afrikanischen Asylbewerbern, wobei die Sprechblasen in Fußnoten ins Deutsche übersetzt werden; die einzigen Ausnahmen stellen Wörter mit amtsdeutschem Kolorit wie »Heim« und »Verhör« (Bulling 2012: 15f., 19) dar. Trotz ihrer Kommunikationsangebote sieht sich die Protagonistin zunächst einer ablehnenden Haltung der Afrikaner ausgesetzt, die dem Alltagsrassismus vieler Deutscher spiegel-

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bildlich entspricht. Sprachliche und kulturelle Hybridität ist in Im Land der Frühaufsteher kein idealistisches verklärtes Konzept, sondern ein Spannungsverhältnis und eine Aufgabe, der es sich zu stellen gilt. »[D]ie ›vollständige Mitteilung‹« bleibt Bhabha zufolge »de[r] Traum der Assimilationisten oder de[r] Alptraum des Rassisten« (Bhabha 2000: 335), und diesen beiden Optionen verweigert sich die Protagonistin konsequent. Dafür ist sie sogar bereit, die Gefahr eines vollständigen Scheiterns von Kommunikation in Kauf zu nehmen. In einem sehr aussagekräftigen Panel ist die Protagonistin ohne Gesichtszüge dargestellt, sodass sie nur an ihrem Kapuzenpullover zu erkennen ist, und von ihrem Kopf gehen eine leere Sprechblase und eine Sprechblase mit durchgestrichenem Text aus (siehe Abbildung 3). Abbildung 3: Interkulturelle Kommunikation als Herausforderung

Quelle: avant-verlag 2012

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Dieses Beispiel zeigt, dass Hybridität in Im Land der Frühaufsteher nicht nur inhaltlich verhandelt wird, sondern auch mit comic-spezifischen Mitteln dargestellt wird. Das Scheitern der Kommunikation ist hier ein Ereignis, das zwischen Text und Bild sowie zwischen den einzelnen Panels stattfindet und somit buchstäblich im Zwischenraum. Bekanntlich hat bereits Scott McCloud aus einer rezeptionsästhetischen Perspektive gezeigt, dass sich die eigentliche Handlung von Comics im Rinnstein zwischen den Panels, mithin in der Imagination des Rezipienten vollzieht (vgl. McCloud 1993: 66). Bei Bulling erscheint zudem die Sprechblase als ein Zwischenraum par excellence, da diese den Konventionen des Mediums zufolge der Ort ist, an dem textliche und bildliche Elemente zusammentreffen. Somit erscheint auch Thomas Grevens Klage über die Zeichnungen und das Lettering in Im Land der Frühaufsteher verfehlt. Dass es, wie Grevens in einer in Der Tagesspiegel veröffentlichten Rezension des Comic schreibt, »bisweilen schwierig [ist], die Protagonisten zu erkennen [und] alles […] skizzenhaft« (Grevens 2012) wirkt, entspringt dem Bemühen der Zeichnerin, hybride Zwischenräume textlich wie visuell zu inszenieren und interkulturelle Kommunikation nicht als konfliktfreien und harmonischen Austausch zu idealisieren. Dem entspricht auch die zeichnerische Darstellung der afrikanischen Flüchtlinge, die von Bulling bereits auf dem Cover des Comic mit unterschiedlich dunkler Haut gezeichnet werden (siehe Abbildung 4). Im wahrsten Sinne des Wortes unterläuft die Zeichnerin jede Form von Schwarz-Weiß-Wahrnehmung, sondern zeigt vielmehr, dass auch die Hautfarbe eine Frage der Perspektive ist, oder noch genauer: ein Ergebnis von Einschreibungen, die wir an Körpern vornehmen. Am kompromisslosesten verfährt Bulling im zweiten Abschnitt des Comic, in dem ein längerer Dialog in der afrikanischen Sprache Mòoré nicht einmal mehr in Fußnoten übersetzt wird, sondern der Protagonistin und damit auch dem Rezipienten nur in einer Zusammenfassung durch die Flüchtlinge wiedergegeben wird (vgl. Bulling 2012: 48-50). Selbst bei einer aufmerksamen Lektüre erschließen sich allenfalls einzelne aus dem Deutschen übernommene Wörter wie »Halle Disco« und »Tiket«, sodass die Lektüre dieser Passage eine radikale Fremdheitserfahrung vermittelt. Englisch als die Sprache der internationalen Kommunikation wird zuletzt in einem nicht minder aufschlussreichen Abschnitt auf rassistische Weise von einem Passanten verwendet, der sich weigert, mit dem Afrikaner Farid Deutsch zu sprechen, obwohl dieser die Sprache gut beherrscht (vgl. ebd.: 75-81).

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Abbildung 4: Cover von Im Land der Frühaufsteher

Quelle: avant-verlag 2012

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Mit seinen provokativen rhetorischen Fragen: »So how is the African French? / Is it not different? With only little words?« (Ebd.: 78, Herv. i. O.) desavouiert sich der Passant jedoch selbst, da die lexikalischen und grammatikalischen Schwächen seine eigene mangelhafte Beherrschung des Englischen hervorkehren. Farid reagiert auf diese Provokation, indem er die stereotypen Vorstellungen seines Gesprächspartners scheinbar bestätigt und subversiv mit den Lauten einer ›Affensprache‹ antwortet: »Uga! Buga! Uh!« (Ebd.: 80) Insgesamt zeigen die Beispiele, dass die kulturtheoretische These Bhabhas, der zufolge Übersetzung die »performative Natur kultureller Kommunikation« (Bhabha 2000: 341) darstellt, in Im Land der Frühaufsteher auch und gerade dort Bestätigung findet, wo die Kommunikation aufgrund stereotyper Vorstellungen scheitert oder zumindest nicht auf Anhieb gelingt. Auch in dem Augsburger Comic stellt Hybridität ein zentrales, wenngleich weniger problematisches Konzept dar. Die Hybridität des Comic signalisieren bereits die mehrfachen Pluralformen in Titel und Untertitel, die dem Rezipienten nicht ›die‹ Geschichte des Grandhotels in Aussicht stellen, sondern eben Geschichten aus dem Grandhotel. Comic Reportagen von Augsburger Design-Studierenden. Die Reportagen erzählen Geschichten rund um das Gebäude sowie verschiedene Flüchtlingsschicksale von Migranten aus unterschiedlichen Herkunftsländern wie Palästina, dem Kosovo, Afghanistan und Syrien. In dem Comic wird Hybridität vor allem auf einer produktionsästhetischen Ebene erreicht, da sich die Rahmengeschichte und die acht Binnengeschichten durch eine Heterogenität der Stile auszeichnen. Einige der jungen Zeichner orientieren sich stilistisch an bekannten Vorbildern: Die von Wolfgang Speer gezeichnete Binnengeschichte »Hayder« (vgl. Loos 2016: 38-45) erinnert an Hergés ligne claire, und Hannah Hageraats Erzähleinlage »Noch eine Heimat« (vgl. ebd.: 70-77) über ein aus dem Kosovo geflohenes Mädchen evoziert den abstrakt-ornamentalen Stil der libanesischen Zeichnerin Zeina Abirached, deren Comics – wie dem übrigens von Paula Bulling zusammen mit Tashy Endres ins Deutsche übersetzten Spiel der Schwalben (2007; Mourir, partir, revenir – Le jeu des hirondelles) – mit dem libanesischen Bürgerkrieg ein vergleichbares Thema behandeln. Der Stilpluralismus von Geschichten aus dem Grandhotel stellt insgesamt weniger eine Begleiterscheinung dar, die sich aus dem Charakter des Projekts als Abschlussarbeit ergibt, sondern ist von den Augsburger Studierenden und dem Herausgeber intendiert. In seinem Vorwort hat sich Mike Loos auf Joseph Beuys’ Konzept der sozialen Plastik berufen: »[D]as Gebäude [das Augsburger Grandhotel] ist […] mehr als eine Verwahranstalt für Heimatlose. Es ist ein integrativ wirkendes Kulturzentrum. […] Auf kleinem Raum wächst hier eine soziale Plastik.« (Loos 2016: 4) Es ist zu

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vermuten, dass Loos mit dieser konzeptuellen Verortung gleichermaßen die Augsburger Einrichtung wie das von ihm geleitete Comic-Projekt im Blick hatte. Beuys’ erweiterter Kunstbegriff schließt im ausdrücklichen Gegensatz zu einem formal-ästhetischen Verständnis dasjenige menschliche Handeln mit ein, das auf eine Strukturierung und Formung der Gesellschaft ausgerichtet ist. Im Sinne dieses prozesshaften und dematerialisierten Kunstbegriffs (vgl. Lange 2014: 323) lässt sich der Comic gleichfalls als soziale Plastik bezeichnen. Das spezifisch Künstlerische von Geschichten aus dem Grandhotel wäre dann nicht mehr nur in den einzelnen Comic-Geschichten des Bandes zu sehen, sondern auch und vor allem in den Aktivitäten der Zeichnerinnen und Zeichner, die das Erzählen dieser Geschichten überhaupt erst möglich gemacht haben: in den Recherchen, die sie in der Augsburger Einrichtung betrieben und in den Gesprächen, die sie mit den Betreibern und Bewohnern des Grandhotel geführt haben. Mit der Berufung auf Beuys formuliert Loos die Idee einer politisch engagierten Kunst, die bereits im Moment ihres Entstehens auf die Gesellschaft zurückwirken will. Ausgenommen von dieser Hybridität sind allerdings in beiden Comics die Gegner eines integrativen Umgangs mit den Flüchtlingen. In Im Land der Frühaufsteher erscheinen vor allem die Polizisten stereotyp als schnauzbärtige Vollstrecker einer inhumanen und restriktiven Flüchtlingspolitik. Eine doppelseitige Splash Page ohne Text am Ende des vorletzten Abschnitts inszeniert eine Abteilung von Polizisten als buchstäblich gesichtslose Vertreter der Staatsgewalt, die teilweise mit Schutzhelmen, teilweise aber auch ohne Gesichtszüge gezeichnet sind (vgl. Bulling 2012: 106f.). Noch weiter in dieser Polarisierung geht Julian Wienands Binnengeschichte »Grandhotel – wie alles begann« (vgl. Loos 2016: 59-67), in der die Gegner der Augsburger Einrichtung durchgängig karikiert werden: Zwei Rentnerinnen erscheinen als hexenartige Wesen mit Hängebusen und Damenbart, während ein Feuerwehrmann mit Atemschutzmaske, der unter dem Vorwand des Brandschutzes gegen das Projekt vorgeht, unverkennbar den Bösewicht Darth Vader aus den Star Wars-Filmen evoziert. Aus einer comic-ästhetischen Perspektive knüpft diese Polarisierung an Erzählmuster von SuperheldenComics der Nachkriegszeit an.

DIE STIMME DER SUBALTERNEN Dem prinzipiellen politischen Engagement beider Comics – das in Im Land der Frühaufsteher kritisch-subversiv, in Geschichten aus dem Grandhotel utopischproduktiv akzentuiert ist – steht das Problem gegenüber, dass sowohl Paula Bul-

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ling als auch das Augsburger Zeichnerkollektiv ihre Stimmen anstelle der Flüchtlinge erheben. Mit der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak lässt sich die Frage stellen, ob die Subalternen überhaupt sprechen können oder ob nicht vielmehr die westlichen Intellektuellen, wie es Hito Steyerl im Anschluss an Spivaks Überlegungen formuliert hat, »eine Art Bauchredner für unterprivilegierte Gruppen [spielen], wobei sie gleichzeitig so tun, als seien sie selbst gar nicht da« (Steyerl 2008: 11). In ihrem vielzitierten Essay Can the Subaltern Speak? geht Spivak von einer Kritik am Repräsentationsbegriff Michel Foucaults und Gilles Deleuzes aus, denen sie die Vermengung ästhetischer und politischer Kategorien vorwirft (vgl. Spivak 2008: 19). Sie polemisiert im Fortgang ihrer Argumentation gegen »die Intellektuellen der Ersten Welt, die sich die Maske abwesender NichtRepräsentierter anlegen und die Unterdrückten für sich selbst sprechen lassen« (ebd.: 67). Auch wenn Spivak vor allem die indischen Frauen der sozial untersten Schichten im Blick hat, lassen sich auch die Flüchtlinge als Subalterne bezeichnen, da ihnen – mit der berühmten Formulierung Hannah Arendts gesprochen – das »Recht, Rechte zu haben« (Arendt 2001: 614) zumeist abgesprochen wird. Die von Spivak beschriebene Problematik stellt für Bulling nicht nur einen theoretischen Hintergrund dar, sondern wird von der Zeichnerin explizit zum Thema gemacht, wie bereits Sharon Dodua Otoo in ihrer Rezension betont hat: »Die Graphic Novel Im Land der Frühaufsteher ist zwar auch aus einer weißen deutschen Perspektive produziert worden, doch ist der Autorin und Künstlerin Paula Bulling ihre Positionierung bewusst und macht dies genau zum Thema.« (Dodua Otoo 2013) Ins Zentrum rückt diese Problematik vor allem in dem Dialog zwischen der Protagonistin und ihrem Bekannten Clemens, den sie auf einer Demonstration gegen die sogenannte Residenzpflicht trifft, die die Bewegungsfreiheit von Asylbewerbern stark einschränkt. Clemens kommentiert die Recherchen der Protagonistin sarkastisch: »Mit Tropenhelm durchs Land der Frühaufsteher!« (Bulling 2012: 89) und stellt somit eine Kontinuität zwischen der kolonialen Perspektive des Imperialismus und ihrem Engagement her. In genauer Entsprechung zu den Argumenten Spivaks wirft Clemens seiner Gesprächspartnerin vor: »Du produzierst weiße Bilder von schwarzen Menschen.«2 (Bulling 2012: 91, Herv. i. O.) und betont die Schwierigkeit, einen Ort außerhalb des westlich dominierten Diskurses zu beziehen: »Wer nicht weiß ist wird beschrieben, aber spricht nicht selber. Und Du hilfst nicht, diese Struktur aufzubrechen.« (Ebd.: 93) Diese Diskussion findet ein jähes Ende, als es zu Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und der Polizei kommt, und auch der Comic bietet keine 2

In einem ganz ähnlichen Sinne hat Spivak europäische Darstellungen der indischen Witwenverbrennung auf das Narrativ »Weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern« (Spivak 2008: 78) zurückgeführt.

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explizite Lösung des Dilemmas. Gleichwohl lassen sich mehrere Strategien erkennen, mit denen Bulling dem von Spivak beschriebenen Problemzusammenhang zwar nicht völlig entgeht, diesem aber zumindest eine ästhetisch wie politisch produktive Position abgewinnen kann. So lassen sich das überwiegend szenische Erzählen und der im Gegenzug nahezu vollständige Verzicht auf Erzählerkommentare in Captions als Versuch werten, eine auktoriale und damit potenziell eurozentrische Perspektive zu vermeiden. Die Argumente, die Clemens im Anschluss an Spivak vorbringt, vermag die Protagonistin auf einer theoretischen Ebene nicht zu widerlegen. Sie sieht allerdings die Gefahr, dass diese einem politischen Indifferentismus Vorschub leisten: »Ich kann nicht nichts machen!« (Ebd.: 98, Herv. i. O.) stellt sie fest. Clemens Entgegnung: »Immerhin kannst du anfangen, dich selber als w…« (ebd.) wird durch das Eingreifen der Polizisten mitten im Satz abgeschnitten, sodass die Diskussion notgedrungen zu einem Ende kommt. Zuletzt wird die Debatte auf eine geradezu filmische Weise mit Panels gegengeschnitten, die den Verlauf der Demonstration zeigen. Der theoretischen Debatte wird somit eine politische Praxis gegenübergestellt, an der deutsche Aktivisten und afrikanische Flüchtlinge gleichermaßen mitwirken und mit einer Stimme sprechen. Ob Clemens der Forderung der Protagonistin nachkommt, sich an einer Schutzkette zu beteiligen, mit der die Flüchtlinge vor dem Zugriff der Polizisten geschützt werden sollen, lässt der Comic offen (vgl. ebd.: 104) – angesichts seiner vorherigen Argumentation erscheint dies aber fraglich. Geschichten aus dem Grandhotel zeichnet nicht die gleiche intellektuelle Schärfe wie Im Land der Frühaufsteher aus, was sicherlich auch auf die kollektive Entstehung des Comic zurückzuführen ist. Wenngleich das von Spivak beschriebene Dilemma in dem Comic nicht explizit verhandelt wird, lässt sich zumindest Dennis Egos Erzähleinlage »Hüter der Heimat« (vgl. Loos 2016: 50-58) als Versuch verstehen, aus einer eurozentrischen Perspektive auszubrechen. In dieser Binnengeschichte greift ein syrischer Flüchtling selber zum Zeichenstift und erhält somit die Möglichkeit, die Geschichte des kulturell hochgradig heterogenen Landes von der Antike bis zum 2011 ausgebrochenen Bürgerkrieg zu erzählen. Dieser geschichtliche Rückblick stellt zugleich eine Verbindung zu der von Mike Loos gezeichneten Rahmenhandlung dar, die die Erinnerung an die Augsburger Geschichte insbesondere während der frühneuzeitlichen Religionskriege wachruft (vgl. ebd.: 5, 68f.). Tatsächlich sind Parallelen zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und dem Syrischen Bürgerkrieg nicht zu verkennen, da es sich in beiden Fällen um militärische Auseinandersetzungen handelt, in der komplexe konfessionelle und politische Konflikte durch die Interventionen von benachbarten Großmächten zu mit unvorstellbarer Grausamkeit geführten Kriegen eskalierten. Durch die gezeichnete Ringbuchheftung (siehe Abbildung 5) ist der Comic über

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die Geschichte Syriens auch auf der graphischen Ebene als Binnengeschichte gestaltet – genauer gesagt als metadiegetische Erzähleinlage, da der gesamte Abschnitt bereits auf einer intradiegetischen Ebene verortet ist –, zumal auch die Zeichenstile der beiden Erzählinstanzen deutlich divergieren. Dem optimistischen Grundton des gesamten Comic entspricht, dass der Subalterne nicht nur sprechen, sondern sogar zeichnen kann, wenngleich diese Ausdrucksformen ihrerseits ein Ergebnis der künstlerischen Illusion darstellen. Abbildung 5: Ein Flüchtling erzählt die Geschichte seines Landes

Quelle: Wißner Verlag 2016

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KRITIK UND UTOPIE Beide Comics inszenieren die Situation von Flüchtlingen im Deutschland der 2010er Jahre als eine Existenz im Zwischenraum, der, wie der Bezug auf die Theorien Foucaults, Bhabhas und Spivaks gezeigt hat, gleichermaßen von räumlichen, kulturellen und politischen Spannungsverhältnissen durchzogen ist. Dem pessimistischen und gesellschaftskritischen Impetus von Im Land der Frühaufsteher steht die überwiegend optimistische Darstellung in Geschichten aus dem Grandhotel gegenüber. Dass Paula Bulling ein trübes Bild von der desolaten Lage der afrikanischen Flüchtlinge in Sachsen-Anhalt zeichnet, während die Augsburger Studierenden die in Deutschland wohl einmalige Einrichtung des Grandhotel als »konkrete Utopie« (ebd.: 6) erfahrbar werden lassen, ist wohl auch auf die ökonomische Situation der jeweiligen Handlungsorte zurückzuführen. Im Land der Frühaufsteher spielt mit Sachsen-Anhalt in einer der strukturschwächsten Regionen Deutschlands, Geschichten aus dem Grandhotel hingegen im wirtschaftlich prosperierenden Südbayern. Dem entspricht, dass gleich zwei Binnengeschichten – Dennis Egos »Hüter der Heimat« und Hannah Hageraats »Noch eine Heimat« – den Heimatbegriff auf eine zwar dynamische, aber durchaus affirmative Weise verwenden: »Heute glaube ich, Heimat ist der Ort, an dem mein Herz Frieden findet!« (Ebd.: 58), stellt der Protagonist von Egos Comic resümierend fest. In Im Land der Frühaufsteher hingegen erscheint der Heimatbegriff bereits durch den Bezug auf die Imagekampagne des Landes Sachsen-Anhalt, den sowohl der Titel als auch das erste, mit der weiteren Handlung nicht verbundene Panel (vgl. Bulling 2012: 5), herstellen, in einem ausschließlich ironischen Licht. Eine vergleichbare Polarisierung der Narrative lässt sich auch bei vielen anderen Migrations-Comics beobachten, die im frühen 21. Jahrhundert entstanden sind. So erinnert die ungeschminkte Perspektive Bullings etwa an Ville Tietäväinens Graphic Novel Unsichtbare Hände (2014; Näkymättömät kädet), über die Ausbeutung afrikanischer Flüchtlinge in den südspanischen Plantagen, während der Augsburger Comic an Shaun Tans The Arrival denken lässt, an dessen märchenhaftem Ende der Protagonist zusammen mit seiner Familie eine neue Heimat in einem phantastischexotischen Land gefunden hat. Die sogenannte Willkommenskultur des Jahres 2015, für die geradezu emblematisch Angela Merkels Ausruf »Wir schaffen das« (Homepage Bundesregierung) steht, ist in den letzten Jahren unter dem Druck populistischer Parteien wieder einem weitaus restriktiverem Umgang mit Flüchtlingen gewichen. Dass sich in der Rahmenhandlung von Geschichten aus dem Grandhotel zwei ComicReporter mit genau diesem Ausspruch Mut verschaffen (vgl. Loos 2016: 7 sowie Abbildung 1b), mutet trotz der geringen zeitlichen Distanz mittlerweile schon fast

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wie eine historische Reminiszenz an. Die Frage, die beide Comics an die Rezipienten stellen, wie wir mit Flüchtlingen umgehen können und wollen, wird dennoch weiter im Raum stehen bleiben.

LITERATUR Primärliteratur Abirached, Zeina (2013): Spiel der Schwalben, übers. v. Paula Bulling und Tashy Endres, Berlin: avant-verlag. Bulling, Paula (2012): Im Land der Frühaufsteher, Berlin: avant-verlag. Loos, Mike (Hg.) (2016): Geschichten aus dem Grandhotel. Comic-Reportagen von Augsburger Design-Studierenden, Augsburg: Wißner Verlag. Tan, Shaun (2006): The Arrival, New York: Scholastic. Tietäväinens, Ville (2014): Unsichtbare Hände, übers. v. Alexandra Stang, Berlin: avant-verlag. Sekundärliteratur Arendt, Hannah (1986): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München: Piper. Balzer, Jens/Wiesing, Lambert (2010): Outcault. Die Erfindung des Comic, Berlin: Ch. A. Bachmann. Bhabha, Homi (2000): Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg Verlag. Dodua Otoo, Sharon (2013): »Eigene Position unter der Lupe. Paula Bulling: Im Land der Frühaufsteher«, online verfügbar unter: https://kritisch-lesen.de/rezension/eigene-position-unter-der-lupe [Zugriff: 30.06.2018]. Faus, Rainer/Storks, Simon (2019): »Das pragmatische Einwanderungsland. Was die Deutschen über Migration denken«, online verfügbar unter: https://www.fes.de/themenportal-flucht-migration-integration/umfrage-wasdie-deutschen-ueber-migration-denken [Zugriff: 31.05.2019]. Foucault, Michel (2005): »Von anderen Räumen«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. v. Daniel Defert und François Ewald, übers. v. Michael Bischoff et al., Bd. 4 (1980-1988), Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 931-942. Greven, Thomas (2012): »Skizzen der Not«, in: Der Tagesspiegel, online verfügbar unter: https://www.tagesspiegel.de/kultur/comics/als-fluechtlingin-deutschland-skizzen-der-not/7315914.html [Zugriff: 18.06.2018].

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Lange, Barbara (2014): »Soziale Plastik«, in Hubertus Butin (Hg.), Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln: Snoeck. McCloud, Scott (1993): Understanding Comics. The invisible Art, New York: William Morrow Paperbacks. Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Can the subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia + Kant. Steyerl, Hito (2008): »Die Gegenwart der Subalternen«, in: Gayatri Chakravorty Spivak, Can the subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia + Kant, S. 5-16. Links http://grandhotel-cosmopolis.org/de/hotel [Zugriff: 17.06.2018]. https://archive.is/20120910181244/http://www.sachsen-anhalt.de/index.php?id=fld8qw0s7o53b [Zugriff: 17.06.2018]. https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2015/08/2015-08-31-pk-merkel.html [Zugriff: 17.06.2018].

»What happens in the gutter?« und die Symbiose von Text und Graphik ‒ Formale Aspekte in Joe Saccos Journalism Michael Heinze

In diesem Beitrag möchte ich mich nicht nur im strengen Sinne mit dem gutter auseinandersetzen, sondern auch etwas allgemeiner an Text und graphische Elemente und ihre Interaktion – sogar: Symbiose – herangehen. Ich spreche hier im Falle des gutter zunächst durchaus absichtlich vom Rahmen und nicht etwa von einem Panel, denn ich möchte das graphische Element in einen weiteren soziologischen Kontext stellen. Zum anderen sollen framing devices, also der sehr unterschiedliche Einsatz von frames, Panels und Seitenarchitekturen an einem speziellen Beispiel demonstriert werden: Joe Saccos Journalism, einem Sammelband journalistischer Kurzreportagen aus Krisengebieten, der durchaus herkömmliche Techniken gezielt und äußerst effektiv einsetzt.

RAHMEN UND HANDLUNGEN Über den Zusammenhang von Rahmen und Handlung1 über die graphische Erzählung hinaus sagt Pascal Lefèvre: »Form is anything but a neutral container of content in the comics medium; form shapes content, form suggests interpretations and feelings. Without considering formal aspects

1

Die folgenden theoretischen Ausführungen habe ich bereits an anderer Stelle im Zusammenhang mit graphischen Erzählungen angewandt, und ich folge dieser Argumentation hier; vgl. Heinze 2015. Teile der vorliegenden Ausführungen sind Übersetzungen des früheren Artikels.

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(such as graphic style, mis [sic] en scène, page layout, plot composition), any discussion of the content or the themes of a work is, in fact, pointless.« (Lefèvre 2012: 71)

Lefèvre hebt die essenzielle Bedeutung des Rahmens für das graphische Narrativ hervor. Keinesfalls wird der Rahmen dabei etwa vom Leser ignoriert, er ist vielmehr ausschlaggebend für die Erzählung durch die Steuerung der Rezeption. Wo Lefèvre vom »page layout« spricht, verwendet Platthaus den Begriff der Seitenarchitektur (vgl. Platthaus 2008: 24ff.), um noch deutlicher zu machen, dass es sich nicht nur um eine Anordnung handelt, – denn Graphik muss angeordnet werden – sondern dass diese Anordnung einer Architektur gleichkommt und somit ein tragendes Element der Erzählung ist. McCloud definiert den Comic bekanntermaßen als »[j]uxtaposed pictorial and other images in deliberate sequence, intended to convey information and/or to produce an aesthetic response in the viewer« (McCloud 1994: 9). Die erste Assoziation, die die meisten von uns mit dem Begriff Comic oder graphische Erzählung haben, ist die des Rahmens. Im klassischen Comicstrip fungiert der Rahmen als ein Organisationselement, das den Leser anleitet, in welcher Reihenfolge er die Symbiose von Text und Bild am besten liest, um einen Sinnzusammenhang herzustellen. Doch wie McCloud festgestellt hat, unterscheidet sich graphisches Erzählen von anders-medialen Erzählungen dadurch, dass die graphische Erzählung eine breitere temporale Präsenz als andere Medien besitzt (vgl. ebd.: 104). Um es einfacher zu fassen: Während Comic und Film gemein haben, dass das, was wir sehen, immer ein ›Jetzt‹ darstellt, wir uns also (ähnlich wie in unserer Realitätswahrnehmung) ständig im ›Jetzt‹ befinden, bricht die rein physische Anwesenheit des vorherigen und des nächsten Panels diese temporale Stringenz ständig. Vergangenheit und Zukunft der Handlung sind nicht nur im Bereich der Erinnerung und Erwartung vorhanden, sondern sind dem Leser physisch, graphisch vor Augen, sodass sich unsere Wahrnehmung der Gegenwart in ständiger Referenz mit Vergangenheit und Zukunft befindet. Natürlich kann ich in einem reintextlichen Roman zurück- oder vorblättern, doch es ist der Reiz des Bildes, der die graphische Erzählung in einen ganz anderen temporalen Fluss bringt als eben diese. Dieser graphische Reiz ist beim Film selbstverständlich auch gegeben, aber Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind auf der Kinoleinwand oder dem Bildschirm nicht gleichzeitig wahrnehmbar. Wir müssen mechanisch oder elektronisch zurück- oder vorgehen, was den Film als Medium näher an den reintextlichen Text rückt denn an die graphische Erzählung. Wenn Erving Goffman von der »licence that novelists and playwrights employ in regard to keys and constructions« spricht, dann könnte er auch von graphischen Erzählungen sprechen:

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»They [novelists and playwrights] seem very prone to fall into the use of twists and gimmicks. They employ frame tricks. And no wonder. Once a strip of depicted experience is set up, it is easy, by means of a line or two, to add a whole new border to the experience, including one that defends the creator against criticism. So there is much to be gained – a whole new viewing of what has been put together – merely by means of a twist.« (Goffman 1986: 486)

Es ist kein Zufall, dass Goffman hier ein Vokabular verwendet, das auch zur Beschreibung graphischer Erzählungen verwendet werden könnte. Auch Will Eisner hat sich dieses Phänomens in seiner Studie Comics and Sequential Art angenommen, und er spricht von der vertraglichen Natur des Leseprozesses in graphischen Erzählungen: »Without these technical advantages [of forcing the viewer to keep to the narrative process in film] there is left to the sequential artist only the tacit cooperation of the reader. This is limited to the convention of reading (left to right, top to bottom, etc.)2 and the common cognitive disciplines. Indeed, it is this very voluntary cooperation, so unique to comics, that underlines the contract between artist and audience.« (Eisner 1990: 40)

Auch wenn der Leser also versucht sein mag, ein anderes Panel als das angedachte zuerst zu betrachten, ist der Künstler sozusagen vertraglich nur dann daran gebunden, eine kohärente Erzählung zu liefern, wenn sich der Leser an die vertragliche Vorgabe hält, die Panels in der angedachten Sequenz zu lesen. Der Autor kann den Leser aber auch in Versuchung führen. Eisner selbst tut dies zuweilen in seinem Werk. In der Erzählung »The Street Singer« aus der Sammlung A Contract with God von 1978 finden wir auf einer Seite drei Panels. Die Lesesequenz ist recht eindeutig nachvollziehbar, aber die angewandte Rahmungstechnik und Seitengestaltung reizen uns dazu, die Sequenzialität aufzugeben: Zwei konventionelle quadratische Rahmen stehen vor einem einzigen ungerahmten Panel, das in etwa den Platz von vier herkömmlichen Panels einnimmt. Allein der Größenunterschied, aber auch die künstlerische Gestaltung dieser Zeichnung, die eher einer mehr oder minder ganzseitigen Illustration entspricht, erklären, warum wir einen starken Drang verspüren, dieses Panel außerhalb der narrativen Sequenz zuerst zu 2

Eine Randbemerkung: Selbstverständlich bewegen wir uns hier in einem westlichen kulturellen Kontext, wenn wir von links nach rechts lesen; Eisner geht im Folgenden auf diese Unterscheidung ein. Interessanterweise treten westliche Übersetzungen von Mangas oft aktiv in diesen kulturellen Diskurs ein, wenn sie in einer für uns unerwarteten Textrichtung gedruckt werden und damit die Alterität des Ursprungstextes und der Ursprungskultur auch in der Übersetzung hervorheben.

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betrachten, was dazu führt, dass wir zunächst den entscheidenden narrativen Link überlesen, der uns erklärt, warum die Sängerin auf der vorherigen Seite in Tränen aufgelöst ist und hier freudestrahlend in Gesang ausbricht (vgl. Eisner 2006: 79f.). Erving Goffmans Studie Frame Analysis gibt wichtige Anhaltspunkte zur affektiven Wirkung des Rahmens in graphischen Erzähltexten. Goffman hält als Grundannahme seiner Theorie fest, dass wir (der Teilnehmer an oder Betrachter einer Situation) sogenannte Schlüssel benötigen, um uns eine Situation zu erschließen, und er stellt eine prägnante Definition dieses Erschließungsprozesses im Zusammenhang des Spiels in fünf Schritten auf. Ich möchte vorschlagen, dass die ersten drei dieser Prozesse Anwendung finden können auf den Leseprozess im Zusammenhang mit graphischen Erzähltexten: • »A systematic transformation is involved across materials already meaningful in accordance with which the keying would be meaningless« (Goffman 1986: 45). Der Rahmen als Ordnungsinstrument wird hier übertroffen vom Rahmen als einer Form, die Elemente der erzählten Handlung trägt. • »Participants in the activity are meant to know and to openly acknowledge that a systematic alteration is involved, one that will radically reconstitute what it is for them that is going on« (ebd.). Die unterbewusste Wahrnehmung des veränderten Rahmens der Erzählung beeinflusst ebenso die Interpretation von Text und graphischen Elementen innerhalb des Rahmens. • »Cues will be available for establishing when the transformation is to begin and when it is to end, namely, brackets in time, within which and to which the transformation is to be restricted. Similarly, spatial brackets will commonly indicate everywhere within which and nowhere outside of which the keying applies on that occasion« (ebd.). Hier handelt es sich um den einen Definitionspunkt, den ich in kompletter Kongruenz mit den Mechanismen des graphischen Erzählens sehe. Die Rahmungstechniken, auf die ich mich konzentrieren möchte, etablieren ganz unmissverständlich die Handlungszusammenhänge und grenzen ab, wo und wie der Leser den Rahmen verlassen und sich dem nächsten widmen soll, ein grundlegender Mechanismus der graphischen Erzählung, der Erzählzeit kreiert und erzählte Zeit andeutet. Genauso wichtig wie das sequenzielle Lesen ist aber, was sozusagen zwischen den Panels geschieht. Eric Berlatsky interessiert vor allem die interpretative agency des Lesers in Bezug auf die Zwischenräume zwischen Panels und die dem Künstler zur Verfügung stehenden Kontrollmechanismen, die es ihm ermöglichen, dem Leser eine gewisse Interpretation nahezulegen:

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»Although movement and meaning can be shown within a panel through a variety of techniques, more frequently action is evoked in the space between frames. This space […] is known as the ›gutter,‹ and is where the reader must fill in movement. It is thus in the gutter that meaning is created.« (Berlatsky 2009: 174, Herv. i. O.)

Entscheidend ist also auch das nicht Dargestellte in der graphischen Erzählung. Der Sinnzusammenhang wird vom Leser erzeugt. Diese Ergänzung des Sinnzusammenhangs ist nicht völlig zufällig und unvorhersehbar, wie man an McClouds bekanntem Beispiel einer Zweiersequenz sehen kann, in der scheinbar ein grausamer Mord geschieht (vgl. McCloud 1994: 66). Die dargestellte Handlung ist recht einfach beschrieben: Im ersten Panel sehen wir einen verängstigten Mann, der die Hände abwehrend gegen einen aggressiven Mann hinter sich erhebt, der eine Axt schwingt und »NOW YOU DIE!!« ausruft. Das zweite Panel ist eine Stadtsilhouette mit einer Mondsichel. Das Panel wird von dem ungerahmten onomatopoetischen Ausdruck »EEYAA!!« dominiert. Beide Panels dieser Kurzsequenz bauen auf Erfahrungswerten, die wir (unabhängig von medialen und fiktionalen Präferenzen) gemein haben. Gesichtsausdrücke, Gegenstände und angedeutete Handlung im ersten Panel greifen auf kulturell weit verbreitete Darstellungen eines Mordes zurück (wie schon meine wie selbstverständlich analysierende Beschreibung verdeutlicht). Der Zeichner kann bei dem onomatopoetischen Ausdruck im zweiten Panel auf eine Assoziation mit Angst (gar Terror) bauen; auch hier spielt die kulturelle Tradition eine tragende Rolle. Es ist vor allem der Film, der uns hier vorprägt, erstaunlicherweise vor allem in der Nicht-Darstellung des grausamen Akts. Die Bildsequenz imitiert eine filmische Tradition, die eine bedrohliche Situation zeigt, dem Zuschauer dann aber den eigentlichen Akt erspart und stattdessen das Äußere eines Hauses, einen Straßenzug oder eine Luftaufnahme einer Stadt zeigt, eventuell sogar mit einem Voice-Over eines Schreis versehen. Der graphische Text imitiert hier also, was der Film tut, und er kann damit genauso auf eine erwartete Interpretation des gutter bauen, wie der Film auf eine erwartete Interpretation des Szenenschnitts. Unsere kulturelle Erfahrung gibt uns nur recht wenig Raum, hier keine grausame Tat im gutter anzusiedeln.3

3

Es sei erwähnt, dass der Autor genau hiermit natürlich hervorragend spielen kann, unsere Erwartungen kunstvoll ironisch enttäuschen kann. So könnte es sich ja auch um einen Hallowe’en-Scherz und nicht um einen Mord handeln. Die Seitenarchitektur kann hier unter Umständen entscheidend sein. Sind diese beiden Panels die letzten auf einer Seite, die umgeblättert werden muss, ist die Täuschung – Enttäuschung – Überraschung besonders effektiv.

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Als zweites Beispiel für die Möglichkeiten, die der gutter bietet, möchte ich eine Szene aus einem Werk Jason Lutesʼ betrachten. Lutes erzählt in seinem mehrbändigen Werk Berlin (2001) die Schicksale verschiedener Charaktere im Berlin der Weimarer Zeit. Im ersten Band treffen wir auf eine junge Frau, die am Tag der Heimkehr einiger Berliner Regimenter am Ende des Ersten Weltkrieges im Jahre 1918 auf einer Parkbank sitzt und einem ihr Unbekannten von ihren schmerzhaften Kriegsverlusten berichtet. Das Zentrum dieser Sequenz stellen zwei Panels dar, die das Brandenburger Tor und Soldaten zeigen. Während die Soldaten in einer gewissen Kriegseuphorie im linken Panel Berlin verlassen, ziehen sie im rechten als vom Krieg Gezeichnete wieder in Berlin ein. Die Sequenz zeichnet mehr als vier Jahre im kompletten temporalen Übergriff. Erzählte Zeit – 1914 bis 1918 – und Erzählzeit – die Kürze einer Zweiersequenz – klaffen weit auseinander und fassen den Krieg als Instrument der Veränderung, mehr als Metapher denn als mit Inhalt gefülltes Ereignis. Das Brandenburger Tor bildet das Bindeglied durch seine je hälftige Darstellung in den beiden Panels, symbolisiert, dass die menschliche Tragödie auf eine gewisse Unverändertheit der Heimat stößt, und es stellt ebenso Kriegserlebnis und Heimatfront in dieser Unverändertheit gegenüber (vgl. Lutes 2001: 67). Der gutter kann also nicht nur kulturell erlernte Prozesse der narrativen Lückenfüllung übernehmen; er kann gegebenenfalls auch temporale Sprünge lesbar machen, die ihn mit dem kulturellen Gedächtnis einer ganzen historischen Periode füllen. Und Hillary Chute weist in ihrem Buch Disasters Drawn. Visual Witness, Comics, and Documentary Form darauf hin, dass der Rahmen uns als Leser ja nicht nur einschließt, sondern eben ob seiner Abgrenzung auch klar darauf hinweist, dass es etwas außerhalb des Rahmens gibt: »Comics offers attention both to the creation of evidence and to what is outside the frame. […] while comics is a form that is constantly aware of its own mediation, that is by no means the most interesting aspect of its form. Rather, what is most interesting is how it displays, inscribes, and marks.« (Chute 2016: 17f., Herv. i. O.)

Darauf werde ich bei der Diskussion des comics journalism noch einmal zurückkommen. Wichtiger sind hier jedoch die Zeitfunktion und das Widerspiel zwischen Anwesendem und Abwesendem. Hierzu noch einmal Chute: »The gutter might be, as I earlier suggested, the figuration of a psychic order outside of the realm of symbolization, a space that refuses to resolve the interplay of elements of absence and presence. […] The gutter could be understood as a breath (a notion suggested to me by a musicologist colleague), a pause that conditions, or is disruptive of, the parts that make a

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crafted sound. Thinking of architecture, one might conceive the gutter as the space in between walls. The gutter is both a space of stillness – a stoppage in the action, a gap – and a space of movement: it is where, in a sense, the reader makes the passage of time in comics happen.« (Ebd.: 35)

Besonders wichtig an Chutes Argument scheint mir auch der interdisziplinäre Ansatz, der auf Musik und Architektur verweist. Die Arbeit an graphischen Texten ist inhärent interdisziplinär und muss es sein, da die Kunstform an sich eine Symbiose darstellt. Der Rahmen selbst ‒ seine graphische Gestaltung, Form und Position in der Seitenarchitektur ‒ ist hierbei von entscheidender Bedeutung. Will Eisner hat eine Kategorisierung der Rahmenformen versucht, in dem er vier recht simple Formen einsetzte: die (wie er es sieht) neutrale, rechteckige Standardform – diese Neutralität wird zu diskutieren sein –, die wellenförmige Form, die für Flashbacks oder Erinnerungen steht, oder auch die rundgezackte Form, die diese ebenso signalisieren kann. »While there is no universally agreed upon convention for expressing tense through the outline of the frame, the ›character‹ of the line – as in the case of sound, emotion (D) or thought (C) – creates a hieroglyphic.« (Eisner 1990: 44)

Wenn auch die Annahme einer universell gültigen Konvention ihre Schwierigkeiten hat, so haben diese ›Hieroglyphen‹ doch eine so hohe Universalität in diesem Medium entwickelt, dass sie den affektiven Subtext einer großen, generationenübergreifenden Leserschaft verständlich macht. Die Verwendung von Sprech- und Denkblasen, die sich ikonographisch der Rahmenform anpassen, beispielsweise in der Werbung, hat diese Universalität zudem entscheidend erweitert, indem sie die Formenkonvention aus dem Kontext des graphischen Erzählens teilweise herausgelöst und in andere Medienformate hineingetragen hat. Diese Universalität übergreift dann nicht nur Generationen, sondern auch kulturelle Kontexte und Sprachen und kommt Eisners Idee einer universal geltenden Konvention nahe, wenn sie sie auch nicht ganz auszufüllen vermag. Eisner erwähnt ebenso das rahmenlose Panel, das ein größeres Raumempfinden kreiert und es dem Leser überlässt, den Hintergrund in seiner Vorstellungskraft zu erzeugen (vgl. ebd.: 45). Von besonderem Interesse ist eine Rahmenform, die McCloud gemeinsam mit einer großen Zahl anderer Formen und ihrer affektiven Qualitäten bespricht. Er hält fest, dass diese Form »hemorrhages and escapes into timeless space« (McCloud 1994: 103) – eine Form, die ›ausblutet‹ und in den zeitlosen Raum entweicht. Diese

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Form stellt ein Panel dar, das an zwei Seiten von konventionellen Rahmenformen begrenzt und somit in die Seitenarchitektur eingebunden ist, diese dann aber an den beiden übrigen Seiten bricht, in dem sie bis an den Rand der Seite geht und damit suggeriert, dass das Panel über die physische Seite hinausgeht. Diese Suggestion ist nur dadurch möglich, dass der Leser von einem weiteren, oft nicht in Betracht gezogenen Rahmen der Seitenarchitektur beeinflusst wird: dem bedruckbaren Seitenraum und dem ihn umgebenden Seitenrand. An diese Seitenarchitektur sind wir durch Jahrhunderte des Buchdrucks bis hin zu Vorgaben moderner Textverarbeitungsprogramme gewöhnt; ihre Brechung stellt das Außergewöhnliche dar und lässt uns die Seite als Rahmen als solchen komplett neu denken. Diese Technik ist auch leaking also ›Lecken‹ im Sinne des ›Lecks‹ genannt worden, weil der Inhalt seinen ›Container‹ zu durchbrechen scheint und aus dem Medium selbst ›herausfließt‹.

JOE SACCOS COMICS JOURNALISM Kommen wir also zu Joe Sacco, einem der wichtigsten nordamerikanischen graphischen Gegenwartsautoren. 1960 in Malta geboren, verbrachte Sacco seine Kindheit in Melbourne, Australien, bevor er 1972 mit seiner Familie nach Los Angeles, Kalifornien, zog. Sacco ist primär Journalist, und sein graphisches Werk ist ebenfalls überwiegend diesem Genre zuzurechnen. Zu seinen bekanntesten Werken zählen Palestine (2001), Warʼs End: Profiles from Bosnia 1995-96 (2005) und Footnotes in Gaza (2001). Zu erwähnen sei aber auch The Great War (2013), ein etwas mehr als sechseinhalb Meter langes, semifiktionales single-panel-Werk, das in Anlehnung an den Wandteppich von Bayeux Szenen des Ersten Weltkrieges aufleben lässt. Graphischer Journalismus (oder comics journalism in Saccos Worten) nimmt einen besonderen Platz unter graphischen Erzähltexten ein und sondert sich auch noch einmal von anderen semifiktionalen und auto-/biographischen Texten ab. Sacco ist sich der Kritik an diesem Medium durchaus sehr bewusst, und ich möchte ihn gerne hier etwas ausführlicher zu Wort kommen lassen. In seiner Einführung zum Sammelband Journalism (2012) führt er aus: »[B]efore we commence firing, perhaps we should hear out the dissenters. After all, their objections may have merit. How should we respond, for example, when they question the notion that drawings can aspire to objective truth? Isn’t that – objective truth – what journalism is all about? Aren’t drawings by their very nature subjective? The answer to this last question is yes. There will always exist, when presenting journalism in the comics form, a tension between those things that can be verified, like a quote

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caught on tape, and those things that defy verification, such as a drawing purporting to represent a specific episode. Drawings are interpretive even when they are slavish renditions of photographs, which are generally perceived to capture a real moment literally. But there is nothing literal about a drawing. A cartoonist assembles elements deliberately and places them with intent on a page. There is none of the photographer’s luck at snapping a picture at precisely the right moment. A cartoonist ›snaps‹ his drawing at any moment he or she chooses. It is this choosing that makes cartooning an inherently subjective medium.« (Sacco 2012: ix-x, Herv. i. O.)

Selbstverständlich sind Foto- und Filmjournalismus auch Medien, in denen eine Auswahl vorgenommen wird, in denen also auch Subjektivität ins Spiel kommt, aber hier ist sie stärker begrenzt als im graphischen Medium. Wo die Kamera einen Gesichtsausdruck einfängt, der – bei aller Beeinflussung durch Umgebung, Beleuchtung und Aufnahmewinkel – doch dem Betrachter die Entscheidung weitgehend überlässt, welche emotionale Deutung er dem Bild gibt, wählt der graphische Künstler nicht nur eben all diese Beeinflussungsfaktoren aus, er interpretiert auch, was er sieht und setzt es in eine Zeichnung um. Zu dem Zeitpunkt, an dem der Leser nun seine gesteuerte (!) Interpretation des Bildes vornimmt, haben wir also eine dreifache Distanzierung vom Gegenstand: die Interpretation des Künstlers, seine graphische Umsetzung und die Interpretation des Lesers. Nochmals, die affektive Wirkung des graphischen Textes auf den Leser kann um ein Vielfaches höher sein als die des reintextlichen Textes, aber unter Umständen auch höher als die des Fotos. Hier sei betont, dass ich nicht die verstörende und höchstaffektive Wirkung von bekannten historischen Fotografien in Frage stellen oder mindern möchte. Es ist lediglich ein anders gelagerter Distanzierungsschritt, der hier eine andere affektive Wirkung evozieren kann. Sacco selbst spricht von comics journalism,4 und Hillary Chute hat sich der Frage, in welcher Weise das graphische Medium in besonderer Form mit dokumentarischen Inhalten umgeht, ausführlich gewidmet: 4

Die Genre-Frage ist im Bereich der graphischen Texte höchst umstritten, kann hier jedoch nicht ganz vermieden werden. Chute benutzt den Begriff comics entgegen seiner grammatischen Natur als Singular und drückt damit bereits die Vielfalt von Darstellungsformen, Stilen und sogar Untergenres aus. Joe Sacco beabsichtigt Ähnliches, wenn er von comics journalism spricht, um seine und andere Texte dieser Art einem Genre zuzuweisen, aber auch, um eine Kampfansage auszusprechen an die Kritikrichtung, die dem Medium comics Ernsthaftigkeit abspricht. Diese semantische Verschiebung darf man durchaus im linguistischen Sinne eines reclaiming oder einer reappropriation sehen, also einer Aneignung eines Begriffes, die dem bisherigen Gebrauch und einer möglicherweise negativen Konnotation widerspricht, sie gar negiert. Ähnliche Prozesse

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»Maus, for instance, troubles the link between the traditionally conceived categories of documentation and artistic practice in particularly obvious ways because of the visual abstraction of its animal metaphor. As Marianne Hirsch’s important 1993 essay ›Family Pictures‹ demonstrates, comics can raise the question of how ›to produce a more permeable and multiple text… that definitively [erases] any clear cut distinction between the documentary and the aesthetic.‹« (Chute 2016: 18)

Dieses Spannungsfeld zwischen dem Dokumentarischen und dem Ästhetischen ist es also, was der nicht-fiktionale graphische Text letztlich bespielt. Doch dieses Bespielen ist von höchster diskursiver Bedeutung, denn die Binarität Foto= Realität=Dokumentarisches versus Zeichnung=Kunst=Fiktion muss (und kann!) durchbrochen werden und führt zu einem ganz eigenen affektiven Wirkungspotenzial der graphischen Dokumentation, da es auf Abstraktion zurückgreifen kann (und sicher auch zu einem gewissen Grad muss), und wie wir sicher nicht erst seit McCloud wissen (vgl. McCloud 1994: Kapitel 2), hat die Abstraktion ein extrem hohes affektives Potenzial. Chute weist darauf hin, dass die angenommene Objektivität der Fotografie einzig und allein der mechanischen Entstehung geschuldet ist, also unserer Annahme, dass ›die Kamera nicht lügen kann‹. Da nun die Zeichnung (und damit die graphische Erzählung), so Chute, keine rein duplikative Form der Darstellung ist, – Zeichnungen beziehen sich auf die Realität, bilden sie jedoch nicht als Duplikat ab – hat der graphische Text eine andere Funktionalität als die Fotografie: »Comics calls attention to images as material objects and not just as representation« (Chute 2016: 21). Besonders wichtig wird diese Funktionalität, so möchte ich hinzufügen, wenn der graphische Text intermedial mit eben dieser Unterscheidung arbeitet, den Leser also dazu zwingt, das Foto in all seiner angenommenen Objektivität auch in seiner Materialität als Produkt zu sehen. Panels, die bekannte Fotos (oder auch Kunstwerke) wiedergeben, widersetzen sich damit der (oder hinterfragen zumindest die) Binarität zwischen angenommen objektivem Foto und angenommen weniger objektiver Zeichnung. Genauso wie Shaun Tan mit graphischen Wiedergaben in The Arrival (2006) nicht nur die Inhalte der Fotos auf diese Art der Diskussion anheimstellt, bezieht er sich auch auf die Materialität des Fotos, indem er eben diese zeichnerisch imitiert. Eine ähnliche Technik findet sich übrigens auch in Alison Bechdels Fun Home (2006), einem der wichtigsten graphischen Texte der Gegenwart überhaupt. Wie Chute herausgearbeitet hat, kann man beispielsweise in der reappropriation des Begriffs queer in der englischen Sprache beobachten, einem Begriff, der aus dem Bereich der Verunglimpfung in einen konträr angeeigneten, politisch höchst wirksamen Begriff der Eigenbezeichnung überführt wurde. Ich schließe mich dem von mir behandelten Autor hier also in seiner Begrifflichkeit an und werde vom comics journalism sprechen.

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zwingt der nicht-fiktionale graphische Text nicht nur durch fotografische Allusionen dazu, aktiv über die Lesbarmachung von Geschichte zu reflektieren; er verweist zwingend auf die diskursive Natur der Geschichte (vgl. Chute 2016: 20f., sowie 198 mit Bezug auf Joe Sacco). Durch diese Liminalität des comics journalism zwischen so wahrgenommener real-medialer Berichterstattung und fiktionalisierender graphischer Methode wird diese Form des Journalismus aber auch zur metatextuellen Auseinandersetzung mit dem Genre des Journalismus als Ganzem. Lan Dong führt dazu aus: »A journalist by vocation and a comics artist in practice, Sacco foregrounds his own perspective as ›an organizing consciousness‹ in Safe Area Goražde. With this approach, he directs the reader’s attention to the problematic media coverage of the Eastern Bosnian war and the peace negotiation process. Shortly after his arrival, he alludes to his ›anti-›official‹ and anticorporate attitude,‹ by positioning himself against Western journalists rushing to Goražde by critiquing the short-lived and superficial representation of Goražde.« (Dong 2015: 46)

Diese Positionierung wird ermöglicht durch die subjektivierte Eigenwahrnehmung sowie die Lesersteuerung, die den Leser über Saccos Schulter sehen lässt, was dieser sieht. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass Sacco selbst diese Lesersteuerung hinterfragt. Wir schauen über seine Schulter auf die Szene, die er uns präsentiert, aber fokussieren wir auf denselben Gegenstand wie er? Legen wir den gleichen Bedeutungsschwerpunkt in der betrachteten Szene? Mit jedem Bild wird der journalistische Berichtsprozess als solcher dem Leser wieder vor Augen geführt, muss als Teil des Berichts immer wieder mitgedacht werden in einer Art und Weise, wie die fotografischen Medien dies weder können noch wollen.5 Sacco schreckt vor verstörenden Bildern nicht zurück. Im Band Journalism finden sich weniger solche Bilder, da es nicht so sehr (wenn bedingt auch) um physische Grausamkeiten geht. Sacco nutzt Techniken der Fragmentierung: fragmentierte Textelemente, fragmentierte Panels, aber dann auch auf äußerst drastische Weise beispielsweise durch den zerteilten Körper eines Kriegsopfers (vgl. Sacco 2007: 126). Eine weitere Technik, das detailgeflutete Panel, nutzt er im selben Band in der Erzählung »Srebrenica«, um eine Massenexekution besonders realitätsnah dem Leser nahezubringen (vgl. ebd.: 203). Hierbei ist es weniger der Gewaltakt selbst; vielmehr sind es die zahlreichen visuellen Details, wie Stoffmuster, komplett differenzierte Charaktere und zahlreiche Nebenhandlungen in einem Panel, die diese Realitätsnähe erzeugen, so Hillary Chute, deren bereits 5

Der Frage einer Kritik an journalistischer Objektivität in Saccos Werk hat sich Isabel MacDonald ausführlicher gewidmet (vgl. MacDonald 2015).

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mehrfach zitiertes Buch dieses eindrucksvolle Panel als Titelillustration dient. Für den Rezipienten wird der Leseprozess durch diese extrem detaillierten Panels und Seiten notwendigerweise aufwändiger. Chute vergleicht einige Seiten in Saccos Werk mit den detailreichen Kunstwerken Breughels, Hieronymus Boschs oder Hogarths, deren Betrachter nicht nur ein Bild als Ganzes wahrnimmt, sondern auch auf die vielen minutiösen Details aufmerksam wird. In Saccos Werk sieht Chute dieses Element als Beförderung des Realitätsempfindens. Wir sehen nicht nur eine abstrahierte Szene, sondern werden durch Details in Kleidung, Umgebung, Gegenständen oder Gebäuden an Erlebnisse aus unserem Erfahrungskreis erinnert (vgl. Chute 2016: 221f.).

JOURNALISM Journalism ist eine Sammlung journalistischer Beiträge für die verschiedensten Publikationen wie zum Beispiel das New York Times Magazine, den Guardian, oder das Time Magazine. In kurzen Erläuterungen am Ende der Beiträge ordnet Sacco die Reportagen in ihren historischen Kontext ein, berichtet von seinen Erlebnissen und dem Publikationsprozess. Auch hier weist er wiederholt auf Eingriffe von Redakteuren bzw. Vorgaben von Verlagen hin, in denen die Angemessenheit des Mediums und die Darstellbarkeit von Krieg und Vertreibung im Zentrum stehen. Besonders heftig wird diese Diskussion um die Darstellbarkeit in der graphischen Interpretation allgemein bekannter Fotos von beispielsweise Elektroschock-Folterungen (vgl. Sacco 2012: 101), die der Weltöffentlichkeit durch Wiedergabe in allen Mediengenres zur Zeit des Erscheinens dieses Beitrages bekannt war (und es sicher auch jetzt noch ist). Die Frage der Würde des dargestellten Menschen wird interessanterweise in graphischen Texten mit noch größerer Vehemenz gestellt als in fotografischen Dokumenten. Alle Beiträge des Sammelbandes beschäftigen sich mit Kriegsgebieten und/ oder Migrations- und Fluchtbewegungen. Hier eine kurze Übersicht aller Beiträge: • »The Hague«: Vor dem Hintergrund des Internationalen Kriegsverbrechertribunals nach dem Ende der Balkankriege stellt Sacco die Spannung zwischen faktenorientierter Rechtsprechung und Dar- bzw. eher Vorstellbarkeit der Gräuel dar. Er scheut hierbei nicht vor den schlimmsten Kriegsverbrechen (Folter, Misshandlung, Vergewaltigung) zurück, die er im Text explizit ausführt, in der Graphik jedoch nur andeutet. Besonders eindringlich macht den Bericht sicher-

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lich auch die Verwendung von kolorierten Zeichnungen, eine von zwei Ausnahmen in der Sammlung. Typisch für Sacco ist seine Selbstdarstellung, die den Augenzeugencharakter der Erzählung hervorhebt. Zugleich ist er meist nur als Randcharakter zu sehen, dessen Blickrichtung wir teilen. In »The Palestinian Territories« werden verschiedene Beiträge zum sogenannten Nahostkonflikt gesammelt, wie zum Beispiel ein Bericht aus den Siedlergebieten und das »Gaza Portfolio«. Letzteres ist ein gutes Beispiel für redaktionelle Zensur. Die Panels entstanden als Illustrationen für einen reintextlichen journalistischen Beitrag, doch Harper’s Magazine lehnte Zeichnungen, die Personen zeigten, rundweg ab (vgl. ebd.: 26). Man muss sich die Frage stellen, ob fotografische Illustrationen nicht genau wegen der Darstellung von Personen gewählt worden wären. Dem Tschetschenien-Krieg widmet sich Sacco in der Sammlung »The Caucasus« anhand von Interviews, die er mit tschetschenischen Frauen in den Auffanglagern Inguschetiens geführt hatte. Entscheidend ist hier, dass seine Erzählerinnen immer wieder vergangene Erlebnisse der eigenen Flucht, aber auch vergangener Vertreibungen berichten und die Erzählungen damit in semifiktionale Flashbacks fallen, wie beispielsweise die Vertreibungen unter Stalin. Das Erlebnis des embedded journalist steht im Mittelpunkt der folgenden Berichterstattung aus dem Irak. Sacco thematisiert seine Bemühung um Objektivität, doch seine Graphiken allein offenbaren die Empfindung des Befremdens über das Gebaren der Besatzungstruppen. Der nächste Teil des Buches ist mit »Migration« betitelt. Es handelt sich um eine Reportage über das Schicksal syrischer Flüchtlinge auf Malta während der Ersten Flüchtlingskrise. Der Titel »The Unwanted« lässt bereits keinen Zweifel daran, wo die Sympathien des Autors liegen, aber das Setting der Recherche berührt Sacco doch näher, denn letztlich ist er nicht nur in Malta geboren, sondern spricht auch Maltesisch und hat die Insel Zeit seines Lebens immer wieder aufgesucht. Das gibt ihm einen weitaus persönlicheren Zugang zu der Situation, als dies wahrscheinlich bei vielen anderen Journalisten der Fall gewesen wäre. Die Erzählung ist klar strukturiert, thematisiert zunächst die zumeist ablehnenden Reaktionen der maltesischen Bevölkerung, schildert dann die Flucht an sich aus dem Blickwinkel eines Flüchtlings, das Leben im Lager und den Integrationsprozess nach Gewährung des Asyls. Ein letzter Teil des Buches ist dann ein Bericht über das Leben der Dalit-Bevölkerung im indischen Kushnagar. Auch hier ist Sacco nicht nur daran gelegen, den Gegenstand seiner Reportage festzuhalten; vielmehr möchte er den Recherche-Prozess selbst beleuchten, in diesem Falle die Behinderungen durch Dorfvorsteher, Rajas und Verwalter, die das Team von Journalisten erfährt.

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Ich möchte mich nun weniger mit einem einzelnen Text beschäftigen als vielmehr mit stilistischen Elementen und Techniken im Allgemeinen. Hierzu werden Beispiele aus mehreren Kapiteln des Bandes dienen. Beginnen wir mit einigen allgemeinen Betrachtungen zu Saccos Stil: In weiten Teilen des Werks muss man nach Benoît Peeters von einer utilisation décorative (vgl. Peeters 2003: 49) sprechen, das heißt einer Illustration des Textes mit visueller Dominanz des Graphischen. Der Zeichner verwendet häufig rechteckige handgezeichnete Rahmen. Sehr oft findet sich eine Aufteilung wie hier, bestehend aus vier rechteckigen Panels unterschiedlicher Größe sowie einem ungerahmten Panel, welches das untere Drittel der Seite einnimmt, das oft aber auch das sogenannte leaking oder bleeding einsetzt, um dem Leser die besondere affektive Relevanz des Inhalts zu verdeutlichen. Oft findet nicht nur ein leaking zum Seitenrand hin, sondern vor allem auch in den Hintergrund des mittleren Drittels hinein statt. Talking heads nennt man eine Technik vor allem in Reportagen, in denen Zeitzeugen oder Experten ohne sichtbaren Interviewer zumeist direkt in die Kamera sprechen. Diese VTs (etwas anachronistisch: video tapes) oder Einspieler dienen dazu, die Seriosität der Dokumentation zu unterstreichen, was wiederum besonders effektiv ist, wenn der Ton des Einspielers über eine folgende, illustrierende Szene gelegt wird. Besonders häufig setzt Sacco diese Technik in »The Unwanted« ein, um die Reaktionen der maltesischen Bevölkerung auf die Asylsuchenden einzufangen (siehe Abbildung 1). Die Einzelpanels im oberen Bereich der Seite imitieren ebensolche Einspieler. Der Eindruck wird unterstützt durch die ›Einblendung‹ von Namen im jeweils unteren linken Rand eines jeden Panels. Auch wenn es sich nur um Vornamen handelt, wird eine Vertrautheit mit den Personen suggeriert, die ihre Aussagen dementsprechend wirkungsvoller macht.6 Es handelt sich also um drei klassische, asyndetische talking heads, die via Benennung zwar dem Betrachter nähergebracht werden, aber als Lorry, Matthew und Charles genügend Allgemeingültigkeit besitzen, um für eine Stimmungslage in der maltesischen Gesellschaft stehen zu können.

6

Es sei angemerkt, dass diese Dreiergruppe besonders ausgewogen dargestellt ist, da Matthew, in der Mitte, eine eher positive Einschätzung von sich gibt. Bei früheren Seiten dieser Art sind die negativen Äußerungen nahezu exklusiv.

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Abbildung 1: talking heads

Quelle: Jonathan Cape 2012

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Anders ist dies mit dem talking head auf dem Großpanel im unteren Teil der Seite. Die vierte Figur ist deutlich größer als die vorherigen talking heads und wird als Norman Lowell benannt; es handelt sich um eine reale Person und um reale Aussagen dieses ultranationalen Politagitators. Sacco stellt diese Aussagen bei Weitem nicht neutral dar. Was der Text der Sprechblasen beschreibt, zeigt die Illustration im Hintergrund in all seiner Unmenschlichkeit. Das affektive Potenzial dieser Seite wird durch die Imagination des Gesagten um ein Vielfaches gesteigert. Sacco nutzt zur Darstellung von emotionalen Erinnerungsprozessen immer wieder die Be- und Entschleunigung. Abbildung 2 zeigt noch einmal ein besonders eindrucksvolles Beispiel aus der Tschetschenien-Reportage: Die erste und mittlere Zeile sind ähnlich aufgebaut mit je vier gleichgroßen Panels, die einzig und allein die Interviewpartnerin im Frontalportrait zeigen (der lediglich angedeutete Hintergrund – ein Vorhang – ist vernachlässigenswert). Durch die höhere Taktung der Einzelbilder entsteht hier keine Beschleunigung; vielmehr wird eine größere Nähe zu der Interviewpartnerin erzeugt, da die emotionalen Veränderungen in sich ändernden Details dargestellt werden. Man könnte vielmehr von einer Entschleunigung sprechen, da die Panels mit Sprechblasen von solchen ohne unterbrochen werden. Diese können keinesfalls einfach ›überlesen‹ werden, da sie die stärksten Gefühlsäußerungen der Frau illustrieren. Dies ändert sich schlagartig in der dritten Zeile. Saccos Frage nach den Vertreibungen unter Stalin 1944 löst eine besonders starke emotionale Reaktion aus, die graphisch über mehrere Elemente realisiert wird. Zum einen bietet das größere Panel (doppelt so groß wie die äußerst regelmäßigen übrigen Panels dieser Seite) den Raum, das Gesicht der Frau entsprechend größer darzustellen. Die weit aufgerissenen Augen sind den bisherigen Gesichtsausdrücken zum anderen diametral entgegengesetzt. Hinzu kommt der nahezu schwarze Hintergrund mit einem sogenannten emotional halo, der die Vehemenz der Reaktion unterstreicht. Gleichzeitig beschleunigt sich die Erzählung drastisch. Vier Sprechblasen in einem Panel (sowie die Caption) erzeugen einen Eindruck von Gedrängtheit. Die Äußerungen der Frau werden als schneller gesprochen, dringender und eindringlicher wahrgenommen. Was sie zu sagen hat, ist wichtig; es hebt die Gegenwart über die Vergangenheit, verdeutlicht das gegenwärtige Leid im Kontrast zum historischen Vergleichsfall. Ebenso wie Sacco die Erzählung hier zunächst drastisch beschleunigt hat, entschleunigt er sie nun ebenso abrupt sofort wieder.

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Abbildung 2: Entschleunigung

Quelle: Jonathan Cape 2012

Die Panels fallen nicht nur in ihre bisherige Standardform zurück – klein, hell, regelmäßig ‒, dem aufwühlenden, wortreichen Großpanel wird zudem direkt eines der entschleunigenden wortlosen Panels entgegengehalten. Erst nach dieser extremen Ausbremsung greift die Interviewpartnerin ihre Erzählung wieder auf.

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Diese Seite ist antithetisch zu den überwiegend flashlight-Charakter besitzenden übrigen Seitengestaltungen und kreiert eine besondere affektive Wirkung durch die nahezu intime Fokussierung auf einen Charakter. Ablenkungen von der Geschichte der Frau werden nicht zugelassen; ihr Gesicht ist der Fokus der Erzählung, in der es nicht um die Darstellung der Gräuel von Vertreibung und Flucht oder die Entbehrungen des Flüchtlingslebens an sich geht, sondern einzig und allein um die traumatischen Veränderungen der Menschen, die sich diesen Situationen ausgesetzt sehen. Hillary Chute hat herausgearbeitet, dass es sich hierbei um ein entscheidendes Stilelement bei Sacco handelt; sie spricht davon, dass die Comics des Autors »resolute in their slowness« (Chute 2016: 201) sind. Sie sieht darin auch einen bewussten Gegenpol zur der stetig wachsenden, schnellen, kursorischen Rezeption von Bildelementen in den Medien. Und Jared Gardner stellt in einem Essay die folgende These auf: »[O]ne of the most powerful and potentially transformative contributions of Joe Sacco’s work as a comics journalist has been its dedication to exploring the politics of time and the very different ways in which it moves and is experienced in different places and by different peoples. […] Sacco dedicates his comic art not so much to the achronicity of the artist but to the rendering of the temporal experience of those who find themselves outside of ›absolute‹ time.« (Gardner 2015: 22, Herv. i. O.)

Mit dieser temporalen Politik verbindet Sacco das Politische und das Persönliche, gibt dem affektiven Wirken seiner Erzählung politische Dimension, verweist aber gleichzeitig das Politische auf das Persönliche zurück. Die Erzählung der Tschetschenin erfüllt den journalistischen Anspruch, das Persönliche als Indikator einer politischen Entwicklung einzusetzen, aber es widersetzt sich einer entpersonalisierten Politik durch die affektive Bindung des Lesers an die emotionale Weltwahrnehmung der Erzählerin. Dieser virtuose Umgang mit Temporalität wird unterstrichen durch den gezielten Einsatz von strukturellen Ordnungselementen. Seitenarchitekturen in Saccos Werk sind oft sehr ähnlich, wie ich eingangs angemerkt habe, und Chute weist darauf hin, dass es gerade dieser Formalismus ist, der die Dekodierung einer Seite bei Sacco zu einer eigenständigen Transferleistung macht (vgl. Chute 2016: 204). Umso mehr fallen Änderungen des Standards ins Auge (im wahrsten Sinne des Wortes). Hierzu soll die zweite Seite der Reportage »The Unwanted« einmal genauer analysiert werden.

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Abbildung 3: Geographien

Quelle: Jonathan Cape 2012

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Sacco interviewt einen maltesischen Fischer, der dabei ist, gefangene Thunfische zur weiteren Verarbeitung zu zerteilen. Seine Einstellung zu den Flüchtlingen ist eindeutig, und seine Vehemenz hat eine gewisse gewalttätige Komponente. Nicht ohne Grund hält Sacco in der ersten Caption explizit fest, dass James, der Fischer, mit laufender Motorsäge auf ihn zukommt. Sacco fragt James, ob denn die Kriegssituationen in Afrika keine Fluchtursache für ihn seien, worauf James antwortet: »That’s their problem«. Interessant ist hier ein Detail im Hintergrund. Ein abgetrennter Fischkopf wird in den Abfall geworfen. Die anthropomorphisierte Darstellung des Fisch-›Gesichts‹ verbindet das gesuchte Produkt des Mittelmeeres mit dem neuen ungewollten ›Produkt‹ des Meeres, den Flüchtenden. Wie die Entsorgung des Fischabfalls ein Problem darstellt, scheint auch die Bewältigung der Flüchtlingssituation fast lästig zu sein. Diese Interpretation dieses – zugegebenermaßen – Details erschließt sich nur im Zusammenspiel mit dem graphischen Fokus der Seite. Die Landkarte7 mit ihrer nüchternen Darstellung der Flüchtlingsströme ist nämlich nicht auf die Ankunftsorte ausgelegt, sondern auf die Herkunftsorte; sie verdeutlicht, woher die Flüchtlinge kommen und deutet an, warum. Auch hier findet eine Anthropomorphisierung statt, da das untere Ende der Karte von der Darstellung eines Flüchtlingsbootes überlagert wird. Hier geht es nicht um kartographisch festhaltbare politische Entwicklungen, hier geht es um das menschliche Element, menschliche Schicksale. Im Boot sind einzelne Gesichter zu erkennen; es handelt sich um visuell realisierte Einzelschicksale, nicht um eine global beschreibbare Situation. Aber nicht nur die Individualisierung des Flüchtlings rückt in den Fokus; es findet auch eine Differenzierung des allzu globalisierten Flüchtlingsstroms statt, wie Maureen Shay hervorhebt: »The regional and national specificity of those arrows, insisting on a more nuanced, precise context for migration and trafficking, becomes an implied imperative towards revisionist

7

Edward C. Holland hat sich der Verwendung von Karten in Saccos Werk ausführlicher gewidmet und hebt die Doppelfunktion – Information und affektive Lesersteuerung – der Karten hervor: »The geography of Sacco’s work […] relies both on traditional cartography, through the representation of places, boundaries, and territories from a Cartesian viewpoint, and a grounded perspective that inserts the reader into the action and attempts to replicate the experience of war through the visual negotiation of the conflict landscape.« (Holland 2015: 85)

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representation – a revision that considers the plurality and heterogeneity of migrants’ identities« (Shay 2015: 244f.).8 Die geographische Diversifizierung mahnt eine kulturelle und personale Individualisierung an, die der Ansicht der Fischer, es handele sich um einen uniformen Flüchtlingsstrom, widerspricht und dafür plädiert, das Einzelschicksal und den Hintergrund eines jeden Flüchtlings zu betrachten. Gleichzeitig relativiert Sacco die humanitäre Verteilung von Lebensmitteln und Wasser durch zwei weitere Fischer, denn die einzige Sprechblase, die aus dem Boot kommt, fragt nach Sizilien. Auch die Pfeile auf der Karte zeigen an Malta vorbei in Richtung Sizilien. Die Mildtätigkeit wird also entlarvt als Hoffnung, die Flüchtlinge könnten durch weitere Verpflegung ihren Weg nach Italien fortsetzen, vorbei an Malta. Øyvind Vågnes betrachtet die Reportage »The Unwanted« deshalb auch unter dem Gesichtspunkt der Sichtbarmachung von Flüchtlingen. Er stellt die These auf, dass es gerade die graphische Umsetzung ist, die den einzelnen Flüchtling erkennbar macht und die Auflösung der so wahrgenommenen Masse der Flüchtenden ermöglicht und damit einen Kulturwechsel hin zu einer Politik der den Ansprüchen einer ethischen Gastfreundschaft genügenden, anstößt (vgl. Vågnes 2015: 158f.). Im Folgenden soll noch einmal eine seitenarchitektonisch umgesetzte temporale Verdichtung in den Fokus genommen werden. Im weiteren Verlauf der MaltaReportage interviewt Sacco auch einige der Flüchtlinge und macht an einem dieser Interviews seine Darstellung der Flucht selbst fest.

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Es sei festgehalten, dass Shay meiner Argumentation der Individualisierung teilweise widerspricht, da sie mehr auf die Sichtweise der Fischer eingeht, aus der die Szene geschildert wird, da es sich um eine Visualisierung der Erzählung ebendieser Fischer handelt. Ich möchte aber hervorheben, dass ich Shays und meine unterschiedlichen Ansätze als vereinbar sehe, denn die angedeutete Wahrnehmung der Fischer, dass es sich um eine entindividualisierte Masse von Migranten handelt, wird durch die Individualisierung der Einzeldarstellungen genauso kritisch hinterfragt wie wiedergegeben.

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Abbildung 4: Zeitraffer

Quelle: Jonathan Cape 2012

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Wie wir hier sehen können, nimmt das in der Erzählgegenwart verankerte Panel des Interviews eine zentrale Position ein. Um es herum gruppiert sich die imaginierte Fluchtszene, über die der Interviewpartner berichtet. Von Interesse, wenn es um temporale Verdichtung geht, sind die drei untersten Panels. Die lange Zeitspanne der Überquerung des Mittelmeeres wird hier durch mehrere graphische Techniken realisiert. Zunächst fällt die absteigend angeordnete diagonale Gestaltung der Panels auf. Schon hierdurch wird eine zeitliche Ebene eingezogen, eine temporale Streckung. Das kleiner werdende Boot schafft wachsende Distanz zu einem völlig arbiträr ausgewählten Bezugspunkt, doch die Langsamkeit dieser Entfernung vom Betrachter wird durch eine stilisierte Tag-Nacht-Tag-Sequenz bewusst gemacht. Der in Captions eingefasste Bericht des Flüchtlings wird wie zerhackt über diese zeitliche Verdichtung gestreut, sodass der Leseprozess aufgehalten, verzerrt wird. Durch ein leaking verliert sich das Panel am unteren rechten Rand der Seite in einem nicht klar definierten weißen Raum, der Assoziationen mit Unendlichkeit und Unbestimmbarkeit nahelegt, also einen noch weitaus größeren zeitlichen Ablauf in die Sequenz einbaut, als es die drei diagonalen Panels bereits getan haben. Sacco verwendet häufig ungewöhnliche Panelformen, die er gezielt einsetzt, um eine dramatische Wirkung zu erzeugen (siehe Abbildung 5). Während Saccos Rundgang durch das Lager zeigt sein Interviewpartner Abdullah ihm einen weiteren Internierten, Omar, von dem er behauptet, die Lagersituation habe ihn »mentally damaged«. Da Abdullahs eigene Intervention mit dem Lagerpersonal keinen Erfolg hatte, bittet er Sacco, ein Wort für Omar einzulegen. Die Seitenarchitektur nimmt hier einen hohen narratologischen Stellenwert ein und nutzt wiederum filmische Elemente. Zunächst wird die Szene verortet in diesem ersten rahmenlosen Panel. Abdullah und Sacco sehen wir nur von hinten; wichtiger ist die Szenerie, das Lagerleben, das nicht nur durch Zelte und Mauern gekennzeichnet ist, sondern auch durch weitere Charaktere, die das Bild bevölkern und die ihrem Alltagsleben nachgehen. Eine solche atmosphärische Einstellung wird auch in Fernsehdokumentationen verwendet, um den Zuschauer auf die folgende Sequenz vorzubereiten. Während nun über Omar gesprochen wird, benutzen die beiden gerahmten Panels eine Blickwinkelverengung im Sinne eines filmischen Zooms, um von der Rahmenerzählung (wörtlich genommen) auf die Person, um die es geht, zu fokussieren. Sacco, als Beobachter, ist im zweiten Panel gar nicht mehr zu sehen; Abdullah dagegen bleibt im Panel. Zwar liegt der Fokus auf Omar, aber für den Bericht ist es wichtig, dass Abdullah als Erzählender zu erkennen ist.

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Abbildung 5: Im Flüchtlingslager

Quelle: Jonathan Cape 2012

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Auch textlich drückt Sacco eine zumindest unterschwellige Skepsis aus: »Abdullah claims« und »I’m told« (eigene Herv.). Es ist also wichtig, dass der Urheber der Aussagen auch visuell erkenntlich bleibt, auch wenn er nicht im Fokus steht. Nach einem klassischen Zooming-out, das auch Sacco wieder in das Bild hineinbringt und das Abdullahs Bitte der Intervention berichtet, kommen wir nun zu einem – gerade für Sacco – sehr ungewöhnlichen Panel. Die unruhige Zickzackform des Rahmens deutet bereits an, dass etwas Unerwartetes geschieht. Saccos Vermutung, seine Erwähnung Omars den Behörden gegenüber würde keinerlei Reaktion zeitigen, wird nicht erfüllt. Die Panelform drückt nicht nur Saccos Überraschung aus, sondern auch die hektische Aktivität der Regierungsmitarbeiter. Sacco selbst ist bislang immer nur als Beobachter aufgetreten; seine Handlungen in den Panels sind recht wenige; er erscheint selbst nur selten. (Allein deshalb hat diese Seite Seltenheitscharakter, da er hier in vier von fünf Panels zu sehen ist.) Diese Darstellung seiner selbst ist ein generelles Stilelement in Saccos Werk, das, so auch Chute, den Mediationscharakter des Journalisten und des Künstlers hervorhebt. Sie führt weiter aus: »Sacco’s work, like Spiegelman’s, demonstrates how literature can be what Felman calls ›the alignment between witnesses,‹ for the witness is not only ›the one who (in fact) witnesses, but also, the one who begets… through the speech process of the testimony.‹ These texts, then, double the act of witness (as Felman points out, testimony can function as signature; as Sacco points out, drawings too function as a signature). They do not conceal or cloak trauma, but rather put its elements on view: graphic narratives make the rolling lines of history readable.« (Chute 2016: 233, Herv. i. O.)

Der ihn überraschende Einfluss des Journalismus rückt ihn hier nun im wörtlichen Sinne in den Mittelpunkt. Der schwarze Hintergrund wird durch ihn in einem Lichtkranz unterbrochen; die Regierungsbeamten um ihn herum werden durch Gestik und Mimik als in hektische Aktion geraten dargestellt. Diese Selbstreflektion des Journalisten findet sich immer wieder in Saccos Texten, vor allem in der Berichterstattung über seine Funktion als embedded journalist im Irak. Es sei noch erwähnt, dass seine Erwartung, seine Intervention habe keine Wirkung, letztlich doch nicht getrogen wird, da der Verantwortliche vor Ort Omar und Abdullah direkt auf der nächsten Seite verärgert auf die medizinischen Dienste hinweist, die die Flüchtlinge aufsuchen können und die beiden Männer zurechtweist, man habe nicht die Funktion der Eltern übernommen. Abschließend soll die letzte Seite des Malta-Berichts einer genaueren Betrachtung unterzogen werden.

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Abbildung 6: Malta heute und biblische Anklänge

Quelle: Jonathan Cape 2012

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Sacco hatte bereits eingangs den Bürgermeister von Marsa, Francis Debono, interviewt: Debono hatte anfangs um Verständnis für die fremdenfeindlichen Äußerungen seiner Mitbürger geworben, dies aber direkt in einen finanziellen Rahmen gefasst, um logistische Bedenken zu unterstreichen. Zudem hatte er klar gemacht, dass er die Flüchtlinge als solche nicht ablehne, aber die Sorgen der Bürger verstehe. Sacco nutzt nun ein weiteres Interview mit Debono, um den Bericht zu einem – im wahrsten Sinne des Wortes – biblischen Abschluss zu bringen. Die Seitenarchitektur ist wiederum affektiv extrem aussagekräftig. Im Zentrum steht Debono, dessen Aussagen den Kern dieser Seite bilden. Er steht repräsentativ für die Bürger Marsas, die im Sinne eines Pars pro Toto für die maltesische Bevölkerung stehen. Seine Funktion als Berichtender ist durch das stark eingeengte (und als einziges gerahmte) Panel und dessen zentrale Position deutlich zu erkennen. Im Sinne einer dominance du tableau wird der Leser die Seitenarchitektur zuerst ins Auge fassen. Die Vertextung wird letztlich zum Verständnis beitragen, aber die grundsätzliche Aussagefähigkeit der graphischen Elemente steht im Vordergrund. Das obere Panel stellt nicht nur eine mögliche zukünftige ethnische Durchmischung der maltesischen Gesellschaft dar, sondern trägt – ganz in Debonos Sinne – auch den Ängsten der Bürger Rechnung. Schauen wir uns die Illustration näher an, stellen wir fest, dass die meisten Charaktere stereotyp klar als Einwanderer zu erkennen sind. Hautfarbe wird thematisiert, und auch religiöse Elemente sind durch mit Kopftüchern bekleidete Frauen angedeutet. Entscheidend ist die eine Person, die klar als Nicht-Einwanderin gekennzeichnet ist. Sie ist in der Darstellung allein, hat zwar (nach ihrer Gehrichtung zu urteilen) die Szene durchschritten, wendet sich aber letztlich ab. Käme sie von links in das Panel hinein, hätte die gesamte Darstellung ein kommunikatives und integratives Potenzial; doch durch ihre Positionierung hier wird dieses Potenzial verweigert. Sie entweicht dem Bild, ohne auch nur wahrgenommen zu werden. Sie ist also in der Panelgestaltung marginalisiert und steht somit metaphorisch für die Ängste der Bevölkerung, von denen Debono berichtet. Die soziale Interaktion zwischen den Einwanderern hebt die Singularität der Malteserin hervor. Hinzu kommt ein klarer Altersunterschied, der eine Futurität für die Einwanderer – ganz im Sinne des Edelmanʼschen Kindes – suggeriert und die alternde europäische Gesellschaft vor Augen führt. Der vor einigen Jahren in der deutschen Politik virulente (und leider immer noch zu hörende) Begriff der ›Überfremdung‹ wird hier als Angst der Bevölkerung visualisiert. Man darf nicht vergessen, dass dies eine Zukunftsvorstellung Debonos ist, da die Flüchtenden noch bei Weitem nicht die Gelegenheit zur Integration in die Gesellschaft hatten, leben sie doch zumeist noch in den Lagern.

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Doch das dominierende Panel der Seite ist das letzte, das durch das mittlere Metapanel mit dem ersten wie durch eine Brücke verbunden ist. Der gutter zwischen moderner Alltagsszene und biblischer Allusion wird erst durch diese Brückenbildung so effektiv überwunden. Eine reine Gegenüberstellung wäre bei Weitem nicht so effektiv wie diese panelgebundene Verbindung mit einem ›Zeugen‹, einem talking head im Zentrum. Es braucht keinen Text, um eine biblische Situation zu erkennen. Die bibelfesteren Leser vermögen nun auch direkt die Szene zu erkennen und damit den Transfer zum oberen Panel zu leisten. Apg 28,1 berichtet in der griechischen Überlieferung vom Schiffbruch des Paulus auf Mɛʎíτη. Wenn auch schon früh in der lateinischen Exegese mit Melita Africana (Malta) hinterlegt, übersetzt Luther ohne weitere Zweifel mit Malta, eine Übersetzung, die die exegetische Tradition geprägt hat. Doch wir können die bibelexegetischen Kämpfe um antike Schifffahrtsrouten hier getrost den Theologen und Historikern überlassen; entscheidend ist, dass diese Erzählung aus der Apostelgeschichte zentrale Bedeutung im religiösen Kalender Maltas hat und mit einem eigenen Feiertag begangen wird. In der Luther-Übersetzung (1912) heißt es: »Und da wir gerettet waren, erfuhren wir, daß die Insel Melite hieß. Die Leutlein aber erzeigten uns nicht geringe Freundschaft, zündeten ein Feuer an und nahmen uns alle auf um des Regens, der über uns gekommen war, und um der Kälte willen.« Hierauf spielt Debono an. Von der Bibelerzählung ausgehend schlägt er einen Bogen zum Tourismus und hebt die sprichwörtliche Gastfreundschaft der Malteser hervor, kommt dann aber zu der vernichtenden Aussage: »I reminded one of my relatives of this story and compared the reception of the Africans to that of St. Paul. She would have none of it. ›But St. Paul was here for a while and left,‹ she said.« Damit bringt Sacco den Bericht mühelos zu den fremdenfeindlichen Äußerungen der maltesischen Bevölkerung zu Anfang des Textes zurück und unterstellt – durch Gegenüberstellung von graphischem Element und Text – eine gewisse Heuchelei, eine willfährige Lesart des biblischen Textes und dessen moderner kultureller Bedeutung. Auch narratologisch schließt sich ein Zirkel: Wo zu Anfang einer der Fischer den Bootsflüchtlingen Wasser und Lebensmittel gibt (in der Hoffnung, sie mögen es dann bis Sizilien schaffen), fasst die Verwandte Debonos die Erwartung, Flüchtlinge seien eben nur Gäste und sollten nicht bleiben, in sehr direkte Worte. Ich möchte Hillary Chute das letzte Wort überlassen: »The form of comics is traveling so fast across the globe, including springing up in countries where long traditions have not been active, because of its connection to expressing conflict and trauma; several powerful works now exist, for instance, about the Rwandan genocide.

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The immediacy of the drawn line, both for the maker and the viewer, communicates urgency, and suggests the intimacy – the embodiedness and the subjectivity – that the act of bearing witness to trauma unfurls. Lines on the page, in how they juxtapose time and space, convey the simultaneity of experience – the different competing registers – so often a feature of traumatic experience, such as the concomitant presence and absence of memory, consciousness, agency, and affect.« (Chute 2016: 262)

LITERATUR Bechdel, Alison (2006): Fun Home. A Family Tragicomic, London: Jonathan Cape. Berlatsky, Eric (2009): »Lost in the Gutter: Within and Between Frames in Narrative and Narrative Theory«, in: Narrative 17, 2, S. 162-187. Chute, Hillary L. (2016): Disaster Drawn. Visual Witness, Comics, and Documentary Form, Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press. Dong, Lan (2015): »Inside and Outside the Frame. Joe Sacco’s Safe Area Goražde«, in: Daniel Worden (Hg.), The Comics of Joe Sacco. Journalism in a Visual World, Jackson, MS: University Press of Mississippi, S. 39-53. Eisner, Will (1990): Comics and Sequential Art, expanded Edition, Tamarac, FL: Poorhouse Press. Eisner, Will (2006): A Contract with God. A Novel, New York, NY: W.W. Norton & Company. Gardner, Jared (2015): »Time under Siege«, in: Daniel Worden (Hg.), The Comics of Joe Sacco. Journalism in a Visual World, Jackson, MS: University Press of Mississippi, S. 21-38. Goffman, Erving (1986): Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience, Lebanon, NH: Northeastern University Press. Heinze, Michael (2015): »Queering the Frame – Graphic Storytelling and Frameworks of Cultural Identity«, in: Slavko Kacunko/Ellen Harlizius-Klück/Hans Körner (Hg.), Framings, Berlin: Logos, S. 445-457. Holland, Edward C. (2015): »Mapping Bosnia: Cartographic Representation in Joe Sacco’s Graphic Narratives«, in: Daniel Worden (Hg.), The Comics of Joe Sacco. Journalism in a Visual World, Jackson, MS: University Press of Mississippi, S. 85-100. Lefèvre, Pascal (2012): »Mise en scène and Framings: Visual Storytelling in Lone Wolf and Cub«, in: Matthew J. Smith/Randy Duncan (Hg.), Critical Approaches to Comics. Theories and Methods, New York, NY/London: Routledge, S. 71-83.

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Lutes, Jason (2001): Berlin. City of Stone. Book One, Montréal, Québec: Drawn & Quarterly. McCloud, Scott (1994): Understanding Comics. The Invisible Art, New York, NY: William Morrow. Macdonald, Isabel (2015): »Drawing on the Facts: Comics Journalism and the Critique of Objectivity«, in: Daniel Worden (Hg.), The Comics of Joe Sacco. Journalism in a Visual World, Jackson, MS: University Press of Mississippi, S. 54-66. Peeters, Benoît (2003): Lire la Bande Dessinée, Paris: Éditions Flammarion. Platthaus, Andreas (2008): Die 101 wichtigsten Fragen ‒ Comics und Manga, München: C.H. Beck. Sacco, Joe (2007): Safe Area Goražde, London: Jonathan Cape. Sacco, Joe (2012): Journalism, London: Jonathan Cape. Shay, Maureen (2015): »What Washes Up onto the Shore: Contamination and Containment in ›The Unwanted‹«, in: Daniel Worden (Hg.), The Comics of Joe Sacco. Journalism in a Visual World, Jackson, MS: University Press of Mississippi, S. 239-255. Tan, Shaun (2007): The Arrival, London: Hodder Children’s Books. Vågnes, Øyvind (2015): »John’s Story: Joe Sacco’s Depiction of ›Bare Life‹«, in: Daniel Worden (Hg.), The Comics of Joe Sacco. Journalism in a Visual World, Jackson, MS: University Press of Mississippi, S. 158-167. Worden, Daniel (Hg.) (2015): The Comics of Joe Sacco. Journalism in a Visual World, Jackson, MS: University Press of Mississippi.

»Wodurch werden wir zu dem, was wir sind?« Im Himmel ist Jahrmarkt von Birgit Weyhe – eine deutsche Familiengeschichte Susanne Brandt

Auf den ersten Blick erzählt Birgit Weyhe in ihrem 2013 erschienenen Comic Im Himmel ist Jahrmarkt über ihre Familie. In fünf Kapiteln schildert sie die Lebensläufe ihrer beiden Großmütter Marianne und Herta, der Großväter Edgar und Eduard und ihres Großonkels Carl Friedrich. Vorangestellt ist ein Kapitel, in dem Birgit Weyhe sich und ihre beiden Töchter vorstellt, denn die ältere Tochter Paula ist es, die als Hausaufgabe einen Stammbaum erstellen soll und sich hilfesuchend an die Mutter wendet. Der Versuch, Informationen über ihre verstorbenen Angehörigen zu finden, bildet den Ausgangspunkt für eine intensive Auseinandersetzung mit der Familie und der eigenen Person. Auf den zweiten Blick ist die Graphic Novel ein intensives Nachdenken über die deutsche Geschichte vom Kaiserreich über die beiden Weltkriege bis in die Gegenwart. Zwar stehen die fünf Biographien im Mittelpunkt, doch besondere Ereignisse wie die beiden Weltkriege werden faktengetreu und forschungsnah behandelt. In die Darstellung der historischen Ereignisse fließen Reflexionen über das Wesen der Konflikte, die Gesellschaft und die Rolle von Autoritäten ein. Die Geschichte der Familie ist von Gewalt geprägt, und das nicht nur in den Kriegsjahren. Die Protagonisten werden misshandelt, bedrängen und quälen aber auch ihre Mitmenschen. Und die zentrale Frage, die Weyhe sich und den Lesern stellt, lautet: »Wodurch werden wir zu dem, was wir sind?« (Weyhe 2013: 178) Dieser Aufsatz möchte der Darstellung von Gewalt und der Reflexion über die verschiedenen Formen von Nötigung, Verletzung, Demütigung und Aggression in Weyhes Comic nachspüren. Zur Analyse herangezogen werden Interviews und ihre anderen Werke, so sie für die Analyse wichtige Hinweise liefern. Bevor zwei Sequenzen ausführlicher analysiert werden, die Aufschluss darüber geben, wie die

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Autorin die Ursachen und Formen von Gewalt darstellt und reflektiert, werden die Arbeitsweise und der Stil von Birgit Weyhe vorgestellt.

FORSCHUNG IN UND MIT BILDERN Weyhe zählt sicherlich zu den herausragenden deutschen Comic-Autorinnen. 2016 wurde ihr Buch Madgermanes mit dem renommierten Max-und-MoritzPreis für den besten deutschsprachigen Comic ausgezeichnet. Ein Jahr zuvor hatte sie durch den Comicpreis der Berthold Leibinger Stiftung die Möglichkeit erhalten, ihr Projekt über mosambikanische Vertragsarbeiter in der DDR zu vollenden. Die 1969 in München geborene Autorin studierte an der Universität in Hamburg und in Konstanz Geschichte und Germanistik; nach dem Magisterstudium schloss sie einige Jahre später an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften das Studium der Illustration ab. Ihre Abschlussarbeit Ich weiß erschien 2008 im Verlag ihrer Professorin an der HAW, Anke Feuchtenberger, und noch einmal neun Jahre später in einer erweiterten Neuauflage im avant-verlag. In ihren Werken ist die doppelte Ausbildung allgegenwärtig: einerseits das Studium der Geschichte, die damit verbundene Recherchekompetenz, die kühle Distanz und Analysefähigkeit sowie das breite Wissen über Literatur und Erzählstrategien; andererseits die Auseinandersetzung mit Zeichenstilen und -techniken, mit Typographie und der Übersetzung von Inhalten oder Botschaften in Bilder. In einer Rezension im Jahr 2009 beschrieb Andreas Platthaus ihren Stil als Verbindung von europäischer Comic-Avantgarde mit afrikanischer Formensprache und schwärmte: »Das ist große Erzähl- und bei aller scheinbaren Schlichtheit der Linienführung auch große Bildkunst.« (Platthaus 2009) Ihr Stil ist unverwechselbar. Zunächst rein schwarz-weiß mit Tusche arbeitend, sind ihre Graphic Novels farbiger geworden: In Madgermanes erhielten die mosambikanischen Arbeiter eine zarte Hautfarbe. Weyhe wollte nicht in konventionellen Kontrasten verharren. Während die hellhäutigen Personen quasi ›leer‹ blieben, erhielt die Haut der Vertragsarbeiter einen goldenen Schimmer, der im Druck eher als Olivton erscheint (vgl. Kunz 2016). In dem Buch German Calendar – No December (2018), das Weyhe gemeinsam mit der nigerianischen Autorin Sylvia Ofili veröffentlicht hat, erhält ihre Hauptperson Olivia (Tochter eines Nigerianers und einer Deutschen) ebenfalls einen zartbraunen Hautton, außerdem kommen rot und grün als Farben hinzu. Von April 2017 bis Mai 2019 erschien monatlich in Der Tagesspiegel ein Comic unter dem Titel »Lebenslinien«. Auch hier arbeitete Weyhe mit jeweils einer Zusatzfarbe (vgl. Weyhe 2020).

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Sie beschäftigt sich mit historischen Prozessen, der deutschen Geschichte, schreibt Biographien (und immer wieder haben ihre Geschichten auch autobiographische Züge), sie setzt sich mit der Erinnerung auseinander und wirft einen Blick auf das Fremde. Bei der Annäherung an ein neues und unbekanntes Thema beginnt sie mit der Einarbeitung in die Literatur, dann folgt ein intensiver Rechercheprozess. An vielen Stellen kann der Leser erkennen oder zumindest erahnen, dass Fotos und andere Quellen oder Dokumente als Vorlagen dienten. So wird eine Zeitungsseite, die den Beginn der Mobilmachung im August 1914 verkündet (vgl. Weyhe 2013: 29), ebenso abgezeichnet wie Lebensmittelmarken (vgl. ebd.: 36), eine Plattenhülle der Sinfonie Nr. 7 von Schubert unter der Leitung von Karl Böhm (vgl. ebd.: 234), ein Plakat für das Oktoberfest im Jahr 1952 (vgl. ebd.: 145), eine Keksschachtel oder Autogrammkarten von Schauspielerinnen aus den zwanziger Jahren (vgl. ebd.: 229, 45). Die Germanistin Ursula Klingenböck spricht von »wiederzeichnen« (Klingenböck 2014: 132) und betont, dass Weyhe Fotografien, Seiten aus Fotoalben oder Dokumente auf diese Weise mit ihrer eigenen Präsenz überschreibt. Man könnte sagen, dass die Autorin mithilfe der historischen Vorlagen eine Kulisse schafft, vor der sie ihre Figuren glaubwürdig handeln lassen kann. Dem Leser erleichtern diese Details ebenso wie zeitgemäße Kleidungsstücke und Möbel die Annäherung an die Vergangenheit. Ihr Arbeitsprozess verläuft nicht linear vom Storyboard zur fertigen Reinzeichnung; meist schreibt sie einen kurzen Text – wie ein Gedicht – und zeichnet mit groben Strichen ein Storyboard, das nicht mehr als 15 Seiten umfasst. Dann zeichnet sie. Die Figuren entwickeln sich, so berichtet Weyhe in einem Interview, oftmals ganz anders, als sie ursprünglich geplant hatte (vgl. Weyhe zitiert nach Kunz 2016). Es gibt jedoch auch einige Panels, die auf historischen Bildern anderer Art fußen und in denen es um mehr als Stimmungen oder Details geht. Im Kapitel über Marianne wird das Ende des Ersten Weltkrieges behandelt. Die revolutionären Ereignisse im November 1918 werden unter anderem mit dem Bild des Sozialdemokraten Philipp Scheidemann erzählt, der am 9. November 1918 am Fenster des Reichstages die Republik ausrief (vgl. Weyhe 2013: 41). Weyhe zitiert Scheidemann: »Das alte und morsche [sic], die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die deutsche Republik!«1 (Ebd.) Hier scheint ihr der historische Moment, in dem sich neue Kräfte daran machten, die Gesellschaft von Grund auf zu ändern, so bedeutend zu sein, dass sie sich auf das historische Dokument stützt und kein eigenes Bild entwickelt. Das von ihr zitierte Foto ist, auch wenn es nachgestellt wurde, ein vielen Lesern sehr vertrautes Bild.

1

Die Ansprache ist in der Literatur in verschiedenen Versionen wiedergegeben, siehe hierzu: Jessen-Klingenberg 1968: 653ff.

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Wie das Wieder-Zeichnen in eine Interpretation mündet, macht das folgende Beispiel deutlich: Ein Panel gibt ein Bild von Hindenburg und Hitler wieder. Es ähnelt den Fotografien, die anlässlich der Feierlichkeiten zur Eröffnung des Reichstages am 21. März 1933 veröffentlicht wurden. Von den Nationalsozialisten wurde das Ereignis genutzt, den Reichspräsidenten und Weltkriegsgeneral und den Reichskanzler nebeneinander und eng verbunden als alte und neue Autorität zu inszenieren. Im Kontext des Kapitels über ihre Großmutter Marianne erhält das Bild aber eine andere Bedeutung, denn es fügt sich ein in eine Reihe von Panels, die den schleichenden Prozess der Machtübernahme der Nationalsozialisten darstellt. Marianne ignoriert die Plakate, die das Frauenbild der Demokratiefeinde zutage treten lassen; sie weist die Botschaft, dass es die Bestimmung der deutschen Frauen sei, Kinder zu gebären, weit von sich mit den Worten »So ein Schmarrn!« (Ebd.: 64) Das Panel, das den uniformierten und hoch dekorierten Hindenburg im Handschlag mit Adolf Hitler zeigt, steht neben einem Panel des brennenden Reichstages. »Doch der Schmarrn« – so der Text über den beiden Politikern – wird im folgenden Panel des brennenden Reichstagsgebäudes beendet mit den Worten: »wird 1933 zum blutigen Ernst« (ebd.). Birgit Weyhe arbeitet wissenschaftlich: schreiben und zeichnen sind ein Erkenntnisprozess, sie bewertet und gelangt zu eigenen Thesen und Urteilen. Es fehlen lediglich die Fußnoten.

FAKTEN UND FIKTIONEN Weyhe lotet das Feld zwischen Fakten und Fiktionen sorgfältig aus. Im ersten Kapitel des 2013 erschienenen Buches Im Himmel ist Jahrmarkt, das im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht, reflektiert sie ihre Arbeitsweise: In einem Panel ist ein Stück Strickgewebe zu sehen, mit einer rechteckigen Lücke in der Mitte. Eine Nähnadel mit einem Faden verbindet die offenen Maschen der unteren mit denen der oberen Reihe und schließt auf diese Weise das Loch. So versteht Weyhe ihre Arbeit: Wenn sie trotz sorgfältiger Recherche und Zeitzeugeninterviews keine Quellen findet, muss sie selbst das Loch stopfen. Das verschweigt sie dem Leser nicht: Unmittelbar über dem eben beschriebenen Panel ist sie an ihrem Schreibtisch zu sehen. Der Leser schaut ihr über die Schulter, er sieht Fotos und Zeichnungen an der Wand und auf dem großen Arbeitstisch Entwürfe, Tusche, Federn, Pinsel und Stifte. Insgesamt acht Panels sind in diesem Zusammenhang ihrer Arbeitsweise gewidmet. »Warum weißt Du denn nix, Mama?!« (ebd.: 15), fragt die Tochter mit zusammengezogenen Augenbrauen. Brigit Weyhe, ihre Hand auf dem

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Unterarm der Tochter, antwortet resigniert: »Tja…« (ebd.). In den folgenden Panels schildert die Künstlerin: »Also habe ich die verbliebenen Verwandten besucht. Mir Geschichten und Anekdoten angehört. Fotos und Unterlagen bekommen. Den Rest dazu erfunden. [Hierauf folgt das Panel, auf dem ein Foto von Marianne und Herta zu sehen ist, in Gedanken bilden sie sich ein Urteil über die andere: Arrogante Berliner Ziege… Oller Bayerntrampel.] Und die Lücke mit dem vorliegenden Buch gefüllt.« (Ebd.) Das letzte Panel dieses Prologs ist eine verkleinerte Zeichnung des Titelbilds, neben dem Buch liegen ein Bleistift, ein Pinsel, eine Feder und ein Spitzer (vgl. ebd. 15f.). Das Panel, das sie am Schreibtisch zeigt, trägt die Worte: »Den Rest dazu erfunden.« (Ebd.: 16) Weyhe lässt also keinen Zweifel daran, dass sie die Erfinderin ist. Das wird man wohl als Fiktion bezeichnen müssen. Auf der anderen Seite kann es sich so zugetragen haben, wie im Comic erzählt. Woher soll Weyhe wissen und wie sollte sie recherchieren können, was ihre Großmütter Marianne und Herta voneinander dachten: »Arrogante Berliner Ziege«, »Oller Bayerntrampel« (ebd.: 16)? Weyhe weiß allerdings, wie unterschiedlich die beiden waren und kann einige Reaktionen ableiten. Sie schafft auf der Basis ihrer eigenen Erfahrungen eine fiktionalisierte Charakterisierung. Für viele Ereignisse gibt es keine Quellen, aber indem Weyhe das umgrenzende Gewebe beschreibt und analysiert, lassen sich Aussagen treffen, die zwar nicht belegt sind, sich aber durchaus so zugetragen haben könnten. Dieses Verflechten von Fakten sowie Quellen und Erdachtem wird von Birgit Weyhe reflektiert und auch in anderen Comics offengelegt: »Die hier erzählten Geschichten sind autobiographisch und fiktiv zugleich.« (Weyhe 2017: 250) Noch deutlicher behandelt sie diesen Aspekt in Madgermanes: Eine Seite ist überschrieben mit: »Ich danke allen Gesprächspartnern für ihre Geduld und Kooperation« (Weyhe 2016: 17). Zwei Drittel der Seite nimmt ein Panel ohne Umrandung ein. Im Vordergrund sind fünf Personen zu sehen, hinter ihnen als Schatten weitere. Sowohl die fünf Personen im Vordergrund als auch die Schattenfiguren haben Sprechblasen, die nach unten reichen. In den Sprechblasen der fünf Akteure in der ersten Reihe sind Auszüge aus ihren Berichten zu lesen; die Sprechblasen der Schatten liegen dahinter, werden zum Teil verdeckt und sind farblich blasser. In dem darunterliegenden Panel, das die gesamte Breite der Seite einnimmt und umrandet ist, sind drei Personen dargestellt. Darüber ist zu lesen: »Ihre Geschichten sind eingeflossen in die Figuren von« (ebd.), und unter dem Panel sind unterhalb der Personen, die nicht mit denen aus dem oberen Bild übereinstimmen, die Namen José, Basilio und Anabella gesetzt. Den Hintergrund des Panels bildet ein knäuelförmiges Gebilde, das an die Spuren eines nassen Schwamms auf einer Tafel erinnert oder an einen groben Pinselstrich. Birgit Weyhe macht deutlich, dass die Zeitzeugenberichte ihrer Geschichte als Grundlage dienen. Ihre

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Quellen sind noch nicht von dem Rahmen eines Panels begrenzt, die Figuren reichen über den Seitenrand hinaus. Weil sie sich für die Erzählung auf wenige Figuren konzentrieren wollte (nicht zuletzt, um den Leser nicht mit einer Fülle parallel verlaufender Erzählstränge zu überfordern), hat sie die relevanten Erlebnisse und Meinungen in drei Personen ›gefüllt‹, die in dieser Form fiktiv sind. Der Hintergrund des Panels, der sowohl das Auslöschen, aber auch das Malen mit einem Pinsel darstellen kann, bildet die Arbeitsweise der Autorin ab. Weyhe unterstreicht im Comic ihre Glaubwürdigkeit, indem sie sich als sorgfältig recherchierende Person präsentiert, die Zeitzeugen aufgesucht und befragt hat. Zusätzliche Autorität erlangt sie, weil sie betont, dass sie auf die Geschichte der Vertragsarbeiter, die in der historischen DDR-Forschung kaum berücksichtigt werden, bei einem Besuch ihres Bruders in Mosambik gestoßen sei. Durch den Hinweis auf die familiären Bande und die eigene Migrationserfahrung präsentiert sie sich als eine mit dem Land und dem Schicksal ihrer Gesprächspartner vertraute Autorin, sie gibt ihnen eine Stimme und macht sie sichtbar (vgl. Schmid 2019: 107, 109). In einem der wenigen wissenschaftlichen Texte, die sich mit Weyhes Comics auseinandersetzen, betont der Verfasser Johannes Schmid: »From the very beginning, her position as the author is authenticated by the inclusion of particularly subjective experiences as part of the migration experience.« (Ebd.: 109) Er bezeichnet Madgermanes als »fictionalized documentary« (ebd.) (eine Beschreibung, die man zweifellos auch auf Im Himmel ist Jahrmarkt anwenden kann). Weyhe ist in seinen Augen eine erfahrene Kultur-Übersetzerin (vgl. ebd.: 107): »the reader is made aware from the very beginning that the narrative, though fictionalized, is based on actual experiences for which fiction is only the lingua franca that will allow them to be easily communicated.« (Ebd.: 111) Einen zusätzlichen Twist bekommt das Thema von Fakten und Fiktionen durch Persönlichkeitsrechte und Copyright. Um Streitigkeiten auszuschließen, findet sich am Ende dieser Graphic Novel der Hinweis, dass alle Personen frei erfunden seien, und jede Ähnlichkeit zufällig und nicht beabsichtigt (vgl. Weyhe 2016: K.A.). Und auch in dem Werk Im Himmel ist Jahrmarkt muss Weyhe fiktionalisieren. Zwar hat sie sich intensiv mit der Geschichte ihrer Familie beschäftigt, Fotoalben durchblättert und noch lebende Verwandte befragt. Aber sie habe zu viele Lücken vorgefunden: »Der Klassiker, zu spät gefragt, als schon alle tot waren. Und da musste ich bei der Familie väterlicherseits 70% erfinden, weil mein Vater in den 70er Jahren, linksradikal wie er war, alles verbrannt hat, was er von der Familie hatte, und da gibt es gar nichts. Für mich war das wie eine Gegenbewegung: Du hast alles verwischt, den Cut gemacht. Ich bau das jetzt wieder zusammen.« (Weyhe zitiert nach Wegmann 2017)

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LEBENSBESCHREIBUNGEN UND AUTOBIOGRAPHIE Doch nicht nur die Historikerin ist hier bei der Arbeit. Im ersten Kapitel von Im Himmel ist Jahrmarkt berichtet Weyhe vom Impuls für die Beschäftigung mit der Familiengeschichte. Ihre ältere Tochter soll einen Familienstammbaum zeichnen. Als sie ihre Mutter um Unterstützung bittet, merkt die Autorin im Buch schnell, wie wenig sie weiß. In einem Panel drehen sich drei Birgit Weyhes – immer zu erkennen an einem gestreiften T-Shirt – im Kreis, die Augen verbunden wie bei einem Blinde-Kuh-Spiel (vgl. Weyhe 2013: 11). Sie blättert in einem Fotoalbum, doch die Beschreibungen neben den Fotos stiften noch mehr Verwirrung: wer sind die Personen, ist »Usa« die auf dem Foto verewigte Frau – oder die Katze, die sie im Arm hält (vgl. ebd.: 9)? Namen von Städten und Verwandtschaftsbezeichnungen schwirren als ein Gewirr aus gepunkteten Linien neben der nachdenklich blickenden Weyhe beim Betrachten eines Fotoalbums umher (vgl. ebd.: 8). In ihren Comics weisen solche Linien oft auf Unsicherheit hin: leere Sprechblasen aus gepunkteten Linien stehen für Sprachlosigkeit, Menschen, die in dieser Weise unterbrochen gezeichnet sind, sind unsicher, verängstigt oder unbekannt (vgl. ebd.: 8, 62, 77, 108, 110, 151). »Beim Betrachten der Bilder überkam mich ein leises Bedauern, sie zu Lebzeiten so wenig gefragt zu haben.« (Ebd.: 8) Weyhe, die virtuos mit den Gegensätzen schwarz und weiß und den Polen positiv und negativ spielt, trägt die trennende Aussparung auch in die Panels. Es wird immer wieder hervorgehoben, dass das Besondere an der Panelstruktur in Comics das Weiße, die Lücke zwischen den Bildern sei, die den Leser zwinge – oder ihm erlaube – die Geschichte in den Zwischenräumen selbst weiterzuerzählen. Die gepunkteten Linien können als Miniaturlücken gesehen werden. Sie machen eine Person schattenhaft, fragil, ein Windhauch könnte die Sandkörner, die im Moment eine Linie bilden, verwehen. Auch bei der Charakterisierung einer Person, bei der Lokalisierung eines Ortes oder dem Nachempfinden eines Gefühls muss der Leser der Comics von Birgit Weyhe mitwirken, und zwar ständig, auch im Panel und nicht nur von Bild zu Bild. Die Rekonstruktion der Familiengeschichte ist mehr als eine herausfordernde Schulaufgabe. In einem seitenbreiten Panel bewegt sich ein großer Schaufelradbagger auf eine Klippe zu. Oben steht eine kleine Figur: »Die Abbruchkante der Familienerinnerung war unversehens näher gerückt.« (Ebd.: 9) Die Erforschung der eigenen Familiengeschichte wird zu etwas Existenziellem, das betont Weyhe auch in einem Interview: »Ich glaube, das kommt aus der Verunsicherung, aus meiner eigenen Biographie. Ich hab‘ meinen Vater und die eine Oma sehr selten gesehen, und sie sind beide früh gestorben. Und ich dachte, wenn ich nicht weiß,

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wer die sind, woher soll ich wissen, wer ich bin.« (Weyhe zitiert nach Wegmann 2017) Birgit Weyhe hat die Kindheit unter anderem in Uganda und Kenia verbracht, 16-mal ist sie mit ihrer Mutter umgezogen, bevor sie 1988 im Alter von 19 Jahren zurück nach Deutschland kam, zunächst mit der Absicht, sich in München an der Kunstakademie zu bewerben. In Ich weiß blickt Weyhe in der Geschichte »Hotel 77« auf ihre Kindheit zurück. Im Jahr 1978 zog die Familie für ein knappes Jahr auf die Seychellen, heißt es im Panel, das ein kleines Mädchen im geblümten Kleid zeigt, das graziös mit langen, dünnen Beinen einen riesengroßen Schritt von einem schwarzen Feld (Uganda) in ein weißes Feld macht. Die Schuhspitzen des lächelnden Mädchens treten auf ein paar Klekse, die als Inseln gedeutet werden können. Doch so spielerisch, wie es ihr zu gelingen scheint, die große Distanz zu überwinden, bleibt es nicht. Das darunterliegende Panel zeigt einen Strand mit Felsen und einem Baum (auf jeder Seite sind jeweils zwei Panels, die die Hälfte der Seite einnehmen) (vgl. Weyhe 2017: 95). Das folgende Bild zeigt die Hauptinsel Mahé, auf der Birgit mit ihrer Familie lebte. Das Meer ist dunkel, ebenso wie die Felsen; Palmen vermitteln ein tropisches Flair. »Zunächst war ich über den Umzug erfreut« (ebd.: 96), heißt es in dem darunterliegenden Panel, in dem Weyhe sehr detailgenau und zart verschiedene Muscheln und Schneckenhäuser abbildet, wie in einer Vitrine in einem Naturkundemuseum (vgl. ebd.). Das folgende Panel auf der rechten Seite oben zeigt Kopf und Schultern der jungen Birgit, sie blickt den Zuschauer an, ihr Mund ist als gepunktete Umrisslinie zu erkennen. Sie ist umgeben von leeren Sprechblasen, die ebenfalls aus gepunkteten Linien gebildet sind. »Doch bald litt ich unter meiner Sprachlosigkeit.« (Ebd.: 97) Die Erfahrung mit der Gewalt, die in Uganda unter Idi Amin herrschte, hat das Kind geprägt. In »Pharao« erzählt Birgit Weyhe, dass sie als Kind, nachdem sie eines Nachmittags aus Langeweile fremde Menschen angerufen und mit deutschen Schimpfworten bedacht hatte, glaubte, den Diktator Idi Amin beleidigt zu haben. Viele Stunden, bis zur Heimkehr der Mutter, glaubte sie, nun zur Strafe sterben zu müssen. »Dass Idi Amin Leute erschießt, die böse Sachen über ihn sagen, wusste ich schon.« (Ebd.: 133) Ein Panel auf derselben Seite zeigt den Umriss eines Schulbusses, der über Erde fährt, die voller Totenschädel steckt. Ein sehr ähnliches Panel findet sich auch in dem Kapitel über Marianne. Als im November 1918 der Erste Weltkrieg beendet ist, ziehen Kinder in einem Martinsumzug. Sie sind warm gekleidet, und der Schein der Laternen erhellt ihre lachenden Gesichter. Auch sie gehen über einen Erdboden, der durchsetzt ist von Totenschädeln (vgl. Weyhe 2013: 38). Die Brutalität des Krieges, auf die die Kinder in den vorangegangenen Jahren schon einen Blick erhascht hatten, droht jederzeit an die Ober-

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fläche zu drängen. Weyhe gelingt eine dichte, abstrakte und weitreichende Deutung des Einflusses, den der weltumspannende Konflikt auf die Generation derjenigen nehmen sollte, die im November 1918 Kinder waren – wie Marianne und ihre Schwester. Abbildung 1: Weyhe 2013: 38

Quelle: avant-verlag 2013

In der Geschichte »Chamäleon« erzählt Weyhe, dass im Garten der Grundschule ein Baum stand, in dem mehrmals im Jahr viele Chamäleons zu sehen waren. Die Kinder pflücken die Tiere vom Baum und setzen sie auf ihre Arme. Als sie von der Lehrerin erfahren, dass die Tiere die Farbe wechseln, um sich zu tarnen, setzen die Kinder die Chamäleons in rascher Folge auf viele farbige und gemusterte Untergründe. Sie merken, dass die Fähigkeit der Tiere begrenzt ist, denn sie können längst nicht alle Farben und erst recht keine Muster nachbilden. Und plötzlich verfärben sich die Echsen schwarz und bleiben so. »Meins ist kaputt!« (Weyhe 2017: 21) sagt ein Mädchen. Heute wisse sie, so heißt es in einem der folgenden Panels,

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dass die Schwarzfärbung ein Zeichen der Unterwerfung sei. In diesem Panel tragen vier Hasen mit langen Ohren aufrecht gehend eine Bahre, auf der ein schwarzes Chamäleon liegt (vgl. ebd.: 24). Immer wieder finden sich bei Weyhe Bilder, die widerspiegeln, wie die kindliche Naivität buchstäblich zu Grabe getragen wird. Diese Geschichte kann auch als Parabel gedeutet werden, wie sich Weyhe als Kind gefühlt hat, wenn sie sich immer wieder an neue Orte anpassen musste. Sie ließ viel zurück, wie das Panel zeigt, in dem eine Kiste mit Spielsachen zu sehen ist und ein Zettel »zu verschenken« (ebd.: 9). In Im Himmel ist Jahrmarkt gibt es in dem Kapitel über die Hutmacherin Marianne ein ganzseitiges Panel, das ein Chamäleon zeigt. Oder richtiger, eine Kundin, Frau Unteranger, die einen Hut im Salon gekauft hat, der von der jüdischen Angestellten Elsa angefertigt wurde. Die Figur ist eindeutig ein Mischwesen aus Chamäleon und Frau. Aufrecht gehend, mit Hut, Handtasche und einer Brosche mit einem Hakenkreuz, die Reptilienaugen zu schmalen Schlitzen verschlossen. Den langen Federn des eleganten Hutes entströmen gestrichelte Linien, die sich zu flammenartigen Gebilden formen. Aus dem Mund der Figur werden Punkte und kleine u-förmige Linien ausgestoßen. Weyhe interpretiert, dass sich die deutsche Gesellschaft dem Nationalsozialismus angepasst habe wie ein Chamäleon – das in diesem Panel schon fast schwarz ist, bis auf ein paar weiße Tupfen. »Doch es werden immer mehr« (Weyhe 2013: 66), heißt es am Fuß des Panels. Die Mitläufer werden von Weyhe nicht entschuldigt, denn ihre Kapitulation und Anpassung wird kontrastiert mit dem nonkonformistischen Verhalten von Marianne, die eine Jüdin bei sich beschäftigt, ihr 1938 bei der Flucht hilft und nach dem Kriegsende vergeblich versucht, Elsa wiederzufinden. Das Kind Birgit, das mehrfach umziehen muss, ist einem Stress ausgesetzt, der dem eines Chamäleons entspricht, das sich immer wieder anzupassen versucht – und sich schließlich schwarz färbt. Das schildert Weyhe auch in Interviews: »Als ich nach Deutschland kam, war ich kulturell nicht sattelfest. Ich wusste nicht, was ich anziehen sollte, was für Musik hörte man, was für Filme sah man. Also sowohl kulturell fehlte mir der Kontext, weil ich woanders aufgewachsen war, als auch das familiäre Wissen. Das hat zu einer immensen Verunsicherung geführt, und dazu, es mir selbst herzuleiten oder zu erfinden.« (Weyhe zitiert nach Wegmann 2017)

Als Weyhe die Interviews mit den Vertragsarbeitern aus Mosambik führte, fiel ihr auf, dass es ihr ähnlich wie ihren Gesprächspartnern ging: Man fällt ein wenig zwischen die Kulturen, wenn man den eigenen kulturellen Kontext verlässt, erklärte sie 2016 in einem Interview (vgl. Weyhe zitiert nach Kunz 2016).

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IM HIMMEL IST JAHRMARKT – LEBENS-BILDER Fünf Kapitel sind in Im Himmel ist Jahrmarkt den Großeltern und einem Großonkel gewidmet. Auf dem Cover sind fünf gezeichnete Fotografien aus verschiedenen Epochen zu sehen. Das größte Bild ist ein Familienfoto anlässlich einer Taufe; vier Personen sind farbig, die anderen schwarz-weiß gestaltet. Es handelt sich um die vier Hauptpersonen: Marianne, Herta, Edgar und Carl Friedrich. Die fünfte Person, Eduard (Birgit Weyhes Großvater väterlicherseits) ist nicht auf dem Bild zu sehen, er ist aus dem Leben der Familie ausgeschieden (vgl. Klingenböck 2014: 129). In diesem Fall ist der Unsichtbare nicht zu erkennen. Weyhe findet verschiedene Wege, das nicht Sichtbare darzustellen. Wie bereits erwähnt, zeichnet sie gestrichelte Linien, um Unsicherheit oder Angst abzubilden. Es gibt auch Panels, in denen Personen aus gezeichneten Fotos quasi ausgeschnitten sind, das heißt, hier ist nur eine Art weißer Scherenschnitt zu sehen. Die Künstlerin zeigt auf diese Weise, dass sie über die auf einem Foto abgebildete Person nichts in Erfahrung bringen konnte (vgl. Weyhe 2013: 11). Das Cover verweist auch darauf, welche Bedeutung Fotografien haben: Sie bieten Weyhe in Alben den ersten Zugang zu ihren Angehörigen, haben fast so etwas wie Beweisfunktion – zugleich jedoch, darauf habe ich bereits hingewiesen – stiften sie als Quelle Verwirrung, etwa, wenn Weyhe nicht ermitteln konnte, wer auf den Fotografien abgebildet ist. Jedes der fünf Kapitel beginnt mit zwei ganzseitigen Panels. Die erste, jeweils rechte Seite, ist schwarzgrundig, wie der Karton eines Fotoalbums, und überschrieben mit dem Namen sowie dem Geburts- und Todesjahr des Familienmitglieds. Weyhe wählt eine zur Person passende Schriftart: Großmutter Marianne, die sensible Hutmacherin aus München, wird mit einer an Jugendstil und Art Déco angelehnten Schrift charakterisiert, Großonkel Carl Friedrich, Soldat in beiden Weltkriegen, mit einer frakturähnlichen Schrift. Auf der ebenfalls schwarzen Rückseite ist für jede Person mit weißer Schrift der Ausschnitt aus dem gesamten Stammbaum gezeichnet. Der ist jedoch etwas unübersichtlich und spiegelt mit krakeligen Linien, Pfeilen, Durchstreichungen und Fragezeichen wider, wie schwierig der Prozess war, auch nur einfache Informationen wie Daten oder Namen in dem Stammbaum zu vermerken. Er ist weit entfernt von der Vorlage, welche die Tochter in der Schule erhalten hat (vgl. ebd.: 12, 14). Am Fuß jedes Stammbaums jedoch steht klar und solide: *1995 Paula Weyhe – Mira Weyhe *2000.

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Abbildung 2: Weyhe 2013: 158

Quelle: avant-verlag 2013

Die Kapitel der Großmütter Marianne und Herta sind 73 bzw. 58 Seiten stark, Onkel Carl Friedrichs Lebensgeschichte umfasst 63, Großvater Edgars Kapitel 39 Seiten. Und am Schluss mit mageren neun Seiten steht Eduard, der Vater ihres Vaters Michael. Die fünf Lebensgeschichten werden unterschiedlich inszeniert: Mariannes Leben wird noch am ehesten wie eine klassische Biographie chronologisch von der Kindheit bis zum Tod erzählt, im Mittelpunkt stehen einschneidende Ereignisse, die von identitätsbildender Bedeutung sind (vgl. Klingenböck 2014:

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139f.). Ähnlich verhält es sich mit Hertas Biographie, sie beginnt im Jahr 1922, als sie neun Jahre alt ist, und zeigt sie zuletzt als alte Frau. Carl Friedrichs Lebenserzählung ist nicht linear, er wird dem Leser erstmals vorgestellt, als er bereits 76 Jahre alt ist. Im Jahr 1975 verlebt Birgit Weyhe ein paar Wochen bei den Großeltern, und ihr Großonkel begegnet ihr mit großer Härte. Dann erst erfolgt ein Rückblick auf seine Jugend. Viel radikaler wird das Leben von Edgar behandelt, sein Kapitel umfasst nur einen einzigen Tag im Jahr 1967. Und das ohnehin kurze Kapitel über Eduard währt nur wenige Stunden (vgl. ebd.: 140). Diese Ausschnitthaftigkeit, darauf weist Ursula Klingenböck hin, mag dem Material, das Weyhe recherchieren konnte, geschuldet sein, sie spiegele aber auch die Unsicherheit (post)moderner Subjektkonstitution wider, wie sie für das aktuelle Life Writing kennzeichnend sei: Das biographierte Subjekt scheint lediglich für begrenzte Zeiträume und damit nur vorübergehend konturierbar (vgl. ebd.). Birgit Weyhe konzentriert sich in ihren Biographien nicht auf Erfolg oder Leistung ihrer Protagonisten. Weder Herta, Edgar, Carl Friedrich noch Eduard sind – wie oftmals bei klassischen Biographien – Vorbilder für den Leser. Die aneinandergereihten Lebensgeschichten von Familienmitgliedern sind in Kapiteln streng voneinander getrennt, das zeigen auch schon die aus dem großen Familienstammbaum quasi herausgelösten Linien der im entsprechenden Kapitel behandelten Person. »Der Verzicht auf eine geschlossene Rahmung, die Zurückweisung eines chronologischen (oder auch anderen) Systems auf Makroebene – die Einzelbiographien könn(t)en jede für sich und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden – bewirken eine lockere, der Prosopographie ähnliche Struktur des [Comics, S.B.] und rücken ihn tendenziell in die Nähe der Anti-Biographie im Sinne von David E. Nye’s historischer Semiotik. In der Partialisierung verweigern Weyhes Biographics die für die Poetik der Gruppenbiographie konstitutive Synthese zumindest strukturell.« (Ebd.: 138)

Besonders am Herzen liegen Birgit ihre Großmutter väterlicherseits, Marianne, und der Großvater mütterlicherseits, Edgar. Sie haben sich um das Kind Birgit liebevoll gekümmert, haben mit ihr gelesen und gespielt, sie unterstützt und ihr Freiraum gelassen. Herta und Carl Friedrich hingegen haben das Kind Birgit verletzt, als sie bunte Aufkleber, mit denen die Schulanfängerin ihren ersten Tornister beklebt hatte, abkratzten. Diese Episode wird zu Beginn des vierten Kapitels, das Carl Friedrich gewidmet ist, erzählt. Als das Kind den Großonkel nach dem Grund fragt, antwortet er: »Damit Du lernst zu gehorchen!« (Weyhe 2013: 174) Als Schriftart für seine Worte hat Weyhe Fraktur gewählt. Er ist in dem Panel vor Wut dermaßen außer Fassung geraten, dass selbst das Zopfmuster des Strickpullovers

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vibriert und aus der Umrisslinie des Kleidungsstückes herausbricht. Als der Großvater Edgar fragt, »Wie konntest Du das tun, Ititi?« (ebd.) erklärt der Bruder – im folgenden Panel wieder zu Knaben werdend – : »Es ist nur zu ihrem Besten!« (Ebd.) Als hätte allein dieser Vorfall die Sechsjährige nicht schon stark getroffen – »Ich war untröstlich« (ebd.: 173) –, stirbt Edgar kurze Zeit später. Birgit hat ihn nach ihrer Heimreise nicht wiedergesehen, und sie ist überzeugt, dass Carl Friedrich für den Tod des geliebten Großvaters verantwortlich sei. Ein ganzseitiges Panel am Ende dieser Sequenz formuliert das, was als Leitfrage des Buches gelesen werden kann: »Wodurch werden wir zu dem, was wir sind?« (Ebd.: 178) Auf den folgenden Seiten bietet die Autorin eine Antwort: Carl Friedrich, der als Kind die Kleider seiner verstorbenen Schwester tragen musste und gerne mit Puppen spielte, wird von seinem Vater, einem Oberstabsarzt, verprügelt, weil er als zu schwächlich gilt. Als der Vater stirbt, gibt Carl Friedrich sich die Schuld und versucht von nun an, so zu sein, wie es dem Vater gefallen hätte. Aus diesem Grund stürzt er sich in hartes sportliches Training und wird, wie der große Bruder Edgar, Soldat. Am Ende seines Kapitels steht eine schwarzgrundige Seite mit fünf Fotos, die ihn zwischen 1916 und 1939 zeigen, stets in Uniform. Die zweite Hälfte des Kapitels kann als Versöhnung Weyhes mit dem Großonkel verstanden werden. Zwar verzeiht sie nicht die Gewalt gegenüber dem Kind Birgit, aber die Auseinandersetzung der Historikerin mit dem Kaiserreich, den beiden Weltkriegen und der nationalsozialistischen Diktatur ermöglicht ihr, den Großonkel als von einer autoritären Gesellschaft sozialisiert zu verstehen. Carl Friedrich verarbeitete die eigenen Erfahrungen, indem er die väterlichen Werte und Rollenmuster übernahm, statt mit ihnen zu brechen. Er wählte als Kind den Weg, nach der Anerkennung des Vaters zu streben. Daran erinnert das eben beschriebene Panel der beiden Brüder, in dem der jüngere Ititi als Knabe (wenn nicht gar als Puppenkopf) gezeichnet ist. Noch als Erwachsener ist er überzeugt, dass sein Verhalten zum Besten des Kindes sei. Auch mit Herta versöhnt sich die forschende, zeichnende und die Lebensgeschichten konstruierende Birgit: Herta, eine lebenslustige junge Frau aus einer wohlhabenden Familie, wird von den Eltern gezwungen, einen Mann, in den sie sich verliebt hatte, aufzugeben. Die Eltern drohen ihr, jegliche finanzielle Unterstützung aufzugeben, wenn sie bei dem Geliebten bliebe. Herta unterwirft sich und kehrt ins Elternhaus zurück, doch sie hasst sich und die Eltern für diese Demütigung. In ihrer späteren Ehe mit Edgar ist sie zunächst glücklich, sie ist beruflich erfolgreich und bekommt zwei Kinder. Doch Untreue und Betrug des Ehemannes machen Herta zu einer bissigen Frau, im Comic wird sie wiederholt mit spitzen Reißzähnen gezeigt, als Drache mit scharfen Krallen, als rasend wütende Furie (vgl. ebd.: 125, 226, 233). Der Ehemann Edgar verstirbt 1976, Herta lebt noch fast

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30 Jahre ohne ihn. Das letzte großformatige Panel in ihrem Kapitel zeigt Herta, in eine Decke eingehüllt in einem Sessel, auf einem zierlichen Tischchen stehen eine Kaffeetasse und ein Aschenbecher. Der Qualm der Zigarette fließt über das Panel in den schwarzen Grund dieser Seite. Herta, das zeigen die letzten Panels, hat Edgar nie verziehen, dass er sie mit anderen Frauen betrogen und ihre Schmuckstücke versetzt hat. Sie gibt allerdings gegenüber der kleinen Birgit zu, ihren ersten Ehemann mehrfach betrogen zu haben. Noch Jahre nach Edgars Tod sitzt sie in dem Sessel und stößt heftig den Rauch aus: »Pfff, die große Liebe! Und im Himmel ist Jahrmarkt…!« (Ebd.: 154) An die Liebe glaubt Herta nicht mehr, weil sie ihr von den Eltern verboten wurde, weil sie selbst untreu war und hintergangen wurde. Auch hier analysiert die Autorin mit psychologischem Geschick den Zusammenhang von Wut und Selbsthass. Und am Schluss, auf dieser letzten Seite des Kapitels, erklärt Weyhe in großen Buchstaben, die sich aus dem Zigarettenqualm entwickeln: »Sie ist darüber bitter geworden« (ebd.). Auch hier zeigt sich die Künstlerin als Historikerin und Erzählerin, die die Lebensgeschichte rekonstruiert und sich in dem Reflexionsprozess mit der Großmutter versöhnen kann (siehe Abbildung 3). Außerdem wird aus diesem Ausspruch, der die große Liebe als laute und grellbunte Illusion ausmalt, der Titel ihres Buches. Liebe erfahren und geben die Protagonisten nur in sehr begrenztem Maß. Als liebevoll wird das Verhältnis von Marianne und ihrem Sohn Michael gezeigt, wie auch die Beziehung von Birgit zu Marianne und zu ihrer Mutter, selbst wenn diese im Comic nicht ins Bild kommt. Tiefe Liebe und Fürsorge spürt der Leser bei der Autorin gegenüber ihren Kindern, denen das Buch gewidmet ist. Ein etwa vier mal vier cm großes Bild auf der Seite vor Beginn des ersten Kapitels zeigt die beiden Töchter, lächelnd, mit strubbeligen Haaren, auf einer Fensterbank sitzend, im Schlafanzug, die nackten Füße auf dem Heizkörper. Über dem Panel, rechts oben (und damit über der größeren Tochter) steht »Für Paula« und links unten »und Mira«. Verletzlichkeit, Wärme, Sicherheit und Liebe sind die Assoziationen, die sich bei diesem kleinen und frei auf der Seite stehenden Bild einstellen.

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Abbildung 3: Weyhe 2013: 154

Quelle: avant verlag 2013

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ABTREIBUNG UND KIRCHE Das gewalttätige 20. Jahrhundert kann nicht ohne den Einfluss der Kirche beschrieben werden. Vor allem Marianne, die 1908 geborene Hutmacherin, bekommt zu spüren, wie brutal die Nonnen in der Schule auf jeden Ausdruck von Individualität und Selbstbewusstsein reagieren. Ein Streich – Marianne hat im strengen Winter für die Skulptur der Jungfrau Maria im Klassenzimmer eine Mütze gestrickt – wird mit Prügel geahndet. Schon dem Kind wird mit der Hölle gedroht. Als Marianne als junge Frau, die gerade ihren eigenen Hut-Salon eröffnet hat, schwanger wird, trennt sie sich von ihrem Liebhaber und entschließt sich zu einer Abtreibung. Doch für den Rest ihres Lebens wird sie von Albträumen gepeinigt. Nicht nur das getötete Kind verursacht ihr ein schlechtes Gewissen, auch die Angst vor dem Fegefeuer hat sich tief eingegraben, sodass sie – obwohl schwer erkrankt und leidend – am Lebensende Angst vor dem Tod hat. Erst ein Gespräch mit ihrem Sohn Michael (Birgit Weyhes Vater), der ihr verspricht, dass es kein Fegefeuer gebe, erlöst sie (vgl. ebd.: 90f.). Birgit Weyhe stellt die Abtreibung, die Albträume und das erlösende Gespräch mit dem Sohn in Panels dar, die zum Teil einen sehr hohen Abstraktionsgrad haben. Zu Beginn der Sequenz zeigt ein ganzseitiges Bild einen jungen toten Vogel auf schwarzem Grund. Er liegt wie für eine Sektion ausgebreitet, sein Köpfchen ist zur rechten Seite gedreht und der gesamte Körper ist mit einem Schnitt geöffnet. Die Eingeweide sind herausgefallen, sie ergießen sich aus dem Körper zwischen den Füßen fast wie eine Blüte. Im Brustkorb ist das kleine, mit Adern durchzogene Herz zu sehen (vgl. ebd.: 61). In den Arbeiten von Birgit Weyhe finden sich immer wieder detailgenaue Darstellungen von Pflanzen, Tieren, Knochen, Muscheln oder Stöcken. Mit einem sezierenden und genau beobachtenden Blick zeichnet sie die Objekte – sie können sowohl heitere und angenehme Stimmung erzeugen als auch, wie ein vom Schädel getrennter Unterkieferknochen, die Gewaltsamkeit der Kriegshandlungen symbolisieren. In diesen naturwissenschaftlichen Abbildungen bewertet die Künstlerin nicht; das Gefühl stellt sich – je nach Persönlichkeit – erst beim Leser ein.

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Abbildung 4: Weyhe 2013: 29

Quelle: avant-verlag 2013

Auf der folgenden Seite stellt Weyhe die Abtreibung in drei gleichgroßen, seitenbreiten Panels dar. Im oberen Bild ist sechsmal Marianne zu sehen, sie denkt nach, grübelt, fürchtet sich. Die Umrisse der sich überlagernden Figuren sind in gepunkteten Linien dargestellt – sie wirken schattenhaft, fragmentiert. Das darunter liegende Panel bildet nebeneinander liegend, wie auf einem Operationstisch, medizinische Instrumente ab, die zur Abtreibung verwendet werden – Marianne hat sich entschlossen, besagt der Text im Panel. Das dritte Bild besteht aus einer Vielzahl von schwarzen Klecksen – Tropfen mit zerfaserten Rändern, wie von einer spritzenden Feder oder blutenden Wunde verursacht: »Sie hat Glück, es gibt keine Komplikationen.« (Ebd.: 62) Die Schwere der Entscheidung kontrastiert eindrücklich mit der sachlichen Abbildung der medizinischen Instrumente. Doch dann tauchen die Albträume auf, im weiteren Leben verfolgen sie Marianne. Kleinere oder größere Panels mit sich überlagernden, kindlichen Gesichtern, mit offenen, kreisrunden Mündern, dazwischen auch aufgerissene Schnauzen von Hunden/Wölfen mit messerscharfen Zähnen, und mittendrin eine Frau, die sich ein Kind aus dem Leib zieht (oder es auf dem Schoß hält). Der Stil der Albträume unterscheidet sich von anderen Panels, die Striche sind dicker, die Gesichter wirken wie schnell hingeworfen, in wildem Durcheinander. Aus dem Bauch der Frau, der manchmal wie ein großes Loch erscheint, fließt Blut aus kräftigen Pinselstrichen (vgl. ebd.: 63, 78, 89f.).

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Abbildung 5: Weyhe 2013: 63

Quelle: avant-verlag 2013

Auf dem Sterbebett offenbart sich Marianne dem Sohn, dem es gelingt, seine Mutter davon zu überzeugen, dass es kein Fegefeuer gibt. Seine Worte »Das verspreche ich dir!!!« (ebd.: 91) sind wie gestickt oder in einem Poesiealbum mit einem Spitzensaum in einem Panel ausgeführt. Die alte Frau kann nun friedlich sterben. Das letzte Panel des Kapitels, wieder eine ganze Seite, zeigt ein Dokument: Am 16. November 1980 ist Michael Adlmüller aus der Kirche ausgetreten (vgl. ebd.: 92). Dem Sohn ist es gelungen, sich dem Bann der Kirche zu entziehen – und in gewisser Weise spiegelt dieses Panel auch eine Versöhnung Weyhes mit dem Vater wider. Hatte sie sich zuvor über ihn geärgert, der alle Dokumente mit den Worten »Besitz belastet« (ebd.: 10) vernichtet hatte, erscheint er hier als liebevoller Sohn.

MILITÄR UND MÄNNLICHKEITSIDEALE Die sicherlich längste Sequenz von Gewalt findet sich in dem Kapitel über Weyhes Großonkel, Carl Friedrich, genannt Ititi. Er ist der zweite Sohn nach Edgar (dem zweiten Ehemann von Herta) und Auguste, die im Alter von vier Jahren stirbt. Seine Mutter zieht ihm die Kleider der verstorbenen Tochter an, und Ititi, der so heißt, weil er seinen Namen als Kleinkind nicht richtig aussprechen kann, spielt mit Begeisterung mit ihren Puppen. Der Vater ist Oberstabsarzt, die Familie wohnt neben der Kaserne. Bald wird dem Vater das Spiel mit den Puppen zu viel. Während der ältere Sohn Edgar sich aus Sicht des Vaters angemessener entwickelt, bleibt Ititi schwach. In einer dramatischen Szene verbrennt der Vater die Puppen, und zunächst hilft der nichtsahnende Ititi dabei, den Scheiterhaufen zu

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errichten (vgl. ebd.: 187ff.). Es gibt mehrere Szenen äußerster Gewalt und Bilder eines Jungen, der zerbricht und Todesangst empfindet. Dennoch möchte er dem Vater gefallen, ein Panel zeigt einen Orden mit der Inschrift »guter Sohn«, und der Text fragt: »wieso ist Vater nie mit ihm zufrieden?« (Ebd.: 204) Auch der Vater ist gefangen in den vermeintlichen Erwartungen an seine Rolle, und nach einem Vorfall in der Kaserne bestraft er den jüngsten Sohn, weil dieser ihn angeblich der Lächerlichkeit preisgegeben habe. Daraufhin wird der Junge mit einer Peitsche geschlagen, und als er sich wegducken kann, verletzt der Vater sich versehentlich selbst (vgl. ebd.: 211ff.). An der sich entzündenden Wunde stirbt er. Statt Erleichterung zu verspüren, fühlt sich der Sohn schuldig und versucht von nun an, den Erwartungen des Vaters zu entsprechen. Mit eiserner Disziplin trainiert er in den folgenden Jahrzehnten und kämpft in beiden Weltkriegen. Bereits in dem Kapitel über Herta hat der Leser erfahren, dass Carl Friedrich in den fünfziger Jahren, nach einem Gefängnisaufenthalt, den er wegen seiner Homosexualität verbüßen musste, bei seinem Bruder und dessen Ehefrau einzog (vgl. ebd.: 146). Besonders eindrücklich ist das ganzseitige Panel des sterbenden Vaters. Er besteht nur aus Adern, die seine Arme und Beine bilden, der Kopf gleicht bereits einem Totenschädel. Das Panel ist schwarzgrundig, die Pritsche, auf der er liegt, ist weiß. Die Gliedmaßen ragen über die Liege hinaus und wechseln am Übergang der Liege von schwarz zu weiß. Die Figur könnte auch ein Gewächs sein, ein Baum oder ein Busch mit vielen Ästen oder Wurzeln (vgl. ebd.: 216). In den darauffolgenden Panels geht es um die Schuldgefühle seines Sohnes. Er wird als kleiner Spielzeugsoldat in einem Matrosenanzug dargestellt. »Hätte er wie ein Soldat gehandelt«, »nicht mit Puppen gespielt«, »und die Strafe tapfer ertragen«, »der Vater würde noch leben.« (Ebd.: 217f.) So lautet der Text in den vier Panels, in denen Ititi als Spielzeug und am Schluss neben dem Vater, der stolz den Arm um ihn legt, zu sehen ist (vgl. ebd.: 217). Der gesellschaftliche Druck, dem sich auch der Vater nicht entziehen kann, und die Schuldgefühle des Kindes verstärken sich in Weyhes Analyse auf unheilvolle Weise. Mit diesem Wissen wird rückblickend der Vorfall mit Birgits Schulranzen noch dramatischer. Denn Ititi, der die bunten Aufkleber abgekratzt hatte, antwortet auf die Frage Birgits, warum er das getan habe: »Damit Du lernst zu gehorchen!« (Ebd.: 174)

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Abbildung 6: Weyhe 2013: 174

Quelle: avant-verlag 2013

Skeptischer und zugleich trauriger könnte die Deutung nicht ausfallen: der Onkel, selbst Opfer von brutalen Versuchen, ihn umzuerziehen, kann nicht anders, er reagiert wie seine Peiniger. In der Familiengeschichte von Weyhe ergibt sich ein Wandel erst in der nächsten Generation, denn sie selbst gibt den erlittenen

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Schmerz und Kummer nicht an ihre Kinder weiter. Sie stellt sich dar als liebevolle und fürsorgliche Mutter – so, wie sie es offenbar von ihrer Mutter erfahren hat. Ihr widmet sie in Lebenslinien die erste Geschichte und beschreibt Evi als unkonventionelle Frau, die trotz einiger Schicksalsschläge nicht aufgibt. Auf einem Panel ist sie als ältere Frau zu sehen, die barfuß am Strand spazieren geht. »Ein Leben in Deutschland kann sie sich heute nicht mehr vorstellen. Zu grau, zu starr, zu streng.« (Weyhe 2020: 8) Heimat, so kann man in den beiden letzten Panels erfahren, sei für Evi immer bei ihren Kindern gewesen. Die Antwort zu der von Birgit Weyhe gestellten Frage: »Wodurch werden wir zu dem, was wir sind?«, muss der Leser selbst finden. Wir erfahren nicht, welche entscheidenden Faktoren die Autorin selbst veranlasst oder befähigt haben, nicht zu kapitulieren, sich nicht anzupassen, nicht zu betrügen, keine Gewalt auszuüben und zu lieben. Allerdings kann der Leser in ihren kraftvollen Bildern, die weit entfernt von Schwarz-Weiß-Zeichnungen sind, jede Menge Anregungen für individuelle Antworten finden.

LITERATUR Primärliteratur Ofili, Sylvia/Weyhe, Birgit (2018): German Calendar No December, Berlin: avant-verlag. Weyhe, Birgit (2013): Im Himmel ist Jahrmarkt, Berlin: avant-verlag. Weyhe, Birgit (2016): Madgermanes, Berlin: avant-verlag. Weyhe, Birgit (2017): Ich weiß, Berlin: avant-verlag. Weyhe, Birgit (2020): Lebenslinien, Berlin: avant-verlag. Sekundärliteratur Jessen-Klingenberg, Manfred (1968): »Die Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann am 9. November 1918«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 19, S. 649–656. Joszt, Anja (2015): »Vom Kreistanz zur modernen Weltgeschichte. Der Comic Reigen von Birgit Weyhe als Adaption von Arthur Schnitzlers gleichnamigem Theaterstück«, in: Florian Trabert/Mara Stuhlfauth-Trabert/Johannes Waßmer (Hg.), Graphisches Erzählen. Neue Perspektiven auf Literaturcomics, Bielefeld: transcript, S. 317-325.

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Klingenböck, Ursula (2014): »Lebens-Bilder. Überlegungen zum biographischen Narrativ bei Birgit Weyhe«, in: Susanne Hochreiter/Ursula Klingenböck (Hg.), Bild ist Text ist Bild. Narration und Ästhetik in der Graphic Novel, Bielefeld: transcript, S. 121-148. Kunz, Boris (2016): »Interview mit Max-und-Moritz-Preisträgerin Birgit Weyhe«, in: Titel Kulturmagazin – Der fremde Blick, 1.6.2016, online verfügbar unter: https://titel-kulturmagazin.net/2016/06/01/comic-birgit-weyhemadgermanes/ [Zugriff: 18.3.2020]. Platthaus, Andreas (2009): »Frauen am Zeichentisch: Der „Mami Verlag“ und sein großes Talent Birgit Weyhe«, online verfügbar unter: https://blogs.faz.net/comic/2009/06/17/frauen-am-zeichentisch-der-mamiverlag-und-sein-grosses-talent-birgit-weyhe-82/ [Zugriff: 19.3.2020]. Schmid, Johannes C. P. (2019): »Framing and Translation in Birgit Weyhe’s Madgermanes«, in: Michaela Ott/Thomas Weber (Hg.), Situated in Translations. Cultural Communities and Media Practices, Bielefeld: transcript, S. 107-117. Wegmann, Ute (2017): »›Man muss ausloten, wie weit man die Hosen runterlassen will‹ – Birgit Weyhe im Gespräch mit Ute Wegmann«, in: Deutschlandfunk, 16.12.2017, online verfügbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/birgit-weyhe-ueber-autobiografische-comics-manmuss.1202.de.html?dram:article_id=406217 [Zugriff: 25.3.2020].

Das Schicksal der Vertriebenen – Das Ende der japanischen Kolonialpolitik in der Mandschurei in Satonaka Machikos Und morgen strahlt wieder die Sonne (Ashita kagayaku, 1972-1973) Stephan Köhn

MANGA UND KRIEG: EINE KURZE STANDORTBESTIMMUNG Der moderne Manga als eine integrale Erzählform bestehend aus Text und Bild blickt inzwischen auf eine fast einhundertjährige Geschichte zurück. Mit dem 1923 in der Tageszeitung Asahi gurafu アサヒグラフ, später dann von 19241925 in Asahi shinbun 朝日新聞, erschienenen Shōchans Abenteuer (Shōchan no bōken 正ちゃんの冒険) von Oda Shōsei 織田小星 (Text) und Kabashima Katsuichi 樺島勝一 (Illustration) entstand nach verschiedenen Übersetzungen amerikanischer Comicstrips,1 die vornehmlich in Zeitungen und Magazinen veröffentlicht wurden, nun der erste rein japanische Manga, der sich durch den Einsatz von Sprechblasen sowie die Serialisierung als Standardpublikationsformat auszeichnete. Der Journalist Suzuki Bunshirō 鈴木文史郎, der – nach längerem Auslandsaufenthalt nach Japan zurückgekehrt – Chefredakteur der 1923 gegründeten Zeitschrift Asahi gurafu wurde, hatte für die Gründungsnummer des neuen Magazins im Januar bei Oda Shōsei und Kabashima Katsuichi einen Manga nach dem Vorbild amerikanischer Comicstrips, die er von seiner Reise mitgebracht hatte, in Auftrag gegeben. Japans erster Manga entstand somit streng genommen 1

So wurde zum Beispiel George McManus Bringing up father unter dem japanischen Titel Oyaji kyōiku 親父教育 in Asahi gurafu als Übersetzung veröffentlicht.

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aus einem Amalgamierungsprozess traditioneller japanischer Erzähltechniken, wie sie noch bei dem Werk Mangatarō 漫画太郎 von Miyao Shige(w)o 宮尾し げを, ebenfalls aus dem Jahr 1923, zu sehen sind, mit Elementen aus der amerikanischen Comicstriptradition, wie eben der Sprechblase oder dem Panel als strukturbildendem Element für Text und Bild.2 Das Gros der frühen Manga wurde bald vor allem über den boomenden Zeitschriftenmarkt publiziert. Mit der Entdeckung der Kategorie ›Kind‹ als neuer lukrativer Markt in der sich schnell entwickelnden Konsumgesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden viele neue Magazine, die speziell auf die Leserschaft »Mädchen« (shōjo 少女) oder »Jungen« (shōnen 少年) ausgerichtet waren, wie zum Beispiel die beiden monatlichen Magazine Mädchen-Club (1923; Shōjo kurabu 少女倶楽部) bzw. Jungen-Club (1914; Shōnen kurabu 少年倶楽部) des Verlagshauses Kōdansha. Zwischen Erlebnisberichten, Erzählungen, Leserbriefen etc. waren Manga hier vor allem noch als eine Art Auflockerung eingestreut, das heißt sie waren noch kein selling point der Magazine wie in der Nachkriegszeit; der prozentuale Anteil am Gesamtvolumen der Ausgaben war somit noch sehr gering. Das Ganze änderte sich jedoch ab dem Jahr 1931 mit zwei Ereignissen, die zunächst nicht in direktem Zusammenhang zu stehen scheinen: Mit der Veröffentlichung von Tagawa Suihōs 田河水泡 Manga Streuner Kurokichi (19311941; Norakuro のらくろ) im Magazin Jungen-Club im Januar 1931 und dem Einmarsch japanischer Truppen in die Mandschurei (im Nordosten der heutigen Volksrepublik China gelegen) am 18. September 1931. Tagawa Suihō erzählt mit seiner Tierparabel Norakuro den Aufstieg des streunenden Hundes (norainu) Kurokichi vom einfachen Rekruten (nitōhei) bis zum Hauptmann (taijō). Dass diese Geschichte sich einmal zu Japans erstem MangaLongseller entwickeln und damit auch den ersten Manga-Boom der Vorkriegszeit auslösen würde, war sicherlich für Künstler und Herausgeber gleichermaßen mehr als überraschend. Denn der Plot, der – zumindest in der Anfangszeit – vor allem das kunterbunte Leben innerhalb und außerhalb der Kaserne schildert, war eigentlich nicht dazu prädestiniert, sich zu einem Verkaufsschlager zu entwickeln, und dies vor allem über einen Zeitraum von immerhin rund zehn Jahren.3 Mit dem Einmarsch in die Mandschurei, der eine inszenierte Vergeltungsaktion auf einen – in Wahrheit vom japanischen Militär ausgeführten – Sabotageakt war, sollte sich das Interesse an derartigen Stoffen auf Seiten der (meist männlichen) Leserschaft 2

Vgl. ausführlicher Köhn 2005: 217-220.

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Der große und vor allem schnelle Erfolg des Werkes lässt sich unter anderem daran ablesen, dass nur rund ein Jahr später der erste von insgesamt zehn Hardcoverbänden dieses Werkes beim selben Verlag erschien, und jeder Band zudem durchgehend koloriert war.

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jedoch grundlegend ändern.4 Denn der sogenannte Mandschurei-Zwischenfall (Manshū jihen 満州事変), wie der Einmarsch in einer revisionistischen Geschichtssicht in Japan gerne bezeichnet wird, schlug nicht nur ein neues Kapitel in der japanischen Kolonialisierungspolitik auf, die nun – ähnlich dem Commonwealth des Britischen Empire – die Vision einer Großostasiatischen Wohlstandssphäre unter japanischer Führung systematisch zu verfolgen begann. Er bedeutete gleichzeitig den Anfang einer im Grunde genommen bis zur Kapitulation Japans am 15. August 1945 nicht enden wollenden Abfolge von Kriegshandlungen an unterschiedlichsten Schauplätzen, weshalb er auch als Beginn des fünfzehnjährigen Krieges gesehen wird. Der Einmarsch in die Mandschurei bildete zugleich auch den Anfang vom Ende der liberalen Parteienpolitik, der sogenannten TaishōDemokratie (1918-1931), und den Auftakt für weitere Verschärfungen zahlreicher früherer bzw. für die Einführung neuer Zensurbestimmungen in den unterschiedlichsten Bereichen des öffentlichen Lebens.5 Im Zuge einer landesweiten patriotischen Hochstimmung sahen sich daher viele Verlage mehr oder minder gezwungen, gezielt auf Stoffe zu setzen, die dem neuen Zeitgeist der Nationalisierung und Militarisierung in Japan gerecht wurden. Militär und Krieg wurden nun verstärkt als affirmatives Sujet, als spielerisches Setting im Manga verwendet. So präsentierte Tagawa mit seinem Norakuro, das mit Kurokichis Durchlaufen von insgesamt acht Dienstgraden eine gekonnte Leserbindung über Jahre herstellte,6 seinen jungen Lesern die Institution ›Militär‹ als einen Ort von Spaß und Schabernack, vergleichbar mit der Schule. Shimada Keizō 島田啓三 hingegen thematisierte mit seinem Abenteurer Dankichi (1933-1939; Bōken Dankichi 冒険ダン吉), dem anderen Bestseller der Zeit, der ebenfalls im Magazin Jungen-Club serialisiert wurde, Japans aggressive Kolonialpolitik. Mithilfe der Figur des schiffbrüchigen Dankichi, der es nach vielen bestandenen Abenteuern bis zum vermeintlichen Eingeborenenkönig auf einer Südseeinsel schafft, führt er dem Leser spielerisch die Überlegenheit und Fortschrittlichkeit des kleinen japanischen Jungen in einer Welt von tollpatschigen, optisch differenten Erwachsenen aus der Südsee vor Augen. Sowohl in Norakuro als auch in

4

Zu den Hintergründen vgl. Ogata 2011: 99-132.

5

Eine konzise Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse findet sich zum Beispiel bei Gordon 2002: 181-223.

6

Man denke hier nur an Harry Potters Schulausbildung zum Zauberer in Hogwarts – jedes neue Schuljahr ist Gegenstand eines weiteren Bandes.

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Dankichi7 war das Thema Krieg zwar in gewisser Weise inhärent, ohne dass jedoch eine allzu explizite Konkretisierung – trotz einer klar kolonialen Bildsprache, wie sie auch bei zeitgenössischen Disney-Produktionen zu finden war8 – in einem der Werke erfolgt wäre. 1941 musste Norakuro schließlich auf Druck des Kriegsministeriums eingestellt werden – der allzu spielerische Umgang mit dem Thema Krieg war in Zeiten allgemeiner Staatsmobilisierung anscheinend als nicht mehr angemessen erachtet worden. Der Staat griff nach dem Angriff auf Pearl Harbor im Jahr 1941 nun – vor allem im Bereich Anime – am liebsten selbst ein und ließ mit seinen beiden Momotarō-Filmen, Momotarō und die Seeadler (1943; Momotarō no umiwashi 桃太郎の海鷲) und Momotarō und die Götterkrieger des Meeres (1944/1945; Momotarō umi no shinpei 桃太郎 海の神兵), bei denen es sich ebenfalls um Tierparabeln handelte, die sicherlich explizitesten (und kostspieligsten) Darstellungen des realen Kriegsgeschehens rund um die Kämpfe von Pearl Harbor und Sulawesi in die staatliche Produktion von Propagandafilmen (kokusaku 国策) gehen (vgl. Yamaguchi 2004: 56-61). In der Nachkriegszeit, der eigentlichen Blütezeit des Manga, wird das Thema Krieg zweifelsohne zu einem ganz zentralen Sujet, sei es als abstrakt-motivationale Rahmung für eine konfliktgeladene Geschichte rivalisierender Akteure (also intensional), als legitimatorisch-vorgelagerte Hintergrundfolie für eine dystopische Weltordnung in der intradiegetischen Jetztzeit (also explanatorisch) oder einfach nur als historisches Setting für eine wie auch immer geartete Narration, die einer mehr oder minder plausiblen zeitlichen Verankerung bedarf (also dekorativ). Auffällig ist dabei, wie auch ein kurzer Blick auf die Auswahl der behandelten Werke in Natsume Fusanosukes 夏目房之介 Arbeit Manga und »Krieg« (1997; Manga to »sensō« マンガと「戦争」) verdeutlicht, dass

7

Zu beiden Manga gab es nach kurzer Zeit bereits Auskopplungen als Anime. Der allererste Norakuro-Anime erschien bereits im Jahr 1933 unter dem Titel Gefreiter Norakuro – das Kapitel der militärischen Ausbildung (Norakuro nitōhei – kyōren no maki のらくろ二等兵 教練の巻) von Murata Yasuji 村田安司, einem der großen Pioniere des frühen Anime, gefolgt von vier weiteren Anime in den Jahren 1934, 1935 und 1938. Bōken Dankichi wurde ebenfalls ein Jahr nach Veröffentlichungsbeginn als Anime unter dem Titel Abenteurer Dankichi – das Kapitel des Schiffbruchs (1934; Bōken Dankichi – hyōryū no maki 冒険ダン吉 漂流の巻) veröffentlicht, gefolgt von weiteren Titeln. Vgl. die Angaben bei Yamaguchi/Watanabe 1978: 190-232 sowie die Angaben auf der Homepage des Toy Film Museums (Omocha eiga myūjiamu おもちゃ 映画ミュージアム).

8

Man denke hier zum Beispiel an Silly Symphony Cannibal Capers (1930).

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• die meisten Werke, die sich ernsthaft für den Krieg als Thema und nicht nur als

thematische Rahmung ihrer eigentlichen Narration interessierten, dabei entweder historische Kriege aus einer fernen japanischen Vergangenheit im Blick hatten, oder aber im Falle des Ersten oder Zweiten Weltkrieges primär auf Europa, und hier natürlich besonders auf Nazi-Deutschland (mit seiner Kriegsuniformenästhetik), fokussierten; • diese Werke zudem meist auch über die zentralen Produktionszyklen der Mo-

nats-, Zweiwochen- oder Wochenzeitschriften der großen, marktdominierenden Manga-Verlage wie Kōdansha, Shōgakukan oder Shūeisha veröffentlicht wurden, das heißt die Fortführung der Serialisierung entsprechend vom Zuspruch/Feedback der Leserschaft abhing, was wiederum entscheidende Folgen für die weitere Konzeption und inhaltliche sowie stilistische Ausführung der Werke hatte; • diejenigen wenigen Werke, die sich dem tatsächlichen Kriegsgeschehen wäh-

rend des Zweiten Weltkrieges in Asien bzw. im Pazifikraum widmeten, wie zum Beispiel Mizuki Shigerus 水木しげる Reihe Kriegsbericht eines Jungen (1959; Shōnen senki 少年戦記), fast ausschließlich über die Produktionsund Distributionswege der Leihbuchhändler (kashihon’ya 貸本屋), dem auf ältere Leser ausgerichteten Parallelmarkt für die sogenannten Dramatischen Bilder (gekiga 劇画) im Gegensatz zu den eher auf ein jüngeres Lesepublikum orientierten Mainstreammarkt der großen Zeitschriftenverlage, vertrieben wurden; • die Werke später – in einer teils sehr abstrahierenden Form – aus den Reihen

der ebenfalls nicht zum Mainstream zählenden und heute größtenteils vergessenen Manga-Avantgarde der sechziger und siebziger Jahre wie zum Beispiel Hayashi Seiichi 林静一 oder Sasaki Maki 佐々木マキ stammten, die vor allem in der experimentellen Zeitschrift Garo ガロ veröffentlicht wurden.9 Aus diesen Gründen blieb der Zweite Weltkrieg in Asien, im Falle Japans ist hier eigentlich präziser vom bereits erwähnten fünfzehnjährigen Krieg bzw. Pazifikkrieg zu sprechen, in der allgemeinen Wahrnehmung für einen Großteil der Manga-Leserschaft über lange Zeit hinweg eine Art Leerstelle – erst die Reprints ab Mitte der Neunziger- bzw. Nullerjahre in bekannten Taschenbuchreihen brachten diese Werke einem breiteren Publikum wirklich nahe. Dasselbe Schicksal teilten übrigens auch die frühen Werke über den Atombombenabwurf auf Hiroshima und seine Folgen aus der Feder von Autoren wie zum Beispiel Shirato Sanpei 白 土三平 oder Takita Yū 滝田ゆう, die ebenfalls zunächst als Gekiga über den

9

Vgl. die ausführliche Darstellung bei Natsume 1997: 11-100.

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Leihbuchhändlermarkt erschienen und vom Gros der damaligen Leser daher unbeachtet blieben. Erst Nakazawa Keijis 中沢啓治 zunächst 1973/1974 in dem Jungenmagazin Shōnen Jump veröffentlichter Manga Barfuß durch Hiroshima (1973-1987; Hadashi no Gen はだしのゲン), der durch die spätere Verankerung als Lehrmaterial im Friedensunterricht an vielen Schulen kanonischen Status erlangen sollte, rückte zwar nicht den Zweiten Weltkrieg als solchen, aber zumindest die Folgen des Krieges in Form der Atombombe in das Bewusstsein der Leser.10 Dennoch mussten die Werke von Shirato und anderen noch bis in die jüngste Zeit warten, bis sie dann in Liebhaberreihen wie der vierbändigen Sammlung von Manga über die Wasserstoffbombe (2015; Gensuibaku manga korekushon 原水 爆漫画コレクション) des Verlages Heibonsha einem breiteren Leserkreis zugänglich gemacht wurden.11 Der Krieg und seine Folgen in Asien bzw. Japan sind anscheinend ein Sujet, mit dem sich zumindest der große Manga-Zeitschriftenmarkt schwergetan hat und immer noch schwertut. In Anbetracht dieser offensichtlichen Leerstelle bezüglich der Thematisierung sowie historischen Wahrnehmung des Zweiten Weltkrieges in Asien bzw. in Japan auf dem Mainstreamsektor der Manga-Produktion verdient die Publikation von Satonaka Machikos 里中満智子 zwischen 1972-1973 serialisiertem Manga Und morgen strahlt wieder die Sonne (Ashita kagayaku あした輝く) in meinen Augen besondere Beachtung. Nicht nur, dass der Manga in einem der großen Magazine, dem Wöchentlichen Mädchenfreund (Shūkan shōjo furendo 週間少女フレンド) des Verlagshauses Kōdansha serialisiert wurde, er widmet sich als sogenannter Mädchen-Manga (shōjo manga 少女マンガ) zudem noch einem Stoff, der – vom Medium Manga einmal ganz zu schweigen – auch in der öffentlichen Wahrnehmung und im Geschichtsbewusstsein dieser Zeit alles andere als gerade ein populäres Thema darstellte: die japanische Kolonialzeit im 1932 gegründeten Marionettenstaat Manshūkoku12 満州国.

10 Wobei hier zu betonen ist, dass der Manga erst nach der Übernahme in andere Publikationsorgane wie Bürger (Shimin 市民) oder Kulturkritik (Bunka hyōron 文化評論), die nur für einen kleinen, politisch interessierten Leserkreis vertrieben wurden, sein eigentliches kritisches Potenzial entfalten konnte. Vgl. ausführlich Köhn 2007. 11 So zum Beispiel Shirato Sanpeis Das Mädchen, das verschwindet (1959; Kieyuku shōjo 消え行く少女) oder Takita Yūs Ach, die Glocken von Nagasaki läuten (1958; Ā, Nagasaki no kane ga naru ああ長崎の鐘が鳴る) in Gensuibaku manga koreku-shon, Bd. 3. 12 Im Deutschen auch in der Umschrift Mandschukuo bekannt.

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DER MÄDCHEN-MANGA ALS NARRATIV: KONVENTIONEN EINES GENRES UND SEINE AUSWIRKUNGEN Der Mädchen-Manga erlebte seine erste große Blütephase gegen Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre. Hier konsolidierten sich zentrale genretypische Merkmale bildlicher, textlicher, thematischer und narrativer Natur, die dann genrebindend wurden.13 Erstmals drängten vermehrt Zeichnerinnen in den Manga-Markt, die aus mehr oder minder derselben Alterskohorte stammten und daher heute in der Regel als schillernde Gruppe der 24er (hana no nijūyonen-gumi 花の24年組), also Gruppe der um das Jahr 1949 (das heißt, das 24. Jahr der Jahresdevise Shōwa, 1926-1989) Geborenen, bezeichnet werden. Manga für Mädchen, also Geschichten mit einer weiblichen Heldin, die sich vornehmlich auch an ein weibliches Lesepublikum richteten, gab es bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Manga-Geschichte in der Vorkriegszeit. Doch unterschieden sich diese Geschichten – abgesehen vielleicht von Handlungssetting und Figurenensemble – noch nicht wirklich grundlegend von den Geschichten für eine männliche Leserschaft. Erst in der Nachkriegszeit mit der Gründung der ersten Wochenzeitschriften für Mädchen wie zum Beispiel Wochenzeitschrift Margaret (1963; Shūkan Māgaretto 週間マーガレット) oder Wöchentlicher Mädchenfreund (1963; Shūkan shōjo furendo 週間少女フレンド) – die ersten Jungenmagazine entstanden bereits Ende der fünfziger Jahre – konnte sich hier ein ganz eigenes Genre herausbilden. Denn wie bereits in der Vorkriegszeit war der Markt der Mädchenmonatsmagazine wie Mädchenclub (1946; Shōjo kurabu 少女 クラブ), Schleife (1955; Ribon りぼん) oder Busenfreundin (1955; Nakayoshi な かよし) fest in der Hand renommierter männlicher Zeichner, die, bedingt durch die hohe Konkurrenz, die aus der damals noch geringen Anzahl an Magazinen resultierte, zur Not eben auch mal Geschichten für eine weibliche Leserschaft zeichneten und damit den Berufseinstieg für junge, noch unbekannte Zeichnerinnen in den Monatsmagazinen erheblich erschwerten bzw. nahezu unmöglich machten.14 Mit der Gründung der ersten Wochenmagazine zunächst für Jungen

13 Bereits seit Mitte der sechziger Jahre finden sich in verschiedenen, von jungen Zeichnerinnen geschaffenen Werken Elemente, die allgemeinhin als genre-typisch gelten, doch findet der eigentliche Konsolidierungsprozess erst gegen Ende der sechziger Jahre statt. Vgl. hierzu auch Yonezawa 2007: 121-143. 14 Als eines von mehreren Beispielen sei hier der Künstler Chiba Tetsuya ちばてつや genannt, der später vor allem für seine aktionsgeladenen Sport-Manga berühmt werden sollte. Chiba zeichnete, nachdem er dem Leihbuchhändlermarkt Ende der fünfziger

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und dann für Mädchen stieg jedoch der Bedarf an Zeichnern sprunghaft an, sodass zur Deckung des benötigten wöchentlichen Seitenpensums nun auch Newcomerinnen in den Magazinen für Mädchen sehr willkommen waren. Satonaka Machiko war eine dieser Newcomerinnen, die im Jahr 1964, 26-jährig, ihr MangaDebüt in der Zeitschrift Wöchentlicher Mädchenfreund mit der tragischen Vampir-Kurzgeschichte Das Porträt von Pia (Pia no shōzō ピアの肖像) feiern konnte.15 Der Mädchen-Manga, der sich dann durch die Publikation der 24erinnen, allen voran Ikeda Riyoko 池田理代子, Hagio Moto 萩尾望都, Takemiya Keiko 竹宮 恵子, Ōshima Yumiko 大島弓子 oder eben Satonaka Machiko, die sich mit ihren Werken gegenseitig inspirierten und anspornten, stilistisch als eigenes MangaGenre entfalten konnte, rekurriert dabei selbst wiederum auf etliche Elemente, die ihren Ursprung in der Literatur der Mädchenkultur (shōjo bunka 少女文化) des beginnenden 20. Jahrhunderts haben. So ist neben den ephemeren, funkeliggroßäugigen Figurendarstellungen aus der Umschlagästhetik führender damaliger Künstler wie Nakahara Jun’ichi 中原淳一 oder Fukiya Kōji 蕗谷虹児 für die einschlägigen Magazine und Bücher vor allem das allen Geschichten zugrundeliegende Motiv der einen großen, vom Schicksal vorherbestimmten und gegen alle gesellschaftlichen Schranken und Hindernisse bestehenden romantischen Liebe als quasi Conditio sine qua non für das Genre anzuführen. Diese Liebe kann, bedingt durch die größtenteils geschlechtliche Indifferenz der noch nicht erwachsenen shōjo, auf das vermeintlich gleiche (shōjoai 少女愛) oder andere gleiche (im Falle des shōnen’ai 少年愛) Geschlecht projiziert werden16 – die körperlichen Repräsentationen sind lediglich Austauschfolien für die höchste Form einer durch Jahre den Rücken gekehrt hatte, in dem Zeitraum 1958-1964 fast ausschließlich für Mädchenzeitschriften wie Mädchen-Buch (Shōjo bukku 少女ブック) oder MädchenClub, bevor er dann ganz in die Sparte der Jungenmagazine (shōnenshi 少年誌) wechselte. 15 Bereits in Das Porträt von Pia oder in Jenseits des düsteren Himmels (1965; Kurai sora no hate ni くらい空のはてに) finden sich bei Satonaka zentrale genretypische Elemente wie das Aufbrechen der linearen Panelstruktur, die Topikalisierung von Figuren durch Heraustreten aus der Seite oder der Einsatz funkelnder Augen als Fenster der Seele. Vgl. Satonaka 1975: 1-24 (Pia no shōzō) bzw. 25-56 (Kurai sora no hate ni). 16 Die Mädchenliebe (shōjoai) entwickelte sich als zentrales Narrativ in der Mädchenliteratur (shōjo shōsetsu 少女小説) zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie thematisierte ein mitunter den rein platonischen Rahmen übersteigendes, vornehmlich paritätisches Partnerschaftsmodell, das im bewussten Kontrast zur damals gängigen Gesellschaftsnorm der guten Ehefrau und weisen Mutter (ryōsai kenbo 良妻賢母) stand, für die nicht die Liebe, sondern die Funktion als Hüterin der Familie als vorrangig angesehen wurde.

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und durch sublimierten Liebe, bei der sich beide Partner/Partnerinnen erstmalig auf Augenhöhe begegnen können. Aufgrund der verschiedenen Konflikte, die in der Regel mit dem Eingestehen von und Bekennen zu dieser Liebe einhergehen, nimmt nun im Mädchen-Manga, im Grunde genommen in direkter Verlängerung zu den entsprechenden Darstellungen in der Mädchenliteratur (shōjo shōsetsu 少女小説) der frühen shōjo bunka, erstmals die psychologische Innenschau der mit sich, ihren Gefühlen und den Reaktionen des Umfelds hadernden Protagonistinnen eine zentrale Stellung in der Erzählweise des Mediums Manga ein.17 Neben dem gezielten Einsatz von inneren Monologen auf rein textlicher Basis, ein Mittel das auch schon vereinzelt in den Dramatischen Bildern der fünfziger und sechziger Jahre zu finden ist, ist es vor allem die Visualisierung der Innenwelten durch semiotisch hoch aufgeladene Kodierungen beispielsweise in Form von Blumendekors, welche sich schmückend um die Protagonistin drapieren, oder aber das Aufbrechen der linearen Panel- und somit Erzählabfolge durch komplexe, vielschichtige Seitencollagen, die durch ein nicht näher hierarchisiertes Nebeneinander von einzelnen Panels quasi der Unstrukturiertheit der Gedanken der Protagonistinnen – ähnlich einem Stream of consciousness in der Literatur – Ausdruck zu verleihen versuchen. Die Protagonistinnen, die meist zum Zwecke der Topikalisierung (und Zuordnung für die Leserschaft) in übergroßer Darstellung (als full shot oder medium shot) diesen psychischen Collagen vorgelagert sind, treten nicht nur aus dem intradiegetischen Raum für einen Moment heraus (und damit auf den Leser direkt zu), sondern sie steuern und manipulieren von dort aus auch den zeitlichen Fluss der Narration.18 Die Künstlerinnen der 24er-Gruppe haben mit dem klassischen Mädchen-Manga nicht nur ein neues, äußerst innovatives Erzählgenre geschaffen, sondern dem Medium Manga selbst wiederum zentrale Impulse gegeben, die zur Diffusion einiger zentraler Merkmale in andere Genres führen sollte.

Nachdem mit der Blütephase des Mädchen-Manga in den siebziger Jahren das Narrativ der Mädchenliebe kurzzeitig eine Renaissance erfährt, wird es durch das abstraktere Narrativ der Knabenliebe (shōnen’ai) abgelöst, ohne dass sich an den partnerschaftlichen Idealen der shōjoai etwas grundsätzlich ändert. 17 Zu shōjo bunka und shōjo shōsetsu sei verwiesen auf die Arbeiten von Imada 2007 und Kume 2013. 18 Zu den stilistischen Besonderheiten des shōjo manga vgl. ausführlicher die Beiträge von Köhn 2009 und Berndt 2000.

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UND MORGEN STRAHLT WIEDER DIE SONNE … Satonaka Machiko, als eine der Repräsentantinnen dieses neuen Genres, bleibt selbstverständlich in ihrem Werk Und morgen strahlt wieder die Sonne, das den bezeichnenden Untertitel »Ein großer Roman von reiner, unverfälschter Liebe« (jun’ai taiga roman 純愛大河ロマン) trägt, dem Genre treu: Auch hier geht es um die eine ultimative Liebe, die letztlich Krieg und Migration überdauern sollte. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag stehende Halbwaise Natsuki Kyōko 夏樹今日子, die mit ihrem Vater, der eine Arztpraxis in der mandschurischen Stadt Hōten (Mukden, dem heutigen Shenyang) betreibt, lebt. Es bleibt offen, ob Kyōko direkt in der Mandschurei geboren wurde, das heißt zu einer der Generationen von Siedlern zählt, die bereits vor der Gründung des Marionettenstaates Manshūkoku im Jahr 1932 in dem Gebiet der späteren Mandschurei im Zuge der Landeserschließung der von japanischer Hand geleiteten Südmandschurischen Eisenbahngesellschaft siedelten, oder – zunächst in Japan geboren – erst mit einem der späteren großen, vom japanischen Staat organisierten Siedlertracks zur gezielten Kolonialisierung des neuen Territoriums nach Hōten gekommen ist (vgl. Katō 2017: 35-72). Zusammen mit Kyōko und ihrem Vater lebt in dem Haus noch das mandschurische Geschwisterpaar Reika 鈴花 und Yōjun 陽準, die dort im Haushalt mithelfen und mit denen Kyōko ein freundschaftliches bis beinahe schon geschwisterliches Band verbindet. Dieses Setting ist wichtig, um vor allem Kyōko (und ihren Vater) als Protagonisten einzuführen, die durch ihren natürlichen, vorurteilsfreien Umgang mit der lokalen Bevölkerung geschichtsrelativierend und dadurch rezeptionsaffirmierend für die Leserinnen wirken. Denn Satonaka beginnt die ersten beiden Seiten ihres Werkes mit einer klaren Ansage: »Frühsommer des Jahres 1945 in Hōten (Shenyang). Zu dieser Zeit waren Regierung und Wirtschaft fest in der Hand von Japanern. Die Mandschurei kam sozusagen einer japanischen Kolonie [shokuminchi dōyō 植民地同様] gleich. Die damals in die Mandschurei übergesiedelten japanischen Zivilisten und Militärs tyrannisierten die einheimische Bevölkerung… Und diese hassten dafür wiederum die Japaner. Unter diesen gab es nur eine kleine Handvoll, die von den Einheimischen wirklich gemocht und geschätzt wurden…«19 (Satonaka 1998: Bd. 1, 5f)

19 Alle Übersetzungen aus dem Japanischen stammen vom Autor dieses Artikels.

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Der anschließende Schwenk auf das Praxisschild »Natsuki-Klinik« (Natsuki byōin 夏樹病院) weist im Anschluss Kyōko und ihren Vater als eine dieser rühmlichen Ausnahmen aus und lässt damit die Geschichte beginnen. Kyōko dient Satonaka Machiko in vielen Situationen als Fokusfigur, durch deren Augen und Gedanken für die Leserinnen das Treiben in der Quasikolonie erlebbar gemacht werden soll. Dafür wird Kyōko als multikultureller Freigeist charakterisiert, der – wenn er nicht gerade die Schuluniform tragen muss – am liebsten in chinesischer Tracht herumläuft, mit den einheimischen Ladenbesitzerinnen bezüglich etwaiger Brustgrößenunterschiede von chinesischen und japanischen Mädchen herumspaßt und in ihrem Verhalten keine Unterschiede zwischen Japanern und Lokalbevölkerung macht. Satonaka Machiko nutzt vor allem den Rahmen der Schule – die Handlung spielt sich auf den ersten knapp 180 der insgesamt 825 Seiten vornehmlich zwischen Kyōkos Zuhause und ihrer Mittelschule ab –, um ihren Leserinnen, die vermutlich nur etwas jünger als ihre Fokusfigur Kyōko waren, dieses ferne und im Geschichtsunterricht wenn überhaupt, dann nur sehr rudimentär behandelte Stück japanischer Kriegsgeschichte näherzubringen. Kyōko, die sich durch kritische Kommentare im Unterricht über das Vorankommen des japanischen Militärs, die Benutzung von angloamerikanischem Feindesvokabular (tekiseigo 敵性語) oder aber durch mangelndes Engagement bei den obligatorischen Schießübungen auf dem Schulgelände als Sonderling bzw. Problemkind bei Lehrern und Mitschülerinnen einen Namen macht, verdeutlicht durch ihre bewusst von der Autorin inszenierte Unkonventionalität die unreflektierte Indoktrinierung ihres direkten Umfelds. Lediglich ihre Lehrerin Midorigawa Kazuko 緑川和子, die sich selbst als Erwachsene noch einen Teil ihrer früheren shōjo-Natur zu bewahren vermochte, zeigt Verständnis und pflanzt Kyōko mit der Schilderung ihrer eigenen Liebesgeschichte den Keim für die Idee der einen, ultimativen Liebe ein. Es ist eine Liebe um der Liebe willen, ungeachtet der Stellung oder des Ranges des Partners. Gleich zu Anfang der Geschichte trifft Kyōko ihren schicksalshaften Gegenpart: Hayami Kaoru 速水香, der ursprünglich aus Tokio stammt und nach dem Tod seines Vaters, der im Krieg gefallen ist, statt wie geplant ein Medizinstudium aufzunehmen, sich gleich tatkräftig als Sanitätshelfer beim Militär meldet und als einfacher Rekrut in Hōten stationiert wird. Auch Kaoru wird als unkonventioneller und dadurch äußerst affirmativer Charakter für die Leserinnen konzipiert, der Kyōkos angebissenen Apfel, den sie nicht mit auf das Schulgelände nehmen darf, für sie, obwohl sie sich gerade zum allerersten Mal begegnet sind, zu Ende aufisst, eine kleine Schnittwunde bei Kyōko mit Spucke statt mit Salbe behandelt oder sich zuerst der ärztlichen Versorgung der verletzten Reika widmet, obwohl er zunächst Oberleutnant Kaga 加賀 hätte behandeln müssen, der, um ein Exempel zu

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statuieren, Reika mit seinem Schwert auf offener Straße einen (wenn auch bewusst nicht tödlichen) Hieb versetzt hatte. Ebenso wie Kyōko sticht Kaoru mit seiner unverfälscht-natürlichen, ethnische Grenzen überschreitenden humanistischen Art aus dem Rest der in Hōten lebenden japanischen Gemeinschaft heraus. Kaoru besitzt, ähnlich wie Kyōko, eine Reinheit und Unschuld, wie sie im Grunde genommen jeder shōjo zu eigen ist – beide sind sozusagen Schwestern im Geiste, wenn auch in definitiv anderer biologischer Gestalt. Doch während gerade Kyōko aufgrund ihrer Reinheit und Unschuld Begehrlichkeiten auf männlicher Seite weckt – Oberleutnant Kaga macht ihr schließlich einen Heiratsantrag (siehe Abbildung 1) –, erscheint Kaoru erst gar nicht auf dem Partnersuchradar der weiblichen Seite; fehlende Dienstgrade und schlechte Manieren markieren hier eine unattraktive Gegenfolie zur begehrenswerten militärischen Hypermaskulinität, wie sie Kaga paradigmatisch verkörpert. Abbildung 1: Satonaka: Ashita kagayaku, Bd. 1, S. 66f.

Quelle: Chūō kōronsha 1998

Überhaupt bleibt das japanische Militär während des ganzen Werkes befremdlich blass und absent, trotz der von der auktorialen Erzählerin zu Beginn angedeuteten japanischen Tyrannei gegenüber der lokalen Bevölkerung. Stattdessen fokussiert

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die Autorin auf eine recht komplexe Ausgestaltung von Oberleutnant Kaga, um einen Eindruck vom militärischen Gebaren in der Mandschurei zu vermitteln. Kaga verkörpert mit seiner Person eine militärische Ordnung: Auf der einen Seite statuiert er zwar strafend Exempel an der vermeintlich respektlosen Lokalbevölkerung und steht mit aller Härte für Disziplin und Ordnung in Militär und Schule ein – und geht dabei symbolisch über Leichen (vgl. ebd.: 94f.) –, aber andererseits wird er zutiefst von vermeintlich japanischen Tugenden wie Ehre, Scham, Pflicht und menschlichen Gefühlen gesteuert und bittet um Verständnis für seine besondere Lage als Militärangehöriger in der Mandschurei, die ihn oft zu einem hart erscheinenden Handeln in der Öffentlichkeit zwingt, das nicht unbedingt konform mit der tatsächlichen Gefühls- und Gedankenwelt sein muss. Kaga wirkt, in Kyōkos Augen, wie ein etwas steifer, aber durch und durch ehrenwerter Gentleman aus einer guten alten Zeit: »Er ist sehr höflich und korrekt. Ich glaube nicht, dass er ein Mensch ist, der nach der Heirat mir gegenüber jemals seine Stimme laut erheben würde [...]. Wenn ich ihn heiraten würde, dann würde ich immer schöne Kleider tragen, das vom Dienstpersonal zubereitete Essen in aller Stille essen, ihn bei seiner Rückkehr in gebührlicher Haltung am Eingang begrüßen, mit ihm dann zusammen beim Tee Musik hören oder lesen und…« (Ebd.: 69)

Kyōko entscheidet sich, trotz der unmissverständlichen Ermahnung, als Japanerin stolz auf ihre Herkunft und ihr Vaterland zu sein (und daher weder chinesische Kleidung zu tragen noch Umgang mit der Lokalbevölkerung zu pflegen) und nie aus den Augen zu verlieren, dass man als Japanerin schließlich »hier in der Mandschurei stets eine höhere gesellschaftliche Stellung als die Lokalbevölkerung einzunehmen habe« (ebd.: 72) gegen Kaga, die Erwartungen ihres Vaters und ihres gesamten Umfeldes, sondern stattdessen für ihr Herz. Und auch hier zeigt sich letztlich Kaga wieder von seiner ganzen charakterlichen Größe, wenn er Kaoru, der sich dem Abzugsbefehl der japanischen Truppen nach der Kapitulation am 15. August 1945 widersetzt, für tot erklären lässt, damit sich dieser um die zurückgebliebenen Zivilisten – allen voran natürlich Kyōko – kümmern kann, ohne später als Deserteur angeklagt zu werden. Mit dem Abmarsch der Truppen unter den Beschimpfungen der zurückgebliebenen Zivilisten verschwindet nicht nur Kaga, sondern das komplette japanische Militär aus der Geschichte.

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Abbildung 2: Satonaka: Ashita kagayaku, Bd. 1, S. 285f.

Quelle: Chūō kōronsha 1998

Doch auch Kyōko, Kaoru und den anderen Japanern, die in der Natsuki-Klinik vor den Übergriffen der Lokalbevölkerung Zuflucht suchen, bleibt letztlich nur die Migration in die frühere Heimat Japan. Satonaka Machiko, die in ihrem gesamten Werk nur äußerst sparsam auf die auktoriale Erzählebene bzw. auf den Einsatz von extratextuellen Deiktika als Instrumente zur Vermittlung von historischem, also extradiegetischem Hintergrundwissen zurückgreift, verdichtet die rund 110seitige Flucht, die mit einer von Reika organisierten Mitnahme in einem Güterzug beginnt, den Letztere als Landesverräterin mit dem Leben bezahlen muss, auf zwei wesentliche Handlungsorte. Zum einen ist dies ein verlassener Bahnhof im Nirgendwo, wo die gestrandete Gruppe Monate verbringt, bis Kaoru die Bahngleise für eine Weiterfahrt repariert hat, und zum anderen ein Schiff, das alle Protagonisten bis auf Kaoru, der kurz vor Abfahrt des Zuges vom russischen Militär gefangen genommen wird, bis nach Japan bringt. Satonaka setzt auf das Mittel der Metadiegese, also den Erzählbericht anderer Personen, die durch Rückblenden ihre Erlebnisse der Gruppe und somit indirekt auch der Leserin mitteilen (siehe Abbildung 2). Vor allem durch die Gespräche während der Schiffspassage wird mit einem Male die befremdliche Homogenität der Zusammensitzenden klar: Es fehlen Kinder an Bord.

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»Im Gegenzug für 300 Yen … Ich dachte, dass es so für das Kind auf jeden Fall besser sei, als mit Müh und Not von dort zu flüchten. Selbst wenn ich mein Kind mitgenommen hätte, wäre es doch sicherlich mitten auf der Flucht vor Erschöpfung gestorben. Jetzt kann ich nur noch für das Glück meines Kindes beten.« (Ebd.: 284)

Die Kinder wurden, so die Berichte der Versammelten, entweder gegen Bezahlung als Adoptivkind einer mandschurischen Familie anvertraut, oder aber allein und hilflos im Haus zurückgelassen, um das Überleben der restlichen Familie nicht zu gefährden: »Ich, ich bin eine Hexe und keine Mutter. Aber hätten wir [Masao] nicht zurückgelassen, dann wäre die ganze Familie umgekommen. Mein Mann ist nur knapp eine Woche später im Schnee zusammengebrochen und liegengeblieben. Ach hätte ich [Masao] doch nur als Adoptivkind abgegeben …« (Ebd.: 286)

Für Kyōko, die von Kaoru schwanger geworden noch auf dem Weg zum Hafen eine Fehlgeburt erlitten hat, endet die Schifffahrt dennoch mit einem neuen Leben in den Händen. Das Neugeborene ihrer Lehrerin Midorigawa, die an den Folgen der Geburt während der Überfahrt verstirbt, nimmt sie nun als ihre eigene Tochter an und nennt sie Asuka 明日香.20 Die Bände 2 und 3, die mit 510 Seiten rund 60 % des gesamten Werkes ausmachen, schildern im Anschluss das Leben in der neuen alten Heimat Japan. Nachdem Kyōko mit ihrer Tochter Asuka von Kaorus Mutter, die in Tokio lebt, als Schwiegertochter und Enkelin freundlich aufgenommen worden ist, versucht sie fortan, ihrer traditionellen Doppelrolle als pietätvolle Schwiegertochter und treusorgende Mutter hinreichend gerecht zu werden. In ihrem neuen Leben, das sich nahezu ausschließlich zwischen dem neuen Zuhause und einer Süßwarenfabrik, in der sie eine Arbeit gefunden hat, abspielt, bleibt die Mandschurei eine Leerstelle. Obwohl die Repatriierung von knapp sechs Millionen Japanern nach Kriegsende sowohl finanziell als auch sozial eine Zerreißprobe für Land und Gesellschaft darstellte, bleiben Spannungen oder gar Ressentiments auf Seiten der Nachbarschaft im Manga unthematisiert. Selbst nach Kaorus Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft, die – geschätzt am intradiegetischen Alter von Asuka, die kurze Zeit später eingeschult wird – vermutlich im Jahr 1951/1952 erfolgt, bleiben das Leben in der Mandschurei und der Krieg eine befremdliche Leerstelle im Text. Satonaka Machiko wechselt nicht nur das Erzähltempo – während die erzählte Zeit der ersten rund 300 Seiten (Krieg und Migration) ungefähr sieben bis acht 20 Asuka ist der Name, den Kyōko ursprünglich ihrem eigenen Kind geben wollte.

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Monate umspannt, beträgt sie auf den nächsten 200 Seiten (Neuanfang in Tokio) durch Zeitraffung und Zeitsprünge mehr als sechzehn Jahre –, sondern auch die Perspektive bzw. die Fokusfiguren. Denn im Mittelpunkt stehen nun vor allem die sehr unterschiedlichen Geschwister Asuka und Mirai 未来, erstere die im Einvernehmen an Kindes statt aufgenommene Tochter, letztere die nach Kaorus Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft gezeugte leibliche Tochter. Satonaka rekurriert hier auf weit verbreitete Narrative im shōjo-Manga, wie zum Beispiel die Frage nach der eigenen Herkunft, den Zweifel an der entgegengebrachten Liebe oder das vergebliche Hüten düsterer Familiengeheimnisse, die viel Raum für den Blick in die psychischen Abgründe der Protagonistinnen erlauben: Kyōko, die lange Zeit glaubt, Kaoru wisse nichts von Asukas wahrer Herkunft; Kaoru, der von Asukas Herkunft weiß, aber vor Kyōko vorgibt, nichts davon zu wissen; Asuka, die seit ihrem sechsten Lebensjahr von ihrer wahren Herkunft weiß, sich vor Kyōko und Kaoru jedoch unwissend stellt, um deren Gefühle nicht zu verletzen; Mirai wiederum, die glaubt, dass sie das adoptierte, Asuka hingegen das leibliche Kind von Kyōko und Kaoru sei; etc. – und natürlich bei allen Personen der entsprechende Schock, als die vermeintlich wohl gehütete Wahrheit dann doch ans Tageslicht kommt. Das Motiv des ultimativen Partners wird bei Satonaka Machiko zirkulär in der nächsten Generation fortgesetzt. Asuka findet in ihrem Klassenkameraden Yashiro Ken’ichi 矢代健一 einen Seelenverwandten, da auch er im Grunde eine Kriegswaise ist, die von Adoptiveltern großgezogen wird, im Gegensatz zu Asuka jedoch diese elterliche Liebe lange Zeit in Zweifel zieht. Mirai wiederum findet in dem Jungen Ōtani Shingo 大谷進吾 ihren soulmate, da auch dieser – Grund ist hier eine frühere Erkrankung an Polio – schwächlicher als die anderen Kinder ist. Diese unaufhaltsame Fragmentierung der Familie (und somit auch der Narration) wird erst durch Kaorus Krebsdiagnose und der Prognose über die noch verbleibende Lebenszeit gestoppt. Überhaupt ist der schwächliche Gesundheitszustand Kaorus der Auslöser, dass sich bruchstückhaft das verdrängte Vergangene seinen Weg doch noch einmal in das Bewusstsein der Figuren bahnt. Zehn Jahre nach seiner Rückkehr nach Japan bricht Kaoru plötzlich auf einer Familienreise – wenn auch sehr kurz – sein Schweigen über seine fünf Jahre dauernde Kriegsgefangenschaft in Russland: »Ich habe dir noch nie von dem Kriegsgefangenenlager erzählt, stimmt’s?« (Ebd.: Bd. 2, 245) Aber auch hier, in diesem dreiseitigen Rückblick, geht es eher um das Evozieren eines atmosphärischen Eindrucks von der Unmenschlichkeit der Lagerbedingungen, als um eine präzise historische Schilderung des Lebens in russischer Kriegsgefangenschaft:

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»An Tagen, an denen die Arbeit besonders hart war, habe ich mich an deine Stimme erinnert, in Nächten, in denen es klirrend kalt war, habe ich mich an deine warme Brust erinnert. Wie oft nur hatte ich den Mut verloren und gedacht, dass ich jetzt wohl sterben werde. Was mir aber Mut gemacht hat, das war… deine Liebe.« (Ebd.: 246)

Abbildung 3: Satonaka: Ashita kagayaku, Bd. 3, S. 110f.

Quelle: Chūō kōronsha 1998

Und auch die unbeschwerte Zeit in der Mandschurei kommt unter Einwirkung der Narkose vor der alles entscheidenden OP noch einmal in einem Flashback zurück in Kaorus Erinnerung: »Schau nur, alles wie früher. Du und ich, wir sehen aus wie damals. Ist etwa alles, was wir bis jetzt erlebt haben, nur ein Traum gewesen? Wir haben das Jahr 1945 und es hat noch nicht… Schau nur, Reika ist da, und auch Yōjun ist da. Warum sind die beiden nur hier? Wirklich alles lange her…« (Ebd.: Bd. 3, 111; siehe Abbildung 3)

Mit Kaoru, der wenig später im Februar des Jahres 1964 – eine der ganz wenigen expliziten intradiegetischen Zeitangaben in diesem Werk – an den Folgen seiner Krebserkrankung verstirbt, verstummen auch diese Stimmen aus der Vergangenheit unwiderruflich.

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Der Manga, der im Anschluss in starker Zeitraffung auf den weiteren Lebensweg von Mirai und vor allem Asuka fokussiert, – erstere heiratet noch als Studentin Shingo, während sich letztere nach Eintritt in die medizinische Fakultät der Universität T. von Ken’ichi immer mehr entfremdet und sich erst Jahre später zu ihrer Liebe zu ihm bekennt –, endet mit Kyōkos Entschluss, das Haus der Familie Hayami zu verkaufen. Hier am Ende der Geschichte, intradiegetisch vermutlich im Jahr 1973, also dem Ende der Serialisierung des Manga, kulminieren die Erinnerungen zum ersten und einzigen Mal in einem inneren Monolog Kyōkos und be- bzw. versiegeln gleichzeitig die Vergangenheit als einen Teil der neuen Gegenwart (siehe Abbildung 4): »Alles habe ich von dir gelernt, […] dass Liebe Liebe hervorbringt und Hoffnung Hoffnung gebiert… Weil du [immer bei mir] warst, konnte ich bis zum heutigen Tag weiterleben. Und dass auch jetzt meine Welt immer noch im Licht der Hoffnung erstrahlt, liegt daran, dass du [immer bei mir] warst. Auch in Zukunft werde ich, ohne ein Gefühl von Traurigkeit zu kennen, mit dem Strahlen dieser Welt als Proviant weiterleben [können].« (Ebd.: 258f)

Abbildung 4: Satonaka: Ashita kagayaku, Bd. 3, S. 258f.

Quelle: Chūō kōronsha 1998

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MEHR ALS NUR EINE SCHMONZETTE: WIE DIE ULTIMATIVE LIEBE DOCH NOCH GESCHICHTE ERZÄHLT Satonaka Machikos Und morgen strahlt wieder die Sonne ist, wie gesehen, durchzogen, man ist als Rezipient fast geneigt zu sagen durchtränkt, vom Motiv der ultimativen und somit einen, ewigen Liebe, die sich in Monologen und Dialogen ihren Weg durch die Narration bahnt: »Es gibt zwar Menschen, die sagen, dass für einen Mann die Liebe zu einer Frau nicht unbedingt so etwas Wichtiges sei, ich jedoch bin da anderer Meinung. […] Was kümmern mich die anderen. Weil ich dich mit Leib und Seele liebe, konnte ich mich [in der Gefangenschaft] stählen und abhärten. Ich zumindest kann es sagen. Auch bei einem Mann kann es vorkommen, dass die Liebe zu einem Proviant fürs Leben wird.« (Ebd.: 140)

Die Liebe von Kyōko und Kaoru, die in dieser letzten Liebeserklärung von Kaoru sicherlich ihren emotionalen Höhepunkt findet, ist zwar der rote Faden, der sich durch die gesamte Geschichte zieht, doch würde man Werk, Genre und Autorin definitiv unrecht tun, wenn man Und morgen strahlt wieder die Sonne lediglich als Liebesgeschichte in historischem Setting, als tränenreiche Schmonzette abtun würde. Satonaka hat zwar, wie auch Yonezawa Yoshihiro 米沢嘉博 in seiner Nachkriegsgeschichte des Mädchenmanga (Sengo shōjo manga shi) konstatiert, in allen ihren Werken die ultimative Liebe als tragendes Motiv, doch sind diese meist zu gut recherchiert, um sie darauf allein zu reduzieren (vgl. Yonezawa 2007: 240-243). Auffällig ist das besondere Raum-Zeit-Regime in diesem Werk. Denn nach Kyōkos Rückkehr nach Tokio scheinen die nächsten 27 Jahre in der erzählten Zeit der Narration quasi zeit- und ortlos zu sein. So wie Kyōko ihre Erinnerungen an ihr Leben in der Mandschurei verdrängt, scheint sie gleichzeitig auch Tokio als konkreten Ort aus ihrem Leben auszublenden. Für Kyōko steht bis zu ihrer Aufgabe des Hauses gegen Ende der Narration die Zeit mehr oder minder still. Ob amerikanische Besatzung, Koreakrieg, Sommerolympiade oder Wirtschaftswunder – die rasanten Veränderungen der Nachkriegszeit scheinen ohne Relevanz und Konsequenz für das Leben im Hause Hayami zu sein. Die einzigen historischen Ereignisse, die intradiegetisch thematisiert werden und eine punktuelle zeitliche Verordnung der Narration ermöglichen, haben hingegen mit der Mandschurei, dem Krieg und der Migration zu tun: Die Ankündigung der letzten Heimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft im Jahr 1950, unter denen sich dann auch

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Kaoru befindet, und die Entsendung Ken’ichis als Sonderberichterstatter nach Peking, die erst ab 1972 mit der Normalisierung der Außenbeziehungen zwischen Japan und China möglich wird. Satonaka Machiko nutzt zum Zwecke der Komplexitätsreduktion zwei immer wiederkehrende Elemente, um die Mandschurei als Leerstelle in Kyōkos neuem Leben für den Leser präsent zu halten. Zum einen fungiert der Apfel als eine positive Assoziationslinie zur Vergangenheit. Mit Kyōkos angebissenem Apfel beginnt die Liebesgeschichte. Der Apfel verbindet Reika, aus deren Garten die Äpfel ursprünglich stammen, mit Kyōko und Kaoru. Die Erinnerung an die Frucht verleiht Kaoru während der Kriegsgefangenschaft die Kraft zum Überleben. Und nach Kaorus Einlieferung ins Krankenhaus dient er als Symbol der Hoffnung auf einen Neuanfang, ein Zurückdrehen der Zeit zu den vermeintlich glücklicheren Tagen in der Mandschurei. Zum anderen fungiert Kyōkos Schulfreundin Hiroko ひろ子 als negative Assoziationslinie zur Vergangenheit. Ähnlich wie Kaga quasi als personifiziertes Kondensat des Militärs in der Mandschurei dient, steht Hiroko sozusagen exemplarisch für die alles andere als beliebte Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten. Eine Zivilbevölkerung, die zum Beispiel Kyōkos offenen Umgang mit der Lokalbevölkerung verstörend findet, Kaoru zum eigenen Überleben an das russische Militär ausliefert, die Frauen auf dem Schiff, die von ihren zurückgelassenen Kindern erzählen, als Kindsmörderinnen brandmarkt, Kyōkos Privatleben durch das gezielte Ausplaudern von Asukas wahrer Herkunft regelmäßig vor eine Zerreißprobe stellt und allen alles neidet. Hiroko ist in ihrer Überzeichnung ein durch und durch unsympathischer Charakter; sie ist der gesellschaftlich kontaminierte Gegenentwurf zu Kyōkos shōjo-hafter Reinheit. Im Gegensatz zu den anderen Vertreterinnen der Gruppe der 24er, die für ihre Geschichten bevorzugt Andersorte oder Anderszeiten wählen wie zum Beispiel das Altertum im fernen Ägypten oder Mesopotamien, die Zeit der Französischen Revolution oder die Wirren der Oktoberrevolution,21 sodass die Geschichten keinen direkten Bezug zur Lebensrealität der jungen Leserinnen haben, stellt sich Satonakas Manga Und morgen strahlt wieder die Sonne, der, wie bereits gesagt, kurz nach der offiziellen Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu China serialisiert wurde, einem eher unbequemen und verdrängten Thema, wie die Künstlerin selbst auch im Vorwort zur Liebhaberausgabe (aizōban 愛蔵版) des Werkes erklärt:

21 Vgl. zum Beispiel Takemiya Keikos Das Grab des Pharao (1974-1976; Farao no haka ファラオの墓), oder Ikeda Riyokos Rosen von Versailles (1972-1974; Berusaiyu no bara ベルサイユのばら).

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»Heutzutage, wo die durchschnittliche Lebenszeit in Japan bei achtzig Jahren liegt, ist es absurd, etwas, das vor fünfzig Jahren passierte, als ›ferne Vergangenheit‹ abzustempeln. Viele der Menschen, die während des Krieges noch Jugendliche oder schon junge Männer waren, leben heute noch. Und nicht nur in Japan. Auch in anderen Ländern leben die Menschen von damals immer noch. Es gibt Dinge, die man an die nächste Generation weitergeben sollte, solange man lebt. Erinnerungen, die erodieren, wenn die Betroffenen diese nicht selbst erzählen. Nichtsdestotrotz scheinen aber die Japaner davon überzeugt sein zu wollen, ihre Geschichte mit dem Datum des Kriegsendes teilen zu müssen in ›ein davor‹ und ›ein danach‹, so wie [bei einem Wäschestück], das dann nicht mehr schmutzig ist, wenn man es einmal abgewaschen hat.« (Satonaka 1998: Bd. 1, 294)

Der Umgang mit der japanischen Kriegsgeschichte ist, wie auch die Diskussionen um die japanische Geschichtslehrbuchdebatte in der Nachkriegszeit eindrücklich gezeigt haben, zu einer Art Lackmustest für die Gesellschaft geworden, die sich im Rahmen nationaler Viktimisierung im System Nachkriegsjapans (Sengo Nihon 戦後日本) emotional von der eigenen Geschichte und der Frage der Kriegsverantwortung distanziert.22 Sie versucht diesen Teil der Geschichte genauso in einer Zeitkapsel zu verschließen, wie dies beispielsweise auch bei den Abwürfen auf Hiroshima und Nagasaki der Fall ist, in deren Zuge letztlich die ganze Nation in eine Atombombenopfernation unter Ausschluss der realen Opfer transformiert wird.23 Der am 01. März 1932, also rund ein halbes Jahr nach der Invasion 1931, gegründete Scheinstaat Manshūkoku sollte zwar auf dem Papier ganz im Zeichen einer Eintracht der fünf Volksgruppen (gozoku kyōwa 五族協和), das heißt der Chinesen, Mandschuren, Koreaner, Mongolen und Japaner stehen. Doch war es letztere, die mit 230.000 Personen, die bereits im Zuge der angesprochenen Landeserschließung der 1906 gegründeten Südmandschurischen Eisenbahngesellschaft auf dem Staatsgebiet siedelten, nur rund 1 % der Gesamtbevölkerung ausmachte, welcher de facto die Führungsrolle in Manshūkoku vorherbestimmt sein sollte.24 Zu diesem Zwecke galt, wie bereits weit vor der Invasion von Gotō Shinpei 後藤新平 propagiert, der flächendeckenden Neubesiedlung der Mandschurei mit einer Million siedlungswilliger Japaner bzw. japanischer Haushalte, die das Gebiet wie ein Netz durchziehen sollten, oberste Priorität. Im Oktober 1932 wurde 22 Hierzu sei verwiesen auf die Arbeit von Ienaga (2002; Sensō sekinin) sowie Band 14 der Werksausgabe (1998; Ienaga Saburō shū 家永三郎集), der sich ganz den Debatten in den sogenannten Geschichtslehrbuchprozessen hinsichtlich der Frage nach der japanischen Kriegsschuld und -verantwortung widmet. 23 Vgl. hierzu die Arbeit von Okuda (2010; Genbaku no kioku). 24 Vgl. zu den Zahlen Futamatsu 2015: 22f.

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bereits der erste Probesiedlertrupp (shiken imin 試驗移民), der in ländlichen Regionen Japans rekrutiert und drei Wochen lang für seine neue Aufgabe ausgebildet wurde, nach Manshūkoku gebracht. Ihm folgten bis 1936 jährlich weitere Trupps, sodass nach Abschluss der Testphase 3106 Haushalte mit rund 15.000 Personen übergesiedelt waren. Ab 1937 setzte dann der auf 20 Jahre angelegte Eine-MillionPlan (Hyakumanko ijū keikaku 百万戸移住計画) ein, der in einem Intervall von jeweils fünf Jahren vorsah, bis 1957 erst 100.000, dann 200.000, dann 300.000 und schließlich 400.000 Haushalte überzusiedeln – Zahlen, die jedoch nie erreicht wurden. Insgesamt siedelten 270.000 Personen im Zuge des Regierungsprogramms bis zum Kriegsende in die Mandschurei über.25 Die Siedlungspolitik verfolgte dabei mehrere Ziele: Zum einen sollte, wie bereits erwähnt, der Staat Manshūkoku durch eine flächendeckende Vernetzung japanischer Siedler regierungs- und kontrollfähig bleiben, zum anderen sollten Bodenschätze erschlossen und der Soja-Markt monopolisiert werden. Und nicht zuletzt wollte man der schnell wachsenden Verarmung auf dem Land in Japan entgegenwirken, indem durch Reduktion der Dorfmitglieder – die sogenannte Übersiedlung durch Dorfteilung (bunson imin 分村移民) war ein beliebtes Mittel – den zurückgebliebenen Familien mehr Ackerfläche zur Verfügung stehen sollte (vgl. Yasutomi 2015: 85116; Futamatsu 2015: 57-68). Da die südamerikanischen Staaten Peru und Brasilien Mitte der dreißiger Jahre einen Einwanderungsstopp für Japaner verhängt hatten, war die Mandschurei als vermeintliches Auswanderungsparadies nun auch zu einem wichtigen sozialen Ventil geworden. Für die neuen Siedlerströme musste vor allem Land bereitgestellt werden, das nicht, wie der Name Landerschließungstrupp (kaitakudan 開拓団) suggerieren würde, erst einmal urbar zu machen war, sondern mehr oder minder einer Enteignung gleichkommend den ansässigen Chinesen und Mandschuren für einen symbolischen Dumpingpreis abgekauft wurde. Die daraus resultierenden Spannungen entluden sich regelmäßig in gewaltsamen Übergriffen von Seiten der Lokalbevölkerung gegen die Siedler, die dann noch regelmäßiger vom japanischen Militär blutig niedergeschlagen wurden. Manshūkoku war – von den Leiden der Lokalbevölkerung einmal ganz zu schweigen – für die japanischen Siedler, die oft aus der Armut in ihrer Heimat Japan in das vermeintlich neue gelobte Land des Neuanfangs gezogen waren, doppelt tragisch. Aufgrund der Unkenntnis klimatischer und topographischer Besonderheiten blieb der erhoffte bessere Lebensstandard auf dem asiatischen Festland meist aus. Bei der Rückkehr nach Kriegsende in die japanische Heimat war das vor der Aussiedlung zurückgelassene Land in der Regel irreversibel verloren. Rund 80.000, das heißt knapp ein Drittel der neuen Siedler, kehrten nicht mehr zurück, und diejenigen, die es schafften, mussten meist in 25 Vgl. ausführlich die Darstellung bei Katō 2017: 73-116.

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noch größerer Armut leben als vor ihrem Exodus.26 Auch Manshūkoku ist – wie Hiroshima oder Nagasaki – daher in diesem Sinne geradezu dafür prädestiniert, im Zuge der nationalen Erinnerungskultur der Nachkriegszeit vor allem zu einem reinen Opfer- denn zu einem Täterdiskurs zu werden (vgl. Futamatsu 2015: 252260). Dies sollte sich, wie zuvor angesprochen, in einem sehr revisionistischen Geschichtsbild im Rahmen des schulischen Geschichtsunterrichts niederschlagen. Durch die Serialisierung in einem der großen Wochenmagazine für MädchenManga war Satonaka Machikos Und morgen strahlt wieder die Sonne nicht nur dem strengen Regime des Publikationszyklus der Wochenmagazine unterworfen, weshalb jede Woche eine festgesetzte Seitenzahl (mit möglichst einem zugkräftigen Cliffhanger) abzuliefern war, sondern musste vor allem auch spezifischen Genre- und Leserinnenerwartungen Rechnung tragen. Aus diesen Gründen wirkt das Werk viel weniger handlungsorientiert, als dies bei einem Jungen-Manga der Fall ist, was sich an der begrenzten Anzahl an Schauplätzen und Szenen zeigt, und sucht – wenngleich hier eine deutliche Zunahme an inneren Monologen, Collagen etc. im Publikationsverlauf des Werkes bemerkbar ist – stattdessen eher die Handlungsverlagerung ins Innere der Figuren, um die Narration zu entfalten. Die Charaktere erlangen – nicht zuletzt durch die semiotisch hochkodierte, auf ungeübte Augen aber eher irritierend wirkende Darstellungsweise des Genres MädchenManga – dadurch einen hohen Grad an Komplexität und werden so zu attraktiven Projektionsfolien für die Leserinnen, sodass die Geschichte im Manga nicht als His-story, sondern als Her-story zu lesen ist. Da es sich bei dem anvisierten Zielpublikum des Wöchentlichen Mädchenfreunds, in dem Satonakas Manga erschienen war, in der Regel um 12 bis 15 Jahre alte Mädchen handelte, musste die Geschichte von Kyōko und Kaoru inhaltlich verständlich und emotional attraktiv sein. Gerade vor dem Hintergrund eines revisionistischen Geschichtsverständnisses, das jede Form von sogenannter masochistischer Geschichtsschreibung (jigyakuteki rekishikan 自虐的歴史観) tunlichst in den Schulbüchern vermied, war die Verständnisbrücke, die es für die Autorin zu schlagen galt, keine leichte, wollte sie nicht die Gunst der jungen Leserinnen und damit ihren angestammten Platz in dem Magazin verlieren. Der Publikationsverlauf des Jungen-Manga Barfuß durch Hiroshima zeigt dies als Vergleichsgröße deutlich: Dieser Manga wird am kritischsten und differenziertesten, nachdem die Serialisierung in dem Wochenmagazin Shōnen Jump beendet worden war und er anschließend in alternativen, politisch motivierten Zeitschriften außerhalb des Mainstreammarktes der großen Magazine veröffentlicht wurde.

26 Zu den Zahlen vgl. auch Katō 2017: 217f.

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Satonaka Machikos Und morgen strahlt wieder die Sonne ist in diesem Sinne ein äußerst bemerkenswertes Werk, widmet es sich einem unbequemen Geschichtsthema zu einer besonders heiklen Zeit auf dem großen, kompetitiven und auflagenstarken Markt der Magazine. Hier ist – wenn man geneigt sein sollte, das Werk mit euro-amerikanischen Graphic Novels zum Thema Krieg oder Migration vergleichen zu wollen – zu bedenken, dass es sich bei diesen Werken nicht um den Mainstreammarkt der Comic-Produktion handelt, das heißt Auflagenstärke, Publikum und Verbreitungsgrad dieser Werke in einer gänzlich anderen Liga spielen.27 Ein Unterschied, der mir hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen des kritischen Erzählens mit Text und Bild in Manga und Comic zentral erscheint. Durch Satonakas Werk ist sicherlich alles andere als eine kritische Aufarbeitung der Kolonialpolitik in der Mandschurei im Zuge des fünfzehnjährigen Krieges erfolgt – doch die findet ja meist noch nicht einmal in den zentralen Leitmedien in Japan statt, wo man sie eigentlich erwarten würde. Durch Und morgen strahlt wieder die Sonne ist jedoch ein durch Diskurse zur Leerstelle gemachter Teil der Geschichte wieder sichtbar gemacht worden. Mittels der Schicksalsgeschichte von Kyōko und Kaoru wird das dunkle Kapitel des Marionettenstaates Manshūkoku sicherlich nicht in seiner historischen Komplexität, aber zumindest in seiner humanen Tragweite emotional für die jungen Leserinnen erfahrbar. Und wenn diese Leerstelle durch ein persönliches (fiktionales) Schicksal gefüllt und so in der Erinnerung der Leserinnen verankert wird, so hat der Manga als kommerzielles, auflagenstarkes Massenmedium schon sehr viel erreicht.

LITERATUR Berndt, Jaqueline (2000): »Shojo manga/Mädchen-Comics in Japan«, in: Lexikon der Comics 35, Erg.-Lfg. (Sept. 2000), S. 1-40. Futamatsu, Hiroki 二松啓紀 (2015): Imin-tachi no »Manshū« 移民たちの「満 州」 (Heibonsha shinsho 平凡社新書 762), Tokio: Heibonsha. Gordon, Andrew (2002): A modern history of Japan. From Tokugawa times to the present, New York/Oxford: Oxford University Press. Heibonsha (2015): Gensuibaku manga korekushon 原水爆漫画コレクション, Bd. 3: Enkō 焔光, Tokio: Heibonsha. Ienaga, Saburō 家永三郎 (1998): Ienaga Saburō shū 家永三郎集, Bd. 3: Rekishi kyōiku, kyōkasho saiban 歴史教育・教科書裁判, Tokio: Iwanami shoten.

27 Wie eingangs betrachtet gäbe es auf dem Sektor der Avantgarde-Manga problemlos Werke, die man als geeignetere Vergleichsgröße heranziehen könnte.

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Popularisierung von Kriegserinnerung im Manga In this corner of the world (Kōno Fumiyo, 2007-2009) Elisabeth Scherer

EINLEITUNG In Japan gibt es eine Vielzahl von Manga zum Zweiten Weltkrieg, die in ihrer Intention, Zielgruppe und thematischen Ausrichtung sehr unterschiedlich ausfallen. Es gibt Werke, die in der Manier eines Abenteuer-Manga heroische Geschichten von Piloten erzählen ebenso wie solche, die die Situation der Soldaten an der Front ungeschönt in ihrem ganzen Schrecken zeigen (vgl. Nakar 2008). Einige Künstler haben ihre eigenen Erfahrungen mithilfe von graphischen Erzählungen aufgearbeitet, wovon Nakazawa Keijis Barfuß durch Hiroshima (1973-1987; Hadashi no Gen はだしのゲン) mit Millionen verkaufter Bände in Japan und Übersetzungen in über 40 Sprachen sicher das bekannteste Beispiel ist (vgl. Chute 2016: 121). Sogenannte Bildungs-Manga (gakushū Manga) sind darauf ausgelegt, Geschichte in der Art eines Schulbuches möglichst faktenreich und ›korrekt‹ zu vermitteln und konzentrieren sich daher mehr auf politische Ereignisse als auf Charaktere und Emotionen. Auf der anderen Seite gibt es, wie der Beitrag von Stephan Köhn in diesem Band zeigt, Künstlerinnen, die im Genre des Mädchen-Manga (shōjo Manga) arbeiten und den Krieg vor allem als Hintergrund für eine Liebesgeschichte wählen. Das ideologische Spektrum von Manga über den Krieg reicht von sehr kritischen Anti-Kriegs-Werken, zum Beispiel über Zwangsprostitution durch das japanische Militär (vgl. Ropers 2011), bis hin zu nationalistischen Machwerken wie Kobayashi Yoshinoris Bestseller Über den Krieg (1995-2003; Sensōron 戦争論), in dem unter anderem Kamikaze-Flieger glorifiziert und das Nanking-Massaker heruntergespielt werden (vgl. Sakamoto 2008).

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In jüngerer Zeit hat eine Manga-Künstlerin mit Erzählungen über den Krieg eine für das Thema überraschend große Popularität erreicht: Über 1,3 Million Bände wurden von dem Manga In this corner of the world (2007-2009; Kono sekai no katasumi ni この世界の片隅に) von Kōno Fumiyo1 (geboren 1968 in Hiroshima) verkauft. Mit derartigen Absatzzahlen kann im Bereich der westlichen ›KriegsComics‹ nur Art Spiegelmans Klassiker Maus (1980-1991) mithalten. Die Geschichte über eine junge Frau und ihre Erlebnisse in der Hafenstadt Kure in den Jahren 1944 und 1945 ist vergleichsweise schlicht. Die Protagonistin Suzu heiratet, kümmert sich in der Familie ihres Mannes um den Haushalt, wird bei einem Luftangriff verwundet und muss den Verlust geliebter Menschen verarbeiten. Doch gerade weil der Manga eine sehr enge Perspektive wählt, auf die Erläuterung politischer Entwicklungen weitgehend verzichtet und stattdessen das Alltagsleben von Suzu in all seinen Details schildert, hat er eine große Anhängerschaft gefunden. Kōno Fumiyo legt in ihrem Werk einen Schwerpunkt auf die affektive Dimension von Geschichte, zeigt viele Ansätze außergewöhnlicher Erzählweisen und arbeitet zugleich mit historischen Materialien, die einen dokumentarischen Charakter erzeugen. Wie ich erläutern werde, kreiert der Manga durch derartige Darstellungsverfahren einen Eindruck von Authentizität, der ihn zum Ansatzpunkt kollektiver Erinnerung werden lässt. Die Art der Kriegserinnerung, die In this corner of the world ›bedient‹, erfüllt dabei bestimmte Bedürfnisse, die zur Entstehungszeit des Manga besonders im Vordergrund stehen. Dies entspricht Nakars Beobachtungen zur Entwicklung von Manga über den Krieg in Japan: »Manga stories about World War II clearly reflect the different times in which they were produced, faithfully conforming to contemporary dictates of the collective moods and perceptions of the war.« (Nakar 2008: 198) Manga wie In this corner of the world sind damit nicht einfach ›Speicher‹ für die Erinnerung an die Kriegszeit, sie sind selbst daran beteiligt, kollektive Erinnerung zu schaffen und auszugestalten. Oder wie Erll allgemein über Medien schreibt: »What they appear to encode – versions of past events and persons, cultural values and norms, concepts of collective identity – they are in fact first creating.« (Erll 2011: 114) Sicher ist jedes Werk über den Krieg in gewisser Weise auch ein Text kollektiver Erinnerung. Meine These ist jedoch, dass der Manga In this corner of the world bewusst als Werk des Erinnerns konzipiert ist und dieser Aspekt einen wichtigen Teil seines Erfolges ausmacht. Im Folgenden werde ich aufzeigen, in welchem diskursiven Feld sich der Manga bewegt, welche Darstellungsverfahren ihn

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Im westlichen Kontext wird der Nachname der Künstlerin häufig auch mit der Umschrift Kouno wiedergegeben.

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zur ›Erinnerungsfiktion‹ machen und welchen Einfluss die Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 (3/11) auf die Rezeption des Werkes hatte.2

DER MANGA UND SEINE ERFOLGSGESCHICHTE In this corner of the world erzählt die Geschichte der jungen Frau Urano Suzu, die in Hiroshima aufwächst, 1944 mit 18 Jahren durch ein Arrangement der Eltern mit dem vier Jahre älteren Hōjō Shūsaku verheiratet wird und daraufhin mit ihm in dessen Heimatstadt Kure geht, ein Marinestützpunkt in der Nähe von Hiroshima. In Kure lebt sich die etwas verträumte Suzu schnell in ihre neue Familie und Nachbarschaft ein und wächst in ihre neuen Aufgaben als Hausfrau hinein. Der Manga schildert durch seine Protagonistin detailliert das Alltagsleben im Krieg: Die materielle Not, den Erfindungsreichtum der Frauen, die Vorbereitungen auf den Ernstfall über die Nachbarschaftsvereinigung3 (tonarigumi). Der Krieg ist für Suzu in Kure zunächst zwar geographisch weit entfernt, aber dennoch omnipräsent. Sie sieht die Schlachtschiffe im Hafen, nimmt an Wehrübungen teil und hilft beim Bau eines Luftschutzbunkers. Das Jahr 1945 hält für Suzu eine Reihe harter Schicksalsschläge bereit, wovon der erste der Tod ihres Bruders an der Front ist. Im Mai 1945 wird auch Kure zum Kriegsschauplatz: Suzu gerät mit ihrer kleinen Nichte Harumi in einen Bombenangriff, bei dem Harumi stirbt und sie selbst ihren rechten Arm verliert. Beim Atombombenabwurf auf Hiroshima kommt schließlich Suzus Mutter um, und ihr Vater stirbt noch im gleichen Jahr an den Folgen der Strahlung. Ihre Schwester Sumi überlebt zwar zunächst, leidet aber ebenfalls an der Strahlenkrankheit. Dennoch vermittelt der Manga kein Gefühl von Ausweglosigkeit, sondern zeigt, wie Suzu trotz ihrer schweren Verluste versucht, ihr Leben weiterzuleben. Kleine ko-

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In this corner of the world ist 2018 im Carlsen Verlag in einer deutschen Übersetzung (angefertigt von Cordelia Suzuki) erschienen. Wörtliche Textzitate entnehme ich aus dieser Übersetzung; für die Abbildungen wähle ich hingegen die japanische Version, um die typographische Gestaltung des Originals wiedergeben zu können.

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Nachbarschaftsvereinigungen (tonarigumi), in denen etwa zehn bis 20 Haushalte zusammengefasst waren, bildeten die kleinste Verwaltungseinheit im imperialistischen Japan. Zunächst wurden sie vor allem eingerichtet, um die Menschen ideologisch auf den Krieg einzustimmen, mit der Zeit erfüllten sie aber auch ökonomische Zwecke. Vor allem die Verteilung von Lebensmitteln war eine wichtige Aufgabe der tonarigumi (vgl. Pauer 1999: 88f.).

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mödiantische Episoden, die der Verträumtheit und Tollpatschigkeit von Suzu geschuldet sind, lockern die Erzählung ebenso auf wie Kōnos Zeichen- und Erzählstil, der stellenweise sehr originell und experimentell ausfällt, zum Beispiel durch Wechsel im Zeichenduktus und Zeichenmaterial. Am Ende des Manga steht eine Geste der Hoffnung: Suzu und Shusaku nehmen ein kleines Waisenmädchen auf, das im Krieg seine Eltern verloren hat. Für die Zeichnerin Kōno Fumiyo, die selbst aus Hiroshima stammt, war In this corner of the world nicht ihre erste Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg: 2003/2004 zeichnete sie auf Anregung des Manga Action-Redakteurs Someya Makoto4 das Werk Town of Evening Calm, Country of Cherry Blossoms (2007; Yūnagi no machi, sakura no kuni 夕凪の街 桜の国), in dem sie die Folgen des Atombombenabwurfes auf Hiroshima thematisiert. Dieser Manga wurde zum großen Durchbruch für Kōno: In Japan wurden rund 450.000 Bände verkauft (vgl. Crank-in 2018), das Werk gewann diverse Preise und wurde in verschiedenen anderen Medien adaptiert. Daraufhin entschloss sie sich, ein breiteres Panorama der Kriegszeit aus weiblicher Sicht darzustellen und wählte die Hafenstadt Kure als Schauplatz, in der sich eines der wichtigsten Marinearsenale Japans befand. Welche Bedeutung Kure hatte, verdeutlicht Kōno innerhalb des Manga in Kapitel 30, in dem sie in der Manier einer Infografik die Entwicklung des Marinestützpunkts im Kontext wichtiger nationaler Ereignisse von 1889 bis 1945 aufzeigt – eine der wenigen Stellen, wo der Manga die begrenzte Perspektive der Protagonistin verlässt und auf die politischen Hintergründe der Handlung eingeht. Kōno verbindet einen Zeitstrahl mit Graphiken, die den Aufbau von Kure im Laufe der Zeit verdeutlichen und stellt daneben Schattenrisse von Kriegsschiffen, die zur jeweiligen Zeit fertiggestellt wurden (siehe Abbildung 1). So wird deutlich, wie aus einem kleinen Ort mit Schiffbau ein riesiger Stützpunkt wurde, aus dem 1941 das berüchtigte Kriegsschiff Yamato5 vom Stapel lief (vgl. dt. Bd. 3: 13f., jp. Bd. 3: 11f.). Kure erlebte aufgrund seiner strategischen Bedeutung von März bis Juli 1945 heftige Bombardements, bei denen auch sehr viele ZivilistInnen starben. Auf dem Höhepunkt der Luftangriffe am 01. Juli 1945 wurde die Innenstadt zerstört und über 2000 der damals etwa 40.000 EinwohnerInnen fanden den Tod (vgl. Lee 2016: 248). Über diese historische Bedeutung 4

Someya schildert im Interview, dass der Hiroshima-Manga zunächst nur als ein kleines Projekt gedacht war, Kōno aber schließlich ein Jahr recherchierte und das Ergebnis alle Erwartungen übertraf (vgl. Nikkei Style 2010).

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Mit dem Motiv des Kriegsschiffes Yamato in dem Manga beschäftigt sich Lee ausführlich. Das Schiff, das 1945 durch US-Luftangriffe versenkt wurde, ist noch heute ein wichtiges und omnipräsentes nationales Symbol und steht für »heroic sacrifice and technological achievement« (Lee 2006: 251).

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hinaus war Kure für Kōno auch deshalb eine naheliegende Wahl, weil dort ihre Mutter und ihre Großmutter geboren wurden und sie den Dialekt gut kennt (vgl. Konomanga 2015). Abbildung 1: Die Entwicklung des Marinestützpunkts Kure in einer Art Infografik, jp. Bd. 3, S. 11f.

Quelle: Futabasha 2009

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Die Idee zu In this corner of the world arbeitete Kōno Fumiyo zuerst in drei Kapiteln (erschienen 2006/2007) aus, die in den dreißiger Jahren spielen und die Kindheit der Protagonistin Suzu zeigen. Daraufhin wurde der Manga wie das Vorgängerwerk in Manga Action serialisiert (2007-2009), einer Manga-Zeitschrift, die zweiwöchentlich erscheint und dem sogenannten seinen-Genre zugehörig ist. Dieses Genre richtet sich klassischerweise an ein vornehmlich männliches, junges erwachsenes Publikum, mittlerweile ist der LeserInnen-Kreis jedoch wesentlich diverser geworden. 2008/2009 erschien das Werk in drei Sammelbänden (tankōbon). Die Erfolgsgeschichte von In this corner of the world erstreckte sich schließlich noch auf weitere Medien. Als erste Adaption wurde am 05. August 2011 ein Fernsehfilm auf dem Sender Nihon terebi ausgestrahlt. Der August, auf den auch die Jahrestage der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki (05. und 08. August) sowie der japanische Gedenktag des Kriegsendes (15. August) fallen, zeichnet sich allgemein durch eine vermehrte Thematisierung des Zweiten Weltkrieges in den japanischen Medien aus. Es ist eine typische Zeit für solche Kriegserinnerungsfilme – fiktional oder auch dokumentarisch – im japanischen Fernsehen (vgl. Masuda 2019). Ein wesentlich größeres, auch internationales Echo fand jedoch die Anime-Adaption des Werkes von 2016 (Regie: Katabuchi Sunao). Dass eine solche Adaption erfolgversprechend sein würde, zeigte schon eine Crowdfunding-Kampagne im Vorfeld der Produktion: 3347 Personen unterstützten den Film über die Crowdfunding-Plattform Makuake mit über 39 Millionen Yen (vgl. Makuake Website), was fast doppelt so viel war wie ursprünglich von den Produzierenden anvisiert (vgl. Loriguillo-López 2017: 190). Viele haben offenbar Geld gegeben, weil sie schon Fans des Manga waren. In ihren Kommentaren auf Makuake schreiben einige SpenderInnen aber auch, dass sie sich aufgrund der Erlebnisse ihrer Großeltern für das Thema interessieren, während andere erwähnen, dass sie selbst in Hiroshima oder Kure – den Schauplätzen des Manga – leben. Der Anime spielte rund 27 Milliarden Yen (etwa 224 Millionen Euro) ein und lockte etwa 2,1 Millionen Menschen vor die Leinwand (vgl. Miyazaki/Tsuchiya 2018), darunter, wie der Regisseur selbst berichtet, zu seiner Überraschung auch sehr viele ältere Menschen (vgl. Sugawara 2016). Der Film gewann zahlreiche Preise im In- und Ausland, darunter als zweiter Animationsfilm überhaupt den renommierten Kinema-Junpo-Award für den besten japanischen Film des Jahres (2017). Auch international fand der Anime ein breites Echo, über Kinos und DVD-Veröffentlichungen, vor allem aber über Netflix, das In this corner of the world 2018 in sein Programm aufnahm (vgl. Pineda 2018). 2018 folgte eine neunteilige Serie mit bekannten japanischen SchauspielerInnen auf dem Sender TBS, und Ende 2019 kam eine extended version des

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Anime in die japanischen Kinos.6 Die Geschichte um Suzu und ihren Alltag im Krieg hat sich somit transmedial weit verbreitet und national wie international ein sehr großes Publikum gefunden.

IM SPANNUNGSFELD VON ERINNERUNGSDISKURSEN Ein Werk wie In this corner of the world, das über 60 Jahre nach Kriegsende erschienen ist, schließt immer an zahlreiche andere Erinnerungsdiskurse an und ruft bestimmte »Erinnerungsorte« (lieux de mémoire, Nora 1998) ab, das heißt fest im kollektiven Gedächtnis verankerte Ereignisse, Orte, Bilder etc. Dabei geht es in Kōnos Manga zunächst weniger um politische Entwicklungen der Zeit: Diese finden im Hintergrund statt und die LeserInnen erfahren davon für gewöhnlich nur aus der begrenzten Perspektive der Protagonistin Suzu. Statt Informationen über größere Zusammenhänge kommen bei ihr nur Neuigkeiten über konkrete Maßnahmen im Alltag an, die erforderlich werden, wie zum Beispiel die Einschränkung des Bahnbetriebes für ZivilistInnen (dt. und jp. Bd. 1: 106). Es gibt jedoch auch zwei zentrale historische Ereignisse, die Suzu selbst direkt erlebt: Den Atombombenabwurf auf Hiroshima und die Radioansprache des Kaisers am 15. August 1945 (Gyokuon hōsō), in der die Kapitulation bekannt gegeben wird. Diese beiden Ereignisse sind heute in der kollektiven Erinnerung an den Krieg in Japan absolut dominant und als zentrale Erinnerungsorte schon unzählige Male in verschiedenen Medien aufgegriffen und verarbeitet worden. Indem sie diese beiden Ereignisse thematisiert, schließt Kōno an ein riesiges Diskursfeld des kollektiven Gedächtnisses an. Dies erleichtert einerseits das Etablieren des Manga als ›Erinnerungstext‹, andererseits birgt es für die Künstlerin auch die Gefahr, durch das erneute Aufgreifen vielfach reproduzierter Bilder ins Stereotype abzugleiten. Die Bombe erleben Suzu und ihre Familie von Kure aus als Blitz, dem eine leuchtende Wolke folgt. Die Wolke zeigt Kōno einmal ganzseitig am Ende des 37. Kapitels, und dann noch einmal ähnlich am Anfang des 38. Kapitels – beide Bilder sind im Sammelband auf einer Doppelseite abgedruckt (siehe Abbildung 2, dt. Bd. 3: 80f., jp. Bd. 3: 78f.).

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Diese Version ist 30 Minuten länger, enthält zusätzliche historische Details und nimmt sich mehr Zeit, um Suzu und ihre Beziehung zu den anderen Figuren zu charakterisieren (vgl. Sugimoto 2019).

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Abbildung 2: Die Wolke nach der Atombombe, von Kure aus gesehen, jp. Bd. 3, S. 78f.

Quelle: Futabasha 2009

Auf der ersten Seite ist Suzu klein unten im Bild mit der Familie ihres Mannes von hinten zu sehen, auf der zweiten, die sehr ähnlich aufgebaut ist, nur noch Suzu vor der sich inzwischen schon auflösenden Wolke. Neben dem ersten Bild sind in der japanischen Version rechts in kleiner Schrift einige Informationen zu finden, wie die Distanz zwischen Hiroshima und Kure (20 Kilometer) und die Zeit zwischen Blitz und Erscheinen der Wolke in Kure (ca. eine Minute).7 Das zweite Bild ist in drei Panels unterteilt und wird zusätzlich durch eine Graphik unterbrochen, die die Bahnlinie zwischen Hiroshima und Kure mit ihren Stationen zeigt. Dazu sind mehrere Sprechblasen zu sehen, in denen Theorien zu der Wolke wiedergegeben werden: »Vielleicht war es ja nur eine Art Test«. Die Aufteilung in mehrere Panels deutet an, dass Suzu lange Zeit wie erstarrt vor der Wolke steht, die ihr anzeigt, dass in ihrer Heimatstadt etwas Schreckliches geschehen ist. Die Skizze der Bahnlinie verdeutlicht, dass die Protagonistin das Geschehen nur zehn Haltestellen von der Atombombe entfernt miterlebt. Die Wolke hat nicht die typische 7

In der deutschen Ausgabe wurden diese Informationen ins Glossar verschoben, was sie etwas weniger relevant erscheinen lässt.

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Pilzform, was wie Takeuchi (2016) erläutert der tatsächlichen Perspektive entspricht, die damals die Menschen vor Ort auf das Geschehen hatten. Das ikonische Bild der pilzförmigen Wolke, das die US Air Force aufgenommen hatte, verbreitete sich erst wesentlich später in Japan. Takeuchi sieht in dieser Korrektur des visuellen Gedächtnisses von Hiroshima eine Stärke des Manga: »Kouno’s confinement to everyday life […] reveals its critical potential as it suggests changing the perspective, literally, on the level of vision, and figuratively, on the level of historical memory.« (Takeuchi 2016: 249) Welches Potenzial in solchen Details liegt, sieht man unter anderem daran, dass Form, Größe und Farbe der Wolken in Manga und Anime im Internet vielfach diskutiert und auf Plausibilität geprüft wurden.8 Die Radioansprache zur Kapitulation ist im Manga auf die Weise dargestellt, wie sie in Japan immer wieder in Filmen und Fernsehserien zu sehen ist: Eine Personengruppe kniet vor einem Radio und lauscht den Worten des Kaisers, die hier im Manga auch in Ausschnitten wiedergegeben werden (siehe Abbildung 3). Diese Ansprache, in der Hirohito davon spricht, das »Unerträgliche zu ertragen und das nicht Erduldbare zu erdulden«,9 und damit insgesamt weniger Schuld eingesteht, als einen neuen Opfermythos begründet, hinterließ auf die Menschen in Japan einen tiefen Eindruck: »Like insects in amber, lines and phrases from the broadcast soon became locked in popular consciousness.« (Dower 2000: 36) Wie die Radioansprache im Manga thematisiert wird, entspricht zwar weitgehend den üblichen Konventionen des kollektiven Erinnerns an dieses Ereignis, auf der visuellen Ebene zeigt Kōno dennoch einige Originalität (vgl. dt. Bd. 3: 93, jp. Bd. 3: 91). Wie in der populären Ikonographie üblich, wird im Vordergrund das Radio dargestellt und dahinter eine kniende Personengruppe, die der Ansprache lauscht. Die Personengruppe wird jedoch fast vollständig durch eine riesige Sprechblase überlagert, in der Fetzen der allseits bekannten Ansprache abgedruckt sind – unterbrochen durch das Onomatopoetikon »zazaza« bzw. »zā«, das für die Störgeräusche steht, die während der Ausstrahlung zu hören waren (vgl. Dower 2000: 34).

8

Siehe zum Beispiel Sentoku-ji Blog, Kanō 2017.

9

Eine deutsche Übersetzung der Radioansprache findet sich in Krebs 1996.

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Abbildung 3: Die Radioansprache des Kaisers zum Kriegsende, jp. Bd. 3, S. 91

Quelle: Futabasha 2009

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Schon die Größe der Sprechblase verdeutlicht den überwältigenden Charakter der Situation. Die Zeichen dieser ›Textwand‹, die alle Gesichter verdeckt, sind nicht nur in einer anderen Schrifttype gesetzt, sondern auch etwas größer und ausschließlich in Katakana, der Silbenschrift, die heute hauptsächlich für Fremdwörter verwendet wird. Durch diese Konnotation und dadurch, dass die einzelnen Wörter durch den Verzicht auf chinesische Schriftzeichen (Kanji) weniger leicht zu identifizieren sind, wirkt der Text der Ansprache hier schwer verständlich und fremdartig. Hiermit wird durch die typographische Gestaltung der Effekt imitiert, den die sehr sperrig formulierte Ansprache damals auf die Zuhörenden gehabt haben muss:10 Nur langsam wurde ihnen bewusst, was das alles zu bedeuten hatte. Deutlich zeigt sich das auch in dem zweiten, identisch aufgebauten Bild, das auf die Textwand folgt; hier sind nun die Gesichter der Familie zu sehen, die erstarrt und entgeistert wirken. Unten auf der Seite folgt eine Detailansicht der Gesichter, und in Sprechblasen werden die nun folgenden Fragen aufgegriffen: »Bedeutet das … etwa … dass wir verloren haben?«. Kōno zeigt mit dieser Inszenierung das Potenzial graphischen Erzählens, auch überstrapazierte Ereignisse kollektiver Erinnerung auf (in Details) überraschende Weise aufzugreifen und ihnen damit erneut Gewicht zu verleihen. Wie der Manga Und morgen strahlt wieder die Sonne (1972-1973; Ashita kagayaku あした輝く, Satonaka Machiko, vgl. den Beitrag von Stephan Köhn in diesem Band) zeigt In this corner of the world das historische Geschehen ganz aus weiblicher Perspektive. Im Unterschied zu dem Werk aus den siebziger Jahren, das sehr deutlich von den Konventionen des Mädchen-Manga (shōjo Manga) geprägt ist, liegt der Grund dafür jedoch nicht in erster Linie in der Zielgruppe, die mit dem Manga angesprochen werden soll.11 Die weibliche Perspektive ist vor allem deshalb naheliegend, weil Kōno sich in ihrem Werk dem Krieg aus einer 10 In der deutschen Übersetzung kann die zusätzliche Bedeutungsebene, die sich durch die typographische Gestaltung der Radioansprache ergibt, nicht wiedergegeben werden; zugleich ist das Narrativ des 15. August im deutschen Sprachraum aber auch kaum bekannt und ein innovativer Blickwinkel daher vielleicht weniger notwendig. 11 In this corner of the world richtet sich an ein wesentlich diverseres Publikum und ist dadurch auch weniger Konventionen unterworfen. Der Manga ist in Manga Action erschienen, einer Zeitschrift, die sich an ein männliches erwachsenes Publikum richtet und seit den nuller Jahren vermehrt auch kritische Themen aufgreift. Derartige seinenZeitschriften haben sich inzwischen aber auch den female mode of address aus den shōjo-Manga zu eigen gemacht, und sprechen mit vielen Produktionen ebenso eine weibliche Leserinnenschaft an (vgl. Antononoka 2019; Lamarre 2009: 218f.). Mit dem Erscheinen als Sammelband in hoher Auflage wurde das Publikum schließlich noch erweitert.

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Alltagsperspektive nähert und nicht direkt das Kriegsgeschehen an der Front zeigt wie bekannte Soldaten-Manga, zu denen zum Beispiel Mizuki Shigerus autobiographisches Werk Auf in den Heldentod! (1973; Sōin Gyokusai Seyo! 総員玉砕 せよ!) oder die aktuelle Serie Peleliu, Guernica of Paradise (seit 2016; Periryū – Rakuen no Gerunikaペリリュー: 楽園のゲルニカ, Takeda Kazuyoshi und Hiratsuka Masao) gehören. Kōno wählt die Heimatfront als ihren Schauplatz und zeigt, wie Frauen, Kinder und alte Menschen in Japan zur Kriegszeit leben. Dies eröffnet grundsätzlich die Möglichkeit, neue Blickwinkel auf das Thema Krieg zu finden und zu schildern, wie auch die Zivilbevölkerung in die Ideologie des Ultranationalismus und Expansionismus eingebunden wurde. Statt diese Chance einer kritischen Aufarbeitung zu ergreifen, schließt Kōno jedoch eher an eine Herangehensweise an, die Smith (2002) im National Shōwa Memorial Musem in Tokio beobachtet hat. Dieses staatlich finanzierte Museum widmet sich der Geschichte der Shōwa-Zeit (1926-1989) und legt einen starken Fokus auf Alltagsgeschichte und materielle Kultur: »The result is a narrative that celebrates the bravery and sacrifice of the average citizen while at the same time eliding their powerlessness, as individuals, against the developments that led to war and ultimately to defeat.« (Smith 2002: 60) Den Alltag zur Kriegszeit dokumentiert Kōno insgesamt sehr detailliert; sie präsentiert dafür parallel zur Handlung auch Abbildungen, die im Stil von Infografiken gehalten sind. Auf diese Weise portraitiert sie Handlungsabläufe aus dem Alltag von Suzu derart genau, dass sie schon beinahe als eine Art Anleitung gelten können. So wird Schritt für Schritt gezeigt, wie man aus einem Kimono eine (für die Kriegszeit praktische) Arbeitshose (monpe) mit Oberteil schneidern kann (vgl. dt. und jp. Bd. 1: 91f., 95). Wie man sich bei Bombenalarm verhält, was zur Luftschutzausrüstung gehört und welche Arten von Bomben es überhaupt gibt, ist ebenfalls Thema von mehreren Infografiken (vgl. dt. Bd. 3: 5-10, jp. Bd. 3: 3-8). Ein ganzes Kapitel widmet sich dem Thema Kochen zur Kriegszeit, wobei es vor allem darum geht, aus wenig viel zu machen und Dinge zu nutzen, die man in der Natur findet, wie Löwenzahn oder Schachtelhalm (vgl. dt. und jp. Bd. 1: 113-120). Dass man dieses Kapitel auch als Rezept nutzen kann stellte Katabuchi Sunao, der Regisseur der Anime-Adaption, unter Beweis: Eine Dokumentation des öffentlich-rechtlichen TV-Senders NHK zeigt ihn beim Kochen der Gerichte, was auch seinen Anspruch untermauert, einen möglichst authentischen Eindruck vom Leben zur Kriegszeit zu bekommen (vgl. NHK 2017). Derartige minutiöse Schilderungen des Alltags mögen für das Publikum zunächst harmlos, vielleicht sogar nostalgisch erscheinen, Lee (vgl. 2016: 266) sieht darin jedoch auch eine ideologische Dimension: Die Darstellung der ZivilistInnen, die sich ohne zu klagen anpassen, die Situation mit großer Ausdauer ertragen und

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ihr Schicksal annehmen, spiele die Beteiligung der Bevölkerung am Krieg herunter und bediene das Narrativ der kollektiven Unschuld. In Japan gibt es, wie verschiedene Studien zeigen, eine Art Tradition, durch die Darstellung des Krieges aus weiblicher Sicht die Opferperspektive in den Vordergrund zu stellen. Wie Yoneyama (1999: 208) erläutert, hat sich in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg ein Narrativ der »feminization of memory« entwickelt, das Frauen als unschuldige Opfer des imperialistischen Regimes darstellt. Man kann dieses Narrativ als Strang eines größeren Opferdiskurses sehen, der das Leid der japanischen Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt stellt, und ›das Volk‹ damit von Verantwortung für japanische Aggression freispricht. Werden Kriegsgräuel thematisiert, so meist als etwas, das von ›anderen‹ verübt wurde und das abstrakten Entitäten zugeordnet wird, wie ›das Militär‹, ›der militaristische Staat‹ oder ›das System‹ (vgl. Orr 2001: 3). Wie Coates (2018) deutlich macht, wird dies im japanischen Film über die Figur der shōjo verhandelt, die häufig im Zentrum der Handlung von Filmen über den Zweiten Weltkrieg und die Atombombenabwürfe steht. Das Leid der alles still ertragenden shōjo wird idealisiert und ästhetisiert und sie wird zu einer »abstract representative of the suffering of all the Japanese people after 1945« (Coates 2018: 106). Yoshida spricht von einer »(hyper)feminization through the nation-as-victim narrative« (Yoshida 2019: 160). Durch einen solchen affektiven Fokus auf die Opferperspektive in populären Erzählungen sei es laut Yoshida gelungen, Japans Rolle als Aggressor herunterzuspielen, das Gesicht der Nation zu wahren sowie den Krieg zu depolitisieren und in den Bereich der Nostalgie zu rücken. Kōno Fumiyo wurde schon bei ihrem Hiroshima-Manga Town of Evening Calm, Country of Cherry Blossoms vorgeworfen, an derartige Diskurse einer feminisierten »victimized public war memory« (ebd.: 156) anzuschließen sowie einen wichtigen Teil der Erinnerung auszublenden, der mit dem von ihr portraitierten »Atombomben-Slum« (genbaku slum) eng verbunden ist: Die Erinnerung an die koreanische Bevölkerung, die dort als Folge der japanischen Kolonialpolitik lebte (vgl. Ichitani 2010: 382-388). Auch zu In this corner of the world wurden kritische Stimmen laut. Lee (vgl. 2016: 253) merkt an, das stoische Durchhaltevermögen der Figuren in diesem Manga wirke wie die Idealbilder aus der japanischen Kriegspropaganda. In einem Schreibseminar des Thinktank Genron äußerten NachwuchswissenschaftlerInnen viele kritische Aspekte des Werkes (vor allem in der Anime-Version), wie die Charakterisierung von Krieg als etwas Unausweichlichem, das einfach geschieht (vgl. Itoumo 2017), oder die Betonung der Opferposition, die Suzu zu einem problematischen Symbol für Japan werden lässt (vgl. Fushimi 2017).

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Es geht mir nicht in erster Linie darum, Kōnos Perspektive auf den Krieg zu bewerten. Der Fokus meiner Untersuchung liegt auf der Konstruktion als ›Erinnerungstext‹, und hierfür ist Kōnos Strategie, an populäre Erinnerungsdiskurse anzuschließen, sicherlich als ein wichtiger Erfolgsfaktor zu werten. Darüber hinaus gelingt es ihr durch verschiedene Mittel, ihren Manga als ›authentisches‹ Werk zu etablieren.

AUTHENTIFIZIERUNGSSTRATEGIEN IM MANGA Manga wie literarische Texte haben ein besonders großes Potenzial, zu Texten der kollektiven Erinnerung zu werden, wenn sie lebendige Details des Alltagslebens zeigen und dadurch den Eindruck erwecken, einen authentischen Einblick in eine bestimmte Zeit zu geben. Das Erzählte wird so »als Gegenstand des alltagsweltlichen kommunikativen Gedächtnisses« (Erll 2005: 268) inszeniert, ein rhetorisches Verfahren, das Erll als »erfahrungshaftigen Modus« (ebd.) beschreibt. Besonders authentisch wirken in historischen Erzählungen Gegenstände und Aspekte, die entweder durch persönliche Erinnerung der Rezipierenden mit dieser Zeit verknüpft werden oder in anderen populären Texten als typische Marker immer wieder auftauchen. Die Inszenierung von Erinnerung weist dabei einige Gemeinsamkeiten mit allgemeinen Authentifizierungsstrategien historischer Comics auf, wie sie unter anderem von Hillenbach (2014) und Gundermann (2018) beschrieben werden. Jedoch geht es in ›Erinnerungsfiktionen‹ wie In this corner of the world neben der Vermittlung von Glaubwürdigkeit auch um die Herstellung von Nähe, wie ich später noch genauer erläutern werde. Die Zeichnerin Kōno Fumiyo hat nicht nur den Anspruch, in ihrem Manga einen Eindruck von Authentizität zu erzeugen, sie sieht das Werk sogar als eine Art Stellvertreter für fehlende historische Aufzeichnungen. Wie sie selbst in einem Interview betont, sei die Quellenlage, was die Perspektive von Hausfrauen auf den Krieg betrifft, eher dünn: Schließlich hätten diese kaum Zeit gehabt, neben ihrem anstrengenden Alltag Aufzeichnungen über ihre Situation zu machen (vgl. Konomanga 2015). Der Manga ist darauf ausgelegt, diese Lücke zu schließen und die Erinnerungen der Betroffenen über die Figur Suzu ins kollektive Gedächtnis zu überführen. Als Kōno den Manga gezeichnet hat, waren noch viele Menschen am Leben, die sich selbst an die dargestellte Zeit erinnern: »Bei Werken über den Krieg ist das Besondere, dass es immer noch Menschen gibt, die damals gelebt haben und das überprüfen können, daher war es mir wichtig, keine Fehler zu machen.« (ebd.) In solchen Aussagen zeigt sich der besondere Anspruch Kōnos an

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ihre Werke, in einem Unterhaltungsmedium auch dokumentarische Zwecke zu erfüllen. So bedankt sich Kōno am Ende des dritten Sammelbandes bei Personen, die ihr mit ihren Erinnerungen geholfen haben, nennt wichtige Einrichtungen wie Museen als Quelle und listet zahlreiche Publikationen auf. Mit dieser Kontextualisierung und paratextuellen Rahmung als minutiös recherchiertes Werk nutzt Kōno eine Authentifizierungsstrategie, die Gundermann als »Inszenierung wissenschaftlicher Historiographie« (Gundermann 2018: 273) beschreibt. Die angeführten Institutionen, wissenschaftlichen Quellen und Zeitzeugen untermauern die Seriosität des Manga und seinen Anspruch, etwas ›Echtes‹ zu präsentieren. Auch die bereits erwähnten Infografiken tragen zu diesem Bild eines dichten, historisch gesättigten Werkes bei. Ein weiteres Mittel, dem Manga Authentizität zu verleihen und einen ›Wirklichkeitseffekt‹ zu erzeugen, sind Objekte, die zum materiellen Gedächtnis der geschilderten Zeit gehören (siehe hierzu auch Schmitz-Emans Beitrag in diesem Band). Dazu gehören Dinge, die heute in Geschichtsbüchern oder Museen zu sehen sind ebenso wie Konsumgüter der dreißiger und vierziger Jahre. So zeigt Kōno, wie die Kinder 1934 von Morinaga-Schokolade in der zeittypischen Verpackung träumen (vgl. dt. und jp. Bd. 1: 7) und wie 1945 mit Beginn der Besatzungszeit plötzlich neue Marken wie Hershey’s oder Lucky Strike im Alltag auftauchen (vgl. dt. Bd. 3: 122, jp. Bd. 3: 118). Originalgetreue Details wie Geldscheine (vgl. dt. und jp. Bd. 1: 100) und Flugblätter der Amerikaner12 (vgl. dt. Bd. 3: 90, jp. Bd. 3: 88) tauchen ebenso auf wie ein patriotisches Kartenspiel für Kinder (sogenannte Aikoku iroha karuta 愛国イロハカルタ), das damals der Indoktrination der ›kleinen Staatsbürger‹ (shōkokumin) diente.13 In der Akribie, mit der sie derartige historische Objekte wiedergibt, ähnelt Kōnos Arbeitsweise der des französischen Comic-Künstlers Jacques Tardi, der in seinen Werken (die sich unter anderem dem Ersten Weltkrieg widmen) ebenfalls häufig solche »Referenten vergangener Realität« (Kollmeier 2011: 87) einsetzt. Wie Kollmeier darlegt, trägt das Aufgreifen zeitgenössischer Texte und Objekte in graphischen Erzählungen nicht nur zu einer Plausibilisierung der dargestellten historischen Situation bei, sondern verschafft auch den historischen Quellen durch die Reproduktion neue Bekanntheit. Deutlich zeigt sich das auch bei Kōno: Auf die Abbildung des patriotischen Kartenspiels, bei dem Sprüche Bildern zugeordnet werden müssen, verwendet sie ein ganzes Kapitel (entspricht acht Seiten, vgl. dt. Bd. 2: 93-100, jp. Bd. 2: 91-98). 12 Text und Aufmachung sind exakt einem Flugblatt nachempfunden, das im Irifuneyama Memorial Museum in Kure ausgestellt ist (vgl. Homepage Kure sensai). 13 Zu Propaganda, die sich zur Kriegszeit an japanische Kinder richtete, vgl. Frühstück 2017 und Scherer 2018.

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Sie zeichnet alle 47 Kartenpaare des historischen Kartenspiels neu, ersetzt die Sprüche, die im Original in Katakana-Silbenschrift gehalten sind, zugunsten der Lesbarkeit durch eine Kombination aus Kanji und Kana, baut teilweise die Protagonistinnen des Manga ein und gibt zu manchen Karten auch kurze Erklärungen (siehe Abbildung 4). Abbildung 4: Reproduktion eines patriotischen Kartenspiels aus der Kriegszeit, jp. Bd. 2, S. 92f.

Quelle: Futabasha 2008

So bereitet sie das historische Material zwar einerseits auf, stellt es den Rezipierenden zugleich aber auch weitgehend unkommentiert in seiner Gänze zur Verfügung, sodass sie es selbst erkunden und sich ihre Gedanken dazu machen können. Wie Takeuchi (vgl. 2016: 251) beobachtet, hebt sich das Spiel auch im Zeichenstil und durch den schwarzen Hintergrund vom übrigen Manga ab, sodass es beinahe wirkt, als seien die Karten auf einem Tisch ausgebreitet. Mit dem KartenspielKapitel tritt Kōno damit für einen Moment aus der Narration heraus und schafft für einige Seiten eine Art museale Situation. Beim ursprünglichen Erscheinen des Manga in der Zeitschrift Manga Action muss dieser Effekt noch eindrücklicher gewesen sein: Hier bekamen die LeserInnen in der Ausgabe vom 22. Januar 2008 von Kōno ausschließlich das Kartenspiel zu sehen, ohne weitere erzählerische

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Rahmung (vgl. Kōno Fumiyo Fanpage). Das Kapitel war mit dem Erscheinen im Januar auch jahreszeitlich angepasst, denn karuta-Spiele sind in Japan ein beliebter Zeitvertreib zu Neujahr. Kōnos spielerischer Umgang mit historischem Material zeigt sich im Manga außerdem, als die kleine Harumi ein abgelegtes Schulbuch ihres Bruders Hisao erhält. Hier ist nicht nur in einem Panel das typische Titelbild des zeitgenössischen Schulbuches Yomikata (vgl. Waseda University Library Website) zu sehen, sondern in einem anderen Panel auch eine Innenseite, die von dem kleinen Jungen mit Kritzeleien und frechen Sprüchen verziert wurde (siehe Abbildung 5, dt. Bd. 2: 131f., jp. Bd. 2: 129f.). Abbildung 5: Historisches Schulbuch Yomikata, Inszenierung im Manga, jp. Bd. 2, S. 129f.

Quelle: Futabasha 2008/Waseda University Library Website

Mit diesem kleinen Kniff bricht Kōno die ideologische Geradlinigkeit des historischen Materials etwas auf und verdeutlicht, dass solche nationalistisch aufgeladenen Objekte im Alltagsgebrauch nicht immer unbedingt so rezipiert wurden wie offiziell vorgesehen. Der Manga hat hier durch die narrative Einbindung mehr als ein Museum die Möglichkeit, historische Objekte als selbstverständliche, beiläufig genutzte Dinge im lebensweltlichen Kontext zu zeigen.

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Zugleich sind Kōnos Detailtreue und das Interesse, das der Manga unter den Lesenden geweckt hat, auch der ideale Ausgangspunkt für Ausstellungen, die das Alltagsleben der Kriegszeit zum Thema haben. Einige Museen in Japan haben dies bereits genutzt und ausgehend von Manga und Anime Sonderausstellungen organisiert, wie zum Beispiel das National Shōwa Memorial Museum (2018, vgl. Shōwakan Website) und das Shōwa Era Lifestyle Museum in Tokio (2019/2020, vgl. Bijutsu Techō Website). In solchen Ausstellungen können Besucherinnen und Besucher Kleidung aus der Zeit ebenso in Augenschein nehmen wie Möbel und Konsumartikel. Auch das patriotische Kartenspiel darf natürlich nicht fehlen. Suzu dient als ›Postergirl‹ dieser Ausstellungen und die Identifikation mit ihr ist zentral für die Präsentation. Diese enge Verbindung zur Kriegserinnerung im Museumskontext ist ein weiterer Hinweis darauf, dass der Manga und der Anime es in kürzester Zeit geschafft haben, sich in Japan als Texte des kollektiven Gedächtnisses zu etablieren und nun als eine Art Eingangstor zur nationalen Erinnerungskultur fungieren.

ERZEUGUNG VON NÄHE: EFFEKTE DER SERIALISIERUNG UND DAS ›HANDGEMACHTE‹ Eine weitere Strategie, die Kōno mit ihrem Manga verfolgt, um Geschichte für ihr Publikum greifbar zu machen, ist die Erzeugung von Nähe zur Protagonistin und zum dargestellten Geschehen. Ihr Ansatz ähnelt dabei dem von TV-Serien über den Krieg, die, wie Creeber (vgl. 2001: 453) darlegt, durch ihre Serialität und einen intimen Charakter die Möglichkeit haben, Geschichte für das Massenpublikum so aufzubereiten, dass dieses sich identifizieren und einfühlen kann. Der Aspekt der Serialität erzeugte bei In this corner of the world eine wirkungsvolle Dimension von Nähe, die sich allerdings nur bei der Erstveröffentlichung in der Zeitschrift Manga Action entfalten konnte.14 Die Kapitel, die jeweils in einer Ausgabe der Zeitschrift veröffentlicht wurden, tragen als Titel neben der Kapitelnummer Monats- und Jahresangaben, wie zum Beispiel »August, Jahr 19«. Kōno veröffentlichte die Kapitel so, dass der Monat des Erscheinens der jeweiligen Ausgabe mit dem Monat auf der Ebene der Diegese übereinstimmte. Das wirkte sich unter anderem so aus, dass im Manga die gleiche Jahreszeit herrschte

14 Hosoma (2006) widmet eine detaillierte Analyse den diversen Effekten, die sich durch die Art der Serialisierung in der Zeitschrift Manga Action ergaben – eine Studie, die deutlich zeigt, dass ein vollständiges Verständnis von Manga immer nur möglich ist, wenn man sie auch im Kontext ihres Ursprungsmediums betrachtet.

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wie zur Zeit des Erscheinens, was sich am Wetter zeigt, der Kleidung der Protagonistin oder auch der Vegetation. Für die Leserinnen und Leser, die vielleicht gerade ebenfalls draußen den Löwenzahn blühen sahen oder von der Erkältungssaison betroffen waren, wurde es durch diese scheinbar geteilte Erfahrung noch einfacher, die Lebenswelt der Protagonistin nachzuempfinden. Auch ergaben sich durch diese Veröffentlichungsstrategie besondere Spannungseffekte, wie als Suzus Schwiegervater nach einem Luftangriff verschollen ist und von der Familie erst einen Monat später – also im übernächsten Kapitel, auf das die LeserInnen ebenfalls einen Monat warten mussten – verletzt in einem Krankenhaus wiedergefunden wird. Als sich auf der Ebene der Diegese langsam der August 1945 nähert, bangten die Fans außerdem um die Protagonistin, da ihre Familie in Hiroshima lebt und in Kapitel 35 (Juli) sogar die Rede davon ist, dass sie dorthin zurückgehen könnte (vgl. Hosoma 2016: 55; Konomanga 2015). Kōno synchronisierte auch noch auf anderer Ebene: Die Erstveröffentlichung war so terminiert, dass zur damals aktuellen Heisei-Ära (1989-2019) das gleiche Jahr war wie auf der Ebene der Diegese in der Shōwa-Ära (1926-1989). So ist zum Beispiel Kapitel 8 mit »Mai, Jahr 19« übertitelt, womit der Mai des Jahres Shōwa 19 (1944) gemeint ist. Dieses Kapitel erschien am 22. Mai 2007, was dem Jahr 19 der Heisei-Ära entspricht. Durch diese Parallelisierung der beiden Jahre 19 scheint die historische Distanz aufgehoben, die geschilderten Ereignisse werden aus der Linearität der Zeit herausgehoben und rücken näher an das Leben der Rezipierenden (vgl. auch Berndt 2018: 77). Kōno betreibt hier gewissermaßen Kommemoration als Wiederholung, ähnlich wie sie von Aleida Assmann (2011: 233) für Jahrestage beschrieben wird: »Sie fädelt die Vergangenheit in die Gegenwart ein, sie vollzieht Vergegenwärtigung in diesen performativen Akten des Rückgriffs«. Die Zeitangaben in Jahresdevisen wie Shōwa und Heisei lässt Geschichte »als eine Art Ozean« erscheinen, »in welchem die einzelnen Ereignisse wie Inseln verstreut liegen« (Antoni 1998: 19f.); dies erleichtert Kōno die Vergegenwärtigung der geschilderten Ereignisse. Auch der Kritiker Ebihara Yutaka weist darauf hin, dass es Kōno gelingt, durch ihre Protagonistin Suzu die große Distanz aufzuheben, die das Publikum heute häufig zum Geschehen des Zweiten Weltkrieges empfindet. So werde ano sensō – »jener Krieg«, der als längst entschwundene und abgeschlossene Vergangenheit betrachtet wird –, zu kono sensō, »diesem Krieg«, der bis heute betroffen macht und nachwirkt (vgl. Ebihara 2018: 277). Kōno erzeugt in ihrem Werk außerdem einen Eindruck von Intimität, indem sie die Überzeugungskraft des ›Handgemachten‹ nutzt. Alle Kapitel sind in freihändiger Zeichnung ausgeführt, ohne die im Mainstream-Manga üblichen Rasterfolien bzw. Bearbeitung am Computer. Die verwendeten Zeichenutensilien, die an

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einigen Stellen wechseln, und von Tusche, Bleistift und Kohle bis hin zu einer Vogelfeder reichen, sind in ihrer Materialität in der Strichführung deutlich erkennbar. Die stellenweise skizzenhaften oder auch wild schraffierten Zeichnungen verleihen dem Manga eine sehr menschliche Note, und wie Berndt (2018: 69) darlegt, könnte man hier auch eine Parallele zur »mühseligen Handarbeit, die den kriegszeitlichen Frauenalltag prägte«, sehen. Zugleich ergibt sich durch die verschiedenen zeichnerischen Herangehensweisen, die das Werk aufweist, eine Multiperspektivität: Die Protagonistin Suzu zeichnet selbst, und viele der Zeichnungen werden auf der Ebene der Diegese als ihr Werk eingeführt. Mit dem Zeichnen verarbeitet sie das Geschehen um sie herum, hält Momente fest und verarbeitet Erinnerungen. Eine ähnliche Herangehensweise hat auch schon Nakazawa Keiji für seine Atombomben-Manga I saw it (1972; Ore wa mita おれは見た) und Barfuß durch Hiroshima gewählt, in denen jeweils der Protagonist und andere Figuren durch Zeichnen oder Malen visuell Zeugnis ablegen: »[T]here is conspicuous attention to implements, to revealing and spotlighting acts of marking, to the hand« (Chute 2016: 128). In Kapitel 6 von In this corner of the world ist zum Beispiel zu sehen, wie Suzu sich einen Zeichenblock kauft, und auf den folgenden drei Seiten finden sich Zeichnungen von Gebäuden und Straßen in Hiroshima15, die eindeutig als Suzus Werk markiert sind. Wie häufig in In this corner of the world hat hier Suzus rechte Hand eine starke Präsenz, die beim Zeichnen zu sehen ist. Auf der letzten dieser Seiten (siehe Abbildung 6, dt. und jp. Bd. 1: 104) ist oben zunächst Suzu angeschnitten im Profil dargestellt und darunter eine Szenerie, die somit als ihre Perspektive gekennzeichnet ist: ein Blick auf ein Gebäude, ein Zeichenblock, auf dem gerade diese Szenerie festgehalten wird, und die beiden Hände der Protagonistin, die rechte mit einem Bleistift. Die gesamte Szenerie ist in zwei Panels unterteilt, was verdeutlicht, dass sich Suzu Zeit nimmt für ihren persönlichen zeichnerischen Abschied von der Stadt, bevor sie zur Familie ihres Mannes nach Kure zieht. Dazu ist in Sprechblasen zu lesen: »... sayōnara« und »sayōnara Hiroshima«.

15 Unter den Zeichnungen ist auch die »Halle zur Förderung der Industrie der Präfektur Hiroshima« (dt. und jp. Bd. 1: 102), die heute als Friedensdenkmal Genbaku Dōmu bekannt ist. Später taucht diese wieder in der ikonischen Form als Ruine auf (vgl. dt. Bd. 3: 138, jp. Bd. 3: 136).

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Abbildung 6: Suzu nimmt zeichnerisch Abschied von Hiroshima, jp. Bd. 1, S. 104

Quelle: Futabasha 2008

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Wie Berndt (2018) sehr ausführlich darlegt, ist die rechte Hand als Motiv in diesem Manga derart präsent und wird von Kōno so (häufig in Einzelpanels) in Szene gesetzt, dass man die Hand auch als Protagonistin oder Erzählerin des Werkes interpretieren kann. Sie werde »zum Eintrittspunkt in eine leere Fläche, die sowohl das Zeichenpapier der Protagonistin als auch die Mangaseite in der Hand der Leserin ist« (Berndt 2018: 65) und trage dazu bei, dass die Perspektiven von Zeichnerin, Protagonistin und LeserIn sich überlagern und ein Gefühl von Teilhabe entsteht. Besonders eindringlich wird diese Teilhabe ab Kapitel 33. Hier wird klar: Suzu hat bei einem Luftangriff, der im vorherigen Kapitel dargestellt wurde, nicht nur ihre Nichte verloren, sondern auch ihre rechte Hand, mit der sie die Nichte gehalten hat – und die bisher so zuverlässig den Weg durch die Geschichte gewiesen hat. Mit diesen Verlusten gerät Suzus Welt aus den Fugen: »Ich bin diejenige, deren Welt entstellt ist. Als wäre alles mit der linken Hand gezeichnet.« (dt. Bd. 3: 62f., jp. Bd. 3: 60f.) An dieser Stelle der Erzählung ändert sich auch der Zeichenduktus, die Linien werden gröber und wirken leicht zittrig. Kōno zeichnete diese Szenen, wie sie im Interview berichtet, tatsächlich zu einem großen Anteil mit der linken Hand, um die Gefühle der Protagonistin nachempfinden zu können und auch bei den Rezipierenden einen Effekt des Mitgefühls zu erzeugen (vgl. Konomanga 2015). Die innerliche Erschütterung, unter der die Protagonistin leidet, und auch die äußere physische Zerstörung ihrer Lebenswelt werden durch den subtil veränderten Zeichenstil für die Rezipierenden auf einer weiteren Ebene wahrnehmbar.16

INSZENIERUNG VON ERINNERUNG UND ÜBERLAGERUNG MIT 3/11 In this corner of the world ist nicht nur ein Manga, der an den Krieg erinnert, er inszeniert das Erinnern als Prozess auch sehr intensiv auf der Ebene der Diegese, ein Verfahren, das Erll als »reflexiven Modus« beschreibt – allerdings werden bei Kōno weniger »Funktionsweisen und Probleme des kollektiven Gedächtnisses in-

16 Für Manga-Fans könnten sich hier außerdem intertextuelle Assoziationen ergeben: Der bekannte Mangaka Mizuki Shigeru (1922-2015), der sich in einigen Werken sehr kritisch mit seinen Erfahrungen als Soldat auseinandergesetzt hat, verlor bei einem amerikanischen Luftangriff auf Papua-Neuguinea seinen linken Arm und musste als Linkshänder das Zeichnen mit der verbliebenen rechten Hand neu lernen (vgl. Davisson 2015).

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szeniert« (Erll 2005: 269) als individuelle Prozesse des Erinnerns. Der Bombenangriff, bei dem Suzu ihre Nichte Harumi und ihre rechte Hand verliert, ist eine deutliche Zäsur in der Geschichte und wird als traumatische Erfahrung präsentiert, die in der Gedankenwelt der Protagonistin durch innere Flucht, Erinnerung und Reflexion verarbeitet wird. Die so geschilderten Reflexionsprozesse sind zwar keine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Phänomen des kollektiven Gedächtnisses, haben aber dennoch erinnerungskulturelle Relevanz erlangt, was unter anderem eine Folge der Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 ist. Zunächst eine Analyse der Inszenierung von Erinnerung im Manga: Das schreckliche Ereignis selbst wird nicht direkt gezeigt, sondern der Imagination der Betrachtenden überlassen. Zu sehen sind in zwei Panels auf schwarzem Grund nur die Hände von Suzu und der Nichte, die ineinandergreifen und sich im zweiten Panel voneinander zu lösen scheinen. Danach folgen Szenen aus Suzus Kindheit, die sich durch die helleren Linien und leichte Schraffur von den übrigen Szenen abheben und somit als Erinnerungen markiert sind. Während sich die vorherigen Kapitel dadurch auszeichnen, dass es in ihnen kaum Erzählerkommentare gibt und das Geschehen hauptsächlich sehr unmittelbar im dramatischen Modus inszeniert wird, taucht in diesen Szenen nach dem schrecklichen Ereignis nun Suzu sehr präsent als Erzählerin auf. Ihre Reflexion der Ereignisse wird innerhalb der Panels als Text ohne Sprechblasen (und höchstens durch eine Unterbrechung der Schraffur begrenzt) präsentiert: »Hätte ich doch die Sandalen ausgezogen und wäre mit ihr den Hügel hochgerannt …« (dt. Bd. 3: 41, jp. Bd. 3: 39). Auf einer Doppelseite (siehe Abbildung 7, dt. Bd. 3: 42f., jp. Bd. 3: 40f.) ist dieser für die Protagonistin so schmerzhafte Prozess der Verarbeitung und Auseinandersetzung mit ihrer möglichen Schuld besonders virtuos inszeniert: Zunächst ist Suzu mit ihrer Nichte in vergangenen Tagen bei Alltagsverrichtungen zu sehen, dann die verletzte Suzu, die mit ihrem dicken Verband auf dem Boden liegt. Sie blickt auf die Urne mit der Asche der Nichte, erinnert sich an das Gesicht des Mädchens – das hier sehr lieblich wirkt – und anschließend wird in einer nur schemenhaft gezeichneten Szenerie dargestellt, wie Suzu von ihrer Schwägerin, Harumis Mutter, als »Mörderin« beschimpft wird. Dieses Geschehen spielt sich im oberen und unteren Drittel der Seiten ab, während das mittlere Drittel von einer Szenerie aus Kapitel 1517 unterbrochen wird, die hier fast exakt kopiert, aber um 90 Grad gekippt dargestellt ist: Suzu mit ihrem Mann Shūsaku auf einer Brücke, ein Bild aus der Anfangszeit ihrer Ehe, das für glückliche Tage steht. Die rechte Manga-Seite zeigt die eigentliche Szenerie, die linke die Spiegelung im Wasser. Darüber steht folgender Text: »Egal wie oft ich meine Augen … schließe und wieder öffne … schließe und wieder öffne. / Ich kann … meine Augen noch so oft 17 Das ursprüngliche Bild findet sich in dt. Bd. 2: 35, jp. Bd. 2: 33.

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schließen und wieder öffnen«. Dieser mittlere Teil erstreckt sich über die gesamte Doppelseite und fällt aus der üblichen Reihenfolge beim Rezipieren von Manga heraus – die Szenerie ist demnach nicht Teil einer chronologischen Abfolge, sondern eher als Zustandsbeschreibung zu sehen. Abbildung 7: Suzu nach dem Bombenangriff: Schmerzhaftes Erinnern, jp. Bd. 3, S. 40f.

Quelle: Futabasha 2009

Die um 90 Grad gekippte Perspektive wirkt wie der Blickwinkel der seitlich am Boden liegenden Suzu, die ihre Augen öffnet und schließt. Das Panel-Layout verstärkt so den affektiven Gehalt der Doppelseite und transportiert sehr eindringlich das subjektive Empfinden der Protagonistin. Suzu versucht, die schreckliche Realität auszublenden, die Augen vor ihr zu verschließen und in Bilder aus schönen Zeiten zu flüchten, dies ist jedoch unmöglich. Das Stilmittel der gedrehten Panels ist eine Spezialität Kōnos, die sie schon in Town of Evening Calm, Country of Cherry Blossoms genutzt hat; dort verdeutlicht das Layout den vergeblichen Versuch der Protagonistin, dem Trauma zu entkommen, das die Atombombe von Hiroshima hinterlassen hat (vgl. Takeuchi 2016: 250).

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Auch die weiteren nun folgenden Kapitel sind von Reflexion, Erinnerung und einer starken, emotionalen Erzählerinnenstimme geprägt. Alle erzählerischen Mittel hier im Detail aufzuzeigen würde zu weit führen, erwähnen möchte ich nur noch eine Doppelseite, die durch eine besonders starke Erzählerinnenpräsenz auffällt. Hier füllt eine Abbildung von Suzu, die auf dem Boden sitzt und den Stumpf an ihrem rechten Arm betrachtet, die gesamte Doppelseite aus (siehe Abbildung 8, dt. Bd. 3: 58f., jp. Bd. 3: 56f.). Abbildung 8: Die verlorene Hand als Motiv der Erinnerung, jp. Bd. 3, S. 56f.

Quelle: Futabasha 2009

Auf der oberen Hälfte des Bildes ist eine größere Menge an Text abgedruckt, die somit als Suzus Stimme markiert ist und die Ereignisse, die in dem Manga geschildert werden, noch einmal Revue passieren lässt. Jede einzelne Erinnerung ist dabei an ihre rechte Hand geknüpft, die nun nicht mehr da ist: »Meine rechte Hand. Mit der ich im Juni Harumis Hand hielt. Meine rechte Hand. Mit der ich im Mai den schlafenden Shusaku zeichnete. […] Meine rechte Hand. Die letztes Jahr im März Hiroshima zeichnete.« Nach dieser Situation des Innehaltens scheint Suzu wieder Kraft zu schöpfen: Kōno zeichnet sie nun wieder ohne Kopfverband, in aufrechter Haltung und mit sauberem Gesicht. Die Erzählung wechselt vom reflektierenden Modus wieder stärker zum dramatischen Modus und Suzu wird als aktiv Handelnde gezeigt.

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Das letzte Drittel der Geschichte konzentriert sich insgesamt stark auf den Verlust geliebter Menschen und zeigt, wie ein Weiterleben ohne sie funktionieren kann. Diese Eigenschaft des Manga, das Verarbeiten von Traumata so eindringlich zu inszenieren, ist meiner Meinung nach ein Hauptgrund dafür, dass das Werk und seine Anime-Adaption einen solch nachhaltigen Eindruck hinterlassen konnten. Zwar war der Manga schon bei seinem Erscheinen ein Erfolg, mit dem TōhokuErdbeben vom 11. März 2011 (3/11) wurde die Rezeption des Werkes aber noch um eine Dimension erweitert, die zu der mittlerweile überwältigenden Popularität der Geschichte beigetragen hat. Die Situation von Suzu und ihrer Familie, die in In this corner of the world geschildert wird, hat offenbar im Jahr 2011 viele Menschen in Japan an die gerade erlebte Katastrophe, an die vielen Toten und an die weithin verwüstete und unbewohnbare Landschaft erinnert. Der emotionale Gehalt des Manga und sein intimer Charakter trugen dazu bei, dass sich die Erinnerung an das gerade Erlebte mit der Erinnerung an den Krieg zu überlagern begann. Kōno Fumiyo selbst berichtet im Interview, dass sie im Jahr 2011 Notunterkünfte in Nordjapan besucht habe und sich dort Menschen bei ihr für ihr Werk bedankt hätten (vgl. Konomanga 2015). 2011 wurde im August der Fernsehfilm zu In this corner of the world gesendet, was der Geschichte noch einmal Aktualität verlieh und zu einer verstärkten Medienpräsenz führte. So schrieb die Journalistin Tadama Emi in der Tageszeitung Asahi Shinbun zu dem Fernsehfilm: »Als ich Suzu so in den Ruinen stehen sah, habe ich an die Szenerie nach 3/11 denken müssen.« (Tadama 2011) Die Tageszeitung Yomiuri Shinbun druckte kurz vor der Fernsehausstrahlung einen Leserbrief, in dem ebenfalls von Parallelen zwischen dem Geschehen im Manga und 3/11 die Rede ist: »Der Frieden und das Glück, die wir als selbstverständlich erachten, sind keineswegs sicher.« (K. A. 2011) Auch über 2011 hinaus blieben solche Assoziationen bestehen, wie zum Beispiel folgende Äußerungen des Regisseurs der Anime-Adaption, Katabuchi Sunao, aus dem Jahr 2016 zeigen: »Durch das Tōhoku-Erdbeben habe ich verstanden, dass die Kriegszeit, die ich bisher als längst entschwundene Vergangenheit gesehen hatte, auch heute noch für uns von Relevanz ist. Zur Kriegszeit wie heute gibt es Opfer, und mein Eindruck ist, dass sich die Einstellung und die Gefühle der Menschen, die helfen und sich [für die Opfer] einsetzen, nicht so sehr verändert haben.« (Sugawara 2016)

Katabuchi hat in Interviews mehrfach diese Verbindung mit 3/11 hergestellt und damit selbst diese Kontextualisierung des Films vorangetrieben. Was bei dem Manga und dem Fernsehfilm von 2011 noch nachträgliche Assoziationen und

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Umdeutungen waren, wurde bei der Produktion des Anime somit bereits bewusst als Bedeutungsdimension einbezogen und für die Vermarktung genutzt. Wie Seaton (2016) ausführt, habe die Dreifachkatastrophe insgesamt zu einem Paradigmenwechsel in der kollektiven Erinnerung des Zweiten Weltkrieges in Japan geführt. In Japan würden schon seit langem starke Parallelen zwischen Krieg und Naturkatastrophen gezogen – eine problematische Assoziation, rückt sie doch Kriegsgeschehen in den Bereich von etwas, auf das Menschen keinen Einfluss haben (vgl. Seaton 2016: 346). Nach 3/11 häuften sich, wie Seaton anhand von Gedenkveranstaltungen und Zeitungsartikeln aufzeigt, solche Verweise auf Gemeinsamkeiten von Krieg und Katastrophe, wobei Themen wie Verlust, Wiederaufbau und nationale Einheit im Mittelpunkt standen. Masuda (2019) untersucht, wie das Kriegsende im japanischen Morgendrama (asadora) dargestellt wird, und stellt auch hier einen Einfluss der Katastrophe fest. Seit 3/11 werde der Tag des Kriegsendes in solchen TV-Serien stärker als »rebirth and revival from the burnt ruins« (Masuda 2019: 139) und damit im Sinne eines Neuanfangs interpretiert. Populäre Medien verbreiten so eine gewisse Aufbruchsstimmung, die zum Narrativ des erfolgreichen Wiederaufbaus passt. Diese Gemütslage, die sich in Slogans wie Ganbare Nippon (»Japan, halt durch!«) ausdrückt, birgt jedoch die Gefahr, in einen ›Wiederaufbaunationalismus‹ zu münden (vgl. Antoni 2013). In this corner of the world ist zwar vor der Dreifachkatastrophe entstanden, fügt sich aber mit seinem Fokus auf Trauma und Verarbeitung von Verlusten sehr gut in die Situation nach 3/11 ein. Persönliche Verantwortung wird nur insofern thematisiert, als Suzu sich schuldig am Tod ihrer Nichte fühlt. Kriegsverantwortung hingegen ist kein Thema. Die Protagonistin Suzu wird als eine unbedarfte Person dargestellt, die selbst keinerlei Einfluss auf das Geschehen um sie herum hat. Das Basteln von Nationalflaggen für den Marine-Gedenktag (27. Mai) zum Beispiel (vgl. dt. und jp. Bd. 1: 122f.) geschieht beiläufig und erscheint wie eine gewöhnliche Aufgabe, die zu den Pflichten einer guten Hausfrau gehört. Im Alltag gibt es zwar viele Herausforderungen, wie der Mangel an Nahrungsmitteln, im Manga herrscht aber bis zum Beginn der Luftangriffe dennoch eine positive Grundstimmung. In der Einfachheit der Lebensumstände, wie sie Kōno schildert, liegt sogar eine gewisse Romantik. Die Luftangriffe der Alliierten kommen im Manga schließlich über Suzu wie eine Naturkatastrophe; die Gründe und die Dynamik des Krieges sind kein Thema, und ebenso wenig die Menschen, die hinter den Bomben stehen. Dies entspricht dem Opferdiskurs, der sich allgemein in der Nachkriegszeit entwickelt hat: »War itself, and not any particular set of individuals, became the central agent of the people’s suffering.« (Smith 2002: 58) Auch die im Manga detailliert geschilderten Vorbereitungen auf den Ernstfall tragen ihren Teil zum Eindruck einer unvermeidlichen Katastrophe bei, erinnern sie doch

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an die Erdbebenübungen, an denen in Japan schon kleine Kinder regelmäßig teilnehmen. In ihrem Nachwort benutzt Kōno außerdem nicht das Wort sensō 戦争 (»Krieg«), sondern sensai 戦災 (»Kriegsschaden«, »Zerstörung durch Krieg«, jp. Bd. 3: 153), das sich ein Schriftzeichen mit dem Wort shinsai 震災 (»Erdbebenkatastrophe«) teilt – eine häufige Verbindung von Krieg und Katastrophe auf lexikalischer Ebene, auf die auch Seaton (vgl. 2016: 346) hinweist. Durch Kōnos Werk wird deutlich: Es hat sich nicht nur die Darstellung des Krieges in populären Werken verändert, die nach 3/11 erschienen sind. Auch bereits vor 3/11 existierende Werke, die an den Krieg erinnern, werden neu interpretiert und erhalten durch die Überlagerung mit der Erinnerung an die Dreifachkatastrophe eine neue Bedeutungsdimension.

FAZIT Kōno Fumiyos Manga bietet eine sehr begrenzte Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg in Japan. Die Geschichte ist ganz auf die Identifikation mit der Hauptfigur Suzu ausgelegt, die als manchmal tollpatschige, unschuldige junge Frau die Sympathie der Rezipierenden auf ihrer Seite hat. Durch Suzu wird der Alltag zur Kriegszeit sehr detailliert in nahezu dokumentarischer Weise geschildert, und Kōno setzt dabei verschiedene Darstellungsverfahren ein, die Authentizität suggerieren. Der Manga vermittelt damit in unterhaltsamer Weise Alltagsgeschichte und kreiert zumindest auf visueller Ebene Neuinterpretationen zentraler Ereignisse der nationalen Erinnerungskultur. Mit seinem Fokus auf Suzu als Opfer des Krieges klammert er jedoch die Verantwortung der Zivilbevölkerung und deren Beteiligung an dem Projekt der nationalen Mobilmachung weitgehend aus. Wie Gildenhard darlegt, kann es auch eine Stärke von Manga sein, den Krieg aus einer sehr beschränkten Perspektive zu zeigen: »In this sense the medium is suitable for a way of historiography, which does not try to be neutral or objective, but emphasizes one particular view of history« (Gildenhard 2006: 104f.). So könnte man in In this corner of the world auch eine Widerspiegelung der Haltung vieler Menschen zur Kriegszeit sehen: Sie blendeten aus, welche Verbrechen im Namen ihrer Nation verübt wurden, und konzentrierten sich darauf, ihren Alltag trotz der widrigen Umstände bestmöglich bestreiten zu können. Auch die Traumwelten, in die sich Suzu im Verlauf der Handlung immer wieder für kurze Zeit flüchtet, könnte man als Metaphern dieser Haltung lesen. Betrachtet man das Werk jedoch im diskursiven Kontext, so ist davon auszugehen, dass solche kritischen Lesarten des Manga beim Publikum wohl kaum fruchtbar gemacht werden

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können. Suzus Geschichte fügt sich zu gut in das Opfernarrativ ein, das in Japan im Diskurs um den Zweiten Weltkrieg dominant ist. Kōno Fumiyo etabliert In this corner of the world als ›Erinnerungstext‹, indem sie auf populäre Erinnerungsorte verweist, die materielle Kultur der Zeit integriert und durch Zeichenstil und Serialisierung eine große Nähe zum geschilderten Geschehen konstruiert. Inhaltlich bietet Kōno keine wirklich neue Perspektive auf den Krieg, sondern schließt an nostalgisch gefärbte Portraits der Heimatfront an, wie sie unter anderem im National Shōwa Memorial Museum zu finden sind. Die Stärke des Werkes liegt in der Ausführung: Unabhängig vom ideologischen Gehalt ist es ein Beispiel dafür, wie Techniken des graphischen Erzählens virtuos eingesetzt werden können, um einen lebendigen Einblick in das Leben einer Zeit geben zu können. Wie In this corner of the world zeigt, existiert eine Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses auch im Bereich von Comics bzw. Manga, das heißt bestimmte Verfahren der Darstellung, die »zu einer Rezeption als kollektive Texte anregen können« (Erll 2005: 267). Die von Kōno genutzten Techniken können sicher auch für andere Kontexte nutzbar gemacht werden, zum Beispiel für Ausstellungen zu historischen Themen. Dennoch kann die Art des Erinnerns an Ereignisse wie den Krieg nur bedingt durch Eigenschaften beeinflusst werden, die im Text selbst liegen. Das zeigt die Dreifachkatastrophe in Japan, die zu Brüchen und Überlagerungen in der nationalen Erinnerungskultur geführt hat, und auch den Manga in einem neuen Licht erscheinen lässt.

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Harraga en bande dessinée – Flüchtlinge in frankophonen Comics und Graphic Novels Marina Ortrud M. Hertrampf

MIGRATION IN DER BANDE DESSINÉE »La bande dessinée semble être dès les débuts de son histoire et à bien des égards, une forme d’expression liée à l’immigration«, schreibt Vincent Marie (2015), französischer Geo-Historiker mit Forschungsschwerpunkt Bande Dessinée. Von der hier angesprochenen engen Verbindung von Migration und Comic respektive Graphic Novel zeugt auch die vom Musée national de lʼhistoire de l’immigration kuratierte Ausstellung Bande dessinée et immigrations: un siècle d’histoire(s), die seit 2015 an den verschiedenen Standorten des Institut français weltweit gezeigt wird.1 Ziel der Ausstellung ist es, die Geschichte der sich Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitenden Gattung als einer ikonotextuellen Ausdrucksform nachzuzeichnen, die seit ihren Anfängen mit unterschiedlichsten Migrationsbewegungen verbunden war und für die Exil, Flucht und Migration zentrale Triebfedern der Weiterentwicklung und künstlerischen Ausdifferenzierung waren. In dem Ausstellungskatalog wird die Reziprozität der beeinflussenden Wechselwirkungen von Migration und Migrationserfahrung und graphischem Erzählen besonders hervorgehoben, wenn es dort heißt: »Si la bande dessinée apparaît comme un témoin de l’histoire de l’immigration, cette dernière contribue à l’histoire de la bande dessinée, notamment par la circulation des artistes.« (Marie/Ollivier 2013: 6) Die Wechselbeziehungen von Migration und Comic sind so alt wie die neunte Kunst selbst: So war die Entstehung des Comic als populäres Massenmedium im 1

Vgl. http://www.histoire-immigration.fr/la-museographie/les-expositions-itinerantes/bande-dessinee-et-immigrations-un-siecle-d-histoires.

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Amerika der Jahrhundertwende maßgeblich von europäischen, meist jüdischen Immigranten geprägt und selbst der ›belgische Comic‹ ist das Ergebnis unterschiedlichster Migrationsbewegungen der ›Protagonisten‹ des franko-belgischen Comics wie René Goscinny, Morris oder Albert Uderzo (vgl. ebd.: 7). Auch Frankreich, Frankophonie und Migration gehören untrennbar zueinander. Migration prägte die koloniale Geschichte Frankreichs und prägt seine postkoloniale Gegenwart nachhaltig. So konstatiert der Historiker Philippe Rygiel in dem von Christophe Dabitch konzipierten Graphic Novel-Album Immigrants (2010): »La France d’aujourd’hui est le produit d’une histoire dont l’immigration est une dimension, parfois décisive, et les migrants des acteurs. Penser l’immigration uniquement comme un problème, un phénomène récent, ou une perturbation extérieure du cours normal de l’histoire du pays, c’est se condamner à ne rien comprendre du monde dans lequel nous vivons et oublier que l’immigration est prise dans notre histoire.« (Rygiel 2010: 25)

Angesichts dieses Bewusstwerdungsprozesses überrascht es auch nicht, dass sich ab den achtziger Jahren immer mehr Kinder der zumeist aus den ehemaligen Kolonien nach Frankreich gekommenen afrikanischen und maghrebinischen Migranten beginnen, sich auf künstlerische Weise mit ihren kulturellen Wurzeln und ihrer eigenen Migrationsgeschichte bzw. der ihrer Familien auseinanderzusetzen. Während dies zunächst im Bereich der sogenannten littérature beur passiert – also in autobiographischen Romanen von Einwandererkindern aus dem Maghreb, zu nennen sind hier etwa Mehdi Charefs Le Thé au harem dʼArchi Ahmed (1983) oder Azouz Begags Le Gone du Chaâba (1986), – erfolgt eine ähnliche Auseinandersetzung im Comic erst gut zehn Jahre später. Als Pionier der Bande Dessinée beur kann Farid Boudjellal mit seiner Ende der neunziger Jahre erschienenen zweibändigen Geschichte von Petit Polio (1989) bezeichnet werden. Der 1950 als Sohn algerischer Migranten in Toulon geborene Boudjellal erzählt in der autobiographisch geprägten Geschichte des fiktiven Protagonisten von seiner eigenen Erfahrung als Migrantenkind in Südfrankreich. »Dans la dernière décennie, les migrants sont devenus de nouveaux héros de bande dessinée« (Marie/Ollivier 2013: 6)2: Während Farid Boudjellal kaum über

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Die Zahl der internationalen, aber gerade auch französischen Comics und Graphic Novels, die das Themenfeld Migration behandeln ist mittlerweile schier unüberschaubar. Die französische Internetseite Comixtrip hat eine Top Ten-Liste internationaler Werke zur Im-/Migration zusammengestellt (vgl. http://www.comixtrip.fr/tops/top-10-bd-limmigration/). Für den frankophonen Raum hat Fabrice Mangin eine ähnliche Auflistung

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die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt ist, erzielte die 1969 im Iran geborene Marjane Satrapi mit ihrer zwischen 2000 und 2003 herausgegebenen vierbändigen Graphic Novel Persepolis Weltruhm und gilt seither als Initiatorin eines neuen Subgenres des graphischen Erzählens (vgl. Eder 2016: 163).3 Verstärkt setzen sich Autoren jetzt in romanartigen, ernsteren Autoren-Comics – die gemeinhin in Abgrenzung zum oft seriellen und ästhetisch weniger anspruchsvollen Comic als Graphic Novel bezeichnet werden – mit zumindest partiell (auto-)biographischen Migrationserfahrungen auseinander. Nicht selten weisen diese semi-faktualen Graphic Novels, seien sie auto- oder biofiktionalen oder reportagehaft-/dokufiktionalen Charakters, einen mehr oder weniger stark artikulierten aufklärendinformierenden und/oder pädagogisch-appellativen Impetus auf.4 Ungeachtet der Tatsache, dass die Bandes Dessinées über Migration von Autoren mit – wie etwa im Falle von Satrapi – oder ohne eigene Migrationserfahrungen – wie bei einem Großteil der Bandes Dessinées in dem bereits genannten Album Immigrants5 – gestaltet wurden, verstehen sie sich nicht nur als ästhetische Artefakte der französischen Kunstszene – und werden dort auch längst als solche anerkannt6 –, sondern wollen auch in ihrer soziokulturellen und historischen Funktion verstanden werden; nämlich als semi-faktuale Artefakte, die an der kollektiven Identitätskonstruktion Frankreichs ebenso teilhaben wie am Aufbau der gemeinschaftlichen Erinnerung an Im-/Migration als Teil der französischen Sozial-Geschichte:

zusammengestellt (vgl. http://www.loire-mediatheque.fr/medias/medias.aspx? INSTANCE=EXPLOITATION&PORTAL_ID=portal_model_instance__selection___l_immigration_dans_la_bande_dessinee.xml). 3

Zur Bedeutung der Bande Dessinée als ikonotextuelle Form medialer Erinnerungsarbeit von Migration bei Satrapi siehe Eder 2011.

4

Zahlreiche Pädagogen (insbesondere in den USA und Frankreich) plädieren daher auch dafür, das quasi in jeder Schulklasse aktuelle Thema von Im-/Migration anhand semifaktualer – seien es (auto-)biofiktionale oder dokufiktionale historische oder reportagehafte – Graphic Novels zu behandeln (vgl. Boatright 2010; Tratnjek 2015).

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Für das von Christophe Dabitch konzipierte Graphic Novel-Album Immigrants wurden témoignages von Migranten unterschiedlichster Herkunft und Migrationserfahrung von Comic-Zeichnern umgesetzt und durch kurze Essays zur historischen Rolle der Migration für das heutige Frankreich ergänzt. Siehe hierzu auch Ollivier 2011.

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»La bande dessinée est aujourdʼhui un art reconnu.« (Marie/Ollivier 2013: 7)

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»Ces publications servent une cause militante voire associative et poursuivent une démarche esthético-politique qui construit une histoire collective des représentations de l’immigration et insère les mémoires liées à ce sujet dans le patrimoine de la société française.« (Ollivier 2011: 1)

Die seit 2015 besonders große Welle von Migranten und Flüchtenden, die Europa über das Mittelmeer und den Atlantik erreicht, verschärft politische wie öffentliche Debatten um Migration im Allgemeinen und den Umgang mit den zahlreichen Menschen unterschiedlichster Herkunft, die in Europa eine neue, sichere und bessere Zukunft suchen im Speziellen. Nicht nur in Frankreich heizen die aktuell erlebten migratorischen Dynamiken nationale und patriotische Diskurse an, die diffuse Ängste vor den neuen Migranten zu verbreiten und eine generelle Fremdenfeindlichkeit auch gegenüber den längst integrierten, ja assimilierten Migranten zweiter und dritter Generation zu schüren versuchen.7 Wenn sich also gegenwärtig immer mehr Comics und Graphic Novels mit dem Themenkomplex der aktuellen, sogenannten illegalen Migration auseinandersetzen, dann ist diese Mode, so könnte man sagen, durchaus auch als Reaktion auf die aktuelle Brisanz der Thematik, ihre Mediatisierung und die mitunter erschreckenden Reaktionen darauf zu verstehen. Dies gilt beispielsweise für die von der Zeichnerin Lisa Mandel und der Soziologin Yasmine Bouagga vorgelegte Comic-Reportage Les Nouvelles de la jungle (de Calais) (2017). Zeichnerin und Autorin verbrachten zwischen Februar und Oktober 2016 immer wieder Zeit in Calais und anderen illegalen Lagern nahe dem Ärmelkanal. Die beiden berichten – in Briefform (bezeichnenderweise sind die Berichte an »France« gerichtet) – von ihren Eindrücken, ihren Erlebnissen sowie vom Alltag der Menschen im und um das Lager herum. In den Blick geraten dabei Geflüchtete und Migranten ebenso wie die zahlreichen ehrenamtlichen Helfer, Politiker und Sicherheitskräfte. Der zeichnerische Strich ist karikaturesker Art, sodass angesichts der prekären Bedingungen des Dargestellten eine zuweilen sarkastische Ironie entsteht. Auf diese Weise geben die beiden Autorinnen ohne einfache Verurteilung oder Schuldzuweisung, mit einem kritisch-entsetzten Blick auf die desolate Situation der heimatlosen Menschen, aber ohne Betroffenheits7

»Au XXe siècle, la France a été l’un des principaux pays d’immigration dans le monde. Cet aspect de notre histoire contemporaine a longtemps été refoulé de la mémoire collective. Aujourd’hui, le vieux stéréotype sur ›nos ancêtres les Gaulois‹ tend à disparaître. Mais d’autres préjugés se sont installés, notamment l’idée que les immigrants d’autrefois se seraient ›bien intégrés‹, alors que ceux d’aujourd’hui ›poseraient problème‹. L’histoire de l’immigration montre qu’en réalité c’est toujours le dernier venu qui a été perçu comme le plus menaçant aux yeux autochtones.« (Noiriel 2010: 4)

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gestus oder Beschönigung einen tiefen – und ungewohnten – Einblick in Zusammenhänge und Komplexität des jungle de Calais. Dementsprechend wird die Zielsetzung des humoresken Reportage-Comics im Vorwort beschrieben: »cette bande-dessinée plus qu’un témoignage, veut donner à voir autrement la question des réfugiés, des politiques migratoires et, plus largement, des frontières.« (Mandel/Bouagga 2017: 5) Ganz ähnlich einzuordnen ist Jean-Benoît Meybecks dokufiktional-investigative Comic-Reportage CRA. Centre de Rétention Administrative (2014), in der die mitunter menschenunwürdigen Bedingungen in dem französischen Abschiebegefängnis in Toulouse-Cornebarrieu aufgedeckt und mit scharfem Schwarz-WeißStrich dargestellt werden. Mit einer Gruppe französischer Menschenrechtler verschaffte sich Meybeck selbst Einblicke in das CRA und berichtet mit offener Kritik über das Vorgehen der staatlichen Kräfte. In Droit d’asile (2011) illustriert Étienne Gendrin die Narrative junger Männer in einer Asyleinrichtung in Straßburg und lässt sie so selbst zu Wort kommen. Gleichwohl die Geschichten alles andere als komisch sind, wählt Gendrin eine Darstellungsform, die der von Les Nouvelles de la jungle (de Calais) vergleichbar ist. Auch hier verstärkt der karikatureske Charakter die mitunter sarkastische Kritik an der Art und Weise, wie mit den Asylsuchenden umgegangen wird. Neben diesen Beispielen gibt es zahlreiche weitere Comics und vor allem Graphic Novels, die sich mit der aktuellen Migrationswelle und der Umgangsweise Europas bzw. Frankreichs mit Migranten und Geflüchteten auseinandersetzen. Im Folgenden werden solche Beispiele etwas genauer in den Blick genommen, die eine ganz spezielle Form der Migration behandeln: die illegale Migration aus (Nord-)Afrika, die mittels Schlepperbanden über den Seeweg erfolgt.

HARRAGA 8: ILLEGALE MIGRATION AUS DEM MAGHREB Der Begriff ‫[ حراقة‬ḥarrāqa] ist ein Neologismus des algerischen Alltagsarabisch, der insbesondere durch die algerische Presse verbreitet wurde. Zur Bedeutung schreibt Najib Redouane: »Ce néologisme, apparu vers les années 90, désigne donc tous ceux qui tentent de partir en Europe, sans papiers, brûlant tout ce qui les rattache à leur passé, s’imaginant qu’ils peuvent

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In der Literatur findet sich die Schreibung mit und ohne -s; im Arabischen bezeichnet der Begriff bereits den Plural, als Lehnwort im Französischen und Spanischen wird vielfach noch ein (zusätzliches) Plural-s angefügt.

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jouer sur l’anonymat pour éviter toute expulsion vers leurs pays d’origine, le cas échéant. Sans papiers, ils peuvent prétendre provenir de pays avec lesquels il n’y a pas d’accords de rapatriement.« (Redouane 2008: 18)

Der Begriff beschreibt folglich eine weit verbreitete Praxis unter Migranten, die mit Hilfe von Schlepper- und Schleuserbanden versuchen, in meist seeuntauglichen und vollkommen überfüllten kleinen Booten über die zentrale bzw. westliche Mittelmeerroute oder aber über die westafrikanische Atlantikroute nach Europa zu gelangen (vgl. Daou 2017). Bevor die illegalen Migranten aus sogenannten sicheren Herkunftsländern – diese Einstufung gilt für die arabophonen Länder Nordafrikas (hierzu zählen als UN-Subregion Marokko mit der Westsahara, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten und der Sudan) – von den europäischen Behörden aufgegriffen werden, vernichten sie ihre Ausweispapiere, da sie ohne diese nicht direkt wieder in ihre Heimat zurückgeschickt werden können. Neben den arabophonen, nordafrikanischen Harraga wählen freilich auch noch zahlreiche weitere illegale Migranten aus anderen Ländern (Subsahara-)Afrikas nach einer bereits längeren Flucht- und Migrationsgeschichte mittels Schlepperbanden den gefährlichen Seeweg, um das ersehnte Eldorado Europa zu erreichen. Die Erfolgschancen der riskanten Überfahrt in den im Französischen als embarcations de fortune und im Spanischen als pateras bezeichneten Booten sind gemeinhin gering: Zum einen überlebt eine viel zu große Zahl an Menschen die Überfahrt nicht. Zum anderen führt die strenge Rückführungspraxis häufig dazu, dass Harraga auch trotz fehlender Papiere wieder in ihre maghrebinischen Herkunftsländer zurückgebracht werden. Das Phänomen der Harraga und ihr viel zu oft äußerst tragisches Schicksal ist seit Jahren aktuell und scheint auf absehbare Zeit auch nicht an Aktualität einzubüßen. Dementsprechend findet das Thema auch in unterschiedlichen Medien in Europa wie in den maghrebinischen Herkunftsländern Widerhall: Neben Werken der bildenden Künste, der Musik (vor allem Rap), des Films und der Literatur9 setzen sich auch einige Bandes Dessinées mit dem Thema auseinander.10

9

Für einen Überblick siehe zum Beispiel Abderrezak 2016, Redouane 2008 und Schyns 2016.

10 Bei den ausgewählten Beispielen handelt es sich durchweg um Graphic Novels (und nicht Comics im engeren Sinne), da sie sich als nicht-serielle, stark deskriptiv erzählende Autoren-Comics mit ihren soziopolitisch brisanten Themen an ein gebildetes erwachsenes Publikum richten. In der Folge wird dementsprechend nur mehr von Graphic Novels bzw. Bandes Dessinées gesprochen.

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DIE GRAPHIC NOVEL ALS VENTIL ZUR VER- UND BEARBEITUNG VON MIGRATION Fast alle Bandes Dessinées, die das Thema Migration behandeln, weisen einen starken Realitätsbezug auf und möchten die Rezipienten für die ebenso komplexe wie kontrovers diskutierte Thematik sensibilisieren. Dies kann aus verschiedenen Positionen und Sichtweisen unterschiedlich von Migration Betroffener heraus und in unterschiedlichen Modi hinsichtlich des Realitäts- bzw. Fiktionalitätsgrades sowie des Genres (Dokumentation, Reportage, témoignage, Autofiktion, AbenteuerComic, etc.) erfolgen. Dabei lassen sich drei große Grundformen differenzieren: (1) Fiktionale Graphic Novels französischer Autoren Anhand der Geschichte eines fiktiven Protagonisten wird die Flucht über das Mittelmeer pars pro toto, das heißt stellvertretend für das Kollektiv der zahllosen Harraga, inszeniert. Die Darstellung der Flucht basiert in der Regel auf medial vermittelten Fremddarstellungen oder nicht individualisierten Zeugenberichten. (2) Auto(-bio-)fiktionale Graphic Novels von Harraga Bei dieser Form inszeniert ein Harraga seine eigene Migrationserfahrung als témoignage. Da aufgrund des Bildanteils der künstlerische und damit per se fiktionale Anteil der Selbstdarstellung außerordentlich groß ist, handelt es sich um ein tendenziell fiktionales Narrativ, das autobiographisch inszeniert ist. (3) Graphic Journalism französischer Autoren Hierbei handelt es sich um Sach-Comics mit polithistorischem Dokumentarcharakter, die als Untergattung des Fotojournalismus betrachtet und daher als Comic(s) Journalism oder Graphic Journalism bezeichnet werden. Comic-Macher und Journalist treten hierbei in Personalunion auf und präsentieren ihre Vor-Ort-Recherchearbeit in dokufiktionalen, reportagehaften Graphic Novels. Um dem journalistischen Wahrheitsanspruch gerecht zu werden, setzen Comic-Macher gezielt Authentisierungsstrategien ein: Neben der exakten Nennung von Orts- und Personennamen werden häufig Fotografien, Graphiken, Statistiken oder Kartenmaterial integriert bzw. in die gezeichneten Panels eingearbeitet. Als Beispiel für den von französischen Autoren verfassten Graphic Journalism kann Patrick Chappattes BD Reporter. Du Printemps arabe aux coulisses de l’Élysée (2011) angeführt werden. Der Titel macht hier bereits auf die Genrezu-

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gehörigkeit aufmerksam. Der 1967 geborene Pressezeichner, Karikaturist und Comic-Reporter gibt in dem Album seine Erfahrungen aus unterschiedlichen Reportage-Reisen wieder – dabei zeichnet er sich bei seiner journalistischen Arbeit selbst aus einer heterodiegetischen Perspektive. Er dokumentiert damit nicht nur die Ergebnisse seiner Recherchen, sondern im Sinne einer Autofiktion auch seine Vorgehensweise sowie die unmittelbare Zeugenschaft der dargestellten Erlebnisse und Begegnungen: Neben der einleitenden Reportage über den Arabischen Frühling im Jahr 2001 in Tunesien – übertitelt mit »Tunisie, en remontant la révolution« (Chappatte 2011: 6-31) – finden sich in dem Album Einblicke in das Leben in den Slums von Nairobi, die beklemmende Lage im Gazastreifen, die kriegerischen Konflikte in Südossetien und die Auseinandersetzungen zwischen Rebellen an der Elfenbeinküste. Im Kontext seiner Recherchen über die Ursachen des Auf- und Umbruchbestrebens in den arabischen Ländern während des sogenannten Arabischen Frühlings wird Chapatte auch mit dem Phänomen der illegalen Auswanderung aus Tunesien konfrontiert, das hier unmittelbar mit den sozioökonomischen Missständen eines Großteils der einfacheren, meist ländlichen Bevölkerung und den fehlenden Zukunftsperspektiven der jüngeren Generation begründet wird. Mit nüchterntrockenem Sarkasmus wird die Flucht über das Meer als Lösung aller Probleme dargestellt: »Le remède local au chômage et au désespoir, c’est la mer.« (Ebd.: 20) Sei es für die Fischer, die aufgrund der immens angestiegenen Treibstoffpreise kaum mehr zum Fischen ausfahren können und daher nur schlecht vom Fischhandel leben können, sei es für die jungen Menschen, deren Zukunft von Arbeitslosigkeit bestimmt zu sein scheint. So gewinnt der Name der aus römischen Zeiten stammenden Leuchtturmruine auf der Landzunge von Chebba wieder ganz wörtlich an Bedeutung: Caput Vada – point de départ. Von hier aus, so erfährt Chapatte bei seiner Vor-Ort-Recherche von seinem Informanten Rioha Boukadi, verlassen zahllose Harraga ihre Heimat. Ziel des illegalen Ablegepunktes ist Lampedusa. Das mare nostrum wird zum mare liberum – zumindest für einen Teil der Harraga, so Chapattes lakonische Interpretation im begleitenden Blocktext (siehe Abbildung 1).

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Abbildung 1: Panel aus BD Reporter. Du Printemps arabe aux coulisses de lʼElysée, S. 21

Quelle: Glénat 2011

Wie in dem gesamten Album arbeitet Chapatte mit einer stark metaphorisch aufgeladenen Bildsprache und Farbsymbolik, die vielfach mit Ambiguitäten spielt: Der im Dunkel der Nacht nicht erkennbare schwarze Horizont wird über den Text mit der Hoffnung der Jugend gleichgesetzt, nach Europa zu gelangen. Das Schwarz steht dabei aber im übertragenen Sinne nicht nur für das Ungewisse dieser Hoffnung, sondern auch für den Tod, genauer die Hoffnung auf die Ewigkeit des Lebens nach dem Tod (ein zentraler Glaubensartikel im Islam). In der für Chapattes Alben spezifischen Manier gibt er in der Folge die Ergebnisse seines Interviews mit einem Betroffenen wieder (siehe Abbildung 2). Das spread, in dem zentrale Aspekte des Fluchtnarrativs blitzlichtartig in wenigen Einzelbildern präsentiert werden (Überfahrt, Lager Lampedusa, Ankunft Rom, Gefangennahme), wird durch die fotografische Vorstellung seines Interviewpartners Mohammed Ali eingeleitet. Die Integration eines durch Verpixelung leicht verfremdeten Fotos dient dabei als Authentisierungsstrategie. Abgesehen von der Tatsache, dass der einheitlich grün gefärbte Hintergrund der Einzelpanels auf symbolische Art und Weise das Hoffnungspotenzial (des Geflüchteten) zum Ausdruck bringt, lässt Chapatte den Harraga in direkter Rede ungefiltert und gänzlich unkommentiert zu Wort kommen. Wertungen werden dem Rezipienten überlassen.

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Abbildung 2: Panel aus BD Reporter. Du Printemps arabe aux coulisses de l’Elysée, S. 22f.

Quelle: Glénat 2011

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Auf den ersten Blick scheint auch der 2014 auf dem Comic-Festival von Alger mit dem Prix du Meilleur Album ausgezeichnete Band Clandestino. Un reportage dʼHubert Paris – envoyé spécial (2014) dem Genre des Graphic Journalism anzugehören. Der 1980 geborene Autor Aurel ist akkreditierter Journalist, unter anderem bei Le Monde und L’Express, der zusammen mit seinem Kollegen Pierre Daum für Le Monde diplomatique Reportagen über das Leben der aus Algerien gekommenen Harraga in Andalusiens semi-industriellen Tomatenplantagen verfasste (vgl. Aurel/Daum 2010; Filippi 2014). Von eben dieser Recherchearbeit erzählt Clandestino. Doch wählt Aurel – nicht zuletzt zum Schutz der dargestellten Personen und ihrer Schicksale –die Darstellungsweise der Fiktion: »Cette BD est une fiction basée sur des faits réels, vécus lors de plusieurs reportages réalisés avec le journaliste Pierre Daum pour le Monde diplomatique. Si les mises en scène sont fictives, les situations rapportées ainsi que la plupart des personnages de la BD sont inspirés de faits avérés et de personnages réelles, dont les propos sont ici retranscrit.« (Aurel 2014: 71)

Aurels Album ist zwar eine autobiographisch und von realen journalistischen Recherchen geprägte reportage dessiné, doch weist sie im Gegensatz zu der überwiegenden Mehrheit französischer Comic-Reportagen deutliche Züge des klassischen Abenteuer- bzw. Kriminal-Comics auf. So wird die investigative Recherchearbeit des fiktiven freischaffenden Journalisten Hubert Paris, der für das ebenfalls fiktive amerikanische Magazin Struggle arbeitet, mit all ihren Gefahren als aktionsreiche und durchaus spannungsgeladene Geschichte in klassischen Panelabfolgen mit zahlreichen action-to-action-Panelübergängen erzählt. Da Hubert Paris das perspektivische Zentrum ist, steht letztlich weniger die konkrete Darstellung der Flucht über das Meer im Vordergrund als die Kontaktaufnahme mit den Harraga. Per Zufall trifft er in Alger auf Lamine, einen Harraga, der es nicht geschafft hat und von Spanien aus wieder zurück nach Algerien abgeschoben wurde. Visuell inszeniert wird der Dialog der beiden, wobei man hier die für Aurel typische Komprimierung einer Folge von Repliken in einem Panel gut nachvollziehen kann (siehe Abbildung 3).

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Abbildung 3: Panel aus Clandestino. Un reportage dʼHubert Paris ‒ envoyé spécial, S. 29

Quelle: Glénat 2014

Interessant ist hier ferner, dass die beiden Dialogpartner isoliert in zwei runden Vignetten dargestellt werden und die Dialogführung dynamisch über die mit Verbindungslinien in ihrer temporalen Abfolge markierten Sprechblasen als SchussGegenschuss-Montage repräsentiert wird. Den Panelhintergrund bildet eine imaginäre, prototypische Darstellung der tausendfach durch mediale Pressefotos transportierten Bilder von pateras, die sich in das kollektive Bildgedächtnis der Außenstehenden – hier das von Hubert Paris – als erste visuelle Assoziation eingeprägt haben.11 Die Begegnung mit Lamine zeigt vor allem zwei Dinge: zum einen den absoluten Willen, nach Europa zu gelangen, auch wenn dies bedeutet, immer wieder Gefahren auf sich zu nehmen und es immer wieder zu versuchen, sich dauerhaft in Europa niederzulassen. Zum anderen zeigt es aber auch die naive Unwissenheit über die Gegebenheiten in Europa, so etwa die Frage, wie man denn in Frankreich seinen Lebensunterhalt bestreiten könnte: Lamine denkt beispielsweise über den Handel mit Raubkopien nach. Im weiteren Verlauf der Handlung kommt Paris mit zwei jungen Algeriern in Kontakt, die den Weg nach Europa als ihre letzte Chance sehen. Die Motivations-

11 Diesen medial produzierten und verfestigten Bildern setzt die Foto-Graphic Novel Lampedusa: Bildgeschichten vom Rande Europas (2017) ganz andere Bilder entgegen, indem hierin Fotos und Zeichnungen gezeigt werden, die von Fischern, Anwohnern, Hilfsorganisationen, der Küstenwache oder den Flüchtlingen selbst aufgenommen bzw. gezeichnet wurden.

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gründe für den Migrationswunsch sind ebendie, die auch in Chappattes BD-Reportage benannt werden: Die hoffnungslose ökonomische Perspektivlosigkeit, die junge Akademiker, etwa den diplomierten Ingenieur Rachid, ebenso trifft wie bildungsferne Menschen aus den ländlichen Regionen, wie etwa den Ziegenhirten Magyd. Während Rachid mit einem Schleuserboot nach Almería gelangen möchte, versucht Magyd sich in einer Lastenfähre zwischen den Containern zu verstecken. Der Comic selbst zeigt uns allerdings nur den jeweiligen Startpunkt der Reisen, die Überfahrten selbst werden elliptisch ausgespart. Aurel vermeidet so jeden Voyeurismus und stellt – wie beim Graphic Journalism – nur das dar, was er tatsächlich auch aus eigener Anschauung kennt. Da Paris wissen will, ob es die beiden geschafft haben und wie es ihnen im vermeintlichen Paradies ergeht, fährt er nach Almería. Während Magyd zwar die Überfahrt geschafft hat, aber von der spanischen Polizei aufgegriffen wird, bleibt bei der Bergung der Passagiere einer in Seenot geratenen patera vor der Küste Almerías offen, ob Rachid zu den lebenden oder toten Passagieren zählt. Bei der Suche nach ›seinen‹ Harraga lernt Paris einen non-lieu kennen, den sich Europa auf Kosten unzähliger Menschen leistet, um ganzjährig Sommergemüse genießen zu können.12 Das Wohlstandsbedürfnis Europas erscheint in Aurels Darstellung neben der Tatsache, dass die sozioökonomische Situation in Algerien als Push-Faktor wirkt, als die illegale Migration befördernder Pull-Faktor. Ähnlich wie in Ville Tietäväinens Graphic Novel Unsichtbare Hände (2014; Näkymättömät kädet) wird das ›Stranden‹ der Harraga in den fabrikartigen Gewächshaus-Plantagen Südspaniens in all seiner menschenverachtenden Drastik gezeigt. Durch die vergleichsweise detailreiche Darstellung der ausbeuterischen Arbeitsbedingungen endet Clandestino schließlich als (impliziter) Appell, diese moderne Form menschenverachtender Ausbeutung und Sklaverei für billige Tomaten im Winter nicht weiter zuzulassen. Während Clandestino als fiktionale BD-Reportage eine gewisse Zwischenstellung einnimmt, ist De lʼautre côté (2015) von dem 1993 geborenen Léopold Prudon ein rein fiktionales Werk. Zentrale Anregungen für sein erstes Album erhielt der junge Comic-Macher aus seiner Beschäftigung mit Homers Odyssee einerseits sowie von Dokumentationen über den Arabischen Frühling und tunesische Harraga andererseits. Prudon gestaltet die Geschichte der illegalen Migration seines Protagonisten, des 22-jährigen Hamza, als eine psychologisch konzipierte Suche nach der eigenen Identität. Die Reise, die traumatischen Erfahrungen der Flucht und des Ankommens in dem alles andere als paradiesischen Europa – hier

12 Zum Begriff des ›Nicht-Ortes‹ siehe Augé 1992. Zu der Ausbeutung illegaler Migranten in Südspanien siehe Hoffmann 2017.

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ist es nach Lampedusa konkret Paris –, werden als individueller Entwicklungsprozess des jungen Mannes dargestellt, der hin und her gerissen ist zwischen dem Wunsch, seine Zukunft in Europa zu verbringen und der Sehnsucht nach seiner Freundin und Familie. Die Fokussierung auf ein Individuum, das die Reise von der anderen Seite des Mittelmeeres nach Frankreich wagt, und dessen ganz persönlichen Weg der Rezipient mitverfolgt, wird bereits auf dem Cover durch die Alterität Hamzas eindrücklich dargestellt. Indem sich der Leser mit Hamza auf die gefährliche Reise eines Harraga begibt, gibt die Graphic Novel einen freilich rein fiktiven, aber doch individuell nachvollziehbaren Einblick darin, was es für einen jungen Menschen bedeutet, die soziale, ethnische, kulturelle und sprachliche Heimat zu verlassen – selbst wenn der Entschluss dazu wie im geschilderten Fall nicht existenziell motiviert ist. Ganz im Gegenteil: Hamza, der während des Arabischen Frühlings als Aktivist für ein freies, demokratisches Tunesien kämpfte, hat all seinen jugendlichen Elan verloren (vgl. Prudon 2015: 10f.). Jetzt, wo es an der Zeit wäre, das eigene Land mitzugestalten, versinkt er in desillusionierter Passivität und verfällt trotz der Warnungen vor vollkommen falschen Erwartungen der utopischen Vorstellung eines unbeschwerten, einfachen und komfortablen Lebens im schönen Paris. In der ebenso realitätsfernen wie naiven Traumvision Hamzas erscheint das zum Stereotyp verflachte Europa (Paris = Eiffelturm, vgl. ebd.: 17) so nah. Hamza steht hier stellvertretend für einen großen Teil einer ganzen Generation junger Maghrebiner nach dem Arabischen Frühling. Ein kritischer Unterton wird in Prudons Darstellung durchaus deutlich, denn das Internet präsentiert nicht nur idyllische Bilder: Ein Panel zeigt so den Teilausschnitt der Ergebnisse der Google-Suche zu Lampedusa. Hamza könnte also durchaus wissen, auf was er sich einlässt, glaubt aber noch daran, in Europa schnell zu Reichtum zu gelangen (vgl. ebd.). Mit seiner detailreduzierten und zur Abstraktion tendierenden Bildsprache, die mit vielfach flächigen, stark expressiv wirkenden Schwarz-Weiß-Kontrasten arbeitet, erinnert Prudons roman graphique stilistisch und bildsprachlich deutlich an den 1942 geborenen argentinischen Comic-Zeichner José Antonio Muñoz, aber ebenfalls an Marjane Satrapis Persepolis. Auch in De lʼautre côté dominieren moment-to-moment- und aspect-to-aspect-Panelübergänge, passagenweise wird rein ikonisch erzählt oder in vielen Fällen auch nur beschreibend gezeigt. Dadurch entsteht eine tendenziell elliptische, zutiefst expressive Erzählweise, die insbesondere bei der Darstellung der gefährlichen Überfahrt in dem völlig überfüllten Fischerboot (das Schiff gerät in einen heftigen Sturm) durch die Fokussierung auf die verängstigten Gesichter der Harraga unter die Haut geht (vgl. ebd.: 40). Diese

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starke Wirkung wird dadurch unterstützt, dass Prudon die psychotischen Phantasien und Ängste seines Protagonisten auch bildmetaphorisch umsetzt (siehe Abbildung 4). Abbildung 4: Panel aus De lʼautre côté, S. 35

Quelle: Les Enfants Rouges 2015

So hat Hamza auf dem bateau de fortune Angst zu sterben, doch fürchtet er sich weniger vor dem realistischerweise tatsächlich drohenden Ertrinken als vor dem Verschlungenwerden von Seeungeheuern. Dies verdeutlicht einmal mehr die realitätsferne, naive Haltung des jungen Mannes, ohne diese aber explizit zu werten.

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Der rein fiktionalen graphischen Inszenierung illegaler Migration steht die autofiktionale Darstellung von Harraga selbst entgegen. Basiert etwa Prudons Darstellung der Einstellungen und Empfindungen, Hoffnungen, Ängste und Nöte allein auf medial vermittelten Fremddarstellungen, erhält der Leser in Amazigh. Itinéraire dʼhommes libres (2014) Einblick in die Sichtweise eines Betroffenen. In dem 2014 mit dem Prix Première bulle des Comic-Festivals in Angers sowie 2015 mit dem Prix du Jury oecuménique in Angoulême ausgezeichneten Album beschreibt der 1984 geborene marokkanische Künstler Mohamed Arejdal in Zusammenarbeit mit dem gleichaltrigen französischen Comic-Macher Cédric Liano seine Geschichte als Harraga, der aber – im Gegensatz zu den bislang skizzierten Fällen – die Westroute über den Atlantik von Marokko auf die Kanarischen Inseln nahm, bevor er wieder nach Marokko zurückgeschickt wurde. Auch wenn hier eine kollaborative Comic-Produktion vorliegt, kann von einem internen Blick aus der Perspektive eines témoin gesprochen werden. Gerade bei Vertretern von Minderheiten ist diese Form der Entstehung einer Autofiktion nicht selten. Wir kennen ähnliche Kooperationsformen von autobiographisch geprägten Erzählungen beispielsweise von Migranten der ersten Generation oder aber von Sinti und Roma, hier ist etwa die Graphic Novel Sofia Z 4515 (2012) zu nennen, in der die Holocaust-Überlebende Roma Sofia Taikon zusammen mit der Autorin Gunilla Lundgren und der Zeichnerin Amanda Eriksson von ihrem Schicksal im KZ erzählt (vgl. Hertrampf 2019). Wie auf dem Cover von De l’autre côté, dem es auf frappierende Weise ähnelt, wird auch bei Amazigh verdeutlicht, dass ein junger Mann besonders fokussiert wird: Mohamed. Er hebt sich von der anonymen dunklen Masse der anderen Imazighen ab. Wie sie ist Mohamed Amazigh, ein Berber. In der Berbersprache bedeutet die Selbstbenennung Amazigh, im Plural Imazighen, so viel wie »freie(r) Mensch(en)«, daher der Titel des Albums: Amazigh. Itinéraire dʼhommes libres. Mohamed erzählt seine Geschichte autodiegetisch (vgl. Arejdal/Liano 2014: 12f.). Interessant ist dabei, dass es neben dem Haupterzählstrang, der die Vorbereitungen, die Überfahrt, das Herumirren auf Fuerteventura sowie seine Haft und Rückführung chronologisch im Rückblick schildert, einen weiteren Erzählstrang gibt, der genau genommen episodisch angelegt ist und in einfachen Strichzeichnungen das performative Kunstprojekt »Toutes directions« von Mohamed Arejdal dokumentiert. Die Haupthandlung wird immer wieder durch die jeweils doppelseitigen Episoden unterbrochen. Tertium Comparationis von Haupt- und Nebenhandlung ist letztlich auch hier das Herumirren, die Suche nach dem Ich, dem Zuhause, der Heimat. Mohamed verlässt Marokko, weil er dort keine Chance sieht, seinen innigsten Wunsch zu realisieren, nämlich eine Kunstschule zu besuchen und Künstler zu werden. Als er nach der Zwangsrückkehr nach Casablanca

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kommt, erfährt der Junge vom Land, dass es durchaus Kunstakademien in der eigenen Heimat gibt. Der Weg in die Fremde führt ihn zum Ziel, zurück in sein Herkunftsland, in dem Mohamed Arejdal heute tatsächlich anerkannter und erfolgreicher Künstler ist. Bei dem Kunstprojekt »Toutes directions« ging es Arjedal darum, Menschen verschiedener sozialer Schichten und verschiedenen Alters in Tétouan nach dem Weg in die Innenstadt zu fragen und sie zu bitten, ihm diesen aufzuzeichnen. Dabei verhielt er sich unsicher, sodass man ihn für einen armen und illegal Herumreisenden halten konnte. In seiner eigenen Heimat erfuhr er nicht immer sehr positive oder hilfreiche Reaktionen. Am Ende jeder Doppelseite ist ein Foto der entstandenen Wegbeschreibung integriert. Neben diesen Fotos erfüllen die einleitende Landkarte sowie der Abdruck eines Zeitungsberichtes über seine Inhaftierung auf Fuerteventura eine Authentisierungsfunktion. Angesichts der recht handlungsreichen und von Gewalt geprägten Fluchtgeschichte scheint die Unterstützung des Realitätsgehalts des Erzählten durchaus notwendig: Zu schnell möchte man der mitunter unkontrollierten Gewalt der europäischen Kontrollorgane auf den Kanarischen Inseln keinen Glauben schenken. Die Fahrt in dem unfachmännisch zusammengezimmerten Schiff wird hier als zutiefst traumatische Erfahrung dargestellt. Der Protagonist gibt seine ungemeine Furcht offen preis: Die Angst ist groß und vielfältig begründet, da ist die Angst von der Polizei erwischt zu werden, die Angst von den Schleppern letztlich doch nicht mitgenommen zu werden, die Angst vor der Gewaltbereitschaft der Schleuser, die Angst vor der See und letztlich auch die Angst vor dem Ankommen im Unbekannten. Im Unterschied zu den anderen hier vorgestellten Darstellungen überwiegt der leise und verstörte Ton. Die Überfahrt wird offen als furchtbares Erlebnis dargestellt (siehe Abbildung 5).

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Abbildung 5: Panel aus Amazigh. Itinéraire dʼhommes libres, S. 44f.

Quelle: Steinkis 2014

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Als der Motor mitten auf See immer wieder versagt, stirbt die Hoffnung und Angst, Unsicherheit und Verzweiflung beherrschen die Passagiere. In dieser sehr privaten Darstellung wird klar, dass das Erlebnis den Protagonisten nachhaltig prägen wird: Eine traumatische Erfahrung dieser Art muss verarbeitet werden – doch dazu ist keine Zeit, denn als das Schiff entgegen aller Befürchtungen doch das Land erreicht, beginnt der Kampf um das Unentdecktbleiben, aber schlicht auch des physischen Überlebens erst richtig. Wie bereits angesprochen, gewährt Amazigh dem Leser nicht nur Einblick in die brutalen Machenschaften der kriminellen Schlepperbanden, sondern öffnet auch die Augen für die von uns Europäern allzu gern verdrängten, entwürdigenden und letztlich unentschuldbaren Verhaltensweisen europäischer Amtspersonen im Umgang mit den Harraga. Als Beispiel sei hier abschließend nur kurz auf die Szene eingegangen, in der Mohamed aufgegriffen wird (siehe Abbildung 6). Von martialisch auftretenden Polizeikräften wird der junge Mann gewaltsam und wie ein widerständiger Krimineller niedergestreckt. Die menschenverachtende und wenig an demokratisch-freiheitliche Systeme erinnernde Verhaltensweise den aufgegriffenen Harraga gegenüber entsetzt (der Kabelbinder, das Niederknienlassen, das Einschlagen und die Schäferhunde evozieren ganz andere Bilder von Unmenschlichkeit). Die Tatsache, dass Mohamed die zentrale Identifikationsfigur des Lesers ist, verstärkt die Schockwirkung. Das verstörende Moment der unangemessen aggressiven Vorgehensweise wird unter anderem dadurch für den Rezipienten spürbar, dass die Sicherheitskräfte eine auch für den hispanophonen Leser unverständliche Sprache sprechen. Die Interpunktionskonvention signalisiert, dass es sich um Spanisch handelt, die eher an das Arabische erinnernde Graphie verhindert aber die Dechiffrierung und lässt die verzweifelte Situation vollständigen Nichtverstehens dessen, was passiert, unmittelbar miterleben. Dies geschieht jedoch ohne offene Kritik zu üben oder anzuklagen. Die Selbstdarstellung aus der Perspektive eines Harraga ist vielmehr ein Zeigen in leisen und stillen Tönen; doch damit machen die Autoren durchaus betroffen und stimmen nachdenklich.

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Abbildung 6: Panel aus Amazigh. Itinéraire dʼhommes libres, S. 58f.

Quelle: Steinkis 2014

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FAZIT In einer Zeit, in der Migrationsbewegungen zur Normalität geworden sind, überrascht es nicht, dass sich auch die Künste dieses Themas annehmen. Einen ganz besonderen Stellenwert haben dabei Comics und Graphic Novels, die sich mit der illegalen Migration verzweifelter und hoffnungsloser Menschen des afrikanischen Kontinents auseinandersetzen, die versuchen das vermeintliche Eldorado Europa über den Seeweg zu erreichen. Wie anhand der ausgewählten frankophonen Beispiele gezeigt wurde, inszenieren aktuelle graphische Erzählungen Flucht und Ankunft auf jeweils ganz unterschiedliche Weise, wobei hinsichtlich der Erzählform ‒ ungeachtet der Frage, ob es sich um fiktive oder faktuale Geschichten handelt ‒ ein stark realitätsbezogener berichtend-bezeugender Modus dominiert. Die Unterschiede liegen nicht zuletzt in der eigenen Betroffenheit der jeweiligen ComicMacher begründet: Die Perspektive von Künstlern mit eigener Migrationserfahrung ist naturgemäß eine sehr viel persönlichere, mitunter auch authentischere als die von Gestaltern, deren Visualisierungen sich allein aus den medial verbreiteten Bilderwelten speisen. Gemeinsam ist allen hier untersuchten Formen allerdings, dass mittels des Mediums Comic/Graphic Novel ein breiteres Publikum für das Thema sensibilisiert werden soll. Indem unterschiedliche Beweggründe der Migration präsentiert und anhand von Einzelschicksalen vorgestellt werden, bieten die graphischen Erzählungen zugleich alternative Bild-Narrative über Flucht und Migration sogenannter illegaler Migranten an und stellen bewusste Gegenerzählungen zu den vielfach stereotyp pauschalisierenden, vereinfachenden und nicht selten polemisierenden Medienberichten über die Harraga dar.

LITERATUR Primärliteratur Arejdal, Mohamed/Liano, Cédric (2014): Amazigh. Itinéraire dʼhommes libres, Paris: Steinkis. Aurel (2014): Clandestino. Un reportage dʼHubert Paris ‒ envoyé spécial, Grenoble: Glénat. Chappatte (2011): BD Reporter. Du Printemps arabe aux coulisses de l’Elysée, Nyon: Glénat. Dabitch, Christophe et al. (Hg.) (2010): Immigrants (13 témoignages, 13 auteurs de bande dessinée et 6 historiens), Paris: Futuropolis. Gendrin, Étienne (2011): Droit d’asile, Vincennes: Des Ronds dans lʼO.

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Biopolitik und Transversalität − Eine Analyse von Javier de Isusis graphischer Erzählung Asȳlum Frank Leinen

DER FREMDE, DER BLEIBT 1 − DIE HERAUSFORDERUNG VON POLITIK UND GESELLSCHAFT DURCH DIE NORMALITÄT DES 21. JAHRHUNDERTS Angesichts der seit den achtziger Jahren zunehmenden Migration fühlen sich viele Bewohner des ›europäischen Hauses‹ sehr unwohl bei dem Gedanken, ihr ›Heim‹ mit Menschen teilen zu müssen, die sich ungefragt bei ihnen niedergelassen haben. Sie möchten nicht wahrhaben, dass Migration und Exil inzwischen zur globalen Normalität wurden: 2018 befanden sich 68,8 Millionen Menschen auf der Flucht, sodass alle zwei Sekunden ein Mensch sein unsicheres Zuhause verließ (vgl. UNHCR 2019; UNO-Flüchtlingshilfe 2019). In vielen Ländern Europas macht sich Sozialneid breit, das Gespenst einer ›Überfremdung‹ steigt aus dem Grabe hervor, und populistische Parteien verzeichnen erhebliche Stimmengewinne.2 Die kategoriale Ordnung unseres Daseinsbewusstseins wird zunehmend brüchig, Verunsicherung macht sich breit, und die Bereitschaft wächst,

1

Die Kapitelüberschrift verweist auf den Soziologen Georg Simmel: »Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat.« (Simmel 1908: 509)

2

Dabei gerät leicht aus dem Blick, dass 80 % der Flüchtlinge, die ihre Heimat verlassen, in den angrenzenden Ländern bleiben (vgl. UNO-Flüchtlingshilfe 2019).

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Fremdes für gefährlich zu nehmen.3 »Der Prototyp des Fremden wird der Ausländer im Inland«, wie Alois Hahn (1992: 58) betont, um zu ergänzen: »Dass der Fremde (oder auch das Fremde) als solcher (bzw. als solches) zum ›Tremendum‹ wird, hat m.E. tiefere Gründe, die mit der von aller Konfrontation mit Fremdem ausgehenden symbolischen Gefährdung der eigenen Weltdeutung zusammenhängen.« (Ebd.: 59) Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu wahren, schien es in den letzten Jahren den Regierungen Europas angeraten, den Migrationsdruck zu reduzieren. Von einer Willkommenskultur sind die Länder der EU aktuell weit entfernt, und auch gegenwärtig ist die Frage ungeklärt, wer Asyl erhält und nach welchem Schlüssel Geflüchtete und Migranten in Europa zu verteilen sind. Nachdem Italien seine Marineeinsätze 2015 einstellte, inzwischen möglichst keine Flüchtlinge mehr an Land lässt und seit Anfang Februar 2019 auch die Bundesmarine im Mittelmeer keine Hilfe mehr leistet, liegt das Schicksal der Bootsflüchtlinge derzeit ausschließlich in den Händen privater Seenotretter (vgl. Tagesschau 2019; UNHCR 2018a).4 Das Flüchtlingsproblem soll möglichst vor die Tore Europas verlagert werden, und so fördert man die Entstehung von Auffangzentren auf afrikanischem Boden (vgl. DW 2018; Becker/Müller 2018). Zugleich versucht man, die strukturellen Fluchtursachen bereits vor Ort zu bekämpfen, wobei die finanziellen Mittel jedoch bei Weitem nicht hinreichend sein dürften (vgl. Auswärtiges Amt 2016: 6).5

3

In gruppenpsychologischer Hinsicht ist bemerkenswert, dass der Abbau geographischer Grenzen durch die Schaffung neuer, symbolischer Grenzen kompensiert wird (vgl. Peñalva Vélez 2004: 136). Diese Entwicklung bestärkt die Wahrnehmung einer »amenaza física« und einer »amenaza identitaria« (ebd.; »physische Bedrohung«, »Bedrohung der Identität«) durch die Migranten. Die Übersetzung spanischsprachiger Zitate folgt der Zielsetzung des vorliegenden Bandes, über die Einzelphilologien hinausgehend eine möglichst breite Leserschaft anzusprechen.

4

Allein 2017 wurden laut der italienischen Küstenwache 46.000 Menschen durch NGOs gerettet (vgl. UNHCR 2018b).

5

Ab 2021 soll der Etat des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sinken (vgl. Zeit Online 2019).

Biopolitik und Transversalität | 267

BIOPOLITIK, THANATOPOLITIK UND LEBENSPOLITIK Für die Analyse der komplexen Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem Thema der Migration in Javier de Isusis graphischer Erzählung Asȳlum (2017 [12015]) ergeben, dürften sich Impulse, die Michel Foucault mit seinem Konzept der Biopolitik gegeben hat, als besonders wertvoll erweisen.6 Neben Foucaults Texten regten auch Hannah Arendts Schriften Giorgio Agamben und Roberto Esposito an, ihre Gedanken zum homo sacer und dem Immunitätsparadigma zu entwickeln, die ebenfalls für die Besprechung von Asȳlum berücksichtigt werden sollen. Für Foucault rückte seit den siebziger Jahren die Frage nach dem Leben und seiner Gestaltung bzw. Verwaltung im Zeichen der Moderne in den Mittelpunkt seines Interesses (vgl. Gehring 2014: 232). Die Mechanismen und Verfahren, die mit der Entstehung des Liberalismus7 zu einer neuen Kunst des Regierens führten, welche die Disziplinierung des Körpers ebenso wie die Produktivität von Leben gemäß der »wirtschaftlichen Wahrheit innerhalb der gouvernementalen Vernunft« (Foucault 2006: 43) anstrebten, fasst er unter den Begriffen der Biopolitik und der Biomacht zusammen. In ihnen wirken die Machtbeziehungen zwischen Politik und Subjekten im Zeichen der Gouvernementalität (vgl. ebd.: 261). Hatte die Biopolitik zunächst noch einen vorrangigen Bezug zur Medizin (vgl. Foucault 2003a: 276), so erweiterte Foucault ihre Bedeutungsdimensionen derart, dass das Konzept 1976 mit Man muss die Gesellschaft verteidigen (2003b) zum zentralen Erklärungsmuster einer Politik wurde, die das Leben und Sterben des Individuums bestimmt. Die Disziplinierung des Körpers wird überführt in die Machttechniken oder »Techniken des Zwangs« (ebd.: 166) zur Kontrolle und Regulierung des Lebens schlechthin und sämtlicher Machtverhältnisse in Gesellschaften.8

6

Die Sinnhaftigkeit einer solchen Perspektive unterstreicht Blanchette: »L’œuvre de Michel Foucault permet donc ›de penser différemment la production de savoir sécuritaire sur le crime, la violence, la guerre, l’immigration‹ – toutes formes d’illégalisme a priori, de partage, d’exclusion ou de ségrégation ›pathologisée‹.« (Blanchette 2006: 10, Herv. i. O.)

7

»Liberté et sécurité: ce sont les procédures de contrôle et les formes d’intervention étatique requises par cette double exigence qui constituent le paradoxe du libéralisme et sont à l’origine des ›crises de gouvernementalité‹ qu’il a connues depuis deux siècles.« (Senellart 2004: 335)

8

»Etwas vergröbert lassen sich bei Foucault drei Formen der Macht unterscheiden: die souveräne Macht im engeren Sinne territorialer Feudalstaatlichkeit, die Disziplinarmacht, die sich an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert ausbildet, und schließlich

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Entsprechend versteht Foucault Biopolitik als »die Weise, in der man seit dem 18. Jahrhundert versuchte, die Probleme zu rationalisieren, die der Regierungspraxis durch die Phänomene gestellt wurden, die eine Gesamtheit von als Population konstituierten Lebeweisen charakterisieren: Gesundheit, Hygiene, Geburtenziffer, Lebensdauer, Rassen…« (Foucault 2006: 435)

Ausgehend vom Prinzip staatlicher Souveränität reguliert die Biopolitik alle Bereiche des Lebens, die den Dispositiven der Macht folgend planbar und verwaltbar werden. Im Zusammenhang mit Phänomenen wie Flucht, Migration und Asyl befasst sie sich auch mit »der Steuerung der Bevölkerungsbewegungen in einer Gesellschaft […] bis hin zur eigentlichen Regulation der Bevölkerung in ›qualitativer‹ Hinsicht, letztlich bis zur eugenisch motivierten Ausmerzung von ›lebensunwertem Leben‹.« (Sarasin 2005: 167) Hierin liegt für Foucault ein fundamentaler Unterschied zwischen der Souveränität der alten Ordnung, dem »alte[n] Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen« (Foucault 1986: 165, Herv. i. O.) und der neuen, ordnungsmächtigen Biopolitik, die in der Lage ist, »leben zu machen oder in den Tod zu stoßen« (ebd., Herv. i. O.).9 Es geht seit der Moderne darum, die Zusammensetzung der Bevölkerung im Speziellen und das Leben der Menschen im Allgemeinen im Sinne der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Optimierung zu organisieren (vgl. Salinas Araya 2014: 286).10 In dieser Perspek-

die von Foucault erst in den letzten Lebensjahren beschriebene moderne Biomacht oder Biopolitik.« (Geulen 2005: 84, Herv. i. O.) 9

»Die alte Mächtigkeit des Todes, in der sich die Souveränität symbolisierte, wird nun überdeckt durch die sorgfältige Verwaltung der Körper und die rechnerische Planung des Lebens.« (Foucault 1986: 166f.) Blanchette und Geulen unterstreichen, dass die traditionelle »Todesmacht« des Souveräns durch das neue Recht, leben zu machen oder sterben zu lassen, ergänzt, nicht aber von ihm abgelöst wird (vgl. Blanchette 2006: 3; Geulen 2005: 84). Abweichend von Foucault möchte Agamben nachweisen, dass die souveräne Macht schon seit der Antike die »Produktion eines biopolitischen Körpers« (Agamben 2002: 16, Herv. i. O.) vorsah und der homo sacer als »Emblem dieses Nexus von Biomacht und souveräner Macht« (Geulen 2005: 86) auftritt.

10 Esposito bestätigt die »Überlagerung von Politik und bíos« (Esposito 2010: 11, Herv. i. O.) als Kennzeichen der Moderne und verweist neben Foucaults Aussagen zur Gouvernementalisierung des Lebens auf Arendt: »Wie Hannah Arendt zu Recht bemerkt, fiel die Sorge um das Leben und seine Reproduktion bis zu einer gewissen Epoche weder in den politischen noch in den öffentlichen, sondern in den wirtschaftlichen und in den privaten Bereich« (ebd.).

Biopolitik und Transversalität | 269

tive erscheinen die Debatten über die Lenkung der Flüchtlingsströme, den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten, die Einführung einer Flüchtlingsobergrenze oder die Maßgaben einer Anerkennungs- und Einbürgerungspolitik als Ausdruck einer an biopolitischen Maßstäben ausgerichteten staatlichen Praxis.11 Das Leben wird biopolitisch planbar und politischen sowie ökonomischen Maßgaben entsprechend, hinter denen die Dispositive der Macht stehen, verwaltet. Die ein- und ausschließende Biomacht12 reguliert auch die Migration, wobei jedoch, wie es die Aktualität belegt, der Blick auf das Individuum und das Leben schlechthin aus dem Fokus zu geraten drohen. Deswegen kann die Biopolitik, wie Esposito betont, jederzeit zur »Thanatopolitik« (Esposito 2010: 15) werden, sobald eine »Reduktion des Lebens auf bloße lebende Materie« (Esposito 2004: 18) erfolgt. Espositos Ausführungen lesen sich als kritischer Kommentar zur Flüchtlingspolitik der vergangen Jahre: Nachdem der massive Ausbau der europäischen Landgrenzen, in Verbindung mit den Regelungen der Dublin III-Verordnung, die Zuwanderung von Flüchtlingen nach Mitteleuropa abwehren sollte,13 führte dies lediglich zu einer Verlagerung der Flüchtlingsströme über das Mittelmeer. Die anschließende Abkehr von einer staatlich organisierten Rettung der in meist überfüllten, seeuntüchtigen Schlauchbooten treibenden Flüchtlinge ist Ausdruck einer brutal zu nennenden Politik, die in den Tod stößt. Sie macht offenkundig, dass die Menschen in ihren Booten nicht mehr als Einzelwesen wahrgenommen werden, sondern nur mehr als anonyme »Lebe- und Gattungswesen, als Teil einer Population« (Geulen 2005: 85).

11 »Suponiendo, entonces, que las murallas del poder soberano han sido abolidas, es indudable que en la actualidad las murallas biopolíticas son cada vez más fuertes y altas.« (Acosta Olaya 2013: 100; »Wenn man nun davon ausgehen kann, dass die Mauern der souveränen Macht niedergelegt worden sind, dann besteht zugleich kein Zweifel daran, dass die biopolitischen Mauern immer massiver und höher werden.«) 12 Gehring betont, dass Biopolitik »die Ebene der konkret zu beschreibenden Machttechniken« meint, während die Biomacht als »eine Machtform, ein epochaler ›Machttyp‹« (Gehring 2014: 231) auftritt. 13 Zwischen 2007 und 2011 zahlte die EU ihren Mitgliedsstaaten 2,2 Milliarden Euro für die Steuerung der Flüchtlingsströme. Hiervon wurde rund eine Milliarde für den Ausbau der Grenzanlagen verwendet, und nur 366 Millionen Euro kamen den Flüchtlingen für Nothilfe und Unterbringung zugute (vgl. Oberhuber 2014).

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Eine solche Migrationspolitik trägt in Espositos Perspektive nicht nur Züge einer Thanatopolitik. Sie ist für den italienischen Philosophen auch Ausdruck einer nationalen Immunisierungsstrategie,14 die zugleich »Schutz und Negation des Lebens« (Agamben 2004: 15) bedeutet. Auf die Wahrnehmung, dass Flüchtlinge eine Bedrohung darstellen, reagieren demnach Gemeinschaften mit dem nach Esposito »immunisierende[n] Paradigma der modernen Politik« (Esposito 2010: 15), in der sich zunehmend die Tendenz manifestiere, »das Leben vor den Gefahren, die aus den zwischenmenschlichen Beziehungen hervorgehen, zu schützen, und sei es auf Kosten der Aufhebung gemeinschaftlicher Bindungen« (ebd.). Mit Blick auf die Migrationsthematik bedeutet dies, dass das Leben der Mitglieder einer Gesellschaft nur dann gewährleistet bleibt, wenn der Tod jener, die dieses Leben – bisweilen gleichgesetzt mit »Wohlstand« oder »Lebensraum« – zu bedrohen scheinen, hingenommen wird. Nachdem die Nationen Europas eine aus ihrer Sicht noch zu verkraftende Anzahl von Flüchtlingen aufgenommen hatten (»Impfung«), fand als Ausdruck ihrer Politik, »durch Ausschließung einzuschließen« (ebd.: 39),15 eine »Immunisierung« des politischen Körpers statt. In dieser biopolitischen

14 »So, wie man eine kleine Menge Krankheitserreger in den Körper injiziert, um sich präventiv gegen Ansteckung zu schützen, wird im Falle der gesellschaftlichen Immunisierung das Leben in einer Form erhalten, die seine zutiefst gemeinschaftliche Natur zur Gänze verneint.« (Esposito 2010: 15) Gerade in der partiellen Aufhebung der Exklusion des Äußerem liegt das Spezifikum der immunitären Dynamik: »[A]nstatt wie eine selektive und exkludierende Schranke gegenüber dem Außen zu funktionieren, gleicht sie viel eher einem Resonanzkasten für dessen Präsenz im Inneren des Ich.« (Esposito 2004: 237) 15 Die paradoxe Dialektik dieser Denkfigur erläutert Esposito in Immunitas: »Das Gift ist vom Organismus nicht dann besiegt, wenn es aus ihm herausgestoßen wird, sondern wenn es in gewisser Weise zu einem Teil von ihm wird. Wie schon gesagt: die Immunitätslogik verweist auf eine Nicht-Negation, auf die Negation einer Negation.« (Esposito 2004:15) »Ungeachtet ihrer Dimension definiert sich die Kategorie derjenigen, die in den Genuss eines bestimmten Rechts kommen, nur über den Kontrast zu denjenigen, die davon ausgeschlossen werden.« (Esposito 2010: 39)

Biopolitik und Transversalität | 271

Perspektive erscheint es nur konsequent, dass man in einem Akt der »thanatopolitischen Entartung« (ebd.: 18)16 die staatlich organisierte Rettung von Bootsflüchtlingen einstellte.17 Die aktuelle Flüchtlingspolitik bestätigt Espositos Aussage, dass der »bíos […] durch künstliche Grenzen in Bereiche unterschiedlichen Werts unterteilt« (ebd.: 16, Herv. i. O.) wird, wenn das Fremde dem Eigenen entgegensteht. Schließlich kommt er zu dem Ergebnis: »Ein weiteres Zeichen für die immer massiver werdende biopolitische Ausrichtung ist die Tatsache, dass die Grenze zwischen Regel und Ausnahme zusehends verwischt wird, dass immer häufiger Notstandsgesetzgebungen greifen, dass immer mehr Migranten ohne rechtlichen Status unter uns leben, die dem direkten polizeilichen Zugriff unterstehen.« (Ebd.: 23)

Extreme Formen einer biopolitisch legitimierten Thanatopolitik kritisierte bereits Hannah Arendt, nach der selbst Verstöße gegen die Menschenrechte »immer gerechtfertigt werden dadurch, dass man behauptet, recht sei, was gut oder nützlich für das Ganze (im Unterschied zu seinen Teilen) sei« (Arendt 1986: 465).18 Auch ein Befund, den die Philosophin in dem 1943 verfassten Essay Wir Flüchtlinge notiert, regt angesichts der Aktualität zum Nachdenken an. Arendt weist darauf hin, »dass die Zeitgeschichte eine neue Gattung von Menschen geschaffen hat – Menschen, die von ihren Feinden ins Konzentrationslager und von ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt werden« (Arendt 2016: 12). In solchen Internierungslagern kondensiert sich damals wie heute das Elend zahlloser Individuen, die oft jahrelang ein prekäres Leben im Transit führen müssen. In der Perspektive, die 16 Laut Esposito bildet der Totalitarismus des 20. Jahrhunderts lediglich den »Gipfel dieser thanatopolitischen Entartung« (ebd.: 18). »Die Verschränkung von Politik und Leben, die der Totalitarismus in einer für beide Seiten zerstörerischen Variante ausprägte, ist uns nach wie vor gegenwärtig. Mehr noch, sie stellt heute die Achse dar, um die sich jede politisch bedeutende Dynamik drehen muss.« (Ebd.: 21f.) 17 Unter Verweis auf Luhmann kritisiert Esposito, »dass der immunitäre Mechanismus nicht länger Funktion des Rechts ist, sondern das Recht Funktion des immunitären Mechanismus« (Esposito 2004: 17; vgl. ebd.: 66ff.). Vgl. Acosta Olaya 2013: 103. 18 Arendts Kritik reicht dabei über die Phasen des Nationalsozialismus und Stalinismus hinaus: »Denn es ist durchaus denkbar und liegt sogar im Bereich praktisch politischer Möglichkeiten, dass eines Tages ein bis ins letzte durchorganisiertes, mechanisiertes Menschengeschlecht auf höchst demokratische Weise, nämlich durch Majoritätsbeschluss, entscheidet, dass es für die Menschheit im ganzen besser ist, gewisse Teile derselben zu liquidieren.« (Arendt 1986: 465f.)

272 | Frank Leinen

Arendt entwirft, werden sie »innerhalb der zivilisierten Welt« zu »Staaten- und Rechtlosen«, die »aus allen menschlichen Gemeinschaften herausgeschleudert wurden« und »auf ihre naturhafte Gegebenheit« (Arendt 1986: 469) reduziert bleiben. Während und nach der Flucht bleibt die Existenz dieser Menschen auf das bloße Leben reduziert, das Agamben, für den Arendt eine wichtige Referenz ist, unter Verweis auf die griechische Antike als zōḗ, als »die einfache Tatsache des Lebens, die allen Lebewesen gemein ist (Tieren, Menschen und Göttern)« (Agamben 2002: 11) bezeichnet. Er unterscheidet es von bíos, das »die Art und Weise [bezeichnet], die einem einzelnen oder einer Gruppe eigen ist« (ebd.). Für die Flüchtlinge gilt die Existenzform des zōḗ, da in ihrem Fall »das einfache natürliche Leben […] aus der pólis im eigentlichen Sinn ausgeschlossen« (ebd.: 12, Herv. i. O.) bleibt. Mit Blick auf ihr staatlicherseits reguliertes Leben gilt zugleich der von Foucault für die Moderne, von Agamben freilich seit der Antike in Anschlag gebrachte Befund, dass »zōḗ in die Sphäre der pólis« eintritt und die »Politisierung des nackten Lebens als solches« (ebd.: 14, Herv. i. O.) erfolgt.19 Die Flüchtlinge in ihren überfüllten Booten oder jene, die in Lagern und Heimen interniert sind, erscheinen als Inkarnationen des homo sacer, dessen Tötung zulässig war, da »die ihm zugefügte Gewalt kein Sakrileg« (ebd.: 92) darstellte. Seine Existenz, so Agamben, war und ist auf das nackte Leben reduziert, und er erscheint gegenwärtig als bloßes Objekt der »Mechanismen und Kalküle der Staatsmacht« (ebd.: 12). Was zunächst als Paradox der Flüchtlingspolitik erscheint, dass Flucht und Migration trotz ihrer permanenten Aktualität im politischen Diskurs und Handeln als singuläre Erscheinungen gedeutet werden, ist letztlich das Ergebnis biopolitischer Logik, dem Gesetz folgend: »Was auf keinen Fall eingeschlossen werden kann, wird in der Form der Ausnahme eingeschlossen.« (Ebd.: 34) So kann Geulen vermerken: »Wer Agambens Studien zum homo sacer gelesen hat, wird jedenfalls nicht nur das Flüchtlingsproblem mit anderen Augen sehen.« (Geulen 2005: 20)

19 Gerade der Ausschluss des nackten Lebens führt in der Moderne zu seinem Einschluss und damit zur Frage nach der »originären Struktur der Staatlichkeit« (Agamben 2002: 22): »[E]ntscheidend ist vielmehr, dass das nackte Leben, ursprünglich am Rand der Ordnung angesiedelt, im Gleichschritt mit dem Prozess, durch den die Ausnahme überall zur Regel wird, immer mehr mit dem politischen Raum zusammenfällt und auf diesem Weg Ausschluss und Einschluss, Außen und Innen, zōḗ und bíos, Recht und Faktum in eine Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit geraten.« (Ebd.: 19, Herv. i. O.)

Biopolitik und Transversalität | 273

Der auf seine Kreatürlichkeit reduzierte Flüchtling erscheint gegenwärtig als dramatischster Ausdruck der von Agamben stets betonten Tatsache, dass politische Existenz und bloßes Leben voneinander unterschieden werden.20 Mit der Ankunft der Flüchtlinge auf europäischem Boden ist etwa im Zuge der unterschiedlichen Auslegung des Rechts auf Asyl deutlich geworden, wie sehr die Reduktion auf das bloße Leben das Ergebnis einer gouvernementalen Praxis bildet, die mit »Abstraktionen, Definitionen, Unterscheidungen und Ausschließungen« (ebd.: 59) arbeitet. Flüchtlinge werden gezwungen, ein prekäres Leben im »Naturzustand« als ein »nach Abzug aller Formen verbleibender Rest« (ebd.: 82) zu führen, und sie machen die Erfahrung, dass »die abstrakte Nacktheit ihres Nichts-als-Menschseins« (Arendt 1986: 467) für sie die größte Gefahr darstellt. Der mahnende Appell Arendts, dass »es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben« (ebd.: 462), ist zwar im kollektiven Gedächtnis Europas fest eingeschrieben, »seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben« (ebd.), doch sind diese Menschen infolge »der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande […], es wiederzugewinnen« (ebd.). Es erscheint als tragisches Paradox, dass aktuell erneut jener Zustand zu herrschen scheint, den die Philosophin wie folgt auf den Punkt bringt: »Nur weil die Völker der Erde trotz aller bestehenden Konflikte sich bereits als ein Menschengeschlecht etabliert haben, konnte der Verlust der Heimat und des politischen Status identisch werden mit der Ausstoßung aus der Menschheit überhaupt.« (Ebd.) Agamben kommentiert diese Situation wie folgt: »Das Paradox, von dem sie [Arendt] hier ausgeht, besteht darin, daß die Figur – der Flüchtling –, die den Menschen der Menschenrechte schlechthin hätte verkörpern sollen, statt dessen die radikale Krise dieser Konzeption bezeichnet.« (Agamben 2002: 135)21 In den Lagern, in denen die Flüchtlinge vom Rest der mit Bürgerrechten ausgestatteten Menschheit abgeschlossen werden, erfahren sie in Agambens Perspektive eine Perpetuierung des Ausnahmezustands, denn: »Das Lager ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt« (Agamben 2002: 177, Herv. i.

20 Geulen betont, dass nach Agamben »im Ausschluss des Lebens von der Politik das Wesen der abendländischen Politik beschlossen« (Geulen 2005: 58f.) liegt. Ähnliches konstatierte zuvor Esposito im Zuge der Erläuterung von Foucaults Konzept der Biopolitik: »Es ist, als müsste die Politik, um sich zum Leben zu verhalten, ihm jegliche qualitative Dimension entziehen – es zu ›bloßem Leben‹, ›reinem Leben‹, ›nacktem Leben‹ machen.« (Esposito 2004: 23) 21 »Die Menschenrechte werden dem Menschen zugeschrieben (oder entspringen ihm) nur in dem Maß, als er das unmittelbar wieder verschwindende (oder vielmehr gar nie als solches ans Licht tretende) Fundament des Bürgers abgibt.« (Agamben 2002: 137)

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O.).22 Das Lager – eines der Leitmotive der graphischen Erzählung Asȳlum – erscheint dem Philosophen als »der neue biopolitische nómos des Planeten« (ebd.: 186, Herv. i. O.), als emblematische Verräumlichung des Ausnahmezustandes. Wie der Strand oder die Grenze, aber auch Boote, Züge, Lastwagen und Busse, mit denen die Flüchtlinge nach Europa gelangen oder innerhalb Europas weitergeleitet werden, ist das Lager ein heterotopischer Transit-Ort.23 Solche Orte besitzen insofern einen paradoxalen Charakter, als sie zwar relativ stabile Strukturen aufweisen, aber vom räumlichen Moment des Passierens, des Durchgangs gekennzeichnet sind, sodass ihnen eine »permanente Instabilität« (Wilhelmer 2015: 37) eignet. Auch erfüllen sie die Funktion von »Gegenplazierungen oder Widerlager[n]« (Foucault 1990: 39), sind sie doch innerhalb und zugleich außerhalb der Gesellschaft verortet (vgl. Wilhelmer 2015: 55).24 In ihnen fällt die Inklusion und Exklusion von Flüchtlingen zusammen. Solche Transit-Orte tragen Züge der »Krisenheterotopie«, da sie als »verbotene Orte« für Menschen errichtet wurden, »welche sich im Verhältnis zur Gesellschaft und inmitten ihrer menschlichen Umwelt in einem Krisenzustand befinden« (Foucault 1990: 40). Den von Foucault beispielhaft angeführten Menschen, die in Krisenheterotopien leben – Heranwachsende, menstruierende Frauen, Frauen im Wochenbett, Alte, Frauen auf Hochzeitsreise (vor ihrer Defloration) – ist gemeinsam, dass sie den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt als krisenhaftes Geschehen erfahren. Dieser Befund gilt in existenzieller Hinsicht auch für Flüchtlinge, deren krisenhaftes Dasein in Lagern, an der Schwelle zwischen einem alten, nicht mehr gültigen, und einem neuen, noch nicht absehbaren Existenzmodus ver-

22 »Der Ausnahmezustand, der im Wesentlichen eine zeitliche Aufhebung der Rechtsordnung war, wird nun eine stabile räumliche Einrichtung, in der jenes nackte Leben wohnt, das in wachsendem Maß nicht mehr in die Ordnung eingeschrieben werden kann.« (Ebd.: 184f.) Die Konzentrationslager der Nationalsozialisten wie auch die Lager der Spanier auf Kuba 1896 oder das Gefangenenlager von Guantanamo sind für Agamben Orte, in denen sich diese »einschließende Ausschließung« (ebd.: 17) der zōḗ aus der pólis besonders radikal manifestierte (vgl. Geulen 2005: 96). 23 »Es gibt gleichfalls – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.« (Foucault 1990: 39) 24 Acosta Olaya spricht von »espacios de marginalidad« und »espacios de abandono« (2013: 101; »Räume der Marginalität«, »Räume der Verlassenheit«).

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ortet ist. Die sich hieraus ergebenden Unwägbarkeiten sind so groß, dass besonders traumatisierte Flüchtlinge, unter ihnen auch Kinder, sogar in den Selbstmord getrieben werden (vgl. Ärzte ohne Grenzen 2018; TAZ 2018). Doch auch Merkmale, die Foucault für die Abweichungsheterotopien nennt, gelten für die Lager. Zu diesen Heterotopien zählt der französische Philosoph unter anderem Gefängnisse oder – an der Grenze zwischen Krisen- und Abweichungsheterotopie – Altersheime: »In sie steckt man die Individuen, deren Verhalten abweichend ist im Verhältnis zur Norm.« (Foucault 1990: 40) Von den gesellschaftlichen Vorgaben jener Staaten her betrachtet, auf deren Territorien Lager errichtet werden, weicht das Leben der dort untergebrachten Flüchtlinge zum Teil erheblich von diesen Normen ab: Sie dürfen sich nicht frei bewegen, verfügen über keine Bürgerrechte, dürfen nicht arbeiten und setzen sich hiermit dem Vorwurf aus, unproduktiv sowie auf finanzielle und materielle Unterstützung angewiesen zu sein. Wie das Alter wäre in dieser Perspektive auch die Existenz als Flüchtling in einer Gesellschaft, welche den nicht als Urlaub deklarierten Müßiggang ablehnt, Ausdruck einer Krise. Ungeachtet der Frage, ob Flüchtlingslager eher als Krisen- oder Abweichungsheterotopien in Erscheinung treten, ist ihnen gemeinsam, dass sie als »Widerlager« (ebd.: 39) das Funktionieren des Staates gewährleisten, da sie den durch Flucht und Migration entstehenden Druck auf die Gesellschaft kontrolliert aufnehmen und ablenken. Als heterotopische Orte des »Dazwischen und damit der Entgrenzung« (Wilhelmer 2015: 38, Herv. i. O.) symbolisieren Transit-Orte die prekäre Existenz der Menschen, denen das transitorische Provisorium des »Fluchtorts« (ebd.: 39, Herv. i. O.) zwar vorübergehend Halt gibt, ihnen aber keine Perspektive auf ein Ankommen vermittelt.25 Zugleich aber stehen sie für eine Entgrenzung, sodass sich in ihnen transitorische Kulturräume für das Andere öffnen, sie »Ordnungen in Frage stellen und Strukturen neu verhandelbar machen können« (ebd.: 38). Wie deutlich wurde, leben die Menschen im Lager in einem Ausnahmezustand, und Esposito vertieft die sich hieraus ergebende rechtliche Problematik,26 indem er Judith Butlers Kritik aufgreift, dass Lagerinsassen etwa in Guantanamo »weder Gefangene noch Angeklagte«, sondern als »einfache Verhaftete […] einer rein faktischen Herrschaft unterworfen sind« (Esposito 2004: 10). Dies gilt jedoch nicht nur für Guantanamo. So konnten die staatlichen Registrierungs- und Auf-

25 Diesen Aspekt betont Borsò 2015. 26 Esposito kritisiert insbesondere, dass der Ausnahmezustand, »indem er die Rechtsordnung suspendiert, deren Schwelle oder Grenzbegriff« (Esposito 2004: 11) bestimmt. Er fügt hinzu: »Außerhalb der Rechtsordnung zu stehen und doch zu ihr zu gehören: das ist die topologische Struktur des Ausnahmezustands« (ebd.: 45, Herv. i. O.).

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nahmestellen 2015, als die ›Flüchtlingswelle‹ Deutschland erreichte, den betroffenen Menschen bei der Bearbeitung ihres Aufnahme- bzw. Asylverfahrens keine Rechtssicherheit garantieren.27 Aufgrund seines »paradoxen Status« (ebd.: 179) als transitorische Schwelle, wo sich »das Leben zugleich außerhalb und innerhalb der Rechtsordnung befindet« (ebd.: 37),28 ist das Lager der emblematische Ort, in dem die ebenfalls emblematischen homines sacri innerhalb und zugleich außerhalb der für die Bürger herrschenden Rechtsordnung leben. Zwar müsse nach Geulen nicht in jedem Lager alles passieren, was möglich ist, und nicht jedes Lager müsse an Auschwitz gemessen werden, doch sei, »in so genannten ›Auffanglagern‹, wie sie der deutsche Innenminister im Jahr 2004 avisiert hat, auf Flüchtlingsschiffen oder in den zones d’attente internationaler Flughäfen […] die Rechtsstruktur des Lagers wiedererkennbar« (Geulen 2005: 100, Herv. i. O.). Die Kasernierung von Flüchtlingen, die schleppende Behandlung von Asylverfahren oder auch die Rückführung abgelehnter Asylsuchender in angeblich sichere Herkunftsländer sind Ausdruck einer verbreiteten, als Störung der Ordnung erfassten Beunruhigung, die durch die Berührung mit dem nackten Leben erzeugt wurde. Gerade weil der homo sacer bis in die Gegenwart als Verbannter und Geächteter gilt, dessen »ganze Existenz auf ein nacktes, aller Rechte entkleidetes Leben reduziert [ist], das er nur auf der endlosen Flucht oder in der Zuflucht eines fremden Landes retten kann« (Agamben 2002: 192), ist nach Überzeugung des italienischen Philosophen »kein Leben ›politischer‹ als das seine« (ebd.: 193). Überlegungen zur Biopolitik können mithin wichtige Impulse für die Analyse der Migrationspolitik und ihre Kommentierung in Politik, Gesellschaft und Medien liefern. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die oftmals sehr kritischen Befunde über die Analyse hinausgehend in eine »affirmative und produktive Biopolitik – eine Biopolitik, die sich der unumgänglichen Wiederkehr des Todes entzieht« (Esposito 2010: 26) zu überführen sind. Dies führt Esposito zur Frage: »Ist eine Politik des Lebens anstelle einer Politik über das Leben vorstellbar?« (Ebd.: 26, Herv. i. O.), die er sogleich mit dem Hinweis beantwortet, »dass es nun notwendig ist, das Verhältnis von Politik und Leben neu zu denken und anstatt das Leben – wie im vergangenen Jahrhundert – der politischen Leitung zu überlassen, 27 Selbst das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge räumt für 2015 eine deutliche »Überlastung der Regelstrukturen« (BAMF 2018) ein, deren Folgen bis 2017 nachwirkten. 28 »Einer der wesentlichen Züge der modernen Biopolitik (der in unserem Jahrhundert rasen wird) ist die Notwendigkeit, im Leben laufend die Schwelle neu zu ziehen, die das, was drinnen, und das, was draußen ist, verbindet und trennt.« (Agamben 2002: 140)

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die Potenz des Lebens in die Politik einfließen zu lassen« (ebd.: 27). Dies bedeutet nicht mehr und nicht weniger als das »Recht der Person« (ebd.: 56) als »Recht des Körpers« (ebd.) zur Norm zu erheben, und in Weiterführung dieses Gedankens als ein »Recht aller Körper und ein Recht jedes einzelnen, für sich genommenen Körpers« (ebd.). Auf diese Weise wäre es möglich, das sich mit der Biopolitik etablierende Recht, »leben zu machen oder in den Tod zu stoßen«, (Foucault 1986: 165, Herv. i. O.) dergestalt zu transformieren, dass es zum uneingeschränkten, wirkungsmächtigen Recht des Lebens wird.29 Mit Blick auf Europas Umgang mit Flüchtlingen gibt die Arbeit der NGOs und zahlloser Freiwilliger in gemeinnützigen Organisationen – Isusis Band Asȳlum wurde von einer solchen Organisation ediert30 – ebenso wie ihre Unterstützung durch die europäische Bürgergesellschaft Anlass zur Hoffnung, dass ein solches Umdenken in Richtung einer neuen »Lebenspolitik« (Esposito 2010: 56, Herv. i. O.) nicht unmöglich ist, in welcher »der bíos auch seine eigene zoé einschließt und gegen die Domestizierung des Lebens arbeitet« (Borsò 2010: 17, Herv. i. O.). Vor diesem Hintergrund kann die künstlerische Auseinandersetzung mit den Fragen des Lebens dazu beitragen, die Diskussion über Flucht und Gewalt, Macht und Gesellschaft, Biopolitik, Thanatopolitik und Lebenspolitik, zōḗ und bíos kritisch zu begleiten und »den Katastrophen der Geschichte eine Ethik und eine Ästhetik entgegenzusetzen, in der Spuren von Leben zu finden sind« (ebd.).

29 Vgl. Esposito, der die Zukunft in einer »bejahenden Biopolitik« sieht, die »eine radikale Distanzierung vom hierarchischen und ausschließenden Dispositiv« (Esposito 2010: 61) wahrnimmt. In einer solchen Perspektive ist auch Agambens tagespolitische Bedeutung zu würdigen, da dessen Schriften »neue Perspektiven für die Behandlung der Probleme der Gegenwart« (Borsò 2010: 15) vermitteln, sodass sie als Gegenentwurf dienen für »eine mögliche politische Praxis, die lautet: Grenzen müssen sich zum Leben öffnen« (ebd.). 30 Es handelt sich um die »Comisión de Ayuda al Refugiado en Euskadi« (CEA[R]Euskadi; »Komitee für die Unterstützung von Flüchtlingen im Baskenland«), der Isusi sämtliche Einnahmen aus Asȳlum stiftet, wie auf dem rückseitigen Cover vermerkt wird.

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DIE KOMMENTIERUNG BIOPOLITISCHER POSITIONEN IN SPANISCHEN NOVELAS GRÁFICAS Aufgrund der geographischen Lage Spaniens sind die Themen Flucht, Migration und Asyl in der spanischen Öffentlichkeit gegenwärtig ein vielbeachtetes Thema. Hinzu kommt, dass während des Bürgerkriegs 1936-1939 und zur Zeit der Diktatur Francos viele Familien unter Lebensgefahr aus dem Land fliehen mussten. Auch haben viele Spanier während der sechziger Jahre ihre Heimat verlassen, um in Mitteleuropa als Arbeitsmigranten arbeiten zu können. Entsprechend groß ist die Zahl spanischer Romane und Filme, welche die hiermit in Verbindung stehenden Themen aufgreifen und eine beachtliche wissenschaftliche Aufmerksamkeit finden konnten.31 Anders sieht die Situation bei Tebeos, Historietas, Cómics und Novelas gráficas32 aus, die seit etwa 20 Jahren eine immer größere Leserschaft verzeichnen können (vgl. Pons 2017; Tebeosfera 2018: 31, 35f.). So findet sich zu den Themen Exil, Migration und Asyl eine Reihe von Novelas gráficas, die eine nähere Betrachtung verdienen, bislang aber zumindest seitens der Forschung nicht wahrgenommen wurden. Hierzu zählen der autobiographische Band Nieve en los bolsillos (Kim 2018), in dem die Erfahrung der Arbeitsmigration im Mittelpunkt steht, Sansamba (Franc/Martín 2014), der schildert, wie die Begegnung mit einem Flüchtling einen Prozess des interkulturellen Lernens initiiert, Olimpita (Migoya/Marín 2009), in dem sich die Lebenswege einer von ihrem Mann missbrauchten Frau und eines senegalesischen Flüchtlings schicksalhaft kreuzen, Khalid (Damián/Pastor 2013), die Geschichte zweier Marokkaner, deren Traum von Europa zum Alptraum wird, oder Calle del Norte (Bergès/Cazares 2010), wo das Thema der Migration mit den Chancen und Herausforderungen transkultureller Prozesse verwoben wird. Eine Sonderstellung besitzt der hybride, Elemente der Fotodokumentation, des Essays, der Reportage und der graphischen Erzählung

31 Vgl. Andres-Suárez et al. 2002; Santaolalla 2005; Calvo Salgado 2009 und Cruz Suárez et al. 2015. 32 Tebeos (von te veo, »ich sehe dich« abgeleitete phonetische Schriftweise) werden graphische Erzählungen und Serien genannt, in denen Abenteuer im Mittelpunkt stehen und die sich vorrangig an Kinder und Jugendliche wenden. Historietas (»Geschichtchen«) geben komische, phantastische und abenteuerliche Inhalte wieder, sie verbinden Text und Bild, können aber auch nur in Bildform vorliegen, wobei ihr Umfang von einer Bildseite bis zur Buchform reichen kann. Cómic und Novela gráfica entsprechen dem eingedeutschten Comic und der graphischen Erzählung, wobei der letztgenannte Begriff noch nicht im Diccionario de la lengua española, dem Wörterbuch der königlichen spanischen Akademie, eingetragen ist (vgl. RAE 2019).

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kombinierende Band La grieta (Spottorno/Abril 2016). Er fußt auf einer chromatisch bearbeiteten Fotoreportage, die zwischen 2013 und 2016 in El País Semanal erschien. Der preisgekrönte Band (Prix Atomium 2017 der Fête de la BD, Brüssel) dokumentiert die Situation an den europäischen Außengrenzen und erweist sich als kritische Stellungnahme zu den Versuchen der europäischen Staaten, mit regelrechten Bollwerken die Einwanderung von Migranten zu verhindern. Zu den genannten Titeln ist der von Javier de Isusi publizierte Band Asȳlum hinzuzufügen, dessen zentrale Bedeutungsdimensionen im Folgenden mittels einer biopolitisch perspektivierten Analyse erschlossen werden sollen. Sie geht davon aus, dass gerade die narrativa ilustrativa das komplexe, gesellschaftlich äußerst relevante Thema der Migration aus einer oft persönlichen Wahrnehmung in einer künstlerisch anspruchsvollen Kombination aus Text und Bild behandelt, sodass es möglich wird, die Erfahrungen von Flüchtlingen gerade durch die Visualisierung sehr empathisch zu vermitteln (vgl. Ogier 2018). Dabei besitzt das Geschilderte oft einen hohen Grad an Faktizität, doch erlaubt es die Fiktionalisierung, den Protagonisten den Schutz der Anonymität zu verleihen. Die Berücksichtigung biopolitischer Positionen lenkt den Blick darauf, wie intensiv Asȳlum über die Erfahrungen und Traumata von Menschen berichtet, denen während und nach der Flucht lediglich das nackte Leben geblieben ist, und die nun der Macht der Politik ausgesetzt sind, »leben zu machen oder in den Tod zu stoßen « (Foucault 1986: 165, Herv. i. O.). Isusis Band erinnert daran, dass auch Flüchtlinge das Recht auf Rechte haben, und ihnen jene Individualität und menschliche Würde eignet, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft aus dem Blick gerät. Deshalb ist es so wichtig, dass ihnen die hybride Novela gráfica mithilfe der Texte eine eigene Stimme und durch die graphische Darstellung ein Gesicht verleiht. Die visuelle Ästhetik erlaubt es Isusi, die Dramatik ebenso wie die emotionale Dimension der dargestellten Schicksale besonders eindrücklich zu vermitteln. Der Leser soll hierdurch befähigt werden, im Anderen den Menschen zu erkennen.

PREKÄRES LEBEN IM TRANSIT − ASȲLUM Das Szenario von Asȳlum kombiniert eine auf den Ebenen der erzählten Gegenwart und Vergangenheit angesiedelte Rahmenerzählung mit vier Binnenerzählungen, die, ebenfalls von der Gegenwart ausgehend, Rückblicke in die Vergangenheit gestalten. Alle Erzählstränge verbindet die Thematisierung von Flucht und Migration, was Isusi graphisch durch die leitmotivische Verwendung der Mischfarbe Grau im gesamten Band wiedergibt. Analog zur komplexen Erzählstruktur gestaltet der Autor die spezifische, ebenfalls leitmotivisch wirkende Kolorierung

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der jeweiligen Episoden. Dieses Farbmuster korrespondiert mit der Individualität des Erlebten und der narrativen Struktur des Bandes: Die Grundfarbe Gelb steht neben Grau für die erzählte Gegenwart der Rahmenerzählung, Braun für die im Rahmen geschilderte Vergangenheit. Für die Binnenerzählungen gilt: Ainas Geschichte kombiniert Grau mit Rot, Christophers Bericht Grau und Gelb, für Sanza steht Grau und helles Olivgrün, und für Imelda Grau und Rot-Braun. Der Thematik von Flucht, Asyl und Exil begegnet der Leser schon in der Rahmenerzählung, in der die 94-jährige Marina ihrer erwachsenen Enkelin, Maialen, die Geschichte ihrer Flucht vor den Faschisten während des Spanischen Bürgerkriegs und ihr Leben im Exil in Venezuela schildert. Die erzählte Gegenwart positioniert sich damit am Übergang des kommunikativen zum kollektiven Gedächtnis (vgl. Assmann 1992: 50ff.) und gibt den Versuch wieder, nach dem Ablauf einer bis zu drei Generationen umfassenden Zeitspanne die Geschichte durch den Akt der symbolischen Fixierung nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Das Trauma der Retirada,33 in deren Verlauf rund eine halbe Million Spanier ihr Land verlassen musste (vgl. Bernecker/Pietschmann 1993: 311ff.), erscheint als unheilbare Wunde, die bei der Großmutter eine besondere Verletzlichkeit für das aktuelle Schicksal von Flüchtlingen geschaffen hat. Da die alte Frau im Altersheim, »encerrad(a) en un asilo« (Isusi 2017: 14),34 lebt, hat sie sich entschlossen, in ihrem Haus in Bilbao vier Migranten Obdach zu geben. Weil ihre Schwester, die das Haus verkaufen möchte, hiervon nichts wissen darf, vertraut sich Marina Maialen an, der sie ihr Leben als Geschichte von Vertreibung und Flucht, Asyl und Exil schildert. Die hiermit verbundenen leidvollen Erfahrungen schaffen sogleich den in biopolitischer Hinsicht wichtigen Nexus zwischen Exil und Leben. Ins Exil gehen zu müssen, bedeutet zwar Überleben, doch zerreißt die Erfahrung des Verlusts von Heimat und Sicherheit die Menschen: »Exiliarse es escapar, ¿Entiendes? Es… desgarrarse… Perder lo más profundo, ¡Tu propia vida!« (Ebd.: 15).35 Schon auf den ersten Seiten wird deutlich, wie eng Asȳlum fiktionales mit faktualem Erzählen verbindet. So betont Isusi eingangs des Bandes den Anspruch auf Authentizität,36 was eine Lesart nahelegt, die das dargestellte Geschehen in den

33 Der Euphemismus »Rückzug« bezeichnet im spanischen Sprachgebrauch die Flucht der spanischen Republikaner vor den franquistischen Truppen während des Bürgerkriegs. 34 »eingesperrt in einem Asyl/Altenheim«. Marina spielt mit der Polysemie von asilo. 35 »Ins Exil zu gehen bedeutet zu fliehen, verstehst du? Die Trennung… zerreißt dich... Das zu verlieren, was du am tiefsten in dir trägst… Dein eigenes Leben!« 36 »NOTA: La mayor parte de las historias narradas en Asȳlum se basan en hechos reales. Para proteger la privacidad de las personas protagonistas hemos cambiado sus

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Kontext der Biopolitik stellt. Seine Figuren verbindet, dass sie zum Teil über viele Jahre – Sanza verbrachte 13 Jahre auf der Flucht (vgl. ebd.: 45) – ein bloßes Leben als zōḗ führen mussten und dem Zufall des Schicksals oder nach ihrer Ankunft in Europa der Gouvernementalität und ihrer Biomacht unterworfen waren. Dabei skizziert Asȳlum für alle Protagonisten drei Phasen: Zunächst werden die Ursachen für ihre Flucht thematisiert, anschließend rücken die Gefahren und Beschwernisse der Flucht durch Transit-Räume in den Mittelpunkt, bevor schließlich ein provisorisches Ankommen in Marinas Haus, das ihnen als Asyl dient, geschildert wird. Hier bietet sich den vier Migranten auch die Gelegenheit, Maialen – und damit dem Leser – ihre Lebensläufe zu erzählen (siehe Abbildung 1). Auffallend ist, dass der Einstieg in die jeweiligen Binnenerzählungen von der Panelstruktur her identisch ist: Aina, Christopher und Imelda werden in vier ungerahmten Panels – bei Sanza sind es sechs – frontal und meist in Verbindung mit einem Zoomeffekt präsentiert, der sie und ihre Geschichte dem Leser näherbringt. Die dargestellten Personen sitzen auf einem Stuhl, halten eine Tasse in der Hand, stellen sich vor und berichten von ihren Schicksalen. Der Gesprächssituation am Kaffeetisch entsprechend, die ausgangs der Rahmenerzählung wiedergegeben wird, präsentieren sich die Figuren dem in die Fiktion eingebundenen Leser. Er nimmt Maialens Position und Perspektive ein, wenn er dem Gegenüber in die Augen blickt. Das Weglassen der Rahmen im jeweiligen Incipit reduziert die Evidenz der medialen Vermittlung und verwischt die Grenze zwischen der Realität des Lesers und der Realität der Figuren. Die in der Naheinstellung gezeichneten Flüchtlinge bewegen sich in der graphischen Darstellung und symbolisch mit uns auf Augenhöhe. Sie erhalten nicht nur ein Gesicht, sondern auch eine Stimme, ihre Individualität und menschliche Würde. Nach dem Incipit sind die Panels in der Regel in Rahmen gefasst, sofern die Dramatik des während der Rückblenden Geschilderten diese Ordnung nicht auflöst.

nombres.« (Isusi 2017: 4; »ANMERKUNG: Die meisten der in Asȳlum erzählten Geschichten beruhen auf wahren Tatsachen. Um die Privatsphäre der Hauptfiguren zu schützen, haben wir ihre Namen geändert.«)

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Abbildung 1: Aina

Quelle: Astiberri 2017

DIE URSACHEN VON FLUCHT Strukturell verbindet Rahmenerzählung und Binnenerzählungen, dass sie in einem ersten Schritt die Ursachen von Flucht aufzeigen: Marina musste mit ihrer Familie vor den Faschisten fliehen (vgl. ebd.: 25ff.), und Aina, der die erste Binnenerzählung gewidmet ist, floh aus Nigeria, weil sie zur Zwangsheirat sowie zur Prostitution gezwungen werden sollte.37 Ihr Schicksal bestätigt Espositos Aussage, dass

37 »Me prometieron traerme a Europa a ser modelo... Pero me llevaron a Bamako, ¿sabes? A Malí [...] me obligaron a… Me prepararon para lo que me esperaba realmente en Europa... [...] Aquella pesadilla sólo paró cuando me dejaron embarazada...« (ebd.: 66; »Sie hatten mir versprochen, mich nach Europa zu bringen, um Model zu werden... Aber sie brachten mich nach Bamako, weißt du…? In Mali […] haben sie mich dann gezwungen,… Sie haben mich auf das vorbereitet, was mich in Europa wirklich erwartete… […] Dieser Alptraum hörte erst auf, als ich von ihnen schwanger war…«).

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der bíos »durch künstliche Grenzen in Bereiche unterschiedlichen Werts« (Esposito 2010: 16) unterteilt wird: Im Zuge der geplanten Zwangsheirat erhält sie den Status eines käuflichen Objekts, und die Flucht vor dieser strukturellen Diskriminierung lässt sie zum Opfer raptiver und autotelischer Gewalt38 durch ihre Vergewaltiger werden – ein Geschehen, dessen Brutalität durch die leitmotivische Verwendung der Farbe Rot symbolisch gesteigert wird. Für Aina gerät die Welt aus den Fugen, was Isusi auf der Ebene des graphischen Seitenarrangements durch die Verschiebung der bis dahin dominierenden horizontalen und vertikalen PanelOrdnung veranschaulicht (vgl. Isusi 2017: 24).39 Weil sie sich für ihre Peiniger in Europa prostituieren soll, muss die junge Frau auf einem überfüllten Lastwagen nach Norden reisen. Dabei bleibt ihr eine weitere traumatische Erfahrung nicht erspart, denn ihr Baby – ihre Vergewaltiger hatten sie geschwängert – fällt vom LKW und findet in der Wüste den Tod (vgl. ebd.: 67f.). Schließlich landet sie in einem der überfüllten Boote (vgl. ebd.: 69), die sich unter großen Gefahren auf den Weg über das Mittelmeer nach Europa aufmachen. Isusis Ikonographie zitiert bei dieser Gelegenheit Katsushika Hokusais farbigen Holzschnitt Die Welle: Seine Aufsicht in der Supertotalen zeigt das völlig überfüllte Boot einer Nussschale gleich zwischen meterhohen, bis zum Horizont reichenden Wellen treibend unter einem apokalyptisch anmutenden blutroten Himmel (siehe Abbildung 2).40 Ainas Erinnerungen an diese Situation, die in fünf Erzählfeldern in das Panel eingearbeitet sind, spiegeln die Dramatik wider: Zunächst erfolgt eine Klimax, die deutlich macht, dass selbst der Verlust ihres Kindes noch nicht die schlimmste Erfahrung war: »Yo ya creía que para mí nada podía ser peor. Pero luego vino el mar.« (Ebd.)41 Sodann folgt die Beschreibung der Entbehrungen im Boot, nachdem der Steuermann die Orientierung verloren hatte: Vier Tage lang »sin nada que comer ni que beber« (ebd.),42 in Todesangst (»Creí que mi vida se acababa ahí…«, ebd.),43 mit Sterbenden und Toten im Boot, deren

38 Eine derart extreme Gewalt reduziert das Opfer auf seine bloße Körperlichkeit (vgl. Reemtsma 2008: 124). 39 Analog verfährt Isusi in anderen dramatischen Situationen: während Marinas Erinnerung an Bombenangriffe (vgl. Isusi 2017: 18f., 40f.), als Sanza kurz davor ist, die Flucht über das Meer zu versuchen (vgl. ebd.: 48), oder als Ainas Kind vom LKW fällt (vgl. ebd.: 67). 40 Eine Variante dieses Motivs findet sich in Bergès/Cazares 2010: 14f. 41 »Ich glaubte damals, dass es für mich nichts Schlimmeres mehr geben könne. Aber dann kam das Meer.« 42 »ohne etwas zu essen oder zu trinken«. 43 »Ich glaubte, mein Leben wäre in diesem Moment zu Ende…«.

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Leichen sich allmählich zersetzen: »Tres personas murieron… tuvimos que convivir con sus cadáveres descomponiéndose porque algunos se opusieron a que no recibieran sepultura.« (Ebd.)44 Wäre ihre Tochter vor der Überfahrt noch am Leben gewesen, hätte man Aina von ihr getrennt, um sie in Europa erpressen zu können: »Ellos la habrían retenido para chantajearme. A veces pienso que se sacrificó por mí…« (ebd.).45 So aber konnte sie die Flucht versuchen, und das Lager bietet ihr eine gewisse Sicherheit: »Te parecerá extraño. Pero me siento segura aquí en el CIE… No quiero salir.« (Ebd.: 70)46 Abbildung 2: Bootszene

Quelle: Astiberri 2017 44 »Drei Personen starben… Wir mussten mit ihren Leichen zusammenleben, weil einige dagegen waren, dass sie kein Grab erhielten.« 45 »Sie hätten sie bei sich behalten, um mich zu erpressen. Manchmal glaube ich, dass sie sich für mich geopfert hat…«. 46 »Es wird dir seltsam vorkommen. Aber ich fühle mich hier im CIE sicher… Ich möchte nicht raus.« Der spanische CIE (Centro de Internamiento de Extranjeros) entspricht der deutschen Erstaufnahmeeinrichtung.

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Christophers Flucht ist auf seine Verfolgung als Homosexueller zurückzuführen. In Uganda drohte ihm deswegen die Todesstrafe, bevor er mit Hilfe einer »asociación de defensa de los derechos humanos de homo- y transsexuales« (ebd.: 37)47 über Kenia nach Europa gelangte. Der Leser erfährt zunächst, wie Christopher in seiner Heimat zum Opfer einer staatlich organisierten Diskriminierungskampagne wurde, als eine Zeitung ihn und andere Homosexuelle öffentlich zur Schau stellte (vgl. ebd.: 31f.).48 Die fotorealistische Reproduktion der Titelseite dieser Zeitung (vgl. ebd.: 32; vgl. Rice 2010) besitzt dabei einen faktual-dokumentarischen Charakter, durch den Isusi das von Christopher erfahrene Unrecht kommentarlos anklagt. Wie die Spanierin Marina floh auch die Kongolesin Sanza vor dem Krieg, nachdem ugandische Soldaten ihre gesamte Familie ausgelöscht hatten. Sie gelangt 2013 nach Melilla, wo sie erstmals den Grenzzaun, »la valla« (Isusi 2017: 44), sieht. Da er für sie und die meisten der in Marokko gestrandeten Flüchtlinge unüberwindbar ist, wählt sie die Passage über das Mittelmeer, auch wenn sie nicht schwimmen kann. Mit einem LKW-Schlauch um die Hüften steigt sie in das eiskalte Wasser, bevor sie auf offener See von der spanischen Küstenwache aufgegriffen wird – ein Geschehen, das Isusi erneut faktual erzählt, da auch eine solche Flucht bereits Realität war (vgl. Linares Mico/Isusi 2018: 37:40). Imelda schließlich arbeitete wie ihr Mann im mexikanischen Ciudad Juárez als investigative Journalistin. Aufgrund ihrer Recherchen zu den unzähligen Frauenmorden in der Region geriet sie in das Fadenkreuz der organisierten Kriminalität. Fortan schwebten sie, ihr Mann und ihre Kinder in Lebensgefahr: »Yo tenía que salir, porque si no iba a engrosar la lista de desaparecidas.« (Isusi 2017: 75)49 Hierauf folgte der Entschluss, nach Spanien zu emigrieren.

47 »Verein für den Schutz der Menschenrechte von Homo- und Transsexuellen«. 48 In Uganda wurden 2010 und 2014 in einer überregionalen Zeitung Listen mit »Top Homos« veröffentlicht, verbunden mit dem Aufruf »Hängt sie« (vgl. Süddeutsche Zeitung 2014). 49 »Ich musste fliehen, um die Liste der Verschwundenen nicht noch länger zu machen.« Zwischen 1993 und 2009 wurden in Ciudad Juárez 740 Frauen ermordet (vgl. Manjoo 2012: 17), doch dürfte die Dunkelziffer erheblich höher liegen. Allein 2010 wurden 304 Ermordete gezählt (vgl. Cave 2012). Mexiko, wo zwischen 2006 und 2018 116 Medienschaffende verschleppt oder ermordet wurden (vgl. Reporter ohne Grenzen 2020a), ist »nach wie vor das Land mit den meisten Journalistenmorden weltweit außerhalb von Kriegsgebieten« (Reporter ohne Grenzen 2020b).

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LEBEN IM LAGER – DIE PREKÄRE EXISTENZ DES HOMO SACER Asȳlum zeigt während der zweiten Phase der geschilderten Lebenswege die Flüchtlinge als homines sacri, als Opfer von Traditionen, Elend, Krieg, Diskriminierung, Verbrechen, aber auch in der Auseinandersetzung mit einer staatlichen Verwaltung, deren Aufgabe darin besteht, im Sinne der Gouvernementalität die Biomacht umzusetzen. Wie sehr für im Transit lebende Flüchtlinge die Existenzform des zōḗ und der »einschließende[n] Ausschließung« (Agamben 2002: 17) gilt, wird als Folge staatlicher Biopolitik vor allem in jenen Sequenzen deutlich, die das Leben im Lager schildern. Der transitorische Ort erscheint als Ergebnis einer biopolitischen Logik, die dem bereits zitierten Grundsatz folgt: »Was auf keinen Fall eingeschlossen werden kann, wird in der Form der Ausnahme eingeschlossen.« (Ebd.: 34) So erinnert sich Marina, dass ihr wie den anderen Bürgerkriegsflüchtlingen 1939 im Lager von Argelès-sur-Mer nicht mehr blieb als das bloße Leben: »Técnicamente éramos refugiados de guerra, pero en la práctica éramos… nadie.« (Isusi 2017: 53)50 Ausgerechnet der Transit-Ort des Lagers, in dem die Flüchtlinge Schutz vor der Verfolgung durch die spanischen Faschisten erhalten, wird zur Dystopie. Die graphische Gestaltung der Panels zeigt eindrucksvoll, wie sehr die spanischen Flüchtlinge im Lager ihrer Würde beraubt und enthumanisiert werden (vgl. ebd.: 56f., 60). Hierdurch wird die brutale Biomacht der französischen Regierung offenkundig, welche die Option des »in den Tod zu stoßen« (Foucault 1986: 165, Herv. i. O.) zur Handlungsgrundlage genommen hat. Isusis Appell an das kollektive Gedächtnis seiner spanischen Leser dient dem Ziel, deren Sensibilität für das Schicksal von Flüchtlingen in der Gegenwart zu fördern. Dies erklärt, warum sich der Autor so ausführlich den dramatischen Lebensumständen der rund 100.000 republikanischen Flüchtlinge in Argelès widmet. In Frankreich herrschte damals ein Klima des Antikommunismus, Antisemitismus und der Fremdenfeindlichkeit, und die aus Katalonien eintreffenden Spanier wurden am Strand unter unmenschlichen Bedingungen auf nur zwei Quadratkilometern zusammengepfercht. Bei der Schilderung und graphischen Darstellung der dortigen Lebensumstände erhält Asȳlum den Charakter einer anklagenden Dokufiktion, da eine Reihe von Panels Fotografien von Robert Capa reproduzieren, welche die inhumanen Existenzbedingungen im »campo de concentración« (Isusi 2017: 53)51 wiedergeben.

50 »In der Theorie waren wir Kriegsflüchtlinge, aber in der Praxis waren wir… niemand.« 51 »Konzentrationslager«.

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Abbildung 3: Das Lager von Argelès-sur-Mer

Quelle: Astiberri 2017: 56

Abbildung 4: Fotografie von Robert Capa

Quelle: 2015.html

https://istopiahistoria.blogspot.com/2015/09/refugiados-o-desechados-1939-

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Die Schilderung der Lebensverhältnisse in Argelès erscheint als ironischer Kommentar zur französischen Bezeichnung solcher Lager als camp d’accueil.52 So erscheinen die auf Capas Fotografien basierenden Panels als stumme Anklage gegenüber der französischen Regierung, die 150 Jahre nach der Französischen Revolution aus politischem Kalkül die Republikaner auf die Dimension des zōḗ reduzierte und sich ihnen gegenüber für die Thanatopolitik entschied. Als erinnernde Ich-Erzählerin unterstreicht Marina die Inhumanität dieser Strategie: »En la temerosa mentalidad de aquellos políticos, ayudarnos equivalía a provocar a Hitler.« (Ebd.: 43)53 Die in Sandkuhlen am Strand wegen der Kälte möglichst eng gedrängt Schlafenden erscheinen in der graphischen Darstellung wie Tote in einem Massengrab (vgl. ebd.: 55). Zugleich wird in einer anderen Kuhle ein Kind geboren, aber nicht als Zeichen der Hoffnung, sondern als Verkörperung der Nacktheit des Nichts-als-Menschseins in einem Klima wachsender Aggressivität, die sich auch unter den Flüchtlingen breit macht. Am Transit-Ort des Strandes zerfließt symbolisch die Grenze zwischen (Über-) Leben und Tod, was besonders deutlich wird, wenn das Meer die Leichen von Selbstmördern oder Flüchtlingen, die Opfer eines Sturmes wurden, anspült. Das Meer, so die erinnernde Erzählerin, verheißt Freiheit, es steht aber auch für Gefängnis und Sterben: »El mar, que parecía decirnos a todas horas ›Ven, escápate‹, y era a la vez nuestra prisión y nuestro verdugo.« (Ebd.: 61)54 Dem Internierungslager von Argelès vergleichbar gestalten sich auch die Lager der Gegenwart als Transit-Orte, in denen die homines sacri den inhumanen Konsequenzen der Biopolitik ausgesetzt sind. Isusi lässt keinen Zweifel daran, dass in ihnen, wie Agamben betont, alles möglich ist. Die Verbindung zwischen der Erinnerung an das Lagerleben und der Darstellung der aktuellen Situation der Flüchtlinge vor den Grenzanlagen von Melilla schafft der Autor durch die Verknüpfung zweier fast identischer Aussagen Marinas und Sanzas. Marina beschreibt das Lager von Argelès als: »Un campo de refugiados con una valla por detrás y el mar por delante. En realidad, un campo de concentración.« (Ebd.: 43)55 Seitdem hat sich nichts geändert, und so findet Sanza für das Lager von Melilla

52 »Auffanglager«, wobei accueil eigentlich »Empfang« bedeutet und suggeriert, dass jemand freundlich empfangen wird. 53 »Uns zu helfen kam im Denken der ängstlichen Politiker von damals einer Provokation Hitlers gleich.« 54 »Das Meer, das uns zu jeder Stunde zu sagen schien ›Komm, flieh‹, war aber gleichzeitig unser Gefängnis und unser Henker.« 55 »Ein Flüchtlingslager mit einem Zaun hinter einem und dem Meer vor einem. In Wahrheit ein Konzentrationslager.«

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fast die gleichen Worte: »La valla por detràs, el mar por delante.« (Ebd.: 52)56 Für die Kongolesin ist das Übergangslager zwar kein »campo de concentración«, aber ein »cárcel« (ebd.: 70).57 Ihre Situation ist ausweglos: Selbst wenn es ihr gelingen sollte, das ›Gefängnis Afrika‹ zu verlassen, wird sie auf der anderen Seite des Zaunes im Flüchtlingslager erneut als Gefangene ihr prekäres Leben fortsetzen müssen.58 Isusi veranschaulicht, dass die politische Ethik immer noch den inhumanen Maßgaben von zōḗ und bíos folgt, wobei ihr Handeln auch gegenwärtig an den Regeln der Thanatopolitik ausgerichtet bleibt. Zwar ist man sich in Europa rückblickend einig, dass das französische Konzentrationslager, wie der Autor betont, ein »motivo de vergüenza« (Linares Mico/Isusi 2018: 42:48)59 war. Der Skandal besteht darin, dass man aktuell, wie Asȳlum veranschaulicht, im Zuge der europäischen Flüchtlingspolitik Lager errichtet, welche die Dystopie von Argelès spiegeln. Dies belegt im Anschluss an den ersten Teil der Argelès-Episode die graphische Wiedergabe der Grenzanlagen von Melilla (vgl. Isusi 2017: 44), die im Zusammenhang mit Sanzas Flucht eine besondere Rolle spielen. Sie reproduzieren exakt die von Marina beklagte Situation in Argelès, wobei Sanzas Kommentar eine zeit- und raumübergreifende Wertigkeit erhält: »No siempre se acoge a quien pide asilo, en demasiadas ocasiones se le encarcela. Lo sé bien.« (Ebd.: 52)60 Ihr Schicksal steht für die Ausweglosigkeit all jener, die jenseits von Melilla, aber auch in der Enklave, wie in einem »prisión« (ebd.: 45) leben. Lager, so wird deutlich, fungieren auch gegenwärtig als Transit-Orte und »Gegenräume« (Wilhelmer 2015: 55), als innerhalb und außerhalb der Gesellschaft verortete »Krisenheterotopien« bzw. »Abweichungsheterotopien« (Foucault 1990: 40), in denen die Inklusion und Exklusion von Flüchtlingen nach biopolitischen Maßgaben organisiert wird.61

56 »Der Zaun hinter einem, das Meer vor einem.« 57 »Gefängnis«. 58 »Nadie me garantiza que esa valla que ahora es mi prisión no lo sea también si consigo pasar al otro lado.« (Ebd.: 45; »Niemand garantiert mir, dass dieser Zaun, der jetzt mein Gefängnis ist, es nicht auch bleibt, wenn ich es schaffe, auf die andere Seite zu gelangen.«) 59 »Zur Scham Anlass gibt«. 60 »Nicht immer nimmt man jemanden freundlich auf, der um Asyl bittet, allzu häufig sperrt man ihn ein. Ich weiß, wovon ich spreche.« 61 Das Geschehen der Flucht steht dabei in Asȳlum in enger Verbindung mit den einerseits lebenserhaltenden, doch zugleich auch lebensgefährlichen Heterotopien des Busses, des Lastkraftwagens und des Bootes bzw. Schiffes.

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Asȳlum legt somit einen wichtigen Akzent auf den Aspekt der »thanatopolitische[n] Entartung« (Esposito 2010: 18). Sie betrifft nicht nur Staaten, sondern auch jene, die als Hüter der öffentlichen Ordnung mit den Flüchtlingen zu tun haben. Erneut schafft Isusi parallele Strukturen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, kehrt aber die narrativ-temporale Logik um, wenn er in diesem Zusammenhang zunächst von Sanza und erst danach von Marinas Erinnerungen berichtet. Obwohl sie nicht schwimmen kann, steigt die Kongolesin in einen aufgeblasenen Autoschlauch und begibt sich ins Meer, um auf diesem Weg nach Melilla zu gelangen. Bald verlassen sie die Kräfte, doch sie wird von einem Patrouillenboot der Guardia Civil entdeckt. Während der eine Soldat als Akt des »in den Tod zu stoßen« (Foucault 1986: 165, Herv. i. O.) die halbtote Sanza ihrem Schicksal überlassen möchte, rettet sie sein Kollege, der darauf den Kommentar erhält: »¡Y yo voy a pedir que me cambien de compañero de patrulla!« (Isusi 2017: 51).62 Erneut schafft Isusi durch den fast identischen Wortlaut eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, denn »¡Voy a pedir que me cambien de compañero de guardia!« (Ebd.: 59)63 lauten 1939 die fast identischen Worte eines Soldaten auf dem Wachturm in Argelès: Zwei Lagerinsassen wollen schwimmend ihre Freiheit erlangen und werden von den Wachposten, zwei afrikanischen Soldaten der französischen Kolonialtruppen, entdeckt. Während der eine Wachsoldat dies ignorieren möchte, genießt es der andere, in einem Akt der symbolischen Rache für das während der Kolonialzeit erfahrene Unrecht auf die Weißen zu schießen.64 Auch nachdem die Flüchtenden aufgegeben haben und an Land zurückkehren möchten, schießt er weiter, bis ihn sein Kamerad gewaltsam daran hindert – doch nicht aus hehren Motiven, sondern nur, um in Ruhe schlafen zu können. Mit diesem Arrangement weist Isusi nicht nur auf die Kontinuität biopolitischer Positionen hin, sondern schafft auch eine Äquidistanz zu den handelnden Personen, die ihn des möglichen Vorwurfs enthebt, einseitig Stellung zu beziehen. 62 »Und ich werde darum bitten, dass man einen anderen Kollegen mit mir auf Patrouille schickt!« 63 »Ich werde darum bitten, dass man jemand anderen zur Wache einteilt!« 64 »¡Para una vez que podemos hacer tiro al blanco!« (Ebd.: 59; »Jetzt können wir endlich mal auf Weiße schießen und dabei ins Schwarze treffen.« Im spanischen Wortspiel [»blanco«] verbindet sich die Anspielung auf die weiße Hautfarbe mit der Idee, mitten ins Ziel zu treffen). Vgl. Marinas Kommentar: »Los soldados que nos vigilaban eran magrebíes y senegaleses, y nos trataban como si pudieran vengarse en nosotras de las humillaciones que a su vez sufrían en aquel ejército colonial.« (Ebd.; »Die Soldaten, die uns bewachten, waren Maghrebiner und Senegalesen, und wir wurden behandelt, als ob sie sich an uns für all die Erniedrigungen rächen könnten, die sie ihrerseits in diesem Kolonialheer erleiden mussten.«)

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Afrikaner, so die Botschaft, sind nicht per se die besseren Menschen. Der afrikanische Soldat am Strand von Argelès handelt zwar aus dem niederen Motiv der Rache, doch ist er zugleich Täter und Opfer. Täter ist er, da ihm ein Menschenleben nichts bedeutet und er Rache sucht. Opfer ist er, weil er von der kolonialen Biopolitik Frankreichs als Soldat instrumentalisiert wurde, der über das Recht, in den Tod zu stoßen, verfügt. Französische Soldaten, so wird deutlich, sollen sich möglichst nicht ›die Hände schmutzig machen‹. Hieraus folgt zynischerweise, dass ausgerechnet ein Mann aus den Kolonien das Land, das ihm Unrecht zugefügt hat, vor den spanischen Republikanern, die sich für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einsetzen, ›schützen‹ soll. Die Motive des Angehörigen der Guardia Civil, der Sanza dem Tod überlassen möchte, bleiben eher diffuser Natur.65 Sein Kollege hingegen hebt sich insofern positiv hervor, als er die Frau in einem altruistischen Akt der Humanität rettet – und nicht, wie im Fall seines Pendants aus dem Jahr 1939, aus egoistischen Motiven. Eine weitere, zum Nachdenken anregende Antwort auf die Frage, ob die Menschheit aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat, gibt auch die folgende Episode. Wir erfahren in Marinas Rückblick, dass man die Kranken im Lager von Argelès mit Aspirin behandelte (vgl. ebd.: 53), und einige Seiten später erwähnt Isusi, dass man im spanischen Internierungslager der an Tuberkulose erkrankten Aina ebenfalls lediglich Aspirin verabreicht.66 Die deprimierende Parallele akzentuiert die besondere Inhumanität der Gegenwart: Hatte der Arzt in Argelès 1939 in der Notsituation kein anderes Medikament zur Verfügung, so wäre mittlerweile von einer besseren medizinischen Versorgung auszugehen. Erneut gestaltet sich die Biopolitik – ausgerechnet in ihrer Umsetzung durch Ärzte – als Thanatopolitik. In dieser Perspektive verkörpert Aina einmal mehr die Problematik des homo sacer, dessen Tötung schon in der Antike zulässig war, da die ihm zugefügte Gewalt den Handelnden nicht als Sakrileg erschien. Auch die Mexikanerin Imelda muss die Erfahrung machen, dass die Vertreter der staatlichen Obrigkeit Schutzsuchenden nicht unbedingt tatkräftig helfen wollen. Sie sieht sich in Spanien einer schwerfälligen Bürokratie ausgesetzt, die ihr aufgrund des internationalen Rechts kein Asyl gewähren kann, da für die spanische Verwaltung gilt: »México está considerado un país seguro.« (Ebd.: 77)67 Die inhumane Seite der Gouvernementalität wird in dieser Situation, deren Absurdität 65 »Pues déjalo ahí, un problema menos.« (Ebd.: 51; »Dann lass’ sie dort, ein Problem weniger.«) 66 Bei dieser Gelegenheit erwähnt Sanza den Fall Samba Martines, die in einem Madrider »Centro de Internamiento de Extranjeros« sterben musste, weil ihre Erkrankung unzureichend therapiert wurde (vgl. ebd.: 65; Altozano 2014). 67 »Mexiko gilt als sicheres Land.«

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ganz und gar aus dem Leben gegriffen ist, so deutlich, dass Imelda auf die Auskunft nur noch mit fassungsloser Ironie reagieren kann: »Y seguro que es un hombre quien ha decidido eso. Debe ser el mismo que decidió que el feminicidio en Ciudad Juárez es un mito.« (Ebd.)68 Vor dem Hintergrund, dass Mexiko während und nach dem Spanischen Bürgerkrieg Tausende von Spaniern aufnahm,69 was Isusi als »un motivo de orgullo« (Linares Mico/Isusi 2018: 43:19)70 würdigt, erscheint es im Umkehrschluss als Schande für Spanien und Europa, dass hier das Recht auf Asyl keine Selbstverständlichkeit ist. Imeldas Fall veranschaulicht die Mechanismen einer gouvernementalen Praxis, die mit »Abstraktionen, Definitionen, Unterscheidungen und Ausschließungen« (Geulen 2005: 59) arbeitet. Als Geflüchtete, aber auch als Frau erscheint die Mexikanerin als Opfer einer biopolitischen Grundsätzen verpflichteten Verwaltung, die Menschen ihre Individualität und Würde aberkennt, indem sie sie nur noch als ›Fälle‹ wahrnimmt.

ANKOMMEN IM ASYL − TRANSVERSALE ALTERNATIVEN WIDER DIE BIOPOLITISCHE LOGIK Asȳlum thematisiert ausführlich die existenziellen Nöte der Protagonisten, die während ihrer Flucht und in den Lagern den biopolitischen Grundsätzen der Gouvernementalität folgend ein Leben als homines sacri führen müssen. Zum Ende des Buches wird aber auch ein zumindest provisorisches Ankommen geschildert. Es findet in einer Sphäre der Mitmenschlichkeit statt, die im konkreten wie symbolischen Sinne Obdach verheißt. Eine solche Haltung geht mit der Semantik des Titels des Bandes kongruent, die vor Beginn der Erzählung in Form einer epigraphischen Definition erschlossen wird: »Asȳlum: En latín, ›asilo‹. Del griego ἄσυλον (asylon), ›sitio inviolable‹. 1.

Lugar privilegiado de refugio para las personas perseguidas.

68 »Und mit Sicherheit hat ein Mann das so entschieden. Es dürfte derselbe sein, der entschieden hat, dass die Ermordung von Frauen in Ciudad Juárez ein Mythos ist.« 69 Isusi gibt in einem Panel einen expliziten graphischen Verweis auf jene Spanier, denen es gelang, mit dem Dampfer Sinaia nach Mexiko zu fliehen (vgl. Isusi 2017: 74). Über das historische Geschehen und seine literarischen Implikationen informiert Temelli 2011. 70 »einen Anlass, stolz zu sein«.

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2.

Establecimiento benéfico en que se recogen personas menesterosas, o se les dispensa alguna asistencia.

3.

Amparo, protección, favor.« (Isusi 2017: 5)71

Voraussetzung für die Ausformung einer transversal zum Diskurs der Biopolitik agierenden Haltung, die auch im Migranten den Menschen wahrnimmt, ist der Versuch, sich für den Anderen und seine Bedürfnisse zu öffnen. Hierfür gibt Isusi mehrere Beispiele, allen voran Marina, die dank der Vermittlung einer »Asociación de ayuda a migrantes« (ebd.: 90)72 Aina, Christopher, Sanza und Imelda in ihrem Haus für eine symbolische Miete der oben stehenden Definition gemäß einen »sitio inviolable«, »amparo«, »protección« und »favor«73 garantiert. Dass den Flüchtlingen ausgerechnet in Europa, dem Kontinent ihrer Hoffnung, das Recht auf Andersheit und auf ihr Menschsein oft verwehrt bleibt, betont Sanza: »A pesar de todas las penurias que hay que pasar para llegar aquí, conozco a muchas personas que aseguran que las humilliaciones que más les dolieron las sufrieron en Europa.« (Ebd.)74 Der Verlust menschlicher Würde wiegt für sie noch schwerer als alles Leid, das sie auf der Flucht erleben musste. Im Asyl der Wohnung Marinas wird den vier Migranten ihr Recht auf jene unverletzliche Andersheit garantiert, die gerade im Denken Emmanuel Lévinas’ einen zentralen Stellenwert besitzt75 und eine Antwort auf reduktionistische Modelle der interkulturellen Hermeneutik bietet, die das Fremde lediglich als das Nicht-Eigene wahrnehmen. Lévinas’ Sozialphilosophie antwortet in diesem Sinne auf die Herausforderungen, welche die Biopolitik an das Individuum stellt und die Isusi in seinem Band illustriert. So begegnet Maialen in Marinas Haus zum Ende 71 »Asȳlum: Im Lateinischen: ›Asyl‹. Aus dem Griechischen ἄσυλον (asylon), ›unverletzlicher Ort‹. | 1. Besonderer Zufluchtsort für verfolgte Personen. | 2. Schutzeinrichtung, in die sich bedürftige Personen zurückziehen können oder in der sie Hilfe erhalten. | 3. Schutz, Fürsorge, Hilfe.« 72 »Verein zur Unterstützung von Flüchtlingen«. 73 »unverletzlichen Ort«, »Schutz«, »Fürsorge«, »Hilfe«. Zum Ende der Geschichte deutet sich an, dass Marina das Haus einer Organisation wie dem CEA[R] überschreiben wird (vgl. Isusi 2017: 92). 74 »Auch wenn man viel Schlimmes überstehen muss, um hierher zu kommen, kenne ich viele Leute, die bestätigen, dass sie die schmerzlichsten Erniedrigungen in Europa erlitten haben.« 75 Diese Raummetaphorik korreliert mit Lévinas’ Überzeugung, dass die »demeure«, auch wenn sie eine »vorübergehende Herberge ist«, als »eingegrenzter Ort der ›Gastlichkeit‹« in Erscheinung tritt, »der sich dem Anderen öffnet oder verschließt und damit bereits auf ein Ethos der Grenze verweist.« (Waldenfels 1990: 30)

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der Rahmenerzählung den vier Migranten auf einer symbolischen Schwelle, welche deren Alterität bewusst markiert. Bei dieser Gelegenheit wird für den Leser deutlich, dass die Binnenerzählungen Prolepsen der nun skizzierten Erzählsituation in der Küche sind. Wenn die Spanierin Maialen bei den Migranten zu Gast ist, verkehrt dies nicht nur die traditionelle Rollenwahrnehmung. Auf symbolischer Ebene entspricht das Arrangement auch den Anforderungen einer transkulturellen Ethik, die das Eigene durch die Wahrnehmung des Blickes des Anderen in Frage stellt, wie Lévinas mehrfach betont (vgl. Lévinas 1987).76 Lévinas, so Wenzler, definiert das »Menschsein vom Anderen her« (Wenzler 1989: VII), oder, um den französischen Philosophen zu zitieren: »Niemand kann in sich selbst bleiben: die Menschlichkeit des Menschen, die Subjektivität, ist Verantwortung für den Anderen, eine äußerste Verwundbarkeit.« (Lévinas 1989: 97) Anders als in der traditionellen abendländischen Philosophie, in der »das Andere, das sich als Sein manifestiert, seine Andersheit« (Lévinas 1998: 211) verliert, führt nach Lévinas die Wahrnehmung der »Nacktheit des Antlitzes« (ebd.: 222) des Anderen dazu, dass »das Bewusstsein [aufhört], die erste Stelle einzunehmen« (ebd.: 223): »Die Heimsuchung besteht darin, sogar die Ichbezogenheit des Ich umzustürzen, das Antlitz entwaffnet die Intentionalität, die es anzielt.« (Ebd.) Nach Lévinas tritt eine Verantwortungsbeziehung an die Stelle der Wechselseitigkeitsbeziehung, sofern sich das Ich dem Anderen zu öffnen vermag: »Die Epiphanie des absolut Anderen ist Antlitz, in dem der Andere mich anruft und mir durch seine Nacktheit, durch seine Not, eine Anordnung zu verstehen gibt. Seine Gegenwart ist eine Aufforderung zu Antwort.« (Ebd.: 224) Die graphischen Porträts der Flüchtlinge, die Maialen wie dem Leser anfangs ihrer Binnenerzählungen ins Auge blicken, ihr »Antlitz«, um einen Schlüsselbegriff in Lévinas’ Philosophie zu verwenden, geben diesen Anspruch auf Exteriorität eindrucksvoll wieder, der sich gerade in Phasen der existenziellen Not artikuliert (vgl. Lévinas 1987: 419f): »Der Mensch als Anderer kommt von Außen auf uns zu – als Getrennter oder Heiliger – als Antlitz. Seine Exteriorität – d.h. sein Appel [sic] an mich – ist seine Wahrheit. […] Das Von-Angesicht-zu-Angesicht – die letzte und nicht reduzierbare Beziehung, die kein Begriff zu begreifen vermag, […] – macht den Pluralismus der Gesellschaft möglich.« (Ebd.: 421)

76 Diese Wahrnehmungsweise greift Waldenfels auf, wenn er zum Problem der Aneignung des Fremden durch das Eigene vermerkt: »Statt direkt auf das Fremde zuzugehen und zu fragen, was es ist und wozu es gut ist, empfiehlt es sich, von der Beunruhigung durch das Fremde auszugehen. Das Fremde wäre das, worauf wir antworten und zu antworten haben, was immer wir sagen und tun.« (Waldenfels 1997: 51, Herv. i. O.)

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Diese Begegnung von Angesicht zu Angesicht wird im Asyl der Wohnung, aber auch im gezeichneten Raum der graphischen Erzählung und gerade dank der randlosen Panels ermöglicht. Sie soll die Leser des Buches ebenso erfassen wie Maialen und die Verantwortlichkeit – ein anderer Schlüsselbegriff Lévinas’ – veranschaulichen helfen.77 Humanität und Transversalität, so die Botschaft Isusis, sind in einer Welt biopolitischer Gesetzmäßigkeiten möglich, auch wenn sie auf Widerstände stoßen. Deshalb findet sich in Asȳlum nur eine einzige weitere Szene, in der eine solche widerständige Haltung thematisiert wird, und auf die bereits verwiesen werden konnte. Nachdem Sanza vergeblich versucht hatte, trotz des eiskalten Wassers nach Melilla zu schwimmen, treibt sie halbtot im Meer. Ein Patrouillenboot findet sie, und zwischen den beiden Besatzungsmitgliedern entwickelt sich ein Streit, ob man die Frau retten sollte oder sie besser ertrinken lässt, um sich Arbeit zu ersparen. Sanza überlebt, weil ein Soldat im entscheidenden Moment ihr »nacktes Antlitz« wahrnimmt – er beugt sich über Sanza – und verantwortlich handelt, da er den Menschen im Anderen erfasst (siehe Abbildung 5). Marina, Maialen und der anonyme Soldat auf dem Patrouillenboot zeigen Haltung, und sie erinnern daran, dass das Recht auf Menschsein, das Recht, Rechte zu haben – und das Recht auf Asyl – jedem zustehen sollten. Hieran erinnert Isusi auch auf den letzten Seiten seines Buches, indem er eine Bewegung des Herauszoomens aus Bilbao, dem Baskenland und Europa vollzieht, um mit dem letzten Panel die Weltkugel mit Afrika im Fokus zu zeigen, bevor er Rigoberto Jara als Autor von Asilo: El derecho a la esperanza78 das Wort gibt: »El derecho de asilo es escapar. Escapar es el desarraigo, es el dolor de perder lo que por justicia nos pertenece, nuestra vida. […] Escapar es la esperanza. Son los sueños de la vida. Es la búsqueda de un lugar donde poder vivir. El derecho de asilo es renacer, es encontrar lo que has perdido. [...] En demasiadas ocasiones encarcelan el asilo, no se acoge a las personas, sino que se las convierte en prisioneras. [...] Lo más importante del asilo es el calor humano, la acogida y el abrazo. El asilo es el barco a la esperanza.« (Isusi 2017: 97)79

77 »Für das Ich eine solche Ausrichtung entdecken, heißt zugleich, Ich und Sittlichkeit identifizieren. Vor dem Anderen ist das Ich unendlich verantwortlich.« (Lévinas 1998: 225) 78 »Asyl: Das Recht auf Hoffnung«. 79 »Das Recht auf Asyl bedeutet Flucht. Flucht bedeutet Entwurzelung, das zu verlieren, was uns rechtlich zusteht, unser Leben. […] Flucht bedeutet Hoffnung. Träume vom Leben. Die Suche nach einem Ort zum Leben. Das Recht auf Asyl bedeutet Wiedergeburt, das zu finden, was du verloren hast. […] Zu oft bedeutet Asyl, die Leute einzu-

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Abbildung 5: Sanzas Rettung

Quelle: Astiberri 2017

Mit dem Verweis auf die unantastbare Würde des Menschen, die auch im Exil zu gelten hat, endet Isusis Nachwort, das an jene erinnert, die »día a día, construyen y protegen la dignidad« (ebd.: 102).80 Hiermit setzt sein Band jenen ein Denkmal, die Lévinas’ Formel vom »Sein als Güte« (Lévinas 1987: 442) oder das »Seinfür-den-Anderen« (ebd.: 443) zur Maxime eines Handelns gewählt haben, das transversal zur Logik des biopolitischen Diskurses verläuft und den Egoismus sperren, sie nicht aufzunehmen, sondern sie zu Gefangenen zu machen. […] Das Wichtigste am Asyl ist die menschliche Wärme, die freundliche Aufnahme und die Umarmung. Das Asyl ist das Schiff der Hoffnung.« 80 »Tag für Tag die Würde schaffen und schützen«.

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überwindet: »Als absolutes Abenteuer von einer primordialen Unklugheit ist die Güte die eigentliche Transzendenz. Die Transzendenz ist Transzendenz eines Ich. Nur ein Ich kann dem dringenden Befehl eines Antlitzes antworten.« (Ebd.: 444) Was nach den Maßstäben der biopolitischen Logik absolut unklug erscheint, ist, wie Isusi es in Asȳlum nachzeichnet, die einzige Möglichkeit, sich als Mensch jenseits der Norm in der Hinwendung zum Anderen neu zu definieren. Dies bedeutet, für eine pluralistische Gesellschaft einzutreten,81 in der auch Migranten ihren Platz finden.

LITERATUR Primärliteratur Bergés, Miquel Àngel/Cazares, Josep Maria (2010): Calle del Norte, Lleida: Milenio. Damián/Pastor, Jordi (2013): Khalid, Barcelona: Norma. Franc, Isabel/Martín, Susanna (2014): Sansamba, Barcelona: Norma. Isusi, Javier de (2017 [12015]): Asȳlum, Bilbao: Astiberri. Kim (2018): Nieve en los bolsillos. Alemania 1963, Barcelona: Norma. Migoya, Hernán/Marín, Joan (2009): Olimpita, Barcelona: Norma. Spottorno, Carlos/Abril, Guillermo (2015): La Grieta, Bilbao: Astiberri. Sekundärliteratur Acosta Olaya, Cristian (2013): »Migraciones irregulares y poder. Biopolítica, nuda vida y sistema inmunitario: una aproximación desde Giorgio Agamben y Roberto Esposito«, in: Identidades 3, 4, S. 90-107. Ärzte ohne Grenzen (2018): »Immer mehr Kinder versuchen sich im Lager in Moria das Leben zu nehmen. Ärzte ohne Grenzen fordert Evakuierung in andere EU-Staaten«, online verfügbar unter: https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/lesbos-moria-kinder-suizid [Zugriff: 15.07.2019]. Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht und das Leben, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

81 »Die Transzendenz oder die Güte ereignet sich als Pluralismus. […] Der Pluralismus vollzieht sich in der Güte, die von mir zum Anderen geht; in ihr allein kann sich der Andere als absolut Anderer ereignen« (Lévinas 1987: 445).

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302 | Frank Leinen

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Autorinnen und Autoren

Dr. Susanne Brandt schrieb ihre Dissertation über die Gestaltung und Formen der Erinnerungskultur des Ersten Weltkrieges an historischen Orten. Im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem Historial de la Grande Guerre in Péronne (Somme) organisierte sie 2012 im Düsseldorfer Gerhart-Hauptmann-Haus eine Ausstellung mit Zeichnungen von Kris und Maël (Notre Mère la Guerre / Mutter Krieg) und Exponaten aus dem Weltkriegsmuseum an der Somme. Ihr Augenmerk liegt vor allem auf der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Comics als einer Form der Darstellung und Analyse historischer Ereignisse. Neben der Organisation verschiedener Workshops mit renommierten Comic-Zeichnern, die an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf stattfanden (Birgit Weyhe, Barbara Yelin, Mawil, Simon Schwartz, Paula Bulling und Ralf König), bringt sie als Mitbegründerin von icon Düsseldorf Comics regelmäßig auch in ihre Lehre ein. Weitere Forschungsschwerpunkte sind: Erinnerungskulturen, Darstellung von Geschichte in verschiedenen Medien (neben Comics auch Film und Denkmal), Erster Weltkrieg und Versailler Vertrag (aktuelle Publikation: Das letzte Echo des Krieges, 2018). Prof. Dr. Dietrich Grünewald lehrte bis April 2013 Kunstdidaktik, Kunst und Kunsttheorie des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart an der Universität KoblenzLandau. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Bildgeschichte und Karikatur. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Comics. Kitsch oder Kunst? Die Bildgeschichte in Analyse und Unterricht (1982), Wie Kinder Comics lesen (1984), Comics (2000), Struktur und Geschichte der Comics (2010), Der dokumentarische Comic. Reportage und Biografie (2013), Visuelle Satire. Deutschland im Spiegel politisch-satirischer Karikaturen und Bildergeschichten (2016), Friedrich Schiller. Avanturen des neuen Telemachs (2018), Loriot und die Zeichenkunst der Ironie (2019).

304 | Krieg und Migration im Comic

Dr. Michael Heinze studierte Englisch und Geschichte (Lehramt Sek. I/II) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Während des Studiums verbrachte er ein Jahr im Nordwesten Englands und unterrichtete Deutsch als Fremdsprache an zwei weiterführenden Schulen in Greater Manchester. Im Anschluss an das erste Staatsexamen folgte die Promotion im Fach Anglistik. Seit 2009 ist er einer der beiden Geschäftsführer der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität. Er unterrichtet im Bereich der englischsprachigen Literaturwissenschaften und forscht in den Bereichen der Gender und Queer Studies sowie zu Themen des graphischen Erzählens. Er ist Mitbegründer von icon Düsseldorf. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Love, Sexuality, Identity. The Gay Experience in Contemporary Canadian Drama (2007), Literature on the Move. Cultural Migration in Contemporary Literature (2010). Dr. Marina Ortrud M. Hertrampf ist akademische Oberrätin a. Zt. am Institut für Romanistik der Universität Regensburg. 2019/2020 lehrt sie als FONTE-Gastprofessorin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist Präsidentin der Gesellschaft der Freunde Romain Rollands in Deutschland e.V. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen unter anderem Raum(theorien), Intermedialität, Comic/Graphic Novel, Kulturraum-/Heimat-/National-/Europadiskurse, Transkulturalität/Kulturkontakt, Romani Studies, Diaspora und Migration. Der zeitliche Fokus ihrer Forschungen liegt neben der Frühen Neuzeit/Reformationszeit und dem Ersten Weltkrieg vor allem auf der Gegenwart/Postmoderne. Sie ist Redakteurin bei der Zeitschrift Hispanorama und Mitherausgeberin der Reihen »Forum Junge Romanistik«, »LiteraturKulturRäume« und »Ästhetik(en) der Roma. Selbst- und Fremdrepräsentationen«. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Le printemps des arabes en bulles oder Der Arabische Frühling im Spiegel frankophoner Graphic Novels (2016), (T)Räume der Migration (2019, zusammen mit Beatrice Nickel). Prof. Dr. Stephan Köhn ist Lehrstuhlinhaber für das Fach Japanologie der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind Populär- und Medienkultur der japanischen Moderne (1600 bis heute), edo-zeitliche Druck- und Verlagsgeschichte, vormoderne und moderne Literatur sowie Nationalitäts- und Identitätsdiskurse in Japan. Er ist Mitherausgeber der Reihe Kulturwissenschaftliche Japanstudien (Harrassowitz Verlag). Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Fremdbilder – Selbstbilder. Paradigmen japanisch-deutscher Wahrnehmung (1861-2011) (2013), Prekarisierungsgesellschaften in Ostasien? Aspekte der sozialen Ungleichheit in China und Japan (2016 zusammen mit M. Unkel), Outcasts in Japans Vormoderne: Mechanismen der Segregation in der Edo-Zeit. Festschrift für Ingrid Fritsch (2019, zusammen mit Chantal Weber).

Autorinnen und Autoren | 305

Prof. Dr. Frank Leinen lehrt und forscht seit 1999 als Professor für Romanistische Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Publikationen zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, zum Film sowie zu graphischen Erzählungen untersuchen vorrangig Aspekte der interkulturellen Hermeneutik, der Imagologie, des Postkolonialismus und des intermedialen Experiments. Er widmet sich als Wissenschaftler, Herausgeber und Autor ferner populärkulturellen Themen, der Erfassung intermedialer Strukturen und interdisziplinären Forschungsansätzen. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Bilderwelten – Textwelten – Comicwelten. Romanistische Begegnungen mit der Neunten Kunst (2007, zusammen mit Guido Rings), Mexiko 2010. Kultur in Bewegung – Mythen auf dem Prüfstand (2012), KITSCH?! Interdisziplinäre Annäherungen an ein unterschätztes Phänomen (2015, zusammen mit Elmar Schafroth), Vélomanie. Facetten des Radsports zwischen Mythos und Ökonomie (2019). Andreas Platthaus studierte Philosophie, Rhetorik und Geschichte an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Im Zuge seiner journalistischen Tätigkeit kam er 1997 zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er seit 2016 als verantwortlicher Redakteur das Ressort Literatur und literarisches Leben leitet. Platthaus ist Ehrenmitglied der D.O.N.A.L.D. (Deutsche Organisation der nichtkommerziellen Anhänger des lauteren Donaldismus) und der Illustratoren Organisation sowie Thomas Mann Fellow. 2017 erfolgte die Ernennung zum Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres der Französischen Republik, ein Jahr später wurde er mit dem Hessischen Kulturpreis ausgezeichnet. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Freispiel (2009), 1813 – Die Völkerschlacht und das Ende der Welt (2013), Das geht ins Auge – Geschichten der Karikatur (2016), Der Krieg nach dem Krieg – Deutschland zwischen Revolution und Versailles (2018). Dr. Elisabeth Scherer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Modernes Japan der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihre Forschungsschwerpunkte sind japanische Populär- und Medienkultur, transkulturelle und transmediale Phänomene, Gender Studies, Religiosität und Ritual. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Spuk der Frauenseele. Weibliche Geister im japanischen Film und ihre kulturhistorischen Ursprünge (2011), Nipponspiration. Japonismus und japanische Populärkultur im deutschsprachigen Raum (2013, zusammen mit Michiko Mae), Japanische Populärkultur und Gender. Ein Studienbuch (2016, zusammen mit Michiko Mae und Katharina Hülsmann).

306 | Krieg und Migration im Comic

Prof. Dr. Monika Schmitz-Emans lehrt und forscht als Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, das Verhältnis von Literatur und Bildern/Bildmedien sowie die Geschichte der Poetik. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens (1995), Poetiken der Verwandlung (2008), Literatur-Comics. Adaptationen und Transformationen der Weltliteratur (2012), Wendebücher ‒ Spiegelbücher (2018), Enzyklopädische Phantasien. Wissensvermittelnde Darstellungsformen in der Literatur (2019). Dr. Mara Stuhlfauth-Trabert studierte Germanistik und Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Es folgte eine Promotion in Neuerer Deutscher Literaturwissenschaft über das Ökologische Bewusstsein in der Literatur. Seit 2011 ist sie wissenschaftliche Angestellte am Germanistischen Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Ecocriticism, Alter(n)sbilder in der Literatur, Robinsonaden und Text-Bild-Relationen (insbesondere Comic). Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: Graphisches Erzählen. Neue Perspektiven auf Literaturcomics (2015, zusammen mit Florian Trabert und Johannes Waßmer), Seit Jahrzehnten »fünf nach zwölf«. Ökologisches Bewusstsein in Werken von Günter Grass, Andreas Maier, Christine Büchner, Kathrin Röggla und Ilija Trojanow (2017), Überlegungen zur Schriftbildlichkeit im Comic aus postkolonialer Perspektive. Zu Shaun Tans The Arrival und Craig Thompsons Habibi (2019). Dr. Florian Trabert studierte Germanistik und Romanistik an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 2010 promovierte er an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und ist dort seit 2015 als akademischer Rat tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Intermedialität, Comicforschung, Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit in der Literatur, österreichische und Schweizer Literatur sowie Transfers zwischen der deutschsprachigen, französischen und italienischen Literatur. Wichtige Veröffentlichungen in Auswahl: »Kein Lied an die Freude«. Die Neue Musik des 20. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Erzählliteratur von Thomas Manns Doktor Faustus bis zur Gegenwart (2011), Gottfried Keller (2015), Graphisches Erzählen. Neue Perspektiven auf Literaturcomics (2015, zusammen mit Mara Stuhlfauth-Trabert und Johannes Waßmer).

Kulturwissenschaft Gabriele Dietze

Sexueller Exzeptionalismus Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus 2019, 222 S., kart., 32 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4708-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4708-6

Rainer Guldin, Gustavo Bernardo

Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., 39 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3

Stephan Günzel

Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung 2017, 158 S., kart., 30 SW-Abbildungen 14,99 € (DE), 978-3-8376-3972-8 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3972-2

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Kulturwissenschaft Katrin Götz-Votteler, Simone Hespers

Alternative Wirklichkeiten? Wie Fake News und Verschwörungstheorien funktionieren und warum sie Aktualität haben 2019, 214 S., kart., Dispersionsbindung, 12 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4717-4 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4717-8 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4717-4

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 8, 2/2019) 2019, 180 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4457-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4457-3

Zuzanna Dziuban, Kirsten Mahlke, Gudrun Rath (Hg.)

Forensik Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2019 2019, 128 S., kart., 20 Farbabbildungen 14,99 € (DE), 978-3-8376-4462-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4462-7

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